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]]>Anm-zin, I. August 1872
ure Majestät haben meiner Iran und mir durch die huldreiche
Teilnahme an uuseriu Familienfeste eine große Frende bereitet
und wollen unsern ehrfllrchtsvollen Dank gnädig entgegennehmen.
Mit Recht heben Eure Majestät unter den Segnungen, für die
ich Gott zu danken habe, das Gluck der Häuslichkeit in erster
Linie hervor, aber zum Glück gehört in meinem Hause, für meine Frau sowohl
wie für mich, das Bewußtsein der Zufriedenheit Eurer Majestät, und die so
Überalls gnädigen und freundlichen Worte der Anerkennung, welche das aller¬
höchste Schreiben enthält, sind für kranke Nerven wohlthuender als alle ärztliche
Hilfe. Ich habe im Rückblick auf mein Leben so unerschöpflichen Anlaß, Gott
für seine unverdiente Barmherzigkeit zu danken, daß ich oft fürchte, es könne
mir so gut nicht bis zu Eude gehen. Für eine besonders glückliche Fügung
aber erkenne ich es, daß Gott mich auf Erden zum Dienste eines Herrn
berufen hat, dem ich freudig und mit Liebe diene, weil die angestammte Treue
des Unterthanen unter Eurer Majestät Führung niemals zu befürchten hat,
mit einem warmen Gefühl für die Ehre und das Wohl des Baterlandes in
Widerstreit zu geraten. Möge Gott mir mich ferner zu dem Willen die Kraft
geben, Eurer Majestät so zu'dienen, daß ich mir die allerhöchste Zufriedenheit
erhalte, von der ein so gnädiges Zeugnis heut vor mir liegt, in Gestalt des Hand¬
schreibens vom 26. Die Vase, welche rechtzeitig eintraf, ist ein wahrhaft
monumentaler Aiisdruck Königlicher Huld, und dabei so solide, daß ich hoffen
darf, nicht „die Scherben," sondern das Ganze wird meinen Nachkommen die
gnädige Teilnahme Eurer Majestät an unsrer Silberhochzeit vergegenwärtigen.
Die Offiziere des 5-4, Regiments hatten die kameradschaftliche Freund¬
lichkeit gehabt, ihre Musik von Kolberg herzuschicken. Sonst waren wir, wie
die ländlichen Verhältnisse es, mit sich bringen, auf den engern Familienkreis
beschränkt; nur der frühere amerikanische Gesandte in London, Motleh, ein
Jugendfreund von nur, war zufällig zum Besuch hier. Außer Ihrer Majestät
der Kaiserin hatte S. M. der König von Baiern und Ihre K. H. Prinz Karl
und Friedrich Karl und S, Kaiserliche Hoheit der Kronprinz mich mit tele¬
graphischen Glückwünschen beehrt.
Mit meiner Gesundheit geht es lmigsam bester; gearbeitet habe ich aller¬
dings gar nicht; doch hoffe ich für die Zeit der Kaiserbesnche mich zum Dienst
bei Eurer Majestät melden zu können.
Varzin, 13. November 1.372
ich bin sehr niedergeschlagen darüber, daß ich auf Eurer Majestät huldreiches
Schreiben vom 9. e. nicht sofort nach Berlin kommen und mich Eurer Majestät
in der schwebenden Krisis zur Verfügung stellen konnte, um so mehr, als ich
gegen Ende des vorigen Monats glaubte, daß ich bald fo weit hergestellt sein
würde. Ich befand mich seit meiner Rückkehr von Berlin in fortschreitender
Zunahme der Kräfte und ließ mich dadurch und ^durch j das Interesse zur Sache, im
Widerspruche mit den dringenden Mahnungen des Arztes, verleiten, auf Graf
Eulenburgs wiederholte Aufforderungen einzugehen, indem ich durch Eingaben
an Eure Majestät, durch Korrespondenzen mit den Ministern und mit Gliedern
des Herrenhauses auf den Gang der Dinge zu wirken suchte. Es ist das auf
diesem Wege und aus der Ferne gewiß sehr gewagt, da mir die aufklärende
Diskussion und die Kenntnis der Gegengründe fehlt, und ebenso die aus¬
reichende Arbeitshilfe. Ich hoffte aber, daß es nur wenige Tage dauern werde,
bis die Geschäfte wieder in ruhigeres Fahrwasser gelangten. Dieser Versuch
hat mich aber leider zu rasch überführt, wie mein Arzt Recht hat, und wie
gering der Vorrat meiner neu gesammelten Kräfte war. Ich bin sehr entmutigt
darüber, denn meine Einwirkung auf die Geschäfte wird eher eine störende
gewesen sein, und die wenigen Tage der Arbeit und der Gemütsbewegung,
welche nervenkranke Reizbarkeit damit verbindet, haben hingereicht, mir die
Ermattung meiner geistigen Arbeitskraft wieder klar zu macheu. Ich fürchte,
daß ich verbrauchter bin, als ich mir selbst eingestehen mag, und diese Sorge,
sowie das Gefühl der Beschämung darüber, daß ich in so wichtigen Momenten
nicht auf meinem Posten und zu Eurer Majestät Dienst bin, drücken mich
nieder, wenn ich mir auch sage, daß ich mich in Demut dem Willen Gottes
zu ergeben habe, der meiner Mitwirkung nicht bedarf und meinen Kräften ihre
Schranken zieht. Meine Unruhe findet ihr Gegengewicht in dem Vertrauen,
Welches Eure Majestät am Schlüsse Ihres Schreibens aussprechen, und welches
ich von Herzen teile, daß Gottes Gnade, die Eurer Majestät Regierung bisher
gesegnet hat, anch weiterhelfen werde. Der Weg, den Eure Majestät im
Korsen gebilligt haben, kann ebenso gut wie der von mir vorgeschlagene zu
denselben Zielen führen, wenn nur kein Bruch mit dem jetzigen Abgeordneten¬
hause dazwischen kommt, lind wenn meine Kollegen unter sich einig bleiben.
Das werden sie Eurer Majestät zuliebe thun, wenn auch bisher manche An¬
zeichen der Differenzen bis hierher erkennbar wurden. Ich fürchte, daß meine
Korrespondenzen mit den einzelnen unter ihnen, je nachdem sie Fragen an mich
richteten, die Elemente der Verstimmung gelegentlich vermehrt haben, und daß
Mißverständnisse mir gegenüber dadurch entstanden sind, daß der Inhalt meiner
Berichte nur denen, an die sie gerichtet waren, vollständig bekannt wurde. Ich habe
daher Roon gebeten, mich nnr dann zuzuziehen, wenn Eure Majestät es be¬
sonders befehlen, und ihn benachrichtigt, daß ich mit den einzelnen Kollegen
nicht mehr korrespvndiren würde.
Auf diese Weise wird meine Heranziehung, so lange mir Gott nicht zu
bessern Kräften hilft, allein in Eurer Majestät gnädige und nachsichtige Hand
gelegt sein. Meine Hoffnung und meine Bitte zu Gott ist, daß mir bald
wieder vergönnt sein möge, unter Eurer Majestät Ange selbst wieder meine
Pflicht zu thun, und die Beruhigung wieder zu gewinnen, die in der Arbeit liegt.
Berlin, 24. Dezember 1872
Eurer Majestät danke ich ehrfurchtsvoll und herzlich für das schöne und
auszeichnende Geschenk zum Weihnachtsabend.
Mein Vater war 1783 bei Leib-Karabinier eingetreten und hat noch die
Ehre gehabt, Friedrich dein Großen bei der Revue als Junker vorgestellt zu
werden, bei welcher Gelegenheit der große König geruht hat, ihm das Beispiel
seines Großvaters, des bei Czaslau gebliebenen Majors von Bismarck (von
damals vacant von Schulenburg, später Bayreuth Dragonern) in gnädig an¬
erkennender Weise als Muster vorzuhalten.
Diese und viele andre aus dein Munde meines Vaters überkommende
lebendige Mitteilungen aus Friedrichs des Großen Zeit, welche das vor mir
stehende Kunstwerk vergegenwärtigt, und zu denen ich eine wohlerhaltene Reihe
von Briefen meines Großvaters ans den Feldlagern des siebenjährigen Krieges
rechnen kann, bilden die dauernden Eindrücke meiner Kindheit, und ich habe
jederzeit bedauert, daß es mir nach dem Willen meiner Eltern nicht erlaubt
war, lieber vor der Front als hinter dem Schreibtisch meine Anhänglichkeit
an das angestammte Königshaus nud meine Begeisterung für die Größe und
den Ruhm des Vaterlandes zu bethätigen. Auch heut, nachdem Eure Majestät
unes zu den höchsten staatsmännischen Ehren erhoben hat, vermag ich das
Bedauern, ahnliche Stufen nicht als Soldat mir erstritten zu haben, nicht
ganz zu unterdrücken. Verzeihen Eure Majestät am Heiligen Abend einem
Manne, der gewohnt ist, an christlichen Gedenktagen auf seine Vergangenheit
zu blicken, diese Aussprache persönlicher Empfindungen. Ich wäre vielleicht
ein unbrauchbarer General geworden, aber nach meiner eignen Neigung hätte
ich lieber Schlachten für Eure Majestät gewonnen, wie die Generäle, die das
Denkmal zieren, als diplomatische Kampagnen. Nach Gottes Willen und nach
Eurer Majestät Gnade habe ich die Aussicht, in Schrift und Erz genannt zu
werden, wenn die Nachwelt die Erinnerung an Eurer Majestät glorreiche
Regierung verewigt. Aber die herzliche Anhänglichkeit, die ich, unabhängig
von der Treue jedes ehrlichen Edelmannes für seineu Landesherrn. für Eurer
Majestät Person fühle, der Schmerz und die Sorge, die ich darüber empfinde,
daß ich Eurer Majestät nicht immer nach Wunsch lind nicht mehr mit voller
Kraft dienen kann, werden in keinem Denkmal Ausdruck finden können; und
doch ist es nur dieses persönliche Gefühl in letzter Instanz, welches die Diener
ihren, Monarchen, die Soldaten ihrem Führer, auf Wegen wie Friedrich II.
und Eure Majestät nach Gottes Ratschluß gegangen sind, in rücksichtsloser
Hingebung nachzieht. Meine Arbeitskraft entspricht nicht mehr meinem Willen,
aber der Wille wird bis zum letzten Atem Eurer Majestät gehören.
er sich vorurteilslos die parlamentarische Entwicklung unsers
Volkes betrachtet, der wird die eigentümliche Thatsache erkennen,
daß das Ansehen des Reichstags, das Interesse für ihn in dem
Grade gesunken ist, als das an den Wahlen gestiegen ist. Fast
alle Parteien, jede auf ihre Art, sind nicht mit den Einzel-
leistuugen des Reichstags, das deutsche Volk nicht mit seiner Gesamtleistung
zufrieden. So auf der einen Seite. Auf der andern ist die Wahlbeweguug
lauter, oft wilder lind unsittlicher geworden, die Leidenschaften sind unver¬
hältnismäßig geweckt und gesteigert wurden. Das läßt sich bei den letzten drei
Wahlen deutlich beobachten, so verschiedene Ergebnisse sie auch zeigten. Die
von 1884 und 1800 brachten ein Überwiegen der Linken und des Zentrums,
die vou 1887 der Liberalen und der .Konservativen, Thatsachen, die umsomehr
befremden müssen, als sich in den wenigen Jahren sonst nicht sonderlich viel
geändert hat. Der Grund dürfte sein, daß die Mehrzahl der Menschen in
unsrer hastigen Zeit stärker von der Angenblicksstimmung und -Meinung
abhängt, als sie ahnt, und die Wahl 1387 unter regierungsgünstigeren Ver¬
hältnissen erfolgte als die beiden andern. Daß in einem stetigen Entwicklungs¬
gange so Wesentliches, ja fast das Wichtigste nicht von solchen Zufälligkeiten
abhängen sollte, liegt ans der Hand; ebenso wie gefährlich, ja unwürdig es
ist, die Regierung zu zwingen, Wahlen womöglich unter Umständen, die ihr
günstig sind, abhalten zu lassen, sie gewissermaßen zu einer Partei hinabzn-
drücken. Die Wahlen von 1884 ergaben einen Reichstag, der entschieden nicht
die wahre Meinung des deutschen Volkes zum Ausdruck brachte, sondern das
Erzeugnis der Parteien war. Die regierungsfeindlichen erdrückten die regierungs¬
freundlichen. 1884 einigten sich die Katholisch-Kirchlichen mit Fortschritt,
Demokratie und Sozialdemokratie, um keinen Liberalen oder Konservativen ins
Parlament zu lassen. 18R) waren diese mehr gewitzigt und schlössen ein
„Kartell," erlagen aber doch oft dem vielseitigen Ansturme. Nun kann man
doktrinär sagen, so gut wie Liberale und .Konservative ein Kartell schlössen,
können es auch die andern Parteien thun, oder thatsächlich darnach handeln.
Das ist aber ein falscher Schluß. Liberale und Konservative, mit den Frei-
kvnservativeu in der Mitte, stehen einander innerlich nahe, sind bei den augen¬
blicklichen Verhältnissen uur Abweichungen von derselben Gesammtfarbe. Ganz
anders die Gegner: das einzige, was sie verbindet, ist der Widerspruch gegen
Regierungsvorlagen. Was hat ein Pole mit einen, Dänen oder Elsässer
gemein? Gar nichts. Was das Zentrum mit denn Fortschritt? Das eine
ist eine Kirchenpartei, das andre eine kirchenfeindliche. Ja was der Fortschritt
mit den Sozialdemokraten? Der Fortschritt wurzelt im Bürgerstande auf
stark semitischer Grundlage; die Sozialdemokraten sind Arbeiterpartei und
erklären dem Besitz, der gerade im Fortschritt herrscht, den Krieg. Wie un¬
vergleichlich näher in der Gesinnung stehen sich das katholisch-kirchliche Zentrum
und die vielfach evangelisch-kirchlichen Konservativen: beide Teile werden ge¬
wählt wesentlich von der Landbevölkerung. Oder die Liberalen und der Fort¬
schritt: beide beruhen auf dem Bürgerstande der Städte und bestanden, als das
semitentum anch die Liberalen zersetzte, eine Zeit lang als Schattirungen
neben einander. Wie die Dinge liegen, sind ja die Bündnisse der größten
Gegensätze für die betreffenden Parteien sehr praktisch, für das politische
und soziale Empfinden des deutschen Volkes aber sinnverwirrend und tief
unsittlich.
Ist das aber vom Standpunkte der innern Gesundheit schwer beklagens¬
wert, so nicht minder vom praktisch-politischen. Die Volksvertretung ist keine
wirkliche, sondern nur eine scheinbare, sie entspricht nicht dem Stimmenver¬
hältnis. 1884 würde z. B. in Württemberg ohne Unterstützung der Katholiken
nur ein Demokrat durchgegangen sein, und anch der nur durch die Stimmen
der Sozialdemokrnten; jetzt bei verdreifachter Stimmenzahl sind zehn ins Parlament
gelangt. In Kaiserslautern wurde damals ein Liberaler von vier durchaus
verschiednen Parteien niedcrgcstimmt, und so fort. Bei den letzten Wahlen sind
an Stimmen abgegeben Morden: Konservative 919 646; ins Parlament treten
71 Vertreter dieser Partei; Nationalliberale 1169112 Stimmen, die aber nur
11 Sitze erkämpft haben, also trotz einer Mehrheit von ^ Million Stimmen
doch 30 Sitze weniger. Ähnlich verhält es sich zwischen Freisinn und Sozial¬
demokraten, erstere haben 1117 863, letztere 1 343 5>87 Stimmen erhalten, also
fast 200000 mehr; und doch haben die Sozialdemokratin nur 35, die Frei¬
sinnigen dagegen 69 Vertreter, d. h. zugleich trotz geringerer Stimmenzahl
28 Vertreter mehr als die Nationalliberalen.
Jeder Unbefangene wird zugestehen, daß das ganz widersinnige Ergebnisse
sind, herbeigeführt einerseits durch die verschiedne Znsammensetzung der Wahl¬
kreise, anderseits durch die Stichwahlen. Während Konservative und Zentrum,
wie gesagt, von verhältnismäßig einheitlicher Landbevölkerung getragen werden,
wurzeln die andern drei Parteien in den bunt zusauunengesetzten Bewohnern
der Städte mit ihren mannigfachen Gegensätzen. Daher hier starke Zersplitterung
und Stichwahlen, für die letzten Reichstagswahlen nicht weniger als 148 von
397, also mehr als ein Drittel. Von diese» Stichwahlen waren die National-
liberalen an 77 beteiligt, trotz ihrer großen Stimmenzahl hatten sie anfangs
nur etwas über ein Dutzend Sitze erlangt, nicht viel mehr die Deutsch freisiimigen,
und schließlich doch der klaffende Unterschied. Es kaun wohl keinen beredtem
Beweisgrund gegen die Stichwahlen geben, als diese einfachen Zahlen.
Nicht nur, daß sie die Nachteile erneuten Kampfes (bis zu viermal z. B. in
Hamm) mit seineu vielen Zufälligkeiten bieten, sie entstellen geradezu, weil
besondre Erwägungen, ja eine ganz kleine, ursprünglich nicht zur Sache ge¬
hörige Anzahl den Ausschlag giebt: in Leipzig z. B. bei Liberalen lind Sozial¬
demokraten die Antisemiten, deren Führer unmittelbar vor der Stichwahl er¬
klärte, beide Teile stünden seiner Partei gleich fern. An andern Orten, wo
Liberale und Freisinnige gegenüberstanden, lag die Entscheidung beim Zen¬
trum, wo Liberale und Ultramontane mit einander rangen, beim Freisinn,
und so fort. Mau sieht, es mag herauskommen, was da will, ein gesundes,
sachentsprccheudes Ergebnis findet sich nicht oder doch nur bisweilen. Die
Minderheiten, auch wenn sie noch so bedeutend sind, werden mundtot gemacht,
Stimmenzahl und Vertretung decken sich nicht. Die Mehrheiten sind Kunst¬
erzeugnisse, die Volksmeinung wird gefälscht. Kann es größern Widersinn
geben, als wenn die reichsten Städte Deutschlands, wenn Hamburg und
Frankfurt, die erste Handelsstadt des Kontinents und eine der ersten Finnnzstädte,
durch Sozialdemokraten vertreten sind, wenn alle drei Hansestädte Sozialisten
in den Reichstag schicken, was zugleich bedeutet, daß einer der wichtigsten Zweige
unsers Volkslebens, der überseeische Handel, unvertreten bleibt? Gerade die
charakteristische Eigenart, die zur Geltung gebracht werden müßte, ist weggewischt
zu Gunsten einer einseitigen, vaterlandslosen Arbeiterpartei.
Die Meinung des Gesetzgebers war, daß jeder erwachsene Staatsbürger
unbeeinflußt, nach bestem Wissen und Gewissen, seine Stimme für den Reichs¬
tag abgebe und dadurch sein Teil zur Leitung des Vaterlandes beitrage. Nun
aber haben sich Parteien gebildet mit der ganzen Selbstsucht einer Partei, die
sich geltend zu machen, d, h. die Masse zu gewinnen sucht, gerade den Teil
der Bevölkerung, der über die in Betracht kommenden Fragen am wenigste»
urteilsfähig ist, der aber eben als Masse den Ausschlag giebt. Ju dem hier
entbrennenden Kampfe haben sich alle Schattenseiten eines Kampfes entwickelt.
Jede Partei sucht Stimmen zu gewinnen, die Extremsten wie immer am ge¬
wissenlosesten. Geradezu empörend wird mit den Un- und Halbgebildeten
umgegangen; es werden Wünsche und Gelüste erweckt, die nie befriedigt werden
können, und die von denen am wenigsten befriedigt werden würden, die sie
anregen. Gewaltsam wird die Parteileidenschaft aufgestachelt, zu direkten und
indirekten Vergewaltigungen geschritten, um das Ziel zu erreichen. Unsägliches
Geld lind kostbare Kraft wird vergeudet. Durch Tagespresse, Flugblätter und
Anschläge bekämpfen sich die Parteien und in diesen nur zu oft die Personen.
Bis zum Wahltage hat mau es glücklich dahin gebracht, daß ein großer Teil
der Wähler völlig verwirrt ist und selber nicht mehr weiß, was er will, welchem
von allen Volksbeglückern er glauben soll. Die ruhigen Bürger fangen an,
den Wahltag als einen Tag von Unruhen und Gefahren zu fürchte»; in deu
größern Städten muß man Polizei und Truppen für alle Fälle bereit halten.
Hier pflegt die Krisis gewaltsam kurz, bisweilen fast krampfartig zu wirken,
viel Aufregung und Lärm, Reden und Bier. Anders in kleineren Ortschaften,
wo die Menschen einander kennen: dort bringen die Wahlen oft langdauerndes
Ungemach und persönliche Verfeindung, unter denen Einzelne oder Gruppen
und schließlich alle zu leiden haben.
Unsre Vorfahren hegten ein ausgesprochen geringes Interesse für Politik,
bei den jetzt lebenden ist es oft übermäßig. Die Schuld daran tragen Par¬
lament und Parteigetriebe und damit zusammenhängend die Presse. Die
Empfindung ist abgestumpft von der ungeheuern Hochflut politischer Blätter,
mit der man überschwemmt wird; erst wer sich die Vergangenheit vorstellt,
bekommt davon einen Begriff. Früher waren Zeitungen selten, es waren kleine
Blättchen mit Haupt- und Staatsaktionen und allerlei bunten Mitteilungen. Dann
kam die französische Revolution mit ihren Leidenschaften und Erschütterungen,
mit gesteigerter Teilnahme für Politische Ereignisse und wurde zur Brutstätte
des modernen Zeitungswesens. Der furchtbare Marat und der überschäumende,
zweifelhafte Desmoulins sind gleichsam seine Begründer gewesen, und nie hat
es seinen fragwürdigen Ursprung überwunden. Im Grnnde ist das Zeitungs-
Wesen noch heute revolutionär, wenn nicht nach der eine», so nach der andern
Seite. Es ist zu einer Macht erwachsen, einer Großmacht, der niemand unge¬
straft widerstreitet. Die Blätter haben ein Riesenformat und massenhafte Bei¬
lagen bekommen. Sie nehmen das Auge deS Gebildeten und des Ungebildeten mehr
als irgend etwas andres in Anspruch, das Tageblatt ist ebenso zum Bedürfnis
geworden, wie Zigarrenraucheil und Kaffeetrinken. Unzählige lesen nur noch das
Tageblatt und schöpfen daraus ihre ganze Bildung. Damit ist der Einfluß der
Presse entscheidend geworden, in ihr sammelt sich die ganze Partei- und
Interessen wirtschaft, und das „dumme Publikum" hat keine Ahnung, in welcher
Weise ihm seine tägliche Geistesnahrung zurecht gemacht wird, wie sich die
traurigsten Verhältnisse in der Mnsfenpresfe eingebürgert daheim Parteilichkeit,
Verleumdung, Charakterlosigkeit, Unwissenheit, Käuflichkeit, Seusntionssucht und
vor allem Seichtheit und Oberflächlichkeit! Tagtäglich sollen Tausende solcher
Riesenblätter für eine bestimmte Stunde fertig sein; wer hat da Zeit zu
Gründlichkeit und Genauigkeit! Wird doch mir gelesen, um vergessen zu werden;
ist doch auch das Publikum längst der Gründlichkeit des Lesens entwöhnt.
Die Presse mit ihrer durchaus politischen und parteiischen Richtung ist einer
der schwersten Krebsschäden unsers Jahrhunderts, der unendlich viel Zeit
beansprucht, Gutes und Bestes erdrückt, Glaube und Vertrauen zu Staat und
Gesellschaft erschüttert, Urteil und Zweifelsucht bei Leuten erweckt , die weder
zum Urteilen noch zum Zweifeln fähig siud. Es wird ihnen eingeredet, sie
Hütten das Recht oder gar die Pflicht, den politischen Suppenlöffel zu schwingen,
während die gewöhnlichste Suppe doch nur der kochen kann, der eben zu kochen
versteht. Man giebt zu, das alles gelernt sein will, nnr die Politik, die
schwerste und verwickeltste aller Künste, sie glaubt jeder zu verstehen. Durch
die Presse ist Unruhe, Besserwissen und namentlich Unzufriedenheit in immer
weitere Kreise getragen worden, und das in einer Zeit, die der Freiheit mehr
als irgend eine vorausgegangene gewährt. Nie haben sich so viele Mensche»
unglücklich gefühlt und sind sich dessen so bewußt gewesen, wie in dem Jahr¬
hundert der persönlichen Individualität und der Selbstsucht, des wilden Jnter-
essenknmpfes, in dem nur leben. Selbstmorde und Verbrechen, Nervenkrank¬
heiten und Wahnsinn siud die düstere Kehrseite unsrer glänzendste,! Errungen-
schaften. An all diesem Elende verschuldet eine aufregende „freiheitliche" und
„volksfreundliche" Presse unendlich mehr, als sie ahnt oder wissen will. Par¬
lament und Presse, wie sie geworden sind und wie sie immer mehr zu werden
drohen, sind ein Fluch unsrer Zeit: die kommenden Geschlechter werden richten.
Eine Volksvertretung, ein Regulator, ein Gegengewicht gegen die Allmacht
der Regierung ist bei dem verwickelten Staatswesen und den tausendfach sich
kreuzenden, unübersichtlich durcheinander wirbelnden Bestrebungen von Ein¬
zelnen und Völkern »vtwendig. Es fragt sich nur, ob das jetzige Parlament
diesen, Zweck entspricht. Und da müssen wir mit Nein antworte»: erstens weil
es mir eine Schein- und leine wirkliche Volksvertretung ist, nud zweitens weil es
ein politisches Parlament ist nud doch svzinle und wirtschaftliche Dinge zu
beraten hat, die, genau besehen, mit den politischen Parteiungen nichts gemein
haben.
Erläutern wir zunächst das erste. Dadurch daß das Volk Vertreter wählt,
ist es noch lange nicht in seinen verschiednen Schichten, d, h. als wirkliches
Volk vertreten. Der Wählermasse werden zwei, drei oder mehr Namen als
Vertreter so und so vieler Parteien genannt, dafür wird Propaganda gemacht
und den Wählern eingeredet, es seien das ihre Parteien, sie bestünden ans
und in ihnen. Da es sich aber um politische Gruppen handelt, die über
soziale Dinge entscheiden sollen, so ist der Standpunkt von vornherein unklar
und verschoben und dein gewöhnlichen Tagesmenschen unverständlich. Er ist
berufen, aber thatsächlich nicht imstande, über die Dinge und Personen zu ur¬
teilen, über die er entscheide» soll. Die Dinge betrachtet er im besten Falle
von seinein Standpunkte oder dem, den man ihm beigebracht hat, die Personen
Hut er oft bis dahin nicht einmal dem Namen nach gekannt: ein ausgesucht
günstiger Zustand sür Wahlnmtriebe. Wer die größten Geldmittel besitzt, diese
um geschicktesten anwendet oder am besten zu reden, am gewissenlosesten zu
verleumden versteht, bleibt vbennnf, und der beste Redner ist gewöhnlich der,
dessen Handwerk es ist: der Advokat. Daher das zeitweise erdrückende Über¬
gewicht gerade dieses Standes im Parlamente. Der Wähler wird genötigt,
aus einer ihm gewaltsam gegenüberstehenden Zahl auszuwählen oder seine
Stimme wertlos zu machen; ob ihm die Männer passen, ist gleichgiltig. So
hat es sich gemacht, daß unsre Parlamente nicht das Volk darstellen, sondern
nur seine reichern oder doch gebildeter!! Klassen. Die weit überwiegende Mehr¬
zahl der Wähler: der Bauer, der Arbeiter, der kleine Gewerbtreibende war
nicht vorhanden. Von diesem Gesichtspunkte erscheint das Auftreten der Sozial-
demokratie als ein naturgemäßer Rückschlag; erst mit ihr gelangte die Haupt
Wählermasse zum Wort. Während die übrigen Parteien politisch und religiös
wirken, vermag die Sozialdemokratie zu sagen: ich vertrete den Arbeiter, ich
vertrete einen Stand. Auf diesem Boden beruht ihre Eigenart, ihre gewaltig
nuschwellende Macht, oft ihre Überlegenheit, Das Unglück wollte, daß sie im
Parteigetriebe stand und so auch, zur Partei wurde, und zwar, wie die Dinge
lagen, zu eiuer regierungsfeindlichen, daß sich mit der Vertretung des Ar¬
beiters, mit dein Gefühle, er gelange zu Macht, alsbald allerlei weitgreifende
Zukunftspläne verbanden.
Wir sagen: die heutigen Parlamente sind politische und beraten Wirt¬
schaftsfragen, stehen also von vornherein in schiefer Lage. Nur für ein
Parlament wie das frühere englische erwies sich politische Parteiwahl vielseitig
leistungsfähig. Es zerfiel in die zwei natürlichen Hauptgruppen der mensch¬
lichen Denkweise: i» Liberale und konservative. Die herrschende Partei slellie
auch die Minister und übte durch sie die Regierung, die Gegenpartei kritisirte.
Regierte eine Partei schlecht oder unglücklich, so wuchs die Zahl der Unzn-
frieduen und folglich auch die der Anhänger der Gegenpartei, bis diese ihrer^
seits die Führung und die nunmehr unterliegende die freigewordene Rolle der
Opposition übernahm. Die Haltung der Regierung war gegeben lind einfach,
sie brauchte nur die Lenker der parlamentarischen Mehrheit ins Ministerium
zu berufen und besaß durch sie auch die Mehrheit. In dem heutigen England
liegen die Verhältnisse bekanntlich schon anders.
Weit verworrener noch sind die Parlamente des Festlandes. Im Mittel-
alter herrschte eine ständische Vertretung, lind anch noch die Konstituante von
178!) wurde nach Ständen berufen: nach Klerus, Adel und dem dritten Stande,
der alles umfaßte, was nicht zum Klerus und zum Adel gehörte. Diese wühlten
je dreihundert Vertreter, der dritte Stand sechshundert, so viel also wie die
andern zusammen. Man muß gestehen, dieser Wahlmodus entsprach deu Ver¬
hältnissen des damaligen Frankreichs und hätte, gut gehandhabt und in seinem
Ergebnis richtig geleitet, Segen stiften und Wohlfahrt schaffen können. Aber
leider fehlte die Leitung, und aus dem Sitzuugssaale, aus deu Händen der Regie-
rung geriet die Macht in die der Pariser Straßendemngogen: der ständische Reichs¬
tag wurde zur politischen Revolution, die alles Ständische hinwegfegte. In
der Konstituante bildeten sich die drei Gruppen: Konservative, Gemäßigte und
Radikale, oder nach ihren Sitzen Rechte, Zentrum und Linke. Das Parlament
wurde Behörde lind nahm dadurch ein Wesen an, das sich mir einer geordneten
Monarchie nicht vertrug, sie unmöglich machte. Als die nächste Versammlung,
die Legislative berufen wurde, geschah es nicht mehr nach Ständen, sondern,
da solche im damaligen Frankreich aufgehört hatten, nach allgemeinem Stimm¬
rechte. Wie wenig mau aber thatsächlich darauf gab, zeigt die Thatsache, daß
in Paris, dem Brennpunkte des staatlichen Daseins, von 81200 Nrwählern
nur 7200 ihre Stimme abgaben; nach heutiger Anschauung eine unbegreifliche
Minderheit. Wie gesagt, das rein demokratische Wahlsystem paßte für das
demokratische Frankreich von 1791. Für monarchische Staaten eignete es sich
nicht, daher wollte der große preußische Refvrmminister Freiherr vom Stein
seine Provinziallandtage ans Ritterschaft, Städten und Bauern zusammensetzen,
aus den drei Ständen, die das damalige Preußen bildeten. Allmählich ge¬
langte dann aber doch die französische Schablone zur Geltung, gleichviel, ob sie
sachlich entsprach oder nicht, und so haben wir heute das Unding, daß politische
Parteien über Gesetz- und Wirtschaftslage,! entscheiden, für die sie gar nicht passen,
zu denen sie in gar keiner Beziehung stehen. Nach unserm Dafürhalten krankt
der ganze Parlamentarismus an innerer Unwahrheit, und das ist der Grund
seiner geringen Leistungsfähigkeit, seiner unwürdigen Lärm- und Skaudaiszeuen.
Vielfach betrügt man sich selbst oder hat sich durch Gewohnheit in eine
gewisse Denkweise verrannt. Es scheint den meisten ans der Hand zu liegen, daß
z. V. Schutzzoll vom konservativen oder freisinnige,, Standpunkte beurteilt
werden könne, und zwar so, daß der Konservative dafür, der Freisinnige da¬
gegen ist; in Wirklichkeit ein reiner Trugschluß. Weder das eine noch das
andre hat mit konservativ oder freisinnig etwas zu thun, sondern es fragt sich:
was ist unter den gegebenen Verhältnissen für Volk und Staat das Richtige?
und da zeigt sich, daß das liberale England und die republikanischen Ver¬
einigten Staaten Nordamerikas Hauptvertreter des Schutzzolles gewesen sind.
Während in Deutschland sich der Freisinn aus freiheitlichen und Fortschritts-
grüudeu gegen das Tabaksmonopol erklärte, führte die demokratische Schweiz
trotz solcher Gründe das Spiritusmonopol ein, ohne Aufhebens davon zu
machen.
Bei politischer Pnrteinng kann unmöglich objektiv über Wirtschaftlagen
entschieden werden, denn bei beiden sind ganz verschiedene Gesichtspunkte ma߬
gebend. Wirtschaftslagen sollen nach innern Gründen, nach der Kenntnis von
ihnen, abgelöst von allen Nebengedanken, entschieden werden; und doch zeigen sich
gerade diese nur zu oft entscheidend. Ganz auseiuauderstrebeude Parteien ver¬
binden sich, um je ihre Sonderinteressen durchzusetzen, gleichviel ob die Ge¬
samtheit darunter leidet. Die politische Parteiung drängt unwillkürlich zu
Persönlichen Verhalten gegen die, die Gesetzesvorschläge einbringen, d. h. zu
deu regierenden Personen, und so entwickelt sich ein Kampf um diese,
bei denen die allein maßgebende Sache zurücktritt. Im Volke entsteht die
Meinung, die „Volksvertretung" schütze seine Rechte, die Regierung suche sie
zu beeinträchtigen, und doch ist dies gaw, unsinnig: die Regierung vertritt das
Volk und seine Interessen ebenso gut wie das Parlament, nur in andrer Form,
sie steht dem Volke nicht gegenüber, sondern beruht in nud auf den: Volke.
Durch die Auflösung des Parlaments in verschiedne sich unter einander be¬
fehdende Parteien wird die Stellung der Regierung äußerst schwierig, nicht
selten unglücklich und unwürdig. Sie muß stets Rücksichten nehmen, weit ab
von der Vorlage und kann nicht durch bloße Überzeugung und Wahrheit wirken.
Auch sie muß bei Wirtschaftsfragen Politik treiben, lind wird das Parla¬
ment entlassen oder treten gesetzlich Neuwahleii ein. so ist der Ausfall der
Wahlen, der von unzähligen, nicht von der Regierung ausgehenden, nicht von
ihr geschaffenen Verhältnissen abhängt, doch stets eine Art von Regierungskritik,
ichädlich für stetige Entwicklung.
Nach alledem erscheint uns das jetzige Parlnmentswesen krank und ge¬
fälscht, weit entfernt von dem, was es sein sollte, ebenso gefälscht wie die
französischen Revvlutivnsbegriffe von Freiheit nud Gleichheit, in deren Namen
schon so unendlich viel gesündigt worden ist. Das Auftreten der Sozialdemo-
kratie bedeutet hier eine wichtige, vielleicht entscheidende Wendung; mit ihr tritt
wieder ein Stand ein, mit ihr — so befremdlich es klingen mag — gelangt das
Parlament wieder auf die Bahn unsrer Voreltern, von der es weit abgeirrt
ist. Freilich der Eintritt geschieht mit der ganzen Ungeschlachtheit und Un¬
klarheit^ der scheinbar neuen Dingen gewöhnlich eigen ist. Der Stand der
Arbeiter wird in den Angen der Socialdemokratie zum Stande der Unterdrückten,
ihre Parole wird: arm und reich; an die Stelle des Standesgefühls tritt Ver¬
bitterung und Haß gegen den Besitz. Doch darf man nicht zu schwarz sehen,
die Mehrzahl der Wähler steht den Plänen der eigentlichen Volksbeglücker fern;
sie ist einfach unzufrieden, weil sie glaubt, ihre Einnahmen deckten sich nicht
mit berechtigten Ansprüchen, und weil sie sich sagt: die andern Parteien thun
weniger für uns als die Socialdemokraten, folglich entscheiden wir uns für sie.
Die Sozinldemolratie in Deutschland ähnelt dem Voulangismus in Frankreich,
nur daß sie echt deutsch alles theoretisch, der Franzose echt französisch alles
persönlich faßt.
Bisher, wo die Sozialdemokratie eine augenscheinlich staatsgefährliche Seite
hervorkehrte, war es Pflicht der staatserhaltenden Regierung, sie möglichst
wenig aufkommen zu lassen. Doch ihr Wachstum beweist ihre Lebenskraft,
beweist, daß der Boden, auf dem sie sproßt, sie gewissermaßen selbst erzeugt.
So konnte sie bei den letzten Wahlen mit elementarer Gewalt anwachsen.
Bleibt sie in ihrer bisherigen Richtung, von oben gedämpft, von unten und
seitwärts geschürt, so kaun sie zu einer Gefahr werden; die Geschichte
lehrt, wozu leidenschaftliche Verbissenheit im Augenblicke fähig ist, und wie
Einzelne ganze Tausende, ja Millionen mit sich zu reißen vermögen. Freilich
die Stärke der Socialdemokratie beruht im Ringen, in der Erregung des
Kampfes; im Besitze von Macht, in der Ruhe würde» alsbald die Gegensätze
in ihr zu Tage trete» und sich zersetzen. Sie ist noch viel zu unfertig und
wird nie el» einheitliches Ergebnis auch nur erstreben können, in ihrer Stärke
liegt zugleich ihre Schwäche. Ihre Stütze ist die Masse; sie sucht alle Nicht¬
besitzenden in ihre Wirbel, die Hauptgrundlagen des Staates zu sich hinüber
zu ziehen: die niedern Beamten und die gemeinen Soldaten.
Bei den niedern Beamten ist Entfremdung schon vielfach erfolgt, statt
des Benmtenstolzes fühlen sich manche als ausgenutzte Proletarier. Das Heer
betrachtet sich noch schroff als Stand, doch Gedanken sind wie zersetzende
Spaltpilze, sie finden überall Eingang; und in das Heer treten von der einen
Seite junge Leute als Rekruten ein, Hanptanhänger der Sozialdemokratie, von
der andern Reservisten als verbitterte und organisirte Parteimänner. Hand-
habung strenger Disziplin vermag da nicht viel, sie ist nur so lange zulässig,
als der Geist der Truppe sie trägt.
Somit würde es daraus ankommen, die Sozialdemokratie ans einer
zerstörenden womöglich zu einer schöpferischen Macht umzugestalten, ihr ihre
staatsfeindliche Richtung zu nehmen. In dein jetzigen Parlamente wird das un¬
möglich sein, die Sozialdemokratie paßt nicht hinein, sie ist eine soziale, keine
politische Partei, und als solche wird sie in einer nicht entsprechenden Umgebung
auch »mstürzlerisch bleiben. Es gälte deshalb llingestaltnng des Reichstages,
d. h. des Wahlmodus. Da giebt es denn einen Wahlmodus nach Zcnsns-
klassen. Dieser paßte vortrefflich fiir den altern preußischen Staat, wo der
Reichtum in den Händen deS grundbesitzenden Adels lag, der Jahrhunderte
lang mit Gut und Blut für die Monarchie eingetreten war und dadurch ein
geschichtliches Recht auf Teilnahme erwarb. Das ist jetzt anders. Den
Hauptreichtum besitzen städtische Kapitalisten, oft jüdische, die nicht dnrch
Verdienst und Arbeit reich geworden sind. Ihr Stimme die von Tausenden
aufwiegen zu lassen, wäre eine Unnatur. Außerdem würde mit einem solchen
Wahlmodus nicht dem Volke geholfen, sondern großenteils nur dem Fort¬
schritt. Ein andres Verfahren bestünde in Bildnugsktassen, etwa mit dem
Abiturientenernmen als Hauptgrenze. Aber anch das liefe auf Kapital-
bevorzugnng hinaus, denn der begabte Arme, dessen Eltern nicht das Gym¬
nasium haben bezahlen können, stünde vor dein dummen Reichen zurück, bei
dem es der Fall gewesen ist. Auch eine Znrnckverlegnng der Wahlberechtigung
nach dem Alter erscheint unausführbar in unsrer schnelllebige» Zeit, wo sich
die Bürschchen erstaunlich früh für reif halten und besonders starke Krakehl-
orgaue entwickeln. Überdies würde nicht viel erreicht werden.
Uns dünkt, es ließe sich dort fortfahren, wo unsre Großeltern standen
und wo wir aufhörten, bis die Sozialdemokratin sie thatsächlich wieder ein¬
führten: bei den Staudeswahlen.
Das Volk der Gegenwart besteht natürlich nicht ans Klerus, Adel und einem
dritten Stande, nicht aus Geburth-, sondern aus Berufsständen, und zwar
ans Ackerbauern, Handwerkern, Kaufleuten und Beamten. Diese vier Gruppen
ließen sich sehr wohl fiir die Wahl zu Grunde legen, und zwar fo, daß in
denselben Kreisen jede Gruppe für sich abstimmte. Die großen Bezirke wären
in Unterbezirke zu teilen, von einen» Umfange, den die einzelnen Zugehörigen
noch ungefähr zu übersehen vermöchten. Diese wählte» alsdann ihren Ver¬
trauensmann und ans den Vertrauensmännern des Kreises ginge schließlich
dessen Vertreter hervor, sei es dnrch Wahl, sei es dnrch das Los, was hier keinen
so großen Unterschied bilden würde, weil schon die Auswahl vorhanden ist,
schon Gleichartige da sind, wie bekanntlich auch bei den gleichartiger» Bürgern
Athens diu? Los entschied.
Auf diese Weise bestünde der Reichstag nicht ans künstlich erzeugten
Parteimännern, sondern es wäre das Volk in seinen wirklichen Teilen vertreten,
denn der Ackerbauer würde in der Regel einem Ackerbauern und nicht einem
Advokaten seine Stimme geben. Im Parlamente säßen Fachmänner, das ge-
buzrliche Berufspartnmentariertnm mit seinem eiteln Geschwätz, seinem lauen
Hatbwisieu und seiner faden Zeitnngsreklmne träte zurück vor der sachlichen
Erwägung wirklich Kundiger. Auch hier würden sich zwei Hauptgruppen, eine
fortschrittlichere und eine konservativere, entwickeln, aber da doch nicht sie, sondern
die Staudeswählerschaft die Grundlage bildeten, so könnten sie sich nur schwer
zu der Einseitigkeit und der Festigkeit der jetzigen Parteien verdichten. Die
Regierung, der das leidige Parteigezäuk abgenommen oder doch vermindert
wäre, hatte eine unvergleichlich leichtere und klarere Stellung, im Ackerbaner¬
und Beamtenstnude auch von vornherein zwei konservativere Gruppen. Freilich
wurden jetzt die Standesrücksichten auf einander stoßen; eine Sache, die den
Kaufleuten genehm wäre, konnten die Ackerbauer für sich als gefährlich erachten;
aber immer blieben noch zwei andre Stände, die nach Anhören des Für und
Wider die Entscheidung mit Rücksicht ans das allgemein Bessere geben könnten.
Daß die Stände ganz geschlossen stimmten und dadurch zwei gegen zwei stünden,
würde nicht oft zu erwarten sein; wenn es geschähe, nun so wäre der Antrag
abgelehnt.
Dann kämen auch die zwei Grundübel des jetzigen parlamentarischen
Systems in Wegfall oder würden doch gemildert: die Wahlumtriebe und das
Preßuuweseu. Die Wnhlumtriebe schon deshalb, weil die Abteilungen kleiner,
die Verhältnisse vereinfacht und die in Betracht kommende Person bekannter,
der Einzelwähler also imstande wäre, sich still ein Urteil zu bilden,
was doch erste Bedingung sein sollte. Die Erschütterungen von Ruhe und
Ordnung, die neuerdings die Wahl gebracht hat, würden aufhören mit der
geringer entfachten Leidenschaft. Durch die Standesvertretnng erhielte das
ganze parlamentarische Denkwesen einen andern Gang; an die Stelle der Partei¬
bestrebungen träte die nach Gewerbegruppen, an die Stelle der politischen Er¬
wägung die soziale. Die jetzige Parteieinseitigkeit wäre durchkreuzt und mit
ihr der Geist jener entsetzlichen Lügenhaftigkeit, der unser ganzes Volksleben
bereits durchtränkt hat. Will der Kaufmann oder Beamte als solcher etwas,
so hat man etwas Greifbares in den Händen, will es aber ein Fortschrittler
oder Konservativer, so liegt von vornherein das Parteiwesen in der Sache.
Auch die Gefahr der Sozialdemokratie mit ihrem Gegensatze von Armen
und Besitzenden würde nicht mehr zu befürchten sein, weil nun beide Teile in
derselben Gruppe stimmten, und schließlich ein Arbeiter sich viel leichter gefallen
läßt, wenn sein Fabrikherr als Fachvertreter in den Reichstag kommt, als
wenn er es als Reicher vor dem Armen thut; und umgekehrt der Arbeiter:
als Standesgenvsse wird er viel eher das gemeinsame Interesse wahren,
wie als Sozialdemokrnt vor dem Liberalen. Das Wahlalter und die Wühler¬
zahl bliebe erhalten, und damit wäre eine Hauptschwierigkeit etwaiger Reformen
beseitigt, denn die im Besitz befindlichen brauchten nichts aufzugeben. Ferner
fiele das sich vordrängende semitische Element weg, teils nur vertreten dnrch
wirkliche Juden oder durch solche, die es zu sein verdienten.
Mancher wird sagen: Das klingt alles recht gut und schön, aber wie es
einführen? der Wahlmodus ist nicht scharf genug, weil viele Menschen zwei
oder gar drei Gewerbe zugleich treiben, und dann: unsre Verfassung ist gnrantirt.
Auf das erste ist zu erwidern: Deu Leuten, die mehrere Gewerbe treiben,
läßt man die Wahl, in die Gruppe einzutreten, die sie für ihr Hauptgewerbe
halten. Der Trieb der Selbsterhaltung wird sie ziemlich regelmäßig in die
richtige Klasse führen. Hat z. B. der Handwerker einer Kleinstadt zugleich
einen Acker, so wird er sich schwerlich in deu Unterstand eintragen lassen, weil
für ihn die Handwerksberatungen wichtiger sind. Das Umgekehrte wird der
Fall sein, wenn ein Gutsbesitzer eine Brennerei oder dergleichen auf seinem
Hofe hat, er also Ackerbauer, Handwerker und Kaufmann zugleich ist; da wird
er ganz genau wissen, was für ihn entscheidend wirkt, der Acker- oder der
Fabrikertrag. Wirklich falsche Angaben ließen sich durch eine Vertrauens-
münnerkvmmissivn verbessern. Fabrikarbeiter, Erdarbeiter ». dergl. siud natür¬
lich den Handwerkern beizuzählen; Ärzte, Advokaten ?c. den Beamte». Rentiers
bleiben in dem Gewerbe, das sie emporgebracht hat, u. dergl. in. Bei
ernstem Willen wären hier keine besondern Schwierigkeiten.
Und die garnntirte Verfassung? Ja, damit ist es ein eigen Ding. Be¬
tonte man sie einseitig, so machte man jede Weiterentwicklung unmöglich. Außer¬
dem muß eine Verfassung von beiden Teilen gehalten werden; in der letzten Zeit
hat es aber nnr die Regierung gethan, während die Wnhlumtriebe, Wcchl-
beeinflnssungen und Vergewaltigungen thatsächlicher Verfassuugsbruch siud.
Man könnte es also der Regierung uicht übel nehmen, wenn sie sagte: ich habe
hier kein gesetzlich gewähltes Parlament vor mir und sehe mich deshalb auch
meinerseits nicht veranlaßt, gesetzlicher als ein großer Teil der Wähler zu
sein. Doch dies wäre zunächst gnr nicht nötig. Truhen eine würdige Presse,
ernstdeutende Parlamentarier und ruhige Männer die Einleitung, durchdränge
erst das Volk der Gedanke: das jetzige System ist vom Übel, die Volksver-
tretung vertritt mich gar nicht, die Regierung bietet mir Besseres und natur¬
gemäßeres, so könnte diese den Antrag aus Änderung der Wahleinrichtung im
Reichstage stellen, wie seinerzeit die französische deu auf Listeuskrutininm.
Lehnte der Reichstag ab, so würde er »ach Hause geschickt und ein neuer
gewählt, in dem voraussichtlich schon eine größere Neigung für die Regierungs¬
vorlage herrschen würde. Er stimmte zu oder nutzte sich ebenfalls ab.
Würde dann wieder bei der Wahl vergewaltigt, so hätte unsers Dafürhaltens
die Regierung das unzweifelhafte Recht, es ebenso zu machen und, wenn sie
es für die unfreie nud beeinflußte Wählermasse, für Volk und Staat für gut
hält, den neuen Wahlmodus einfach zu dekretiren. Viele, vielleicht die Mehr¬
zahl, würde» nicht wählen, viele aber würden es thun; die Vertrauensmänner
träten in dem neuen Reichstage zusammen, dem die Regierung nachträgliche
Genehmigung des Geschehenen vorlegte, die sie auch erhalten würde kraft des
Selbsterhaltungstriebes der Gewählleu. Beide Teile, die frühern Wähler und die
Regierung, könnten sich alsdann nicht viel vorwerfen; man wäre beiderseits
von der Verfassung abgewichen, und überdies hätten nnr die Wähler ihre
Partei im Auge gehabt, die Regierung handelte nach bestem Wissen für die Ge¬
samtheit. Da niemand den Besitz eines Rechtes verlöre, so halten wir den Übergang
keineswegs für gefährlich; es würde viel Zeitungslärm, vielleicht auch hie und
da eine Zusauunenrvttung geben, aber daran ist man schon gewöhnt, und noch
hat die Regierung die Macht in den Handen; sie wäre thöricht, sich diese ent¬
winden zu lassen, sie wäre verantwortlich, denn ihr steht es zu, für das Wohl
der Gesamtheit zu wachen.
Eine zweite Art der Einführung bestünde darin, daß ein Land, etwa
Sachsen, Baden oder Württemberg den Versuch mit der Standesvertretuug
machte. Mißglückte er, wäre nicht viel verloren; glückte er, so könnte Großes
gewonnen werden: Ruhe, politische und soziale Wiedergenesung de5 deutschen
Volkes.
nsre Sozialdemokratie will, obwohl sie im dentschen Reiche ihr
Brot verdient und sich im deutschen Reichstage vertreten läßt,
leine deutsche Partei sein, und ihrem Ursprünge nach ist sie das
auch uicht. Den vaterländischen Interessen nicht bloß abgekehrt,
sondern feindlich, verfolgt sie eingestandenermaßen Ziele, die auf
den Umsturz aller bisher die einzelnen Völker zusammenhaltenden und ent¬
wickelnde» Staaten, anch der republikanische», hinauslaufen und zuletzt in der
Herstellung einer neue» Gesellschaft, einer neuen Menschheit ihren Gipfelpunkt
erreichen sollen, ans dem unbedingte Gleichheit nicht bloß des Rechtes, sonder»
auch des Besitzes herrscht. Ihrer Herkunft nach aber ist sie eine Französin,
eine Tochter des Geistes der Revolution, der die Welt seit 1789 immer von
neuem unizuwerfe» und umzugestalten bestrebt ist, und der, wenn es nicht ge¬
lingt, ihn dauernd zu fesseln, damit fortfahren wird, bis er seine Kräfte er¬
schöpft hat.
In den folgende» geschichtlichen Betrachtungen werfen wir einen Blick ans
die theoretischen Anfänge und die ersten gewaltsamen Versuche der Sozialdemo¬
kratie, ihre Lehre zu verwirklichen. Wie diese Lehre außerhalb Frankreichs, vor¬
züglich von deutscheu Juden weiter ausgebildet, und wie ein späterer Versuch,
sie ins praktische Leben einzuführen, in der Pariser ^tomninne unternommen wurde
"ut wie alle frühern Versuche mißlang, soll uns hier nicht beschäftigen. Es
genüge, zu sagen, daß die Erscheinung, nachdem sie sich einmal in ihren Grund¬
sätzen geklärt und befestigt hatte, im wesentlichen denselben Charakter behielt,
"ut daß man immer, wo sich die Möglichkeit bot, mit denselben Mitteln die¬
selbe» Ziele verfolgte. Die Moral davon ist: die Apostel und Propheten der
Sozialdemokratie haben nichts gelernt und nichts vergessen, man hüte sich vor
ihren heuchlerischen Versicherungen, klüger, zahmer und anspruchsloser geworden
?>n sein, sie nehmen Zugeständnisse nnr als notgedrungenen Tribut um ihre
Macht um, im Grunde aber sind sie ihnen nur Halbheiten, die den Schwachen
der Partei genügen und sie von eifrigem Erstreben des Ganzen absehen lassen,
nud insofern mehr Hindernis als Förderung ans ihrem Wege.
Seit dem Auftreten Roiisseaus machte sich in Frankreich eine Bewegung
geltend, die ans Herstellung gleicher Berechtigung aller Einzelnen im Volke ab¬
zielte, wobei die um weitesten vorgeschrittenen entdeckten, daß mit dem bloßen
Politischen Rechte nicht alles erreicht, es vielmehr Pflicht des Staates sei, die
materiellen Verhältnisse so zu ordnen, daß dabei eine wirkliche und dauernde
Gleichheit bestehen könne, mit andern Worten, das Eigentum zu beseitigen, das
sich als der Hauptfeind solcher Gleichheit darstelle. Unter denen, die diesen
Gedanken am deutlichsten aussprachen, stehen Morellh, Mably und Bristol
obenan. Mably sagt unverhohlen, daß „naturgemäß die Gleichheit des Ver¬
mögens die Gleichheit überhaupt bedinge," nud prophezeit, „wenn jene Her¬
stellung der Gleichheit nicht vollstnudig erfolge, so werde das Feuer unter der
Asche nie ersticke» und stets eine Feuersbrunst zu gewärtigen sein." Ähnlich
äußert sich Helvetius. Brissot erkennt, allerdings nur in sehr allgemeinen
Sätzen, die Notwendigkeit, wenn auch nicht der Aufhebung, fo doch „einer ver¬
nünftigeren Verteilung" des Einzelbesitzes um. Morellh predigte schon um die
Mitte des vorigen Jahrhunderts in seiner „Anstünde" und seinem „Gesetzbuch
der Natur" Gütergemeinschnft und Organisation der Arbeit.
Doch gingen alle diese Gedanken zunächst ziemlich unbeachtet am Publikum
vorüber; der Gang der Dinge mußte erst die stnatsbiirgerliche Gleichheit ent¬
wickeln. Diese wurde von der Revolution dnrch die Erklärung der „Menschen¬
rechte" verkündigt und sollte durch die erste Versnssung verwirklicht werden, die
aber für Wnhlrecht und Wählbarkeit einen Zensus aufstellte und damit das
Vermögen zur Bedingung der Ausübung eines Rechtes machte, dus an sich
jedem zustehen sollte; ein Widerspruch, der zum erstenmale den Gegensatz zwischen
Kapital und Arbeit ans der Gesellschaft in das Staatsrecht übertrug. Dem
Volke tum dabei zum Bewußtsein, daß diese anscheinend unbedingte Gleichheit
dnrch das verschiedne Maß des Besitzes bedingt und beschränkt sei. und so fiel
diese Verfassung; denn das Volk, die Masse, hatte die Gewalt in den Händen.
Die zweite Verfassung, von 17W, verlieh min jedem volljährigen Bürger
gleiches Stimmrecht ohne Unterschied des Vermögens. Sie befriedigte nnr die
Besitzlosen und rief deren Kampf mit den von ihr unbefriedigten besitzenden
Klassen, die Schreckensherrschaft, hervor. Die Vermögenden brachen aber doch
zuletzt die Herrschaft des Konvents, und die zweite Verfassung machte der dritten
Raum (1795), die wieder einen Wahlzensus einführte, aber gar keine Basis
hatte, sondern sich nur durch die allgemeine Erschöpfung aufrecht erhielt. Unter
ihr klärten beide Parteien ihre Begriffe ans: die Besitzenden (Kapitalisten) be¬
griffen, daß sie nnr bei einer festen Staatsgewalt weiter bestehen konnten, die
Besitzlosen (Proletarier) dagegen erkannten, daß sie das Prinzip der Gleichheit
bis zu dessen äußerster Konsequenz, der Gütergemeinschaft, verfolgen müßten.
Anfänge dazu hatten sich allerdings schon vorher gezeigt. Robespierre neigte
zu kommunistischen Grundsätzen, und Se. Just sah das Heil der Republik in
einem Gesetz, das jeden Bürger mit so viel Grundeigentum ausstattete, daß er
sich mit Frau und Kindern davon ernähren könne. Auch bei den von Zeit
zu Zeit auftauchenden Stenerfragen griff die Parteipvlitik auf das Gebiet von
Mein und Dein hinüber. Es kam gelegentlich zu Veeinträchtignugen des Eigen¬
tums, z. B. durch die Beschlüsse der konstituireudeu Nationalversammlung vom
4. August, durch die Aufstellung des Maximums n»d durch andre von außer-
ordentlichen Umständen veranlaßte und vorübergehende Maßregeln; das Prinzip
des Eigentums aber war dabei immer von den Machthabern gewahrt worden,
und selbst in den wildesten Tagen der Schreckensherrschaft hatte es der Kon¬
vent unter den Schutz eines Gesetzes gestellt, das den bloßen Antrag auf eine
Ackerverteilung mit der Guillotine bedrohte. Unter dem Direktorium aber
bildete sich 1796 eine gefährliche kommunistische Verschwörung, an deren Spitze
die wilden Fanatiker Babveuf und Darth« standen, und der Tausende von ehe¬
maligen Jakobinern angehörten.
Die Enthüllung dieser Umtriebe, mit denen man durch roheste Gewalt
und blutige Vernichtung jedes Widerstandes zur Gütergemeinschaft gelangen
wollte, erfüllte das Land mit Entsetzen, der öffentliche Abscheu bestätigte das
gegen die beiden Führer der Verschwörer gefällte Todesurteil, und mit ihrer
Hinrichtung und der Deportation ihrer am schwersten belasteten Mitschuldigen
schien der Kommunismus vom. Voden Frankreichs und aus den Köpfen der
Franzosen vertriebe«? zu sein. Unter Napoleon und der Restauration war keine
Spur mehr von ihm zu bemerken. Seit der Julirevolution aber hatte er eine
Werkstatt in einem Winkel von Paris, wo ein alter Mitverschwörer Babvenfs,
der Italiener Buonarotti, nachdem er lange Zeit in Belgien und Genf gelebt
hatte, einer Anzahl von Schillern, meist Handwerksgesellen, die Grundsätze und
Bestrebungen seiner Jugend predigte und die geheime Verbindung der „demo¬
kratischen Carbonari" stiftete, die sich in aller Stille bis über die französischen
Grenzen verzweigte und ihrem Oberhaupte bedeutenden Einfluß ans die Volks¬
bewegungen verschaffte, die sich in den dreißiger Jahren in bete Nachbarländern
kundgaben. Nächst den französischen Handwerksburschen waren es vorzüglich
die viele» zeitweilig in Paris arbeitende» Deutschen, die den glühenden Worten
des italienische.: Fanatikers Zuhörer und Genossen lieferten, und lange, bevor
der Name Vuouarottis in Deutschland genannt wurde, waren ^niger ve.
Meisters über den Rhein heimgekehrt und hatten in Herbergen und Werkstätten
als seine Apostel die Gütergemeinschaft verkündigt. Die französische .^eg,erung
that weniger gegen sein Treiben, als es verdiente, denn er wußte der allem
Feuereifer' der ihn beseelte, die Gefährlichkeit feiner Bestrebungen schlau zu
verbergen, und Polizei und Gerichte sahen seine Umtriebe für harmloser an,
als sie sich nach seinem Tode herausstellten. , .al-
Wesentlich verschieden von diesem Kommunismus waren zwe, gewUUys
liche Theorie,,, deren Ursprung schon in die Restauratiousze,t fällt. die zedo^y
erst nach der Julirevolution Gelegenheit sanden. zu Schulen zu werden u»v
sich an den Thatsachen zu versuche,,. Diese ersten llrheber desse» wav um,
später Sozialismus nannte, waren Se. Simon, ein Mann horche» Ge¬
schlechts, der ein sehr bewegtes Lebe» hinter sich hatte, und Charles <M,r,er.
in, Kaufmann. der die Welt nur ans den Erfahrungen des Laden, und der
Schreibstube kannte. Nach ihren, frühern Leben und ihrer Stellung faßte,,
sie die Aufgaben der Gesellschaft wesentlich verschieden von einander auf. uno
so gingen auch die Wege, die sie zur Lösung vorschlüge», wett auseumuder
Se. Simon hatte bei seine», Plane der Umbildung der in^rgerl.chen Gesellstha
die katholische Kirche als Vorbild im Auge, dere» unfehlbares Papsttum vere,
hierarchischen Bau und deren feierliche Formen er ans eme neue ^ve t n n
ander», Inhalt als die christliche übertragen wollte, von der er neu.te ^
habe sich überlebt. Fourier dagegen .machte zwar scho.,e»de ^rbehalt ,
Gunsten der überliefer....g nud Gewohnheit, in Wirklichkeit aber war s e
^hre von einen, demokratischen Geiste durchdrungen. der keine andre U -
Weichheit anerkannte, als die ans der Wahl hervorgehende. "Ad "»e
"-'dre Autorität gelte» ließ, als die von ihn. im eignen Interesse gesthaM» .
Veide Shste.ne aber stimmte» darin überei». daß sie »icht bloß da. lnsher.ge
Dog.na. halber» a»es wichtige Pm.kee der lüsherigen Moral beseitige» wol tu.
l'nde liefen ans die Aufhebung der Ehe und Familie hinaus, und be.de machlln
de" Genuß zur eigentliche» Aufgabe des Lebeus. Der Zweck beider Systeme
war endlich, den'Genuß alle., Mitglieder,, der Gesellschaft .u gebührendem
N'aße z„ verschaffen und zwar nicht bloß durch gerechtere ^te.trug der
Früchte der menschliche» Thätigkeit. hin.dern auch durch uuer,neßliche Steige-
r»ng der Gütererzeugung. die ,»a» d»res die sogenannte Organ.sat,on ^
Arbeit zu erzielen hoffte.' -^weck.uäßigste Verwendung der personl.chen Graste
">'d deren J»el»a»dergreife» wurde dabei vo» de» beide» Reformatore» ver
Gesellschaft als Hauptaufgabe angesehen; nnr schlüge» sie z»r Losung ver-
schiedne Wege el... Se. Simon den der Leitung von obenher, ^our.er on, ^
freie» Selbstbestimmung, Auch der GrnndsM. daß der Lohn e.nes jeden »an,
seiner Fähigkeit und Leistung zu bemessen sei, galt beiden; nur wollte Se, Simon
den Verdienst durch Obere, Fourier ihn durch das Urteil der Genossen fest¬
gestellt wissen. Dabei wahrte Fourier alle Rechte des persönlichen Eigentums,
während das System Se. Simons das Eigentum mit dem Erbrechte wenigstens
mittelbar preisgab.
Graf Cicade Henri de Se. Simon, geboren 1700, entstammte einer der
vornehmsten und reichsten Familien Frankreichs und verriet schon frühzeitig
das Streben, Ungewöhnliches zu leisten, wozu er durch reiche Begabung in
vielen Beziehungen und eine treffliche Erziehung in den Stand gesetzt wurde.
Zunächst trat er in das französische Heer nud machte den amerikanischen Be¬
freiungskrieg mit. Aber die militärische Laufbahn gewährte ihm keine ge¬
nügende Befriedigung, und er suchte sie ans andern Wegen mit großartigen
Plänen, die vielleicht gelungen sein würden, wenn nicht die Revolution aus-
gebrochen wäre, die ihm mit einem Schlage Rang und Vermögen raubte.
Er warf sich jetzt auf das Geschäftsleben, und es gelang ihm, durch
glückliche Spekulationen, hauptsächlich Ankauf von Staatsgütern, in Ver¬
bindung mit einem Grafen Redern wieder reich zu werden. Doch befriedigte
ihn auch dus uicht, und er wandte sich bald höhern Zielen zu, die er an¬
fangs bloß ahnte, für die er aber bereits deu Gesamtausdruck fand: er
wollte der menschlichem Erkenntnis eine neue Bahn öffnen, „die Physiko-
politische Bahn." Zu dein Zwecke studirte er zuvörderst, schon vierzig Jahre
alt, alle denkbaren Wissenschaften, machte Reisen und bestrebte sich in andrer
Weise, mit dem Leben in allen Beziehungen, Zuständen, Bedürfnissen und
Genüssen so vertraut als möglich zu werden, wobei er auch „die Regelwidrig¬
keit der Genüsse nicht scheute." Wie verworren, aber anch wie eigentümlich
seine Ansichten sich jetzt gestaltet hatten, zeigt seine erste Schrift, die I^ttreL
Ä'rin Ksbitant cle (Z-vnvvv (1802), worin er zur Subskription zu einer Beloh¬
nung der tüchtigsten Gelehrten auffordert, dann aber zu einer religiös-politischen
Ansprache übergeht, die als der Beginn seiner religiösen Anschauungen zu be¬
trachten ist, und deren Gedanken er unmittelbar von Gott empfangen zu haben
meint. Das war noch formlos und fand natürlich in einer Zeit, wo Napoleons
Thaten alle Blicke auf sich lenkten, wenig Beachtung. Unterdessen war das
Vermögen Se. Simons allmählich dahingeschwunden, er war zu den größten
Entbehrungen verurteilt und mußte, um nur das Leben zu fristen, einen kleinen
Posten an einem Leihhause annehmen. Das hinderte ihn aber nicht, seine
reformatorische Idee weiter zu verfolgen, und gewiß haben gerade diese Jahre
materieller Not und Entbehrung seinen Gedankengang auf dus Los der niedern
Klassen gelenkt, eine Richtung, die er nicht mehr verließ. Aber erst nach dem
Sturze Napoleons kam die Zeit für solche Fragen, und nun begann er die
schriftstellerische Thätigkeit, mit der er für die erste französische soziale Schule
den Grund legte.
Seit I > I l erschiene» eine Anzahl von Schriften von ihm. In der ersten
stellt er in Gemeinschaft mit dem Geschichtschreiber Thierrh einen Plan ans,
.die europäische Gesellschaft umzugestalten und alle Völker Europas unbeschadet
ihrer nationalen Unabhängigkeit zu einem politischen Körper zu vereinigen."
Noch wichtiger sind sein KMe-ins inäustriöl (1821) und sein L^eoniLms av8
ineIu8trilZl8 (1823), die sich mit den Grundgedanken der neuen sozialen Philo¬
sophie befassen. Man hat hier die erste deutliche Erscheinung der Elemente
vor sich, die sich in Frankreich später bekämpfen sollten. Aber wir können hier
nur ihren wesentlichsten Ausgangspunkt mitteilen, der in dem Gedanken einer
Neugestaltung der Industrie liegt. Die arbeitende Kraft der Menschheit ist
dem Verfasser das Wichtigste des ganze» menschlichen Lebens, sie allein macht
die Gesamtheit und die Einzelnen reich, ohne sie giebt es keine wahre Ent¬
wicklung, und wie mir Ende alles durch die Industrie geschieht, so sollte auch
alles für sie geschehen. Der jetzige Zustand der Dinge aber zeigt das Gegen¬
teil; die in der Industrie thätige, die arbeitende Klasse ist »och immer die
letzte, die unterste Klasse. Wie hat um ein solches verkehrtes Verhältnis ent¬
stehen können? Und wie ist ihm abzuhelfen? Die Geschichte zeigt, wie sich
die Industrie allmählich vom Grundbesitz abgelöst und selbständig gemacht,
dann aber auch, wie das Kapital sie überwältigt und sich unterworfen hat,
»ud wie endlich die vermehrten Bedürfnisse der Staaten diesen Besitz an Kapi¬
talien zu einer Macht im Staate erhoben haben. So ist der Gegensatz zwischen
Kapital und Industrie oder Arbeit entstanden. Bei diesem nimmt aber der
Stand der Legisteu, der Rechtskundigen, eine Mittelstellung ein: er dient dem
Kapital, ist ihm jedoch innerlich feind, er beherrscht die Arbeit, erhält sie aber.
Das ganze System ist daher ein offenbarer Widerspruch; denn das Natürliche
ist, daß das nu sich Wichtigste auch für andre das erste, daß mit andern
Worten die Klasse der Industriellen, der Arbeitenden, im Staate die herrschende
sei, „und wir unternehmen es, fügt Se. Simon hinzu, die Industriellen auf
die erste Stufe des Ansehens und der Macht zu erheben."
Der bisher allerdings vorhandene und empfundene, aber uoch unklare
Gegensatz des Proletariats und der besitzenden Klasse war hier zum erstenmale
deutlich mlsgesprocheu und der Welt zum Bewußtsein gebracht, und darau
schloß sich in der letzten Schrift Se. Simons, die 1825> erschien und deu Titel
Nouvsau Ndrisdimnnne führte, der religiöse Teil des Systems. Die Er¬
hebung der Industriellen der Arbeitenden kann uur durch die liebende Hin¬
gebung der Menschen, »ur auf moralischem Gebiete und mit dessen Mitteln
bewirkt werden, und in der Überzeugung, daß er zwar keine neue Liebe predige,
aber der Liebe eine neue Aufgabe stelle, erhebt sich Se. Simon zu dem Glauben,
daß er berufen sei, eine neue Religion zu grttudem Ju der geununten kurzen
Schrift giebt er eine Kritik der bestehenden Religionen, die mit dem Aufrufe
schließt, mau wolle sich im Geiste des Christentums, das in seiner jetzigen
Gestalt, als römischer Katholizismus, zur Irrlehre entartet sei, verbrüdern,
um das Reich Gottes auf Erden dadurch ins Leben zu rufen, daß man die
Religion der Liebe in eine Religion der Freude und des Genusses für alle
verwandle. Zu einem vollkommen klaren und festen Ergebnisse gelangt der
Verfasser hier nicht, er regt uur an und zeigt im allgemeinen den Weg; das
übrige mich sein begeisterter Schwung thun, der ihm denn auch zuletzt eine
Anzahl eifriger Verehrer zuführte.
Das große Publikum beachtete ihn nicht, auch die Behörden kümmerten
sich nicht um den Schwärmer, bis er in der ersten Nummer seiner Zeitschrift
I/()rc>"rlli8lrtöur die Verkehrtheit der bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen
durch ein Beispiel anschaulich zu machen suchte, das Anstoß erregte. Gesetzt,
sagte er, daß Frankreich plötzlich fünfzig seiner größten Fachgelehrten, fünfzig
seiner bedeutendsten Gewerbtreibenden, fünfzig seiner besten Künstler und Dichter
verlöre, so würde es ein Leib ohne Seele sein, bis ein neues Geschlecht ihm
seine Verluste ersetzte. Angenommen dagegen, daß Frankreich statt jener Männer
von Genie in einer Nacht alle Prinzen und Prinzessinnen des königlichen
Hanfes, alle Großwürdenträger der Krone. Minister, Staatsräte. Marschälle,
Bischöfe, oberste Richter und obendrein zehntausend seiner reichsten Grund¬
eigentümer einbüßte, so würden die Franzosen bei ihrer Gutherzigkeit dies zwar
bedauern, aber dadurch keinen nennenswerten Schaden erleiden. Gelehrte,
Künstler, Dichter und Gewerbtreibende also sind die wichtigsten Personen im
Staate, und ihnen gebührt daher auch die überwiegende Macht. Man stellte
den Verfasser vor die Geschwornen, aber er wurde freigesprochen.
Die materielle Lage des ersten Propheten des Sozialismus blieb traurig,
und verzweifelnd versuchte er 182?) sich selbst den Tod zu geben. Es mißlang,
und noch zwei Jahre führte er in bitterster Armut ein Leben fort, das jetzt
auch ein sieches war. Am 1!). Mai 1825 starb er in den Armen seiner
Jünger, noch im Todeskampfe für seine Lehre begeistert, die er ihnen als Erbe
zur Ausbildung und Ausbreitung hinterließ. Die Jünger begannen ihr Werk
mit wenig ermutigenden Aussichten. Das Blatt, das sie zunächst gründeten,
und das auf Hebung des Selbstbewußtseins der industriellen Welt berechnet
war, fand keinen Anklang. Schon wollte die Schule Se. Simons sich in nichts
auflösen, als der alte Carbonaro Bazard sich ihr anschloß, der mit seinen Er¬
fahrungen die Idee» hineinbrachte, die sie zu praktischem Wirken befähigten.
Mit ihm begann eine neue Epoche, er gestaltete die einzelnen oft dunkeln Sätze
seines Meisters zu einem organischen Systeme, seine Ansichten zu einer Art
Wissenschaft. Indem er begriff, daß das lebendige Wort bessern Erfolg haben
werde als das gedruckte, fing er an, in der 1i.no ^ariumg zu Paris Vor¬
lesungen über die Grundgedanken der Schule zu halten, und siehe dn, bald
strömten ihm zahlreiche Zuhörer zu. Die Vorlesungen erschienen 1829 und
18!>>0 zusammengestellt in dem Buche l!xpi>«i,t(>ii <1ö bi, «1»vt.,-no (>» 8b. ttimo».
Sie sind im wesentlichen zunächst eine Verurteilung der Zustände in der
heutigen menschlichen Gesellschaft. Druck und Unnatur herrschen allenthalben.
Die arbeitende Welt besonders ist ein Bild trostlosen Elends. Die neueste
Geschichte und die Gegenwart zeigen, das; dieser unmöglich von Gott selbst
gewollte Zustand davon herkommt, daß alle Verhältnisse vom systematisch ge¬
ordneten Egoismus beherrscht werden, der die Arbeitskraft dem Kapital unter¬
worfen und die Ausbeutung des Meuscheu durch den Menschen organisirt und
zu einem überall giltigen Rechte erhoben hat, und der nach dem irreligiösen
Grundsatze verfährt: jeder für sich und Gott sür uns alle. Das aber wider¬
spricht dem Höchste» und Besten in der Menschennatur, und um dem abzu¬
helfen und für die Welt die wahre Freiheit und Gleichheit zurückzugewinnen,
giebt es nnr ein Mittel, die unablässige Verbesserung der zahlreichsten und
untersten Klasse nach ihrem sittlichen, geistigen und leiblichen Zustande, die
Befreiung der Arbeit vom Joche des Kapitals. Soll dieser ihr Recht werden,
soll die Erhebung des Proletariers zu der ihm gebührenden Stellung erfolgen,
so ist jenem Rechte das Recht des Eigentums unterzuordnen und das Dasein
des letztern von dem Dasein, dem Werte und Maße der Arbeit des Ein¬
zelnen abhängig zu macheu. Zu diesem Zwecke muß zuvörderst die Übertragung
des Eigentums, die ohne wirkliches Verdienst des Einzelnen vor sich geht, be¬
seitigt werden: das Erbrecht ist abzuschaffen, der Staat tritt fortan an die
Stelle der Erben und wird so allmählich zum Besitzer alles Eigentums seiner
Angehörigen, wodurch er die Mittel in die Hände bekommt, dieses Gesamt-
eigentum'so zu verteilen, wie es das wahre Recht verlangt, d. h. nach dem
einfachen Grundsätze: jeder werde nach seiner Fähigkeit, jede Fähigkeit nach
dein Maße und Werte ihrer Arbeit belohnt. Dies wird durch eine Organisation
besorgt, die sich in Gestalt von bartartigen Einrichtungen mit einer Zentral¬
bank an der Spitze über alle Provinzen und Gemeinden des Landen verbreitet.
Jeder sei Eigentümer nach seiner Fähigkeit und seiner Arbeit, das war der
Kern der Lehre der Se. Simonisten, der ersten Sozinlisten der neuen Zeit. Dieser
Gedanke allem hat die Schule überlebt, was sie sonst wollte und schuf, verlor
sich bald in Sinnlosigkeiten und innere Unmöglichkeiten, Possenspiel und Karri-
katur. Vor der Hand aber nahm die Schule mit der Julirevolution, die die
Geister aufrüttelt/und ihnen neue Probleme stellte, an Umfang und Ansehen
Zu, besonders als sie sich des (Uodo, des bisherigen Organs der Doktrinärs,
bemächtigten und damit eine feste Stellung in der Öffentlichkeit gewannen, die
sie mit Eifer und Erfolg benutzten, um sich Gehör und Anhang zu verschaffen.
Der Zuwachs, den sie erhielten, war allerdings nicht so zahlreich als wertvoll,
°" er meist in jungen Leuten der gebildeten Stände bestand, die Begabung
und feurige Begeisterung mitbrachten, und von denen einige später eine große
Rolle spielten oder doch viel von sich reden machten. So die Philosophen
Leroux und Jean Reynaud, der republikanische Abgeordnete Carnot,
der Vater des jetzigen Präsidenten, der Schriftsteller Jules Chevallier, der
Advokat Duveyrier, der Komponist Fetialen David und drei jüdische Geld¬
männer, Eichthal, Rodriguez und Pereire, von denen der letztere später durch
ungeheure Unternehmungen eine europäische Berühmtheit wurde. Die Se. Simo-
nisten gaben ihrem anfänglich lockern Verbände eine festere Form, indem sie
ihn zur „Familie" mit zwei „oberste« Vätern," Bazard und Enfantin, um¬
bildeten. Doch sollte zunächst noch nicht mit dem Leben als Familie begonnen,
sondern nnr dessen Theorie festgestellt werden. Vom Pantheismus ausgehend,
der ebenso hoch über dem Monotheismus, wie dieser über dem Polytheismus
stehe» sollte, wollte man vor allem die christliche Ansicht vom Gegensatze
zwischen Geist und Fleisch beseitigt sehen oder „den Stoff wieder in seine Rechte
einsetzen." Zur Vermittlung der sinnlichen und der übersinnlichen Welt wurde
aber doch ein Priestertum für nötig erachtet, nämlich ein Priestertum der
Schönheit, der Liebe und der Kunst. Die Gleichstellung von Mann und Weib
verstand sich dabei von selbst, ebenso war es ganz, natürlich, daß die Priester¬
schaft zwischen beiden Geschlechtern geteilt sein und ihre höchste Verkörperung
!u einem Paare an der Spitze der „Familie" finden sollte, die schließlich die
gesamte Menschheit zu umfassen bestimmt war. Solche Lehren, die vorzüglich
Enfantin aufhält», wurde» zuerst in den öffentliche» Versammlungen der Sekte
und in ihrem Preßorgan mit dem Feuer der begeisterten Überzeugung vor¬
getragen; bald aber ging das neue Evangelium auch in Gestalt vou Reise-
predigeru in die Provinzen hinaus, und zwar mit dem größte» Erfolge,
namentlich i» den Kreisen der Gebildeten und Wohlhabenden., Nüchterne
Fabrikanten, Kaufleute und Bankiers bekannten sich dazu nicht bloß mit Worten,
sondern mit der That. Die klingende» Beweise dieser Beistimmung gingen bei
de» „obern Vätern" so reichlich ein, daß sie, die früher schon die Deputirtenkammer
durch eine Adresse in» Aufhebung aller Privilegien und des Erbrechts a»gega»ge»
hatte», uni dem Müßiggange ein Ende zu machen, sich aufgefordert fühlte», mit
dem König wegen gütlicher Abtretung seiner Negierungsrechte in Unterhandlung
zu trete» und ihm i» zweiter Reihe den Vorschlag zu machen, er möge ihnen
wenigstens eins seiner Pariser Schlösser gegen angemessene» Mietpreis einräumen.
Während aber der äußere Erfolg der Se. Simonisten »och im Wachsen
war, begann auch der innere Verfall, der sich mit Enfantins religiöser
Schwärmerei eingefunden hatte. Es war nicht sowohl sein Dogma, Se. Simon
sei ein Messias größer als Moses, auch nicht sein moralischer Grundsatz:
„Heiligt euch durch Arbeit und Vergnügen," wenn es Ende 1831 zu einem
Schisma in der Schule kam, sondern die Folgerungen, die er aus der Theorie
von der Emanzipation des Fleisches zog, und die freie Stellung, die er dem
Weibe in der „Familie" anwies, und in der dem Priestertum eine Art se>8
urimÄv uootis zukam. Bazard und andre namhafte Mitglieder der neuen
Heiligen konnte» ihm hier nicht folge» und schieden aus. Die Sache wurde
bekannt, infolge dessen versiegten die Geldquellen im Publikum, und man sah
sich genötigt, das Versammlungshaus zu rünnen und deu <Ac>hö eingehen zu
lassen. Enfantin zog mit den wenigen ihm treu gebliebenen nach einem kleinen
Landgute in Menilmontnnt bei Paris, um hier mit ihnen die Praxis des
Se. Simonismus zu beginnen, die man bisher gänzlich versäumt hatte. Die
„Familie" wurde zu einer Art Orden mit eigner Tracht. Zum Beweise, daß
die Emanzipation des Fleisches nicht zur Befriedigung grober Sinnlichkeit
dienen sollte, fanden nur „Brüder" Aufnahme in die Gemeinde, deren Ange¬
hörige auf alles persönliche Eigentum verzichteten und nur vom Ertrage ihrer
Handarbeit lebten. Tagelöhner und Dienstboten gab es in ihr uicht, „weil das
an Sklaverei erinnerte," und so verrichteten alle „Familienglieder" der Reihe
nach selbst die niedrigsten Geschäfte des Haushaltes. Jeder Tag wurde mit
Gebeten, Hymnen und Predigten eröffnet und geschlossen.
Trotz des harmlosen Charakters dieser Lebensweise hatte die Regierung
Grund, dem „Vater" Enfantin und seinen Kindern zu mißtrauen. Sie ließ sie
Polizeilich überwachen und stellte sie zuletzt vor Gericht, wo sie in feierlichem
Aufzuge erschienen und sich mit viel Geschick und Energie verteidigten. Als
der Präsident des Gerichtshofes an Enfantin die Frage richtete, ob es wahr
se'i, daß er sich den Vater des Menschengeschlechtes und das lebendige Gesetz
nenne, erhielt er ein kaltblütiges und zuversichtliches Ja zur Antwort. Der
erste Teil der Anklage, gesetzwidrige Verbindung, ließ sich nicht in Abrede
stellen, da ein Gesetz ausdrücklich jeden Verein und selbst jede regelmäßige
Zusammenkunft vou mehr als zwanzig Personen von obrigkeitlicher Erlaubnis
abhängig machte, und eine solche nicht eingeholt worden war. Dagegen
richteten die Se. Simonisten das gmize Feuer ihrer Beredsamkeit auf den
zweiten Teil, der sie der Verbreitung unsittlicher Lehren beschuldigte. Jedem
Vorwurfe der Unsittlich leit ihrer Theorie setzten sie einen Beweis der Unsitt-
lichkeit der im gesellschaftlichen Leben Frankreichs geltenden Praxis entgegen,
deren Besserung nur durch offne Anerkennung der Bedürfnisse und Rechte der
'menschlichen Natur möglich sei. Erfolg freilich erzielten sie damit bei ihren
Richtern nicht: der Prozeß endigte damit, daß die drei Hauptangeklagteu
Enfantin, Chevallicr und Duveyrier zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt
wurden. Mit der Vollziehung dieses Spruches löste sich die „Familie" von
Menilmontnnt auf (im August 1832), und ehe ein Jahr vergangen war, sprach
man vom Se. Simonismus uur noch wie von einer halbverschollenen Verrücktheit,
Kor der schwer zu begreifen sei, wie so viele sonst ganz verständige Männer
sich von ihr hätten anstecken lassen. Das Bewußtsein aber von dem Gegen¬
satz zwischen Kapital und Arbeit, das die Sekte wachgerufen hatte, blieb in
den Gemütern erhalten und wurde durch deu Fourierisinns weiter ausgebildet.
Über diesen in einem zweiten Abschnitt.
o mißlich es im allgeineiiien ist, voraussagen zu wollen, was die
Zukunft in ihrem Schoße birgt, so kann mal doch mit großer
Wahrscheinlichkeit behaupten: wenn Deutschland im Laufe der
nächsten Jahre in einen Krieg verwickelt werden sollte, fo wird
dies nicht ein Zweikampf zwischen zwei einzelnen Völkern sein,
sondern es werden sich zwei Gruppen von Mächten gegenüberstehen. Dafür
bürgt auf der einen Seite das mitteleuropäische Bündnis zwischen Deutschland,
Österreich und Italien, auf der andern die Annäherung, die sich seit dem
Jahre 1875 zwischen Frankreich und Nußland vollzieht.
Für einen Krieg verbündeter Mächte gegen einen gemeinsamen Feind ist
am Ende des vorigen Jahrhunderts der Name Kvalitionskrieg aufgebracht
worden. Das Wort Koalition ist abgeleitet von dein lateinischen (xmleseErö
(zusammenwachsen), sollte also eigentlich eine besonders innige Verbindung be¬
zeichnen; es wird aber jetzt in abgeschwächter Bedeutung für eine Vereinigung
überhaupt gebraucht. Eben deshalb, weil das Wort so viel verspricht und
doch am Ende so wenig hält, ist es bei seinein ersten Aufkommen von manchen,
z. B. von dein feinsinnigen Sprachmeister Herder, verspottet und zurückgewiesen
worden. Trotzdem hat es in unsrer Sprache Bürgerrecht erlangt und ist bis
jetzt jedenfalls durch kein andres zu ersetzen.
Koalitionskriege waren nicht nur die Kämpfe der europäischen Mächte
mit dem königlichen, dem republikanischen und dem kaiserlichen Frankreich zwischen
1792 und 1815, sondern auch die Kriege der Jahre 1072 bis 1714 gegen
Ludwig XIV., sodann, um weniger bedeutende beiseite zu lassen, der öster¬
reichische Erbfolgekrieg von 1740—1748 und der siebenjährige Krieg von
1756- 1763. Diese Koalitionskriege haben sich zu den verschiedensten Zeiten,
unter den verschiedenartigsten Bedingungen abgespielt. Gleichwohl bemerken
wir gewisse gemeinsame Züge, deren regelmäßige Wiederkehr den Gedanken
nahe legt, daß wir es mit wesentlichen Merkmalen des Konlitivnskrieges über¬
haupt zu thun haben.
Wir beginnen mit dein ersten, was bei einem Kriege not thut, mit der
Feststellung des .Kriegsplanes. Es ist selbstverständlich nicht möglich, den
ganzen Verlauf eines Krieges voraus zu bestimmen; das würde die Kräfte des
genialsten Schlachtenlenkers, des trefflichsten Generalstabs weit übersteigen; denn
der den KriegSplnn entwirft, hat ja sich gegenüber nicht maschinengleich
wirkende, berechenbare Kräfte, sondern freie Persönlichkeiten, die ihm jeden
Augenblick eine» Strich durch die Rechnung machen können. Aber das ist doch
notwendig, das; man schon vor dem Ausbrüche des Krieges sicher weiß, in
welcher Weise man ihn sichren will, ob als Angriffs- oder als Verteidigungs¬
krieg, wo die Heere versammelt werden, und welches die ersten Angriffspunkte
sein sollen. Es liegt ans der Hand, wie unentbehrlich dabei ein einheitlicher
Wille, eine feste Leitung ist, wie verhängnisvoll eine Abweichung von der vor¬
gezeichneten Linie. Ebenso klar ist es ans der andern Seite, daß die Schwierig¬
keit der Feststellung, die Gefahr der Abweichung mit der Zahl der selbständigen
Teilnehmer wächst, daß für einen einheitlichen Kriegsplan und seine folge¬
richtige Durchführung der Kvalitionskrieg kein günstiger Boden ist. Zwei
Beispiele mögen bestätigen, was sich schon ans der Natur der Dinge
schließen läßt.
Es war im Jahre Zee0i>. Mau stand vor einem neuen Kriege, dem
fünften Völkerkämpfe seit zwanzig Jahren: Österreich und England gegen
Napoleon. Preußen lag ant Boden; unter den Schlägen von Jena und Auer-
städt war der Staat Friedrichs des Großen zusammengebrochen. Drei Viertel
Deutschlands gehörten dein Rheinbund an und mußten jedem Winke des
fremden Gewaltherrschers gehorchen. Aber nnter den Augen der französischen
Heere, unter der Ansticht der geheimen Polizei, deren Horcher und Späher
sich in jede Gesellschaft, in jede Familie einschlichen, war es der unermüdlichen
Thätigkeit aufopfernder Vnterlandsfrenude, eines Freiherrn vom Stein, eines
Bincke, eines Justus Grüner gelungen, über das ganze nordwestliche Deutsch¬
land ein Netz von Einverständnissen auszubreiten, das sich in dein Augenblicke
der Entscheidung über denk ahnungslosen Feinde zusammenziehen sollte wie
Klytäinnestras Gewand über dem Haupte Agamemuvus. Die französischen
Besatzungen sollte» überfallen, die Beamten der fremden Regierung festge¬
nommen, ihre Kassen mit Beschlag belegt, ihre Kuriere angefangen, ihre Wngen-
zs'ge abgeschnitten werden. Das Zeichen für den Lvsbruch sollte die Landung
wies englischen Heeres sein. Denn das war von den ruhigen Dentschen nicht
zu erwarten, daß sie ohne einen kräftigen Anstoß von anßen sich zum Aufstand
entschlossen und gleich den heißblütigen Spaniern dnrch einen kleinen Krieg
uns eigne Hand den Feind vernichteten. Wenn dagegen ein regelmäßiges Heer,
»kochte es an Zahl noch so gering sein, auf dein Schauplatz erschien und als
Stütze und Zuflucht diente. daun konnte man darauf rechnen, daß die gereizte
Bevölkerung sich erhob, so gut wie die Bauern auf dem Westerwalde, die sich
"n Jahre I7W mit Sense und Dreschflegel ans das französische Raubgesindel
stürzten und niedermähten und niederdraschen, was der Erzherzog Karl vor
sich hertrieb. Daß der westfälische Königsthron auf schwachen Füßen stand,
zeigte sich vier Jahre später, als der immer lustige König Hieronhmus vor
Tschernitscheffs 2000 Kosaken die Flucht ergriff. In Vraunschweig sehnte alles
die Rückkehr des tapfern Herzogs herbei, der in Böhmen seine schwarze Schar
zum todesmutigen Angriff sammelte. War einmal im nordwestlichen Deutsch¬
land der Aufstand losgebrochen, dann konnte man hoffen, daß auch der zau¬
bernde König von Preußen sich zum Befreiungskampfe werde fortreißen lassen.
Dann waren Napoleons Heere beim Angriff auf Österreich in der linken
Flanke bedroht, gerade wie in der rechten durch die Erhebung der wackern
Tiroler.
Anfangs schien es auch, als ob die englische Negierung dein Vorschlage
nicht abgeneigt wäre; eine große Flotte wurde zusammengezogen, ein starkes
Landungsheer in Bereitschaft gesetzt. Aber im letzten Augenblick erhielt die
Unternehmung ein andres Ziel. Was kümmerten sich die Engländer um Deutsch¬
land, was hatten sie an Weser und Elbe zu suchen? Antwerpen, die blühende
Handelsstadt, mit ihrem unvergleichlichen Hafen in englischen Besitz zu bringen,
festen Fuß zu fassen auf dem Festlande, wie einst in Calais, in Dünkirchen,
das lohnte sich der Mühe, das war die Aufgabe, die Heer und Flotte erhielten.
So unterblieb die Landung in Norddeutsch land; statt einer allgemeinen Er¬
hebung erfolgten nur vereinzelte Ansbrttche, unter Schill, unter Dörnberg,
unter dein Herzog von Braunschweig, und der vielversprechende Kriegsplan war
vereitelt.
Ein andres Beispiel aus dem Kriege des Jahres 1813. Durch die Völker¬
schlacht bei Leipzig war Deutschland bis zum Rhein von den Franzosen ge¬
säubert, und man stand jetzt vor der Frage: Soll man einen neuen Feldzug be¬
ginnen und in Frankreich eindringen? Wie lange dauerte es damals, bis die
verbündeten Mächte, Rußland, Preußen, Österreich, sich über den Entschluß des
Einmarsches verständigten! Und als das Ob entschieden war, da begann der
Streit über das Wie. Blücher und Gneisenau wollten in raschem Schritt ans
Paris losgehen und so den Krieg zum schnellen Ende bringen. Den Öster¬
reichern war dieser Gedanke zu kühn, der Plan wurde verworfen, Napoleon
behielt Zeit, ein neues Heer aufzustellen und einzuüben, und der Krieg zog sich
noch monatelang hinaus.
Wir sehen: schon vor dein Beginn des Feldzuges, schon bei der Aufstellung
des Kriegsplaues zeigt sich die Schwierigkeit der Aufgabe, zwei oder drei Köpfe
unter einen Hut zu bringen. Aber diese Erfahrung kann sich bei jeder be¬
deutenden Wendung des Krieges, bei jedem entscheidenden Schritte wiederholen.
Am schlimmsten steht die Sache natürlich dann, wenn sich der eine der
Verbündeten nnr widerwillig am Kriege beteiligt, wie Kaiser Leopold I. im
Jahre 1673 an dem Kampfe gegen Ludwig XIV. Damals hatte Holland in
seiner höchsten Not einen Bundesgenossen gefunden an dein Kurfürsten Friedrich
Wilhelm von Brandenburg; sein wohlgeübtes, kampfesmutiges Heer stand am
untern Rhein, begierig, sich mit den Franzosen zu messen. An Zahl war es
freilich den Gegnern lange nicht gewachsen. Darum galt es sür einen großen
Erfolg der brandenburgischen Staatskunst, als sich der Kaiser bestimmen ließ,
zum Schutze der deutschen Reichsgrenze seine Truppen mit teilen des Kurfürsten
zu vereinigen. Aber die scheinbare Verstärkung erwies sich thatsächlich als eine
Schwächung. Leopold hatte seine Gründe, einen unheilbaren Bruch mit Frank¬
reich zu vermeiden. Sein Feldherr Moutecuccoli erhielt die Weisung, sich auf
keinen Kampf einzulassen, und der Kurfürst mochte mit dem Prinzen von Oranien,
dem Kriegsherrn der Niederlande, verabreden, was er wollte, er konnte nicht
von der Stelle.
Eil, noch treffenderes Beispiel gewährt das Verhalten des schwedischen
Kronprinzen Karl Johann, des ehemaligen französischen Marschalls Bernadotte,
im Befreiungskriege des Jahres 1813. Die Schweden hatten ihn zu ihrem
Thronfolger,' zum künftigen Erben ihres kinderlosen Königs Karl gewählt, und
in dieser Eigenschaft machte er den Kampf gegen Napoleon mit. Aber seinem
Ehrgeiz und seiner Einbildungskraft war die schwedische Königskrone zu gering;
seit Napoleons Stern im Erbleichen war, trug er sich mit der Hoffnung, an
dessen Statt Kaiser der Franzosen zu werden. Kein Wunder, daß er sich
bemühte, nicht nnr seine jetzigen Landsleute, die Schweden, die er gegen Na¬
poleon führte, sondern c»ich° seine frühern Mitbürger und, wie er hoffte, künf¬
tigen Unterthanen, die Franzosen, die er bekämpfte, so sehr als möglich zu
schonen. Für seine Verbündeten war diese Zwitterstellung umso verhängnis¬
voller, als sie ihm die Führung der Nordarmee übertragen und bedeutende
preußische und russische Heeresteile unter seinen Oberbefehl gestellt hatten. Die
preußischen Führer, besonders Bülow, mußten um jeden Schritt vorwärts mit
ihm kämpfen. Gleich anfangs wollte er ohne jeden zwingenden Grund Verlm
Preisgeben. Was ist Berlin? — hörte man ihn sagen —, eine Stadt. Und
doch mußte er wissen, daß diese Stadt der Mittelpunkt der norddeutschen Frei¬
heitsbewegung war, daß ihr Verlust an die rachedurstigen Franzosen für die
öffentliche Meinung so viel bedeutet hätte wie eine Niederlage im offnen Felde.
Nur Bttlows entschiedner Widerspruch wandte dieses Unglück ab; nur Bülows
eigenmächtige Entschlossenheit führte die Schlacht bei Großbeeren herbei, zu
der der Oberfeldherr erst nachträglich seine mißmutige Ziistiinmung gab. Dle
Schlacht wurde glänzend gewonnen; es war der erste größere Sieg der Ver¬
bündeten und deshalb von unberechenbarer Wirkung ans die öffentliche Meinung
beider Teile, umsomehr, da Napoleon, des Erfolges gewiß, die Nachricht von
dem Einzuge der Franzosen in Berlin, der nun glücklich vereitelt war, durch
seine amtliche Zeitung im voraus der Welt hatte verkündigen lassen.
Wäre Bülow selbständig gewesen, so hätte er den Sieg aufs kräftigste
ausgenutzt, bis zur Vernichtung des Feindes. Aber dazu war Bernadotte be,
allem Drängen und Mahnen nicht zu bewegen; er ließ dem Feinde Zeit, neue
Kräfte zu sammeln, und eine zweite Schlacht, bei Dennewitz, war nötig, um
nachzuholen, was durch des Feldherrn Schuld versäumt worden war. Auch
hier wieder thaten die Preußen alles, die Schweden so gut wie nichts.
Bernadotte selbst griff überhaupt nicht in den Kampf ein, sondern blieb in
nächster Nähe unthätig stehen; und wenn der preußische General Borstell eben
noch rechtzeitig auf dem Schlachtfeld erschien, um die drohende Niederlage in
einen glänzenden Sieg verwandeln zu helfen, so geschah dies in offenem Un¬
gehorsam gegen Bernadvttes ausdrückliche Weisung.
Auch jetzt, nach diesen widerwillig erfochtenen Siegen, blieb der Führer
der Nordarmee seiner bisherigen Haltung getreu. Zwingen mußte ihn Blücher
zum Übergang über die Elbe, zwingen mußte ihn der englische Gesandte zur
Teilnahme an der Schlacht bei Leipzig. Und als er nicht mehr ausweichen
konnte, da zögerte er wenigstens solange, daß er ein paar Stunden später, als
verabredet war, auf dem Kampfplatz eintraf. Dafür hatte er die Genug¬
thuung, daß neben 16000 Preußen nnr 100 Schweden unter den Toten ge¬
zählt wurden.
In diesen Fällen war es der böse Wille eines Verbündeten, der den
andern hemmte und betrog. Aber auch ohne das hat oft genug schon die
Schlaffheit, der Kleinmut, der Eigenwille des einen genügt, zu vereiteln, was
dem Feuereifer des andern erreichbar schien.
Welchen Kampf hatte Blücher als Führer des schlesischen Heeres mit den
Leitern der Hauptarmee auszufechten, bis es endlich zum gemeinsamen Angriff
bei Leipzig kam! Wie unverantwortlich wurden die Erfolge der Leipziger Schlacht
verkümmert, weil Blüchers und Kaiser Alexanders Vorschlag, sofort mit allein
Nachdruck die Verfolgung aufzunehmen, von den Österreichern verworfen wurde!
Und wie ging es nach der Schlacht bei La Nothiere im Februar 1814? Die
Verbündeten hatten zwei Heere gebildet, das eine sollte Blücher, das andre
weiter südlich Schwarzenberg auf Paris losfuhren. Im Vertrauen darauf,
daß seiue linke Flanke von Schwarzenberg gedeckt sei, drang Blücher unauf¬
haltsam vorwärts. Aber Schwarzenberg hielt zurück; in sechs Tagen machte
er sechs Meilen und gönnte dann seinein Heere zum Lohne für diese Kraft¬
leistung eine dreitägige Rast. So wurde Blüchers linke Flanke entblößt,
Napoleon fiel unversehens über ihn her und brachte seineu vereinzelten Heeres¬
teilen in fünf Tagen fünf empfindliche Niederlagen bei.
Versetzen wir uns aus den Winterstürmen der Champagne in die glühenden
Ebenen der Lombardei; erinnern wir uns, wie im Jahre 1799 der greise Held
Suwaroff in beispiellosem Siegeslaufe die Franzosen zu Paaren trieb. Schon
war die zisalpinische Republik, Bvncipartes Gründung, zusammengestürzt;
zitternd erwartete Frankreich selbst den anstürmenden Feind. Da hält dieser
plötzlich inne. Warum? Der Russe Suwaroff konnte sich mit dem Wiener
Hofe nicht vertrage», und dieses Zerwürfnis durchschnitt den Lebensnerv des
Buudeskrieges.
So im zweiten Koalitionskriege; aber auch im ersten verdankte Frankreich
seine Rettung lediglich der Uneinigkeit der Verbündeten, nicht der eignen Kraft,
am wenigsten dein Zaubertranke der Freiheit, wie man wohl gefabelt hat.
Nein, die Revolution hatte auf die französischen Heere gerade die Wirkung
ausgeübt, die man vernünftigerweise erwarten konnte: jede Ordnung war
gelöst, jede Mannszucht vernichtet; das Recht der Empörung, das die Menschen¬
rechte dem Staatsbürger zugestanden, war auch auf deu Soldaten und sein
Verhältnis zum Offizier übertragen. Dazu waren die Festungen nicht versorgt,
die Heere schlecht bewaffnet, schlecht verpflegt, schlecht geführt; einem ent¬
schlossenen Angriffe war Frankreich im Jahre 1793 wehrlos preisgegeben.
Aber dieser entschlossene Angriff blieb ans, denn der Republik stand nicht ein
einzelner Gegner, sondern eine Koalition gegenüber. Österreich, Preußen, Eng¬
land, Holland beobachteten sich gegenseitig mit Argwohn und Mißgunst; jeder
wollte für sich soviel als möglich davontragen, den Verbündeten nicht zu
mächtig werden lassen. Der Kaiser hatte die Absicht, die Grenze seiner bel¬
gischen Lande nach Südwesten hinauszurücken und die Habsburgische Herrschaft
im Elsaß zu erneuern; England wollte Dünkirchen erobern; Holland wußte
noch nicht genau, was es wählen sollte, jedenfalls wollte es nicht leer ans¬
tehen. Dazu kam der vergiftende Hader zwischen Österreich und Preußen
>vegen der polnischen Frage. So wurden die Kräfte zersplittert, die Zeit ver¬
geudet, bis die Schreckensherrschaft des Wohlfahrtsausschusses Hunderttausende
durch Tvdesdrvhungen an die entblößte Grenze trieb und zuletzt der Mann
des Schicksals, Napoleon Bonaparte, die Führung deS italienischem Heeres
übernahm.
Ich übergehe den spanischen Erbfolgekrieg und die ärgerlichen Streitig¬
keiten der Österreicher und Engländer über das Maß der Aufwendungen, die
jede der beiden Mächte für den Krieg ans der phrenäischen Halbinsel machen
^ille; ich lasse auch den österreichischen Erbfolgekrieg beiseite, obwohl sich zeigen
^ße, wie viel zu deu großen Erfolgen der Franzosen in den Niederlanden der
Umstand beigetragen hat, daß die verbündeten Engländer, Holländer und
Österreicher sich über die Wahl eines Oberfeldherrn nicht einigen konnten.
Aber der siebenjährige Krieg darf nicht unbesprvchen bleiben, denu er zeigt
^nz besonders deutlich die verhängnisvollen Eigentümlichkeiten des Kocilitions-
^eges. Hätte man nicht erwarten sollen, daß dem gemeinsamen Ansturme
^' europäische,, Mächte das kleine Preußen rettungslos erliegen würde, denn
''"de nur Schweden und Sachsen, nicht nur Rußland und das heilige römische
.^us hatte die Kaiserin Maria Theresia gegen ihren Todfeind Friedrich ins
geführt, sondern die beiden Mächte, deren feindlicher Gegensatz die letzten
^hrhuuderte hindurch der europäischen Geschichte ihr Gepräge verliehen hatte,
Frankreich und Österreich, hatten sich geeinigt zum gemeinsamen Angriffe gegen
den verwegnen Fürsten, der sich vermaß, einen eignen Willen zu haben, der
sich von niemand dienstbar machen ließ. Was hat denn nun in diesem un¬
gleichen Kampfe Preußen gerettet? Gewiß war es in erster Linie die unver¬
gleichliche Feldherrngabe des großen Friedrich; gewiß hat die Tüchtigkeit des
preußischen, die Liederlichkeit des französischen Heeres, gewiß die Erfindung
des alten Dessauers, der eiserne Ladestock, gewiß Dauns übertriebene Bedächtig¬
keit und die Unfähigkeit des Herzogs von Lothringen das ihrige dazu beige¬
tragen. Aber durch das alles konnte doch das Mißverhältnis der Kräfte nicht
aufgewogen werden. Bei Kunersdorf wurde Friedrich mit seineu 50 000 Preußen
von 80 000 Russen und Österreichern besiegt; sein Heer war vernichtet, der
Weg nach Berlin stand den Feinden offen; der König selbst schrieb an seinen
Vertrauten, den Grafen Finkenstein: Ich halte alles sür verloren, ich werde
den Untergang des Vaterlandes nicht überleben. Aber im entscheidenden
Augenblicke brach zwischen den Verbündeten ein Zerwürfnis ans. Die Russen
meinten, sie hätten nun genug geleistet, jetzt möchten auch die Österreicher
zeigen, was sie könnten. Es kam zu keiner Verständigung; das russische Heer
ging nach der Weichsel zurück, und der preußische Staat war gerettet.
Zwei Jahre später lagen zwei verbündete Heere, ein österreichisches und
ein russisches, neben einander in Schlesien; ihnen gegenüber Friedrich, der nicht
halb so viel Soldaten zur Verfügung hatte wie feine beiden Gegner zusammen.
Aber auch diesmal verhinderte die Eifersucht der beideu Heerführer eiuen ge¬
meinsamen Angriff; wiederum zogen sich nach wochenlanger Unthätigkeit die
Russen nach dem Osten zurück, und Laudon hatte umsonst auf eiuen ver¬
nichtenden Schlag gehofft.
(Schluß folgt)
it diesen: Schlagworte wollen wir keineswegs ein ungünstiges
Vorurteil gegen die beiden Werke erwecken, von denen wir hier
sprechen wollen, obwohl wir wissen, daß das Wort einen Übeln
Beigeschmack hat. Wir stellen uns nicht auf deu Standpunkt
einer abstrakt formalistischen Ästhetik, die die Kunst nur der
Kunst wegen geübt wissen will, die ausschließlich nur die Form eines Werkes
in Betracht zieht. Auch folgen wir nicht der von den Naturalisten verzerrten
Lehre vom unbewußten Schaffen des künstlerischen Genius, die jede Absicht,
anch die aus die Schönheit, dem Künstler abspricht. Etwas muß der Künstler
immer mit seinem Werke beabsichtigen; jede menschliche Thätigkeit hat ein Ziel,
einen Zweck, wenn sie überhaupt beachtenswert sein soll. Man schließt die
teleologische Betrachtungsweise aus der Naturwissenschaft aus; anch da geschieht
es aber schließlich nur scheinbar. Man hütet sich davor, von vornherein Zwecke
in den Mechanismus des Natnrschaffens hineinzutragen; um so eifriger sucht
mau aber empirisch seinen Zweck zu begreifen. Die Thätigkeit des Geistes
jedoch kann unmöglich als zwecklos angesehen werden, man darf nicht auch
den Geist mechanisiren, wenn man sich überhaupt noch seiner selbst bewußt
bleiben, wenn man nicht in Urteilslosigkeit, in grenzenlose Öde und Roheit
versinken Null. Die Unbewußtheit des künstlerischem Schaffens ist nur ein
Schein, der aus dem Gegensatz von Phantasie und Vernunft, von nuschnulicheu
Vorstellungen und begrifflichem Denken im Meuscheu entsteht. Nehmt ihm
die zweckbewußte Freiheit im Schaffen, das Lenken und Ordnen feines ge¬
schauten Bildes, und er wird zum Stammler; er hört auf, Künstler zu sein.
Er hat die Aufgabe, soviel als möglich sein absichtliches Handeln im Kunst¬
werk zu verbergen, aber doch nnr, um dessen Wirkung zu erhöhen, nicht um
sale Absichten aufzuheben. Nur die bemerkbare Absicht verstimmt, nicht die
Absicht an sich selbst, wenn sie sonst gut ist. Ans dem einen Extrem des nur
'lbfichten verratenden, künstlerisch ohnmächtigen Schaffens darf man nicht in
dessen Gegenteil verfallen: in die Verpönung aller Absicht. Damit würde man
Zügellosigkeit in der Kunst Thür und Thor öffnen, jeder Willkür würde
damit grundsätzliche Geltung zugestanden werdeu, und indem man den Geist
öUr Maschine herabdrückt, denselben Geist, der sich die Maschinen zur leichtern
Erreichung seiner Zwecke geschaffen hat, würde eine unglaubliche Verflachung
Platz greifen.
Wir find also grundsätzlich nicht gegen Tendenz in der Kunst. Es haben
"und große Dichter, nicht bloß Dickens, auch Jeremias Gotthelf, Tendenz ans
^)rer Kunst nicht ausgeschlossen. Es kommt nnr auf den Wert dieser Tendenz
"u, der rein dichterische Wert ihrer Schöpfungen hängt von dein Maße ab,
^vrii, sie ihre Absichten im Bilde haben aufgehen lassen können. Von einer
^stimmten Weltanschnunng muß schließlich jeder Künstler ausgehen, nur ist
^ einen diese Weltanschauung mehr, dem andern weniger bewußt. Dem
^Um ist sie „och ganz Gemüts- und Gefühlssache, sie äußert sich naiv im
^nnittelbaren Ausdruck für den empfangenen seelischen Eindruck; beim andern
1 sie ein durchgebildetes Ganze von Ideen. Ohne eine solche Weltanschauung
>t kein
Diedichterisches Schaffen möglich, denn es ist ohne Urteil nicht möglich.
"?^ische Wertbestimmung der Eindrücke und Erfahrungen aus der Außen-
nn Gemüte des Dichters ist ein sittliches Urteilen. Der Phantasiemensch
M ^vrgänge und Handlungen und Zustände der Welt schon in jenem
Lichte, das durch seine sittliche Stellungnahme zu ihnen mehr oder weniger
bewußt in ihm erzeugt wurden ist. Man fordert Individualität vom Dichter;
das ist nichts andres als eine wohl abgeschlossene, ganz genan bestimmte Welt¬
anschauung, mag sie so subjektiv sein, als sie will.
Dies mir beiläufig, wir müssen endlich auf unsre beiden Teudeuzrvmcme
kommen, auf die „Lebensgeschichte" in zwei Bänden: Die Waffen nieder!
von Bertha von Suttner (Dresden, Pierson) und den Roman: Or!i et
ig-dorn.! von Friedrich Voettcher (Leipzig, Ernst Kens Nachfolger). Die
Imperativische Form im Titel beider Werke — habt Acht! — verrät schon
ihre polemische Haltung. Sie sind aber beide gründlich verschieden, hinsichtlich
des Charakters ihrer Verfasser, in der Bedeutung ihrer Absichten, und endlich auch
nach dem künstlerischen Werte der Darstellung. Große Dichtungen sind es beide
nicht, das wollen wir gleich sagen, aber interessante Zeiterscheinungen, die eine
genauere Betrachtung rechtfertigen.
Fran von Suttner schreibt ihr dickes Buch gegen den Krieg, und damit
schließt sie sich einer großen Reihe von Vvrgüngern an und trifft in der
ganzen zivilisirten Welt, mit Ausnahme vielleicht der nach Revanche schreienden
Chauvinisten in Paris, empfängliches Gehör. Nach Friede» hat ganz Europa
ein tiefes Bedürfnis; nichts hat die Volkstümlichkeit Bismarcks so sehr ge¬
fördert, als daß er der Schutzherr des europäischen Friedens geworden ist.
Wir hassen alle den Krieg, alle ohne Ausnahme, vom Kaiser herab bis zum
ärmsten Bauer. Daran ist gnr kein Zweifel: daß heutzutage noch ein Kabinets-
krieg oder ein Krieg aus leichtfertige» Gründen entstehen sollte, ist ganz
undenkbar. Das ist ja der Charakter unsers Zeitalters, daß sich in allen
Schichten der Bevölkerung nicht bloß Deutschlands, sondern auch Österreichs,
Italiens das vollste Vertrauen aus den reinsten Willen der Regierungen ein¬
gewurzelt hat, lind wenn Zwistigkeiten, Parteiungen entstehen, so geschieht dies
nur infolge der Verschiedenheit der Meinungen über die Wahl der Mittel zur
Förderung des Vvlkswvhles, nicht aber infolge des Zweifels an dem reinen
Wille» der Staatenlenker selbst. Die Stimmung der Zeit ist also durchaus
friedlich, und jede Polemik gegen den Krieg erscheint beinahe überflüssig. Die
Suttner rennt eigentlich offene Thüren ein. Doch daraus wollen wir ihr
keinen Vorwurf machen. Unser heutiges Geschlecht genießt eines Friedens, der
mit schweren Opfern an Gut und Vink erkämpft worden ist und noch immer
mit großen Opfern an Gut und Kraft erhalten wird. Der kriegerische Geist
ist in Europa noch keineswegs erloschen. Über die Notwendigkeit und den
Wert der Kriege herrschen noch immer geteilte Meinungen. Wir fühlen zwar,
daß eine Zeit notwendig wird kommen müssen, too auch ernstere politische
Gegensätze durch Schiedsgerichte, europäische Konferenzen so gut werde» bei¬
gelegt werde», wie man schon kleine politische Konflikte (z.B. die Karolinen-
inselfmge) geschlichtet hat, »»d wie gegenwärtig große soziale Frage» durch
Abgeordnete aller europäischen Regierungen in Berlin gemeinsam berate»
werden. Aber noch ist die Zeit nicht da, und darum hat es immerhin seine
Berechtigung, wenn eine großherzige Frau mit Begeisterung und Talent den
kriegerischen Sinn in dieser den Frieden liebenden Zeit bekämpft. Denn mit
diesem Werke erfüllt sie uur die Sendung des Weibes wie des Dichters: der
Liebe den Weg zu bahnen, die Geister zu reinigen und die Herzen zu läutern.
Diesen kriegerischen Geist in allen seinen Formen, in der praktischen Politik,
in der Geschichtswissenschaft, in der Erziehung der Jugend, in der Schätzung
der Stande, in der Diplomatie bekämpft dialektisch und poetisch Verthn von
Snttner. Sie wendet sich an unsern Verstand, an unser Herz, an unsre
Nächsten- und Familienliebe, an unsre Phantasie, um uus den Jammer und
die Barbarei des Krieges recht gründlich zu Gemüte zu führen. Gegen dieses
Unternehmen ist nichts einzuwenden. Die Verfasserin hat für die Darstellung
ihrer Tendenz auch keine üble Fabel erfunden. Ihr Buch teilt uns die von
der Baronin Martha Tilliug, der Gattin eines österreichischen Oberstleutnants,
hinterlassenen Erinnerungen mit. Martha ist die Tochter eines hohen öster¬
reichischen Offiziers, des Grafen Althaus, der unter Rndetzkhs ruhmreicher
Führung 1848 in Oberitalien mitgefochten hat und im Gegensatz zu seiner
Tochter an den kriegerischen Überlieferungen des alten österreichischen Adels
festhält. Mit achtzehn Jahren heiratet Martha einen Hnsnrenvberlentnnnt, der
1859 nach kaum einjähriger Ehe bei Magenta füllt. Nach vierjähriger Witwen-
krciner heiratet die sehr begreiflicherweise inzwischen zur grimmigsten Kriegs¬
feindin gewordene Martha den leidenschaftlich geliebten Baron Tilling, wieder
einen Soldaten, und nun kommt sie aus dem Kriegsjammer nicht heraus.
Tilling muß 1864 in den Krieg nach Schleswig-Holstein gerade in dem Augen¬
blick, wo sich seiue Frau in Geburtswehen krümmt. Dann muß er 1866 in
böhmischen Krieg, und den Winter 1870/71 verleben beide gar in der
Belagerung von Paris, wo der Oberst Tilling ruchloserweise von Kom¬
munarden erschossen wird. Diese Schicksale einer Soldatenfrau siud allerdings
geeignet, uus den Krieg in seiner furchtbarsten Gestalt vorzustellen. Aber mit
Darstellung dieser Fabel begnügt sich die Snttner nicht. Wir machen
"lebt bloß jedesmal die gewaltige Aufregung und Angst vor, während und
nach dem Kriege mit durch, die Martha um daS Schicksal ihres Gatten erlebt,
^ir werden auch auf die Schlachtfelder von Königgrütz geführt und müssen
Schreien der Verwundeten hören, die entsetzlichen Begleiterscheinungen der
flacht alle mit ansehen. Es wird uns nichts erspart. Auch in der Friedens-
^ wird ohne Unterlaß nnr vom Kriege gesprochen, und wir müssen alle
Meinungen für oder gegen ihn anhören. Frau von Suttuer hat alles litte-
^Rhede GesH^ gegen den Krieg vorgeführt, das nur erreichbar war, und wie
unsre Ohren von dem Donner der Kanonen bis zur Taubheit bestürmt werden,
^ bestürmt sie unser Gemüt bis zur Unempfänglichkeit mit Beweisgründen
gegen die .K'anvneli. Das ist die Schwäche ihres Buches, die sie selbst wohl
empfunden hat und daher durch eingeflochtene Episodenfiguren novellistischer
Art zu verdecken gesucht hat. Sie hat des Guten zuviel gethan. Sie hat
nicht Maß gehalten, sie wiederholt sich unnötigerweise, sie stellt die Geduld
des Lesers auf eine zu harte Probe. Sie hätte den Krieg mit weniger Auf¬
wand von Mitteln bekämpfen sollen, dann wäre auch die Wirkung wuchtiger
geworden.
Unterhaltender, darum anch wirksamer hat Friedrich Boettcher seine
Tendenz in dem Romane Or-i, <>t U>et>«»ri>, dargestellt. Auch hier bewegen wir
uns in politischer Luft, die jüngste Gegenwart Deutschlands mit allen ihren
Parteien und Problemen wird uns vorgeführt; der Kampf gegen die Sozial-
demvtmtie, als ihr wichtigstes, steht in der Mitte. Boettcher steht auf dem
Standpunkte der Freikonservativen oder der Nationallibernlen. Er überschaut
die ganze Entwicklung der dentschen Nation seit dem Jahre 1848. Er hält
zu Kaiser und Reich, ist ein Anhänger Bismarcks, bleibt auf dem Boden des
Christentums und ist ein Renlist im vornehmen Sinne, wenn er die Kultur¬
entwicklung selbst „als die allmähliche Verwirklichung der göttlichen Welt-
ordnung" erklärt. Sein Christentum ist eine Religion der Liebe, der Duldung,
der heilige» Arbeit. Er rechnet voll der kaiserlichen Botschaft des Jahres 1881
an die neue Zeit, die Lösung der sozialen Fragen ist ihm die wichtigste Aus¬
gabe der Gegenwart. Der Weg der Svzialdemokmtie scheint ihm dabei der
nllerverkehrteste zu sein. Die rohen Leidenschaften entfachen, den Bürger¬
krieg entfesseln, die gesamte gesellschaftliche Ordnung umstürzen, wie es die
Sozialdemv traten wollen, das stellt er in seiner ganzen Unvernünftigkeit dar.
„Ich habe eingesehen, sagt der Held des Romans zum Schluß, daß jede ans
die Erregung eines besondern proletarischen Standesgefühls gerichtete Bewegung
von Übel ist. Möge der Staat fortfahren, die schlimmsten Härten in der Lage
der arbeitenden Klassen dnrch den Zwang des Gesetzes zu beseitigen! Die
Hauptsache aber ist, das; in die Kreise der Arbeiter wie der Arbeitgeber ein
andrer, ein gerechterer Geist einziehe: Genügsamkeit der Arbeiter und Achtung
der Arbeitgeber vor der Menschenwürde auch des letzten ihrer Leute. Die in
Deutschland auf beiden Seite» herrschende Gefühlsvergiftuug ist es, was geheilt
werden muß. Solveit ich zu sehe» vermag, giebt es kein andres Mittel, als
wenn in den obern Schichten der Egoismus wieder gedämpft wird durch edle
Nächstenliebe, und in deu untern an die Stelle des trostlosen Materialismus
wieder eine idealere Lebensauffassung tritt" n. s. w. Dialektisch durch Aus-
einandersetzungen des Helden mit sich selbst und den verschiednen Pnrteihäuptern
und dichterisch durch Schilderung der sozialdemokratischen Führer, der Unruhen
infolge von Streiks: so von zwei Seiten ans geht Boettcher der Sozialdemo¬
kratie zuleide. Und da er über eine nicht gewöhnliche Darstellungsgabe ver¬
fügt, so weiß er uns in Spannung zu erhalten. Spielhagen mag ihm wohl
(ils Muster vor Augen geschwebt haben. Aber sein Buch darf den Vergleich
mit dem ältern Schriftsteller schon wagen; frischer als dessen letzte Romane,
klarer in der Gesinnung und hübscher in der Komposition als „Was will das
werden?" ist Om et lukorn, jedenfalls. Freilich ist der Politiker stärker als
der Dichter; die Partei ist in der Darstellung Bvettchers wichtiger als der
Charakter geworden. ^
Die Fabel ist bis auf den Schluß recht hübsch und zweckmäßig, wen» mich
nicht gerade originell erfunden. Heinrich Werner ist der Sohn einer armen
Waschsrnu in der Provinz, der sich durch seine Schönheit, sein edles Wesen,
seine große Begabung, sein Rednertalent schon früh auszeichnet. Er genießt
den Schutz des Pfarrers und andrer Honoratioren der Stadt, wird in die
bessern Kreise aufgenommen, muß aber schon hier schmerzlich den Unterschied
von Reich und Arm empfinden. Er wird endlich Setzerlehrling, und sein
guter Lehrer, eben jener Pfarrer, ahnt schon, daß Heinrich so in das Lager
der Sozialdemokratin getrieben werden wird. Heinrich hält es im Heimat-
städtchen nicht lauge ans, er muß nach Berlin, um rascher vorwärts zu kommen.
Und nun ist er unversehens mitten »uter deu Sozinldemokrateu, die sich sofort
seiner litterarische» und rhetorischen Begabung bemächtigen. Werner wird von
ihnen an die Spitze ihres Blattes gestellt; nach seinen ersten Artikeln kommt
er mit der Polizei in Konflikt, wird verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis
verurteilt. Das thut ihm schließlich gut, denn in der Einsamkeit studirt er
fleißig; aber er verbittert sich auch umso eigensinniger gegen die Regierung.
Kaum in Freiheit gesetzt, wird er von de» Svzinldemokraten als Neichstags-
nndidat aufgestellt. Er ist aber eine tiefe Natur mit redlichem Streben nach
Wahrheit und Recht. Er verkehrt mit dem Führer der Sozialdemokraten
und lernt deu reichen Epiknreer, den gewissenlosen, politischen Streber verachten,
^'r erlebt einen Streik, und die rohen Szenen dabei erregen in ihm uur Ab-
!eben. Innerlich ist er von der Sozialdemokratie geschieden, als er die Kan-
^datenrede zu halten hat, bei der ihm die Phrase mit dem Verstand durchgeht,
Und die die Auslösung der Wahlversammlung, Tumult, Straßenkampf, Ver¬
wundung Heinrichs, Spital, Ausweisung, Bettlertum zur Folge hat. Soweit
Wäre alles ganz hübsch, wenn sich auch Heinrich nicht gerade dnrch „Initiative"
"uszeüHmt, Merkwürdigerweise gerät er aber nun in das Netz eines Jesuiten,
''ud troj; ^,den Bildung ist er nicht imstande, sich dnrch ruhige
Zerlegung wieder daraus zu befreien; vielmehr begiebt er sich allen Ernstes
den Weg nach Italien, um in das Jesuitenklaster bei Florenz einzutreten.
^ ist wohl der dümmste seiner Streiche, und es ist nicht zu begreifen, was
^^daher mit diesem Zuge hat andeute» wollen. Doch Wohl nicht den sittlichen
. M der voolssig, nriliwns? oder die objektive Gleichberechtigung des katholisch-
^'suchen Lebensideals mit dein nationaldeutscheu? Klar wird Boettchers
t nicht. Er läßt auch seineu Helden in der That nicht Jesuit ans Ver-
zweiflung über die Verworrenheit der deutschen Parteiverhältnisse werden,
sondern kurz vor dem Kloster bricht Heinrich halbtot vor Schwäche zusammen
und gerät nach der klugen Vorsehung des Dichters in das Haus seines alten
väterlichen Freundes, jenes Stadtpfarrers ans der Heimat, der nach Italien
übergesiedelt ist, um dort seinen Lebensabend freudig zu genießen. Hier genest
Heinrich von seelischer und leiblicher Krankheit und gewinnt die Lebenslust
wieder. Nur muß er sich noch überflüssigerweise als ein Grafensohn entpuppen,
um dann noch die adliche Geliebte heiraten zu können.
Diese poetischen Schwächen sind auch hier das Kennzeichen des Tendenz-
rvmans. Alle hübschen und aus guter Kenntnis geschöpften Schilderungen
Berlins, seines öffentlichen und politischen Lebens können für diese Mängel
nicht entschädigen. Aber da die Tendenz gesund ist, so darf man den Roman
nicht tadeln. Jedenfalls erhebt er sich über die Dutzendware der Leihbibliotheken
infolge der reichern Bildung des Verfassers.
Ich wurde 1359 Student.
Mein „Wechsel" war nicht groß; für die eigentlichen Studentenfrenden konnte ich
wenig aufwenden und hatte darum umsomehr Zeit, mich mit ernsten Dingen zu
beschäftige», besonders mit Geschichte und Politik. Es wurde damals schon üblich,
daß die Meister deutscher Wissenschaft es nicht verschmähten, die Ergebnisse ihrer
Wissenschaft der ganzen gebildeten Welt zugänglich zu machen; es erschienen nach
und nach jene herrlichen Meisterwerke deutscher Geschichtschreibung, auf die wir
immer stolz sein werden. Mit Freuden ließ man sich von des Darstellers an¬
mutender Erzählung in die glanzvollen Tage der Vergangenheit versetzen, wo das
deutsche Reich das weltgebietenoe war.
Umso unbefriedigender war der Blick ans die Gegenwart. Wohl wies in den
Gymnasien mancher Lehrer der Geographie triumphirend darauf hin, daß der
deutsche Bund mit Österreichs und Preußens außerdeutschen Ländern an siebzig
Millionen Einwohner habe, also der mächtigste Staat Europas sei; aber wir wußten
es besser, nur wußten, daß dieser Bund kein Bund, dieser Staat kein Staat war.
In den Mittelstaaten, besonders in dem, wo ich lebte, spukte damals bei Fürst
und Regierung die Preußenfurcht. Das Jahr 1848 lag noch jedem in den
Gliedern; man halte vor den damals entfesselten Geistern gezittert, auch vor dein
preußischen Erbkaisertum. Was nur prenßenfeindlich war, wurde als Gesimmngs-
tüchtigkeit, als Treue gegen das angestammte Fürstenhaus gepriesen. Der
Nationalvercin wurde in keinem Lande mehr gehaßt, als bei uns. Selbst das
„ Schleswig - Holstein meerumschlnngen" galt in den Augen der Behörden als ein
demokratisches Lied; es kam vor, das; bei einem öffentlichen Konzert in einer Klein¬
stadt ein anwesender Sergeant der Musikbande verbot, „Deutschland, Deutschland
über alles" zu spielen, und daß die Musikbande. sowie die ganze anwesende Ge¬
sellschaft der Honoratioren kein Wort dagegen zu sagen wagte. Es lag ein Druck
auf jedem Herzen.
Wir Studenten machte» uns über diese Angstpolitik weidlich lustig und sangen
Spottlieder auf die mittelstaatlichen Minister. Von einem ist mir noch der Kehr¬
reim erinnerlich:
Dalwigk, Borries, Hasseitpflug,
Deutschland, du bist reich genug!
Vieler, besonders derer, die sich in einer gewissen Burschenschaft zusammen¬
fanden, bemächtigten sich republikanische Gedanken. Der Geist der alten Burschen-
schaft, der „Schwarzen," der „Unbedingten," schien wieder aufleben zu wollen;
die brandroten Mützen der frischen jungen Leute schienen auf ihre rote politische
Farbe hinzudeuten. Ich erinnere mich manchmal in ihrer Gesellschaft das Revo-
lutivuslied von 1848 gesungen zu haben:
Dreiunddreißig Jahre währt die Knechtschaft scho»!
Nieder mit den Hunden von der Reaktion!
Blut muß fließe» knüppeldick,
Vivnt hoch die Republik!
Aber das war so wenig bösartig gemeint, wie die Verschwörung, um deinet¬
willen Fritz Reuter feilte „Festungstid" erlebte. Es klang ja gefährlich genug,
wenn dieses blutdürstige Lied erscholl und ein urkräftiger Bruder Studio, Her¬
kules geunuut, mit einem in der rechten Hund geschwungenen Bierfasse den Takt
dazu schlug; es war ja ein trüber Most, der da gährte, aber er gab einen guten
Wem. Ich sehe heute, dieselbe» Leute in den höchsten Stnatsämteru und deu
Herkules besonders machtvoll sein Szepter schwingen; ich sehe sie samt und sonders
u>it Freuden für Bismarck und seine deutsche Politik auf der Warte stehen.
Nun kamen die Veränderungen in Italien. Bis auf Rom und Venetien war
^s Laud am Ziele seiner Wünsche angelangt. Viktor Emanuel, Cavour und
^aribaldi wurden unsre Helden. Warum haben wir nicht auch unsern Viktor
^uiauuel? Hat denn kein preussischer Minister den Ehrgeiz, unser Cavour zu
Werden? Schreit nicht unsre wie eine Narrenkappe bunte Landkarte ebenso nach
Einheit wie die italienische? Nur Einheit! Nur eine Nation, nur groß wollten
^r s^in- ^„es die Einheit der Knute wäre uns recht gewesen.
Auf Preußen sah man damals als auf einen halbrussischen Staat hinab.
Aussen und Borussen, das ist dasselbe, hieß es. Den König Wilhelm übersahen
natürlich alle. Einmal hatte er zwar unsre Shmpathien gehabt, als er die
»Neue Ära" eröffnete, aber ans welche Bahnen war er jetzt gekommen! Er lag
""t seiueui Lande im Streite. Die heftigstem Redner der Fortschrittspartei waren
^» n^es „ichs heftig genug. Wir verehrten in den Parlamentariern, die doch
.^kwürdigerweise aus dem verachteten Preußen aufgestanden waren, Sterne erster
goldnen Zeiten der griechischen und römischen Freiheit schienen uns
,'^ergekehrt, als wir diese Demvsthe»esse und Cicerone so edel und mannhaft, fo
tertias und so wortreich gegen die „Verblendung" der Negierung, d. i. des
w^^?' Front machen sahen. Und warum wollte der König nicht „Frieden haben
' seinem Volke?" Wegen der thörichten Armeereorganisation, weil er nnr für
das „Soldatenspiel" Sinn hatte und nicht auf die Stimme des in seinen heiligsten
Rechten gekränkten Volkes hören wollte. Lächerlich! Beschränkter Militarismus!
Sind die Soldaten nicht die unnützesten Menschen der Welt und die Leutnants
die größten Tagediebe? Krieg? Den giebt es nicht mehr. Und wenn es welchen
giebt? Wer hat 1813 den Sieg davongetragen? Das Heer oder das Volk? Wer
hat der glorreichen Schweiz ihre Siege erfochten gegen alle Despoten der Welt?
So sahe» nur denn den König von Fehler zu Fehler schreiten und das
Staatsschiff in sein Verderben lenken. Wir verzweifelten an ihm. „Preußen muß
der Großmachtskitzel a>lsgetrieben werden." Dies schöne Wort war uns aus der
Seele gesprochen. Wir verzweifelten an unserm Vaterland und sangen immer
wieder: Dreiunddreißig Jahre währt die Knechtschaft schon.
Da ging die Nachricht durch die Blätter, daß das bisherige Ministerium ver¬
abschiedet und der bisherige Botschafter in Paris, von Bismarck-Schönhausen, an
die Spitze des Staatsministeriums berufen worden sei; der König wollte durch den
schneidigen „Junker" den Widerstand des Abgeordnetenhauses brechen und die
Heeresreorganisativn durchsetze». „In Preußen wird Herr von Bismarck schön
Hausen," sagte alsbald der Volkswitz. „Was," hieß eS, „der kommt vom Hofe
Napoleons, dort hat er alle Ränke und Tücken von dem großen Meister (denn
damals hielt man den drillen Napoleon für den großen Meister;, er war der »Er«
des Kladderadatsch) gelernt; er hat sich französische Unterstützung erkauft durch
Preisgebung deutschen Landes und deutscher Interessen," Gerüchte, die bei dem
beabsichtigten Verkaufe der Saarkohlenberglverke an eine französische Gesellschaft
neue Nahrung erhielten, lind mit welcher empörenden Frechheit benahm sich der
„Junker" alsbald! Er wollte dem würdigen Grabow nicht Unterthan sein; er
wollte sich von den vielen weisen Männern, den Zierden des Landes, nicht dar¬
über belehren lassen, welch ein Unheil der Militarismus für das Land sei! Die
dramatischen Vorgänge im Abgeordnetenhause, wo der neue Minister den Herren
unverblümt sagte, daß er sich nichts ans ihnen mache, steigerten noch unsern Haß
gegen den „unheilvollen" Mann. Damals veranstaltete die Burschenschaft mit den
brandroten Mützen eine Feier, in der Bismarck, nachdem ihm eine gewaltige. Stand¬
rede gehalten worden war, in «ckligi,; gehängt wurde. Es kam uns ganz ans dem
Herzen, daß ihn ein berühmter Parlamentarier mit dein sinnreichen Junker aus
der lei Mancha und ein andrer mit einem Seiltänzer verglich. „Das war einmal
recht! Heute hat er es aber einmal gesagt bekommen!" Zwar hörte mau »nieder
andres, das stutzig machte. Mau hörte das Wort von „Blut und Eisen." Man
erlebte es, daß er im Namen Preußens ein aus UrWahlen hervorgegangenes Par¬
lament verlangte. Man sah das viel besungene Schleswig-Holstein meerumschlungen
wieder deutsch werden. Aber man blieb bei seiner Meinung. Wie viele Hunde sind
damals „Bismarck" genannt worden!
Als aber das Jahr 186K kam, als man nach den vielen Worten nun Thaten
sah, als sich die Heeresrevrganisation so glänzend bewährte, als man sah, was ein
Heer wert ist, und auch die vielgeschmähten Junker und preußische Leutnants zu
Ehren kamen, als sich dann immer mehr zeigte, was der Mann gewollt hatte, und
daß er uus alles das brachte, in der Gegenwart brachte, was wir einst in märchen-
haft verschwommener Zukunft gehofft halten, welcher Umschlag mit einemmale!
Vor drei Jahren stand ich ans der Superga bei Turin, wo die Fürsten.aus
dem Hause Snvoyen ihre Gruft haben. Ich hatte rings um mich einen hübschen
Ausblick. Der Berg mit seiner schönen saftigen Waldung, die schöne große Stadt,
dann die nähere Umgebung bot ein anmutiges Bild. Aber es war doch nicht die
Aussicht, die man erwartet hatte, und ich wollte schon verdrossen wieder den Berg
hinunter fahren. Auf einmal drang die Sonne siegreich durchs Gewölk, wie bei¬
seite geschobene Schleier wich eine Nebeldecke nach der andern, eine Wolkenwand
nach der andern. Dn stand riesengroß, unheimlich nah, der Monte Niso, ein rechter
Bismarck unter den Bergen. Da sah das Ange entzückt die Schneefelder des Mont
Paradis, hinter drin sich noch ein größerer, der Montblanc, verbirgt. Da kam
die majestätische, langgezogene Kette des Monte Rosa mit ihren steilen Abstürzen
nach Süden zum Vorschein. Heller und immer Heller wurde die Aussicht. Ein
Entzücken nach dem andern faßte den Beschauer, und als Breithorn und Lyskamm
ihre Gletscher und Schneefelder im schönsten Rosa erstrahlen ließen, da wollte sich
das entzückte Ange fast vor Wonne schließen. Der Blick war zu schön für ein
menschliches Auge.
So ging es uns damals mit unserm heutigen Geburtstagskinde. Als die Donner
von Königgrätz verhallt wnreu, da wich mehr als eine Wolke des Vorurteils von unsern
Augen; als er auf der Rückkehr vom Kriegsschauplatze nach Berlin voll Zuversicht
sagte, er werde in wenigen Jahren der populärste Mann Deutschlands werden, dn
Wichte ich, daß es so sein würde, und als er dann im großen Kriege so treu mit
der Feder zu wahren wusste, Ums das Schwert gewonnen halte, als er das deutsche
Reich wieder anstehe» ließ, stärker und herrlicher, als es je gewesen war, als er dann
in den Friedensjahren mit festem Blick auf den Feind an der Seine die Geschicke
Deutschlands zu leiten wußte, da war auch die letzte Wolke des Unmuts verflogen.
Freude, reine Freude über den großen Mann erfüllte uns, Freude um dem in neuer
und größerer Herrlichkeit erstandenen Reiche. Nicht bloß seine Erfolge, nein, noch
wehr haben wir die weise Ausnutzung seiner Erfolge bewundert. Es war eine Lust
für jeden, daß er sagen konnte: Er ist unser.
Und nun feiert das deutsche Volt seinen Geburtstag zum erstenmale als den
^nes Privatmannes! Was es von ihm denkt und wie es ihm zu danken weiß, hat
^ vor fünf Jahren bewiesen. Auch meine bescheidne Stimme will sich in den
Chorus der Dankbarkeit mischen, der in der Öffentlichkeit wie im Stillen dem ver¬
abschiedeten Reichskanzler, dem deutschesten Deutsche» unsers Jahrhunderts, heute
^'schallt. Ist mein Leben auch in Dunkel und Dämmerung dahingegangen, danken
^'lit ich dem teuern Manne, daß er mir solche Frende an meinem Vaterlande ver¬
gafft Hai. Gott Schutze ihn!
Am
Mai 1776 schreibt Goethe an Fra» von Stein! „Zinn erstenmal im Garten
^schlafen, und nun Erdlnlin für ewig." Diese Stelle hat zwar Fielitz (!, 35)
^sue Kommentar gebracht, aber so viel ich weiß, wird das Wort „Erdlnlin" auch
andern nicht verstanden; alle Hilfsmittel lassen im Stich, und doch wäre es
Meressm,^ z„ wissen, was Goethe mit dieser Bezeichnung gemeint hat. Ich glaube
Ne Spur gefunden zu haben, die zur Erklärung führt. Martinus Mvutanus
^"sie im „Andern Theil der Garten geselschafft" Kapitel 5 „ein schöne hislori
^u einer frawen mit zweien tindlin," ein Märchen, das Motive verschiedner
N'^^" zusammenfasst. Eine Stiefmutter sucht die ihr verhaßte Stieftochter
d^^'sein mit Hilfe der andern, Rümelin, zu verderben, indem sie mit Beiden in
den 6^ und beim Hölzsuchen Margrellin allein läßt. Diese belauscht aber
. ' -plan und findet sich zweimal aus dem Walde heim, da sie heimlich „segnet,"
so, »sprewer« (Spreu) ans den Weg streut; das drittemal aber hat sie Hanf-
^ gestreut, und der wird von den Vöglein aufgepickt. Grellin sucht vergebens
'
einen Ausweg. Da es Abend wird, steigt sie auf einen hohen Baum und sieht
„ein Reinh reuchlin," dem sie nachgeht. In wenig Stunden kommt sie „an das ort,
da dann der rauch außgiuge, das war el» kleines heußliu, darinn niemants wonet,
dann nur ein erdküliu. Das meitlin kam fürs thürlin vnd klopffet um, begert man
solle es einlassen. Das erdtkülin antwort, ich laß dich warlich nicht herein, dn
verheissest mir dann dein lebtag bei mir zu bleiben, vnd mich nimmermehr znner-
meren, welches sine das meitlin gelobt, vnd alsbald ward es von dein erdtkülin
eingelassen, vnd das erdtkülin sagt. Wolan du darffst nichts thun, weder eben
mich des nbents vnd morgens meinten, darnach löschen die selbig miles vonn mir,
so tönt ich dir seiden vnd Samnad genug zntrageir, daruon mach dir schone kleider
ivie du sie begerest, geternt aber vnnd side das du mich nicht vermerest." Zwei
Jahre lebt nun Gretlin glücklich und reichbeschenkt im Walde bei dem „erdküliu,"
bis zufällig ihr Schwesterlein Annelin zu ihr kommt, sie um Verzeihung bittet
und altes von ihr erfährt. Daheim macht nnn Annelin mit der Stiefmutter einen
Plan, das „erdtkülin samt dem Gretlin" heimzuführen und das „Min" zu metzger
und zu essen. „Solches alles das erdtkülin wol wust, vnd als es des abends
spat heim kam, sagt es wainendt zum meitlin, und ach mein aller liebsts Gredtlin,
was hastu gedhon, das dn dem falsche Schwester hast eingelassen, vnd jr gesagt bei
wein dn bist?" Da nun Grellin'jammert und weint, „tröstet es das erdtkülin"
und giebt ihm den Rat, vom Metzger des „Mins schwantz," dann „das ein Horn"
und endlich das „schnellt" zu verlangen und dann einzugraben; daraus werde ein
Baum wachsen, der solle Sommer und Winter die schönsten Apfel tragen, die dann
niemand als sie allein sollte abbrechen können. Das geschieht. „Ein gewaltiger
Herr" mit seinem tranken Sohn kommt vorüber, und da sie das Wunder erschauen,
nehmen sie die Jungfrau und den Brum mit und lassen „ihr schalckhafftige muter
vnd Schwester sitzen."
Nun gesteht allerdings Felir Bobertag, der neueste Herausgeber der
Gartengesellschaft (Kürschners Deutsche Aationatlitteratur, Band 24, Seite 244),
er könne über dieses Tier und den damit zusammenhängenden Aberglauben keine
Auskunft geben. Aber das ist für uns nicht so wichtig als das Märchen selbst.
Wäre nicht denkbar, das; Frau Aja, die mnrcheukuudige, ihrem Wolf auch vom
„ErdMin" erzählt hätte, und das; dieser nun darauf anspielte? Mau denke seine
Situation: er schläft zum erstenmale in seinem Gartenhaus, das ferne von der
Stadt, uuzugnnglich und einsam gelegen, wohl den Eindruck des Häuschens im
Walde hervorrufen lonnie. Goethe gedenkt des Märchens und bemerkt die Ähnlich¬
keit mit der Situation des Gretlin; wie dieses glücklich werden sollte, wenn es
ganz beim „erdtkülin" blieb, so sagt Goethe von sich „und nun ErdMin für ewig."
Es wird nach dem Gesagten wohl nicht zu kühn sein, wen» ich für den Goethischen
Brief die Lesart- „ErdMin" vorschlage. Wer weiß, ob das nicht sogar in Goethes
Handschrift steht.
Interessant Ware nur zu wissen, ob das Märchen vom „Erdküliu" weiter
verbreitet ist, was ich leider mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln nicht
festzustellen vermag. Mau darf aus den Grimmscheu Kinder- und Hausmärchen
vor allem „Häusel und Gretel" anführen, dann „Die zwölf Brüder," „Brüderchen
mit Schivestercheii," „Die drei Männlein im Walde," „Frau Holle," endlich aber
auch „Einttugiein, Zweiäuglein und Dreiänglein" für deu Schlich des Märchens.
Das hat nichts Auffallendes, denn alte Märchen haben gewisse Züge, die sich immer
wiederholen, die Phantasie des Volles bedient sich eben einiger feststehenden Kunst-
mittel, ohne an der Wiederholung Anstoß zu nehmen. Wenn uns also das von
Moutanns angezeichnete Märchen an verschiedne andre Märchen erinnert, so be¬
weist dies keineswegs für seine spätere Entstehung. Es kann ein echt volkstümliches
Märchen sein.
Goethe hat aber vielleicht auch die „Gartengesellschaft" gekannt, möglich, daß
sie sich unter jener Löschpapierlitteratnr befand, von der er in Dichtung nud Wahr¬
heit erzählt. Wie weit Goethe mit den Werken des sechzehnten Jahrhunderts
vertraut war, ist noch nicht untersucht, aber schou ein Blick ans das Personeu-
verzeichuis von Hanswursts Hochzeit lehrt uns, das; er sich damit beschäftigt hatte.
Und gerade während des Jahres 177<> lebte Goethe wieder im sechzehnten Jahr¬
hundert, ist doch damals „Haus Sachsens poetische Sendung" entstanden, am
37. April wird dieses Gedicht als „fertig" im Tagebuch verzeichnet, es erschien
im Aprilheft des „Deutschen Merkur."
Schiller hat seit dem Jahre 1876 ein
Standbild in Wien, von Schilling, aufgestellt vor dem Gebäude der Kunstakademie.
Goethe hat noch keines. Es ist das eigentlich merkwürdig, denn Goethe hatte bei
Lebzeiten viel mehr Beziehungen zu Österreich als Schiller: er hat eine unsrer
Fürstinnen besungen, er war mit mehreren adlichen Häusern befreundet, in der
vornehmen Wiener Gesellschaft war er im zweiten und dritten Jahrzehnt dieses
Jahrhunderts förmlich Mode, er arbeitete mit an den Wiener Jahrbüchern, sein
Tod machte selbst in den Räumen der Staatskanzlei auf dein Ballplah tiefen Ein¬
druck, es wäre gar nicht erstaunlich, wenn sich ein Denkmal für ihn schon in den
vormärzlichen Tagen in Wien erhoben hätte. Aber Wien ist vielleicht unter allen
deutschen Städten am spätesten daran gegangen, große Männer in Stein und Erz
Ku verewigein bis 1.363 waren die Standbilder Kaiser Josefs und Franz I. die
enizigen in der Stadt. Das; dann Schiller früher dran gekommen ist, kann nicht
Wunder nehmen, da das Geschlecht von 1348 inzwischen die Leitung der öffentlichen
^teinuug übernommen hatte: dieser stand Schiller um vieles näher als Goethe,
^'se seit wenigen Jahren rührt sich in Politik und Litteratur wieder ein andres
Geschlecht, das die Verdienste des vorhergehenden nicht leugnet, aber doch nicht
L>wz in seinen Bahnen wandeln will. Nun kommt anch Goethe, für eine Zeit
""ig in den Hintergrund gedrängt, wieder zu Ehren; es giebt einen Wiener Goethe-
Verein, es giebt einen Goethedenkmalfonds in Wien. Vor mehr als Jahresfrist
Me die Vereinsleitung an die Genossenschaft der bildenden Künstler in Wien die
'^lfforderung gerichtet, die Sache des Denkmals durch Einsendung von Entwürfen
^ fördern. Diese Entwürfe stehen vor »us, sie sind für einige Tage im hiesigen
^""ftlerhnnse ausgestellt,
^ Es giebt für die bildnerische Darstellung unsrer großen Männer eine Art von
'Uwvn, In Bezug auf Goethe verlangt die Überlieferung, daß er als Greis oder
^1 als alter Herr dargestellt werde. Die Verteidiger dieser Überlieferung sagen:
?l'else. ist eben mehr als unser größter Dichter, er'ist der erste Weise des Jnhr-
-^teres, der Priester und Lehrer der Nation, der Vater unsrer Weltanschauung.
>n^ ^ ^ "ber eben erst im Aller geworden, und darum hat es einen tiefen Sinn
^ höchste Berechtigung, daß er als ein Greis von olympischer Würde im
N°"'ken der Welt fortlebt, die Künstler ihn immer wieder so bilden. Zugegeben.
Da^ ^^"l Weisen, diesem Priester und Lehrer sind auf deutschem Boden schon
. "l"le genug errichtet, hat neben diesen nicht auch der Dichter — der lyrische
^ der dramatische Dichter — Anspruch auf Unsterblichkeit? Wäre Goethe in den
letzten achtziger Jahren, ja noch ehe er nach Weimar kam, gestorben, verdiente er
nicht doch einen Ehrenplatz in der deutschen Litteratur? Fürwahr, der Schöpfer
von Werther und Götz, der Sänger so vieler herrlicher Lieder ist wohl auch eines
Denkmals wert, über dem „Olympier" soll der junge Heros nicht ganz vergessen sein.
Nur zwei von den Bildhauern, die Entwürfe eingesandt haben, haben es ge¬
wagt, dieser Meinung zu sein. Der eine ist Hans Bitterlich, ein Wiener, 1860
geboren, und bis jetzt nur durch die Ghpsgruppe „Mutterliebe," die sich im Akademie--
gebärde befindet, weitern Kreisen bekannt. Sein Goethe ist der Stürmer und
Dränger, der Liebhaber Lottens und Lilis. Leider ist es dein Künstler nicht ge¬
lungen, die Züge des jungen Dichters, wie sie doch jedem Deutschen gegenwärtig
sind, getreu wiederzugeben; dieser Goethe ist uns ein Unbekannter, wir fragen
fast: wer ist das wohl? Wäre nur dieser eine Mangel, er genügte, Bitterlichs
Entwurf unannehmbar zu machen. Aber wie konnte der Bildner gar einen jungen
Goethe sitzend darstellen! Stolz emporgerichtet, vorwärts schreitend, ja wie ein
Flug, dem Winde entgegen, mit flatterndem Haar und Mantel, alles voll Drang
und Mut, alles voll Leben und Feuer, so müßte er vor uns stehen, Wanderers
Sturmlied müßte uns bei seinem Anblick entgegenklingen.
Kundmann, der feinsinnige Schöpfer der Grillparzerstatue, hat ein den Dichter
Jphigeniens und Tassos gedacht, er stellt Goethe dar, wie er in der Glanzzeit von
Weimar war: eine edle männliche Gestalt, ganz in sich gefaßt und sicher, aber im
Hofgalagewand der Rokokozeit, allzu höfisch, zu gemessen, zu kühl! Immerhin ist
es eine sehr anerkennenswerte Leistung, ein Entwurf, der Wohl in Frage kommen
könnte. Denn es ist nur eine einfache Statue geplant, ohne jedes Nebenwerk von
Genien oder allegorischen Figuren.
Die andern Entwürfe halten fich wie gesagt alle an den alten Goethe. Da
ist zuerst Otto König aus Meißen, dessen Stärke freilich nicht im großen historischen
Stil liegt; er verdankt seinen Ruf Gruppen wie „Liebesgeheimnis," „Amor als
Briefträger," „Venus und Amor," „Psyche und Amor," „Wein und Wasser."
Sein Goethe ist denn auch deshalb, weil er alt ist, durchaus nicht der erhabene
Weltweise, den eine gewisse Schar seiner Verehrer in allen seinen Denkmalen finden
möchte, es ist ein zugeknöpfter, steifer, alter Herr von geistreichen, ja bedeutenden
Zügen, ein pensionirter Ministerialrat, vielleicht auch ein berühmter Gelehrter, aber
mehr gewiß nicht. Besser hat es Edmund Hettner (geb. zu Wien 1850) ge¬
troffen; sein Goethe, auf einer halbkreisförmigen Bank ruhend, beide Arme auf die
Lehne aufgestützt, den Kopf vorgeneigt, kann wohl einen Weisen vorstellen, aber
einen Weisen von Epikurs Gepräge, den Schöpfer des Faust dürfte niemand in
diesem Greise vermuten. Auch Hettner ist in erster Linie nicht Porträtist, er glänzt
in der Darstellung Pathetisch bewegter oder feierlicher Szenen, und Gruppen, feine
Hauptwerke sind der Fries am Parlamentsgebäude: „Kaiser Franz Josef I. verleiht
die Verfassung" und das sogenannte Türkenmonument, das sür die Stephanskirche
bestimmt ist."
Nun käme Rudolf Wehr, dem wir deu „Bacchuszug im Fries des neuen
Bnrgtheaters und einen sehr anziehenden Teil des Grillparzerdenünals verdanken.
Er hat einen zwar bejahrten, aber nicht greisenhafter Mann dargestellt, stehend,
von majestätischen und milden Zügen. Wer nicht durchaus einen jüngern Goethe
wollte, mit dem Weyrschen könnte er sich recht Wohl befreunden. Wenn man aber
dann den von Viktor Tilgner, dem berühmtesten der Wiener Porträtbüstenbildner,
ansieht, muß man zugeben, daß auch diese Wettbewerbung wieder ein Triumph für
die Anhänger der Tradition, Goethe müsse nun einmal bejahrt dargestellt werden,
geworden ist. Das Haupt ist hier noch edler, majestätischer, göttlicher als bei
Wehr; was die Entscheidung zwischen beiden schwanken machen könnte, ist nur, daß
Wehrs Goethe gebietend aufrecht steht, der Tilgners sitzt. Ein hiesiger Kunst¬
kritiker, ans dessen Urteil wir viel Gewicht legen, hat das getadelt. Dies möchten
wir nicht: ein König kann Wohl auf einem Thron vorgestellt werden, und Tilgners
Goethe schafft aus dein einfachen Stuhl einen Thron. Wir möchten ihm, nach
einigem Schwanken, die Palme zuerkennen.
Schade, daß Zumbusch nichts eingesendet hat, die Arbeiten am Nadetzkh-
denkmal nehmen alle seine Kräfte in Anspruch, sodaß er den schon gefaßten Ent¬
schluß, sich an dem Wettbewerb zu beteiligen, wieder aufgegeben hat.
Möchte nur die Ausstellung dieser Entwürfe die Denkmalsfrage in Wien in
etwas raschem Fluß bringen, vor allem den Fonds vergrößern! Denn da fehlt
es noch sehr. Es brauchen nicht viele Jahre mehr zu vergehen, und Wien wird
für ein Goethedeukmal gar keinen würdigen Platz mehr haben.
ist dieser Tage er¬
schienen: Rioos-rÄo VVatz'usr. Ltuckio «ritivo all I^-uigi ?orod,i. Volums rmioo.
(Bologna, Znnichelli, 1890.) Es ist ein Band von sechshundertundsieben (!)
Seiten stattlichen Oktavs. Über jeder Seite, von der ersten bis zur sechshundert¬
siebenten, steht der Kolumnentitel: Moo-i-rÄo ^assnvr, am Schlüsse des Bandes ein
luäivs, dessen Anfang wenigstens wir unsern Lesern nicht vorenthalten wollen:
u- s. w. bis zu <->>>!:..!» XXVII. Mehr Wollen wir nicht verraten. ?rWM:
'-n>> 10. Glückliches Italien!
Sächsische Blätter melden
"us dem Schuhmacherstädtchen GroiKsch: Unter den sämtlichen Arbeitern der Schuh¬
warenfabrik der Firma I. H. Meischke und Söhne hier ist am Dienstag der Streik
"usgebrvchen, nachdem am Montag Nachmittag bereits 24 Zuschneider die Arbeit
übergelegt hatten. Also nicht ein, sondern der Streik — wie der Pips, der
^dz, die Influenza, die Rinderpest, die Klauenseuche u. s. w. O du ahnungsvoller
^ngel von Berichterstatter!
^ Aus allen Himmelsgegenden kommen Äußerungen der
Empörung über das pöbelhafte Benehmen einiger deutscheu Zeitungen beim Rücktritt
»^""reth. Wir aber, gewohnt, anch unsern politischen Gegnern Gerechtigkeit und
Uligkeit nicht zu versagen, müssen erklären, daß man den Angeklagten doch Un-
die <>^' von den Zeitungen, die jemand die „Volk Jsraelszeitnug" und
sjx '^rsinnige" zu nennen pflegt, hat ja nach den Reichstagswahlen gestanden,
^"o ihresgleichen seien von den Kartellparteien als Schuhbürsten benutzt worden:
O " denke, in der schlechtesten Jahreszeit! Darf man sich da Wundern, die edeln
Not^^ ^ öffentlichen Meinung so schmutzig zu sehen? Doch haben sie garnicht
eint^ ^5^" Milderungsgrnnd geltend zu machen^ Wir fragen die Ankläger
and ? H"ben die Angeschuldigten sie irgendwann und irgendwie berechtigt, etwas
Aufl^' ^"„'sue" zu erwarten? Der richtige Kröte ist stolz daraus, durch sein
l reden alle anständigen Leute zu verletzen und zu ärgern, und er wird sich doch
eine so schöne Gelegenheit nicht entgehen lassen. Personen aber, denen die Börse
Gymnasium, Universität und Gesellschaft ist, können doch glauben, guter Ton sei
der, in dein erhitzte Jobber in schwierigen Augenblicken mit einander zu Verkehren
lieben. Und muß es endlich nicht solche Biedermänner kränken, daß auch jetzt, wo
der Abscheuliche, der die Bamberger und Richter nicht hat ans Staatsruder
kommen lassen, zurückgetreten ist, in der weiten Welt niemand an die Staatsmänner
der freisinnigen Fraktion denkt? Muß das Blut der Gesinnungsstruppigen nicht in.
Waldung geraten, wenn überall, wo eine Zeitung gedruckt wird, wahre Hymnen
ans den ersten Kanzler des deutschen Reiches erscheinen, und nichts als Hymnen?
Da galt es zu zeigen, ,,daß Niedertracht auf Erden uoch uicht ausgestorben" sei.
Und das ist vollständig gelungen. Wir bedauern nnr das eine, daß die Zeitungs¬
expeditionen und die Postämter nicht die Gewohnheit haben, die Pränumeranden-
listen zu veröffentlichen; wie interessant wäre es, zu erfahren, welches Publikum
an solchen Leistungen Gefallen findet!
Der Lcbenslnnf eines in schwankender Zeit schwankend gesinnten. Unter der
berühmten Erklärung der wallensteinschen Offiziere in Pilsen von: 12. Januar 1634,
deren Schlußsätze und Unterschriften diesem Buche in einer Lichtdrnckkvpie beigegeben
sind, steht als Dritter zwischen Jlvw und Ottavio Piccolomini Hans Ulrich Schaff-
gotsch; und da von so vielen Unterzeichnern gerade er diese Unterschrift mit dem
Leben büßen mußte, könnte man glauben, er habe zu den Vertrautesten des Fried-
länders gehört. Doch legt diese Schrift in überzeugender Weise dar, daß seine
eigentliche Schuld nur Charakterschwäche war. Der durch Abstammung und Besitz
in Schlesien einflußreiche, Protestant nahm Dienste in dem Heere des Kaisers, der
die Ausrottung der Ketzerei im deutschen Reiche, als seine Herrscherpflicht betrachtete;
wohl eben als Schlesier mochte er für Waldslein von höherm Werte sein, als
durch seine, wie es scheint, nicht sehr hervorragenden militärischen Eigenschaften,
und eben deshalb werden die dem Wiener Hofe ergebenen Gellerale. ihn mißtrauisch
beobachtet haben — wer die böhmische Krone gewann, hatte ans Schlesien Anspruch.
Über Waldsteins Absichten mußte Schaffgotsch durch deu Aufenthalt in Pilsen auf¬
geklärt werden, allein er wollte nicht klar sehen, um freie Entschließung zu behalten,
auf welche Seite er sich je nach den Aussichten schlagen solle; er nahm eine Ab¬
schrift der Pilsener Erklärung mit zurück nach Schlesien, um sie seinen Offizieren
zur Unterzeichnung vorzulegen, zögerte hiermit, bis der rechte Zeitpunkt versäumt
war, luit rückte mit dem Schriftstück heraus, als in Eger bereits die Entscheidung
gefallen war u. f. w. Auch unglückliche Zufälle kamen hinzu, um ihn scheinbar
zu belasten. Daß er nicht gewahr geworden ist, daß er mitten in dein „letzten
Kampfe des absterbenden deutschen Landsknechistums mit dein aufstrebenden Absolu¬
tismus" stand, kaiin ihm wohl nicht ernstlich zum Vorwurf gemacht werden, denn
wie viele seiner Zeitgenossen waren sich dieses geschichtlichen Prozesses bewußt?
Gewinne uns Schnffgotsch persönlich kein lebhafteres Interesse ab, so giebt
sein Leben doch ein sehr charakteristisches Bild ans der merkwürdigen Zeit, und
der Verfasser verdient daher Dank für seine sorgfältige Arbeit und den Abdruck der
vielfach lesenswerten Prozeßakten. In der von Schaffgotsch verfaßten Verteidi-
gungsschrift ist unter Punkt 7 der komische Druck- oder Schreibfehler „in rührender
Zeit" (statt „in währender Zeit," als man uns) nicht nur nnberichtigt geblieben,
sondern auch in die historische Darstellung (S. 54) übergegangen.
Der Herausgeber dieser Briefe, ein Bruder des früh verstorbnen Kunst¬
gelehrten nud Dichters Friedrich Eggers, hat sich in der kunstgeschichtlichen Litteratur
namentlich durch eine vierbttndige, von seine»! Bruder begonnene, aber in ihrem
größten Teile von ihm selbst herrührende Lebensbeschreibung Rauchs bekannt gemacht.
Bei ihrer Abfassung hat ihm ein sehr reiches handschriftliches Material zu Gebote
gestanden, zu dem auch der Briefwechsel zwischen Rauch und seinem größten Schüler
gehört hat. Doch konnte dieser in der Biographie Rauchs nur zum kleinen Teile aus¬
gebeutet werden. Er ist aber so inhaltsreich und uicht bloß für die Charakteristik,
die Beurteilung und das Schaffe» der beiden Briefschreiber von großer Bedeutung,
sondern auch für die Kenntnis der deutscheu Kunst- und Kulturentwicklung in
ven dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren so wertvoll, daß eine vollständige,
"uf zwei Bände bemessene Herausg'abe des Briefwechsels wohl berechtigt ist, auch
u> Anbetracht des äußern llmstandes, daß ein achtundzwanzig Jahre lang nnunter-
^'vnsen fortgesetzter Briefwechsel zwischen zwei geistig und künstlerisch hervor¬
ragenden Personen in der bis jetzt gedruckten deutsche» Brief- und Memoiren-
^terreur einzig ist. Es geht in den Berliner Künstlerwerkstätten noch heute die
Überlieferung umher, daß Rauch ii» Verhältnis zu seinen Schillern nicht immer
^ große Mann gewesen sei, als den ihn die Rachwelt preist, daß Neid und
Zersticht ihm nicht fremd gewesen seien, und daß er, so lange er Macht und Einfluß'estiß — ^ ^ seinem Tode der Fall —, niemand neben sich habe
"ufloumien lassen. Wenn an diesem Gerede wirklich etwas Wahres ist und Rauch
Zufalls an den Schwachen litt, von denen kein Haupt einer großen Künstlerschnle
,kurz ^nehm ist, so findet sich wenigstens in seinen Tagebüchern und Briefen
h.^' Beweis dafür, und sein Verhältnis zu Rietschel im besondern war von Anfang
^'nde durchaus väterlich und herzlich und bis zuletzt durch keinen Hauch
ist"' Mißtrauens und der Eifersucht getrübt, wobei freilich nicht anßer Acht zu lassen
sei'> Rietschel schon frühzeitig in Dresden seinen Wirkungskreis sand und daher
^werlich in die Lage kommen konnte, Rauchs Kreise zu'störe». Vielleicht hat
gerade dieser Umstand dazu beigetragen, daß sich beide Künstler in ihren
S,/.'c" ^"^aber ohne Rückhalt, ohne Berechnung gaben, und deshalb sind diese
-U'iftpiicke von großem psychologischen Interesse, ja mich in vielen Punkten von
^ ""sichern Werte. Wenn der für diesen Sommer angekündigte zweite Band
vers ">ird der erste umfaßt die Zeit vom November 1829 bis zum No-
wer 184g (162 Briefe) —, wird sich ein Anlaß bieten, ans der Fülle vereinzelter
Mitteilungen ein abgerundetes Bild zu gestalten. Mir jetzt »vollen wir uns be¬
gnügen, zwei Proben herauszugreifen.
Man klagt heute bitter über das hastige, ruhelose Treiben unsrer aufregungs¬
süchtigen Zeit, in der sich niemand mehr die rechte Sanunlung, die Einkehr in sich
selbst gönnen könne, und beruft sich auf den ruhigen Genus; von Kunst und Leben
zu der Zeit, wo „der Großvater die Großmutter nahm." In einem Briefe vom
18. Februar 1837 äußert Rauch seinen Unmut darüber, daß die Akademie sich
mit der Absicht trage, „künftig jedes Jahr eine KunstnnSstellung" zu veranstalten.
Dabei wird nach Rauchs Ansicht „die Kunst als solche nicht gewinnen, aber alles
will schneller von der Stelle, so auch diese Partie der Schaulust darf man nicht
warten lassen. Immer vorwärts, leider fürchte ich aber, abwärts führt uns dies
Treiben." Damals ist von der Ausführung dieses Planes noch Abstand genommen
worden, und der „Zeitgeist" hat sich noch vierzig Jahre beruhigen lassen, ehe er
die Jahresausstellungen durchsetzte, die dafür sogleich in vier oder fünf verschiednen
Gestalten als lokale und provinzielle, als nationale, internationale, historische u. a. in.
aufgetreten sind.
Rauch ist in allen Zeitabschnitten seines Lebens ein nüchterner und unbe-
fangener Beurteiler der Dinge um ihn herum gewesen, der vielleicht allein nicht
„romantisch" war, als alle Welt in Romantik schwelgte. So hat er auch den viel
und weit über Gebühr als Opferthat gepriesenen Selbstmord der Charlotte Stieglitz
von der richtigen Seile angesehen. „Sie kannten — schreibt er um Rietschel am
I. Januar 1335 — die hübsche Frau meines Landsmannes, des Doktors Stieglitz,
Verfassers artiger Poesien. Sie merkten auch Wohl mit uns diese Art poetischen
Wesens im gemeinen Leben? Er verließ die Stelle im Joachimsthalschen Gym¬
nasium, verließ much jetzt die Stelle als königlicher Bibliothekar, um ganz der
Dichtung seine Zeit widmen zu können. Beide liebten sich, aber sie quälten sich
auch beide gegenseitig, da keine irdische Beschäftigung, keine häusliche Not von der
Beschäftigung mit ihrem Ich sie abzog. Wohin hat dies geführt? Oh Verirrung,
oh Unglück! Zum ärgsten, was der Mensch gegen sich und seine Bestimmung unter¬
nehmen kann, zum Selbstmorde . , , sie nimmt den tragischen Dolch von der
Wand, dessen geschichtliche Wirkung man oft bewundert, darüber wenigstens Worte
gemacht hatte, und stößt ihn sich . . . ins Herz." Es ist möglich, daß zu diesem
rein theatralischen Motiv noch ein andres hinzugekommen ist. Wenn man die
kürzlich von E. Pierson veröffentlichten Briefe Th. Mundes um Gustav Kühne nicht
für eitel Prahlerei halten will, wozu es freilich nicht an Anhallepnnkten fehlt,
scheint auch ein platonisches Verhältnis zu Mundt den Sinn der Fran Stieglitz
vollends verwirrt zu haben.
ii seinem Geburtstag und dem Jahrestage seiner Krönung enipfing
der Papst am 2. Februar d. I. die Kardinäle und Prälaten zur
Entgegennahme ihrer Glückwünsche. Er sprach dabei wieder, wie
er das schon seit längerer Zeit bei feierlichen Gelegenheiten zu
^ thun gewohnt ist, von der notwendigen Unabhängigkeit des
"ut.nox Ng.xinnitt, uni dann ans seine Enepklikeu z» tourner, in denen er
das Ziel seines Pontifiluts die Wahrheit des Evangeliums zu lehren hin-
ttchellt habe. Über die letzte Weihnachtseneyklika sagte er, er habe darin die
Windzuge des bürgerlichen Lebens gezeichnet. Von jetzt um werde er die
'^late Frage behandeln. Über diese Weihnachtseneyklika mit ihren „Grund-
^'gen des biirgerlichen Lebens" meinte freilich die ^ifornul, sie sei geradezu
^ Aufruf zur Revolution; es zeige sich darin, das; die Kirche wieder, wie
^'use im Mittelalter, die Unterthanen von der Treue gegen solche Fürsten ent¬
luden möchte, die dem Papste unbequem wären. Wir Deutschen, wenigstens
" weit protestantische Anschauungen in unserm Lande Geltung haben, machen
'°n diesen päpstlichen Eneptliken nicht viel Aufhebens, und der Freisinn hatte
seine, Zeit, wo der Papst ihm als guter Freund vorkam, wem» auch
"is „alter wehrloser Greis." Die Nikorma, die dem „wehrlosen Greis"
i;, örtliche Nähe gerückt ist als unser Freisinn, mag aber andre Begriffe
' ^ diese Wehrlosigkeit haben, und deshalb wies sie bei der Besprechung der
^Himchtseueyklika vou 188!» auch auf deu Inhalt der von 1888 mit dem
^ »erken hiu, das; der Papst wieder einmal Abstand davon genommen habe,
derfrühern Enepklikn hatte ja der Statthalter Christi über alles, was ihm
"'
nicht gefällt, sein Anathema gerufen. Die WeihuachtSeneyklika von 1889 aber
hat für uns wohl ein umso größeres Interesse, weil, wie gesagt, Lev XIII.
am 2. Februar vor seinen Prälaten ausdrücklich betont hat, daß er in ihr die
„Grundzüge des bürgerlichen Lebens" aufgestellt habe. Und da der König
des neuen Reichstags, wie päpstliche Blätter den Abgeordneten Windthorst
nennen, auch jüngst wieder bei der Beratung des Etats der Berg-, Hütten-
nnd Salinenverwaltnng im preußischen Abgeordnetenhaus^ die Thätigkeit der
.Kirche und der Schule, natürlich der katholischen, als einziges Heilmittel für
alle Schäden unsrer Zeit empfohlen hat, so wollen wir uns doch einmal die
letzte Enctstlika des Papstes in Beziehung auf die Grundzüge ansehen, von
denen seine Politik geleitet wird. Denn diese Grundzüge spielen, wie man
sehen wird, bei Leo Xlil., wie bei jedem Papst, anch für die Auffassung und
die Vorschriften, denen das bürgerliche Leben Vonseiten der Kirche unterworfen
wird, die Hauptrolle. Die Überschrift der EneyMa selbst lautet: 1)<z xrii-eelouis
«iviurn <zllri8tianornm os'lieiiX über die hauptsächlichsten bürgerlichen Pflichten
des Christen.
In den Vordergrund seiner ausführlichen Betrachtung stellt der Friedens¬
papst, der von unserm neuen Reichskanzler „eine vollständige Aussöhnung mit
dem Zentrum" erwartet, den Satz, daß „jeder, der den christlichen Glauben,
wie es seine Pflicht ist, angenommen hat, hierdurch ohne weiteres auch Kind
und Unterthan der Kirche geworden ist und somit Mitglied der herrlichsten
und heiligsten Gesellschaft, die es giebt, die als Stellvertreter des unsichtbaren
Hauptes Jesu Christi der römische Papst leiten und regieren soll." Was einst
Pio Nouv gegenüber Kaiser Wilhelm als eine Folge der Taufe beanspruchte,
die Zugehörigkeit zum Papst, das wird also hier als eine Folge pflichtmäßiger
Annahme des christlichen Glaubens, natürlich des katholischen, hingestellt.
Sehen wir nnn davon ab, daß bei der von der Kirche befohlenen Kindertaufe
von einem „Annehmen des christlichen Glaubens, wie es Pflicht ist," ver¬
ständigerweise nicht die Rede sein kann; aber die päpstlichen Worte erkennen
keine andre Möglichkeit, Christ zu heilt, an, als in der Kirche und stellen i»
aller Schroffheit diese als eine solche greifbare Gesellschaft hin, die über alle
andern menschlichen Gcsellschaftsgebilde weit hinausragt, auch über alle staat¬
liche». Freilich ist diese Anschauung nichts neues, sondern die altbekannte
römische, die der Jesuit Bellarmin so ausdrückte, daß er sagte, die (katholische)
Kirche sei „ein Staat (so real) wie der Staat Venedig." Es wird damit nur
der Anspruch erhoben, daß die römische Monarchie über alle rudern Monarchie»
sei. Um ist das nicht; aber wir Evangelischen, sowie alle, die an der Staats¬
oberhoheit halten, wollen doch darauf achten, daß dem katholischen Volke diese
Anschauung immer wieder von neuem eingeimpft wird. Damit wird ihm aber
das Gift eingeimpft, das das Blut in den Adern unsers Volkskörpers mit dem
bösen fremden Stoffe vermischt und verdirbt. Nach dieser Anschauung ist ^'
ganz folgerichtig, daß der deutsche Christ nicht etwa Glauben und Gewissen
über die oder jene staatliche Forderung setzt, sondern stets, gegebnen Falles,
die Forderungen der einen Macht, und zwar einer fremden jenseits unsrer
Grenzen liegenden Macht, grundsätzlich über die andern Forderungen, die der
eigne Staat an seine Bürger stellt und stellen muß. Es ist ganz folgerichtig,
wenn nun die Eneyklika verlangt, daß die Christen der Kirche (dem Staate,
der so real ist wie der Staat Venedig) mehr unterthänig sein sollen als dein
eignen Staate. „Wenn wir nun schon dem Gemeinwesen, worin nur geboren
und erzogen worden, in besondrer Liebe zugethan zu sein von Natur verpflichtet
sind, um wie viel mehr müssen dann nicht die Christen in Liebe und Treue
der Kirche ^dem andern Staates ergeben sein!" Dieser Gedanke wird immer
wieder in verschiedenen Wendungen vorgebracht und dein katholischen Gemüt
fest eingerammt; er soll eben den Grund für alles katholische Denken und
Leben abgeben. „Wenn wir unser irdisches Vaterland lieben müssen, das uns
unser sterbliches Leben verliehen hat, dann schulden wir offenbar weit innigere
Ache der Kirche, der nur das Lebe» verdanken, das kein Ende haben soll."
Natürlich kommt in diese»: Zusammenhange auch der bei der Hierarchie zu
allen Zeiten beliebteste Ausspruch des Petrus zum Vorschein, daß man Gott
>nein' gehorche» müsse als de» Meuscheu. „Es ist fürwahr billig, heißt es in
der Eneyklika, daß uns unsre Pflichten Gott gegenüber mehr am Herzen liegen,
"is die gegen die Meuscheu," d. h. gegen den Staat. Daß Petrus die Worte
der Apostelgeschichte </>, 2!)), die der Papst und die Hierarchie von jeher
Ü^gen den Staat verwendeten, gegen die Hohenpriester und das Synedrinm,
^so gegen den jüdischen Papst und dessen Hierarchie, sprach und ihnen damit
"tu Gehorsam um des Gewissens nulle» aufkündigte in geistlichem Dingen,
^§ darum diese Worte gerade gegen alle hochmütigen geistlichen Absichten zu
^'werten sind, daran auch nur von weitem zu, denken, liegt dem katholischen
Begriffsvermögen und der katholische» Vibelkeuntuis ganz fern. Dafür sorgt
Ichvii die kluge Handhabung des katholischen Unterrichts. Dem gut gedrillte»
"thvlischeu Bewußtsein hat in dem Streit zwischen Staat und Kirche der
^eclat vo» vornherein und stets Unrecht. Zwar „dürfen und müsse» wir das
^terlnnd, worin nur geboren sind, und die Obrigkeit liebe», allein dabei
^'fen wir uicht vergessen, die Kirche zu liebe» als unsre Mutter." Das ist
naturgemäße Ordnung unsrer Pflichte»." Aber im Konflikt ist daran zu
^ken, daß die Liebe zu der el»en el»e „übernatürliche" ist, die zur andern
eine „natürliche." Wen» es »un „dnrch die Böswilligkeit der Menschen"
^Mehl, daß „die naturgemäße Ordnung" verkehrt wird, so ist es klar, daß
^ christliche Bürger der heilige» Gewalt der Kirche folge» muß. „Es kommt
Änlich 5,,or, daß die Pflichten, die die Bürger dem Staate gegeuüber habe»,
^Widerspruch zu stehen scheine» >bloß scheinen?j nut de» Pflichten, die ihnen
^ christliche Religion ^d. h. die Kirche> auferlegt. Das kommt daher, daß
die, die an der Spitze der Staaten stehen, entweder die heilige Gewalt der
Kirche nicht achten oder ihren Zwecken dienstbar machen wollen; daher der
Zwiespalt." Natürlich kommt der Zwiespalt nie daher, daß die „heilige
Gewalt der Kirche" den Staat ihren Zwecken dienstbar machen will. Kaiser
Wilhelm l. muß sich wohl geirrt und ohne allen Grund dem Papste Pio Nouv
ans dessen Schreiben geantwortet haben: „Dem in Ihrem Schreiben ausge¬
sprochenen Verlangen, die Verfassung und die Gesetze Preußens nach den
Satzungen der römisch-katholischen Kirche abzuändern, wird teilt preußischer
Monarch entsprechen können, weil die Unabhängigkeit der Monarchie eine
Minderung erleiden würde, wenn die freie Bewegung ihrer Gesetzgebung einer
außerhalb derselben stehenden Macht untergeordnet werden sollte." Eine solche
Absicht, die weltliche Macht zu vergewaltigen, hat ja der päpstlichen Hierarchie
stets fern gelegen; sie hat vielmehr immer mit mütterlicher Fürsorge dem staat¬
lichen Regiment gegenüber gestanden, und darum kann es gar nicht zweifelhaft
sein, welcher von beiden Mächten, der Kirche oder dein Staat, der christliche
Bürger im Widerstreite zu gehorchen hat. Da steht ja so schön der erwähnte
Ausspruch des Petrus zur Verfügung; weil man nicht zween Herren dienen
kann, so „ist es Sünde, die Gesetze Gottes zu übertreten, um irgend einer
irdischen Obrigkeit zu gehorchen, oder die Rechte der Kirche zu opfern, um
nicht zu scheine» ein weltliches Gesetz zu mißachten. Man muß Gott mehr
gehorchen als den Menschen." Und nun wird mit jesuitischer Durchtriebenheit
das Verweigern des Gehorsams gegenüber dem staatlichen Gesetz damit gerecht¬
fertigt, daß diefes selbst seiner Souveränität entkleidet und seine Geltung von
der Beurteilung eiuer nichtstaatlichen Macht abhängig gemacht wird, eine
Prozedur, die kein gesundes Staatswesen in sich dulden kann, die aber von
der vaterlandslosen Klerisei und in ihrem Namen von dem Papst als etwas
ganz Selbstverständliches hingestellt wird. „Was wir da berlihreii, heißt es
in der Euehkliia, das ist euch bekannt, und öfters haben wir davon gesprochen.
Ein Gesetz ist doch offenbar nichts andres als die Anordnung, die die recht¬
mäßige Gewalt den Grundsätzen der Vernunft entsprechend zum allgemeinen
Besten erlassen hat." Diese Erklärung, die in ihrer dehnbaren Unbestimmtheit
den juristischen Verstand auf deu Kopf stellt, dem ungeschulten oder vielmehr
gut geschulten katholischen Begriffsvermögen des gemeinen Mannes ganz an¬
nehmbar erscheint, giebt nun Seiner Heiligkeit volle Freiheit über den Begriff
der rechtmäßigen Gewalt, über das, was der Vernunft entspricht, und über das
allgemeine Beste bestens zu flunkern. Rechtmäßig nämlich, so belehrt uns der
Lehrmeister der Welt, ist die Gewalt, die von Gott stammt; es versteht sich
nun von selbst, daß darnach der Papst als Stellvertreter Christi und Gottes
über aller audern Gewalt steht, die eigentlich erst dnrch ihn zur rechtmäßigen,
von Gott stammenden wird. Der Vernunft entsprechend aber ist nichts, „wo
gegen die Wahrheit und das göttliche Gesetz verstoßen wird." Was göttliches
Gesetz und Wahrheit ist, das bestimmt aber allein der unfehlbare Herrscher
auf dem heiligen Stuhl. Endlich kann nichts zum allgemeinen Besten sein,
„was dem höchsten und unveränderlichen Gute widerspricht nud die Menschen
der Liebe Gottes entfremdet." Da sich aber das höchste und unveränderliche
Gut, die Seligkeit, mir in der alleinseligmachenden Kirche findet, und der von
der Liebe Gottes entfremdet ist, wer vom Papst entfremdet ist, so ist offenbar
nur das als Gesetz anzusehen, was dem Papste genehm ist. Es kann also gar
nicht zweifelhaft sein, wann der christliche Bürger seiner Obrigkeit widerstehen
muß. „Wann die Staatsgesetze offenbar vom. göttlichen Gesetze abweichen,
wann sie den Gesetzen der christlichen Religion und Kirche widersprechen,
wann sie die Autorität Jesu Christi selbst in seinem obersten Stellvertreter
und Hohenpriester verletzen (das „Wann" hat aber dieser Hohepriester selbst
in Bezug auf sein Eintreten zu bestimmen), dann ist es Unrecht, ihnen zu ge¬
horchen, Pflicht, ihnen zu widerstehen." Und nun beruft sich der „Friedeus-
Pnpst" auch ans die bereitwillige Zustimmung seiner ehrwürdigen Brüder, der
Friedeusbischöfe, in deren Gelöbnis unter andern auch das enthalten ist, „die
Ketzer nach Kräften zu verfolgen," und er fördert dabei eine köstliche Aus¬
legung der Titnsstelle 3, 1 zu tage, indem er sagt: „Das >diese Auffassung
von dein pflichtmäßigen Gehorsam der treuen Katholiken>, das ist, ehrwürdige
Brüder, wie ihr wißt, auch die Lehre des heiligen Apostels Paulus. In seinem
Briefe an Titus ermahnt er die Christen: den Fürsten und Gewalthabern
Unterthan zu sein und ihrem Gebote zu folgen; indem er aber dann hinzufügt:
zu jedem guten Werke sollten sie bereit sein, giebt er zu verstehen, daß, wenn
die Gesetze der Menschen irgend etwas enthalten, was gegen das Gesetz Gottes
ist, es Recht und Pflicht sei, ihnen nicht zu gehorchen." Um diese köstliche
Auslegung nach ihrem ganzen Werte zu würdigen, genügt es wohl für jeden,
der lesen gelernt und sich nur einen Funken von Wahrheitsgefühl in der Seele
bewahrt hat, die Worte bei Titus hierher zu setzen: „Erinnere sie, daß sie
den Fürsten und der Obrigkeit unterthänig und gehorsam sein, sollen, daß sie
bereit sein sollen zu jedem arten Werk, niemand lästern, mit uiemnud hadern
^'lieu, daß sie sollen leutselig sein, alle Sanftmut beweisen gegen alle Menschen."
Was also der Apostel unter dem „bereit sein zu jedem guten Werke" versteht,
davon giebt er Beispiele an, in dem „niemand lästern" n. s. w. Seine Heilig¬
st dagegen versteht darunter, „daß, wenn die Gesetze der Menschen irgend
etwas enthalten, was gegen das Gesetz Gottes ist, es Recht und Pflicht sei,
^neu nicht zu gehorchen." Fürwahr, Seine Heiligkeit ist ein gelehrter Manu
''ud ein großer Exeget! Daß zu der von ihm verlangte,: Beziehung des
^i^.o^ ^'of-i, schon konstruktionsmäßig und abgesehen von allem begrifflichen
Verständnis es statt hio-xi. heißen mußte Lo^, beunruhigt Seine Heiligkeit weiter
Alast. Wozu sich auch um solche Kleinigkeiten kümmern! Ebenso hat Seine
-euigkeit herausgefunden, daß, wenn der Erlöser von sich sagt: „Dazu bin ich
geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll,"
er damit hat fügen wollen, daß wir „den Gesetzen der Menschen gehorchen
müssen, nie aber dabei dem jvom Papst bestimmten's Rechte Gottes irgend
etwas vergeben dürfen," und daß dies des Christen heiligste Pflicht sei, „ans
welcher sich alle andern ableiten." Auch in den Worten Christi bei Lukas
(12, 49): „Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden, und
was wollte ich lieber, denn es brennete schon," findet Seine Heiligkeit ganz
dasselbe ausgesprochen, was er in der vorigen Stelle fand. Andre Ausleger
finden freilich nur, daß Christus mit diesen Worten auf die gewaltigen geistigen
Währungen deute, die er als von seinem Wirken ausgehend voraussieht,
Gährungen, die die religiöse Verfassung der Menschheit zunächst viel mehr an¬
gingen als die staatliche. Aber was thut das? Seine Heiligkeit findet nun
einmal in den Worten die Erkenntnis einer Wahrheit (die von der Priorität
des Gehorsams gegen die Kirche vor dem gegen den Staat), „die des mensch¬
lichen Geistes herrlichste Zierde ist, und das freudige Umfassen dieses Gebotes
ist des menschlichen Willens höchstes Gut. Und darin gerade liegt much des
Christen wahres Leben und echte Freiheit." Die Aufrechthaltung dieser Freiheit
aber ist der Kirche anvertraut, „und mit mütterlicher, zärtlichster Liebe erfüllt
die Kirche ihre Aufgabe bisher und fürderhin."
Man sieht, Unklarheiten in kirchenpolitischen Fragen sind hier nicht vor¬
handen, lind das mögen sich die Staatsmänner merken, deren Aufgabe es
ist, die Existenz des modernen Staates gegenüber der römischen Thevkrntie
mit ihren mittelalterlichen Rechtsforderungen zu schirmen. Ruch diesem Stand¬
punkte, wie wir ihn mich ans der Euehklika Leos XI II. wieder kennen lernten,
giebt es keine andern staatlichen Rechte, als die die Kirche anerkennt. Das
moderne Staatsrecht zumal, das sich einerseits auf Gewissensfreiheit, ander¬
seits auf die Oberhoheit der staatlichen Gewalt gründet, ist dem jetzigen Papste
gerade so ein Greuel, wie es seinen Vorgängern war. Je mehr ein Staat
auf der modernen Völker- und Staatsrechtslehre feststeht, desto schärfer und
entschieduer wendet sich die Kirche gegen ihn. Ein etwaiger »>,»!u> vivondi
wird uur so lauge eingehalten, als das Muß dahinter steht. Der preußische
Staat hat das vom Anfang an erfahren. Die päpstliche Macht hat ihn
gerade so wenig anerkannt, als sie den westfälischen Frieden als Grundlage
für die staatliche Gleichberechtigung der Konfessionen anerkannt hat. Als
Friedrich I. sich 1701 die preußische Königskrone aufs Haupt gesetzt hatte, ohne
das Zuthun dessen dabei angenommen zu haben, der ausschließlich „das Recht,
Könige zu schaffen," von Gott zu haben behauptet (Mücke, Der Friede zwischen
Staat und Kirche, I, Seite 55>), da sah sich Clemens XI. zu folgender Allo-
kntivn an das Kardinalskolleginm veranlaßt: „Ehrwürdige Brüder! Es ist
uus mitgeteilt worden, und die Nachricht ist durch die ganze Welt verbreitet,
daß der Markgraf Friedrich von Brandenburg vermittelst eines freche» und
bisher unter den Christen fast unerhörten Sakrilegiums sich den Namen und
die Jnsignien eines Königs von Preußen angemaßt hat unter Verachtung der
Kirche Gottes, und zwar durch einen strafwürdiger Bruch des Rechtes, das in
dieser Provinz dem deutscheu Orden zusteht. Er hat sich also durch diese Hand¬
lung schamloserweise der Zahl derjenigen beigesellt, die jenes göttliche Wort
verdammt: sie haben geherrscht, aber nicht durch mich, sie haben sich zu Fürsten
gemacht, aber ich habe es nicht gewußt. Ju welchem. Grade eine solche Hand¬
lung den apostolischen Stuhl beleidigt und den heiligen Canones widerspricht,
die befehlen, daß ein ketzerischer Fürst die Gewalt niederlegen soll, statt zu
neuen Ehren erhoben zu werden, dafür ersparen mir Eure nusgezeichuete
Frömmigkeit und Euer wohlbekannter Eifer die Beweisführung. Indes wollen
wir Euch uicht in Unwissenheit darüber lassen, daß Nur diese Schandthat nicht
bemäntelt haben; vielmehr haben wir, um das Unerläßliche soviel als möglich
zu thun und den Pflichten unsers Amtes nachzukommen, durch Briefe an die
katholischen Fürsten dieses freche und gottlose Beginnen öffentlich verdammt."
Da sowohl hier, als in den gleichzeitig erlassenen Breven an die christgläu-
bigen Mächte des heiligen römischen Reiches und von Frankreich der Papst
die eigenmächtige Rnngerhebuug des Ketzers als ein verbrecherisches Beginnen
gegen die heilige Canones hinstellt, und da seit der Unfehlbarkeitserklärnng
eine solche Kundgebung des heiligen Vaters auch alle seine Nachfolger bindet,
so ist klar, welche Stellung der römische Stuhl zur preußischen Macht grund¬
sätzlich einnehmen muß.
Seine volle Zufriedenheit mit der preußischen Macht kann er gar nicht
eher haben, als bis diese die Forderung der Alleinherrschaft der katholischen
Kirche auf denjenigen Gebieten, wo der Papst sie für notwendig erklärt, zu
erfüllen bereit ist. Und wenn man auch dies Ziel zu erreichen wenigstens in
absehbarer Zeit uicht hoffen kann, so sucht man wenigstens so viel Gebiet zu
^streiten, als möglich ist, also zunächst so viel, als nun unter Friedrich
Wilhelm IV. inne hatte. Das ist aber nur vorläufig das Ziel. Dann und
Wann kommt einmal der geheime Wunsch zu tage, der die weitern Ziele der
^nrie zeigt. Als vor vier Jahren der verstorbene Jesuit Frauzelin dem Papst
em Buch gegen die Hegelsche Philosophie überreichte, sagte ihm dieser: „Der
'^ampf, deu die deutschen Jesuiten mit solchem Eifer führe», ist notwendig,
Weil der Protestantismus ans Deutschlnud eine Burg des Irrtums und der
^uurigstcn Vorurteile gemacht hat." Aber, meinte Seine Heiligkeit weiter, er
Werde es verstehen, daS Gebiet Schritt für Schritt zu erstreiten und deu Kampf
^rig und ohne Waffenstillstand fortzusetzen. Hier sehe» wir, wie Nur das
^'es aus unter» Äußerungen zur Genüge wissen, in dem friedliebenden Leo XIII.
Vertreter jener Loyolagesellschaft, die sich zur Oberherrschaft über die
Kanten berufen hält und von diesen, besonders auch von unserm deutschen
^laate, Freiheit fordert, um jede andre Freiheit z» erdrücke». Ganz nuper-
hohlen sprechen die amtlichen päpstliche» Zeitungen, wie die (Ziviltn, vatwUoa,
ihre Überzeugung dahin aus, „daß es zwischen Rom und Preußen niemals
Frieden geben könne, weil dieser Staat zu seiner Natur den Protestan¬
tismus habe."
Wie man nun solchen Grundsätzen gemäß die Parität, bisher die Grnnd-
säule der preußischen kirchenpolitischen Staatskunst, auffaßt, das wissen Nur
aus Windthorsts Bekenntnis, daß die katholische Kirche die Parität da ver¬
langt, wo sie in der Minderheit ist; wo sie aber die Mehrheit hat, da könne
sie, so bekannte dieser ihr Führer, weil sie die Wahrheit sei, teilte andre Kon¬
fession als gleichberechtigt neben sich dulden. Und das ist echt katholische
Staatsweisheit, wie sie der Syllabus von 1864 im Canon 6 aufstellt: „So
Einer sagt, jene Unduldsamkeit, mit der die katholische Kirche alle von ihrer
Gemeinschaft geschiednen religiösen Sekten ächtet und verdammt, sei durch das
göttliche Recht nicht vorgeschrieben, oder, über die Wahrheit der Religion
können nur Meinungen, nicht aber Gewißheit herrschen und deswegen seien
alle religiösen Sekten von der Kirche zu dulden, der sei verflucht!" Wie weit
man gegeuüber solche» Grundsätzen, die mit echt römischer Unverfrorenheit
aufgestellt werden, mit der ängstlichen paritätischen Gerechtigkeit kommt, und
ob man überhaupt noch mit dem rein formalen und dazu sehr unbestimmten
Begriff der Parität regieren kann, wenn man die staatlichen Hoheitsrechte nicht
preisgeben will, das ist sehr fraglich. Wenn die Parität nach dein Ausdruck
Pius VII'. die „größte Beleidigung der Kirche" ist und diese Kirche in
Preußen nur jetzt noch alle Kraft ans das Eine richtet, die Parität geltend zu
machen, während sie in Wahrheit dieses Geltendmachen nur als eine gegen¬
wärtig zu ersteigende Stufe betrachtet, ohne für jetzt von dem zu reden, was
nachher kommen wird, so wird es je länger je mehr unabweisliche Pflicht für
den preußischen Staat, die notwendigen staatlichen Schranken mich gegenüber
solchen klerikalen Ansprüche,! zu betonen, die sich auf die Parität zu stützen
vorgeben. Besonders wird dies gegenüber solchen Fragen zur Notwendigkeit,
in denen die unglückliche Menge der deutschen Doktrinäre, „denen es mehr
um die Konsequenz, als um einen richtigen Ansgnngspnnkt zu thun ist," dein
päpstlichen Interesse bereitwillige Dienste zu leisten, immer natürlich „ans
Konsequenz," fähig ist, wie in der Frage der Expatriirung staatsfeindlicher,
den Gehorsam von rechtmäßig zu stände gekommenen Gesetzen versagender
Bischöfe, oder in der Frage der Zurückberufung und bedingungslosen An-
erkennung der Jesuiten, oder in der über die Verwendung der Sperrgelder,
wie diese vom Zentrum demnächst verlangt werden wird. Auch gegenüber
allen vermeintlichen Paritätsansprüchen muß der Staat darauf bestehen, daß
er nur so viel gewähren kann, als mit seinem ungebrochenen Dasein verträglich
ist, und gegenüber dem Gewissen einer Kirche, der Gewissensfreiheit ein fluch¬
würdiger Frevel ist, muß er sei» Gewissen salviren, das ihm gebietet, die
übrigen Konfessionen bei ihren» Rechte zu schützen. Wenn es aber dieser Schutz
verlangt, die Kirche der Hierarchie nicht so stark werden zu lassen, daß sie die
Angehörigen des Staates, worunter sich selbst die der eignen Kirche befinden
können und in der That oft genug befinden, mit der harten Fessel des Dogmas
knebelt, so muß der Staat darauf bedacht sein, nicht an Forinbegriffen, wie dem
der Parität, zu Grunde zu gehen, währeud er die wahre Gerechtigkeit, auf
der sich der moderne, zumal der preußische Staat auferbaut hat, verleugnet.
Dieser Schutz gegen eine Macht, die alle Geister knebelt, sobald sie Freiheit
hat, ist für den modernen Staat ganz unerläßlich. Und da in dieser Welt das
Geld Macht ist, so ist es, um einen demnächst der Entscheidung vorliegenden
Fall zu erwähnen, notwendig, die Sperrgclder, die ja an den Staat verfallene
Strafgelder sind, nicht denen auszuliefern, die mit Fug und Recht init der
Strafe belegt wurden. Der Staat kann nicht den Ungehorsam auch noch zu
guter letzt belohnen, will er sich nicht selbst aufgeben. Jedes Zurückweichen
des Staates in der Sache der Sperrgelder bedeutet neue Stärkung der römischen
Macht, und Stärkung der Macht heißt bei der Hierarchie jederzeit Steigerung
der Ansprüche. Das zeigt der durch die Thorheit der Liberalen versumpfte
Kulturkampf zur Genüge, dessen Beendigung uns anstatt des Friedens sofort
den neuen Kampf um die Schule in Aussicht stellte, der jetzt auch bereits im
Anzüge scheint und „gegen deu — wie Windthorst erklärte — aller bisherige
Kampf nur ein Kinderspiel sein wird." Nach dem Ergebnis der letzten Wahlen,
die weiter nichts als die elende deutsche Zerfahrenheit zu Tage gefordert haben,
kann unsre Hoffnung gegenüber einer neuen Majorität Windthorst-Richter-
Grillenberger in allen kirchenpolitischen Fragen nur darin bestehen, daß wir
eine Negierung haben, die sich im Willen ebenso stark erweist, als sie maßvoll
aber bestimmt in ihren Zielen ist.
Zu diesen Zielen kann aber eine Stärkung der päpstlichen Macht nicht
gehören, wie sie die siebzehn Millionen Sperrgelder mit sich bringen würden,
U'eun man diese der katholischen Kirche zu freier Verfügung überließe. Und
da ebenso wenig daran zu denken ist, daß eine Maßregel zur Beruhigung der
katholischen Gemüter beitragen würde, die etwa eine Verteilung dieser Gelder
an die katholische und die evangelische Kirche zugleich, je nach der Zahl ihrer
^gehörigem in Preußen, verfügte, überhaupt eine Ausstattung irgend einer
Kirche mit festen Fonds vonseiten des Staates kaum ratsam ist, da eine solche
»ur kirchlichen Abschließung und Verfestigung führt, so wäre wohl eine Ver¬
wendung der Art am Platze, daß die dem Staate verfallenen Strafgelder zu
Eichen humanen Zwecken angelegt würden, die auf dem staatlich-gesellschaftlichen
Gebiete zu verwirklichen sind. Da aber im Vordergrund aller öffentlichen
Bestrebungen heutzutage die Verwirklichung der sozialpolitischen Gesetzgebung
^'de und der Staat mit aller Macht daran arbeiten muß, die Mittel dafür auf¬
zubringen, so kann es keine vernünftigere nud befriedigendere Verwendung der
siebzehn Millionen geben, als wem, sie als Fonds für die Jnvaliditäts- und
Altersversorgung in Verwaltung genommen werden. Da der Papst erst neulich
in seiner Antwort auf das kaiserliche Schreiben betreffs der Arbeiterschutz¬
konferenz versichert hat, das; ihn die soziale Frage sehr bewege und er sich
schon seit langer Zeit mit deren Lösung ernstlich beschäftigt habe, so könnte er
sein Wohlwollen auch praktisch beweisen, wenn er dann sein Gefallen an solcher
Verwendung für die invaliden und nlteu Arbeiter zeigte. Aber auch wenn
darauf nicht zu rechnen wäre, darf sich der Staat durchaus für befugt halten,
mit den Sperrgeldern in dieser Richtung zu verfahren. Dem: festhalten muß
man daran, daß Sperrgelder Strafgelder und als solche dem Staate verfallen
sind. Man mag sich an das Wort Kaiser Wilhelms halten, das er einst
Pius IX. schrieb, daß „die freie Bewegung der staatlichen Gesetzgebung einer außer¬
halb ster preußischen Monarchie^ stehenden Macht nicht untergeordnet werden
könne." Dies Wort hat in unsrer Zeit umso mehr Bedeutung, als auch der
friedliebende Papst Leo XIII. in der Encyklika, von der wir hier geredet haben,
die Grenzen seiner Macht in ebenso ungemessener Weise auszudehnen versucht,
als das sein Vorgänger je versucht hat. „Will mau nur die Grenzen der
Unterwerfung ziehen — sagt die Enehklikn —, so glaube niemand, daß mau
den Hirten der Kirche, insbesondre dein römischen Papst, nur in den Dingen
gehorchen müsse, die zu den Glaubenswahrheiten gehören, deren hartnäckige
Verwerfung Irrlehre ist. Es ist Pflicht der Christen, daß sie sich überhaupt
durch die Bischöfe und besonders durch den römischen Papst leiten und führen
lassen." Und dieser römische Papst trägt seine kriegerische Rüstung heute noch
ebenso wie ehedem und schreitet darin der streitende» Kirche voran, die selbst
ein großes Kriegsheer ist. „Von ihrem göttlichen Stifter selbst ist es auch
gewollt, daß sie zum Heil der Menschen eiuherschreite einheitlich und wie ein
geordnetes Kriegsheer."
Wir schließen mit einem Worte des Justinus Fabrvnius (Nikolaus von
Houtheim) aus dessen 1763 erschienenen Buche von dein Zustande der Kirche und
der rechtmäßigen Gewalt des römischen Papstes: „Es klingt sehr hart, dennoch
sind es keine von Staatsgründen leere Worte, ob sie gleich von einem prote¬
stantischen Geistlichen herkommen, und die gewiß ein Ärgernis zu erkennen
gebe», welches unsrer heiligen Mholischenf Religion Ausbreitung und Auf-
nehmen, darum Gott täglich angerufen wird, verhindert, wenn der Tülnngischc
Universitätskanzler Pfaff schreibt: »Ich erstaune darüber, wie ein Regent solches
Volk >die Orden und besonders den Jesuitenordenj leiden kann, welches un¬
mittelbar unter dein Papst stehet. Auf solche Weise hat der Papst in allen
katholischen Ländern ein Heer ans den Beinen, das allezeit seinen Befehlen z»
folgen fertig und bereit stehet.«"
le Handelskammer in Kassel hat kürzlich an den Vorstand des
deutschen Handelstages und zugleich auch an den preußischen
Handelsminister Berichte erstattet, worin sie auf einen Geschäfts¬
verkehr hinweist, der dein allgemeinen Kredit namhaften Schaden
Zzufüge und dessen Beseitigung dringend zu wünschen sei. So
^'le in vielen deutschen Ländern ist auch in der Provinz Hessen der in Alt-
^'reichen schon lange bestehende Rechtssatz eingeführt, daß eine Hypothek-
Bestellung an Mobilien unzulässig ist, mit rudern Worten, daß ein Pfand¬
recht all Mobilien nur in der Form wirklicher Besitzesübergabe der verpfändeten
Zacher den Gläubiger soll geschaffen werden können. Der Zweck dieses
Verbotes liegt klar ans der Hand. Es soll der allgemeine Kredit nicht dadurch
'Utere Täuschungen erfahren, daß jemand durch deu Besitz eines vielleicht
wichen Mobiliars sich als kreditwürdig darstellt, während er dieses Mobiliar
heimlich sthou einem einzelnen Gläubiger verschriebe« hat, der dann die andern
gläubiger, wenn sie zugreifen wollen, ausschließt. Allerdings ist ein solches
^echvt zweischneidig; es kauu in einem einzelnen Falle auch wirtschaftlich nach-
^üg werden. Es ist denkbar, daß jemand, der den Besitz seines Mobiliars
^ehe entbehren kann, sich durch Bestellung einer Hypothek daran einen Kredit
verschaffte, der ihm in einer mißlichen Vermögenslage wieder aufhelfen könnte
Und keinem andern Gläubiger einen Nachteil brächte. Der Gesetzgeber mußte
^so, ehe er jenes Verbot erließ, sich darüber klar werden, ob der wirtschaftliche
Urteil, der ans dem Verbot einer solchen Hypothekbestellung für den allge-
^einen Kredit erwächst, nicht überwogen werde durch den Nachteil, daß fortan
eschnfte, die für den Einzelfnll vielleicht nützlich sind, nicht mehr eingegangen
-"erden können. Ohne Zweifel hat der Gesetzgeber, indem er das Verbot erließ,
/>e Frage verneint. Er erachtete die Untergrabung des allgemeinen Kredits
ur das schwerer wiegende Übel; und um diesem entgegenzutreten, hat er das
^ ,^ blassen. Auch im Handelsstande ist man dieser Ansicht gewesen. Der
^wälMe Bericht der Handelskammer sagt, daß der Hnndelsstand die fragliche
Urschrift mit ungeteiltem Beifalle begrüßt habe.
s.s„/^"" h"t man aber, seitdem, dieses Verbot erlassen worden ist, Nechtsge-
Mte ersonnen, die zwar den Namen der Verpfändung vermeiden und des-
halb dem Wortlaute nach nicht unter das Verbot fallen, die aber wirtschaftlich
genau fo wirken, wie das verbotene Rechtsgeschäft. Statt die Mobilien sich
verpfänden zu lassen, kauft sie der Gläubiger von seinem Schuldner für einen
der Schuld gleichkommenden Preis, läßt sich das „Eigentum" daran über¬
tragen, beläßt aber den Besitz dem „Verkäufer," und dieser bedingt sich ans,
daß, wenn er den „Kaufpreis" (d. h. die Schuld) zurückzahle, das Eigentum
wieder auf ihn übergehe. Vielleicht wird auch, um den Schein noch voll¬
ständiger zu machen, für die Benutzung der Mobilien ein vom Besitzer zu
zählendes „Mietgeld" vereinbart, das genau dem Betrage der für die Schuld
zu zahlenden Zinsen entspricht. Damit ist ein Verhältnis hergestellt, das dem
Gläubiger eine der Verpfändung ganz gleichkommende dingliche Sicherheit ge¬
währt, während es für das Publikum den täuschenden Schein aufrecht hält,
daß der im Besitz des Mobiliars verbleibende Schuldner ein durchaus kredit¬
würdiger Mann sei. Durch den Abschluß von Geschäften dieser Art ist das
gesetzliche Verbot einer Hhpothek um Mobilien lahm gelegt. Wollen andre
Gläubiger sich aus dem Mobiliar bezahlt machen, so tritt der Gläubiger, der
sich in dieser Weise vorgesehen hat, gegen sie auf. Er kann zwar nicht sagen:
Mir find die Mobilien schon verpfändet. Aber er sagt: Mir gehören die
Mobilien als Eigentum, und deshalb Hand ab!
Die Gerichte haben nun großenteils solche Geschäfte für rechtswirksam
erklärt. Zwar wurde in den zahlreichen Prozessen, die über Rechtsfälle dieser
Art anhängig waren, öfters die Frage gestellt, ob nicht ein solches Geschäft
„nur zum Schein" abgeschlossen sei. Man fand aber den Gegensatz zu einem
„Scheingeschüft" (oder, wie man auch sagt, einem „simulirter" Geschäft) nnr
in einem ernstlich abgeschlossenen Geschäfte. Ernstlich abgeschlossen sind nun
solche Geschäfte unzweifelhaft. Es ist den Beteiligten bittrer Ernst damit, dem
Gesetz ein Schnippchen zu schlagen, indem mau an die Stelle der Verpfändung
einen Kauf unter Vorbehalt des Rückkaufs setzt.
Gleichwohl wären die Gerichte in der Lage gewesen, diese Geschäfte für
uugiltig zu erklären. Denn es giebt noch einen andern Begriff von Schein¬
geschäften: Geschäfte, die zwar völlig ernstlich gemeint, aber doch insofern nnr
„zum äußern Schein" abgeschlossen sind, als sie unter einer Rechtsform, die
dem Namen nach nicht unter ein gesetzliches Verbot fällt, einen wirtschaftlichen
Zweck verfolgen, der vollkommen dem Zwecke eines andern, vom Gesetze ver¬
botenen Geschäftes entspricht. Wer sich in dem gedachten Falle das Eigentum
uuter Belastung des Besitzes bei dem Veräußerer und vorbehaltlich der Ver¬
pflichtung zum Nückverkauf übertrage» läßt, der will ja das Eigentum uicht
erwerben, um es zu nutzen und zu genießen, sondern er null in dem Eigentum,
dessen Nutzung er in den Händen des Veräußerers läßt, nur eine Sicherheit
für seine Forderung erlangen, die ihm in der Form der Hypothek sich bestellen
zu lassen verboten ist. Im Rechte werden Geschäfte dieser Art aw zur Um--
lehmig des Gesetzes (in lrauilvin legi») geschlossen bezeichnet, und es wird
gelehrt, daß der Richter sie nicht minder für nngiltig zu erachten habe, als
das vom Gesetz verbotene Geschäft selbst. Für den, der sich in diese» Begriff
mneindenkt, kann es keinen Augenblick einem Zweifel unterliegen, daß die
fraglichen Eigeutumsübertragnngen solche zur Umgehung des Gesetzes geschlossene
Geschäfte sind, und daß sie deshalb für ebenso nngiltig gehalten werden müßten,
eine an Mobilien bestellte Hhpothek.
Fragt mau, warn.in die Gerichte diese Lehre nicht ans Geschäfte der frag¬
lichen Art angewendet haben, so kann man nur darauf antworten: die Lehre
^ der praktischen Jurisprudenz verloren gegangen. Es fehlt den Richtern
eben die Anschauung von dein Wesen eines zur Umgehung des Gesetzes bestimmte»
Geschäftes. Auch diejenigen Richter, die wohl'fühlten, daß bei der Sache
etwas sunt sei, vermochten doch nicht weiter zu gelangen, als daß sie sich die
Frage stellten, ob nicht die Geschäfte „simulirt"' seieii. Und da sie dabei zu
dein Ergebnis gelangten und gelangen mußten, daß die Geschäfte durchaus
ernstlich gemeint seien, so kamen sie dahin, sie für giltig zu erklären.
Natürlich ist nun der Zustand, bei dem mit dieser Art von Verträgen
gearbeitet wird, weit schlimmer, als wenn die Bestellung einer Hhpothek an
"lvbilien nach wie vor erlaubt wäre. Denn diese künstlichen Sicherstelln»gs-
^'ertrage sind für den Schuldner weit ungünstiger und führen unzählige Prozesse
herbei. So bilden sie ein wahres Krenz des Verkehrslebens.
Bei dieser beklagenswerten Sachlage hat es die Handelskammer in Kassel
geboten erachtet, bei dem Vorstande des deutschen Handelstages zu beantragen,
,"h>» zu wirke», daß in das bürgerliche Gesetzbuch Bestimmungen idie bis
letzt fehlen) aufgenommen werden, die diesem Unfuge entgegentrete». Zu-
^/'es hat sie aber much bei dem preußischen Handelsminister den Antrag gestellt,
ur den Fall, daß das Zustandekommen des bürgerlichen Gesetzbuches sich
Zögern sollte, a»f dem Wege der Landesgesetzgebnng dagegen vorzuschreiten.
Der Bericht der Handelskammer bringt aber noch einen andern sehr be¬
achtenswerten Punkt zur Sprache. Es ist bei de» dortige» Erörterungen die
^'ag(! gestellt worden, ob es denn auch für den, der einem andern eine Sache
'^kaufe und übergebe, verboten sein solle, sich durch Vorbehalt des Eigentums
"-gen des rückständigen Kaufpreises sicher zu stellen. Es würde sehr hart sein,
.^rc e hervorgehoben, wenn zum Beispiel eine Näherin sich nicht eine Nähmaschine
b^/^ Weise sollte anschaffen können, daß sie den Kaufpreis nach und nach ab¬
zahlen dürfe, während der Verkäufer in einem solchen Falle doch wegen seiner
^5 sicher gestellt sein wolle und deshalb sich bis zur vollen Abzahlung
sol^ ^reden" an der Maschine vorbehalte. Nun ist ja nicht zu leugnen, daß
seel/u jemand eine Sache einem andern überträgt und dabei Sicher-
l . "3 für den Preis begehrt, einigermaßen eine andre Natur als die oben
^prvcheuen Fälle haben,' und daß' bedeutende wirtschaftliche Gründe dafür
sprechen, in Fällen dieser Art es dein Verkäufer möglich zu machen, an der
überlieferte!: Sache sich eine Sicherheit nusznbediugeu. Denn ohne eine solche
würde er wahrscheinlich dem ErWerber die Sache gnr nicht übertragen. Nimmt
mau nun an, daß in Fällen dieser Art ein überwiegendes wirtschaftliches Be¬
dürfnis für die Zulassung einer solchen Sicherheit spreche, dann würde doch
auch hier wieder das Nichtige sein, statt dem Verkäufer eine Sicherung durch
Eigentumsvorbehalt zu gestatte«, die Pfändung zuzulassen, also von dem Verbot
der Hypothek um Mobilien eine Ausnahme zu machen. Ja es würde sich sogar
empfehlen, diese Art der Sicherung als die alleinige Form, worin eine Sicher¬
heit geleistet werden könne, hinzustellen. Denn das Recht der Hypothek ist
auch hier für den Schuldner weit günstiger, während ihn der Eigeutums¬
vorbehalt unter Umständen arg schädigt. /
Bekanntlich ist die gedachte Art des Verkehrs die durchweg übliche bei
den sogenannten Abzahlnngsgeschäften. Sie liefern ihren Abnehmern Sachen,
für die der Preis nach und nach bezahlt werden soll, behalten sich aber bis
zur vollen Abzahlung das Eigentum an der Sache vor. Darnach stellt sich
das Verhältnis nicht selten so. Die Räheriu hat auf ihre Nähmaschine viel¬
leicht schon drei Viertel des Preises bezahlt; nnn kommt sie in Not und
kann nicht weiter zahlen. Dann holt der Händler kruse seines vorbehaltenen
„Eigentums" ihr die Maschine wieder ab, und sie hat für das Vergnügen,
kurze Zeit im Besitze eiuer Nähmaschine gewesen zu sein, drei Viertel des
Preises derselben bezahlt und bekommt keinen Pfennig davon wieder. Daß
hierin ein arger, dem Wucher verwandter Mißbrauch liegt, ist klar; und es hat
nach Zeitungsberichten diese Art des Verkehrs auch bereits die Aufmerksamkeit
der Regierungsbehörden ans sich gezogen. Aber wie zu helfen? das ist die
Frage. Die einfachste Hilfe würde darin liegen, daß man von dein Verbot
einer Hypvthekbestellung um Mobilien hier eine Ausnahme machte, zugleich
aber auch diese Art der Sicherstellung für allein zulässig erklärte. Das
Recht der Hypothek würde von selbst in sich schließen, daß der Verkäufer nicht
die Sache einfach zurücknehmen könnte, fondern sie zum Verkaufe bringen müßte
und sich aus dem erlösten Preise nur für seinen Kaufgeldsrest bezahlt machen
könnte, während der Überschuß des Preises dein Käufer zufiele, also sür diese»
die Sache doch nicht ganz verloren ginge.
in dieser Weise die Sache geordnet würde, so würde eine große
nichtsnutziger Rechtsgeschäfte und böser Prozesse ans der Welt ge¬
schafft sein.
in wesentlich andres Bild, als der erste Prophet des sozialen
Evangeliums, zeigt uns der zweite. Ist die Lehre Se. Simons
mehr Gefühl, Begeisterung, poetisch gefärbte ahnende Offenbarung
von oben, so will das, was Charles Fourier der Welt bietet,
^.reine Gedankenarbeit, abgeschlossene, feststehende Wissenschaft sein,
^och sind seine Werke, obgleich sie eine Anzahl starker Bände füllen, kein voll-
Midiges System, kein organisches Ganze, sondern immer nnr Bruchstücke, und
Namentlich die Ausgangspunkte seiner Theorie und die Belege fehlen fast gänzlich.
lichtvoller Anordnung des Stoffes, geschmackvoller Darstellung, gefälligem
P ^ ^ ^ Rede, und überraschen seine Erörterungen durch
^üben und Mannichfaltigkeit der Gedanken, durch eigentümliche Auffassung der
. ^ge des täglichen Lebens und vor allein durch eine unvergleichliche Kritik
^ bestehenden gesellschaftlichen Einrichtung, so stehen daneben nicht selten die
Abgeschmacktheiten. Dicht bei den Ergebnissen nüchterner Beobachtung
>uir Untersuchung, deren Scharfsinn sich zur Genialität steigert, begegnen
als ^'^"haften Ausgeburten einer verwilderten Phantasie, die ganz unbefangen
die
en^ "«zweifelhafte Wirklichkeiten hingestellt werden, kindischen Märchen, ti
l^nbarungen zukünftiger Geschichte sein wollen, widersinnigen Behanptunge
^ Gegenstände aus den dunkelsten Tiefen der Spekulation, die den Wert
^"thematischer Wahrheiten beanspruchen. Fourier ist mit kurzen Worten ein
^uidiger Beweis, daß Genialität mit dem Wahnsinn verwandt ist. und im
'Mi ist er ein Laie, der sich in wissenschaftlichem Denken versucht.
u»d ^ ? Besanyou geboren, verlor er in der Revolution sein Vermögen
er^^^ >iun Handlnngsdieiier, was er bis an sein Lebensende blieb. Sein
^^UgUll ' 'b'^ qrmtrv irrouvLM(Zuk8 erschien 1808. Es wurde an-
^ ^^^nig gelesen lind noch weniger verstanden, da er sich darin von aller
änlichen Denkweise lossagte und, wie das Ungelehrte zu thun Pflege»,
neue Ziele auf neuen Wegen zu erreichen suchte. Es ist gewissermaßen die
Logik seines Systems, die Lehre von der unendlichen Bestimmung des Meuscheu,
die er in der Anschauung des Weltalls zu erkennen sucht und findet. Er ent¬
deckt dabei den Grundsatz: „Die Harmonie der Genüsse und Triebe muß die
Grundlage der Arbeit sein." Die Nichtbeachtung des Buches schreckte ihn nicht
von weitern Studien und Betrachtungen ub; er ging jetzt daran, seine abstrakten
Gedanken auf das Leben anzuwenden, indem er sich eine allgemeine Verschmelzung
der Besitzenden und der Arbeitenden dachte, von der er mathematisch nach¬
zuweisen bemüht war, sie werde Gewinne erzielen, die die in der bisherigen
Vereinzelung erreichten bei weitem hinter sich lassen würden. Der Ausführung
dieser Gedanken war sein Hauptwerk: 'Irn-ne, <lo I'g.88o«me,ion doinostiquö c;t
iiFi'levis gewidmet, das 1822 herauskam, aber keine Leser und noch weniger
den großmütigem Wohlthäter fand, der die von dem Verfasser zur Ausführung
seiner Pläne gehoffte Million vorgestreckt hätte. Auch ein drittes Werk, 1^<Z
nouvvau irwncle inöustriol, ein Seitenstück zu dein zweiten in andrer Form,
blieb unberücksichtigt, bis die Se. Simoniste» von der Bühne verschwunden
waren. Nun wendeten sich einige bedeutende Talente der Lehre Fouriers zu,
darunter Victor Considerant, und dieser gründete für die Schule, die nun
entstand, die Zeitschrift I.-r I'lmlanM, die später in ^oirwer-ititZ Mviliciuo
umgetauft wurde.
Diese Schule hat eifrig, aber ohne viel Erfolg für die Verbreitung der
Ideen ihres Meisters gearbeitet, diese aber als unfehlbar und unverbesserlich
nicht weiter zu bilden unternommen und mir versucht, sie auf dem Gebiete
der Thatsachen einzubürgern. Das System Fouriers aber läuft in seinen
Hauptumrissen etwa auf folgende Sätze hinaus. Die innere Natur des Menschen
wird von dem Wunsche beherrscht, glücklich zu sein, er treibt zu aller Thätigkeit
an und ist bei jedem Einzelnen letzter Grund des Genusses und Besitzes und
Maßstab für das Gute und Schlimme. Das Glück ist die Bestimmung des
Menschen. Der Begriff Glück aber enthält zweierlei: den Trieb nach einem
bestimmten Gut und die Erfüllung dieses Triebes, die Harmonie des Begehrens
und des Besitzes. Die Güter der Welt, die Gegenstände der Triebe und ihnen
entsprechend die letztern ordnen sich nach Gruppen oder Reihen (soriv»), und
so ergiebt sich der Grundsatz, daß die Reihenfolge die harmonische Befriedigung
oder das Glück selbst ist und verteilt (1a svrio äistrlbuv los Karmoniss). Ist
das wahr für den.Kreis, den unser Verstand erkennt, so gilt es auch für das
All, das mit dem lebendigen Ich nicht im Widerspruche stehen kann. Alles
Seiende teilt sich aber in vier Hauptgebiete: das soziale, das animale, das
organische und das materielle Gebiet. Es ist notwendig, daß alles, was inne^
halb dieser Gebiete besteht und sich bewegt, mit einander im wesentlichen übe^
einstimmt; denn alle Dinge sind mir Erscheinungen derselben ewigen notwendig/
keit. Diese innere Übereinstimmung ist in der Analogie ausgedrückt, durch d>e
sich die geheimsten Lebensbeziehungen der Dinge überhaupt erkennen lassen,
und die gleichsam die Übergänge von einem Gebiet ins andre bildet.
Hauptaufgabe Fouriers ist nun die Betrachtung des ersten, des sozialem
Gebietes. Das gesellschaftliche Leben wird von den Trieben in ihren Reihen¬
folgen beherrscht. Seine Erkenntnis und mithin die Erkenntnis der Bestimmung
der menschlichen Gesellschaft beruht ans Erfassung der Triebe und ihrer Harmonie;
denn die Befriedigung ist ebeu die Bestimmung der Menschheit (clöstinöe soomls),
>hr Glück. Die Triebe aber zerfallen in drei Hauptarten, die unter sich wieder
Ah Reihenordnung (««priai) erscheinen, nämlich in Triebe des Luxus, die auf
konkreten Genuß gerichtet sind, Triebe der Gruppirung, die die Einzelnen mit
einander zusammenführen, und Triebe der Serie, die der Masse der Menschheit
d>el nud Richtung anweist. Alle diese Triebe sollen ihre Erfüllung erreichen,
Ale zur Harmonie gelangen, das ist die Bestimmung der Gesellschaft. Das
'se aber nur nnter der Voraussetzung möglich, daß die Menschheit die mate¬
riellen Mittel gewinnt, um ihren Trieben mit Aussicht auf Befriedigung freien
^uf zu lassen. Der Reichtum ist die Quelle alles Glückes, und mithin muß
er vor allen Dingen auf den höchsten Stand gebracht, allen Menschen zugänglich
gemacht, alle» mitgeteilt werden. Indem Fourier damit vor seine eigentliche
Aufgabe, die Frage nach der Verteilung des Reichtums, gelangt ist, kommt
zunächst der Gedanke, daß das Leben der Erde mit der Bestimmung ihrer
Menschliche, Bewohner im Einklange stehen müsse. Ist das aber der Fall, so
"'uß sie, schließt er weiter, fähig und bereit sein, allen Menschen Befriedigung
^irer Triebe, jedem Einzelnen die Mittel zum Genusse darzubieten, und zu
Dieser Fähigkeit muß sie sich entwickeln können oder entwickelt werde». Zu
^chem Zwecke hat sie eine bestimmte Lebenszeit wie der Mensch, nur lebt
°^ser nur 80, sie dagegen 80000 Jahre. Bis jetzt steht sie noch im Kindes-
und der Erdball ist noch mit Schwächen und Gebreche» behaftet, noch
'"angelhnft und ergänznngsbedürftig. Der Planet aber hat dem obigen Gesetze
^ folgen und sich der Bestimmung der Menschheit anzupassen. Er muß seine
Älnuihlich ändern, sich verschönern und veredeln, lind hier beginnt Fourier
in Phantasien zu ergehen, die zu utopischen Phantastereien ausarte». Es
eine Periode beginnen, in der allenthalben, in den Tropen wie an den
-.u "ulde, freundliche Temperatur, ein gemäßigtes Klima herrscht. In
Zonen werden in Überfülle edle Früchte reifen, die Raubtiere verschwinden,
^ "lief giftige Gewürm und Ungeziefer, das salzige Wasser der Meere
-.^'""dell sich in Limonade, und der Mensch tritt mit verdoppelter Genuß-
d«? verdoppelten Reichtum seiner irdischen Heimat hinan. Auch
hat der Menschheit, die ein Alter von ungefähr 0000 Jahren
. ^ lst offenbar noch nicht über die Kindheit hinausgelangt, die vielmehr im
Ain?'-^w" 8000 Jahre umfassen wird. Ihre Entwicklung durchläuft sieben
UMtte, von denen der, worin wir uns befinden, der fünfte ist und die
'
Periode der Zivilisation darstellt. Der sechste, die Zeit der Bürgschaft (Mr-me-ismo),
in der sich der Gedanke der Association teilweise verwirklicht, leitet den siebenten
und letzten Zeitraum ein, in dem sich die eigentliche Vereinigung, der Zu¬
sammentritt der einzelnen Genossenschaften der Menschen zu einem einzigen
großen Bunde vollzieht. Dieser Übergang, der als „Sprung ans dein Chaos
in die Harmonie" bezeichnet wird, bildet den Beginn einer Periode von
35,000 Jahren höchsten und doch stets wachsenden Glückes, denen andre Z5000
folgen werden, wo das Glück nach und nach abnimmt, und nach deren Ablauf
die Erde noch 8000 Jahre als alterndes und absterbendes Gestirn lebt, um
sich schließlich in das Weltall aufzulösen. Auch die Periode der Zivilisation
hat wieder ihre innere Entwicklung mit Anfang, Gipfelpunkt und Ende, deren
Behandlung manche geistreiche Wendung zeigt. Doch ist immer nur die Kritik
der heutigen gesellschaftlichen Zustande brauchbar und bedeutend. Hier ist der
sonst bizarre Philosoph des Kramladens sehr gut zu Hause und reich an weiten
und tiefen Beobachtungen. Unter anderm weist er überzeugend nach, daß einer¬
seits die Zerstückelung des Grundbesitzes, die in der That in Frankreich sehr
weit geht, den Ertrag, den er nbznwerfen imstande wäre, wesentlich schmälert,
und daß anderseits der Handel von der Selbstsucht der Kaufleute zum großen
Nachteile des Ganzen ausgebeutet wird. Was Fourier hierüber sagt, trifft
vielfach die Grundursache manches Elends und mancher Klage, aber es wäre
schöner und wirksamer gewesen, wenn er es einfacher, kürzer und klarer ans-
besprvchen hätte.
Wir haben nnn den letzten und wichtigsten Teil der Fourierschen Lehre,
das, was als Senfkorn von ihr in den Boden der Gesellschaft siel und in
ihm aufgehoben blieb, zu betrachten, die Beantwortung der Fragen: Wie kann
die Arbeit ihre hohe Aufgabe erfüllen, die Bestimmung der Menschheit, ihr
Glück herbeizuführen? Und was ist zu thun, damit die Menschheit das Werk
mit deu rechten Mitteln anfaßt und betreibt? Die Antwort des Philosophen
knetet: Da die Arbeit eine Notwendigkeit ist, so muß sie selbst in ihrer Weise
dein ewigen Grundgesetz aller Dinge, der Harmonie der Triebe dnrch die
Serie entsprechen, mit anderm Ausdruck: soll die Arbeit harmonisch sein
und so beglücken, so muß sie sich serienweise verteilen und feder Einzelne die
besondre Arbeit übernehmen, zu der er sich getrieben fühlt oder Lust hat.
Das ist das Prinzip des harmonischen Arbeitens, dessen Grundlage die That¬
sache ist, daß die Arbeit, die mit Vergnügen verrichtet wird, das Glück des
Arbeiters erhöht und die mit ihr ins Auge gefaßten Güter besser und rascher
herstellt als jede andre. Das Ideal der Arbeitsweise entsteht, indem für die
Menschheit eine Ordnung geschaffen wird, bei der alle die Herstellung der
Güter gemeinschaftlich mit zweckmäßig verteilten Kräften und Trieben betreiben-
Jeder arbeitet, was er mag lind nicht länger, als er mag. Damit dies aber
möglich sei, muß das Ergebnis der Arbeit, der Verdienst, das Gut, der Besitz
gemeinsam sei.,; erst unter dieser Voraussetzung werde., alle n> so gestalteter
gemeinschaftlicher Anstrengung ihren Vorteil erblicken. Diese Ordnung der
Dinge kann aus friedlichem Wege erreicht werden, braucht also nicht unbed.ngt
in gewaltsamer Aufhebung des jetzt vorhandnen Eigentums verwirklicht zu
werden. Der gegenwärtige Eigentümer muß vielmehr durch Erkenntnis dahin ge¬
langen , daß 'er seinem Besitze freiwillig entsagt und ihn in der Gemeuischast
^werbend anlegt. Das ist der Kern und Angelpunkt des ganzen Systems.
Der Sondereigentümer wird sich zu solcher Hingebung entschließen, wenn er
Femriers Nachweis glaubt, daß es sein Borten ist, wenn er semen Besitz denn
Gemeinbesitz einverleibt, weil dieser und die Arbeit im genossenschaftlichen Ver^-
l'ende zehn'bis fünfzehn Prozent mehr abwerfen müssen, als das Kapital und
die Arbeit in Vereinzelung. Kourier ist fest überzeugt, daß niemand Weser
Einsicht widerstehen kaun, daß mithin jeder Besitzer von Grund und Boden
und ebenso jeder Kapitalist, sobald er von dieser starken Vermehrung des Er¬
trages seines Vermögens in der Assoziativ,, erfahrt, sich beeilen unrd. ihr nut
dem Seinigen beizutreten. Jedem Landeigentümer, der sich dazu enthebt.e,U.
wird dann ein Schein, eine Aktie für seinen Anteil am Ganzen ausgestellt,
womit er sein Eigentum an Grund und Boden verliert, aber dafür das Necht
'"'tauscht, einen verhältnismäßigen Anteil am Ertrage des Gemeingutes und
^' gemeinsamen Arbeit zu beanspruchen und zu erhalten, ^o entsteht zu¬
nächst die landwirtschaftliche Assoziativ». Ihr folgt dann die Verschmelzung
der übrigen Arten deö Besitzes und der Arbeitskräfte, und damit beginnt em
'"-'»es ^eben ans der Erde. ' Die Menschen geben zuerst die Gewohnheit ge¬
sonderter Wohnungen, eigner Hanswirtschaften und die eigne Erziehung der
Kinder auf. Denn es wird nunmehr allen klar, daß die Einzelwirtschaft e.ne
irrtümliche Lebensweise ist. das ist, was das Leben so sehr verteuert. Wieviel
!^de nicht verloren beim Zwischen- und Kleinhandel, beim Bauen. Backen.
Kochen und Waschen der einzelnen Familien! Alles das läßt sich in Gemein¬
schaft vorteilhafter betreiben. Die neuen Genossenschaften treten in der Zahl
je 15- bis 180« Mitgliedern zusammen, damit womöglich alle Triebe ni
"wen vertrete» sind, und sie sind nur durch die Serie der Triebe »> sich ge-
^tuet; jeder ist frei, dem. er folgt und gehorcht in allen seinen Verbindungen,
Tätigkeiten und Genüssen lediglich dem eignen Triebe. Eine solche Genossen¬
schaft oder soziale Gemeinde wird von Fourier Nmwig'v (unser Phalanx)
^'nannt. Sie umfaßt Personen jedes Geschlecht und Altes, die ein gemein¬
schaftliches Hans, oder vielmehr einen nicht bloß mit allen Erfordernisse., der
Bequemlichkeit, sondern auch mit Gegenständen des Luxus ausgestatteten
^'s'gen Palast, das I'luümr^ bewohnen und hier Arbeiten der Laudwnt-
Mt, der Industrie und des kmusweseus mich eine.n gemeinschaftlichen Plane
^reiben. Der Gemeindepalast ist Wohngebäude, Werkstatt und Speicher für""e- Er enthält Stndirstuben und Arbeitsgelasse sür jede besondre Ne.gnug
und Thätigkeit. Gemeinsam aber sind die Speisesäle, Küchen n»d Wasch¬
anstalten, die Vorratskammern und die sehr eigentümlich ausgesonnenen Vor¬
kehrungen zur Erziehung der Kinder, desgleichen die Anlagen zu Spaziergängen
und Spielen. In der Mitte des Ganzen erhebt sich ein Turm, von dem die
Signale zum Beginn und Aufhören der Arbeit gegeben werden. Da es den
Mitgliedern der Phalanx, freigestellt ist, sich die Beschnftignng zu wählen, die
ihnen am meisten zusagt, so wird jedes Mitglied vermöge des dem Mensche»
eingebornen Veränderungstriebes sich in raschem Wechsel den verschiedensten
Arbeiten widmen und sich dadurch für jede derselben zu erfolgreichem Betriebe
erforderliche Frische erhalten, die jetzt in der Einförmigkeit der Beschäftigungen
verloren geht. Neben dem häufigen Wechsel der Beschäftigungen, von denen
leine über zwei Stunden nach einander datiern soll, und einer möglichst weit
durchgeführten Teilung ist es deren Betrieb mit freigewählten Genossen, der
die Arbeit zum Genusse machen und das Erzeugnis derselben bedeutend ver¬
mehren wird. Das letztere wird schließlich bei jedem einzelnen Gewerbszweige
derartig geteilt, daß vier Zwölftel zur Verzinsung des eingeschossenen Kapitals,
fünf Zwölftel als Lohn für die einfache Handarbeit und drei Zwölftel als Be¬
lohnung für das hilfreich gewesene Talent, d. h. für die Leitung, die höhere
Technik, die Fachkunde und die ungewöhnliche Geschicklichkeit verwendet werden.
Das ist das Phalanstvre, worin das Heil der Menschheit verwirklicht ist. In ihm
herrschen nie gestört Frieden und Glück; denn was kann der Mensch mehr begehren
als stete und volle Befriedigung aller seiner Neigungen und Wünsche, und hier findet
er sie ohne Nahrungssorge, ohne unwillkommene Arbeit, ohne Verdruß von seiner
Umgebung, weil er nur die sucht, zu der sein Trieb ihn führt. Die Phalanx
aber wird reich und immer reicher, die Nachbarn sehen ihr Gedeihen und
wünschen, anch so glücklich in der Harmonie zu werden. So bilden sich un»
Phalangen ringsum, nud endlich bedeckt sich die ganze Erde mit ihnen, und
die einzelnen treten wieder in Serien und Akkorde zusammen. Jeder steht
ein „Altares" vor, je 4, 12 und 4» verschmelzen sich zu Gebilden wie Staaten.
Alle beherrscht der „Omniarch," der seinen Sitz in Konstantinopel hat. Ist
diese allgemeine Organisation der Menschheit vor sich gegangen, so verwandelt
sich anch die Natur: am Nordpol erscheint ein warmer Lichtstrom, in Sibirien
schmelzen Schnee und Elo, an den Gestaden des Weißen Meeres wachsen
Orangen und andre Südfrüchte, und die ganze Erde geht in den Zustand der
wahren und vollen Harmonie ein.
Die Phalanx ist eine Welt für sich und doch wieder, wenn das System z»
jener Vollendung gediehen ist, nur ein Glied deS großen Organismus der'
übrigen gesellschaftlichen Gemeinden, mit denen sie durch Austausch ihrer Er¬
zeugnisse, dnrch Wetteifer, gemeinsame Unternehmungen »ut Feste in Verbindung
gebracht wird. Produktive Arbeit, Gütererzeugung ist freilich in der Welt
Fouriers die Hauptsache, indes finden in ihr anch Wissenschaften und Künste
den ihnen znkoniinende» Platz und reichlichen Lohn. Staat und Kirche da¬
gegen haben hier durchaus keine Stätte. Der Kultus, den der Urheber des
Systems will, gilt einzig und allein den diesseitigen Mächten, die dem
Menschenwohle dienen, der Natur, der Schönheit, der Liebe ». dergl. Aller¬
dings soll niemand in seinem Glanben und dessen Bethätigung beeinträchtigt
Werden, und Fourier leugnet in seine» Schriften kaum irgendwo die Lehren
der Kirche von den göttlichen Dingen, es ist aber für jeden scharfblickender
"ffenbar, das; es für' ihn nichts Überirdisches geben kann. Zu Gunsten des
heutigen Staates oder vielmehr der bestehenden Staatsgewalten macht Fourier
mancherlei ausdrückliche Vorbehalte, aber alle leitenden Gedanken seines ^ozin-
lismus zielen uns den Zweck hin, jede Art von politischer Bildung und Glie¬
derung überflüssig zu machen. In der Fourieristischen Genossenschaft wird
>"ehe beherrscht und regiert, hier giebt es uur unbeschränkte Selbstbestimmung
der Einzelnen, der verschiednen Gruppen, denen sie durch freie Wahl ange¬
höre». ,,„d schließlich der ganzen Phalanx. Für die Beziehungen der einzelnen
Gemeinden zu einander gilt kein andres Recht und Gesetz als die freie Über¬
einkunft, etwaige Streitfragen, die sie selbst nicht zu schlichten vermögen, werden
durch Dritte schiedsrichterlich beigelegt, und eine Strafgewalt ist so gut wie
überflüssig bei einer öffentliche« Ordnung, die sich der Natur der Menschen
"»d Dinge willig unterwirft und anpaßt, statt ihr wie die Zivilisation - ein
Wort, das bei Fourier stets einen verächtlichen. wenigstens ironischen Beige¬
schmack hat — tausendfältig Gewalt anzuthun. Der gesunde Naturtrieb, den
"Mu gewähren läßt, ersetzt bei Fourier Moral. Gesetz und Polizei.
Gleichwohl ergreift der soziale Reformator jede Gelegenheit, um den
heutigen Machthabern zu versichern, daß sie von der Verwirklichung seiner
Pläne nur Vorteile ernten können. Namentlich müssen sich dadurch die ^tnats-
winnhmen erheblich steigern, da die gewaltige Bereicherung der die neue
Methode befolgenden Völker eine verhältnismäßige Verstärkung ihrer Steuer¬
est zur Folge haben muß. Durch Eröffnung solcher erfreulichen Aussichten
sowie durch nachdrückliche Kundgebungen seiner Überzeugung, das; alle revo¬
lutionären Mittel und Wege zur Verbesserung des Loses der Menschheit ent¬
schieden zu verwerfen seien', hoffte er die französische oder auch eine andre
Regierung, so weit zu gewinnen, das; sie zur Gründung eines ersten Phalau-
Pre ein' paar Millionen Franks vorschieße. Da der Versuch zweifellos ge¬
nügen mußte, so war nichts mehr erforderlich. Das Folgende thaten die in
"">ner weitern und immer weitern Kreisen zu Nachahmung und Wettbewerb
""^regten Nachbarn.
Das ist der Fouriersche Sozialismus. Er giebt ebenso zu mancherlei
Zweifeln an der Richtigkeit seiner Poraussetzungen und Folgerungen als zum"«edel» über seine Phantastereien Anlaß, hat aber doch seine hohe Bedeutung
zuvörderst dadurch, daß er das Prinzip der Assoziativ» an die spitze aller
Mittel zur Bekämpfung der Armut und der von ihr der bürgerlichen Gesell¬
schaft drohenden Gefahren stellt, dann dadurch, daß er zum erstenmale den
Gedanken der harmonischen Arbeit ausspricht. Das letztere namentlich ist ein
wesentlicher Fortschritt, der die Lebensfrage unsrer Zeit mit ihren Gegensätzen
berührt und deren Ausgleichung bis zu einem gewissen Grade ahnt. Jeden¬
falls war der Fvurierismus logischer und im ganzen systematischer als der
Se. Simonismus. Aber, wie gesagt, anfangs wurde die neue Theorie zur
Beglückung der Menschenwelt fast gänzlich übersehen. Die Staatsbehörde recht¬
fertigte die zuversichtliche Erwartung Fouriers, sie werde ihm Mittel zu einer
Versuchsstation vorstrecken, in keiner Weise, und wenn sich schon 1814 i» Just
Mniron ein Privatmann fand, der in einem „Kommnnalkomptvir" eine Asso¬
ziativ» für ländliche Besitzungen ins Leben zu rufen bemüht war, so hatte er
doch damit keinen Erfolg. Auch die Jahre 1820 bis 18'!0 waren für Fourier
ungünstig, weil der Se. Simonismus alles Interesse für soziale Fragen in sein
Bereich zog. Erst mit dem Schlüsse dieser Schule schien es besser werden zu wollen.
Bisherige Mitglieder der letztern wie Le Chevallier und Abel Trcmsvn wandten sich
dem Fourierschen Plane zu, und der Abgeordnete Dnlarv, gab Geld her. Man
konnte ein Blatt, das I'baliui^tvixz, gründen und in Conti! sur Vesgres mit
der Verwirklichung einer Gemeinde nach Fouriers Plane beginnen. Die Sache
mißlang aber vollständig, das Blatt ging nach kurzem Bestehen !>,'!.'! ein.
Schon war es wieder still geworden um den Reformator der Gesellschaft, als
Evnsiderant sich von der Güte seiner Sache überzeugte und sich sofort mit
ebensoviel Talent als Eifrer ihrer Vertretung widmete. Er ließ die Versuche
zur Ausführung der Ideen des Meisters einstweilen beiseite und suchte sie zu¬
nächst durch eine leicht faßliche Darstellung dem Volke mundgerecht und annehm¬
bar zu machen. 18,'Zu schrieb er zu diesem Zwecke das Buch Vo8tinvv «uvialv,
und zu gleicher Zeit hielt er öffentliche Vorlesungen, die Beifall fanden und
ihm Leser für die ?us.l5>.nM verschafften, ein Blatt, das zunächst nur zweimal
monatlich erschien, von 1810 an aber schon dreimal wöchentlich und von 184.'!
an unter dem Titel IXunovratie >no!ki<jn(! alle Tage herauskam. Es war ein
Drgan ganz neuer Art, das der jetzt immer mehr um sich greifenden Erkennt¬
nis entsprach, daß das konstitutionelle System weniger den Interessen des
Volkes als denen der Parteien diene.
Die französische Presse hatte sich von jeher vorwiegend mit politische»
Partcifragen beschäftigt und sich um die materiellen Interessen des Landes
und die Aufgaben, die diese der Regierung stellten, nur wenig gekümmert.
Evnsiderant, der jetzt als das Haupt der Schule galt, da Fourier am 10. Ok¬
tober 1.W7 gestorben war, gab seinem Blatte eine andre Richtung, er machte
es, von der Meinung ausgehend, daß es auf die Form der Regierung nicht
viel ankomme, wenn sie nur die Erfüllung der dauernden Bedürfnisse des
Volkes fördere, zur Vertretung der hierher gehörigen Frage» und Interesse».
Da er sich dabei durch Kenntnis, Darstellungsgabe und anfänglich auch durch
Parteilosigkeit auszeichnete, erwarb er sich viele Freunde und bedeutenden Ein¬
fluß, der fortwährend zunahm, als die DmnoerMv p-reiliauc; fortfuhr, der
Negierung die Berücksichtigung, Hebung und Besserung der gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Zustände bei jeder Angelegenheit zu empfehlen nud anderseits
die friedliche Entwickelung der Dinge als deu einzig wahren und möglichen
Weg zu bezeichnen. Seit dieser Zeit überwog die publizistische Thätigkeit der
Fourieristen die systembildeude bei weitem, man arbeitete weniger als früher
a» der Theorie und ihren Spitzfindigkeiten und desto mehr an praktischen
Fragen, nud je bereitwilliger man die Schulphilosophie den Thatsachen anpaßte
und dem Erreichbaren nachstrebte, desto mehr Ansehen gewann man im Publikum.
Considerants Blatt war das erste, das bei der Revolution von l84« die
Arbeiterfrage anregte, die wichtiger war als die Frage, ob Monarchie oder Re¬
publik. Nach den Februartagen aber beteiligte sich Cvnsiderant in grellem Wider¬
sprüche mit denn Titel seiner Zeitung und dem ursprünglichen Charakter der
"ehre, deren Apostel er war, an dem von Ledru-Rollin veranlaßten Versuche,
^e neue Regierung gewaltsam zu stürzen. Es mißlang, und mit der Flucht
Considerants hörte das Organ der Schule auf, zu erscheinen. Die Schule
selbst aber löste sich nicht auf, souderu büßte uur auf lange Zeit ihre Leitung
und alle Aussicht ein, ihre Pläne in Frankreich verwirklicht zu finden. Doch
fand sie einigen Trost in dem Umstnude, daß mehrere in Amerika unternommene
versuche, Sozialistengemeinden im Stile Fouriers zu gründen, nicht ohne
Erfolg blieben. Die plötzliche Verwandlung Considerants in eine» Revolutions-
"ümm giebt zu denken. Am Ende sind sie alle so beschaffen, diese harmlosen
Sozialsten.
s ergiebt sich klar aus den angeführten Beispielen, daß die Ver¬
bindung zweier oder dreier Mächte zum gemeinsamen Angriffe
gegen einen gemeinsamen Feind nieder die Aussichten des An¬
greifers »och die Gefahr des Angegriffenen ohne weiteres ver¬
doppelt oder verdreifacht. Die Vermehrung der Zahl erhält ein
^^u^wicht an der Schwierigkeit der Verständigung zwischen deu verschiednen
" Führern, die nicht einem einheitlichen Willen gehorchen, sondern von verGe
schied»en Punkten her ihre Weisungen erhalten. Dabei ist die Möglichkeit
eines völligen Bruches zwischen deu verbündeten Mächten noch gar nicht in
Rechnung gezogen. Und doch, wie nahe liegt diese Gefahr! Wie leicht ist es
möglich, daß die Verhältnisse sich ändern, die zum Abschluß des Bündnisses
geführt haben, und daß dann diese oder jene Macht sich- versucht fühlt, ja
vielleicht gezwungen sieht, die gemeinsame Sache zu verlassen und den eignen
Borten auf kosten der andern oder doch ohne Rücksicht auf sie zu verfolgen!
Freilich nur als eine Ausnahme, nicht als die Regel wird man ein so
Schmachvolles Verhalten gelten lassen wie das, wodurch sich England im sieben¬
jährigen Krieg entehrt hat. Damals hatte sich Georg II. mit Friedrich ver¬
bündet, um sein deutsches Land Hannover, den angestammten Besitz seines
Hauses, mit preußischer Hilfe gegen die Franzosen zu verteidigen. Geführt
von dein Prinzen Ferdinand von Braunschweig, hatten die englischen Söldner,
größtenteils Deutsche von Geburt, bei Krefeld und bei Minden herrliche Siege
erfochten; und was noch mehr war als dieser unmittelbare Erfolg, die Franzosen
hatten fo viel Kraft auf den Krieg in Deutschland verwenden müssen, daß es
ihnen unmöglich gewesen war, in Ostindien, in Nordamerika, in Westafrika
sich gegen die Engländer zu behaupten. Nun starb aber Georg II., und sein
Nachfolger Georg III. verfiel bald ganz und gar dein Einfluß eines beschränkten
Hofmannes, des Lords Bude, dessen Losung war: Friede um jeden Preis.
So lange das verbündete Preußen im Vorteil, so lange die englischen Heere
überall siegreich waren, konnte er nicht hoffen, daß auch das englische
Volk seine Friedenssehnsncht rückhaltlos teilen und die Bedingungen billigen
würde, die er den Gegnern, Frankreich und Spanien, einzuräumen geneigt
war. Darum sehen wir ihn, den englischen Minister, bemüht, die Lage für
England und seine Verbündeten ungünstiger zu gestalten. Er arbeitet Friedrich
insgeheim entgegen, wo er kann; ja er beschwört im Vertrauen die französische
Regierung, doch mit größerm Nachdruck in Deutschland vorzugehen und wo¬
möglich dem Heere des Prinzen von Braunschweig einige Verluste beizubringen,
damit das englische Parlament dein Frieden günstiger gestimmt werde. Diese
Hinterlist des falschen Freundes hätte für Friedrich verhängnisvoll werden
müssen, wenn nicht zu seinem Glück anch die Verbindung seiner Gegner ge¬
sprengt worden wäre durch den Tod der Kaiserin Elisabeth von Rußland,
deren Nachfolger, Peter III., ein begeisterter Verehrer des großen Preußen-
königs, sofort Frieden und Freundschaft mit ihm schloß.
Ähnlich, wenn auch nicht ganz so niederträchtig, hatte sich England
übrigens auch schon fünfzig Jahre vorher im spanischen Erbfvlgekriege be¬
nommen. Lange Zeit kämpfte» damals kaiserliche und englische Heere Seite
an Seite und vereitelten dnrch eine Reihe glänzender Siege den Plan der
Weltherrschaft, dem Ludwig XIV. ein langes, thatenreiches Lebe» gewidmet
hatte. So la»ge die Gemahlin des englischen Heerführers, des Herzogs von
Marlborough, dos Vertrauen der Königin Anna genoß, so lange seine Freunde
und Gesinnungsgenossen ans den Ministerstühlen saßen, blieb das Waffen-
Bündnis unangetastet. Aber kirchliche und staatliche Beschwerden, Schuldenlast
und Steuerdruck führten einen Unischwung in England herbei, der, lauge vor¬
bereitet, durch ein persönliches Zerwürfnis zwischen der Königin und der stolzen
Herzogin Marlborough beschleunigt wurde. Die neuen Minister brauchten
deu Frieden schon deshalb, weil sie nur so ihren verhaßten Gegner, den sieg¬
reichen Feldherrn, los werden konnten. Überdies hatte England erreicht, was
es irgend verlangen konnte: Gibraltar und Minvrca, große Gebiete in Nord¬
amerika, dazu, was für dieses Kaufmannsvolk schou damals besonders schwer
Ms Gewicht fiel, die Aussicht auf günstige Handelsverträge mit Frankreich
und Spanien. Daß die Engländer unter diesen Umständen keine Lust hatte»,
zu Gunsten des Hauses Österreich einen Krieg fortzusetzen, der zwar reiche
Lorbeeren brachte, aber auch schwere Opfer auferlegte, das war ihnen an sich
'naht zu verargen. Aber die Art ihres Vorgehens widersprach doch jedem
Gefühl des Anstandes und der Ehrlichkeit. Ohne daß Graf Gnllas, der
Üuserliche Botschafter in London, ein Wort davon erfuhr, wurden insgeheim
Friedensverhandlungen mit Frankreich angeknüpft; längst war ein Friedens¬
kongreß mit dem Gegner verabredet, ehe dem Bundesgenossen die ersten An¬
deutungen über die Notwendigkeit eines solchen Schrittes gemacht wurden.
So verständigte sich 1696 Viktor Amadeus von Savoyen insgeheim mit
Franzosen und trat von dein große» europäischen Bündnis gegen
Ludwig XI V. zurück, sodaß die französischen Heeresabteilungen, die bisher mit
^Un gefochten hatten, jetzt in den Niederlande» »ut in.Katalonien gegen seine
sichern Verbündete» verwendet werden konnten. Ehre seinem Nachkommen,
^em König Viktor Emnnuel von Italien, daß er eine ähnliche Versuchung, die
'U Jahre 1866 auch an ihn herantrat, siegreich überwunden hat!
^ Jm österreichischen Erbfolgekriege verließ 1742 Preußen, 1745 Baiern
as Bündnis gegen Österreich, der preußische König, nachdem er sein nächstes
<>U'l, die Erwerbung Schlesiens, erreicht, der bairische .Kurfürst, nachdem er
Ach überzeugt hatte, daß die Fortsetzung des Krieges ihm keinen Gewinn,
ändern nur Gefahr und Vernichtung bringen könne.
Im ersten Koalitionskriege konnte Kaiser Franz endlich im Jahre 1796
'of die Ankunft eiues längst versprochenen russischen Hilfsheeres rechnen. Da
die Kaiserin Katharina; ihr Nachfolger Paul hatte zunächst keine Lust,
u den Krieg mit Frankreich einzutreten, und Österreichs Hoffnung war ver¬
achtet. Am zweiten Koalitionskriege beteiligte sich Paul mit der ganzen Hitze
^»es leidenschaftlichen Wesens. Aber die früher berührten Zerwürfnisse
^sehen seinem Feldherr,, Suwarosf und dein Wiener Hofe, die Mißerfolge,
c>u einem so glänzenden Anfange der Mangel einer einheitlichen Leitung
" Ende herbeiführte, erbitterten ihn so, daß er mitten im Kriege sein Heer'
zurückrief und seine Verbündeten allein weiterkämpfen ließ. Ja noch mehr,
aus einem glühenden Hasser der französischen Revolution wurde er ein be¬
geisterter Bewunderer ihres Bändigers Bonnparte; und wenn nicht der Tod,
der Mord dazwischengetreten wäre, so hätten schon damals Rußland und
Frankreich im Bunde den Kampf mit Europa aufgenommen.
Das bekannteste Beispiel für die Sprengung einer Koalition und den
Rücktritt eines Verbündeten ist der Friede von Basel, deu Preuße» 1795 mit
Frankreich abschloß. Man hat aus diesen Frieden schwere Anklagen gegen
Preußen begründet, hat ihm Treubruch und Charakterlosigkeit nud dazu poli¬
tische Kurzsichtigkeit vorgeworfen. Man hat dabei nicht in Rechnung gezogen,
daß Preußen von dem verbündeten Kaiser Franz in der polnischen Angelegen¬
heit ans die unverantwortlichste Weise hintergangen und geschädigt worden
war; man hat nicht bedacht, daß bei dem gegenseitigen Mißtrauen, bei der
Eifersucht und Uneinigkeit der Verbündete» die Fortführung des Krieges keine»
Erfolg verspreche» konnte; man hat übersehen, daß Preußen sich vergeblich
bemüht hatte, Österreich zur gemeinsamen Verhandlung über einen gemein¬
samen Frieden zu bestimmen, der damals ohne allen Zweifel unter annehm¬
bare» Bedingungen Hütte zu stände gebracht werden können. Man ist gewohnt,
den Friede» von Basel in der Beleuchtung der Schlachten bei Jena und Auer-
städt zu sehen, als ob der damalige Rücktritt von dem gemeinsame» Kriege,
und nicht vielmehr die spätere Versäumnis der Kriegsbereitschaft, die unzeitige
Sparsamkeit der Negierung auf Kosten des Heeres, die fast planmäßige Er-
tötung alles kriegerischen Geistes, die weltbürgerliche Vaterlandslosigkeit der
gebildeten Stände, endlich die unentschlossene Schwäche des Königs das Ver¬
derben des Staates herbeigeführt hätten. Der Friede um sich war eine politische
Notwendigkeit, wenn anch der Gang der Verhandlungen im einzelnen einen
beklagenswerten Mangel an Widerstandskraft auf preußischer Seite verrät.
Am wenigsten konnte sich Österreich über Preußens Verhalten beklagen,
seitdem es sich zwei Jahre nachher, im Frieden von Campo Formio, gleich"
falls von seinem Verbündeten, von England, getrennt hatte, sobald ihm die
Möglichkeit eines vorteilhaften Friedens nahegetreten war, eines Friedens,
der in ganz anderm Maße als der von Basel auf Kohle» des deutsche» Reichs
gegangen ist.
Wahrhaft glänzend aber hebt sich der Basler Friede von dein dunkel»
Hintergründe des Friedens von Tilsit ab. Preußen hatte doch wenigstens
seinen nächsten Nachbarn und Bundesgenossen, den norddeutschen Länder»,
Sicherheit gegen die Angriffe der Franzosen verbürgt. Dagegen sah Kaiser
Alexander von Rußland die Zertrümmerung des verbündeten Preußens ruhige»
Auges mit an, ließ deu Herzensfreund im Stich, dem er einst über dein Grabe
Friedrichs des Großen ewige Treue geschworen, denn er noch drei Monate
zuvor feierlich zugesagt hatte, daß er mit ihm stehen und fallen wolle;
er scheute sich nicht, uns der Hand seines neuen Freundes Napoleon ein Stück
Preußischen Landes als Geschenk cmznnehuen und sich dieses erniedrigenden Ge¬
winnes in einem Armeebefehl auch noch öffentlich zu rühmen.
Doch es ist ja möglich — die Geschichte zeigt es —, daß alle diese
Schwierigkeiten überwunden werden, daß die Kvalitivnshecre glänzende, ent¬
scheidende Siege erfechten, sei es getrennt wie bei Turin,, bei Ramillies,
sei es gemeinsam wie bei Hvchstedt, bei Leipzig, bei Waterloo; es ist
möglich, daß die Koalition bestehen bleibt bis zum gemeinsamen Friedensschluß.
Aber mit der Friedeiisverhandlung erhebt sich eine neue Gefahr. Ist es
möglich, eine Lösung zu finden, die alle Verbündeten Mächte in gleicher Weise
befriedigt? Ist nicht zu befürchten, daß jetzt wenigstens jeder nur anf seineu
Vorteil bedacht ist und den andern gleichgiltig beiseite setzt, weil er ihn nicht
mehr braucht, oder ihn gar mit mißgünstigen Augen betrachtet, weil er in ihm
den künftigen Gegner zu sehen glaubt?
Denken wir an Nymwegen und Se. Germain! Wer hatte in dem Kriege
»ut Frankreich das Beste geleistet? Wer war auf dein Plan erschienen, um
dus zu Voden geworfene Holland wieder auszurichten, als sich sonst noch
nirgends eine Hand zur Abwehr der französischen Übergriffe regte? Wer hatte
den Ruhm der deutschen Waffen gewahrt und gemehrt nud der Welt gezeigt,
was ein kräftiger Entschluß, ein stählerner Wille vermag? Wer anders als
der große Kurfürst von Brandenburg, Friedrich Wilhelm III.? Und was war
sein Lohn? Holland kümmerte sich nicht mehr um den edelmütigen Beschützer,
jetzt da es keines Schutzes mehr bedürfte; der .Kaiser eilte, sich die Hände frei
»n macheu, damit er sich gegen die aufständischen Ungarn kehren könne; dazu
sah er in einem starken Brandenburg eine Gefahr für Österreichs Übermacht
ni Deutschland. So stand Friedrich Wilhelm allein und verlassen da und
uuißte blutenden Herzens einen Frieden unterzeichnen, worin er alles herausgab,
was er mit seinem guten Schwert erobert hatte.
Und wie ging es im nächsten Kriege beim Abschluß des Friedens von
Nhswik? England kümmerte sich nicht um die festländischen Angelegenheiten,
Holland war zufrieden, für sich einen günstigen Handelsvertrag zu erhalten,
und so mußte Deutschland, das nicht etwa nur um die eigne Sicherheit mit
^'n französischen Heeren gekämpft, nein, das auch übers Meer hinüber seine
Opfern Krieger geschickt hatte, um Wilhelm von Oranien auf den englischen
Thron zu setzen und Irland ihm zu Füßen zu legen — Deutschland mußte
Straßburg, den Schlüssel seines Hauses, in den Händen der Franzosen lassen.
Und nun noch das schlagendste Beispiel: der Pariser Friede des Jahres 1814.
Deutschland, das arme, mit Füßen getretene, aus tausend Wunden blutende
Deutschland, hatte in einem Heldenkampfe ohne gleichen die Ketten gebrochen,
die der französische Kaiser das ganze westliche Europa geschlagen hatte; mit
^"ssischer und englischer Hilfe allerdings; aber so gewiß Preußen ohne Ruß-
land nicht losgeschlagen hätte, so gewiß wären die Russen ohne die Preußen
nicht nach Frankreich gekommen. Kostete es doch gleich anfangs unsägliche
Mühe, den Widerstand der stockrussischen Partei zu überwinden, die sich auf
keinen Krieg in Deutschland einlassen, sondern nur die eignen Grenzen ver¬
teidigen wollte. Und so tapfer auch im Verlaufe des Krieges die Russen ge¬
fochten haben, das ist unleugbar, daß die eigentlichen Sieger über Napoleon
Blücher und Gneisenau gewesen sind, daß sie den zweiundzwanzigjährigen
Ningkcimpf mit Frankreich zum glücklichen Ende geführt haben. Was wäre
linn natürlicher gewesen, als daß Deutschland sich schadlos gehalten Hütte für
die unermeßlichen Verluste der letzten Jahrzehnte, daß es von den Räubern
Ersatz gefordert hätte für alle die Brandschatzungen und Kriegssteuern, die
Plünderungen und Erpressungen, wodurch sie das Mark des Laudes ausge¬
sogen hatten, daß es sich eine feste Grenze gezogen hätte zum Schutz gegen
neue Einfülle des lüsternen Nachbars, daß es dein niedergeworfenen Gegner
die schonen, reichgesegneten Lande, die er durch List und Gewalt, im offenen
Kampf und durch schnöde Rechtsverdrehung um sich gebracht hatte, endlich
wieder aus den Händen gerissen Hütte? Statt dessen wurde den Franzosen
nicht nur alles das gelassen, was sie vor dem Ausbruch des ersten Koalitions¬
krieges, vor dem Jahre 1792, besessen hatten, das Elsaß mit eingeschlossen;
es wurde nicht nur keine Entschädigung für die Kriegskosten verlangt, keine
Abrechnung über die ausstehenden Forderungen angestellt, wodurch Preußen
170 Millionen Franken verlor, Vorschüsse von russischen Feldzuge her; man
ließ nicht nur die Schütze der Kunst und Wissenschaft, die von den Franzosen
nach Paris geschleppt worden waren, mit wenigen Ausnahmen in den Händen
der Räuber, sondern man gab ihnen zu besserer Abrundung der Grenzen, wie
es hieß, uoch Landstriche von zusammen 150 Quadrcitmeileu zum Geschenk,
dabei eine Stadt wie Saarbrücken, dessen Bewohner mit jeder Faser ihres
Herzens an Deutschland hingen und sich bittend und flehend, weinend und
jammernd deu Lenkern der europäischen Geschicke zu Füßen warfen, um nicht
wieder deu Franzosen ausgeliefert zu werden, unter deren Mißhandlungen sie
unsäglich gelitten hatten. Es ist bekannt, mit welcher leidenschaftlichen Hitze
damals der alte Blücher gegen die Diplomatiker und Federfuchser gewütet hat,
die verloren hätten, was der Soldat mit seinem Blut erworben hatte. Man
kann in der That nicht daran zweifeln, daß Hardenberg, der preußische Staats¬
mann, bei größerer Entschlossenheit und Zähigkeit in dem und jenem Punkte
wohl ein günstigeres Ergebnis hätte durchsetzen können. Aber doch nur in
einzelnen Punkten; im großen und ganzen genommen war der jämmerliche
Friede nicht seine Schuld, sondern die natürliche Frucht der Koalition. Was
wollte das kleine Preußen machen, wenn Rußland und England zusammen'
hielten und schließlich auch Österreich auf ihre Seite herüberzogen? In diesem
Kreise aber wurde die Losung ausgegeben: Frankreich darf nicht zu sehr ge-
schwächt werden. Es sei nicht edelmütig, meinte der schwärmerische und dabei
so schlau berechnende Kaiser Alexander, den besiegten Gegner allzu tief zu de¬
mütigen. Ganz schön, Edelmut ist eine Tugend; aber hier wurde sie uicht
mit aufopfernder Selbstverleugnung, sondern auf Kosten des Freundes geübt. Es
sei nicht klug, hieß es weiter, dem zurückgeführten bourbonischen König seiue an
sich schwierige Stellung noch weiter zu erschweren. Nun, wie wirksam durch
diese zarte Rücksicht die Ruhe Frankreichs und Europas gesichert war, das
zeigte sich gleich im nächste« Jahre, als Nnpolevu vou Elba zurückkehrte und
der Krieg aufs neue begann. Viel gewichtiger als die Großmut des Siegers,
als die Rücksicht auf den Besiegten siel ein andrer Gedanke in die Wagschnle,
die Eifersucht auf das verbündete Deutschland. Der Krieg des letzten Jahres
hatte deutlich gezeigt, was der Riese vermochte, wenn er einmal aus seinem
Schlaf erwachte und sich zum vollen Gefühle seiner Kraft erhob. Dem sollte
bei Zeiten vorgebeugt werden. Man durfte Deutschland uicht zu stark werden
lassen, damit es uicht dereinst Rußland und England störend in den Weg treten
könne. Darum wurde es von den eignen Verbündeten um deu wohlverdienten
Siegespreis betrogen.
Wenn das Jahr 1870 gut gemacht hat, was 1814 und im wesentlichen
auch 1815 versäumt worden ist, so war das nur deshalb möglich, weil der
jüngste Krieg eben kein Kvalitivnskrieg war, sondern von Deutschland ans eigne
Hand nud ohne jede fremde Hilfe geführt worden ist.
Wir sehen, wie den Konlitionskrieg die Schwäche, die ihm von Natur
anhaftet, vom ersten Augenblicke des Entschlusses zum Kriege bis zur letzten
Stunde der Friedensverhcmdluug begleitet. Ja noch darüber hinaus. Denn
oft genug ist auch die Geschichte des Krieges durch die Eifersucht der Ver¬
bündete» gefälscht worden. Daß nach einer gemeinsam Verlornen Schlacht wie
der bei Austerlitz jeder Beteiligte dem andern die Schuld zuschiebt, ist menschlich
und wohl begreiflich. Aber mehr als einmal ist auch schon der umgekehrte
Fall vorgekommen, daß nach einem gemeinsamen Siege der wirkliche Sieger
in den Hintergrund geschoben worden ist. So hat Vernndotte, vou dessen
widerwillig errungenen Erfolgen im Befreiungskriege wir schon gesprochen
haben, die Ehre des Sieges jedesmal für sich in Anspruch genommen, das
Verdienst der preußischem Generale, die ohne ihn, ja gegen ihn den Kampf er¬
zwungen, die Schlacht geschlagen, den Sieg erfochten hatten, verkleinert oder
verschwiegen, und lange genug hat es gedauert, bis der wahre Sachverhalt
ans Licht kam.
Wer war der Sieger von Belle-Alliance? Ohne Frage hat Wellington
den Ruhm des größten Meisters der Verteidigung auch hier glänzend bewährt.
Aber hätte nicht Blücher sein zwei Tage vorher bei Ligny geschlagenes Heer
unglaublich rasch zum neuen Kampfe gesammelt, hätte nicht Gneisenau der
Versuchung widerstände», am Abend der Verlornen Schlacht das preußische
Heer durch den Rückzug nach der deutschen Grenze in Sicherheit zu bringen,
hätte er nicht statt dessen vielmehr auf jede Gefahr hin die Verbindung mit
Wellington aufrecht erhalten, hätte nicht der alte Marschall Vorwärts trotz der
Ermattung seiner Leute, trotz der eignen Verwundung, trotz der Grundlosigkeit
der Wege sein Wort gelöst und sich rechtzeitig auf dem Schlachtfeld einge-
funden, so wäre Wellington bei aller Tapferkeit seiner Soldaten verloren ge¬
wesen. Trotzdem war der englische Feldherr unedel genug, die Ehre des
Sieges allein für sich und England in Anspruch zu nehmen, sodnß noch zwei¬
undzwanzig Jahre nach der Schlacht der preußische General Grolmnn zur Feder
greifen mußte, um deu Anteil der Preußen ins rechte Licht zu setzen.
Das sind die Schattenseiten des Koalitionskrieges. Was folgt daraus?
Etwa daß das Bündnis, mit dem die Staatskunst des Fürsten Bismarck uns
beschenkt hat, keinen Wert habe? Gewiß nicht. Denn fürs erste: es ist ja
nicht zum gemeinsamen Angriff geschlossen, sondern zur gemeinsamen Aufrecht¬
haltung des Friedens. Diese Aufgabe hat es bisher gelöst und wird sie, hoffen
nur, auch künftig lösen, wie einst 1668 die „Tripelallianz" zwischen Holland,
England und Schweden den Ausbruch eines europäischen Krieges verhindert und
Ludwig dem Vierzehnten in seinem Ervberungslaufe Halt geboten, wie einst durch
die „Quadrupeln llianz" des Jahres 1718 Kaiser Karl VI. im Bunde mit Eng¬
land, Holland und Frankreich das kriegslustige Spanien zur Ruhe verwiesen hat.
Fürs zweite: im Fall eines Krieges würden unter deu Schäden einer
Koalition unsre Gegner sicherlich viel mehr zu leiden haben als wir; denn
nichts ist unberechenbarer als die Launen eiuer entfesselten Masse und — eines
unumschränkten Selbstherrschers.
Aber das geht aus deu Erfahrungen aller Koalitionskriege hervor, daß
Deutschland durch das Vertrauen auf die Hilfe seiner Verbündeten sich nicht
in falsche Sicherheit einwiegen lassen darf, daß es seinen Schutz und seine
Stärke in erster Linie in sich selbst suchen muß.
?er Aufschwung, der sich in neuester Zeit auf deu meisten
Gebieten der technischen Künste bemerkbar macht, äußert sich,
ebenso wie im Kunstgewerbe, so in erfreulichster Weise auch in
der zunehmenden Fähigkeit zur Herstellung künstlerisch hervor-
«ragender Werke der Knpferradirung. Diese ehedem in so wunder¬
barer Blüte stehende, dann mehr und mehr vernachlässigte Technik ist heutzutage
wieder zu verdienten Ehren gelangt. Seitdem sich die Anfmerksamkeit und>-^N«W
M
nltgeineine Bewunderung den erhabenen Werken eines Schongauer, Dürer,
Rembrandt und zahlreicher anderer Meister der K lip ferste cherkun se wieder
zugewandt, der Blick sich wieder nu die Schönheit, der Sinn an die Tiefe
jener Kunstwerke einer großen Vergangenheit gewöhnt hat, ist der Wunsch
erwacht, auch dies fruchtbare, so lange brachliegende Feld von neuem anzubauen.
Man hat begriffe«, daß gerade dieser Zweig der Kupferstichtechnik die Er¬
reichung malerisch-warmer Eindrucke ermöglicht, daß er die freie und leichte
Entfaltung der kiinstlerischen Fähigkeit gewährt und dabei wie ein edles Musii-
iustrumeut tiefe Kraft und zarteste» Schmelz in sich vereinigt. Das alles
bewirkt, daß die Radirmig neuerdings wieder im Bordergrunde des Interesses
steht und gegen sie die rein in Linienmanier ausgeführte Grabstichelarbeit
zurücktritt, die in ihrer stolzen Kälte bei weitem nicht so zur Darstellung des
vollen Lebens geeignet ist. Natürlich sind auch bei dieser Sache Fehlgriffe
nicht ausgeblieben. Gewisse Künstler haben sich der irrigen Meinung hin¬
gegeben, die Rndirnng sei zu. nichts gut, als zur möglichst sklavischen Wieder¬
gabe von Gemälden. Sie haben eine mehr überraschende, als erfreuliche
Geschicklich keit bei sich ausgebildet, im Kupferstiche genau die Pinselführung
des Malers, die Art seines Farbenaustrages nachzuahmen, durch eigentümliche
Kunstgriffe jede pastvse Stelle der Originalmalerei hervorzuheben, um nur ja
nicht dem. Gemälde, dessen Nachbildung sie unternehmen, im geringsten zu
nahe zu treten. Sie vergessen dabei, daß zur wirklich genauen Wiedergabe
einer Malerei die mechanisch arbeitende Photographie viel geeigneter ist. Der
Kupferstich aber muß ebenso sehr ein Werk der kunstfertigeil Hand wie des
Gefühls sein; er muß, auch wo er uur nachschafft, stets selbständig bleiben
und als gleichberechtigtes Kunstwerk »eben, nicht unter der Malerei im all¬
gemeinen und seinem etwaigen Vorbilde im besondern stehen. Diese Auffassung
ist durchaus die, welche die Meister der hervorragendsten Kunstepochen festgestellt
haben; und mit Genugthuung kaun man es begrüßen, daß sie sich von neuem
Bahn bricht und imstande ist, so vortreffliche Arbeiten gedeihen zu lassen, wie
^'e sind, die mich zu diesen Betrachtungen veranlassen. Die Radirungen,
"le ich meine, und ans die ich die Aufmerksamkeit des knnstverständigen Pu¬
blikums lenken möchte, sind ganz neuerdings als die Erstlinge eines jungen,
iwfstrebenden Verlages") erschienen und bilden gegenwärtig den Anziehungs¬
punkt der bedeutenderen Kunsthandlungen.
Drei von diesen Blättern geben figürliche, die vier andern landschaftliche
Darstellungen. Unter den erster» ist von hervorragender Schönheit ein Blatt,
sich „Vallerinnermigen" nennt. Das zu Grunde liegende Gemälde rührt
"her von I. Casado de Alisal, einem spanischen Maler, der ehemals in Rom
Direktor der Academia d'Espagua in Pietro S. Montorio war, dann lauge
Zeit in Paris arbeitete und dort im vorigen Jahre gestorben ist. Der Stich
ist in Mezzotintomanier hergestellt von R. Smythe, einem noch sehr jungen,
aber wie seiue Arbeit zeigt, schon zur Meisterschaft gelangten Londoner .Künstler.
Die Darstellung zeigt eine junge Dame im Maskenanzüge, die ermattet in
einen Sessel gesunken ist und mit lächelnd-träumerischem Ausdrucke vor sich
hinblickt. Überaus reizvoll ist das pikante, etwas kleine Köpfchen mit dein
fein geschnittenen Munde und den dunkeln Haaren, bewunderuswert auch das
Spiel des Lichtes auf dein bunt gemusterten Gewände. Das Blatt zeichnet
sich aus durch eine Zartheit und Weichheit des Vortrages, wie sie in solcher
Vollendung nur der Schwarzkunsttechnik erreichbar ist. Jederlei Stichelarbeit
fehlt, und aller Eindrnck ist erreicht lediglich durch die meisterhafte Handhabung
der Roulette, des Schabeisens und des Pvlierstahls. Es ist hoch erfreulich, daß
diese zeitweise etwas in Verruf geratene Art des Kupferstichs wieder in alter
Schönheit aufzubinden beginnt.
Weniger bedeutend als dieses Blatt ist eine Nachbildung der bekannten
Hille Bobbe des Franz Hals, radirt von Sterry in Berlin, einem Schüler
des Professors Werner. An sich ist es mir zweifelhaft, ob es empfehlenswert
war, gerade dies groteske und keineswegs Scholle Bild nachzubilden, da doch
das Genie des Franz Hals in vielen andern Gemälden mindestens ebenso klar
lind dabei anmutiger zum Ausdruck kommt. Was die Radirnng als solche
betrifft, so gehört sie, wenn auch nicht in übertriebenen Maße, zu der oben
gekennzeichneten Gattung derer, die aus Erreichung des äußern Effektes
der Ölmalerei ausgehen. Sie ist dabei meist so dunkel gehalten, daß man
schon aus geringer Entfernung nur uoch mit Mühe die Einzelheiten zu unter¬
scheiden vermag.
Höchst beachtenswert und interessant, sowie als Originnlradirnng von
durchaus selbständiger Bedeutung ist ein Werk von William Strang, beuauiit
„Nach der Arbeit." Der Schöpfer des Bildes, ein Schotte, ist einer der
bedeutendsten naturalistischen Künstler Englands, wie einer der vorzüglichsten
lebenden Kupferstecher. Seine Werke finden die lebhafteste Anerkennung
wegen der Kühnheit, mit der sein malerisches Genie anch die widerstrebendsten
Gegenstände angreift und in großer Auffassung durchführt. Gerade diese
letztere macht ihn bedeutend, denn die Form läßt bei seinen Werken nicht selten
zu wünschen übrig. Doch läßt sich hoffen, daß der in verheißungsvoller
Entwicklung begriffne .Künstler dieses Mißverhältnis allmählich zu überwinden
wissen werde. Sollte dies einmal geschehen, so wird die Welt um einen
großen Meister reicher sein. Ehe jemand diese Worte als Übertreibung ansieht,
ersuche ich ihn, das hier besprochene Bild, welches die Keime zum Größten
enthält, genau zu betrachten. William Strang ist als Maler Schüler der
französischen Naturalisten, besonders Miller, Courbet und Legros; in der Behand¬
lung des Lichtes, wie in Bezug auf gewisse Stechereigentümlichkeiten schließt
^ sich Rembrandt an, doch klugertveise ohne sich i» Nachahmung desselben
zu verlieren. Besonderes Lob verdienen Strangs acht Illustrationen zu der
Ballade Mo I>e.->Ul -un> tue ?lon°1un^n'8 V^it'v, die neuerdings die Ausstellung
der lioM Sovist)' ok l'aintor-^wlisr« zierten. Ebenda befand sich das Blatt
„Nach der Arbeit" l^teor ^Vorke), das die allgemeinste Bewunderung fand.
Ich muß gestehen, daß ich beim ersten Anblicke des Bildes betroffen war.
Hier — das fühlte mau sofort — hatte mau es zu thun mit der Arbeit eines
ungewöhnlichen Menschen, eines selbständigen Mannes, der »ach dein Urteil
der Leute nicht fragt und unbesorgt seinem Werte auch ein ungewöhnliches
Äußere verleiht. Nichts zeigt dies Bild von irgend welchem Reiz, ebenso
fern aber ist jede Spur von Roheit oder, was noch schlimmer wäre, von
Flachheit. Es ist ein seltsames Bild. Man muß es lange und oft ansehen,
um es nur zu verstehen : versteht man es aber, so schätzt mau es auch. Es
redet eben eine uns leider fremdartige Sprache — die Sprache der Natur.
Wir Deutschen haben sie vormals so gilt verstanden; es wird Zeit, daß wir
»»ser-Ohr wieder an ihre harten, urkräftiger Lante gewöhnen. Ich stehe nicht
n», deu Stich von Strang (auch stecherisch ein bedeutendes Werk) für das
großartigste Stück der ganzen Sammlung zu halten, für ein Blatt, das ihr schon
"klein einen hervorragenden Rang sichert. Und was stellt das Bild nun eigent¬
lich dar? Fast nichts. In einer vou deu Schatten der späten Abenddämmerung
umhüllte», öden Landschaft sitzen die dunkeln Gestalten eines Landmannes und
seiner Frau — er in scharfem Profil, sie etwas weiter links hinter ihn,, ihr
Befiehl, das tief beschattet ist, den? Manne zuwendend. Das ist alles. Wie es
über dargestellt ist, das muß man sehen, sehen mit dem Herzen nicht minder
uls mit den Augen.
Von den vier Landschaftsbildern ist keins, das, soweit der Stich in Be¬
acht kommt, nicht erhebliche Vorzüge aufwiese. Wenn ich sie trotzdem nicht
"lie auf dieselbe Stufe stelle, so liegt das an der Art der Darstellung; doch
^'be ich gern zu, daß ich hier die Schätzung nur nach meinen persönlichen
^igungen vornehme. Andre mögen mit demselben Rechte vielleicht gerade
^ Blätter bewundern, die mich weniger anziehen. Das will sagen, daß die
^/er Landschaften ausnahmslos vortrefflich sind, und ich hoffe mit dieser Ver¬
sicherung objektiv genug gewesen zu sein, um nun um so ungenirter subjektiv
Urteilen zu können.
Am wenigsten sagt mir das Bild zu, das den Rainen führt: „An den
^fern des Manzanares." Erstens kann ich nicht einsehen, warum dieser
Tüiß g^abe der Manzanares sein soll. Möglich ist ja, daß er sich irgendwo
S^abe in dieser Weise zeigt. Aber ein Bild muß seinen Titel rechtfertigen,
""d ich finde, daß weder Fluß noch Landschaft noch Staffage noch sonst
^was auf diesem Bilde das geringste Spanische an sich hat. Außerdem macht
°as Gtw^ einen kalten Eindruck, was daher kommt, daß das Bild hell
gehalten ist und Mangel an belebenden Gegensätzen von Licht und Schatten
zeigt, sowie daß der angebliche Manzanares sich in nicht glücklicher Auffassung
von der Mitte des Vordergrundes nach der des Hintergrundes schlängelt,
was einen etwas leblosen Eindruck macht. Abgesehen von diesen Dingen aber
enthält das Gemälde (es stammt von dem Spanier Luis Graner) große
Schönheiten, besonders in dem prächtig ausgeführten Baumschlag. Die von
dem Berliner Heinrich Kohnert besorgte Radirnng ist eine ausgezeichnete Leistung.
Um die Ausführung der drei andern Landschaftsblütter hat sich Krvstewitz
aus Berlin verdient gemacht. Dieser Künstler ist ein Schüler des Professors
kluger, des angezeichneten Wiener Rndirers, und seine Werke beweisen, daß
er bei diesem Meister zu großer Kunstfertigkeit gelangt ist, sie zeigen aber
anch außerdem, daß er seine Vorbilder geistig tief zu durchdringen versteht.
Einzelnes in den drei hier in Rede stehenden Stichen ist ganz wundervoll,
»>it größter Sorgfalt und Feinheit ausgeführt, von zartestem Duft der leichten
Lnfttöne und auch in den tiefsten Schatten klar und transparent, wie es einem
vorzüglichen Stiche zukommt. Zwei dieser Blätter hat Krvstewitz noch in
Wien radirt, die „Waldeinsamkeit" nach Narcisse Diaz und „Vor dem
Sturm" nach Jules Dupru. Ein Bild von Diaz nachzubilden ist sür den
Stecher eine schwere und wenig dankbare Aufgabe. Gerade das, was ihn zu
einem großen Maler machte, nämlich die virtuose Behandlung der Farbe, geht
verloren; der Glanz des Sonnenlichtes, der sich auf seinen Bildern goldig über
die Landschaft ergießt, wird matt und erlischt wohl gar. Was der Stecher
festhalten kann, die Form, ist nicht die Stärke von Diaz Malerei gewesen.
So finde ich auch das vorliegende Blatt ein wenig nüchtern, wenn auch
immerhin die Nachbildung geistreich genug ausgeführt ist, um in ihrer Eigenart
für das Verlorne teilweise Ersatz zu leisten und dabei den licht- und farben¬
frohen Maler wenigstens ahnen zu lassen. Die Landschaft aber an sich finde
ich nicht besonders interessant, und ich halte das für einen kleinen Vorwurf,
der den Stecher trifft. Denn dieser müßte in solchen Fällen, wo, wie hier,
alles auf die Farbe ankommt, die doch für ihn rettungslos verloren geht,
darauf achten, daß der Gegenstand sonst noch zu fesseln imstande sei. Es ist
dasselbe Verhältnis wie mit einem mäßigen Operntexte, den die Kunst des
Komponisten erfreulich macht. Ich würde darauf verzichten, mir den Text der
„Eurycmthe" selbst von dem besten Deklamator vortragen zu lasse». Manches andre
Gemälde von Diaz — ich erinnere nur an das berühmte Bild I^e ?«,rv u,ux doenks
hätte sich entschieden besser für den Stich geeignet als das von Krvstewitz bearbeitete-
Ganz anders als mit Diaz steht es mit Dupr«;. Hier haben wir die kräftigste,
charaktervollste Formengebung, ein Bild von wunderbarer Stärke des Eindrucks,
wie ihn der Begründer der modernen Landschaftsmalerei stets in so hohem
Maße hervorzurufen verstand. Ein einsamer Landweg, der eine schwache Boden-
welle übersteigt, vor der sich mehrere Personen abmühen, einen schwer beladene»
Wagen rasch vorwärts und hinüberzuschaffen. Denn schon naht der Sturm;
er treibt zusammengeballte Wolken vor sich her und wühlt in der Krone des
gewaltigen Eichbaumes, der am Wege steht. Besonders dieser Baum in seiner
mächtigen, sturmfesten Stärke ist von größter Schönheit, wie ich denn das
ganze Bild für eins der schönsten Landschaftsgemälde halte, die ich je gesehen
habe. Duprö ist vor kurzem gestorben. Ungeheuer ist der Einfluß, den er
auf die moderne Landschaftsmalerei ausgeübt hat. Er hat die mühselig aus¬
gesonnenen, unnatürlichen Machwerke beseitigt, hat dem reinen Verständnis der
Natur, in welcher Gestalt sie immer sich zeigen mag, die Bahn geöffnet, und
gelehrt, wie auch der einfachste Gegenstand künstlerisch sich verklären lasse.
Dem Vorbilde des großen französischen Malers sind die Landschafter vielfach
gefolgt, und so kommt es, daß auf diesem Gebiete der Kunst gegenwärtig
Bedeutenderes geleistet wird als auf andern. Auch das dritte der von
Krostewitz radirten Landschaftsbilder ist ein Beweis hierfür. Das Gemälde
heißt „Des Fährmanns Tochter" und ist gemalt von Ueend King, einem
>u England gegenwärtig in hohem Ansehen stehenden Künstler. Seine
Farbengebung wird im allgemeinen nicht besonders gerühmt; namentlich
fwdet man um dem intensiven Grün seiner Landschaften auszusetzen. Die
Nndirnng erspart derartiges Mißfallen; was wir ans ihr zu sehen bekommen,
'se meist von wunderbarer Schönheit. Auch hier ist das landschaftliche Motiv
höchst einfach: ein mit Schilf und Gras bewachsenes Flußufer; auf der ent¬
gegengesetzten Seite des Wassers waldige Partien; der Fluß in sanfter Biegung
'et fernen Hügellandschafteu sich verlierend, worüber die hinter schimmernden
tollen versteckte Sonne Streifen von Glanz herabsenkt; im Vordergrunde am
^fer ein wandelndes Mädchen, das nach einem im Kahne sitzenden Manne aus¬
sähe. Diese einfachen Dinge sind mit höchster Schönheit dargestellt — und
^ ist es gestochen! Hier kann man Bild und Nachbild getrost als gleich¬
wertig ansehen. Diese „wasferzichende" Sonne, dieses durchsichtige, nur vorn
ganz leicht gekräuselte Wasser sind Proben einer in der That stannenswürdigen
Meisterschaft.
So viel von diese» Radirungen, die ohne Ausnahme als höchst bedeutende
Erscheinungen — wenn auch unter sich nicht gleich — anzusehen sind. Über
^'e von demselben Verlage herausgegebenen, sehr interessanten Photvgravüren
^'sse ich ein andermal sprechen zu können.
or mehr als fünf Jahre» veröffentlichte Ada», Müller-G»tten-
brunn eine Broschüre „Wien war eine Theaterstadt" nud er¬
rang damit einen Erfolg, wie sich ihn großer und nachdrück¬
licher kein Schriftsteller wünschen kann: die Broschüre hatte
praktische Wandlungen zur Folge, die Gründung einer Gesell¬
schaft zum Bau eines neuen Theaters ging urkundlich zugestaudner Weise von
Müllers Schrift aus. Es giebt ohne Zweifel viel gelehrtere, viel glänzendere
»ud künstlerisch viel begabtere Theaterkritiker, als Müller in Wien ist; aber
in der Welt entscheidet oft das zur rechten Zeit gesprochene schlichte Wort,
das der Volksstimmung Ausdruck giebt, mehr, als die glänzendste Abhandlung
des feinsten Kopfes, der mehr in sich hinein als hinaus in die Umgebung
blickt. Daher kommt es, daß oft die eigentlichen Wandlungen der öffentliche»
Zustände nicht von den feinsten, sondern von den entschiedensten Köpfen her¬
vorgerufen werden. Diese scheinen ihren Weg durch Rücksichtslosigkeiten zu
mache», ihr Auftreten ist auch mehr kräftig durch die That, als bedeutend i»
wissenschaftlicher Beziehung. Aber wen» diese Nücksichtslosigkeiteii nicht der zum
Durchbruch gelangte Ausdruck einer schon vorhandene», wenn auch unaus-
gesprochenen öffentlichen Meinung wäre», so würde» sie eben nur als Keck¬
heiten empfunden werden, ohne ein Echo zu finden und ohne Veränderungen
zu bewirken. Zu diesen erfolgreich rücksichtslose» Menschen gehört Aden»
Müller-Guttenbrnn» i» Wien. Er hat eine« volkstümlichen Zug in seiner
schmucklosen, schnurgerade auf die Sache lossteuernde», die Dinge unverzagt
beim Namen nennende», derbkörnige» Schreibweise, und darauf beruht seine
Stellung im Kreise seiner kritischen .Kollege». Mit einer gewissen Naivität
rückt er den bösen Dingen ans den Leib, haut wohl auch zuweilen über die
Schnur, erregt Unwillen durch el» allzu starkes Wort, behält aber im ganzen
die Sympathien auf seiner Seite, weil man sicher ist, daß er es redlich meint-
Von einem, Kritiker verlangt ma» diese Redlichkeit z» allererst; hat er das
Vertrauen in sie einmal oder gar öfter getäuscht, dann hat es ein Ende mit
seiner Macht; auch der kritische Schriftsteller muß den Ton festhalten, den er
einmal angeschlagen hat, wie jeder Künstler. Freilich kann er damit unter
Umstände» der Sklave seines Publikums werde». Msiller» war das Glück >N
diesen fünf Jahren günstig, es gelang ihm, in einem täglich erscheinenden
Wiener Blatte die Stellung eines Theaterkritikers zu erhalten, also die mit
seiner Broschüre betretene Bahn fortzusetzen. Viel Liebe hat er sich bei seinen
Zunftgenossen mehr erworben: er störte zu oft ihre Kreise. Aber Achtung vor
seinein Charakter konnte ihm niemand versagen. Er hat auch die Zeit redlich
ausgenutzt. Das Urteil über Bühuenwerke und Bühnenspiele kann doch nur
angesichts der Bühne gebildet und geläutert werden, und diese Bildung und
Läuterung hat sich Müller ganz ohne Zweifel bei seinem häufigen Theater¬
besuch in reichem Maße erworben und nichts unterlassen, ihr durch ausge¬
breitete geschichtliche Studien eine feste Grundlage zu geben. Davon legt seine
neue Broschüre,") die beinahe ein Buch geworden ist, Zeugnis ab.
Es ist wieder ein kritischer Augenblick und zwar ein sehr glücklich gewählter,
wo sie erscheint. Das Wiener Theaterleben hat in den letzten Jahren große
Wandlungen durchgemacht, manche Förderung, manchen Verlust erlitten. Das
Burgtheater ist in ein neues Hans übergesiedelt, wie man weiß, in ein Prächtiges
Hans, ein wahres Schmuckkästchen der Bnnknnst. Aber dieses neue Hans ist
so beschaffen, daß es auf die künstlerische Überlieferung des alten Burgtheaters
in einschneidender Weise zurückwirkt. Es hat einen so weiten Zuschauerraum,
dessen Akustik so wenig günstig ist, daß die Schauspieler sich eiuen neuen
Sprnchtvu aneignen müssen. Ihr klassisches intimes Spiel wird durch die
Weite des Raumes erschwert. Der technische Apparat des Bühnenranmes ist
ferner so umständlich und so schwierig, daß es wieder einige Jahre dauern
wird, bis es möglich sein wird, das ganze klassische Repertoire des alten Hauses
zu gewinnen. Außerdem hat die Leitung des Burgtheaters gerade in der letzten
Zeit starke Erschütterungen erfahren. Förster ist plötzlich gestorben; sein be¬
rufenster Nachfolger, Alfred Freiherr von Berger, der jahrelang als „artistischer
Sekretär" des Burgtheaters sich ans die Direktion desselben vorbereitet hat,
lst trotz seiner Vorzüge nicht Direktor geworden. Das Provisorium in der
Leitung des Burgtheaters dauert noch an, zum Schaden seiner gedeihlichen
Entwicklung. Dann das deutsche Volkstheater, das mit kaum jemals dagewesener
Begeisterung von der Wiener Bevölkerung begrüßt wurde, es ist nicht das
geworden, was mau von ihm erwartet hatte! Es ist jeden Abend bis aufs
letzte Plätzchen besetzt, aber um seinen höhern Beruf ist die Leitung des Volks¬
theaters wenig bemüht. Von den Vvrstadttheatern gedeiht nur eins in seinen,
alten Stile: das Josephstädter Theater, wo nach den „Gigerln" Chiavaccis
«Frau Sopherl" eingezogen ist und sich dauernd erhält. Das Carltheater ba¬
ngen hat beinahe schon seinen in der Josephstadt reich gewordenen Direktor
^lnsel ruinirt. Das Theater an der Wien hatte viel Glück mit einer neuen
Operette Millöckers: „Der arme Jounthan," füllte aber den größern Teil
seiner Abende durch Gäste ans, zuerst mit Frau Wilbrandt, dann mit den
„Münchnern," Gegenwärtig ist die Lage die: es hat sich gezeigt, daß die
alte Theaterlust der Wiener Bevölkerung nichts weniger als erloschen ist. Im
Gegenteil: sie ist gestiegen. Was den Aufschwung des Volkssängertums und
der Tingeltangel mehr oder weniger vornehmer Art förderte, war nicht die
Roheit des Publikums, sondern teils der Mangel guter Bühnen, teils die
viel zu teuer» Preise der Plätze in den vorhandenen Häusern, teils anch der
Mangel an Stücken, die das Publikum wirklich hätten fesseln können. Wie
immer auch die Leitung des Volkstheaters beschaffen sein mag: schon durch
seine bescheiden bürgerlichen Preise und durch die Aufführung neuerer, vom
Burgtheater nicht gespielter Stücke hat es dem Theatergeiste Wiens einen
mächtigen Aufschwung gegeben. So groß ist die Thenterlust geworden, das;
sich schon eine neue Gesellschaft zur Gründung eines neuen Volksthenters an
einem andern Orte der großen Stadt gebildet hat, und daß die öffentliche
Stimmung diesen Gedanken mit wärmster Teilnahme und mit der größten
Zuversicht begrüßt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich die Wiener im
letzten Jahrzehnt optimistischer gestaltet haben, und es häugt wohl auch mit
der allgemeinen Besserung ihrer Lage zusammen. Die Regierung, die der
Reichshauptstadt bisher wenig Sympathien entgegenbrachte (Wien ist deutsch!),
hat endlich much begonnen, sich ihrer anzunehmen, der Kaiser hat die Beseitigung
der Liuienwälle versprochen, man verhandelt im Reichsrat über den Ersatz der
damit wegfallenden Verzehruugssteiier, man wird bald zu Ende sein mit den
Debatten, und dann erwartet mau einen Aufschwung des Baugewerbes, weil
die bisher brachliegenden Bauplätze verwertet und bebaut werde» können —
kurz, die Stimmung ist mit Recht hoffnungsvoll, und da empfängt man auch
die neuen Theaterbanpläne mit Zustimmung.
Darum kommt Müllers kritische Broschüre zur richtigem Zeit. Sie ist
teils historisch, teils polemisch. Sie giebt vornehmlich eine Übersicht über die
Leistungen und Wandlungen der Wiener Theater in den letzten fünf Jahren.
Wenn man irgendwo aus der Geschichte Lehre» ziehe» tan», so ist es ans der
Theatergeschichte.
Müller ».'eist zunächst nach, daß durch die Verschiebung der allgemeinen
politischen Verhältnisse Wien in der That die Führung des deutschen Theaters
an Berlin hat abtreten müssen. Die Ausscheidung Wiens aus der politischen Ein¬
heit der deutschen Nation mußte auf die Theaterzustäude ebenso zurückwirken, wie
ans alle andern Künste. Nicht genug aber damit, hat das Wiener Theater auch
durch die zunehmende Slawisirung der österreichischen Provinzen einen schweren
Schaden erlitten: es ist ihm das mächtige Hinterland entrissen worden. Die
deutschen Schauspieler Wiens mußten ihre einträglichen Gastspiele in der
österreichischen Heimat selbst immer »lehr beschränken. Der Wiener Theater-
dichter kann gegenwärtig für sein Werk bestenfalls nur noch ans sechs oder
sieben deutsche Bühnen in ganz Österreich rechnen. Dadurch hörte Wien auf,
der Mittelpunkt des dramatischen Lebens vou Deutschland zu werden, den es
etwa bis zum Rücktritt Laubes vom Burgtheater unbestritten bildete. Aber es
traten dann noch andre unglückliche Zufälle hinzu, um selbst dieses beschränkte
Theaterleben zu schädigen. Dem „volkswirtschaftlichen Aufschwünge" folgte
der „Krach." Das Stadttheater und das Niugtheater wurden ein Raub der
Flammen und konnten nicht wieder aufgebaut werden. Dazu kamen noch Ver¬
luste von Talenten unter den Schauspielern, Maugel an neuen Kräften, Mangel
an guten Bühnenleitern, Mangel an guten Volksstückeu, denn die Operette
hatte die Herrschaft nu sich gerissen. „Die vollständige Verwüstung des Wiener
Erdreichs zeigt sich schlagend darin, daß im Spieljahr 1887 auf 1388 an den
fünf Wiener Bühnen bloß siebzehn Neuheiten zur Darstellung gelangten, dar¬
unter sechs Stücke, die Wiener Gewächs waren — Operetten. Kein andres
dramatisches Werk ward hier geschaffen! Selbst die Possen der Josephstadt:
„Wien bleibt Wien" und „Peter Zapfl" sind nur lotalisirte Berliner Arbeiten.
Und unter unsern Augen vollzieht sich die Umwandlung des Wiener Stadt¬
theaters in ein Tingeltangel, in das Etablissement Ronacher. Wien ist zu
dieser Zeit in Theaterdingen bankrott. Im Jahre 1876 hatte die Wiener
Zensnrbehörde 478 Stücke zu erledigen. Im Jahre 1886 keine fünfzig. Im
Jahre 1880 gab es noch 2811 Theatervorstellungen in Wien, im Jahre 1884
nur noch 1800. Aber die Vvlkssängergesellschafteu, deren es im Jahre 1876
bloß dreißig gab, siud auf mehr als siebzig gediehen, und der Polizeibericht
von 1885 weist 19000 Vvlkssängerprvdnktionen aus."
Beiläufig: diese Kritik mit Hilfe von Zahlen — eine statistische, aber auch
trockene Methode — ist charakteristisch für Müllers Buch. Da nichts beredter
ist als Zahlen, erhält auch seine Kritik überzeugende Kraft. Die nackten That¬
sachen sollen mehr für seine Urteile sprechen als alle ästhetischen Auseinander¬
setzungen. Einen bekannten Vorwurf gegen Wilbraudts Leitung des Burg¬
theaters , daß er nämlich seine eignen Stücke gar zu oft im eignen Hause habe
spielen lassen, begründet Müller in folgender Weise: „Daß Wilbrandt sich
selbst zu oft ausgeführt habe, ist vielfach gesagt worden. Dieser Bvrwurf ist
freilich auch gegen Laube geschleudert worden, und vielleicht noch heftiger als
gegen Wilbrandt. Thatsache ist folgendes: Wilbrandt wurde von 1870 bis
An seinem Rücktritt von der Direktion, also in siebzehn Jahren, 330mal im
^urgtheater aufgeführt, Laube von 1847 bis zu demselben Tage, also in
herzig Jahren, bloß 296mal — und er war achtzehn Jahre Direktor." Die
Auffindung und Berechnung dieser Zahlen mag Müller viel Arbeit gemacht
haben; aber gar so belastend sür Wilbrandt als Direktor wollen sie uns doch
undt erscheinen, weil nicht die Zahl der Auffllhrungeu herausgehoben worden
'se, die Wilbraudts Stücke unter Wilbrandts Direktion erlebt haben. Müllers
Zusammenstellung ist nur ein Beweis für Willirandts Beliebtheit beim Wiener
Publikum — nichts weiter. In der That war ja sein Nvmerstück „Arrin und
Messalina" sinnlich-schwülen Angedenkens durch die Leistung der Wolter als
Messalina zu einem Zugstück des Burgtheaters geworden.
Doch dies nur nebenher. Im ganzen wird man der geschichtlichen Dar¬
stellung wie der Kritik Müllers ihre Berechtigung nicht absprechen können.
Müller weist nach, wie sich uicht bloß durch die Wandlung der Zeit, sondern
auch durch die Verwaltungsmaßregeln des Intendanten der Hoftheater das
Publikum des Burgtheaters in den letzten zehn Jahren gründlich geändert
hat. Die Preise sind derart erhöht worden, daß nur die reichen Leute hinein¬
gehen konnten. Damit wurde alle Wirkung des Theaters aufs Volk im guten
Sinne abgeschnitten. Der Schade, der ans dieser Unterbindung der Be¬
ziehungen des Theaters zu dem größten Teile der Bevölkerung Wiens ent¬
standen ist, kann zur Zeit noch gar uicht übersehen werden. War es zur Zeit
Schrehvogels und Laubes spöttisch das „Komtessentheater" genannt worden,
so wird es jetzt zum Bantiertheater, und ein sehr großer Teil der Liebe, die
dein Volkstheater, ungeachtet seiner viel schwächern Leistungen, geweiht wird,
muß auf den Gegensatz der Stände zurückgeführt werden. Müller beklagt mit
Recht diese Verwandlung des Vurgtheaterpubliknms, dessen wärmste Teile nicht
in den Logen, sondern hoch oben ans den Galerien zu suchen waren: in der
Jngend des gebildeten Bürgerstandes. „Das Vurgtheater ist heute die Mode
der reichen Leute in Wien" — volkstümlich ist es uicht mehr. Auch sein
Spielplan, der gerade unter Wilbrandt Dumassche und Sarovnsche Komödien
aufgenommen hatte, ist nichts weniger als ein Spiegel der litterarischen Be¬
wegung der Nation. Seit Laube, meint Müller, ist überhaupt keine Dichtung
von Wert aus dem Manuskript im Burgthenter mehr aufgeführt worden.
Das Burgtheater hat anch hier die Führung abgegeben, Wilbrandt hat sich
gegen die zeitgenössische Produktion sehr ablehnend verhalten und lieber litte¬
rarisch experimentirt mit der Wiederbelebung des Sophokles, mit der Auf-
führung des ganzen Faust; aber nur mit Calderons „Richter von Zalamea"
hat er bleibenden Erfolg errungen. Förster hat in dem einen Jahre seiner
Führung allerdings vieles gut gemacht, namentlich in den Personalveränderiuigeu,
aber er starb leider zu früh. Und jetzt geht mau in deu leitenden Kreise»
wieder daran, einen nicht fachmännisch geschulten Manu an die Spitze des
Burgtheaters zu stellen. Eduard Devrient führt in seiner Geschichte der
deutschen Schauspielkunst (4. Band) den Beweis dafür, welchen Schaden die
deutsche Bühne dadurch erlitten hat, daß die Höfe ein die Spitze ihrer mit
Geldmitteln reich versehene» Theater nicht fachmännisch eingeweihte Künstler
oder Dramaturgen stellten, sondern Günstlinge des Hofes. Müller schließt sich
diesen Anschauungen an. Das Mißtrauen gegen die Berufung des als Juristen,
aber nicht als Dramaturgen wohlangeschriebene» !)>'. Vnrckhardt z»in Direktor
des Burgtheaters ist sehr gerechtfertigt. In ganz Wie» ist nur die eine
Stimmung verbreitet, der Müller Ausdruck giebt; aber die hohe Behörde
kümmert sich nicht um die öffentliche Meinung, die doch, wenn irgendwo, am
meisten in Theaterdingen Gehör verdient.
Der trefflichen Darstellung der Theaterzustände in den Borstädten und
im Volkstheater, die Müller giebt, können wir hier nicht folgen. Auch sie ist
reich an Stoff und Gedanken. Der wichtigste Vorwurf, den er den Vorstadt¬
theatern macht, ist der, daß sie der Überlieferung ihres Hanfes untreu geworden
seien und hauptsächlich deswegen schlechte Geschäfte machten. Sie wollen sich
immer das Brot vor dein Munde wegschnappen; wenn ein Theater mit einer
Gattung Glück hat, gleich folgt ihm die andre darin nach und verdirbt fich
und andre. Im Volkstheater findet Müller den Krebsschaden am Pacht-
shstem; der Aufschwung, der es gegründet hat, hielt nicht bis zur letzten
Stunde ans. Es fehlten noch hunderttausend Gulden zu der schon gesammelten
halben Million, um das Volksthenter auf eine gegen Geldspekulativneu ge¬
sicherte Grundlage zu stellen, und da verfielen die Gründer auf die unglückliche
Idee, das Haus zu verpachten, nicht durch einen von ihnen selbst bestellten
und auf höhere künstlerische Zwecke verpflichteten Direktor leiten zu lassen.
Damit ist das Volkstheater in den Besitz eines nur seineu Gewinn suchenden
Direktors gelangt, der übrigens weder als Dramaturg noch als Schauspieler
jemals gewirkt hat. Die-Wirtschaft in dem Hause bietet demnach der Kritik
tausend Angriffspunkte. Da der Direktor aus sechs Jahre Bertrag hat, so
begreift man, warum Müller seine historisch-kritische Übersicht des Wiener
Theaterlebens ziemlich pessimistisch schließt.
Und doch können wir selbst auf seine Dnrstellnug hin den Pessimismus
nicht teilen. Es liegt eine freudigere Stimmung in der Wiener Luft, und
wan darf hoffen, daß die ernste Kritik nicht bloß Müllers, sondern nach und
nach der andern, derzeit so nachsichtigen Wiener Rezensenten eine Änderung
zum Bessern herbeiführen werde. Jedenfalls hat sich Müller mich diesmal
das Verdienst erworben, durch sein zur rechten Zeit gesprochenes Wort mit
Nachdruck die Schäden bloßgelegt und den Trieb zur Besserung verstärkt zu
haben.
Rembrandt als Erzieher. Unter diesem Titel ist im Januar ein Buch
^schienen,*) das ein gewisses Aufsehen erregt hat, ganz gegen die Befürchtung, die,
wie mir hören, in dem Dresdner Freundeskreise des Verfassers geherrscht hat, das
Buch würde totgeschwiegen werden, eine große Anzahl von Besprechungen in Zeit¬
schriften und Zeitungen erfahren und in wenigen Wochen drei Auflagen erlebt hat.
Die meisten Besprechungen, wenigstens alle die, die nus zu Gesicht gekommen sind,
haben sich freilich darauf beschränkt, den Versuch zu machen, von dein seltsamen
Inhalte wie von der seltsamen Form des Buches ungefähr eine Vorstellung- zu
geben, und haben dann ihren Lesern den oder jenen Abschnitt daraus als Probe
mitgeteilt. Ol> unser Mitarbeiter, dem das Buch zur Besprechung übergeben worden
ist, einen wesentlich andern Weg einschlagen wird, müssen Nur abwarten. Inzwischen
sind wir in der Lage, einen Privatbrief mitteilen zu können, den ein bekannter
Dresdner Kunstsammler und Kunstkenner, der für deu Verfasser des Buches gehalten
worden ist, an einen Freund gerichtet hat, und der in seiner Weise anch als eine
Kritik des Buches gelten kann. Der Betreffende schreibt!
Ich bin selbstverständlich nicht der Versasser des Buches „Rembrandt als
Erzieher" und begreife auch «icht, wie jemand, der daS Buch ernsthaft angesehen
und nebenbei zufällig eine Vorstellung von mir und meiner Art hat, auf den Ge¬
danken hat kommen können, daß ich der Verfasser sei. Weder die Fähigkeiten noch
die Unfähigkeiten, die dieses Buch, so wie es vorliegt, erwachsen ließen, decken sich
mit dem, was ich bin und könnte, oder nicht könnte, oder auch mir können möchte.
Ich schlage mit Ihnen den Geistes-, Bildungs- und Gesinnnngswert, vor allem den
letzten, das Rückgrat der gauzeu Schrift, hoch um. Aber die gute, große, zuweilen
tiefe Rede, geht sie nicht immer und immer wieder in kaum erträglichem Abfall über
in ein maß- und humorloses und, für mich ein besondres Grauen, wahrhaft zilateiu,
nüaneen- und pointenwütiges Gerede? Wie unausgeglichen! wie unharmonisch!
wie egoistisch, nicht individuell willkürlich! Eine nichts weniger als kunstgerecht
angeordnete Treibjagd, bei der die ganze vornehme Gedankengesellschafl in Lebens¬
gefahr gerät! Und dies alles im heiligen Schleier und Namen der „Kunst"? und
in kühnlich usurpirter Vollmacht und zu höherm Ruhme gerade Rembrandts?
Da habe» wir ja leider an dem neuen Heilande selbst ein nicht ganz neues
deutsches Übel. Geistvolle gute Menschen, die sich breiter philosophischer und histo¬
rischer Bildung, manchmal auch nur Belesenheit und edelster moralischer Ausstattung er¬
freuen, die aber selbst nicht einen Tropfen irgend welchen Künstlerblutes im Leibe
haben, reden und schreiben, ueben andern schonen Dingen mit Vorliebe über Kunst,
Künste, Künstler und bieten dann, ganz abgesehen zunächst von ihren Tendenzen,
in ihrem Reden und Schreiben nie und nirgends etwas, was eine wohlthuende
Venvandtschaftsähnlichkeit mit kiinstlerischen Naturverständnissen und Hervor-
bringungen verriete. Und dürfte man dies nicht doch von solchen Rednern und
Schreibern beanspruchen? Und gar hier von diesem anspruchsvollen Verfasser, der
wieder einmal, wenn auch in selbständiger Fassung, und also diesmal von Rew-
brcmdts Gnaden, auf die Kunst als das Heilmittel für alle Gebrechen hinauswill?
und der, zwar recht oft sehr hell und »icht selten sehr dunkel, damit aber noch
nicht von weitem ein Künstler Rembrandtischeu Helldunkels ist?
Soviel nur über die Gestaltung. Und nun der Inhalt, die eigentliche posi¬
tive Gabe, die wir empfangen sollen. Wie vielfach schließen sich hier unsre beste»
und höchsten Empfindungen, Gedanken, Urteile und Willensträume auf! Wie
werden wir im Innersten auf allen Standorten unsers geistigen Bereiches auf¬
gerüttelt! Werden wir aber auch wieder zur Ruhe gebracht, und wäre es auch
nur zu der Beruhigung, die uns der sicher gewonnene Ausblick in ein wirklich
erreichbares gelobtes Land verleiht? Nein, es bleibt bei dem zunächst nicht wirkungs¬
losen, aber in der unfruchtbaren Wiederholung doch immer unwirksameren: Das
muß anders werden! Es bleibt bei einem bedrohlichen, nervenerregenden Auf und
Nieder. Mau fühlt sich schließlich überströmt, überschwemmt im eignen Hause, wie
von einer zerplatzten Wasserleitung! Wohlverstanden, Wasserleitung! Die wirkliche«
Quelle» aus der Erde Schoß geberden sich doch anders. Und man fängt mitten
>« diesen Gewässern, an zu dürften nach einem wirkliche« Erloserworte, «ach dem
Anblick eines leibhaftigen Rembrcmdtbildes, «ach einer einzige« Zeile eigner Dar¬
stellung — nicht eines Zauberlehrlings, sondern eines der angerufenen Meister
selbst! lind man eilt ,,dahin! dahin!" und trinkt sich dort erst wieder gläubig,
ruhig und gesund. ,,Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst." — „In die Ecke,
Besen, Besen! selbs gewesen,"
Als ich seinerzeit erst ein Stück in das Buch hineingelesen hatte, schrieb ich
dem, Verfasser, der sich nur inzwischen als solcher enthüllt hatte! „Ich danke
Ihnen von Geist und Herze« und fühle, mich Ihnen zugehörig." Ich bereue das
mich keineswegs; ich hätte mich nur später etwas anders ausdrücken müssen. Aber
wie viel, wie vieles müßte man sage«, um hier einigermaßen recht verstanden zu
werden. Ein zweites Buch müßte man schreiben zur Zustimmung. Entgegnung,
Ergänzung! Ich habe uicht die Stimmung und Lust zu solcher Mühsal, möchte
'Mes zuversichtlich hoffen, daß der weiterstrebende Verfasser des ersten much dies
zweite noch einmal selber schreiben wird. Aber Ware ich gezwungen, es zu thun,
W wohl oder übel ichs eben vermöchte, ich würde zum Titelbilde ein ganz andres
Selbstporträt Rembrandts wählen. Kennen Sie das Greisenbildnis in Berliner
Privatbesitz, früher der Galerie Double in Paris zugehörig und bei Dutuit wieder¬
gegeben? Rembrandt, der Alte, ist von der Staffelei zurückgetreten und steht mit
einem Lachen, das ergreifend und abstoßend zugleich wirkt, vor einer antiken Büste.
/.Weshalb — sagt W. Bode in seiner Beschreibung des Bildes --. weshalb
lacht der alte Mann so herzhaft? Wir können den Grund nicht erraten," Also
^ü> Rätsel. Löhe», will auch ich es nicht, aber ich würde versuchen, es zu deuten,
»ut die Deutung sollte auch „deutsch" ausfallen, wenn auch nicht gerade niederdeutsch.
Doch genug. Was Sie zur Bestätigung Ihrer eignen Annahme von mir
wissen wollten, war und ist sa nur das, daß ich „Rembrandt als Erzieher" uicht
geschrieben, also das „Gold" dieses Buches uicht, aber auch nicht jenes gewisse
Minderwertige Metall geliefert habe, das hier in so nnverhältnismässtger Ansgiebig-
'
«>t mitverwendet ist,
Großartige Begebenheiten, die lief in die Geschicke ganzer Völker eingreifen,
^gen auf die Phantasie der Zeitgenossen wie ein befruchtender Gewitterregen zu
rke«. Persönliche Erlebnisse, Erinnerungen und Gedenkblätter sprießen überall
in zahlloser Menge hervor und liefern den Grundstock zu einer immer höher empor¬
wuchernden Memoirenlitteratur. Was sonst wegen seiner Alltäglichkeit und Un¬
scheinbarkeit einer Aufzeichnung nicht wert gewesen wäre, erscheint nur mit einem
bedeutenden Hintergründe, in einer ganz andern Beleuchtung, und der Erzähler
selbst glaubt etwas von dein großen Zeitgeist in seiner Seele zu verspüren. Versteht
er die Kunst, seine Berichte in das Gewand einer romanhaften Erzählung zu kleiden,
so werden ihn zwar die O-uellenforscher verlassen, die große Masse der Leser da¬
gegen wird ihm um so bereitwilliger folgen. Diesem Umstände, verdanken auch
Hartmanns „Erinnerungen eines deutschen Offiziers" ihren Erfolg, Der Verfasser
ist Hannoveraner; „der Sturm des Jahres 1866 — sagt er —, der nach langer Ge¬
witterschwüle Dentschland ans politischer Ohnmacht befreite, Throne umwarf und
Staaten hinwegraffte, hat nicht allein, was morsch war, gestürzt, auch manchen
edeln Stumm hat er geknickt. Mit zweien der Länder, die damals ein wichtiger
Znwnchs zu Preußens Macht wurden, verbindet mich meine Familie: was sie seit
1848 und länger erfuhren, habe ich mit erlebt und, durch Umstände begünstigt,
richtig gesehen. Meine Erzählung giebt deshalb die geschichtlichen Thatsachen wahr¬
haft und wird auch da, wo sie unbekannte Personen vorführt, sich bemühen, von
selten Zeiten treue Bilder in großen und kleinen Zügen zu liefern." Der erste
Teil des Werkes: Aus zwei annellirten Ländern führt uns in die Stimmungen
und Bestrebungen ein, die vor 186V i» Schleswig-Holstein und in Hannover
herrschten; das seltsame Hofleben unter Georg V., die Bürgerschaft, der welfische
Adel, das hannoversche Offizierkorps, der Krieg vom Jahre 1366, die Schlacht
bei Langensalza, der Sturz des Welfeulhrvues, die allgemeine Verzagtheit im
Lande - alles weis; der Verfasser innerhalb einer novellistisch ausgearbeiteten
Familiengeschichte in spannender Form dem Leser vorzuführen. Die Abneigung der
Hannoveraner gegen Preußen war groß. „Dem Hannoveraner war der Branden¬
burger, der für den Repräsentanten des Prenßentnms galt, nicht sympathisch. Über
die Selbstzufriedenheit der Berliner witzelten die selbstzufriedenen Hannoveraner gern.
Die preußische Bureaukratie, die alles über denselben Leisten schlage, den preußischen
Dienst, der mit rücksichtsloser Härte, zuweilen mit nutzloser Derbheit seinen Zweck
über das Wohl der Dienenden stelle, fürchteten sie. lind einzelne Fehlgriffe der
neuen Negierung bestärkten sie in ihrem Mißtrauen." Der zweite Teil des Buches:
l^or iiupvi-s. !>,e! -Min zeigt uns den Helden der Erzählung, wie er als Offizier
in Preußische Dienste tritt und sich allmählich mil den neugeschaffenen Verhältnissen
vertraut macht. Interessant sind die Schilderungen der zerfahrenen Gesellschaft
in Kassel, die Beschreibung des Magdeburger Garnisonlebens und die Darstellung
der Berliner Verhältnisse vor 1870. Mit einer frischen, knappen und anschau¬
lichen Schilderung des deutsch-französischen Krieges schließen die Erinnerungen Hnrt-
manns, in denen sich unzweifelhaft ein feingebildeter Geist, eine vornehme Gesinnung
und wahre Vaterlandsliebe abspiegeln. Die engherzigen Welsen zu versöhne», muß
er wohl aufgeben; denn wer durch die Weltgeschichte nicht zu überzeugen ist, wird
es durch persönliche Vorstellungen erst recht nicht.
Als einen ans die Füße gestellten Hegelianer bezeichnet sich Hermann Bahr,
einer der jungen Stürmer und Dränger, gelegentlich selbst in einem der ein¬
leitenden philosophischen Aufsätze, dieses alle möglichen Formen der modernen Kunst
studirenden Buches, Bahr schliefst sich Hegel insoweit an, als auch er das Leben
der Menschheit und der- Welt als einen einig veränderlichen Prozeß betrachtete
nichts ist ih», bleibend als eben der Wechsel, nichts so wahr und sicher als das
ununterbrochene Werden, das 7r«v?« ße?. Während aber Hegel als Idealist die
gesamte Welt ans dein dialektischen Prozeß der Idee begriffe» wissen wollte, da
das einzig Seiende eben nur die Idee für ihn war, während also Hegel die Welt
aus den Kopf stellte, stellt sie Bahr ans die Miste, indem er sich für einen
kritischen Realisten erklärt, d. h, er sagt- nichts ist in, menschlichen Bewusstsein
weder an konkreten Vorstellungen, noch an abstrakten Begriffen und sogar anch
nicht an Ideen, waS nicht in der außer dem Bewusstsein bestehenden Welt seinen
Grund oder sein Korrelat »litte. Auch nicht die Idee deS (Unter oder die Idee
des Schonen erkennt er als apriorisch an, wie er denn natürlich infolge seines
erkenntnistheoretischen Standpunktes alle Metaphysik leugnet. Da »un der InHall
des menschlichen Bewusstseins thatsächlich z» verschiednen Zeiten von verschiednen
Ideen beherrscht wird, daher in verschiednen Zeile» der Menschengeschichte der-
schiedne Weltanschauungen herrschend waren, so sucht Bahr nach dem diese Welt-
nnschauungen bedingenden letzten Grunde in der außer dem Bewußtsein bestehenden
Well; er sucht nach einem ,,realen Korrelat" zu dein stetig sich verändernden Be-
wußtseiuSProzeß der Menschheit. Und dieses Korrelat meint er nach den, Bor
'lauge von Karl Murr in dem ökonomischen Prozeß zu finden. Das Verhältnis
der Menschheit zur Natur, das Verhältnis der Menschen unter einander entwickelt
sich im Laufe der Geschichte: die Art der Produktion ändert sich. Die Arbeit ist
u» Mittelalter Hausindustrie, Arbeiter und Werkzeug find untrennbar. Die Ent¬
deckung der neue» Welt entfesselt den Handelsgeist: es entsteht der Wettkampf
unter den Nationen. Es wird nicht mehr für den Hausbedarf und den heimische»
Geschmack geschaffen, eS wird für fremden Geschmack und unübersehbar größern
Vedars gearbeitet. Der geringgeschätzte Krämer wird zum mächtigen Kaufmann
">>t dem weilen Blick, mit den berechnenden Bestellungen. Der Arbeiter gerät in
Abhängigkeit vom Kaufmann, die heimische Arbeitskraft vervielfacht ihre Produktion
>n einer Weise, die sie sich früher kaum selbst zugetraut hätte. Der Kaufmann
"is Besteller und Beschästiger so vieler Arbeiter sammelt Schätze, der Arbeiter
wird von ihm abhängig, von ihm oder vom Kapital. Noch aber ist der Arbeiter vom
Werkzeug nicht zu trenne». Da wird die Maschine erfunden, und diese Trennung
vollzieht sich. Der Arbeiter wird zum Proletarier, und wir stehen in der Gegen¬
wart, in der Zeit der sozialen Frage, Parallel mit diesen Wandlungen des öko-
uviuischen Prozesses vollzieht sich die Verschiebung der Stände, die Bürger rücken
vor, gewinnen politische Macht im schweren Kampfe mit den mächtige» Ständen
ti'r frühern Zeit, die Persönlichkeit wird befreit, der Sinn für das gemeine Staate
Wohl wird schwächer, da der Gedanke herrschend wird, das Glück des Einzelnen
>?i der letzte Zweck der staatlichen Ordnung, Dieser Geist des Individualismus
^herrscht die neuere Poesie seit der Aufklärungszeit bis zum Pessimismus in der
zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts. Aus diesem individualistischen Geiste sind
Ideale gedichtet worden, ebenso wie sich Parallel mit den Wandlungen deS
Monomische,/Prozesses die Kunst der Maler entfaltet hal. Diese Parallele führt
^ahr in dem zweiten Aufsatz seines Buches in hübscher Weise dnrch, woraus wir
'>'^' nur verweisen könne».
In nnserm Jahrhundert hat nun eine Reaktion gegen den Geist des Indi¬
vidualismus begonnen, den Bahr ans dem Gebiete der Kunst mit dem Schlagwort
^winantik bezeichnet, als Kampf gegen die Romantik, als Kampf gegen die Persön-
U'steil mit ihrer subjektiven Laune, Selbstsucht, Selbstbespiegelung, mit ihren ab
strnktcn Idealen, mit ihrer Schlvärmerei ins Blaue, mit ihre» Utopien und künst¬
lerisch mit ihrem Übergewicht des Wollens über das Können, mit der Gleichgültigkeit
gegen den Wirklichkeitsgehalt ihrer dichterischen »der malerischen Schöpfungen, der
Kampf gegen Byron und gegen Cornelius. Diese Reaktion, die also schon vor
vierzig und mehr Jahren begonnen hat, bezeichnet Bahr mit dein Schlagworte:
Naturalismus. Der Naturalismus ist ihm also ein Kampf der Wirklichkeit gegen
die Persönlichkeit, der Kampf des Sozialisten gegen den Individualisten, der
Gegensatz zwischen dem, der wahrhaft staatsmännisch denkt, gegen den, dem der
Staat nnr ein notwendiges Übel zur Sicherung vor Feuersgefahr und zum Schilp
des Eigentums ist.
So weit kann man mit Bahr gehen. Er spricht zwar in seinem radikalen
Historismus Sätze aus, die nicht jeder unterschreiben wird, z. B. „Das einzige
Gebot, in dem sich alle Ethik zusammenfaßt, ist dies- modern zu sein," d. h. den
ökonomischen Prozeß seiner Gegenwart zu begreifen, sich in seinen Dienst zu stellen;
er will auch nur das als „wahr" anerkennen, was in dem jeweiligen ökonomischen
Prozeß sein Korrelat findet. Das ist eben die Folge davon, daß er das Vor¬
handensein von Ideen im Bewußtsein leugnet, die als metaphysische Thatsachen
über der Geschichte und deren Veränderungen stehen, ja die Geschichte erst mit
schaffen helfen. Aber dies ändert nichts an seiner im großen und ganzen zu-
treffenden Betrachtung der Kunstgeschichte, die sich jedenfalls hoch über die gewöhn¬
lichen Äußerungen des jüngsten Deutschlands erhebt.
Bahr bleibt aber bei den historischen Betrachtungen nicht stehen, sie sollen
ihm nnr dazu dienen, erstens das Wesen der modernen Kunst zu begreifen (denn
solgerichtigerlveise ist er ein ebenso strammer Anhänger der historischen Ästhetik, als
er sich in seinem ganzen Denken Heraklit und Hegel anschließt), sodann die Bahn
zu finden, die die neue Kunst zu wandeln hat. Denn so viel ist ihm schon klar
geworden: bei den: Naturalismus eines Zola ist kein Heil zu suchen. Als einen
Kampf gegen die Persönlichkeit hat Bahr die künstlerische Bewegung des Jahr¬
hunderts erfaßt. Er erkennt nachdrücklich die Verdienste Flnuberts und der Ge¬
brüder Goncourt an, nnr vergißt er hervorzuheben, daß alle Ideen Tniues, des
grundlegenden Ästhetikers der modernen Franzosen, in der deutscheu historischen
Schule geholt worden sind, daß alle Ideen dieser Geister schon in den Werken
Savignys und der Gebrüder Grimm, in den Werken Hettners und Instis zu finden
sind. Also die Vertiefung in die wirkliche Welt ist gewiß fruchtbar auch für
Dichter und Maler geworden. Aber Bahr erkennt anch, daß es mit der bloße»
Nachahmung der Wirklichkeit in der Kunst anch nicht zu gutem Eude kommeu kaum
Er erkennt, daß in verschiednen Köpfen die Wirklichkeit sich verschieden abspiegelt,
er ärgert sich über die Maler, die die Wirklichkeit der Philister malen. Sodann
erkennt er, daß der Dichter und der Maler nicht die äußere Wirklichkeit, sondern
die innere ihres Zeitalters im Bilde, darstellen müssen: der Künstler soll nicht bloß
beobachten, sondern anch fühlen und aus dein Gefühl der Wirklichkeit heraus
schaffen; erst das Gefühl von der „Moderne" macht ihn zum Künstler. Ferner
erkennt er, daß die naturalistischen Stilgrnudsätze z. B. für die Bühne schlechtweg
unbrauchbar sind; das Drama hat seine eignen Gesetze, die sich nicht vom Natura-
lismus übersehen lassen. Der Naturalist muß z. B. seine Figuren in ihrem
„Milieu" darstellen, d. h. mit den unzählbar mitwirkenden Äußerlichkeiten des all¬
täglichen Gebens. Zur Not läßt sich dies im Roman bewältigen, niemals aber auf
der Bühne, die solche Kleinmalerei gar nicht verträgt. Darum ist der Versuch der
dramatischen Darstellung der „Germinie" von Goncourt kläglich mißlungen. Und
von hier aus findet Vnhr den Weg zur Kritik Henrik Ibsens, den er im Lichte
jener Idee des Kampfes des Sozialismus gegen den Individualismus in der Kunst
betrachtet, und dessen Schwäche er in der Ohnmacht findet, seine reformirenden
Ideen wahrhaft künstlerisch in der Darstellung von Handlung nud Charakteren ause
gehen zu lassen; Ibsen bleibt abstrakt in der Tendenz stecken. Zu sagen: Ibsen
ist poesielos, verbietet ihm seine historische Ästhetik, die nicht anerkennen null, daß
das Gefühl oder die Idee der Schönheit über dem Wandel des ökonomischen
Prozesses stehe. Aber aus der Erkenntnis der künstlerischen Aussichtslosigkeit und
Unbefriedigung des Naturalismus, ans dem persönlichen Erlebnis größerer ästhetischer
Freude und Begeisterung an modernen idealistischen Künstlern, wie z. B. dem Maler
Puvis de Chavmme, kommt Bahr zu der Forderung: die rechte Kunst kann aus
die Persönlichkeit nicht verzichten. Der Künstler ist kein Photograph, er muß ein
großer Mensch sein. Die moderne Kunst muß in der Synthese von Naturalismus
und Romantik ihr Heil suchen, d. h. sie muß eine durchgeistigte Wirklichkeit dar¬
stellen. Ideen allein, Wirklichkeit allein geben nur eine halbe Kunst; der vom
Geiste seiner Zeit bis in die Fingerspitzen gesättigte Künstler mit der vollen Herr¬
schaft über die Form und Technik, die die Borgänger errungen daheim das ist der
Zechte Mann. Und damit kann man sich wohl einverstanden erklären, denn damit
sind wir wieder ans dem Standpunkt der klassischen Ästhetik angelangt.
Wir haben uns hier nur mit der Philosophischen Seite dieser Aufsätze be¬
schäftigt; sie behandeln das Wiener und das Pariser Theater, deutsche und srnu
Wsche Malerei. Ibsen, Eduard von Hartmanns und Volkelts erkenntnisthevretische
Schriften und sind zum Teil gut, zum Teil weniger gut geschrieben. Doch tritt
uns das Einzelne hinter jene bald mehr bald weniger klar ausgesprochene Ideen
Zurück; darum begnügen wir uns mit der Kritik dieser. Ob Bahr als Dichter
"und imstande sein wird, seine Theorie zu erfüllen, ist eine andre Frage — das
wollen wir abwarten.
Der Name des „tschechischen Nasfael" wird wohl den meisten Kunstfreunden
'u Deutschland nnbelanni sein, und höchstens die, die es nicht verschmäht haben,
^es mit dem unerfreulichsten Teile der Dresdener Galerie, mit den Barockmalern
nus der Spätzeit des siebzehnten Jahrhunderts bekannt zu macheu, werden eine
unbestimmte Vorstellung von diesem physiognomielosen Nachahmer der Enrraeei,
der Eklektiker und der Naturalisten haben. Und doch nimmt Skreta eine der ersten
Stellen in dem Ruhmestempel ein, den die nationale Eitelkeit der Tschechen mit
Uuchr oder minder zweifelhaften Göttern und Helden angefüllt hat. Strelas Name
lstänzt sogar an dem Neubau der Prager Malerakademie neben denen eines Dürer,
^nffael, Leonardo n. f. w., wie der Verfasser der obigen Schrift bemerkt, „zur
^erwunderung der Fremden, die sich riesig ungebildet vorkommen, weil sie den
Hainen nicht kennen." Pazaurek, ein Schüler des Professors der Kunstgeschichte
'u Prag, Atom Schultz, hat sich nun der Mühe unterzogen, die Bedeutung dieses
Künstlers ans das richtige Maß zurückzuführen, und dieses Maß ist sehr bescheiden.
sein Lehrer in Deutschland — er verlebte seine Jugendjahre in Freiberg in
» Achsen — gewesen ist, wissen wir nicht. Zu Anfang der dreißiger Jahre des
> , ahnten Jahrhunderts unternahm er eine Reise nach Italien, studirte in Venedig
Zervnese und Tintoretto, war dann in Florenz und hielt sich 1634 eine Zeit lang
^loi» ans, wo er sich nach Rafsael und den Naturalisten weiter bildete. Aber
„trotz seiner italienischen Reise, sagt sein Biograph, war und blieb er zeitlebens
ein Philister." Nachdem sich Skreta 1.638 in Prag niedergelassen hatte, sah er
bald ein, wo ihm der Weizen am reichsten blühte. Er trat zum Katholizismus
über und ließ sich zum gefügigen Werkzeuge der damals in Böhmen hochgebietenden
Gesellschaft Jesu machen, die ihn ihrerseits mit zahlreichen Auftragen belohnte.
Aus eiuer Übersicht über alle ihm zugeschriebnen Werke ergiebt sich für Pazanrek,
daß die Komposition Skretcis schwächste Seite war, daß seine Auffassung konventionell,
seine Erfindung armselig ist, und daß selbst seine Zeichnung manches zu wünschen
übrig läßt. So hatte er z. B. von der Anatomie des Pferdes keine Ahnung.
Imi Kolorit schloß er sich in seiner ersten Zeit um .die Carracci und die Natura¬
listen, in seiner später» an Guido Reni an. „Im allgemeinen ist ein warmer Ton
vorherrschend, aber trotzdem kann man einigen Gemälden, zumal zahlreichen Porträts
ein gewisses kreidiges, glanzloses Aussehen nicht absprechen." Noch schlechter als
der Maler kommt der Mensch bei den Untersuchungen Pnzanrets weg. Aus eiuer
großen Fülle urkundlicher Nachrichten, deren Aufgebot bei der geringen Bedeutung
Skretas zu reich erscheinen dürfte, aber notwendig war, um Mit der Stretnkegeude
gründlich aufzuräumen, wird der Nachweis geführt, daß Skreta äußerst geldgierig
und geizig war, daß er seine Außenstände mit Zähigkeit und Rücksichtslosigkeit ein¬
trieb, allerlei unsaubere Geldgeschäfte machte und sich sogar von der armen Prager
Malerzunft daS Festmahl bezahlen ließ, das er als ihr Vorsitzender seinen Genosse«
am LnkaStage in seinem eignen Hause gab. Der Gewinn, der der Kunstgeschichte
aus dieser Untersuchung erwächst, ist also gering und unerfreulich; aber die wissen¬
schaftliche Arbeit geht nicht auf Gewinn, fondern auf Wahrheit aus.
Der Herausgeber — oder, wie er es nennt, Verfasser (!) — dieser Sammlung
hat schou eine ganze Reihe ähnlicher Reim- und Spruchsammlnngen bei allen mög¬
lichen Verlegern herausgegeben. Hier erscheint wieder eine wieder bei einem andern-
Sie hat vier Abteilungen: Schnaderhüpfel (S. 1—64), Am und im Hanse
«S. 65 — 80), In und an Wirtshäusern (S. 81 —88), Friedhofshnmor (S-
89 —110). Inhaltlich passen ja diese vier Abteilungen gar nicht zusammen; was
sie zusammenhält, ist nur, daß sie alle aus „deutschen Bergen" stammen. Zu¬
sammengetragen ist das Ganze „aus bereits gedruckten Mitteilungen, meistens aber
aus selbsteiugeheimsler Ernte."
Viel steht nicht in dem Büchelchen. Es ist üppig gedruckt — vier Schnader¬
hüpfel ans einer Seite —, auf demselben Raume hätte sich das Doppelte geben
lassen. Den Friedhofshnmor hat uns erst ganz vor kurzem Ludwig vou Hörmann
in seiner köstlichen Sammluug aus den Alpen- Grabschriften und Marterln
(Leipzig, Liebeskind, 1890) weit reichhaltiger vorgeführt. Aber auch sonst gewährt
die Sammlung in die unermeßlichen Schätze (im Vorwort steht die „unermeßliche
Spitze"!), die es ans diesem Gebiete der Volkspoesie giebt, nur eiuen dürftigen
Einblick. Der Herausgeber sollte seiue Vorräte nicht so verzettelu; es macht das
etwas den Eindruck der Buchmacherei.
u den schon seit längerer Zeit angeregten Reformen, die nur
leider wie so manche andre vorgeschlagene heilsame Neuerungen
in den maßgebenden Kreisen keinen rechten Anklang gefunden
haben, gehört die Errichtung von Arbeitsämtern. Obwohl das
deutsche Reich unter den Staaten, die auf die Erleichterung des
Loses der arbeitenden Klassen ernsthaft bedacht sind, obenan steht, hat es sich
doch in dieser Beziehung überflügeln lassen. Die Vereinigten Staaten von
Nordamerika und die Schweiz haben bereits seit Jahren derartige Einrichtungen,
und neuerdings hat England wenigstens einen vorläufigen Ersatz dafür ge¬
schaffen, dem wohl in Kürze eine vollkommenere Anstalt folgen wird.")
Arbeitsämter sind Anstalten zur Pflege der Statistik der Arbeiterverhältnisse.
Sie wollen Masseubeobachtnugen über die gesamte Lage des Arbeiterstandes
uach verschiednen Richtungen, in sozialer, sittlicher, materieller und geistiger
Beziehung anstellen, mit dem ausgesprochenen Zweck, ein Material zusmumen-
zubriugen, das eine richtige Beurteilung der Zustände in der Arbeiterbevölke¬
rung gestattet. Daß Mißstände im heutigen Erwerbsleben vorhanden siud,
Wird von niemand in Abrede gestellt. Aber wie weit sie sich erstrecken, Nüssen
^lbst die Theoretiker und Praktiker, die sich berufsmäßig mit sozialpolitischen
Fragen beschäftigen, oft nur unvollkommen. Der Einzelne beherrscht mit seinen
Beobachtungen eben immer nur el» beschränktes Feld. Er kennt die Verhältnisse
einer bestimmten Stadt, in einem Bezirk, in einer Provinz oder in dieser
oder jener Industrie. Aber es fehlt ihm der Einblick in die Gestaltung der
Vorkommnisse der benachbarten Stadt oder des verwandten Jndustriezweiges,
und die Wissenschaft bietet nur selten die außerordentlich mühseligen ver¬
gleichenden Zusammenstellungen, die eine sachgemäße Aufklärung erleichtern,
lind doch liegt es auf der Hand, wie notwendig diese ist, wenn Maßregeln
zur Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes ersonnen werden sollen.
Diesem Bedürfnis nach Aufklärung sind die Erhebungen entsprungen, die
gelegentlich vou Reichs wegen unternommen wurden über die Frauen- und
Kinderarbeit in den Fabriken, über die Verhältnisse der Lehrlinge, Gesellen
und Fabrikarbeiter, über die Sonntagsarbeit, über die Lage der Arbeiterinnen
in der Wäschfnbrikation und im Kleidergeschäft, mich die vom Verein für
Sozialpolitik in die Hand genommenen Materialsammlnngen über die Wohnungs¬
not der ärmern Klassen und über die Hausindustrie. Aber derartige Ver¬
öffentlichungen geben mir Angenblicksbilder. Sie lassen erkennen, wie im
Augenblick der Aufnahme die Zustände beschaffen waren, aber es fehlt ihnen
die Regelmäßigkeit der Wiederholung, die allein in den Stand setzen würde,
zu beurteilen, ob sich eine Änderung in gutem oder schlechtem Sinne vollzogen
habe. Wie viel anch in den letzten Jahren auf diesem Wege enthüllt worden
ist, jede neue Schrift über irgend eine Industrie im deutscheu Reiche bringt
eine ungeahnte Erweiterung unsrer Kenntnisse. Mag sich die Forschung auf
die großartige oberelsässischc Banmwollenindnstrie, auf die ansehnliche Metall¬
schlägerei in Fürth oder die schlesische Glasindustrie erstrecken, Industrien,
über die uns erst kürzlich ausführliche Mitteilung geworden ist, immer lernt
man aus solchen Schilderungen das Leben der Arbeiter, ihre wirtschaftliche
Lage, ihre sittlichen Zustände, ihre Aussichten und Hoffnungen von einer neuen
Seite kennen.
Gerade diese Vielgestnltigkcit der Erscheinungen erfordert, daß in ihre
Erforschung und Aufdeckung Plan und Zusammenhang gebracht werde. Das
aber streben die Arbeitsämter an. Ihre Untersuchungen müßten sich nach
dem gesagten etwa auf Folgendes ausdehne». Sie hätten die Zahl der i»
den verschiednen Unternehmungen beschäftigten Arbeiterklassen: verheiratete,
ledige, männliche, weibliche, Kinder, festzustellen. Es müßte ferner die
Arbeitszeit ermittelt werden, die Dauer derselben am Tage, das Vorkomme»
von Sonntags- und Nachtarbeit, die Häufigkeit der Pausen. Nicht weniger
Aufmerksamkeit verdient die Lvhnstatistik. Lohnhöhe und Lohnart, Stück-,
Zeit-, Akkordlohn, Lohnschwnnkuugeu, Verbesserungen des herrschenden Lohn-
systems durch Tantieme, Gewinnbeteiligung oder Prämien, Lohnabzüge und
dergleichen mehr müßten regelmäßig aufgezeichnet werden. Auch die Statistik
der Arbeitslosen fordert Berücksichtigung, d. h. in dem Sinne, daß man z»
erfahren sucht, wie viel Arbeiter keine Beschäftigung finden können, wann
und wie oft das geschieht, sowie ob sich derartige Zustände in regelmäßiger
Wiederkehr zeigen. Daß dem Familienleben der Arbeiter, der Zahl der Kinder
und ihrer Sterblichkeit, ihrer Erziehung, der Hauswirtschaft im allgemeinen,
den Wohnungen Beachtung geschenkt werden müßte, versteht sich ganz von selbst.
Das Programm eines Arbeitsamtes kann hier nur angedeutet, uicht im
einzelnen aufgestellt werden. Jedenfalls ergiebt sich aus dem großen Um¬
fange desselben, daß nur der Staat die Errichtung des Amtes in die Hand
nehmen kann. Er ist der einzige, der die für diesen Zweck erforderlichen nicht
unbedeutenden Geldmittel aufbringen kaun. Auch ist in Betracht zu ziehen,
daß den Mitgliedern des Arbeitsamtes eine gewisse Machtstellung eingeräumt
werden muß. Sie müssen eine Verfügungsgewalt über die Organe der innern
Verwaltung, das Recht des freien Eintritts in alle Arbeitsrüume und Arbeiter-
hnuser haben, und schon deshalb bedarf die ganze Anstalt eines amtlichen
Charakters.
Verwirklichung hat der Gedanke bis jetzt, wie gesagt, verhältnismäßig
wenig gefunden. In größerm Maßstabe bestehen Arbeitsämter zur Zeit nur
in den Verewigten Staaten von Nordamerika, wo sie zuerst im Jahre 1869
in Massachusetts, seitdem in zwanzig audern Staate», vielfach unter dem Drucke
der Arbeiter, die ihre Wünsche laut werden zu lassen nicht müde wurden, ins
Leben gerufen worden sind. Die östlichen Jndustriestanteu waren es, die mit
der Errichtung arbeitsstatistischer Bureaus begannen, während die industrie¬
armen, aber oft minenreichen Weststaaten langsamer folgten. Sieben von den
Andern sind ganz neu und erst durch die in den Jahren 188K und 1887
besonders starke Arbeiterbewegung veranlaßt worden.
Neben den Bureaus der Einzelstaaten giebt es eins für den ganzen
^undesstaat, nach manchen vergeblichen Versuchen, die bereits in das Jahr
1874 fallen, endlich im Jahre 1884 in Washington errichtet. Als seine Auf¬
gabe ist in dem Gesetze vom 25. Juni des genannten Jahres bezeichnet: „Be¬
lehrung einzuholen über die Arbeit, ihre Beziehungen zum Kapital, über
Arbeitszeit, das Einkommen von Arbeitern und Arbeiterinnen und die Mittel,
ehr materielles, soziales, geistiges und sittliches Gedeihen zu fördern." Zu deu
Andern der Einzelstaaten hat es keine übergeordnete Stellung. Es beschäftigt
sich ebeu mit den Verhältnissen der Arbeiter in der ganzen Union. So hat
^ z. B. Untersuchungen veröffentlicht über die industrielle Krisis, die im
Aahre 1885 die Vereinigten Staaten heimsuchte, über die Strafhausarbeit,
über die Streiks und Lockouts (Aussperrungen) in den Jahren 1881 bis 1886,
über die Lage der Arbeiterinnen in den großen Städten.
Durch ein neueres Gesetz vom 13. Juni 1888 ist diese Einrichtung
wesentlich vervollkommnet worden. Bisher befand sich ucimlich das Bureau
beim Departement des Innern unter der Leitung eines vom Präsidenten der
Republik mit Zustimmung des Senats ernannten Kommissars. Seit 1888 ist
nun in ein selbständiges Arbeitsdepnrtement verwandelt worden, dessen
Zweck und Pflichten gesetzlich festgestellt sind. Es ist ihm vorgeschrieben
worden, unter der Bevölkerung der Vereinigten Staaten nützliche Erkundigungen
über Verhältnisse, die mit der Arbeit in dem allgemeinsten und umfassendsten
Sinne dieses Wortes in Zusammenhang stehen, einzuziehen und zu verbreiten.
Insbesondre soll es seine Aufmerksamkeit den Beziehungen der Arbeit zum
Kapital, der Arbeitszeit, dem Verdienst der männlichen und weiblichen Arbeiter
und den Mitteln zur Förderung der materiellen, sozialen, geistigen und sitt¬
lichen Wohlfahrt der arbeitenden Klassen zuwenden. Der gegenwärtige Vorstand
dieses Departements ist der bewährte frühere Chef des Arbeitsamts von
Massachusetts, Oberst Caroll D. Wright, dem wir bereits eine ansprechende
Schilderung der Organisation der arbeitsstntistischen Ämter Amerikas verdanken.
Der Etat des Arbeitsdepartements ist sehr beträchtlich. Für das Jahr 1«Ul>
waren nicht weniger als 154040 Dollars, etwa 647000 Mark, angesetzt.
Davon waren 19202 Dollars für den Druck der Berichte und 84050 Dollars als
Gehalt für vierundsechzig Personen, die im Departement angestellt sind, bestimmt.
Mit den einzelstantlichen Ämtern ist leider noch kein rechter Zusammen¬
hang hergestellt. Jedes Bureau geht seinen eignen Weg und läßt das Depar¬
tement deu seinigen gehen. Offenbar ist aber dieses Verhältnis zu bedauern,
weil es dadurch unmöglich wird, die Arbeiten der verschiednen Bureaus zur
zusnmmenfasseudeu Darstellung einer bestimmten Erscheinung im ganzen Bundes¬
staate zu verwerten. Es wäre zweckmäßiger, wenn das Departement in Ver¬
bindung mit den Ämtern einen einheitlichen Plan aufstellte, wonach alle ge¬
meinsam thätig wären.
In wesentlich andrer Weise hat man den Gedanken der Arbeitsämter in
der Schweiz ausgeführt. Dort hat man nämlich die Errichtung einer der¬
artigen Anstalt den nächsten Interessenten, den Arbeitern, überlassen und es
nur durch Zusicherung einer materiellen Unterstützung Vonseiten der Regierung
gefördert. Die Arbeiter waren es, die auf dem allgemeinen Arbeitertage in
Zürich 1883 den Wunsch aussprachen, in Bern ein eidgenössisches Vüreau sür
Arbeitsstatistik nach amerikanischem Muster begründet zu sehen. Doch erst drei
Jahre später kam die Frage im Nationalrat und Ständerat zur Verhandlung,
fand aber Billigung, sodaß bald darauf im Bnndesrat beschlossen werden konnte,
einen Beitrag zur Besoldung eines ständigen Arbeitersekretärs auszuwerfen,
dem die Herstellung der Arbeitsstatistik anvertraut werden könnte. Mit seiner
Anstellung wollte mau nichts zu thun haben, sondern überließ seine Wahl
den beteiligten Arbeiterverbänden.
So kam denn am Ostersonntage 1887 eine Versammlung in Arrau zu
stände, auf der 22 Zentralverbände und 120 größere oder kleinere Lvkalvereine,
Gewerkschaften, Krankenkassen u. s. w. durch t57 stimmberechtigte und 37 Ab¬
geordnete mit beratender Stimme vertreten waren. Hier gründete man den
neuen Arbeiterbund, der alle Arbeitervereine ohne Unterschied der politischen
oder religiösen Richtung zur gemeinsamen Vertretung der wirtschaftlichen
Interessen der Arbeiterklasse vereinigt. Unter den Organen desselben, näm¬
lich Abgeordnetenversammlung, Bnndesvorstand, leitendem Ausschuß, erscheint
auch der mit der Herstellung der Arbeitsstatistik sich befassende Arbeiter¬
sekretär. Diesen wählt der Bundesvorstand, wobei der Abgevrdneten-
verscunmlung das Vorschlagsrecht zusteht. Seine amtlichen Befugnisse und
Pflichten sind, „sich mit Erhebungen über schweizerische Arbeiterverhältnisse und
mit sozialen Studien zu beschäftigen, sowie bezügliche Arbeiten und Gutachten
anzufertigen." Er hat das Recht, zur Erlangung von Austüufteu sich an
Behörden, Verbände, Vereine und Private zu wenden. Ihm zur Seite stehen
ein Adjunkt und ein Gehilfe. Außer diesen werden gelegentlich andre Mit¬
arbeiter, wie Techniker, Ärzte u. s. w. zur Thätigkeit herangezogen, die ihre
Dienste freiwillig und unentgeltlich darbieten. Zur Zeit bekleidet deu Posten
eines Sekretärs der frühere Züricher Kantonsstatistiker Hermann Greulich.
Das schweizerische Arbeitersekretnriat erscheint mithin als eine eigenartige
Einrichtung. Man hat in ihm eine Anstalt, die von den Arbeitern er¬
richtet und besetzt, anch von ihnen abhängig ist, jedoch gleichzeitig von der
Regierung mit Mitteln ausgestattet wird und deren etwaigen Aufträgen Folge
zu leisten hat. Es bietet den Vorteil, daß die Arbeiter selbst herangezogen
werden, und eine Vertrauensstelle geschaffen ist, der sie ihre Angaben an¬
dertrauen können, ohne Mißbrauch befürchten zu müssen. Vielleicht könnten
auf diese Weise Berichte angefertigt werden, die amtliche Regiernngsvrganc
nicht herzustellen vermöchten, und die gleichwohl für die sozialpolitische Gesetz¬
gebung von Bedeutung find. Seine Unvollkonunenheit zeigt das Sekretariat
anderseits darin, daß es ans die freiwillige Dienstleistung angewiesen ist, die
bei wichtige» sozialen Unternehmungen, bei denen .Klassengegensätze zum Vor¬
schein kommen, im Stiche lassen kann. Der Sekretär kann ferner, da er von
»er Arbeiterschaft abhängig ist, das Vertrauen von Unternehmern oder Be¬
hörden leicht verscherzen. Endlich ist die finanzielle Grundlage ungenügend.
Die Regierung hat einen Zuschuß vou 10000 Franken bewilligt, mit dem
>nan leider nicht weit reicht. Auch die neuerdings dem Arbeitcrbuude zuge¬
mutete Leistung von 10000 Franken jährlich, die in Anbetracht der 100 000
Mitglieder, die der Bund umfaßt, nicht einmal als drückend angesehen werden
^Um, wird auf die Dauer den von einem Arbeitsamt zu verfolgenden Zwecken
nicht genügen.
Wieder anders ist man in England vorgegangen. Seit dem Jahre 187«),
wo der Sekretär des von dem Parlamente zur Untersuchung der ^raäe-Uoion^
Angesetzten Komitees die Notwendigkeit eines arbeitsstatistischen Amtes nach
Muster der amerikanischen dargelegt hatte, wurde die Frage nicht wieder
b"n der Tagesordnung abgesetzt. Besonders interessirte sich der durch seine
^lkswirtschaftlichen Schriften bekannt gewordene frühere Eisenbahnunternehmer,
^ir Thomas Brassey dafür und betonte im Jahre 1885 in einem Meeting
die Notwendigkeit der Arbeitsstatistik. So gelang es im folgenden Jahre das
Unterhaus zu der Erklärung zu bewegen, „daß nach Meinung des Hauses
sofort Schritte gethan werden müßten, um in England eine vollständige und
genaue Sammlung und Veröffentlichung von Arbeitsstatistik zu sichern."
Daraufhin wurde alsbald beim Handelsamt unter der Oberaufsicht des Vor¬
standes der statistischen Abteilung, des Unterstaatssekretärs Sir Robert Gissen,
ein Arbeitsamt errichtet. Die Fühlung mit den Arbeitern suchte man dadurch
zu gewinnen, daß mau den Sekretär des Gewerkvereins der vereinigten Ma-
schinenbaner, John Burnett, als Arbeitskorrespondenten anstellte. Außer diesem
sind zur Zeit noch zehn Unterbeainte mit der Anfertigung der Arbeitsstatistik
beschäftigt, die aber gleichzeitig für andre öffentliche Dienste verwandt werden.
Diese Miuisterialabteilnng ist frisch ans Werk gegangen und hat in der
kurzen Zeit ihres Bestehens bereits verschiedne schätzenswerte Materialien ver¬
öffentlicht, so z. V. über die '1'iAcl<z-Hnicms, über Hanshaltuugsbudgets der
Arbeiter, über die Streiks und Lockouts im Jahre 1888 u.a.in. In Vorbereitung
ist ein Blaubuch über einen Lohnzensus, zu dessen Durchführung nicht weniger
als 78 988 Fragebogen im ganzen Königreich versandt worden sind.
Aber wenn sich diese englischen Bestrebungen auch als tüchtig bezeichnen
lassen und wenn man auch nicht in Abrede stellen kann, daß sie die Kenntnis
von den sozialen Verhältnissen der Arbeiter wesentlich gefordert haben, so ist
doch diese Abteilung beim Handelsamt von der Vollkommenheit eines Arbeits¬
amtes noch weit entfernt. Wenn sie wirklich dem Gesetzgeber in allen ein¬
schlägigen Fragen statistisches Material soll bieten können, so bedarf sie einer
bessern Ausrüstung nach mehreren Richtungen. Es muß ein zahlreicheres
Personal angestellt werden. Es sind sowohl Männer nötig, die auf Reisen
die Arbeiterverhnltuisse gewisser Bezirke erforschen können, als anch Beamte,
die mit der Verarbeitung der Ergebnisse dieser Forschungen betraut werden-
Weiter aber ist es unentbehrlich, die arbeitsstatistische Abteilung mit mehr
Vollmachten als bisher auszustatten. Sie muß berechtigt sein, Behörden,
Privatpersonen, Unternehmer, Körperschaften um mündliche oder schriftliche
Auskunft anzugeben. So zeigt sich also auch das englische Arbeitsamt erst
ans der Anfangsstnfe und besserer Ausbildung noch sehr bedürftig.
So wie sich die Arbeitsämter bis jetzt außerhalb Deutschlands entwickelt
haben, sind sie nicht zu verwechseln mit den Arbeitsnachweisbnreaus oder
Arbeitsbörscn, die mehrfach in größern Städten, zum Teil erst seit wenige»
Jahren, ins Leben getreten sind. Was diese bezwecken, liegt in ihrem Namen
ausgedrückt: sie wollen Stelleusuchenden Beschäftigung nachweisen. Sofern es
sich hierbei bloß um schematiches Nachrichtensammeln handelt, könnte die Auf¬
gabe allerdings dem Arbeitsamte zugemutet werden. Aber es bliebe zu be¬
denken, daß, wenn dem Staate die Regelung des Arbeitsnachweises aufgebürdet
würde, damit gleichzeitig seine Verantwortlichkeit für den Erfolg der Stellen-
Vermittlung ausgesprochen und auf diese Weise ein Schritt in die Gegend
des sozialistischen Zukuuftsgebildes gethan würde. Zweckmäßiger bleibt der
Arbeitsnachweis, wen» wir von der Armenverwaltnng und von Wohlthätigkeits¬
vereinen absehen, den Körperschaften und Verbänden, vielleicht der Gemeinde,
vorbehalten. Die meiste Hoffnung fiir eine erfolgreiche Einrichtung desselben
bieten noch die Berufsgenossenschaften.
Ebenso wenig Verwandtschaft haben die hier befürworteten Arbeitsämter
mit den Einrichtungen desselben Namens, die in dem dem Reichstage vor¬
gelegten sozialdemolrntischen Antrage vom 19. November 1885 zur Abände¬
rung der Gewerbeordnung enthalten Ware». Hiernach sollten ein Neichs-
arbeitsamt zur Überwachung und Ausführung der für die Arbeiter und das
Hilfspersonal erlassenen Schntzbestimmungen, und auf dem Gebiete des deutschen
Reiches in Bezirken von mindestens 200000 und höchstens 400000 Ein¬
wohnern Arbeitsämter mit gleicher Aufgabe gebildet werden. Ein Arbeitsrnt
mit Hilfsbeamten, die zur Hälfte aus den Unternehmern, zur Hälfte aus deu
Arbeitern gewählt werden sollen, bildete die Leitung des Arbeitsamtes, dem
>n der Hauptsache die heute auf die Fabrikinspektoren fallende Thätigkeit und
außerdem die Entrichtung des unentgeltlichen Arbeitsnachweises für seinen Bezirk
Zugedacht wurde.
Diese Vorschläge waren ein Stück aus den Organisativnsplänen eines
sozialen Arbeiterstaates. Sie anzunehmen war schon deshalb kein Grund vor¬
handen, weil im deutschen Reiche seit geraumer Zeit die Einrichtung der Ge-
werbernte oder Fabrikinspektionsbeaniten in Thätigkeit ist, mit dem sogar die
Arbeiter, wie von sozialdemokratischer Seite zugegeben wird, im großen und
ganzen zufrieden sind. Höchstens könnte es sich zur Verschärfung der Wirksam¬
keit dieser Beamten empfehlen, ihre Zahl zu vergrößern und ihre Bezirke zu
Zerkleinern. Etwas Neues an ihre Stelle zu setzen war umso weniger Ver¬
anlassung, als die Unternehmer vermutlich nicht so viel Zeit, als für die
Regelmäßige Wahrnehmung der Geschäfte des Arbeitsamtes erforderlich ge¬
wesen wäre, hätten erübrigen können, mithin die Arbeiter das Heft vollständig
u> der Hand gehabt hätten. Auch die Kosten mußten davon abschrecken. Man
hätte im dentschen Reich etwa 150 Arbeitsämter mit ungefähr 500 Arbeits¬
räten und Gehilfen bekommen. Jede dieser Stellen mit Einschluß der Büreau-
Und Reisekosten zu 3000 Mark angesetzt, hätte bereits einen Gesamtaufwand
^>t anderthalb Millionen Mark ergeben.
^ Sollen bei uns gleichfalls nach dein Vorgänge anßerdeutscher Staaten
Arbeitsämter eingerichtet werden — und es kann keinem Zweifel unterliegen,
die Notwendigkeit dazu drängen wird —, so geschähe das wohl am besten
Anschluß an das statistische Amt des dentschen Reiches und die statistischen
Zentralstellen in den verschiednen Staaten. Manche Gründe sprechen dafür,
gerade diese Verbindung als wünschenswert erscheinen zu lasse», bei der
natürlich die in größern Städten vorhandenen gemeindestatistischen Ämter in
derselben Weise herangezogen werden müßten, wie sie sich schon gegenwärtig
an den. Aufgaben der allgemeinen Statistik zu beteiligen Pflegen.
Unsre heutigen statistischen Bureaus stehen in Theorie und Praxis so
hoch, sie handhaben die Technik der Statistik mit solcher Geschicklichkeit, das;
es mit ihrer Hilfe am leichtesten möglich sein würde, die Wege ausfindig zu
machen und festzustellen, die zur Erlangung der Arbeitsstatistik eingeschlagen
werden müssen. Ob einmalige oder in gewissen Zeiträumen zu wiederholende
oder ob fortlaufende Erhebungen veranstaltet werden sollen, durch wen die
Angaben zu sammeln wären, etwa mit Hilfe der Gewerberäte oder mit eignen
Kräften, wie alle die zahlreichen Angaben am schnellsten und bequemsten zu
ihrer weitern Verwertung zusammengestellt werden sollen, diese und ähnliche
Fragen würden von den geschulten Fachmännern am besten gelöst werde».
Dagegen würden neu auftretende Arbeitsämter vermutlich erst längere Zeit
brauchen, um sich in dieser Beziehung die erforderliche Gewandtheit anzueignen,
und viele trübe Erfahrungen machen müssen.
Es ist ferner daran zu erinnern, daß vom statistischen Amte des deutschen
Reiches bereits mehrfach Veröffentlichungen veranstaltet worden sind, die in das
Gebiet der Arbeitsstatistik fallen. Die große Bernfszählung vom Jahre 1882 und
die damit verbundene, schon zweimal ausgeführte Gewerbestatistik bilden eine sehr
brauchbare Unterlage. Die erste amtliche, von dem jetzigen Präsidenten des
Neichsversichernngsamtes erläuterte Unfallstatistik ist gleichfalls an dieser Stelle
gemacht worden, und die seit drei Jahren regelmäßig herausgegebene Statistik
der Krankenkassen ist ein weiterer Erfolg uns diesem bisher uoch so wenig an¬
gebauten Gebiete. Ähnlich haben die Landeszentralstellen sich zu bethätigen
Gelegenheit gehabt, sie haben z. B. an der Berufs- und Gewerbezählnng hervor¬
ragenden Anteil genommen. Eine Statistik der Hilfskassen hat das preußische
statistische Bureau schon vor fünfzehn Jahren veröffentlicht, eine Statistik der
Wohlfahrtseinrichtungen im Jahre 1876. Lvhnstatistiken siud neuerdings vo»
den städtischen statistischen Ämtern in Berlin und Breslau herausgegeben
worden. Kurz, es liegen nach mehreren Seiten erfreuliche Anfänge vor, an
die anzuknüpfen für die zukünftige Arbeitsstatistik eine große Erleichterung sei»
würde.
Endlich läßt sich voraussehen, daß dieser Anschluß an bestehende Anstalten
geringere Kosten als die Eröffnung besondrer Ämter bereiten würde. Mit A»s-
werfung der Gehalte für einen Dezernenten mehr, dem man das neu anzubauende
Gebiet ausschließlich übertrüge, und für eine Reihe von Schreibern und Rechner»,
sowie der Bewilligung einer Summe für Druckkosten wäre in der Hauptsache
alles erreicht. An den Büreaukosten könnte eben, mit Einschluß der Miete für
die Räumlichkeiten, bei einheitlichem Betriebe wesentlich gespart werden.
le Abkürzung der unter der Fahne zuzubringenden militärischen
Dienstzeit spielte in dein Wcihlnufrnf einer unsrer redelustigsten
und redefertigsteu Parteien eine solche Rolle, daß man sicher sein
kann, diese Frage sehr bald in den Verhandlungen des Reichs¬
tages auftauche« zu sehen. Sie gehört zu den vielen Dingen,
denen ein gewisser Zauber als Wahlschlagwort nicht abzusprechen ist, denn
man kauu es an Ende keinem Menschen verdenken, wenn er auf Erleichterung
der nachgerade drückenden militärischen Lasten sinnt — wohlgemerkt auf eine
Erleichterung ohne gleichzeitige Schwächung der Wehrkraft unsers Volkes. Es
wird daher nicht ohne Interesse sein, die Frage schon jetzt einer Betrachtung
zu unterziehen. Wie sich die oberste Heeresleitung dazu stellt, ist dem Verfasser
völlig unbekannt. Wenn man den Versicherungen eines Teiles der Tagespresse
— die französischen Zeitungen begannen den Neigen — Glauben schenken dürfte,
so hätten in dem Kreise der angesehensten Generale des Heeres dahinzielende
Besprechungen stattgefunden- Es ist aber Grund zu der Annahme vorhanden,
daß der Wunsch in diesem Falle, wie so oft, der Vater des Gedankens gewesen
und daß wenigstens die Regierung nicht gesonnen sei, die Sache einzuleiten.
Welche Vorteile würde die Abkürzung der Dienstzeit von drei auf. zwei
Jahre haben? Sie würde, wenn man die jährlich eiuzustelleude Quote uicht
erhöhte, ohne Zweifel eine bedeutende Entlastung des Budgets bringen, da
Man an Stelle der bisherigen drei immer nnr zwei Mannschaftsjahrgänge unter
der Fahne hielte, d. h. statt 510000 nur 340000 Mann zu bezahlen hätte.
Damit träte natürlich keine Verringerung der Gesamtkriegsstärke der Armee ein.
Die zweijährige Dienstzeit würde so gut wie die dreijährige jedes Jahr einen
ausgebildeten Jahrgang liefern. Eine Verringerung darf auch nicht eintreten,
wenn wir unsern Nachbarn gewachsen bleiben wollen.
Daraus ergiebt sich aber unmittelbar die Unmöglichkeit, unsre Kadres zu
schwächen. Sie sind schon jetzt ans das geringste Maß zurückgeführt; verengerten
wir durch Verkleinerung der Zahl der Berufsoffiziere, Unteroffiziere u. s. w.
den festen Rahmen des Heeres noch mehr, so wäre mit Sicherheit voraus¬
zusehen, daß dieser Rahmen in dem Augenblicke des Übergangs auf deu Kriegsfuß
die dann in ihn strömenden ungeheuern Massen nicht zu fassen vermöchte
und — spränge. Den Beweis für diese Behauptung können wir uns wohl
sparen; die einfache Überlegung ergiebt ihre Richtigkeit. Gerade die Beweg¬
lichkeit der heutigen Kriegführung, der überraschend schnelle Übergang aus dem
tiefsten Frieden mitten in das Gewühl des Kampfes, der jede allmähliche Ge¬
wöhnung an den Kriegszustand, jedes Einmarschiren u. s. w. ausschließt, machen
eine möglichst große Zahl von Führern, die mit der Technik des militärischen
Dienstes völlig vertraut sind, nicht nur wünschenswert, sondern schlechterdings
erforderlich. Man muß sich stets vor Augen halten, daß die Armee in ihrer
gegenwärtigen Verfassung mit dreijähriger Dienstzeit nach beendeter Mobil¬
machung fast zu zwei Dritteln, mit zweijähriger Dienstzeit zu drei Vierteln
aus Führern und Mannschaften bestehen würde, die geradeswegs vom Schreib¬
tisch, von der Ladenbank, vom Pfluge herkommen und ohne fortdauernde An¬
leitung wenig oder gar nicht in der Lage sind, ihre militärischen Obliegenheiten
in einigermaßen befriedigender Weise zu erfüllen.
Daher können wir, wie gesagt, die im Frieden bestehenden Kadres nicht
beschränken und müssen für ihre genügende Ausbildung alles thun, was in
unsern Kräften steht. Nun ist die wichtigste Grundlage für die Anlernung
und Durchbildung der Berufssoldaten eine ausreichende Friedensstärke der
Armee. Mit Kompagnien und Schwadronen von 75 Mann, die durch die
unvermeidlichen Abkommandirungen, die ausfallenden Kranken auf die Stärke
von 60 Mann herabsinken, lassen sich schlechterdings keine dem Ernstfall auch
nur nahe kommende Übungen anstellen. Keiner der Führer vermag sich damit
einen Begriff zu schaffen, welche Aufgabe seiner im Kriege harrt. Schott
unsre jetzigen Friedensstärken, die die eben genannten um mehr als ein Drittel
übertreffen, sind nur als ein Notbehelf anzusehen; sie genügen nur scheinbar,
weil man gelernt hat, mit großem Raffinement, das aber bei noch geringerer
Stärke gewiß wirkungslos bliebe, einen der Wirklichkeit ähnelnden Aufbau
zusammenzusetzen.
Aber auch abgesehen hiervon sinkt die Leistungsfähigkeit des Heeres auf
den entscheidenden Anfangsstufen des Krieges genau in demselben Verhältnis,
wie die Zahl der bei Kriegsausbruch zur Füllung der Truppenverbände bis auf
Kriegsstärke in sie einzustellenden Mannschaften des Beurlaubtenstandes, denen
die militärische Übung des Körpers und des Geistes mangelt, steigt.
Deshalb ist eine Verringerung der Friedensstärke des Heeres nicht möglich,
und auch nach Einführung der zweijährigen Dienstzeit würden wir die gegen¬
wärtige Stärke beibehalten müssen. Dies ließe sich sehr einfach durch ent¬
sprechende Erhöhung der jährlichen Ersatzquote erreichen, man müßte statt
170000 etwa 255 000 Mann einstellen. Die hierfür erforderlichen Leute haben
wir, wie in einem unsrer frühern Aufsätze ausgeführt worden ist, sofort zur
Verfügung, wenn man sich entschließt, die Bestimmungen des Gesetzes über die
allgemeine Wehrpflicht streng zu handhaben. Es unterliegt keinem Zweifel,
daß jährlich wenigstens 90000 Mann zur Ersatzreserve und zum Landsturm
ersten Aufgebots übertreten, die sich sehr wohl für den Dienst im aktiven Heere
eignen würden. Die Veranlassung dazu, ebenfalls schon früher von uus erörtert,
ist die willkürlich festgesetzte Friedensstärke, die der Zahl der zum Dienst taug¬
lichen Volksangehörigen jetzt nicht mehr entspricht.
Sobald man aber die Friedensstärke bei Einführung der zweijährigen
Dienstzeit ebenso hoch läßt, wie unter der Herrschaft der dreijährigen, gewinnt
die Nation, als Ganzes gedacht, durch die Verkürzung der Dienstzeit gar nichts,
denn es ist höchst gleichgiltig, ob ihr die Arbeitskräfte von 170000 Menschen
auf drei Jahre oder die von 255000 Leuten auf zwei Jahre entzogen werden;
der Verlust an wirtschaftlicher Kraft bleibt derselbe. Zu gleicher Zeit fallen
auch die finanziellen Vorteile weg, sie sind mit der Höhe der Friedensstärke,
nicht mit der Dauer der Dienstzeit verknüpft.
Dagegen würde der Einzelne natürlich aus der kürzeren Dienstzeit für seine
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht zu unterschätzende Vorteile ziehen. Es leuchtet
ein, daß dem Handwerker, dem Kaufmann u. s. w. sehr viel daran gelegen sein
muß, möglichst kurze Zeit von seinem Beruf fern gehalten zu werden; er kommt
umso weniger in Gefahr, seine Befähigung dafür zu verlieren, je eher er zu ihm
zurückkehren kann. Daß die dreijährige Dienstzeit gegenüber der zweijährigen
für charakterschwache Menschen manche Gefahr im Hinblick auf die längere
Trennung von den geordneten bürgerlichen Verhältnissen in sich birgt, kann
nicht bestritten werden, obschon man anderseits wieder zugeben muß, daß sehr
"se gerade für solche Leute die lange EinPressung in die straffe militärische
Zucht Wunder wirkt, und daß auch zwei Jahre genügen, um arbeitsscheu zu
Werden. Wie dem aber auch sei, soviel ist sicher, daß, wenn die kürzere Dienst¬
zeit dem Einzelnen günstiger ist als die dreijährige, sie es auch für die Summe
der Einzelnen, für die Nation fein muß, die also auf diesem Umwege doch
aus ihr Gewinn zieht.
Auf solchen Schlüssen fußend wird man gegen die gegenwärtige Militär¬
dienstdauer Sturm zu laufett versuchen und dabei übersehen, daß. die scheinbar
?o klare Sache doch einen ganz gewaltigen Haken, ja viele Haken hat. Wenden
wir uns zu dem hauptsächlichsten.
Unsre Leser wissen aus der Schilderung der Wirkungen des neuesten
französischen Wehrgesetzes, daß wir in Zukunft nicht mehr darauf hoffen können,
unsern Gegner in der Zahl der Streitkräfte zu übertreffen. Selbst wenn wir
undt gegen die vereinigten Heere unsrer Nachbarn zur Rechten und zur Linken
fechten hätten, sondern mir gegen eins von beiden, so würden wir weder
Rußland noch Frankreich zu überbiete« imstande sein. Das eine nicht, weil
^ entsprechend seiner um vierzig Millionen größern Bevölkerungsziffer mehr
Soldaten ausbilden kann als wir, das andre nicht, weil es ohne jede Rücksicht
"uf die wirtschaftliche Kraft des Volkes alle Leute, die nur entfernt fähig sind,
die Waffen zu führen, zum militärischen Dienst heranzieht und daher ebenfalls
mehr Soldaten zur Verfügung hat als wir. Wir müssen uns darauf beschränken,
unter Festhaltung der durch unsre im Vergleich zu Frankreich ärmlichen Ver¬
hältnisse erlaubten höchsten Gesamtstärke das Heer in seiner innern Beschaffen¬
heit zu verbessern.
Nun meinen freilich die Herren Neuerer, auf die Güte der Truppe komme
es heute in der Zeit der Masfenheere, der weittragenden Feuerwaffen, die
einen Kampf Mann gegen Mann so ziemlich ausschließen, nicht sehr an. Über¬
dies brächten schon jetzt die Rekruten zum Dienst eine Vorbildung mit, die ihre
militärische Anlernung erleichtere; sie seien klüger geworden.
Aber was ist dann eigentlich der Schlüssel zu künftigen kriegerischen Er¬
folgen? dürfen wir dagegen wohl fragen. Die Überlegenheit in der Gesamt¬
zahl der Streitkräfte ist nicht zu erreichen, das steht unerschütterlich sest. Die
Überlegenheit in der Güte der Truppen soll den Ausschlag nicht mehr geben
können. Also bleibt nur das Genie der Führung übrig. Dies ist aber eine
Gottesgabe, die nnr mehr oder weniger Anfällig in einer Armee vertreten ist.
Sie kann durch treue Friedensnrbeit des Offizierkorps da, wo sie als Keim in
der Seele des Einzelnen schon vorhanden ist, zur Entfaltung gebracht, ihre
Entwicklung befördert werden, neu zu schaffen ist sie durch menschliche Thätig¬
keit niemals. Und, selbst vorausgesetzt, das Genie wäre da, kann der be¬
gabteste, größte Künstler ans einem verstimmten Instrumente spielen, mit
borstigem Pinsel oder schlechten Farben malen? Gewiß »licht. Einem ver¬
stimmten Instrumente, gleicht aber eine in sittlicher Beziehung nicht ganz takt¬
feste Armee. Es ist unsre einzige Hoffnung, daß wir unsre Gegner in dieser
Beziehung übertreffen werden; gelingt das nicht, so können wir von vornherein
auf die Herbeiführung der Waffenentfcheidung verzichten, sie würde sicher zu
unsern Ungunsten ausfallen. Deshalb ist es unmöglich, die Anforderungen
an die Güte unsrer Truppen auch nur um den kleinsten Teil zu ermäßigen,
jn wir haben sogar alle Veranlassung, auch die innere Beschaffenheit des
Heeres zu bessern, die Besserung wenigstens ernsthaft anzustreben.
Je größer die Massen der Heere sind, desto schwieriger sind sie zu ver¬
pflegen, zu bewegen, zum Gefecht zusammenzuziehen und zu entwickeln, darüber
ist kein Zweifel möglich, desto wichtiger ist die pünktliche Ausführung aller
Anordnungen, die pflichtgemäße Selbstthätigkeit des Einzelnen bei völliger
Unterordnung unter die allgemeinen, leitenden Gesichtspunkte. Dies bezieht
sich nicht nur auf den Offizier, sondern ebenso auf den gemeinen Soldaten.
Denn uur die gleichmäßige Thätigkeit aller Glieder ohne Ausnahme bringt
den erforderlichen Rhythmus in der Bewegung des Ganzen hervor. Jede kleinste
Störung, die irgendwo durch das Verschulden eines Einzelnen erregt wird, pflanzt
sich lawinenartig anwachsend durch die Allgemeinheit fort. Hieraus ergiebt sich
logischerweise, daß das Auftreten von Massenheeren keineswegs eine Verringe-
rung der Sorge für die innere Verfassung der Truppen zuläßt, vielmehr zum
Gegenteil, zur höhern Anspannung auffordert.
Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse infolge der verbesserten Feuerwaffen.
Welche Änderungen in der Taktik die neuen Erscheinungen hervorbringen
werden, darüber ist man noch nicht einig, wohl aber darüber, daß sie die
Bedeutung des Einzelnen steigern. Dies ist das einfache Ergebnis der Ver¬
besserung des Gerätes; je feiner dieses ist, um so zarter und geschickter
"muß die Hand sein, die es verwenden soll. Wenn es ferner schon früher
schwer war, die Leute zum Verlassen der Deckung zu bewegen, sei es zum
Angriff — es ist wohl nicht nötig unsern Lesern besonders zu zeigen, daß
wir im Grundsatz nur angriffsweise fechten dürfen —, sei es zur Abgabe des
gezielten Schusses, so wird dies unter dem Geschoßregen der Zukunft ge¬
radezu unmöglich sein, wenn der Geist unsrer Truppen nicht vorzüglich
^se- Überdies legt jede Verbesserung der Feuerwaffe, die allen Heeren gleich¬
mäßig zu gute kommt, auch alleu ohne weiteres die Pflicht ob, ihren An¬
gehörigen im Gebrauch der Waffe möglichste Vollkommenheit zu geben:
Mir dadurch kann man sich gegen die übermäßigen Verluste schützen, die eine
bessere Ausbildung des Feindes unzweifelhaft verursachen würden. Also auch
hier ist Erhöhung der Güte der Truppe nötig.
Was schließlich die Klugheit unsrer jetzigen Rekruten betrifft, so ist es
euie alte Erfahrung, deren Richtigkeit noch nie von Kennern der menschlichen
schwächen bestritten worden ist, daß die Leute, je klüger sie zu sein glaube»,
desto weniger fähig sind, die wahre Disziplin in sich aufzunehmen und daß
^hev längere Zeit, nötig ist, um sie unerschütterlich fest in den Rahmen des
Heeres einzufügen. Daß sie die technische» Künste des militärischen Dienstes
schnell erfassen, darauf kommt es durchaus nicht an. Die Kommißgriffe sind
^wu unsern geübten Drillmeistern auch dem blödesten Soldaten in wenigen
- conaten beizubringen, aber nicht so beizubringen, auch dem gebildetsten Hand-
"ugsgehilfen nicht, daß er sie im Augenblick der höchste» Lebensgefahr wie
^ewas ihm Angeborenes ausübt. Dazu gehört jahrelange wiederholte Übung,
M gehv^ vor alle», Gewohnheitsdisziplin. Man verschone uns um des
^"rucks willen mit den landläufigen Redensarten vom Enthusiasmus der
^uppe, ihr Flügel verleihe. Begeisterung ist eine schöne Sache, aber
u ugel einem Heerhaufen mir die Begeisterung der Feigheit, nämlich
wugel zum Ausreißen. Kein Enthusiasmus hält deu unglaublichen Anstren¬
gungen eines Marsches in großer Marschkolonne gegenüber Stand. Wenn
^ er Staub die lechzende Kehle anfüllt, die Sonne unerbittlich auf den Helm
lo°"^' ^ Vordermann aller zeh» Schritte stutzt, der Hintermann rücksichts-
'""ge, dann hält nur eins den Soldaten in Reih und Glied: die
. ^^bnheitsdisziplin. Kein Enthusiasmus giebt dem Schützen im Feuergefecht
' den vernichtende» Entfernungen die Ruhe, die zur Ausnutzung der Waffe
unumgänglich erforderlich ist. Wenn rechts und links die Kameraden hinsinken,
wenn Jammerrufe der niederstürzenden an das Ohr der Überlebenden schlagen,
wenn unbeschreibliches Getöse, der Anblick fürchterlicher Szenen auf seine Nerven
einwirken, dann macht nur ein Besitz dem Manne das Weiterfeucrn, das Vor¬
gehen möglich: der der Gewohnheitsdisziplin. Diese Gewohnheitsdisziplin läßt
sich aber nach dem Urteil aller Sachverständigen dem größern Teil unsers
Mannschaftsersatzes in weniger als drei Jahren nicht einimpfen.
Dies ist die Antwort, die man auf das Verlangen, die militärische Dienst¬
zeit zu verkürzen, im allgemeinen erteilen muß. Wir wollen uns aber nicht die
Mühe verdrießen lassen, die Unmöglichkeit der Verkürzung auch noch im be¬
sondern an der Hand der Verhältnisse bei jeder Hauptwaffe des Heeres zu
zeigen. Gehen wir die Waffen in der Reihenfolge durch, wie sie im modernen
Kampfe auf dem Gefechtsfeld erscheinen. ,
Weit voraus ist die Kavallerie. Sie soll sehen, und um zu sehen,
muß sie reiten, reiten, bis sie auf den Feind stößt. Dabei wird sie die
Reiterei des Feindes, der dieselbe Aufgabe zufällt, nach .Kräften aufzuhalten
suchen, sich ihr in den Weg legen. Diese muß zurückgeworfen, unschädlich
gemacht werden, und dazu dienen Säbel und Lanze. Hinter der feindlichen
Kavallerie haben schnell vorgeschobene Jnfanteriekörperchen Engpüße, Brücken,
Wald- und Dorfeingänge besetzt. Auch hier muß man hindurch, wenn man
Einblick in die Bewegungen der Massen des Gegners gewinnen will, deshalb
heraus mit dem Karabiner und vorwärts im Fußgefecht! Endlich ist man
zur Stelle; vou allen Seiten bedroht, muß man, womöglich im feindlichen
Feuer, die Meldung schreiben- Sie wird an verschiedne der mitgenommenen
gemeinen Reiter gegeben, die ihr Heil versuchen, um die sechzig oder achtzig
Kilometer zum Hauptquartier zurück zu kommen. Was muß also der ge¬
wöhnliche .Kavallerist im Frieden lernen? Erstens seine Waffen zu gebrauchen,
das heißt das Pferd, bekanntlich seine vorzüglichste Waffe, die Lanze, den
Säbel und den Karabiner. Zweitens sie so zu gebrauche», daß ihm die Aus
Nutzung mehrerer zu gleicher Zeit, zum Beispiel des Pferdes und der Lanze,
nicht die geringsten Schwierigkeiten macht. Drittens neben den Waffen das
Fernglas und den Schreibstift zu benutzen, und viertens in fremdem Lande sich
viele Meilen weit zurück zu finden. Endlich, und das ist das Wesentlichste,
soll den Reitern jenes unerschütterliche Pflichtgefühl beigebracht werden, das
sie befähigt, auch gegen die heimtückischen,, weittragenden, ohne Naucherscheinung
wirkenden Feuerwaffen kühner zu Erkundungen, bei denen kein Auge den
Erkundenden überwacht, an den Feind hinanzureiten als früher, denn von
ausreichender Aufklärung durch die Kavallerie hängt das Schicksal der Zukunfts¬
kriege ohne Zweifel in viel höherm Maße ab, als es früher der Fall war.
Bei diesen Aufgaben versagt der sogenannte angeborene Mut, von dem so
viel geredet wird, der in der überwiegenden Mehrzahl aller Sterblichen aber
nicht zu spüren ist, versagt auch die Begeisterung, Es bleibt nur die Gewohn-
heitsdisziplin, die Pflichttreue, Aus alledem geht hervor, daß unsre braven
Reitersleute künftig geradezu Universalgenies werden müssen, und solche sind in
drei Jahren kaum, in weniger als drei Jahren ganz gewiß nicht heranzuziehen.
Auf die Meldungen der .Kavallerie herbeigeholt, nähert sich nun unsre
erste Batterie der feindlichen Stellung. Um auffahren zu können, muß sie
über die tiefen Gräben der Chaussee gehen, jenseits den steilen Hang des Berges
erklimmen. Wie Schlangen winden sich die einzelnen Geschütze den Abhang
entlang, damit nichts dem Feinde die Batterie verrate. Aber alle Vorsicht
kann nicht verhindern, daß er sie doch erkennt, und schon bei der Entwick¬
lung verliert das zweite Geschütz den Zugführer, den Geschützführer und zwei
Bedienungsleute. Die übrig gebliebenen drei Leute müssen abprotzen, selb¬
ständig richten, die nach der Eigenart des Geschützes und des Bodens, auf
dem es steht, nötigen Verbesserungen an der kommandirten Visirstellung vor¬
nehmen. Das alles im heftigsten feindlichen Feuer, in dem die Fahrer die
Protze zurückbringen und, wenn es Not thut, ebenso unerschrocken wieder heran¬
führen sollen. Dabei müssen im Zeitalter der Nauchfreiheit und der Brisanz¬
granaten alle Bewegungen dreimal so schnell ausgeführt werden als bisher,
komm man überhaupt noch daran denken will, zum Feuern zu kommen- Drei¬
mal so schwer als früher wird es fein, das Ziel im wechselnden Gelände zu
erfassen, dessen Standpunkt keine Rauchwolke verrät. Wir wollen hier nicht
wieder anführen, was der einzelne Artillerist alles im Frieden erlernt haben
',"uß, an seinen Posten im Kriege auszufüllen- Daß Übung, langdauernde
iibung, Erfahrung, gründliche dreijährige Erfahrung allein ihm die notwendige
Sicherheit verleihen können, ist sicher. Nicht Dilettanten dürfen unsre Kavalleristen
»ut Artilleristen in ihrem Beruf sein, sondern Künstler; jeder gemeine Soldat
"Alß in den Grenzen seiner Stellung gerade so sicher sein, wie der Künstler
^ seinem Fach. Um alles in der Welt keine Pfuscharbeit in der Armee.
Gründlichkeit der Arbeit ist hier das erste Erfordernis. Es ist ihr Untergang,
^eim wir an ihren Grundprinzipien rütteln, und zu denen gehört die drei¬
jährige Dienstzeit bei der Kavallerie und der Artillerie.
Ein wenig anders liegt die Sache bei der Infanterie. Ihre einzige Waffe
^t das Gewehr. Gewiß ist es keine leichte Aufgabe, den Mannschaften die
^'förderliche Schießfertigkeit beizubringen, zu der eine Menge von Dingen zählt,
bon veren der Laie sich nichts träumen läßt. Wir nennen nur das Ent-
seriuingsschätzen, das Feuern in allen möglichen und unmöglichen Körperlagen,
^"es soll nicht bestritten werden, daß ein Teil, vielleicht sogar der größere
Unsers Ersatzes, schon in weniger als drei Jahren mit der Feuerwaffe ausge-
s/,. und daß ihm ebenso die erforderliche Disziplin in derselben Zeit einge-
werden kann. Dies erkennt auch die Heeresverwaltung ein;, sie entläßt
°in entsprechend zwei Dritteile aller Jnfanteristen, die den Anforderungen ge-
ungen, schon nach zweijährigem Dienst. Wer das nicht glauben will, wer den
entgegengesetzten Behauptungen Böswilliger folgt, dein raten wir, ganz einfach
einmal Jnfanterieofsiziere seiner Bekanntschaft zu fragen, wie lange sie ihre
Burschen behalten haben. Von zehn werden ihm acht antworten: Leider nur
ein Jahr, mein Bursche hat überhaupt uur zwei Jahre zu dienen.
Weiter können wir aber selbst bei der Infanterie nicht gehen. Wir dürfen
keine Soldaten zweiter Klasse haben. Denn es ist der alte Fluch aller aus
ungleichartigen Bestandteilen zusammengesetzten Formationen, daß schließlich
doch der weniger leistungsfähige Teil den bessern auf seine Stufe herunter¬
zieht, niemals zu ihm aufsteigt. Wir würden durch die ausnahmslos zwei¬
jährige Dienstzeit der Infanterie ein Heer zweiter Güte bekommen, das bei der
gegenwärtigen Weltlage wohl selbst die Feinde des Militarismus für uns nicht
haben wollen. Daher ist es nötig, daß die Heeresleitung die diskretionäre
Befugnis hat, über die Dauer des Dienstes der Infanterie zu bestimmen.
Es ist aber ebenso nötig, daß die dreijährige Dienstzeit nicht etwa nur als
Ausnahme für den einzelnen Mann, sondern als Regel für die gesamte Infanterie
ausgesprochen bleibt wegen der grundsätzlichen Gleichheit aller vor dem Gesetze.
Wenn sich doch die, die für eine zweijährige Dienstzeit bei der Infanterie, eine
dreijährige bei den andern Waffen eintreten, klar machen wollten, welch unge¬
heuerlicher Gedanke es ist, einem Volksteil von Anfang an nur zwei, dein
andern drei Jahre Dienstverpflichtung auferlegen zu wollen! Das wäre ein
vorzügliches Mittel, die Nation von Grund aus zu demvralisiren, an der Ge¬
rechtigkeit der Negierung zweifeln zu machen. Das Beispiel Frankreichs, seine
trüben Erfahrungen in dieser Beziehung sollten vor dergleichen Versuchen
warnen. Nirgends ist das Vertrauen des Volkes zur Regierung so erschüttert
wie dort, und zwar wesentlich infolge der Ungleichheit der Bürger hinsichtlich
der militärischen Dienstzeit, die bisher dort für einen Teil fünf, für einen
andern nicht ganz ein Jahr dauerte, für einen dritten gar nicht bestand. Es
ist in sittlicher Beziehung ein großer Unterschied, ob man sagt, alle in das
Heer eingestellten dienen aktiv drei Jahre, die vorzüglich Ausgebildeten bei
der Infanterie dürfen schon nach zwei Jahren entlassen werden, stehen aber
als Dispositionsurlauber während des dritten Jahres jederzeit unbedingt zur
Verfügung der Militärbehörde, oder die aktive Dienstzeit der Infanterie beträgt
zwei, die der andern Waffen drei Jahre. Allerdings haben wir den schlüpfrigen
Weg der Ungleichheit mit Einführung der Ersatzreserve ebenfalls betreten.
Bei ihr bleibt aber — als Vorwand wenigstens — die Erklärung, daß sie
nur solche Mannschaften ausbildet, die uach ihrer Körperbeschaffenheit nicht in
die Linie gehören und im Kriege uur an zweiter Stelle verwendet werden
können.
Hiermit glauben wir die Notwendigkeit der dreijährigen Dienstzeit für die
drei Hauptwaffen an der Hand ihrer Eigentümlichkeiten nachgewiesen zu haben-
Aller schließlich spielt die Frage wegen der technischen Ausbildung doch nur
eine untergeordnete Rolle. Die Hauptsache bleibt die Rücksicht auf die
Disziplin. Wir können nur immer wiederholen: in der Stärke der Truppen
vermögen wir unsre Gegner nicht zu überbieten, thun wir es durch die Güte!
uonarotti, der die kommunistische Schule Baboeufs wieder auf¬
gethan hatte, war gestorben, die Se. Simonisten hatten sich zer¬
streut, und die Lehre Fouriers versammelte nur noch einen kleinen
Kreis von Gläubigen um sich. Aber trotzdem hatte der Sozialis¬
mus in Frankreich bis zur zweiten Hälfte der vierziger Jahre
ununterbrochen Fortschritte gemacht, allerdings nicht durch Erweiterung seines
Gesichtskreises, Klärung seiner trüben Gedanken und bessere Begründung seiner
Ansprüche auf Unterstützung durch die Negierung und das Publikum, Wohl
aber durch Verallgemeinerung der von eben aufgestellten Begriffe und Wünsche.
Redensarten wie Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Reform, Organisation
der Arbeit, Schutz der Arbeit gegen das Kapital waren in aller Munde, und
je leerer an konkretem Inhalte sie waren, desto mehr behandelte man es als
ausgemachte Sache, daß diese Vokabeln und Formeln das Heil der Welt ent¬
hielten und den Schlüssel zum Rätsel der Zukunft bildeten. Durch das ganze
geistige Leben jener Tage ging ein sozialistischer Ton, der sich selbst in Romanen
und Bühnenstücken vernehmen ließ und den „Geheimnissen von Paris" Millionen
von Lesern, dem „Lnmpensammler von Paris" Tausende und aber Tausende
von Zuschauern zuführte. Daneben wirkte der Sozialismus auf die volks¬
wirtschaftlichen Wissenschaften ein, namentlich auf Untersuchungen, die von
Männern wie Blanqui, Germido und Villermö angestellt wurden und das
Armenwesen betrafen. Dann traten auch einige neue Shstematiker ans, die
dem Sozialismus eine bestimmtere Gestalt und Richtung gaben, und unter
denen zunächst Ccibet hervorzuheben ist.
Cabet war anfangs Republikaner und blieb es bis zu dem Aufstande von
1834, an dem er sich beteiligte. Dann flüchtete er nach England, wo er zu
andern Ansichten kam, die darin gipfelten, daß die Republik als solche dem
Volke nicht helfen könne. „Was ist sie, die Republik, die Demokratie?" fragte
„Ist sie besser als die Monarchie? Wird sie uns von Sorgen und Leiden
befreien, uns Verdienst und Brot geben, unsre fälligen Rechnungen bezahlen?
Nein, das wahre Glück des Volkes beruht nicht anf der Form seines Staates,
sondern auf dem Grunde der Gütergemeinschaft, der gemeinsamen Erziehung
und Arbeit. England erfreut sich der vollsten staatlichen Freiheit und zeigt
doch deu traurigsten Gegensatz von Armut und Reichtum."
Nach Paris zurückgekehrt, veröffentlichte er seinen hierauf begründeten
Reformplan in der Vo/aZs Ivgris, einer Schrift in zwei Teilen, deren erster
ein Phüaken- und Schlaraffenland nach dem Muster der Utopien von Thomas
Morus und Campanella schildert. Neben dem größten Überfluß an materiellen
Gittern findet man hier alle denkbaren Erfordernisse des sittlichen Wohlergehens,
alle Voraussetzungen der Entwicklung künstlerischen Talents, kurz die reichste
Fähigkeit und die besten Mittel zum edelsten Genusse des Lebens. Alle diese
Herrlichkeiten aber sind lediglich die Wirkung der strengsten Durchführung des
Prinzips der Gleichheit aller auch in Betreff des Eigentums, also der Güter¬
gemeinschaft. „Die Ikarier — sagt Cabet — kennen kein Sondereigentum,
keine Münze, weder Kauf noch Verkauf. Alle arbeiten gleichmäßig für das
Gemeinwesen. Dieses empfängt den Ertrag der Landwirtschaft und des Gewerb-
fleißes und giebt ihn zu gleichen Teilen seinen einzelnen Gliedern, es leistet
ihnen alles, was sie brauchen, zunächst das Notwendige, dann das Nützliche,
zuletzt das Angenehme, es nährt, kleidet und unterrichtet sie. Die Republik
bestimmt alljährlich die Gegenstände, die zur Speisung, Bekleidung und häus¬
lichen Einrichtung des Volkes erforderlich sind, und sie allein läßt sie anfertigen,
denn alle Gewerbszweige, alle Fabriken, alle Arbeiter dienen ihr. Sie liefert
die Rohstoffe und Werkzeuge, verteilt die Arbeiten und bezahlt sie, nicht mit
Geld, sondern mit Lieferungen ans ihren vom öffentlichen Fleiße gefüllten
Scheunen und Speichern. Die Republik, die auf diese Weise verfügt, ist das
Volk selbst in Gestalt einer aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervor¬
gehenden Nationalversammlung, eines großen Gewerbeansschusses." Der zweite
Teil der „Reise nach Jkarien" zeigt dann, wie ein solcher glückseliger Zustand
der Gesellschaft sich aus dem gegenwärtigen herausbilden kann, und hier ist
sein Hauptmittel die Brüderlichkeit. Gewalt wollte er anfänglich nicht an¬
gewendet sehen, auch sollte die Giltergemeinschaft nicht mit einem Schlage,
sondern allmählich, stufenweise,, durch eiuen Übergangszustaud mit möglichster
Schonung der alten Ordnung eingeführt werden, wobei das allgemeine Stimm¬
recht, Progressivsteuern, Arbeiterbudgets und Nationalwerkstätten eine hervor¬
ragende Rolle als Mittel spielten. Später läßt Cabet aber die Gütergemein¬
schaft und die sie vorbereitenden und begleitenden Einrichtungen aus einer
Revolution hervorgehen, die einen Volksmann zum Diktator ausruft, der seine
unbeschränkte Gewalt in brüderlicher Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue zur
Verwirklichung der ikarischen Lehre anwendet. Diese Brüderlichkeit darf jedoch
auch sehr despotisch verfahren. Die Trägheit wird wie Diebstahl bestraft und
durch Zwang zur Arbeit bekämpft, doch wird sie in Jkarieu kaum vorkommen,
da hier das Interesse am gemeinen Wohle und das Pflichtgefühl hinlänglich
zur Thätigkeit antreiben. Anderseits wird aber anch ungewöhnliche Fertigkeit
und Anstrengung über das übliche Maß hinaus nicht besonders belohnt; denn
die Begabung hierzu ist ein Geschenk der Natur, und es würde daher ungerecht
sein, höheres Geschick und größern Fleiß mehr verdienen zu lassen als schwächere
Grade dieser Eigenschaften, da sie ja dann bestraft würden. Preßfreiheit giebt
es in Jkarien nicht; denn sie könnte die Bürger mit Zweifel erfüllen und an
ihrem Glück irre machen. Es sind hier nur Staatsdruckereien, und von den
vorhandenen Büchern werden nur solche zugelassen, die von der zu diesem
Zwecke niedergesetzten Zensurbehörde als unschädlich erkannt worden sind. Aus
Rücksicht auf Herkommen und Vorurteil sollen nicht bloß während des Über-
gaugszustaudes, soudern auch für die volle Herrschaft des Systems die Ehe
und die Familie beibehalten werden.
Cabet erfuhr, so lange er Gewaltmittel abwies, von der Regierung keine
Anfechtung und durfte eine förmliche Propaganda für seine Lehre einrichten.
Er gründete zu ihrer Empfehlung 1841 ein Blatt, den?oxu1siro, und später
den ^.Jag-nac, iLmisn, auch versammelte er abends Handwerker und Fabrik¬
arbeiter zu Vorträgen und Besprechungen, und so arbeitete er den Ereignissen
von 1848 erfolgreich vor. Nicht wenige der Maßregeln, die er feinem ikarischeu
Diktator vorschreibt, sind infolge der Februarrevolution ins Leben zu führen
versucht worden, doch gelang es ihm nicht, von der neuen Republik für sein
System und seine Person die Anerkennung zu erreichen, die er verlangte, und
so beschloß er, Frankreich den Rücken zu kehren und sich in Amerika einen
dnnkbarern Boden zu suchen. Eine Anzahl seiner Schüler begleitete ihn dort¬
hin, wo sie mit ihm in der verlassenen Mormvnenstadt Nauvoo am Mississippi
ohne Verzug eine ikarische Kolonie gründeten. Sie hatte einen schlechten
Erfolg. Die wirtschaftlichen Mittel der Ansiedler gingen rasch auf die Neige,
Und neben dem Mangel, der Unzufriedenheit und dem Zerwürfnis machte sich
bald ein unleidlicher Despotismus fühlbar, wie es in jedem kommunistischen
vereine der Fall ist. Binnen kurzer Zeit war die ikarische Gemeinde finanziell
Und moralisch zu Grunde gerichtet, und die Mehrzahl ihrer Mitglieder kehrte
"und Frankreich zurück, um unter dem Szepter des inzwischen zur Herrschaft
langten dritten Napoleon wenn nicht materielles Wohlergehen, doch ein etwas
größeres Maß von Freiheit zu finden als im amerikanischen Jkarien.
Nächst Cabet trat ein sozialistischer Schriftsteller auf, der sich bereits als
Journalist sowie als Geschichtschreiber in den Mund der Leute gebracht hatte,
""Wohl seiue Histmro av eux iM8 eigentlich nur eine Schmähschrift gegen
Louis Philipp ohne historischen Sinn und Verstand war: der junge Louis
^laue. 1836 gab er das Blatt bon souss heraus, das als Hauptaufgabe
Staates die Hebung der niedern Volksklassen bezeichnete und empfahl, aber
selbst nicht recht klar war, was es eigentlich verlangte, beim Publikum keinen
Erfolg hatte und 1838 einging. Doch trat Blane schon im folgenden Jahre
mit einer neuen Zeitschrift, der L.son6 ein xroZrv8, auf, die auf eine Ver¬
schmelzung der republikanischen Ideen mit den sozialistischen hinzuwirken suchte.
Größeres Aufsehen erregte die Schrift OrAgnisMon an trg.og.it, die er 1841
herausgab, und in der er ein wirtschaftliches System entwickelte, das sich den
Anschein gab, als ob es mit der Gütergemeinschaft nichts zu schaffen habe,
sondern auf der Voraussetzung des persönlichen Eigentums beruhe. Der Grund¬
gedanke des kleinen, oft aufgelegten Buches ist folgender. Die heutige» gesell¬
schaftlichen Zustände zeigen ein materielles und moralisches Elend, ein Siechtum,
das mit dem Tode zu enden droht, wenn man ihm nicht bald mit der An¬
wendung außerordentlicher Heilmittel entgegentritt. Die Ursache des Übels ist
die Entartung der Gesellschaft, die mit widernatürlichen Einrichtungen das
Werk der Schöpfung und namentlich den Menschen schändet. Die Verschlimme¬
rung des Loses der Armen, der Proletarier rührt vorzüglich vom Individua¬
lismus her, den der Verfasser nicht deutlich charakterisirt, der aber nach seiner
Meinung insofern schädlich wirkt, als er die Quelle einer ungeordneten Kon¬
kurrenz ist. Diese mörderische Konkurrenz vernichtet das arbeitende Volk, weil
sie zu maßloser Herabsetzung der Löhne nötigt, und sie reibt den Besitzenden
auf, indem sie die Kapitalien einander zu bekämpfen zwingt, wobei das größere
Kapital stets das kleinere besiegt und verschlingt. In dieser Thatsache liegt
aber auch das Mittel zur Beseitigung des Übels. Der Staat ist der größte
Kapitalist, und mit dieser Eigenschaft hat er die Macht und Pflicht, der Kon¬
kurrenz eine andre Gestalt zu geben. Er muß die hauptsächliche einheimische
Gütererzeugung übernehmen, indem er mit den übrigen Kapitalisten in Wett¬
bewerb tritt; thut er das, so wird er sie bald vernichten und so der alleinige
Erzeuger aller Waren werden, als welcher er den Lohn so hoch, als ihm gut
dünkt, bemessen und damit die niedere Klasse, das Proletariat, heben und
schützen kann. Damit aber in dieser Veweguug nicht die Freiheit des Volkes
untergehe, muß der staatliche Gewerbebetrieb selbst demokratisch geregelt werden.
Jede Arbeitsanstalt wählt sich ihre Vorsteher und Leiter selbst, und diese
Staatsindustrie beherrscht folglich ihr eigner Wille. „Die Negierung — sagt
Blane — wird als oberste Leiterin der Gütererzeugung angesehen und, um
der ihr damit gestellten Aufgabe genügen zu können, mit einer großen Macht
ausgestattet. Wir wollen eine starke Negierung, weil es unter der Herrschaft
der Ungleichheit, unter der wir noch leben, viele Schwache giebt, die des
Schutzes einer sozialen Kraft bedürfen. Wir wollen eine Regierung, die in
das Gewerbsleben eingreift, weil da, wo man nur den Bemittelten leiht, ein
Bankier der Gesellschaft für die Besitzlosen nötig ist. Wir wollen die Herr¬
schaft der Macht, weil die Freiheit in Zukunft eine Wahrheit sein muß. Die
Regierung nimmt eine Anleihe auf, deren Ertrag zur Errichtung von gesell-
schaftlichen Werkstätten für die wichtigsten Zweige des nationalen Gewerbfleißes
verwendet wird. Der Staat leiht diesen Werkstätten das erforderliche Kapital
unverzinslich, und die stehen unter Reglements, die volle Gesetzeskraft haben."
Der Lohn ist für alle in den öffentlichen Werkstätten beschäftigten Arbeiter
gleich, ebenso für alle von Staats wegen ans Landgütern angestellten Leute.
Ein gemeinsamer Haushalt wird von Blaue zwar nicht vorgeschrieben, aber er
ist offenbar so vorteilhaft, daß er sich ganz von selbst einführen wird. Das
Erbrecht wird für Eltern und Kinder beibehalten, wenigstens die nächsten
Jahre; für die Seitenlinie» dagegen füllt es sofort weg, nud die Hinterlassen¬
schaft der ohne Nachkommen verstorbenen wandert in den Staatsschatz, dessen
Verwaltung sie zur Einrichtung neuer gesellschaftlicher Werkstätten benutzt.
So weit dieser Reformator der Gesellschaft, der mit seinen Vorschlägen
unter allen Sozialisten und Kommunisten seinerzeit das größte Unheil an¬
richten sollte. Wenn er sich dagegen verwahrt, mit seiner Lehre kommunistische
Wege zu betreten, so ist das gänzliche Verblendung. Sind seine gesellschaft¬
lichen Werkstätten überhaupt lebensfähige Gebilde, so werden sie zwar vermöge
der ihnen zinslos vorgeschossenen Betriebskapitalien ihren Zweck, die Privnt-
kvniurreuz zu vernichten, unzweifelhaft erreichen, aber dann ist bei der Gleich¬
heit des nun zu erhöhenden Lohnes die wesentlichste Vorbedingung des Kom¬
munismus für alle Mitglieder der arbeitenden Gesellschaft verwirklicht.
Allerdings bleiben noch die Staatsglänbiger und andre Kapitalisten übrig,
aber die einen befinden sich bei der großen Macht, mit der man den Staat
ausgestattet hat, in äußerst unsicherer Lage, die ihre Papiere aufs stärkste
entwertet, und die andern werden ihr Kapital, das sie nicht mehr fruchtbar
anlegen können, tot hinlegen oder allmählich aufzehren. Dazu kommt, daß
diese Neste von Privateigentum infolge der neuen Erbschaftsordnnng im Laufe
der Zeit in den Besitz des Staates übergehen müssen, sodaß dieser als alleiniger
Herr alles Grund und Bodens im Lande, als einziger Besitzer aller und jeder
Kapitalien, als Gläubiger der Arbeitgeber und als Brodherr aller Arbeit¬
nehmer dasteht. Wenn das kein Kommunismus ist, so ist schwer zu sagen,
was es ist.
Eine ganz eigentümliche Stelle nimmt in der Reihe der sozialistischen
Schriftsteller damaliger Zeit Proudhon ein. Bis ans ihn waren die Grund¬
sätze der Volkswirtschaft und der Rechtslehre unangefochten in Geltung ver¬
hieben, und die Verteidiger des Bestehenden konnten sich, gleichviel, ob die
^vzialisten und Kommunisten es nicht auerknuuteu, auf diese Grundlagen als
"uf unumstößliche Wahrheiten berufen. Da erschien in Proudhon ein Mann,
^r auch diese Grundsätze mit rücksichtsloser Schärfe angriff. Er stand an
natürlicher Begabung und an Bildung neben Blaue wie der Riese neben dem
Zwerge. Aus der untersten Klasse stammend, von Jugend auf genötigt, sich
sein Brot durch mechanische Arbeit zu verdienen, fand er doch Zeit und Ge-
legenden, sich umfassende Kenntnisse zu erwerben und sich sogar mit der
Hegelschen Philosophie einigermaßen vertraut zu machen, der er dann seine
Methode und seine wichtigsten Gesichtspunkte entlehnte. Er war noch Setzer
in einer Druckerei zu Besnn^on, als er sich mit der Lösung einer akademischen
Preisfrage über die Verbesserung des Loses der mittellosen Klasse in die Welt
einführte. Es war die Schrift (ju'est-vo Pio ig. xrovriLtv, die ihn sofort zu
einer Berühmtheit des Tages machte. Er beantwortete die Frage einfach mit:
Is vol. Eigentum ist gestohlenes Gut. Indem er die juristischen Definitionen
des Eigentnmsbegrifses untersucht und dessen wirtschaftliche Folgerungen sowie
dessen Verhältnis zu der Idee der Freiheit prüft, gelangt er zu dem Ergebnis,
daß das Eigentum juristisch ein Unding, ökonomisch ein Nachteil und freiheitlich
ein Feind aller sozialen Entwicklung sei. Dabei bleibt es aber; seine Arbeit
ist nur negativ, sie weiß an die Stelle dessen, was sie aufhebt, nichts andres
zu setzen als die paradoxe Behauptung, daß die einzig wahre Gestalt des ge¬
meinen Wesens die Anarchie sei. Proudhon war so stolz auf den Satz,
Eigentum sei Diebstahl, daß er die Urheberschaft desselben uicht gegen die
Millionen der Rothschilds eintauschen wollte, doch hatte das Konventsmitglied
Brissot schon früher drucken lassen: „Das übermäßige Eigentum ist in der
Natur ein Diebstahl, der Eigentümer ein Dieb." Indes wurde Proudhons
Ausspruch ein Ereignis, das noch lange nachhallte und noch jetzt nicht auf¬
gehört hat, auf Liebhaber kurzgefaßter und packender Phrasen zu wirken. Der
Staatsanwalt wollte Proudhon wegen seines Buches vor den Geschwornen
belangen, aber Blanqui wußte das abzuwenden. Das Werk erregte großes
Aufsehen, und mit Spannung erwartete man vom Verfasser weitere Arbeiten.
Diese erschienen auch, befriedigten aber wenig. Im zweiten Buche Os 1'oräro
l'luinmnitö findet mau fast nur Allgemeinheiten und kaum irgend ein
greifbares Ergebnis. Das nächste, Lontraäietions vvononüaMiZ, bringt wieder eine
weitüufige Kritik der Hauptsätze der Volkswirtschaftslehre, die zwar viele geist¬
reiche Bemerkungen enthält, aber die Sache nicht wesentlich fördert, indem sie
das bisher geltende nur beseitigt, aber nicht ersetzt. Durch diese rein ver¬
neinende Haltung seiner Arbeiten hat Proudhon viele angeregt, aber niemand
befriedigt; er steht abseits von allen Richtungen und Systemen und ist, was
er ist, nur als Gegner aller. Der Haß gegen das Eigentum und das, was
aus ihm folgt, wie Miete, Pacht und Zins, bildet anch den Grundzug seiner
spätern Schriften, deswegen ist er aber keineswegs ein Kommunist oder Sozialist,
im Gegenteil, er greift diese Parteien mit gleicher Heftigkeit und spöttischer
Verachtung an wie die bürgerliche Klasse. „Ich bin rein von den sozialistischen
Schandlehren," ruft er aus. „Packt euch fort von mir, ihr Kommunisten;
eure Anwesenheit ist ein Gestank für mich und euer Anblick ein Absehen," und
neben diesen leidenschaftlichen Ausfällen geht eine Kritik her, deren Schürfe und
unwiderstehliche Kraft alle sozialistischen Behauptungen in Staub und Dunst
Verwandelt. Niemand hat die Gedankenbanten Se. Simons, Fouriers, Cadets
und Vianes mit dialektischen Donnerkeilen so gründlich zerschmettert, niemand
die bisherigen Vorschläge zur Reform der Gesellschaft so handgreiflich act ^t>-
«nrclum geführt als Proudhon in seinen (üontriicliotwns ^oonomiWss. So ge¬
waltig aber seine Kritik aufräumt, so wenig hat seine positive Leistung, sein
eigner Umbau der Gesellschaft zu bedeuten. Die Grundlage bildet die Be¬
hauptung, daß die Zeit den einzigen Maßstab für die Vestimmnng des Wertes
der Arbeit abgebe. Die Erzeugnisse der Arbeit werden durch eine Bank gegen¬
einander ausgetauscht, deren einziges Zirkulationsmittel in Zetteln, die geleistete
Arbeitsstunden bescheinigen, besteht. Das Geld, eins der größten wirtschaft¬
lichen Übel, wird hierdurch überflüssig. Was der Arbeiter erzeugt oder durch
Tausch erwirbt, wird sein „Besitz," über dessen Unterschied von dem auszu¬
rottenden Eigentums wir leider nichts erfahren. Ebenso wenig Klarheit er¬
halten wir über die andern Fragen, die, nachdem die ganze jetzige Ordnung
der Dinge mit Ansnahme von Ehe und Familie beseitigt ist, sich geltend
machen. Proudhon beschränkt sich auch in seinen spätern Arbeiten auf die
Erklärung, daß er die Anarchie wolle, das Verschwinden jeder Staatsgewalt,
was ihn jedoch nicht hindert, der Wissenschaft die Herstellung einer neuen
Gesetzgebung uach den Grundsätzen der Anarchie zuzuweisen. So erscheint denn
all sein Wissen und alle seine schriftstellerische Kunst nur im Dienste einer
bodenlosen Sophistik, die ganz außerordentliche Geisteskräfte zur Zerstörung
von Überzeugungen mißbraucht, für die sie keinen andern Ersatz zu bieten hat
als etliche Formeln ohne faßlichen Inhalt. Die Wirkung dieser leichtfertigen
Sophistik ist aber gefährlich gewesen; selbst der große Hause, dem nichts von
Proudhons Schriften verständlich ist und der sich auch niemals damit befaßt
hat, Hai sich zum Gebrauch am Schenkentische und in der Volksversammlung
den Satz angeeignet: Eigentum ist Diebstahl, und dadurch ist Proudhon ein
Apostel des Kommunismus geworden, den er sonst mit bitterstem Hasse
Erfolgt.
In naher Verwandtschaft mit Proudhons Ideen steht die Gescllschnftslehre,
die Pierre Lervux vortrug, nachdem er sich von den Se. Simonisten getrennt
hatte. Auch er will das Eigentum wegschaffen, ohne den Kommunismus an
seine Stelle zu setzen und ohne imstande zu sein, uns eine deutliche Vorstellung
^>on Verhältnisse der Menschen zu den Dingen zu geben, das in der Gesell¬
schaft der Zukunft herrschen soll. Wie Proudhon, so hatte sich auch Leroux
^srig mit deutscher Philosophie beschäftigt, und auch darin gleicht er ihm, daß
^' entschieden und aufrichtig, aber wenig folgerichtig an der Familie festhält,
^' doch ohne die Voraussetzung des vollen persönlichen und vererblichen
Eigentums uicht bestehen kann. Sein Hauptwerk, das 1840 unter dem Titel
o l'lininimitö erschien, versucht die Aufgabe der Menschheit philosophisch zu
entwickeln, wobei es sich auch in religiöse Ideen versenkt. Sein oberstes
Staatsprinzip ist die Gleichheit, deren Interesse das Interesse der Freiheit
durchaus untergeordnet wird. Das gesellschaftliche Band, das die einander
gleichgestellten Staatsangehörigen zur Einheit verknüpfen soll, wird von dem
Philosophen und den Worten somrunnimr oder 80ki(lin'itL bezeichnet, wir er¬
fahren jedoch nicht genau, was wir uns darunter vorzustellen haben. Nur
durch Unischreibungen wie folgende wird uns der Inhalt dieser Begriffe
einigermaßen augedeutet: „Die Formel, nach der die Beamten (alle Bürger
sind Beamte) bezahlt werden, ist eine dreifache und doch einige: jedem nach
seiner Befähigung, jedem nach seiner Leistung, jedem nach seinem Bedürfnisse.
Die Fähigkeit belohnt sich durch die Ausübung und macht die Ausübung zur
Pflicht, die geleistete Arbeit belohnt sich durch das Ausruhen, das Bedürfnis
wird durch die Erzeugnisse oder Güter befriedigt, die natürliche (landwirt¬
schaftliche), gewerbliche, wissenschaftliche und künstlerische sein können."
Leroux fand Verehrer, vorzüglich unter den höhern Standen, wird ihnen
aber in vielen Stücken unverständlich geblieben sein, und ebenso wenig wie
Proudhon hat er eine Schule oder Sekte um sich gesammelt. Dagegen ist
dies einem andern sozialistischen Denker in gewissem Sinne gelungen, mit dem
wir die Reihe dieser Theoretiker der Jugendzeit der Sozialdemokratin beschließen
wollen, um uns dann den Praktikern zuzuwenden, dem Proletariat mit seinen
geheimen Gesellschaften, Attentaten und ersten Versuchen, deu sozialdemokratischen
Staat zu gründen.
August Comte, ursprünglich Mathematiker und an der Pariser poly¬
technischen Schule angestellt, gehörte eine Zeit lang zu den Se. Simonisten
und wurde dann der Begründer der Schule der Positivisten. Sein Haupt¬
werk, dem Vorlesungen über die Geschichte der Humanität sowie die Schrift:
?1g,Q ass et'ÄVÄUX LcionMyuöZ n(!v«8LÄÜ,'ö8 xour röoi'gkuuZM In, 80öl6t6 vor¬
ausgingen, ist der zuerst 1839 erschienene Ouu,'8 as p>>i!,»>>>>!u,> poÄtivo,
ein in sechs dickleibige, in fast nnlesbarem Stile geschriebene Bünde sich aus¬
breitendes Buch, das ein System sämtlicher Wissenschaften enthält, die nach
Ansicht des Verfassers überhaupt möglich sind, und die nach ihm in der Astro¬
nomie, der Mathematik, der Physik, Chemie, Biologie und Soziologie bestehen.
Sie bilden den Inhalt der positiven Philosophie, die die Zukunft zu be¬
herrschen berufen ist, nachdem die Menschheit durch den Fetischismus, die
Theokratie, den Polytheismus und Monotheismus hindurchgegangen und in
die Periode der Metaphysik eingetreten ist, die noch eine Weile zu herrschen
berufen ist, aber und aller Macht bekämpft werden muß. Denn jede Annahme
von jenseitigen Ursachen und Zielen ist unzulässig, nur das Diesseits gehört
uus und wird von uns begriffen. An der Spitze der Wissenschaften, die also
auf Erfahrung beruhen, steht die Soziologie, die Kunde von der Entwicklung
des menschlichen Geistes. Die Moral beruht auf dem geselligen Triebe, der die
Selbstsucht zurückweist und zum Beweggrunde des Handelns statt des eignen
Vorteils den des Nächsten setzt und das Gemeinwohl über das Wohl des
Einzelnen stellt. Nach Comte sind alle gesitteten Völker Europas bestimmt,
republikanische Staaten zu bilden und sich dann zu einem Bunde zu ver¬
einigen, den ein in Paris tagender Kongreß regiert. Das Eigentum bleibt
grundsätzlich unangetastet, nur die nachteiligen Wirkungen werden durch gesell¬
schaftliche und politische Einrichtungen aufgehoben. So wird zum Beispiel
die Regierungsgewalt in die Hände des Proletariats gelegt, während die
Nationnlvertretung vorzugsweise den wohlhabenden Klassen entnommen wird,
die damit im Besitze des Rechtes verbleiben, die Steuern zu bewilligen. Das
Christentum hat sich überlebt, und die noch übrigen toten Formen werden sich
nächstens auflösen, um einem Kultus der positiven Philosophie Raum zu
machen, der von der katholischem Kirche das Priestertum und die Ohrenbeichte
entlehnen wird.
Neben vielen Dunkelheiten und Wunderlichkeiten begegnen wir bei Comte
auch Beweisen eines tiefen und fruchtbaren Studiums der Menschen und Dinge
und einer scharfsinnigen Spekulation, und so erklärt es sich, wenn er auch be¬
deutende Geister zu Anhängern gewann. So den Mathematiker Littrv, der
Mitglied der Pariser Akademie war, den Nationalökonomen Stuart Mill (den wir
als Philosophen durchaus nicht für bedeutend halten), Buckle und den Amerikaner
Carey. Wir bemerken noch, daß August Comte nicht mit Charles Comte ver¬
wechselt werden darf, dem Verfasser des Irtutö as I^i8lat,lar, eines Überblicks
über die Grundsätze, nach denen die Gesetzgebung zu Verfahren hat, der zu
den wertvollsten Leistungen der politischen Wissenschaft gehört, die die neuere
Litteratur Frankreichs aufzuweisen hat, der aber jeder sozialistischen Betrachtung
und Behauptung fernbleibt.
as Schauspiel Ibsens: Ein Volksfeind, schon vor Jahren er¬
schienen, war bis in die jüngste Zeit von den deutschen Bühnen¬
leitern unbeachtet gelassen worden. Seitdem aber der tastende
Geschmack unsrer Gesellschaft den norwegischen Dichter immer
mehr als einen der Unsrigen feiert, scheint auch dieses Stück,
^'geselM von frühern Einzelversuchen, auf unsern Bühnen seinen Einzug halten
zu wollen.
Treten wir zunächst dem Inhalte des Stückes näher. Eine Küstenstadt
des südlichen Norwegens verdankt den Bemühungen ihres Bürgermeisters und
ihres Arztes, zweier Brüder, die Einrichtung eines hübschen Seebades, das
schon nach kurzer Zeit einen vorteilhaften Einfluß auf den Wohlstand der
Bürgerschaft ausübt. Aber eine Reihe von Typhnsfällen, die während des
letzten Sommers unter den vertrauensvoll herbeiströmenden Badegästen aus¬
gebrochen sind, erregt in dem tüchtigen Arzte Mißtrauen gegen sein eignes
Werk, und er rastet nicht, bis er der auffallenden Erscheinung auf den Grund
gekommen ist: eine fachmännische Untersuchung stellt alsbald fest, daß die
städtische Leitung ein von den Fäuluisstvffen großer Gerbereien verdorbenes
Wasser aus dein Mühlthal herabführt, das nicht bloß die Vrnnnen der Stadt,
sondern an seinem Auflauf auch die neue Badeanstalt, den Stolz der Gemeinde,
verpestet. Der gewissenhafte Doktor Stockmann will diese Thatsache sofort
öffentlich erörtern, damit die Wasserleitung schleunigst verlegt werde. Sein
Bruder aber will aus Niltzlichkeitsrücksichten die Angelegenheit nur amtlich
Weiter betreiben. Als nun der Arzt noch von einigen Zeitungsschreibern und
einem angesehenen Vertreter der Kleinbürger in seinem Widerstand und seinem
ungestümen Verbesserungsdrang lebhaft unterstützt wird, stellt der Bürgermeister,
um die Bewegung im Keim zu ersticken, rücksichtslos die Forderung an ihn,
den für den Ruf der Stadt schädlichen Gerüchten öffentlich entgegenzutreten,
damit die schwierige Angelegenheit nur im Kreise der Eingeweihten erörtert
und ihre Lösung im Stillen vorbereitet werde. Doktor Stockmann weigert
sich dagegen und ist entschlossen, durch einen leidenschaftlichen Artikel im
„Volksboden" die Sache gleich vor die ganze Bürgerschaft zu bringen, und die
Redakteure unterstützen ihn in diesem Vorhaben aufs lebhafteste. Doch der
Bürgermeister sucht den Löwen in seiner Höhle ans, er beredet Redakteure und
Verleger zu einer minder schroffen Auffassung, sodaß diese vom Arzt feig ab¬
falle». Aber dieser ist dadurch keineswegs eingeschüchtert; im Vertrauen auf
den gesunden Sinn der Bürgerschaft beruft er eine Volksversammlung, deren
Leitung freilich sofort die Geguer an sich reißen, sodaß er selbst nur mit Mühe
zum Worte kommt. Da er durch Abstimmung verhindert wird, über die An¬
gelegenheit des Bades zu sprechen, enthüllt er den Leuten eine viel wichtigere
Entdeckung, die er in den letzten Tagen gemacht hat: er donnert gegen die
Grundlagen unsrer ganzen bürgerlichen Gesellschaft, weil „unsre sämtlichen
geistigen Lebensquellen vergiftet" seien, der ganze soziale Organismus „auf
dein pestschwangern Grunde der Lüge ruhe"! Er überhäuft seine Zuhörer mit
dem Vorwurfe der Gewissenlosigkeit, da sie das Emporblühen der Stadt auf
dem Moorgrunde von Lüge und Betrug aufbauen wollen. Es ist nicht zu
verwundern, daß dem Redner nach dieser Kraftleistung durch eine neue Ab¬
stimmung das Wort überhaupt entzogen und das Brandmal des „Volksfeindes"
aufgedrückt wird.
Nach einer solchen Wendung ist Swckmmm bereit, auszuwandern. Aber
Plötzlich wird ihm die Kunde, daß man seine aufwiegelnde Thätigkeit in Sachen
des Seebades mir als den Ausfluß schlau berechnender Selbstsucht ansieht.
Er habe nur sich und seiner Familie die Gunst eines geriebenen Spekulanten
sichern wollen, der die durch den plötzlichen Kurssturz sast wertlos gewordenen
Bndeaktieu an sich gebracht habe, um später, wenn das Bad durch die unaus¬
bleiblichen Verbesserungen wieder in Ruf kommen würde, den Handel mit einem
großen Gewinn abzuschließen. Stockmaun, seiner Stelle als Badearzt enthoben,
durch ein Zirkular unter deu „gut gesinnten" Bürgern jeder lohnenden Praxis
beraubt, von dem ihm vorher wohlgewogener Spekulanten aufgegeben, sodnß
ein von diesem seiner Familie bestimmtes Vermöge» ihr endgiltig verloren
geht, beschließt angesichts dieses völligen Zusammenbruchs, um erst recht
nicht vom Kampfplatze zu weichen und die Auflehnung gegen die „liberale
kompakte Majorität" zu seiner fernern Lebensaufgabe zu wühlen. Über der
Verkündigung seiner jüngsten Entdeckung: „Der stärkste Mann der Welt ist
der, der allein steht," fällt der Vorhang.
Der Grundzug in dem Wesen des Doktor Stvckmanu ist eine vertrauens¬
selige Naivität, eine seelische Blindheit, infolge deren er wie ein Traumwcmdler
durchs Leben geht. Ein Arzt in vorgerückten Jahren, dem gerade sein Beruf
einen tiefern Einblick in die ihn umgebenden Verhältnisse gestattet als vielen
rudern, erhebt er sich über diese ans den Flügeln eines wolkenwandelnden
Idealismus, an den die berichtigende Gewalt selbst der rauhesten, schonungs¬
losesten Thatsache uicht hinanreicht. Wie täuschend auch der Dichter die Farben
zu mischen gesucht hat, Stockmcmu ist uicht das Musterbild eines von unbeirr¬
barer Sittlichkeit erfüllten „Volksfreuudes," sondern nnr ein Träumer, mit
all dein Hochmut, der diese Sorte von Menschen gewöhnlich auszeichnet. Die
wahre Tüchtigkeit sucht aus den schweren Mängeln der Zeit heraus in un¬
verdrossenem, bescheidenem, geduldigen Wirken das Bessere allmählich und daran
wie größerer Wahrscheinlichkeit des Erfolges zu gestalten. Das ist die Art
der wirklich fruchtbaren Naturen. Wenn ein derartiger Charakter in hingebungs¬
vollem Ringen um das Glück seiner Mitmenschen scheitert, dann wird sich dem
Beobachter eines solchen wahrhaft tragischen Kampfes das Herz zusammen¬
schnüren, und er reicht dem siegenden Besiegten, gerührt und gehoben, die
Uberwinderpalme. Wer aber zwischen sich und der Gesellschaft von vornherein
nlle Brücken abbricht, beraubt sich damit selbst der Möglichkeit, noch ferner
"uf sie zu wirken. Er ist vielleicht ein heroischer Thor, aber jedenfalls ein
Thor, und die Schilderung eines solchen erzielt alles eher, als eine erhebende
Wirkung. Die Frage, ob Stockmcmu bei maßvollen Vorgehen nicht doch seine
Mitbürger für seine Anschauung gewonnen hätte, sodaß die Gemeinde den
Unbeugsamen Forderungen des Sittengesetzes nicht minder als den Lockungen
materiellen Vorteils gerecht geworden wäre, ist vom Dichter gar nicht
aufgeworfen worden. Er läßt den Arzt von dem Augenblick an, wo er der
Gesamtheit gegenübertritt, sich nnr in den rohesten Beleidigungen ergehn.
Diese gipfeln einmal in nichts Geringeren als in der Vergleichung seiner Mit¬
bürger mit „gemeinen Bauernkötern," und als ihm einer zuruft: „Wir sind
keine Tiere!" antwortet Stockmann: „Doch, doch, mein Wertester!" Dies alles,
ehe er auch nur einen Versuch gemacht hat, der Bürgerschaft mit Umgehung
seines Bruders, eines voreingenommenen Vermittlers, seine Ideen durch das
lebendige Wort, oder wenn ihm dieses abgeschnitten wird, durch eine Schrift
darzulegen. Sollte unsrer Teilnahme für den Helden kein schwerer Abbruch
geschehen, so mußte der Dichter schildern, wie dieser zuerst alle Mittel der
Überredung erschöpft, statt daß er als maßloser Polterer von vornherein jede
Verständigung abschneidet. schroff abgewendet von bestehenden „realen" Ver¬
hältnissen, beansprucht er die Rolle und Würde eines Reformators; aber die
„verflachte kompakte Majorität" hat ganz Recht, wenn ihr vor jenen Welt¬
verbesserern graut, die ihre Rezepte hoch hernb aus dem Wolkenkukuksheim
anspruchsvoller Theorien holen, um sie uach einer nnr ans Schlagwörter ein¬
geschulten Diagnose bei dem leidenden sozialen Körper anzuwenden. Solche
Leute bringen, wenn sie wirklich ans Ruder kommen, nur Unglück in die Welt
statt der so siegesgewiß verkündigten Besserung. Daß Stockmann ganz zu
dieser gefährlichen Sorte gehört, ergiebt sich noch mehr aus der unreifen
Folgewidrigst in seinen Anschauungen, wie er sie im Verlaufe der Handlung
zum besten giebt. Im Anfange jubelt er und brüstet sich damit, daß er die
große Mehrheit hinter sich habe; er erachtet dies als einen großen Segen für
jeden, der in der Öffentlichkeit wirken will. Bald darauf spricht er uur noch
von einer „verfluchten kompakten Majorität," da sie ja „das Recht nie auf
ihrer Seite habe!" Stvckmnnu nennt es eine herrliche Zeit, worin wir jetzt
leben. Er freut sich der Intelligenz seiner Mitbürger, die „Leben, Bewegung,
Fortentwicklung in ihre Angelegenheiten bringen," aber in seiner großen Rede
spricht er von der „ganz außerordentlichen Dummheit der Behörde«," und stellt
diese zum „geistig unkultivirten Pöbel." Er erklärt, daß er „leitende Männer
in der Seele nicht ausstehen" könne, weil sie „überall Schaden anrichten"; fast
gleichzeitig aber ruft er: „Die Menge ist bloß der rohe Stoff, aus dem wir,
die Bessern, ein Volk erst bilden sollen!" Endlich stellt er auch einen Unter¬
schied zwischen Liberalismus und Freisinnigkeit auf, flucht dem erstern, den
er eben noch als seinen unwiderstehlichen Rückhalt gepriesen hat, dagegen findet
er nun Freisinnigkeit gleichbedeutend mit Sittlichkeit, und da nur die Vornehmen
die wahrhaft Freisinnigen sind, so sind sie auch die wahrhaft Sittlichen. Und
das alles unmittelbar, nachdem er seinen Bruder und die leitenden Vornehmen
der planmüßigen Vergiftung des sozialen Körpers geziehen hat!
So dehnt sich eine Flut von Widersprüchen schon in der Person des
Helden vor uns aus. Aber auch die Charaktere der Nebenpersonen zeigen an
den verschiedensten Stellen eine» durchaus brüchigen Guß. So Stockmnuns
Frmi, die deu engen Kreis der Familieninteressen mit wohlthuender Klarheit
übersieht. Aber plötzlich erfährt sie eine romantische Wandlung; sie holt zu
einer heroischen Pose aus, die gar nichts fördert und ihr umso fremder steht,
als sie vorher mit hausbackener Klugheit ihren Gatten vor jedem unüberlegten
Schritte zu bewahren gesucht hat und gleich »ach jener unvorbereiteter Auf¬
wallung wieder in ihre frühere Alltagssorge zurückfällt, gerade in dem
Augenblicke, wo ihr Manu, von aller Welt verlassen, wenigstens an seinem
Weibe eine mutige Gefährtin, eine geistige Stütze finden sollte. Zum Schluß
will Stockmanu seine Jungen aus der öffentliche,? Schule nehmen, sie zu
»freien, vornehmen Männern heranbilden" und ihnen als „Lebensaufgabe zu¬
weisen, dereinst alle Parteihäuptlinge, diese heißhungriger Wölfe, nach dem
fernen Westen fortzujagen!" Er baut rings um sich ein Uebelsein in die
Lüfte, das unter dem rauhen Hauch der Wirklichkeit in Trümmer gehen muß,
die den verrückten Baumeister samt den Seinigen unfehlbar unter sich begraben
werden. Mit einer solche» nicht tragisch versöhnenden, sondern trostlosen
Perspektive entläßt uns der Dichter.
Man ist heutzutage von gewisser Seite, freilich mit mehr Eifer als
Klarheit, bestrebt, Ibsens sittliche Welt der Nation als unanfechtbaren Gewinn
anzuempfehlen, und um ihr Raum zu schaffen, kämpft mau mit Stockmannscher,
^'üfnngsloser Heftigkeit gegen sittliche Anschauungen, die mit befruchtender,
umnchmal gehemmter, aber nie anf die Dauer versiegender Gewalt das Geistes-
Und Gemütsleben unsers Volkes durchdringen. Ganz besonders versuchen jene
Wortführer an der stillen Große Schillers ihren Witz, weil gerade er so macht¬
voll gegen den kalten Individualismus zu Felde zog, wie bald nach ihm Fichte
seinem Volke vom Geiste der Gemeinschaft und Aufopferung aller Selbstsucht
w erschütternden Worten sprach. Aber das war in ernster, trüber Zeit.
Heute sind wir eine große Nation geworden, die inmitten ihrer Errungen¬
schaften jene sittliche Beschränkung schon etwas leichter nehmen darf. Der
Einzelne fordert wieder das Recht des „freien, uneingeschränkte» Auslebens,"
das er in den Tagen nationaler Not gegenüber den mächtigern Interessen der
Gesamtheit unterdrücken mußte. Und um das neue Evangelium deu in der
Auffassung seiner edelsten Lehrer und Bildner uoch befangenen Schichten unsers
Volkes annehmbarer zu machen, knüpft man am liebsten gerade an diese an,
^z so, wie einst die Koryphäen der Jenaer und Berliner Genialitätsepoche
l^h an Fichtes Rockschöße hängten. Aber der Begründer der idealistischen
Msenschaftslehre versteht sein „absolutes Ich" nur als ein solches der
uUellektnellen Anschauung, als ein Ich, das uoch nicht Individuum ist. Mit
co Begriff des Individuums verbindet er auch sogleich die Vorstellung von
'''wer Mehrheit solcher, denn „das Ich kauu zur Selbstbestimmung uur durch
^" Vernunftwesen sollizitirt werden; es muß also nicht nnr die Sinnenwelt,
sondern anch andre Vernunftwesen außer sich denken, also sich als ein Ich
unter mehreren setzen." In der „Kritik aller Offenbarung" erklärt er ferner:
„Es ist das einzige absolut giltige Objektive, daß es eine moralische Welt-
ordnung giebt, daß jedem Individuum seiue bestimmte Stelle in dieser Ordnung
angewiesen und auf seine Arbeit gerechnet ist." Von hier zur Anerkennung
der Gleichberechtigung dieser Einzelichs ist nur ein Schritt, und so wird
jedes in seiner Bethätigung beschränkt durch die gleichberechtigte Bethätigung
der andern. Nur der oberflächliche Sinn eines Friedrich Schlegel konnte seine
aufdringlich gepredigte Willkür des Subjekts an jene Lehre anknüpfen, um
daraus eine Weltanschauung zu gewinnen, worin der schlaraffenhnfte Müßig¬
gang und die freche Nacktheit seiner „Lucinde" ihre ästhetisch-sittliche Be¬
gründung finden sollte. Dagegen nannte er Schiller „moralisch bleiern,"
sprach von dessen „erhabener Unmäßigkeit" und machte sich über Gedichte wie
die „Würde der Frauen" im frechsten Tone lustig. Ibsen selbst ist ja welt¬
weit entfernt von einer solchen Auffassung; sein Wollen ist tief sittlich.
Aber, wie uoch genauer zu erweisen sein wird, es fehlt ihm die folgerichtige
Klarheit, um alle Trugschlüsse abzuweisen, die sich an seinen Hauptgrundsatz von
der freien Bethätigung des Einzelnen als aufdringliche Trabanten heran-
schmeicheln. Dieser Grundsatz hat ja in unsrer sittlichen Welt Giltigkeit nur
in dem Sinne, daß jeder Charakter sich folgerichtig in Treue gegen sich selbst
entwickeln soll, aber nur bis zu der Grenze, wo diese Treue in einen aller¬
dings verhüllten Egoismus umschlägt und darum unsittlich wird. Die wahre
Sittlichkeit erschöpft sich nicht damit, daß man einseitig die Rechte der Persön¬
lichkeit, deren Pflichten gegen sich selbst betont; zur sittlichem Vollendung strebt
in Wahrheit nur der, der den oft schwer erkennbaren Pfad zwischen diesen
Pflichten und den Pflichten gegen andre einzuhalten sucht. Und hier, auf
dieser schmalen Grenze ist es, wo die Blüten echtester Tragik in Überfülle
sprießen. Wenn Nora ihren Gatten verläßt in dem Augenblicke, wo sie dessen
sittliche Unzulänglichkeit erkennt, so handelt sie recht; wenn sie aber den Staub
ihres Puppenheims so gründlich von ihren Fersen schüttelt, daß sie, um
nur sich selbst zu befreien, sich aller Pflichten gegen ihre Kinder entschlage und
sie dem Verkommen in der Stickluft des väterlichen Heims aussetzt, die ihnen
den unumgänglichen moralischen Sauerstoff nicht zuführen wird, so handelt sie
unrecht. Der Dichter hat es in seiner sittlichen Einseitigkeit nicht vermocht,
einen befriedigenden Ausweg ans diesem ernsten Zwiespalt zu finden, und er
lag doch für sein sonst so mutiges Zugreifen sehr nahe!
Der letzte Grund, worauf sich diese Einseitigkeit Ibsens aufbaut, ist der,
daß er uicht allen Lebensformen mit gleicher Vorurteilslosigkeit beobachtend
gegenübertritt und daß er darum alles eher ist als der „große Realist." Es
ist seinem neuesten Werke vorbehalten geblieben, sich sogar in das Gebiet einer
blühenden Phantastik zu verlieren und damit die Befürchtung aller derer zu zer-
stören, die seinem Schaffen bedenkliche Nachwirkungen auf Geist und Gemüt
des jungen Geschlechts glaubten zuschreiben zu müssen. Ich meine das Schau¬
spiel: Die Frau vom Meer.
Das moderne Drama ist die Darstellung eines Vorgangs, worin sich das
Schicksal der beteiligten Hauptpersonen als das folgerichtige Ergebnis ihrer in
sittlicher Freiheit und dumm eigenster Verantwortlichkeit unternommenen Hand¬
lungen erfüllt. Sehen wir zu, wie Ibsens neuestes Stück dieser Forderung
entspricht.
Johnston, der Untersteuermann eines Schiffes, das Havarie erlitten hat,
lernt bei einem Besuche des Leuchtturms von Skioldvik die Tochter des Ver¬
walters kennen. Er erklärt ihr kurzweg, daß sie sich mit ihm verloben müsse —
sie hat keinen Willen in seiner Nähe. Eines Morgens zieht er einen Ring
vom eignen und einen von ihrem Finger, fügt fie zusammen auf einen Schlüssel¬
ring, sagt, daß fie sich jetzt dem Meer vermählen müßten, und wirft die Ringe
weit hinaus in die Flut. Dann verreist er. Ellida — so heißt die Heldin —
kommt bald darauf zur Besinnung und schreibt ihm wiederholt, daß zwischen
ihnen alles zu Ende sein müsse. Johnston antwortet immer nur, ohne ihre
Absage mit einem Worte zu berühren, daß sie auf ihn warten solle. Der
Briefwechsel schlummert endlich ganz ein, und Ellida folgt etwa fünf Jahre
nach jener seltsamen, von ihr aber aufs bestimmteste wieder gelösten Verlobung
dein Doktor Mangel als dessen zweite Gattin. Zwei Jahre darauf beschenkt
sie diesen mit einem Knaben, der aber bald stirbt. Die beiden Töchter aus
der ersten Ehe des Doktors, bereits erwachsen, stehen der Stiefmutter mit
passiver Feindseligkeit gegenüber. Sie selbst liebt ihren Mann herzlich und
wird ebenso von ihm geliebt. Aber der Vorgang, der sich vor zehn Jahren
draußen an der Küste abgespielt hat, beschäftigt sie noch immer insgeheim,
Und diese Unruhe, der stille Kampf gegen den widrigen, aber nicht überwundenen
Umdruck jener Stunde raubt ihr die klare Sicherheit im Kreise ihrer Pflichten,
durchweht das Haus des Doktors mit einer von keinem Familienglied offen
^kannten, aber allen peinlich fühlbaren Frostigkeit. Da erfährt Ellida aus
der Unterhaltung mit einem Freunde des Hauses, daß Johnston aus Zeitungen
Hre Vermählung entnommen und in Schmerz und Wut darüber ausgerufen
habe, sie sei dennoch sein und sie müsse dennoch ihm folgen. Die Kunde ver-
"'^hre ihre Unruhe bis zur Unerträglichkeit, sie teilt sich ihrem Manne mit
^ud klagt sich an, daß der Knabe, der doch Mangels Sohn war, das eigen¬
tümlich irisirende Ange jenes fremden Mannes gehabt habe, und darum will
Und darf sie ferner mit Mangel nicht mehr als dessen Gattin zusammenleben.
Kaum hat sie sich diese Last vom Herzen geredet, als Johnston selbst erscheint,
^w sie ^ holen. Ellida weist ihn erst aufs schroffste zurück, dann aber fleht
zu ihrem Gatten: „Rette mich vor diesem Mann — schütze mich vor nur
Mist!" fasert nun von ihm die volle Freiheit wieder, um ganz unab-
hängig entscheiden zu können, welchem von beiden sie fortan angehören wolle.
Und als Mangel dies gewährt, erleidet sie die plötzliche Wandlung, daß der
Fremde jede Anziehungskraft für sie verliert und daß sie nun zu einem wahren
Herzensbund ihrem. Gatten an die Brust sinkt.
Ibsen spannt in diesem Drama die sittlichen Triebfedern vielleicht straffer
als in irgend einem andern, aber er überspannt sie bis zur Lähmung. Wir
bewegen uns in einer Welt von Widersprüchen. Es ist schon außerordentlich
bezeichnend, daß durch das ganze Stück in unaufhörlicher Wiederholung sich
Ausdrücke ziehen wie: Wahnsinn, unbegreiflich, so gewissermaßen, das ist ver¬
rückt, sozusagen, unerklärlich, gleichsam wie eine Art Wunder. Eine entsprechende
Stimmung bemächtigt sich auch des Lesers; man sucht nach einer greifbaren
realen Grundlage des ganzen Konfliktes, aber unbegreiflich bleibt alles. Es
wird in keiner Weise klar, warum sich die Töchter so außerordentlich feindselig
gegen ihre Stiefmutter stellen; Mangel selbst ist doch stets des Lobes voll über
seine zweite Gattin und preist sein Glück an ihrer Seite. Ellida erwirbt bald
nach der Abreise Johnstons mutig ihre innere Freiheit zurück, indem sie wieder¬
holt und mit steigender Schärfe ihm brieflich erklärt, daß zwischen ihnen alles
aus sein müsse. Hat sie doch überhaupt seine Forderung nur ganz willenlos
über sich ergehen lassen! Dann spricht sie es im Laufe des Stückes wiederholt
aus, daß sie an Mangel mit aufrichtiger Liebe hänge, und zwar in sittlich¬
freiem Anschluß, wenn sie ihm auch einst der Versorgung halber gefolgt sei. Und
dann doch dieser haltlose Rückfall in eine seit Jahren überwundene Stimmung!
Dem Verlobten gegenüber hat sie ohne alle Umstände die vom Dichter so gern
betonte Befreiung ihres Ichs geübt, vom Gatten erfleht sie diese in sklavischer
Gebundenheit und Ergebung. In dem letztern Falle treibt sie wirklich nur
ein Spiel mit Worten, denn die verlangte Freiheit kann sie sich jeden Augen¬
blick selbst geben. Wie handelt doch Nora? Auch diese ist Gattin; aber sie
achtet den Einspruch des Gemahls für nichts und geht ohne Rücksicht ihrer
Wege. Wie kann Ellida nach jener ans ihrem Innersten kommenden Absage
an Johnston den Sohn Mangels noch in einem geistigen Ehebruch empfangen!
Und als Johnston uun plötzlich erscheint, begrüßt sie ihn in einem Atem als
den „ersehnten Liebsten" und fragt ihn gleich darauf: „Wer sind Sie?" Soll
das eine psychologische Feinheit sein, so wohnt ihr jedenfalls ein ganz elemen¬
tarer Lachreiz inne. Johnston beruft sich darauf, Ellida habe ihm fest ver¬
sprochen, zu warten, bis er wiederkommen würde, und erklärt gleich nachher,
daß „Gelöbnisse niemand binden, weder Mann noch Weib!" Das sind krasse
Widersprüche. Durch ihren Ausruf: „Mangel, rette mich vor mir selbst!" wird
eine seelische Unfreiheit der Heldin hingestellt und mit dem Hinweis auf das
Geheimnisvolle im Blick des Fremden begründet, das ihre sittliche Verant¬
wortlichkeit aufheben muß. Aber dadurch wird der Charakter undramatisch,
und die weitere Entwicklung wirkt auf den Zuschauer nur noch als nutzlose
Quälerei oder gar in unfreiwilliger Komik. Ibsen, der Verfechter der schranken¬
losen individuellen Freiheit, gründet hier auf ein Stückchen längst verbrauchter
Näuberromantit, ans die geheimnisvolle Nötigung durch einen bloßen Blick,
ferner auf eine wundersame Wirkung aus der Ferne, die mit den Spiritisten¬
scherzen von der vierten Dimension eine verzweifelte Ähnlichkeit hat, einen drama¬
tischen Konflikt! Daß ein Fremder noch immer Gewalt besitzt über Ellidas Gemüt,
nachdem sie sich seit Jahren in ihren Manu ganz eingelebt hat, ihn wirklich hat
lieben lernen, das ist einfach ein psychologisches Unding. Selbst zugegeben, sie
hube ihr Kind in geistigem Ehebruch empfangen, so ist diesem Fehler die fort¬
wirkende Kraft benommen, seit sie in aufrichtigster Zuneigung ihrem Gatten und
nur noch diesem angehören will. Man vergleiche Ibsens gekünstelte Darstellung
mit der herrlichen psychologischen Vertiefung eines ganz ähnlichen Konflikts in
Goethes Dichtung „Der Gott und die Bajadere." Hier die erschütternde, er¬
hebende Lösung nach dem unvergänglichen Grundsatz aller echten Sittlichkeit,
daß für menschliche Vergehen eine sühnende Kraft ans der Reinigung der Ge¬
sinnung erblühe, dort eine hyperkritische Diftelei, die gleichwohl den gesetzten Zwie¬
spalt nicht anders aufzulösen vermag, als daß Wnngel erklärt, jene unheimliche
Behauptung über die Augen des Kindes „müsse die reine Einbildung sein!"
Noch würde Ellidas Verhältnis zu ihren Stieftöchtern, die Technik des
Stückes in Bezug auf Verwendung von Nebenpersonen zu manchen Be¬
merkungen herausfordern. Ganz besonders macht die Form, unter der Bolette,
die ältere Tochter, sich mit dem Oberlehrer Amboin verlobt, einen widerlichen
Eindruck. Nachdem schon die ganze lange Szene in das unbestimmte Dämmer¬
licht eines haltlosen Schwankens gerückt gewesen ist, giebt das Mädchen sein
endlich mit den Worten: „Ja, ich fange an zu — ich glaube im Grunde —
daß es gehen wird!" Und dann giebt sie sofort ihrer Befriedigung Ausdruck
über die auf diese Weise gewonnene Versorgung und die angenehme Aussicht,
daß sie uun von dem einförmigen Leben um heimatlichen Fjord hinweg einen
^tick in die große Welt werde werfen können. Nur deshalb will sie ihm
folgen, und sie nimmt ihn auf dieses Versprechen hin ausdrücklich beim Worte.
Kein einziger, nicht der leiseste Herzenston klingt hinein in diese schmähliche
Marktszene. Es soll wahrscheinlich „realistisch" sein, daß Amboin ihr nicht
sofort den Rücken kehrt, der doch zum Überfluß als ein feinfühliger Ehreu-
Mcimi geschildert ist! Ibsen ist übrigens seiner eigentümlichen Liebhaberei für
pathologische Gebilde auch in diesem Stücke tren geblieben. Der „Kraals"
^ soll heißen Brustübel —, den der junge Lyngstrcmd früher einmal weg¬
kommen hat und der immer und immer wieder erwähnt wird, hat doch mit
°e>n wahren Realismus gar nichts zu thun; ebenso wenig der Gruß an die
Hebamme, den Mangels jüngere Tochter ausrichten läßt!
Das ganze Werk macht einen höchst unerquicklichen, weil völlig ungeklärten
Eindruck. Der Dichter wollte das Drama von der „eignen Verantwortlich-
keit" schreiben, aber es ist ihm nur gelungen, das Drama von der „eigne»
Unklarheit" zu schreiben. In keiner Litteratnrgattnng rächt sich das phan¬
tastische Spiel mit unsichern, stützenlosen Stinunungen bitterer, als innerhalb
der straffen Architektonik des Dramas, die keine losen Steine duldet, sondern
nnr ganz fest gefügte, mit scharfen Umrissen.
Der geistige Niederschlag in Ibsens Werken zeigt überhaupt zwei durchaus
verschiedne und unvereinbare Elemente. Einerseits predigt der Dichter — denn
seine sozialen Stücke sind alle Programmarbeiten — das völlige, unumschränkte
Ausleben der Persönlichkeit über die dummen Schranken der sogenannten ge¬
sellschaftlichen Ehrbarkeit und Sittlichkeit, das Recht der Persönlichkeit auf
ungehinderte Entfaltung. Anderseits stellt er die allerstrengsten Forderungen
der Moral ans, donnert gegen alles Pallirer, verlangt die strengste Unter¬
ordnung unter die ewigen Prinzipien des Sittengesetzes, obwohl „keine normal
gebaute Wahrheit auf der Welt länger als höchstens zwanzig Jahre lebt,"
und verliert sich dadurch in einen ungeheuern Widerspruch, den er nicht zu
überwinden vermag. Die erste Forderung würde nicht nur zu einem gesell¬
schaftlichen Atomismns führen, den man sich, in die Wirklichkeit übersetzt, gar
nicht vorstellen kann, zu einem Krieg aller gegen alle, zur Auflösung aller
Kultur, zur vollendeten Barbarei; sie würde auch eben dieses von ihm so
streng verteidigte Sittengesetz beseitigen, denn gerade dieses begründet die
Schränken, die der Einzelne im Zusammenleben mit andern beachten muß,
damit ein solches überhaupt möglich sei.
Schon dieser klaffende Bruch, der durch Ibsens ganze Anschauung vom
Menschendnsein geht, erschüttert deu Sockel, der sein Bild im Tempel der
„Realisten" trägt. Der wahre Realist konstruirt nicht, stellt keine Forderungen
an die Menschheit und die Weltordnung, wird nie zum Programmdichter,
sondern bescheidet sich in der treuen, absichtslosen Wiedergabe des wirklich be¬
stehenden. Das Einzige, was er — im Gegensatze zum rohen Naturalisten —
aus seinem anspruchslosen Ich hinzufügt, ist eine solche Führung der Hand¬
lang, daß diese, ganz wie das organische Vorbild der Pflanze, sich natur¬
gemäß zu einer edeln Frucht entfaltet: zur Allgemeingiltigkeit, die die rein
äußerlichen Einzelvorgänge erst erhalten, wenn sie ans dem Kreise der Zu¬
fälligkeiten in den einer zwingenden logischen Folge erhoben werden. Nicht
die Wahrheit allein zeitigt deu eigentlichen Realismus in der Kunst, es bedarf
noch des erwärmenden Svuueublicks der Schönheit, wenn er anders wirkliche
Kunstwerke gestalten soll. Denn sollte das Kunstwerk, wie der Irrtum heut¬
zutage so aufdringlich geltend machen möchte, schon im photographischen Ab¬
klatsch der gemeinen Wirklichkeit geboren werden, dann kann sich die Menschheit
am unvermittelter Anblick dieser Wirklichkeit genügen lassen, die doch immer
interessanter sein wird als deren mattes Abbild. Die Wahrheit allem ist
Sache der Wisseuschnft, und die Kunst bleibt unter ihrer ganz spezifischen Auf'
gäbe, wenn sie es der ernster» Schwester gleichthun will. Moritz Carriere
eignet sich Spielhagens glücklichen Ausdruck ein, dnß der Dichter Finder und
Erfinder in einer Person sei; alles scheint gegeben, nach Modellen gearbeitet,
»ut doch ist nichts gegeben, denn nichts kann so verwandt werden wie es
gegeben ist. Und Schiller spricht die goldnen Worte- „Zweierlei gehört zum
Künstler, daß er sich über das Wirkliche erhebt, und daß er innerhalb des
Sinnlichen stehen bleibt. Wo beides verbunden ist, da ist ästhetische Kunst.
Aber in einer ungünstigen formlosen Natur verläßt er mit dein Wirklichen nur
zu leicht auch das Sinnliche und wird idealistisch, und wenn sein Verstand
schwach ist, gar phantastisch; oder will er und muß er durch seine Natur ge¬
nötigt in der Sinnlichkeit bleiben, so bleibt er gern mich bei dem Wirklichen
stehen und wird in beschränkter Bedeutung des Wortes realistisch, und wenn
e's ihm ganz an Phantasie sehlt, knechtisch und gemein. In beiden Fällen
also ist er nicht ästhetisch . . . Der Neuere schlägt sich mühselig und ängstlich
">it Zufälligkeiten und Nebendinge« herum, und über dein Bestreben, der
Wirklichkeit recht nahe zu kommen, beladet er sich mit dein Leeren und Un¬
bedeutenden, und darüber läuft er Gefahr, die tiefliegende Wahrheit zu ver¬
lieren, worin eigentlich alles Poetische liegt. Er möchte gern einen wirklichen
Fall vollkommen nachahmen, und bedenkt nicht, daß eine poetische Darstellung
mit der Wirklichkeit eben darum, weil sie absolut wahr ist, nicht koinzidiren
dnn." Nach Schiller sind also alle poetischen Gestalten symbolisch und stellen
immer das Allgemeine der Menschheit dar. Gottschall endlich erklärt mit
psychologischen: Tiefblick: „Es ist ein bedauerliches Zeichen, daß ganze litte¬
rarische Richtungen, die nicht mir den Zeitgenossen imponirten, sondern sogar
den politische» Großmeisteru beschützt wurden, eigentlich aus ganz ab¬
normen Seelenzuständen hervorgegangen sind, die mehr in das Gebiet der
Seelenheilkunde gehören als in das der Litteratur. Das Interessante solcher
pathologischen Entwicklungen hat mit dem Interesse an der objektiven künstle¬
rischen Leistung nichts gemein; es geht aus dem Juteresse hervor, das die
raffinirte Bildung an allen Mißbildungen und Verzerrungen nimmt, nachdem
die organische Gesundheit langweilig geworden ist." Das ist leider der
Kernpunkt zur Erklärung vieler Erfolge des modernen »Realismus.«
Doch getrost! Wenn sogar schon der theoretisirende Wagemut eiues Zola
wankt, wen» ein Ibsen einen „Volksfeind" oder gar eine „Fran vom Meer"
"uf lediglich erträumten Grundlagen auferbaut, dann ist die Götterdämmerung
nahe, deren sengende Lohe die Schlagwörter ihrer viel befangeneren Jünger
hinwegfegen und hoffentlich in einer geläuterten Form wieder aufleben
^sser wird.
Ibsen ist, wie gesagt, in seinen sozialen Stücken ein schroffer Programm-
°^ster und darum natürlich stets einseitig. Indem er gewisse gesellschaftliche
Zustände an seinen mehr oder minder hochgespannter Idealen mißt und den
weiten Abstand darlegt, vollzieht er nicht das Werk des Realisten, sondern des
vollendeten Pessimisten, und dessen notwendige Ergänzung ist bekanntlich gerade
der Idealist. Keinem modernen Dramatiker fehlt mehr die Fähigkeit der ob¬
jektiven Anschauung, und so erscheint Ibsen als das gerade Gegenteil dessen,
als was er nach dem Wunsche mancher Wortführer durch die Litteratur¬
geschichte gehen soll. Er ist der ausgesprochene Idealist, der nur im Unter¬
schiede gegen andre den Beweis für seinen Idealismus 6 «ontrario erbringt,
aus seiner eigentümlichen Darstellung der Nachtseiten unsrer sozialen Verhält¬
nisse. Gerade der wahre Realist müßte anerkennen, daß nicht alles auf der
Welt schlecht und unheilbar ist; dagegen ist es dem Idealisten schwer zu ver¬
wehren, seine Träume von Recht und Glück so hoch zu spannen, daß ihnen
in der Realität nichts mehr nahe zu kommen vermag. Darüber verliert er
aber jeden Boden unter deu Füßen, und wir würden ihn mit verliere», wen»
wir auf den Flügeln seiner trügerischen Dialektik ihm in seine Wolkenregionen
folgen wollten.
is im Februar dieses Jahres der Kultusminister im Abgeordneten¬
hause die Mitteilung machte, daß die Absicht bestünde, die Be¬
rechtigung zum einjährig-freiwilligen Dienste von den höhern
Schulen zu trennen und diese künftig durch eine besondre Prüfung
nachweisen zu lassen, herrschte wohl in Schulkreisen allgemeine
Freude darüber. Man glaubte der Lösung der Schulfrage einen Schritt näher
gekommen zu sein. Zugleich legte man sich die Frage vor: Wie wird wohl
in Zukunft diese Berechtigung nachgewiesen werden? Wird diese Prüfung vor
derselben Kommission zu geschehen haben, die jetzt schon in jeder Regierungs¬
stadt alljährlich zweimal, im Frühjahr und Herbst, zusammentritt, oder beab¬
sichtigt der Staat mehrere solcher Kommissionen in jedem Regierungsbezirk
einzurichten, oder will er überhaupt andre Einrichtungen treffen? Da nun
über diese Prüfungskommissionen in weitern Kreisen sehr wenig bekannt zu sein
pflegt, so möge über ihre Zweckmäßigkeit und ihre Mängel eine kurze Erörte¬
rung gestattet sein.
Die Kommission besteht aus drei ordentlichen und gewöhnlich fünf außer¬
ordentlichen Mitgliedern. Die drei ordentlichen Mitglieder sind: ein juristisch
gebildetes Mitglied der Regierung (gewöhnlich ein Regierungsrat, der den
Vorsitz führt) und zwei Offiziere. Die außerordentlichen Mitglieder sind Lehrer
höherer Anstalten der Negierungsstadt und nieist auch einer der Regiernngs-
schulrcite.
Die Prüfung bei der Kommission dauert zwei Tage. Am ersten Tage werden
die schriftlichen Arbeiten geliefert, am Tage darauf folgt die mündliche Prüfung.
Die außerordentlichen Mitglieder haben die Aufgaben zu stellen, die Arbeiten
durchzusehen und dann die, die nach günstigem Ausfall der schriftlichen Arbeiten
derbleiben, zu prüfen.
Am Schlüsse der Prüfung wird über die einzelnen Prüflinge abgestimmt,
und es ist wohl natürlich, daß für die ordentlichen Mitglieder das Urteil der
außerordentlichen (technischen) Mitglieder maßgebend ist. Es sind aber auch
einige Fälle bekannt geworden, wo die außerordentlichen Mitglieder die
Leistungen eines Prüflings für nicht genügend erklärten, die ordentlichen Mit¬
glieder ihm aber trotzdem das „Zeugnis über die wissenschaftliche Befähigung
für den einjährig-freiwilligen Dienst" erteilten. Daß die außerordentliche»
Mitglieder infolge dessen auf weiteres Mitarbeiten in der Kommission ver¬
zichteten, darf Wohl nicht Wunder nehmen. Solche Vorkommnisse gehören
aber glücklicherweise zu den Seltenheiten.
Trotzdem dürfte wohl die Frage berechtigt sein: Ist die Zusammensetzung
der Kommission richtig? Daß ein Regiernugsbenmter deu Vorsitz führt, ist
recht und billig, da ja die Prüfung bei der Regierung stattfindet. Aber
darüber ließe sich wohl streiten, ob es nicht rätlicher wäre, daß statt des
juristisch gebildeten Negiernngsrates einer der Regierungsschulräte den Vorsitz
übernähme. Daß aber neben dem Regierungsrate noch zwei Offiziere ordentliche
Mitglieder siud, dafür dürfte sich wohl kein andrer Grund geltend machen
^sser, als der, daß aus der Mitte der Prüflinge doch einmal Soldaten und
dielleicht sogar Offiziere hervorgehen können. Wäre aber dieser Grund be¬
rechtigt, daun müßten wir noch in manchen andern Prüfungskommissionen
Offiziere finden. Hier handelt es sich doch nur darum, die wissenschaftliche
Befähigung zum einjährig-freiwilligen Dienste darzuthun. Ob sich der Prüfung
Sum Offizier eignet, darüber zu entscheiden wird später Pflicht der Militärs
Und zwar ausschließlich Pflicht dieser sein. Es ist daher die Ansicht des Ver-
^ssers dieser Zeilen — bei aller Hochachtung vor unsern Offizieren —, daß
dieser .Kommission die Anwesenheit von zwei Offizieren unnötig sei.
Dann sollte aber auch die Scheidung in außerordentliche und ordentliche
Mitglieder fallen gelassen werden. Es sollte dieselbe Einrichtung geschaffen
Werden wie bei der Abiturientenprüfnng. Wie dort unter dem Vorsitze des
-provinzialschulrntes die der Prüfungskommission allgehörenden Lehrer ihres
^untes walten, so sollte es auch hier unter dem Vorsitz eines Vertreters der
'^gierung geschehen.
Welches sind nun die Anforderungen, die an einen solchen Prüfung ge¬
stellt werden? Ist die Prüfung vor der Kommission schwerer oder ist sie
leichter? Mancher, der die Berichte in den Zeitungen über den Ausfall der
Prüfungen verfolgt, wird zu der Ansicht gelangen, sie müsse sehr schwer sein,
weil ein so außerordentlich hoher Prozentsatz die Prüfung nicht besteht. Dem
ist aber keineswegs so. Die Anforderungen sind bedentend geringer, als wie
sie an einen Schüler einer höhern Lehranstalt, der nach Oberseknndn versetzt
wird, gestellt werden. Dies geht schon daraus hervor, daß der zu prüfende
sich willkürlich aus der Reihe der fremden Sprachen zwei auswählen darf,
in denen er geprüft werden will, z. B. Französisch und Griechisch. Ans der
höhern Lehranstalt dagegen muß er in drei fremden Sprachen genügende
Kenntnisse ausweisen. Daun sind aber auch die Anforderungen in diesen zwei
Sprachen vor der Kommission uicht so hoch. Es ist allgemeine Ansicht der
prüfenden Lehrer, daß ein mäßig tüchtiger Obertertianer die Prüfung vor der
Kommission gut bestehen würde. Höher sind die Anforderungen nur im
Deutschen, und zwar wird dn vou dem Prüfung eine Litteratnrkenntnis ver¬
langt, wie sie sich ein Schüler erst in den obern Klassen zu erwerben pflegt;
denn auf den preußischen höher» Lehranstalten werden ja die Dramen unsrer
großen Dichter erst in Sekunda und Prima gelesen. In allen andern Fächern
aber sind die Anforderungen geringer. In den Natnrwissenschnften wird nur
unes den Anfangsgründen der Physik gefragt; in der Chemie ist es dem zu
prüfenden freigestellt, sich prüfen zu lassen; Botanik und Zoologie fällt
ganz weg.'
Ausschlaggebend ist für die Prüfung gewissermaßen der deutsche Aufsatz,
und das mit Recht. Wer eine ungenügende deutsche Arbeit liefert, wird gar
nicht zur mündlichen Prüfung zugelassen, und diesem Schicksal erliegt der bei
weitem größte Teil. Wohl die Hälfte der sich meldenden wird gewöhnlich
schon nach den schriftlichen Arbeiten und zwar hauptsächlich ans Grund der
ungenügenden deutschen Arbeit zurückgewiesen. Nun sind aber anch die An¬
forderungen in Bezug auf den deutschen Anfsntz keineswegs übertrieben. Es
werden jedesmal drei Themata gestellt, unter denen sich der Prüfung das, das
ihm am meisten behagt, auswählen kann. Das eine Thema Pflegt ein Sprich¬
wort zu sein, das andre ist meist der dentschen Geschichte entnommen, das
dritte ist allgemeiner Art und dein Bereiche der gewöhnlichen Erfahrung ent¬
lehnt. Wir sehen also, daß auch hier der Maßstab eiues Tertianers angelegt
ist. Ja der Prüfung vor der Kommission erfreut sich sogar noch des Vor¬
zuges, daß er sich unter den drei Themen das ihm passende auswählen kaum
während der Schüler das ihm gestellte Thema bearbeiten muß; allerdings
erhält er dazu durch den Lehrer Anleitung.
Warum sind nun aber eigentlich die Anforderungen in der Prüfung vor
der Komnüssion geringer? Wird dadurch nicht eine Menge von Schülern
veranlaßt, der Schule den Rücken zu kehren, »in schneller zum Ziele zu
kommen? O ja, einige thun das, aber doch uur sehr wenige. Die meisten
versuchen sich lieber in der Schule diese Berechtigung zu erwerben. Das
Bersetztwerden von Unter- »ach Oberseklinda erscheint ihnen immer noch in
rvsigerm Lichte und als eine gewissere Sache, als eine Prüf»»g vor der Kom¬
mission, die sich aus Lehrern zusammensetzt, die ihnen sast immer unbekannt
sind. Daher wird verhältnismäßig wenig Gebrauch davon gemacht. Es dürfen
aber auch die Anfvrder»ngen etwas geringer sein, als auf den höher» Schulen,
weil ab und zu unter den sich meldenden Leute sind, denen die Ungunst des
Schicksals es nicht gestattet hat, die Schule regelrecht zu besuchen und die
dann durch eignen Fleiß sich so gut als möglich die verlangte Bildung anzu¬
eignen gesucht haben. Außerdem ist nicht zu verkennen, daß eine Prüfung bei
unbekannten Lehrern für ,den Prüfung viel schwerer ist. Mit Rücksicht darauf
erscheint es also berechtigt, die Ansprüche etwas niedriger zu stellen. Es ver¬
langt dies aber anch noch ein andrer Umstand. Bei der Kommission melden
sich auch die Söhne vou Deutschen, die im Auslande leben, aber deutsche
Unterthanen geblieben sind. Wenn man bei solchen, die oft einen ganz unregel¬
mäßigen Bildungsgang durchgemacht haben, die größte Nachsicht übt, wenn
man ihnen trotz eines mangelhaften deutschen Aufsatzes und trotz mancher
andern Maugel, die in den einzelnen Fächern hervortreten, die wissenschaftliche
Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Dienste doch zuerkennt, wenn der zu
Prüfende sonst eiuen günstigen Eindruck macht, so wird kein billig denkender
etwas dagegen haben.
Leider bilden aber den Hauptbestandteil der Prüflinge (wohl drei Viertel)
Leute, die diese Rücksicht nicht verdienen. Es find ehemalige Schiller höherer
»statten, deren Eltern mit Glücksgüter» reichlich gesegnet sind, die sich aber
Unter die Schutzrede nicht fügen wollten und deshalb der Schule den Rücken
kehrten oder kehren mußten. Der Verfasser dieser Zeilen, der kurz nach ein-
"»der an mehreren Anstalten desselben Regierungsbezirkes als Lehrer wirkte,
kannte mehrere Jahre hindurch den größten Teil der Prüflinge aus seiner
it'übern Thätigkeit. Manche hatten dann noch eine andre Anstalt, aber auch
ohne Erfolg, besucht, und schließlich versuchten sie, da sie auch so nicht zum
<^iele gekommen waren, ihr Heil bei der Kommission. Gegen solche Ele¬
mente müßte aufs schärfste vorgegangen werden. Gerade für diese, die sich
leder Zucht und Ordnung widersetzen, dürfte gerade eine dreijährige Dienst¬
zeit eine sehr heilsame und gute Lehrzeit sein. Soll doch das Vorrecht, ein¬
ährig zu dienen, nur solchen zuerkannt werden, die sich sittlich einer solchen
^vorzngung würdig gezeigt haben. In dieser Beziehung wird aber mancherlei
Erhebe». Folgendes mag zum Beweise diene». Es meldete sich z. B. el»
^einnliger Nnterseknndaner, der sich durch seinen Abgang einer schweren Diszi¬
plinarstrafe entzöge» hatte. Im Besitze seines Abgangszengnisses, hatte sich
der Bursche überdies nach der Wohnung eines ehemaligen Lehrers begeben
und ihn unter Bedrohen mit einem Stocke darüber zur Rede gesetzt, warum
er ihm in seinein Fache eine so schlechte Zensur gegeben habe. Diese Sache
kam später vor das Schöffengericht, und der Betreffende wurde mit Gefängnis
bestraft. Wahrend der Zeit, wo er von der Schule weg war und wo die
Sache beim Schöffengerichte noch anhängig war, meldete er sich zur Prüfung
bei der Kommission und wurde zugelassen. Nur dem Umstände war es zu
danken, daß er schließlich doch noch zurückgewiesen wurde, daß seine deutsche
Arbeit fast ungenügend war. Um solche und ähnliche Vorkommnisse unmöglich
zu machen, müßte unbedingt in Zukunft ein gewisser Zusammenhang zwischen
der .Kommission und den höhern Lehranstalten geschaffen werden.
Noch ein Übelstand soll hervorgehoben werden, der der Abänderung be¬
dürftig erscheint. Die Prüfung bei der Kommission kann so lange wiederholt
werden, bis der Betreffende dienstpflichtig geworden ist, also das zwanzigste
Lebensjahr erreicht hat. Manche, und das ist gar nicht so selten, wiederholen
sie dreimal, ohne daß sie zum Ziele kommeu. Der Verfasser hat von einem
gehört, der die edle Dreistigkeit hatte, sie fünfmal zu wiederholen! Es dürfte
angebracht sein, die allgemein giltigen Bestimmungen für Prüfungen auch auf
die Prüfung vor der Kommission auszudehnen und in Zukunft nur ein drei¬
maliges Erscheinen vor der Kommission zu gestatten. Manche schlecht vor¬
bereiteten Elemente würden vielleicht auch dadurch von ihrem Exameneifer
etwas abgebracht werden, daß in Zukunft eine bestimmte Prüfungsgebühr er¬
hoben würde, wie es ja sonst bei jeder Prüfung im preußischen Staate üblich
ist. So würden auch die dem Staate alljährlich zweimal erwachsenden, nicht
gering anAnschlagenden Kosten zum Teil gedeckt werden, Kosten, die der Staat
auf sich nimmt für Leute, die es größtenteils nicht viere sind, daß sie mit
solcher Nachsicht behandelt werden.
Hoffentlich wird bei einer Neueiurichtung der Prüfungskommissionen für
Einjährig-Freiwillige, die ja in kurzem bevorzustehen scheint, von deu hier
dargelegten Ansichten die eine oder andre zur Ausführung kommen!
Die Memoiren des Barons Haußmann werden nächstens bei Havard in
Paris erscheinen. Der Kga-ro bringt bereits einige Proben davon, woraus wir
Wei Stellen hervorheben, das politische Glaubensbekenntnis Haußmmms und eine
Anekdote, die für die politische Haltung der Bauern charakteristisch ist. „Ich war
^ sagt der alte Diener Napoleons — Imperialist von Geburt und aus Über¬
zeugung. Sehr liberaler Demokrat, aber nicht minder ein Freund der Autorität
(toten'nan'k) hegte ich stets und hege ich noch heute die tiefinnerste Überzeugung,
daß das Kaisertum die einzige für Frankreich geeignete Form der Demokratie sei.
unser Land, das geeinteste (1e xlns „um") der Erde, braucht eine Negierung, die
wirklich eine ist. Eine einzige Hand muß seiue Angelegenheiten leiten, die fest im
Innern ist, um es auch nach anßen hin sein zu dürfen. Das Spiel der Interessen
'»acht eine ausübende Gewalt nötig, der die Erblichkeit den höchsten Grad der Be¬
ständigkeit verleiht; aber unier Wahrung der unveräußerlichen BolkSsonveränität,
deren Ausübung durch eine dem Vvlkswillen unmittelbar entflossene Nerfassuug ge¬
heiligt sein muß. Auch fordert die Würde der Nation, daß der Titel ihres er¬
wählten Vertreters diesen den größten Monarchen im Range gleichstelle." Verloren
'se verloren! Durch die dumme Revolution im September 1370 haben sich die
Franzosen dieser Vorteile leichtsinnig beraubt.
Im Jahre 1848 bereiste der nachmalige Bau- und Verschönerungsdespot ans
die Bitte des Prinzen Napoleon ein Arrondissement (Blaye im Dey. Gironde),
um die Stimmung der Landbevölkerung zu erforschen. Eines Tages lud ihn ein
Edelmann, ein Parteigänger Ccivaignaes, zum Frühstück auf einem seiner Landgüter
w>. Der Gutsverwalter oder Bauer, wie mau in der Gegend sagt, wartete bei Tische
"uf. Der Herr sagte beim Essen: „Nun. Jauille (Jean), nächstens wird wieder
iinvnhlt; mit wem Werdens denn die Leute hier halten?" „Dn lieber Gott, er¬
widerte der Bauer, ein Säugling kaun nicht weniger von der Politik verstehen als
A- Das letztemal haben wir für Herren gestimmt, die uns angepriesen wurden,
d'e aber kein Mensch in der Gegend kannte. Einige sagen nun, wir hättens recht
gemacht, andre sagen das Gegenteil. Wem sollen wir glauben? Da möchten wir
denn diesmal für einen bekannten Namen stimmen." — „Nun gut, so nehmt den
General Cavaignac." — „O, gnädiger Herr, der hat keinen guten Namen in der
hegend. (Sein Vater hatte in der Revolutionszeit dort gewütet.) Ich für meine
^rhor werde den Kaiser wählen." — „Aber, Freund, der ist ja tot." — „Glauben
fragte der Bauer dummpfiffig; na, dann werde ich für seinen Sohn stimmen."
"Der ist ja auch tot!" — „Sind sie denn alle tot? Giebts keinen einzigen mehr?" —
>'-"un, >yjx haben zwar noch den Neffen, allein nach den Geschichten von Straß-
°urg und Boulogne..." Nachdem der Herr diese Geschichten erzählt hatte, sagte
Bauer: „Mags sein wies will, den wast ich!"
. Die Sympathien des französischen Bauern für das Kaisertum sind ebenso be-
Mmt wie die Gründe dafür (das Königtum würde ihm ebenso lieb sein, wenn es
M in seiner Erinnerung mit dem Feudalismus verknüpft wäre; in Preußen ist
glücklicherweise das Entgegengesetzte der Fall); was aber nicht genng beachtet wird,
^6 ist der Umstand, daß die Bauern aller großen Länder im Grunde genommen
nicht anders denken als die französische Bauernschaft. Der Bauer wünscht eine
feste und stetige Regierung, die Ruhe und Ordnung im Inlande aufrecht erhält und
den Frieden wahrt, damit er ruhig seiner Beschäftigung nachgehen könne und keine
Unterbrechung des langsamen Prozesses zu fürchten habe, in dem die Früchte seiner
Arbeit reifen. Er ist kein Freund des Parlamentarismus, weil dieser ihn zwingt,
in die Gestaltung der Regierung einzugreifen, also seine Hand an Dinge zu legen,
die über seinen Horizont gehen, was ihm mit Recht als ein gefährliches Hnzard-
spiel erscheint und was seinem verständigen und soliden Wesen widerstrebt. Etwas
andres ist es, wenn ihm die bestimmte Frage zur Beantwortung vorgelegt wird,
ob dies oder das Gesetz werden soll, wie es im schweizer Referendum geschieht;
darüber hat er meistens eine Meinung, und die kann er mit ja oder nein aus¬
sprechen. Der städtische Litterat oder Beamte hat ein wenig Politik studirt, ist
daher stets aufgelegt, ein Wort mitzusprechen, hält sich Wohl gar für berufen, mit-
zuregieren, und hat in demokratischen Staaten in der That Aussicht einmal Minister
zu werden. Der Großindustrielle nud der Großgrundbesitzer treiben im Interesse
ihres Gewerbes Politik; der kleine Geschäftsmann, der Handwerker, der Arbeiter
hoffen bei jedem Umschwunge zu gewinnen, und dem Proletarier ist es niemals
wohler, als wenn alles drunter und drüber geht. Alle diese Antriebe zum Poli¬
tisiren fehlen nicht allein beim Bauer, sondern es ist geradezu das Gegenteil vor¬
handen. Drum will er die Politik in festen Händen wissen; er glaubt wie Goethe,
das; Regieren eine Kunst sei, die gelernt sein wolle, wie jede andre Kunst, und er
wünscht nicht, daß diese fürs Gemeinwohl wichtige Kunst von Pfuschern ausgeübt
werde; am wenigsten trägt er Verlangen, selbst hinein zu Pfuscher.
In Ur. 7 der Grenzboten wurde darüber geklagt, daß bei uns Deutschen die
schöngeistige Litteratur unsrer Bundesgenossen, der Italiener, zu wenig Beachtung
finde. Ihren historischen Arbeiten ergeht es nicht besser, und bei der innigen
Wechselwirkung, in der die beiden Völker mit kurzen Unterbrechungen beinahe zwei
Jahrtausende hindurch gestanden haben, ist das nicht bloß ein Unrecht gegen unsre
Freunde, sondern auch ein Schaden für die deutsche Wissenschaft. Der Wunsch,
dieser Vernachlässigung ein Ende gemacht zu sehen, möge es rechtfertigen, wenn
wir, obwohl die Grenzboten kein Fachblatt sind, einmal auf die angesehenste histo¬
rische Zeitschrift Italiens aufmerksam machen.
Bonaini, der bis zu seinem Tode 1875» Vizepräsident der herausgebende»
Gesellschaft (der königlichen Deputation für die Geschichte Toskanas, Andricus und
der Marken) war, hat aus den Archiven von Pisa und Florenz zwei umfangreiche
Bände zusammengestellt (erschienen sind sie erst nach seinem Tode), die in Deutsch¬
land zwar für ein Paar Dissertationen benutzt worden, außerhalb der fachmännischer
Kreise aber bis heute ganz unbekannt geblieben sind, obwohl der eine Band die
Hälfte des Restes der sonst zu Grunde gegangenen Reichskanzlei des vierzehnten
Jahrhunderts enthält, der andre aber in einer wunderbar vollständigen und
lebendigen Korrespondenz das Erwachen des nationalen Bewußtseins der Italiener
im Gegensatze zu dem Weltreichideale Dantes und Kaiser Heinrichs VII. veran¬
schaulicht. Im vorigen Jahre ist nun auch Bonainis Nachfolger, Cesare Guasti,
gestorben, und der vorliegende Band des Archivio bringt seinen Nekrolog. Wir
heben daraus eine Stelle hervor, die nicht allein den genannten fleißigen Gelehrten
(das Verzeichnis seiner Schriften umfaßt 489 Nummern), sondern noch viele andre
Männer der Wissenschaft auch in Deutschland charakterisirt, „Das moderne Leben
mit seinen Leidenschaften und seinem Heidentume hatte nichts Anziehendes für ihn;
in der Vergangenheit suchte er Ideale, die seiner Empfindung und seiner Über¬
zeugung besser entsprachen. Doch vertrug er sich mit allen, nahm das Gute an,
von welcher Seite es auch kam, und verabscheute jegliches Parteitreiben. Deshalb
waren ihm die nicht hold und rechneten ihn nicht zu den ihrigen, die auch aus
der Religion eine Parteisache machen, und er grämte sich nicht darüber."
In der KuLSSKUÄ. didHoMulloa werden auch deutsche Bücher, wie die Assy¬
rische Geschichte von Tiete und Sickels Indsr viurmis U.ouuurorinu ?ovtiüouiQ
iiründlich gewürdigt. Von französischen Erscheinungen werden u. a. mehrere
Arbeiten über die Geschichte der bildenden Künste in Italien und Drusus su
i'ni!" von Pierre de nothae besprochen. Erasmus kam 1506 nach Italien,
Charakteristisch ist es für den großen Gelehrten, daß „sein kalter Geist völlig
unempfindlich war gegen die Wunder der Kunst, die ihn in Florenz umgaben."
Cr glaubte die kurze Zeit, die er dort verweilen mußte, verloren zu haben. Nichts
weiß er aus der Stadt Lorenzos des Prächtigen zu berichten als eine Pulver-
eZplosion. Nur ans Bücher stand sein Sinn. Sein Urteil über Rom siel so aus,
U'le sich erwarten ließ. „Seine nordische Einfalt, die schon an dem kriegerisch
prächtigen Einzuge des Papstes Julius II. in Bologna Anstoß genommen hatte,
Mußte sich tief erschüttert fühlen durch die Üppigkeit und Verderbnis des päpstlichen
Hofes. Doch fand er immerhin auch in diesem Kreise noch Männer, die er nicht
allein ihres Geistes, sondern anch ihrer Tugenden wegen bewundern durfte." Aus
°er Reihe der italienischen Schriften, die rezensirt werden, heben wir einen akade¬
mischen Vortrag des Professors Jginio Gentile zu Pavici, I/snsrgii» worsls irslla.
"to>'ur, besonders erfreulich hervor, weil jener Materialismus, der die Welt¬
geschichte zu einem chemischen Prozeß herabwürdigen und verkrüppeln möchte, bei
den italienischen Naturforschern und Ärzten noch breitern Raum einnimmt als bei
den unsern, Gentile bekämpft diese Auffassung mit aller Entschiedenheit, wendet sich
"und gegen Buckle, der den menschlichen Fortschritt ans das Gebiet der Erkenntnis
^usthräntt, und sieht in der Verbreitung der individuellen Freiheit das höchste der
^Alter, die wir dem Fortschritt unsers Geschlechtes zu danken haben.
Unter den Aufsätzen und Urknndcnveröffentlichungen des Bandes dürften
Mgende auch für manche deutsche Leser Interesse haben: einige Briefe Pancmtis,
eines vielgereisten Tosknners, ans dem Jahre 1798 (herausgegeben von Giovanni
»^vrza); urkundliche Nachrichten über die Signorie des Franz Sforza in den
Marken aus den Jahren 1438 bis 1446 (herausgegeben von Antonio Gianandrea);
"u Aufsatz Faraglias über Barbato von Sulmona, einen neapolitanischen Litteraten
^ vierzehnten Jahrhunderts, und über die Verdienste Roberts von Anjou um die
Lederherstellung der Wissenschaften (dem sonst geizigen Könige war kein Buch zu
^r; für ein Lorxutt juris zahlte er eine Summe, die nach heutigem Geldwert
über tausend Thaler beträgt; er besoldete eine ganze Schar von Abschreibern,
Konservatoren und Übersehern und ließ namentlich viele griechische und arabische
Bücher übersetzen); endlich eine Abhandlung von Antonio Favaro über die Be¬
ziehungen des Astronomen Tycho Braise zu Galilei und zum toskanischen Hofe.
Die Beziehungen zum erster» blieben einseitig, indem der damals noch unberühmte
Galilei sich den Annäherungsversuchen seines schon weltberühmten Kollegen gegen¬
über ablehnend verhielt. Was Tycho zu einem Verhalten bestimmte, das den Um¬
ständen nach als Herablassung bezeichnet werden muß, war ein wissenschaftliches
Vorhaben. Er wollte an Orten, die dem Äquator näher liegen als seine bis¬
herigen nordischen Beobachtnngsplätze, durch seinen Sohn astronomische Messungen
vornehmen lassen, und hatte dafür Florenz und das ägyptische Alexandrien aus-
ersehen. Aber es wurde nichts daraus, weil der Großherzog an seinem Hofe keine
Protestanten duldete. Tycho versichert zwar in einem Briefe an den großherzog¬
lichen Gesandten in Wien vom 4. Mai 1600, fein Sohn und dessen Begleitet
würden ganz gewiß keinen Anstoß geben, habe sich der erstere doch auch am Hofe
des Kardinals von Dietrichstein sin Olmützj einige Zeit aufhalte» dürfen; doch
nutzte das alles nichts. Wenn auch nicht nach Florenz, so doch nach Toskana kam
Tychos Sohn trotzdem schon im folgenden Jahre, und zwar in Begleitung eines
persischen Gesandten, der die Höfe bereiste, um ein Bündnis gegen die Türken
zu stunde zu bringen. In Siena eröffnete ihm der erwähnte Diplomat, der von
Geburt ein Engländer war und Robert Sherley hieß, der Großherzog widerrate
dem jungen Dänen die Weiterreise nach Rom, wo er den Zweck der Gesandtschaft
und sein eignes Leben gefährden könne, denn in Italien gehe das Gerücht, Tycho
habe den Kaiser bestimmt, die Kapuziner aus Prag zu verjagen. Tycho hält das
für eine Erfindung des Engländers; sollte es aber wahr sein, schreibt er dem
Großherzog, daß dieser den Rat gegeben habe, so habe mau ihn über die Prager
Angelegenheit falsch berichtet; er bittet, der Großherzog möge seinen Sohn so lange
in Toslunci dulden, bis er italienisch gelernt habe, und möge ihn dann seinem
Schwager, dem Könige von Frankreich empfehlen, damit er sich an dessen Hofe
ein oder zwei Jahre aufhalten und dort das Französische erlernen könne. Man
sieht aus diesem kleinen Zwischenfalle wieder einmal, durch welchen Rattenkönig
von Ränken und konfessionellen Vorurteilen sich die Männer der Wissenschaft da¬
mals durchwinden mußten, aber auch mit welcher Dickfelligkeit fie gegen derlei An¬
fechtungen gewappnet waren.
Bis zuletzt haben wir die Erwähnung einer Abhandlung von Salvatore Bongi
verspart, weil sie ein interessantes Sitten- und Stimmungsbild ans großer Zeit
enthält, das wir in stark verkleinerten Maßstabe wiedergeben wollen. Sie ist
überschrieben: „Francesco da Meleto, ein Prophet aus den Zeiten Machiavellis."
Dieser Prophet war ganz vergessen; in der Litteratur heikler schreibseligen Zeit
findet sich keine Spur vou ihm. Da fiel Bongi ein Buch in die Hand, dessen
Titel ihn als Verfasser nennt; er forschte nach und fand Aufschluß zunächst in den
Stenerrollen der Republik Florenz. Im Jahre 1467 erschien Niccolo ti Pier«-'
da Meleto auf dem Steueramte, um fein Vermögen anzugeben und die Zahl der
Mäuler, die er zu ernähren hatte. Unter unteren erklärte er, daß er voll Caterina
ti Rossia (aus Nußland), einer jener armen morgenländischen Sklavinnen, schaltet
Bongi ein, die ihren Herren bei Tag und Nacht dienen mußten, zwei Kinder habe;
eines davon war der achtjährige Francesco. Zum Schluß gestand Niecol», daß ^
noch andre uneheliche Kinder habe, aber deren Mutter möge er nicht nennen, damit
ihre Ehre nicht Schaden leide. Es war ziemlich allgemein Sitte, solche Sklavinnen,
Wenn sie Kinder bekamen, frei zu lassen und die Kinder zu legitimiren oder besser
gesagt zu adoptiren, da die Legitimirnng nach unserni Sprachgebrauch die nach¬
trägliche Verehelichung der Eltern voraussetzt. Auch unser Niccolü folgte dieser
Sitte. In, Jahre 1470 gab er zu Protokoll: „Und obgemeldete meine beiden
Kinder, Francesco und Margherita, geboren von der obgemeldeten Caterina, wurden
legitimirt zur Zeit des Papstes Pius j'it.j, in aller Form, wie hervorgeht aus der
Bulle, die ich bei mir habe, und die mich 50 Goloflvren 1500 Mark, nach heutigen
Geldwerte 2500—3000 Mark! kostet, sodaß sie mich beerben können." Zehn
Jahre später war Mccolü tot, und seine ehelichen Söhne erklärten, daß sie ver¬
pflichtet seien, ihrem Bruder Francesco, weil er nicht bei ihnen wohne, zu seinem
Lebensunterhalt jährlich 20 Scheffel Brotkvrn, 13 Fässer Wein, 50 Pfund Fleisch
und 3 Scheffel Kastanien zu liefern.
Ans einer Schrift Francescos, dem Convivio, erfahren wir weiter, daß er
"is junger Mann, jedenfalls in Kaufmannsgeschäften, eine Zeit lang in Konstantinopel
gelebt hat, wo er einerseits die der Christenheit von den Türken drohende Gefahr
würdigen lernte und anderseits mit dein Judentums näher bekannt wurde. „Wahr¬
haftig, ich weiß es selbst nicht, wie es kommt, schreibt er, ich habe die Juden nie
lwhaßt, sondern sie immer geliebt und mit ihrem Elend Mitleid empfunden. Dn
Weißt ja ^das Büchlein ist in Gesprächsform abgefaßtj, daß ich, als wir zusammen
u> Konstantinopel weilten, mit dortigen Juden viel verkehrt habe, und zwar mit
Eichen, die als Gesetzkundige angesehen waren, und mit ihnen über ihren Glanben
>^u disputiren Pflegte. Und der Herr stand mir bei, sodaß mir ihre Gründe desto
schwächer schienen, je tiefer ich mich mit ihnen einließ, obwohl ich doch nur ein
lunger Mensch war und ihnen wenig oder nichts zu antworten wußte. Schließlich
gestand mir der, mit dem ich besonders vertraut geworden war, ein großer Rabbi,
Ü"nz im geheimen, im Jahre des Heils 1484 würden sich alle Juden bekehren,
Wenn bis dahin der Messias nicht erschienen wäre; er wußte das ans dem Pro¬
pheten Daniel; die Stelle wollte er mir zwar nicht verraten, aber, sagte er, alle
Lehrer des Gesetzes stimmen darin überein. Darüber freute ich mich und sagte:
werdet ihr ja binnen kurzem zur Taufe kommen! Denn damals schrieben
^'ir schon 1473."
Was noch weiter dazu beigetragen haben mag, den guten Francesco zum
Propheten zu machen, schließt Vougi aus deu Zeitverhältnissen, und wie sich das
gewöhnliche Prophetengeschick an ihm erfüllte, ergeben die Akten einer Synode,
-meh Savonarolas Tode hielt die von ihm hervorgerufene Erregung der Gemüter
w'es längere Zeit an, und während die ins Heidentum versunkenen Politiker ihre
Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Großen, auf deren geheime Absichten und Ränke
Achteten, harrte das Volk in seiner Einfalt gläubig und fröhlich auf die Erneuerung
Kirche, von der es die Beseligung aller Christen und für Florenz noch besonders
Frieden und die Wiederherstellung der republikanischen Freiheit hoffte. Die
Zeichen des nahen Heils, glaubte man serner, seien in der heiligen Schrift ruge-
^en, und ^ deuten vermöchte, der würde sie erkennen. Meletv
^! sich hin einen der vom heiligen Geiste begnadigten, die berufen seien, den
chleier zu lüften, und fand durch eine mystische Arithmetik, einen Schößling seiner
Mmännischen Rechenkunst, daß die allgemeine Wiedergeburt der Christenheit im
^cihre 151? Ms der Bekehrung der Juden ihren Anfang nehmen und 1536 mit
^ Untergänge des Muhamedanismus vollendet werden werde. Diese glückselige
^wdeckung beeilte er sich nun der Welt dnrch zwei Büchlein bekannt zu machen,
der Muttersprache abgefaßtes, das mehrerwähnte Convivio, und ein latei
nisches (Hinulrivium tsiuxorum. xroxllstatoruin), das er dem neugewählten Papste,
Leo X., persönlich zu überreichen gedachte. Der Propheteubernf kann sein Kanf-
mannsgeschäft nicht sonderlich gefördert haben, und so dürfen wir uns nicht wundern,
daß er arm blieb oder wurde. In der Widmung der zweiten Schrift an einen
Propst Zeno meint er, mit dem Büchlein habe sich ein zwiefaches Wunder begeben,
einmal, daß er es genau zur vorherbestimmten Zeit fertig gebracht habe, und zum
andern, daß er, ein armer alter Mann, habe nach Rom reisen und das Manuskript
dem Papste zu Füßen legen, sodann es sogar noch herausgeben können. Das
Pferd und das Geld zur Reise hatte ihm nämlich jener Propst geschenkt; in Rom
mußte er drei Monate warten, bis er Audienz bekam — Pietro Vembo beherbergte
ihn —, dann bezahlte sein Gönner Zeno wieder die Druckkosten.
In der Einleitung zum Convivio hatte Melcto gesagt, daß er nur seine Pflicht
erfülle, wenn er das ihm vom Herrn anvertraute Pfund nicht vergrabe, doch wisse
er recht wohl, daß ihm Trübsale nicht erspart bleiben würden. Und dieses, meint
Bongi, war das Einzige, worin er sich als einen Propheten erwies. Das Einzige?
Hat denn die Jahreszahl 1517 gar nichts zu bedeuten ? Bezeichnet sie nicht wirk¬
lich den Anfang einer Erneuerung der Kirche, sogar der römischen Kirche? Sagt
doch Bongi selbst, das große Ereignis scheine seine Schatten voraus und über die
Alpen geworfen und die Gemüter der Florentiner schon im Beginn des genannten
Jahres erregt zu haben. Sogar von den Kanzeln wurden die Prophezeiungen des
Melcto verkündigt. Da schritt die Hierarchie ein. Der Herzog Giulio de' Medici,
der nachmalige Papst Clemens VII., hielt eine Synode ab. Auf dieser erhob sich
einer der Väter, wahrscheinlich der Knmaldnlenser-General Paul Orlandini, und
ließ sich über die brennenden Fragen etwa folgendermaßen vernehmen! „Unsre
Grammatikaster bilden sich ein, sie könnten das Lateinische nicht lehren, wenn sie
nicht den Knaben gleich anfangs die Epigramme Martials und die Gedichte Catulls
erklären dürfen, als ob es nicht genug anständige unter den lateinischen Schrift¬
stellern gäbe. Die Philosophen flößen den Jünglingen bei der Erklärung des
Aristoteles allerlei gottlose Meinungen ein, wie die von der Sterblichkeit der Seele.
Und was soll ich erst von der Erklärung der heiligen Schrift sagen? Jeder hält
sich für berechtigt, sie nach seinem Kopfe zu deuten, zu zerpflücken, zu verdrehen,
und allerlei Neues und Unkatholisches daraus abzuleiten. Nach Beispielen brauchen
wir nicht weit zu suchen. Hier am Orte haben wir den Francesco Meleto, der,
obwohl ein ganz ungelehrter Mann, es doch wagt, aus der heiligen Schrift neue
und ganz unerhörte Behauptungen zu folgern. Daher, o ehrwürdige Väter, bitte
ich euch um der Eingeweide Jesu Christi Wille», daß ihr in Beziehung aus diese
Adelstände Fürsorge treffen wollet." Die Synode erließ demgemäß eine Reihe von
Beschlüssen! gegen das Lesen sittengefährlicher Schriftsteller in den Schulen (Lueretiu^
wird ausdrücklich genannt, muß also damals in der Schule viel gebraucht worden
sein), gegen widerchristliche philosophische Lehre», namentlich die von der Sterblich¬
keit der Seele (einige Jahre vorher hatte schon eine laterauensische Synode diese
Ketzerei zu verdammen für nötig erachtet), gegen solche, die behaupten, daß gewisse
Dinge, die bisher als sündhaft galten, es in Wirklichkeit nicht seien n. s. w., und
schließlich gegen Meleto. Diesem wird befohlen, binnen acht Tagen seine sämtlichen
gedruckten und ungedruckten Schriften entweder der erzbischöflichen Behörde oder
der Inquisition zum Verbrennen auszuliefern „bei Strafe der Exkommunikation
und von zehn Goldstoren," und binnen zwei Monaten ein Schreiben einzuteichen^
in dem er seine Irrtümer einzeln zu widerrufen und für seine Verwegenheit und
Anmaßung um Verzeihung zu bitten habe; alle Prediger, die Meletos Lehren noch
serner auf der Kanzel zu verkündigen sich unterstehen, werden mit der Exkommuni¬
kation bedroht. Über die erfolgte Unterwerfung Meletos giebt das bischöfliche
Archiv Aufschluß; wie streng das Urteil an seinen Schriften vollstreckt worden ist,
und daß sie wirklich verbrannt worden sind, soweit mau ihrer habhaft werden
konnte, läßt sich aus der geringen Zahl der jetzt noch vorhandenen Exemplare ent¬
nehmen. Am 17. März 1517 wurde der Synodalbeschlnß vom Papste bestätigt
und um 12. April veröffentlicht. Nach dieser Zeit wird der Mann nirgends mehr
erwähnt. Bongi hebt mit einiger Schadenfreude hervor, daß dem Professor Franz
Heinrich Reusch, der in seinem Werke über den Index doch alle nur aufzutreibenden
Nachrichten vou Bücherverbvte« zusammengetragen hat, jene florentinische Synode
entgangen sei: „so schwierig ist es selbst für den gelehrtesten Mann, alles zu kennen."
Es war ein guter Gedanke, dieses seit längerem vergriffene Hauptwerk Kiöbenh
"en aufzulegen. Als es vor mehr als einem halben Jahrhundert zum erstenmal
erschien, durfte es kaum in Preußen auf allgemeines Interesse zählen, geschweige
über dessen Grenzen hinaus. Brandenburgische Geschichten aus dem vierzehnten
und fünfzehnten Jnhrhuudert, Natur- und Kulturbilder aus des heiligen Römischen
Reiches Streusandbüchse — wer sollte sich darum kümmern! Heute liegen die Dinge
anders. Wen» auch hie und da uoch immer mit Widerstrebe», muß doch jeder
deutsche anerkennen, daß zu deu allerwichtigsten Abschnitten der deutschen Geschichte
liernde der hier geschilderte gehört, und daß aus seiner Kenntnis erst das Ver¬
ständnis für die Entwicklung der Geschichte des Reiches recht hervorgehen kann.
"ur zu lange haben die einzelnen Stämme die Erinnerung festgehalten, daß sie
einmal mächtiger waren als die Marken, diese unter den Söhnen Karls IV. fast
herrenlosen Landstriche, von denen jeder Nachbar sich Stücke aneignen konnte; und
^ in ziemlich nahe Zeit fristete sich die Hoffnung, die „Markgrafen von Branden¬
burg" wieder klein zu sehen. Jetzt begrüßt man die Größe und das Folgenreiche
des Wirkens jenes Burggrafen von Nürnberg, der sich sein Land und sein Volk
^se erobern und für den künftigen geschichtlichen Beruf erziehen mußte. Das Buch,
^ die Mark Brandenburg in der Zeit völliger Zerrissenheit und Verwahrlosung
^ zu den ersten Hohenzollern mit gründlichster Kenntnis der politischen und
Kulturgeschichte und der Örtlichkeiten schildert, wird daher ohne Zweifel zahlreiche
^ser finden und sie auch befriedigen, wenn sie sich einmal über das Fremdartige
der Darstellungsweise hinweggesetzt haben. Klöden selbst mußte erfahren, daß
le Vermischung von geschichtlicher Wahrheit und Dichtung auf verschiednen Seiten
^Stoß erregte; er verteidigt sich gegen das Mißverständnis, daß er einen historischen
^Man verfaßt habe, und der jetzige Herausgeber tritt ebenfalls und unter Be-
.^sung auf Thukydides, Livius und Tacitus für die Gattung der „kolorirten
^schichte" ein. Würde man es aber heutzutage billigen, wenn ein Historiker den
^ ^tsmännern und Feldherren Reden eigner Verfertigung in den Mund legen
U'ille? Die erfundnen Begebenheit^ und langen Gespräche, die Klöden benutzt,
'u dem Leser Bildungszustand, Glauben und Aberglauben, Sitten und Gebräuche,
des Reifens und Kriegswesens u. s. w. zu vernuschanlichen, gewähren dem,
^ unmer in Spannung gehalten sein will, zu wenig und stören andre. Das
«'>-vlvrit« würde auch, und ohne daß ein solches Zwitterding herausgekommen wäre,
^/'ehe worden sein, wenn der Verfasser die Ergebnisse seiner kulturgeschichtlichen
^bien an schicklicher Stelle eingeschaltet hätte. Die Auswüchse zu beschneiden
und doch nicht zugleich das reiche und anziehende Material darin zu beseitigen,
das hatte freilich an vielen Stellen eine völlige Umarbeitung erfordert; aber die
wird früher oder später doch nicht zu vermeiden sein, wenn das Buch den im
übrigen verdienten Eingang findet. Manche Provinzialismen und Nachlässigkeiten,
wie z. B.: „worin König Wenzel willigte," „das iiberhcmdgenommene Gepränge"
u. tgi. hätten getilgt werden sollen. Und weshalb Trencz statt Trentschin, da
doch sonst die Ortsnamen in heutiger Form gegeben werden?
Der erste Band führt bis zum Schluß des vierzehnten Jahrhunderts, das
thatenreiche Leben der berühmten und berüchtigten Stegreifritter Dietrich und Hans
von O-uitzow soll nun erst beginnen.
Der als Bevollmächtigter der provisorischen Negierung in Schleswig-Holstein,
als Ministerresident der Hansestädte, als Reichstagsabgeordneter von Altona bekannte
Verfasser giebt in dem vorliegenden Buche eine Fortsetzung seiner im Jahre 1836
in demselben Verlage erschienenen „Jugenderinnerungen eines Schleswig-Holsteiners."
Schon dieser erste Teil zeichnet sich durch eine warme Sprache, durch eine Fülle
seiner Bemerkungen und eine anschauliche fesselnde Darstellung aus, die den Leser
selbst über die Stellen fortträgt, wo der Verfasser sich zu behaglich über un-
wichtige persönliche Erlebnisse ins Weite ergeht. Was er z. B. über seine Uni¬
versitätszeit in Kiel, Berlin, Jena und Göttingen erzählt, hinterläßt zuweilen
deu Eindruck des Gespreizten. Aber über diese Klippe Pflegen die meisten
Jugenderinnerungen nicht hinwegzukommen. „Meine Jugendzeit, sagt der Ver¬
fasser, inhaltsreicher als manche andre, fällt in die Wende der Entwicklung einer
neuen Geisteswelt. Die alte Zeit der Romantik und des Idealismus ging zu
Ende. Realismus, wirtschaftliche und politische Interessen begannen in den Vorder¬
grund zu treten. Das elterliche Hans lehrte mich die erstern kennen. Frühzeitige
Berührung mit hervorragenden Männern scharfem meinen Blick für das Kommende."
Aus dem engen Kreise der Familienverhältnisse, deren Schilderung besonders den
Schleswig-Holsteiner interessiren wird, tritt der Verfasser in der Neuen Folge
seiner Erinnerungen vollständig heraus. Hier entrollt er vor unsern Blicken
ein buntes Bild von dem gesellschaftlichen Leben in Holstein und in Kopenhagen,
von den geheimen Bestrebungen und politischen Umtrieben und von seiner Praktischen
Thätigkeit im dänischen Staatsdienste, wo er Gelegenheit hatte, „den Gang der
Ereignisse genauer zu beobachten als andre und manches zu sehen, was hinter der
Szene vorging." Auch der Geschichtschreiber wird in Schleidens Erinnerungen
manche wertvollen Angaben finden.
Hand
dummer l«> der Grenzboten brachte einen Aufsatz aus Hessen: Die
Sozialdemokratie auf dem Lande und die evangelische Kirche.
Dieser Aufsatz enthält Gedanken, denen mau auch im preussischen
Vaterlande möglichste Verbreitung wünschen muß, Meil sie die An¬
wendung der gegen die Verbreitung der Sozialdemokratie vor-
»en Mittel zu fördern geeignet sind. Es ist zweifellos, daß die Ergebnisse
letzten NeichstagSwahl die Gefahren der Sozialdemokratie mehr als früher
^' den Vordergrund des politischen Lebens gestellt haben, und der Preuße sieht
^-'halb mit berechtigtem Stolz auf seinen ,U'orig, den deutsche» Kaiser, der
lchvn vor dem Ausfall der Wahl einen wichtigen Schritt zur Verbesserung des
mes der Arbeiterwelt durch Berufung einer europäischen Konferenz gethan
M, Ah^. h^- Ausgang der Kouferenzberatungen wird allein dem
^^Meisen der sozialdemokratischen Pest nicht zu steuern vermögen. Die
^'bessernng des Arbeiterloses wird auch in Zukunft noch ein großes Feld
^ Thätigkeit haben, folglich wird auch in Zukunft die Verführung des Arbeiter-
>antes noch offene Thüren und Herzen finden. Haben wir doch in Preußen
wu mV'le Wohlfahrtseinrichtungen, die unser Volk vor andern Nationen eins-
'^silet. Unsre Armenpflege, unser Schulwesen, unsre Verwaltuugsjustiz, unsre
^'gerliche Rechtspflege, das allgemeine Stimmrecht, alle die Einrichtungen,
^ ^le persönliche Fürsorge unsers Königs für das Volk zeigen, haben die
^'breitung der Sozialdemokratie nicht gehindert. Die Masse des Volkes ist
Vorspiegelungen der Nvlksredner nur zu leicht zugänglich, und deshalb ist
^ allein nötig, den Volksverfnhrern mehr als bisher entgegenzutreten.
wollen alle Errungenschaften auf den erwähnten Gebieten besagen, wenn
^^"dköpfigen Versammlungen vorgeredet wird von der schreckliche» Ver¬
kling der notwendigsten Lebensmittel, wenn den Arbeitern von redegewandten
Demagogen bewiesen wird, daß all ihr Elend durch Gesetze und Maßregeln
hervorgerufen werde, die die Unterschrift unsers Kaisers und Königs tragen?
Haben wir denn leine gesetzlichen Bestinunmigen, die diesem Verführungsnn-
wesen ein Ziel setzen können? 110 des deutschen Strafgesetzbuches sagt:
Wer öffentlich vor einer Menschenmenge, oder wer durch Verbreitung oder
öffentlichen Anschlag oder öffentliche Ausstellung vo» Schriften oder andern Dar¬
stellungen zum Ungehorsam gegen Gesetze oder rechtsgiltige Verordnungen oder gegen
die von der Obrigkeit innerhalb ihrer Zuständigkeit getroffenen Anordnungen auf¬
fordert, wird mit Geldstrafe bis zu 600 Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei
Jahren bestraft.
tztz 130 und 131 des Strafgesetzbuches lauten:
Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschleime Klasse»
der Bevölkerung zu GewalttlMigkeilen gegen einander öffentlich anreizt, wird >»it
Geldstrafe bis zu 600 Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft.
Wer erdichtete oder entstellte Thatsachen, wissend, daß sie erdichtet oder ent¬
stellt sind, öffentlich behauptet oder verbreitet, um dadurch Staatseinrichtungen oder
Anordnungen der Obrigkeit verächtlich zu machen, wird mit Geldstrafe bis zu
600 Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft.
Endlich bestimmt 360 Ur. 11 des Strafgesetzbuches:
Mit Geldstrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft wird bestraft, wer groben
Unfug verlibt.
Nimmt man hierzu § 1 des Gesetzes vom 11. März 1850, der lautet:
Die Ortspolizeibeamten sind verpflichtet, die ihnen von der vorgesetzten Staats¬
behörde in Polizciangelegenheiten erteilten Anweisungen zur Ausführung zu bringen-
Jeder, der sich in ihrem Verwaltungsbezirk aufhält oder daselbst ansässig ist, mB
ihren polizeiliche» Anordnungen Folge leiste«,
so sieht man, daß die Aufforderungen zum Ungehorsam, die Anreizung
gegen die Besitzenden, die durch offenbare Entstellung beliebte Herabziehnnl!
von Gesetzen und ihre Bezeichnung als staatsgefährliche, die arbeitende Klasse
drückende und auspressende Ausnahme- oder Steuergesetze, die Bezeichnung der¬
selben als Schandgesetze u. s. w. sehr wohl mit gesetzlichen Mitteln zu verfolge»
sind. Allerdings wird mau dabei eine ungleiche Behandlung der Vvlksrednel
vermeiden müssen, es wird z. V. ein hoch angesehener Deutschfreisinniger ebeNI^
gut zur Verantwortung gezogen werden müssen wie ein siizialdemolratisther
Arbeiter, wenn auch der erstere in seinen Gesellschaftskreisen eine einflußreich
Rolle spielt.'
Wenn es nun unter Nummer 3 des eingangs erwähnten Aufsatzes heißt
Man stärke die Verantwortlichkeit und Befugnis der Ortspolizei und weise de^
artige Übertretungen nicht mehr an die Gerichte, so möchten wir statt desf^
vorschlagen: Man kontrolire die Thätigkeit der Ortspolizeibehvrden, auch so ^
sie sich auf das Vereins- oder Versammluugsrecht, besonders auf die Ausführung
^r Verordnung vom 11. März 1850 und der erwähnten Bestiiumungen des
Strafgesetzbuches bezieht, revidire sie durch den Regierungspräsidenten oder
erfahrne Regierungsräte an der Hand der betreffenden Vereinsakten und Ver-
saminlungsberichte an Ort und Stelle.
Bei dein voraussichtlichen Ablauf der Giltigkeit des Sozialistengesetzes
^lrd ohnehin eine allgemeine Kontrole der Ortspolizeibehörden durch Landrat
und Regierung zum Zweck einer gleichmäßigen nud kräftigen Handhabung der
^rtspolizei nicht mehr zu vermeiden sein. In Preußen sind solche örtliche
Visitationen längst vorgeschrieben. Eine ministerielle Verfügung vom 16. Februar
lautet, wie folgt:
In einigen Regierungsbezirken besteht schou die Anordnung, daß von Zeit zu
i^le die Lokalpolizeibehorden einer regelmäßigen Visitation unterworfen werden, so-
^ß alle Gegenstände der Polizei, wie ich sie zur Verdeutlichung meiner Absicht
der Anlage u, habe zusammenstellen lassen, dabei ins Auge gefaßt werden und
"ber jede solchergestalt visitirte Behörde der Kommissarius ein kurzes Protokoll,
Elches bestimmt die Resultate der Lvkalrevisiou und die von ihm getroffenen
'Uordnuugen enthalten muß, aufnimmt und zum Vortrag in der betreffenden
^vleilnng der Regierung befördert. Es ergiebt sich von selbst, daß dergleichen
^sitatiouen nicht jeden Orts alljährlich vorgenommen werden könne», sondern es
^uß ein gewisser tnrnnL festgestellt und nur im allgemeinen darauf gesehen werden,
^» darnach jede solche Behörde in je drei, vier oder fünf Jahren wieder um die
,^>he kommt. Die königliche Regierung möge darauf Bedacht nehmen, eine cihn-
Einrichtung, insoferir es noch nicht geschehen, anch in ihrem Departement zu
^sse», u>obei ihr jedoch überlasten bleibt, auch andre polizeiliche Gegenstände an' ^ und Stelle revidiren zu lassen. Die Resultate der polizeiliche» Lokalrevisionen,
'"mit i,,^ laufenden Jahre der Anfang zu machen ist, haben die Herren Regierungs-
^^sideuteu in ihren jährlichen Verwaltnugsberichteu anzuzeigen und zugleich darin
'e O^^ ^, benennen, wo dergleichen Revisionen im Laufe des Jahres stattgefunden
Fernerbestimmt eine ministerielle Verfügung vom 22. April 1831:
^ ^Durch die vo« der königlichen Regierung nach dein Berichte vom 6. d. Mes.
^ Betreff der Visitationen der Lokalpolizeibehörden getroffene« Anordnungen wird
^^^'ludeutuugeu der Verfügung vom 16. d. I. uicht vollständig geuiigt. Es ist
."esteils darin die vorgeschriebene Lokalrevisiou uicht, wie die königliche Negierunglznuehmen scheint, auf die städtischen Polizeibehörden beschränkt, andernteils aber
sciri ^neswegs meine Absicht, daß nur geueraliter die Laudräte mit diesem Ge¬
be, ^ beauftragen, vielmehr die, daß solches von dem Polizeidepartementsrat
d ieiner Bereisung oder, wenn derselbe darau behindert wird, von einem andern
soll ^'"^"^'reuden Mitgliede der königlichen Regierung selbst ausgeführt werden
P..'. nur zu der Überzeugung zu gelangen, daß die Landräte in Absicht auf die
^'sUzeive
) die Sache in dieser Art in Ausführung zu bringen.^Verwaltung ihrer Obliegenheit genügen. Die königliche Regierung hat daher
d'
^U'h möge noch eine ministerielle Verfügung vom 21. Mai 1831 erwähnt
Diese lautet:werden
Aus dem Berichte der königlichen Regierung vom 21, v. Mes., die Revisionen
der Ortspolizeibchördeu betreffend, geht hervor, daß dieselbe die Verfügung vom
16. Februar d. I. nicht ganz richtig verstanden, indem sie die Revision der Ortspolizei-
verwaltuug bei den Magistraten den Landräten übertragen hat. Ich eröffne daher
der königlichen Regierung, daß die Negierungsinstruktiou vom 23. Oktober 1817, 42
jedem Departementsrate es zur Pflicht macht, jährlich einen Teil seines Departements
zu bereisen und die Dienstführung der Unterbehörden seines Departements an Ort
und Stelle zu revidiren. Diese Obliegenheit den Landräten zu übertragen, kaun
dem Polizeidepnrlemeutsrale umso weniger nachgelassen werden, als es seine Pflicht
ist, sich bei seinen Departementsreisen zugleich die Überzeugung zu verschaffen, daß
auch die Landräte in Bezug auf die Pvlizeiverwaltuug ihrer Obliegenheit genügen-
Diese hier vorgeschriebenen, aber feit geraumer Zeit unterbliebenen Revi¬
sionen der Ortspolizeibehörden würden auch feststellen, wie dem zweiten
Punkte des eingangs erwähnten Aufsatzes zu genügen wäre. Es wird dort
verlangt, daß endlich die Wünsche des Vereins (oder der Vereine) gegen die
Trunksucht zum Gesetz erhoben und die Zahl der Kneipen beschränkt werden
möge. Zu der gewiß nötigen Verminderung der Schankwirtschaften, insbesondre
der Branntweinwirtschafteu, bedarf es in Preußen keines neuen Gesetzes-
§ 33, 2-r der deutschen Gewerbeordnung lautet:
Die Landesregierungen sind befugt, außerdem zu bestimmen, daß die Erlaubnis
zum Ausschänken von Branntwein oder zum Kleinhandel mit Branntwein oder
Spiritus allgemein von dem Nachweis des vorhandenen Bedürfnisses abhängig
sein solle.
Die preußische Regierung hat nun diese Bestimmung getroffen, dennoch
und trotz des mangelnden Bedürfnisses mehren sich die Vranntweinschänken von
Tag zu Tag, weil die die Erlaubnis erteilenden Behörden (Kreis- und Stadt¬
ausschuß) nicht den Nachweis des vorhandenen Bedürfnisses verlangen, sondern
meist ein behauptetes Bedürfnis als ein nachgewiesenes annehmen, und dann
weil die Ortspolizeibehörden, die vor der Erlaubniserteilung gehört werden
müssen, keinen Widerspruch dagegen erheben, oder ihn nicht hinreichend be¬
gründen, oder aber die Berufung an den Bezirksausschuß zu erheben unterlassen'
Es ist also erforderlich, die Kreis- und Stadtausschüsse strenger wegen der Er¬
laubniserteilung zu beaufsichtigen und die Polizeibehörden anzuweisen, in allen
Fällen Widerspruch gegen die Erlaubnis zu erheben, wenn nicht im Einzelfal^
von der Aufsichtsbehörde davon abgesehen wird. Ferner ist es nötig, den Begriff
des Bedürfnisses in dieser Frage festzustellen und den Polizeibehörden A^r
Beachtung mitzuteilen. Das Bedürfnis kann doch nur da als vorhanden an¬
genommen werden, wo die bestehenden Branntweinwirtschaften den Ansprüche
des Publikums uicht zu genügen imstande sind, weil die Lokale zu klein sin^'
die Betriebsmittel nicht ausreichen oder dergleichen. Da, wo allen Ansprüchen
des Publikums genügt werden kann, und dies wird fast stets der Fall sein'
kaun von einem Bedürfnis zur Neuerrichtung von Branntweinwirtschaften
keine Rede sein, und in diesen Fällen muß die Erlaubnis unbedingt versagt
werden. Hier wie in andern Fallen bedarf es keines neuen Gesetzes; es kommt
nur auf die Ausführung der bestehenden Bestimmungen an, und diese muß
kontrolirt werden.
Ganz ähnlich verhält es sich mit den Bestimmungen über die Sonntags¬
ruhe. Diese sind in den meiste» Regierungsbezirken durch die Regierungen
oder die Regierungspräsidenten in Form von Pvlizeiverordnungen erlassen,
aber leider werden sie nicht ausgeführt.
Wenn mau die Oder abwärts von Stettin befährt, sieht man in dem
Dorfe Züllchow die Mühlen auch nu Sonn- und Feiertagen dampfen und
arbeiten, obwohl die betreffende Negierungspolizeiverordnung die Arbeiten
in Fabriken und alle öffentlich auffälligen Arbeiten nnr in Notfällen gestattet. Ob
hier ein Notfall vorliegt, möge mau darnach beurteilen, daß z. V. die Walz¬
mühle in Züllchow den Aktionären im vergangenen Jahre eine Dividende von
dreißig Prozent eingebracht hat, und daß die Arbeit an Sonn- und Feiertagen
nicht ausnahmsweise, sondern jahrein jahraus betrieben wird. Wenn der
Schmied die Sonntagsruhe nicht stören darf, wenn der Frachtfuhrmann die
ihm anvertrauten Güter nicht auf- und abladen darf, wenn der Landmann an
Sonn- und Feiertagen seine Arbeit ruhen lassen soll, weshalb wird diesen
Mühlenbesitzern ein Recht gewährt, das offenbar deu bestehenden Bestimmungen
widerspricht und die Arbeiter zu Vergleichen veranlaßt, die unmöglich mit Zu¬
friedenheit enden können.
Auch zu dem sechsten Punkte des erwähnten Aufsatzes möchten wir eine Be¬
merkung machen. Es ist ganz richtig, daß der erste Grundsatz der Sozial¬
demokratie ist, die Religion zu untergraben, den Glauben an Gott als etwas
überflüssiges hinzustellen, das das Wohl der Menschheit störe, um dann auch
die weltliche Autorität zu beseitigen. Die sozialistischen Blätter „Freiheit",
i'Sozialdemokrat" u. s. w. predigen dergleichen in jeder Nummer. Ebenso richtig
^ es, daß das Beispiel der Städter sehr auf die Landbewohner einwirkt, daß
die in den Städten herrschende Unsittlichkeit und Religionslosigkeit sich den
^andleuteu, die in den Städten dienen, sich ihrer Geschäfte halber aufhalten u. s. w.,
mitteilt. Da scheint uns denn die Frage berechtigt: Thun hier wohl die Diener
der Kirche ihre Schuldigkeit, suchen sie durch treue Seelsorge zu ändern und
bessern?
So viel uns bekannt ist, sind Pfarrer, die nicht bloß in den SonntagS-
predigtm und andern vorgeschriebenen Amtshandlungen, sondern insbesondre
Ul den Hausbesuchen ihrer Gemeinde zu wirken suchen, in deu Städten des
Ostens der preußischen Monarchie eine Seltenheit. Pfarrer mit bedeutenden
^ehalten, ja mit Vermögen benutzeu ihre Zeit teilweise, um in Privatschulen
Legen Entgelt Unterricht zu erteilen; sie wenden also die Zeit, die der Gemeinde-
^elsorge gehören sollte, anderweitig an. Eine oft gehörte Klage der Kirche
ist es, daß den Pfarrern der Religionsunterricht in den Elementarschulen ge¬
nommen sei; bekanntlich steht aber den Pfarrern dus Recht zu, dein Religions¬
unterricht in den Elementarschulen beizuwohnen und bei Mißständen auf eine
Änderung hinzuwirken. Die Pfarrer machen aber von dieser Befugnis einen
äußerst bescheidenen Gebrauch. Wir stimmen ans vollem Herzen der Ansicht
bei, das; die evangelische Kirche zum Kampfe gegen die Sozialdemokratie be¬
rufen sei, aber wir mochten hinzufügen: Auf, ihr Pfarrer, ihr kirchlichen
Behörden, thut, was euers Amts ist!
Ein überaus wichtiges Mittel zur Bekämpfung der Sozialdemokratie ist
ein tüchtiges Elementarschulwesen. Wie steht es damit in Preuße»? Werden
die schulpflichtigen Kinder wirklich vom sechsten bis zum vierzehnten Jahre in
den Schulen gesehen oder bis zur Erlangung einer gewissen Reife, über die
sich der Lvkalvorsteher zu erklären hat? Werden die säumigen Eltern bestraft?
Die Bestimmungen darüber sind überall vorhanden, aber sie werden nicht
überall ausgeführt. Aus den Jahren 1877, 1878 n. s. w. ist uns bekannt,
daß in Danzig mehr als sechshundert schulpflichtige Kinder überhaupt keine
Schulen besuchten; in Stettin hat die Volkszählung von 1885 ähnliche Er¬
gebnisse gezeigt. Der Rektor einer größeren Elementarschule in der Nähe
einer Prvvinzialhauptstadt sagte auf Befragen, er mache von den Schnl-
versäumnissen keine Anzeige, wenn sie nicht zehn Tage des Monats betrügen, aber
auch dann, wenn die Versäumnisse zehn Tage überstiegen, würde eine Bestrafung
nicht verfügt, weil die Leute arm seien, Haftstrafe verbüßen müßten und die
Gemeinde noch die Kosten dafür zu entrichten hätte. Ist much eine solche schlaffe
Praxis nur im Osten und in wenigen Distrikten des Westens der Monarchie
zu finden, so scheint es doch hohe Zeit, endlich mit der allgemeinen Schulpflicht
Ernst zu machen; die Staatsbehörde ist dazu berufen und wird sich ihrer
Aufgabe ohne Nachteil für das Gemeinwohl nicht länger entziehen können-
Hiermit würde der fünfte Punkt des erwähnten Aufsatzes seine Erledigung
finden. Wir fügen noch hinzu, daß in Preußen jeder Elementarlehrer das
Recht hat, deu Schülern eine Züchtigung, die sich allerdings nicht zur Mi߬
handlung versteigen darf, angedeihen zu lassen. Auch hier ist das Recht da,
es braucht nur benutzt zu werden.
Die auf dem Gebiete der Schule mangelnde Staatsnnfsicht fehlt aber
mich auf andern Gebieten der Verwaltung, z. B. auf dem der Armenpflege.
Das preußische Armengesetz vom 8. März 1871 bestimmt in H 51:
Jedem hilfsbedürftigen Deutschen ist von dem zu seiner Unterstützung ver¬
pflichteten Armenverbcmde Obdach, der unentbehrliche Lebensunterhalt, die erforder¬
liche Pflege in Krankheitsfällen und im Falle seines Ablebens ein angemessenes
Begräbnis zu gewähren.
So klar und deutlich diese Vorschrift ist, so vielfach wird sie umgangcn-
Viele Armenverwaltungen großer Gemeinden stellen den geradezu gesetzwidrigen
Grundsatz auf: wir wollen den Armen nnr eine Beihilfe gewahren. Da er¬
hält z, B, eine Witwe mit drei Kindern nnter vierzehn Jahren monatlich nenn
Mark, also täglich 30 Pfennige. Kann sie davon Obdach und den unentbehr¬
lichen Lebensunterhalt bestreiten? Unmöglich. Sie geht früh an sechs oder
sieben Uhr des Erwerbes halber aus ihrer Wohnung, läßt die Kinder allein,
die sich ihr Frühstück selbst zu bereiten haben, sich zum Schulbesuch rüsten
sollen n. s. w. Oft ziehen es diese vor, überhaupt nicht zur Schule zu gehen,
zu Hause zu bleiben und Besuch von Nachbarskindern, denen es ebenso geht,
zu empfangen. Die Folgen solcher fehlenden Aufsicht durch Eltern oder ältere
Geschwister sieht die Kriminalpolizei, die auf Grund vou 8 176, 3 des Straf¬
gesetzbuches nicht selten gegen beide schuldige Teile Untersuchung einzuleiten hat.
Eine andre Folge der unzureichenden Armenunterstützung hat die Kriminalpolizei
bei den Hehlerinnen, Taschendiebinnen oder Kupplerinnen zu beobachten. Wir
sind überzeugt, daß, wenn die Aufsichtsbehörden in großen Städten jährlich nur
einmal bei einigen der Armenpflege anheimgefallenen Familien in deren Woh¬
nungen Revision veranstalten wollten, dieses von sehr segensreicher Wirkung sein
und sich als wirksames Mittel gegen die Sozialdemokratie erweisen würde.
In einem Vortrage des Pfarrers von S. aus Berlin, in der Provinz gehalten,
hörten wir zu unserm Erstaunen, daß sich in Berlin (wir glauben nicht zu
irren) 6000 Wohnungen befänden, die weder Licht noch Luft haben. Wes¬
halb, fragen wir, schreitet die Behörde uicht ein, weshalb läßt sie nicht
dergleichen unbewohnbare Wohnungen schließen? Sollten wir durch das
Gehenlassen zu den schnudervollen Wohnungsverhältnissen Londons kommen?
Hier vor allein gilt es Hand ans Werk zu legen. Auch die Wohnuugs-
srage ist in den Grenzboten vor kurzem behandelt worden, und es kann
nicht oft genug auf diese Not hingewiesen werden. Was will es sagen, daß
nach einem Vortrage von Professor Gneist in Berlin ein Kapital von 500000
Mark für einige hundert Wohnungen zusammengebracht worden ist, oder daß
muni mich einem in Kassel gehaltenen Vortrage des Gerichtsassessors Aschrott
«nie Vermehrung der gesunden Wohnungen durch Privatgesellschaften anzu¬
streben „fucht," und ein Verbot gegen gesundheitswidrige Benutzung der
Wohnungen zu erwirken sich bemüht. Ein solches Verbot besitzt Preußen
i» ^ 10, Teil II, Titel 17 des 1794 erlassenen Allgemeinen Landrechts,
und das Suchen nach Privatbaugesellschafteu scheint bis jetzt ganz ergebnis¬
los gewesen zu sei». Anderseits war ja selbst an jeuer Stelle zugegeben,
d"ß die Beschaffung besserer Wohnungen das Zuströmen nach der Reichs-
hauptstadt verdoppeln würde. Hier ist die Konsequenz des Freizügigkeits-
gesetzes vom 1. November 1867 zu ziehen. Dieses vou den Liberalen so heiß
^sehnte und so hoch geschätzte Gesetz verhindert eben Gemeinden oder Ball¬
gesellschaften, den kleinen Leuten gesunde Wohnungen zu schaffen. Es kann
^ nnr die Frage entstehen: Soll das Freizngigkeitsgesetz in seinem jetzigen
Umfange bestehen bleiben oder nicht? Wird diese Frage bejaht, dann müssen
sich die Gemeinden entschließen, wenigstens für die Armen gesunde Wohnungen
zu bauen, und wenn sie das uicht freiwillig thun, müssen sie dazu von der
Aufsichtsbehörde auf Grund des erwähnten Gesetzes von 1871 gezwungen
werden.
Der Herd der Sozialdemokratie sind die großen Städte; diese erfreuen sich
einer solchen Unabhängigkeit in der Verwaltung, daß sie kleine Republiken bilden,
und zwar nach den Städteordnungen mit dem Dreiklassenwahlsystem, aristo¬
kratische Republiken, An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Das Iiu«8er
iiUor lange für die Städte und die großen Gemeinden und ihre Behörde«
gerade sowenig wie für den Einzelnen. Der Hvhenzollernstaat ist groß ge¬
worden dnrch seine großen Herrscher, diese haben ihren Geist auf den Staat
übertragen und den Staat geistig durchdrungen. Diese preußische Theorie
muß auf die Gegenwart übertragen werden, die Aufsicht der obersten Exekutive
muß der Willkür der Lokalbeamten den nötigen Riegel vorschieben. Dies
kaun nur dnrch Revisionen tüchtiger von der Zentralstelle ausgesendeter Be¬
amten bewirkt werden, nur das so gewonnene Material würde an der Zentral¬
stelle Maßregeln möglich machen, die wieder ein starkes, einheitliches Regiment
herbeiführen.
s war im Herbste des Jahres 175«, als in Braunschweig ein
aus Baiern stammender ehemaliger Frnnziskanermönch auftauchte,
der zur evangelischen Kirche übergetreten war und nnn im
Herzogtum Vraunschweig-Wolfenbüttel sein Glück zu finde» oder
doch seinen Lebensunterhalt zu gewinnen hoffte. In jener Zeit,
wo die Freizügigkeit uoch nicht erfunden war, kam dergleichen noch uicht so
häufig vor wie jetzt, doch darf man nicht vergessen, daß das vorige Jahr¬
hundert — man denke mir um Cagliostro, an den Grafen von Se. Germain u»d
an den berüchtigten Casanova, der sich auch eine Zeit laug in Wolfenbüttel
aufgehalten hat — das goldne Zeitalter der Abenteurer war, die an den
deutschen Höfen, vorzugsweise an den kleinern, ihr Glück zu machen suchte»
und oft genug gemacht haben. Auch Religionswechsel, vom Protestantismus
Min Katholizismus wie umgekehrt, waren an der Tagesordnung und
dienten nicht selten dazu, den betreffenden Personen den Weg zu eiuer ihren
Neigungen oder Wünschen entsprechenden Lebensstellung zu ebnen. Ich erinnere
"ur an den Karthäuser Johann Georg Stumpf, der im Jahre 1781 aus seinem
Kloster in Erfurt entwich, wo ihn ein Jahr vorher Leisewitz, der Dichter des
"Julius von Tarent," besucht hatte, sich eine Zeit lang unter Basedows
Schutz in Dessau aufhielt und später Professor der Staatswissenschaften, um-
^ngs in Jena und dann in Greifswald, wurde. Vor ihm schon hatte der
Pater Franz Ignaz Rothfifcher, von den Jesuiten erzogen und dann im Kloster
Noth am Jnn Benediktinermvnch, durch das Studium der Wolfischen Philosophie
"er katholischen Kirche entfremdet, seinen Austritt aus ihr bewirkt. Im Sommer
^51 l^s. ^- sich, von dem bekannten Hallischen Theologen Seinler vorbereitet,
Leipzig in die Gemeinschaft der evangelischen Kirche aufnehmen, erhielt 1753
^»e» Ruf an die Universität zu Helmstedt, starb aber bereits zwei Jahre
darauf.
Derselbe Zug der Zeit — wir kennen wenigstens keine andern Gründe —
lnhalt auch den Mann, über den hier berichtet werden soll, zu seinem Religions-
^esset bewogen und dann weiter zu dem Versuche veranlaßt zu haben, an derselben
^elle ein Unterkommen zu suchen, wo bereits Rothfifcher ein solches gefunden
^tre. Karl Johann Anton von Cichin war wie dieser und wie Stumpf
^'n Geburt ein Baier: er stammte aus München, wo er im Jahre 1723 ge-
'oren war. Mit Nothfischer war er persönlich bekannt, und sein Beispiel wie
Einfluß haben ihn, wie er selbst bekennt, zu seinem Austritt aus der alten
'Arche bestimmt und ihm den Gedanken eingegeben, gleich jenem bei dein wohl¬
wollenden und gutmütigen Herzog Karl von Vraunschweig Schutz und wo¬
möglich eine Versorgung zu suchen. „Die väterliche Vorsorg — schreibt er an
^" Herzog — als das Zeugniß eiuer wahren Menschenliebe, so Ew. Durch-
"^de mi meinem seeligen Vorgänger, dein Professor Rothfifcher bewiesen,
Machet, daß auch ich mit höchstem Vertrauen und Zuversicht in demüthigster
.^^chänigkeit vor Dero Gnadenthron mich wcrsfe, und als ein von seinen
nicht uur verlassener, sondern der heiligen evangelischen Religion wegen
' chdri'Messe verfolgter ?ro»0l/w8 um Gnade und Barmherzigkeit Ew. Durch¬
fuhr fußfällig auflese."
liber das frühere Leben Cladius ist wenig Zuverlässiges bekannt geworden.
^ ^' '»üssen uns im wesentlichen mit dem begnügen, was er selbst darüber
^^'h turn mau sich eiues gewissen Mißtrauens gegen diese Angaben
mit^ ^'^dren. Er liebte es, über seine Herkunft und sein früheres Leben
^ geheimnisvolle, auf die Leichtgläubigkeit der Leute berechnete Andeutungen
^^"chen, die einigermaßen geeignet sind, den Verdacht der Schwindelei zu
su/^' ^ ^ ^'"^ ^ geäußert, daß kaiserliches Blut in seinen Adern
^' und angedeutet, daß kein Geringerer sein Vater sei als der Kurfürst
Karl Albrecht von Baiern, der spätere Kaiser Karl VII. Freilich dem Herzog
wagte er mit dergleichen Behauptungen nicht unter die Angen zu kommen: ihm
gegenüber tritt er ein gutes Teil bescheidener, wenn auch immer noch mit einen:
starken Anfluge von Großmäuligkeit auf. In seinem ersten an „Serenissimus"
gerichteten Schreiben (pr. den 21. September 1756) stellt er sich mit folgenden
Worten vor: „Durchlauchtigster Herzog, es wirft sich Ew. Durchlaucht mit
tiefster Unterthünigkeit zu Füßen Carl Johann Anton von Cichin, welchen die
günstige Natur dein Geschlechte nach uuter die Venetianischen I'!tu'loin)Z, der
Geburt nach aber unter die Chnrbayerischen Edelleute gesetzet hat. Ich hatte
die hohe Gnade, von dem durchlauchtigsten Churfürsten aus Bayern, nachmals
Römischem Kayser Carl Albrecht dem Siebenten, aus dem Neinignngsbad der
heiligen Taufe gehoben zu werden, an dessen Hofe ich auch mit denen durch¬
lauchtigsten Prinzen und Prineessinnen cinferzogen worden und endlichen bey
der Princessin Maria Antonia, dermahligen Churprineessin in Sachsen, nach¬
mals aber bey Sr. Durchlaucht dem Churfürsten selbsten die Stelle eines
Cammer-Pagen zu vertretten das Glück hatte, allein gewisse fatale Umstände,
die mich meines Vatters Willen widerstehen machten, und die vielen
Schmcichelungen der Mönche brachten es so weit, daß ich mich »nun 174t)
zur Verwunderung des ganzen Bayerischen Hofes in dein 17. Jahre meines
Alters resolvirte den Hof und die mir von dem Durchlauchtigstem Churfürsten
in der Taufe eingebundene Fähndrichsstelle zu verlassen, und den strengt
Orden deren ^"moisesrner-Mönche anzunehmen. Und war ich in selbem mich
Art der Mönche nicht minder glücklich, indem verschiedene Ehrenstellen, als
eines Priesters, Beichtvatters, I^övtoris oder l'roiesLoris MIo8«x1nil.s und
öffentlichen Predigers begleitete, ja wenn ich nicht dem Triebe meines Gewissens
gefolgt hätte, anjetzo ohne Zweifel würklicher (IN-irclmn wäre. Allein jener
Große Gott, welcher mich eben darum vom Hofe in das Closter berufen, bannt
Er mich von da aus zum Erkenntniß seines heiligen Wortes bringen könnte,
verordnete, daß ich als I^oetor vlliloMnbmu in Regensburg durch Gelegenheit
einer vitiMtMoa mit dem berühmten I>rokeWorv ?atro (Z-regM'lo RoiMsoM
nicht nur bekannt, sondern nach der Zeit auch so vertrauet wurde, daß er
selber endlich seinen würklich gefaßten Vorsatz,, zur KvanMlischen Kirche über¬
zutreten, offenbahrete, und durch beygebrachte Bücher und eigene Unterweisung
den ersten Grundstein zu meiner Bekehrung in meinem Herzen legte. Ich en^
Sprunge aus dem Closter -urno 1750 den 23 April und hatte 1000 Gefahre"
auszustehen, ehe ich vou Neukirchen bis Negeuspurg und im Mönchs-H^^
gekommen bin, doch schickte mir der Gütigste Gott mildreiche Vatterhilfe dure)
den Chursächsischen Gesandten Herrn von ?onilig.ii welcher mich aus de'"
Kloster übernommen und nach Wittenberg und Leipzig a,ä 8tu«Zig. überschick^
hatte. Da ich aber von meinem Vatter (welcher sich in Dresden ein
Zuk-um all die Universität nie x^demi» dr^ollii» öxtrg,elLn<Il ansgewürcket hatte)
von Leipzig vertrieben worden, habe meine Zuflucht durch einen obschon sehr
beschwerlichen Wege nach ünumMwvei.; genonune» lind ergehet mein unter-
thänigstes Bitten nud Auflesen an Ew. Durchlaucht, nieinen Gnädigsten Fürsten
und H^rü, mich dnrch Der» Hohe Gnade in meinem Elende zu schützen und
auf was immer beliebige Art als einen des Heiligen Lo-mgolii wegen arm ge¬
wordenen ^rosölMn zur Iwunsten. guLwnwtivn zu verhelfen. Ich lege Ew.
Durchlaucht Glück und Leben zu Füßen, im zuversichtlichen Vertrauen Dero
Hohen Gnaden-Befehl erwartend, wie und ans was weis ich mich geschickt
'Nachen sollte, ein würdiger Diener Ew. Durchlaucht zu sein." Gezeichnet ist
das Schreiben: „Ew. Durchlaucht unterthänigster Kolav L-irl ^otmrm ^.rckon
^«n Osoliin aus München in L^om. xroselMs."
Er wird wohl angenommen haben, daß der keineswegs als knauserig be¬
kannte Herzog Karl sich an Freigebigkeit nicht von dem Herrn von Ponikan
werde übertreffen lassen. Aber er sollte die Erfahrung machen, daß man in
^wnnschweig wohl geneigt war, ihm gegen seine wirklichen oder eingebildeten
Verfolger Schutz zu gewähren, aber nicht, seinen Anträgen auf eine sofortige
Allstellung zu entsprechen. Der Herzog meinte genng zu thun, wenn er ihm
^ Möglichkeit zu seiner weitern wissenschaftlichen Ausbildung eröffnete. Er
dekretitte, „daß. wenn der Petent sich zur Fortsetzung seiner Studien auf die
Universität Helmstedt begeben werde, ihm daselbst der Freitisch gegeben und
5U seiner weitern Unterhaltung quartaliter 10 Thaler aus Fürstlicher Svatul
Reichel werden sollten." Aber diese fürstliche Großmut fand bei den: Senate
^ Helmstedter Universität keineswegs freudige Zustimmung. Es bedürfte wegen
^ Freitisches einer abermaligen herzoglichen Weisung an den Rector und die
Professoren der Universität, die in ihrem Berichte über diese Angelegenheit nicht
^'erwähnt ließen, „daß der ehergenannte ?rv8ö1^t., obgleich «ör. Herzoglichen
Durchlaucht Höchste Anweisung vom 6 Octobris den 14 ^usösin in Helm-
^'»t eingetroffen sei, sich doch allererst am 5 Novembris >also vier Wochen
'"us Erlaß der herzoglichen Verordnung zur Erlangung des Genusses ge-
"'^ldee habe," und zugleich hinzuzufügen sich nicht enthalten konnten, „daß
^ser 1'r0«ob,t, des Benefieii sich würdig machen möge, da andere ihnen de¬
hnte fleißige junge Leute als vxi)oetg.ut.en bei der nachher sich ergebenden
^e^nx .^Gehen büßten." Man sieht, der akademische Senat hatte kein
^ !des Vertrauen zu der Persönlichkeit, zu dein Fleiße und dem Wissensdrangs
^' fremden Stipendiaten. Am 5. November 1756 wurde dann Cichin nach
."Sweis des Helmstedter Universitütsalbnms unter die Zahl der dortigen
^mische» Bürger aufgenommen.
. In ivelcher Weise er dort seinen Studien obgelegen hat, darüber ist nichts
"und. Anderthalb Jahre lang erfahren wir überhaupt so gut wie gar nichts
>nit^ ^ vermuten, daß er auch in dieser Zeit den Herzog
Bitten und Gesuchen um eine Anstellung bestürmt haben wird, die
schließlich nicht ohne Erfolg blieben. Denn am 4. Februar 1755? wurde er
nach einer brieflichen Äußerung von ihm selbst zum Secretarius an der
herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel ernannt, und zö'ar — abgesehen von
freier Wohnung und 12 Klaftern Buchenbrennholz, zu 72 Thaler gerechnet —
mit einem Gehalte vou 300 Thalern, der sich später auf 500 Thaler erhöhte.
Sein Amtsvorgänger I. Urban Neinerding war am 15. April 1755 gestorben,
und der vou ihm bezogene Gehalt (207 Thaler jährlich) war während der fast
dreijährigen Erledigung seiner Stelle für die Vermehrung der Bibliothek ver¬
wandt worden.
Die obere Verwaltung der Bibliothek lag beim Amtsantritte Cladius in
den Händen des damaligen Vizekanzlers Georg Septimns Andreas v. Praun,
eines Mannes von ausgebreiteter Gelehrsamkeit, unermüdlicher Arbeitskraft,
großer Berufstreue und fleckenlosen Charakter. Neben ihm war seit 1753 der
frühere Sekretär an der königlich - großbritannischen Gesandtschaft in Wien,
Brandau Johann Hugo, seit Ende 1752 herzoglicher Rat, mit der besonder»
Leitung der Geschäfte der herzoglichen Bibliothek betraut. Es läßt sich an-
nehmen, daß diese Männer, von denen der zweite sich mehr zum. praktische»
Rechtsgelehrten als zum Bibliothekar ausgebildet hatte und überdies bald als
Klosterrat vielfach zu andern, dem gelehrten Bücherwesen ganz fern liegenden
Geschäften verwendet wurde, die Eigenschaften Cladius, seine Begabung und
sein Wissen, nicht allzu gering angeschlagen haben werden, da ihm sonst
schwerlich die bei den obwaltenden Verhältnissen nicht unwichtige Stelle eines
dritten oder, wenn man will, zweiten Beamten an der Bibliothek zu teil
worden wäre.
Doch sind die Zeugnisse, die sich über Cladius amtliche Thätigkeit unter
Hugo sowohl wie unter dessen Nachfolgern Lessing und Langer bei den Akte»
erhalten haben, sehr spärlich und lückenhaft, sodnß sich kein sicheres und ge¬
treues Bild von dein gewinnen läßt, was er während seiner fünfunddreiß»^
jährigen Amtsthätigkeit für die Bibliothek geleistet hat. Von größern Arbeite»
liegt nur ein freilich nicht vollständiger Katalog über die in der Bibliothc
vorhandenen Leichenpredigteu vor, den er erst in späterem Lebensalter, r>n'Z
vor seinem Tode, hergestellt hat. So sind wir fast allein ans die in se>"^
Briefen und Eingaben an den Herzog oder an die leitenden Staatsmänner ^
Braunschweig hie und da begegnenden Äußerungen hingewiesen, und dick^
tragen selbstverständlich eine ganz subjektive Färbung. Er preist da woh -
namentlich in seinen Klage- und Bittschriften an den Herzog, den Segen sei ,
amtlichen Arbeit, die ihm, wenigstens ans Stunden, über sein häusliches Elen
hinweghelfe, und wer eiuen Einblick in diese häuslichen Bedrängnisse gewann^
hat, wird ihm das ohne weiteres glauben. „Hier — sagt er°^) — ist Religi^
und Philosophie nötig, um sich mir denen Verzweiflnngsgedanken zu entreiße»,
absonderlich, da ich schon seit Jahr und Tag alle» Umgang, alle Gesellschaften
und Besuche ängstlich vermieden habe und wohl sagen kann, daß ich leine
dergnügte Stunde habe, als wenn ich in meiner Arbeit auf der Bibliothek bin.
Deun wen» ich zu Hause komme, so finde >ich> entweder Mahner oder Mahn¬
briefe oder die Frau, wo nicht weinend, wenigstens bereit, von Unglücklich-
machen, von denen Verheißungen eines bessern Brodts, von andrer Frauen unter
ihrem Stande Glückseligkeit, von versprochener Gnade des Durchlauchtigster
Herzogs eine Predigt zu halten. Und so gehe ich schlafen, so stehe ich ans,
so esse ich und kann mir doch selbst nicht helfen." Ein andermal schreibt er°"):
„Meine Arbeiten werde ich niemals erwähnein sie liegen eingebunden auf den
Tischen und sind Schuldigkeit! Wegen Dienst-Esser, Treu und Fleiß bin ich
jederzeit bereit, Rechenschaft zu geben, mein Herz und Gewissen ist mir ein
guter Bürge, und denen es zukömmt, mögen die Wahrheit davon sagen! Mir
ist Gottlob in denen 17 Jahren darüber leine Klage noch Erinnerung vor¬
gekommen." Dann fügt er noch hinzu: „Daß aber die Bibliotheksbediennng
unter alleu Sekretärs-Bedienungen die lästigste ist, finde ich noch für nöthig
unterthänigst zu erinnern. Vor- und Nachmittag muß ich täglich gegenwärtig
sehn, jedem, er seh wer er wolle, aufwarten und mit denen meisten über ver¬
dorbene Bücher zanken, alle Schreibereh und 1legi8er!ror selbst besorgen, da entgegen
der Letzte ^der Registratur^ ans das ganze Jahr alle Sporteln allein hinnimmt.
Achter und Wäsche werden bei der immerwährenden Rangierung mit Bücher¬
schleppen verdorben, welches alles die übrigem Sekretairs nicht erfahren und
dennoch mehr Lohn erhalten." Wie weit diese Schilderungen seiner Arbeits¬
lust und Arbeitslast der Wahrheit entsprachen, muß dahingestellt bleiben: daß
er dabei den Mund etwas voll nimmt — wie deun das ganze Registratnr-
geschäft nach Ausweis der Ansleihebücher, wenigstens bis in das Jahr 17(>7
hinein, nicht von ihm, sondern von dein Registratur Meyne besorgt wurde —,
soll ihm in Anbetracht seiner steten Geldnot nicht allzu hoch angerechnet
Werden.
Ein erhöhtes Interesse gewinnt seine amtliche Thätigkeit während der
Bibliotheksverwaltung Lessings, uicht nur weil bei der großen Bedeutung
Messings auch kleine Dinge und unbedeutende Persönlichkeiten seiner Umgebung
einen gewissen Anteil erregen, sondern mich wegen der von der frühern
Überlieferung wesentlich abmeicheudeu Anschauung, die er von seinem Amte
hatte und wonach er es verwaltete. Es ist immerhin auffallend, daß Lessing
ur den zahlreichen Briefen, die sich ans seiner Wvlfenbüttler Zeit erhalten
haben, diesen seineu ersten und einzigen Kollegen an der Bibliothek mir ein
^uiziges mal erwähnt, und dieses eine mal ganz beiläufig, zusammen mit dem
damalige» Bibliotheksdiener Helnis.^) Seine Biographen und Kommentatoren
stellen ihn da, wo sie von ihm sprechen, meist in einen bestimmten, nicht
eben wohlwollenden Gegensatz zu seinem Vorgesetzten, ohne jedoch nähere Kenntnis
von seiner Persönlichkeit und Eigentünilichkeit zu haben. So sagt Düntzer in
seinem Leben Lesings: „Nach Ableistung des ^Erbhuldignugs- und Diensteides
wurden ihm jLessingj der Sekretär C. A. von Cichin, ein nichts weniger als
kenntnisreicher, dabei hinterhaltiger Kapuziner, und der Diener Helens zu¬
gewiesen." An einer andern Stelle setzt er einem Briefe Lessings, worin von
einer verdrießlichen Arbeit die Rede ist, die diesen: der Besuch der schwedischen
Prinzen auf den Hals gebracht habe, „nämlich verschiedne Dinge zur schwedischen
Geschichte unter den Manuskripten der Bibliothek aufzusuchen," die Bemerkung
hinzu: „Der Sekretär von Cichin war dazu unfähig." Zutreffender und wahr¬
heitsgemäßer urteilt E. Schmidt^) über Cichin und sein amtliches Verhältnis
zu Lessing: „Die alltäglichen Obliegenheiten des Biblivthekdieustes ermüdeten ihn
jLessingj: er überließ das dein Sekretär von Cichiu, seinem zweideutige!? Faktotum,
einem entlaufener Mönche." Aber auch diese Bemerkung trifft nicht den Kern
des Verhältnisses beider Männer zu einander, wenn man von einem solchen
Verhältnis überhaupt reden kann. Daß Cichin Lessings „Faktotum" gewesen
sei, ist ebenso wenig beglaubigt, wie daß dieses Faktotum sich zweideutig gegen
ihn gezeigt oder benommen habe.
Es ist bekannt, von welchem Gesichtspunkte aus Lessing seine Stellung
als Bibliothekar und Vorsteher der berühmten Augusta auffaßte und im Be¬
wußtsein seiner Bedeutung als erster Kritiker, Dichter und Denker des damaligen
Deutschlands, sowie gestützt auf die ihm bei seiner Vernfnng angedeutete Ab¬
sicht des Herzogs und Erbprinzen aufzufassen vollkommen berechtigt war. Die
Meinung in Braunschweig in den maßgebenden Kreisen war, an ihm einen
Mann zu gewinnen, der durchaus imstande sei, die damals noch nicht in
dem Maße wie jetzt durchforschten Schätze der Bibliothek zu heben und der
wissenschaftlichen Welt zugänglich zu macheu. Darüber haben wir zunächst
das Zeugnis des Abtes Jerusalem, dein man als früheren Erzieher des Erb¬
prinzen doch wohl einen Einblick in dessen Absichten bei der Berufung
und Anstellung Lessings zutrauen darf. Auf einen Brief des bekannten oder
berüchtigten Bahrdt, worin eines Gerüchtes Erwähnung geschieht, wonach
Lessing in Braunschweig eine Stellung am Hofe und zwar als I)iroet«zur ctss
pis,i8irs zugedacht sei, antwortet Jerusalem am 12. März 1770^): „Das Gerücht
von Herrn Lessing ist ganz ungegründet. So honorabel als die andre Stelle
Vom I)ire<',ex!ur ki'ImLir!- auch ist, die gemeiniglich die Charge von eiueuc
der erste» Hof-Cavaliere ist, so wenig würde sich Herr Messing wol damit ab¬
geben wollen, da er sich ganz der Bibliothek gewidmet hat, und auch dies der
ganze Endzweck seines Berufs ist, daß er die in dieser Bibliothek und besonders
in dem großen Vorrath von Manuscripten, die einige 1000 Volumina aus¬
machen, verborgenen und vielleicht noch gar nicht gekannten Schätze der Welt
bekannter mache. Der bisherige Bibliotheearins, der Herr Kloster-Nath Hugo
geht deswegen ab . . . Herr Lessing behält aber zu seinen Gehilfen zwey
Secretairs") und einen sogenannten Bibliothek-Knecht, so daß er mit dem mehr
Mechanischen der Bibliothek eigentlich nichts zu thun hat." Diese Angaben
Jerusalems werden durch Lessings eigne Äußerungen bestätigt. In dem ersten
Briefe, den er von Wolfenbüttel aus um seinen Vater richtete,"") schreibt er:
"Ich wünschte in meinem Leben noch das Vergnügen zu haben, Sie hier
herumführen zu könne», da ich weiß, was für ein großer Liebhaber und Kenner
Sie von allen Arten von Büchern sind. Eigentliche Amtsgeschäfte habe ich
dabei keine andern, als die ich mir selbst machen will. Ich darf mich rühmen,
daß der Erbprinz mehr darauf gesehen, daß ich die Bibliothek als daß die
Bibliothek mich nutzen soll. Gewiß werde ich Beides zu verbinden suchen,
"der eigentlich zu reden, folget schon Eins aus dem Anderen." Demgemäß
hat er nicht allein dnrch seinen Namen die ihm anvertraute Büchersammlung
für alle Zeiten verherrlicht, sondern anch während seiner fast elfjährigen Ver¬
waltung durch seine ans ihre Schätze bezüglichen Arbeiten mehr für ihren
Ruhm gethan als irgeud einer seiner Vorgänger oder Nachfolger, entsprechend
uicht nur den Wünsche» und Hoffnungen des Erbprinzen, dem er im wesent¬
lichen seine Stellluig verdankte, sondern auch denen des regierenden Herzogs,
der ihm nach Übersendung seiner schönen Abhandlung über den von Lessing
w der Bibliothek aufgefundenen, nur in dieser einzigen Handschrift erhaltene!,
Traktat des Berengar von Tours über das Abendmahl schrieb,""") er „freue
sich umso mehr darüber, weil er daraus ersehe, daß Lessing es weder an
Reiß noch Vemühuugen fehlen lasse, die ihm anvertraute Bibliothek berühmter
M macheu."
Mit der ganzen Lebhaftigkeit seines Wesens vertiefte sich Lessing in Wolfen¬
büttel anfangs in die dort aufgehäuften Litteraturschätze. Vor allem reizte es
^n, Entdeckungen zu macheu, verschollene oder bisher wenig beachtete, noch
lieber ganz unbekannt gebliebene Werke aus dein Dunkel hervorzuziehen und
^ gelehrten Welt davon Kunde zu geben. Gleich in der ersten Zeit seiner
Verwaltung gelang ihm ein Hauptfund. Er entdeckte unter deu Manuskripten
Werte (Hempel) XX, 1, S. 200.
^""
der ehemaligen Klvsterbibliothek von Weißenburg im Elsaß die schon erwähnte
Schrift des Berengarius von Tours, mit der dieser auf das „niederdonnernde,
triumphirende Werk" seines Gegners Lanfrnne, die Encharestin, erwidert hatte,
wahrend die katholischen Theologen, namentlich die Benediktiner, behaupteten,
daß, um mit Lessings Worten zu reden, „Berengar die Widerlegung des Lan-
franc ohne Antwort gelassen, ja annahmen, daß die Vorsehung sich eben jener
Widerlegung bedient habe, dem unglücklichen Scholastiker die Augen zu öffnen
und das Herz zu rühre», kurz dem Buche deS Lanfrancus die Bekehrung des
Berengarius zuschrieben." Mit begreiflicher Freude kündigte Lessing diesen
Fund an. „Sie kennen," schreibt er seinem Vater,") „den Berengarius, welcher
sich in dem elften Jahrhundert der Lehre der Transsubstantiation widersetzte.
Von diesem habe ich nnn ein Werk aufgefunden, von dem ich sagen darf, daß
noch kein Mensch etwas weiß, dessen Existenz die Katholiken schlechterdings ge¬
leugnet haben." Und an seineu Freund Konrad Arnold Schmid in Braun-
schweig""): „Was meinen Sie, wenn ich Ihnen sage, daß ein Werk des Beren¬
garius, ein umständliches, ausführliches Werk, welches allem Ansehen nach sein
wichtigstes Werk gewesen ist, daß so ein Werk, dessen kein Mensch gedenket,
von dessen Wichtigkeit sich niemand träumen lassen, daß so ein Werk, von dein
solcher Dinge sonst sehr kundige Männer sogar behaupten, daß es nie eristirt
habe, auf dessen Nichtsein eben diese Männer ganze Gebäude von frommen
Vermutungen und Lügen aufführen: was meinen Sie, wenn ich Ihnen sage,
daß ein solches Werk noch vorhanden, daß es hier bei uus, unter den un¬
gedruckten Schätzen der hiesigen fürstlichen Bibliothek vorhanden?"
Der Ankündigung des Berengarius folgten in den Jahren 1773 und 1774
die drei ersten Beiträge „Zur Geschichte und Litteratur, aus den Schätze» der
herzoglichen Bibliothek zu Wölfen duldet," deren Inhalt fast ausschließlich von
Lessing herrührt, und im Jahre 1774 der Aufsatz „Über das Alter der Ölmalerei)
ans dem Theophilus Presbyter," dessen älteste und beste Handschrift gleich¬
falls in Wolfenbüttel verwahrt wird. Mit wie großer und unverhohlener
Geringschätzung auch Lessing auf diese kleinen bibliothekarischen Arbeiten ^ er
nennt sie einmal „gelehrte Krätze" — herabzusehen sich die Miene giebt, die
Freude und Genugthuung, die er bei jeder wichtigeren Entdeckung empfindet,
bricht doch — gegen seinen Willen — hervor. Mit welchem Behagen schildert
er,""") wie er ganz unvermutet in einen: verschlossenen Kasten, zu dem sich sogar
der Schlüssel verloren hatte, unter einem. „Prasse" von ausgemerzten Kupfer»
und Charten den Marchthalerschen Stammbaum der Sohne Adams, d. h. der
Mensche» (Tarich Beni Adam) auffand! „Nicht Wien," so ruft er aus,
„sondern Wolfenbüttel besitzt ihn, diese» Schatz. Bey uns muß ihn der Ge¬
lehrte suchen!"
Allein dieser erste Feuereifer Lessings für die Bibliothek und ihre bisher
tvenig erschlossenen oder ganz unbekannt gebliebenen litterarischen Schätze sollte
bald erkalten: früher, als man hätte denken sollen, wurde ihm seine „verlobte
Araue," wie er in einem Briefe an Ebert") kurz vor seiner Übersiedlung nach
wolfenbüttel die herrliche Büchersammlung genannt hatte, durch die Öde und
Einförmigkeit des Lebens verleidet, in das er sich gestellt sah. Nach seiner
italienischen Reise, die ihn über ein Jahr von Wolfenbüttel und der Bibliothek
tern hielt, und nach Überwindung unzähliger Hindernisse erfüllte sich ihm endlich
^in Herzenswunsch: er führte die geliebte Frau, mit der er lauge im engsten
freundschaftlichen Gedankenaustausch gestanden hatte und die ihm nun ein be¬
hagliches, anmutiges Heim schaffe» sollte, in sei» Haus. Aber nach einjähriger
glücklichster Ehe wurde dieser Bund durch Tod zerrisse». „Ich wollte es auch
eunnal so gut haben wie andere Mensche», aber es ist mir schlecht bekommen" —
"ut diesen Worten teilt er dem Freunde in Braunschweig den Tod des Knaben
Mit,^) ^ ilM seine Eva geschenkt hatte, und als ihm dann „der kleine
^uschelkvpf auch die Mutter mit fortgezerrt" hat, bricht er in die erschütternde
^lage aus: „Wenn ich mit der einen Hülste meiner übrigen Tage das Glück
erkaufen könnte, die übrige Hälfte in Gesellschaft dieser Frau zu verlebe», wie
«Mi v^lit' ich es thun!"
Es kamen die Jahre des Kampfes, der Nerketzernng, der Vereinsamung,
^'»e '^ahre, die man wohl als Lessings Martyrium bezeichnet hat. Sein
Lebensmut schien mit dein Tode der über alles geliebte» Frnn völlig gebrochen,
'""d sthvu meldeten sich die unheimlichen Vorboten jeuer Krankheit, die nach
wenige,, Jahren seinen von Natur so rüstigen und gesunden Körper der Auf¬
lösung entgegenführen sollte. Dazu gesellten sich die vielfachen Kränkungen
">it Verdrießlichkeiten, die ihm ans der Veröffentlichung der sogenannten
^vlfenbüttler Fragmente erwuchsen, eines bekanntlich im deistischen Sinne von
^Muet Reimarus verfaßten Werkes, das Lessing aber, um dafür die ihm für
^öffeutlichnngen ans der Bibliothek gewährte Zeusurfreiheit auszunützen, für
^>ich h^. Wolfeubüttler Manuskripte ausgab, sowie die infolge dieser Veröffent-
^h»»g eutbreuueude Fehde mit Göze nud seine,» Anhange, den „Zivns-
^edlern," die ihm de» Rest seiner Lebenstage verbitterte. Den eigentlichen
'^'livthekarischen Arbeiten wurde er dadurch noch mehr entfremdet. Wohl führte
^ un allgemeinen die Verwaltung der Bibliothek weiter, wohl spendete er ab
^ An »och nu bekannte oder befreundete Gelehrte ans der Fülle seines biblio-
leknrischen Wissens reiche Belehrung, wohl mag er sich anch, wie sein Bruder
Verhindert,") mit dein Plane einer völligen Neuordnung der Bibliothek vorüber¬
gehend getragen haben, aber zu einer Ausführung, oder auch nur zu deu An¬
fängen dazu, ist dieser Plan ebensowenig gelangt,"") wie seine in der Vorrede
zu den „Beytrügen" angedeutete Absicht, die vorhandenen Kataloge der Biblio¬
thek, namentlich die der Handschriften, „gelegentlich zu erweitern und zu be¬
richtigen."""") Er selbst hat das Wesen seiner bibliothekarischen Wirksamkeit
in der knappen und treffenden Weise, die niemand so zu Gebote stand wie ihm,
in die Worte zusammengefaßt: „Ich will es nur bekennen, was von Anfang
an mein stolzer Vorsatz gewesen ist: lieber für die noch künftige Geschichte der
Bibliothek neuen Stoff zu brechen, als die Rechnungen von der verflossenen
aufzunehmen."
Habe ich so versucht, Lessings amtliche Thätigkeit, seine Bedeutung auch
als Bibliothekar, die Verdienste, die er sich um die ihm anvertraute Bücher-
scnumlung erworben hat, in flüchtigen Umrissen zu schildern, so würde freilich
zu einem vollen Bilde seiner letzten Lebensjahre auch eine eingehende Betrach¬
tung dessen erforderlich sein, was er außerhalb seiner Berufsthätigkeit während
dieser Jahre in Wolfenbüttel geschaffen hat. Hier aber ans jene geistige»
Großthaten und unvergänglichen Dichtungen — die Erziehung des Menschen¬
geschlechtes, das Testament Johannis, die Gespräche für Freimaurer, die Emilia
Galotti und den Ratsam — zurückzukommen, wie konnte ich mi'es dazu versucht
fühlen, nachdem die besten seiner Zeitgenossen, nachdem so viele hervorragende
Männer unsers Jahrhunderts darüber goldne Worte gesprochen? Ich gedenke
nur der Äußerung Herders: „Deine Bücher voll reiner Wahrheit, voll männ¬
lichen festen Gefühls, voll goldner, ewiger Güte und Schönheit werden,
lange Wahrheit Wahrheit ist und der menschliche Geist das, wozu er erschaffe»
ist, bleibt — sie werden aufmuntern, belehren, befestigen und Männer wecke»-
die auch wie du der Wahrheit durchaus dienen."
Angesichts solcher Worte drängt sich die Frage ans: Ist es erlaubt,
nach einem Tagewerke von so universeller Bedeutung noch von den kleine»
Dienstverrichtungen, deu alltäglichen Geschäften zu reden, die auch ihm w>e
jedem gewöhnlichen Sterblichen sein Amt auferlegte, zu erörtern, wie ein solches
Mann diesen seinen Verpflichtungen gerecht geworden ist? Und weiter: DcM
man neben und in Verbindung mit einer Erscheinung von so hehrer Geistesgröße
und von einem so ausgeprägt antiken Charakter, wie Lessing es war, je»^
„verlaufenen Mönches" gedenken, den ihm der Zufall zum einzigen wisset
schaftlich gebildeten Amtsgenossen gegeben hatte, der sich aber, wenn matt
Totalität seiner Persönlichkeit erwägt, neben ihm ausnimmt wie Therstte'
»eben Achill oder Patroklus? Ich muß bekomm!, daß ich geneigt bin,
^lese Fragen zu bejahen. Hat doch auch der hellenische Dichter dein Jdeal-
^'nde seiner Helden den kleinen, verwachsenen, neidischen und schmähsüchtigeu
Manu gewissermaßen als Folie ihres Heldentumes zur Seite gestellt. Auch
trifft der Vergleich nicht einmal völlig zu. Denn wie glänzend und erfolgreich
sich auch Lessings Amtsführung nach außen hin darstellt, wie sehr auch durch
>h» der Ruhm der ihm unterstellten Anstalt gemehrt und verbreitet wurde,
zur die Bibliothek selbst ist seine Verwaltung doch nicht ohne bedenkliche Seiten
gewesen. Er hat eben seinem Programm gemäß die Bibliothek genutzt, und
1" ist auch ein Abglanz von dein Ruhme, der ihn umstrahlt, auf sie zurück¬
gefallen. Aber will man der Wahrheit die Ehre geben, so wird man zuge¬
stehen müssen, daß ihm, wie um einmal seine Natur war, die rechte Herzens-
^'äriue für sein Amt und den ihm anvertrauten Bücherschatz nicht oder doch
uicht sehr tief innewohnte. Mau lese nur, was schou Schönemann im fünften
^unde des Serapeums darüber gesagt hat. „Eine anhaltende Arbeit, die mich
abmattet, ohne mich zu vergnügen," so nennt er selbst einmal seine amtliche
Thätigkeit. So ist es begreiflich, daß in keinem, der ältern Kataloge, in keinem
^er s» zahlreichen Manuskripte, ja — ich glaube behaupten zu dürfe» — in
deinem einzigen Buche der ganzen Bibliothek sich die geringste Notiz von
^essings Hand findet. Nicht einmal dafür hat er gesorgt, daß der früher
^lvähnte, von ihm ans der Vergessenheit hervorgezogene und mit so großem
^übel angekündigte Marchthalersche Stammbaum ordnungsmäßig in den Hand-
Ichrifteukatalog eingetragen wurde. Überhaupt findet sich, abgesehen von einem
^»zigen Bericht und ein paar Konzepte» zu solchen, von einigen kurzen Briefen
den Herzog") und einigen Gehaltsquittuugeu aus seiner Zeit kein einziges
^alt von Lessings Hand in der Bibliothek: alles, was sie an I.L88inFiiuu8
^'sitzt, ist nach Lessings Zeit, bisweilen mit nicht unbedeutenden Geldopfern,
^worden worden. Eine Ausnahme bildet nnr eine Anzahl großer Bogen,
^"in Lessings Hand mit den Namen von Künstlern, Kupferstechern n. s. w. ver¬
edelt und zur Aufnahme der Knustblätter bestimmt, die er ans den Klebe-
^'indem der Bibliothek herausgelöst hatte, um sie dem Herzog Karl für dessen
^eblingsschöpfuug, das damals von ihm eingerichtete Kunst- und Naturalien-
^binet in Brnunschweig, zu übermitteln, ein Verfahren, das — in maximum,
^U>Uol^Lvae (lölriimzuwW, plan! hat sein Aintsnachfolger Langer dazu de-
'Nerkt — kein günstiges Zeugnis für Lessings Interesse um der von ihm ver¬
alteten Anstalt ablegt. Das Bedenklichste aber war die vornehm-nachlässige
^ise, mit der er die niedrigen, alltäglichen und doch so notwendigen Geschäfte
Bibliothek behandelte. Gleich so vielen genialen Naturen fehlte ihm der
strenge Sinn für Ordnung, den ein Fachmann unsrer Zeit als das erste und
"^wendigste Erfordernis eines guten Bibliothekars bezeichnet, weil sich ohne
ihn eine Büchersammlung, abgesehen von den sich dabei ergebenden unvermeid¬
lichen Verlusten, mit der Zeit in ein unentwirrbares und daher unbrauchbares
Chaos verkehren muß. Wie Lessing diese eigentlichen Bibliotheksgeschnfte
vernachlässigte, darüber hat schon Schönemann einiges bemerkt. Wertvolle
auf Veranlassung v. Pranns erworbene Manuskripte wurden weder in das
Accessionsbnch noch in die Kataloge eingetragen, bedeutende Werke aus einer
der damals noch getrennt abgestellten Einzelsammlnngen wurden in die andre
versetzt, sodaß sie nach Lessings Tode nicht aufzufinden waren, Handschriften
dem allgemeinen Gebrauche dadurch entzogen, daß sie während Lessings italie¬
nischer Reise in dessen Wohnung oder anderwärts unbenutzt umherlagen-
Dreißig Manuskripte und hundertfünfzig gedruckte Bucher, die der Bibliothek
gehörten, fanden sich nach Lessings Tode in seinem Hause ohne irgeud einen
Ansleihnachweis in der Biblivtheksregistratnr. Sein jüngerer Bruder Johann
Theophilus sandte im Jahre 1782 zwei Handschriften und eine Ausgabe des
Martini an die Bibliothek zurück, „die er M»o 1777 von seinem Bruder er¬
halten hatte" (also nach fünf Jahren) nud über die sich gleichfalls kein Ver¬
merk in dem Registraturbuche siudet. Die Neuanschaffungen aus dem. aller¬
dings lächerlich kleinen llnterhaltnngsfonds der Bibliothek geschahen fast
ausschließlich in der Richtung, in der sich Lessings persönliches Interesse vor¬
zugsweise bewegte, sodaß selbst die Fortsetzung mancher in ihren Anfänge»
angeschafften Werke unterbleiben mußte. Rechnung endlich ist während der
ganzen Deiner seiner Amtsführring niemals abgelegt worden.
Für das „Mechanische" der Bibliothek, d. h. für das Ordnen, Einschalten,
Numeriren, Verzeichnen, Ausleihen n. f. w. der Bücher waren bei Lessings
Amtsantritt, wie schon bemerkt, abgesehen von dem Bibliotheksknechte, die
beiden Sekretäre von Cichin und Meyne in Aussicht genommen, von denen
Cichin seit 175)8 angestellt war, Meyne außerdem noch die nämliche Stellung
am Archiv zu versehen hatte. Dn aber Meyne bereits am 3. Februar 1?^
starb, wurde die zweite Sekretärstelle ganz eingezogen, sodaß sich nun Leasing u>
Bezug auf jene untergeordneten Nibliotheksarbeiten allein ans Cichin angewiesen
sah. Dies ist um so auffallender, als man bisher mit diesem keineswegs zu^
frieden gewesen war. In dein Protokoll über Lessings Einführung heißt es
wörtlich:*) „Nach Leistung des Eides wurden der gegenwärtige Ssvrvtiarius
von < iebi» und der gleichfalls herbeygerufene Bibliothek-Diener Il<!>in> ein
gedachten neuen >!>>>it-n>U!>uiiuni Ilg8lag' verwiesen; ersterer aber besonder-
anbey bedeutet, daß er sich durch Folgsamkeit gegen den LibliotnczoWMM »ut
cleourate und fleißige Ausrichtung alles dessen, was ihm werde aufgegeben
werden, zu gualifireu habe; wovon er seiner Seits die Befolgung versprochen-
Wobey Sr. Excellenz ^Herr von Pranns hinzufügten, daß, weil sich bey Aus¬
leihung der Bücher allerley Unordnung hervorgethan, er, der 8e0n?t.!N'U-d
v. (neuen, damit sich gar nicht weiter befassen, sondern das Ausleihen der
Bücher überall lediglich von dem Libljntlisvurio clöpönäii'gu und von dem¬
selben gesucht und verfüget werden solle. Welchem nachzukommen dann gleich¬
falls von ihm versprochen worden." Mit eitlem Manne, der sich während
einer zwölfjährigen Amtsführung so wenig das Vertrauen seiner Vorgesetzten
erworben hatte, der sich auch bei den gelehrten Benutzern der Bibliothek eines
so geringen Ansehens erfreute, daß z. B. der bekannte Historiker Häberlin in
Helmstedt während Lessings Abwesenheit in Italien, als mau wohl oder übel
Cichiu die Besorgung der Riblivtheksgeschäfte hatte überlassen müssen, um
Manuskripte und Drucksacheu aus der Bibliothek zu erhalten, sich nicht an ihn,
sondern an den Bibliotheksdiener Heims wandte, mit einem solchen Manne
hat Lessing während seines Biblivthekariats ausschließlich amtlich Verkehren,
auf ihn sich als seinen einzigen Beamten und Gehilfen verlassen müssen. Bei
der großen Herzensgüte, die trotz aller Streitfertigkeit gegenüber seinen littera¬
rischen Gegnern doch den Grundzug seines Wesens bildete, hat er es auch wohl
nicht recht verstanden, den ehemaligen Mönch, dessen Hauptfehler weit weniger
Zweideutigkeit und Hinterhältigkeit als Störrigkeit und Unverschämtheit waren,
angemessen zu behandeln. Wenigstens scheint die soldatisch stramme Per¬
sönlichkeit seines Amtsnachfolgers Langer, der nicht umsonst den siebenjährigen
Krieg als preußischer Husar mitgemacht hatte, in den zwölf Jahren, die Cichin
unter ihm noch im Amte war, mit dessen Widerharigkeit weit besser fertig
geworden zu sein.
(Schluß folgt)
le lmerwarteten Erfolge der großen Pariser Ausstellung, die
Gewißheit ungeschwächter Leistungsfähigkeit und die einmütige
Anerkennung aller Nationen haben Frankreichs Selbstgefühl
mächtig angeregt und allmählich wieder zu der stolzen Höhe
früherer Tage emporgetrieben. 1^ bölki tverie vu, s'övanoriir,
so ruft Melchior de Vogu6 in der ILevuv «lou ävux NonÄW aus, it vn restöra
k'clclwir^die! prvuvv Ap l^ron, 1a?rtlii(Zv «'oft «Ivniwv -» «Up-uiöllUZ, c^l'oll^
!>> Zoiuu'lo an mon6s. Nur eins bedauern die Patrioten, daß die französische
Regierung bei diesem weltbewegenden Ereignis unterlassen hat, den Völkern
zu zeigen, zu welcher maßgebenden Stellung sich Frankreich in allen Zweigen
des geistigen Lebens, im Wettkampf um die Förderung der Wissenschaften, der
Künste und der Litteratur emporgeschwungen habe.
Bei (Gelegenheit der Pariser Weltausstellung vom Jahre 1807 ließ der
damalige Unterrichtsiuinister Duruy durch berufene Männer alle Versuche und
Ergebnisse zusammenstellen, die in Frankreich seit dem Anfang unsers Jahr¬
hunderts auf wissenschaftlichem und litterarischem Gebiete gewonnen worden
waren. Man bedauert, daß die französische Negierung bei Gelegenheit der
hundertjährigen Jubelfeier nicht auf den naheliegenden Gedanken gekommen ist,
diese fesselnde und lehrreiche Arbeit bis auf die Gegenwart fortzusetzen; man
hätte der Welt damit beweisen können, daß Frankreich trotz der unheilvollen
Niederlage von 1870/71 uicht aufgehört habe, am Ausbau der Wissenschaften!
kräftig mitzuwirken, daß die gebildeten Völker gerade Frankreich während
der letzten Jahre unendlich viel zu verdanken haben in der Geschichte und im
Erziehmigsweseu, in der Altertumswissenschaft und in deu orientalischen Stadien,
in der alte» und in der neuern Philologie, in den mathematischen, phhsito-
chemischeu und biologischen Fächern. Inmitten der Wunderdinge auf dem
Champ de Mars, meint Louis Linrd in der genannten Zeitschrift, würden diese
Errungenschaften ein Ruhmestitel ersten Ranges gewesen sein. Es wäre in
der That sehr auffallend, wenn die französische Regierung sich eine so günstige
Gelegenheit hatte entgehen lassen, der Eitelkeit des französischen Volkes durch
ein derartiges Denkmal seiner vermeintlichen Geisteshegemvnie zu schmeicheln;
vielleicht hat sie aber gefürchtet, durch einen solchen Versuch die andern Nationen
zu vergleichenden Betrachtungen zu veranlassen, die für Frankreich wohl nicht
gerade zu einem besondern titrv da g'loira führen würden; vielleicht hat sie die
Schwierigkeit der Aufgabe erkannt und es nicht gewagt, aus deu unzähligen
Forschungen und Leistungen die eine oder die andre als besondre Frucht
französischer Geistesarbeit aufzustelle». Und wenn Alfred Nambaud in seinem
gerühmten Werke: Li»toiro <Jo In, «Zivilisation vontomporaino an.iVranou (Paris,
1888) behauptet, in keinem Zeitabschnitt unsrer Geschichte sei der französische
Genius in allen Zweigen der Litteratur, der Minist und der Wissenschaft leb¬
hafter, thätiger und fruchtbarer gewesen, als in deu vierzig Jahre», die soeben
verflossen siud, so kann man dieses Urteil mit vollem Recht auf alle Kultur¬
völker der Gegenwart ausdehnen, denn bei allen ist in den letzten Jahrzehnten
der Strom des geistigen Lebens breiter und »tüchtiger geworden, von allen
verlangt heutzutage der allgemeine Wettstreit eine höhere Spannkraft, eine größere
Fruchtbarkeit und Ausdauer als die ruhige Kulturbewegung früherer Zeiten.
Kein Volk darf mehr die Anmaßung haben, die geistigen Wechselwirkung^»
der Nationen anßer Acht zu lasse» und die Entwicklungsgeschichte seiner Be-
ftrebllngeii und Leistungen ohne Rücksicht auf die Einflüsse andrer Kulturvölker
niederzuschreiben. Mit Recht sagt Joseph Reinach in seinen lesenswerten
Mulle!» <Jo Utbvrawro vt (I'lüsloiro (Paris, 1889): „Wenn auch die politischen
Grenzen weiter bestehen, so siud doch heutzutage die Schranken des geistigen
Lebens gefallen; überall bestehen und wirken zugleich die Anschauungen, die
Gedanken und die Shsteme in demselben unentwirrbaren Gemenge. Wie soll
man in dieser Mischung den genauen Anteil herausfinden, der jedem Bolle
zukommt? Wie soll man in dem unendlichen Ozean die Gewässer wieder erkennen,
die ans der Seine, der Themse oder dem Rheine herstammen?"
Dieses Urteil bezieht sich nicht nur auf die Wissenschaften und die Technik,
es gilt in demselben Maße auch für die Künste und für die Litteratur. Wenn
trotzdem der französische Schriftsteller Georges Pellissier den Versuch macht,
in seinein Buche I^o inuuvommck Uttvnurii -in XIX" «iovlu (Paris, 1889) eine
Entwicklungsgeschichte der französischen Litteratur in unserm Jahrhundert zu
schreibe», ohne den geistigen Einfluß fremder Völker auf Frankreich während
dieser ganzen Zeit zu berücksichtigen, selbst ohne die Beziehungen der dichterischen
Thätigkeit mit den Künsten, insbesondre mit der Malerei und der Musik zu
berühre», so kann er damit wohl ein abgerundetes und fesselndes Bild zustande
bringen, aber dem Borwurf einer einseitige» Auffnsfung, einer uuzulä»gliche»
Begründung, einer mangelhaften Lösung wird er nicht entgehen. Daß er dabei
das Verhältnis Frankreichs zur deutschen Litteratur und Philosophie, selbst
zu dem von den, französischen Romanciers weidlich ausgeschlachteten Schopenhauer
stillschweigend übergeht, wird uns nicht wunderbar erscheinen, wenn wir im
I^loro ein vönlvimir« ein .louriml av8 point« (Paris, l889) von einem ma߬
gebenden Schriftsteller folgendes Urteil über die deutsche Litteratur der Gegen¬
wart lesen: „Seit 1870 ist die Litteratur in Deutschland so armselig geworden,
die Tendenzen, die auf der andern Seite der Vogesen zur Herrschaft gekommen
sind, setzen eine solche Verachtung für alles voraus, was schöne Litteratur und
Philosophie betrifft, daß die Verpflichtung, das französische Volk darüber zu
unterrichten, zur Sinekure wird und sich mit einem schleudernde« Spaziergang
durch unfruchtbare Sandebenen vergleichen läßt."
Trotzdem muß nuerkmint werde», daß Pellissiers Buch mit einem großen
Aufwand von Geist und Scharfsinn geschrieben ist, und daß es eine Reihe
wertvoller Gedanke» und beachtenswerter Gesichtspunkte enthält, aus die es
sich verlohnt hier näher einzugehen; nur hätte der Verfasser gut gethan,
Re und da auch seine Quellen anzugeben, denn wer die kritischen Schriften
Frankreichs der letzten Jahre aufmerksam verfolgt hat, dem wird es nicht
entgehen, daß er hie und da auf Anschauungen, Formeln und Weuduiige»
stößt, die er schon einmal in Paul Bourgets ÜMiüs av xs^oltolo^lo
vmcksmpoi'An«, in Jules Lemaitrcs Schriften und andern Werken ge¬
funden hat.
Der Verfasser behandelt in der Einleitung kurz die Bedeutung des fran¬
zösischen Klassizismus, die Vorläufer des neunzehnten Jahrhunderts und die
Pseudvklassiker, geht dann im zweiten Teil ausführlich ans die Romantik ein
und im dritte,: auf deu Realismus. Er bezeichnet Rousseau, Diderot und
Andr6 Chunier als die bahnbrechenden Geister, die durch ihre Gedanken und
Schöpfungen den Entwicklungsgang der französischen Litteratur in nnserm
Jahrhundert bestimmt haben. Rousseau führte zuerst die überknltivirte Mensch¬
heit aus der Scheinwelt des verschnörkelten, verzierten, fratzenhaft gewordenen
Salonlebens in die Freiheit des ungeschminkte», natürlichen Dnseins, aus deu
versteinerten Formeln des Rationalismus in die lebendigelt Quellen eines
religiös gestimmten Spiritualismus. Statt des fadenscheinige», konventionellen
Ehrbegriffs, auf dem die Moral des achtzehnten Jahrhunderts ruhte, ver¬
kündigte er wieder laut die plebejisch gewordenen Begriffe Tugend, Gewissen
und Pflicht als die wahren Gesetze des sittlichen Lebens. Kontrsr vn «oi-
tnöms, vo litt ig, pröiniöro parolo» MS lions-jssu Äclre88g. u,u siöolk, se oelle
^mrols rvLnmö «mi (»uvre. Mit Rousseau erscheint die Wiedergeburt des Indi¬
vidualismus in der französischen Litteratur; das Ich beginnt überall zu herrschen,
das subjektive Empfinden tvird der Allsgangspunkt aller Lebensauffassung, die
persönliche Gemütsstimmung die Quelle großer Gedanken und erhabener Be¬
strebungen, aber auch einseitiger Vorstellungen und krankhafter Neigungen.
Rousseau hat der Liebe eine ganz andre Richtung gegeben, sie ans der raffi-
nirten Tändelei der Rokvkozeit zu der Höhe natürlicher Leidenschaft erhoben
und ihr erst wieder die Bedeutung einer übermenschlichen tragischen Gewalt
gegeben. Es ist sehr bezeichnend, daß Voltaire für Rousseaus Ausdruck -lvre
ImiLvr kein Verständnis hatte und sich darüber wiederholt lustig machte-
Pellissier hat nicht so unrecht, wenn er behauptet, daß schau mit diesem -rora
biÜLsr eine Uliiwertuug aller geschlechtlichem Begriffe, eine ganze Revolution
in der französischen Gesellschaft eingetreten sei. In der Liebe zur Natur, in
dem Hange zur Schwärmerei, in dem unbewußten Wohlgefallen an düstern
Vorstellungen, was die Romantiker le- mal «to me'.v!« nannten, in der Pflege
des christlich-religiösen Gefühls — in all diesen Dingen ist Rousseau unbe¬
dingt der Vorläufer der Romantik. Wenn aber Pellissier aus ihn allein die
Geburt des romantischen Geistes zurückführt, so vergißt er, daß die Litteratur
kein Ziergarten ist, wo sich das Wachstum frei von den Stürmen der poli¬
tischen und gesellschaftlichen Kämpfe ruhig entwickelt; man versteht das Wesen
der Romantik nicht und erkennt ihre Wurzel» nicht, wen» man den El»si»ß
der französischen Revolution und insbesondre die welterschütternden Kriegs-
thnten Napoleons außer Acht läßt, wenn mau die moralische Einwirkung dieses
Geistes verkennt, dem keine Überlieferung heilig war, der alle Völkerschaften,
alle Kulturen, alle geistige» Kräfte durch einander wirbelte, der alle mensch¬
lichen Interessen nur ans eine brutale Lebeusbethätigung hin richtete und in
maßloser Selbstsucht alle materiellen Kräfte so lange anspannte, bis Frankreich
abgehetzt und verzweifelt zusammenbrach. Nur ein nervöses, blutarmes Ge¬
schlecht mit gesteigertem, fast an Krankheit grenzenden Gefühls- und Phantasie¬
leben konnte ans jener ruhelosen, aufgeregten, ausgemergelten Zeit herstammen:
^>aus, Viktor Hugo, Musset, Gautier u. s. w., sie alle sind in jenen aus¬
übenden Zeiten der napoleonischen Feldzüge geboren.
Taille sagt von Napoleon: I^a ZiMriltars «zIvMuiw vt g»v»ut<?, 1a piiilo-
^»plüg c>g (z^l)iri(zi: et ete «alö«, alone »os voiltcuipuriuns 8vnd imlui^, a Zlissv
"ur son intvUiAsnov ovmmo »ur nun roclio aure. Diese Charakteristik paßt
"'ehr oder Nieniger auf alle hervorragenden Gestalten jener Tage; kein Wunder,
daß gegen diese Einseitigkeit des berechnenden Verstandes, gegen die wachsende
Gefühlsroheit und Gemütsleere eine Reaktion reicher angelegter Geister hervor¬
breche» uinßte. Unter diesem Gesichtspunkte kann man ohne Frage Napoleon
als den mittelbaren Vater der Romantik bezeichnen; aus Rousseaus littera-
r>Jeder Wirksamkeit allein darf man aber jene Erscheinung nicht folgern. Die
Rückkehr zur Natur und die Freude an der Beschäftigung mit ihren Gegeu-
stniideu ist nicht zum wenigsten anch ein Verdienst von Buffons anregend ge¬
schriebenen und vielgeleseneni Werke I/ni8t,i»ir0 imturello; auch Voltaires nicht
unbedeutender Einfluß auf den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, z. B.
^uf Chateaubriand und Lamartine, ließe sich leicht nachweisen und hätte von
-pellissier gebührend erwähnt werden müssen. Dagegen hat er Andre Chouiers
^edeutung für die Entstehung der romantischen Schule überschätzt; bahnbrechend
^unde Chenier schou deshalb nicht wirken, weil seine Dichtungen erst im
^ahre 181!», fünfundzwanzig Jahre nach seiner Hinrichtung, veröffentlicht
Wurden, also zu einer Zeit, wo die Grundwerke der Romantik: l.v 66rio <In
dnstiAnisme von Chateaubriand und Madame de Staclls Schriften l.'/Vile-
^'^No nud I^itterawre bereits erschiene» waren; bedeutungsvoll lind eiil-
utzreich lvird Chsnier erst für das zweite Geschlecht der Romantiker, sür
mulier, Bnnville, Leeonte de Liste und zu»i Teil für Sully-Proudhomme.
Die zweite in unserm Jahrhundert auftauchende, gegen die Romantik
litterarische Strömung, den Realismus, möchte Pellissier ans Diderot
^'ckführen; er sagt von ihm: „Vergessen oder verachtet seit einem halben
/'^hundert, wurde er von den Geistern, die vor vierzig oder fünfzig Jahre»
j^en die Romantik einen unvermeidlichen Rückschlag ausführten, als ihr Vor-
Zuerkannt. Von ihm stammte» schon in mehr oder weniger gerader
!hre» ^' ^^"^^"^ ""^ die Balzaes des ersten Zeitraumes ab; von ihm leiten
„ Sprung auch in dem zweite» alle ab, die die allgemeine Bewegung
der s ^irgmvssischeu Litteratur auf das Gebiet der genauen Beobachtung »ut
dies. Wiedergabe der si»»fälligen Wirklichkeit gelenkt haben." Aber
in Gegenstrom ist doch ans andre Quellen als Diderots Grundsätze zurück-
(«!^"/ Aufbliihe» der exakten Wissenschaften, die Abneigung gegen
"re
alle Metaphysik, die Begründung der positivistischen Philosophie, die Abkehr von
den phantastischen Träumereien und tollen Hirngespinsten der Sozialpolitiker,
die unzweifelhafte Einwirkung der Malerei, die damals mit aller Macht gegen
den verknöcherten Klassizismus und die wesenlose Romantik Front machte —
diese Veweguugeu enthalten die wahren Gründe für den gewaltigen Umschwung
der französischen Litteratur in den fünfziger Jahren. Schon Rosenberg hat in
seiner vortrefflichen Geschichte der modernen Kunst auf die auffallenden Wechsel¬
wirkungen zwischen dem durchbrechenden Realismus in der französischen Malerei
nud in der Litteratur hingewiesen. Der unerhörte Beifall, den Courbets natur¬
wahre Bilder I/vnd<zrr<zwönt <1'0ri,!ins und l^es (Za88tur8 <to xisrros bei allen
unbefangenen Geistern hervorriefen, hat auch die dichterische Phantasie in ganz
andre Bahnen gedrängt. Sehr lehrreich ist in dieser Hinsicht eine Stelle, die
Rosenberg im ersten Bande seines Werkes aus einem im Jnhre 1L5>(> auf¬
geführten Stücke zitirt; darin heißt es: „Das wahre Malen genügt nicht, um
Realist zu sein, man muß das Häßliche malen! Nun, mein Herr, alles was
ich zeichne, ist zum Entsetzen häßlich. Meine Malerei ist abscheulich; damit
sie wahr sei. nehme ich ihr alles Schöne weg, wie man Unkraut ausreißt.
Ich liebe nur die erdigen Farben, die Pappnasen, die Frauenzimmer mit bärtigen
Kinn, versoffne und stumpfsinnige Gesichter; ich liebe die Schwielen, die
Hühneraugen und die Warzen! Das ist das Wahre!"
Haben wir in dieser einfachen Erklärung aus dem Jahre 1850 nicht eine
vortreffliche Charakteristik des ganzen Naturalismus, der gegenwartig in Zolas
Romanen seinen Höhepunkt erreicht hat? Pellissier widmet diesem Naturalisten
einen ganzen Abschnitt, und wenn er auch die Berechtigung der naturalistischen
Richtung nicht anerkennt, so beurteilt er doch Zolas Grundsätze und Schöpfungen
mit großer Unparteilichkeit. Mit seiner sentimentalen Erzählung 1^6 Rooo schien
Zola plötzlich das gewohnte Fahrwasser seiner Kunst verlassen zu haben; wir
bemerkten schon in unserm dritten Streifzuge, daß er jene Mondscheinsouate
wohl nur komponirt habe, um den Garnier seiner Leser für den folgenden
Roman empfänglich zu machen. Diese Vermutung hat sich bewahrheitet. In
seinem soeben als Buch veröffentlichte« Werke 1^» Lote- lmmluns ist Zola
wieder zu seinen alten Hausgöttern zurückgekehrt. Die Gegensätze zwischen
beiden Romanen können kaum stärker sein. Aus der stillen, feierlichen Andacht
vorm Altar in das rastlose, lärmende Treiben des Bahnhofs; aus dem Weih-.
rauchduft kirchlicher Feste in den stinkenden Qualm der Lokomotive; aus der
kosenden Gefühlsseligkeit romantischer Traumgestalten in den cynischen Taumel
geschlechtlicher Sinnlichkeit; ans dem Kreise friedfertiger, gottergebener Seelen
in eine Gesellschaft brutaler, unter dem Fluche der Bererbung stehender Per¬
sonen, in denen sich die menschliche Bestie bis zur Mordsucht entwickelt hat.
Der Präsident Grandmvrin, ein reicher alter Lüstling, besitzt bei Doin-
ville, vier Meilen von Rouen, einen Landsitz, ans dem er seine Schwester und
seine Tochter untergebracht hat, Sem Gärtner stirbt und hinterläßt eine
Tochter Söverme, ein schmuckes, keckes Mädchen von dreizehn Jahren, das der
Präsident in scheinbarer Anwandlung von Edelmut in sein Haus aufnimmt
und mit seiner Tochter erziehen läßt, Ssveriue entwickelt sich sehr bald mit
allen körperlichen Reizen zur wachsenden Freude des alten Schwerenöters und
wird von ihm nach kurzer Zeit in die letzten Geheimnisse der Liebe eingeweiht.
Um den fortwährenden Nachstellungen des Alten zu entgehen, heiratet sie den
Eiseubahubecuntcu Noubaud, eiuen Menschen von ehrgeizigem und leidenschaft¬
lichem Charakter, der in Havre angestellt ist und durch Grnndmorins Einfluß
zur Stellung eines Unterchefs gelangt. Hin und wieder fährt Svverine, von
dem Präsidenten eingeladen, mich dem Schlosse Croix-de-Manfras, wo sie,
natürlich ohne Wissen ihres Mannes, mit dem alten Pflegevater traute Schäfer-
stuudeu feiert. Eines Tages befinden sich Roubaud und Frau in Paris, um
sich wegen eines Dienstvergehens zu verantworten; sie bewohnen in der
Nähe der Eisenbahn ein Zimmer, von dem man das Leben und Treiben
auf dem Bahnhofe, das Nangiren der Lokomotiven, das Ein- und Ausfahren
der Züge, das Hin- und Herflnten der Reisenden mit Behagen genießen kann.
Hier setzt nun Zola mit seiner Erzählung ein und schwelgt in einer weit¬
schweifigen Beschreibung aller Vorgänge und Erscheinungen des Bahnlebens.
Nvnband wartet schon lange auf seine Gattin. Endlich erscheint sie, angenehm
erregt von der Pariser Luft, von ihren Einkäufen und Bestellungen. Nach
einer naturalistischen Liebesszenc kommt es zwischen beiden zu Auseinander¬
setzungen; ein unbedachtes Wort Severines wühlt die ganze Eifersucht des
Mannes auf. Der Gedanke an Grandmorin, der in Paris wohnt, hat ihn
schon lange gemartert; jetzt erfährt er, daß seine Frau die Mätresse des Präsi¬
denten gewesen ist und noch zu sein scheint. Er tobt und rast, schleift sein
Weib a» den Haaren durchs Zimmer und zwingt sie schließlich, an den Präsi¬
denten einen Brief zu schreiben und ihn darin zu bitten, schon heute Abend
'"it demselben Zuge nach Rouen zu fahren, den sie benutzen würden. Ron-
bauds Entschluß ist fest; Grandmorin muß fort ans der Welt — da haben
^'ir la too llunmino, aufgeweckt durch den Stachel der Eifersucht.
Zu derselben Zeit spielt sich in dem Wärterhaus vor Croix-de-Maufras
eine andre Szene ab. Der Lokomotivführer Jacques Ländler, der Hauptheld
^es Romans, ein Sprößling der aus Plassaus stammenden Säuferfamilie, die
s^se in allen Romanen Zolas ihre Rolle spielt, läßt seine Lokomotive an einer
Station bei Eroir-de-Maufras ausbessern und besucht unterdessen seine Pate,
^ Frau eines Bahnwärters. Zola erzält von ihm: „Zu gewissen Zeiten
peinigte ihn zwar jenes Erbgebrechen; nicht als hätte er eine schlechte Gesund¬
et, denn nur die Angst und die Scham vor seinen Anfällen hatten ihn früh
^'geinagert, aber er empfand in seinem Wesen manchmal den Verlust des
Eichgewichts, gleichsam brüchige Stelle», Löcher, durch die sein wahres Ich
inmitten von gewaltigen Dünsten entschlüpfte, die alle Formen entstellten. Er
gehörte sich dann nicht mehr an, er gehorchte dann nur noch seinen Muskeln,
der aufgereihter Bestie. Er trank nicht, er wies selbst ein Gläschen Brannt¬
wein zurück, da er bemerkt hatte, daß ihn der geringste Tropfen Alkohol toll
machte. Er wurde den Gedanke» nicht los, daß er für andre zu büßen hätte,
für die Väter und Großväter, für die ganzen Geschlechter von Säufern, deren
verdorbenes Blut in ihm wirkte wie ein langer Vergiftungsprozeß, wie eine
allmähliche Verlierung, die ihn gleichsam mit weiberfressenden Wölfen ins
Walddickicht trieb."
Bei Jacques hat sich der Säuferwahusin» in einen mörderischen Haß
gegen die Frauen verwandelt. Ihm ist zu Mute, als Hütte er an ihnen alte
Beleidigungen zu rächen, als müsse er sie strafen für Verbrechen, die sie an
seinem Geschlechte verübt haben; er kann kein Weib mehr berühren, ohne daß
in ihm der wahnsinnige Gedanke auftauchte, es zu erwürge», zu erstechen. So
ist es ihm auch jetzt mit der Tochter des Bahnwärters, der liebebedürftige»
Flore, gegangen, ans deren Armen er sich mit Gewalt hat losreißen müsse»,
»ni nicht seine fixe Idee auszuführen. Wie ein gehetztes Wild rennt er von
ihr, keuchend und taumelnd über die Felder, am Bahndamm entlang und
kommt erst wieder zur Besinnung, als el» Zug dvuneriid an ihm vorbeisaust
und er wie im Fluge wahrmmmt, wie sich i» einem Wage» ein Mensch ans
einen andern stürzt und ihm ein Messer in die Kehle stößt. Was war das?
wahnsinnige Täuschung oder Wirklichkeit? Er stutzt, sein Inneres wird ruhiger.
Langsam kehrt er zurück und findet den Wärter, der ihm mitteilt, er habe
soeben einen tote» Menschen ans dem Bahndamme gefunden, der aus dem
Zuge gefallen sein müsse. Jacques sieht ihn - es ist Grandmvrin: v'von
clviu; I)i«zu kg-vns as tuor? 'I'pret in rnonäv tu-ut.
Der Präsident ist auch in der Wärterfamilie bekannt; seine Wüstlings-
natnr hat auch hier gewütet lind die Tochter Lo»iso», die Braut des Fnhr-
knechts Cabuchon, in deu Tod gehetzt. Wer ist nun der Mörder des Alten?
Das grauenhafte Ereignis geht natürlich durch alle Zeitungen, alles ereifert
sich über die Unsicherheit in den Zügen, über die Zustände in der Bahnver¬
waltung, über deu Schlendrian der Negierung. Die gerichtliche Untersuchung
nimmt ihren Anfang; man findet im Testament Grandmvrins die Angabe, daß
er den Landsitz Croix-de-Manfms der Ssverine als Erbteil hinterlasse; sofort
ist der Verdacht auf Roubauds gelenkt, aber manche Gründe sprechen dafür,
daß Cabnchvn ans Rache den Mord begangen habe. Thatsächliche Be-
lastnngsgründe sind nicht zu sinden, und so endigt die ganze Untersuchung des
Falles ohne Ergebnis. Nur einer, Jacques, in dessen Gehirn immer deutlicher
die Ähnlichkeit Ronbauds mit dein Mörder im Bahnwage» aufdämmert, konnte
als Zeuge gefährlich werde», aber Ssverine weiß ihn i» ihre Liebesgarne zu
locken »ut ihn dadurch unschädlich zu machen.
Jacques hat bis dahin nur eine Geliebte gehabt, das ist Lison, seine
Lokomotive, die er seit vier Jahren führt. „Er wußte sehr Wohl, das; jede
Maschine ihren eigne» Charakter hatte, das; viele nicht einen Pfifferling wert
waren, wie man vo» den Weibern a>>5 Fleisch und Bein zu sagen pflegt.
Wenn er aber diese liebte, so geschah es in der That, weil sie die ungewöhn¬
lichen Eigenschaften einer tüchtige» Fra» besaß. Sie war sauft, gehorsam,
leicht beweglich, von regelmäßiger »ud beständiger Gangart, dank ihrer vor¬
züglichem Dampfeinrichtung. Mau behauptet wohl, ihre leichte Beweglichkeit
rühre von der ausgezeichneten Radkonstruktiv» her, vor allem vo» der voll¬
endete» Regelmäßigkeit der Schieber; desgleichen schrieb man ihre kräftige
Dampfentwicklung bei geringem Kohlenverbranch der besonder» Eige»schaft der
Kupferröhreu zu und der glückliche» Anlage der Feuerung. Aber er wußte,
daß es a» etwas anderen lag, den» andre Maschinen, die ebenso gebaut nud
mit derselben Sorgfalt zusammengesetzt waren, würden keine von Lisons Eigen¬
schaften zeigen. Sie hatte Seele, das große Geheimiiis der Fabrikation, jenes
Etwas, das die glückliche Art der Hämmernng dein Metall zuerteilt, das die
geschickte Hand des Erbauers den einzelnen Teilen verleiht: die Persönlichkeit
der Maschine, das Leben."
Jacques wird der Geliebte der Svverine; von ihr sagt Zola sehr be¬
zeichnend für seine psychologischen Anschauungen: Louillvu ü. seine, ans our t-i
«ivbauodo <Jo vo vioux, livre lo sxevtrv Sanbin,» t 1a Kimtitit, violvutve xlus
titrä var les avpvtit« drutaux av son in.iri, eUv nos.it garäv uns oanclour
(l'entlud, uns vir^luido, doues 1s Konto »lmrniiiuto alö 1s. Passiva qui s'iFnoro.
Was mag Zola wohl unter kindlicher ^lieinheit »ut Jungfräulichkeit verstehn?
Ist diese unerhörte Charakteristik ein Ergebnis seiner laut gepriesenen wissen¬
schaftlichen Methode? Rvubaud wittert zwar etwas vou dein zweiten »»-
saubern Verhältnis seiner Ehehälfte; er ahnt, daß sie ihre Schciferstuudeu auf
dem Kohleuplatz oder in dem Lokomotivschuppen oder hinter dein Güterbahuhvf
abhält, daß sie nur angeblich wegen ihres kranken Fußes alle Freitage nach
Paris fährt, in Wirklichkeit, um mit ihrem Geliebten ungestört zusammen zu
sein; aber er hütet sich wohl, gegen den Lvkvmvtivenfuhrer vorzugehen, und
sucht beim .Kartenspiel seine Ablenkung nud Zerstreuung. Seitdem Jacques
die Soveriue besitzt, haben ihn seltsamerweise die Mordgedanken verlassen. Er
scheint von seine»? üffrenx miet Kvröäitiüro befreit z» sei», l'vssöäor, tuor,
ovlg, s'oejvivalmt-it <!uns lo donet somdro alö Kr volo Kumginv? Bei einem
gewaltigen Schiieesturm bleibt der Z»g vor dem Wärterhaus bei Croix-de-
Maufras stecke». Jacques führt Suverine in das Hänschen, ohne z» ah»en,
das; Flore in ihr sofort die Nebenbuhlerin erkennt und im Gefühl verschmähter
Liebe ans fürchterliche Rache sinnt. Die Maschine hat im Kampf mit de»
Schmemassen stark gelitten: „sie hatte, wie es im Roman heißt, einen Stich ins
Herz bekomme», eine tötliche Erkältung, wie junge kräftige Frauen sich eine
Lungenentzündung holen, wem, sie ans dem Ballsaale in einen eisigen Regen¬
schauer geraten/'
Der Zug kommt in Paris an: Jacques und Suverine schwelgen in ihrem
verbotenen Glücke; kein Geheimnis soll sie mehr trennen, und so flüstert sie
ihm denn ins Ohr, daß Nonbaud den alten Präsidenten aus Eifersucht er¬
mordet habe. Die genaue Schilderung des Borfalls regt die ganze Bestie in
Jacques wieder auf. „Wie hat das auf dich gewirkt, fragt er, ihn so an
einem Messerstiche sterben zu sehen — sag mir, was fühlt man dabei?" „Ich
habe, sagt sie, in jener Minute mehr gelebt als in meinem ganzen Leben."
In Jacques sind mit eüiemmale alle bösen Geister entfesselt; während er mit
geschlossene» Augen daliegt, rasen die einzelnen Bilder der Mvrdszene wie in
einer wilden Jagd dnrch sein Gehirn. „O, einen solchen Messerstich auszu¬
teilen, diesen entlegenen Wunsch zu befriedigen, zu erfahre», was man dabei
empfindet, jene Minute durchzukosten, in der man mehr lebt als in einem
ganzen Dasein! 8<in ab;»ir l<z turwrg.it t,roy, it lllllgit. qu'it em kalt niuz!
Soll er Svverine niederstoßen? Ein Schauder überfällt ihn, er stürzt ans die
Straße mit gezücktem Messer wie ein Nachtwandler, llriM <in ig, soll liurvllilirirv
<In mmirtio: er verfolgt bald hie bald da eine Frauengestalt, immer bereit,
sie zu erstechen, und immer dnrch unvorhergesehene Umstände daran gehindert."
Wer diese Stelle im Roman liest, kommt sicher zu der Überzeugung, daß Zola,
hier die unheimliche rätselhafte Gestalt des Aufschlitzers Jack zum Vorbilde
gehabt hat. Slwerinc lenkt sein Mordbedürfnis auf Ronbaud; es kommt zu
aufregenden Szenen, aber jedesmal schreckt Jacques vor der That zurück.
Flore, die jeden Freitag am Wärterhaus die glücklich liebenden nach Paris
vorbeifahren sieht, Null Svverine beseitigen und wählt dazu das ihr am ein¬
fachsten scheinende Mittel: sie läßt den gauzeu Zug entgleise,?. Alles wird in
einen wüsten Trümmerhaufen verwandelt, viele Reisende werden getötet oder
verstümmelt. „Man hörte nicht mehr, man sah nicht mehr, die Lison war
ans den Rücken gestürzt und lag mit offnem Banche da, ihr Dampf strömte
dnrch die angerissenen Hahne und geplatzten Röhren in keuchenden Stößen
ähnlich dein furchtbaren Todesröcheln eines Hünenweibes. Ein weißer Atem
drang unaufhörlich heraus und wälzte sich in dicken Wirbeln auf der Bogen¬
striche hin, während die aus der Feuerung gefallenen glühenden Kvhlenmassen,
rot wie das Blut ihrer Eingeweide, einen schwarzen Qualm hinzufügten. Der
Nauchschlot war durch den gewaltigen Stoß in die Erde getrieben worden;
der Rahmen war an der Stelle, wo er zu tragen hat, geborsten und hatte die
beiden Längenstücke verbogen. Die Räder in der Luft, einem ungeheuern
Streitroß gleich, aufgeschlitzt wie durch den »nichtigen Stoß eines Stierhornes,
so lag die Lison da uiid ihre» gewundne» Kurbelstaiigen, ihre» zerrissenen
Zylindern, ihren zerbrochenen Schiebern und Er.zcntrikscheibeu alles eine
fürchterliche in die Luft hiueingahuende Wunde, aus der die Seele allmählich
mit dem Toben einer wahnsinnigen Verzweiflung entflog." Svvcrine bleibt
unbeschädigt, Jacques wird betäubt ans den Trümmern hervorgezogen und
nach Severines nahegelegenen Besitzung Croix-de-Manfras, die sie bis dahin
ängstlich gemieden hat, gebracht. Flore hat ihren Zweck nicht erreicht und
läßt sich vou einem Eisenbahnzüge in Stücke reißen.
Nun häuft sich eine Greuelthat auf die andre; in einer Anwandlung von
Eifersucht und getrieben von bestialischer Mordgier ersticht Jacques seine Ge¬
liebte in Croix-de-Manfras. „Eine zügellose Frende, ein unsagbarer Genuß
schwellte dabei seine Brust in der vollen Erfüllung des unendlichen Wunsches.
Er fühlte eine stolze Überraschung, eine Vergrößerung seiner männlichen Selbst¬
herrlichkeit. Er hatte die Fran getötet; er besaß sie nun, wie es seit langer
Zeit sein Wunsch gewesen war, ganz und gar bis zur Vernichtung. Sie war
nicht mehr, sie sollte niemandem mehr angehören. ()n ne tue eins sou8
l'jmxuleion ein saug et Ach nerks, rin röste ach Ävoivmws lüttes, In, uäoessitö
<le vivrs, ig, Mg ä'etre kort." Diese Stelle ist geradezu eine Verherrlichung des
Mordes und müßte eigentlich als Motto auf den Kriminalakten jedes Staats-
anwalts stehen.
Der Verdacht des Mordes fällt ans Rvubaud und Cabuchvn, diesen armen,
unschuldigen, dummen Teufel, und beide werden nach langem gründlich ge¬
führten Prozeß zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt. Schließlich gerät
Jacques mit seinem stets betrunkenen Heizer Pecquenx in Streit; Eifersucht
kommt hinzu, und während sie mit ihrer Lokomotive einen Militärzug fortzu¬
schaffen haben, der französische Truppen in den Krieg mit Deutschland führe»
soll, kommt es zwischen beiden auf der Lokomotive zu furchtbarem Kampfe, sie
Packen sich, stürzen beide in voller Fahrt mit entsetzlichem Schrei herunter und
werden zermalmt. Der Zug aber jagt mit rasender Geschwindigkeit weiter
durch alle Stationen: ohne Führer, in stockfinstrer Nacht, rollt er und rollt
und rollt wie eine blinde und taube Bestie, die man in den Tod schickt, be¬
laden mit jenem Kanonenfutter, mit jenen stumpfsinnigen, betrunknen und Lieder
brüllenden Soldaten.
Mit diesem Satze schließt die wunderbare Dichtung. Es ist einem nach
dem Lesen zu Mute, als hätte man einen unheimlichen schweren Traum gehabt,
als wäre man aus der gesunden Wirklichkeit in die Welt Geisteskranker ge¬
schleppt und dort mit allen Mitteln der Verführung festgehalten worden. Mau
klappt unwillkürlich das Messer auf dem Schreibtische zu, um von Anwand¬
lungen frei zu bleibe», aber mau klappt auch das Buch zu, um aufzuatmen
und die durcheinander gewirbelten Gedanken wieder in die richtige Reihenfolge
zu bringe».
Es wäre ein Leichtes, nachzuweisen, daß wir nicht nur unter den Figuren,
sondern auch in de» Szenen, die uns Zola in l^l l^>ceo incurgiiie vorführt,
diele alte Bekannte finden, die uns schon in frühern Romanen des Verfasse'.'.>
entgegengetreten sind. Aber das wollen wir Zola nicht zum Vorwurf an¬
rechnen, das erklärt sich ja aus seiner erschreckend armseligen Erfindungskraft;
daß er uns aber in den brutalen Liebesszenen immer wieder die alten „be¬
währten" Clichvs bietet, daß er nach einer langatmigeu, bis zur Erschöpfung
herausgeauälten Beschreibung dem Leser immer wieder einen neuen Rippenstoß
durch geschlechtliche Aufreizungen zu geben versucht, und das mit der kalten
Miene eines Sterndenters, unbekümmert um die allgemeine Stimmung und
den logischen Zusammenhang, das ist ein Zug gemeinster Berechnung, der auch
in diesem Roman für jeden unbefangenen Leser unverkennbar hervortritt. Nach¬
dem Suverine den grauenhaften Mord des Präsidenten bis in die Einzelheiten
genau erzählt und in Jacques die alte Erbkrankheit erweckt hat, heißt es: Ix>8
clknts 8srr6e», v'üFiwt plus on'un vvMiöuiönt, ,Jac<zu<Z8 poles lois 1'aoud xrise;
se gvvorms iiuLsi 1e pronait. Hs «e pv886üörent, rvtrouvant 1'amour an toini
«l(! 1» mort, äanii 1» mßme voluvtv cloulourvusv Ass oßtvs <M s'övsutreut
peuäaut Jo rut. I^sur «out'ete iAu<iue, 8on1, s'öutsiiuit. Das erzählt Zola
vou Wesen, die er uns nicht etwa als Verrückte, sondern als ganz verständige,
natürlich empfindende Menschen vorstellen möchte, denen wir Tag für Tag
im Leben begegnen können, das erzählt er von einem Weibe, von dem er kurz
vorher gesagt hat, es besitze kindliche Reinheit und Jungfräulichkeit.
Hui, <lit p8Mu)l.0g'U6, ein trsltrs u, I-> v6rit6! läßt Zola in seinem Roman
I^'Oouvro den Saudoz ausrufen, und darin liegt so ziemlich sein ganzes ästhetisches
Glaubensbekenntnis. „Zola ist kein Psycholog, sagt Pellissier, es gelingt ihm
wohl, beschränkte und rohe Menschen zu schildern, bei denen sich das Gefühls¬
leben kaum von den sinnlichen Trieben unterscheidet; aber sobald sich seine
Analyse an weniger tierische Wesen wagt, ist er unfähig, in ihr innerstes Leben
einzudringen; seine plumpe Physiologie erstickt dann jede Psychologie. Er
wählt sich vor allem solche Helden ans, bei denen die Nervenkrankheit jeden
Willen zum. Widerstande gelähmt hat. Mit solchen Personen hat der Seelen-
forscher allerdings nicht mehr viel zu schaffen; welchen Stoff könnte» ihm
Wesen bieten, die sich lediglich durch ihre Nerven und ihr Blut beherrschen
lassen? Zudem Zola für jedes seiner Werke eine bestimmte Nervenkrankheit
zuni Ausgangspunkte nimmt, giebt er jenem gleich von vornherein seiue Be¬
deutung. Soweit es in seiner Macht steht, unterdrückt er dadurch selbst die
freien Kräfte des Geistes und des Willens, die den verhängnisvollen Neigungen
des Temperaments Schach bieten könnten. Er verkündigte von Anfang an,
was er sein wollte: no» xs« um pvmtrk as 1'uonuuv, mai8 1v peiutrs x»r
öxosllönvL <I«Z v0 <zus lui-um'me! -rppslle! la betg liuing-imo.
Auch in dem vorliegenden Romane finden wir dieselben Fehler, aus denen
Zola in geschickter Berechnung eine besondre Tugend, eine hervorragende Eigen¬
tümlichkeit seiner Kunst machen möchte: eine schmucklose, kalte und dabei oft
phrasenhafte Sprache, eine auffallende Armut an Gedanken, eine finstere, ein-
heilige, humorlose Lebensanschaung, eine ermüdende Einförmigkeit des Auf¬
baues. Das Lebe» und Treiben ans dem Bahnhofe, die Thätigkeit der Be¬
amten, die einzelnen Dienstverrichtungen bei Tag und Nacht, alles wird uns
unzähligemale vorgeführt und fast immer in derselben Darstellung, mit den¬
selben Farben, in denselben Ausdrücken. Die Strecke von Havre nach Paris
und umgekehrt läßt uns Zola fast in jedem Kapitel fahren, und jedesmal hören
wir bis zum Überdruß die Namen der Stationen und sehen die Kurven und
werden durch die Tunnel geschleppt. Wenn Zoln einmal versucht, einen höhern
Gesichtspunkt zu gewinne» und aus den Kreisen des tierischen Daseins einen
Weitblick i» das Kulturleben der Völker zu werfen, welche Oberflächlichkeit,
welche Gedankendürre offenbart sich da! Wie oft wiederholt sich der billige
Vergleich der Lokomotive mit einem Menschen, mit einem Weibe, und wie ver¬
sessen ist der Verfasser darauf, uns jeden Bestandteil, jede Vorrichtung, jede
Schraube an der Maschine mit Namen zu nennen! Man hat seinen Roman
Mvo als eilt Namiöl an oliasubUer bezeichnet, ein Handbuch für Me߬
gewandmacher; man könnte mit demselben Rechte Lote lluimüue. ein Hand¬
buch für Lvkomvtivenführer nennen.
Was Pellissier über Zolns Sprache und Form in seinen frühern Romanen
sagt, das gilt auch von Ilg, LSto lium-rino. Was sie charakterisirt, ist el» ein¬
förmiges Übermaß, etwas Vollgepfropftes, Schwerfälliges, schlackenartiges,
eine beharrliche vierschrötige Gleichmäßigkeit, die ohne Zartheit ist, ohne Ar-
ome, ohne Phantasie in Einzelheiten, ohne eine andre Bewegung als die der
^rcitgezogenen Gedaukenmassen. Keine Geschmeidigkeit, keine Lebendigkeit der
Phhsiognomie; eine Litanei regungsloser Satzgefüge, die durch keine auffallende
^rscheiuuug unterbrochen, durch keine malerische Vorstellung erheitert werdeu.
Dieser Stil ist wie ein Rezitativ. So nervös, springend, schlvttrig die Schreib¬
art der Goncourts ist, so abgewälzt, einfarbig und versteinert ist die Zolas. So
!^hr die Goncourts an überfeinen und gezierten Wendungen Gefallen finden,
^' griindlich verachtet Zola in seinen letzten Romanen, in seiner ausgebildeten
Manier, das, was er stilistischen Kitzel nennt. Er hat bei Gelegenheit ohne
Sehen erklärt, daß die französische Litteratur, wenn sie den unheilvollen Einfluß
^er Romantik abschütteln wolle, auf die einfache und durchsichtige Sprache des
llebzehnten Jahrhunderts zurückkehren müsse. Aber jener Einfachheit des Aus¬
guckes, die er so laut preist, fehlt es bei ihm leider nur zu oft an Ton und
6'arde, und jene Genauigkeit der Bezeichnung, die er mit Recht die Grund-
^genstlM des Stils nennt, verläßt ihn gerade da, wo es ans eine feine Ab-
lchattirung ankommt. Zola ist kein großer Schriftsteller; er hat sich der
Sprache bedient, ohne ihr sein persönliches Gepräge aufzudrücken; er ist sogar
"lebt immer ein guter Schriftsteller, d. h. ein sorgfältiger und fehlerfreier. Er
treibt nicht nur ohne besondre Vorzüge, sondern sogar ohne Takt und zu-
ve-im ohne Nichtigkeit. Das hindert aber nicht, daß dieser klotzige, dickflüssige,
Plumpe Stil nuf die Dauer den Eindruck einer lähmenden Gewalt und brutalen
Größe ausübt in inniger Übereinstimmung mit der Macht des taube», er¬
barmungslosen Schicksals, das über dem großen Epos l_.o,8 1ion^0n-IVIava.uÄrt
lagert und brütet.
Auf die fehlerhafte, widerspruchsvolle Charakteristik haben wir schon hin¬
gedeutet; es giebt in dem ganzen Roman nur eine Figur, die einigermaßen
der Wahrheit entspricht, gut gezeichnet ist und das Interesse des anständigen
Lesers in Anspruch nehmen kann, das ist der Steinbrecher und Fnhrtnecht
Cnbuchon, jener unglückliche Mensch mit der Hünengestalt und dem Kinder¬
herzen, der einzige ehrliche Kerl in dem ganzen Buche, der aber das Unglück
hat, in jede Mordgeschichte verwickelt zu werden und schließlich infolge seiner
geistigen Beschränktheit für alle unschuldig büßen muß. Im Grunde wäre also
die menschliche Dummheit 1-^ bßw buirmino — wie konnte sich Zoln diesen
Gedanken entgehen lassen? Die Dummheit — welche wunderbare Lösung, welche
weltgeschichtliche Wahrheit!
le schwankenden politischen Verhältnisse Frankreichs, der erbitterte
,>lampf der Parteien und die unsichere Haltung der Regierung
auf die gebietende, den I on ansehende Stellung von Paris
dem europäische» Kuustmarkte nicht den geringsten Eiiuluß
geübt. In Paris werden die größten und inhaltsvollsten Kunst-
sammlungen aus altadlichem Besitz wie aus den in guter Zeit gemachten Er¬
werbungen verkrachter Gründer politischen oder kaufmännischen Charakters ver¬
steigert; nach Paris strömen die reichen Kunstliebhaber ans aller Herren Ländern
zusammen und lassen ihr Gold auf deu öffentliche» Versteigerungen im Hotel
Drouot glüuzen. Außer denk Vorteil, el» mehr oder minder gutes Bild er¬
worben zu haben, schlagen sie, je nach dem aufgewendeten Preise, noch eine
Reklame heraus. Denn die geschickten Neklcuncmacher, die jede Pariser Ver¬
steigerung alter und neuer Kunstwerke in alle Welt hinausschreie» und durch
die Versendung üppig ausgestatteter Kataloge mit Ehrfurcht gebietenden Ra¬
dirungen und Heliogravüren unterstützen, erweisen sich hinterher auch dankbar
gegen die, die ans ihre Reklame hineingefallen sind, und wenn ein reicher
Mann sich durch die geschickten Zwischenrufe bezahlter Agenten verleiten läßt,
für ein Bild, das ans der „Versteigerung des Barons vonB." mit 20 000 Franks
bezahlt worden ist, bei der „Versteigerung des Grafen P." in der Hitze des
dramatisch inszenirten Auktionstreibens 60 000 Franks zu bieten, so wird ihm
beim Zuschlag nicht bloß die Ehre eines dreifachen Händeklatschens der An¬
wesenden zu teil, sondern sein Name wird auch mit Bewunderung in allen
Zeitungen genannt, die sich den Anschein geben, von den großen Intriguen
und den kleinen Kunstgriffen ans den Pariser Versteigerungen keine Ahnung
zu haben. Mancher Vorstand oder Beauftragte einer deutschen Galerie hat im
Hinblick auf seine karg bemessenen Mittel diesem Treiben ^oft mit blutendem
Herzen beigewohnt; mancher mag vielleicht auch, um nicht ganz mit leeren
Händen heimzukommen, mehr für ein Bild gezahlt haben, als er streng genommen
verantworten konnte, und das eine oder andre mal ist es wohl auch einem sehr
geriebenen Kenner — es giebt deren auch unter den Galeriedirektoren — ge¬
lungen, die Meute der Geldprotzen und Reklamemacher von der von ihm ver¬
folgten Fährte abzulenken und ein von der Masse mißachtetes, aber edles Gut
nach Deutschland herüberzuretten. Besser als die Saimnlungsvvrstände sind
natürlich die deutschen Privatsannnler daran, die niemand über die Verwen¬
dung ihrer Gelder Rechenschaft abzulegen brauchen, und daß es auch an solchen
uicht fehlt, die aus den Pariser Versteigerungen manches wertvolle Stück für
Deutschland gewinnen, ist eine der erfreulichen Beobachtungen, die wir auf der
um 1. April eröffneten Ausstellung von Werken der niederländischen Kunst des
siebzehnten Jahrhunderts im Berliner Privatbesitz machen, die von der im
Spätherbst 183(i begründeten „Kmistgeschichtlichen Gesellschaft" in einigen
Räumen der Akademie veranstaltet worden ist.
Die Seele, das belebende, immer neuen Stoff zuführende Element dieser
Gesellschaft bilden die Vorstände und Beamten der königlichen Kunstsammlungen
Berlins, in erster Reihe Wilhelm Bode, ein Mann von stählerner Energie und
u»ermndlicher Arbeitskraft, der seit länger als anderthalb Jahrzehnten alle Vor-
i^uge auf dem internationalen Kunstmarkte mit Argusaugen überwacht, ent¬
weder selbst für die königlichen Sammlungen daraus Vorteil zieht oder die
'ülfmert'sanken der ihm bekannten Privatsannnler auf das von einem jeden
bevorzugte Einzelgebiet lenkt, und der daneben zwischen häufigen Reisen und
Gütlichen Obliegenheiten noch die Zeit findet, seine wissenschaftlichen Forschungen
M kleinen Abhandlungen und zusammenhängenden Monographien über große
"ud kleine, öffentliche und Privatgalerien dem allgemeinen Interesse zugänglich
->u Mache». Wie er im Verein mit Julius Meyer der königlichen Gemälde¬
galerie und allein der Sammlung der Renaissaucebildwerke ein fast völlig neues
" Gesicht., ^me! in allen Einzelheiten bereicherte und erhöhte Bedeutung gegeben
so hat er auch einen nicht geringen Teil dazu beigetragen, daß die Freude
an dem Besitz alter Kunstwerke in Berlin bedeutend zugenommen hat, und die Zahl
und der Fleiß der Sammler gewachsen sind. Auch diese haben in der „Kunst¬
geschichtlichen Gesellschaft" einen Mittelpunkt gefunden, aus dem mannichfache
Anregungen stießen, lind aus diesem gemeinsamem Wirken ist jene Ausstellung
hervorgegangen, die einen Überblick über das gewähren soll, was im Berliner
Privatbesitz an künstlerisch oder kunstgeschichtlich bemerkenswerten niederländischen
Kunstwerken des siebzehnten Jahrhunderts vorhanden ist. Es ist nicht etwa
ein Gcneralaufgebvt bis auf den letzten Mann; denn man hat sich, um den
Genuß am einzelnen Werke zu erhöhen, auf etwa 350 Gemälde beschränkt
und auch, mit wenigen Ausnahmen, alle die Gemälde ausgeschlossen, die bereits
auf einer ähnlichen, 1883 zu Ehren der silbernen Hochzeit des kronprinzlichen
Paares veranstalteten Ausstellung zu sehen waren. Damals bildeten mehrere
Porträts von van Dhck, Rembrandt und Terborch, Werke ersten Ranges, einen
der Hauptvorzüge der Ausstellung, während die gegenwärtige an ausgezeich¬
neten Bildnissen arm ist. Dafür bietet sie aber einen Ersatz durch eine Reihe
vortrefflicher Stillleben, Landschaften und Mariner, die zusammen mehr als
zwei Fünftel der Gemäldeausstellung bilden.
Neben diesem Einblick in die Erwerbsthätigkeit der Berliner Sammler
während des letzten Jahrzehnts bietet die Ausstellung noch einen zweiten stark
hervortretenden Chnrakterzug von lvkalgeschichtlichem Interesse. Der erste nam¬
hafte Mann, der in Berlin alte Kunstwerke systematisch gesammelt und daneben
zugleich die Kunst und die kunstgewerbliche!? Betriebe seiner Zeit nach seinen
Begriffen durch Ankäufe, Bestellungen und dauernde Beschäftigung von Künstlern
und Kunsthandwerkern unterstützt und gefördert hat, war der große Kurfürst
Friedrich Wilhelm. Aus seinem Aufenthalt in den Niederlanden während
seiner Jugendzeit hatte er die Vorliebe für die dortige Kunst mitgebracht, und
er hat nicht nur beständige Beziehungen mit dein Kuustinarkt in den Haupt¬
städten der Niederlande unterhalten, sondern auch holländische und in Holland
gebildete Künstler an seinen Hof gezogen. Obwohl ein beträchtlicher Teil der
vom Kurfürsten angekauften Werke niederländischer Meister, darunter natürlich
die künstlerisch wertvollsten, bei Begründung der königlichen Museen an diese
überwiesen worden ist, haben doch die königlichen Schlösser noch einen so statt¬
lichen Besitz von Kunstwerken, die teils vom großen Kurfttrsteu angekauft und
bestellt, teils ihm durch die sogenannte „oranische Erbschaft" von 1075 zuge¬
fallen sind, daß die Veranstalter der Ausstellung auf den Gedanken kamen,
durch eine Auswahl aus diesem Bestände eine Vorstellung von den Kunstlieb-
habereien des großen Kurfürsten zu gebe». Bei dein Mangel eines Verzeich¬
nisses der von ihm zusanlinengebrachten und hinterlassenen Kunstwerke kaun
freilich nicht mehr im einzelnen nachgewiesen werden, was von Friedrich
Wilhelm herrührt. Wenn man aber in Betracht zieht, daß anßer ihm nnr
Friedrich II- ein hervorragender Knnstsammler des königlichen Hauses war,
dessen Neigung sich über vorzugsweise auf die französischen Meister der Nokoko-
zeit init auf große wirkungsvolle Stücke der niederländische» Schule, besonders
von Rubens, van Dyck und ähnlichen Künstlern, erstreckte, so ist man zu dem
Schlüsse berechtigt, daß die Mehrzahl der in den königlichen Schlossern be¬
findlichen holländischen Bilder — der gesamte Bilderbesitz beläuft sich nach den
Angaben Dr, Dohmcs ans rund achttausend Stück — vom große» Kurfürsten
Weniger glückliches bei seinen Ankäufen niederländischer. Gemälde — mit
italienischen hat er manches Mißgeschick gehabt — ist der Fürst bei der Be¬
rufung niederländischer Künstler nach Berlin gewesen, wobei wir freilich nicht
außer Acht lassen dürfen, daß unser Kunstgeschmack ein wesentlich andrer ist
als der der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, und daß die Leute
jener Zeit unzweifelhaft mit andern Augen urteilten als wir. Es genügt,
daran zu erinnern, daß van der Helft von seinen Zeitgenossen ungleich höher
geschätzt und besser bezahlt wurde als Rembrandt, den uns jüngst ein sonder-
barer Schwärmer als den Generalschulmeister Deutschlands enthüllt hat, von
dem alles Heil in Gegenwart und Zukunft zu erwarten sei, daß Jakob van
Ruisdael, Aare van der Neer, van Goben und Jan Steen ihre Meisterwerke
mit 20 bis l>0 Gulden verkaufen mußte», während Modemaler wie Frans und
Willen, van Mieris und van der Werff mit Gold und Ehren überhäuft wurden.
Und so mag auch der große Kurfürst die beiden van Hvnthorst, Gerard und
Wille»,, viel höher geschätzt haben, als wir es vermögen. Bon erster,,, hat
die Ausstellung drei große Bilder, zwei mythologische und ein Schäferstück,
aufzuweisen, alle drei gleich leer und frostig, und Wille», on, Honthvrst war
von 1647 bis 1664 kurbraudcuburgischer Hofmaler, hat auch als solcher eine
große Zahl von Familieubildnissen gemalt. Wie Dohme aus den Rechnungen
ermittelt hat, erhielt er für Brustbilder bis zu 16, für Reiterbilder und Bild¬
nisse mit Staffage» bis zu 200 Thaler. Von de» zahlreiche,, Proben seiner
Kunst, die unsre Ausstellung vorführt, weist ihm aber keine einen hervor¬
ragenden Platz unter den niederländischen Bildnismalern an. Seine Malweise
war hart und trocken, seine Auffassung geistlos, ja philisterhaft. Nur ein
einziges Bildnis, das einer fürstlichen Frau i», Witwenschleier, vermutlich die
Karfürstin Elisabeth von der Pfalz, die Gemahlin des Winterkönigs, flößt
durch Feinheit der Charakteristik ein tieferes Interesse ein. Ein Hauptbild,
bisher uuter seinem Namen ging, mußte ihm auf Grund eingehender,
durch diese Ausstellung veranlaßter Prüfungen genommen werden: das lebens¬
große Doppelbildnis des großen Kurfürsten und seiner Gemahlin Luise Henriette.
ist eine hervorragende Arbeit des Pieter Räson, eines unter dem Einflüsse
von Navesteyn gebildeten Malers, der feit 1639 im Haag thätig war. Noch
geringer sind die Leistungen andrer holländischer Porträtmaler in kurfürstlichen
Neusten, deren Namen nicht bekannt sind, und zweier Stilllebenmaler, des
Schwede» Ottvmcir Elliger, eines Schülers von Daniel Seghers, der von 1670
bis zu seinem Tode 1679 in Berlin thätig war, und des Willem Frederik
van Noye, der 166!» ans den Haag nach Berlin berufen wurde und dort erst
1713 starb. Der kurfürstliche „^n'stgarten," worin nach holländischem Vor¬
bilde allerhand seltene Blumen und Früchte gezüchtet wurden, bot thuen die
prächtigsten Modelle, und wenn aus dieser Zucht in Farbe und Form seltsame
Gebilde hervorgingen, wurden sie mit andern Abnormitäten, wie z. B. mi߬
gestalteten Eiern und Krebsen, zu einem Stillleben gruppirt und porträtirt.
Noch einen andern Zweig niederländischer Kunstübung suchte der Kurfürst
in Berlin heimisch zu machen, die Deister Fayenceindustrie, die sich bereits um
die Mitte des siebzehnte!! Jahrhunderts zu reicher Blüte entwickelt hatte, und
deren Erzeugnisse der Tulpenliebhaberei ernstliche Konkurrenz bereiteten. Der
Kurfürst ließ Knnsttöpfer und Maler aus Delft nach Berlin kommen, die sich,
wie aus den noch erhaltenen Akten und Rechnungen hervorgeht, gegen einen
bestimmten Wochenlohn zu arbeiten verpflichteten. Diese andre Seite des
kurfürstlichen Kunsteifers hat die Unternehmer der Ausstellung veranlaßt, den
Gemälden gewissermaßen eine kunstgewerbliche Ergänzung dadurch zu geben,
daß man auch die im Berliner Privatbesitz befindlichen Deister Fayencen heran¬
zog. Man machte dabei die angenehme Entdeckung, daß sich in Berlin so
viele Kunstfreunde des Scunmclus Deister Fayencen befleißigen, daß es möglich
wurde, eine ziemlich vollständige, in einzelnen Teilen sogar vorzügliche Über¬
sicht über die Entwicklung und die höchste Leistungsfähigkeit dieses Jndustrie¬
zweiges zu bieten. Mit den Deister Fayencen ist es ein eignes Ding. Während
alle Welt jetzt darüber einig ist, über die Blnmenzwiebelwnt der Holländer
des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts spöttisch die Achseln zu zucken,
steht die Leidenschaft vieler Sammler für Deister Faycueen gegenwärtig noch
in üppigster Blüte, und man läuft Gefahr, für einen Barbaren angesehen zu
werden, wenn man seine Bewunderung dieses meist blau dekorirten Geschirrs
in mäßigen Grenzen hält. Es ist deshalb gut, wenn kühle Bewunderer sich
zu ihrer eignen Sicherheit auf ein nationales Zeugnis berufen können. Abraham
Bredius, der verdienstvolle holländische Kunstforscher, dem wir so zahlreiche
neue Aufschlüsse und neue Beleuchtungen alter Künstler seines Vaterlandes
verdanken, erwähnt in seinem lehrreichen Text zu den Hanfstänglschen Photo¬
gravüren nach den Meisterwerken des Amsterdamer Rijksmuseums auch bei¬
läufig die „großartige Fayeneeindnstrie" in Delft, deren Erzeugnisse jedoch
nach seiner Meinung „jetzt eine fast übergroße Würdigung" erführen. „Die
meisten dieser Arbeiten, sagt er, besitzen keinen nennenswerten künstlerischen
Wert; nur einzelne Sachen, besonders die Landschaften des Fayeneemalers
Fredcrik van Frytom, können sich dessen rühmen." Zu demselben Ergebnis
wird ein unbefangener Beobachter, der nicht zugleich Sammler ist, auch auf
Grund des in unsrer Ausstellung zusammengebrachten Materials gelangen,
obwohl sich darunter Stücke ersten Ranges befinden. Bei einem Bestände von
etwa einhundertsiebzig Vasen, Krügen, Fluten, Schüsseln, Tellern, Büchsen
und bemalten Platten zum Wandschmuck macht sich eine verhältnismäßig große
Armut an Formen bemerkbar; sie schließen sich meist eng an chinesische und
japanische, seltener an italienische Vorbilder an. Selbst die nationalen Tulpen-
uud Hyazinthenstäuder kennzeichnen sich in ihrem pyramidenförmigen, nach
Etagen gegliederten Aufbau als Nachahiuungeu chinesischer Pagoden. Auch
die Dekoration der großen Prachtgcfäße, der aus drei, fünf, sieben und mehr
verschiedenartig gestalteten Vasen bestehenden „Sätze/' ist vielfach chinesischen und
japanischen, bisweilen persischen und gelegentlich auch Meißener Mustern nach¬
gebildet worden, und wenn wir wirtlich einmal eine vollkommene Überein¬
stimmung zwischen Form, Malerei und tadelloser Weiße und Durchsichtigkeit
der Glasur zu bewundern haben, so gilt diese Bewunderung doch mir dem
zur höchsten Virtuosität ausgebildeten Geschick eines Nachahmers. Neben
dieser Abhängigkeit von ostasiatischen Vorbildern, deren befruchtende Einwirkung
auf die Deister Industrie übrigens trotz der obigen Bemerkungen nicht unter
schätzt werden soll, machte sich aber schon frühzeitig ein starker nationaler Zug
geltend. Töpfer und Maler bemühten sich eifrig, neue Formen zu gestalten
und durch eigne Erfindungen zu beleben. Und wenn wir unsre Ausstellung
daraufhin prüfen, kommen wir zu demselben Ergebnis wie BrcdiuS, daß nämlich
der 1060 thätige Frederik van Frytom der künstlerisch bedeutendste
Faheneemaler Delfts war. Acht Teller mit weißen Rändern und zwei vier¬
eckige Platten sind mit landschaftlichen Darstellungen nach heimischen Motiven
geschmückt, die in der Feinheit und geistreichen Lebendigkeit der Zeichnung
an die landschaftlichen Radirungen der Holländer erinnern. Vor dem Richter-
stllhl der ästhetischen Kritik unsrer Tage, die verlangt, daß der künstlerische
Schmuck eines Gerätes oder Gefäßes in logischem Zusammenhange mit seiner
Bestimmung stehe, würden solche Teller freilich nicht Stich halten, weil es
widersinnig'ist, gemalte Landschaften mit Speisen zu belegen. Aber derartige
Malereien' werden auch im siebzehnten Jahrhundert wahrscheinlich nur als
Schaustücke gedient haben, die man auf Kamiusimsen, auf Wandbrettern und in
Schränken aufrecht aufstellte. Ein geringerer Künstler als Frytom ist Hnibrecht
Vrvwer, der auf zwölf Tellern unsrer Ausstellung den Fang, die Bereitung
und die Versendung des Härings in genrebildlichen Szenen geschildert hat; aber
er hat doch den Vorzug, daß er mit Frytom die Richtung ans das Volkstümliche
teilt, während Adrian Pynacker, Samuel van Eeenhvrn, Lonwys Fietoor und andre,
Kor den Sammlern nicht minder geschätzte Maler sich meist in der Nachahmung
Kor allerhand ostasiatischen nud orientalischen Vorbildern gefallen. Auch der
fremden Formen scheinen die Deister Töpfer frühzeitig überdrüssig geworden zu sein,
°a sie nicht nur heimische Geräte ans anderm Material, wie z. B. Altarlenchter,
Butter- und Tabakbüchsen, in Thon nachbildeten, sondern mich runde Figuren
"As dem Volksleben schufen und schließlich auf allerlei Absonderlichkeiten und
Torheiten verfielen, von denen die seltsamsten, wie Pantoffeln und Geigen,
"uscheiuend am meisten begehrt waren, die jedenfalls jetzt zu dem gesuchtesten
Wild der Sammeljäger gehören. Nach dem vielen Blan ans Weiß ist das
bunte Delft für das Ange eine wahre Erquickung, und auch davonführt
Uns die Ausstellung ein Paar köstliche Proben in einigen, vielleicht nach
^'fischen Mustern mit Blumen bemalten Vasen, in einem gerippten, in so-
n>ärnten Cachemirstil dekorirten Henkelbecher mit Aufguß und der kleinen
^gur einer aus einem Notenblatte singenden Dame im modischen Schleppkleid
^ ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts vor.
^. In Berlin scheint die von Delft eingeführte Industrie nicht zu großer
s'une gediehen zu sein. Ein paar auf der Ausstellung befindliche Salz-
Nier und Schälchen, die nach der Angabe des Katalogs von holländischen
Arbeitern zwischen 1670 und 1710 in Berlin ausgeführt worden sind, erwecken
"ur eine geringe Borstellung von ihrer Kunstfertigkeit. Wesentlich höher steht
umfangreiches, ans sieben mit Deckeln versehenen und an einander ge-
paßten Behältern bestehendes Frühstücksservice, das nach Art unsrer soge-
»annuler schwedischen Kabarets angeordnet und mit Königskronen verziert ist.
Nach dein Katalog ist es ebenfalls „wahrscheinlich von holländischen Arbeitern
in Berlin gefertigt." Aber trotz des Reichtums der Bemalung lassen gewisse
Ungleichheiten der Technik darauf schließen, daß der Betrieb nicht zu gründ¬
licher Allsbildung gelangt ist.
Als einen Förderer der Kunst und der Künstler im modernen Sinne wird
man den Kurfürsten Friedrich Wilhelm kaum anzusehen haben. Er war nur
ein Liebhaber und Sammler in großem Stile, der alle Erwerbungen auf seine
Person bezog, und sie nur zur Erhöhung des Glanzes seines Hauses machte,
wohl ohne daß es ihm in deu Sinn gekommen ist, dadurch ein künstlerisches
Interesse in den weitern Kreisen seines Volkes zu erwecken, und der nach
damaliger Mode ebensowohl Kunstwerke wie Merkwürdigkeiten ohne Kunstwert
ankaufen ließ.
Trotz der großen Vorliebe, die das ganze siebzehnte Jahrhundert und der
erste Teil des achtzehnten für Stillleben jeglicher Art, für Frucht- und Blumen¬
stöcke hatte, ist es auffällig, daß die Bilder dieser Gattung in der Mehrzahl so
schlecht im Preise standen, um so auffälliger, wenn man berücksichtigt, daß anf
keinem andern Gebiete der Malerei im Durchschnitt so vortrefflich gemalt
wurde. Auch die Stilllebeumaler der neuesten Zeit haben ja in der Wieder¬
gabe von Stoffen, Edelmetallen, Gläsern, Kleinodien, Geflügel, Blumen,
Früchten u. tgi. in., die Franzosen wie die Deutschen, eine koloristische Vir¬
tuosität und einen Geschmack des Arrangements erreicht, die sich in ihren besten
Leistungen mit den Werken von Frans Snyders, Fyt, Pieter Claesz, Heda,
de Heem, Kais u. a. wohl messen können. Gleichwohl behalten die alten
Stücke über die modernen eine große Überlegenheit durch die Naivität, die
scheinbare Uuabsichtlichkeit der Anordnung und dadurch, daß sich die .Kultur
eines Zeitalters darin widerspiegelt, das Lebensblut einer bestimmten Zeit
darin pulsirt, während man es auch den besten modernen Stillleben anmerkt,
daß sie künstlich und raffinirt zusammengestellte kunstgewerbliche Altertümer,
echte und nachgemachte, Naritäteukram, Musterbeispiele der Treibhäuser wieder¬
geben, ohne einen kulturgeschichtlichem Gesamttvn zu haben. Daß die altnieder-
ländischen Bilder dieser Gattung so schlecht bezahlt wurden, mag zum Teil an
der äußerst starken Produktion und der Konkurrenz der einzelnen Maler liegen.
Fast jede Ausstellung alter Gemälde bringt uns zu den alten geläufigen Name»
neue, die unsrige z. B. neben Meisterwerken von Abraham van Beheren, Pieter
Claesz, Don, Fyt, Heda, Cornelis de Heem, .Kais, Snyders und Juriaen van Streeck
gediegene, zum Teil sogar ausgezeichnete Stillleben u. s. w. von Künstlern, deren
Namen Anthvuh van Claesz, Collier, A. de Gries, Horst, Luttichuhs, Mauert,
Verhehden u. a. in. selbst Kunsthistorikern nur wenig oder gar nicht bekannt sein
dürften. Verhältnismüßig am meisten bekannt unter den genannten ist Evaert
Collier, der meist in Leyden thätig war und dort für den Bedarf der Uni-
versitätsprofessoren und ihrer Kreise „gelehrte Stillleben," aus Büchern,
wissenschaftlichen Instrumenten, Globen, Zeichnungen, Kupferstichen, Manu¬
skripten u. tgi. in. zusammengesetzt, so vortrefflich malte, daß sie hinter ähn¬
lichen Arbeiten Dorf nicht zurückstehe». Daß die Mehrzahl dieser Stillleben
bei Lebzeiten ihrer Schöpfer trotz der großen Nachfrage so wohlfeil wor,
während sie jetzt mit unverhältnismäßig hohen Preisen bezahlt werden, mag
auch zum Teil in der schon oben erwähnte», im Verlaufe von zwei Jahr?
Hunderte» erfolgten Veränderung des (Geschmacks »>it des Verständnisses für
das rein Malerische begründet sein, wenn mich »och andre Umstände, Er¬
höhung des allgemeinen Wertes des (Geldes, der Gegensatz zwischen Bilder»,
die damals nen, also stets zu habe» lvaren und jetzt Altertümer sind, n, a,
mitsprechen.
Ein besondres Stiefkind des (Glückes unter diesen Stilllebenlnalern scheint
Abraham van Beyeren gelvesen zu sein, der große unübertroffene Meister in
der Darstellung toter Fische und wvhlbesetzter Frühstückstische, von dein die
Ausstellung fünf prächtige Arbeiten vorführt. Diesem ausgezeichneten Künstler
ging es, wie wir aus einer gerichtlichen Urkunde erfahren, im Jahre 1661 so
schlecht, daß ihn sein Schneider wegen eines gelieferten Umzugs für 101 Gulden
verklagen mußte, den er halb in Geld, halb in Bildern zu zahlen versprochen
hatte. Abraham van Beyeren hatte aber nnr drei Bilder im Werte von
66 Gulven hergegeben und kein baares Geld sehen lassen. Es wurde nun
der „berühmte Maler Adriaen Hannemauu" zur Abschätzung der Bilder von
Gerichtswege» hinzugezogen, und nach dessen Gutachten empfahl das Gericht
dem Schneider, er solle sich den Anzug ganz in Bildern bezahlen lasse», die
er aber dann bloß mit 14 bis 15 Gulden das Stück zu berechnen branche!
Auf den Versteigerungen der letzten Jahre habe» Bilder our Beyerens Preise
bis zu 6000 Mark erreicht. Zufällig besitzt die Ausstellung auch eine Probe
der Kunst des „berühmten" Adriaen Hannemann, der die Arbeiten des armen
van Beyeren so gering abschätzte. Es ist ein ziemlich handwerksmäßig gemaltes
Bildnis einer oranischen Prinzessin, das keinen hohen Begriff von der .Kunst
seines Urhebers gewährt, für sich allein aber nicht zur Beurteilung des Künstlers
ausreiche» würde. Aber auch aus andern Bildnissen geht hervor, daß er kein
hervorragender Meister war. Er verdankte seine angesehene Stellung wohl
meist dem Umstände, daß er ein Schüler van Dycks gewesen war, und mit
diesem bis 1640 in England gearbeitet hatte. Er wurde von der oranischen
Familie, zuletzt besonders vo» dem Prinzen Willem III., reich mit Auftrüge»
bedacht, erwarb auch ein Vermögen. Doch verlor er seine Habe »och i» seine»
letzten Lebensjahren, sodaß seine Erben, wie Bredius in seiner genannten Ver¬
öffentlichung mitgeteilt hat, 1672 die Erklärung abgaben, daß sein Nachlaß
keine tausend Gulden wert gewesen sei.
Von dem größten holländischen Landschaftsmaler, der nach einem überaus
arbeitsamen Lebe» erst vierundfünfzigjährig in einem Armenhause zu Haarlem
starb, von Jakob van Ruisdael, bringt die AusstelllUlg nenn echt bezeichnete
Bilder zur Kenntnis weiterer Kreise. Sie sind von ihren Besitzern in den
letzten zehn Jahren angekauft worden, ein Umstand, der uns beweist, daß
Ruisdael sich immer tiefer i» der Neigung der Kunstfreunde lind Kunstsammler
festsetzt, und daß ihnen ihre Gunst nnr vorübergehend durch deu weniger viel¬
seitigen und minder geiht- und empfiudungsvolleu Hobbema streitig gemacht
worden ist. Jede neue Ausstellung bringt neue Unterlagen für die Berech¬
tigung des hohen Ranges, den Wvermann in seiner „Geschichte der Malerei"
dem Hnarlemer Meister anweist, in dem wir „in manchen Beziehungen sogar
den größten Landschaftsmaler der Welt" zu verehren haben. Unter den neun
Bildern befinden sich nicht nur einige, die in dem Werke Jakob van Nnisdaels eine
hohe Stelle einnehmen, sondern sie vertreten auch alle Seiten seiner Kunst mit
Ausnahme der Seestücke und der sehr seltenen Städteansichten. Wir sehen zwei
jener prächtigen Wasserfälle, die übrigens jetzt bei den Sammler» in geringerer
'
Schützung stehen, als die feinen Stimmungsbilder mit kleinen Weihern n.,^
Bäumen, durch deren Stämme das Licht der untergehenden Sonne blinkt, ^l-
öcher zwei charakteristische Beispiele dieser Gattung, die jetzt vielleicht deshalb /
beliebt ist, weil sie als Vorbild und Vorläuferin des französischen k'nFsgM intiiy"
und der deutscheu Stimmungsmalerei zu betrachten ist, wir sehen eine der selten^
Winterlnndschaften Rnisdaels, ferner einen Fluß mit steil ansteigendem gelbe,!
Sandufer und einem Wege daneben, ein Bild, das die Jahreszahl 1647 trägt,
ein Jugendwerk des Meisters nach einem Motiv aus der Umgebung Haarleins ist
und zwei hügelige Landschaften mit Bauernhütten und alten Buchen. Aber alle
diese an und für sich ausgezeichneten Bilder übertrifft durch poetische Am-
fnssung, durch die Feinheit der Beleuchtung, die Klarheit des Tones, die ez>^.
schlosseuheit der Stimmung und die Stärke der Empfindung eine „Ruine h„
Walde," der Chor einer verfallenen, aus Backsteinen erbauten Kirche iumitte,,
eines Bucheuhags, vor dem ein Künstler zeichnet und ein andrer Mann ih,„
zusieht, und mit einem breiten, dem Vordergrunde zufließenden Gewässer
Dieses köstliche Werk steht nicht weit hinter dem berühmten „Judenfriedhvf"
in Dresden zurück, und man wird es wohl auch den beiden letzten Jahrzehnte,,
des Künstlers zuschreiben dürfen, wo er erst die volle Höhe seiner Meisterschaft
erreichte. Es bestätigt uns von neuem, wie fein und richtig Woermann die
künstlerische Entwicklung Rnisdaels vom Nachahmer der Natur zum frei¬
schaffenden Dichter kennzeichnet und denen gegenüber, die nnr die „realistischen"
Landschaften Rnisdaels, also die Naturporträts, als seine gesundesten Schöpfungen
gelten lassen wollen, mit Nachdruck betont, daß der „Jndenfriedhvf" und die
ihm in der Stimmung und poetischen Idealisirung der Natur verwandte,,
Bilder nicht einen Rückschritt, sondern „einen Fortschritt zu jenen höchste
Höhen der Kunst bezeichnen, die nnr ganz wenige Sterbliche erklömme,,
haben."
Wir haben schon erwähnt, daß neben den Stillleben die Landschaften de„
besten Teil der Ausstellung bilden. Nicht minder vorzüglich als Ruisdael ist
Jan van Goben vertreten; es sind acht Bilder von ihm ausgestellt, die eben¬
falls eine gute Vorstellung von dem Arbeitsgebiet des fruchtbaren Meisters
geben, dem es besonders um die poetische Wiedergabe der Stimmungen der
feuchten, über Flüssen, Dünen und Küstenstrichen lagernden Luft und um die
feinste Durchbildung eines malerischen Gesamttons bei weit ausgedehnter Per¬
spektive zu thun war. Von Aare van der Neer, dem dritten im Bunde dieser
großen Landschaftsmaler, sehen wir drei Bilder, zwei seiner fein gestimmte»
beliebten Eisbahnen mit Schlittschuhläufern und eine Straße am Waldsaum,
bei Tagesbeleuchtung. Man sollte meine», daß die aus starke Wirkung aus¬
gehenden Mondscheiulandschaften und nächtlichen Feuersbrünste, die den Namen
des Künstlers am meiste,, bekannt gemacht haben, bei seinen Lebzeiten eine
große Anziehungskraft ans das kaufende Publikum gehabt haben müßten. Das
scheint aber nicht der Fall gewesen zu sein, da Ä, Bredius neuerdings aus
Urkunden ermittelt hat, daß Aare van der Neer im tiefsten Elend 1677 als
Gastwirt gestorben ist. Er war also, wie nicht wenige seiner Holländischen
Kunstgenossen, zuletzt genötigt, die Malerei aufzugeben und ein Gewerbe zu
ergreifen, das seinen Mann besser zu ernähren versprach. Auch Jan Steen
war Gastmirt und Bierbrauer, Esaias Voursse, ein erst neuerdings bekannt
gewordener, dein Pieter de Hvoch nahestehender Genre- und Jnterieurmaler,
war Matrose, und unsre Ausstellung enthält zwei Bilder mit Kriegs- und
Lllstschlffen von der Hand des holländischen Malers Maddersteg, der zugleich
das solidere Geschäft eines Schiffsbauers betrieb.
In günstigern Verhältnissen lebte Aelbert Cuyp, der allerdings nicht
bloß Landschaften, sondern auch Bildnisse, Stillleben und Tierstücke malte.
Das Mondscheinbild unsrer Ausstellung, el» ruhiger, breiter Wasserlauf mit
einigen Segelbooten um einer Landungsbrücke und einer Mühle am Ufer, zeigt,
daß Cuyp die Wirkungen des Mondlichts mit ebenso großer Meisterschaft und
„och mit größerer poetischer Kraft und Wahrheit zu schildern verstand als
die breiten Fluten goldigen Sonnenlichts, die sich über seine Flnßlandschaften
ergießen. Auch eine weite, sich bis an die Dünen am Meeresstrande erstreckende
Flachlnndschaft mit einer Stadt und vereinzelten Gehöften von dem Amster¬
damer Philips de Kvning (1619—1688) gehört zu den landschaftlichen
Schöpfungen ersten Ranges.
Zum Schluß verzeichnen wir noch einige Werke, die von kunstgeschicht¬
lichen Interesse oder doch für die künstlerische Entwicklung ihrer Urheber
wichtig sind. Von zwölf dein Rubens zugeschriebenen Bildern sind sieben Wohl
unzweifelhaft eigenhändige Arbeiten des Meisters: das Brustbild eines römischen
Kaisers, das schon um der vollen Bezeichnung willen lUrbeuL1619)
von Bedeutung ist, eine große Diann mit zwei Nhmphen, die von Satyrn im
Bade überrascht werden, ein Bild ans der letzten Zeit des Meisters, eine
sterbende Kleopatra, die unvollendet geblieben ist, ein als Skizze behandeltes
Engelkouzert, Orpheus und Eurydiee, ebenfalls aus der letzten Zeit und im
Hintergründe auch skizzenhaft, und „David und Abigail" und „die Auffindung
von Romulus und Remus," zwei Skizzen zu großen Bildern, von denen das eine
im vorigen Jahre mit der Galerie Seervtans versteigert wurde, das andre
sich in der Galerie des Kapitolinischen Museums befindet. Die übrigen fünf
sind Schul- oder Werkstattsbilder, von denen uur eines, eine figurenreiche Ge¬
burt der Venus, insofern einiges Interesse einflößt, als es dieselben Typen
der Figuren von Nymphen und Meergottheiten und eine ähnliche, nur uoch
kreidigere und seifigere Malweise zeigt wie das große, gleichfalls aus der
Werkstatt des Meisters hervorgegangene Bild des Berliner Museums „Neptun
und Amphitrite," das die Direktoren der Galerie nach wie vor für ein völlig
eigenhändiges Wert von Rubens halten. Die acht von dem Katalog dem
our Dyck zugeschriebene» Bilder sind durchweg geringe Werke. Drei von ihnen,
das Brustbild eines Satyrs mit Bogen und Pfeilen, der Kopf eines greisen
Apostels und die beiden Johannes, eine kleine Wiederholung des großen in
der Berliner Galerie befindlichen Gemäldes gleichen Inhalts, scheinen zu der
Klasse derjenigen Bilder zu gehören, die van Dyck in den Jahren 1617 bis
1620 in Rubens Werkstatt gemalt hat und die nach den scharfsinnigen, aber
noch nicht zu Eude geführten Untersuchungen Bodes Rubens Stil eine Zeit
lang beeinflußt nud wesentlich umgestaltet haben sollen. Unter sechs Bildern
Rembrandts finden sich zwei für seine erste Entwicklung charakteristische Werke:
die kleine Darstellung des Simson im Schoße der Delila vom Jahre 1628
und der etwa gleichzeitig entstandene Apostel Paulus aus der Fechenbachschen
Sammlung. Auch diese Jugendwerke Rembrandts sind im Zusammenhang
mit einigen andern in ihrer Bedeutung für den Entwicklungsgang des Meisters
znerst von Bode richtig erkannt und gewürdigt worden. Die Halbfigur
eines Mannes mit einem stählernen Ringkragen um den Hals, mit dem
Namen Rembrandts und der Jahreszahl 1644 bezeichnet, ein Werk aus der
reifsten p.eit des Künstlers (ins der von Bode sogenannten Periode des
farbigen ^elldnukels." ist eines der Bilder, die deutsche Sammler ans Paris,,
Versteigerungen erworben haben. ES stammt ans der Galer.e Secretans,
was ut eine kleine Studie Ne.nbrandts, Christus an der Martersanle, „ut
Jngendwerk des geistvollen Sittenmalers Gabr.el Meyn das Jn.lere einer
Schmiede mit halblebensgroßen K^"r'" darMe.it. w der B^Samml.lnq des Barons von Benrnonvüle um Jahre 1881 in deutsche., Privat.
besitz gelangt sind. Ein fignrenreiches Bild von Abram van Ostade, en, Bauer...
tanz ans der Dorfstraße, dein ein junges vornehmes Paar zuschaut, ist doppelt
merkwürdig, weil es, mit der Jahreszahl 1640 bezeichnet, am Anfange jener
Periode steht, wo Ostade, wahrscheinlich durch Rembrandt beeinflußt, die
Beleuchtung seiner Bilder, namentlich das Helldunkel reicher, feiner und goldiger
ausbildete, und weil das vornehme Paar augenscheinlich von fremder Hand
vielleicht von der eines eleganten Gesellschaftsmnlers, hineingemalt worden ist'
er Winter braucht gar nichr so außergewöhnlich heimtückisch zu sei»
wie der diesjährige, um in uus armen Nordländern die Sehnsucht
nach der sonnigeren ^eile zu wecken. Das langsame Erwachen der
Natur zu beobachten hat gewiß Reize, die uns der Sude»
nicht gewähre» kann, aber die Natur hat leider die Gewohnheit
immer muss neue einzuschlafen und sich im Traume recht
ungeberdig zu benehmen, und dann schnürt der Deutsche, dem von den ersten
Germanenzügen her die Erinnerung an untere Lüfte und reichere Blütenpracht
jenseits der Alpen geblieben ist, womöglich sein Bündel, um unsern schwer¬
fälligerem Frühling ungestört sich einrichten zu lassen. Die Wahl des Weges
ist ziemlich gleichgiltig, alle führen bekanntlich nach Rom. Daß ich immer
wieder über die Tiroler Berge ziehe, mag seinen Grund darin haben, daß ich
von ihnen ans zum erstenmal den blauen Gardasee erblickt habe, das lachende
strahlende Auge, dessen Zauber sich niemals abschwächt, lind auch der Weg
bis zu seinem Gestade entzückt immer muss neue. Einmal den letzten Brenner¬
tunnel im Rücken, blickt man in eine neue Welt. Nicht so plötzlich scheiden
sich Norden lind Süden, Deutsch und Welsch, wie bei Pontebba, aber Schritt
vor Schritt wird alles anders, der Himmel, die Landschaft, die Bauart, die
Menschen. Droben ragen noch die Dvlomidpyramideu im Schnee, um Sonnen¬
untergang in die Farbe reifer Aprikosen getaucht, gletschergrüne oder von
Schnee und Geröll getrübte Gewässer rnuscheu und sprudeln von den Berg¬
wänden, aber im Thale finden sich schon grüne Felder, gvldgelblenchtende
Bachweiden, dann folgen die Weingärten mit ihren noch kahlen Rebengerüsten,
zwischen denen Pfirsich, Mandel und Kernobst üppig blühen, an den Mauern
huschen Falter und schillernde Eidechsen hin, mehr lind mehr zeigen die Häuser
den Beruf, gegen die Hitze zu schützen, und die Menschen tragen eine Sonuen-
farbe zur Schall, die der arme Städter niemals erwirbt. Bei Bozen ruft
bereits die Fülle immergrüner Gewächse: Hier ist der Süden!
Diese» Eindruck habe ich wiederholt und auch in diesem Frühjahre wieder
e>»Ps"»ge'", und »»» werde ich belehrt, daß er auf einer Täuschung beruht.
Der vielgenannte Schriftsteller Heinrich Noe hat für einen — übrigens sehr
empfehlenswerten — Gasthof hart an der Bcchu in Innsbruck ein Büchlein
versaßt, in dem versichert wird, daß mau verständigerweise eigentlich nur in
Innsbruck seinen Wohnsitz aufschlagen könne (Dr, Noe selbst lebt, wenn ich
nicht irre, in München), und daß der Brenner keineswegs, wie allgemein ge¬
glaubt wird, die Wetterscheide sei, Innsbruck vielmehr noch innerhalb der südlichen
'^o»e liege. Hoffentlich erfahren von dieser Entdeckung die Herren Jrredentiste»
nichts, sonst fordern sie auch noch die Herausgabe von Innsbruck! Aber wie
wäre es, wenn Leipzig sich Herrn Noe verschriebe und sich durch Borrückinig
der Wettergrenze nach Schkenditz zum klimatischen Kurort machen ließe? In
mancher andern Beziehung würde es wohl den Vergleich mit Innsbruck auf¬
nehmen können.
In Bozen also wird Halt gemacht, um den Walter von der Vogelweide
zu betrachten, den die Jtalianissimi als eine „Herausforderung" ansehen. Ja
die Deutsche»! Mit ihrer Ländergier lassen sie niemand in Ruhe. Unter
allen Himmelsstrichen machen sie den Boden urbar, gründen Städte, führe»
Recht und Gesittung ein, und haben sie ihre Schuldigkeit erfüllt, so nehmen
sie sogar die Nationalität derer nu, für die sie die Arbeit gethan haben, lind
damit nicht genng, wenn darin ihre Zöglinge selbst zwar uicht Kultur, aber
doch ihre Herrschaft über uraltdeutsches Gebiet ausdehnen wollen, leiste» die
»»verträglichen Deutschen — manchmal — Widerstand. Soll das Slawen
und Romanen und Magyaren nicht kränken? Etwas Herausforderndes hat
das Standbild Walters in der That, einen so großen und so weit vorge¬
schobenen rechte» Fuß, daß er über das schlanke Postament hinausragt. Im
übrige» verdient die Gestalt großes Lob, der Künstler, Heinrich Natter aus
Tirol, hat hier, wie mit seinem Zwingli i» Zürich, eine erfreuliche Gabe be¬
kundet, schlichte Würde und Kraft zum Ausdruck zu bringe».
Meran erreicht mau jetzt auf der Bahn in anderthalb Stunden, Mir
war gesagt worden, daß der wegen der harten Winde bei hoher Temperatur
und wegen des Staubes für Brustkranke keineswegs sehr geeignete Ort einen
überlegenen Nebenbuhler an Gries erhalten habe, doch ist davon noch nichts
zu spüren: es war kaum ein Unterkommen zu finden. An Staub mangelt es
übrigens den Straßen um Gries auch nicht, aber Vorzüge besitzt es unbedingt.
Der neue, aus Villen und Gasthäuser» bestehende Teil des Ortes erhält durch
eine hohe, in flachem Bogen von Westen nach Nordosten sich hinziehende Fels¬
wand Schutz gegen Winde, davor liegt das weite Thal, sodaß man im Gegensatz
zu den meisten Orten im Gebirge die Sonne schon früh und noch ziemlich spät
hat und die erwähnte durchwärmte Wand auch die gegen Norden gelegenen
Zimmer noch bewohnbar erhält. Das Hotel Austria, worin noch eine Wirtin
persönlich waltet — und jeder Reisende wird es zu schätzen wissen, wenn er
nicht einzig einem „Direktor" lind den Kellnern auf Gnade und Ungnade über¬
liefert ist —, hat eine vor allem ausgezeichnete Lage und ausgedehnte sinnig
angelegte und wohlgepflegte Parkwege, In diesem Winkel gedeiht ein großer
Teil der südliche» Flora, sogar Pinie» kommen vereinzelt, aber in sehr schönen
Exemplaren vor, der kalifornische Riesenbau» Wellingtvnia erreicht mächtige
Höhe, und der Opn»tienkakt»s, dort „Tenfelspratzen" gela»se, ist sogar zur
lästige» Wttcherpflaiize geworden. Für Bergsteiger ist ans Wochen abwechsln»gs-
reiche Beschäftigung da, aber auch Spoziergänge in der Ebene fehlen nicht
Der schönste ist die „Wassermauer/' Die das Thal durchströmende Tnlfer ist
dein Anschein nach ein harmloses Flüßchen, nnr ihr stellenweise mehrere hundert
Schritte breites, von Geröll bedecktes Bett und die starken Nserbauten verraten
daß ihr, wie dem Eisack, ein redlicher Unten an dem Übeln Leumunde der
Etsch gebührt. Und die ans dem linken, dem Bozener Ufer der Talfer auf-
geführte Mauer hat eine Breite von einigen Metern, sodaß man auf ihr. hoch
über dein reich angebauten Thäte, wandeln und auch ausruhen kann. Weiter
führt dann der Weg zu der berühmte» Burg Runkelstein, die bereits zu An¬
fang des dreizehnten Jahrhunderts vorhanden gewesen, 1275 zerstört, hundert
Jahre später von dem reichen Bozener Niklas dem Vintler neu aufgebaut u,,d
damals auch mit Fresken geschmückt worden ist. Sie hat oft den Besitzer ge¬
wechselt, anch einmal Georg von Frundsberg gehört und ist nenerdm'gK
Eigentum des Kaisers von Österreich geworden. Die Bilder, die unter Krise'x
Mcir I. schon einmal aufgefrischt wurden, sind jetzt leider meist in traurige»!
Zustande. Die 1520 durch eine Pnlvererplosivu zum Teil zerstörte Burg
war durch Verwahrlosung vollends zur Ruine geworden, 18«!? stürzte eine
Mauer mit dein Felsstück, ans dem sie geruht hatte, i» die Tiefe, und wem
darf sich nach nlledem nicht wundern, das; manche Partien der Malerei ur>r
noch ahnen lassen, was sie einst vorgestellt haben. Ausgenommen sind sie
freilich wiederholt, aber was sollen die kleinen Kopien sagen neben den Ori¬
ginalen, in denen das Zeitalter des Rittertums lebendig gewesen ist! Nur
voll Trauer kaun mau die großenteils zu Schatten gewordenen Herren und
Damen betrachten, die wie von Nische» aus Badende» zuscha»en oder Tänze
aufführen, spiele», lumiere», jagen, fischen und andre Kurzweil treiben, dan»
die im Mittelalter so beliebte» Dreiergruppen (hier deren neun- christliche,
Heidnische und jüdische Helden, Ritter der Tafelrunde, Liebespaare, Schwerter-
Dietrich von Bern mit dem Sachs, Siegfried mit dem Balmnug, Dietleib mit
dem Weisung, endlich Riesen, Riesinnen und Zwerge), und »im gar die Folge»
der Bilder zu Tristan und zu Garet! Dem weitern Verfalle der Burg soll
jetzt vorgebeugt sein, aber den Fresken wird die späte Schonung kaum noch
zu gute kommen.
Von Burgruinen wimmelt es förmlich i» der Gegend. Auf dem weitern
Wege durch das Talfers- und das Sanruthal ragen fast von jeder noch so
schwer zugänglichen Bergspitze graue Trümmer. Und wer freiwillig oder ge¬
zwungen auf'romantische Unternehmungen wie ans die Jagd nach Alpcublume»
verzichtet, der kann von seinem Fenster aus die sonnige Landschaft »ut die
mviidbeglänzte Zaubernacht genieße» und von der Morgenkühle sich Duft-
wellen zuführe» lasse», »»d ihm bleibe» auch die Vorteile der unmittelbare»
Nähe einer nicht unbedeutenden Stadt wie Vozen. Kein Wunder, daß Süd¬
deutsche, vornehmlich Baiern, sich gern um dem so schiiell z» erreichenden Platze
einen Vorfrühling gewähren. Uns zieht es trotz alledem weiter.
Wer sich Trient nur vom Bahnhof mis ansieht, beeinträchtigt sich
selbst - vorausgesetzt, daß er nach Italien geht, nicht von dort kommt. Die
alte Bischofsstadt ist eine vortreffliche Vorrede zur Lombardei. Die schlanke»
und trotzigeii Türme, die zahlreichen Kirchen und Paläste mit marmornen
Portale», voraus der romanische Dom mit seinem achteckigen Bier»»gst»rue,
den süuleutragende» Löwe», der mächtige» Fettsterrosc, de» Arkade» »»d
Friesen, dann' der so schön i» seine» architektonische» und flüssige» Linie»
harmonirende Brunnen davor, hie und da ein Blick in einen malerischen Hof,
verwitterte Fresken und andre Zeugnisse frühern Reichtums und Kunstsinnes,
Wasserträgerinneu mit Kupferkesseln, braune, geschwätzige und lachende
Mensche» — alles das macht eS eher begreiflich, daß auch diese Stadt über
dje Grenze schielt, obwohl Verona und Venedig so nahe liegen und so deutlich
verkünden, wie teuer sie den Anschlich an die italienische Nation bezahlt haben.
Md man berührt sie nur mit Snmmthandschuheu! Es fällt förmlich auf,,, daß
das neue Postgebäude auch deutsche Aufschriften zeigt. Die deutschen Über¬
läufer spielen natürlich auch hier eine bedeutende Rolle. Sie sind und bleiben
heillose Chauvinisten, diese Dentschen, und die Freisinnigen thun ein gutes
Werk, wenn sie ihnen den übermäßigen Nntionalitätssinn auszutreiben suchen.
Es giebt gar nichts Dringenderes zu thun.
Die nächste Wintermilde — ein Wort, das ich nur erlaube nach „Sommer¬
frische" zu bilden ist Areo. Jeder dieser Orte hat leidenschaftliche Ver¬
ehrer und ebensolche Gegner. So wird auch Arco mit gleicher Entschiedenheit
als ein sehr windstiller und als ein sehr windigem Platz bezeichnet, und beide
Parteien werden Wohl je nach der Jahreszeit und dem Witteruugscharakter
Recht behalten. Unzweifelhaft giebt es einen gut geschlitzten Raum dort, doch
scheint er leinen große» Umfang zu haben, denn die gegen Norden sich auf¬
bauenden Felskulisseil sind so verschieden in ihrer Höhe, daß der Wind zahlreiche
Einbruchsstelle» finden muß und, von den schroffen, kahlen Wänden abprallend,
sich in den verschiedensten Richtungen fühlbar machen kann. Die häufige An¬
wesenheit des Erzherzogs Albrecht erweist sich natürlich dem Orte nützlich; es
fehlt nicht an hübschen Villen und Hotels und Baumaulagen, in denen die
Roßkastanie vorherrscht, ein Baum, dessen Schönheit freilich mit den ersten
heißen Tagen ihr Eude erreicht. Die Verpflegung wird gerühmt. Sehr
interessant ist die Straße von Trient nach Aren, die wohl vereinsamen wird,
sobald die jetzt abgesteckte, zunächst gewiß strategischen Zwecken gewidmete
Eisenbahn voll Mori fertig ist. Die stark ansteigende Straße umgeht den
Trient gegenüberliegenden Felsklotz Dos Trento, der von der Höhe aus ge¬
sehen einer Pastete ähnelt, führt in enger, kühler Schlucht und durch ein
Sperrfort weiter empor und folgt später dein über zahllose Klippen schäu¬
menden Flusse Sarea. Im Sommer muß zwischen den gänzlich entwaldeten
Bergen die Hitze unerträglich werde«, jetzt ließ man sich die Frühlingssonne
gern gefallen, genoß den Anblick der blühenden Obstbäume und nach Gelegen¬
heit ein Glas Vino Santo. Um den Ruhm, diese Perle der Tiroler Weine
in höchster Vollendung zu liefern, streiten sich Vezzano, Toblino und Le Sarche,
und ich werde mich wohl hüten, es durch den Versuch einer Entscheidung
mit zwei Gemeinden heißblütiger Welschtiroler zu verderben; daher berichte ich
einfach, daß mir in dem höchst malerisch mehr in als an dem gleichnamigen
See gelegenen Schloß Tvblinv der Hof mit doppelter Säulenstellung („ans
der Römerzeit," wie versichert wurde) sehr gefallen und der goldene, süße, nicht
übermäßig feurige Tropfen trefflich gemundet hat.
So weit war alles gut und schön, aber der Logo ti Gardn zeigt, daß
schone Seen wie schöne Frauen ihre Launen haben. Der Undankbare! Wie
oft habe ich ihn gepriesen, nicht nur wegen des von allen Reisehandbüchern
nach Gebühr betonten Blickes von Nagv aus auf den an Bläue mit dem
Mittelmeer wetteifernden Spiegel, sondern auch wegen der südlichen Ansicht bei
Morgenbeleuchtung, wo der See grünblau und das Gebirge amethhstfnrben
erscheint. Und um war er trübe gefärbt, mit einer Misch»»«-; von Gr>u,
Blau und Grau, keine Spur von dein strahlenden Auge! Dafür soll er
nächstemal ganz rechts liegen bleibe», der verstockte Sünder, der sich
einmal durch mehrtägiges Warte» i» Riva bei Regen und Wind rühren ki>s
sich nicht der Bedingungen erfreut, um deretwils
Alpen pilgern, »ut eine Reise a» die Riviera tiDa die lombardische Ebene
wir im Frühjahr über die
polterte außerhalb des Planes lag, hätte in Gardone Kehrt gemacht werd>
müssen, auch wenn nicht ans ganz Oberitalien sehr ungemütliche Wetterbericht!
eingelaufen wären. Gardone, vor wenige» Jahren von einem deutschen Ar><
entdeckt, der sich nicht der in Arco geforderten Prüfung in Österreich »ntev.
ziehen wollte, ist gegenwärtig in der Mode und in der That der geschichtet'
wenn nicht der einzige geschützte Fleck am Gnrdasee. Ob die Mode Däne'
haben wird, steht dahin. Nach flüchtigem Besuche soll nicht geurteil^
werden, allein in anfallender Übereinstimmung wird erzählt, die Lilft sei dn>!
das Beste. "
Der Heimweg wurde inmitten einer wahren Völkerwanderung zurückgelegt
Die Lokomotive vermochte kam» die Menschenmenge de» Brenner hinaus
schleppen, die in der Ansicht einig war, das; Schneewetter in der eignen »^..
dischen Behausung immer noch leichter zu überstehen sei, als im schonen Süden'
Noch zwei Schlnßbemerkungen. In verschiednen Pensionen gesammelte
Erfahrungen haben mir einen Refvrmantmg eingegeben, mit dem sich, wie ich
glaube, sehr viele einverstanden erklären werden. Es giebt immer mitleidige
Seelen, die sich bemühen, in das einförmige Leben andrer durch „Musik ,nit
ihrem Silberklang" Abwechselung zu bringen. Aber es giebt auch wenige
zartbesaitete Menschen, die z. B. lieber ohne als mit Klavierbegleitu»g lese»
die es nicht einmal freut, zu den beliebtesten Tänzen de» Takt treten zu dürfe,/
ja die gar behaupten, gewisse Musik wirke nachteilig auf ihren Organismus"
während andre eben dieselbe Wirkung als wohlthätig preisen. So wird be¬
hauptet, das; das Spiel empfindsamer junger Damen, die jeder Dvppelnote den
Reiz des Arpeggiv mitteilen, oder ihr Mitleid eines ans diejenigen Tasten aus¬
zudehnen lieben, die der Komponist zurückgesetzt hat, mit demselben Erfolge
verschrieben werden könnte, wie Marienbader Brunnen. Und der ist bekanntlich
sehr nützlich, nur nicht für jeden. Diesen streitenden Interessen könnte dnn-h
allgemeine Einführung einer Verordnung genügt werden, die auf der Insel
Rügen besteht, nämlich, daß „Künstler" aller Art, vom Bärenführer bis zum
Musikanten, nur an einem Tage der Woche auftreten dürfen. Einen Musiktag
wöchentlich müßte sich jeder gefallen, lassen, der Barbar könnte an ihm das
Weite suchen, und andre würden im Überfluß schwelgen! Zweitens schließe ich
mich dein schon von mehreren Seiten gemachten Borschlag an, daß die Reisende»
endlich dem immer mehr einreißenden Mißbräuche, die Koffer mit Hotel¬
ankündigungen zu verunzieren, ein Ende machen sollten. Die Herren Gasthvfs-
besitzer würden doch sehr erstaunte Gesichter machen, wenn Geschäftsreisende
ihnen die Möbel mit ihren Warenlisten bekleben wollten! Das Einfachste wäre
wohl, wenn in jedem Falle der Gast eine Gebühr für die Beklebung von der
Rechnung abzöge, da die Erhebung einer Klage Wege» Eigentnmsbeschädigu»^
zu viel Umstände machen würde.
le diplomatische Kampagne, auf die ich am stolzesten bin, ist doch
die für Schleswig-Holstein, sagte Bismarck einmal und begründete
dieses Urteil mit den zahlreichen Hindernissen und Gegner», die seine
unvergleichliche Politik damals zu beseitigen und zu überwinden
gehabt hatte. Jetzt berichtet uns Heinrich v. Sybel darüber in
^>n kürzlich erschienenen dritten Bande seines Buches- Die Begründung des
deutschen Reiches durch WilhelmI. (München und Leipzig, N. Oldenbourg),
^'vu dessen Wert und Bedeutung wir hier uur so viel sagen wollen, daß sie sowohl
hinsichtlich der Quellen als der Behandlung dem Werte und der Bedeutung
beiden früher» Bände des Werkes gleichkommen. Namentlich die einlei¬
tenden Abschnitte über die Phasen der Schleswig-holsteinischen Frage vor Be-
Lnni jh^- endgiltige» Losung durch Bismarcks genialen Blick und kunstreiche
Hemd sind Muster lichtvoller und wohlgeordneter Darstellung eines vielfach
Zuckeln und wirren Gegenstandes. Unser Interesse beanspruchen aber vor
^kein die Vorbereitung und die ersten diplomatischen Wendungen bei dieser
^vsnng, und da wir meinen, es werde auch den Lesern lieb sein, zu erfahren,
welche seiner Leistungen der nun von seiner Arbeit für die Größe Preußens
^ ganz Deutschlands ins Privatleben zurückgetretene erste Staatsmann des
^hrhunderts einmal besonders stolz war, so lassen wir den wesentlichen
Inhalt der betreffenden Kapitel hier in Auszüge» mit einigen Erläuterungen
folgen.
. In Kopenhagen hatte der neue König Christian, von einer Revolution
^orvht, die eiderdänische Nvvemberverfassung unterschrieben und damit gegen
^ alte Recht der Herzogtümer und die neuere Übereinkunft in Betreff
^)lec'wigs grob verstoßen. Die Antwort seiner deutschen Lande darauf war
''
der Ruf: „Los von Dänemark!" gewesen, womit sich die Ansicht verband, das',
die Trennung sich nur ans Grund des Rechtes des Erbprinzen von Augusten-
burg und mittelst der Erhebung desselben zum Herzog zwischen Elbe und
Köuigsau vollziehen könne. Die Mehrzahl der Beamten, Geistlichen, Schulzen
und Lehrer verweigerte dem „Prvtokvllpriuzen" in Kopenhagen den Huldigungs¬
eid, die Landtage und die Ritterschaft baten den deutschen Vuud um Hilfe, daS
Volt erwartete sie vom Drucke des hvchaufgeregteu Nationalgefühls auf
den Bund, denn es war längst schon über sein Zaudern in der Sache er¬
grimmt. Im Süden der Elbe wußte mau nichts von dein Augusteuburger,
als das; er 1848 auf der nationalen Seite nütgefvchteu und daß Deutschland
damals das aguatische Recht anerkannt hatte. Daß er jetzt damit hervortrat,
machte um so mehr Eindruck, als sein Schritt mit dem ärgsten Vertragsbruche
der Eiderdäuen zusammenfiel. Man habe es erlebt, hieß es in allen Organen
der öffentlichen Meinung Deutschlands, daß bei jeder Form der Verbindung
zwischen Dänemark und deu Herzogtümern weder Vertrag noch Grundgesetz
den letztern sichern Rechtsschutz gewähre. Die einzige Rettung der deutschen
Ehre liege in der völligen Losreißung Schleswig-Holsteins vom dänischen Ge¬
samtstaate; in dieser Sache gingen die Forderungen fürstlicher Legitimität,
volkstümlicher Freiheit und nationaler Würde wie in keiner andern Hand in
Hand. Der Gedanke, daß es vielleicht anßer der Thrvnfolge der Augnsten-
bnrger noch andre und zwar bessere Wege zur Beseitigung der Dünenherrschaft
in den Herzogtümern gebe, lebte unter all den Millionen deutscher Patrioten
nnr in einem, und dieser verschwieg ihn einstweilen vorsichtig. Sonst schien
aller Welt für die Schleswig-Hvlsteiner nnr eine Wahl möglich: zwischen
Augustenburg und der Fortdauer des dänischen Joches. Den deutschen Fürsten
aber war das Londoner Protokoll von 1852 immer verhaßt gewesen; denn
wenn eine Konferenz der Großmächte in dieser Angelegenheit zur Regelung
einer fürstlichen Thronfolge befugt war, welches deutsche Herrscherhaus war
dann bei einem künftigen Streitfalle seines Thrones sicher? So folgten sich alle
Tage Kundgebungen der kleiustantlicheu Regierungen und der Volksstimmung für
deu Augusteuburger. In Baden wurde seinem Vertreter beim Bunde gestattet,
Vollmachten auch von „Herzog Friedrich VIII." anzunehmen und als dessen
Wortführer bei der Bundesversammlung Einspruch gegen jede Verletzung seiner
R'egiernugsrechte einzulegen, was am 1(>. November geschah. Tags darauf
protestirte Oldenburg gegen die Thrvnfolge Christians IX. in Schleswig-Holstein.
Am 18. beantragte der gesetzgebende Körper Frankfurts beim Senate die Anerken¬
nung Herzog Friedrichs, am 1!). vollzog sie der Herzog von Koburg seinerseits
am 20. interpellirte der österreichische Abgeordnete Nechbauer seine Regierung,
über Schleswig-Holsteins Befreiung. Am 23. brachten die Liberalen des
preußischen Abgeordnetenhauses Anträge auf Anerkennung des Herzogs Friedrich
ein. Am folgenden Tage teilte Beust der zweiten sächsischen Kammer mit, die
Regierung beantrage beim Bunde die Nichtzulassung des dänischen Gesandten und
die Besetzung Holsteins durch Bundestruppen bis zur Entscheidung der legi¬
timen Thronfolge durch den Bund. Am 25. sprach die erste Kammer ein¬
stimmig ihre Befriedigung darüber aus. Am 2V. erklärte sich die Kammer in
Darmstadt für das Recht der Herzogtümer, ebenfalls einstimmig, und der Mi¬
nister v. Dalwigk stimmte dem um 27. zu. In der württembergischen Kammer
äußerte sich der Minister v. Hügel ähnlich, mir etwas vorsichtiger. Daneben
ein gewaltiger Chorus von Vereinen und Versammlungen, Stadträten und
Stadtverordneten und sonstigen Körperschaften; der Ausschuß des National-
öereins sandte dem Herzog Friedrich seine Huldigung. Man sammelte Geld
für seine Regierung, man sprach von der Bildung von Freischaren für sie.
Die so lange angesammelte und verhaltene Masse nationalen Zornes machte
sich in brausendem Ausbruche Luft, die Fürsten hätten ihm nicht widerstehen
können, auch wenn sie anders gesinnt gewesen wären, und welcher fremde
Gegner konnte, so meinte das Voll, es wagen, dieser einmütiger Begeisterung
^iter großen Parteien sich in den Weg zu stelle»? Nur die kleinen Gruppen
der äußerste» Linken standen verdrossen abseits und spotteten über den Lärm,
und dein sich die deutsche Nation zu ihren dreißig Kleinfürsten durchaus uoch
^>nen einunddreißigsten anzuschaffen bemühte.
Dem Grafen Nechberg, der damals in Wien an der Spitze der politischen
Geschäfte stand, war diese gemeinsame Erhebung der deutschen Fürsten und
Völker zu Gunsten des Hauses Augusten bürg, dieses heftige Verlangen nach
Zerreißung des dänischen Gesamtstaates, diese schnöde Verwerfung der wohl¬
erwognen Grundsätze, nach denen Österreich bisher immer in den deutsch-
dänischen Streitigkeiten verfahren war, ein Greuel. Aber wie, wenn es deu
allgemeinen Wunsch zurückwies und sich Preußen dann an die Spitze der Be-
'vegnng stellte, dieses Preußen, das sich Rußlands vertrauter Freundschaft
^freute und von Frankreichs Schmeichelei umworben war, dessen leitenden
^mise^r der Graf Rechberg von Frankfurt her als gefährlichen Gegner kannte,
>u,d dessen König seit Jahren über den dänischen Unfug und die deutsche
^Uimseligkeit zürnte? Deutlich kam bei der plötzlich ausgebrochenen Krisis
iUles auf Preußens Verhalten an, und so drängte Rechberg fort und fort in
Merlin um Auskunft und Abrede über möglichst gleichmäßiges Vorgehen beider
Zutschen Großmächte.
Bismarck hatte es bisher niemals eilig mit einem Kriege gegen die Dänen
^'habt und uoch am 10. November den neuen König in Kopenhagen dnrch
le Mahnung, der Verfassung vom 1>'!. seine Billigung zu verweigern, that¬
sächlich anerkannt. Daß am l«. das Gegenteil geschah, eröffnete der Frage
Bismarcks Augen eine neue Zukunft. Diese schreiende Rechtsverletzung er¬
möglichte ihm, an die vollständige Befreiung der Herzogtümer zu denken, nur
koar der Weg, der dahin führte, für ihn ein ganz andrer als der, den die
Fürsten und die öffentliche Meinung in Deutschland eingeschlagen zu sehen ver¬
langten. Bismarcks Anschauung ging dahin, daß es hier in erster Reihe auf
die Beziehung Preußens zu den übrigen Großmächten und hier wieder vorzüglich
auf die thätige Mitwirkung Österreichs ankomme. Wir haben, sagte er, 1849
erlebt, daß es übel ist, einer gegen vier zu stehen, zwei gegen drei ist ein
besseres Verhältnis. Dazu aber gehörte, daß man zunächst nicht an dem Lon¬
doner Vertrage über die Thronfolge rüttelte; denn diesen erklärten Osterreich
und die fremde,: Großmächte für schlechthin rechtsverbindlich. Wohl aber hatte
König Christian durch Sanktion der Nvvemberverfassung den deutschen Höfen
einen von der Erbfolgefrage unabhängigen Kriegsfall geliefert, gegen den sich
nichts einwenden ließ. An dieser Stelle also war einzusetzen; nur um diesem
Punkte konnte man Österreich auf das Gleis der preußischen Politik herüber
zu lenken hoffen. Österreich wollte die Thronfolge des Protokollkönigs und
die ungeschmälerte Erhaltung des dänischen Staates; nun wohl: Preußen stellte
keine damit unverträgliche Forderung, wenn es Zurücknahme der November-
Verfassung, im Notfalle durch die Waffen erzwungen, begehrte. Hierzu war
Österreichs Beistand zu erlangen, und im Bunde mit Österreich konnte man
unter Umständen den Dänen den Krieg erklären, nach dessen Ausbruch alle
frühern Verträge mit diesen hinfällig wurden. Man hatte dann zunächst nur
noch den Staatsmännern in Wien die Lostrennnng der Herzogtümer annehmbar
zu machen; die andern Großmächte besaßen keinen Rechtsgrund mehr zur Ein¬
mischung. Anderseits aber vermied Preußen mir durch solches Vorgehen, sich
für die erbrechtlichen Ansprüche eines Prätendenten im voraus zu verpflichten,
und Sachkenner wußten, daß Bismarck sich für die Einsetzung eines neuen
souveränen Fürsten unter dem Schirme des bisherigen Bundesrechts nicht im
mindesten begeisterte und namentlich von einem Augustenburger Anspruch auf
Schleswig-Holstein nichts hielt, da er 1852 den Verzicht des Chefs der Familie
gegen eine Geldentschädignng vermittelt hatte. Kurz: trotz allen Stürmens
der öffentlichen Meinung in Deutschland beschloß Bismarck, nicht die Thron¬
folge-, sondern die Verfassungsfrage zum Ausgangspunkte des Verfahrens gegen
Dänemark zu machen.
Er hatte damit die Politiker in Wie» ganz richtig beurteilt. Man be¬
zweifelte hier das Thrvurecht Christians IX. so wenig, daß man es für billig
hielt, dem neuen König Zeit zur Überlegung zu lassen und deshalb die vom
Bunde beschlossene Exekution aufzuschieben. In mau schrieb nach Berlin, >»n"
werde dankbar sein, wenn Preußen die Reserve für die Exekution, falls sie un¬
vermeidlich würde, allein stellen wolle. Bismarck antwortete darauf mit der
Frage, ob denn die Vertrüge von 1852 nicht ein untrennbares Ganze bildeten,
bei dessen Bruch durch Dänemark die deutschen Mächte in jeder Beziehung
freie Hand bekämen. Doch werde Preußen einstweilen von dieser Freiheit keinen
Gebrauch macheu, sondern am Londoner Protokoll festhalten, aber umso mehr
von Dänemark Erfüllung seiner Verpflichtungen in der Verfassungsfrage fordern,
weshalb er auch auf Beschleunigung der Bundesexekution dringen müsse. Ju
Frankfurt wurde es immer deutlicher, daß die große Mehrheit der Vertreter
der Kleinstaaten zu deu Augustenburgern hinneigte. Als die Gesandten der
beiden deutschen Großmächte den Fortgang des Exekntionsverfahrens gegen
Holstein und zugleich einen Einspruch gegen die neue dänische Verfassung zur
Sprache brachten, erklärte Pforten, der Vertreter Baierns, von zahlreichen
Stimmen unterstützt, weder Exekution noch Einspruch sei am Platze; denu man
würde durch Exekution König Christian als rechtmäßigen Herzog von Holstein,
durch Einspruch ihn als rechtmäßigen Herzog von Schleswig anerkennen. Da
die Erbfolge aber streitig sei, so müsse der Bund nicht Exekution, sondern Okku¬
pation verfügen, dann den rechtmäßigen Herzog ermitteln und anerkennen und
endlich ihm, wenn nötig, mit Heeresmacht den Besitz von Schleswig verschaffen.
Das Londoner Protokoll sei für den Bund, der es niemals zu Gesicht bekommen
habe, nicht vorhanden. Österreich allein konnte Buudesbeschlüsse in diesem
Sinne uicht verhindern, es mußte dazu des Beistandes Preußens sicher sein,
und so vernahm Rechberg von Bismarck mit Freuden, daß er noch am Lon¬
doner Protokoll festhalte und nur rascheres Vorgehen in der Verfassungsfrage
wünsche
Der Wiener Hof entschloß sich demzufolge, um sich Preußens Unterstützung
in der Erbfolgesache zu erhalten, mit ihm sofort zur Exekution zu schreiten, die
»ach Pfortens Behnuptnug den König Christian als rechtmäßigen Landesherrn
voraussetzte und deshalb selbst von dem eifrigen Friedensprediger Russell em¬
pfohlen wurde. So kam denn am 24. November zwischen Bismarck und
Nechberg eine Übereinkunft zu Stande, beim Bunde gemeinsam dahin zu wirken,
daß die Exekution möglichst rasch vollzogen werde, wobei sich von selbst ver¬
stand, daß Österreich sich daran beteilige. So hatte denn Bismarck Österreich
zum ersten Schritte ans der Bahn einer thätigen Politik in der Sache gebracht,
u«d wenn man in Wien mit dein Hintergedanken daran gegangen war, in der
^»gen Verbindung mit Preußen bei der Ausführung müßigend wirken zu können,
durfte der Ministerpräsident in Berlin seinerseits hoffen, daß die Natur der
^Wge Österreich in der neuen Richtung weiter führen werde. Auch die nach¬
fühlen, die Bismarck in diesen Tagen von den übrigen Höfen der Großmächte
ehielt, lautete» für seine Absichten günstig. AuNvenigsten sicher erschien England:
die Königin, die Schwiegermutter des Kronprinzen von Preußen und einer Tochter
Königs von Dänemark, hatte Mitgefühl für beide Seiten, beklagte die
dänische Halsstarrigkeit und hielt doch Preußen für gebunden durch das Londoner
Protokoll; im Herzensgrunde war sie für Erhaltung des Friedens. Auch
Russell wünschte diese, gleichviel, unter welcher Bedingung. Palmerston schwieg
vor der Hand, aber er war immer ein bösartiger Gegner Deutschlands ge¬
wesen, und seine Blätter griffen jetzt Preußen aufs heftigste an. Umso vor-
sichtiger bewahrte Bismarck seine gedeckte Stellung^ als Russel durch deu
britischen Botschafter anfragen ließ, ob eine englische Vermittelung wohl Aus¬
sicht auf Annahme habe. Mau wolle, sagte er, beim Bunde dafür stimmen,
zweifle aber seit der neuesten Wortbrüchigkeit Dänemarks am Erfolge. Ju
Paris sagte der Kaiser am 23. November zum preußischen Gesaudtein „Ich
habe von euch nichts zu verlangen, aber ihr werdet euch nicht verbergen, daß
ihr in eurer jetzigen Lage nicht bleiben könnt. Preußen ist von Kleiustanten
umgeben, die seine Kraft nicht vermehren und seine Wirksamkeit hindern. Auf
dem von mir vvrgeschlagueu Kongreß könnten wir das gemeinsam erwägen."
Dem Minister Drouyn de Lhuis empfahl Graf Goltz die Sache Schleswig-
Holsteius, wo sich für Frankreich Gelegenheit biete, seine Hinneigung zniu
Nationalitätsprinzip zugleich mit seiner Achtung vor alten Rechten zu bethätigen.
Der Minister bestätigte dies, bemerkte aber, Frankreich sei zur Zeit durch das
Londoner Protokoll gebunden; auf dem .Kongresse würde sich weiter darüber
reden lassen. Als Goltz den Gedanken einer Teilung Schleswigs nach der
Nationalität seiner Einwohner hinwarf, sodaß der Süden an Holstein fiele,
erwiderte Drouyu de Lhuis, wenn diese möglich wäre, würde es besser sein,
das neue Land zu einer preußischen Provinz als zu einem selbständigen Staate
zu machen, er rate also die Ansprüche des Augustenburgers nicht als unbe¬
streitbar hinzustellen. Als er bei diesen Äußerungen auf Kompensation hin¬
deutete, und Goltz entgegnete, Preußen habe kein Land zu vergeben, erwiderte
der französische Minister, er habe nicht an territoriale Entschädigungen gedacht,
die Kompensationen köunten auch in einer Geldzahlung an Dänemark, Verleihung
einer hohen preußischen Stellung an den Augusteuburger und in gute» Dienste»
in andern Dingen bestehen. Damit war auf Österreich hingedeutet — eine
Wendung, die Goltz im stillen gefiel, wogegen er hinsichtlich Schleswig-Hol¬
steins nur wünschte, es möge gelingen, dessen Selbständigkeit nnter dem Augusteu¬
burger gegen Österreichs Willen und nach dem Begehren der Kleinfürsten und
der öffentlichen Stimmung in Deutschland durchzusetzen. In diesem Sinne
sprach er — natürlich ohne Auftrag Bismarcks — nochmals mit Napoleon,
der ihm dann zunächst erklärte, keine Partei nehmen zu wollen; die Frage eigne
sich für den Kongreß, da dieser aber nicht viel mehr hoffen lasse, so denke er
mir an Bündnisse und wünsche ein solches mit Preußen einzugehen, worauf
Goltz entzückt erwiderte, die Übereinstimmung Preußens und Frankreichs fast
in allen Fragen werde zuletzt von selbst dahin führen.
Ohne Zweifel war es für Bismarck angenehmer, mit Frankreich ans
freundlichem statt auf gespanntem Fuße zu stehen. Aber dem Könige war der
Gedanke einer Allianz mit Frankreich, die sich offenbar gegen Österreich richten
sollte, an sich und jetzt, wo mau sich bestrebte, den Wiener Hof für einen ge¬
meinsamen Kriegszug gegen die Dänen zu gewinnen, ganz besonders zuwider.
Der Vorschlag einer Einverleibung Schleswig-Holsteins in Preußen aber war
et)ni gleichfalls unerfreulich; er hatte seit Jahren das deutsche Volk in den
Herzogtümern frei. die dort verpfändete deutsche Ehre eingelöst sehen wollen,
war aber, wenn das Londoner Protokoll sich beseitigen ließ, bereit, sich mit
dem Augusteuburger zu verständigen. Das war jedoch eine Sorge für die
Zukunft. Für jetzt war es deutlich, das; trotz Englands uneutschlvssenem Mi߬
vergnügen Preuße», jetzt im Einverständnisse mit Österreich und ohne Sorge
wegen Frankreichs und Rußlands, mit Anwendung von Gewalt gegen Dänemark
einzuschreiten beginnen konnte. Wiederholt schon hatte Dänemark die Erekution
als Kriegsfall bezeichnet, und kein Mensch, der die Kopenhagener Verhältnisse
kannte, hielt die Wiederaufhebung der neuen Verfassung für möglich. Wenn
Bismarck schon am 22. Dezember 18i>2 weitblickend gesagt hatte: „Die dänische
Frage kann nnr durch Krieg auf eine nus günstige Weise gelöst werden, und
der Anlaß zum Kriege läßt sich in jeden? Augenblicke finden, in dem unsre
Stellung zu den Großmächten günstig ist," so war dank seiner unisichtigen
Politik dieser Augenblick endlich gekommen.
Bald nachdem Österreich in die Beschleunigung der Exekution gewilligt
hatte, gab es auch seinen Widerspruch gegen Bismarcks wichtigen Satz auf,
daß die deutsche Verpflichtung durch das Londoner Protokoll mit der dänischen
Vertragstreue in der Verfnssungsfrage stehe und falle. Auch hier hatte das
Drange» der Mittelstaaten benutzt werden können, die eifrig Stimmen gegen
die Zulassung eines Bundestagsgesandter König Christians warben. Bismarck
'»achte in Wien darauf aufmerksam, daß man wenig Aussicht habe, einen der¬
artigen Beschluß zu verhindern, wenn man nicht einiges Entgegenkommen
^ige und die Anerkennung Christians wenigstens an die Bedingung knüpfe,
^iß vorher die dänische Vertragspflicht in Sachen der Verfassung erfüllt sei.
^iechberg erklärte sich damit einverstanden, und ebenso mit dem weitern Vor¬
schlage Bismarcks, den Bruch der dänischen Zusagen erst mit der praktischen
Einführung der neuen Verfassung als vollzogen anzunehmen. Das erschien
wild und versöhnlich, aber ein solcher Aufschub verpflichtete mittelbar zu um
^ kräftigerer Mitwirkung nach jenem Termin.
Die wahre Bedeutung des Vismarckscheu Vorschlages wurde damals
Ulrgcnds begriffen, auch in Wien nicht. Wer wie Österreich eine friedliche
^sung wünschte, hatte allen Grund, so schnell wie möglich in Kopenhagen
Rücknahme der Nvvemberverfassuug durch ein Ultimatum zu verlangen; denn
"Ur bis Dezember gab es einen Reichstag, der die Rücknahme ge¬
lblich beschließen konnte, vom 1. Januar an war sie nur durch den Reichstag
^ neuen Verfassung zu bewerkstelligen, dessen Zusammentreten die deutschen
suchte als Kriegsfall bezeichneten. Nur ein Staatsstreich konnte dann den
frieden erhalten, und wie Hütte König Christinn einen solchen Schritt wagen
wweu? Am 28. November verhandelte der Bundestag über die Zulassung
unes Gesandte» Christians, und die beide» Großmächte, die sich dafür erklärten,
wurden überstimmt. Die öffentliche Meinung in ganz Deutschland sprach sich
stürmisch im Sinne der Mehrheit und hvchentrüstet über Preußen und Oster¬
reich aus. Bismarck hatte dagegen wenig einzuwenden; denn es diente ihm,
Österreich an seiner Seite festzuhalten, die eigne Mäßigung vor den fremden
Großmächten ins günstigste Licht zu stellen und zugleich Europa aufmerksam
zu macheu, daß mit der Aufregung der deutschen Nation zu rechnen sei. Die
Hindeutung auf diese Notwendigkeit that nicht bloß bei Napoleon, sondern
anch in England ihre Wirkung, dessen Gesandte in Berlin und Kopenhagen
mit drohenden Nedensarten erklärten, es werde leine deutsche Einmischung in
die innern Angelegenheiten Dänemarks und keine Abweichung vom Londoner
Protokoll dulden. Natürlich steigerte dies den Starrsinn und die Kampflust
der Dänen, wogegen Bismarck wieder nichts einzuwenden hatte. Am 1. De¬
zember setzte er dem preußischen Abgeordnetenhause seine Politik hinsichtlich
Schleswig-Holsteins aus einander und rief dadurch eine zweitägige Verhandlung
hervor, in der alle Töne der nationalen Bewegung aufs stärkste erklangen:
das legitime Erbrecht der Augnstenburger, der Umstand, daß der deutsche
Bund das Londoner Protokoll nie anerkannt hatte, die vertragswidrigen Ma߬
regeln Dänemarks, wozu noch die Erbitterung der Mehrheit des Hauses über
das „verfassungswidrige" Ministerium und ein tiefes Mißtrauen gegen den
guten Willen Nismnrcks in der Schleswig-holsteinischen Sache kamen, die er
früher so heftig verurteilt hatte. Leider konnte er dem hohen Hause jetzt nicht
mitteilen, welcher Art seine letzten Ziele seien, und so beschloß dieses mit 231
gegen t>5> Stimmen: die Ehre und das Interesse Deutschlands fordern es, daß
sämtliche deutsche Staaten den Erbprinzen Friedrich als Herzog von Schleswig-
Holstein anerkennen und ihm in der Geltendmachung seiner Rechte wirksamen
Beistand leisten.
Selbstverständlich war das sür das weitere Verfahren der Regierung nicht
entfernt maßgebend, es konnte nur die Hinneigung des Königs zu dein Augnsten¬
burger schwächen. Zunächst kam alles auf die Erlangung des Bundesbeschlusses
für die sofortige Exekution um, und diese wurde durch identische Noten
Preußens und Österreichs erreicht. Sie richtete sich gegen König Christian
als Herzog von Holstein und sollte ihn zur Ausführung der Bundesbeschliisse
von I3et0 und 1863, d. h. zu einer guten Einordnung der Elbherzogtümer
in den dänischen Gesamtstaat nötigen, was freilich viel weniger als das
„Los von Dänemark!" bedeutete. So war denn ein erster wesentlicher Erfolg
der Bismarckschen Politik im Mittelpunkte der Gegenpartei errungen. Auch
die gleichzeitigen Ereignisse im Auslande bestätigten die Richtigkeit der bisher
von Preußen eingenommenen Stellung und begünstigten die ans ihr zu ent¬
wickelnde Thätigkeit. Das englische Kabinet hatte endlich den großen Kongreß
Napoleons abgelehnt (25. November). Der Kaiser fühlte sich dadurch schwer
verletzt, wütete gegen Russell, prophezeite dem gleichdenlenden Österreich aller-
hand.Drangsal und erneuerte dein preußischen Gesandten seine Anerbietungen
vertrauter Freundschaft. Als ihn der Erbprinz von Augustenburg in einem
demütigen Schreiben um seine Unterstützung anging, lehnte er die Bitte mit
dem Hinweis auf das Londoner Protokoll ab, bezeichnete aber die nationalen
Bestrebungen des deutschen Volkes als berechtigt. Zu derselben Zeit forderte
er, um sich an England zu rächen, die großen festländischen Höfe auf, ihre
leitenden Minister zu eiuer Verständigung über alle schwebenden Fragen zu¬
sammentreten zu lassen. Es war klar, daß es zu gemeinsamen: Handeln Frank¬
reichs und Englands nicht sobald kommeu würde, daß Napoleon zur Zeit der
preußischen Politik nicht in den Weg zu treten gedachte, und daß seine feind¬
selige Haltung gegen Österreich dieses auf die Pflege guter Beziehungen zu
Preußen und damit auf fortgesetzte Unterstützung der preußischen Politik gegen
Dänemark hinwies. Bismarck wollte zwar von der vertrauten Freundschaft
Napoleons nichts wissen, aber auch nicht dnrch kahle Ablehnung die günstige
Stimmung des Imperators verscherzen. Er antwortete, Preußen habe nichts
gegen die Ministerkonferenz, aber allerdings würden die andern Mächte dort
keine Verhandlung über die polnische, die rumänische und die venetianische
Frage gesenkten, es bleibe daher nur die dünische übrig, und zu deren Er¬
ledigung müsse England hinzugezogen werden. In Paris fand man zwar,
daß auf diese Weise die Konferenz viel von ihrem beabsichtigten Charakter ver¬
liere, freute sich aber doch über das Entgegenkommen Preußens, das stets
gemüht sei, Schwierigkeiten wegzuräumen, während andre lieber welche er¬
fanden. Aber auch von diesen andern empfing Preußen dann lebhaften Dank,
daß es den neuen Plau Napoleons durch Umarbeitung unschädlich gemacht
^abe, und einmütiger Beifall für den Vorschlag, die dänische Frage einer Kon¬
ferenz der Großmächte vorzulegen.
Diese waren jetzt im Begriffe, wie herkömmlich, dein neuen Könige von
Dünemark durch besondre Gesandte zu seiner Thronbesteigung Glück zu wünschen,
und Gvrtschatoff schlug vor, der dänischen Negierung bei dieser Gelegenheit
arlegen zu lassen, daß die deutschen Mächte das Londoner Protokoll nur unter
^er Bedingung der bekannten Verfassungszusagen unterzeichnet hätten, Däne¬
mark also durch deren Verletzung und die Einverleibung Schleswigs seinen
freunden jede Unterstützung bei einem hierüber ausgebrochenen Kriege un-
^'glich machen würde. Der russische Staatsmann wollte nicht, daß Däne¬
mark zerstückelt nud die Ostsee so „in ein deutsches oder schwedisches Binnen-
weer verwandelt werde," sah aber auch, daß die Damen deu deutschen Höfen
gerechten Grund zum Kriege gegeben hatten, und beantragte aus beiden Ruck-
> them gemeinsamen Druck auf die dänische Regierung. Napoleon nahm das
^)l auf, dagegen griffen Österreich und England freudig zu, nur hielt Russell
^' für zweckmäßig, daß zunächst nur die drei neutralen Mächte in der von
"rtschakoff angeregten Weise vorgingen; und jetzt zur Abwechselung wieder
einmal deutschfreundlich, empfahl er, die betreffende» Spezialgesandten vorher
erst Rücksprache mit Bismarck nehmen zu lassen. Gortschakoff war damit
einverstanden, und der preußische Ministerpräsident fand so Gelegenheit, erst
dem russischen Spezialgesandten, Baron Ewers, dann dem englischen, Lord
Wodehouse, seinen Standpunkt in der Sache klar zu macheu. Die Gesandten
richteten darauf ihren Auftrag in Kopenhagen aus, aber ohne Erfolg, wie
Bismarcks Scharfblick vorausgesehen hatte. König Christian wollte zwar die
Aufhebung der Novemberverfassnng beantragen lassen, fand aber keinen Minister
dazu. Hall nahm seine Entlassung, und da kein andrer es wagte, der Volks¬
stimmung zu trotzen, griff der König wieder in die Reihe der Eiderdänen
zurück und stellte Bischof Mvnrad, den bisherigen Kultusminister, der noch
rücksichtsloser als Hall war, an die Spitze des Kabinets. Dieser verweigerte
die Rücknahme der Novemberverfassnng, und Dänemark war nun auf den Krieg
gefaßt.
Unterdessen hatten sich die Dinge in Deutschland in ähnlicher Weise
weiter bewegt. Der Buudesbeschluß vom 7. Dezember, der die Exekution in
Holstein verfügte, hatte überall große Entrüstung erregt, nud um dieser
einen leitenden Mittelpunkt zu gebe», erließe» die Führer des Nationalvereins
und des grvßdeutschen Neformvereins an alle Mitglieder der deutschen Landtage
die Aufforderung, am 21. Dezember in Frankfurt zu einer großen Versammlung
zu erscheinen, die über die gesetzlichen Mittel zur Durchführung der Rechte
Schleswig-Holsteins beschließen sollte. Eine Volksversammlung in Augsburg
forderte den König von Baiern ans, sich an die Spitze der deutschen Nation
zu stellen, sein Heer nach Schleswig-Holstein zu schicken und dort deu Herzog
Friedrich einzusetzen. Die Kammern der Einzelstaaten wetteiferten in Adressen
und Resolutionen ähnlichen Inhalts, und mehrere Regierungen schlössen sich
unumwunden an, einige mit Maßregeln von scharfer praktischer Bedeutung.
König Max erklärte auf die Augsburger Adresse in einem Handschreiben an
seinen Minister, überzeugt von dem guten Rechte der Augusten burger sei er
bereit, bei dem Bunde und mit ihm für die Durchführung der hiernach er¬
forderlichen Politik einzustehen, wobei er vor allem hoffte, jetzt von den hoch¬
gehenden Wellen der Volksgunst getragen, an die Spitze des dritten Deutsch¬
lands zu gelangen und damit den alten Lieblingsplan der Trias zu verwirklichen.
Am 12. Dezember forderten die vier Exekutionsregierungen (Preußen, Öster¬
reich, Sachsen und Hannover) Dänemark auf, seine Truppen aus Holstein
zurückzuziehen. Am 14. genehmigte der Bund die von Preußen vorgelegte
Instruktion für die beiden Zivilkommissare, die während der Exekution das
Land nach den bestehenden Gesetzen verwalten sollten. Am 24. rückten die
12000 Sachsen und Hannoveraner des Exekutionskorps über die Grenze, und
da die Dänen vor ihnen ohne Gegenwehr, friedlich wie bei einer Wachablösung
abzogen, war noch vor Jahresschluß ganz Holstein von deutschen Truppen
besetzt. Zu gleicher Zeit rief die Bevölkerung den „Herzog" Friedrich zum
Landesherrn aus und verjagte die Beamten und Geistlichen, die dem Könige
Christian gehuldigt hatten. Die Ziviltommissare verboten dies anfangs. Als
sich aber das Volk nicht daran kehrte, drückten sie die Augen zu, und als der
Erbprinz von Augustenburg gegen Ende des Jahres in Kiel selbst erschien
und bald nachher' „Minister" einsetzte, traten die Kommissare allmählich zu
ihm in vertrauliche Beziehungen und ließen sich von den Räten desselben bei
der Besetzung der leer gewordenen Beamtenstellen beeinflussen.
An die Spitze der Verwaltung trat eine „Landesregierung," die zwar die
Befehle der Kommissare zu vollstrecken hatte, aber viele Geschäfte selbständig
zu entscheiden befugt war und wie die neuen Unterbeamten nur aus Anhänger,,
des Augustenburgers bestand. Jede ihm abgeneigte Meinung wurde durch
eine Masse vou .^Schleswig-Holsteinischen" und „Knmpfgenossenvereinen," die
rasch aufgeschossen waren, terrorisirt. Kurz, die Exekution verwandelte sich
schnell in eine Okkupation. Das konnte in London und Petersburg nicht er¬
freuen, erregte aber in Deutschland fast allenthalben Jnbel, und in der Mehr¬
heit der Mittelstaaten waren Regierung und Volt eifrig dabei, die Sache des
Kieler Prätendenten weiter zu fordern. Baiern sollte uach Beschluß einer
Ministerkonferenz in München schleunige Prüfung des Augnstenburgischen Erb¬
rechts verlangen; wenn rasche Anerkennung desselben erreicht werde, sollte der Bund
die Okkupation beider Herzogtümer verfügen, und wollten Preußen und Österreich
nicht, so sollten die Truppen der Mittelstaaten Dänemark allein zwingen. Der
Abgeordnetentag, der am 21. Dezember in Frankfurt zusammentrat, ging hiermit
Hand in Hand und setzte einen Ausschuß vou sechsunddreißig Mitgliedern als
Mittelpunkt der gesetzmäßigen Thätigkeit der deutschen Nation für Schleswig-
Holstein und Friedrich VIII. ein. Gesetzmäßig, nicht revolutionär; denn Beust,
der damalige Führer der inittelstaatlichen Regierungen, hatte offen erklärt, sie
könnten der Bewegung des Volkes nicht widerstehen, müßten sich also an ihre
Spitze stelle». Die herrschende Vorstellung war nun: Anerkennung des
"Herzogs" durch den Bund, Zug des Königs Max mit seinem Heere nach
Norden, Anschluß Württembergs und Badens, dann Darmstadts und Sachsens,
zuletzt ganz Norddeutschlands an den patriotischen Strom, der auch die Be¬
völkerung Preußens mit sich fortreißt. Wenn nicht bloß gutmütige und un¬
erfahrene Volksvertreter, sondern auch einige leitende Staatsmänner sich
damals mit solchen Gedanken trugen, so sollte sich bald zeigen, daß sie Irr¬
lichtern, Stimmungsbilder» ohne allen Boden in der prosaischen Wirklich¬
st folgten, während Bismarck auf dem rechten Wege war.
rennt, eine besitzlose, von der Hand in den Mund lebende Klasse,
die von den Bemittelten beschäftigt wurde und sich allein dadurch
erhielt, kurz: ein Proletariat hatte es in Frankreich wie ander¬
wärts ' immer gegeben. Unter dem ersten Napoleon aber trat
dieser Teil des Volkes in den Hintergrund, wenigstens ver¬
stummten seine Klagen und Ansprüche. Die Hälfte der Arbeiter diente im
Heere, verminderte dadurch das Arbeitsangebot, erwarb Ruhm und hatte die
Möglichkeit im Tornister, Marschall zu werden. Die Kontinentalsperre schloß
die wichtigste fremde Konkurrenz aus. Der Lohn der Arbeit stieg infolge dieser
Umstände ebenso wie die Nachfrage nach Arbeit, und die Arbeiter hatte» somit,
was sie bedurften, um sich wohl zu fühlen.
Das änderte sich mit dem Frieden. Das Kapital bekam Ruhe und Mut,
die Konkurrenz regte sich, die Industrie blühte, besonders als der Dampf ihre
Erwerbsmittel vermehrt hatte, mächtig auf, es wurde viel Arbeit verlangt, aber
noch mehr angeboten. Die kleinen Kapitalien fingen an, den großen zu unter¬
liegen, und die großen Unternehmungen bekämpften nun einander auf Kosten
des Arbeitslohnes. Wie den Stand des alten Adels, so brachte die Restau¬
ration auch das alte Proletariat wieder, nur hatte die Verfassung von 18t>->
zwischen beide den Stand der Besitzenden gestellt, da mich ihr das Recht der
Volksvertretung von einem hohen Zensus abhängig war. Hätte die Regierung
sich damals ehrlich mit dieser Klasse der Gesellschaft, der Bourgeoisie, ver¬
bündet und ihr verfassungsmäßige Freiheit verbürgt, so würde sie sich laugen
Bestand gesichert haben. Da dies aber nicht geschah, so mußte sich das Bürger¬
tum zur Verteidigung seiner staatsrechtlichen Stellung Beistand beim Prole¬
tariat suchen und diesen Beistand durch Unterstützung des Anspruchs auf
größere Geltung im Staate, auf Herabsetzung des Zensus, ja auf völlige Be¬
seitigung desselben erkaufen, womit man sich, teils bewußt, teils unbewußt,
demokratischen Zielen zuwendete. Das Mittel, diese zu erreichen, suchte mau
in geheimen Gesellschaften, wie sie in den folgenden Jahrzehnten die innere
Geschichte Frankreichs beherrscht haben. Bei der Julirevolution siegten die
wohlhabende und gebildete Mittelklasse in ihrem nur verfasst,ugstreues Regt-
wert und in ihrem die Republik erstrebenden Teile und das vorwiegend gegen
die Staatsform gleichgültige Proletariat gemeinschaftlich, der Gewinn aber fiel
mir den konstitutionellen Bourgeois zu, der Wahlzensus wurde so wenig ver¬
ändert, daß auch jetzt kein Arbeiter ins Abgeordnetenhaus gelangen und hier
die Interessen seines Standes vertreten konnte. Der dritte Stand hatte sich
seine Stellung gesichert, der vierte galt nach wie vor im Staate nichts, und
er sah sich zugleich durch die Revolution materiell benachteiligt. Sie hatte
die Industrie erschüttert, die Kapitalien zogen sich zurück, es gab weniger
Arbeit, und der Lohn sank. Das Proletariat war unzufrieden und wendete
lieb infolge dessen mehr als bisher den Republikanern zu, die durch die Re¬
volution anch nichts erreicht hatten und den Arbeitern ebenfalls ihren Anteil
an der Staatsgewalt und Gelegenheit, ihre Interessen wahrzunehmen, versprachen.
Der vierte Stand, jetzt als xsupls bezeichnet, trennte sich in seinen politischen
Bestrebungen von dem konstitutionellen Teile des dritten und verschmolz mit
dessen republikanischen Teile durch die geheimen Gesellschaften, die zur Ver¬
wirklichung der Republik gegründet worden waren. Solche Gesellschaften
Mitten schon unter der Herrschaft der Bourbonen bestanden.
Die erste war die zur Zeit des „weißen Terrorismus" in Grenoble ge¬
gründete und bald darauf nach Paris verpflanzte „Union," die namentlich
»meer den jungen Leuten der gebildeten und besitzenden Stände viel Anhang
l"ud und den Zweck verfolgte, durch Unterstützung der liberalen Presse und
durch Beeinflussung der Wahlen gegen die Ultraroyalisten und für das kon¬
stitutionelle System zu wirken. Neben ihr bildete sich die „Gesellschaft der
freunde der Preßfreiheit," an deren Spitze Männer wie der Herzog von Brvglie,
^"fayette und Lafitte standen, und die zwei Jahre lang die eigentliche Vertretung
^er liberalen Interessen in Frankreich bildete. Als die Negierung sie dann
auflöste, blieb ihr geheimer Ausschuß (corneo Ä'aeUou) bestehen, worin Lafn-
hette die Hauptrolle spielte, und der den Sieg der liberalen Grundsätze nur
von einem Dynastiewechsel erwartete. Man setzte sich zu diesem Zweck erst
dann 1819 durch den in Brüssel lebenden Generale Lcnuarqne mit dem
^'Uizen von Oranien in Verbindung, der mit den unter seinem Befehle stehenden
'Uederländischen Truppen als Befreier vom Joche der Bourbonen in Frankreich
Uirücten, ihm Belgiens Besitz mitbringen und so als doppelt willkommen König
^' Franzosen werden sollte — ein Plan, der dem Könige von Holland ver¬
dien und von ihm vereitelt wurde. Die Ermordung des Herzogs von Berry
? die ihr folgende Reaktion trieben die geheimen Verschwörungen in Ver¬
jüng ans einander, aber nach kurzer Zeit hatten Lafayette und einige ehe-
^ lge Mitglieder der „Union" eine neue Verbindung zu Stande gebracht, die
gMich nur den Schutz politischer Gefangenen und die Fürsorge für deren
, ^hörige in: Auge hatte, deren geheimer Zentralausschuß (oomitv äirsoteui-)
^' sich eifrig bemühte, einen Aufstand und den Sturz des regierenden Hauses
vorzubereiten. Schon bei den Volksaufläufen während der Kammerverhand¬
lungen über die von der Regierung vorgelegten reaktionären Gesetzentwürfe
hatte dieser Ausschuß die Hand im Spiele gehabt; die Hauptsache aber sollte
eine von ihm augestiftete Militärverschwöruug thun, die sich über einen großen
Teil der Besatzung von Paris und dessen Nachbarschaft ausbreitete, besonders
Unteroffiziere und Offiziere bis zum Major zu Mitgliedern hatte, aber auch
von einigen Obersten und Generalen begünstigt wurde, und deren Plan dahin
ging, sich des festen Schlosses Vincennes zu bemächtigen, dort eine provisorische
Regierung einzurichten und vou dort aus die benachbarten Vorstädte Se. Antoine
und Se. Marceau zum Aufstande gegen die Bourbonen aufzufordern. Gleich¬
zeitig sollte die Empörung in andern Städten Frankreichs ausbrechen. Ein
Zufall, das Auffliegen eines Pulverturmes in Vincennes, vereitelte das Unter¬
nehmen, das in der Nacht vom 1'^. zum 20. August 1820 ausgeführt werde»
sollte. Aber der Hochverratsprozeß, der nun folgte, erreichte die Männer des
revolutionären Zentralkomitees nicht, und bald hatten sie, unterstützt durch den
Eindruck, den eine ultrarvhalistische Kammer und ein gleichartiges Ministerium,
die Früchte des neuen Wahlgesetzes, auf die Liberalen im Lande gemacht hatten,
zwei andre geheime Gesellschaften für einen Aufstand zur Verfügung, der zu
gleicher Zeit im Osten und im Westen Frankreichs nusbrecheu sollte. Die eine
dieser Verbindungen, die ihren Mittelpunkt in Sauiuur hatte und sich von
hier rasch über alle Städte des Loiregebietes verzweigte, sodaß die Zahl ihrer
Mitglieder zuletzt auf 30 000 bis 40 000 geschätzt wurde, nannte sich die
„Ritter der Freiheit." Die andre war nach dem Muster und unter dem Namen
der italienischen Carbonari in Paris von Studenten und andern jungen Leuten
gegründet worden, die, als sie ihre Ohnmacht begriffen hatten, Männer von
Ansehen und Einfluß um Anschluß an ihre Genossenschaft angingen. Lafnyette
willigte sofort ein und trat an die Spitze der „obersten Venta" des Bundes.
Ihm folgten die meisten Mitglieder des leitenden Ausschusses vou 1820:
Voher d'Argenson, CvreelleS, die Generale Thiard und Tarayre, der Maler
Ary Scheffer, der Fabrikant Köchliu und der Gerichtsrnt Schonen. Die beiden
letzten waren aus dem Elsaß, das nun durch ihre Bemühungen für die beab¬
sichtigte Revolution vorbereitet wurde. Im Laufe des Sommers vereinigten
sich die „Carbonnri" nnter Leitung des Pariser Zeutralnusschusses mit den
„Rittern der Freiheit." Ausgesprochener Zweck der Verschworenen war der
Sturz der regierenden Dynastie; das Weitere wurde einer dann einznbernfendeu
Nationalversammlung überlassen, von der die einen Erklärung der Republik,
die andern die Erhebung Louis Philipps, des Herzogs von Orleans, noch
andre die Wiederherstellung des Kaisertums unter Napoleon II. hofften. Der
Aufstand sollte in den letzten Dezembertngen von 1821 im Elsaß seinen Anfang
nehmen, wo die Verschwörung unter den Besatzungen der festen Plätze, sowie
unter der bürgerlichen Bevölkerung viele Anhänger zählte. Zuerst gedachte
'»an sich der kleinen Festung Belfort zu bemächtigen und dort eine provisorische
Regierung, bestehend ans Lafayette, Woher d'Argeusou und Konsum, auszurufen,
dann wollte man sich nach Colmar und Straßburg werfen und von Straßburg aus
ganz Ostfrankreich revolutioniren, und gleichzeitig sollten sich die Verschworenen
im Westen erheben. Die Sache mißglückte im Elsaß durch die Empfindsamkeit
Lafahettes, der sich ihr sonst mit kaltblütiger Hingebung gewidmet hatte: er
bat um Vertagung, weil es ihm Herzensbedürfnis war, erst den Todestag seiner
Frau weihevoll zu begehen. Statt des 29. Dezembers wurde die Nacht vom
1- zum 2. Januar zur Schilderhebuug bestimmt, aber inzwischen erfuhr der
Befehlshaber von Belfort von dem Komplott und traf wirksame Maßregeln
zur Vereitelung. Die meisten Verschworenen retteten sich durch die Flucht,
und Lafayette wurde, jetzt auf dem Wege nach Belfort, durch einen von ihnen
M eiliger Umkehr veranlaßt. Wie aber bei dem Plane nichts heraus kam, so
auch bei dem Prozeß gegen die Unternehmer: von denen, deren man habhaft
wurde verurteilten die Geschworenen in Colmar mir vier zu mäßigen Gefängnis¬
strafen, während sie neunzehn freisprachen, und gegen die Pariser Urheber und
Leiter fehlte jeder juristische Beweis. Der Aufstand im Westen verlies ähnlich.
Bei einer Feuersbrunst in Sauinur erschlug eine einstürzende Mauer einen der
Vechhworeuen, und in seinen Taschen fand man Papiere, nach deren Durchsicht
die Behörden sofort eine beträchtliche Anzahl von nntbeteiligten Offizieren und
Sergeanten verhafteten. Die übrigen erschraken darüber und faßten erst wieder
Mut, als die Verhafteten sich vor dem Richter verschwiegen zeigten, und uun
>orbe, ein neuer Aufstandsplau entworfen, der am 2:;. Februar unter Leitung
des Generals Bertou ausgeführt werde» sollte. Die Nationalgarde von Saumur
"ber, die den Anfang zu machen versprochen hatte, zeigte sich schließlich klein¬
mütig, und das Landvolk, das nun ausgeboten wurde, nach der Stadt zu
ziehen und deren Bevölkerung mit sich fortzureißen. verriet ebenfalls wenig
Begeisterung für die Sache, sodaß. als Verlor sich am folgenden Sonntag
"">n Flecken Thouars ans mit einer Schar vou 120 Maun gegen Saumur
Bewegung setzte, die Dörfer auf dein Wege ihm nur geringe Verstärkung
im, Ju der Stadt hatten unterdessen die Behörden, von seinem Heran¬
rücken unterrichtet, Maßregeln zu seinem Empfange getroffen, unter den Ver-
uvvreueu vom Militär überwog, als sie mit den übrigen Truppen aufgestellt
. urcu, die Gewohnheit des Gehorsams ihre revolutionäre Gesinnung, bei der
^ationalgarde herrschte die alte Unschlüssigkeit fort, und Bertou sah sich, als
uut seiner Freischar nu einem Ende der Brücke von Scuunnr eingetroffen
"r und einige Stunden auf Zuzug von der andern her gewartet hatte, genötigt,
Zuzukehren. Die Regierung wechselte darauf die Garnison, und als Bertou,
uachrichtjgt, auch diese sei seiner Sache gewonnen, einen zweiten Pulses
^le, csing er in eine Falle und wurde gefangen genommen und an 2«!, August
'"it etwavierzig Mitschuldigen zum Tode verurteilt und erschossen.
Tage zuvor ließ die Regierung in Paris vier Unteroffiziere als Teilnehmer
am Vuude der Carbonari guillotiniren.
Der Sieg der Julirevolution von 1830 Narde, wie oben bemerkt, von
der Bourgeoisie und dem vierten Stande, den Liberalen und den Republi¬
kanern gemeinsam erfochten, trug aber nur den Liberalen Gewinn ein, indem
der neue König anfangs streng nach der Karte von 1814 regierte, wie man
sie jetzt gestaltet hatte. Die Republikaner hatten allerdings Lafayette zum
Diktator ausrufen und Frankreich zur Republik erklären können, aber darauf
verzichtet, da beides nur kurzen Bestand versprach. Sie fügten sich jedoch
uur mit Vorbehalt und für die Gegenwart, und schon 1831 bildeten sich neue
geheime Gesellschaften zu dem Zwecke gewaltsamer Erreichung ihrer Ziele. Der
zahlreichste und in den untern Schichten des Volkes verbreiterte dieser Vereine
von Verschwörern war die Losislü ävs eiroits Ah 1'Iwnira«z, die die Erklärung
der Menschenrechte von 1789 zum Programm hatte, ihr aber noch keinen
sozialistischen Zusatz gab, die Bedürfnisse und Forderungen des vierten Standes,
der Besitzlose», der Arbeiter also noch nicht berücksichtigte. Im Juni 1832
wagten diese unbefriedigten Parteien deu ersten Aufstand zur Einführung der
Republik, nachdem schon im Herbst des vorherigen Jahres die Arbeiter von Lyon
sich mit den Massen in der Hand zur Verbesserung ihrer Lage, aber nicht zu¬
gleich zu politischen Zwecken erhoben hatten. Die Geschäftsstockung hatte hier
den Lohn der Seideuweber um mehr als die Hälfte herabgedrückt, und sie
machten nun für ihre Not die Habsucht der Fabrikanten, die Hartherzigkeit
der Reichen und die Gleichgiltigkeit der Behörden verantwortlich. Der Prä-
fekt schlug endlich vor, durch Bevollmächtigte der Weber und ihrer Arbeitgeber
einen den Umständen und der Billigkeit entsprechenden Lvhntarif feststelle» zu
lassen. Dies geschah, man einigte sich über neue Lohnsätze, die allgemein
verbindlich sein sollten, und deren Nichtbeachtung vor das Gewerbegericht ge¬
bracht und vou ihm mit Geldstrafen geahndet werden sollte. Die Arbeiter
frohlockten, aber die meisten Fabrikherren verweigerten dem Tarif ihre Aner¬
kennung, und das Gewerbegericht versuchte vergebens sie zu zwingen. Die
Nrbeitseinstellnng, die darauf stattfand, hatte nur den Erfolg, daß die Weber
nach acht Tagen in unerträgliches Elend gerieten, und nun griffen sie zur
Gewalt. Am 21. November früh war die fast ausschließlich vou Seiden¬
webern bewohnte Vorstadt Croix Nousse ein großes Feldlager des Aufruhrs.
Die Aufständischen besaßen eine beträchtliche Zahl von Gewehren und sogar
zwei Kanonen, die bei eiliger Räumung einer Kaserne im Stiche gelassen
worden waren. Ihre Fahnen trugen die Aufschrift: „Entweder durch Arbeit
leben oder im Kampfe sterben." Sie zählten gegen 30000 Köpfe, denen die
Behörden anßer der Nationalgarde nur 3000 Soldaten entgegenzustellen hatte,
wenn die Empörer sich gegen die innere Stadt in Bewegung setzten. Der
Präfekt, der sich bei deu Arbeitern beliebt gemacht zu haben glaubte, begab
sich zu Unterhandlungen in ihre Mitte, wurde aber schwer gemißhandelt und
als Gefangener zurückbehalten. Der erste Versuch der Aufständischen, sich der
innern Stadt zu bemächtigen, wurde durch die Truppen vereitelt, ein zweiter,
am folgenden Tag unternommen, nachdem sich die meisten übrigen Vorstädte
der Revolution angeschlossen hatten, gelang, sodaß sich nun nur noch das Rat¬
haus und desseir Umgebung in den Händen des Militärs befanden, und in
der Nacht beschlossen der kommandirende General Rognet und der inzwischen
freigelassene Präfekt Dnmolard, dn die Truppen erschöpft und von der 15000
Mann starken Nationnlgarde nur noch etwa hundert unter den Waffen waren,
die militärische Räumung der Stadt, die sofort bewerkstelligt wurde. Un¬
mittelbar darauf überließen der Präfekt und die Gemeindebehörden das Rat¬
haus den Aufständischen, die nun durch einen Ausschuß, der ans Fabrikarbeitern
und politischen Abenteurern aller Art zusammengesetzt war und sich „Proviso¬
rischer Generalstab" betitelte, die öffentliche Gewalt in die Hände nahmen.
Sie hatten vollständig gesiegt, aber wegen der Früchte ihres Sieges war guter
Rat teuer. Erhöhung des Arbeitslohnes war nicht erfochten, und was weiter
»" geschehe» habe, wußte niemand anzugeben. Man rächte sich an einigen
besonders verhaßten Arbeitgebern, indem man ihre Wohnhäuser und Fabriken
^störte, schadete sich damit aber mehr selbst, indem man so für die nächste
Zeit eben einige Arbeitgeber verlor. Mit Raub und Plünderung aber wollte
'nan sich so wenig helfen, das; dergleichen bei Todesstrafe untersagt und in
einigen Fälle» auch damit bestraft wurde. Die Rat- und Thatlosigkeit der
siegreichen Empörer ermutigten den Präfekten und einige städtische Beamte zur
Rückkehr nach dem Rathaus und zu dem Versuch, ob etwa verständiges Zu-
^eden jetzt mehr bei ihnen vermöchte als Kartätschen und Bajonette, und diese
Versuche'hatten Erfolg: Die Amtsgewalt des Präfekten wurde von den Auf¬
ständischen wieder anerkannt, und wenn sie noch unter den Waffen blieben, so
geschah es nur, um nach seinen Befehlen die öffentliche Ruhe vollends wieder¬
herzustellen und zu erhalten. Der „Provisorische Generalstab" aber löste sich
^mählich vou selber auf. Unterdessen hatte die Regierung Anstalten getroffen,
^r gedemütigten Staatsgewalt vollständigere Genugthuung zu verschaffein
^'u 3. Dezember rückte ein Heer von 20000 Mann unter Marschall ^vult,
dem der älteste Sohn des Königs, der Herzog vou Orleans, beigegeben war,
^ Lhon ein. Von Widerstand oder Bedingungen war keine Rede. Die Stadt
wurde entwaffnet, die Nationalgarde aufgelöst, der Präfekt wegen übertriebener
^"chgiebigkeit abgesetzt und die Verhaftung der Rädelsführer des Aufstandes völl¬
igen, gegen die nun die Kammern in besondern Adressen an den König die
volle Strenge des Gesetzes angewendet wissen wollten. Übrigens wünschten sich"lie Gegner der Lyoner Arbeiterrevolution Glück, daß auch die sorgfältigsten
"utersnchuugen dabei keinen Zug politischen Charakters herausfanden, und in
gcuiz Frankreich schien damals niemand zu ahnen, daß die Frage vom Tagelohn
später einmal verhängnisvoller werde» sollte als die Frage, ob Monarchie
oder Republik,
Der Aufstand der Republikaner, der am 5. Juni 1882 in Paris bei Ge¬
legenheit des Leichenbegängnisses des Generals Lcimarque, eines der heftigsten
Wortführer der Liberalen in der Kammer, ausbrach, wurde, obwohl er mit
nicht ganz unberechtigter Hoffnung auf Gelingen von Lnfnyette und dessen
Partei vorbereitet war, schon am nächsten Tage vollständig niedergeworfen-
Die Regierung war im Voralls unterrichtet und vorbereitet. Die Besatzung
von Paris betrug 20000 Maun und ließ sich in wenigen Stunden verdoppeln,
der Oberbefehl über die Linientruppen und die Nationalgarde lag in der Hand
des Marschalls Lobau, der seine militärischen Unordnungen mit Umsicht und
Knltbliitigleit getroffen hatte. Zweifelhaft erschien nnr die Zuverlässigkeit der
Truppen. In manchen Abteilungen der Nationalgarde herrschte die entschiedenste
Feindseligkeit gegen die bestehende Ordnung der Dinge, auch in der Armee gab
es entschlossene Anhänger der republikanischen Idee. Die Republikaner rech¬
neten auf mehrere hohe Offiziere, namentlich ans den Marschall Clauzel, selbst
auf den Kriegsminister Soult. In der That blieb der Kampf einige Stunden
unentschieden, Wnchthäuser lind Kasernen wurden erstürmt, Barrikaden aufge¬
worfen, Wasfeulädeu geplaudert, aber es fehlte der Revolution an einem festen
Mittelpunkte lind einheitlicher Leitung, denn Lafayette war zwar wie immer
bereit, sich an die Spitze der Revolte zu stellen, aber altersschwach, und
Clnuzels Bedingung für die Übernahme des Oberbefehls, daß wenigstens el»
Regiment sich dem Aufstande anschließe, wurde nicht erfüllt. Die Truppen
blieben dem König, der bei dieser Gelegenheit viel Ruhe. Mut und Thatkraft
entwickelte, getreu, und die Nationalgarde zeigte nur in einigen Abteilungen
das Gegenteil, ii» ganzen genommen aber nicht nur Eifer, sondern auch
Tapferkeit bei Verteidigung der öffentlichen Ordnung. Am Nachmittag des ti,
waren die Barrikaden zertrümmert, die Verteidiger größtenteils niedergemacht,
und so erlosch der Aufstand.
Aber die Republikaller verfolgten ihre Pläne weiter, und das jetzt be¬
ginnende reaktionäre Regiment Ludwig Philipps gab ihnen reichlich Handhabe»
dazu. Darunter befand sich das gerichtliche Vorgehen gegen eine beträchtliche
Anzahl von Mitgliedern der „Gesellschaft der Menschenrechte," die sich zur Be¬
kämpfung der Monarchie militärisch organisirt und mit ihrem Programm den
sozialistischen Sekten des Proletariats genähert hatte; denn es hieß darin n. :
„Der Staat ist verpflichtet, für den Unterhalt aller seiner Angehörigen zu
sorge», indem er ihne» entweder Arbeit verschafft oder ihnen, falls sie arbeits¬
unfähig find, Unterhaltsmittel giebt. Die Unterstützung dessen, dem das Not¬
wendige fehlt, ist eine Schuld dessen, der das Überflüssige besitzt, und das
Gesetz bestimmt die Weise, wie diese Schuld abzutragen ist. Jedes Gesetz
ist fehlerhaft, wen» es nicht von der Voraussetzung ausgeht, daß das Voll
gut und die Obrigkeit der Verführung ausgesetzt ist. Die Aristokraten und
Tyrannen sind Sklaven, die sich gegen den Oberherrn der Erde, das Menschen¬
geschlecht, empört haben." Jene Mitglieder des Bundes wurden von den Ge¬
schwornen freigesprochen. Dagegen wurde der hauptsächlich gegen ihn gerichtete
Regierungsvorschlag einer Beschränkung des Versammluugsrechtes von den
Kammern zum Gesetz erhoben, und bald darauf erfolgte die Auflösung der
„Gesellschaft der Menschenrechte" durch die Behörde.
Sie beschloß jetzt nochmals loszuschlagen, und andre Geheimbünde, z. B.
LafcNMes Gesellschaft zur Verteidigung der Preßfreiheit, setzten sich mit ihr
in .Kriegsbereitschaft. Der Kampf sollte zu gleicher Zeit in Paris und Lyon
nusbrechen. Hier aber eröffneten ihn die Arbeiter schon um 5). April 1834
Voreilig und gegen den ausdrücklichen Befehl der Pariser Leiter, und da die
Stadt jetzt eine starke Garnison hatte, so wurde der Aufstand unterdrückt,
wenn auch erst nach dreitägigen, blutigem Ringen. Die Pariser Verschwornen
waren jetzt geteilt in der Meinung, ob eine Nachahmung des Beispiels der
Lyoner Gesinnungsgenossen noch ratsam sei oder nicht. Einflußreiche Republi¬
kaner wie Armand Carrel rieten zum Aufschub, Buonarotti und die demo¬
kratischen Carbonari erklärten sich gleichfalls gegen das Unternehmen. Schließlich
brachte die Verhaftung einiger Häupter der Revolutionspartei die ganze Sache
in Verwirrung. Trotzdem schritten die Ungeduldige» unter den Verschwörern
Ausführung des Planes, aber erst als die Negierung Muße gefunden
hatte, die 40000 Mann der Besatzung von Paris in den Stand zu setzen,
der Revolution schleunigst ein Ende zu macheu. Am 13. April erhoben sich
in mehreren Straßen Barrikaden, hinter denen sich die 4000 Mitglieder, die
^e „Gesellschaft der Menschenrechte" in Paris zählte, sammeln sollten. ES
^schien aber nur ein Teil, und diese vermochten dem gegen Abend erfolgenden
^'griffe der Truppen nicht lauge Stand zu Halle», zumal da die Artillerie
^e Barrikaden bald zusammenschoß, sie flüchteten in die benachbarten Häuser,
"der auch diese wurden rasch von den Soldaten erstürmt, wobei eS namentlich
der Straße Transnvnain zu entsetzlichen Auftritten kam. Am Abend des
war alles zu Ende und die Nuhe an allen Punkten der Stadt wieder
^'gestellt. Die Nationalgarde hatte dabei geholfen.
Die „Gesellschaft der Menschenrechte" ging auseinander, die Zeit der
^publikanischen Ideen schien abgelaufen, und zwar umso mehr, als jetzt eine
Veränderung der Meinung im Mittelstände vor sich ging, die das nächst-
^lgende Jahrzehnt beherrschte. Die Klasse der Besitzenden fing bei der nun
^''getretenen Ruhe an, sich von den Schlägen der Julirevolution und der ihr
Agenten Aufstände sowie von der dazwischen empfundenen Unsicherheit zu er¬
hole»
kiaDer öffentliche Kredit befestigte sich, und es wurde der Bourgeoisie
oaß jede revolutionäre Bewegung ihn wieder zum schwanke» bringen
^de. Jedes große Geschäftslebc» bedarf aber vor allen Dingen des Kredits,
jeder Feind desselben war anso der Feind der Geschäfte, und da die republi¬
kanische Idee diese an ärgsten störte und gefährdete, so entfernte sich die
Bourgeoisie, die eigentliche Geschäftswelt mehr und mehr von ihr, zumal da
bisher die ernstesten Versuche, sie zu verwirklichen und so einen neuen festen
Boden für das Erwerbsleben zu gewinnen, immer gescheitert waren. Der
Republikanismus verschwand somit für lange Zeit ans den höhern Ständen,
er stieg hinab in die niedern, um hier eine neue Gestalt anzunehmen, und
damit begann ein neuer Abschnitt in den Jngendjnhren der Sozialdemokratin
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W^ü^^??on jeher bat der Deutsche das Bedürfnis gehabt, neben den
Anforderungen des Tages sich in ein Nachsinnen zu verlieren,
das nicht unmittelbar dem Praktischen zugewandt ist. Als wir
noch keine politische Nation waren, pflegten wir nicht ohne
Leidenschaft den weiten Kreis ästhetischer Fragen zu durchmessen.
Heute, wo Männer von Thatkraft unter uns aufgestanden sind, und der Zug
der Zeit auf ein nützliches Handeln gerichtet scheint, werden pädagogische
Dinge erörtert, bei denen sich immer die theoretische Seite mehr oder minder
stark hervorkehren läßt. Es ist aber gar nicht verwunderlich, daß diese Frage»
weit über den Kreis der eigentliche» Fachmänner hinnus unter dem Beifall
der gebildeten Schichte« unsers Volkes zur Verhandlung komme». Denn da
jeder erzogen und unterrichtet ist und, wenn das Glück gut ist, auch selbst
wieder erziehen und unterrichten wird, so glaubt jeder die Pflicht zu haben,
nicht nur solche Dinge mit Teilnahme anzuhören, sondern auch sein eignes
Urteil darüber in die Wagschale zu werfen. Das wird so bleiben, so lange
Unterricht und Erziehung eine öffentliche Angelegenheit sind.
Heute ist es nun weniger die Volksschule als das höhere Unterrichts¬
wesen, um das sich der Streit der Meinungen erhitzt hat. Weil Wissenschaft
liebe Methode, reichere Kenntnisse, größere Gewandtheit im schriftlichen Aus¬
druck der Gedanken namentlich den Gliedern derjenigen Gesellschaftskreise eigen
sind, die an der höhern Schule Anteil nehmen, so ist denn auch gerade
im Kampfe um diese Anstalt die Zahl der geäußerten Meinungen Legion-
Zwischen Angriff und Verteidigung wogt die Schar der Bücher, Flugschriften
und wissenschaftlichen Abhandlungen hin und her. Fast jeder bringt das
Scherflein eines neuen Vorschlags, und es mag geglaubt werden, daß alle von
heiligem Eifer für die Sache entbrannt gewesen sind. Aber es sind uns jetzt
weniger neue Vorschläge von nöten als eine kritische Sichtung des Vor¬
handenen, vielleicht daß sich da die großen Gesichtspunkte, die prinzipiellen
Gedanken ergeben, die eine Schlichtung des Streites, eine Beruhigung der
Gemüter und dadurch allein eine gedeihliche Entwicklung unsers Schulwesens
herbeizuführen geeignet sind.
In den meisten Fällen sind es Fragen des Unterrichtsstoffes, die erörtert
werden. Was soll deu Mittelpunkt des gesamten Unterrichts bilden? Huma
nistische Studien oder moderne Sprachen .oder Mathematik und Naturwissen¬
schaften oder deutsche Sprache und Philosophie?
Mese große Verschiedenheit der Forderungen und Vorschläge hat ihren
guten Grund. Während sich die Wissenschaften vielfach in lauter Einzelunter¬
suchungen aufgelöst haben und damit das Bewußtsein des Zusammenhanges
aller Wissenschaften verdunkelt ist, hat sich das Gefühl für die Größe und
Bedeutung der eignen Wissenschaft bei sehr vielen verschärft, die Achtung »ud
das Verständnis für fremde Untersuchungen gemindert. Überdies sind die
technischen Fächer, ans wissenschaftliche Grundlage gestellt, in fortwährender
Ausdehnung. Sie alle, Wissenschaft wie Technik, beanspruchen von der Schule,
wo nicht im Mittelpunkte des Unterrichts zu stehen, so doch Berücksichtigung
SU sinden. Erfolgt kein Eindämmen des Stromes, so wird die höhere Schule
von der Menge des Stoffes überflutet und in ihrer Wirksamkeit erdrückt
werden, oder sich in lauter einzelne Fachschulen auflösen müssen.
Darum ist ein Sichbesinnen auf den Zweck und das Wesen alles Unter¬
richts zur Zeit wohl angethan, oder weiter gefaßt, es ist eine Einigung über
^e Frage dringlich geworden: wie soll sich der Unterricht zur Erziehung verhalten,
W wie muß unsre Erziehung überhaupt gestaltet sein? Nun hat neuerdings Herr
Paul Güßfeldt in einem Aufsatze Die Erziehung der deutschen Jugend
Merst in der „Deutschen Rundschau" (im Januar- und Februarheft), dann in
wlem in Buchform erschienenen Abdruck (Berlin, Gebrüder Paket, 1890) seine
Vorschläge zu einer Schulreform durch einen Abschnitt über Erziehung eingeleitet
Und zu begründen versucht. Ich knüpfe meine Erörterungen umso lieber an dieses
^und an, als es vermöge seiner gewandten Darstellung und seines aphoristi¬
schen Charakters weitere Kreise zu fesseln geeignet ist. Das wird auch der
Herr Verfasser selbst wünschen. Jedoch kaun ich die Bemerkung uicht unter¬
drücken, daß er seine Erfahrungen aus ganz bestimmten Gesellschaftskreisen,
den sogenannten obern Zehntausend, gesammelt lind darum bei manchen Aus¬
sprüchen gerade diese Kreise besonders im Auge gehabt zu haben scheint.
Ich habe mich beim Lesen des ersten Abschnittes des genannten Buches,
der besonders über die Erziehung des Kindes handelt, der Erinnerung an die
alte Wahrheit Bei, Alldas nicht erwehren können: „Es ist alles schon dage¬
wesen." Damit meine ich nicht eine Benutzung dieser oder jener Gedanken
ans der vorhandenen Pädagogischen Litteratur, sondern gerade in den Grund¬
sätzen über Erziehung hat Herr Güßfeldt einen alten berühmten Vorgänger.
Ich hebe aus den viele» Bemerkungen zunächst zwei Sätze hervor, die auf
seine prinzipielle Stellung in den Fragen der Erziehung besondres Licht werfen.
Herr Güßfeldt erklärt: „Die gestrengen Herren Erzieher, die gar nicht
wissen, wie abstoßend oft ihr Wesen auf Kinder wirkt, wie viel Selbstüber¬
windung sie diesen im täglichen Verkehr auferlege», sagen: Kinder müssen in
erster Linie gehorche» lerne»." „Nein," ruft Herr Güßfeldt, „Kinder müssen
in erster Linie gerecht behandelt werden."
Das heißt also, bei Lichte besehen: nicht mehr das Pflichtbewußtsein,
sondern das Rechtsbewußtsein der Kinder giebt von jetzt an die Norm der
ganzen Erziehung. Auch die Kinder haben ihr Recht, ja das Recht der Kinder
kommt vor ihrer Pflicht!
Es sind vergilbte Blätter, die ich umwende. In einem Buche, das um
die Mitte des vorigen Jahrhunderts erschienen ist, heißt es also: „Unsre
ersten! Pflichten sind gegen uns selbst; unsre ersten ursprünglichen Empfin¬
dungen laufe» in uns selbst zusammen; alle unsre natürlichen Bewegungen
beziehen sich anfangs ans unsre Erhaltung und ans unser Wohlsein. Die
.erste Empfindung von der Gerechtigkeit bekommen wir also nicht von der, die
wir schuldig sind, sondern von derjenigen, die uns gebührt; und dies ist auch
noch eine von den Widersinnigkeiten der gemeinen Erziehungen, daß »ran gleich
anfangs mit den Kindern von ihren Pflichten, niemals von ihren Gerechtsamen
redet." Das hat der Mann geschrieben, der „die Rechte der .Kinder entdeckt
hat," der selige Jean Jacques Rousseau.
Eine Meinung ist noch nicht deshalb wahr oder falsch, weil sie schon
vor hundert Jahren behauptet wordeu ist. Aber man erwäge! Gewiß hat
auch das Kind sein Recht, denn es ist »ach Gottes Ebenbild geschaffen. Aber
es ist »och nicht imstande, dies Recht zu vertrete», weil es dies Recht noch
nicht kennt und begreift. Darum treten die Eltern für das unmündige Kind
ein, und ebendarum hat das Kind als einziges Recht das Recht ans Erziehung,
damit es seine Menschenwürde allmählich begreifen »ud bethätigen lerne. Wir
würden die ganze sittliche Ordnung umstoßen, wenn wir das Rechtsgefühl der
Kinder zum Grundsatz aller Erziehung machen wollten. Denn much für das
Kind sind die Pflichten eher dn als die Rechte; die Rechte müssen durch
die Pflichten verdient werde». „Von meinen Rechten sagt nur das Gewisse»
nichts, wohl aber von nieiueu Pflichten," hat der Pflichttreueste Mann gesagt,
deu Deutschland bis vor wenig Woche» a» der Spitze seiner Staatsgeschäfte
gesehen hat. Der Gehorsam gegen Eltern und Erzieher ist aber für das Kind
zunächst die einzige Möglichkeit, seiner Pflicht gerecht z» werden. Und diese»
Gehorsam, wenn es sein muß, durch die Mittel der Zucht zu erzwingen, ist das
gute Recht, ja die Pflicht der Erzieher. Das Kind weiß nicht, was ihm gut
ist; ja wie oft empfindet es nicht als bittres Unrecht, was doch nur sein gutes
deckst ist. Wohl hat das Kind einen Sinn für gerechte Behandlung, aber
dieser tritt nur in feinem Verhältnis zu den Geschwistern zu Tage, da es mit
ihnen den Eltern gegenüber auf derselben Stufe steht. Diese Thatsache ent¬
hält, in die Sprache der Praxis übersetzt, die Warnung, kein Kind vor seineu
Geschwistern vorzuziehen.
Im Lichte dieses Zusammenhanges Null auch eine Anekdote beurteilt
werden, die Herr Güßfeldt aus seinem Leben berichtet. Wenn der Knabe sich
weigerte, einem Fremden, der ihm nicht genehm war, die Hand zur Begrüßung
->» geben, souderu seinem Unmut in Thränen Luft zu macheu pflegte — Hand
"uff Herz, Herr Güßfeldt, hatte da der Vater nicht das Recht, dem eigensinnige»
Knaben eine von den kräftigen Ohrfeigen zu geben, die Sie uns zur rechten
Zeit wieder entdeckt haben? Konnte der Vater diesen Erweis der Höflichkeit
von seinem Kinde nicht mit Fug verlangen? Oder hätte man das Kind dahin
erziehe» sollen, daß es, dem eignen Willen folgend, mißliebigen Persönlichkeiten
^nie gemessene Verbeugung als Höflichkeitsform entgegenbrächte, wie es der
greifte, seines Willens und seines Rechtes sich bewußte Mann gethan hätte?
Was für deu Mann gilt, gilt darum noch nicht für das Kind. Der
^aun ist im vollen Besitz seiner sittlichen Freiheit, das Kind soll dazu erst
^»gen werden. Der Weg zur Freiheit aber führt noch immer dnrch den
Gehorsam, und somit ist dieser freilich nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum
owecl. Jeder Gehorsam, der nicht zu diesem Ziele führt, ist unsittlich, weil
^' 5»r .Knechtschaft führt. Darum ist blinde oder lieblose Strenge ebenso wenig
^eignet, den rechten Gehorsam zu bewirken, als jene verzärtelnde Affen-
^''e, die das Kind zum Spielbnlle seiner eignen Launen und Begierden er¬
niedrigt.
Solche Erziehung ist unsrer Zeit Bedürfnis. Die soziale Bewegung
Wurzelt zu nicht geringem Teile in einem krankhaft gesteigerten Rechtsbewußtsein.
handelt sich bei ihr nicht bloß um eine Brotfrage, souderu ebenso sehr um
Frage des Gehorsams, der Zucht, der Autorität; die soziale Frage ist
""es eine sittliche Frage. Neben dem „Was geben nur ihnen zu essen?" steht
,^'um, nicht minder Beachtung heischend, das andre „Wie sollen wir sie er¬
gehen?" ^ diesem Abschnitt mit eiuer andern Antithese: nicht eine
.'^Neuerung der Rvusseauischen Lehre vom Rechte der Kinder kann ein wirt-
^,'Ach Mittel für die Erziehung werden, sondern der alte Grundsatz, daß
^ »der in erster Linie zum Gehorsam erzogen werden müssen.
^ Es paßt in einer Zeit alles zu einander, Politik, Kunst und Pädagogik.
^ sozialistische Ideal ist Rückkehr zur Natur; die natürliche Ordnung ist
"'-'es die bisherige Kultur durchbrochen und vernichtet, ihre Herstellung ist
mit allen Mitteln anzustreben. Die Kunst diesseits und jenseits der Vogesen
hat sich Naturtreue in allein, was dargestellt wird, zur Pflicht gemacht, und
neuerdings kann man den Abschaum der Menschheit, wenn man wollte, beinahe
besser studiren ans den Brettern, die die Welt bedeuten, als im wirklichen
Leben. Auch Herrn Giißfeldts Pädagogik scheint von diesem Streben nach
natürlicher Entwicklung und Entfaltung aller Dinge angekränkelt zu sein.
Damit komme ich zu dem zweiten Punkte, Ruch hier muß ich auf die große
Verwandtschaft mit den Grundsätze» Rousseaus hinweisen.
Herr Güßfeldt will die Natur des Kindes sich ruhig entwickeln lassen,
ohne Eingriffe. Er sagt in dieser Beziehung: „In dem Fernhalten des Schäd¬
lichen, nicht in dem naturwidriger Versuche, Gutes zu erzeugen, liegt die ganze
Weisheit der Kindererziehung." Rousseau wirft die Frage auf: „Was soll
man thun, um einen Naturmenschen zu bilden?" und antwortet: „Verhindern,
daß etwas geschehe, was der natürlichen Entwicklung hemmend und hindernd
in den Weg tritt."
Herrn Güßfeldts Satz über die ullum r-alio aller Kindererziehung ist
geboren und getragen von dein Vergleich einer jungen Menschenseele mit einer
Pflanze. Es mag ja nun seine Richtigkeit haben, daß wirklich nnr das Fern¬
halten etwaiger schädlicher Einflüsse die Gewähr einer kräftigen und schönen
Pflanze giebt. Steht es aber ebenso mit der Entwicklung eines Menschen zu
einer sittlichen Persönlichkeit, zu einem Charakter? Ich glaube, Herrn Gü߬
feldts Vergleich sinkt nicht bloß auf einem Beine, sondern auf beiden. Es
ist ein eigentümlicher Zufall gewesen, daß ich, noch mit den Gedanken unsers
Buches innerlich beschnstigt, eine neue historische Abhandlung von Ernst Curtius
las, deren Einleitung so beginnt: „Pflanzen erwachsen aus dem im Boden
ruhenden Keime, und ihre glückliche Entwicklung ist nur davon abhängig, daß
sie ungestört erfolge und nichts von dem fehle, was zu ihrem Gedeihen nötig
ist. Geistige Entwicklungen haben andre Bedingungen; sie verkommen, wenn
sie sich selbst überlassen bleiben, und wie bei der Biographie eines geistig be¬
deutenden Mannes nichts von größeren Interesse ist, als zu erkennen, unter
welcherlei Einflüssen seine ganze Persönlichkeit sich ausgebildet hat, so u.s. W-"
Es ist in der That nicht wahr, daß menschliche, geistige Entwicklung in
derselben Weise und unter Denselben Bedingungen verlaufe, wie das Wachs¬
tum einer Pflanze. Aber über jenen Vergleich hinaus läßt sich doch bei Herr»
Güßfeldt ganz wie bei Rousseau die theoretische Voraussetzung entdecken, aus
der die praktische Folgerung geschlossen ist. Jeder übertriebenen oder einseitige»
Forderung einer Rückkehr zur Natur liegt ein Irrtum zu Grunde über Wesen
und Beschaffenheit dessen, was Natur genannt ist. Rousseau beginnt seinen
Emil mit dem Satze: „Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Urhebers
der Dinge kommt." lind Herr Güßfeldt sagt: „Der Mensch ist ursprünglich
nicht schlecht, er wird es."
Wenn der Mensch ursprünglich gilt wäre, dann könnte es freilich nur
darauf ankommen, ihm alles fernzuhalten, was diese ursprüngliche Reinheit
zu trüben vermöchte. Aber der Mensch ist nicht gut von Anbeginn an. Unsre
Sprache hat ein schönes Wort; sie redet von der Unschuld des Kindes. Das
will besagen, es lastet uoch keine Schuld auf dem Haupte des Kindes, es ist
nicht schlecht, aber anch nicht gut. Vielmehr sind gute und böse Anlagen keim-
"rdig in der jungen Menschenseele eingeschlossen. Wächst das Kind heran, so
werden aus diesen Anlagen Vorstellungen, Gedanken und Handlungen, schlechte
wie gute. Es ist eine bekannte Wahrheit, daß fast immer schon im ersten
Lebensjahre des Kindes sich der Eigensinn einstellt. Wenn sich dies aber so
Erhalt, kann da die zugespitzte Forderung Herrn Güßfeldts von „dem Fern¬
halten des Schädlichen als ganze Weisheit der Kindererziehung" noch aufrecht
ehalten werdeu? Gewiß ist es jedem Erzieher eine ausgemachte Sache, daß
^' das Kind vor allem, was ihm sehnten könnte, zu behüten habe. Weit
wichtiger freilich ist es, zu wissen: was schadet dem Kinde, und was schadet
gerade diesem Kinde, das du erziehen sollst? Denn die Kinder sind sich nicht
w allen Stücken gleich, in gewissem Sinne ist jedes Kind ein Original. Darum
wüssen Erzieher Menschenkenner sei». Doch was nützt alle Kenntnis, wenn
do Macht fehlt? Niemand ist es gegeben, alles Schädliche fern zu halten, weil
jemand allwissend und allgegenwärtig ist. Sollte sich nicht schon aus dieser
Erwägung ergeben, daß das Fernhalten und Abwehren nicht genügt, eben ein-
^ob weil es in seinem ganzen Umfange durchzuführen unmöglich ist, und daß
^' deshalb unrichtig ist, diese Forderung zum Eckstein aller Erziehungslehre
macheu? Wäre Herr Güßfeldt hier' im Rechte, welche Last der Borwürfe
wüßte sich da nicht auf alle Eltern und Erzieher zusammenhäufen, denn alles
7"'se in der Welt stammte ja nur daher, weil sie schädliche und verderbliche
Ulflüsse von ihren Kindern nicht ferngehalten hätten! Rousseau hat diese Be-
^Uiptuug nicht gescheut. Herr Güßfeldt spricht eine solche Anschuldigung
allerdings nicht aus. Aber liegt nicht wenigstens die Folgerung aus seinem
^'ge, daß alles Böse durch Einwirkung von anßen her in dem Menschen entstehe?
Doch vielleicht habe ich Herrn Güßfeldts Meinung nicht recht verstanden.
^ spricht von dem despotischen Hange, der dem Meuscheu eingewurzelt sei,
er warnt davor, in Kindern nur kleine Engel sehen zu wollen, und weiß
gut, daß viele aus vulgärem Stoff und voller Ungezogenheiten sind.
^ heißt doch wohl, in dem Kinde selbst entwickelt sich Böses. Ist dann
Herr Güßfeldt nicht mit sich selbst im Widerspruch, wenn er gleichwohl
^ Hauptsache in der Erziehung des Kindes das Fernhalten des Schädlichen
, . ^ge? Ich sollte meinen, angesichts solcher Thatsachen könnte seine Forderung
grundlegende Norm für Kindererziehung aufgestellt werdeu. Es muß
N r ""es etwas andres hinzutreten, was mir als die Hauptsache erscheint.
)t bloß das Schädliche nach Kräften von der Kindesseele fernhalten ist die
Aufgabe, sondern vor nllem das Böse ausrotten und das Gute entwickeln, das
in der Seele als Anlage enthalten ist. Hier gilt das Wort v. Raumers: „Er¬
ziehung ist eine Kunst, der Natur entgegen." Denn das Ziel der Erziehung
ist die sittliche Persönlichkeit, die Bildung des Charakters, oder mit andern
Worten die sittliche Freiheit. Auf diesem Gebiete ist aber die kindliche
Originalität zwar zu studiren, aber nicht zu respektiren. Denn sittliche
Freiheit ist für alle zu fordern, und der Erzieher kann hierbei keine Unter¬
schiede nnter seinen Zöglingen als berechtigt anerkennen. Die geistigen
Fähigkeiten, die gemütliche Anlage, die Eigenart, sofern sie sich im Na¬
turell zeigt, sind bei allen Menschen verschieden. Die Forderungen der
Sittlichkeit, wenn auch als Ideale, sollen für alle gelten. Ich weiß wohl,
daß sich auch hierin die Menschen schließlich von einander unterscheiden,
und daß die Willenskraft nicht bei allen in gleichem Maße entwickelt wird.
Aber der Erzieher hat ans diesem Gebiete das Gleiche für alle zu verlangen,
wenn auch seine Mittel zu diesem Ziele je nach der Art des Kindes verschieden
sein dürfen und sollen. Wenn Herr Güßfeldt deswegen, allerdings nicht mit
dürren Worten, sondern in seiner blumenreichen Sprache, die Erziehung davon
zurückhalten will, daß alle Kinder den Rosen gleichen, sondern auch Nesseln,
Lilien u. a. in dein großen Gottesgarten der Kinder gestattet, so ist ersichtlich,
daß hier die Rücksicht auf die natürliche Anlage einseitig übertrieben ist.
Aus dem Gesagten ergiebt sich, daß Herrn Güßfeldts Auseinander¬
setzungen über die Erziehung des Kindes in den wesentlichen Punkten von
irrtümlichen Anschauungen und Voraussetzungen beherrscht sind, die, vielleicht
nicht von ungefähr, eine nahe Verwandtschaft mit Rousseauischen Ideen zeigen.
Der größere Teil des Buches beschäftigt sich mit der Erziehung der heran¬
wachsenden männlichen Jugend unsers Vaterlandes. Auch hier finden sich An¬
klänge an Rousseau, die aber unberücksichtigt bleiben können, weil nirgends
mit ihnen der Anspruch auf prinzipielle Bedeutung erhoben wird.
Sobald das Kindesalter überschritten ist, nimmt die Erziehung weitere
Formen an, es tritt der Unterricht hinzu. Es handelt sich nun zunächst darum,
wie das Ziel der Erziehung, das vorhin als sittliche Freiheit gefaßt war, näher
zu bestimmen ist, sodann darum, mit welchen Mitteln das Ziel zu erreichen ist-
Die sittliche Freiheit des Menschen ist immer eine Idee. Weil aber der
Mensch in ein reales Leben hineintritt, so wird er seine Freiheit in ganz be¬
stimmten Verhältnissen zu bethätigen haben. Anfassen sollen wir das Leben
real, auffassen aber ideal. Die Bildung von Charakteren wird sich darum
jede Erziehung als Ziel setzen müssen; aber weil die Berufs- und Gcmein-
schaftskreise der einzelnen Menschen verschieden sind, und weil jede Zeit ihre
besondern sittlichen Aufgaben stellt, deswegen können die von der Erziehung
angewandten Mittel weder sür alle Schichten des Volkes gleichmäßig gelten
noch für alle Zeiten dieselbe Bedeutung behalten. Die wechselnden Daseins-
formen einer Nation bestimmen die Mittel ihrer Erziehung. Darum ist die
Pädagogik niemals graue Theorie, sondern immer etwas hervorragend Prak¬
tisches. Die Voraussetzung bei dieser Auffassung ist einmal der Begriff der
sittlichen Freiheit, sodann die Meinung, daß jeder Schulunterricht nichts als
ein Mittel für die Erziehung ist.
Herr Güßfeldt hat das Ziel der Erziehung näher dahin bestimmt, ,,eins
der männlichen Jugend möglichst glückliche und möglichst leistungsfähige Mit¬
glieder des staatlichen Gemeinwesens" heranzubilden. Als notwendig für das
Glück und die Leistungsfähigkeit jedes Menschen erachtet er vornehmlich „Ge¬
sundheit, Physische Kraft und Geschicklichkeit, ein reines Gemüt und einen
humanen Sinn, Charakterfestigkeit und Pflichtgefühl, Verstandesschärfe und ein
gewisses Maß von Kenntnissen." Beide Begriffe aber schließen sich für ihn zu
dem zusammen, was er harmonische Bildung nennt. Die enge Verbindung,
w die jene zwei Faktoren gesetzt sind, ist wohl dahin zu erklären, daß Glück
auf Leistungsfähigkeit beruhen soll.
Ob das, was die Menschen unter Glück verstehen, durch diese Aufzählung
wirklich erschöpft sei, erscheint nur zweifelhaft. Mancher wird — und nie¬
mand wird ihn tadeln können — ein Stückchen des irdischen Mammons
darunter vermissen, denn um glücklich zu sein, muß man leben können. Und
'es meine, daß z.B. auch ein Kranker und Schwacher glücklich sein könne.
ich glaube, Leute mit reicher Lebenserfahrung werden mir bestätigen, daß
einer alles, was Herr Güßfeldt aufzählt, besitzen und doch unglücklich sein
^um, weil ihm Demut und innere Zufriedenheit fehlen. Wohl ist jeder seines
Glückes Schmied, aber über alle Schicksale unsers Lebens sind wir doch nicht
Herr, wenn wir uns nicht demütig zu fügen verstehen. Und nun gar mög¬
lichst glückliche Mitglieder des Staates! Der Sozialdemokrat wird sich nur
d"um als glücklicher Staatsbürger fühlen, wenn alle seine Wünsche erfüllt sind.
Herrn Güßfeldts Glück zerfliegt also unter meinen Händen wie eine goldige
^olle, die der Wind aus einander treibt. Es bleibt die Leistungsfähigkeit.
"Das sieht schon besser aus! Mau weiß doch wo und wie." Nun wird
vielleicht das Ziel, das unsrer Erziehung gesteckt werden soll, aus dem schil¬
lerndeen,, schwankenden, ungewissen Ideale zu einem festen Punkte in der Er-
'cheinungen Flucht.
Leistungsfähigkeit kaun weder vom individuelle» Standpunkte des Kindes
^ gefaßt werden noch schlechthin für den Erzieher als maßgebendes Ziel
^ ten, weil in dem einen Falle zu wenig, im andern zu viel geleistet werden
würde. Denn der Mensch ist weder ans sich selbst beschränkt, noch soll
h cui Kosmopolit werden. Sondern weil der Mensch in eine Reihe ganz
tnnmrer sittlicher Gemcinschaftskreise hineingcschaffen ist, soll er auch für
n.'c ^ise erzogen werden. Herr Güßfeldt hat darum anch den Begriff der
^ Ntungsfähigkeit eingeschränkt auf das staatliche Gemeinwesen.
Dn fühlt man sich aber doch bedenklich an den antiken Begriff des Staates
erinnert, wo der Staat alles war und die einzige Form einer Gemeinschaft der
Menschen darstellte. Unser Leben hat sich reicher gestaltet, wir haben noch
andre historisch gewordene sittliche Gemeinschaftskreise, die, weil sie noch immer
eine lebendige Macht sind, mich noch immer ein Recht haben. So wenig der
Mensch sich hente isoliren kann, so wenig kann und darf er ein bloßes Stacits-
individunm werden; sondern er steht zunächst in der Familie, dann erst kommt
der Staat und neben dem Staate, wenn wir unsre Angen geschichtlicher Ent¬
wicklung nicht verschließen wollen, die Kirche. Alle drei Gemeinschaftskreise
stellen an den Menschen ihre besondern sittlichen Aufgaben, und die Erziehung
hat deshalb alle drei gleichmäßig zu berücksichtigen. Daraus ergiebt sich, daß
Herr Güßfeldt sein Ziel zu nahe gesteckt hat.
Das Ziel, das die Erziehung ihrer Arbeit setzt, wirkt immer bestimmend
ein ans die Mittel, die zur Anwendung gelangen. Auch bei Herrn Güßfeldt
bleibt die theoretische Voraussetzung nicht ohne praktische Folgerung. Wen»
„harmonische Bildung," mit Glück und Leistungsfähigkeit als Inhalt, die
Richtschnur für die Erziehung unsrer männlichen Jugend abgeben soll, wird
sich die Nötigung ergeben, zu prüfen, ob unsre jetzigen höhern Bildungs¬
anstalten diesem Ziele gerecht werden, und im Falle der Verneinung die andre
Nötigung, neue Mittel zur Erreichung jener „harmonischen Bildung" auszu¬
weisen. Herr Güßfeldt hat beides gethan. Für unsre kritische Betrachtung
empfiehlt sich der umgekehrte Weg.
Herr Güßfeldt nennt seinen neuen Vorschlag zu einer Verbesserung unsers
Schulwesens selbst radikal. Er verlangt Internate als Erziehungsanstalten
für die Jngend, wobei ihm die Kadettenanstalten als Muster vorschweben. Die
Zöglinge sollen im elterliche» Hause uur den Abend und die Nacht, den Sonntag
und die Ferien verbringen.
Es ist eine eigentümliche Erscheinung, daß fast immer, wenn neue Ideen
in der Pädagogik wirksam wurden, auch das Streben »ach Jnternntserziehnng
besonders stark hervorgetreten ist. Die Gedanken der Reformation haben die
Fürstenschulen gezeitigt, die pietistische Bewegung hat die Schulen der Franckischen
Stiftung hervorgebracht, und die Philanthrvpine sind unter der Einwirkung
Rousseauischer Ideen entstanden. Das hängt aber zum Teil noch mit einer
andern Erscheinung zusammen. Sobald die Gesellschaft nnter Schmerzen er¬
kennt, daß ein Gebrechen an ihrem Leibe frißt, glaubt sie immer sofort an
den Erziehungsplanen und -anstellten bessern zu müssen, damit das künftige
Geschlecht des Glückes mehr genieße. Rousseau, der die Revolution voraus¬
sagte, ist hierfür wohl das sprechendste Beispiel. Aber man hat dabei oft
genng vergessen, daß neben der Schule auch das Haus, die Familie si>r
die Erziehung wichtig sind, und daß wer an den Kindern bessern will, bei
den Großen anfangen soll. Die Schule läßt sich immer leichter umgestalten,
Weil sie eine Sache staatlicher oder kommunaler Gemeinschaften ist. Änderung
der Familie aber und der häuslichen Verhältnisse ist Sache des Einzelnen,
seines guten Willens und seiner gebesserter Einsicht. Sa scheint denn auch das
Zeitalter der Naturwissenschaften und der sozialistischen Gedanken den Ruf nach
Jnternatserziehung zu erheben.
Nun ist gewiß die Frage der Jnteruatserziehung keine Frage, die für die
Pädagogik von grundsätzlicher Bedeutung wäre. Sie muß vielmehr, wie ein
erfahrener Kenner des Jnteruatswescns schreibt, mit Rücksicht ans die that¬
sächlichen Zustände gelöst und entschieden werden. Dadurch ist aber der Ein¬
richtung von Internaten eine Grenze gezogen, sie können nicht schlechthin als
notwendig oder gar als zu erstrebendes Ideal ster alle betrachtet werden. Und
wenn ich schon der Meinung bin, daß nllgemeiue Juternatserziehnng an der
praktischen Undurchfiihrbarkeit scheitern muß, so glaube ich auch noch von
andrer Seite her die Unhaltbarkeit des gemachten Vorschlages darthun zu können.
Wie für die Erziehung die sittliche Wirkung der Familie niemals wird
entbehrt werden können, so am allerwenigsten in unsrer Zeit, wo der Sinn
s"r Familienleben und für seine sittliche Bedeutung weiten Kreisen abhanden
z» kommen droht. Die untersten Klassen unsers Volkes sind durch die Not
gezwungen, ihre Kinder den „Kleinkindcrbewahranstalten" zu überlassen, die
höhern Gesellschaftskreise schicken ihre Kinder aus andern Nöten in die „Kinder¬
garten," damit sie dort unter Aufsicht spielen — lernen. Die geschlossenen
Anstalten .Herrn Güßfeldts entziehen die Kinder gerade in der Zeit ihrem
natürlichen °Boden, der Familie, wo deren Einfluß am stärksten zu wirken be¬
ginnt. Man wird mir die Kadettenaustalten und die Seminare für Lehrer¬
bildung entgegenhalten. Aber beides sind Fachschulen. Der Staat hat ein
unmittelbares Interesse daran, sich unbedingt ergebene lind gehorsame Offiziere
heranzuziehen, die alle andern Beziehungen dem Geiste der soldatische» Gemeinschaft
unterordnen. Die Seminare aber empfangen ihre Zöglinge erst dann, wenn
^lese, heranreifende Jünglinge, „den Einfluß des Familienlebens mit seiner
^'ziehenden Kraft schon erfahren haben."
Herrn Güßfeldts Vorschlag ist zum Teil hervorgerufen durch die Bevor¬
zugung des staatlichen Gemeinwesens vor den übrigen sittlichen Gemeinschafts-
kreisen. Zwar scheint anch er die Bedeutung der Familie für die Erziehung
"'ehe ganz hiutenan zu stellen; denn er spricht von dem veredelnden Einfluß
Mutter und wünscht wohl much den Familiensinn in dem Kinde entwickelt
on sehen. Aber merkwürdig genug verlangt er im Gegensatze dazu, daß die
Binder nur ausnahmsweise an dein Tische der Eltern speisen sollen, weil er
fürchtet, daß durch Gerichte, von denen die Kinder nicht essen dürfen, ihre
Begehrlichkeit erregt werde. Nein, auch das Kind soll schon daran gewohnt
werden, nicht alles zu bekommen, was es sieht und wünscht. Denn die Kunst,
on entbehren und sich etwas zu versage», verlangt das Leben von jedem
Menschen. Herr Güßfeldt läßt das Kind in der Kinderstube essen; vielleicht
sind Dienstboten oder „das Fräulein" des Hauses dabei seine Genossen. Wie
viel geht so einem armen Kinde verloren! Der Geist des Hauses, der doch
den Familiensinn meist bildet, kommt in erster Linie in der Gemeinsamkeit
aller Familienglieder bei den Mahlzeiten, bei religiösen Übungen, bei den Fest¬
lichkeiten des Hauses zum Ausdruck. Das Kind davon ausschließen heißt ihm
einen Schatz köstlicher Erinnerungen für sein späteres Leben rauben. Wer nicht
zunächst in der scharf umrissenen Eigenart der Familie groß geMorden ist und
sich dadurch hat beeinflussen lassen, der wird schwerlich selbst eine ausgeprägte
Persönlichkeit werden. Wohl werden Charaktere im letzten Grunde weniger
durch das, was ihnen andre, als durch das, was sie sich selbst anerziehen.
Aber zu dieser Selbstzucht hilft auch die Familie. Die Bilder, die Vorstellungen
und die lebendigen Beispiele der Jngend begleiten den Mann durchs ganze Leben.
Herrn Güßfeldts Vorschlag grttudet sich aber auch auf seine Ansicht über
unser heutiges Schulwesen überhaupt. Er glaubt, daß sein Erziehungsideal
dort nicht verwirklicht werden könne. Es liegt in der Natur des Angriffs,
daß Übertreibungen und Maßlosigkeiten mit unterlaufen. Seine kritischen Er¬
gebnisse lassen sich kurz zusammenfassen. Die Schuld der traurigen Zustände
in unserm Erziehungswesen liegt allein bei der Schule, der gegenüber die
Familie ohnmächtig erscheint. Das Übergewicht des Unterrichts über die Er¬
ziehung wird meist plötzlich hergestellt. Erziehung und Unterricht werden
überhaupt als getrennte Gebiete ohne innern Zusammenhang angesehen. Die
Schule ist eine Trmniranstalt für Gehirne, es ist dort ein Götzendienst mit
Kenntnissen sanktionirt worden, dem Körper und Seele, dem sogar ein Teil
der geistigen Kraft ihre Opfer darbringen müssen. Demgemäß sind die häus¬
lichen Schularbeiten zu einer Höhe angewachsen, daß sie dem veredelnden
Einfluß der Mutter eine Zwangsjacke anlegen.
Ich bin mir der Uuvollkvnuuenheit aller menschlichen Einrichtungen zu
sehr bewußt, um nicht überzeugt zu sei», daß unser heutiges höheres Schul¬
wesen an manchen Schädel? krankt, die der Abhilfe bedürfen. Wenn aber Herr
Güßfeldt abermals die Überbürdnngsfrage in die Welt hinausträgt, so wird
ihm zwar niemand die Nichtigkeit seiner persönlichen Erfahrung bestreiten, aber
zu ihrer Verwertung für ein so allgemeines Urteil den Kopf schütteln, weil
gerade für die Beobachtung solcher Dinge eine höhere Warte nötig ist, als sie
Herr Güßfeldt einnimmt. Überdies: in der Überbürdnngsfrage liegt schwerlich
das xunoturu sativus der heutigen Bewegung.
Doch zur Hauptsache! Zwischen Schule und Haus findet nur ein Ent¬
gegenwirken statt, sagt Herr Güßfeldt. Ich will die Wahrheit dieser Be¬
hauptung zunächst nicht antasten. Für mich hat das Ding in erster Reihe
eine psychologische Seite. Es liegt in der Schwäche alles menschlichen Wesens,
daß Eltern die eigne maßgebende Autorität über ihre .Kinder nur selten mit
einem andern teilen mögen. Es entsteht, ich möchte sagen ein geheimer Wider¬
streit, der, wenn der Anlaß dazu kommt, sich in bewußtem Gegensatz äußert,
und wenn dieser auch meistens uicht bis zum offenbaren Widerspruch fort¬
schreitet, so läßt er doch den Stachel in dem Herzen der Eltern zurück. Der
Lehrer ist nicht unfehlbar, aber die Eltern find es auch nicht. Fortwährende
Selbstprüfung und gegenseitiges Vertrauen sind darum nirgends mehr als hier
am Platze. Sollte nun uicht auch auf Seiten der Familie gefehlt werden?
Ich will nur einige Fragen auswerfen. Ist wirklich immer so viel Vertrauen
zu Schule und Lehrer vorhanden, daß in streitigen Fällen eine Verständigung
«ins ü-a se swäio gesucht wird? Werde» wirklich niemals zu Hanse in Gegen¬
wart der Kinder die Autorität der Lehrer und die Anordnungen der schule,
ich will nicht sagen herabgezogen, aber doch im Tone einer gelinden Über¬
hebung kritisirt? Und endlich ist das gesamte häusliche Leben im Kreise gerade
derjenigen Familien, die durch Rang oder Reichtum eine tonangebende Stellung
"> der heutige» Gesellschaft einnehmen, der Art, daß von einem gedeihlichen
Zusammenwirken vo» Schule und Haus, ja daß von einer anf halbwegs klaren
Grundsätzen beruhenden Erziehung der Kinder überhaupt noch die Rede sein
kann? vWvils 68t 8g.til-hin von sorioere hat Juvenal über die römischen Zu¬
stände ausgerufen. Ich werde mich hüten, in eiuer so kitzlichen Sache dasselbe
M thun. Ein entrüsteter Sittenprediger hat in dem Urteil der Leute schon
immer halb Unrecht. Ich will einen andern Mann sprechen lassen, der vor
«eunzehn Jahren ein Büchlein: „Briefe über Berliner Erziehung" geschrieben
hat. Wer Herrn Güßfeldts Buch gelesen hat, möge dies daneben halten und
dann aus meine Fragen Antwort geben.
Wichtiger erscheint aber die Bemerkung, daß Unterricht und Erziehung
getrennte Gebiete seie», und daß eben deshalb ein Sprung stattfinde, wenn das
Kind aus dem Elternhause in die Schule übertritt. Gewiß findet ein Sprung
statt, denn die eigentliche Kindheit ist vorüber, und das wirkliche Leben wirft
feine ersten schwachen Strahlen und Schattenstreifen in das Dasein des jungen
Weltbürgers. Allen, es ist kein Sprung über einen Abgrund, sondern ans
ebener Erde; die Verbindung des Weges ist nirgends unterbrochen. Denn
"iter Unterricht der Schule ist auch nnr wieder ein Mittel der Erziehung, fort¬
gehend und erweiternd, was bis dahin geleistet war. Dabei denke ich nicht an
^le durch das Leben in der Schule immer nu deu Zöglingen geübte Erziehung;
Gehorsam, Ordnung, Anstand, auch die von deu Schülern selbst ausgehende
gegenseitige heilsame Beeinflussung sind bekannte Dinge. Nein, im Unterrichte
selbst liegt eine große erziehende Kraft, und zwar sowohl in den Gegenständen,
^e gelehrt werden, als in der Art, wie sie ans Schulen behandelt werden.
kann hier nicht den ganzen Kanon der Unterrichtsstoffe abhandeln; nur
"uf den zweiten Punkt will ich in der Kürze eingehen.
I» allen Unterrichtsstunden wird der Schüler angehalten, seine Gedanken,
auch mündlich, in klarer und sprachrichtiger Form wiederzugeben, also in ganzen
Sätzen, anfangs in kürzern, später in ausgedehnter», zu antworten. Indem
er dazu fortwährend und beharrlich genötigt wird, übt er eine fortwährende
heilsame Selbstzucht, die sich in seiner ganzen Haltung während des Unterrichts
wiederspiegelt. Damit wird dem gedankenlosen Plappern, dem man im Leben
so oft begegnet, entgegengearbeitet. Der heranwachsende Mensch wird zur
Wahrheit gegen sich und andre erzogen, weil er angehalten wird, erst zu denken
und dann zu sprechen. Beides, das Sprechen wie das schnelle Auffassen und
Übersehen größerer, selbst nur mit dem Ohre aufgenommener Gedankenreihen,
erhält somit auch seine sittliche Bedeutung, zumal in einer Zeit der Volks¬
versammlungen, der Zeitungen und der Schlagwörter.
Jedes Wissen wird alsbald zum Können. Wer ein Gedicht gut vortrüge
oder einen erläuterten Gedankengang selbständig wiedergiebt, wer nicht bloß
richtig, sondern auch gut übersetzt, wer eine mathematische Aufgabe löst, wer
ein Extemporale genügend bearbeitet, der zeigt, daß er vom Wissen zum Können
fortgeschritten ist. Und der deutsche Aufsatz ist die Blüte des Könnens. Nicht
uur im Leben, auch in der Schule ist trotz Herrn Güßfeldt das Können aus¬
schlaggebend. Deal nicht das Wissen, erst das Können hat sittlichen Wert.
Was einen Unterrichtsgegenstand für die Schule besonders wertvoll macht,
das bemißt sich darnach, welche und wie viel Ideen er in der Seele der Zöglinge
abzusetzen fähig ist, und das ist wieder der Maßstab seiner Bedeutung für die
Erziehung. Wer den Gedanken weiter verfolgt, wird auch auf dieser Seite die
enge Verbindung zwischen Unterricht und Erziehung entdecken. Ohne eine er¬
arbeitete, feste, klare Weltanschauung sind Charaktere nicht möglich, und diese
will der Unterricht vorbereiten helfen.
Daß Herrn Güßfeldt bei seinem Augriff auf unsre höhern Schulen eine
Reihe von Anachronismen und Irrtümern mit unterläuft, tritt vielleicht am
krassesten bei seinen Bemerkungen über die alten Sprachen zu Tage. Ich weiß
uicht, ob er jemals einer Unterrichtsstunde beigewohnt hat. Nur zu leicht
schließen wir gerade in solchen Dingen von der eignen Jugend und den eigne»
Lehrern auf den gegenwärtige» allgemeinen Zustand. Jedenfalls bedaure ich,
daß er niemals in der Schule zu einer Frende an der Formenschönheit antiker
Dichter gekommen ist, daß Belehrung oder gar Erhebung durch das Lesen
griechischer Schriftsteller ganz ausgeschlossen schien, und daß man ein ganzes
Semester über irgend einem Kapitel verbrachte, das immer wie eine angewandte
Grammatik behandelt wurde. Ich möchte Herrn Güßfeldt einladen, sich einmal
bei einem tüchtigem Lehrer eine Hvmerstunde anzuhören. Auf keine andre Art
ist ihm der Beweis zu führe», daß der Unterricht in den alten Sprachen seit der
Zeit, die er im Auge hat, gründlich geändert worden ist, daß darum viele seiner
Behauptungen uur noch historischen Wert haben. Herr Güßfeldt hat uns aber auch
ein Programm entworfen, wie fortan die alten Sprachen behandelt werden solle»-
Die Klassiker werden mit Hilfe deutscher Übersetzungen gelesen, es werden
nur noch eine Anzahl Vokabeln, die Deklinationen und — man höre! — die
Präpositionen gelernt. Er Hütte ebenso gut die Konjunktionen oder Jnter¬
jektionen nennen können. Warum aber wirft er diese jämmerliche Dürftigkeit
nicht lieber gleich über Bord, statt solche Brocken uoch verschämt beizubehalten ?
Im deutschen Unterrichte will Herr Güßfeldt die Übung in der freien
Rede mehr berücksichtigt wissen. Er sagt: „Im höhern Sinn besteht die Kunst
der Rede in guten Einfällen, in der Fähigkeit, einen Ideengang festzuhalten
oder zu übersehen und schnell das richtige Wort zu finden. Die Ideen brauchen
nicht tief, sondern nur wahr und packend zu sein." Das ist gewiß für viele
Fälle richtig. Allem freien Sprechen geht bei den meisten Menschen die Über¬
windung einer gewissen Scheu voraus, und solche Scheu zurückzudrängen, ist
allerdings eine Charakterübung für den Schüler. Sie wird aber auch über¬
wunden dnrch das Deklamiren von Gedichten vor einem größern Zuhörerkreise.
Hat sich der Mensch dann einmal daran gewöhnt, viele Köpfe auf sich gerichtet
M sehen, ohne ans dein Text zu fallen, so wird er auch öffentlich reden können,
wenn er nur Gedanken hat. Wir fragen heute uicht so sehr darnach, wie
geredet wird, als darnach, was geredet wird. Wenn Fürst Vismarck sprach,
buschte die ganze Welt, auch wenn seine Zunge schwer war. Der Gedanke
schafft sich die Form. Was soll man aber sagen, wenn Herr Güßfeldt fort¬
fährt: „Das Geheimnis, die Scheu zu überwinden, beruht darauf, daß es auf
einen streng logischen Zusammenhang gar nicht so sehr ankommt. Ist der
Faden abgerissen, so sucht man ihn nicht unter drangvoller Stille zusammen¬
zuknüpfen,' sondern nimmt irgend einen neuen (!) auf und überlaßt es der glück¬
lichen Entwicklung, das abgerissene Ende auf anderm Wege wiederzufinden."
Die alten Nhetorenschulen leben wieder ans! Der logische Zusammenhang ist
Nebensache, wenn nur der Faden dein geschwätzigen Jüngling nicht abreißt-
Als ob wir an Schwätzern nicht schon genng Hütten! Für die Jugend ist das
Veste gerade gut genug. Das Ideal, das uns Herr Güßfeldt empfiehlt, steht
unter der Mittelmüßigkeit; das Streben darnach würe unsittlich, weil es die
Oberflächlichkeit, die Unwahrhaftigkeit und den Selbstbetrug fördern würde.
Auch über den Religionsunterricht in der Zukunftsschule hat sich Herr
^üßfiM ausgelassen. Religion wird fortan nicht mehr in der Schule gelehrt,
sondern bleibt den Geistlichen der einzelnen Religionsgesellschafte» überlasten.
Du trifft er ja von andrer Seite her mit dem Windthorstschen Schulantrage
zusammen! Da er jedoch „Keime der Irreligiosität" im Menschen annimmt
(bisher habe ich immer mir von Keimen der Religion gehört), so soll auch
w seiner Schule el» sage» wir Religionsunterricht stattfinde», und zwar
^it „darin das religiöse Gefühl überhaupt" behandelt werden. Es soll die
^deutung des Glaubens gezeigt werden; welcher Glaube das ist, braucht nach
Herrn Güßfeldt nicht untersucht zu werde». Aber eine» Glauben ohne festen
Inhalt als für den Jugendunterricht geeignet empfehlen, heißt jenem »»klaren
Idealismus, der sich undvgmatisches Christentum nennt, Vorschub leisten. Ich
bezweifle die Möglichkeit, „religiöses Gefühl überhaupt" der Jugend nahe zu
bringe», ohne auf eine bestimmte Religion und auf einen bestimmten Glaubeus-
inhalt Rücksicht zu nehmen, da Religiosität erst etwas von den einzelnen Re-
ligionsformen abstrahirtes ist. Herrn Güßfeldts Meinung entspringt einem
unklaren Streben nach Objektivität und Toleranz.
Endlich empfiehlt er uns einen religionslosen Moratismus für die Schule.
Religion und Moral, meint er, treffen nicht in allen Punkten zusammen. Zum
Beweise dient ihm das Duell, das er für lehr moralisch hält. Der Staat
bestraft also eine moralische Handlung! Auch kennt er „charakterfeste, groß
und edel empfindende Atheisten," die mit der öffentlichen Moral niemals in
Widerspruch geraten. Ich kenne anch Atheisten, die Anarchisten sind. Wenn
in der Schule von Sittlichkeit die Rede ist, darf sie nicht zur Gesetzlichkeit zu¬
sammenschrumpfen. „Niemand ist gut denn Gott," hat der Meister aller Er¬
zieher gesagt. Sittlichkeit ohne ein höchstes Ideal wird immer am Boden
kriechen.
Der letzte Abschnitt des Buches handelt von der körperlichen Erziehung
der Jugend. Die große Nützlichkeit vou Leibesübungen stellt heute niemand
in Abrede; es handelt sich nur darum, wie sie am besten in den Nahmen der
gesamten Erziehung einzufügen sind.
Unterricht und Erziehung sind eine einheitliche Kunst, die sich ans einer
Summe vieler Erfahrungen aufbaut. Aber nicht jeder, der eine reiche Lebens¬
erfahrung hat, ist darum schou ihr Jünger. Erfahrung ist ein Wissen, aber
noch nicht das Können. Erst Ausübung der Kunst giebt das Anrecht auf
Jüngerschaft. Aber auch hier gilt: der Jünger sind viele, aber selten ist der
Meister.
in Jahre 175)9 wurde durch deu berühmten englischen Schattspieler
Gnrrick eine Posse in London mit großem Erfolg auf die Busen'
gebracht und bald in ganz England beliebt: „Die vornehme Welt
in der Bedienteustube"' (K^it 'l^tlo dvlvvv 8wir«). Der Witz des
...Stückes liegt darin, daß Diener und Dienerinnen höherer und
niederer Art in der Abwesenheit ihrer Herrschaften diese in ihrem Wesen und
ihren Lebensgewohnheiten nachahmen und dadurch die ganze Hohlheit, Ver-
schrvbenheit und innere Unwahrheit des damaligen geselligen Lebens der vor¬
nehmen Welt lächerlich machen. Die Posse erreicht ihren Höhepunkt im letzten
(zweiten) Auszug, wo die Dienerschaft eines reichen Herrn eine Abendgesellschaft
hält, genan nach dem Muster, das sie ihrer Herrschaft abgeguckt haben. Dazu
gehörte damals vor allem, sich gebildet über Litteratur zu unterhalten, und
it' entspinnt sich denn unter den dienenden Schöngeistern folgendes ergötzliche
Gespräch über die schönen Wissenschaften, Dus Kammermädchen der Lady Bab
behauptet:
Ich lese nur ein einziges Buch!
Wovon ist denn die gnädige Frau so sehr entzückt?
Von Shikspur! Haben Sie noch niemals Shikspllr gelesen?
Shikspur! Shikspur! — Wer schrieb dies Buch? — Nein, ich
hube uoch nie den Shikspur gelesen!
O, dann steht Ihnen noch ein großer Genuß bevor.
Gut! daun werde ich das Buch einmal an einem schönen Nachmittag
durchlesen!
Es versteht sich von selbst, daß der Witz nur zutrifft, wenn Shakespeares
Werke als jedem Gebildeten bekannt und die Verfasserschaft Shakespeares als
"icht im geringsten zweifelhaft angenommen werden konnte. Wäre Kätchen
"ber hundert Jahre später aufgetreten, so hätte sie nicht nnr nicht für ungebildet,
wildem sogar als tiefsinnige Denkerin gegolten; sie hätte ihrer Gesinnnngs-
fchwester Miß Della Bacon in Amerika oder ihrem Landsmanne Smith die
Hand reichen und mit diesen alles Ernstes fragen können: „Shikspur, Shikspur!
wer schrieb dies Buch?"
Amerika, das Land, das auf geistigem Gebiete schon manche wunderbare
Frucht gezeitigt, Tischrückeu, Klopfgeister, vierte Dimension und ähnliches her¬
vorgerufen hat, hat auch die zweifelhafte Ehre, das Mutterland und die Haupt-
^stanzstätte der Shakespeare-Bacon-Frage zu sein, d. h. der Ansicht, Shccke-
ll'Mre habe die Werke, die ihm Jahrhunderte lang zugeschrieben worden sind, gar
Alast verfaßt, sondern der Philosoph und Staatsmann Bacon habe sie gedichtet.
Wie konnte aber diese Frage überhaupt aufgeworfen werden? Sie entstand
"us dem Bedürfnis der Menschen, einmal von Zeit zu Zeit etwas ganz Neues
<>u hören und, nachdem es etwas Altes geworden war, Shakespeare als den
bedeutendsten Dramatiker zu preisen, ihn auch einmal als Taugenichts, Wucherer,
Betrüger und vor allen Dingen als geistig ganz unbedeutenden Menschen dar¬
gestellt zu sehen. Sie beruht aber auf zwei ganz falschen Voraussetzungen:
Ostens, daß wir so viel von Shakespeares Leben wüßten, um behaupten
^ können, Wilhelm Shakespeare aus Stratford habe die ihm zugeschriebenen
Stücke nicht schreiben können, und zweitens, Franz Bneon habe dichterische
^gcibung genug besessen, um die unter Shakespeares Namen umlaufenden
^erke dichten zu können.
Um die erstere Ansicht mit Wahrscheinlichkeit aufstellen zu können, war
es nötig, die Shakespearesage mit dem Leben Shakespeares zu verschmelzen
und daraus das Gebräu fertig zu bringen, das die Baevnicmer „das Leben
des geschichtlichen Shakespeare" nennen. Nach ihnen wissen wir, daß Wilhelm
Shakespeare als Sohn des Metzgers Shakespeare zu Stratford geboren wurde, daß
er früh aus der Dorfschule seiner Vaterstadt kam, wo er eine dürftige Bildung
empfing, daß er dann viele schlechte Streiche ausführte, seinem Vater aus der
Lehre entlief, einige Jahre hermnlungerte, sich dann mit einem acht Jahre
ältern Mädchen abgab, dieses, um großes Ärgernis zu vermeiden, Hals über
Kopf heiratete und sehr unglücklich mit ihr lebte. Der verheiratete Shakespeare
sei alsdann, wegen Wilddieberei von Häschern verfolgt, nach London geflohen,
sei dort erst Pferdejunge, dann Souffleur und wer weiß was alles noch ge¬
wesen, bis er es zum Schauspieler und Schauspieldirektor gebracht habe. Als
solcher habe er viel Geld verdient, dies durch Wuchergeschäfte schlimmster Art
noch vermehrt, habe sich dann als Bierbrauer nach Stratford zurückgezogen
und sei als reicher Mann 1616 in seiner Vaterstadt gestorben. Ein solcher
Mensch aber könne doch unmöglich die sogenannten Shakespeareschen Stücke
verfaßt haben!
Man sieht, daß diese Darstellung des Lebens des Dichters vorzugsweise
auf dem Klatsch beruht, den das Dreigestirn Davencint, Andres, Betterton
gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts zusammenbrachten.
Stellt man die beglaubigten Nachrichten über des Dichters Leben zusammen,
so bekommen wir allerdings ein sehr andres Ergebnis. Steevens gestand gegen
Ende des vorigen Jahrhunderts in seiner Shakespeareausgabe ehrlich ein:
„Alles, was mit einiger Sicherheit über Shakespeare feststeht, ist: er wurde
zu Stratford um Avon geboren, heiratete dort und hatte Kinder, ging nach
London, wo er Schauspieler wurde, schrieb Gedichte und Theaterstücke, kehrte
nach Stratford zurück, machte dort sein Testament und wurde begraben." E^
ist das allerdings recht wenig, aber fügen wir hinzu, daß des Dichters Vater
eine Zeit laug Ehrenämter in der Stadt versah, wie aus städtischen Urkunden
zweifellos hervorgeht, und daß der Dichter selbst, wie sich aus Kanfurknnden
und seinem letzten Willen ergiebt, zu Vermögen kam und dieses in Ländereien
und Grundstücken in Strntfvrt und London anlegte, so haben wir damit anch
heute »och alles, was sich ganz sicher feststellen läßt.
Seit seiner Taufe (1564, 26. April alten Stils) wissen wir von dem
Leben des Dichters nichts bis zu seinem Aufgebot (28. November 1582).
Dann erfahren wir, daß 1583 eine Tochter Susanne, 1585 Zwillinge, Hamlet
und Judiths getauft wurden. Die^nächste Erwähnung Shakespeares geschieht
in einer Schmähschrift Greenes, die in das Jahr 1592 gesetzt werden muß
und aus der hervorgeht, daß Shakespeare sich damals als Schauspieler und
Schanspieldichter bereits einen Namen erworben hatte. 1593 erschien Shccke-
spenres Venus und Adonis, 15)94 seine Lucretia. 1596 wurden Schritte von
der Familie Shakespeare gethan, ein Wappen zu erhalten und damit in die
zu kommen. 1597 kaufte Shakespeare New Place. das größte Besitztum
in Stratfvrd, an; 1598 nannte ihn Franz Merch in einem Werke I'nNmIi-
r-unia (Schatzhaus der Weisheit) deu bedeutendste» Dramendichter und treff¬
lichen lyrischen Dichter Englands. Für das Ende des Jahrhunderts steht es
"tho fest, daß Shakespeare bei seinen Zeitgenossen als vorzüglicher Dramen¬
dichter galt und daß er sich damals auch schon ein Vermögen erworben hatte.
Weiterhin findet sich nichts in diesen Angaben, was gegen Shakespeares Dichtar-
t'nus sprechen könnte. Die Geburt in eiueiu Landstädtchen, die frühe Ver¬
heiratung mit einem ältern Mädchen spricht so wenig dagegen als seine Über¬
siedelung nach London und seine Ländereikäufe. Die Erwähnung bei Merch
aber, sollte mau denken, dürfte doch für Shakespeare als Dichter sprechen.
Wo knüpfen um die Baconicmer ihre Behauptungen an, daß es feststehe,
Shakespeare sei zu ungebildet und zu wenig Dichter gewesen, um die bekannten
Werke verfassen zu können? Mancherlei Verdrehungen der Thatsachen, manche
unglaubliche Annahmen find nötig, um dazu zu gelangen. Zunächst nehmen
die Shnkespearegegner als Grundsatz an, die Bildung des Dichters sei ganz
"uiugelhaft gewesen. Erstlich habe die Stratforder Schule einen sehr niedern
Rang eingenommen, dann sei Shakespeare schon sehr früh daraus entfernt
worden. Für die letztere Ansicht fehlt es an irgendwelchen sichern Beweisen,
gegen die erstere haben U'ir bestimmte Gründe anzuführen. In Stratford war
Shakespeares Zeit eine sogenannte ^liunmar seliool, d. h. eine Lateinschule,
""de, wie manchmal lächerliche.rweise übersetzt wird, eine Abcschnle. Da der
Direktor einen Gehalt von 20 Pfd. Sterl. (etwa so viel wie 2400 Mark hente) er¬
hielt, während der von Eton nur 10 Pfd. Sterl. bekam, so sieht mau schon daraus,
die Schule nicht unbedeutend gewesen sein kann. Außerdem hören wir,
^ Kinder erst mit sieben Jahren in diese Schule aufgenommen wurden n»d
Lesens kundig sein mußten. Dies beweist gleichfalls, daß die Schule zu
Stratford auf keiner geringen Stufe stand. Aber Wilhelm Shakespeare soll
^ früh aus der Schule genommen worden sein, weil sein Vater ihn in seinem
Geschäfte gebraucht habe und überdies das Schulgeld uicht habe bezahle»
^"neu, da er sehr in seinen Vermögensverhältnissen heruntergekommen gewesen
^- Schulgeld war aber gar keins zu zahlein die Stratforder Lateinschule
für jede» Bürgerssohn frei. Richtig ist, daß sich Johann Shakespeare,
Dichters Vater, zu einer Zeit einmal in Geldverlegenheit befand. 1568
b's 1569 hatte er das höchste städtische Amt. das eines Bürgermeisters (lligli
LiMff) ^rseh^, anfangs der siebziger Jahre noch andre Ehrenämter. Da
^ damals der Stadt mehrmals Vorschüsse machte, so muß er wohlhabend ge-
^'sen sein. 1578 dagegen verkaufte er das Gut Asbies, das ihm seine Fron
zugebracht hatte, behielt sich allerdings das Rückkaufsrecht vor. In demselben
Jahre wurde der Stadtrat (ick(>0.rinn.n) Johann Shakespeare von seinem Beitrag
zur Heeresrüstnng und von der Armensteuer durch den Und entbunden, ebenso
von einer neuen Heeressteuer vou 1579. 1578 wird endlich noch einer Schuld
Johanns an den Bäcker Satler gedacht. 1579 und 1530 veräußerte er auch
noch Teile seines Besitzes an Snitterfield, den er durch seiue Frau ererbt hatte.
Alle diese Vorgänge brauchen auf keine oder höchstens auf eine vorübergehende
Geldverlegenheit zu deuten. Der Landbesitz Asbies konnte verpfändet werden
wegen augenblicklicher Geldverlegenheit oder um andre Unternehmungen zu
fördern. 1580, also nachdem Snitterfield veräußert war, wollte Shakespeare
Asbies wieder zurückkaufen, und als der damalige Inhaber desselben Schwierig¬
keiten wegen der Zurückgabe machte, verklagte er diesen bei dem Kanzleigericht
lind leitete damit einen sehr kostspieligen Prozeß ein. Auch darf nicht über¬
sehen werden, daß Johann Shakespeare während dieser ganzen Zeit Mitglied
des Stadtrates blieb. Desgleichen wissen wir, daß er 1579 das Begräbnis
einer Tochter in der teuersten Weise Herrichten ließ. Ein armer Mann kann
er also nicht gewesen sein. Doch zu einer andern Zeit, 158K bis etwa 1590,
scheint sich Johann Shakespeare allerdings in größter Geldverlegenheit befunden
zu haben, wohl infolge des Prozesses, den er wegen Asbies führte, oder wegen
einer Bürgschaft, die er für seinen Bruder Heinrich geleistet hatte, oder endlich
weil sich ein allgemeiner Rückgang des Wollhandels in Stratford damals
geltend machte. Aber die bedrängte Lage der Familie Ende der achtziger Jahre
kommt für die Baconiauer nicht in Betracht, sie behaupten, daß die vom Jahre
1578 so schlimm gewesen sei, daß Johann seinen Sohn ans der Schule ge¬
nommen habe. Nehmen wir diese Angabe einmal als richtig an, so war Wil¬
helm damals vierzehn Jahre alt. Wenn aber damals ein Knabe mit vierzehn
Jahren eine Schule, auch eine Lateinschule verließ, so hatte dies gar nichts
auffälliges an sich; bezogen damals doch in diesem Alter manche Söhne schon
die Hochschule. In sieben Jahren konnte damals ein Schüler sehr wohl seine
ganze Schulzeit beenden, und Shakespeare konnte sich da alles von Latein, was
er überhaupt verstand, erwerben. Aber der Vater Wilhelms soll min seinen
Sohn entweder in sein eignes Geschäft genommen oder zum Eintritt in ein
andres gezwungen haben. Da wir zwischen Taufe und Hochzeit nichts von
des Dichters Leben wissen, wissen wir natürlich anch darüber nichts. Allein,
warum Shakespeare gerade Metzger geworden sein soll, sieht man nicht ein,
da sein Vater dieses Handwerk nicht trieb, wenn er auch manchmal Vieh, das
auf seinen Gütern gezogen war, selbst schlachten ließ. Es ist auch unglaublich,
daß Johann, der sicherlich ein kluger Mann war, nicht bedeutende Anlagen w
seinem Sohne sollte entdeckt haben und ihn daher nicht zu etwas anderm als
einem Handwerker sollte bestimmt haben. Würde dagegen jemand behaupten,
Wilhelm Shakespeare habe zu seiner weitern Ausbildung die Westminsterschn^
zu London besucht und dann die Hochschule zu Oxford oder Cambridge, s"
würde sich dies mit dem, was mir über sei» Leben wissen, sehr wohl ver¬
engen lassen. Am wenigsten würde sein späterer Schauspielerberuf dagegen
sprechen, denn Mnrlowe, Ben Jvnsvn und andre studirten auch erst »ud wurden
dann Schauspieler. Ben Jvnson zeigt ferner, daß jemand, auch nachdem er
einen andern Beruf ergriffen hatte, sich damals weiter bilden konnte; warum
hätte also nicht auch Shakespeare das thun können? Doch brauchen wir für
ihn gar leine tiefen philologischen Studien anzunehmen. So wenig wir sagen
können, was Shakespeare Ma seinem Austritt aus der Schule bis zu seiner
Verheiratung trieb, ebensowenig läßt sich angeben, womit er sich von da an
bis zu seinem Weggang von Stratfvrd beschäftigte. Am wenigsten unwahr¬
scheinlich ist noch,' daß er Advvkatenschreiber gewesen sei. Die Baeouianer
Wissen allerdings auch hier das genaueste. Shakespeare war vor seiner Hoch¬
zeit ein Taugenichts und blieb es auch darnach. Er faulenzte und tage-
diebte und ließ Fran und Kinder daheim darben. Besonders gab er sich
auch der Wilddieberei hin, und dies führte eine Wendung herbei. Als er
einst wieder eine große Wilddieberei auf dein Jagdgebiete des Sir Lues be¬
gangen hatte, wurde er, von Häschern verfolgt, gezwungen, Weib und Kind
im Stiche zu lassen und nach London zu fliehen. Gegen diese Wilddiebs-
üeschichte ist schon so viel geschrieben und ihre geringe Glaublichkeit gezeigt
worden, daß es eigentlich überflüssig ist. noch ein Wort darüber zu verlieren.
Allein sie ist und bleibt nun einmal die Lieblingsgeschichte und der Mittel¬
punkt der ganzen Shakespearesage, daher sei darüber noch folgendes bemerkt,
^'wiesen ist, daß wildern zur Zeit der Königin Elisabeth durchaus nicht für
ehrlos galt, daß sich ihm vielmehr viele Studenten, ^ohne sehr hochstehender
Familien, mit Leidenschaft Hingaben. Warum soll also Shakespeare in seiner
Tugend nicht auch hie und da einmal gewittert haben? Dagegen haben wir
deinen Anhalt, daß der Dichter, der ein Bürgerssohn, wenn nicht schon selbst
Bürger von Stratford, ein verheirateter und ansässiger Mann war, wegen einer
Wilddieberei Weib und Kind habe verlasset, und sich in London verbergen
wüssen. Viel glaublicher ist es, daß Shakespeare dem Drange nachgegeben
habe, als Schauspieler (und wohl auch Schauspieldichter) nach London zu gehen,
^le Schauspieler und Landsleute Burbage und Heminge waren öfters in
stratford aufgetreten und waren sicherlich mit Shakespeare bekannt geworden.
Rechnet man noch dazu, daß des Dichters Familie 1585 um Zwillinge ver¬
mehrt wurde, zu einer Zeit, wo der Bater kaum Zuschüsse geben konnte, so
lU'det man genug Ursache, warum Shakespeare um diese Zeit nach London ging.
Ein andres Ereignis aber, woraus sich das verwvrsue Wesen Shakespeares
^Neben soll, ist, daß er nnr einmal, im November 1582, aufgeboten wurde, und
,"'»' schon im Mai 1583 die Geburt eines Kindes erfolgte. Nach jetzigen An-
lU'dem würde dies bei Städtern allerdings bedenklich sein, nach damaligen durch¬
aus nicht. Wie wir aus einer Reihe von Stellen in des Dichters Werken sehen,
galt im 16, Jahrhundert nicht die kirchliche Trauung als das Bindende, son¬
dern der Verspruch. Sobald sich ein Paar versprochen hatte, betrachteten sie
sich als Ehepaar. Die kirchliche Trauung folgte dann gelegentlich. Wenn
diese also in unserm Falle etwa Anfang Dezember 1582 stattfand und im Mai
1583 eine Taufe, so hat dies gar nichts anstößiges. Endlich soll Shakespeare
noch daran ein gemeiner Mensch sein, weil er in unglücklicher Ehe gelebt
habe. Aber abgesehen davon, daß Anna Shakespeare acht Jahre älter als ihr
Mann war und dadurch eine gewisse Ungleichheit der Eheleute entstehen mußte,
und daß Shakespeare, wenn er überhaupt als Schauspieler etwas leisten wollte,
nach London gehen und sich dort aufhalten mußte, deshalb also viel von Strat-
sord abwesend war, haben wir keinen Anhaltepunkt sür die unglückliche Ehe.
Allerdings führen einige gefühlvolle Gemüter des Dichters letzten Willen an:
es sei darin nicht mit der gehörigen Liebe der Frau gedacht. Aber eine solche
amtliche Urkunde ist doch nicht der Ort, wo Gatten sich ihrer Liebe versichern.
Außerdem dentet alles darauf hin, daß der Dichter seine letztwillige Verfügung
in Eile traf.
So läßt sich aus dein, was wir von Shakespeare, bis er nach London
kam, wissen, gar nicht folgern, er habe nicht seine Schauspiele schreiben können-
Aber aus dem, was wir nicht wissen, läßt sich vielleicht ein derartiger Schluß
ziehen? Da müssen wir noch einmal auf Shakespeares Bildung zurückkommen-
Ben Jonsou sagt in einen: Lobgedicht auf unsern Dichter:
Und wußtest du auch wenig nur Latein,
Noch war'ger Griechisch.
Hieraus entnahm man, der Dichter habe gar kein Latein oder nur etwa
so viel, als der kleine Wilhelm Page in den Luftiger Weibern in der Prüfung
weiß, verstanden. Ben Jonsvn aber, auf der Westminster-Schule vorgebildet,
war ein berühmter Lateiner (ein so guter, daß der gelehrte Bacon ihn sogar
als Übersetzer ins Latein benutzte). Wenn dieser daher Shakespeares Latein¬
kenntnisse gering nennt, so brauchen sie in unsern Augen noch nicht gering,
sondern nur nicht Hervorragelid gewesen zu sein. Mit einiger Mühe wird er
wohl einen leichtern römischen Schriftsteller verstanden haben. Wollte er sich
aber diese Mühe nicht nehmen, (und es ist kaum anzunehmen, daß er es gethan
habe), so gab es damals genug Übersetzungen; Virgil, Ovid, Horaz, Lucan,
Seneca waren ganz oder größtenteils damals ins Englische übersetzt, ebenso
Livius, Taeitus, Sallust, Sueton, Cäsar, Curtius u. a. Von Griechen seien
nnr Homer, Herodot, Thnkhdides, Polybios, Diodor, Plutarch u. a. erwähnt-
Dieser Übertragungen bediente sich Shakespeare bei dein Dichten seiner Dramen
und nahm auch Fehler ans ihnen aus. (Dieser Art sind die Versehen I^alis- für
l^biÄ, jAntonius und Kleopatra III, 6, 10j oder on Uns «into 'libvr für on
tot fiele 'I'ibvr >Cäsnr III, 2, 254j u. a.) Gegen einen gelehrten Verfasser spricht
serner, wenn der Dichter im Julius Cäsar Uhren schlagen, im Troilus und
Cressida Trommeln rühren, im König Johann Kanonen abschießen laßt u. dergl.
Ein Kenner des Altertums wie Bacon hätte sich so etwas nicht zu schulden kom¬
men lassen. Ebenso wenig hätte ein Gelehrter Böhmen am Meer liegen oder
Valentin (in den Edelleuten vou Verona) sich in Verona nach Mailand ein¬
schiffen lassen. Wir sehen also, daß Shakespeare vou seinen Quellen abhängig
war und nicht viel eigne Gelehrsamkeit zuzugeben hatte. Als Schauspieler
blieb ihm Zeit genug übrig, seine Kenntnisse auf deu verschiedensten Gebieten
zu erweitern dnrch Lesen von Büchern. Manchmal erhielt er sogar mehr freie
Zeit, als ihm wohl lieb war. So wurden z.B. 1592, weil die Pest in London
herrschte, die Bühnen lange Zeit geschlossen. Zeigt der Verfasser der Dramen
Kenntnis fremder Länder, so könnte man denken, er habe Reisen gemacht (etwa
1592 die unfreiwillige Muße dazu benutzt). Doch wissen wir auch, welch
großer Verkehr damals zwischen London und den nordischen Ländern, Holland,
Deutschland und Italien stattfand. Shakespeare konnte also leicht Nachrichten
über alle diese Länder einziehen, ohne London zu verlassen. Ähnlich erklären
sich des Dichters Kenntnisse auf deu verschiedensten Gebieten, ohne daß er
Advvkntenschreiber, Mediziner, Apotheker, Lehrer, Soldat, Seemann und ver¬
schiedenes andre gewesen zu sein braucht.
Doch damit sind die Gründe, warum Shakespeare kein Dichter gewesen
sein könne, noch nicht zu Ende. „War er wirklich ein so bedeutender Dichter,
s» müßte man doch mehr über sein Leben Nüssen!" behauptet man. Das ist
grundfalsch. Von Dichtern, die man damals für ebenso bedeutend wie Shake¬
speare hielt, wie Spenser, Marlvwe. Greeue, Peele, Kyd, wissen wir ebenso
wenig, von manchen noch weniger. Thöricht geradezu ist es mit einem der
neuesten Bacvninner zu fragen: Wo sind Shakespeares Briefe? wo seine Bücher?
wo die .Handschriften seiner Stücke? Wir fragen dagegen: Wo sind die Briefe,
^e Bücher, die Handschriften von Marlvwe, Greeue, Peele, Spenser u. a.?
So lauge diese nicht herbeigebracht sind, läßt sich auch aus denn Fehlen der
ändern kein Schluß auf Shakespeares Dichtergabe ziehen.
Weiterhin aber wird Shakespeare vorgeworfen, er sei, nachdem er in feiner
Tugend liederlich und verschwenderisch gelebt habe, in London sehr geizig ge¬
worden und habe durch die ärgsten Wuchergeschäfte sein Vermögen noch ver¬
äußert. Beweise für diese Behauptung sollen sein: 1598 im Januar sucht
Uhr. Sturley durch Richard Quiney Shakespeare zu bewege», den Zehnten in
^trntfvrd zu pachten. Weil man annahm, daß Shakespeare sich vielleicht zu
Lesern Geschäft herbeigelassen hätte, darum muß er ein Wucherer gewesen sein.
1605 pachtet der Dichter auch wirklich die Hälfte des Zehnten, darum kann
^ nach Ansicht der Bacvuianer keine Schauspiele verfaßt haben. 1598 im
Oktober bittet Richard Quiney den Dichter brieflich um ein Darieh» von
^ Pfd. Sterl. gegen Bürgschaft, und es wird ihm die Bitte gewährt. Weil also
ein Bewohner Stratfords Shakespeare um Geld angeht und dafür Sicherheit
zu geben sich erbietet, war dieser ein Wucherer! Ebenso, weil von ihm 1609
ein Schuldner wegen 6 Pfd. Sterl, 24 Schilling eingeklagt wurde! Die merk¬
würdigste Folgerung aber wurde daraus gezogen, das; 1604 der Dichter den
Philip Rogers verklagte, weil dieser die Summe von 1 Psd. Sterl. 15 Schilling
10 Pence für Malz, das ihm zu verschiednen Zeiten geliefert worden war,
nicht bezahlt hatte. Daraus schlossen nämlich einige der schlauesten Baconianer,
daß Shakespeare nicht nur Wucherer gewesen sei, sondern um noch mehr Geld
zu verdienen, in Stratford eine große Bierbrauerei errichtet habe. Freilich
sollte man denken, ein Bierbrauer hätte lieber sein Malz behalten, als es ver¬
kauft. Doch solche Einwände stören die Baconianer nicht, wenn es gilt,
Shakespeare herunterzusetzen. Es ist aber auch aus diesen wenigen Fällen gar
nicht abzuleiten, daß Shakespeare oft Geld verliehen habe. Die Familie Quiney
wurde später mit dem Dichter verschwägert und war damals jedenfalls schon
mit ihm befreundet. Würden außerdem die Stratforder einem bekannten
Wucherer ihren Zehnten verpachtet haben? Doch die Gegner Shakespeares
verlangen eben, daß er stets in höhern Sphären geschwebt, auf jeden Geld¬
erwerb, jede geschäftliche Ordnung und jeden geordneten Haushalt verzichtet,
und, da er an Jupiters Tisch speiste, alles Irdische verachtet habe. Aber
gerade bei andern großen englischen Dichtern machen wir die Entdeckung, daß
sie Gelderwerb ganz und gar nicht abgeneigt waren. Vhron lernte gar bald
das Geldfvrdern für seine Werke und strich hübsche Summen ein. Er ver¬
wendete dieses Geld allerdings nur zum geringern Teile für sich. Walter
Scott dagegen ist durchaus nicht von Geldgier freizusprechen. Wir denken hierbei
nicht an die Zeit, nachdem sein Verleger und Mitteilhaber am Geschäfte zu
Grunde gegangen war, fondern an frühere Jahre. Nicht nur, daß Scott die
untergeordnete Stellung eines (Api'K ol tuo Lonrt ol 8<Z88inen, weil sie
1300 Lstrl. jährlich eintrug, erstrebte, er entwickelte auch lauge vor 1826 eine
Hcrausgeberthätigkeit auf deu allerverschiedensten Gebieten, die uns an schlimme
Büchermacher erinnert. Auch urteilt er recht geringschätzig über Dichtkunst'
sie ist ihm mir ein Mittel, emporzukommen und Geld zu verdienen. Trotzdem
hat bisher noch niemand versucht, Scott seine Werke abzustreiten. Bei Shake¬
speare aber ist das eine ganz andre Sache: er konnte kein großer Dichter sein,
weil er auf Gelderlverb bedacht war! Noch ein andrer EinWurf, Shakespeare
habe als Schauspieler und Schauspieldichter kein Vermögen erwerben können
und müsse daher, da er reich wurde, Wucherer gewesen sein, ist ganz haltlos-
Richard Burbage, Henry Coudell, auch Heminge erwarben sich als Schauspieler
Geld, Marlvwe, Greene, Peele als Schauspieldichter. Wenn die letztern es
dann auch wieder verschwendeten und arm starben, so beweist das nichts dagegen-
Aus den bisherigen Ausführungen ergiebt sich also, daß sich weder arw
dem, was wir von Shakespeares Leben wissen, noch aus dein, was wir nicht
Wissen, irgendwie mit Recht behaupten läßt, Shakespeare sei zu ungebildet (denn
gelehrt war, wie wir sahen, der Dichter der Dramen nicht) oder sittlich zu
gemein gewesen, um die ihm zugeschriebnen Werke verfaßt haben zu können.
Es bleibt aber noch eine Frage übrig: Wie verhielten sich denn seine Zeit¬
genossen ihm gegenüber? erkannten sie ihn als Dichter an oder hielten sie ihn
für einen Betrüger? Die erste Erwähnung Shakespeares in einem Litteratur¬
denkmal ist die von Greene in einer Flugschrift aus dem Jahre 1592. Hier
wird ihm allerdings vorgeworfen, er schmücke sich mit fremden Federn. Aber
Greene war offenbar neidisch auf den Erfolg des jungen Dichters, und darum
ist sein Urteil nicht ohne Voreingenommenheit. Immerhin laßt sich der Vor¬
wurf, Shakespeare habe in seinen Erstlingswerken auf dramatischem Gebiete
sich sehr stark um vorliegende Stücke gehalten, diese vielleicht nur überarbeitet,
nicht beseitigen. Doch brauchen wir dies auch gar nicht zu thun. Shakespeare
wurde durchaus nicht gleich als Meister geboren, er mußte so gut wie andre
erst seine Lehrjahre durchmachen, um Meister werden zu können. Wie Lessing
und andre unsrer große» Dichter zuerst fremde Werke umarbeitete» und nach¬
ahmten, ebenso sind Shakespeares Heinrich VI., Titus Andronicus, Die Komödie
der Irrungen, Die bezähmte Widerspenstige Umarbeitungen und Nachahmungen
"vrhandner Stücke. So wenig aber wie unsre großen Schauspieldichter, weil
sie aufmigs nachahmten, ihr ganzes Leben Nachahmer geblieben sind, ebenso
wenig ist es berechtigt, dies für Shakespeare anzunehmen. Bis zu Shakespeares
Tod und dem Erscheine» der Folioausgabe seiner Dramen haben wir mehr als
dreißig Erwähnungen des Dichters bei Zeitgenosse,,. Alle stimmen darin
überein, daß er ein bedeutender Schauspieldichter gewesen sei, und keiner deutet
"u, daß vielleicht die unter seinem Namen verbreiteten Stücke von einem andern
gedichtet wären. Vor allem ist das Zeugnis von Merch (15W) nicht umzu-
stoßen, der in seinem Schatzhans der Weisheit (?-MMs 'kainen) sagt: „Wie
'"an glaubte, die Seele des Euphvrbus lebe im Pythagoras fort, so lebt die
süße witzige Seele Ovids in dein süßredenden houigzuugigen Shakespeare fort;
^es beweisen seine Venus und Adonis, seine Lucretia, seine zuckersüßen (Lugreä)
Sonette, die im Freundeskreise bekannt sind. Wie Plautus und Seneca als
^e besten Lustspiel- und Tranerspieldichter nnter den Lateinern gelten, so ist
Shakespeare unter den Engländern der ausgezeichnetste auf beiden Gebieten:
sür das Lustspiel beweisen dies seine Edelleute von Verona, seine Komödie der
Errungen, Die Verlorne Liebesmüh, Die gewonnene Liebesmüh, Der Sommer-
'wchtstramn und Der Kaufmann von Venedig; für das Trauerspiel Richard II.,
Richard III., Heinrich IV., König Johann, Titus Andronicus und Romeo und
Tukiu. Wie Epins Stolo sagte, die Musen würden, wenn sie sich des Lateins
^dienen wollten, in der Zunge des Plautus sprechen, so sage ich: die Musen
Werde» Shakespeares feine Sprechweise gebrauchen, wenn sie Englisch reden
wollen."
Ein größeres Lob konnte wohl niemand einem Dichter zollen, und Merch
war kein unbekannter Mann, sondern war Professor der Redekunst an der
Oxforder Hochschule, Auch die Grabschrift:
.liMivio I^IMm, Aönio LoorA-loin, >>rw Agronom
?srr» tsxii, xoMlns msskst, 01>my»s dulzsi
las jedermann in der Kirche zu Stratford, und niemand erhob Einspruch
dagegen.
Wie aber verfällt man gerade auf Bacon? Einzig und allein deshalb
ist man auf ihn gekommen, weil man annahm, daß, um diese Stücke zu
schreiben, vor allem eine große Gelehrsamkeit nötig gewesen sei, das bißchen
dichterische Begabung, das der Verfasser besitzen mußte, betrachtet man als
Nebensache oder teilt es ohne weiteres Bacon zu.
Bacon war ein gelehrter Mann, dies braucht nicht erst bewiesen zu
werden. Wie aber stand es mit seiner Dichtkunst? Der berühmte Philosoph
und Staatsmann macht nach seinen prosaischen Schriften einen recht schnl-
fuchsigen Eindruck. Der berühmte Döllinger hatte jedenfalls auch diesen Ein¬
druck gewonnen, da er erklärte: wer behaupte, Bneon habe die Shakespearischen
Dramen geschrieben, könne niemals Baeons Werke gelesen haben. Auch Kuno
Fischer hebt hervor, Bacon sei keine eigentliche Dichternatur gewesen und habe
sich „Poesie und Kunst ohne schaffende Phantasie und Gemütsbewegung" ge¬
dacht. Noch stärker drückt sich ein jüngerer Philosoph, Heußler, ans. Er
sagt von Bacon: „Wenn dieser Demokrat und Pedant der Methode, dieser
astronomische Verächter der Erde, dieser alles Wunderbare samt den Zwecke»
aus der Wissenschaft eliminirende, die Erscheinungen sezireude, die äußere Ge¬
stalt der Natur geringschätzende Geist nicht Prosa zu nennen ist, dann herrschen
von der Poesie recht sonderbare Vorstellungen." Auch der beste Kenner
Baeons in England, Spedding, ist ein entschiedner Gegner der Baeonhhpothese-
Das ganze Wesen Baeons spricht also entschieden gegen seine dichterische Be¬
gabung. Doch da wir noch Dichtungen von ihm besitzen, läßt sich die Frag^
weiter verfolgen. 1624 übertrug er sieben Psalmen (1, 12, 90, 104, 126,
137, t4!y in englische Verse. Diese Übersetzung ist das Werk eines Dichters
nicht ersten, sondern vielleicht vierten, fünften Ranges. Die Verse sind schlecht
und schleppend, der Ausdruck undichterisch, voll von prosaischen Wendungen,
von Flickwörtern und Flicksntzen, Zwei kleine Gedichte, die ihm zugeschrieben
werden, sind mich nnr Nachahmungen klassischer Gedichte und ohne dichterischen
Wert. Sollte aber jemand an der Psalmendichtung noch nicht genug haben,
der lese Bnevns Maskenspiele, um sich von seiner Unfähigkeit, Stücke wie die
Shakespearischen zu dichten, zu überzeuge». Diese Maskenspiele, wie die
(üonnzrknke! ol l'wu-un', bestehen überhaupt uur aus einzelnen geschraubten
Reden, sind ohne Handlung und ohne eigentliche sachliche Verbindung. Kann
mau sich etwas weniger Dichterisches als die Reden, etwas Alberneres als die
Anlage des ?line.L c>k xrirpooll? denke»? Es schei»t, daß Bacon nur unter
Shakespeares Namen el» gutes Stück schreiben konnte. Unter seinein eignen
brachte er mir recht Dürftiges zu stände.
Warum soll aber Bacon unter falschem Namen seine Schauspiele veröffent¬
licht haben? Angeblich entweder weil er als guter Sohn seine betagte Mutter,
die Schauspieldichteu für eine Sünde hielt, nicht habe kränken wollen, oder
weil er gefürchtet habe, sich dadurch in seiner Laufbahn als Staatsmann zu
schaden. Von ersterer Thatsache ist nichts bekannt, der letztere Grund ist gar
nicht stichhaltig. Viele vornehme Herren schrieben damals für das Theater.
Baie wurde Bischof, obgleich er König Johann und andre Stücke geschrieben
hatte, Sackville, später Lord Buckhnrst, hielt es auch nicht für uuter seiner
Würde, Gorbodnc zu dichte» und auf die Bühne zu bringen. Königin Elisa¬
beth sah gern Schauspiele an und hätte sicherlich uicht eine» sonst begabten
Mann wegen seiner Dramen von der Staatslanfbahn ausgeschlossen. Doch
wäre dies'anch alles richtig, so sieht man gar keinen Grund ein, warum
Bacon nicht wenigstens nach 1621, nachdem er alle seine Ämter verloren hatte,
z-B. in der Folioausgabe von U>23, sich genannt und nachträglich, lange
"ach Shakespeares Tod. wenigstens sich als Verfasser der Schauspiele zu
erkennen gegeben hätte. Um so weniger, als uns Bacon sonst als recht eitler
Mensch entgegentritt. In seiner ,,Apologie" sagt er ganz offen: ,,Jch erkläre,
das; ich kein Dichter bin." Trotz alledem behaupten die Baeonicmer, Bacon
spiele an verschiednen Stellen auf seine geheimnisvolle Dichterthütigkeit an.
Drei Briefe sollen darauf hindeuten. Der erste ist an einen Herrn Davies
gerichtet, der 1603 König Jakob entgegenreifen sollte. Bacon bittet darin,
Dcwies möge beim König seiner freundlich gedenken, und schließt: „Mit dem
Wunsche, daß Sie heimlichen Dichtern geneigt seien, bleibe ich Ihr Freund."
Warum müssen nun diese vonvcÄlvcl poet» gerade Schauspieldichter sein?
Bacon soll z. B. ein Sonett zu Gunsten des Grafen von Esser, gedichtet haben,
vielleicht hatte er ein hochtrabendes gespreiztes Gedicht auf des Königs Ankunft
Erfaßt, und vielleicht ist diese Dichtung hier gemeint. Jedenfalls braucht er
darum nicht dreißig Dramen verfaßt zu haben. Ein zweiter Brief, der besonders
beweiskräftig sein soll, ist von Sir Tobias Matthew an Bacon gerichtet;
darin wird in einer Nachschrift gesagt: „Der wunderbarste Geist, den ich je
^wu meinem Volke kannte diesseits der See, trägt Eurer Lordschaft Name, wenn
auch nnter einem andern bekannt ist." (Me- most nwäiAious vit einel von-
^ ki»vo »t ,,-i.t.inen on Ms sicks ot edle, «o-i., i» cet .Mir I>ora8hip8 runo,
^ouKlr de> tlo umano» NicMc-r.) Dieser Brief soll sich auf Bacvus geheime
^chhäftiguug mit der Schanspieldichtung beziehen. Dieser Brief ist aber von
"uswärts, d. h. vom Festlande, geschrieben; Mntthew hielt sich meist außerhalb
Englands auf. Auch vn ein« si(?ö ni lin; so-t und 1c „no ist bemerkenswert.
Daraus geht deutlich hervor, daß es sich gar uicht um Franz Bacon, sonder»
UM seinen Bruder Anton handelt; damit erklärt sich auch der Schluß sehr
befriedigend: Anton war viel im Ausland und starb bereits 1601. Endlich
ist neuerdings noch eine Stelle ans einem Briefe des Grafen Essex an Bacon
angeführt worden: „Ich stehe allen dichterischen Versuchen fern, sonst würde
ich Ihnen etwas über Ihr xüstieul kx^apto sagen." Auch dies wird aus
Dichtungen Baeons gedeutet. Aber da uns der Brief des Staatsmannes,
worauf Essex antwortet, noch erhalten ist, so ersehen wir daraus, daß diese
Worte auf eine Dichterstelle deuten, die ans das Verhältnis zwischen Elisabeth
und Essex aufpickten, nicht aber auf Baeons Dichtungen-
Aus dieser kurzen Darstellung wird sich hoffentlich herausgestellt haben,
daß, so wenig wir Gründe gefunden haben, Shakespeare seine Schauspiele ab¬
zusprechen, ebenso wenig sich Gründe ergeben, um sie Bneon zuzusprechen;
wir können die ganze Vaconfrage mir für eine Frage erklären, die jeder festen
Grundlage entbehrt.
Wer sich aber uicht von der UnHaltbarkeit der ganzen Frage überzeugt
hat, dem wollen wir noch folgenden Vorschlag machen. Bacon legt in seinein
Testament seinen Testamentsvollstreckern sehr ans Herz, daß alle seine Schriften,
sowohl die in englischer als die in lateinischer Sprache, in sechs Vüchersammlungen
schon gebunden aufgestellt werden sollten. Diese Sammlungen sind: 'lixz Xing-'s
ludrur^, die Sammlung der Hochschule zu Cambridge, ebenda die des Triuty
College, die des Beneke College, die der Hochschule zu Oxford, die des Erz-
bischofs von Canterbury und die zu Eton. Bei seinem Tode hatte doch Bacon
sicherlich keinen Grund mehr, die Schauspiele uicht als seine Geisteskinder an¬
zuerkennen und seine Testamentsvollstrecker nicht darüber aufzuklären. Es wäre
daher zu untersuchen, ob sich in den genannten Büchersammlungen neben den
Werken von Bacon auch die Folio oder alle Quartos aus der Schenkung des
Staatsmannes finden. Ist dies nicht der Fall, dann läßt sich auch nicht das
Geringste mehr für Baeons Verfasserschaft der Werke Shakespeares vorbringen,
und es ist zu hoffen, daß die ganze Baconfrage bald wieder in das Nichts,
aus dein sie entstanden ist, zurücksinken wird.
hat bei der Opposition im preußischen Abgeordneten-
Hause wieder einmal Beschwerden hervorgerufen, die in ernstem Tone zu besprechen
einige Überwindung kostet. Der Grundgedanke war der jenes Rekruten, der
das Hinschießeu ganz unterhaltend, das Zurückschießen dagegen unpassend fand-
Damit sind natürlich auch die den Rednern nahestehenden Blätter einverstanden,
und in ihrer Freude darüber scheinen sie übersehen zu haben, daß schlimmeres wohl
noch nie der gesamten politischen Journalistik nachgesagt worden ist, und in erster
Linie der freisinnigen. Denn welche Ersahrungen müssen die Abgeordneten mit
ihrer Presse gemacht haben, wenn sie die Überzeugung äußern können, der Publizist
spreche nicht seine Ansichten ans, sondern die ihm vorgesagten und — mit klingenden
Argunienten unterstützten! Oder wollen sich die betreffenden Organe so anstellen,
als ginge das nicht sie, sondern nur die Verworfene» an, die nicht auf den frei¬
sinnigen Katechismus vereidigt sind? Das wäre mehr als naiv. Zudem lehnte
Herr Nickert ausdrücklich dieVerantwortlichkeit für die Sprache der Zeitungen seiner
Partei ab. Die Verstimmung dieser Herren läßt sich begreifen. Sie haben wieder,
wie vor zwei Jahren, „neue Ära" gewittert, und sehen nun, daß es damit wieder
nichts ist. Herrn Eugen Richter lassen wir gern ans dein Spiele, da jetzt sogar
seine politischen Freunde zu der Einsicht gelangt sind, daß mit ihm überhaupt nicht
SU verhandeln ist. Etwas spät, doch nicht zu spät, um ihm zu sagen, wie der
alte Gnlvtti der Gräfin Orsina: „Reden Sie nur!" Mau muß wünschen, daß
das Niederlegen der Diktatur das Zeichen zur innern Reform der Partei gebe, die
sich noch immer mit fo vielen veralteten Vorstellungen trägt. Dahin gehört ent¬
schieden die von der „offiziösen Presse." Die Herren find doch nachgerade alt
genug an Lebensjahren und politischer Dienstzeit, um begreifen zu können, daß die
Regierung auch das Recht hat, die Verbindung mit Zeitungen zu unterhalten, die
ihr politisches Programm aus Überzeugung vertreten, und daß es geradezu kindisch
ist, ihr einen Vorwurf daraus zu machen, wenn sie Nachrichten gerade solchen
Blättern zugehen läßt, und nicht denen, die sie systematisch angreifen. Als ob die
Opposition, wenn sie ans Ruder käme, es anders machen würde, anders machen
könnte, und als ob es nicht autonome Behörden gäbe, die sich einer offiziösen Presse
zu versichere wissen!
Noch ist es kaum fünf Jahre her,
daß man in Paris einen Dichter begrub, dein nicht bloß fein eignes Selbstgefühl
und nicht bloß die große Schar seiner persönlichen Freunde, sondern ganz Frankreich
für den größten seiner Zeit hielt. Man verglich ihn mit Shakespeare und Goethe,
"ut es gab Leute, die ihn sogar höher stellten als beide. Man dürfte also seinem
Nachruhm ein unsterbliches, mindestens ein sehr langes Leben voraussage», und
uienicmd wird dazu geneigter gewesen sein als er, Viktor Hugo, selbst, ehe er von
dieser Welt, der v-uritss vAnitn-tum, Abschied nahm. Aber was würde er sagen,
Wenn er erführe, was sich jetzt mit seinen: Namen und Gedächtnis vollzieht? Wie
uns ganz zuverlässige und unparteiische Berichte aus Paris melden, ist mau in den
Kreisen der schwärmerischen Freunde und Verehrer des Poeten schwer enttäuscht
Und fast verzweifelt, daß ihr Aufruf, ihnen Beiträge einzusenden zur Errichtung
eines Denkmals für den „unsterblichen Sohn Frankreichs" nicht den Anklang ge¬
sunden hat, den sie erwartet hatten. In der That, das Publikum hat nicht tief
die Tasche gegriffen: es sind nicht viel mehr als 120 000 Franks für den Zweck
Angekommen, und dafür giebt es heute auf dem Denkmälermarkte nichts Hervor¬
tuendes, wenigstens nichts, was einigermaßen der Selbstschätzung des Dichters ent¬
spräche. Wie gesagt, es ist noch nicht fünf Jahre her, seit man ihn im Pantheon
zur Ruhe legtet und schon erklärt uns Herr Paul Meuriee, der zweite Vorsitzende
d^s betreffenden Komitees, betrübt und bitter, daß das französische Volk, das mit
, Avr Hugo während seines Lebens so viel Wesens gemacht habe, ihn vergessen zu
haben scheine. Die ungeheure Summe vou einer Million Franks, die sein Leichen-
begnngniS kostete, das ihn doch nur einen einzigen Tag ehrte, Umrde willig aus-
gegeben, und jetzt macht es schwere Mühe und Not, die dreinuil geringern Er¬
fordernisse für ein Standbild zusammenzubringen, das ihn für Jahrhunderte ehren
soll. Das giebt zu denken, einmal über den wahren Wert seiner Leistungen, dann
aber auch über die Wandelbarkeit der Volksgunst. Herr Menrice aber sagt uns,
daß dieser Schwund des Ansehens seines Dichterlönigs, dieses rasche. Verdorren
seiner Lvrbeerkroue eigentlich nicht überrascht haben sollte. Es ist, wie er andeutet,
nichts andres als die Reaktion gegen eine Übertreibung. Der Buchhandel wußte
davon schon zu erzählen. Das einzige Werk Viktor Hugos, das nach seinem Tode
erschien und nach dem einigermaßen gefragt wurde, sind die (üwsos Vnvs, die
in Prosa geschrieben und von denen etwa 3500 Exemplare abgesetzt worden sind.
Was für ein schwächlicher Erfolg ist das aber, wenn wir es mit den fünfzig oder
sechzig Auflagen vergleiche», die manche beliebte französische Romane der letzten fünf
Jahre binnen wenigen Monaten erlebten! Herr Paul Meuriee hofft zwar zuver¬
sichtlich, daß nach Verlauf einiger Zeit die Sonne über den Werken Viktor Hugos
wieder aufgehen werde, er hegt große Erwartungen von den Zntunflsfranzoseu,
dem neuen Geschlechte, das er sich einsichtsvoller »ut hochsinniger vorstellt als das
heutige, aber seine Enthüllungen über die Gegenwart sind durchaus uicht dazu an¬
gethan, die unbedingten Bewunderer des Verfassers der I/>KvnÄs Ass LiöQtvs und
der Notrs vains Ah l'-rü« besonders zu erbauen und zu erfreuen. Viel eher sind
sie geeignet, um den Prediger Salomo und seine Eitelkeit aller Dinge zu erinnern.
Der „Dichter der Dichter" würde, wenn er solchen schnöden Wandel hätte voraus¬
sehen können, vermutlich mit Seelenruhe bemerkt haben, die Schuld daran liege am
schlechten Geschmack seiner Landsleute und uicht an den von ihm hinterlassenen
Werken, und er hätte damit vielleicht nicht Unrecht gehabt. 'I'ordo in, I^yrs z. B. ist
reich an Versen, die ganz so schön siud wie irgend eine der Stellen in den
t'in!et>in,s>!al!>>>>,> und der ^üg'lacte) elos Livcüos, und die treffenden Skizzen, denen
wir in den VKosos Vile>.« begegnen, können uns zuweilen veranlassen, in das Urteil
einzustimmen, Viktor Hugo würde als Journalist nicht seinesgleichen gehabt haben,
wenn er sich der Tagespreise gewidmet hätte. Das ändert aber nichts oder wenig
an der Thatfache, daß er für den Augenblick und sehr wahrscheinlich für die nächsten
Jahre das Schicksal von Thiers, Gambetta und ander» vor kurzem noch hell¬
strahlenden Lichtern Neufrankreichs teilt, die, ehedem in aller Munde, heute kaum
noch genannt' werden. Herr Menrice scheint zu glauben, daß die großartige Leichen¬
feier, die von der Nation ihrem berühmten Poeten veranstaltet wurde, seinem/An¬
denken mehr geschadet als genützt habe. Wir lassen das unerörtert und halten uns
einfach an die Thatsache, daß jetzt Sonnenfinsternis darüber herrscht. Vielleicht ist
es aber ein Tr.>se in der Trübsal, daß, wie wir lesen, der Bildhauer Robim im
Auftrage der Negierung eine Bildsäule Viktor Hugos anzufertigen im Begriffe ist,
die an seiner Gruft aufgestellt werden soll. Freilich wird die Erwägung, daß dabei
die Negierung die geringe Teilnahme des Publikums ergänzen muß, dem Troste
wieder einen, bittern Tropfe» beimischen.
le am Schlüsse des ersten Abschnittes unsrer Allszüge geschilderte
mittetstaatliche Bewegung blieb nicht ohne Wirkung, aber diese
Wirkung fand in ganz andrer Richtung statt, als die Urheber
beabsichtigt hatten. Als die Mittelstaaten und die „Volksstimme"
im Abgevrdueteutage, in den Landtagen und in zahlreichen Müssen-
^^sauiinluugeu ni>l die Wette die Eroberung der Elbherzvgtümer für deren ange¬
stammten Fürsten begehrten, kam in Wien die Meinung auf, um dieser Thorheit
^Ueu Riegel vorzuschieben, müßten Österreich und Preußen in der Besetzung
Schleswigs den Freunden des Augusteuburgers zuvorkommen und die Entscheidung
^ gefährlichen Frage in die eigne Hand nehmen, um hiermit auch für Schleswig
^ lltttrenubarkeit der dänischen Monarchie bewahren zu können, und es ging ein
^'laß dieses Inhalts an Karvlyi, den österreichische» Gesandte» in Berlin, ab.
'>^er hatte Bismarck, dem weder der Bundestag, »och die Mittelstaaten, noch die
Deutliche Meinung viel Sorge machten, der Bewegung bisher sehr gelassen
^'gesehe,,. Desto mehr befriedigte ihn die Nachricht, daß Österreich jetzt auch
Bezug auf Schleswig zu kräftigem Borgese» nach preußischem Muster bereit
Noch einmal erwog er die Aussichten jedes in der Angelegenheit deutbare«
^'sahreus, dann legte er sein Ergebnis in einer Denkschrift für den König
meter. Wir können, sagte er darin, wenn die dünische Nvvemberverfassuug
1- Januar in Kraft tritt, nicht unthätig bleiben, und es giebt dann für
rils drei Wege. Nach dem erste» würde mau, wie die öffentliche Meinung
sich vom Londoner Vertrage lossagen und mit gesamter Heeresmacht in
Schleswig einbrechen, lind das wäre offner Krieg, und zwar Bnudeskrieg, dessen
"UsgMg Schicksal der Herzogtümer entschiede, bei dem wir jedoch mit
den Großmächten, vorzüglich mit England, in gefährliche Spannung geraten
würden. Der zweite Weg wäre Lossagung vom Londoner Protokoll ohne
kriegerische Maßregeln. Dann möchte der Bund sich über die Erbfvlgefrage
entschließen und, wenn er sich für den Erbprinzen Friedrich entschiede, diesen
in Holstein einsetzen, Schleswig aber bliebe dann schutzlos, da wir uns hier
nnr mich den Verträgen von 1852 einmischen dürften, die wir mit der Los-
sngung vom Londoner Protokoll jn zerrissen hätten. Zur Prüfung des Erb¬
rechtes ans Schleswig wäre der Bund nicht befugt, und ließe sich auch das
Unrecht der Augustenbnrger hier nicht bestreikn, so wäre der Vnnd nicht ver¬
pflichtet, einem deutschen Fürsten ein außerdentsches Land zu erobern, sonst
hätte er Neuenburg für Preußen, Toskana für Österreich behaupten müssen.
Dieser Weg würde also nnr bis zur Eider führen. Wir würden Holstein von
Dänemark abtrennen, was vielleicht dnrch bloße Unterhandlungen zu erreichen
wäre, und Schleswig, den eigentlichen Gegenstand des Danisirnngseifers, preis¬
geben. Es bleibt somit nur übrig, daß Preußen und Osterreich sich gar nicht
über die Londoner Übereinkunft äußern, sondern einfach zur kriegerischen Aktion
vorschreiten, um die Erfüllung der dänischen Verpflichtungen von 1852 zu er¬
zwingen. Also um 1. Januar ein Ultimatum des Bundes oder, wenn dieser
nicht will, von seinen beiden Großmächten, oder auch sofortiges Einrücken >»
Schleswig, um den Gegenstand des Streites, dessen Dänemark sich eben be¬
mächtigt hätte, ihm zu entziehen. Der Krieg wäre dann energisch zu führen,
die andern Mächte hätten keine Befugnis, sich einzumischen, und unsre Stellung
in der Konferenz über die Sache würde durch den Besitz des Streitobjektes
nicht verschlechtert werden.
König Wilhelm ließ sich hiervon gern überzeugen, dn er so Österreich an
seiner Seite behielt, und es erging, nachdem auch Rechberg sich einverstanden
erklärt hatte, an Sydow, den preußischen, und Kübeck, den österreichischen
Gesandten beim Bundestage, die Weisung, den dringlichen Antrag zu stellen,
der Bund möge Schleswig für die Erfüllung der dänischen Verpflichtnnge»
von 1851/52 in Pfand nehmen, ein Antrag, bei dem die deutsche Auerkeuuuua
des Londoner Protokolls und seiner Thronfolge stille Voraussetzung war.
Um 28. Dezember wurde der Antrag gestellt und am ZI. ans Rechbergs Be¬
trieb das weitere Begehren, der Bund möge den Prinzen Friedrich anfforder»,
Kiel und Holstein wieder zu verlassen. Am 2. Januar 18ti4 erfolgte die
Abstimmung über letzteres: es wurde mit !) gegen 7 Stimmen abgelehnt,
die Mehrheit der Diplomaten stand noch unter dem Eindrücke der Reden »»d
Beschlüsse des Abgevrdnetentages, und viele fürchteten den Ausbruch einer
Revolution.
Inzwischen hatten die Ausschüsse des Bundestages Pfordten mit eine»'
Berichte über das Erbrecht des Angnstenbnrgers beauftragt, und nach wenige»
Tagen lieferte dieser gewiegte Rechtsiwlehrte, der zur Zeit mit seiner Keckheit.
Schlagfertigkeit und Rastlosigkeit unter den College» bei der 'Bundesversamm¬
lung sich bedeutende Geltung verschafft hatte, eine ausführliche Darlegung
der Sätze, daß der Bund durch den londoner Vertrag nicht verpflichtet und
daß eine Ausführung des Vertrags überhaupt nicht mehr möglich sei, Rechberg
übersandte darauf der bairischen Regierung eine Verwal,rnng, worin es hieß,
wo der Bundestag innerhalb , der Grenzen seiner Befugnis Beschlüsse fasse,
würden Österreich und Preußen leinen Einspruch dagegen erheben, aber Be¬
schlüssen ohne Rücksicht auf Gesetz und Verfassung gegenüber würden sie sich
"immermehr inajvrisiren lassen. Das Thronfolgerecht des Königs Christian
beruhe nicht auf dem Londoner Protokoll, sondern ans dem dünischen in aller
Form Rechtens erlassenen Reichsgesetze von 1853, dnrch Beschluß vom
2». Juli 1852 habe mich der Bund sein Einverständnis mit der Erhaltung
der dänischen Unzertrennlichkeit nnsgesprochen, und kein Gesetz berechtige ihn
aur Entscheidung einer streitigen Thronfolge oder zur Okkupation eines nicht
gU ihm gehörigen Landes wegen möglicher Erbnnsprüche eines noch nicht an¬
rannten Fürsten. Bismarck schrieb kürzer an Sydvw: „Pfordtens Arbeit
erscheint mir parteiisch und oberflächlich. Wir können eine solche Behandlung
völkerrechtlicher Transaktionen, an denen wir teilgenommen haben, nicht dulden,
^ir sind ebensowenig wie Österreich gesonnen, uns in dieser wichtigen Frage
der Führung des königlich bairischen Bundestagsgesandter zu überlassen. Ich
Wunsche, daß Sie dies zur Richtschnur Ihrer Äußerungen in den Ausschüssen
'Archen und den Standpunkt der Großmächte mit der Energie vertreten, mit
^'r wir ihn nötigenfalls geltend zu machen entschlossen sind."
Und nnn drängte in Berlin ans der einen Seite das Abgeordnetenhaus,
dem die Regierung eine Rnstnngsnnleihe beantragt hatte, und dessen Mehr¬
et das Geld uur bewilligen wollte, wenn Bismarck dnrch Anerkennung des
"Herzogs" Friedrich alle Brücken zur Umkehr abbräche, ans der rudern Seite
^'r englische Gesandte Buchanan, der Zurücknahme des Antrags vom 2«. De¬
putier begehrte, da jedes Einrücken deutscher Truppen in Schleswig deu
Frieden Europas schwer gefährde, die ganze Angelegenheit also unter einst¬
weilige Erhaltung des Statusguo einer Konferenz der Mächte zu unterbreiten
Bismarck erklärte der Volksvertretung, wenn sie das Geld verweigere, so
lverde die Regierung es sich nehmen, wo sie es finde. Dem Engländer aber er¬
widerte er, den Statnsqno habe Dänemark widerrechtlich geändert und müsse ihn
d"res Aufhebung der Nvvemberverfnssung wieder herstellen; im Weigerungsfalle
^ die Besetzung Schleswigs das berechtigte Zwangsmittel. Unmöglich könne
^enßm am Londoner Vertrage festhalten und gleichzeitig dessen Bruch durch
^uueinark stillschweigend dulden. Hintere England die Anwendung des Zwangs¬
mittels, so müsse Preußen einen Ministerwechsel vollziehen, sich vom Londoner
Protokoll lossagen und sich nach der Forderung des Abgeordi,etenhanses der
^"gustenburger Partei anschließen. Buchanan verstummte daraus.
Es war um Gefahr im Verzüge, und am 5>. Januar that Vismarck den
entscheidenden Schritt durch einen Erlaß um den preußischen Gesandten in Wien,
der zunächst die Berechtigung beider Höfe feststellte, sich bei Fortsetzung der
dänischen Haltung vom Londoner Protokoll loszusagen, dann aber es für
zweckmäßig erklärte, mit Rücksicht auf Europa einstweilen noch nicht davon
Gebrauch zu machen, sondern Dänemark mir unter Androhung bewaffneten
Einschreitens, sei es im Namen des Bundes, sei es im eignen, zur Erfüllung
seiner Pflichten aufzufordern. Aber jedes preußische Vorgehen sei an die
Voraussetzung geknüpft, daß Österreich damit vollständig einverstanden sei.
Nach so langer Geduld befinde man sich in der Lage, die Zurücknahme der
Novemberverfassung binnen 48 Stunden zu verlangen und nach voraussicht¬
licher Weigerung Dänemarks in Schleswig einzurücken. Vertraulich fügte
Bismarck noch hinzu, bei den unabsehbaren Konsequenzen der Sache sei es
unerläßlich, daß Österreich sich in bindender und jedes Zurückweiche!! aus¬
schließender Form erkläre. Während der Besetzung Schleswigs seien nieder
dänische noch augustenburgische Kundgebungen zu gestatten, und das Herzogtum
müsse militärisch regiert werden. Diese Aufforderung sunt in Wie» eiuen
günstige» Boden. Die Entrüstung über die Anmaßung der Mittelstädten und
die Besorgnis über die Folgen ihres Auftretens waren durch die Kunde ge¬
steigert worden, daß der Kaiser der Franzosen ihr Vorgehen unumwunden
billige und sie darin ermuntern lasse, woraus mau schloß, Napoleon, suche
hier Vuudesgeuvssen gegen Österreich. Rechberg hatte denn preußischen Ge¬
sandten gerade auseinandergesetzt, man müsse den Herzogtümern gründlich
helfen, ihre alte Verbindung durch bloße Personalunion mit Dänemark wieder
herzustellen, und dabei bemerkt, alles komme darauf an, daß der Einigkeit
zwischen Österreich und Preußen Festigkeit und Dauer gegeben werde, als der
Bismnrcksche Erlaß ihm am 5). Januar mitgeteilt wurde. Da die preußische
Regierung darin für jetzt keine Lossage vom Londoner Protokoll und keine
Zerreißung Dänemarks begehrte, so war ihm das gegen die Novemberverfass»»!?
beantragte Zwangsverfahren vollkommen bequem. Am it>. Januar wurde >»
einem Ministerrate der Entwurf zu einer Pnnktntivu mit Preußen nebst ent¬
sprechender Weisung an Karolhi beschlossen. In dieser Weisung hieß es'
„Mit aufrichtiger Befriedigung haben wir wahrgenommen, daß anch Preuße»
sich für Beharren auf dem bisherigen Wege entschiede!! hat, »ud in dieser
Hauptfrage einig, find wir bereit, ans dessen weitere Borschläge einzugehen-
Der Punktationsentwurf sagte dann, daß die beiden Regierungen, um die Über-
einstimmung ihrer Schritte durch eine bindende Verabredung zu sichern, se^l
über folgende Bestimmungen verständigt hätten: 1. Aufforderung an DänennM,
die Novemberverfasfung binnen 48 Stunden zurückzunehmen und im Weigerung^
falle Abreise der Gesandten und Besetzung Schleswigs durch bereitgehaltene
österreichische und preußische Truppe». 2. Selbständiges Vorgehen beider
Aiächte, locum der Bundestag den Antrag vom 28, Dezember ablehnt. !!. Bor-
bereitung der zur Einnahme des Danewerkes (ivo die Dänen sich zu wider¬
setzen beabsichtigten) oder dessen Umgehung erforderlichen Streitkräfte. 4. Im
Falle der Besetzung Schleswigs Verhinderung aller dänischen, nngnstenbnr-
gischeu oder demokratischen Kundgebungen, Verwaltung des Herzogtums durch
Zivilkvmmissare nnter dem Oberbefehlshaber des Heeres. 5. Annahme des
Vorschlags einer europäischen Konferenz nur uuter der Vvrnnssetzung entweder
der Beseitigung der Novemberverfassung oder der Besetzung Schleswigs. Dann
hieß es im fünften Artikel des Entwurfs: „Falls es zu Feindseligkeiten in
Schleswig käme, die dermalen in Kraft stehenden Vertragsverhältnisse zwischen
den deutschen Mächten und Dänemark sonach aufgehoben würden, behalten die
Hofe von Österreich und Preußen sich vor, in Bezug ans die künstigen Ver¬
hältnisse der Herzogtümer andre Bedingungen als die in den Abmachungen
von 1851/52 enthaltenen in gemeinsamem Einverständnisse aufzustellen. Sie
werden sich keinesfalls anders als in gemeinsamem Einvernehmen vom Grund¬
satze der Erhaltung der dänischen Monarchie in ihrem jetzigen Bestände und
von der durch deu Londoner Bertrag eingegangenen Verbindlichkeit, die Erb¬
folge des Königs Christian anzuerkennen, lossagen." (>. Vorbehalt weiterer
Vereinbarung für den Fall thatsächlicher Einmischung andrer Mächte. „Die
in den vorstehenden Punkten enthaltenen Verabredungen sollen dieselbe Kraft
»ut Geltung haben, als ob sie deu Inhalt eines förmlichen Vertragsinstruments
bildeten."
Karvlyi betonte, als er Bismarck am 12. Januar den Entwurf zusandte,
besonders die Wichtigkeit des fünften Artikels, die Lossagung vom Londoner
Protokoll nur nach Verstnndignng beider Mächte darüber und über das
künftige etwaige Verhältnis der Herzogtümer zu Dänemark. Bismarck und
sein König aber waren andrer Meinung. Sie hofften auf das hartnäckige Be¬
harren der Dänen im Unrechte, das zum Kriege und damit zum Aufhöre»
^er früheren Verträge triebe, und waren fest entschlossen, dann Schleswig-
Holstein von jeder Form dänischer Herrschaft zu befreien. Bismarck schlug
infolge dessen vor, den fünften Artikel irrten z» lassen: „Für den Fall, das;
zu Feindseligkeiten in Schleswig käme und also die zwischen den deutschen
Auichten und Dänemark bestehenden Vertragsverhältnisse hinfällig würden,
behalten die Höfe von Österreich und Preußen sich vor, die künftigen Ver¬
hältnisse der Herzogtümer nnr in gegenseitigem Einverständnisse festzustellen.
Zllr Erzielung dieses Verhältnisses werde» sie eintretenden Falles die sach¬
gemäßen weitern Abreden treffen. Sie werden jedenfalls die Frage über die
Erbfolge nicht anders als in gemeinsamem Einverständnisse entscheiden." Hier¬
mit war wie in Rechbergs Entwurf jedes einseitige Vorgehen ausgeschlossen,
^'er nicht mehr eine bestimmte Position bezeichnet, bei der es, salls man sich
"lebt einigen könnte, sein unwiderrufliches Bewenden haben sollte. Karvlyi empfahl
die Annahme deS von Bismarck veränderte» Artikels, und sie erfolgte im Hin-
blick nuf den Bundestag, wo die Mittel- und Kleinstaaten durch ein an sie
gerichtetes Rundschreiben der französischen Regierung ermutigt worden, waren,
daS, vou> 8. Januar datirt, das Londoner Protokoll ein ohnmächtiges Wert
nannte, die Teilnahme des deutschen Bundes an der von England vorgeschlagenen
Konferenz als wünschenswert bezeichnete und bis zu erlangter Auskunft hierüber
Frankreichs Entschließung über die Konferenz vertagte.
Dieser ungewöhnliche Schritt des mächtigen Nachbarn machte großen Ein¬
druck: die Mittelstädte» dachten wohl nicht gerade an einen neuen Rheinbund,
aber wahrscheinlich an die Möglichkeit einer Anlehnung an Frankreich für den
Notfall. Dieses schien der angnstenburgischen Sache geneigt, und so konnte
Ulan in Frankfurt »»bedenklicher für sie weitergehen. Die Abstimmung über
den Vertrag vom 28. Dezember sollte am 1-l. Januar stattfinden, und Sydow
und Kübeck berichteten, sie werde wahrscheinlich eine Ablehnung sein, worauf
sie von ihren Regierungen angewiesen wurden, in diesem Falle zu erklären,
daß Preußen und Österreich nun die Pfändung Schleswigs als europäische
Grvßncächte, unabhängig vom Bunde, vollziehen würden, und das geschah
deun anch, als der Antrag vom 28. Dezember mit großer Stimmenmehr¬
heit verworfen wurde. Darob gewaltige Überraschung, Entrüstung und
Begriffsverwirrung in den Kreisen der Mittel- und Kleinstaaten. Baiern ließ
eine feierliche Verwahrung aller Rechte des Bundes vom Stapel, wozu gar
kein Grund vorlag, viele andre schlössen sich dein nu, und Sachsen protestirte
sogar gegen den Durchmarsch der nach Schleswig bestimmte!? Truppen der
(Großmächte dnrch das jetzt unter Bundesverwaltung stehende Holstein. Die
Vertretungen, Vereine und Versammlungen des Volkes lärmten dein entsprechend
und forderten zu bewaffnetem Widerstande ans. Der Sechsnnddreißiger-Aus-
schuß erklärte, die beiden Großmächte hätten die Führerschaft in Dentschland
verwirkt. Das preußische Abgeordnetenhaus verweigerte die Anleihe, weil
Preußen von Deutschland abfalle und seine Grvßinachtsstellung mißbrauche.
Alle Welt war überzeugt, der Zweck der angekündigte» Besetzung Schleswigs
sei Auslieferung der Herzogtümer a» deu Prvtokvllpriuzen Christian, was doch
nur Österreichs Absicht war. Ju gleicher Weise sahen, die Eiderdäueu die
Sache nu: die wahren Gegner, meinten sie, die die deutschen Großmächte treffe»
wollen, siud die Mittelstaaten und die revolutionären Parteien, die jetzt Öster¬
reich, Preußen und Dänemark gleichmäßig bedrohen; die Angelegenheit wird
also wie 1850 verlaufen.
Die amtliche Unterzeichnung der preußisch-österreichischen Punktation erfolgte
am 1<i. Januar, und noch an demselben Tage erging telegraphisch an die Ge¬
sandten Preußens und Österreichs in Kopenhagen der Befehl zur Aufforderung
der dänischen Regierung, die Novemberverfassnng binnen achtundvierzig Stunden
zurückzunehmen. Mvnrad lehnte ab; daß die Däne!, Schleswig nicht wie Hol-
stein ohne Widerstand räumen U'urbem, ivar längst ausgemacht und mithin der
Krieg entschieden. In Preußen wie in Österreich waren die militärischen
Vorkehrungen in vollem Zuge. Am 20. übernahm Wrnngel den Ober¬
befehl über die Streitkräfte der Großmächte, die nun in Holstein einrückten und
sich rasch der Eider näherten. Das übte sofort seiue Wirkung auf den Bundes¬
tag, die Mittelstaaten und die fremden Großmächte. Der Bundestag versprach
uuter Wahrung der Rechte des Bundes den Truppen der Verbündeten während
ihres Durchmarsches durch Holstein alle Erleichterung und Unterstützung zu
gewähren. Reuse, der seine» Bundestagsgesandter beauftragt hatte, für die
Verhinderung des Durchmarsches zu wirken, erklärte einige Tage später dem
Vertreter Preußens in Dresden, man werde ihn hoffentlich nicht für einen
solchen Don Quixote halten, daß er ans den Gedanken bewaffnete» Wider¬
standes geraten könnte. Der alte .König vo» Württemberg ließ öffentlich ver-
künden, daß er mit dem ganzen bösen Handel nichts zu schaffen haben möge.
Äußerst kummervoll war Max der Baier, höchst aufgeregt sein Minister Schrenck,
als sie das schöne Bild der bairischen Hegemonie über die Trias so schnell
und heillos zerrinnen sahen, aber beiden war doch sofort klar, daß man sich
uicht mit gezogenem Degen den deutschen Grvßmächteu in den Weg stellen
lbuue. Unter den fremden Mächten war besonders England sehr erregt, und Russell,
^er e>ni 31. Dezember eine förmliche Einladung zu einer Konferenz versandt
hatte, entwickelte eine außerordentliche Rührigkeit für die Integrität Dänemarks
und die Thronfolge Christians in den Herzogtümern, er mahnte allenthalben,
^vrterte, beantragte und drohte, verlangte in Kopenhagen schleunige Be¬
seitigung der Verfassung und in Berlin einen sechswöchentlichen Aufschub des
Zwangsverfahrens und dergleichen. Aber ans allen Seiten erfuhr er, wie
""anfechtbar die Stellung war, die Bismarck für feine aktive Politik erwählt
hatte, und wie genan sie der damaligen Lüge Europas entsprach.
Im stillen waren alle Kabinette einverstanden, daß Dänemark sich mit
schnöder Keckheit Deutschland gegenüber ins Unrecht gesetzt habe, und
"iemand hatte Lust, ihm gegen das jetzt in Waffen starrende Deutschland bei-
'^ustehen. Rußland wttuschte zwar glimpflichste Behandlung der Dänen, aber
durchaus keinen Bruch mit Preußen, seinem mutigen Genossen während des
^'tuischeu Aufstandes. Napoleon hielt an der Hoffnung fest, aus dem Kriege
w Schleswig weitere Verwicklungen entstehen zu sehen, die ihm das ersehnte
^umbris mit Preußen verschaffen müßten. Übrigens ließ er der englischen
^u'giernng erklären, daß er nur mit Widerwillen an eine Maßregel herantrete,
^ ihn in einen Krieg mit Deutschland verwickeln könnte. Einigen Anklang
^ den außerdeurscheu Höfen fand der Vorschlag eines Aufschubs der Besetzung
^'hlesuügs. Nußland, Frankreich und Schweden empfahlen ihn in Berlin,
^l^gen gestand Napoleon dem Grafen Goltz zu, daß es sich hier nicht um
^» Plötzliches Ultimatum, souderu um ein letztes Wort mich zwölfjähriger Ge-
tuit bei Nichterfüllung der Verträge und nach dreimonatlichen Verwahrungen
gegen offnen Bruch derselbe» handle, und jeder Zweifel schwand, als England
den Vorschlag in geschäftlicher Form vorlegte. Die deutschen Mächte sollten,
so hieß es dn, anstatt der materiellen Garantie einer Besetzung Schleswigs
die diplomatische Garantie eines durch alle Unterzeichner des Londoner Vertrags
zu unterschreibenden Protokolls annehmen, wodurch Dänemark sich verpflichtete,
seinem Neichsrate die Aufhebung der Verfassung für Schleswig zu empfehle»
und die Annahme des Vorschlags durch de» Rcichsrat »ach besten Kräfte»
zu erstreben. Der Wert des englischen Antrages wurde sofort durch Mvnrnd
grell beleuchtet, indem er im Landsthing erklärte, es sei schwer zu sagen, was
»uni bei einer Verhandlung mit Deutschland über Schleswig verlangen solle,
leicht dagegen, was man niemals zulassen werde, nämlich ein Schleswig-Holstein,
ein wie Holstein selbständiges und ein geteiltes Schleswig. Daraufhin lehnte der
König von Preußen den englischen Antrag ab lind blieb bei derAblehnung. Rechbcrg
erkannte in Berlin an, daß bei der Erregung des deutschen Volkes der Ein¬
marsch in Schleswig nicht zu verzögern sei, mahnte aber umsomehr, zur Be¬
schwichtigung Englands die begehrte Anerkennung der dänischen Integrität aus¬
zusprechen und zugleich auf schleunigen Zusammentritt der europäischen Konferenz
zu dringen. Er wies den kaiserlichen Gesandten in Paris zu einer Darlegung an,
daß ein Aufschub des Einmarsches in Schleswig, weil letzterer öffentlich angekündigt
worden sei, die deutscheu Großmächte bloßstellen und die Folge haben werde,
daß der deutsche Bund das Herzogtum für deu Augusteuburger besetze. Oster¬
reich deute »ach seineu Grundsätzen nicht daran, als Ritter der Nationalitäten
aufzutreten und Dänemark zu zerstückeln. Es überschreite die Eider nur, »»>
schwerem Verwicklungen vorzubeugen.
Bismarck redete in seine,» nach London, Paris, Petersburg und Stock¬
holm abgesandte» Rundschreiben schärfer. Ließen wir, sagte er, »ach Englands
Wunsch deu Zusauuueiitritt des Neichsrates zu, so würde» wir die Rechts-
bestäiidigkeit der von uns verworfene» Verfassmig a»erke»»e». Die einzige
Möglichkeit der Erhaltung des Friedens besteht also darin, daß Dänemark die
Pfändung Schleswigs zuläßt; widersetzt es sich, so entstehen daraus kriegerische
Ereignisse, deren Folgen in die Beziehuuge» z» Deutschland umso tiefer ein¬
greifen müssen, als dadurch die zwischen beiden Ländern bestehenden Vertrags
Verhältnisse hinfällig werden würden. Rechberg sunt diese Sprache bedenk¬
lich, Bismarck aber wollte sich die Hände nicht für die Zukunft binden lasst»-
Endlich einigte man sich über folgende vom .'<(). Januar datirte gemeinsame
Note: „Indem die (k. österreichische, k. preußische) Regierung die Rechte,
deren Geltendmachung sie erstrebt, auf die Stipnlntionen von 1851/52 basirt,
hat sie durch eben diesen Alt das Prinzip der Integrität der dänischen Monarchie
anerkannt. Indem sie zur Besetzung Schleswigs schreitet, ist sie nicht gesonnen,
dieses Prinzip zu verlassen. Wenn sie aber infolge von Verwicklungen, ">e
durch das Beharren der dänischen Regierung bei ihrem vertragswidrigen Ver¬
fahren herbeigeführt werden könnten, oder infolge der bewaffneten Intervention
andrer Machte sich genötigt sehen sollte, Kombinationen zu entsagen, deren
Ergebnis nicht mehr im Verhältnisse zu den Opfern stünde, welche die Ereig¬
nisse den deutschen Mächten auferlegen möchten, so könnten keine definitiven
Arrangements ohne Mitwirkung der Mächte, welche den Londoner Vertrag
unterzeichnet haben, getroffen werden." Also zu Anfang Anerkennung der dänischen
Integrität, zu Ende Bereitwilligkeit zur Konferenz, im Mittelsatze aber auch
die Erklärung, daß mit dem ersten Schusse die Verträge erlösche» würden und
fremde Einmischung mit den Waffen das Schicksal Dänemarks nnr verschlimmern
könnte.
Die weitere Politik Bismarcks in der Schleswig-hvlsteinischell Befreiungs¬
fache wolle man bei Sybel selbst nachlesen. Die Fortsetzung stand dem hier
^'schilderten Anfange an Genialität nicht nach. Unsre Auszüge zeigen uns
ein Meisterwerk diplomatischer Kunst im Entstehen, und gleiche Bewunderung
fordert die Kraft und Gedankenfülle, die es, jeder Schwierigkeit gewachsen,
^iii Hindernis scheuend, much glücklich vollendete. In der That, Bismarck
hat alle Ursache, auf diese seine ersten Erfolge mit besondrer Befriedigung
zurückzublicken, das deutsche Volk allen Grund, ihm besonders lebhaft dafür
an danken. Wir können im Interesse des Vaterlandes nnr wünschen, daß zu¬
künftige gleiche Gelegenheit einen gleichen Meister finde.
ir haben gesehen, wie der Mittelstand Frankreichs, namentlich die
Geschäftswelt, sich nach dem Scheitern des letzten Versuchs, die
Monarchie dnrch die Republik zu verdrängen, sich ruhebedürftig
allmählich von der Republik abwendete und sich mit dein
„Vürgerkönige" versöhnte. Der Republikanismus aber stieg in
untere Klasse, das Proletariat, die besitzlosen Arbeitermassen hinab und
Nahm hier andre Gestalt um. Buonarotti, der alte Genosse Baboenfs, hatte
le Geschichte dieses kommunistischen Verschwörers drucken lassen, und dadurch
Ntrden dessen Lehren den bei ihrer Fahne gebliebenen Republikanern und den
Proletariern wieder bekannt, und sie begannen daraufhin mehr als bisher
darüber zweifelhaft zu werden, ob ihnen die republikanische Staatsform an
sich, als bloß politische Einrichtung, Vorteile bringen könne, die sie erstrebens¬
wert machten. Sie kamen dabei zu der Überzeugung, daß dies nicht der Fall
sei, daß mit der Republik, wie mau sie bisher verstanden und gewollt hatte,
noch keine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des Arbeiterstandes erreicht
werden würde. Man hatte das Wort t^gulo bisher viel im Munde gehabt,
sichs aber niemals recht klar gemacht, ob die staatsrechtliche Gleichheit unter
der demokratischen Regierung, an die man dachte, auch die gesellschaftliche
Gleichheit einschließen oder doch bald herbeiführen werde. Jenes Buch wies
darauf hin, daß dies nicht der Fall sei, und daß ein andrer Weg eingeschlagen,
eine Ergänzung vorgenommen werden müsse. Das, wonach Baboeuf gestrebt
hatte, wurde nnter den Proletariern das Ziel der Gedanken, und es entstanden
nach der Sitte der Zeit geheime Gesellschaften, die jene Ideen pflegten und
sich zu deren Verwirklichung rüstete». Aus der Forderung der Teilnahme der
Besitzlosen an der Staatsregierung wurde die Forderung der Teilnahme am
Vermögen der besitzenden Klassen, und an die Seite des Hasses gegen die
monarchische Regierung trat ein noch heißerer Ingrimm gegen die Reichen,
und als sich jetzt die große Mehrzahl der Leute von Verstand und Bildung
aus diesen Kreisen zurückzog, verfielen jene Gesellschaften, unter denen die
Kooi6t>6 6<z« lainillö« die älteste war, und sonst noch die ><Zooi6t6 nos Senhor«
und die 'I'r»vaMour8 vgMtmre» genannt werden mögen, großenteils dem rohesien
Kommunismus. Dieser neue Baboeuvismus machte Versuche, durch Flugblätter
und Zeitschriften zu wirken und zu werbe». An die Stelle der Revolte»
traten ans seinem Prograun» zunächst die Attentate. Sehr wahrscheinlich ist,
daß Fieschi mit seiner Hölleinnaschine, Aliband und Mennier aus der Looic^
<1Sö kamMes hervorgingen. Die Looiutv «to« »g,i«on8 aber, an deren Spitze
Blanqni und Narbös standen, ließ ihre Mitglieder bei der Anfnnhme schwören,
alle Reichen zu hassen und die Verteilung aller Güter nach dem Grundsätze
unbedingter Gleichheit zu erstreben. Diese Gesellschaften entschlossen sich endlich
während einer Ministerkrisis, die im Frühling des Jahres 1839 ausbrach »»^
fast zwei Monate dauerte, mit deu Waffen in der Hand die Monarchie uinz»'
stürzen und an ihre Stelle die kommunistische Republik zu setzen. Ein Hand¬
sireich, zu dem die „Gesellschaft der Jahreszeiten" etwa tausend wasse»fähige
Mitglieder stelle» konnte, schien dazu hinzureichen. Am Nachmittage deo
12. Mai sammelten sich die Verschwornen in der Nachbarschaft eines Waffe»^
latens, der ans ein verabredetes Zeichen erbrochen und geplündert wurde-
Hierauf überwältigte man mehrere Wachthäuser und Schildwachen, und da»»
suchte» die Nnfständischen sich der Pvlizeipräfektnr, zu bemächtige». Hier aber
stießen sie auf entschlossenen Widerstand, a» dem ihr Anlauf scheiterte. Die
Zahl der Angreifer nahm jetzt, statt zu wachsen, beträchtlich ab. Die Be-
völkernng blieb teilnahmlos, von einer Mitwirkung bedeutender Männer, die
die Anstifter des Putsches ihren Genossen vorgespiegelt hatten, war nicht die
Rede, und das Gefühl, daß man getäuscht sei, vollendete die Entmutigung der
kleinen Nebelleuschar. Bald waren von ihr nur noch wenige um die Häupt¬
linge versammelt, die sich nun mit ihnen der innern Stadt .zuwandte um sich
in deren engen Straßen, deren Pflaster schon so oft vom Blute des Bürger¬
krieges gerötet worden war, mit Barrikaden zu verschanzen. Unterdessen aber
waren, durch die Trommeln des Generalmarsches zusammengerufen, Linicn-
truppeii, Natiounlgarde und Polizeimannschaften in genügender Zahl heran¬
gerückt, und schon ihr erster Sturm auf die von den Verschwornen eingenommene
Stellung machte dem dreisten und unüberlegten Unternehmen ein Ende. Von
den Teilnehmern wurden einige mit den Waffen in der Hand gefangen ge>
»omnem, andre verhaftete mau am nächsten Tage. Die Untersuchung stellte
heraus, daß die „Gesellschaft der Jahreszeiten" fast ausschließlich ans Hand¬
werksgesellen, Fabrikarbeitern und Tagelöhnern bestanden hatte, daß sie zu
Stiftern und Leitern drei junge Leute besser» Standes, aber ohne Stellung
»ut besondres Talent, gehabt, und daß sie „die soziale Republik" gewollt
hatte ........ einen Begriff, der selbst den Führer» nur dämmernd und in Allge¬
meinheiten, aber trotz oder gerade wegen feiner Dunkelheit und Unbestimmtheit
als etwas Heiliges und Begeisterndes erschienen war. Die drei Rädelsführer
waren Barbes, ein junger Mnun ans wohlhabender Familie und aufopfernngs-
fahiger Schwärmer, Martin Bernard, ein früherer Unteroffizier, und Vlanqni,
ein handwerksmäßiger Verschwörer nicht gerade der »»edelste», wohl aber der
verbissensten »»d rührigsten Sorte. Die beide» Erstgenannte» erschiene» am
'^7. Inn mit sechzehn ihrer Genossen vor dem Pairshofe, Barbvs wurde zum
Tode, Bernard zur Deportation und die übrigen zu Gefä»gnisstrafen ver-
!abietum Grades verurteilt. Später wurden einer ander» Abteilung der An¬
geklagten, bei der sich Blanqui befand, teils Deportation, teils Galeere, teils
Gefängnis zuerkannt. Barbus, dessen Jngend, Schönheit und männliche Haltung
vor de» Richten? beim Publikum lebhafte Teilnahme erregt und vielfache
Gnadengesuche für ihn hervorgerufen hatte — die Pariser Studenten zogen
D diesem Zwecke, mehrere tausend Köpfe stark, vor das Justiziuiuisterium —,
wurde ohne sein eignes Zuthu» vom Könige erst zum Bagnv, da»» zur Depor¬
tation begnadigt, die jedoch in Ermanglung eines regelnden Gesetzes in einem
Wländischen Gefängnisse zu verbüßen war. Man brachte ihn, Blnngui und
"le meisten andern Verurteilten in die Gefangnenzelleu des ehemaligen .Klosters
Rout Se. Michel an der Küste der Normandie, von wo Barbus und Blanqui
^'se durch die Revolution von 1848 befreit wurde».
Zunächst trat nun Ruhe el», und wenn einige von den alten kommunistischen
^eheimbünden bestehen blieben und neue, z. B. die sogenannte Marianne, im
Entstehen begriffen waren, so wagten sie sich nicht in Pulsader, ^, sondern nur
in Attentaten hervor. Das Attentat QnenissetS, der am 13. September 1841
bei der Rückkehr des Herzogs von Anmale ans Algier einen Schuß auf die
Gruppe der ihn am Thore der Pariser Vorstadt Se. Antoine empfangenden
königlichen Prinzen abfeuerte, hob einigermaßen den Schleier von diesem
Treiben. Qnenisset, ein Arbeiter, gestand, daß er Mitschuldige habe, die sich
wie er zu den ^'lÄvaMeurs vMUWires hielten, sich in einer Schenke zum
Sturze des Thrones verschworen hatten und dieses Unternehmen mit Ermordung
des ersten besten Mitgliedes der königlichen Familie, das ihnen vor Ange»
komme, beginnen wollten. Neben dem wilden und gewaltthätigen Kommunismus
mit seiner Güter- und Weibergemeinschaft gingen der oben geschilderte Cabetsche
und die Bestrebungen der sogenannten Reformisten her, die weder eine Schule
mit bestimmter Theorie noch eine feste Gesellschaft mit deutlich ausgesprochenen
Zielen bildeten, aber gleichfalls dem Arbeiterstande angehörten, worin sie die
Klasse der Gebildeten und Gemäßigten vertraten. Sie wollten zunächst so
wenig wie die Cabetisten zur Verbesserung der Lage des Proletariats Gewalt
anwenden. Teils mit den Republikanern verwandt, indem sie die Reform des
Wahlgesetzes und zuletzt das allgemeine Wahlrecht forderten, teils mit den
Sozialisten und Kommunistin?, insofern sie vou Regierung und Kammern Be¬
günstigung des Proletariats erwarteten, gehörten sie zu densenigen Arbeitern,
die ernsthaft und selbständig über die Lage ihres Standes nachgedacht hatten.
Das Organ dieser ganzen Richtung war das Blatt I^teäwi,', das sich an¬
fänglich nur mit den innern Angelegenheiten des Arbeiterstandes beschäftigte,
bald aber anch weiterliegende Gegenstände ins Bereich seiner Betrachtungen
zog und Einfluß auf die ganze soziale Bewegung gewann. Unter seinen Mit¬
arbeitern befanden sich auch viele Arbeiter in Werkstätten und Fabriken, z.
Albert, der später Sekretär der provisorischen Regierung wurde. Doch hatte
diese Richtung, eben weil sie kein System aufstellte und sich nicht zu einer
Gesellschaft ausbildete, geraume Zeit keine rechte Macht, und sie gewann erst
Bedeutung, als sie sich der politischen Bewegung zuwendete, ans der die
Februarrevolution von 1848 hervorging, der sie dann mächtig vorarbeiten hals-
Wir versuchen nun, die Verhältnisse und Wege darzustellen, die zur Be¬
teiligung des vierten Standes an der Februarrevolution und dazu führten,
daß dieser Stand für eine kurze Zeit die Hauptrolle spielte. Mit dem Erfolge
der Revolution von 1830 war für das Staatsleben Frankreichs eine verhängnis¬
volle Thatsache ins Leben getreten: die unbedingte Ehrfurcht vor dem Throne,
die nicht nach Gründen fragt, aus denen sie empfunden wird, sondern sich ih>u
als einer von Gottes Gnade geschaffenen und in Vererbung erhaltenen Ein¬
richtung unterwirft, ein Gefühl, das den stärksten Grundpfeiler des Königtums
bildet, weil es das Königtum auch im Berfassungsstaate, wenn er nur den
Parlamentarismus ausschließt, über die Parteien erhebt, war gebrochen. Das
Volk, das die .Krone einen Augenblick in den Händen gehabt und sie dann
einem andern gegeben hatte, der nicht erblich legitimirt, nicht von Gottes
Gnaden, sondern vom Willen des Volkes zum Herrscher eingesetzt war, sah fortan
die Krone als sein Eigentum an, über das es auch verfügen könne. Der neue
König, Ludwig Philipp, dagegen sah, anfangs im stillen, die Krone nach dein
Grundsätze der Legitimität als etwas über dein Volkswillen stehendes an. war
aber zu klug, um nicht zu begreifen, daß es ihm unmöglich sein würde, seine
Anffassuttg aus eigner Kraft durchzusetzen. Es schien ihm unvermeidlich, wenig¬
stens noch einen Halt zu gewinnen, indem er sich mit der stärksten Gewalt in
der Gesellschaft verbündete und sich darauf stützte. Diese aber war damals
das Bürgertum, die mehr oder minder besitzende Klasse, die Bourgeoisie, die
sich anfänglich noch in eine monarchische nud eine republikanische Partei spaltete.
Zwischen beiden stehend, beide als ein Ganzes zu benutzen, war unmöglich; sich
der monarchischen Partei zuzuwenden, ohne die Republikaner zu vernichten,
hieß das Königtum selbst zu einer der Parteien machen. Daher war die
äußerste Bekämpfung der Republikaner gebieterische Notwendigkeit, und zu
diesem Kampfe gaben die Umstände dem König Mittel und Gelegenheit an die
Hand. Die Bourgeoisie, die höhere und mittlere Geschäftswelt, bedürfte ge¬
sicherten Kredit, und dieser verlangte Ruhe im Staate, die Republikaner aber
bedrohten und störten mit ihren Bestrebungen diese Ruhe ohne Unterlaß. Die
'^egiernng schien, wenn sie die Aufstände der Republikaner niederwarf, allein
für die Interessen der Bourgeoisie zu arbeiten, der König nur deren Beschützer
und Förderer zu sein. Die Folge war. daß sich die große Masse derselbe»
allmählich entschieden an ihn anschloß. Er siegte mit der Nationalgarde, dem
bewaffneten Bürgertnme. nud mit der öffentlichen Meinung ans allen Punkten
über die Republikaner. Diese Zeit erstreckt sich etwa bis 1836. Es ist die
Zeit des Aufsteigens des neuen Königtums. Aber der König sah auch voraus.
unes Sicherung der öffentlichen Ruhe auch der rechte Flügel des Bürger¬
tums sich, wenn anch nur aus verfassungsmäßigen Wege, mit parlamentari¬
schen Mitteln und mit Benutzung der Preßfreiheit gegen die Obergewalt des
Königtums wenden und sich bemühen werde, es seinen Interessen möglichst
dienstbar zu machen. Er mußte daher einem weitern Schritt thun und jeden
Angriff, der sich gegen die Regierung richtete, als Angriff auf das mit ihm
herrschende Bürgertum darstellen lassen, wozu die kommunistischen Selten und
^e Sozinldemokraten mit ihren Attentate!, und Revolten willkommene Gelegen¬
heiten lieferten. Nun begann eine neue Taktik. Man ging von der Über-
^ugung aus, daß der Republikanismus ausgelebt habe, aber die nahe Ver¬
wandtschaft desselben mit der Sozialdemokratie und dem Kommunismus machte
^ möglich, alle Bestrebungen des vierten Standes als Gefahr für das Eigentum
^scheinen zu lassen. Es gelang damit, die Bourgeoisie durch Angst und Schreck
^ dem Proletariat weiter für das „Bnrgerkönigtum" zu gewinnen, und sie
sich sorte Beschränkungen ihrer Rechte ruhig gefallen. Nur die Opposition
in der Kammer klagte noch laut und lebhaft darüber, doch war auch sie all¬
mählich schwächer geworden. Die Regierung durfte es wagen, die Presse und
das Vereins- und Versammlungsrecht zu beschränken. Das Königtum herrschte
eine Zeit laug wirklich fast so gut wie allein und hatte dabei im ganzen die
öffentliche Meinung auf seiner Seite. Allmählich aber bereitete sich eine Wen¬
dung vor, die bergab ging. Die Aufstände und Attentate waren ans der
Mode gekommen, aber die Staatsschuld war bedeutend gewachsen, und die
Steuern stiege», die Regierung wurde von den Besitzenden aller Klassen als
^last empfunden, man fühlte, das; der Schutz, den der König gewährte, teuer
zu stehen komme. Man forderte daher „Reformen," zuletzt vorzüglich ein
Wahlgesetz mit einem Zensus, der auch Wühler von sehr geringen, Besitze zu¬
ließ. Je tiefer hiunb man aber hier ging, desto weniger Anhänglichkeit an
das Königtum traf mau an, und gelang die Wahlreform, so mußte es über
kurz oder lang weichen. Der Plan der Regierung beruhte seit !^wo
Guizot an ihre Spitze gestellt wurde, zunächst ans der Ansicht, daß die
öffentliche Meinung auf jede gewaltsame Änderung der politischen Zustände
und Einrichtungen verzichtet habe und es nnr darauf ankomme, in Paris so
viel Macht zu vereinigen, als zur llberwältiguug einer etwaigen plötzlichen
Bewegung erforderlich sei. Daher die Befestigung der Stadt Paris und ihrer
Kasernen, die Entwaffnung der Nationalgarde in den Prvvinzinlstädten und
die Übung der Söhne des Königs in militärischen Dingen. Sodann aber
mußte auf verfassungsmäßigen Wege geschehen, was die Monarchie weiter
befestigen zu können schien, und um dies thun zu können, hatte mau sich der
Mehrheit im Hause der Abgeordneten zu versichern, die denn auch, zum Teil
mit sehr unwürdigen Mitteln, gewonnen wurde. Mit dem öffentlichen Recht
und der öffentlichen Macht in der Hand hoffte mau dem Sturm erfolgreich
begegnen zu können, der sich von verschiednen Seiten zusammenzog. Die
Korruption in der Beamtenwelt, die bis zu den Ministern hinaufreichte, die
bestochene Kammermehrheit, die klägliche Politik Guizots in der Schweiz und
in Italien empörten immer weitere Kreise. Man verlangte eine Änderung,
und da dieser die Mehrheit des Abgeordnetenhauses im Wege stand, forderte
man ein besseres Wahlgesetz. Ein solches war vorzüglich gemeint, wenn das
Verlangen nach Reformen zuletzt in aller Welt Munde war. Alle Stände hatten
jetzt wieder ein gemeinsames Ziel, die Beteiligung aller Klassen, auch des
Proletariats, an der Volksvertretung und Gesetzgebung, die Gleichheit aller a»
der Wahlurne. Die Regierung glaubte aber darauf nicht eingehen zu können,
denn vollzog sich die Wahlreform, so war selbstverständlich an Gewinnung
der Mehrheit der Kammer für das Ministerium kaum noch zu denke»-
Man rüstete sich also auf beiden Seiten zum Kampfe. Als er losbrach,
fochten gegen die Regierung drei Parteiein die liberalen oder Konstitutionellen,
die Guizots konservative Politik verdroß, die Republikaner aus der Bourgeoisie
"ut die mehr oder minder kommunistischen Sozialdemokraten, die bei den
letzten Parteien den etwaigen Erfolg des Strebens nach Reform des Wahl¬
gesetzes gleich anfangs als bloßen Durchgangspunkt augesehen hatten, während
die liberale Bourgeoisie sie als deu Endpunkt betrachtet hatte. Das Ereignis
zerfällt demzufolge in zwei Abschnitte, von denen der erste bis zur Entlassung
des Ministeriums mit seiner Politik des Stillstandes und des Zurückdräugeus
reicht. Während die Nationalgarde die Reform hoch lebe» läßt, organisirt sich
'» den Vorstädten der andre Teil, die Radikalen, das „Volk," um der er¬
müdeten Bourgeoisie die Republik abzuzwingen, womit sie die Sozialdemokratie,
die rote Republik, die Umgestaltung nicht bloß des Staates, sondern auch der
Gesellschaft im Sinne haben. Deutlich erkennt mau, wie plaumnßig sich der
Aufstand in den Vorstädten, dem Sitze des Proletariats, bis zur Stunde der
Entscheidung zurückhielt. Bis zur Entlassung Guizots und seiner Amts-
Nenossen siegte der Vürgerstand, uach ihrer Entlassung erzwangen zuerst die
reinen Republikaner im Verein mit den Sozialdemokraten zunächst die Ab¬
dankung des Königs, dann die Entfernung der Dynastie vom Throne und zuletzt
schickte sich die Sozialdemokratie an, die nun zu schaffende Republik nach ihren
Zwecken zu gestalten, sie in eine Herrschaft des vierten Standes, in einen
Staat der Proletarier zu verwandeln. Man schien einen Augenblick vor dem
beginn einer neuen Ära in der gesellschaftlichen Entwicklung Frankreichs, ja
^r ganzen gesitteten Menschheit zu stehe». Aber Tieferblickende mußten schon
damals starke Zweifel hegen, daß die Dinge sich friedlich nach dieser Richtung
umlnlden würden; denn die Gegensätze in den Ansprüchen der Parteien waren
""versöhnlich, und wie an keine allen genügende dauernde Verständigung zu
^'»ken war, so war vorauszusehen, daß die letzten Sieger bei der Februar¬
revolution ihren Erfolg sich bald wieder aus deu Hände» gleiten sehen und
sub veranlaßt sehen würden, von neuem zu den Waffen zu greifen, und zwar
ä^le» die anfänglichen Mitsieger, die nach der Natur der Dinge nicht imstande
'""ren, jhnen zu gebe», was sie als Anteil an der Siegesbeute forderte». Sehr
bald wurde diese Vermutung zur erschreckendem Thatsache, die aber zuletzt in
^"e Beruhigung und einen Trost ausging, mit deuen sich nur eine War¬
tung für die Zukunft verband.
I» dem Pariser Juniaufstand erhob sich die Sozialdemokratie in ihrer
lo'zen gräßlichen Natur und Gestalt, unmenschlich, ein blutiges, rasendes Uu-
Müm, halb Teufelei, halb Unsinn, stark in den Zahlen und Massen, die ihrer
,^e» Fahne folgten, aber schwächer an der höhern Kraft, die den Gegnern die
Gesittung und der Besitz verliehe». Mehrere Tage schwankte die unerhört
schreckliche Varrikadeuschlacht, das Proletariat fehle» eine» Augenblick dem Siege
''"he, erlitt aber zuletzt eine ungeheure, für lauge Jahre entscheidende Nieder-
die höher» Stände, die Gebildete» und Gesitteten gewannen die ihnen
s"r einige Zeit halb entrissene Gewalt vollständig wieder.
Wer unsrer Darstellung bisher aufmerksam gefolgt ist, wird begreifen,
warum und wie es zu dieser blutigen Auseinandersetzung der Bourgeoisie und
des Proletariats im Lager der Demokraten kommen mußte. Seit dem Triumphe
der Februarrevolution verließe» die Forderungen des siegestrunkenen, durch
sozialistische und komnrunistische Phantasiegebilde erhitzten, seit langer Zeit von
den geheimen Gesellschnfteu mit Neid und Haß gegen die Besitzenden erfüllten
und aufgesetzten Proletariats den Boden des geschichtlich gegebenen und uach
der Natur der Dinge möglichen vollständig. Seine Ansprüche und die Not
des Augenblicks führten zur Errichtung von großen Werkstätten, in denen der
Staat der Arbeitgeber und Lvhuzahler war und als gewaltigster Konkurrent
die unbedingte Herrschaft über die private Gütererzeugung, mit andern Worten,
über das werbende Capital der Einzelnen erlangen sollte. Der Versuch be¬
drohte also, wenn er nicht bloß zeitweilig die Lage der Arbeiter verbesserte,
die infolge der durch die Revolution herbeigeführten Geschäftsstockung brotlos
geworden waren, sondern eine dauernde Einrichtung schuf, den gesamten indi¬
viduellen Besitz des Landes und stellte somit die Rechte der Persönlichkeit und
die Grundlagen aller Lebensverhältnisse in Frage. Man sah in der Ferne
den Kommunismus und zunächst wenigstens eine Welt sich ausbilde», wie
Fourier sie sich gedacht hatte. Aber die Umwälzungen, die man von der Zu¬
kunft erwarten mußte, hatten als bloße Wahrscheinlichkeiten weniger Bedeu¬
tung als die unmittelbaren Folgen des Experimentes, das seine Unnatur und
Unvernunft ohne Verzug zu äußern begann. Die Nationalwerkstütteu ver¬
schlangen mit ihrer Gleichstellung der Fleißigen, mit den Trägen, der Geschickten
und Geübten mit den Untauglichen die Mittel deS Staates und leisteten wenig-
Ein Teil der Arbeiter ließ sich geradezu ans öffentliche Kosten ernähren und
steigerte dabei noch seine Ansprüche. Es wurde immer klarer, daß eine Er¬
weiterung der Einrichtung über ganz Frankreich in kurzer Zeit das Kapital
der Nation völlig aufzehren, alle Quellen der Produktion versiegen lassen und
mit allgemeiner Verwirrung und Zerrüttung endigen würde. Gegen einen
solchen Verfall und Untergang mußten sich die Besitzenden und Gebildeten,
mußten sich überhaupt alle erklären, die sich einige Einsicht und einigen In¬
stinkt für die Zukunft bewahrt hatten. Die Staatswerkstätten wurde» zunächst
nach Beschluß der Nationalversanunlung einer Umgestaltung unterworfen, die
als erster Schritt zu ihrer Auflösung angesehen werden konnte. Das Pro¬
letariat aber, bearbeitet, gehetzt und geführt von phantastischen Schwärmern
und ehrgeizigen Strebern, griff in dem Augenblick, wo man Hand an du'
öffentliche« Beschäftigungsanstalten legte, zu den Waffen, um sich nicht nur
die Staatsgewalt, sondern auch die Welt der materiellen Güter durch eine»
Kampf auf Leben und Tod zu erobern.
nim tiefer» Einblick in Cladius Charakter gewinnt man, wenn
man die auf seine Privatverhältnisse bezüglichen Papiere zur
Hand nimmt, die sich in ziemlich großer Zahl erhalten haben.
Einen Hauptbestandteil bilden seine massenhaften, man kann wohl
„sagen Rettelbriefe, sowie seine zahlreichen Beschwerden über er-
uttene Unbill, die er an den Herzog Karl gerichtet hat. Denn der Fluch'Mich Lebens waren die Schulden und die daraus sich ergebende völlige Zer¬
rüttung seiner amtlichen und privaten Verhältnisse. Wie er dazu gekommen
ist nicht recht ersichtlich. Er war — abgesehen von den andern schon
^wähnten Einnahmen — mit einem jährlichen Gehalt von !j00 Thalern an-
^stellt worden, der sich nach einiger Zeit bis auf 500 Thaler erhöhte, sodaß
^ »ur 100 Thaler weniger bezog, als der Anfangsgehalt Lessings betrug.
dem damaligen niedrigen Preise der Nahrungsmittel und der übrigen
""tweudigeu Lebensbedürfnisse hätte er damit recht wohl auskommen können,
^ "se als er sich — das Jahr habe ich nicht ermitteln können — mit der Tochter
Pastors Conerus zu Zellerfeld verheiratete, da die Ehe ohne Kinder blieb
?eine Frau ihm zwar kein großes Vermögen zubrachte, aber von Hans
^us doch nicht ganz unbemittelt war. Aber bald geriet er in Geldverlegen-
^ten, deren erste Anfänge bis in das Jahr 1761 zurückreichen. Sei es, daß
^ne F^, „j^t zu wirtschaften verstand oder daß er selbst eine etwas ver-
Ivenderische Ader hatte — man wird geneigt sein, das letztere anzunehmen,
^Ul mau erfährt, daß er für eine» Zeitraum, wo er dem Fleischer 72 Thaler
mutete, bei dem Hofkellermeister eine Rechnung von 115 Thalern für Frauz-
M bezahlen hatte —, genug, er steckte 1768, also zwei Jahre vor Lessings
^ersiedeluug nach Wolsenbüttel, bereits so tief in Geldnöten, daß er unter
7-Juli deu Herzog „um gnädigste Hilfe zu gänzlicher Tilgung seiner ihn
»ist Schulden anzuflehen sich erdreisten mußte, da seine (Äsclitors»
' Acacht auf ihn eindrängen und ihm mehrere KxLLutionW den gänzlichen
stttrz drohten." Zugleich setzte er in einem sehr ausführliche» Schreiben
von demselben Datum dein Geheime» Rate und Staatsminister Schrader von
schlichtete seine Bedrängnisse und deren Ursachen nus einander. Lebhaft be¬
klagt er sich darin, daß auf sein am 4. Februar überreichtes Memorial bis
zur Stunde noch keine günstige Resolution noch Hilfe erfolgt sei: sein bestes Kleid
habe er nach dem Leihhause bringen müssen, wo es noch stehe; aber dies seien
nur die Vorboten härterer Unglücksfälle und fast unüberwindlicher Bedürfnisse
und Bedrängnisse gewesein Als er von dein auf das Kleid geborgten Gelde
nach bezahltem Aufenthalt in Vraunschweig wenige Thnler nach Hause gebracht
habe, habe er gemeint, mit einem gewisse« Major, der auch im „Blauen
Engel" logirte und mit dem er gratis nach Wolfenbüttel herübergefahren sei,
ein gutes Geschäft zu machen. Dieser habe ihn ersucht, ihn gegen Geld und
gute Worte ein paar Tage zu beherberge». „Ich daukete Gott — fährt er
fort — für die Hülfe in der größte» Noth und hoffte einen großen Fund
gethan zu haben. Allein 6 Wochen mußte ich ihme nebst dein Diener I^vgis,
Essen, Wein und alles nöthige gebe», sogar eine Reise nach Homburg und
Goslar in der grimmigste» Kälte in seinen ^.Ilnirim verrichten, »»d endlich
bekam ich die Hülste von dem, was er mich gekostet hat, wo ich noch daran
bezahle." Und ungewitzigt dnrch solche Erfahrungen, ließ er sich die Leute
uuter großen Versprechungen abermals aufschwntzeu und gab ihnen drei Woche»
Logis und Essen. „Allein sagt er — das allhierzn hebende Geld blieb ans, und
der Herr Major blieb aus, und um letzten Morgen desertirte der Bediente und
nahm zur Danksagung aus unserer Stube meine an der Wand Hangende Taschen¬
uhr, das einzige Stück, so ich von meinen l'rgt.iosiiz noch habe, diebischer Weise
mit fort." Der Herr Major nud die Frau Mnjvrin versicherten, daß sie nichts
dafür könnten und bedankten sich für die Bewirtung. „Das war — fahrt er
fort — der erste Aufzug. Dazu kam der Gram über das Ausbleiben meiner
Hülfe und gnädigsten Uvsolrckion, die ich stündlich hoffte, der Geldmangel und
dieser nicht allein, sondern die täglichen, theils schriftlich theils mündlich n»d
grob genug geschehenen Mahnungen meiner Gläubiger. Ich verkaufte meine
Pistolen, einige Bücher, die ich erst in der Burckhardsche» Auction erstände»
hatte und sdie^ noch uicht einmal bezahlt sind, meine Frau schnitte von ihrem
Brautkleid die goldenen Spitzen vom Unterrock und verkaufte selbe an eine
Judeufrau in höchster Noth nebst einem goldenen mit Granaten besetzten Hals¬
bande vor 12 Thaler, da der Wert über 40 Thaler war. Unterdessen käme»
meine Frau Wirthin Gnaden, da mußte die Hausmiethe bezahlt werden (diese
bin ich in meinem Leben niemals schuldig geblieben). Ich mußte Rath schaffe»'
Hausmiethe geht vor alles." So geht es weiter, bis der Schluß von allem
kommt, n»d dieser ist kein andrer als der sich gewissermaßen von selbst ver¬
stehende Antrag: Sr. Hvchfiirstliche Durchlaucht möge die Gnade haben, die
sämtlichen Schulden des Bittstellers im Betrage von 1058 Thaler 6 Grvsche»
zu bezahlen. „Gott wird — so schließt das Schreiben an den Herzog co
1V00faltig ersetzen, der Ew, Hochfürstliche Durchlaucht bis in das späteste
Alter erhalten wolle, als worum täglich betet und einig beten wird Ew. Hoch¬
fürstliche Durchlaucht, meines gnädigste» Herzogs und Herrn Herrn, unter¬
tänigster Knecht <üg.r1 ^olianri ^.non von Oleum."
Es folgt nur in langer Reihe, oft uur durch kurze Zwischenrä>ime von
einander getrennt, Gesuch auf Gesuch, Bittschrift auf Bittschrift, alle ohne
Ausnahme Geldspenden, Gehaltsvorschüsse, Abwendung der drohenden Exekution,
Befriedigung seiner Gläubiger verlangend. Sämtliche Schriftstücke sind un-
»nttelbar an den Herzog gerichtet, aber bis zum Tode des allmächtigen
Ministers von schlichtete regelmäßig von einem entsprechenden Schreiben an
diesen begleitet. Wie ihr Inhalt mit unwesentlichen Veränderungen immer
dasselbe Thema behandelt, nämlich seine Schuldenlast, seine Unfähigkeit, sie
on tilgen, seine unglückliche Lage, endlich seine Hoffnung und Erwartung, der
Herzog werde ein Übriges thun und ihm helfen, so sind auch die stilistische
Form und der Ausdruck durchweg dieselben, nnr daß er mit der Zeit anfängt,
^dringlicher, ja unverschämter zu werden, und trotz der wiederholt geleisteten,
"se bedeutenden Hilfen von höchster Stelle statt zu bitten zu fordern und auf
euie gründliche Beseitigung seiner Geldbedrängnis wie auf ein ihm zustehendes
^echt zu pochen. Es würde die Geduld des Lesers ermüden, wollte ich ans
diese Schriftstücke näher eingehen. Nur einige Briefeingänge mögen wegen der
rhetorisch-pathetischen Färbung, die sie fast sämtlich tragen, noch herausgehoben
werden. „So wie einem zum Tode ausgeführten armen Sünder — schreibt
^' einmal — zu Muthe ist, wenn er mit verbundenen Augen entweder den
Ichröcklichen Schwertstreich oder ein begnadigendes Halten?! erwartet, nicht
besser, Gnädigster Herzog, ich getraue eS mir nochmals unterthänigst zu be¬
feuern, nicht besser ist mir bey meinen jetzigen erbarmnngsmäßigen, elendesten
^'"ständen zu Muthe." Ein andermal: „Wer nicht schreyet, wenn ihm das
besser im Halse steckt, ist keines Mitlehdens werth, der aber verloren, welcher
"As allen Kräften Hülfe gerufen, aber keine erhalten hat."
Es ist bewundernswert, mit welcher Langmut der alte Herzog Karl diese
'estäudigen Klagen und Bitten sich nicht nur lange Jahre hindurch hat ge¬
sellen lassen, sondern mit welcher Gewissenhaftigkeit er sie auch augenscheinlich
alle ges^„ geprüft, kurz mit welchem wahrhaft fürstlichen Wohlwollen
^ lie behandelt hat. Auf manche hat er eigenhändig dekretirt, die übrigen
^euigstimZ mit einer kurzen Bemerkung den betreffenden Behörden zum Bericht
"verwiesen. Niemals ist dem ungestümen Bittsteller ernstlich bedeutet worden,
er sich vuhig zu verhalten habe, obwohl in seinen Eingaben oft starke
^u>ge und bisweilen in schroffster Form gesagt wurden. So stellte er z. B.
^'"er Zuschrift vom V. Oktober 177/; die kaum glaubliche Behauptung auf,
"daß der nunmehr in Gott ruhende Herr Geheimte Nath vou schlichtete ihm
^ theuerste noch kürzlich wiederholte Versicherung gegeben habe, daß, wenn
er sich still hielte, bis schlichtete ihm das von LereniWimo schon meno 1758
zu seinem Behufe gnädigst verwilligte und ihm aufgetragene Gnadengeschenk
anschaffen könne, es mit seiner Sache niemals zum eoucmr« kommen solle, so
wahr er ein ehrlicher Mann wäre: leider sei aber das besagte Gnadengeschenk
dem Herrn von schlichtete damals von Sr. Durchlaucht dem Erbprinzen zu
andern: Behuf unter der Hand weggenommen worden,"
Eine eigentümliche Rolle bei diesen sich ewig wiederholenden Bettelbriefen
spielt eine gewisse, in den Schleier des Geheimnisses gehüllte Schrift, die Cichin
dem Herzog in einem Augenblick guter Laune, vielleicht nach einem guten und
reichlichen Mittagsmahle abgeschwindelt zu haben scheint. Er spricht davon
nur in unbestimmten Andeutungen, gebraucht diese aber wiederholt, um einen
möglichst kräftigen Druck auf die Entschließungen des Herzogs auszuüben.
Nach seiner Darstellung hing die Sache folgendermaßen zusammen. Bei
Cladius Verheiratung hegte dessen Schwiegermutter, die Pastorin Conerns, be¬
greifliche Bedeiileu in Bezug auf das Los, das ihrer Tochter an der Seite
eines solchen Mannes wartete. Sie wollte ihre Zustimmung zur Hochzeit
nur unter der Bedingung geben, daß sich der Herzog auf eine angemessene
Art gewissermaßen für die Sicherstellung der jungen Fran gegen etwaige
Nnhrungssorgen verbürge. Bei einem Aufenthalte des Herzogs in Nlanlenbnrg
stellte dies Cichin dein Herzog mit beredten Worten vor und wußte ihn zu
bewegen, daß er unter ein Schriftstück, ohne es weiter anzusehen oder gar
durchzulesen, seinen Namen setzte. Der Wortlaut dieses Schriftstückes, seiner
„Gnadenschrift," wie Cichiu es wiederholt nennt, ist mir nicht bekannt, da es
— nur werden sehen, weshalb und auf welche Weise — aus den Akten ver¬
schwunden ist. Cichin behauptet, daß ihn der Herzog darin an Kindes Statt
angenommen habe. Jedenfalls wird das Papier bei dem stark nach Erpressung
schmeckenden Gebrauche, den er von ihm zu machen nicht abließ, wenn nicht dem
Herzoge, so doch der Schatulleuverwaltuug unbequem und lästig geworden sein.
„Der Lovret^rin« von Oicmiu - - so lautet das Konzept eines Berichtes der letzter»
an den Herzog — hat sich wegen einer u»l>- vt »vrepirlvu gnädigsten Dvola-
r-runa, die er selbst aufgesetzt und Ew. Durchlaucht zu Blankenburg vollzogen,
in den Sinn kommen lassen, daß Ew. Durchlaucht eine väterliche Neigung ihm
versichert, und verlangt die Bezahlung seiner ans 1400 Thaler hinanlanfeude»
Schulden. Ew. Durchlaucht I)on1u,rs,ton wird er nicht, ohne eine beträchtliche
Summe zu erhalten, cinßer Händen lassen: ich stelle unterthänigst anheim,
Ew. Durchlaucht nicht jemand gnädigst voinnnttieren wollen, die Sache dahin
abzuthun, daß er gegen livtnulllwn der etwas anstößigen Versicherung nut
einem Stück Geld von etwa 100 Thalern lind demnächst mit seiner mehr jais!
zu reichlichen Besoldung sich begnügen müsse." Der Herzog scheint diesen
Vorschlag gut geheißen zu haben, und der Jemand, den man mit der A»^
führung desselben beauftragte, war der Geheime Rat und Oberjägermeister von
Hohn. Wie sich dieser des ihm gewordenen Auftrages entledigte, davon ent¬
wirft Cichin in einer spätern, drei Jahre nach Hoyms Tode an den Herzog
gerichteten Beschwerde folgende drastische Schilderung! „Sr. Excellenz habe»
^ertZMWimi Schreiben in der Hand: der Herzog will haben, Seine Schulden
sollen bezahlt (nicht vorgeschossen) werden, und damit Er nicht nöthig habe,
neue Schulden zu machen, sollen Jhme die vor einigen Jahren abgenommenen
^0 Thaler zur Verbesserung, auch das statt der abgenommen 10 Klafter
freyen Holzes gebetene Holz zu (i Klafter xro -uno wiederum zugeleget werden:
^ Er damit zufrieden? — Antwort: Mit empfindlichst allerunterthänigstein
Danck. — Sr. Excellenz verlangten nunmehro die in meinem Nomorml erlvähnte
^»adenschrift, worin LörsnissimiiL mich an Kindes Statt angenommen und für
"kein ferneres Glück zu sorgen versprochen hätten, lW. nur zu sehen — ich
übergab sie (in Angst) und bekam sie — — — nicht wieder: sie wurde weg¬
gelegt Niemand zwey Groschen dafür geben würde, und noch
Mehr — ...... angedeutet. Mir war diese Schrift versichert mehr werth, aber
'Ulm war ich darum, aber auch nun änderte sich die Sprache und die ganze
^)che s^. merklich. Des Nachmittags mußte ich den Hofrath Otto mit-
^'niger, und da wurden die zur Verbesserung (und damit ich nicht nöthig
hätte, wiederum in Schulden zu kommen) zugelegten 100 Thaler limitiert mit
Zusätze: In Herr! die soll Er erst haben, wenn alles zurückbezahlt ist,
' h> also eine Zulage nach sieben und einem halben Jahre, wenn ich noch
"'e, zur Verbesserung. Man hänge einem Kinde, damit es verhungere, das
^rode überm Kopfe höher, als es erreichen kann, es wird sicher sterben, aber
"Kab dieser Naximv kann kein Mensch dafür: es hat Brodt, es ist ihme ge-
'^'u, und alles, wie befohlen worden, geschehen. O, meine Gnadenschrift!
^erer Auslieferung hat nur alles Unglück zugezogen!"
dem ewigen Einerlei dieser Klagen, Bitten und Aufschneidereien be¬
gegnet nnr eine Episode, die einiges Interesse beanspruchen kaun, wäre es
'"^'h >zur, weil Lessing darin eine Rolle, freilich nnr eine kleine Nebenrolle
spielt hat. Cichin wohnte — es muß ihm wohl seine frühere freie Wohnung,
^ueichr infolge seiner Gehaltsanfbessernng, später entzogen worden sein — im
^ahre 177^ ^in Hanse der Hofrichterin von Campen. Auch ihr war er
zwei Jahren die Hansmiete im Betrage von 110 Thalern schuldig, trotz
^ tugendhaften Grundsätze, die er früher in Bezug auf diese Art von Ver-
^ uhtnugeii geäußert hatte. Seine Frau hatte aber dafür einen Wechsel auf
Thäler ausgestellt, mit der Bedingung, daß, wenn er von der Frau von
Ca"pen wider Verhoffe» nicht angenommen würde, er sogleich zurückgeschickt
'^n sollte. Dies war nicht geschehen, und unser Bibliotheksekretär glaubte
seiner Wohnung flott und unbehelligt weiter leben zu können. Allein
'ille sich darin getäuscht habe». Durch ihren Anwalt, den Landesfiskal
'^ud, ließ Frau von Campen, ohne des Wechsels Erwähnung zu thun,
bei dein fürstlichen Polizciamt Klage erheben »ut erlangte, das; die Möbel
Cladius trotz aller Gegenvorstellungen des Verklagten mit Beschlag belegt
wurden. Und da man ihm zutraute, daß er von seinem Hausrat heimlich
Stücke ans die Seite bringen möchte, schickte Dedekind Personen in sein Hans,
die dies verhindern sollten. Aber hören wir den weitern Verlauf der Ange¬
legenheit mit Cladius eignen Worten. „Ohne Gerichte und ohne Recht dazu
zu haben, schickte er vorgestern eigenmächtig gegen Abend, da ich mit meiner
Frau in dem neuen Hause war, seinen Copisten, welcher mit Gewalt eine alte
böse Fran und einen Soldaten in meine Gesinde-Stube introducierte mit Ver¬
meide,?, sie sollten sich genau nach ihrer OrclrL richten. Diese lautet über nach
des alten Weibes Aussage: daß sie sich mir und denen meinigen gewaltthätig
widersetzen sollten, sobald wir das mindeste aus dem. Hanse bringen wollten
— MZ, lind doch ist der Wechsel immer noch in ihren Händen! — Gegen
Abend kam auch des Soldaten seine Frau und blieb die Nacht da. Sie heitzen
sich ein, trvzen, rauchen Lansewentzel-Toback, daß das ganze Haus stinkt,
bringen des Abends Stroh in die Stube und brennen die ganze Nacht'die
Lampe, welches keine geringe Feuersgefahr verursacht. Ich mußte schweigen,
wollt' ich nicht riskieren, daß sich der Kerl an mir vergreife und ich ihn stecken
müßte. Die ersten zwey Tage waren sie ziemlich ruhig. Heute aber suchten
sie Händel, das alte Weib verdräng meine Frau in der Küche vom Heerde
mit naseweisen Worten. Des Nachmittages kam noch ein Kerl, der, wie ich
glnnbe, ein l^orwlmiöMträger ist, auch dieser blieb auf Orclra des Advoeut
vsclvlvmä im Hause. Endlich kam auch dessen Weib und des Soldaten Wenn
da ward ein Gelächter, Lärm und Lpöoweel in der Gesinde-Stube, daf>
Freunde, die bei mir auf der Stube waren, wo ich jetzo aus Noth auch meine
Magd sitzen lassen muß, sagten: Nein! da würde ich toll! Noch nicht genug!
Es war Zeit zu Bette zu gehen und das Haus zuzuschließen: meine Magd
sollte die Küche, wie gewöhnlich abschließen und den Schlüssel herausbringen,
allein der 1>0re0Lkiü»unträger Hütte ihn abgezogen und mir meine eigenen Sache»
verschlossen. Ich forderte selben selbst, konnte ihn aber nicht erhalten, und
das alte Weib antwortete mir: Er hat hier im Hause nichts mehr zu bi>
fehlen: weiß er das? Hier wäre freilich der kürzeste Weg gewesen, das alte
Weib an die Ohren zu schlagen und denen Kerls, die es hätten wehren und
ihr beystehen wollen, einen Flügel vom Leibe zu hanen! Allein ein ver¬
nünftiger Mensch muß sich niemals übereilen."
Wenn schon in dieser Geschichtserzählung der gewaltige Grimm hervor¬
bricht, womit ihn das Vorgehen des Advokaten erfüllt hatte, so steigert sich
dieser noch da, wo er den Herzog selbst apostrophirt: „Durchlauchtigster Herzog-
Der niederträchtigste Bettler darf nach dem Hansfriedensrecht des Nachts "i
seiner Ruhe nicht gestöret werden, und der ärmste Schuhflicker würde, oh»c
eine Strafe befürchten zu müssen, denjenigen aus dem Hause schmeißen, der
esu ohne gegebene Ursache des Abends in seiner Wohnung turbiren wollte!
!!ut ich als ein Fürstlicher Bedienter sollte mich ganz gelassen von Leuten
geringster Gattung, als Tagelöhnern und ihren Weibern, die sich auf Anstiftung
eines gegenseitigen Urwalds rin Gewalt in mein Haus eingedrungen haben,
nuf die Schimpflichste Art prostituieren und tnrbiren lassen nud länger schweigen
können, ohne ein Unglück vorauszusehen? Das wäre von mir selbst zu viel
Erlangt! Durchlauchtigster Herzog! Ich bitte nicht um eine Gnade! Schutz,
Hülfe und Gerechtigkeit ist es, worum ich unterthänigst anflehen muß, weil ich
^' vorhersehe, daß ich in dessen Verweigerung in die unglücklichste Noth¬
wendigkeit versetzet werde, mir selbsten Hülfe und Schutz mit der Pistole in
^er Hand zu verschaffen: gegen zwey baumstarke Kerls und zwey Weiber, die
Satan auf offenem Felde Hetzen, kann kein anderer Wortwechsel geführet
werden, sobald sie Miene machen, mich oder meine Sachen anzugreifen."
Es entspann sich nun ein hartnäckiger, mit äußerster Erbitterung geführter
Kampf zwischen dem Bibliotheksekretär nud dem Advokaten, wobei sich das
Sprichwort bewährte, daß zwei harte Mühlsteine schlecht mahlen. Beschwerden,
Prvmemorias, Eingaben und Berichte flogen hinüber und herüber. Cichin,
!chou von Natur schreib- und streitlustig, war unermüdlich in dem Bestreben,
^e ungebetenen, lästigen und unverschämten Gäste aus seiner Wohnung wieder
^6 zu werden, Dedekind ebenso entschlossen und hartnäckig, sie nicht eher
Zurückzuziehen, als bis die Forderungen seiner Klientin bis ans den Pfennig
berichtigt wären. In langen, fast täglichen Beschwerdeschriften über die Bvs-
seiner Feinde, das ihm widerfahrene Unrecht, die unerträgliche Lage, in
^ er sich infolge des rechtswidrigen gegen ihn eingeleiteten Verfahrens ver-
sehe, bestürmte Cichin den Herzog. Dem vom 2. November (1770), nachts
^Wei Ah^ datirten Schreiben folgte zwei Tage später ein zweites. Darin de-
er sich nochmals über die von dein Gegenanwalt „proprm, n.ut0riwt>o,
psuclouto unternommene unschickliche, außergerichtliche Einquartierung
Wendler Leute, die gestern sogar den Hausschlüssel zu sich genommen hätten,"
^>d fügt hinzu: „Wenn ich nun Gewalt mit Gewalt zu vertreiben dnrch noch
Mehrere bestellete Leute mich hätte überreden lassen, so würde es nach ge¬
zierter IZiUÄillv gewiß Verwundete und neue Klagen gegeben haben."
^ille^lich „ergehet an den Herzog sein nochmaliges unterthänigst weh-
^^^lgstes Bitten und Ansuchen, diese Sache schleunigst dnrch ein höheres
erlebt c>x Molo untersuchen und ihm den bey Zurückhaltung des Wechsels
^lich gelegten Arrest zu erlassen und die ihm von Rechte zukommende
ure-lion wegen niederträchtiger Behandlung gnädigst nngedeiheu zu lassen."
^, hofft dieses alles umso sicherer und schleuniger zu erlangen, als sich in-
'^''scheu ein Bürge gefunden hat, der für die Summe, die er Frau von Campe
Duldete, gut zu sagen sich bereit erklärt habe. Dieser Bürge war niemand
""ders als Lessing.
Es ist ein schönes Zeugnis für Lessings Großmut und angeborene Herzens¬
güte, daß er, dem doch nach fast einjährigen Aufenthalt in Wolfenbüttel die
trostlose Lage seines Unterbeamten und dessen völlige Unfähigkeit, ihm je in
seinem Leben gerecht zu werden, schwerlich unbekannt geblieben waren, hier dem
bedrängten Manne, der überall vergebens nach Rettung ausschaute, ohne Be¬
sinnen helfend zur Seite trat. Und diese hochherzige Gesinnung wird erst in
das rechte Licht gestellt, wenn nun erwägt, in welchen bedrängten Verhält¬
nissen sich Lessing damals selbst befand. „Ich stecke — so hatte er zu An-
fang des Jahres 1770, kurz vor seiner Übersiedelung nach Wolfenbüttel von
Hamburg aus seinem Bruder geschrieben") — ich stecke hier in Schulden bis
über die Ohren und sehe schlechterdings noch nicht ub, wie ich mit Ehren weg¬
kommen will. Ehe ich in Wolfenbüttel eingerichtet bin, werde ich von meinem
ordentlichen Gehalte wenig erübrigen können." In der That hatten sich seine
Vermögensverhältnisse in der kurzen Zeit seines Wolfenbüttler Aufenthaltes nicht
gebessert, eher verschlechtert. Dennoch stellte er jetzt für den bedrängten Cichin den
schon erwähnten, vom 3. November 1770 datirten Bürgschein aus, der hier als ein
bisher noch nicht bekanntes Zeugnis seiner Herzensgüte mitgeteilt werden
möge: „Ich Endesunterschriebener bekenne hiemit, daß ich gegen Auslieferung
des bey dem Fürstl. Policey-Amte hieselbst äexomerten Liioliinischen zu
121 ri. ausgestellte« Original-Wechsels für die der Frau Hofrichteriu
von Llmrxön, daraus zukommende 110 ri., schreibe Hundert zehn Thaler,
Bürge und Selbstschulduer seyn wolle, dergestalt, daß, wenn der Herr Lsoro
tÄrius von Lüczliin längsten binnen heute-elicko über 14 Tage, folglich bis den
17. Lorrontis noch nicht würde bezahlt haben, ein Fürstl. Policey-Amt besagte
110 ri. von mir unvcrweigerlich, und ohne weitere Wiederrede empfangen
solle, dagegen der auferlegte Nöndlös-Arrest bey Auslieferung dieses Bürg¬
scheins nicht allein gehoben, sondern auch der Herr LsorotÄiius von (lie.tun
von ungerichtlicher Einquartierung und In8uItgUc>n in seiner Wohnung Polieey-
mäßig geschützet werden müsse. Gehorsamst Lessing Libliottieoarins."
Der Landesfisknl Dedetind erklärte sich nun, obgleich Cichiu „Lessings
Bürgschaft auf diese Art nicht auucihm, weil er den ehrlichen Maun vor seine
Gutheit uicht in seine Verdrießlichkeiten mengen und am Ende einer Verlegen¬
heit aussetzen" wollte, für zufriedengestellt, der streitfertige Manu konnte es
aber doch nicht unterlassen, gegen die Schlußworte von Lessings Schein Ver¬
wahrung einzulegen. In einem an das Hvchfürstliche Pvlieei-Amt gerichteten
?rvroMiorIg, vom 3. November schreibt er: „Ich bin dem Herrn IZidliotli«-
v-u-lo I.088inF sehr verdürbe», daß er durch seiue Bürgschaft der gegen den
Herrn KöorotiU'inen von Liotckn nothwendig gewesenen Härte ein Ende macht.
Was bey dieser Bürgschaft annoch mit Grnnde erinnert werden könnte, wird
Hvchfürstliches Policey-Amt ohne mein Erinnern sehen, allein ich habe Hoch¬
achtung gegen den Herrn I^v88eng' und gebe seinen Worten den völligster
Glauben, Der Schluß seines Bürgscheins hätte freilich wegbleiben müssen,
und könnte mich verdrießen. Allein dn Herr I/WÄnss seine Nsrito nicht in
der .lurisvrnäMx sucht, so kann ich das irrige Urteil übersehen. Die verur¬
sachten Unkosten muß aber der Herr 86orst!rrw8 von Lieliiu bezahlen."
Infolge dieser letzten Forderung, daß Cichin außer der zweimonatlichen
Miete während der Dauer des polizeilichen Arrestes seines Hausrath auch noch
sämtliche Prvzeßkosten, „einschließlich der ihm ins Hans gelegten Wache mit
ehren Tribnlationen und Beschimpfungen" zu tragen haben sollte, ging nun
^r Spektakel aufs neue los, sodaß Lessing es für gut hielt, seine Bürgschaft
^rückzuziehen. Wieder zieht eine der verabscheuten Unholdinnen in Cladius
Wohnung ein mit der Erklärung, „sie hätte Ordre, und Macht, sich auf seine
und seiner Frauen Wohnstube zu setzen, sie wäre der Wirth im Hause, er
^it'se aber habe darin nichts zu befehlen," und wieder donnert er mit endlos
tilgen Veschwerdeschriften an den Herzog gegen diese unerhörte Vergewaltigung:
"Wenn ich, Durchlauchtigster Herzog, schou Franeiskauer- und Capuciner-
^eduld (die alles um Christi willen ertragen muß) zusnmmeuschmieden wollte,
so wäre es mir doch nicht möglich, die Gewaltthätigkeiten, Injurien und osfent-
üchen pwsMnt-louff länger und mit bißheriger Gelaßenheit zu ertragen, ohne
^nimandt vom Schlage gerührt zu werden."
Endlich erbarmte sich sein Schwager, der Gemeindeherr Cvuerus zu Zeller-
seiner Not, indem er auf sein dortiges Besitztum bei dem fürstlichen Leih¬
hause 25<> Thaler hypothekarisch aufnahm und diese dem Beklagenswerten zur
^llgung seiner Schuld sowie zur Bezahlung der aufgelaufenen Prvzeßkosteu
«ur Verfügung stellte. Damit hatte nach zweimonatlicher Dauer die unlieb-
lcmre Angelegenheit ihr Ende erreicht, wenn auch uicht Cladius Beschwerden
^ud Proteste: sie wurden noch lange mit demselben Feuereifer und mit unge-
Mvächten Kräften fortgesetzt.
Man darf auch nicht meinen, daß er jetzt, wo diese Schuld getilgt war,
^ seinen Geldbedrängnissen herausgekommen sei. Diese steigerten sich von
^ahr zu Jahr, bis endlich nach langem Hinhalten und nach vielen vergeblichen
^'lstuttgeii doch der Konkurs über ihn hereinbrach. Diesesmal mußte die Ne-
Üierung oder vielmehr der Herzog helfend eintreten. Am 2!». Oktober 177-Z
"ni ein Vergleich mit den Gläubigern zu Stande, wonach sich diese mit 25,
^us mit 20 Prozent von dem geliehenen Kapital abfinden ließen. Die
. uiniue, die erforderlich war, um so die Gläubiger zu befriedigen, wurde im
^samtbetrnge von 521 Thalern 19 Ggr. aus der KnmMrkasse vorgeschossen,
UM durch regelmäßige Abzahlungen von Cladius wieder auf 500 Thaler er-
^'^'u Gehalt allmählich getilgt zu werde». Aber nach einem Vierteljahre
^ ^' sich heraus, daß Cichiu in dem Koukurstermiue die Zahl seiner
Gläubiger nicht richtig angegeben hatte, sodaß noch weitere 248 Thaler er¬
forderlich waren, um auch die übrigen unter denselben Bedingungen zu be¬
friedigen.
Aber auch diese unter Mitwirkung der Regierung zu stände gekommene
Vereinbarung half ihm nicht dauernd, ja nicht einmal auf längere Zeit aus
seiner unbesiegbaren Geldnot. Bald sah er sich von neuem genötigt, seinen
hohen Gönner, wofür er den Herzog hielt, mit Bitten um außerordentliche
Unterstützung zu belästigen, ein Geschäft, das ihm nachgerade zur Gewohnheit
geworden war und dem er denn auch bis zu seinem Tode treu blieb; nur
daß die Gesuche seiner spätern Zeit einen sanftem Ton anschlagen und von
dem Ungestüm und der Leidenschaftlichkeit der frühern etwas abstechen.
Im Jahre 1777 wandte er sich noch einmal mit einer Bitte, und zwar
mit einer Hauptbilde, an den Herzog. Damals war die Stelle des Archiv-
sekretürs mit einer Besoldung von 4.00 Thalern jährlich erledigt. Diese Stelle
erbat sich Cichin jetzt als Nebenamt, indem er dem Herzoge, — wie es in
seiner Eingabe heißt — „nunmehr länger als 17 Jahre zu dienen die Gnade
genossen habe und für diese höchste Gnade noch mehrere Dienste, welche er
getreu und eifrig versehen und gerne übernehmen wolle und könne, offeriere.
Er beanspruche für diese Bedienung, die zu seiner bisherigen in der nächsten
(Konnexion stehe, keine Bezahlung, keine weitere Zulage an Gelde, nur bitte er
unterthänigst, ihm dafür in höchsten Gnaden nach siebenzehnjährigen treu ge¬
leisteten Diensten endlich das ^vimoizinsnt, eines Rathes mildreichst angedeihen
zu lassen, zumal Sr. Hochfürstliche Durchlaucht in hohen Gnaden längst dazu
ihm Hoffnung gemachet und er seit acht Jahren bey seinen treuen Diensten
Elende und Verfolgung genng ausgestanden habe." Als dieses Gesuch in
Gnaden abgeschlagen wurde, gab er endlich weitere Versuche auf, was umso
begreiflicher ist, als damals schon der Erbprinz einen bestimmenden Einfluß
auf die Negierung seines Vaters gewonnen hatte, der nach seiner Thronbestei¬
gung (1780) es für seine erste und wichtigste Regentenpflicht erachtete, das
durch das sorglose und verschwenderische Regiment seines Vaters arg herab¬
gekommene und tief verschuldete Land dnrch äußerste und strengste Sparsamkeit
wieder zu heben.
Gestorben ist Cichin im Jahre 179.'!. Zwölf Jahre, nachdem man die sterb¬
lichen Neste Lessinas, des größten Geistes, der je an der Spitze einer deutsche»
Bibliothek gestanden, in Braunschweig nach dem Magnikirchhvfe hinausgetragen
hatte, wurde auch sein ehemaliger Amtsgenvsse, der angebliche Kaisersohn, der
„verlaufene Mönch," ans einem der Wvlfenbüttler Friedhöfe — auf welchem,
ist nicht mehr zu ermitteln — zur Ruhe bestattet. Der ehemalige Oberarchivar
Wäterling hat ihm einen in feiner lakonischer Kürze an den Charakter einer
Grabschrift streifenden Nekrolog gewidmet, der in seiner Dürftigkeit ganz der
Dürftigkeit seines Lebens entspricht, indem er auf die Akten, denen zum größte»
Teil diese Mitteilungen entnommen sind, die Worte schrieb: „Er wurde etwa
anno 1758 als 8ooretarin8 bei Fürstlicher Bibliothek angestellt, in welcher
Bedienung er auch imvn 179!) im 70. Jahre seines Alters gestorben ist, zwar
verheiratet, aber ohne Kinder nachzulassen, wie dies mit vielen der Bibliothek-
Bedienten der Fall gewesen ist."
om Wiener Gemeinderate, als dein Vertreter der gesamten Wiener
Bürgerschaft, ist kürzlich ein Wettbewerb zur Errichtung eines
Denkmals für Ferdinand Raimund ausgeschrieben worden. Es
soll vor der Stirnseite des deutschen Volkstheatcrs seinen Platz
finden, das zwar bisher keines der Naimundischen Stücke auf¬
führt hat, von dem man aber — die Zukunft vorwegnehmend — hofft,
es sich zur Pflegestätte der heimatlichen Muse ausbilden werde. In
^n>um Wochen, um 1. Juni, soll auch der hundertste Geburtstag Raimunds
gefeiert werden. Die meisten Wiener Bühnen veranstalten eigne Raimund-
^rstellnngen, deren Reinertrag dem Denkmalsouds zufließen soll.
Der größte Volksdichter Wiens tritt also wieder einmal mit Macht in
öffentliche Bewußtsein seiner Heimat. Ganz ist er daraus trotz dem Wandel
^ ^ Zeiten und des Geschmacks niemals verschwunden. Wenn nach ihm Nestrvh,
/um Offenbach, dann die Operette, dann Anzengrnber zeitweilig die Wiener
. Mksbühne beherrschten, so haben sie Raimund doch nicht verdrängen können,
seine Stücke, mit Ausnahme des „Verschwenders," haben zwar viele
Zeilen, die man für veraltet erklären muß; aber in jedem von ihnen stehen
sind nieder andre, die nichts von ihrer Frische verloren haben, und zwar
es gerade die, die schon bei den ersten Aufführungen den größten Erfolg
und die mit ihrer vollen und doch verklärten Lebenswahrheit, mit ihrem
^fühlten Humor, mit ihrer dramatischen Kraft auch unvergänglich bleiben
^'n. Ans ihnen beruht Raimunds Unsterblichkeit. Man "denke an den
^'""er als Millionär," an den Florian im „Mädchen aus der Feenwelt,"
^den Nappelkopf im „Alpenkönig." Was Fritz Reuter für den deutscheu
^' ^' H^'^ ^ ^" deutschen Südwesten, das ist Ferdinand
'»und für den deutschen Südosten, für deu bairisch-österreichische» Stamm
und natürlich insbesondre für Wien, eine Bemerkung, die übrigens schon Martin
Greif 1871 in einem Feuilleton über den Dichter ausgesprochen hat. Aus
Raimunds Stücken spricht die Wiener Volksseele, die entschieden da ist, wenn auch
die moderne „exakt-empirische" Litteraturgeschichte diesen von den Romantikern
allerdings zu sehr gefeierten Begriff gering zu schätze» liebt. Raimund hat
die Wiener Volksseele in faßbare und sichtbare Formen gefesselt. Wer die
Wiener Volkssprache kennen lernen will, muß seine Stücke lesen: so lieblich
wienerisch hat kein Dichter wieder nach ihm gesprochen. Keiner hat auch die
guten und schlimmen Züge des Wiener Volkscharakters so schlicht und wahr
und dabei doch so anmutig dargestellt wie Raimund. Freilich nur seine Heimat
kaun ihn ganz rein nachempfinden und verstehen, wie auch Hebel und Reuter
zwar allgemein dichterische Kraft genug nufzuweiseu haben, um überall zu
wirken, aber dennoch von ihren engsten Landsleuten, die ihre Seele in ihnen
wiederfinden, noch ganz anders verstanden werden als von den andern.
Zur Würdigung und richtigen Erkenntnis Raimunds ist von wissenschaft¬
licher Seite schon ziemlich viel geschehen. Gvedeke war der erste Litterar-
historiker vou Ansehen, der Raimunds Dichtergröße feierte; Grillparzers hohe
Anerkennung wurde später in der ersten Ausgabe seiner Werke (1872) bekannt,
wo es (XI, 206) vom „Alpenkönig" heißt: „Man muß die Wüste der neuesten
deutschen Poesie durchwandelt haben, gefühlt habe», wie Naturwahrheit
und Leben aus dem begriffsmäßigen Gerüste talentloser UberschN'änglichkeiteu
sich nach und nach völlig zurückzuziehen droht, um das Erquickende dieser
frischen Quelle ganz zu empfinden. Zuerst der Gedanke des Ganzen, die etwas
barocke Einkleidung des auf der Volksbühne auch der Form nach stationär
Gewordenen, Zauberhaften abgerechnet, hätte selbst Moliere eine vortrefflichere
Anlage nicht erdenken können. Ich wollte, sämtliche deutsche Dichter studirten
dieses Werk eines Verfassers, dem sie an Bildung himmelweit überlege» sin^
um zu begreifen, woran es unsern gesteigerten Bestrebungen eigentlich fehlt,
um einzusehen, daß nicht in der Idee die Aufgabe der Kunst liegt, sondern i»
der Belebung der Idee; daß die Poesie Wesen und Anschauungen will, nich^
abgeschattete Begriffe, daß endlich ein lebender Zeisig mehr wert ist als ein
ausgestopfter Riesengeier oder Steinadler."
Die begeisterte Parteinahme des strengen Grillparzer für seine» Landsmciiin
Raimund ist nebenbei menschlich rührend. Raimund sah zu seinem gebildetere»
Freunde und Kollegen gar respektvoll empor. Er beneidete ihn um seine höhere
Bildung, seine Erfolge mit dein ernsten Drama, seine Bnrgtheaterfähigkeit. Es
lastete, dnrch persönliche Erfahrungen noch vermehrt, zeitlebens anf ihn: das
Gefühl der Unbefriedigung; weder mit sich selbst noch mit seinen doch
reichen und glänzenden Erfolgen als Schauspieler und als Dichter war er
jemals zufrieden; er war ein Hypochonder gerade so wie Grillparzer, nur daß
dieser Kraft genug hatte, die Melancholie zu überwinden und sich ins hohe
^llter hiuüberznretlen, während Raimund in einem seiner Anfälle von Trübsinn
und Angst sich erschoß. Wir wollen hier eine interessante und bisher unbe¬
kannte Mitteilung einflechten, die wir aus dem Munde der greisen Wiener
Dichterin Betty Paoli haben. Ihr gestand Grillparzer einmal, daß ihn nnr
^e Rücksicht ans das Schicksal Kathi Fröhlichs, seiner ewigen Braut, vom
^lbstmord abgehalten habe. Raimund hätte durch ähnliche Rücksichten ans
sure geliebte Toni Wagner, die er nicht heiraten durste, vom Selbstmord
zurückgehalten werden müssen; aber in seiner Seele war diese Erwägung nicht
sturk genug.
Seit der 1881 bei Konegen in Wien erschienenen dreibäudigeu Gesamt¬
ausgabe von Raimunds Dichtungen (besorgt von August Sauer und Carl
Glossy) heck das Studium Raimunds eine sichere Grundlage gewonnen, Glvssy
und Sauer haben zum erstenmale die verschollen gewesene Originalhandschrift
sämtlicher Dramen drucken können; die alte Raimnndausgabe von Vogt hatte
nnr die Theatermanuskripte benutzt, Erich Schmidt schrieb daraufhin einen in
^'ne „Charakteristiken" aufgenommenen guten Essay über den Dichter, Anstatt
^ versprochenen vierten Bandes jener Gesamtausgabe, der eine ausführliche
^bensbeschreibuug Raimunds im Nahmen seiner Zeit und der ganzen wichtigen
^schichte des damals blühenden Volkstheaters bringen sollte, ist aber bisher
"ur ein kurzer Abriß des Dichterlebens in der „Allgemeinen deutschen Biv-
öwphie" j^in Sauer erschienen, von Glossy in Zeitungen zerstreut wertvolle
"ud von stofflichen Mitteilungen aller Art erfüllte Aufsätze über Raimund.
^'Me vollständige Biographie stellt Glvssy für die Zeit der Denkmalseulhülluug
^u zwei Jahren in Aussicht, Er hat aber inzwischen noch allerlei wertvolle
-Manuskripte Raimunds gefunden, die später bei einer neuen Auflage der Ge-
^ntwerke veröffentlicht werden sollen. Ans diesem reichen Schatze hat er mir
^nndlich einige Blätter überlassen, die ich hier mitteilen will,
^ Zuerst zwei rührende Briefe Raimunds an seine Toni. Der dritte Band
^ Ausgabe weiß nur einige wenige mitzuteilen, die aber sämtlich für den.
^ermutigen Dichter sehr charakteristisch sind. Die hier folgenden reihen sich '
l^Um gleichwertig an. Es wird aber gut sei», wen» wir zuerst die traurige
^ebeogeschjch^ Raimunds in Erinnerung bringen, und zwar wolle» wir sie
/u Niemoiren des Burgschanspielers Costenoble entnehmen, der mit Raimund
Wig befreundet war und seine Unsterblichkeit zu prophezeien nie müde wurde.
"^et dem 28. August 1821 verzeichnet Costenoble folgendes:
,^'r nur stets willtammue Raimund besuchte mich, um mir seine Heirats-
zu erzählen, die ich hier wiedergebe, wie ich sie empfing. Raimund Mur
^ !M u>it der Tochter eines wohlhabenden Kaffeewirtes namens Wagner im
^ienseinverständnisse. '"^ beide ^iebesleule hofften die Einwilligung der Eltern
^,r>"» ^ ö« erhallen. Der Kaffeewirt jedoch wies die Anträge RninmndS schnöde
' und verbal dein Geliebten seiner Tochter sogar das Haus, Das verzweifelnde
Paar konnte sich um nur selten und aus der Ferne sehen. In dieser Uuglücks-
periode Wurde eine Dlle. Gleich, die Tochter eines Lokaldichters, vom Theater an
der Wien entlassen und suchte Engagement in der Leopoldstadt, Raimunds Ver¬
wendung anrufend. Von Natur gutmütig und dienstfertig, erwirkte Raimund der
Dlle. Gleich nicht nur Gastrollen, sondern auch ein gutes Engagement. Dlle. Gleich
war eine recht hübsche Person mit reiz-aber Körperfülle. Da Raimund dieser
Schauspielerin eine Anstellung verschafft hatte, so bemühte sich dieselbe anch, aus
dem reichen Talentborne ihres Mäeens zu schöpfen, und ließ sich ihre Partien von
dem Hochbegabten einstudiren. In der vo'om<zu<z sonnänlsnso der Theaterwelt
eben nicht als eine Priesterin der Vesta bekannt, geriet die Gleich in den Zustand
der Pfarrerstochter von Taubenheim, ohne jedoch, wie Rosettchen, zu verzweifeln.
Da trat nun Raimund das Bild seiner geliebten Antonie wie ein trauernder Schutz¬
geist vor seine Seele, und er wollte, aufrichtig bereuend, eine Person verlassen, die
ihm nur der Sinnentaumel nahe geführt hatte. Aber Dlle. Gleich verstand keinen
Spaß und ihr Papa noch weniger. Raimund wurde aufgefordert, die verletzte
Ehre durch Heirat wieder herzustellen. Da dieser geplagte Künstler gar nichts von
einem Junker Falkenstein im Gemüte trug, so erklärte er sich endlich bereit. Aber
schon in den ersten Tagen des Brautstandes zeigte Dlle. Gleich ein so zänkisches
Wesen, daß der Bräutigam nnr mit Weh im Herzen der hymeuäischeu Fesseln ge¬
denken konnte. Der Hochzeitstag wurde anberaumt. Die Kopulation sollte in der
Mittagsstunde vor sich gehen. Zwischen neun und zehn erhob sich, wie schon oft
geschehen, ein Wortwechsel zwischen den Ehestandskandidaten, wobei die liebliche
Braut dergestalt aus den Schranken aller Weiblichkeit siel, daß sie ihren souveränen
Gebieter voll Wild in den Finger biß. Plötzlich wurde der Bräutigam still und
begab sich hinweg. Die Braut, als ob nichts Ungebührliches geschehen wäre,
schmückte sich festlich zum Ehrentage und ließ sich in ihres Vaters Wohnung fahren,
wo die Hochzeitsgäste bereits versammelt waren. Man wartete eine Stunde, zwei,
drei Stunden — aber Raimund kam nicht. Nun wurde Lärm geschlagen. Alle
Verehrer der Antivestci, sowie alle Freunde des Loknldichters wurden in Anspruch
genommen, deu Schimpf zu rächen und den entflohenen Raimund in der nächste
Rolle zu insultiren. Das geschah denn anch mit allen Schmachregisteru. Jeder¬
mann wurde ein Ritter der beleidigten Theaterdido. Raimund, im Gefühle seiner
Unschuld, erduldete die Bosheiten und war nicht selten so humoristisch, über alles,
was er leiden mußte, sich mit Selbstsatire zu geißeln. Nun kehrte die Clique die
rauhe Seite ein und hüllte sich in Lammsfelle. Raimund wurde, nachdem das
Leopoldstädter Parterre der Insulten müde geworden, zu einem angesehenen Bürgin'
gebeten, der deu Vermittler zu machen begann. Raimund fing an zu wanken; da
öffnet sich die Thür eines Nebenzimmers, und heraus trat die hoffnungsvolle Dido,
die ihrem Flüchtling um deu Hals siel und weinend um Pnrdvn bat. Papa Gleich
setzte dem Gerührten von der andern Seite zu, und nach einigem Drängen erklärte
Ferdinand Raimund: „In Gott's Namen — i bin halt wieder gut; 's bleibt scho
beim Alten mit uns!" Die Kopulation wurde hierauf vollzöge», und die Glück-
wünsche folgten. Nach einigen Monaten genas Madame Raimund eines Kindes,
das jedoch bald starb. Das Band dieser unglückseligen Ehe ward dadurch starr
gelockert. Madame Raimund fuhr nicht nur fort, ihren Gatten zu beißen, sonder«
ihn auch heimlich und zuletzt ganz ohne Schen mit unsichtbarem Hauptschmucke zu
versehen. Der Gequälte, der Betrogene schritt endlich mit einer Klage ein um
verlangte Scheidung, die auch bald genug erfolgte, weil es an vollgiltigen Beweise»
nicht fehlte »ut Madame ihrerseits auch uach ungebundner Freiheit lechzte. Raimniu
war nun freilich der fürchterlichsten Fessel einer Megäre und Messaline entledigt,
"uiß nun aber nach katholischem Ritus jedem häuslichen Glück entsagen.
Das alles vernahm ich in breiter Erzählung von ihm, der inne aufjauchzte
wie ein Galeerensklave, welcher seiner Ruderbank Valet gegeben.
Wir haben diese Darstellung Costenobles noch aus einem andern Grunde
witgeteilt. Sie soll dazu dienen, die auch von Sauer in seinem Lebensabriß
sortgevflnuzte Überlieferung, daß es das Publikum gewesen sei, das den
Mchtigen Bräutigam Raimund an den Traualtar der Louise Gleich brachte,
°"res eine den Charakter des Dichters wesentlich besser beleuchtende Darstellung
ersetzen, die gewiß mehr Glauben als die Erzählung der Louise Pichler in
Mer „Denkwürdigkeiten" verdient. Es entspricht dem Charakter Raimunds viel
"ohr, daß er sich nur durch Bitten und Thränen zu dem unglücklichen Schritte
bewegen ließ, als durch die Skandalmncher im Zuschauerraume.
Raimund hat dann den Weg zu seiner Toni wiedergefunden: „aber nur
heimlich konnte sie ihm — anfangs wenigstens — angehören, und nicht vor
^w Altar, sondern nur vor einer Mariensäule in Neustift schwuren sie sich
ewige Treue. Auch dieses Verhältnis war jedoch dnrch Raimunds grundlose
Eifersucht und aufbrausende Leidenschaftlichkeit getrübt" (Sauer). Einen Blick
u> dieses Verhältnis gewähren uns die folgende» Briefe an Toni- Der zweite
^les gehört der reichen Autographensammlung des Wiener Schriftstellers
^"r. Kalbeck an.
Obwohl du den Ausdruck gut in deiner Aufschrift an mich weggelassen hast,
^ heiße ich dich doch so, weil du es auch bist. Wenn irgeud jemand meine
Dankbarkeit im höchsten Grade verdienet hat, so bist du es allein meine Toni.
kenne die Größe des Opfers, das du mir bringst, und weiß die Schönheit
. ,'ner Seele hochzuschätzen und keine Aufopferung in dieser Welt ist mir zu groß,
^ us dir nicht bringen könnte.
Deinen erhaltenen Brief will ich nur iuso fern berühren, als es mir wehe
nieiue Toni in eine so unangenehme Stimmung, ohne meine Schuld versezt
>ehen. Wie kannst dn glauben, daß eine wahrhafte Freude mich ergreifen
^"nec. ohne daß sie von dir ausgeht. Übrigens siehst du doch die Wahrheit
^^w^ nicht glücklichen Gesundheitsumstände nur zu deutlich ein, und daß ich mir
ni^l^u^ geben muß meine gewohnte Traurigkeit, mit Gewalt zu vermeiden,
^ches mir leider ohnehin nicht gelingt.
,y> . Doch sey nicht traurig, meine brave Toni, Gott wird mir meine Gesundheit
„^^'geben, so arg ist es doch nicht, daß ich diese Hoffnung uicht in Sicherheit
»>e! " könnte.' Könntest nur du bey nur seyn, das wäre die beste Arzney für
Seele, den(n) das hat den größten Einfluß auf mein Leben. Sage nur
rx^?^^unglückselige Dämon, erzählt dir tenir) immer solche Dinge, das müssen
ovse Menschen seyn, die eine Frende daran haben, dich zu quäle». Schaue
lieber du mich ein wenig uns deine Gesundheit, den(n) sonst müßte ich gar ver¬
zweifeln. Du darfst meinetwegen gar keine Sorge haben, ich bin gewieß nicht
so schändlich im Geringsten an dir undankbar zu handeln, halte mich doch nicht se'
verworfen, mein Herz ist gut, und »ur wenn es bricht wird es aufhören für dich
zu schlagen.
Schreibe mir, aber einen schöneren Brief, dein» wenn ich nicht mit der
Aani") gesprochen, hätte er mich sehr betrübt.
Zeit- und Ortangabe fehlen ein diesem Briefe wie ein dem folgenden, wie
überhaupt die Briefe Nnimunds selten datirt sind. Aber es ist mit viel Wahr¬
scheinlichkeit anzunehmen, daß sie ans den zwanziger Jahren stammen. Die
Handschrift des folgenden Briefes ist noch zierlicher, feiner und jugendlicher
als die des erstern, darum mochten wir ihn noch etwas weiter zur>ickdatireu>
Wie soll ich Worte des Dantes auffinde», um dir einen kleinen Beweis z»
liefern, wie tief ich die Schönheit deiner zarten Aufmerksamkeit in meinem Innern
empfunden. In meine gute Toni, nichts in dieser Welt soll uus mehr trennen
und ich glaube auch, daß du in manchen billigen Augenblicken einsiehst, wie ganz
das Herz deines Ferdinands dir nnausschließlich (hio!) angehört. Sollte ich dir
durch meine Eifersucht einige unangenehme Angenblicke verursachet haben, so vergieb
mir, aber spreche ja nie aus daß ich es sey» möchte, den(n) dn kennst mich in
dieser Leidenschaft noch nicht, den(n) wenn ich das Unglück habe von ihr ergriffen
zu werde» welches gewöhnlich erst dann geschieht, wenn eine halbe Überzeugung
die Binde meines schwärmerischen Bertrauens mit Gewalt zerreißt, dann giebt es
für mein Herz anch keine wahre Ruhe mehr, bis das Gebäude meiner Liebe
gänzlich zerstöhret. Ich glaube und hoffe von dem Herzen meiner guten Toni,
daß sie mich weder durch Wirklichkeit noch durch Schein auf die unglückliche Bahn,
eines meine Gesundheit und unsere beyderseitige Ruhe zerstörenden Zieles wird
kommen lassen.e
Ich habe ja niemand in dieser Welt, dem ich die Hand durch dieses cirw
Leben reichen möchte, als dich meine Toni, und wenn ich oft einsam sitzend, lMe
an den Hülsen meiner süßen und meiner bittern Träume die dnrch dieses Leben
mich befallen, da stehen mir die gemüthlichen Stunden unserer Liebe vor allen,
klar und diamantenhell vor meinen maßen Blicken und trocknen mit himmlischee
Muth mir die Thräne von der Wange. Die Traurigkeit meiner Seele hat sich
heute Morgens um ein großes vermehrt als ich die trüben Wollen am Hi»"'"''
und die nassen Zinnen des mir gege»überstehe»den Hanfes sah, und ein Engel vo»>
Himmel war mir der Glanz der Sonne, der mir das Glück verkündete, dich >»el"
größtes Kleinod heute sehen zu können.e
Nimm noch einmal meinen innigsten Dank für dein liebes Geschenk, und sy
überzeugt, daß niemand in dieser Welt lebt, der den Werth deiner Liebe nim
die schöne Größe deiner Aufopferung so dankbar empfindet als dein dich eiw-l
liebender
Dieser zweite Brief ist auch stilistisch interessant. Die Bilder, in denen
Raimund hier spricht, erinnern lebhaft an den Kreis phantastischer Vor¬
stellungen, aus denen „Mvisasurs Zauberftuch" entstanden ist. Die Fürstin
^'s Diainantenreiches Alzinda weint dort Thränen, die als Diamanten von
'kom Wangen fallen. Sie ist Sonnenanbeterin, ihre an die Sonne gerichteten
^erse sind von reichen, poetischen Gehalt. Ju ihrer höchsten Not rust sie
uuuier die Sonne als höchste und gütigste Gottheit an. Die Stelle unsers
Briefes: „ein Engel vom Himmel war mir der Glanz der Sonne, der mir
das GsM verkündete, dich heute sehe» zu könne»," ist darum doppelt be¬
merkenswert: einmal weil sie uns verrät, wie viel persönlichen Anteil Rai-
>»»ut i,, die Mythologie seiner Zanbermärcheu verwoben hat, und dann weil
^' uns behilflich sein kann, mit einiger Wahrscheinlichkeit die Zeit der Ab¬
lesung des Briefes zu bestimmen. Man darf an5 seinen Anklängen an
"'^oisasurs Zauberfluch" schließen, daß er zu derselbe» Zeit geschrieben wurde,
Wo der Dichter a» diesem Stücke arbeitete; das war vom März bis z»in
Juni k827.
Die zweite Reliquie, die wir hier mitteilen können, ist ein Plan Rai-
'nunds zu einem seiner Stücke, zur „Gefesselten Phantasie." Die Ausgabe
^lvssys teilt (Hi, 349 ff.) drei solcher dramatischer Pläne mit, zum „Mädchen
"us der Feenwelt," zum „Mvisnsur" und zum „Alpenköuig." Diese Pläne
ß»d deswegen von großem Interesse, weil sie uns einen Einblick in die Arbeits-
I übe des Dichters gewähren. Szenarien zu seinen Stücke» sind nicht erhalten,
^Unutlich hat Raimund auch keine gemacht, was allerdings von der Praxis
^amatischer Dichter sehr abweicht. Aber er scheint zur eigne» Klärung das
^'dürfnis gehabt zu haben, die Handlung seiner Stücke in erzählender Form
'uederznschreih^,,. Und da ist es denn merkwürdig, zu sehen, wie gruudver-
l^lebe» die Darstellung derselben Fabel in der erzählenden und in der dra-
'^tisch^, F^-in erscheint. In dem hier folgenden und in den Plänen z»
^visasnr" und zum „Alpenkönig" deckt sich die Erzählung inhaltlich mit den,
;w"'","' P^" s'U" „Mädchen ans der Feenwelt" dagegen ist in der
Zuteilung der Vorgänge im Geisterreich ungleich reicher, als das ausgeführte
"et. R^i der Dramatisiruug hat also hier Raimund allerlei fallen lassen,
^v'ß zum Vorteil seines Gedichts. Die übrigen Pläne aber zeigen uns, daß
r die Dichtungen im Geiste fertig mit sich trug. Wie Raimund dramatisch
^1 und dachte, das zeigt uns die Beobachtung, daß in der Ausführung des
Planes alle Sorgfalt sich auf die plastische und behagliche Ausgestaltung der
'tuativn, der Szene und der Charaktere richtet, die Handlung als solche aber
de» geviugsten Mittel» fortgeführt wird. Auch auf diese Eigentümlichkeit
vn-
^ ^ ^ > ^, , , , , , - —.......—
^/^uiatischen ^"'"i Raimunds hat schon Martl» Greif lange vor dem
hmgewiese», wo es uuter aiiderm heißt: „Z»vorderst habe» N'irx,.s» . ""i'V"..........." ' " ^........ ^»»>, ^ ^ ^ ^
^^'"w'i der Glosshschen Raimundausgabe (>u jenem F-cnilletvu der „Presse"
'
stillen großen Sinn für das Ziiständlichc ein ihm hervorzuheben, der zwar auch
eine echt deutsche Künstlereigenschast ist, welche jedoch, weil sie das Höchste der
künstlerischen Begabung, nämlich plastischen Geist, voraussetzt, mir sehr selten
und in eminenten Grade nur bei den größten Künstlern getroffen wird. Die
Schaulust ist eine alte Schwachheit der Deutschen und ihr opferten die deutsche»
Volksdichter, sei es nun, daß sie bloß dem geistigen Auge oder in wirklicher
Darstellung ihre Gebilde vorführten, anfänglich jeden andern Zweck, weil
er weniger von ihnen gefordert war. Auch Goethe hat im „Götz von
Berlichingen," im „Egmont" und im „Faust" dieser nationalen Eigentümlichkeit
Rechnung getragen, und vielleicht sind die Schönheiten wie die Schwächen
dieser Dichtungen, wenn mau sie als Dramen betrachtet, alle in dieser Erklä¬
rung eingeschlossen. Bei Naüuuud beobachte» wir im Grunde das nämliche.
Die Entwicklung der Seeleukoustikte hat er jedesmal durch geschickte Einfi'ch-
ruug eiues bequemen Zauber- und Götterapparates sich entweder ganz er-
spart oder ans das Notwendigste beschränkt. Alle seine Kunst hat er viel¬
mehr daran gewendet, eine glückliche Situation in ihrer ganzen komische
oder tiefernsten Natur zum schärfsten und breitesten Ausdruck zu bringen. Du'
Szene, nicht der Akt siud seine Einheiten. Diese an sich undramatische Ver¬
sa hrungsweise wird uns aber bei Raimund, der die Bühne im übrigen selp'
genau kennt, dnrch das eminente Gluck, womit er durch das Labyrinth der
Handlung zu führe» und uns fortwährend momentan zu spannen und z»
interessiren weiß, hinlänglich gut gemacht. Im Genusse der Szene vergessen
wir gern der vermißten Einheit der Gesamtanlage des Stückes" u. s. w.
Wir habe» die Stelle ganz mitgeteilt, weil in keiner der genannte»
Nnimundstndien diese sür die dramatische Technik des Dichters so wichtige Be¬
obachtung wiederholt worden ist. Und doch findet sie ihre Bestätigung bei
Raimund selbst, der seinen „Verschwender" ursprünglich nicht ein Drama z»
nennen den Mut hatte, sondern mit „Bilder aus dem. Leben eines Ver¬
schwenders" überschreiben wollte. In letzter Linie schließen sich Greiff Be¬
merkungen an Grillparzers oben angeführte Sätze an. Und um lasse ich bie
Erzählung Raimunds folgen.
Die „Gefesselte Phantasie" gehört zwar nicht zu den volkstümlichen, aber
dennoch zu den merkwürdigste« Stücken Raimunds. Seine» ganzen Dichter¬
stolz hat er i» diesem „Original-Zauberspiegel" ansgesprvche». Seine Manche
lautet: „Gelehrsamkeit allein verfasset kein Gedicht. Wissen ist ein gold»er
Schatz, der auf festem Grunde ruht; doch in das Reich der Lieder trägt »»-
mir der Phönix Phantasie" (II, 1!>5). Man hatte Raimund gleich nach sei»""
ersten Auftreten verdächtigt, daß er nicht selbst der Schöpfer seiner Stücke se>>
Das wurmte den mir allzu empfindlichen und sehr ehrgeizigen Dichter, »lib
die „Gefesselte Phantasie" war die Antwort an seine Verleumder. Die Schwäche
des Stückes hat Erich Schmidt ganz richtig bezeichnet, indem er schrieb.
.Was soll eine Personifikation des Proteus Phantasie, die nach ihrer Entfesselung
den Dichter feurig durchströmt? Der Göttin, welcher Goethe den Preis giebt.
Der ewig beweglichen
Immer neuen
seltsamen Tochter Jovis,
Seinem Schoßkinde
Der Phantasie.
Wäre demnach Amphios Preislied das denkbar größte Wunderwerk der Dichter¬
phantasie? Wahrlich, uns sind die mit Ingrimm eingeschalteten komischen
Intermezzi willkommener als der leere Zwang, sowie der Harfenist Nachtigall
hier, »ach seiner poetischen Ideenfülle gefragt, die gefüllten Ideen gleich den
üefüllteu Krapfen den nngefnllten vorzieht. Es hilft nichts, dieser lustige Kerl,
^'r die mangelnde Kenntnis des Homer durch eine» dreisten „Hmnnr" wett-
"weht. bleibt die einzige lebendige Figur des Stückes, das mit seiner Ver¬
folgung der Dichterphantasie durch Vipria und Arrogautia gewiß persönlichen
Erfahrungen und Verstimmungen Raimunds entstiegen ist." (Seite
Und >n,u das Merkwürdigste:' wie klein ist die Rolle, die der ..Klotz" von
wie», Harfenisten, die Krone des Stückes, in der folgende» Inhalts¬
angabe spielt!
Hermione die Königinn der Halbinsel Flora, welche unter dein göttlichen
Schuhe des Apollo steht, weil nicht nur ihre Beherrscherinn, sondern auch alle Be¬
wohner derselben, von der Natur mit poetischem Gemüthe beschenkt, und dnrch die
U'werwelkiichen Reihe des Landes begeistert, mit edler Leidenschaft der Poesie ^ob-
^gen; läßt daS Oracle« dieses Gottes befragen, durch welche Mittel die Ber-
!^r>mqssucht zweyer Zauberschwestern zu bändigen sey, welche sich in ihrem fried.
'."hin Lande niedergelassen, und es gänzlich zu verwüsten drohen. Das wracket
Ipricht: Wenn Hermione sich vermählt, und dein Lande einen würdigen Nomg
^)n>le, wird sie/die Macht der Zanberschwestern dadurch ltthmeiu mich prophezeiet
A dein Reiche einen Herrscher ans dem Hause von Athnnt. Das trieggeünnte
Königlich Athnnt gränzt an Hernüvnens Reich und sein Herrscher, erschien 4 Jahre*)
dem jetzigen Zeitpunkte mit seinem l kjährigen Sohn an dem Hof HermionenS.
!'ud warb für sich um ihre Hand. Hermione erwiderte entschuldigend, sie hätte
"» Tempel des Apollo ein Gelübde abgelegt, ihren Thron nur mit einem Dichter
teilen, und wenn er auch der Aermste ihres Volkes untre.
Der König von Athuut, dem Poesie ganz fremd ist und dessen Leidenschaften
"'ehr dem Kriege als der Liebe angehören, ehrt diesen Schwur, und dem Reiche
^'en Schutz versprechend, verläßt er es. Doch Amphio sein Sohn, wird von
^t'ger Liebe gegen Hermione ergriffen, und durchirrt verzweifelnd über den
schwur der Königinn" die Wälder von Athnnt. Da sinkt die Phantasie an,
Ebenen Wolken zu ihm nieder, gesendet vom Apoll, der die Prophezeihung seines
Orakels erfüllen will. Sie weihet ihn zum Dichter ein. und schwebt mit ihm nacb
Flora hin, wo er als Hirte verkleidet, durch Gedichte, welche die Milche der
Phantasie in ihm erzeugt, und durch seine edle Gestalt das Herz der Königinn
erringt, welche ihm ihre Liebe gesteht. Die Ersten des Volkes, werfen sich nun
vor den Thron Hermionens, und beschworen sie, sich zu vermählen, und dadurch,
nach des Orakels Spruch, den Übermut der Zaubernimphen zu bändigen. Da be¬
geistert die Phantasie Hermione zu der Erklärung: Sie wolle sich noch heute Abend
den zum Gemahl erwählen, der ihr bis zur siebenten Stunde die beste Dichtung
liefert,") j,ab bestimmt zum Orte der Entscheidung den Tempel des Apoll, wohin
sie alle Dichter ihres Landes ladet! und überläßt es dein Ausspruch des Orakel¬
priesters, den Stoff des Gedichtes zu bestimmen.
Priester und Volk begeben sich nach dem Tempel. Rum berichtet Hermione
ihrem Geliebten das erst Ausgesprochene, mit der Versicherung, daß er, der durch
seine Gedichte alle Dichter ihres Landes überträfe, den Preis und ihre Hand er¬
ringen müsse; und daß nur diese Gewißheit, ihr den Muth gegeben, das Preis¬
gedicht zu fordern. Amphio shalb entzückt halb ängstlich! schwärmerisch entzückt,
von dem Gedanken, mir seinem Geiste Hermionens Besitz zu verdaute», verschweigt
seinen Rang, den er in dem Augenblick im Begriffe war zu entdecken. Der Ober¬
priester Astriduro stört diese Unterredung und Hermione begiebt sich mit ihm nach
dein Tempel, um dort den Schwur zu leisten, sunt den Stoff des Gedichtes ans
dein Munde des Orakelpriesters zu vernehmen, j und Amphio verbirgt sich I unter¬
dessen > schnell. Dieses Gespräch belauschen die Zanberschwestern Vipria und Aro-
gantia und sinnen Hermionens jAbsichts Plan zu vereiteln, Vipria befragt ihren
j diamantenens christallenen Zanberstern, und es spiegelt ans ihm das Bild der
Fantasie, welche personifizirt aus den Lüften niedertaucht um Amphio zu begeistern.
Schnell ergreift sie der Gedanke, die Fantasie zu fangen, zu fesseln und dadurch
sowohl Amphio» als alten Dichtern in Hermionens Reich, die Fähigkeit zu rauben,
poetische Medantenj Ideen zu ersinnen. Sie verbergen sich, und da Amphu'-
welchen die Phantasie nach dem Tempel sendet, um den Stoff des Preisgedichtcs
zu erfahren, sich entfernt, trete» sie der Phantasie mit gespanntem Bogen und
gezücktem Pfeile rasch entgegen, diese entreißt Vipria den Pfeil und verwundet sie,
schnell lähmt ihr Arogantia dnrch einen Schuß den Flügel, fesselt sie, und fus^
sie nach dem Zauberschloß. Vipria aber, welche Hermionens Glück ganz vernichten
will, beschwört den Zanberstern, ihr den gemeinsten und häßlichsten Menschen ab¬
zuspiegeln, und dieser zeigt ihr das Bild eines BierhanSharfenistc» ans Wie».
Diesen entführt nun Vipria, im schnellen Fluge, ans der Mitte seiner, durch ihn
erlustigten Zuhörer, und eilt mit ihm nach ihrer Zauberburg ans Flora. Versprich'
ihm dort die Hand der Königin», welche sie ihm dnrch das Erdichten des PreiS-
gedichtes verschaffen will, indem sie die Phantasie zu zwingen hofft, diesen um
poetische» Klotz, durch die Kraft ihrer Begeisterung zum Dichter nmzn> schaffe"!"
wandeln. Sie hüllt daher den Harfner durch ihres Zaubersterns Berührung
goldgewirkte Kleider, reicht ihm eine goldene Harfe und befiehlt ihm, sich nach
Hermionens Pallaste zu verfügen und sich dort für einen berühmten Minstrell a»s-
zngeben, den Apoll zum Liebling sich erkoren, und an? England hierhergesam
hätte, um durch seiner Dichtung Werth die Hand der Königinn zu erringen. Dow
mischte er um die 6te Stunde wieder nach dem Znnberschloß zurückkehren, "in
dnrch Hülfe der Phantasie das Preisgedicht zu verfertigen. Der Harfner eilt no')
dem Pnllast.
Seil der Gefangenschaft der Phantasie hat nun die dichterisch begeisternde
K'ruft, das Gehirn der Poeten verlassen, vergebens beschwören sie die Musen, und
die Verzweiflung ihrer Geistesohnmacht treibt sie nach HermionenS Pallast. Dort
Ivrdern sie von der Königin Aufschub bis zur nächsten Sonne. Hermione verweigert
diesen, sich ass ihren Schivur berufend, und triumphirt lui Voraus über den sichern
^-leg ihres Geliebten. Doch nun erscheint Amphio und erklärt verzweiflungsvoll,
daf> auch er unfähig wäre, Hermionen zu besingen, (denn so heißt der Stoff des
Preisgedichts, durch des Orakels Mund verkündet.) Hermione hält dies; für einen
Spuck der Zauberinnen, und beschwört Amphio, sich in dem Tempel einzufinden,
va ihr Schwur unauflösbar sei, und sie hoffe, daß im Tempel des Apollo der
Zauber schwinden werde. Doch begibt sie sich dahin, um das Orackel zu befragen,
warum die Geistesuacht auf ihren Dichtern ruht. Dieß vernimmt ^lrvganlia und
beichtet es schnell ihrer Schwester Vipria, welche eben im Begriffe ist/die flügel-
beranbte Phantasie, dem Harfner um ein Schreibepult zu schmieden, damit sie seinein
Hirn als Sclavin diene. Durch Arogantias Nachricht erschreckt, faßt sie den Ent¬
schluß die beide» Orakelpriester in Stein zu verwandeln, und Hermivueu, unter der
gestalt dieser beyden Sprecher, das falsche Orackel zu verkünden: „Daß ein Fremd-
uug von Apoll bestimmt seh, Herinionen als Gemahl zu »marinen." Sie lassen
^M Harf»er mit der Phmitasie allein und befehlen ihm das Gedicht, welches den
^usum Hermione führen müsse, schnell zu verfertigen, und vor Ablauf der siebenten
stunde im Tempel damit zu erscheinen. Dieser quält nun die Phantasie ans
"'mische Weise ihn zu inspiriren, und da sich die Liebe dieser freyen Göttin nicht
Zwingen läßt, so macht er in der größten Angst den Plan, er wolle ein altes
^ed zum Lob einer Prinzessin gedichtet, absingen, und Hermioueus Nahmen hinein-
^rflcchteu. So eilt er nur die Phantasie verwünschend nach dem Tempel. Diese
brilugt die Gefahr, welche die Liebenden bedroht zur Raserey, sie beschwürt den
^upiter, der durch einen Blitzstrahl ihre Fessel zertrümmert, und mit freudigem
^utziicken eilt sie zu Hermivnens Rettung.
Im Tempel deS Apollo, welcher am Gestade des Meeres prangt, sind nnn
>^rmivne sammt ihrem Hofstaat, die Zauberschwestern Orakelpriester und alle Dichter
^ Reiches versammelt. Auch Amphio lehnt in verzweifelnder Attitüde an einer
^ante. Der Oberpriester fordert die Gedichte, und alle Dichter erklären einstimmig,
^» sie trotz all ihrer Gelehrsamkeit heute nicht im Stand wären, Verse zu machen.
<-a erscheint der Harfner, athemlos und singt mit der Harfe begleitend, sein elendes
^'d, empört null ihn Hermione aus dem Tempel jagen lassen, da erinnert sie
^"pria an ihren Schwur, den zu wählen, der daS Beste liefert, fordert die Dichter
vchmals ans und da Keiner das Geringste bringt, besteht sie darauf, daß Hermione
^Harfner, dessen Gedicht das Beste sey, weil es das Einzige wäre, ihre Hand
^'Hrn müsse, in dieser peinigenden Verlegenheit erscheint die Fantasie, ergreift
' "odios Hand, und ermuthigt ihn, um den Preis zu kämpfen, dieser tritt begeistert
^ Erzählt in einem kleinen Gedichte die Fabel des Stückes in Bezug ans sein
"° Hermiones Schicksal, und endet mit dem Ausruf: Er sey der Sohn des
^°"'k»s von Atynnt. Alles bricht in Jubel aus. Die Zauberschwesleru ver-
"übel,, sich wüthend in ihre wahren Gestatte», »»d ihre Rachsucht null Hermione
'hr Voll unter den Trümmer» des Tempels begraben. Da tritt die Stunde der
^^erung ein, und Apoll, der mit den ermüdeten Sommerrossen in den Schoos
s! ,, ^setis sinken null, erschaut die Entweihung seines Tempels. Die Fantasie
y. in seineu Füßen, er verbannt die Zauberschwestern in des Orkus Schlund,
'"'bei die Liebenden, ivelche nur den Spruch des Orakels erfüllt sehe», und
nachdem er der Phantasie ihr goldenes Migelpacir ersetzt und HermiouenS Land
zur Dichterinsel geweiht, Wucht er mit dem Sonnenwcigeii majestätisch in jdas Meer,
welches im Abendroth erglühtj die Muth., Tempel und Meer ergliihen im Abend-
roth, Venus glänzt am Himmel und ein feierlicher Chor schließt das Ganze.
Zum Schluß können wir noch eine Reihe von Strophen des „Aschen¬
liedes" im „Bauer als Millionär" mitteilen, die auch noch nicht gedruckt
worden sind. Glvssy teilt deren mehrere im Anhang des dritten Bandes seiner
Ausgabe mit. Je nach Ort, Jahreszeit und Gelegenheit seines Auftretens i»
dieser seiner berühmtesten Rolle (Moritz von Schwind hat damals eine sehr
charakteristische Zeichnung von Raimund als Aschenmann verbreitet) hat der
Dichter die Strophen seines Liedes geändert; in dieser Szene war der Gipfel¬
punkt des Abends, und der Beifall des Publikums rief den Dichter vor die
Lampen, sodaß er bei einer „dritten RePetition" singen konnte:
Ich sing halt fleißig drauf,
Sie nehmen's gütig auf.
's wird pascht im ganzen Haus,
Da kommt der Dall heraus.
Ihr Beifall ri'ehrt mich sehr,
Allem ich weiß nichts mehr.
Das ist der wahre G'Spaß,
Wenn mau dasteht und nichts maß!
Ein Aschen!
Das ist ein Ton ans dem Stegreif der Raiinundsehen Selbstironie. Einen
richtigen Cyklus von Aschenstrvpheu biete» die folgenden:
Oft herrscht in einem Hans
Im Fasching Saus und Braus,
Es staunt die ganze Welt,
'S Versatzamt schießt das Geld.
Zum Fasching-Diustag Ball,
Fliegt »ach der letzte Shawl,
Da Heißt'S doch nachher g'wiß
Wann Aschermittwoch is —
Ein Aschen! So »ach der Faschingszeit
Werd'u d' liederlichsten Leut'
Auf einmahl oft solid,
Das kennt mau etwa uit - -
Is euer Beutel leer
Is 's Fasten n uit schwer,
Die Leut' wkr'n gar nit dumm,
Kan Geld hab'us, irzt seyn's frunuu.
Ein Aschen!Sa Manchem is nix recht,
Im Junland miles z' schlecht,
Haut auf, es is a Grans,
Jetzt gehn ihm d' Maxcu") aus.
Z'erst war ihm 's Deutsche z' grob,
Ans Pari? war sein Garderob',
Jetzt treibt er's uit so stark.
Er kauft's aus'u Tnudelnmrk.^)
El». Asche»! Mau sieht im Gnllnlleid
Oft Madeln, 's is a Freud'
Das G'sicht wie Rvsenblührt,
Um d' Mitte» seyn's g'schnürt.
Doch sieht mau's nacher z' Haus
Is 'S mit der Schönheit ans,
Boll Rouge ivar's ganze G'frieS,
Der Wachsthum von Paris:
Ein Aschen!
Oft thut auf alle Fraun
El» matter Stutzer schaun,
Er Schnaase mit 'u ganzen G'sicht,
Warum? Es reißt ihn d' Gicht,
Tragt nnter'in. Modeg'ivaud
Francll und allerhand,
Und hat statt Schnupftaback
Schon d' Atedizin im Sack —
Ein Asche»! A Matt siech ich gehn,
A Pracht, 's bleibt alles sieh».
Wem mag die wast g'hörn?
Wem sonst? An alten Herr»,
Für d' Junge» is irzt schwer,
Sie finde» gar nix mehr,
Dus ist a wahre Plag,
D' alten Herr» hab'n All's in B'schlag:
Ein Asche»! Der co'ge Aschenuiaun
I muß sag'et verdrießt mich schon,
Man truü mit'» beste» Will'»
Nit wie der Anschütz spiel'»,
Die Butten wird mir z' Schinar,
Jetzt spiel' i in Belisar,*)
Da ruft dann rund heruiu
Statt meiner 's Publikum:
El» Aschen!Oft soll ein' Oper sey»,
Falle el»er Sängerinn ein,
S' hat just ein'n ivichtigc» Ga»g,
Jetzt wird's a bist krank;
Der Hals ist einer rauch,
Die untre zwickt's i»i Bauch,
Damit uur g'spielt iverdc» kau»
Ist halt der Aschenmann:
Ein Asthen! Jüngst frag' ich in der Stadt
Ob wer ein Aschen hat,
Sitzt 'S Kräntlerweib beim Stand,
Ein Michel in der Hand:
Ich frag sie, was das wär,
Sie giebt mir 's Michel her:
I glaub, ich bin schon todt:
Liest sie den Walter Scott!
Ein Asche»! Ein Eh'maur schaut oft aus
Als wär' er Herr im Hans,
Er red't ganz streng und g'sehen,
Thut wichtig vor die Lent'.
Doch z' Hans, da sagt er nix,
Sonst kriegt er d' schönsten Wir:
lind sieht die Frau ihr'n Schon'n,
Darf er ins Wirthshaus gehn.
Ein Aschen!
So nennt sich die Schrift eines Herrn Hildebrandt,
wenn man von einigen selbstverständlichen Wahrheiten uns den ersten Seiten
^naht. wohl zu dem Abgeschuiacktesten gehört, weis der iliiicktritt des 3ieichska,»zlers
^"ge gefördert Hai, und von deren Inhalt wir nur deshalb el» paar Proben
u. weil sie zeigen, was Querkopfe auf dem Gebiet ihrer Paranoia leisten können,die
^ T
«ehr
Ehrenb sie uns andern Gebieten ganz oder doch erträglich richtig zu urteilen im--
"de sj„^ Der Verfasser beginnt mit dem Gedanken: wir müssen ihn entbehren
lernen; denn wie, wenn er gestorben wiire? was ungefähr so verständig ist, wie
die dann ausgesprochenen Vermutungen über Ursachen des Rücktritts mit der
Wirklichkeit stimmen. Dann wird Bismarcks Bedeutung in der auswärtigen Politik
anerkannt, und zwar fast unbedingt und zuweilen in sehr reichlichem Maße. Wir
danken ihm einen zwanzigjährigen Frieden; denn die Völker glauben infolge der
Mäßigung, die sich gerade der starke Bismarck in auswärtigen Fragen auferlegt
hat, an die ehrliche Absicht unsrer Regierung, die gewonnene Machtfülle nicht Mi߬
bräuchen zu wollen. „Niemals hat eine eitle Regung im Busen dieses Mannes
Raum gehabt; er hat, und das reckt seine Figur zu historischer Größe, nur da in
kalter rücksichtsloser Energie seinen Weg verfolgt, wo es ein Etwas zu erreichen
galt, das unbedingt errungen werden mußte." Das und manches andre hört sich
recht gut an. Dann aber kommt der Politiker aus Wolkenknknksheim zum Vorschein
und zeigt uns die Kehrseite des Bildes, uach der wir den Rücktritt des Reichs
lauzlers nicht bloß als keinen Verlust, sondern als ein .Milet für das deutsche
Voll" betrachten sollen. Der nationale Bismarck ist ihm „eine fragwürdige ge¬
stalt" ; „und wenn die Spuren seiner innern Politik weniger dauernde sein werden,
wenn hier nur Scheiuerfolge und Mißerfolge zu sehen siud, wie in seiner Wirtschafts
Politik, im Kulturkampf und im Kampfe mit der Sozialdemokratie, so wird man
die Ursache wohl darin finden, daß er sich weit weniger mis deutscher Staatsmann,
denn (!) als der ergebene Diener des Hanfes Hohenzollern fühlte." Er hätte mit
kühner Hand die Trennung des Staates von der Kirche vollziehen, die nationale
Schule auf dem Felsen der freien Wissenschaft errichten müssen, bann hätte er in
dreißig Jahren den letzten Römer deutscher Nation zu Grabe sinken sehen. Aber
er kam über das römisch-christliche Gottesgnadentum nicht hinaus, und da er dieses
nicht gefährden wollte, schloß er Frieden mit der Kirche. Bismarck hätte ferner eine
gründliche Sozinlreform vornehmen müssen, die allein die Bestrebungen der Soziab
demotrateu hemmen konnte, welche bereits „ans eine Heeresfolge von anderthalb
Millionen blicken" und nicht bloß die stärkste Partei in Dentschland, sondern
innerlich eins siud, „beseelt von dem Gedanken an ein Friedens- und Freiheitsreich
der Zukunft." Er hat die Erkenntnis der Notwendigkeit solcher Maßregeln und die
Mittel und Wege zu ihnen nicht gefunden. „Man wird seine Sozialreform ein¬
werfen und in ihr einen Alt voransschanender Gesetzgebung erblicke» wollen, aber
daS mare sehr kurzsichtig. Der Kampf gegen die Sozialdemokratie war mit dein
Blut- und Eisenrezept allein nicht zu sichren, man mußte auch mit einigen innern
Reformen hervortreten, umso mehr, als das ängstlich gewordene Philistertum ihnen
einige Heilkraft beimaß. Aber der Kanzler kannte genan den Wert der Sache und
suchte wie ein geriebener Knnfmann die höchsten Preise dafür herauszuschlage»-
Das Tabaksmonopol bewilligte man ihm zwar nicht, aber die Zollqnelle machte
man ihm ergiebiger, die indirekten Steuern ließ man ihm wachsen, den SpiritM'
ließ man hinten, daß eS nnr so eine Frende war." Man sieht, unser Kritik
drückt sich immer feiner ans, und schließlich entpuppt er sich vollständig mit dein
Satze: „Nix zu handeln! Das ist das Motto der ganzen innern Politik Bismarcks,
das ganze Geheimnis seiner Regierungskunst, mit allen Parteien fertig zu werde»-
Sie konnten alle etwas gebrauchen, und wie ein nüchterner Geschäftsmann richtete
er sich ganz uach der Konjunktur und machte heute in Knltnrkampfgesetzen, morge»
in Getreidezöllen, übermorgen in Arbeiterschntz. Daß aber der gute Geschäftsmann
ein guter Staatsmann gewesen sei, wird man schwer beweisen tonnen. Was mM^
denn' die Staatskunst ans? Ihr höchstes und einziges Ziel ist die Wohlfahrt de»
Volkes, das Problem, vor dein sie ewig sieht, läutet:' die höchste Summe von
^klint für die größtmögliche Zahl." Die Wege dazu hat Bismcirck nicht gewußt.
Aber Herr Martin Hildebrnndt sieht sie deutlich, und auf den letzten Seiten seines
^Puh legt er der neuen Regierung die Ergebnisse seines Nachdenkens in Gestalt
enieS förmliche» Programms vor. Es lautet in seineu Grundzügein „Die soziale
^M'eguug entspringt dein wirtschaftlichen. Niedergange der arbeitenden Schichten
^s Volkes, erzeugt durch die übermächtige Stellung des Kapitals gegenüber der
Arbeit. Daher Schutz dem kleinen Manne vor der Vernichtung seiner Existenz,
^erstelluug eines gefunden Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit, Zur Ver¬
wirklichung dieser Forderungen dann zuvörderst Reform der Zivilrechtsorduuug,
wsbesondre des Gerichtsvollznges; keine Anwaltsmonopole, keine Eristenzvernichtnng
durch den Gerichtsvollzieher mehr, ein schnelles und humanes bürgerliches Recht,
ferner Anerkennung, daß die iibermächlige Stellung des Kapitals gegenüber der
Arbeit aus dem privaten Eigentumsrechte an Grund und Boden hervorgeht, durch
me Beseitigung dieses Sonderrechtes, das die Früchte der gemeinsamen Arbeit in
die Taschen Einzelner führt. Der deutsche Grund und Boden ist das gemeinsame
unveräußerliche Eigentum des deutschen Volkes, das nur znni Nutzen der Gesäme
heit verwaltet werden darf Ein Gesetz hat das Grund- und Bodenrecht so zu
segeln, daß dem Volle der Ertrag seiner nationalen Arbeit ungeschmälert zu teil
wird. Die Gestaltung dieser Arbeit entwickle sich mittelst einer den gegebenen Ver-
hültuissm entsprechende» freien genossenschaftlichen Znsanunenschließnng," Weiler
wird verlangt „Aufhebung aller direkten und indirekten Staats- und Gemeinde-
feuern. Die Einziehung der Grundrente und die Verteilung der Einnahmen aus
dnn Blldeneigentnme des Volkes ist so einzurichten, daß die Gemeinde dein Staate
"ud der Staat dem Reiche die Mittel bietet, die ihr Haushalt erfordert. Daneben
^'llstiindige Trennung des Staates von der Kirche und Verbannung des Religions¬
unterrichts ans der Schule, die kein andres Ziel haben soll, als eine ans der Grund-
zuge^ der modernen Wissenschaft ruhende Bildung und Erziehung des Volkes. Endlich
^ständige Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht."
Da Hütte» >vir die Lösung des größten Rätsels der Gegenwart, die Apotheke,
der allein die kranke Zeit geheilt werden kann. Ob die neue kaiserliche Re-
lnernng davon Gebrauch machen, ob sie das Programm des Verfassers mit Nutze»
"'s", wird?
., In dem Aufsatze, den
^e Grenzboten am l7. April über das Freilvilligenprüsungswesen brachten, sind
^ i^tzt bestehenden Verhältnisse so sachgemäß und richtig dargelegt und beurteilt,
^in kaum etwas zu erinnern bleibt. Vielfache Zustimmung, besonders uuter denen,
Wie der Schreiber dieser Zeilen, die Dinge aus eigner, langjähriger Erfahrung
^unen, wees namentlich die Kritik finden, die an der gegenwärtige« rechtlichen
^'Ilnng der sogenannten „außerordentlichen Mitglieder" der Freiwilligenprüfungs
^uuiissnmen geübt wird. Denn „außerordentliche Mitglieder" sind jetzt eben die,
^. prüfe» haben, also die eigentliche Arbeit thun, während die „ordentlichen
'-"Wieder" aus Juristen und Offiziere» bestehen, die überhaupt nicht prüfe», und
^ne» die hier in Frage kommenden Unterrichtsgegenstände doch auch ferner liege»,
zuiual da die Herren erfahrungsmäßig ziemlich häufig wechseln, während die „außer¬
ordentlichen Mitglieder" oft ' viele Jahre in ihrer Stellung bleiben. Indes null
"1 gern bekennen, daß ich niemals einen Fall, wie den in jenein Aufsatz erwähnten,
^lebt habe, daß nämlich die ordentlichen Mitglieder gegen die Stimme sämtlicher
^ M'rardeutlichen Mitglieder sich für die Erteilung des Berechtigungsscheine? eilt
schieden haben. Jnr Gegenteil haben in der Konnnission, der ich seit vielen Jahren
angehöre, die Mitglieder beider Gruppen stets einträchtig zusammengearbeitet, und
das wird Wohl auch die Regel sein.
Aber es möge bei dieser Gelegenheit gestattet sein, noch einige andre Punkte
zur Sprache zu bringen, nämlich die von vielen Seiten geforderte und, wie es
scheint, an maßgebenden Stellen auch bereits in Aussicht genommene Abänderung
des Freilvilligeuberechtigungslveseus. Daß der gegenwärtige Zustand manche Nach-"
teile hat, insofern namentlich die Unter- und Mittelklassen (bis zur Untersekunda)
vieler höhern Anstalten mit solchen Schülern überfüllt find, die ihr Freiwilligen
zengnis nur „erhitzen" willen, um dann abzugehen, die sonnt gewissermaßen/wie
man es wohl auffaßt, als toter Ballast mitgeschleppt werden, ist ohne weiteres zu-
zugeben. Namentlich die preußischen Gymnasien scheinen diesen Übelstand vielfach
sehr schwer zu empfinden, und die Realgymnasien leiden wohl ganz im allgemeinen
darunter. In den humanistischen Gymnasien Sachsens ist er dagegen im ganzen
sehr wenig hervorgetreten, betrug doch dort in einem sehr stark besuchten gro߬
städtischen Gymnasium die Zahl der in den letzten fünf Jahren ans der Unter¬
sekunda, also mit der Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Dienst abgegangnen
Schiller im ganzen nur 7,5 Prozent aller Untersekundaner (22 von 297). Die
Erklärung dieses Unterschiedes liegt wohl vor allem darin, daß in Sachsen die
sechsklnssigeu lateinlosen Realschulen, deren Abgangszeugnis jetzt diese Berechtign»»
gewährt, verhältnismäßig viel zahlreicher sind als in Preußen, daß also in Sachsen
viele, die in Preußen ein Gymnasium besuchen müssen, um dann dies Zeugnis zu
erlangen, in Sachsen in Realschulen unterkommen. Es würde also die vielbellagte
Überfüllung der höhern Mittelschulen mit solchen an sich nicht eben wünschend
werten Elementen auch in Preußen sich wesentlich vermindern, wenn hier die Real^
oder höhern Bürgerschulen sich entsprechend vermehrten, worauf ja auch jetzt hin¬
gearbeitet wird. Beiläufig mag doch auch bemerkt sein, daß der Mangel einer
„abgeschlossenen Bildung." den solche empfinden sollen, die aus der Untersekunda
eines Gymnasiums abgehen, mehr in der Einbildung als in der Wirklichkeit besteht,
denn „abgeschlossen" ist auch die Bildung, die eine lateinlose Realschule in se'es^'
Jahren vermittelt, wahrhaftig uicht, am wenigsten in den Fächern, in denen lin
eigentümlicher Unterschied beruht, in den beiden neuern Sprachen.
Wie soll nun Verfahren werden, wenn das jetzige Berechtigungswesen füllt-
Wenn, wie es von manchen Seiten empfohlen wird, das Freiwilligenrecht etwa
an das Abgangszengnis eines humanistischen oder eines Realgymnasiums getnüost
würde, so würde das wahrscheinlich die Überfüllung, über die jetzt die Mittelklassen
klagen, auch in die Oberklassen verpflanzen. Codanu würde darin, da mau doch
deu Realschulen mit sechsjährigem Kursus ihr Freiwilligeurecht schwerlich entziehen
kann, eine schreiende Ungerechtigkeit gegen die Mittelschulen mit neunjährigen Kurse^'
liegen. Man könnte aber auch Abhilfe suchen in der Einführung einer Prüfung
vor einer Kommission, der alle das Freiwilligenrecht erstrebenden Schüler aller
Lehranstalten ohne Unterschied sich zu unterwerfen hätten. Dafür wurden aber d>e
jetzigen Prüfungskommissionen nicht im entferntesten ausreichen. Denn wenn co
schon jetzt, wo es sich zu Ostern und Michaelis bei ihnen um höchstens zwanM
bis dreißig Prüflinge handelt, gar uicht so leicht ist, unter deu gewöhnlich, den
verschiedensten Lehranstalten angehörigen „außerordentlichen Mitgliedern" eine llber-
einstimmuug über die wenigen Tage der Prüfung herbeizuführen, da sie gerade >»
diesen.Zeiten des Schuljahres von ihren eignen Anstalten stärker in Anspruch
nommer werden als sonst, so würde eine solche Vereinbarung, wenn die Zahl > ^
Prüflinge und demgemäß auch der Prüfungstage sich ans das Vier- und Fünffache
Wer gar in noch stärker«! Maße steigerten, ganz unmöglich, ja es würde selbst sehr
lraglich sei», ob sich für eine so aufreibende PrüfnngSthiitigleit die genügende Zahl
vou „außerordentlichen Mitgliedern," deren Teilnahme bekanntlich eine ganz frei¬
willige, mit ihrcnl Schulamt gar nicht zusammenhängende ist, überhaupt finden
wurde. Man müßte also dann die Zahl der Prüfungskommissionen ansehnlich ver¬
ehren, vielleicht in jeder Stadt, die ein Paar höhere Lehranstalten besitzt, eine
^'richten, oder man konnte die Bewerber einfach den Schulen unmittelbar zur
Prüfung überweisen. Freilich würde die Prüfung der Schüler einer solchen Anstalt
durch ihre eignen Lehrer das Überflüssigste von der Welt sein, da diese doch den
Kenntnisstand ihrer Zöglinge schon durch die Michaelis- und Osterprüfung genügend
M»itteln. Unter allen Umständen würden Nur in ein wahrhaft chinesisches Prüfnngs-
Wesen hiueinsteuern, und die schweren Übelstände, die sich mit jeder Prüfung vor
solche» Lehrern, denen der Prüfung fremd ist, unvermeidlich verbinden, wie vor
allem das äußerliche Einpauker toten Kenntniskrames für äußerliche Zwecke, würden
i'es ins Ungemessene steigern.
Sicherlich stößt also jede Änderung der bestehenden Verhältnisse auf bedeutende
Schwierigkeiten, und man dürfte, indem man den Ausweg aus drückenden Ver¬
hältnissen sucht, leicht in Übelstände hineingeraten, die viel ärger sind als die be¬
stehenden. Die radikalen Schnlresormer freilich, die nach der sechsjährigen latein-
wscil Einheitsschnle als Unterbau für das ganze höhere Unterrichtswesen rufen und
damit das Heilmittel für alle Beschwerden gefunden zu haben meinen, würden Rat
Püffen, denn nach ihrem Vorschlage würde die Freiwilligenberechtignng einfach
ledein zukommen, der diese Schule durchgemacht hat. Aber mit einer solchen
-/Deform," die nach der festen Überzeugung weiter Kreise, keineswegs nur „ver-
möcherter Philologen," unsre ganze Kultur aufs tiefste schädigen würde, möge der
^niniel unser vielgeplagtes Volk verschonen; das Heilmittel wäre schlimmer als
^S Übel.
Ein politisches Glaubensbekenntnis GntzkvwS. Der nachstehende,
bisher nicht veröffentlichte Brief Gutzkvws an Herrn S. — von 1.342 bis zu
^iueiu Tode 1872 Stadtverordnetcnvorstehcr in Schweidnitz. 1847 und 1848
Mitglied des vereinigten Landtages ^Fraktion: von Vincke) — ist uns von dem
^ohne des Empfängers, Professor S., als Beitrag zur Charakteristik GutztowS zur
^es'iguug gestellt wordeu.
Mail hat den Unterzeichneten in Kenntnis gesetzt, daß Sie auf den politischen
^>se Ihres Wohnortes von nicht geringem Einfluß sind. Wenn Sie sich an dem
''v»iitee beteiligt haben, das für Ihren und die umliegenden Kreise zur Wahl-
^Weguug auffordert, so werden Sie vielleicht schon wissen, daß sich der Unter¬
zeichnete für die Zweite Kammer angeboten hat. Über alles Persönliche ver¬
werfe ich Sie deshalb auf meine Eingabe, einige anliegende Dokumente meiner
^siunuug, einige Andeutungen meiner Auffassung der schwebenden preußischen
Streitfrage. , Ich wiederhole, daß ich durch einen vom 17. Dezember vorigen
Wahres ausgestellten .Neimatsschein für fernere drei Jahre preußischer Unterthan.
wählbar bin.
., Ich bin kein Kommunist, kein Anarchist. Ich würde mich in eine Republik
wider können, wen» eine solche durch ein Geschick des Himmels verhängt würde.
Eine Republik herbeiführen lvollen, ist kein Wert liinstlicher Agitation. Ich
bin Demokrat in dem Sinne, daß nur der Staat und seine Form nnr des
Volkes wegen da ist. Ich anerkenne nur das Recht der Könige, das ihnen die
Rücksicht sür das Wohl aller übertragen hat. Die preußische Dynastie leidet noch
zu sehr an der Selbstüberhebung der Eitelkeit, am Stolz angeborener Einbildungen.
Diese sind zu bekämpfen, diesen gegenüber ist das freie Bürgerbewußtsein mit
edlem Mute aufrecht zu erhalten, mit aller Entsagung geltend zu machen. Doch
wollen wir uns hüten, den Preußischen Staat gerade jetzt, wo er Deutschland und
der Welt gegenüber eine so große Ausgabe zu losen hat, innerlich zu schwächen.
Der Prinzipienstreit darf das Gewicht nicht schmälern, mit welchem Preußen
seineu Einfluß, seine Geltung in die Wagschale der Entscheidung zu legen hat.
Deshalb bin ich nicht dafür, daß die neuen Vertreter mit zuviel Leidenschaft an
dasjenige Werk anknüpfen sollen, das am 9. November in Berlin stehen geblieben
ist. Eine großartige Satisfaktion muß der intelligente Teil unsers Vaterlandes
den Dcpulirien geben, die nach dem 9. November nnter den Bajonetten fortzn-
tngen wagten — das ist Ehrenpflicht, der jämmerlichen reaktionären Wühlerei
gegenüber — aber eine Persönlichkeitsfrage darf die allgemeine Sache des
Landes nicht werden. Die Krone soll erfahren, daß sie Unrecht gethan hat die
eben erst grünenden Keime eines neuen ans der Märzrevolution hervorblühenden
Rechtes, das Recht der Vereinbarung, zertreten zu haben. Sie soll wissen, daß
sie die Gefahren vergrößerte, die Unfreiheit der Versammlung in Berlin über¬
trieb, nur um ihre alte einseitige Kraft zu zeigen und dem Soldatengeiste, der
nach Wiedereinsetzung in seine alte Herrlichkeit verlangte, eine Genugthuung zu
geben. Die oktroyirte Verfassung soll uns als ein ZngestiiudniS willkommen sein,
keineswegs aber als ein Gesetz. Die Revision, die der König voraussehe,
bietet die friedlichste Handhabe zu einer Versöhnung; die Revision setzt die Arbeit
da fort, wo wir am 9. November standen und beide Kammern vereinigen sich >u
jene frühere Generalrepräsentation des Volkes, das mit seinen Fürsten über
die Bedingungen gegenseitiger Rechte und Pflichten unterhandelt. Unterliegt
diese Ansicht, so mögen die. die die Gewalt haben, der Geschichte dafür verant¬
wortlich bleiben! Der Boltsfreuud kauu dann nnr noch an das Einzelne sich
halten, an diejenigen Gesetze, die dazu beitragen sollen die Lasten zu erleichtern,
das Vertrauen wieder Herznsteilen mit» jene innere Freiheit der Geister anzu¬
bahnen, mit der wir bei aller Bildung doch bei uns leider noch sehr wenig ge¬
segnet sind
Ich habe achtzehn Jahre unabhängig gelebt, ich habe leinen andern Ehrgeiz,
als die Wahrheit zu befördern. Ich gehe ruhig meinen Weg, aber ich gehe ihn
fest und unerschrocken. Ich siihle mehr für die Niedrigen als für die Hohen, ich
gestehe, daß ich den Übermut der letztern hasse, ebenso wie ich mich nimmermehr
»nterfangen würde, von unsrer irdischen Bestimmung zu sagen, sie könne eine günz
vollkommene werden. Man soll dein Armen Hilfe geben, aber nicht mit Glück¬
seligkeiten quälen, die keine menschliche Hand beschaffen kann.¬
Ich gliche für die großen und schönen Zwecke des Lebens, für Freiheit, Vater
land, für Aufklärung, für allgemeine Bildung. Was diesen Zwecken im Wege
steht, ist mir verhaßt, und nimmer würd' ich ruhen, es zu verfolgen. Aber ich
prüfe gern, ich höre gern beide Ansichten, ich urteile erst, wenn ich die Thatsachen
übersehen habe. Vielleicht giebt mir diese Stimmung Beruf zum Gesetzgeber. Beruf
zum Anwalt des Volkes; denn das Volk ist eben der Ausdruck der widerstreilendsten
Interessen.
Hätt' ich die Garantie, das; in den oben genannten Wahlkreisen eine Zahl
Klauen entschieden geneigt wäre, ans mich zu reflektiren, so käme ich und redete,
^>>e mir ,„us Herz ist. Lieber freilich wäre mirs, ich fände schon vorher so viel
vertrauen, daß ich erst käme, wenn ich gewählt wäre, und dann jedes braven
Cannes, der sich mir vertrauen will, Sache und Mliegenheit zur meinigen
'"achte, durte und forschte, was von Loknlbednrfnissen, Loknlbeschwerden Bernal--
I'chtignng verlangen darf. Antworten Sie mir hierüber, geehrter Herr, gefälligst
Ul kürzester Zeit! Auch diesen Brief mögen Sie als einen offenen betrachten und
u)n jedem zeigen, der sich über mich genauer unterrichten möchte, auch drucken und
Urteilen lassen, wenn Sie wollen.
'
^ Im übrigen berus' ich mich auf meine Zuschrift an deu Ausschuß. Können
meine Wahl fördern, so würd' ich Ihnen dafür die Hand drücken im Namen
^ner gemeinschaftlichen edeln Sache.
Dresden, den 25. Januar 134»
Gutzkow wurde damals in Schweidnih nicht gewählt.
Die Beilage der „Münchener All-
^meinen Zeitung" vom l0. April (Ur. 99) enthält eine in mehrfacher Beziehung
>»> merkwürdige Kritik der neuesten Erzählung von Marie v. Ebner-Eschenbach-
"U"sühnbar," daß wir uus hier, wo die künstlerische Bedeutung der Dichterin mit
'Uehr Liebe als irgendwo sonst nachgewiesen worden ist, nicht enthalten können,
u>"ge Bemerkungen dazu zu machen. Zunächst muß der auffallende Umstand
lervornehvben werden, daß die Kritik nicht von dem ebenso gelehrten als einsichts-
ollen litterarischen Korrespondenten der Münchener „Allgemeinen Zeitung" (Anton
, ^telheim) herrührt, sondern mit dem Zeichen des politischen Vertreters der Zeitung
u versehen ist, und dieser Politiker dürfte der österreichische» Regierungs-
r^'sse nicht fern stehen. Es ist also die heutzutage ziemlich selten gewordene Er-
l^mung ^ beobachten, daß ein Roman, obendrein ein „Fraucnzimmerroman," die
^"Werksamkeit der politischen Kreise ans sich lenkt. In Wahrheit ist dies ein
'vßer Erfolg der Dichterin, aber anch ein merkwürdiges Zeichen für die Wandlung
N Dinge in Österreich. Marie Ebner, die selbst ' dem hohen Adel Österreichs
^ nanunt, sogar einer alten Soldatenfamilie, hat sich ihren litterarischen Ruhm
d^?^^ durch ihre ebenso liebenswürdigen als vornehmen und dabei doch Schmel-
gen ii^j^, Standesgenossen erworben. Sie hat diese Figuren in die
^"eratnr eingeführt, dieses Gebiet gleichsam entdeckt; was die Ossip Schuln,,,
^erthci von Suttner u. a. geleistet haben, ist ans die Ebner zurückzuführen. Für
^"ufmerksnnien Leser ihrer Schriften hatte aber ihre Satire stets gleichsam einen
P Glieder Charakter. Ohne Haß — die Ebner kann gar nicht hassen! —, ohne
^> eilichteit, mit dem reinsten Streben mich Wahrheit und nach Besserung der
^ ersehen durch das Vorhalten eines ungetrübten Spiegels entwarf sie ihre poetischen
Uiratterbilder des Wiener Adels, als dessen Mitglied sie sich stets fühlte, was sie
Bnr,"^ verleugnete. So ruft einer ihrer Lieblinge in „Comtesse Paula," der
^.Schwarzburg, schmerzlich ans: „»Idealist!« Sei du es nur! Ringe gegen
to-; '""adlige Element, vergeude deine Kraft im erfolglosesten Kampfe! Ringe dich
allen, die seinen, frischen, frohen Lause folgen, die deinesgleichen, deine
Genossen, deine Brüder waren, und deren Widersacher dn geworden bist, deren
Interessen dn bestreitest, deren Überzeugungen dn verleugnest, und — an denen
du doch mit allen Fibern deines Herzens hängst!" In diesen Worten liegt el»
persönliches Bekenntnis der Dichtern,. Sie fühlt sich noch immer als Gräfin, wenn
anch ihr gesunder Sinn den Wert des Menschen nicht «ach seiner Herkunft, sondern
nach seinem eignen sittlichen Thun zu bestimmen gelernt hat; aber eine Feindin deS
Adels ist sie so wenig geworden, so wenig sie überhaupt dem Menschenhasi in ihr
Herz Einlaß gestattete. In andern Novellen und Erzählungen hat sich ihre Satire
gegen die reichen und hartherzigen Bankiers (Wieder die Alte) gerichtet; die Be¬
schränktheit des stolze» bürgerlichen Pfeffersacks hat sie schou im ..Bozena" gegeißelt;
niemals vergas; sie, den satirischen Gestalten lichtvolle, ideale Menschen gegenüber¬
zustellen, ans „Comtesse Mnschi" folgt unmittelbar „Comtesse Paula," und kann-
jemals fehlt es selbst in ihren satirischen Adelsgestalten an Zügen, die uns trotz
aller Schwächen doch für sie wegen ihrer Ritterlichkeit und Frische einnehmen.
Wenn uun da ein Kritiker kommt und sich zum galanten Verteidiger der „berühmten
Wiener Comtessen" mit folgenden Sähen auswirft! „Vollends lassen wir auf die
»Einzigen in ihrer Art, die berühmten Wiener Comtessen.« wie Frau v, Ebner
sagt, nichts kommen. Das mögen Mädchen sein, die in ihrer Art, sich zu geben
und zu sprechen, etwas amerikanisch frei erscheinen, aber das sind offene, gesunde
(auch körperlich frische) Naturen, nicht zimperlich und die Augen niederschlagend,
denen aber doch niemand nahe zu trete» wagen dürfte: sie würden nicht nach
»Muttern« r»fe», sonder» sich selbst Genugthuung verschaffen. Sie heiraten, nach¬
dem sie ihre Jugend genossen, standesgemäß. Denn sie halten an den Traditionen
fest und haben viel Familiensinn, werden gute Ehefrauen und gute Mütter, stets
durch und durch Damen der großen Welt" — so muß man sagen, daß es doch
geradezu komisch ist. die Ebner mit ihren eignen Waffen schlagen zu wollen. Denn
das Bild, das der Kritiker in diesen Sätzen entwirft, ist ja ganz und gar das der
Comtesse Mnschi, der berühmtesten aller Wiener Comtessen. Wie kaun man also der
Dichterin vorwerfen, daß sie die Comtessen nicht kenne? Das ist doch schon absicht¬
liches Mißwollen und Mißverstehen. Was aber der Kritiker hinter der Phrase „durch
und durch Damen der großen Welt" verbirgt, das eben deckt die Ebner mit lobens¬
werter Rückstchtslosigkeit auf, indem sie uus die banalen Interessen dieser „große»
Welt" offenbart, die in der Fremde am Sport und Turf ihren Gipfelpunkt finde».
Nicht gegen deu Charakter der Comtessen, sondern gegen ihre Ideale hat sich die
Satire der Ebner gerichtet. Und ist das etwa nicht'berechtigt? Kann mau diesen
adlichen Kreisen, die sich durch Darstellung lebender Bilder, pompöser Ballette u. dergl.
vor der Neuusaisvu die Zeit vertreiben, edlere Beschäftigungen nachweise»? Der
Kritiker Nieist ferner darauf hin, daß sich der österreichische Adel gegenwärtig überall
an den Staats- und Privatgeschäften mit Eifer beteilige. Das ist wahr; Gr»f
Taaffe hat mit rücksichtslosem Nepotismus überall in der Staatsverwaltung die
Adlichen allen andern Beamten vorgezogen, und unser Kritiker unterläßt es »"">
nicht, deu Grafen Tnaffe als Autorität zu zitiren. Wie aber darf man der Ebner
den Vorwurf machen, daß sie diese Zustände nicht kenne, da sie es doch war, die
vom Beginn ihrer litterarischen Laufbahn an die Notwendigkeit der Teilnahme des
Adels an den Staatsgeschäfte» und großen Judustrieunternehmunge» »ansdrücklich
gefordert hat, und die alle Satire nur gegen jene Überlieferung der l-rum!« skiAnc,«-«
richtete, die die Arbeit »ur als Pflicht der Bürgerlichen, de» Müßiggang als Vor¬
recht des Adlichen bezeichnete? Wenn sich die Zeiten geändert haben, so muß die
Gerechtigkeit einen Teil des Dantes für diese Besserung Marie Ebner zuerkenne»-
^ mich die Empfindlichkeit, womit der Adel Wiens ihre Satire aufnimmt, und
die sich in dem Sahe unsers Kritikers verrät! „Nur eines sollte sie einmal lassen,
denn sie läuft damit Gefahr, eintönig zu werden, und erscheint überdies in ihren«
Urteil befangen oder beeinflußt! wir meinen das fortwährende Jrvnisiren, Bespötteln,
Beuövgeln des österreichischen Adels" — diese ganz neu erwachte Empfindlichkeit
leibst ist el„e Frucht ihrer Satire, und nicht die geringste, wie man hinzufügen
darf. Denn wozu anders schreibt man Satiren, als »in aufzurütteln und das
lndelnswerte Bestehende zu ändern? Die durch deu gauzeu Aufsatz durchgehende
Ungerechtigkeit des Kritikers besteht darin, das; er deu Spiest umkehrt, das; er, anstatt
die Ebner zu preisen, sie tadelt. Was die „Eintönigkeit" ihrer Schriften betrifft,
^' kann diese nur jemand behaupten, der sie nicht kennt oder — nicht kennen will.
Auf die rein ästhetischen Auslassungen des Rezensenten einzugehen, die noch
weniger gerecht find, unterlassen wir. Nur das eine wollen wir bemerken, das; er
^6 richtiger Journalist auch hier deu Standpunkt der allerneuesten Mode einnimmt,
um die Ebner tadeln zu könne». Er stellt sich ans den Standpunkt des Natura-
"sinus, den die Dichterin vielfach in ihren Büchern (schon im „Gemeindekind")
^'dumpfe, als wenn die naturalistische Manier die einzig berechtigte wäre; er geht
von einer Parallele des Ireg^rrlMv von Bourget aus, das uicht entfernt an die
q^'che Größe von „Uusühubar" hinanreicht; einen Augenblick streift er die
Wahrheit, wenn er sagt: „!>war hatte uns Frau v. Ebner, ungleich Bourget, ihre
Heldin nicht anatomisch sezirt (nud mehr oder weniger wäre es notwendig gewesen,
U'ille die That, die sie begeht, wahrscheinlich sein)" — also „anatomisch" soll die
Heldin sezirt werden müssen, wenn wir ihre That (den mit halbem Bewußtsein voll
dachten Ehebruch) begreifen sollen? Der Rezensent meinte wohl „psychologisch"
^ire? >,»d dann: wie darf sich ein so unkünstlerischer Geist an eine Künstlerin wie
ne Ebner wagen, sie auch im Handwerk zu tadeln! Er weiß gar nicht, daß diese
'Wichse,, der Seelenzustände ganz im Gegenteil künstlerische Ohnmacht bedeuten,
^ der rechte Künstler uicht durch Aunlyse des Jnnern,, sondern dnrch Darstellung
^ Menschen in Handlung seine Fabel vorwärts treibt! Aber er fährt fort:
"^der wollte sie einen Beweis für die These beibringen, daß das Innerste eines
^/eustlM el,le Persönlichkeit verstecke, die nur nicht kennen, die ethische Person,
^> ^ir mit »Ich« benennen, ebenso wenig eine einfache sei, wie unser materieller
',,^'ver und in uns tief verborgen und uus zumeist lauge unbewußt, ein von dem
""ßeru Menschen oft ganz verschiednes Ich enthalte» sei? Es würde diese Bor
^ssichuiist jedoch nicht zum Charakter der Erzählung und ihrer weitern Entwicklung
l numen!" So? er meint wohl deu sogenannten „intelligiblen Charakter." Einen
''^eweis" für eine „These" zu bringen ist überhaupt nicht Aufgabe der Kunst,
"und nicht Marie Ebners. Aber in ihren Novellen geht sie allerdings, und
^ Laufe der Erzählung erst zum richtigen Selbstbewußtsein gelangt; man
"Li -den „Kreisphysikus," an „Nach dem Tode," an das „Genieindekind."d'^> lllvsz in „Nnsnhnbar," von den« sich selbst noch nicht klaren Menschen aus,
beutfinden gerade einen" ihrer höchsten künstlerische!« Vorzüge in dieser ihrer Kunst,
Menschen im Erwachen darzustellen, und wenn ihn der Rezensent nicht auch
»er Porgeschichte des Falles von Maria Doruach finden will, so liegt das nicht
^' der Darstellung von „Uusühubar." Nur bei sehr flüchtigem Lesen wird man
s-,.?' Bruch in der Charakteristik dieser Heldin des sich selbst richtenden Gewissens
""de" können.
Der Goldschmiede Merkzeichen, 2<><>0 Stempel ans ältern Goldschmiedearbeiten, in
Facsimile herausgegeben und erklärt von !)>', Marc Noseiibcrg, n, v. Professor ein der
technische» Hochschule in Karlsruhe, Frankfurt a. M., Heinrich Keller, 1890
Dieses Buch, ein Band von 580 Seiten Großollav, ein Ar^ert rühmlichsten
Sammeleifers, enthält die Abbildungen von 2099 Goldschmiedemarlen, nachgewiesen
an Erzengnissen der Goldschmiedekunst ganz Europas. Aus Deutschland sind etwa
neunzig, aus dem Auslande über sechzig Städte vertreten. Wo es irgend möglich
war, hat der Herausgeber über die Gvldschmiedeinnung der betreffenden Stadt ge¬
schichtliche Rachrichten gegeben, dann folgen, bequem und übersichtlich angeordnet,
die Beschauzeichen und Meislerstempel, meist mit Anführung der Goldschmiede-
arbeiten, woran sie sich finden, und wo es möglich war, mit Zeitbestimmungen der
Meister. Vortreffliche Register (ein Register der Monogramme, ein Register der
figürlichen Marken, ein alphabetisches Verzeichnis der Goldschniiedenainen nud el»
nach Städten geordnetes Verzeichnis der Besitzer der besprochenen Goldschmiede
arbeiten) sind dem Buche am Schlüsse beigegeben.
Wiewohl die Fachblätter, Kunst- nud Kunstgewerbezeilschriflen, nach Gebühr
auf die Bedeutung des Werkes hinweisen werden, sodaß sein Borhandensein kam»
jemandem unbekannt bleiben wird, dem daran gelegen sein muß, Kunde davon zu
erhalten, so halten nur es doch für unsre Pflicht, mich unserseits ans das Wert
nachdrücklich aufmerksam zu machen.
Was den Abschnitt über Leipzig betrifft (S. 197 — 20«!), so stützt sich der
Herausgeber dabei namentlich ans Aufsätze nud Mitteilungen des Verfassers dieses
Anzeige. Wir benutzen die Gelegenheit, hier einen kleinen Nachtrag dazu ,zu geben.
Im Jnnungsbnche der Leipziger Goldschmiede wird im Jahre 1584 zum erstenmale
der Sitte gedacht, das; die Schaumeister ans ihren Zeichenpunzen der Reihe nach
die Buchstaben des Alphabets führten. Wir meinten nun, daß die Sitte vielleicht
schon früher bestanden habe. Diese Meinung ist aber falsch, es handelte sich in der
That damals um eine neue Einführung, wie folgender Eintrag im Leipziger Ralö¬
bliche zeigt: Ein ehrbarer Rath hat heilt <!ulu beschlossen und den Obermeistern de^'
Goldschmiedhalldlverks befohlen, das hinforder alle Arbeit mit drei Zeichen, deren
eins mit des Obermeisters Namen, das andere mit einem !^ und das dritte
mit des Meisters Namen, von dem Obermeister soll gezeichnet werden, dann
niemand vervortheilt werden möge, ^.lui» d. 23. Aug.' 1583. Darnach würde
Rosenberg Recht haben, wenn er das unter Ur. 959 angeführte, uach museo»
Dafürhalten übrigens nicht ganz getreu wiedergegebene Zeichen für eil. Meiste^
zeichen hält, Alls jeden Fall gehört es aber dann nnter die Hausmarder und »ich
nnter die Monogramme. In zwei Buchstaben läßt es sich mit allem ScharfP»"
nicht zerlegen, am allerwenigsten in zwei, die ans den Namen eines hervorragende»
Leipziger Goldschmieds des sechzehnten Jahrhunderts Päßler.
le für den 1. Mai geplante großartige Kundgebung der Arbeiter
für Einführung des achtstündigen Arbeitstages ist im wesentliche!?
mißlungen. Damit ist aber die Frage noch nicht ans der Welt
geschafft. Nun glauben wir freilich, daß die sozialdemokratischen
Führer, die den achtstündigen Arbeitstag ans ihre Fahne ge¬
schrieben haben, kaum zu den Lesern dieser Blatter gehören werden. Immerhin
aber lohnt es sich, daß man sich auch in andern Kreisen darüber klar werde,
was daraus werden würde, wenn wirklich einmal der Versuch gemacht werden
sollte, den abgekürzten Arbeitstag einzuführen.
Ohne Zweifel denken sich die Arbeiter die Sache so: es soll ihnen künftig
sür acht Stunden Arbeit derselbe Lohn gezahlt werden, den sie jetzt, sagen wir
tur zwölf Stunden Arbeit erdulden. Daun, meinen sie, könnten sie gerade so
fortleben wie bisher, hätten aber, statt der bisherigen vier, fortan acht Feier¬
stunden zu ihrer Erholung. In diesem Glauben liegt aber eine arge
Täuschung.
Das Maß unsers Wohllebens wird bestimmt durch die Summe der Güter,
^ wir erzengen. Das Geld, das jeder verdient, bestimmt nur deu verhältnis¬
mäßigen Anteil, zu dem jeder Einzelne an der Summe dieser Güter teil¬
nimmt. Deshalb ist das Geld, das wir auszugeben haben, relativ gleichgiltig.
senken wir, daß Nur in der Lage wären, im Vergleich zu bisher das
Anderthalbfache der Güter zu erzeugen, so würden wir auch sofort anderthalbmal
so viel an Gütern zu verzehren haben und daher weit besser leben können,
auch wenn wir nicht mehr als bisher an Geld besäßen. Es würden nämlich
Güter, die wir zum Leben brauchen, so wohlfeil werden, daß wir für
dasselbe Geld anderthalbfach so viel laufen könnten.
Ganz dieselbe Wirkung, nur in umgekehrter Richtung, würde die Ein¬
führung des achtstündigen Arbeitstages haben. Bis zu einem gewissen Muße
hängt ja allerdings die Gütererzeugung von zufälligen Umständen ab. So
z. B. das Maß unsrer einfachen Lebensmittel von dem Ausfall der jeweilige»
Ernte. Auch hat man wohl gesagt, daß der Arbeiter bei kürzerer Arbeitszeit
besser arbeite als bei längerer. Das mag vereinzelt eine gewisse Berechtigung
haben. Im allgemeinen aber kann man sicherlich den Satz aufstellen: Das
Maß der Arbeit bestimmt das Maß der Gütererzeugung. Namentlich arbeitet
die Maschine nnr so lange, als sie im Betrieb ist. Und wenn also i»
Zukunft unsre Maschinen, statt zwölf Stunden, nur noch acht Stunden im
Gange bleiben, so werden auch nur zwei Dritteile der bisher gewonnenen
Güter erzeugt werden. Auf eine völlige Genauigkeit dieses Bruchteils kommt
es natürlich nicht an.
Wäre das aber die Folge des achtstündigen Arbeitstages, so wäre die
weitere Folge die. daß wir anch weit weniger zu leben haben würden, als
bisher. Diese Folge würde dadurch praktisch in die Erscheinung treten, daß
alle unsre Lebensbedürfnisse weit teurer würden. Dem würden sich auch unsre
Arbeiter nicht entziehen können. Vergebens würden sie nach einem Mittel
suchen, um den Nachteil von sich ab- und auf die Arbeitgeber zu wälzen-
Wenn also auch die Arbeiter ihren bisherigen Lohn unverändert behielten, so
würden sie sich doch einen wesentlichen Teil ihres bisherigen Lebensunterhaltes
versagen müssen. Anders ginge es nicht. Denn wo nichts ist, hat selbst der
Kaiser sein Recht verloren.
Wir sind bisher von der Annahme ausgegangen, daß der Arbeiter bei
dem achtstündigen Arbeitstage seinen Lohn unverändert behielte. Aber ist denn
diese Annahme begründet? Im Gegenteil, sie steht auf sehr schwachen Füßen-
Nehmen wir an, ein Teil der Geschäfte wäre wirklich imstande, dem
Arbeiter für acht Stunden Arbeit denselben Lohn zu bezahle», deu sie bisher
für zwölf Stunden bezahlt habe», so würde doch auch unzweifelhaft el» be¬
deutender Teil der Geschäfte, die schon bisher a» der Grenze der Existenzfähig'
reit standen, dazu nicht imstande sein. Nehmen wir an, daß nur der vierte
Teil der Geschäfte erklärte: „Unter diesen Bedingungen können wir nicht
mehr arbeiten lassen. Wir müssen also die Arbeit einstellen." Was dann?
Daß die Geschäftsherren brotlos würde», würde vielleicht unsre sozial'
demokratischen Führer wenig kümmern. Was aber würde aus den brodlos
gewordenen Arbeiter» werden? Ohne Zweifel würden sie sich, wie hnngM'
Löwen, nach den übrigen Geschäften stürzen, mit dem Rufe: „Gebt uns Arbeit!
Wir thun es zu jedem Preis!" So würde sehr schnell anch der Arbeitslohn
herabsinken, und die Arbeiter würden uuter dem doppelten Drucke eines
niedrigeren Lohnes und einer Verteuerung aller Lebensmittel zu leiden haben-
e
Der achtstündige Arbeitstag würde also nichts andres bedeuten, als ein
gänzliche Verarmung der Nation, von der die Arbeiter nicht minder als
die bisher bemittelten Klassen betroffen werden würden.
Mit Einführung des achtstündigen Arbeitstages wird es nur freilich,
wenn wir nicht eine Revolution erleben sollten, noch seine guten Wege haben.
Aber eine Betrachtung der Wirkungen, die diese Einführung haben würde,
^ doch auch insofern von Interesse, als ähnliche Wirkungen, wenn auch
natürlich in verkleinerten Maße, sich an jede vom Staate erzwungene Minderung
der Arbeit knüpfen würden.
Wir sind weit entfernt, das Recht und die Pflicht des Staates zu be¬
izeiten, gewissen Extremen in der Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft ent¬
gegenzutreten. Aber man muß sich nur bewußt bleibe:,, daß alle solche Ma߬
regeln zweischneidig sind, daß jede Minderung der Arbeit eine Minderung der
^ütererzeugung und jede Minderung der Gütererzeugung eine Minderung des
Wohllebens, sei es auch nur Einzelner, herbeiführt. Wer ist es nun, der von
^ein Verluste betroffen werden wird? Zunächst wird es immer der Arbeiter
>eU,se sein, der entsprechend weniger Lohn erhält. Ob es ihm möglich ist, den
Verlust in andrer Weise wieder auszugleichen oder auf den Geschäftsherrn
überzuwälzcn, ist sehr fraglich. Mit dem Worte Humanität lassen sich solche
»ragen nicht einfach entscheiden. Es ist ja sehr leicht zu sagen: Die Huma¬
nität fordert, daß Frauen und Kiuder nicht durch übermäßige Arbeit mißbraucht
"erden. Gewiß! Unter Umständen kann die Frage aber auch so stehen: Ist
^ besser, daß Frauen und Kinder in der Fabrik arbeiten und etwas zu essen
laben, oder daß sie zu Hause feiern und Hunger leiden? Wo sich die Frage
stellt, da ist es sehr zweifelhaft, auf welcher Seite die größere Humanität
' "se- Unverkennbar ist übrigens das Drängen der Familienglieder nach ge¬
werblicher Arbeit eine Folge der starken Vermehrung der Familien. Ähnlich
'erhält es sich auch mit der Beschränkung der Sonntagsarbeit.
Ma» hat darauf hingewiesen, daß unsre Industrie durch eine größere
^schränkung in der Verwendung von Arbeitskräften Gefahr liefe, die Kvn-
rrenzfähigkeit mit dem Auslande einzubüßen und dadurch ihre Ausfuhr von
ndem zu verlieren. Dies ist insofern richtig, als, wenn bei uus teurer ge-
'ettet wird, das Ausland uns die teurer gewordenen Waren nicht mehr ab-
^ruine. l>,^ diesen Schaden von dem einzelnen Lande abzuwenden, hat man
für wünschenswert gehalten, daß alle Kulturländer sich gleichen Beschrän¬
kn
dir'"gen unterwerfen; und um dies anzubahnen, ist jüngst von unserm Kaiser
internationale Konferenz über die Arbeiterfrage berufen worden. Die Koü-
^ ^ hat eine Reihe von Beschränkungen der Industrie im Gebrauche der
rbeiterkräfte für wünschenswert erklärt. Wir nehmen an, daß dieses „Wünschens-
^'t' auch den Gedanken in sich schließen soll, daß die bezeichneten Beschrän-
selb^" anderweite Schädigung der Industrie, und namentlich der Arbeiter
möglich seien. Gerade in dieser Richtung ist aber die Frage außer-
ordentlich schwer zu überblicken und ohne Zweifel auch nicht überall dieselbe.
Zunächst liegt anch keine Gewähr dafür vor, daß alle bei der Konferenz be¬
teiligten Staaten deren Aussprüche sich gleichmäßig aneignen werden.
Aber ganz abgesehen hiervon ist es ja eine Täuschung, wenn man glaubt,
mit Beseitigung der Gefahr einer unüberwindlichen Konkurrenz des Auslandes
die Nachteile, die eine verminderte Gütererzeugung in sich selbst trägt, über¬
wunden zu haben. Jene Konkurrenzgefahr bildet ja nur eine einzelne Seite der
Sache. Auch in dieser Beziehung ist es lehrreich, wenn wir einmal, statt ge¬
ringerer Beschränkungen, die starke Beschränkung des achtstündigen Arbeitstages
uns verwirklicht denken. Gesetzt, alle Länder führten gleichzeitig den acht¬
stündigen Arbeitstag ein. Allerdings würde dann kein Land in der Güter-
erzeugung vor dem andern etwas voraus haben. Aber die Folge würde
doch nur die sein, daß alle Länder gleichmäßig verarmten. In dieser Gleich¬
mäßigkeit läge ja nach einem bekannten Spruche ein gewisser Trost. Aber die
Verarmung an sich würde doch kaum minder drückend empfunden werden.
Diese Ausführung hat nicht den Zweck, gewissen Fragen, die wahrscheinlich
binnen kurzem auf der Tagesordnung stehen werden, absprechend gegenüber-
zutreten. Sie will nur dazu beitrage,,, klarer zu stellen, um was es sich bei
solchen Fragen handelt, und sie will dadurch einseitigen Auffassungen der Sache
begegnen. Sie will insbesondre darauf hinweisen, daß bei der Frage der Arbeits-
beschräukung das Interesse der Arbeitgeber und das der Arbeiter uicht unbe¬
dingt feindlich einander gegenüberstehen, sondern in vielen Fällen neben einander
hergehen. Am wenigsten dürfen wir uns bei Fragen dieser Art durch die
Reden der sozialistischen Agitatoren beirren lassen. Diese wissen ohne Zweifel
am besten, daß jede Beschränkung in der Arbeit zweischneidig wirkt, daß s"
nicht unbedingt dem Arbeiter zu gute kommt, sondern ihm unter Umständen
auch ins Fleisch schneidet. Das scheuen sie aber nicht. Denn auch die Arbeiter,
die durch Beschränkung der Arbeit noch mehr als bisher in Not geraten, führe"
Wasser auf ihre Mühle.
in Schriftchen, das als ergänzendes Lehrbuch zu den Best""'
nungen der Schießvorschrift und des Exerzierreglements über
Feuerleitnng in militärischen Kreisen epochemachend aufgetreten
ist und sich als Anweisung für die Leitung einen dauernden
Platz errungen haben dürfte, hat auch für Laienkreise Interesse,
weil darin zum erstenmale klar und bestimmt die Fenererfolge der Infanterie
auseinandergesetzt werden.
Bei der Wichtigkeit aller militärischen Verhältnisse für unser bürgerliches
Leben und bei der regen Teilnahme, die ihnen überall in unsrer Gesellschaft
entgegengebracht wird,' wird es erwünscht sein, die Auseinandersetzungen, die
als Folgerungen und kehren sür die Jnfanteriefeuerleitung nach Beiwohnung
aller Kompagniebesichtigungen in Posen von dem preußischen Hauptmann
Heckert gesammelt worden sind: Winke für die Leitung des Jnfauterie-
feners gegen Infanterie, Kavallerie und Artillerie (Berlin, E. S. Mittler
und Sohn, 18L9), anch in weitere Kreise dringen zu lassen.
Die Winke sür die „Leitung" selbst sollen uns, weil sie den Fachkreisen
gegeben sind, nicht beschäftigen. Wir wollen uns mir die in der Schrift be¬
rechneten — so darf man wohl von den aus praktischen Beobachtungen ge¬
zogenen Schlüssen sagen - Fenererfolge näher ansehen, die die Stärke und
Überlegenheit der Infanterie andern Waffen gegenüber zeigen. Die Thatsache,
daß der größte Teil unsrer wehrhaften Männer gerade der Infanterie — dem
"Kanonenfutter" — angehört, wird dadurch an Schrecknissen insbesondre bei
Gattinnen und Müttern verlieren.
° Als unter allen Verhältnissen geltend mag der Satz des Verfassers vor¬
ausgeschickt werden: Bei der Infanterie wird jedes Gewehr von einer phy¬
sischen und seelischen Einflüssen unterworfenen Persönlichkeit gehandhabt, die
Vevbachtnng und deshalb Verbesserung der Wirkung ist schwer, und fast jede
'naht unmittelbar treffende Kugel ist verloren.
Infanterie gegen Infanterie wird um den schwierigsten Stand haben, weil
sich ans beiden Seiten Personen gegenttbertreten, die „physischen und seelischen
Einflüssen" unterworfen sind. Der Erfolg eines solchen Kampfes wird nament¬
lich von der Feuerüberlegenheit einer der kämpfenden Parteien abhängen, sodaß
d'ehe Feuerüberlegenheit,' sobald die Verhältnisse beim Feinde erkannt und die
'ingriffsrichtnng beschlossen oder die Stellung besetzt ist, von vornherein an¬
gestrebt werden und zu ihrer Erreichung auch der letzte Mann der Kompagnie
Angesetzt werden muß.
Sehr wichtig ist in diesen Jnfanteriegefechten die Schätzung der Entfernung,
man es mit kleinen, wechselnden Zielen zu thun hat. Mathematische Be¬
rechnungen lehren, daß der Einfallwinkel des Jnfanteriegeschosses sehr gering
'si> sodaß ein stehender oder knieender Mann leicht, ein liegender dagegen nur
schwer getroffen werden kann. So wird die kämpfende Infanterie bestrebt sein
"U'lösen, uns feindliches Jnfanteriefeuer liegend zu antworten, um kein Ziel zu
Mieter »ut von treffenden Kugeln verschont zu bleiben. Geht es der Ent¬
scheidung entgegen und soll die feindliche Stellung mit Sturm genommen
werden, denn freilich setzen sich die anlaufenden Schützen vollständig dein feind¬
lichen Feuer aus, und nur die Siegeshoffnung und opferfreudiger Mut können
^» Sturm erfolgreich machen. Ein nicht zu unterschätzendes Mittel, den Mut
erhöhen, soll dann in einem gefüllten Magazin erblickt werden, denn die
Schlitzen laufen mit gefülltem Magazin schneidiger als mit aufgeschlossenem der
Entscheidung entgegen. Das Gefühl, einen Patronenvorrat in schnellster Feuer¬
bereitschaft bei sich zu haben und dadurch allen Vorkommnissen während und
nach dem Sturme gewachsen zu sein, hebt die Energie des Anlaufs.
Der Fettererfolg der Infanterie gegen Infanterie hangt nach alledem „bei
sonst gleicher Beschaffenheit" geradezu von der größer» Anzahl der Gewehre ab.
Bei den Ausführungen, die Hauptmann Heckert über das Jnfauteriefeuer
gegen Kavallerie macht, geht er von dem Grundsätze des Exerzierreglements
aus: „Die Infanterie darf überzeugt sein, daß sie bei kaltem Blute und in
fester Haltung die Kavallerie auch in der Überzahl nicht zu fürchten hat."
Heckert fragt folgerichtig: „Wo ist aber die vernunftgemäße Grenze dieser Über¬
zahl?" Zur Beantwortung dieser Frage führt er folgendes aus.
Die angegriffene Infanterie schießt in der Regel auf eine so nahe Ent¬
fernung, daß selbst der schlechteste Schütze, wenn er mir einigermaßen horizontal
anschlägt, noch trifft. Angenommen, die erste Lage wird auf 350 Meter ab¬
gegeben, so können bis zum Augenblick des Einhauens — etwa eine halbe
Minute — immerhin noch 5 Schuß aus jedem Gewehr gefeuert werden. Dies
macht bei einem Zuge von etwa 50 Gewehren — wir nehmen absichtlich un¬
gefähr die Mitte zwischen Kriegs- und Friedensstärke — 250 Schuß. Und
selbst wenn hiervon noch 100 Kngeln vorbeigingen, so treffen doch 150, d.h.
genug, um eine Schwadron zur Umkehr zu zwingen. Dies Verhältnis wird
sich je nach der Überraschung oder Entfernung und je nach der Gewehrzahl
ändern; im allgemeinen aber kam? festgehalten werden, daß zur Abwehr einer
Schwadron ein Jnfanteriezug, zur Abwehr eines Kavallerieregiments unter
günstigen Umständen eine Kompagnie nötig oder genügend ist.
Die Infanterie soll den Kavallerieaugriff womöglich stehend empfangen,
denn Pferd und Reiter werden, wenn sie den stehende» Menschenwall vor sich
sehen, unwillkürlich mehr an Schneide verlieren, als wenn sie einen knieenden
oder liegenden Feind anreiten. Ein liegender besonders wird, weil er leicht z»
überspringen ist, kann einen moralischen Hemmschuh bilden. Ist die Infanterie
schon mit einem andern Gegner, etwa mit Infanterie beschäftigt, so wird ein
Feuererfolg der Infanterie bei einem nun eintretenden Kavallerieangriff natür¬
lich schwieriger zu erzielen sein. In einem solchen Falle muß die angegriffene
Infanterie „mit allen Gewehren dieses augenblicklich gefährlichste Ziel" be¬
schießen und das Feuer auf die feindliche Infanterie einstellen, obgleich sie von
dieser selbst beschossen wird.
Aus dem Grundsätze, daß angreifende Kavallerie „Richtung und Fühlung
immer mich der Mitte" hat, zieht Heckert die Lehre: Wenn diese Mitte, obgleich
die Schwadron immer von neuem durch Zusammenziehen den Schluß herzu¬
stellen sucht, dnrch immer von neuem einschlagende Kugeln zusammenstürzt,
so fällt auch die Hauptgrundlage für das Gelingen des Angriffs, nämlich
Richtung und Fühlung, d. h. Geschlossenheit dahin. Der Fenererfvlg der
Infanterie gegen die angreifende Kavallerie wird also wesentlich davon abhängen,
daß die Infanterie ihr Feuer gegen die Mitte der angreifenden Kavallerie
lenkt. Der erste Schritt wird von der Infanterie mit Ruhe auszuführen sein,
»ut das geschieht durch Abgabe einer Salve. Es ist für den Jnfanteristen
schwer, die anstürmende und immer näher reitende Kavallerie so lange schutzlos
zu erwarten, bis nach Ansicht seines Führers der erste Schuß abgegeben werden
darf. Aber gerade dieses Warten ist, damit das Feuer nicht zügel- und
wirkungslos verlaufen soll, von großer Wichtigkeit; die Salve ist hier der
Zügel. Nachdem aber durch sie gleichsam die Erlaubnis zur Feuereröffnung
gegeben ist, kann und muß das ans dem Magazin abgegebene Schützenfeuer
nunmehr in sein Recht treten.
Der Feuererfolg der Infanterie wird also gegebenen Falls mit davon
abhängen, daß die Infanterie wie ein stehender Wall die Kavallerie erwartet,
daß sie dann eine gut kommandirte Salve nbgiebt, und daß hierauf jeder einzelne
Schütze unes Möglichkeit viele, horizontal abgegebene Schüsse auf die Mitte
der Kavallerie abfeuert.
Am schwierigsten, wenigstens bei weiter Entfernung, sind Feuererfvlge der
Infanterie gegen Artillerie herbeizuführen. Der Erfolg einer Jnfanteriesvitze
gegen Artillerie ist gleich Null. Nach Heckerts Berechnungen würde das Feuer
einer zehn Mann starken Spitze bei einem Schuß aufs Gewehr im aller-
günstigsten Falle vier Kugeln auf den Raum von ?0 bis 40 Metern bringen.
Das Geschütz bietet aber ein wenig geeignetes Ziel, da es an sich schmal und
niedrig ist Jud „in abgeprotztem Zustand eine Tiefe vou etwa 25 Schritt"
hat. Es ist also nicht schlecht gerechnet, wenn von den treffenden vier Kugeln
'u>r eine auf das Geschütz geschrieben wird. Das Geschütz selbst bietet aber
u»r tote Ziele, und es °können selbst dann, wenn das beschossene Geschütz
"U'de antwortet, und selbst dann, wenn die Entfernung zwischen 700 und
^0 Metern richtig geschätzt war, die gegen Mannschaften und Pferde eines
Geschützes wirkenden Kuge°in einer Jnfnuteriespitze nur Zufallstreffer sein."
daraus folgt die Lehre, daß eine kleine Abteilung, wie eine Spitze, auf Ar-
^lerie gar nicht schießen soll, die Artillerie wird auch auf sie erfolglos schießen.
Günstiger berechnet Heckert die Feuererfvlge eines Jnfanterieznges gegen
Artillerie. Ein Zug von W Man» mit etwa 15 bis 20 Schuß aufs Gewehr
^äre »ach Heckert imstande, ein Geschütz tot zu macheu. Daraus folgert er
dann weiter.° daß, „um mit derselben Schußanzahl eine feindliche Batterie von
6 Geschützen niederzukämpfen. 6 Züge, d.h. 2 Kompagnien, nötig sind." Eine
^vmpngnie allein müßte demnach !W bis 40 Schuß aufs Gewehr zur Er¬
reichung des Feuererfvlges gegen eine Batterie einsetzen — ein Munitions¬
verbrauch, der nur in den äußersten Fällen gerechtfertigt werden könnte. Mit
^nehmender Annäherung der Infanterie an die Artillerie sinkt der Mnnitions-
verbrauch, und umgekehrt wachsen „mit der Nähe die Aussichten der Feuerüber¬
legenheit für die Infanterie." Verspreche» lassen wird sich aber ein Feuererfolg
für die Infanterie nur dann, wenn sie gegen die Artillerie ihr Feuer verteilt,
d. h. auf einmal mehrere Geschütze der feindlichen Batterie beschießt, da zu
erwarten ist, daß die nicht beschossenen Geschütze ihre Shrapnels auf die
Kompagnie richten und ihr unbehelligt große Verluste beibringe«? würden-
Zudem muß die Kompagnie lebhaftes Feuer gegen die Batterie eröffnen, »>»
mit ihr fertig zu werden, ehe die feindliche Infanterie der Artillerie zu Hilfe
kommt, ja es wäre, „wem, die Batterie im Ab- und Aufprotzen beschossen
werden kann, sogar Magcizinfener zu rechtfertigen."
Kehren wir zum Ausgangspunkte zurück und betonen wir, daß es nnter
allen Verhältnissen wesentlich darauf ankommt, welchen „physischen und seelischen
Einflüssen" gerade die einzelnen Persönlichkeiten der kümpfenden Infanterie
unterworfen sind, so können wir doch daran festhalten, daß unter normalen
Verhältnissen den von Heckert angestellten Berechnungen auch der Fenererfolg
der Infanterie entsprechen wird.
er König hatte abgedankt und Paris verlassen. Die provisorische
Regierung im Rathause, aus Vertretern aller siegreichen Parteien
zusammengesetzt, hatte die Kammern für aufgelöst erklärt und die
Republik ausgerufen, stand aber selbst ans sehr schwachen Miß"''
In Räumen dicht neben ihrem Beratungszimmer, auf dem Ho^
unter dessen Fenstern, bezweifelten Volksredner in, Stile von 179.'!, wütende
Schwärmer von sozialdemokratischen Schlage ihre Berechtigung und ihre richtige
d. h. revolutionäre Gesinnung und reizten die auf den Treppen und Gänge",
in den Höfen und Sälen umhertollenden Banden bewaffneten Gesindels, sie
zu sprenge». Hatten die Leute, die gebieten wollten, auf den Barrikade»
nntgefvchten. trugen sie die Bluse des Arbeiters, hatten sie die Manieren des
„Volkes." waren sie nicht vielmehr »ach Gewohnheit u»d Neigung Aristokraten,
die an die Laterne gehörten? Der Beredsamkeit und Geistesgegenwart
Lainartu.es, ihres Wortführers, gelang es wohl ein DnKend mal. den Se"""
zu beschwichtigen, aber immer kehrte er wieder, und die Regierung war völlig
erschöpft, als die Nacht endlich Ruhe brachte. Am nächsten Morgen wieder¬
holte sich die Gesahr. Wieder strömten die Vorstädte ihre Massen von Prole¬
tariat aus, neben Arbeitsleuten auch die Hefe der Bevölkerung, Verbrecher vom
Handwerk. Zuletzt war die vor dem Rathause versammelte Menge auf 40000
bis 50000 Köpfe' angewachsen, und nur brach sie sich Bahn in das Sitzungs¬
zimmer der provisorischen Regierung, um mit Ungestüm an sie eine Reihe aus¬
schweifender Forderungen zu stellen, wie Annahme der roten Fahne, Überwachung
der Beratungen und Beschlüsse durch einen Volksausschuß. Entwaffnung der
Nationalgarde und Verteilung ihrer Gewehre an das Proletariat, Beseitigung
aller gesellschaftlichen Ungleichheiten und Gewährleistung des Rechtes auf Arbeit,
Forderungen, die sofort erfüllt werden sollten. Wieder that Lamartine Wunder,
sein Wort beruhigte die drohenden Schreier, und wenn nach ihrem Abzüge
andre, wildere und trotzigere erschienen, so wußte er auch mit diesen in Güte
sMig zu werde», ohne sich zur Bewilligung ihrer Forderungen zu verpflichten.
Das Proletariat trug zunächst nnr ein Zugeständnis davou. aber ein ver¬
hängnisvolles. Gedrängt und bedroht von Arbeitern, an deren Spitze der
Drechsler Salle stand, unterzeichneten zwei Mitglieder der provisorischen Re¬
gierung, Louis Blaue und Garnier-Pagvs, jener aus Verblendung, dieser aus
Schwäche, ein Dekret folgenden Wortlautes: ..Die Negierung verpflichtet sich,
dem Arbeiter den Unterhalt durch die Arbeit zu verbürgen, sie verpflichtet sich,
allen Bürgern Beschäftigung zu verschaffen, sie erkennt an, daß alle Arbeiter
°as Recht haben, sich unter einander zu verbinden, um sich den rechtmäßigen
Ertrag ihrer Arbeit zu sichern. Die provisorische Regierung beschließt, deu
Arbeitern die Million der Zivilliste, die am Ende des Monats fällig wird,
und die ihnen gehört, zurückzuzahlen." Am 20. Februar war die Regierung
durch Ansammlung von Nationalgardisten, Militärschülern und Studenten vor
Leitern Zumutungen und Bedrohuugen durch das Proletariat geschützt, aber
schon am Morgen des nächsten Tages zog ein neues sozialistisches Unwetter
^gen sie heran, indem einige Tausend bewaffnete Sozinldemokraten in das
Rathaus eindrangen und verlangten, daß ihnen die „Organisation der Arbeit"
^gesichert und zu diesem BeHilfe ein „Ministerium des Fortschritts" mit Louis
^laue an der Spitze gebildet werde. Lamartine Wichte sie jedoch einigermaßen
an der Vernünftigkeit ihrer Forderung irre zu machen und sie durch unbestimmte
Zusagen hinzuhalten, und dafür, daß solche Überfälle sich nicht wiederholten.
'°rgte auf Lamartines Antrag der neue Polizeipräfekt Causfidiöre. Er bildete
"u der Stelle der in alle Winde zerstobenen alten Polizeimannschaft eine neue.
^' anfangs nur aus einigen hundert Mann bestand und den Namen der
^"ntagnards führte, später aber durch eine zweite Abteilung, die Volks- oder
Republikanische Garde, bis auf 2700 Mann verstärkt wurde und trotz ihres
Ursprungs und Aussehens der Sache der Sicherheit und Ordnung vortreffliche
G
Dienste leistete. Sie war nämlich von der Straße und den Barrikaden und
aus den geheimen Gesellschaften niedrigsten Ranges zusammengelesen, und viele
ihrer Mitglieder versahen den Dienst barfuß. Statt einer Uniform gab man
ihnen als Erkennungszeichen rote Halsbinden und Gürtel, aber die feste Hand
ihres Chefs sorgte dafür, daß sie rasch zu eiuer Truppe wurden, die sich recht
gut gegen die „Roten" gebrauchen ließ.
Die provisorische Regierung fand jetzt Zeit zu ernsteren und notwendigeren
Geschäften, sie widmete sich der Ordnung der Beziehungen zum Auslande, der
Vorbereitung der Wahlen für die verfassunggebende Nationalversammlung und
der Verbesserung der Finanzen. Die damit verbundene Steuererhöhung machte
vorzüglich aus dem Lande böses Blut, und wenn man den fast gänzlich ge¬
schwundenen Privatkredit dnrch Errichtung von öffentlichen Wechselkvmptoirs
in den wichtigsten Fabrik- und Handelsstädten einigermaßen ersetzte und so den
allgemeinen Stillstand der Geschäfte verhütete, so schlössen doch viele Unter¬
nehmer ihre Fabriken, Werkstätten und Handelshäuser, und Tausende von Hand¬
werksgesellen, Kaufmannsdienern und Tagelöhnern verloren ihr Brot. Die
Wirklichkeit bildete damit einen grellen Gegensatz zu den ausschweifenden Hoff¬
nungen, die durch den Sieg der Februartage in den sozialistisch durchsäuerten
untern Klasse» erregt worden waren. Waren diese dnrch Vernunftgründe und
Beredsamkeit bewogen worden, ihre maßlosesten Forderungen vorläufig fallen
zu lassen, so war selbstverständlich nicht zu erwarten, daß sie das über sie
hereingebrochene äußerste Elend gelassen ertragen und in stiller Ergebung ver¬
hungern würden. Die Ernährung des durch die Revolution verdreifachte»
Proletariats war die erste Bedingung für die Wiederherstellung eines regel¬
mäßigen staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, und überdies war das Recht
auf Arbeit von der provisorischen Regierung förmlich anerkannt worden. An¬
gesichts dessen ermächtigte diese den Minister der öffentlichen Arbeiten, Marre,
zur Errichtung sogenannter Nationalwerkstätteu, in denen die brodlosen Bürger
der Republik Beschäftigung und Lohn finden sollten. Die einzige Beschäftig»»!!
aber, die man ihnen zu geben wußte, waren nutzlose Erdarbeiten: man ließ si^
Dämme ohne denkbaren Zweck aufwerfen und Gräben ziehen, in denen nie eM
Tropfen Wasser fließen sollte. Es war nur ein Vorwand zur Zahlung cinco
Wochenlohns, der im Grunde el» Almosen war. Natürlich hatten diese Arbeiten,
zu denen sich gegen hunderttausend Unterstützungsbedürftige meldeten, wie keine»
wirtschaftlichen Nutzen, so auch keinen sittlichen Wert, und so war es kaum eM
Verlust, wenn sie bald einem Müßiggange Platz machten, der seinen Lohn und
dem Bewußtsein einstrich, ihn nicht verdient zu habe». Das mußte auf die
Dauer den Staat finanziell, das Volk sittlich zu Grunde richten, und doch er¬
öffnete sich vor der Hand keinerlei Aussicht auf eine Beseitigung dieser >»
Paris und mehrern andern französischen Großstädten am Marke des Landen
fressenden Anstalten.
Nicht weniger Besorgnis als die Nationalwerkstätten rief ein „Arbeiter-
Parlament" hervor, das am 1. März im Sitzungssnale der ehemaligen Pairs-
kammer im Palais Luxemburg eröffnet worden war und unter dem Vorsitze
Louis Blancs, des Apostels der „Organisation der Arbeit," sich damit be¬
schäftigen sollte, die Mittel zur Verwirklichung der zwar unbestimmten, aber
keineswegs bescheidenen sozialistischen Wünsche ausfindig zu machen, deren Er¬
füllung der große Haufe von der Februarrevolution erwartete. Es kam dabei
nicht viel mehr heraus als lange Reden, mit denen mehr Gefühle als Gedanken
ausgetauscht wurden. Man sprach pathetisch von Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit, die nun herrschen und die Welt beglücke» sollten, und einigte
sich dann schon am ersten Tage zu einem Beschlusse, der, indem er die
Arbeitszeit in Paris auf zehn, in den Provinzen ans elf Stunden beschränkte,
ein Vorrecht schuf, das der Gleichheit und Brüderlichkeit Hohn sprach. In
>drein weitern Verlaufe lieferten die Beratungen der fast ausschließlich aus
Handwerks geselle», Fabrikarbeitern und Tagelöhnern zusammengesetzten Ver¬
sammlung kaum ein andres Ergebnis, als daß sie die Inhaltslosigkeit der
sozialistischen Schlagwörter und die Unnusführbarkcit der gesellschaftlichen.
Revrgauisativnspläue Louis Blaues und andrer in Helles Licht setzte». Dennoch
^ar zu befürchten, daß früher oder später ein offner und gewaltthätiger
Kommunismus aus dem ehemaligen Saale des französischen Oberhauses hervor¬
gehe» würde, u»d so war das Arbeiterparlament ein Gegenstand unaufhörlicher
Beunruhigung für den Mittelstand. Nächst Louis Blaue erregte Ledru-Rollin,
°er »die Minister des Innern, durch seiue Grundsätze und seine Thätigkeit
schwere Bedenken. Er schickte ganze Scharen von „Zivilkommissaren" in die
Provinzen und gab ihnen unbeschränkte Vollmacht mit, durch die die gesamte
bewaffnete Macht in den betreffenden Bezirken unter ihren Befehl gestellt
wurde. In dem Schreiben des Ministers an diese Sendboten hieß es u. n.:
"^hre Aufgabe besteht in der Belebung der republikanischen Gefühle des
Landes. Die Präfekten und Untcrpräfetten müssen allenthalben abgesetzt werden.
An einigen Orten möchte man sie behalten, aber Sie müssen den Leuten be¬
greiflich machen, daß man nicht Männer im Amte lassen kann, die einer Rc-
iUeru»^ gedient haben, welche mit jeder ihrer Handlungen irgend eine Korruption
Ausgeübt hat. Auch die Maires und ihre Beigeordneten sind abzusetzen, und
^um die Gemeinderäte sich feindselig zeigen, muß man sie auflösen. Erweist
Mitglied des unabsetzbaren Beamtenstandes sich als Gegner, so kann ihn
^ Kommissar gleichfalls seiner Stelle entheben." Zum Schlüsse empfahl das
schreiben den Kommissären dringend Einfluß auf die bevorstehenden Wahlen
^ üben, denn mir eine von revolutionärem Geiste beseelte Nationalversammlung
omne Frankreich retten, und deshalb müsse man die Wahlen so leiten, daß sie
neue Männer und zwar so viel als möglich aus dem Volke ergäben. In
ähnlichem Sinne sprach Carnot, der neue Unterrichtsminister, in einem an die
Schuldirektoren gerichteten Rundschreiben. „Der größte von den Irrtümern,
hieß es darin, vor denen das Landvolk zu bewahren ist, besteht darin, daß ein
Volksvertreter gebildet und wohlhabend sein müsse. Man darf nicht vergessen,
daß in der großen Versammlung, um deren Wahl es sich jetzt handelt, die
Mehrheit die Rolle von Geschwornen hat, die mit Ja oder Nein darüber ur¬
teilen, ob die gemachten Vorschläge gut oder schlecht sind. Frankreich verlangt
neue Männer, eine Revolution soll nicht bloß die Staatseinrichtungen, sondern
auch die Menschen erneuern, mit den Werken muß man auch die Werkzeuge
wechseln." Diesen Grundsätzen zufolge ging eine große Anzahl von Ämtern
in andre Hände über, und zwar meist in die von Oppositionsmännern der letzten
Kammer, von radikalen Zeitungsschreibern, ehemaligen politischen Gefangnen
und andern Leuten, die keine andre Empfehlung hatten, als daß sie Wider¬
sacher der gestürzten Regierung gewesen waren. Tausende aber drängten sich
nach Posten mit der Versicherung, dies ebenfalls gewesen zu sein, und niemals
war die unberechtigte Stellenjügerei so dreist und so erfolgreich als jetzt, nach
Vernichtung des Bürgerkönigtums, dem. man immer vor allem vorgeworfen
hatte, es besetze die Ämter nicht nach Verdienst, sondern nach Gunst, es be¬
zahle damit rohatistische Gesinnungen und Dienstleistungen.
Ein Gegenstand lebhafter Unruhe für die Negierung und die konservative
Bevölkerung wurden die politischen Klubs, deren Paris in wenigen Wochen
Hunderte zählte. Wer sich irgend in Verschwörungen oder sozialistischen Sekten
einen Namen erworben hatte, wie Varbes, Blanqui, Raspail, Cabet und
Sobrier, gründete eine solche Anstalt, in der allerdings vorwiegend Phrasen
gedroschen wurden, die aber bald auch schwere Unruhen ausbrüten helfen sollte-
Am 17. März erschien eine von den Klubs der Roten zusammengebrachte Volks-
masse vou weit über hunderttausend Köpfen, um deren Spitze Blanqui, Barbös,
Raspail und Cabet einherschritten, vor dem Rathause, begehrte Einlaß und
stellte durch Blauqui, ihren Wortführer, eine Reihe inhaltsschwerer Forde¬
rungen, auf die selbst Mitglieder der provisorischen Regierung, wie Biene und
Ledru-Rollin, nicht eingehen konnten, und die doch ohne Verzug beraten und
beschlossen werden sollten. Durch beharrlichem Widerstand gelang es, die
Führer zum Verzicht auf sofortige Gewährung dieser Forderungen, unter denen
der Befehl zum Abzug der letzten Truppen aus Paris, das Versprechen, hier
nie wieder eine Besatzung zu halten, und Vertilgung der Wahlen waren,
bewegen, und die versammelte Volksmenge ging ruhig auseinander. Bald aber
wiederholten die Klubs das Verlangen nach Aufschub der Wahlen zur National¬
versammlung, das ihnen besonders am Herzen lag. Die Ultrnrepublikaner und
Sozialisten, anfangs Gegner, jetzt, als Sozialdemokraten Bundesgenossen, fo^
derem, von Blaue, Ledru-Rollin und andern Mitgliedern der provisorischen
Regierung unterstützt, diesen Aufschub unter allerlei Vorwänden, hinter denen
sich aber nur das Mißtrauen in die republikanische Gesinnung der Mehrheit
der Franzosen, vorzüglich der Bauern, und die Besorgnis verbarg, das Er¬
gebnis der Februarrevolution werde durch eine reaktionäre oder doch gemäßigte
Nationalversammlung vernichtet, wenigstens stark beschränkt werden. Dazu
den für die äußersten Parteien, die in den Ereignissen des Februars nur den
Anfang ihrer Revolution erblickten, das dringende Interesse, die gegenwärtigen
Zustände nicht die Festigkeit gewinnen zu lassen, die von der Eröffnung der
Nationalversammlung zu erwarten war, und so wurde vom „Klub der Klubs,"
einer revolutionären Zentralbehörde, ein anarchistisches Unternehmen vorbereitet,
das die provisorische Regierung den Sozialdemokraten unterwerfen oder sie
beseitigen sollte. Die Ausführung des Plans war auf den 1«. April fest¬
gesetzt; an diesem Tage rückten 40000 Sozialdemokraten vom Marsfelde her
Ma Angriffe auf das Rathaus heran. Die Negierung war aber gewarnt und
hatte sich vorgesehen. Sie hielt die Mobilgarde zum Empfange der Gegner
bereit, der Generalmnrsch rief noch zur rechten Stunde die Nntionalgarde
herbei, die begeistert Lamartine hoch leben ließ und „Nieder mit den Kommu¬
nisten!" rief, und die Aufständischen mußten von ihrem Angriff absehen. Bald
darauf fanden die Wahlen statt, und ihr Ergebnis war eine vollständige Nieder¬
lage der Noten. Selbst die 34 Vertreter der Hauptstadt waren größtenteils
Männer von Einsicht und gemäßigter Gesinnung. Die Nationalversammlung
trat zusammen, bestätigte die Republik und wählte, nachdem die provisorische
Regierung abgedankt hatte, am 10. Mai an deren Stelle eine „Vollziehungs-
konnnissivn," die durch ein verantwortliches Ministerium bis zur Vollendung
der neuen 'Verfassung regieren sollte, und in der die Partei der gemäßigten
Republikaner überwog, was denn anch in der Wahl der Minister sich ausprägte.
Die ersten Handlungen der Nationalversammlung und ihre ganze Haltung
rechtfertigten den Sozialdemokraten alle Besorgnisse, mit denen sie der Wirk¬
samkeit der Volksvertretung entgegengesehen hatten, und wenn es ihnen nicht
Ölungen war, die Wahlen lauge zu verhindern, so sollte jetzt deren Ergebnis
vernichtet, die Nationalversannnlnng und die von ihr eingesetzte Regierung
^sprengt und an deren Stelle eine sozialdemokrntische Diktatur eingesetzt werden,
'''u 15. Mai sammelten sich die Klubs und ihr Anhang auf dem Bnstillenplatze
und den benachbarten Boulevards und zogen mit roten Abzeichen und Waffen
Unter den Kleidern, geführt von Blanqui, Raspail und Svbrier, an hundert-
^usent Köpfe stark, nach dem Palaste der Nationalversammlung, die sich gerade
'"'t einer Adresse zu Gunsten Polens beschäftigte. Man drang massenhaft in
^' Beratungssal, erklärte die Versammlung sür aufgelöst und vertrieb die
Abgeordneten, worauf man sofort zur Errichtung einer neuen Regierung
^^ne. dabei aber durch den Anmarsch von Mohn- und Nationalgarde gestört
wurde, vor der die Leiter des Aufstandes sich zur Vollendung des Geschäfts
^>es dem Rathause zurückzogen. Hier wurden Barbös. Albert. Blauqui. Raspail,
svbrier, Prudhvn, Cabet, Pierre Leronx und Thors zu Regenten ernannt.
und mau würde ohne Aufschub an den Erlaß einer Anzahl revolutionärer
Dekrete gegangen sein, die man schon vorher entworfen hatte, wenn Lamartine
und Ledru-Rollin nicht bald mit Nationalgarde erschienen wären und die
Häuptlinge der Sozialdemokratie zu Gefangenen gemacht hätten. Einer der
Entwürfe ersetzte die Nationalversammlung durch einen Wohlfahrtsausschuß,
ein andrer schaffte alle Ämter ab und übertrug deren Befugnisse „Mnnizipal-
ausschüssen," Behörden von je sieben Mitgliedern, unter denen wenigstens fünf
Arbeiter sein sollten, ein dritter schuf eine progressive Steuer, die ans ihrer
letzten Stufe die Hälfte des Einkommens betrug, und deren Abschätzung den
Munizipalausschüssen übertragen wurde.
Die Nationalversammlung hatte sich inzwischen wieder in ihrem Palast
eingefunden, und die ebenfalls einen Augenblick gestörte Vvllziehnngskommission
hatte ihre Thätigkeit wieder aufgenommen. Beide Körperschaften stimmten nicht
recht überein, namentlich nicht recht in der Frage der Nativnalwerkstätten,
deren Schließung die Volksvertretung lebhafter wünschte als die Regierung-
Das Arbeiterparlament war mittlerweile auseinandergegangen, nachdem Louis
Blaue, an der Lösung seiner Aufgabe verzweifelnd, den Vorsitz niedergelegt
hatte. Seine einzige nennenswerte Leistung war gewesen, daß es für einige
Handwerkergesellschaften vom Staate Geldvorschüsse erwirkt hatte, mit denen
sie Werkstätten gründeten, die mit Aufzehrung des vorgestreckten Kapitals ein¬
gingen. Außerdem machte das Arbeiterparlament einige Vorschläge, die im
wesentlichen darauf hinausliefen, der Einwirkung des Staates ans Ackerbau,
Gewerbe und Handel einen möglichst weiten Spielraum zu geben und die
oberste Leitung der wirtschaftlichen Dinge mehr und mehr in seinen Händen
zu zentralisiren. Unter andern: sollte er sich des Bankwesens bemächtigen und
mit einer Masse von Papiergeld dem Kapitalmaugel durch wohlfeile Darlehen
abhelfen. Sonst hinterließ das Parlament nur gesteigerte Unzufriedenheit w
den untern Klassen.
Unter solchen Umständen wurde die Aufhebung der Nativnalwerkstätten
immer schwieriger, aber auch immer notwendiger. In den letzten Tagen des
Mai beschloß die Regierung einige vorbereitende Maßregeln. Es sollten d>e
Arbeiter daraus entlassen werden, die nicht mindestens sechs Monate in Paris
wohnten, ebenso die, die sich weigerten, die ihnen von Privatunternehmern
angebotene Beschäftigung anzunehmen; denn mehrere Fabriken waren jetzt nur
noch durch den Mangel an Leuten, die um angemessenen Lohn ernstlich arbeiten
wollten, verhindert, ihren Geschäftsbetrieb wieder in Schwung zu setzen. Ferner
sollte die Arbeit in den Nativnalwerkstätten uicht mehr mit festem Lohn (tag'
lich zwei Franks), sondern nach dem Stück bezahlt werden, und endlich wurdl
die Entfernung eines Teils der Arbeiter ans Paris und ihre Beschäftigung u'
entlegenen Lnndesgegeuden angeordnet. Als diese Weisungen der Vollziehung^
kommifsivn dem Direktor der Nativnalwerkstätten, Emil Thomas, mitgetel
wurden, weigerte er sich, ihnen nachzukommen. Der Minister der öffentlichen
Arbeiten niber, Trelat, enthob ihn hierauf seines Amtes und ließ ihn in einen
Postwagen setzen und nach Bordeaux schaffen. Die Kunde hiervon rief unter
Arbeiter« der Nationalwerkstätten große Aufregung hervor und sie ver¬
legten den Minister, als er ihnen Vorstellungen machte. Abends rotteten sie
>^es auf den Boulevards zusammen, sie wurden aber durch Polizei zersprengt
""d ihre „Klubs der Verzweiflung," die Paris seit Wochen schon geängstigt
hatten, auseinandergetrieben. Am 20. Juni verlangte Trslat von der National-
^rsmnmlung noch einmal einen Kredit von drei Millionen für die Werkstätten.
^ wurde zwar bewilligt, aber die Verhandlung darüber zeigte deutlich, daß
ne Volksvertretung nur auf eine Gelegenheit wartete, die Werkstätten zu
Wichen. Dazu kam, daß der „Moniteur" ankündigte, die Regierung werde
^"nächst dazu schreiten, die dienstfähigen Arbeiter der Anstalten dem Heere
Wizuverleibeu.
Die Regierung hatte sich aufs äußerste vorbereitet. Sie hatte die Be-
^dung von Paris auf 25 000 Manu Linientruppen gebracht und einen Teil
^ gegen Savohen aufgestellten Alpenheeres der Hauptstadt genähert, die
^vbilgnrde und die neue Polizei (die alte, Caussidivres Montagnards und
^Me republikanische Garde, war inzwischen aufgelöst worden) zählten zusammen
^geu 20000 Maun, und endlich war zuversichtlich auf eiuen beträchtlichen
^eil der Nationalgarde zu rechnen. General Cavaignac, aus Algerien berufen
^ zum Kriegsminister ernannt, hatte einen förmlichen Feldzugsplan zur Be-
'"pfttng des erwarteten Lvsbruchs entworfen. So glaubte man sich genügend
Rüstet, um die Mitglieder der Nationalwerkstätten, als um 22. Juni eine Ab-
^o»ung derselben im Palast Luxemburg erschien, um die Vollziehuugskommission
"ege» der Anzeige des „Moniteurs" zur Rede zu stellen, schroff abweisen zu
"^N- Marie ließ die Deputation vor, wechselte mit Pujol, deren Sprecher,
^' tige Worte und erklärte schließlich mit Bestimmtheit, wenn die Arbeiter nicht
' ^'N'dem, so würde die Regierung sie zu zwingen wissen. Das versetzte die
^ußen harrenden Massen in Wild. Abends fand auf dem Rathausplatze
große Volksversammlung statt, in der man beschloß, sich am folgenden
^ge„ nieder bewaffnet einzufinden und dann mit der Regierung und National-
^sanunlung Abrechnung zu halten. In der Nacht organisirte sich der Auf-
Und^ Arbeitern der Nationalwerkstätten ihre Einteilung in Brigaden
dus ^"^"uuiuschaften und das militärisch geschulte Element zu gute kamen,
N ^""^ Auflösung der Montagnards und der republikanischen Garde in den
^uvnalwerkstätten Veschäftiguug gesucht und gefunden hatte. Am frühen
^rge» des 23. Juni strömten die Arbeiter bewaffnet nach dem Pantheons-
kiii/^' Pujol sie nach dem Bastillenplatze fiihrte, um sie hier nieder-
^^^^ und eine Anrede an die Geister der an dieser Stätte gefallenen
"llltivnskümpfer zu halten, die mit den Worten „Freiheit oder Tod" schloß
und von der Menge mit einem wilden Hoch ans die sozialdemokratische Republik
beantwortet wurde. Hierauf marschirte Pujol mit seiner unablässig wachsenden
Schar nach dein Thore von Se. Denis, wo er Halt machte und eine Barrikade
auszuwerfen befahl. Zu derselben Zeit sammelten sich in den innern Stadtvierteln
an Punkten, die ohne Zweifel im voraus bestimmt waren, zahlreiche andre Haufen
von Bewaffneten, und man sah Barrikade auf Barrikade emporwachsen. Der
Aufruhr wurde in seinem Werke zunächst nicht gestört, dn die Nationalgarde sich
säumig zeigte und Linientruppen und Mobilgarde nach Cavaignaes Plane nicht
verzettelt, sondern nnr in Masse und zu großen Schlägen verwendet werden sollten.
Cnvaigmu, jetzt mit dem Oberbefehl anch über die Nationalgarde betraut,
sammelte seiue Hauptmacht in der Nachbarschaft des Palastes der National¬
versammlung, dem General Bedeau übertrug man die Beschützung des Rathauses,
dem General Damesme die Verteidigung des Palastes Luxemburg und des
linken Seineufers, der General Lamvricivre besetzte das rechte mit seineu vor¬
nehmen Quartieren. Cavaignne hatte seine militärischen Vorbereitungen noch
nicht vollständig getroffen, als der Aufstand der Bollziehnngskommissiou im
Palast Luxemburg so nahe rückte, daß deren Präsident, Arago, sich im
Vertrauen auf seiue alte Beliebtheit beim Volke entschloß, zu versuche»'
was er mit Abmahnnng der Rebellen vermöge. Er begab sich auf den Pantheons¬
platz, mußte aber, mit wüstem Geschrei und Drohungen empfangen, unverrichteter
Sache wieder umkehre», und nun verlegte die Vvllziehnngskonnnission ihren
Sitz in den Palast der Nationalversammlung, wo sie einstweilen noch sicher
war, und von wo sie sich schlimmstenfalls vor der siegreichen Revolution mit
der Volksvertretung nach einer Provinzialstadt zurückziehen konnte. Der eigentliche
Kampf begann an der Barrikade am Thore von Se. Denis, indem deren Be¬
satzung auf eine Abteilung Nationalgarde Feuer gab und zwölf Mann tötete-
Das brachte die Nationalgarde der nächsten Quartiere auf die Beine, und die
Barrikade wurde von ihr genommen. Von jetzt an kam es in einem große»
Teile der Stadt zum Schießen und Stürmen, wobei die Mobilgarde sich durch
verwegenes Vorgehen auszeichnete. Dn der Tag sich jedoch seinem Ende
näherte, ohne daß ein entscheidender Erfolg gewonnen war, rückte Cavaignac
um der Spitze von 8000 Mann gegen die Barrikaden am Bastillenplatze vor
und erstürmte einige davon, wobei er viele Leute verlor, die Aufständische»
aber nicht erkundigte und den schließlichen Sieg der Regierung nicht wahr'
scheinlicher machte. In der folgenden Nacht ruhten beide Teile.
Am Morgen des 24. neuer Kampf mit verdoppelter Kraftanstrengungau
beiden Seiten. Die Rebellen suchten von drei Seiten zugleich nach dem Rat'
Hause vorzudringen, das jetzt, nachdem Bedeau verwundet worden war, vo»>
General Duvivier verteidigt wurde. Auf die Nachricht von diesem Angriffe'
der den General schwer bedrängte, erhob sich in der Nativnalversammlu»g
Pascal Duprat, ein Republikaner alten Schlages, und stellte den Antrag, Pa"s
>n Belagerungszustand zu erklären und Cavaignac mit der ganzen vollziehenden
Gewalt zu bekleiden. Die große Mehrheit der Versanunlung stimmte zu, und
der neue Diktator säumte nicht, von der ihm verliehenen Macht Gebrauch zu
Machen. Er that es mit gutem Erfolge; die Empörer wurden in der Vor¬
stadt Se. Jacques aus einer Stellung nach der andern, zuletzt auch aus dem
gewaltig verschanzten Pantheon vertrieben, und am Abend war sast das ganze
^nlle Ufer der Seine im Besitze der Truppen und der Nationalgarde, und im
Mittelpunkte der Stadt hatten sie die Empörer so weit zurückgedrängt, daß
das Rathaus nicht mehr gefährdet erschien. Damit aber war noch nicht alle
Gefahr vorüber, es wurden noch mehrmals Versuche angestellt, die Arbeiter
"ut Zureden und Versprechungen zur Niederlegung der Waffen zu bewegen.
Aber alles war vergeblich, hie und da kam es zwar zu Unterhandlungen, aber
unrer zerschlugen sie sich, und bei der einen wurde General Brva mit seinem
Begleiter, einem jungen Offizier der Nationalgarde, als sie die Verteidiger
Micr der letzten und stärkste» Barrikaden des linken Seinenfers beschwichtigen
Zollten, von diesen zum Gefangenen gemacht und dann von einer blutgierigen
Rotte, die in ihr Gefängnis drang, in greuelvoller Weise ermordet. Auch
^er Erzbischof von Paris büßte einen solchen Versuch, zu vermitteln, mit
^e>n Leben. Er fiel, als er, um Frieden zu predigen, eine Barrikade am
^stilleuplatze überschritten hatte und den dortigen Rebellen eine versöhnliche
Proklamation des Diktators zur Beachtuug empfahl, von einer Kugel getroffen,
^"d kaum war er zu Boden gesunken, so wurden die drei Mitglieder der
^tivnalversanlmlung, die ihn begleitet hatten, von den Barrikadenmännern
Gefangenen erklärt und uuter Mißhandlungen und Bedrohungen gedrängt,
^ne Übereinkunft einzugehen, kraft deren den Aufständischen nicht weniger be¬
willigt worden wäre als Auflösung der Nationalversammlung, Abzug aller
"waten von Paris bis auf eine Entfernung von vierzig Wegstunden und
^^ebuug der in Vincennes gefangen gehaltenen Aufrührer vom 15. Mai.
' ver ti^. Abgeordneten weigerten sich standhaft, diesen Zumutungen zu
^sprechen, und schließlich gelang es ihnen, die Aufständischen zu überzeuge»,
^ ein von ihnen eingegangener Vertrag weder die Nationalversammlung noch
^ Negierung zu seiner Erfüllung verpflichten könne.
., Die Aufständischen knüpften nun mit Cavaignac Unterhandlungen an, er¬
helle,, aber von ihm den Bescheid, daß er unbedingte Unterwerfung verlange
dazu mir Frist bis zehn Uhr morgens gebe, nach deren Ablauf er die
"rstndt Se. Antoine mit aller Macht angreifen werde. Inzwischen hatte
^ulich Lamvrieivre unter vielem Blutvergießen und furchtbarer Zerstörung
Mau vertrieb die Verschwörer aus den vou ihnen besetzten Häusern dadurch,
^^«an diese in Brand steckte und ihre Wände durchbrach — die Vorstadt
bin^"^ so weit erobert, daß der vom Diktator angekündigte Angriff auch
^ dieser Seite unterstützt werden konnte. Die andre Vorstadt, die letzte
Burg der Rebellen, war freilich außerordentlich stark befestigt, allein in der
Hauptstraße zählte man über sechzig ungeheure Barrikaden, und es mangelte
zur Verteidigung dieser Niesenschanzen weder an Mannschaft noch an Waffen-
Der gleichzeitige Ansturm vom Bastiltcnplatze und vom Boulevard du Temple
her mußte gleichwohl den Widerstand auch hier mit der Zeit brechen, und so
geschah es denn auch am 26. Juni, nachdem der Aufstand reichlich vier Tage
gedauert hatte. Die Rebellen der Vorstadt Se. Antoine entsprachen der Auf¬
forderung des Diktators, sich unbedingt zu unterwerfen, zunächst nicht, aber
als Cavaigunc darauf ein furchtbares Geschützfeuer gegen ihre Stellung er-
ervffnen ließ, ergaben sie sich ans Gnade nud Ungnade. Doch wurde in
einigen Seitenstraßen noch bis zum Abend gekämpft und selbst in der Nacht
krachten noch einzelne Schliffe.
Niemals hatte bisher ein Aufstand in den Straßen von Paris so lange
nud so blutig gewütet wie diese sozialdemokratische Erhebung. Die Zahl der
während des Kampfes gefallenen wurde auf 10000 geschätzt. Außerdem
aber waren auf beiden Seiten viele Gefangene erschossen worden. Namentlich
verfuhren die Mohn- und die ans den Nachbarorten der Hauptstadt erschienene
Nationalgarde um mehreren Punkten ohne Erbarmen gegen die Empörer, die
ihnen bewaffnet in die Hände fielen, und nach Beendigung der großen Schlacht
mußte man die 12 bis 14000 Rebellen, die mau durch förmliche Treibjagden
einfing, schleunigst vor der Niedermetzelung, mit der die Nationalgarde sie be¬
drohte, nach den .Kasematten der Forts vou Paris schaffen. Auch die Truppe»
erlitten große Verluste. Die Mobilgarde allem büßte gegen 1000 Manu ein,
und von den 14 Generalen, die kommandirteu, wurden 2 ermordet, 4 tötlich
und 5 leicht verwundet.
Die früheren Aufstünde hatten in keiner Beziehung Ähnlichkeit mit der
Arbeiterrevolution vom Juni 1848. Früher hatten zwei politische Spöte""'
mit einander gekümpft, der überlieferte Staat sollte nur in einigen Stücken
verändert werden, es kam vorzüglich darauf an, wer ihn leiten sollte, und
immer wurde wenigsteus insoweit loyal gefochten, daß man Heimtücke und
Niedertracht vermied. Jetzt rief man die sozialdemokratische Republik aus
und gleichsam als Kommentar dazu schrieben einige der Nebellenhaufen auf ihr
roten Fahnen: ?illaZo se le, Vivi! Einer der Insurgenten, der mit den
Waffen in der Hand ergriffen wurde, äußerte: „Alle Leute, die etwas be¬
sitzen, sind Spitzbuben, das ist meine Ansicht, und dafür habe ich mich
schlagen." Ein andrer, gefragt, was er sich unter der sozialdemokratischen Re¬
publik vorstelle, gab zur Antwort: „Die Regierung der Arbeiter." Seb/
schwer zu glauben von unserm Jahrhundert, das es in der Gesittung so herrlich
weit gebracht haben soll, und vornehmlich von der Hauptstadt eines Landes,
das von sich rühmt, es schreite um der Spitze dieser Gesittung, aber wohl'
verbürgt sind die Handlungen rasender Mordlust und scheußlicher Barbarei,e
mit denen die Meuterer sich befleckten. Man verkaufte den Truppen Brannt¬
wein, dein man Gift beigemischt hatte. Als die Aufständischen den Maubert-
Platz räumen mußten, wurden fünf gefangene Offiziere der Mobilgarde von
einem als Weib verkleideten Kerl mit einem Hackmesser geköpft. Im Stadt¬
viertel Se. Marceau fand man mehrere Leute der Mvbilgarde, die an deu
Handgelenken nnfgehängt und mit Bajonettstichen durchbohrt waren. Eine
der bei den Barrikaden verhafteten Megären gestand vergnügt, sie habe „drei
Lansebnben von der Mvbilgarde die Köpfe und die Geschlechtsteile abgeschnitten."
Auf einer der Hauptbarrikaden der Vorstadt Se. Antoine gewahrte man den
verstümmelten Leichnam eines Soldaten in Uniform, der auf einen Pfahl ge¬
spießt war, aus dessen aufgeschlitztem Bauche die Gedärme heraushingen. Auf
untern Barrikade» hatte man Köpfe mit Käppis wie Vogelscheuchen aufge¬
pflanzt. Ein scheußliches, dem Kanibalismns überbietendes Schauspiel war es,
"is eine Bande einen abgehacktem Kops, dem man Pech in den Mund gegossen,
einen Docht hineingeschoben und ihn angezündet hatte, unitanzte und dazu den
Gassenhauer Des wripious, Aos l^xions! sang. Im Clos Se. Lazare wurden
einem gefangenen Jnfanteristen beide Hände abgehauen, und der Unglückliche
verblutete laugsam auf dem Erdboden. Einem Dragoner sägte man die Füße
"b und feilte ihn dann wieder ans sein Pferd. Hinter der Barriere Nochechouart
stieß man auf eine Spritze voll Vitrivlöl, mit dem die Meuterer die angreifenden
Soldaten besprikt hatten, und dabei auf große Eiseuflaschcn mit Terpentinöl
'M Anzündung der öffentlichen Gebände. An der Mairie des achten Arron-
dissements, der Kaserne de l'Oursine, blieben noch lange die Spuren des Theer-
Estrichs, mit dem man sie in Brand zu stecken versucht hatte. In den Taschen
vieler Gefaugenen fand man Geschosse, die einen schmerzhaften Tod geben
wußten, auch wenn sie uur verwundeten: kupferne Röhrchen mit Pulver ge¬
stillt, die eine kleine Lunte in der Wunde platzen lassen sollte, Knpferstücke mit
Grünspan und Kugeln, die mit Messingdraht durchbohrt waren. Die alten
^'rger- und Religionskriege, selbst die Zeiten der Merowinger hatten keine
solche Verachtung aller Menschlichkeit ersonnen und ausgeübt. Nicht einmal
^ Krankenhäuser schonte der Geist des entsetzlichen Aufstandes. Das Spital
Se. Louis und das Hotel Dien waren mit Barrikaden verschanzt, und in diesen
schrecklichen Zwingern standen die Kranken während des Kampfes unaufhörlich
^vdesangst aus, indem Kugeln an die Decken der Krankensäle schlugen oder
^>n den'Wänden abprallend ans die Betten fielen. Eine wahrhaft teuflische
Strategie, die große Siechenhäuser in Blockhäuser verwandelte! Nach diesen
Proben von Verlierung des Proletariats der Juuibarrikaden darf man kaum
^gen, sich das Schicksal von Paris zu vergegenwärtigen, wenn die bewaffnete
Sozialdemokrntie auch nur für kurze Zeit die Oberhand behalten hätte!
Warum wir das alles so ausführlich erzählt haben? viseitö moniti!
^Ne und merkt es euch wieder einmal, wenn ihrs vergessen habt!
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GkZV^K-».
^ ^meer den im letzten Winter zur Darstellung gebrachten neuen
Dramen ist entschieden das bedeutendste das vieraktige Schallspiel
von Hermann Sudermann: Die Ehre. Seine Ausführung
ist geradezu ein Ereignis gewesen. Wenn wir das Stück hier
einer nähern Prüfung unterwerfen, so soll dabei jede Beziehung
auf die Person des Verfassers und auf seine anderweitigen Leistungen vermieden
werden; wie das Schauspiel ohne jede Reklame, ohne die Gunst oder Ungunst
irgend welcher Vorurteile lediglich durch sich selbst gewirkt hat, so soll es auch
ganz aus sich allein heraus aufgefaßt und beurteilt werden.
Seine Wirkung ist in der That ganz ungewöhnlich gewesen; das beweist
der zahlreiche Besuch, durch den wohl überall das Publikum zu immer neue»
Wiederholungen aufforderte, die Spannung, mit der die Zuschauer die Dar¬
stellung begleiteten, selbst die beschauliche Haltung der Menge während der
Pansen: jeder fühlte das Bedürfnis, sich mit den eben empfangenen Eindrücken
auseinanderzusetzen.
Und diese Wirkung beruht nicht etwa auf irgend einem außergewöhnlich
fesselnden poetischen Reiz; es ist keine Zauberwelt verklärten Daseins, in die der
Dichter unsre Einbildungskraft gebannt hat, wir bewegen uns in der unmittel¬
barsten, handgreiflichsten Wirklichkeit, die auch nicht der leiseste Hauch von
Poesie durchzieht, und nicht unser ästhetisches, sondern unser sittliches, unser
soziales Interesse wird angeregt, dies freilich in ganz außerordentlichem Maße-
Den Gegenstand des Stückes bildet die „Ehre," dieser in allen Farben
schillernde Begriff, dessen Klärung lind Abgrenzung zu unsrer Zeit, wo die
Schranken zwischen den einzelnen Stünden immer mehr dahin schwinden, die
Anschannngskreise einst weltweit getrennter Gesellschaftsklassen einander immer
enger berühren und in ihrem Zusammenstoß Konflikte der mnnnichfachsten Art
ins Leben rufen, ein unabweisbares Problem geworden ist. Es ist ein glück¬
licher, geschickter Griff mitten ins volle Menschenleben hinein, und der Wahl
des Gegenstandes entspricht die meisterhafte Behandlung.
Aus einer klaren und zugleich weitdeuteuden Exposition entwickelt sich d>e
Handlung sicher und spannungsvoll, immer neue Erwartungen anregend und
immer aufs neue überraschend. Mit großer Lebendigkeit sind die Personen
gezeichnet, die kleinsten Züge dem Leben abgelauscht und an wirksamster Stelle
Verwertet; jeder redet seine eigne Sprache in ungezwungenster Natürlichkeit,
und wie sie das naive Alltagskind oft zu Äußerungen von packender Komik
führt, so erhebt sie sich im Munde des überlegenen Weidmanns zu geistvolle»,
mehrfach geradezu verblüffenden Wendungen. Und doch ist hier keine die
Oberfläche überwuchernde Ornamentik, die den Bau des Ganzen verdeckte; alle
Einzelheiten stehen in fester Beziehung zu diesem Ganzen, alle Gestalten erhalten
durch ihren eigentümlichen Zusammenhang mit der Grundidee des Stückes ihre
besondre Bedeutung. In dieser Behandlung verliert auch das die zarteren
Gefühle so leicht verletzende sinnliche Element, das sich hier nicht selten mit ganz
rücksichtsloser Nacktheit hervorwagt, alles Anstößige; es gehört notwendig in
den Zusammenhang, es dient der Sache. So ist dieses Stück, das alles einem
Zwecke einheitlich- unterordnet, so recht ein Erzeugnis unsrer auf das Praktische
gerichteten Zeit.
Und was ist nnn dieser Zweck? Er besteht keineswegs in der Hervor¬
bringung eines bloßen Bühnenerfolges, der dein Theaterdirektor ein volles
Haus, dem Dichter einen Namen schaffen soll. Er beschränkt sich auch nicht
darauf, ein buntes Stück Menschenleben, so wie es ist, abzumalen, souderu
dieses Bild soll zugleich veranschaulichen, was im Umkreise des Begriffs der
Ehre sein soll und was nicht sein soll. Die geistvollen Aussprüche, durch die
Graf Trask nicht selten einen lauten Beifallsjubel im Zuschauerraum hervorruft,
sollen mehr sein als schnell vorübergleitende Gedankenblitze: sie wollen bestehende
Anschauungen aufheben, sie wollen neue begründen — das Stück ist ein
Tendenzstück. Aber eben dieser Umstand giebt der Kritik die Berechtigung, ja
Lr macht es ihr zur Pflicht, neben seinem dramatischen Wert, den der Erfolg
schon über allen Zweifel erhoben hat, auch seinen sittlichen zu erörtern.
Nicht der Held, aber die Hauptperson des Schauspiels ist der Graf Trask
von Saarberg. Als Offizier der Gardekürassiere hat er einst im Haznrdspiel
gegen einen Kameraden eine fabelhafte Summe nicht bar eingesetzt, souderu
'uit seinem Ehrenwort verbürgt und hinterher, als er verloren hatte, sich nußer
stände gesehen, sie zu zahlen. Von seinem Vater verflucht, vou seinen Kame¬
raden verstoßen, besinnt er sich in dem Augenblicke, wo er im Begriff steht,
vou jenen mit gespanntem Hahn für ihn zurückgelassene Pistole auf sich
"dzudrücken, daß es thöricht sei, einen dummen Streich durch einen zweiten
wieder gut machen zu wollen; er legt die Waffe zurück und verschwindet. Aber
Unst für immer. In Westindien gelingt es seiner vom Glück in ausgezeichneter
^else begünstigten Thatkraft und Umsicht, sich im Kolvnialwarenhandel so
Außerordentlichen Reichtum und kaufmännischen Einfluß zu erwerben, daß er
unter dem Namen des Kaffeekönigs auch bei den großen Kaufhäusern Europas
^ hohem Ansehen steht. So kehrt er nach einer Reihe von Jahren wieder
6n die Stätte seines ehemaligen Offizierslebens zurück. Seine alte Schuld hat
^ längst getilgt, auch die zerrütteten Finanzverhültnisse des Vaters, wieder
hergestellt, der freilich das Geld, nicht aber den Sohn zu Gnaden angenommen
hat. Die Kreise seiner Familie und seiner ehemaligen Standesgenossen bleiben
ihm verschlossen; aber er verlangt auch nicht nach ihnen, er kann ihre Gesellschaft
und ihren Gruß entbehren. Überall bewegt er sich mit der Sicherheit eines
weitgereisten, auf fester Grundlage stehenden Weidmanns, beherrscht alle Ver¬
hältnisse und imponirt allen Personen, mit denen er in Berührung kommt.
Die eiteln Lassen, die dem ehemaligen, mit Schmach entlassenen Kameraden
gegenüber ihren Offiziersstandpunkt vertreten wollen, fertigt er mit weltgewandter
Überlegenheit ab und bietet einem jungen Freunde, den er seit seiner in Indien
vor Jahren angeknüpften Bekanntschaft stets mit Rat und That in ausgiebigster
Weise unterstützt und nun mich Europa begleitet hat, in dem kritischen Augen¬
blick, wo dieser durch die peinlichsten Familienzustände und das heikle Ver¬
hältnis, in das sie ihn zu seinem Prinzipal gebracht haben, an den Rand
der Verzweiflung gedrängt wird, die Möglichkeit, alle-Fesseln von sich zu
schleudern und als Sieger aus dem Konflikt hervorzugehen, in den ihn sein
Ehrgefühl mit seiner Familie und seinem Brodherrn verwickelt hatte.
Dieser ganze Konflikt nun, der, mit ergreifender Wahrheit geschildert, im
Vordergrunde der Begebenheiten steht, beleuchtet mit grellem Licht die eigen¬
tümlichen Auffassungen, die die einzelnen Personen je nach ihrem Stande von
der Ehre haben, und bietet dein Grafen die mannichfachfte Gelegenheit, die
Wertlosigkeit jener Auffassungen aufzudecken, seine eignen zu begründen und zu
bethätigen. So steht dieser Trust von Saarberg im Mittelpunkte des Schau¬
spiels, die Fäden der Handlung in fester Hand haltend, ein praktischer Philo¬
soph, der allen abstrakten Theorien seind, jede, selbst die leiseste Regung von
Schwärmerei mit kühler Vornehmheit ablehnend, nur die Schule des bewegten
Lebens anerkennen und vertreten will. Und in der That geben uns seine Aus¬
sprüche viel zu denken; sie erhalten durch die geschickte Verbindung, in die sie
mit den Einzelheiten der fesselnden Handlung gebracht sind, zum Teil eine
unwiderstehliche Überzeugungskraft. Gewiß sollen wir den Mut finden, aus
Kreisen, die unsern sittlichen Anforderungen nicht genügen und ihnen unzu¬
gänglich bleiben, auszuscheiden, selbst wenn sie uns die liebsten waren; es ist
eine Amputation, die weh thut, die aber unser eignes sittliches Gesamtbefinden ^
notwendig macht. Man kann der Abfertigung nur beistimmen, die Graf Trask
jenen Gecken zu teil werden läßt, die in flacher Unbedeutendheit ihr Leben ver¬
zetteln und sich für die Creme der Gesellschaft halten; ihr Ehrbegriff erscheint
uns ebenso leer wie der des geldstolzen Kommerzienrates, der dem Vorteil und
dem Ansetzn seines Hauses alle andern Rücksichten unterordnet, und für den
der pflichtgetreue Kommis aus dem Hinterhause nur eine Ware ist, die ihren
Kaufpreis hat. Und sicherlich ist es altmodisch, die Ehre einer sittlich Ver¬
lornen Schwester durch einen Kugelwechsel mit einem ihrer Liebhaber wieder
herstellen zu wollen, oder vielmehr — es ist nie Mode gewesen.
Und doch: ist die „Ehre/' die unter den verschiednen Völkern der Erde,
bei den einzelnen Stünden so mannichfache Deutungen erfährt, wirklich nnr
ein Begriff ohne festen Kern, wirklich nur ein Luxus? Graf Trask ist dieser
Ansicht, und die einzelnen Fälle, die uns der Dichter vorführt, scheinen sie zu
rechtfertigen, sie erwecken den Eindrnck, als ob Ehre nichts andres sei als
Staudesvorurteil. Aber ist sie das wirklich immer? — Graf Trask ist ein
Philosoph, aber ein Sophist, und mit ihm ist es der Dichter.
Man betrachtet es wohl als einen Fehlgriff, daß zum Vertreter der das
Stück beherrschenden Anschauungen ein Mann gewählt ist, der selbst gegen die
Ehre verstoße» hat. Aber nur einem solchen konnte man solche Anschauungen,
ohne die pshchvlvgische Wahrheit zu verletzen, in den Mund legen. Daß aber
diese Anschauungen in dem Stücke den Sieg behaupten, beruht nicht auf ihrer
Nichtigkeit, auch nicht auf der ohne Frage bedeutenden Persönlichkeit ihres
Vertreters, sondern auf den außer» Umstanden, in die dieser so geschickt
hineingestellt ist, und das eben ist sophistisch.
Graf Trask ist der Kaffeekvnig; die Leute, die er so beschämend zurecht¬
weist und mit deren Zurechtweisung er einen, großen Teile des Publikums
unponirt, sind jämmerlich unbedeutend und schon dnrch ihr eignes Auftreten
ni den Unger dieses selben Publikums mit Recht gerichtet. Ihnen kann er
freilich unter Beifallsrufen erklären, daß er ihres Grußes nicht bedürfe — zu
ihnen darf er sagen: „Ich habe also nicht die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen,
sondern das Vergnügen — und dieses Vergnügen ist groß." Hätte er mit
denselben Worten einem kriegserprobten, charakterfester Offizier gegenüber den
gleichen Erfolg gehabt? Es ist ein Unterschied, ob mau auf etwas verzichtet,
über dessen Genuß mau verfügt, oder ob mau Verzicht leistet, wo man nichts
verlangen kann, nichts beanspruchen darf, und in dem letztern Falle befindet
!>es Graf Trost, und er würde sich in demselben Falle befinden, wenn er statt
jener Simpel, die deu Geist unsers Heeres gar nicht in sich aufgenommen
haben, einem echten Soldaten gegenüberstünde, und wäre dies selbst ein blut¬
junger Leutnant. Er bliebe in dessen Augen trotz seines Kaffeetvnigtnms doch
unmer nur der wortbrüchige Offizier, und mit Recht.
Denn worin hat eigentlich sein Vergehen bestanden? Nicht darin, daß er
^nie schuldige Summe Geldes nicht bezahlt, sondern darin, daß er in leidenschaft¬
licher Gewinnsucht sein Ehrenwort verspielt hat. Ist die Verbindlichkeit, die
Heiligkeit dieses Wortes nur ein Standesvorurtcil? Schillers „Bürgschaft"
sollte auch den Mann aus dem Volke und seine beredten Sachwalter eines
^esseru belehren. Freilich, der Römer Tcicitus wundert sich darüber, daß bei
den Germanen der Spieler, der nach Verlust von Haus und Hof zuletzt in
wilder Leidenschaft seine eigne Person auf einen Wurf gesetzt hat, sich ohne
widerstand fesseln und verknusen lasse; aber unverkennbar mischt sich in das
Gefühl des Staunens anch das der Bewunderung: „So weit geht in einer
verkehrten Sache die Unbeugsamkeit; sie selbst nennen das Treue." Wer wird
bestreiten können, daß es sich anch in unserm Fall um eine höchst verwerfliche
Sache gehandelt hat? Hätte jener Gardekürassicr diese Auffassung gleich anfangs
gehegt und seinen leichtsinnigen Kameraden gegenüber mutvoll vertreten, hätte
er seiner sittlichen Überzeugung die Freundschaft, ja die Achtung jener, vielleicht
selbst seine Stellung geopfert, er stünde da als ein Held, der der Sympathie
des Publikums sicher wäre, und keineswegs bloß des bürgerliche«. So aber
bewegt er sich ganz in dem Anschauungskreise seiner lockern Umgebung, und
er hätte sicher einem andern, der sich in seinem Falle befunden, mit derselben
kategorischen Bestimmtheit die Pistole auf den Tisch gelegt; er ändert seine
Theorie, die er soeben noch in weitesten Maße für sein eignes Interesse zu
verwerten gesucht hat, erst in dem kritischen Augenblicke, wo ihn die Praxis
das Leben kosten soll. Klar gesehen, handelt es sich hier um zwei Punkte.
Zunächst kommt der Bruch des Ehrenwortes in Betracht. In dem Schiller-
schen Gedichte hat Morus allerdings sein Wort — ob es Ehrenwort oder
Manneswort heißt, ist ganz gleichgiltig — unter ganz andern Umständen ein¬
gesetzt, als Graf Trask; aber an der Verbindlichkeit dieses Wortes ändert das
nichts. Denn das verpfändete Wort des Mannes hat einen absoluten Wert;
es bedeutet die ganze, volle Persönlichkeit dieses Mannes selber. Wer diese
auf das Spiel setzt, muß auch die furchtbaren Folgen tragen; schon ein solches
Spiel ist eine sittliche Krankheit, der Verlust heißt hier nichts andres als
sittlicher Tod. Er muß zu Grunde gehen, weil wir auch in unsrer sittlichen
Welt Prinzipien haben müssen von derselben unbedingten, unantastbaren Not¬
wendigkeit, wie die Natur der Körper; ohne die unerschütterliche Festigkeit
solcher Gesetze hätten wir hier wie dort ein Chaos. Graf Trask ist in dem
Augenblicke, wo er sein Ehrenwort verspielt hat, sittlich tot, und von diesem
Tode giebts so wenig eine Auferstehung, wie vom. leiblichen — wenigstens in
dieser Welt. Er ist tot — nicht bloß für seine Kameraden, sondern für alle,
die in der Unverbrüchlichkeit des Ehrenwortes mehr sehen, als ein Standes¬
vorurteil.
Dies erheischt nun freilich nicht auch den physischen Tod, macht den
Selbstmord nicht notwendig, aber es macht ihn begreiflich und jedenfalls
weniger verwerflich, als das fernere Verhalten des Grafen Trask. Hätte er
sich die Kugel durch den Kopf gejagt, so hätte die That hier nicht die Be¬
deutung eines Verzweiflungsaktes gehabt angesichts des Verlustes seiner Stel¬
lung, der Aussichtslosigkeit, im Kampf ums Dasein jemals wieder festen Fuß
zu fassen,^ sondern sie hätte beurteilt werden müssen als der Ausfluß des sitt¬
lichen Bedürfnisses, dnrch die freiwillige Vernichtung des eignen Selbst du'
Anerkennung jener so selbstsüchtig verletzten sittlichen Idee zu bethätigen und
so die eigne Schuld zu sühnen. Graf Trask fühlt dieses Bedürfnis nicht; das
Verständnis für die sittliche Bedeutung einer solche« Sühne, ist ihm plötzlich
abhanden gekommen; er erörtert, daß sein Tod niemand Vorteil bringen könne,
vielleicht aber sein Leben, und so beginnt er in der neuen Welt einen neuen
Abschnitt seines Erdendaseins. Darüber hätten wir mit ihm nicht zu rechten.
Aber er kehrt wieder, er feiert eine sittliche Auferstehung, er wird der Prophet
einer neuen Lebensanschauung, und er siegt sittlich über die, die an diese Auf¬
erstehung und diese Prophetie nicht glauben wollen. Das ist der zweite Punkt,
auf den es hier ankommt; er ist äußerst bedenklich, und die ganze Art und
Weise, wie ihn der Dichter behandelt, dient nicht zur Klärung, geschweige denn
zur Lösung des Problems, sondern verwirrt es.
Gras Trask steht vor uns, keineswegs von dem Bewußtsein gedrückt, einen
Flecke» auf seinem Charakter zu tragen; diesen Flecken hat die weitere Ver¬
gangenheit des Mannes völlig abgewischt. Fast scheint es, als ob man seine
Ehre verlieren und wiederfinden oder ersetzen könne wie seine Taschenuhr; oder
nein, sie hat nicht einmal den Wert einer solchen, sie ist nur ein glänzendes
Gehäuse, worin die Nichtigkeit wohnt. Der echte Mann verzichtet ganz auf
diese Luxusware; er stützt sich auf den gehaltvolleren Begriff der Pflicht und
geht in dem Gefühle der eignen Selbstachtung unbekümmert an denen vorüber,
die ihm die ihrige versagen. Der Maßstab für eine solche Achtung ist ja doch
bei den verschiednen Gesellschaftsklasse!, verschieden; jede hat ihre besondre
Ehre, ihre besondre Tugend, Die Leute im Hinterhause, deren eine Tochter
eine Dirne, deren andre eine Kupplerin ist, und die das Sündengeld, womit
der Kommerzienrat seinen liederlichen Sohn von der Dirne loskauft, mit Jubel
in Empfang nehmen, sind nicht schlechter als andre Meuschen, als wir selbst;
sie leben nur in andern Anschauungen; wir können sie nicht verurteilen, wir
siehen uns nur von ihnen zurück, weil wir innerlich nicht mit ihnen zusammen¬
stimme». Kurz, Graf Trask predigt sehr deutlich und nachdrücklich die Rela¬
tivität von Ehre und Tugend und läßt uns nur darüber im Unklaren, was
^' selber nnter dein gewiß doch eben so dehnbaren und lonsliktschN'ärgeren
^'griff der Pflicht versteht. Solche Anschauungen liegen min freilich ganz in
der Konsequenz dieses Charakters; aber vergessen wir nicht, daß hinter ihm
^ Dichter selber steht und seinen Lehren mit dem Aufwand eines ungewöhn-
Uche» Talentes Geltung zu verschaffen sucht. Ist ihm dies wirklich gelungen?
^ein. Die Wahrheit einer sittlichen Lehre bethätigt sich im heißen Kampfe —
ist von einem solchen hier die Rede? Zwar ringt in dem jungen Heineke
"ut rührender Gewalt die Kindes- und Geschwisterliebe mit den Forderungen
eines sittlichen Gemütes; aber gerade an diesen Forderungen übt Gras Trask
seine zersetzende Kritik. Er schiebt und lenkt den jungen Freund und endet
schließlich den Konflikt mit Hilfe seines Reichtums; er löst ihn in der That
tvie eine Art von ckeus ox iimollim;, nur daß unser Gott nicht erst am schlaffe
angreift. Wo aber führt ihn denn feine eigne „moderne" Lehre in einen
Jnseen Zusammenstoß mit würdigen Vertretern dessen, was er bekämpft? Das
Zusammentreffen mit jenen „Simili-Offizieren," wie sie ein Rezensent treffend
genannt hat, soll doch nicht dafür gelten, das sind gar keine Gegner. Aber
in den glänzenden Salons des Kommerzienrates hätte Graf Trask gar leicht
auch noch mit andern Männern zusammengeraten können — schade, daß wir
nicht ahnen können, wie er sich dabei benommen hätte! So, wie die Begeben¬
heiten sich auf der Bühne abwickeln, hat er überall leichtes Spiel. Man darf
sie nur ändern, ohne die Wahrscheinlichkeit im geringsten zu verletzen, und die
Sache wird gleich ganz anders. Im letzten Akte will der junge Heineke in
verzweifelter Stimmung, eine geladene Pistole in der Brusttasche, das Arbeits¬
zimmer seines Prinzipals betreten, um mit diesem „Abrechnung zu halten."
An der Thürschwelle hält ihn Graf Trask zurück und überzeugt ihn von der
Zweckwidrigkeit des geplanten Mordes; er fordert von seinem Freunde die
Pistole, läßt sie ihm aber, auf sein Versprechen hin, sie in der Tasche zu lassen.
Es war doch unvorsichtig. Graf Trask hatte soeben den jungen Hitzkopf darauf
aufmerksam gemacht, daß sich die Mordwaffe günz deutlich an den Falten seines
Oberrockes absehe - wie nun, wenn der Kommmerzienrat dieselbe Bemerkung
machte, Verdacht schöpfte und nach Hilfe rief? Hätte diese Situation nicht
für den jungen Helden höchst bedenklich werden müssen und - hätte ihn das
Zeugnis des einst wegen Wortbruchs verschenken Freundes befreien können?
Womit hätte dieser seinen Anspruch auf Vertrauen rechtfertigen wollen? Oder
hätte er auch jetzt dieses Vertrauen „entbehren" können? Es gehört ganz in
den Plan des Stückes, wenn der junge Heineke bei seiner Rückkehr aus Indien
die innig geliebte Schwester als ein gemeines Mädchen wiederfindet, das auf
seine Frage, ob sie ihren Galan denn wenigstens von Herzen lieb habe, mit
cynischer Harmlosigkeit erwidert: „Welchen denn?" Da wird es unserm Trask
nicht schwer, den Bruder von der Nutzlosigkeit eines Zweikampfes zu über¬
zeugen. Wie aber, wenn dies junge Mädchen, in einer auf Zucht und Sitte
haltenden Familie rein und edel aufgewachsen, den listigen Künsten eines Ver¬
führers zum Opfer gefallen wäre, von dem Gefühl ihrer Schmach zu Boden
gedrückt würde? Sollten solche Familien und solche Mädchen dem Verfasser,
der die Familie Heineke so lebenswahr geschildert hat, unbekannt sein? Hätte
sein Graf Trask den zurückgekehrten Bruder, der die Rolle des Beschützers
und Rächers für sich in Anspruch genommen hätte, jetzt auch so einfach eines
Bessern belehren können? In solchen Fällen hat der entschlossene Mann noch
immer zur Wehr gegriffen, selbst im bewußten Widerspruch zum geschriebenen
Gesetz, das die Reinheit seiner Schwelle nicht zu schützen vermag. Hier ist
ein Konflikt, der nicht so einfach mit Schlagwörtern zu beseitigen ist. U"d
dieser .Konflikt würde noch an Stärke und Pathos gewinnen, wenn jetzt der
übermütige Sohn des Kommerzienrates, der Leutnant, dem Kommis seines
Vaters die „Ehre" eines ritterlichen Auftrages höhnisch verweigerte. Hi^
wäre ein Standesvornrteil im vollsten Sinne: denn wer sich nicht scheut,
störend in den Frieden eines Hauses einzudringen, soll auch den Kampf nicht
scheuen mit denen, die dieses Hauses berufene Hüter find. In diesem Zu¬
sammenhange Hütte das Anerbieten einer Abfindungssumme eine viel tiefer
^gründete Entrüstung erzeugt, und die Handlung hätte ein ganz andres Ende
gefunden, als es der Luftspieleffekt ist, mit dem das Stück in Wirklichkeit
abschließt.
Kurz, der Sieg des durch den Grafen Trask vertretenen Gedanken beruht
"ur auf dem dramatischen Erfolg des Stückes; es ist ein Scheinerfolg, und
dieser Schein ist gefährlich. Wohin sollte es führen, wenn er die Meinung
unsers Volkes nachhaltig beeinflußte? Solange wir eine sittliche Gemeinschaft
bilden, werden auch die Lebenslagen nicht ausbleiben, wo der Mann vom
Manne ein unerschütterliches Vertrairen fordern, wo er mit seinem Worte seine
volle Persönlichkeit einsetzen muß. Darin besteht seine Ehre, daß er sich der
Würdigkeit dieses Vertrauens bewußt ist, darin die Ehre, die er andern gegen¬
über vertritt und zu vertreten die Pflicht hat, daß sie diese Würdigkeit aner¬
kennen. Wer sie ihm abspricht, greift in die heiligsten Rechte seiner Persönlich¬
keit ein; wer aber selber jenes Vertrauen gebrochen hat, der hat sich anch dieser
Rechte begeben. Der Leichtsinn, der mit diesem höchsten Gut ein frevelhaftes
Spiel treibt, wird durch das Beispiel des Grasen Trask nur noch gestärkt:
kann man sich doch später immer noch wieder „rehabilitiren"! Und welche
Verwirrung mag in den Köpfen der Besucher der obersten Zuschauerraume
angerichtet werden, wenn sie aus dein Munde desselben Trask, der durch seine
bestechende Kritik der höhern Stunde ihre Gunst erworben hat, hören müssen,
aß die Käuflichkeit der eignen Person, der gänzliche Mangel an Verständnis
sur Menschenwürde lind Selbstachtung dem Stande der Familie aus dem Hinter-
^ause völlig angemessen, ihre Denkweise ihnen so natürlich sei, wie ihre eigne
Haut? Mancher da oben auf den Galerien mag denn doch anders von sich
eilten, und hoffen wir, daß er eher an dem Grafen Trask, als an sich selber
^e werde. Dieser Kasfeeköuig erinnert sehr bedenklich an jene Volksfreunde,
'e die Menge, der sie schmeicheln, im Grunde selber verachten. Und heißt
as die verschiednen Gesellschaftsklassen einander näher bringen, das Bewußt-
der Zusammengehörigkeit stärken, wenn man die Möglichkeit eines alle zu
^er sittlichen Gemeinschaft und zu gegenseitiger Achtung verbindenden sitt-
"hen Empfindens leugnet? Gerade die Ehre muß als solch ein sittliches Band
Alt Entschiedenheit in Anspruch genommen werden. Durch Pflicht ist
^ gar nicht zu ersetzen; denn sie ist ein Gefühl, Pflicht aber ist eine Ver-
^"^edlen. Pflichtgefühl ist das Bewußtsein dieser Verbindlichkeit, aber es
^ ^ nnnmer hinreichen, alle die Triebe eines bald rohern, bald verfeinerten
^"^""us zu besiegen, wenn es sich nicht stützt auf das erhebende Gefühl
u>w Würde. Diese ist unabhängig von Rang und Stand, von Reichtum
^ Macht; sie ist dem Menschen eigen, insofern er Mitglied eines sittlichen
Ganzen ist, Sie fordert aber auch innerhalb dieses Ganzen die volle Aner¬
kennung aller; der knechtische Sinn, der auf die Geltendmachung dieser Wurde
verzichtet, ist genan so unsittlich, wie die Selbstüberhebung, die sie dein Nieder¬
stehenden abspricht. In dein Gefühle dieser sittlichen Selbstachtung, die Ach¬
tung fordert von allen, die selber der Achtung wert sind, besteht die wahre
Ehre, Standesvorurteil und persönlicher Egoismus haben ans diesem Ideal¬
bild zu allen Zeiten eine Karrikatur gemacht, Roheit und Schwäche es bei
Einzelnen wie bei ganzen Völkern oft bis zur Unkenntlichkeit entstellt; aber
das soll alle die, die sich in jenem Bilde wiederfinden, nicht irre machen an
ihm und an sich selbst, es ist ihnen nur eine dringende Mahnung immer und
überall, wo irgend möglich, für seine Reinheit zu streiten.
Es giebt eine sittliche Aristokratie, die sich für besser hält und halten
soll, als den eiteln Gecken und das rohe Ncitnrkind, nicht um zu richten, sondern
um zu bessern. Dieses aristokratische Selbstgefühl trägt opferfreudig die Zivili¬
sation in die entferntesten Winkel des Erdballs, es soll aber vor allem mit
ganzer Hingebung arbeiten an der Erziehung der eignen Nation, In ihrem
Dienste steht nicht nur die Schule, die dem Knaben durch Dichtung wie Ge¬
schichte den Sinn für Treue und Charakterfestigkeit einprägt, nicht bloß das
Heer, das bei strengster Unterordnung des Einzelnen unter die Gesamtheit
doch auch im gemeinen Mann zugleich das Selbstgefühl erwecken soll, ihr
dient auch die Bühne, die sich an Alt und Jung, an Reich und Arm, an
Starke und Schwache wendet. Deswegen soll sie sich aber auch der ganzen
Verantwortlichkeit ihrer Aufgabe bewußt sei,:. Auch sie soll vornehm sein.
Vor allem sollte sie sich fernhalten von jenem sittlichen Demvkratentnm, das
noch gefährlicher ist, als das soziale. Unserm ästhetischen Gefühle macht man
schon längst die herbsten Zumutungen, als ob das Leben selbst nicht schon die
Misere des Daseins auf allen Gassen predigte; bringen wir nicht auch noch
die Moral der Gasse auf die Bühne! Wahrlich, hier brauchen wir in ästhe¬
tischer wie in sittlicher Hinsicht wieder etwas von dem Idealismus der
Schillcrischeu Dichtung. ?iuch unsre Zeit ist reich an ergreifenden Motiven;
aber die Darstellung des Dichters soll ihnen die Weihe künstlerischer Verklä¬
rung geben; auch unsre moderne Welt- und Lebensanschauung birgt in sich
eine Fülle von Konflikten, aber sie müssen ans der Tiefe geholt werden-
Mehr als je nimmt die unmittelbarste Wirklichkeit unsre Interessen in An¬
spruch, und das erfordert auch einen gewissen Realismus unsrer Dichtung-
Wenn sich diese aber in den Dienst jener zersetzenden Tendenzen stellt, die
ein so bedenkliches Zeichen unsrer Zeit sind, wenn sie die öffentliche Meinung
für diese Bestrebungen zu gewinnen sucht, so muß dagegen auch angesichts
der öffentlichen Meinung Verwahrung eingelegt werden.
it seinem neuesten Buche Der Villcuhof (Dresden, Minden) hat
Fritz Manthner den Cyklus seiner drei Romane Berlin
abgeschlossen, sodaß wir sie nnn im Zusammenhange betrachten
können. Solche Romnncyklen sind meist auf Zvlas Beispiel
zurückzuführen; Manthners Cyklus wohl aiuch, wenn er auch keine
Nachahmung des Zolaischen ist, keine Geschichte einer Familie giebt, überhaupt
"ur sparsam naturalistische Elemente in seine Darstellung aufnimmt (die meisten
„Villenhof"). Mnuthners Form scheint ein Kompromiß zwischen alten und
neuen Ansprüchen der Romandichter und des Publikums zu sein. Noch Spiel¬
hagen stellt die Forderung auf, daß der Roman sich über drei Bände erstrecken
Würfel für die episch-behagliche Schilderung der Zustände müsse der Roman-
achter auch genügenden Raum haben. Nachdem sich aber gezeigt hat, das;
>naht blos; französische, sondern mich deutsche Romandichter in einem einzigen
^ante einen reichen Stoff wohl zu bewältige» vermögen (z. B. Scheffel im
"Ekkehard") ist das Publikum der Romanungetüme älterer Zeit schnell satt
geworden und nimmt nicht leicht mehr einen Roman zur Hand, der den Ra-
t"ug eines Bandes überschreitet, was schließlich sogar Spielhagen zu berück¬
sichtigen lernte. So schrieb anch Mauthuer (in etwa sechs Jahren) seine drei
uwuine, deren jeder für sich ein abgeschlossenes Ganze bildet, und die doch
"Ul einander ziemlich eng verknüpft sind. Das gesamte Bild des Berliner
Westens ist ans „Quartett," „Fanfare" und „Villenhof" verteilt, sie ergänzen
Zander, ohne einander zu brauchen. In diesem Unternehmen, das neue Berlin
schildern, ist übrigens Manthner keineswegs original. Es bedarf nur der
^umeruug an Paul Lindaus „Zug nach dem Westen," den Manthners
MUS allerdings in mancher Hinsicht übertrifft; andre Schriftsteller haben
"Ut ihren Berliner Romanen schon eine Bibliothek aufgestapelt, aber Manthner
^>ne eigenartige Persönlichkeit bekundet, und diese wollen wir nun charak-
^risiren.
, Die Zusammengehörigkeit der drei Romane ist nicht bloß durch die Ge-
^nsnmkeit des Ortes der Handlung und der Gesellschaft, die geschildert wird,
sondern auch dadurch, daß sie alle drei dieselbe Frauengestalt, Leontine
(trüber, die spätere Witwe des Kommerzienrntes Pitersen, zur gemeinsamen
Haupt- und Mittelfigur der Erzählungen haben; auch einzelne episodische
Charaktere des ersten Bandes treten im zweiten und dritten Romane mehr oder
weniger wieder hervor. Alles übrige aber ist in jedem Bande selbständig er¬
funden, es ist keine Entwicklung des vorhergehenden. Die drei Romane geben
keine Geschichte des Berliner Westens, sondern nur Ansichten verschiedner Teile
dieses Westens.
Gleich im Beginn des „Quartetts" verrät uns der Erzähler, daß ihm
Leontine nicht blos; persönlich, sondern auch als Symbol, als ein im Brenn¬
spiegel des Moralisten verdichtetes Bild von Berlins wichtig ist, und wir
miiffen uns das merken.
Leontine Gruber ist von niedriger Herkunft, sie soll von Zigeunern ab¬
stammen, aber sie ist eine wunderbar schone Frau, und damit macht sie Karriere.
Sie ist sehr klug, sehr berechnend, Herrin über ihre Sinne, dabei gewissenlos,
neidisch, genuß- und putzsüchtig, ohne Güte, sie denkt immer nur um sich selbst.
Im „Quartett" lernen wir sie als die Gattin eines braven und grundgütigen
Künstlers, des Musikers Gruber keime». Sie treibt ihn durch ihre Ansprüche
auf die Jagd nach Lektionen, wobei er sich körperlich und geistig schädigt und
doch ihren Bedarf nicht befriedigen kann. Sie betrügt ihn mit dem Börsen¬
mann Herbig, dem Gatten ihrer vertrauensseligen Freundin Martha, geborenen
Pitersen. Als diese das Spiel entdeckt, stürzt sie sich in den Halensee; Leontine
verläßt ihren moralisch zerschmetterten Gatten, heiratet aber nicht Herbig,
sondern Marthas Vater, den Kommerzienrat Pitersen: dieser hat die Millionen,
die sie braucht.
In der „Fanfare," deren Handlung drei.Jahre später mit dein Tode
Pitersens einsetzt, ist Leontine schon mit der Lebensart des Berliner Westens
vertraut. Wie sie es gelernt hat, sich in den Reichtum zu finden, das fällt
in das Dunkel jener drei Jahre, obwohl die Vorführung dieser Umbildung von
poetischem Reize wäre. Nun aber, nachdem ihr der Plan gelungen ist, als
junge Witwe über Millionen zu verfügen, möchte sie auch ihr Dasein genießen-
Noch bedarf sie dazu der Liebe, und sie liebt leidenschaftlich einen junge»
schönen Mann, den Sohn des Zeitnngsbesitzers Gottlob Mettmann, der alle
Aussicht zu haben scheint, mit seiner Oper „Fata Morgana" berühmt zu werden-
Sie hofft also das doppelte Glück der Jugend und des Ruhmes zu besitzen-
Aber die Ironie des Schicksale bildenden Erzählers läßt den Sohn des brutalen
„Fanfaren"-Mannes einen zwar schwankenden, aber dennoch redlichen Idealisten
sein. Richard hängt unerschütterlich an seiner Jugendliebe, dein verarmten
Edelfräulein Johanna von Trienitz, und überdies verbrennt er seine Oper w
dem Augenblicke, wo er von zuverlässigen Kunstrichtern erfährt, daß sie nur
Dilettantenarbeit ist. Doppelt wertlos geworden, wird er endlich von Leon-
tinen freigelassen. .
Im dritten Roman „Villenhvf" kommen wir mit ihr wieder einige Jahre
Ipäter zusammen, nachdem sie bei einem alten blasirten Aristokraten, dem
nervösen Grafen Trieuitz, in die Schule der Lebenskunst gegangen ist. Sie
hat noch immer keinen Eintritt in die gute Gesellschaft gefunden, sie will sich
ihn nun mit allen Mitteln erkämpfen. Ihre Jngendschwächen hat sie besiegt;
der Liebe bedarf sie nicht mehr, nur der Achtung, die ihre Millionen verdienen.
Um endlich genannt zu werden, versucht sie es, als Kunstbeschützerin sich ein¬
zuführen , so gleichgültig ihr auch alle Künste im Grunde von jeher
waren. Von einem in adlichen Kreisen beliebten Bildhauer, dein Pro¬
zessor Raßmcum, kauft sie eine große Marmorgruppe und stellt sie in
>drein Wintergarten auf. Da geschieht ewas.sehr Merkwürdiges. In einer
Nacht wird an dieser Gruppe in wirklich vernichtender Weise Kritik geübt, in¬
dem einer ihrer Hauptfiguren der Kopf abgeschlagen wird. Der Nachbar
Rnßmcmns, der junge Bildhauer Reinhold Mathesius, wird als jener Kritiker
w>t dem Hammer verdächtigt; mit Unrecht, sein Verwandter, der sozialistische
Portier des Villenhvfes, hat es gethan, und zwar deswegen, weil Naßmann
d^n von dein armen Reinhold angekauften Entwarf jeuer Gruppe in der Aus¬
führung verdorben hat. Das erfährt Leontine, und nun macht sie sich an den
it'ngen, schönen, urwüchsigen, genialen Reinhold heran, sie will seine Gönnerin,
'^ne Muse, sein Modell werden, tiur um endlich die Aufmerksamkeit der Welt
"uf sich zu lenken. Und in der That stellt sie sich dem trägen Genie
Nackt als Modell hin, damit dieser endlich die Eva in seiner neuen Gruppe
des ersten Menschenpaares vollende. Da erfährt sie die boshafteste Ironie des
^ chlcksals. In aller Treuherzigkeit und auch mit wahrem Bedauern muß ihr
er Künstler nach lungern Versuchen gestehen, daß sie zum Urbild der Eva
"es schon z» alte Formen habe, es geht wirklich uicht, ihren Leib nachzubilden.
ud nun kommt die zweite Enttäuschung. Um sich mit der guten Gesellschaft in
^' setzen, hat sich Leontine an die Spitze eines neu zu gründenden Wvhl-
Migkeitsvereins gestellt. Natürlich ist die Wohlthätigkeit pure Heuchelei, die
' ^name der Ausschußmitglieder dafür die Hauptsache. In den weiten Räumen
^ prächtigen Villa veranstaltet sie nach bekannten Mustern einen Wohl-
^ ^gkeitsbazar, besten Verkaufsbuden schöne Mädchen und Frauen aus
s^r und vornehmsten Familien des Berliner Westens als Verkäuferinnen
im^"' ^"dlich hat die strebsame Kommerzienrätin ihr Ziel erreicht: sie ist
, " "ut der großen Welt. Sogar eine königliche Prinzessin und eine leib-
^ s«ge Königin beehren den Bazar mit ihrem Besuch. Als aber die Priu-
^N>> erfährt, daß die arme Rieke, die sich im Dienste 'der Wohlthätigkeit auf-
^en lM, die trotz ihrer lächerlichen Erscheinung der Schutzengel unzähliger
^ ^ Familien war, die ihren ganzen Besitz an verschämten Hausarmen dem von
zu"k"^^ ^'gründeten Verein abtreten mußte, ohne ihnen im geringsten damit dienen
"Wien, ohne im Vereine selbst zu Sitz und Stimme zu kommen — daß also
diese arme Rieke im Sterben liege, da verlassen Prinzessin und Königin die Villa
der Pitersen und steigen die vier Treppen zur Rieke empor, um sie noch vor dem
Tode zu ehren, und alle Plage und alle Hoffnung Leontinens ist damit vernichtet.
Diese Prinzessin ist der cle-n» ox um.(allen: sie ist die Vertreterin des sittlichen
Gewissens, die uns endlich aus dem Sumpf emporhebt, sie verkörpert das Ideal,
Was bleibt nun Leontine übrig? Sie heiratet den gichtbrüchigen Grafen Trienitz,
dem seine Frau kurz vorher durchgegangen ist, sie wird also mit ihren in der Pflege
des kranken Kommerzienrath erheblicheren Millionen von neuem Krankenpflegerin.
Ein Symbol der Gegenwart ist diese Leontine wohl schwerlich bis ans
Ende der Erzählung, wie Mauthuer im Anfang andeutet. Aber man kann
auch nicht sagen, daß sie eine wahre, lebenswarme Gestalt geworden sei-
Mauthner hat sie mit einer einzigen Eigenschaft ausgestattet: der der Klugheit
im Dienste der rücksichtslosesten Selbstsucht, Leontine ist Meisterin im Ränke-
spinnen; die Fäden aller Handlung im Cyklus laufen von ihr aus; sie ist
unverfroren, niederträchtig, unsagbar gemein, unsagbar schlecht, so wie sie aus-
bündig klug ist. Der Erzähler hat eine wahre Freude daran, ihr alle mögliche
Schlauheit zuzuschreiben. Aber wahr, lebensmöglich erscheint uns diese Leontine
nicht, trotz des langen Verkehrs, den mir mit ihr durch drei Bände gepflogen
haben. Sie ist ein Hirngespinst, keine geschaute, keine poetisch empfundene
Gestalt. Sie müßte etwas Dämonisches haben, um wenigstens poetisch zu
wirken; dies hat aber Mauthners Realismus vermieden. Was immer man
der Gegenwart nachsagen mag: mit der Selbstsucht, mit dem Strebertum, mit
der Jagd uach dem Golde allein kann sie denn doch uicht ausreichend charakterisirt
werden. Also weg mit der Symbolik Leontinens! Doch wird damit die Ein¬
seitigkeit der Manthnerschen Sittenschilderung noch nicht erschöpft. Unstreitig
ist das gewaltige Anwachsen Berlins auch nach Mauthuers Auffassung »u'lM
an sich Böses, Eine so großartige Erscheinung kann nicht bloß der Erfolg
böser Mächte sein, Sie muß, da auch Mauthner weit davon entfernt ist,
grundsätzlich die Großstadt zu beklagen, gute Elemente besitzen, die uns die
Zukunft dieses großen menschlichen Gemeinwesens verbürgen. Ans die Schilderung
der Lichtseite» des Berliuertums und der Großstadt überhaupt hat sich aber
Mauthner nur höchst spärlich eingelassen; die wahrhaft gute Gesellschaft, die
Leontine fort und fort sucht, hat er uns nicht vorgeführt, nur die Schmarotzer
an der kraftvollen Pflanze, die bösen Auswüchse an dem strotzenden Wachstum,
den Sumpf, der jedes große Gewässer begleitet und die Opfer dieses Gedeihens,
die an die Wand gedrückten Menschen. Von diesem Standpunkte betrachtet ist
Manthners Darstellung unwirklich, weil sie einseitig ist. Das Bild Berlins,
das er uns entwirft, ist satirisch zugerichtet, stellenweise geradezu Karrikatur,
wenn auch im Kleinen mit vielen geistreichen Zügen ausgestattet. Den»
Mauthner kennt die faulen Kreise, die er schildert, sehr gut und bemüht fiel>
recht genau zu sein. Er versteht es zwar uicht, uus durch ein eignes ne»^
Positives Ideal über seine unerquickliche Welt zu erheben; er ist eben kein
Dichter, sonder» ein satirischer Moralist; aber er findet doch in einer schneidigen
Ironie den richtigen Ton, mit dem man über solche Welt zur Tagesordnung
hüiwegschreitet. Nur könnte man sich fragen, ob es nötig war, erst mit so
viel Umständlichkeit dahin zu kommen? Im ersten Roman „Quartett" gilt die
Satire dem Börsengetriebe, dem Jvbbertnm, dem Aktienschwindel. Im zweiten
Roman „Fanfare" ist die niedere Journalistik, der Jnseratenhandel, die Macht
der Reklame, der Handel mit Lob und Tadel, mit Talent und Gewissen ein¬
gehend und geistreich gegeißelt. Es fehlt- auch nicht die typische Figur des
jüdischen Jnseratenagenten, der sich zum eigentlichen Hausgeist der „Fanfare"
aufschwingt. Die Gestalt des brutalen Zeitnngsspeknlanten Gottlob Mettmann
und die des gegen sein Gewissen mitthuenden Gelehrten Bode sind meisterliche
Satiren. Im dritten Bande „Billenhvf" wird die Heuchelei der Vereiuswvhl-
Wtigkeit gegeißelt. Neu ist die Kritik aller dieser Erscheinungen des gro߬
städtischen Treibens nicht. Wenn man sich aber einmal drein gesunden hat,
^ueist in einer Gesellschaft zu verweilen, die einem gründlich widerwärtig sein
'"uß, dann wird man den Romanen Mnnthners doch auch ihre guten Seiten
zuerkennen. Einzelne Teile, wie die Schilderung des Höllenlärms im Börseu¬
saale im „Quartett," das Grüuderfestessen ebenda, die Schilderung des Banketts
„Fanfare" im großen Biergarteu, die Schilderung des Wvhlthätigkeits-
"azars, des burlesken Balls weit draußen in einer Schenke eines Berliner
Vorortes im „Villenhvf," ja selbst die verfängliche und doch rein ästhetisch
gehaltene Mvdellszene zwischen Leontine und Reinhold sind sehr wohl gelungen
und bleiben in der Erinnerung haften. Ferner ist es eigentümlich für Mnnthners
^gnbung, daß er ironische Charaktere, die parvdistisch die Wahrheit sagen und
sich über sich selbst lustig machen, wie z. B. Jakubowski im „Quartett," Re¬
dakteur Bode in der „Fanfare," sehr hübsch zeichnet. Auch die Darstellung der
^mstler, des schwachen und guten Musikers Gruber, des Malers Disselhoff
Fanfare) und des naiv ehrlichen jungen Genius Reinhold muß wegen ihrer
^arwe hervorgehoben werden. Eine der feinsten Figuren ist die des abgelebten
^fen Trieuitz im „Villenhof," dessen Kunstbegeisternng das einzige echte
^übt ist, das er sich noch hat bewahren können. Also: an Geist mangelt
, »ritz Mauthner nicht, wohl aber an wahrer Poesie. So lange sich
^ne Erzählung durch bloße Denkarbeit machen läßt, gelingt sie ihm; aber
Freude um Znständlichen, an der Situation, an der naiven Äußerung
^ Menschlichen Natur vermag er nicht zu bereiten. Er fesselt und belustigt
^'h die schlau geflochtene Intrigue, aber nicht durch die Kunst der Darstellung.
ist viel zu dialektisch und viel zu wenig aus der Anschauung ge-
"!>en. Mnnthners Objektivität ist nur scheinbar: die des Ironikers, nicht die
r,s Künstlers, die besser mit dem deutschen Worte „Gegenständlichkeit" be-
^'ehret wird. Trotz aller Sorgfalt in der Charakteristik, die von reichen°
psychologischen Studien zeugt, mangelt es der Darstellung Mauthuers an
Plastik: er denkt ebeu nur und schaut nicht; häufig genug erkennt man deu
Erzähler hinter der Maske seiner Gestalten.
Ein einigermaßen Mauthuer verwandter Geist ist Gustav Schwarzkopf,
von dem eine neue Sammlung „novellistischer Studien": Moderne Type»
(Stuttgart, Bonz, 1890) vorliegt. Auch Schwarzkopf ist Sittenrichter, auch
er ein scharfer und analytischer Geist der Beobachtung. Aber er steht doch
unter Mauthuer, nicht bloß was Wissen und Bildung betrifft, nicht bloß
in dem Reichtum der Erscheinungen und Charaktere, die er begreift, soudern
auch wesentlich als Mensch in der geringern Freiheit und Liebenswürdigkeit
des Gemütes. Mauthuer hat in der vornehmen sokratischen Ironie ein Ventil
für seinen sittlichen Zorn gefunden und damit wenigstens eine Stufe künst¬
lerischer Weltbetrachtung erreicht. Schwarzkopf versucht es wohl, ironisch zu
sein, aber es gelingt ihm nur mit knapper Not, er bleibt im moralische»
Grimm stecken, und er hat für die großen und kleinen Schwachen der Menschen
nur einen bittern Ton übrig, der ans die Dauer langweilt. Daher kommt es,
daß man sich hier noch öfter fragt als bei Mauthner, wie es denn einem
ernsten Manne Befriedigung gewähren könne, mit solchem Fleiß die erbärm¬
lichsten Erscheinungen des Großstadtlebens zu studiren und zu verfolgen?
Ob denn die sittliche Entrüstung, wenn sie schon in einem kocht, nicht M
wichtigere, bedeutendere, schädlichere Dinge aufgespart werden sollte, als M
das Treiben dummer, eitler, selbstsüchtiger Weiber und Männer? Wie man
sich nur in solche Kleinigkeiten verbeißen kann?
Schwarzkopf ist ein Mann, der, wo er hinschaut, keine Charaktere findet,
oder richtiger keine sittliche Kraft finden zu können glaubt. Er sieht sie nicht,
er hat wohl auch nicht das Organ, sie zu sehen, und daraus schließt er: sie
ist nicht da. Was er sieht, ist nur Strebertum, Schwäche, Eitelkeit, Dummheit,
Selbstsucht, gemeine Goldjagd. Ihm ist es eine ausgemachte Thatsache, daß
alles äußere Glück nnr dem Zufall zu verdanken sei. Wer eine hohe Stellung
erklommen hat, ist nicht der Begabteste, sondern der von Familienrücksichten,
vom Reichtum, vom blinden Ungefähr begünstigte gewesen. Die Meinungen
darüber ändern sich nur nach dem Standpunkte, deu man einnimmt: wer unten
an der Leiter des Glückes steht (das nach Schwarzkopfs Überzeugung nur lM
Besitze von Gold und Macht bestehen kann), der schimpft wie ein Rohrspatz
auf die Streber, ans die glücklichen Schurken von Nebenbuhlern; oben ange¬
langt, gesteht derselbe Mensch sich ein, daß er auch uicht besser als die Be¬
schimpften ist. Die ganze Philosophie Schwarzkvpfs erschöpft sich also in dem
Studium des Egoismus und der Schwäche der Menschen; der ganze Reichtum
der menschlichen Natur, den Kunst und Wissenschaft Jahrtausende hindurch nicht er¬
schöpfen konnten, schrumpft vor diesem Ange auf diese zwei Eigenschaften zusammen,
die in allen ihren Äußerungen zu studiren er ein eigentümliches Vergnügen hat-
Die Erklärung zu dieser Seltsamkeit giebt Schwarzkopfs Buch selbst.
Das Beste darin, eine beachtenswerte Talentprobe, ist die Studie „Wahn."
Hwr schildert er uns in vorwiegend monologischer Form die Entstehung des
Wahnsinns aus der Hypochondrie, Ein bis zu einer gewissen Zeit naiv
lebender junger Mensch bekommt plötzlich die Neigung, sich selbst zu beobachten,
^un ist dieses Sichbewußtwerden des eignen Denkens bei starken und gesunden
^e»scho„ der Anfang aller höhern geistigen Thätigkeit, und gewiß war es
auch so bei Schwnrzkopf selbst. Dieses Sichverwundern über das Denken,
dieses Fragen nach der Art des logischen oder psychischen Vorganges, dieses
plötzliche Wissen darum: „Die Welt ist meine Vorstellung," diese Zweiteilung
Ich in Gegenstand und Beobachter ist in der neuern Philosophie der AnS-
öang aller Neuschöpfung auf wissenschaftlichem Gebiete geworden: das
^artesianische (^»ssito, srgo fumi hat hier seine Quelle. Also an sich ist diese
psychologische Erscheinung nicht nur nicht krankhaft, fondern geradezu normal,
^der, der über die menschliche Natur aus der innern Erfahrung was zu sagen
^'iß, muß dieses Erlebnis einmal in sich gehabt haben. Daß aber Schwarz¬
es nicht diese Folgerung zieht, sondern die zweite, krankhafte, die allerdings
l^nes Erlebnis zu begleiten pflegt, wie ja auch die Gelehrten- und Dichter-
Biographen viel von der Hypochondrie als zeitweiligen Leiden ihrer Helden zu
Wählen wissen: das ist sehr bezeichnend für Schwarzkopfs mit krankhafter
^iguiig sich just ans Unglück, ans Böse klammernde Phantasie. Ein gesunder
Wähler hätte uns diesen Menschen geschildert, wie er durch begeisterte
^as merkwürdige innere Erlebnis ausnutzt, um ein Mann der Wissenschaft
oder der Kunst zu werden. Es wäre in der That ja auch nur die reine
Wahrheit gewesen: Schwarzkopf selbst ist ja auch noch nicht darüber verrückt
geworden. Er aber zieht es vor, von diesem Ereignis aus den Weg zum
Wahnsinn zu verfolge,?, und thut sich noch was darauf zu gute!
Und wie in diesem Falle — ein besserer Typus als sämtliche, die er
"umstellt hat — benimmt sich Schwarzkopf überall. Er flößt daher bei all
Mucin Talent meist nur ein pathologisches Interesse ein. Er ist glücklich
Beobachten. Eine starke, wenn auch sehr einseitige Innerlichkeit giebt ihm
schlich Stoff für Selbstbeobachtung der schonungslosesten Art. Nur wegen
icses seines einseitigen Mittels, Kenntnisse von der menschlichen Natur zu
! unrein, kaun er keine andern Charaktere schildern als die, deren Urbild er
^ der eignen Brust trägt. Er glaubt irrigerweise schon dann menschliche
^sper zu schaffen, wenn er aus einem Zug, einer Beobachtung, einer Eigen¬
last eine ganze Persönlichkeit konstruirt. Die schlichte Einsicht, daß die
wuschen viel zusammengesetzter sind, Gutes und Böses schon nach der Bibel
Lischt in sich vereinigen, diese fehlt ihm als Darsteller; darum sind seine
^syn Begriffe, oft fein und glücklich gemachte Beobachtungen, aber um alles
Ul der Welt nicht wahre, typische Menschen. Man lese z. B. eines der
erträglichste!?, weil doch noch mit einiger Wärme schließenden Kapitel: „Die
Anempfindcrin." Daß die weiche Schmiegsamkeit des Weibes und seine Fähig¬
keit, in der Geisteswelt des geliebten Mannes aufzugehen, eine der wesentlichsten
Grundlagen ehelichen Glückes ist, das ist zwar keine Entdeckung, aber eine
Wahrheit. Um diese Wahrheit zu veranschaulichen, erzählt Schwarzkopf die
Geschichte einer Frau, die nach einander einen Gelehrten, einen Kaufmann,
einen Advokaten und einen Politiker liebt, den ersten als Bruder, die zwei
andern als Gatten, den vierten als Sohn, und nun soll dieser abstrakte
Hnnbenstock für eine am ganzen weiblichen Geschlechte gemachte Beobachtung
ein moderner Typus sein! Das ist eine geistreiche Geschmacklosigkeit. Und
dergleichen Kunststücke weist das Buch eine ganze Reihe auf. Man muß das
Bestreben Schwarzkopfs, aus der Welt der Geldjäger, Theaterdamen, Streber,
kurz des großstädtischen Sumpfes sich herauszuarbeiten, anerkennen. Aber
es bleibt ihm uoch viel zu thun übrig. Er muß sich selbst umwandeln, er
muß die Grundlage seiner Weltanschauung erneuern, er muß sich Gemüt und
Herz freier, weiter stimmen, er muß erkennen, daß die Wahrheit des Lebens
niemals vom galligen, sondern vom begeisterten Ange erfaßt wird: dann wird
sich sein Talent zu erquicklicheren Leistungen erheben können. Vorläufig ist
er nur das bittere Original im Kreise seiner flachern Genossen.
als Unterstützer der Streiks, das klingt sonderbar,
und doch ist es wahr. Das Bodclschwinghsche System der Verpflegnngsstationen
ist ein idealer Gedanke; daß es aber neben seinen guten Früchten, seitdem sich das
Sieh der Verpflegnngsstativnen über Westfalen hinaus in ganz Deutschland aus¬
gebreitet hat, auch bedenkliche Folgen nach sich ziehen kann, haben lebhafte Freunde
der Einrichtung, wie z. B. der Oberregierungsrat von Massow zu Lüneburg, stlM
mehrfach öffentlich dargelegt. Es hat sich durch die Möglichkeit, Verpflegung S»
erhalten, ohne sich legitimiren zu müssen nud ohne einer zeitlichen Beschränkung
ausgesetzt zu sein, allmählich eine Klasse von Herumtreibern gebildet, die mit dein
Namen Stationsbnmmler belegt werden und sich arbeitsscheu von Station zu
Station begeben, überall Nerpflegnng erhaltend. Ganz besonders aber macht sich
diese Wirkung zur Zeit von Arbeilsauöständen geltend, indem die Gesellen, die die
Arbeit eingestellt haben, nun auf Rechnung der Verpflegnngsstativnen umherziehen
und daneben womöglich noch ihre Streiluntcrstütznng erhalten. Nun soll keineswegs
allen Streiks ihre Berechtigung abgesprochen werden, wohl aber denen, die init
Vertragsbruch ins Werk gesetzt werde», und das sind leider die meisten, weil die
Gesellen das, was ihren Forderungen an innerer Berechtigung mangelt, durch den
Druck der Geschäftslage zu ersetzen suchen, z. B. die Bmihandwerker beim Beginn
»er'Sommerbauzeit, die Schneider beim Beginn der neuen „Saison" u. s. w. Nur
d>e Gesellen oder Gewerbegehilfen werden mit Einhaltung der gesetzlichen Kündigungs-
l^lst die Arbeit niederlegen, die sich der vollen Gerechtigkeit ihrer Forderungen
bewußt siud und deshalb die Überzeugung haben dürfen, das; an ihrer Stelle
"wmaud anders die freigewordene Arbeit übernehmen wird, wenigstens niemand,
der den Meister oder Arbeitgeber befriedigen kann. Mag aber nun eine - Arbeits¬
einstellung berechtigt sei« oder nicht, jedenfalls besitzen die ausstehenden Gesellen
»lehr, als sie zum Lebensunterhalt brauchen, da sie ohne das ihre Stellung uicht
aufgeben und eiuer ungewissen Zukunft entgegengehen könnten; sie sind also jeden-
scills keine bedürftigen Wandrer; für solche allein aber ist die Wohlthatigkeitseiu-
^chtung der Berpflegungsstationeu geschaffen. Durch die Unterstützung seitens dieser
Stationen werden die Gesellen nun in die Lage gesetzt, ihren Lohnkampf länger zu
mhrcu, als wenn sie ans ihre eignen Kräfte angewiesen wären, und es ist wiederum
^e Frage berechtigt, ob es Zweck der Mildthätigkeit sei, in derartige» Lohnkämpfen
nirch Unterstützung eines Teils gewissermaßen Partei zu ergreife». Hin und wieder
Finnen daher die Berpflegungsstationeu den Gewerbegchilfen, deren Genossen am
'-->rde der Station oder an einem benachbarten Orte streiken, die Verpflegung zu
'erweigern. Im Juteresse der Stationen aber liegt es, daß sie von der unbewußter
vcer bewußten Teilnahme an den Lohnkämpfen befreit werden; wer praktisch mit
Maden Stationen befaßt ist, wird das sicher bestätigen. Eine Abhilfe in dieser
Züchtung wird sich Wohl auf dieselbe Weise schaffe« lasse», wie mau den Stations-
'uiumler bekämpfen Null: durch Einführung einer Legitimation und durch Be-
ichrnuknng des Rechtes auf Verpflegung auf eine gewisse Zeit überhaupt oder doch
Unndestens ans die Zeit, während deren die Unmöglichkeit, Arbeit zu erlangen,
urch Beibringung einer Bescheinigung, sei es der einzelnen Berpflegungsstatioueu,
le> es der Ortspvlizeibehörden, nachgewiesen werden kann. Mochten sich die Freunde
er Verpflegungsstationeu bemühen, eine angemessene Abhilfe zu erdenken.
In den „Mitteilungen des Vereins für Schulreform"
^ 5) bespricht Direktor Krumme in Braunschweig die „Änderungen im höhern
c>chulwesc» einiger außerdeutschen Staaten Europas währeud der letzten zwanzig
^U)re." verdient gewiß alles die sorgfältigste Beachtung, was in andern
unten auf diesem Gebiete geschieht; Nur dürfen nicht zu stolz sein, von den Ans-
'stern zu lernen. Aber es wäre doch Wohl übertriebene Bescheidenheit, wenn
^' uns den Ausspruch des Norwegers Ullmann sehr zu Herzen nehmen wollten:
" aL deutsche Schulwesen ist meiner Meinung nach nicht vorzüglich. Im Gegen-
' ^ wird zum große« Teil in einer geistlosen Richtung geleitet, sodaß ich
^ usche, eilte guten Mächte wollen uns davor bewahre» vom deutschem Schulwesen
N..^"fre Lande noch mehr einzuführen, als wir schon haben." Die gegenwärtige
^ NeZverfcissnng der Skandinavier, Franzosen, Schweizer und Ungarn, über deren
^^^eforiueu Krumme berichtet, ist nicht darnach angethan, uns mit besondern!
»n's^^ SU ihren Erziehungsgrundsätzen zu erfüllen. Es scheint diesen Völkern
heit ^^^"^ ^ uns an gewissen Eigenschaften zu fehlen, die zur geistigen Gesund-
^ .^hören, und die zu erhalten das Studium der altklassischeu Litteratur und
"M besouders geeignet ist. Was die Alten auszeichnet, das ist Heiterkeit des
Gemütes, Klarheit des Geistes, Deutlichkeit der Anschauung, Bestimmtheit des Aus¬
druckes, verständiger Lebensgenuß, Maßhalten in allen Dingen, seelisches Gleich¬
gewicht. In der kühlen und klaren geistigen Atmosphäre der Alten gedeiht
keinerlei Art von Fanatismus, Mysticismus und Aberglauben; weder amerikanische
Dollarjagd, noch albernes Gigerltnm, noch anarchisches Durcheinander; sie leidet
weder Gespenster noch Fratzen. Was nützen uns die Fortschritte der Naturwissen¬
schaften und der Technik, wenn wir dabei Barbaren werden, bei deuen der
Schönheitssinn durch Modefratzen, die Humanität durch wüsten Rassen- und
Klassenkrieg verdrängt wird, und die über dem Ringen ums nackte Leben den Zu¬
hält verlieren, der das Leben lebenSwert macht? (Darüber hat Graf Wnrmbraudt
am 26. April sehr schön im österreichischen Abgeordnetenhause gesprochen.) Was
nützen uus die wunderbarsten Maschinen unsrer Techniker und die unzähligen
neuen Methyle und Tolnvle unsrer Chemiker, wenn wir cinfhören, Menschen zu
sein? Die Menschen sind nicht da, um Maschinen zu bauen und neue Arzenei¬
oder Färbstoffe zu entdecken, sondern alle Maschinen und Stoffe haben nnr inso¬
fern Wert, als sie dem Menschen zu seiner Sclbstvollendnug dienen. Mit der
Verbannung der alten Sprachen aus den Schulen würde eine der kräftigsten Nah¬
rungen der gesunden Menschennatur schwinden. Mag sein, daß vou hundert
Abiturienten sich höchstens zehn an den alten Klassikern die oben genannten Vor¬
züge, aneignen. Aber wenige Körnchen Salz reichen hin, die ganze Suppe zu
würzen, nud wir »vollen das attische Salz so wenig missen, wie das des Evan¬
geliums.
Die Verpflichtung zur Ablieferung von Pflichtexem¬
plaren an die Bibliotheken hat schon zu vielen Bedenken Anlaß gegeben; einen
ganz neuen Gesichtspunkt für diese Verpflichtung gewährt aber folgender Fall. Ein
Buchhändler stellte ein Album vou Ansichten seines Wohnortes zusammen, indem
er eine Anzahl von Photographien in eine Mappe legte, und rückte eine Anzeige
liber dies Album in öffentlichen Blättern ein. Hierdurch bekam eine Bibliotheks-
verwaltnng Kenntnis davon und begehrte die Ablieferung dieses Albums, die auch
auf Ersuche» der Biblivtheksverwnltnng der zuständige Regierungspräsident dnrch
die Ortspolizciverwaltung dem Buchhändler aufgeben ließ. Dieser wurde gegen
diese Auflage klagbar, wurde aber mit der Klage abgewiesen, da es sich nicht um
eine polizeiliche Verfügung im Sinne des ez 127 des preußischen Gesetzes über
die allgemeine Landesverwaltung, sondern nur um eine exelutivische Beitreibung
einer öffentlichen Abgabe zur Unterhaltung öffentlicher Anstalten handle, bezüglich
deren Beitreibung der Rechtsweg nur insoweit zulässig sei, als behauptet werden
solle, die Abgabe sei bereits entrichtet oder es handle sich um keine öffentliche Ab¬
gabe. Hiernach möchte es also nur von dem Ermessen der Biblivtheksverwaltungen
abhängen, welche Artikel aus dem Geschäfte eines Buchhändlers sie als unter
die den Bestimmungen über Ablieferung des Pflichtexemplars fallenden Gegenstände
rechnen wollen.
Welches Glück, daß die Landleute -M
keine, die Köchinnen und Arbeiter nnr schlechte Romane lesen! Denn die schlechten
Romane, d. h. die Fabrikerzeugnisse ohne Kunstwert, mögen zwar durch ^u-
süllung der Phantasie mit überflüssigen oder schlechten Bildern schaden, aber sie
pflanzen wenigstens keine falschen Grundsätze ein; dazu sind sie zu dumm und zu
gedankenlos. Die wirklichen Künstler aber unter deu Novellisten und Dramatikern
scheinen, soweit wir es bei unsrer mangelhaften Kenntnis dieses Litteraturzweige-'
im können, meist falsche und ungesunde Grundsätze zu predigen. Nachdem
^ mancherlei naturalistischen Schulen lange genug das Evangelium der freien
Liebe verkündigt haben, wollen jetzt die Björnsonianer, unterstützt von verschiednen
^raueuvereineu, im öffentlichen Leben den Grundsatz durchsetzen, das; die Männer
geschlechtlicher Beziehung geuau nach demselben sittlichen Maßstabe zu beurteilen
I^'n Jungfrauen und die Frauen. Sie tonnen sich dabei, nebenbei gesagt,
^uf eine hohe kirchliche Autorität berufen; denn die Lambethsynode (so genannt von
dem Versammlungsorte, dem Lambethpalaste) der anglikanischen Bischöfe hat im
>all 1888 denselben Grundsatz aufgestellt. Und nun kommt der Graf Leon Tolstoi
"ut seiner „Krentzersonnte" und erklärt schon die gesetzmäßige eheliche Befriedigung
Mr Sünde und Unzucht. Bekanntlich will der Graf, dessen Seelenübel und beiden-
»uitigL Entsagnngskrnft ja Bewunderung verdienen, das wahre reine Christentum
Wieder herstellen. Er findet es in der Bergpredigt, deren wörtlich zu verstehende
Gebote für alle Christen ohne Ausnahme verbindlich seien, sodaß also kein Mensch
"'ehr um Vermögen besitzen darf als sein Bruder, daß jeder verpflichtet ist, dem,
seinen Rock beansprucht, anch noch den Mantel zu lassen, wenn er ins Gesicht
^schlagen wird, dem Angreifer auch die andre Wange darzubieten, und daß eine
chwere Sünde begeht, wer vor Gericht schwört oder als Geschworner oder ange¬
malter Richter über seinen Bruder zu Gericht sitzt. In der „Krentzersonnte"
^formirt nun dieser edle Schwärmer die christliche Ehegesetzgebung, indem er nicht
^ß aus dem Leben der Unverheirateten, sondern auch aus dem der Eheleute die
Sinnlichkeit gänzlich verbannt wissen null. Wenn Christus sagt: Wer ein Weib mit
^köderte ansieht, der begeht schon Ehebruch, so meint er nicht bloß alle fremden
filier, sondern auch die eigue Ehefrau; ja ganz besonders die eigne Ehefrau.
diesem merkwürdigen Ergebnis seiner Bibelforschung und Lebenserfahrung
Micht Tolstoi seine „Krentzersonnte." Als Seelengemttlde und Meisterstück der
^znhlerkunsi gehört diese Novelle zu dem Bedeutendsten in ihrer Art; auch enthält
l ^ diele zutreffende und nützliche Bemerkungen über die wahre und die falsche Liebe
c>u den Kindern und ähnliche Gegenstände. Wahrscheinlich ist anch das wenig
MMeichelhnfte Bild getroffen, das der Verfasser von den Lebensgewohnheiten der
^'Nehmen Russen entwirft, die er ja aus eigner Erfahrung kennt. Aber seine
Tendenz ist f^llsth ^u!) gefährlich. Der Kirchenvater Augustin but im vierzehnten
^u>er zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat (Kap. 23 und 24) eine merk-
en ^ anatomisch-Phhsiolvgische Untersuchung angestellt über die Frage, ob und
in^w Kinderzeugung möglich sein würde, wenn Adam nicht gesündigt hätte, dn
^'^Mi ^->^> seiner Ansicht nach die Begierde ausgeschlossen wäre (er führt,
< bemerkt, bei dieser Gelegenheit anch einen Fall von Hhpnotismus um);
d^l^^' unchdem wir nun einmnl Sünder geworden sind, die Körperbeschnffenheit
Urin^es s
>, begierdelvsen und von den Atrien Darwins auch sonst sehr verschiednen biblischen
^ ."'^eben noch einmal hergestellt werden könne, das ist ihm nicht in den Sinn
wis'""^"' ^'"f Tolstoi scheint diese. Abänderung der unserm Herrgott gründlich
^in Menschennatur ernstlich in Angriff nehmen zu wollen. Es wird einige
^ Zusende dauern, ehe er damit fertig wird, und bis dahin wird sein nller-
Nen . ^Mgelium keine andre Wirkung hervorbringen, als daß es alljährlich einige
N und geistesschwache Männlein und Fräulein durch Gewisseusängfle ins
,„ .,^haus treibt. Die Auslegung von Matthäus 5, 27 — 32, die dem schwär-
Weltverbesserer beliebt, ist so offenbar falsch, daß es eines ausführlichen
si^'^beiveises nicht bedarf. Übrigens ist die Bibel so reich und allumfassend, daß
Anweisungen und Ratschläge für außerordentliche wie für gewöhnliche Menschen
und Verhältnisse darin finden. Auf einen einzelnen Vers läßt sich kein Gebäude
der Sittenlehre bauen. Menschen gewöhnlichen Schlages halten sich am besten an
1. Kor. 7, 2—9 und an die Spruchdichter des Alten Testaments: Sprichwörter,
Jesus Sirach und Prediger, namentlich Prediger 11, 9. Wie milde Christus ge¬
schlechtliche Fehltritte beurteilte, ist aus vielen Stellen des Neuen Testaments bekannt.
Die richtige Mittelstraße zwischen einem unnatürlichen Rigorismus, der uur Unheil
stiftet, und frecher Zügellosigkeit hat unter den Theologen Luther und unter den
Dichtern Goethe gezeigt. Diese Mittelstraße gegen den litterarischen Ansturm von
rechts und links zu behaupten, das ist eine wesentliche Bedingung fiir die Erhaltung
der Gesundheit unsers deutsche» Volkes.
Der Grundsatz, daß die Männer genau unter denselben sittlichen Gesetzen
stünden wie die Frauen und Jungfrauen, daß demnach beider Verhalten mit dem¬
selben Maßstabe zu luesseu sei, ist insofern bereits durchgeführt, als ein öffentlicher
Protest dagegen schon sehr gewagt erscheint, und die Männer sich in der Unter¬
haltung und bei ihren Vergnügungen nicht leicht etwas herausnehmen dürfen, was
sich für Frnueu, Mädchen und Kinder nicht schickt. Goethe war darin andrer
Meinung und forderte für Männer und verheiratete Frauen jene Vorrechte zurück,
die ihnen bei den alten Athenern eingeräumt waren; Mädchen gehören nicht inS
Theater, sondern ins Kloster, sagte er am 29. Januar 1826 zu Eckermann. Und
wie er die Verkürzung der Männerrechte zu Gunsten der Backfische und Kinder
nicht billigte, so würde er anderseits die Erweiterung der Frauen- und Mädchen¬
rechte, die aus der Gleichstellung beider Geschlechter unvermeidlich hervorgehen muß,
und von der wir schon recht bedenkliche Proben sehen, kaum billigen; ein öffent¬
liches Damenwettschwimmen und eine Schöuheitskoukurreuz würde ihm vielleicht
von der ästhetische», aber günz und gar nicht von der sozialen und der sittlichen
Seite gefallen. Ob nnn die unverheirateten Männer durch jene Gleichstcllungs-
bestrebuugen dem Zustande der Jungfräulichkeit erheblich näher gekommen sind, das
zu ergründen überlassen wir den Ärzten, Polizeibeamten und Strafrichtern. Aber
daß auch in der Litteratur die Beschneidung der Männerrechte durch eine nicht
unbedenkliche Erweiterung der Frauen- und Mädchenrechte ausgeglichen wird, darüber
darf und muß öffentlich gesprochen werden. Eine Komödie im Stile des Aristo-
Phanes oder des Aretino dürfen sich die Männer nicht ansehen, sie darf überhaupt
nicht aufgeführt werdeu. Aber die Rechtfertigung des Ehebruchs in französischen
und französelnden Stücken und die musikalisch-poetische Verherrlichung der Brunst
in der Nibeluugentrilvgie dürfen sich deutsche Frauen und Mädchen ansehen und
anhören; müssen es sogar thun, wenn sie nicht fiir ungebildet gelten wollen.
Ans dieser Verwischung von Grenzen, die der Schöpfer selbst gezogen hat,
erkläre ich mir mich die Verzeichnung eines Charakters, die einem unsrer besten
Schriftsteller, der Frau vou Ebner-Eschenbach, begegnet ist. (Wir nennen sie eine»
Schriftsteller, weil sie ein Mann zu sein verdiente, und weil, wenn eine Fran in
Kunst, Wissenschaft oder Politik u. f. w. Großes leistet, dies einem Zusätze männ¬
lichen Geistes in ihrer Naturanlage zu danken ist.) In ihrem letzten Noi»"»
„Unsühnbar" zeichnet sie uns eine mit allen Vorzügen des Körpers, Geistes,
Herzens und der Bildung ausgestattete Frau, eine echte Aristokratin. die ihre-»
Vater zu Gefallen, wie das in Romanen üblich ist, einem ungeliebten Manne d,e
Hand reicht. Aber dieser ungeliebte Mann ist ein Jdealmensch und voll der zärt¬
lichsten, stärksten und rücksichtsvollsten Liebe zu ihr, sodaß sie ein Ungeheuer few
müßte, wenn sie nicht wenigstens Hochachtung und Freundschaft für ihn empfände,
und eine Gans, wenn sie sich unglücklich fühlte; die äußern Bedingungen de-
ces, Reichtum, ein schönes Schloß und sonstiges Zubehör, sind nämlich eben¬
falls reichlich vorhanden. Nachdem die Leutchen schon einen mehrjährigen Sohn
h/>ben, wird die edle Gräfin vou dem Manne, den sie vor ihrer Verheiratung ge-
"^>t hat, in eine Falle gelockt, und läßt sich von ihm einen falschen Majoratserben
mchcingen. Majoratserbe soll der Junge nämlich werden, nachdem sein älterer
Bruder samt dem Vater ertrunken ist. Die Gefallene büßt ihren Fehltritt vom
echa Augenblick an bis zum Tode aufs schwerste. Poetische Gerechtigkeit hat
^>e Verfasserin überdies ja schon durch den Titel geübt, indem sie an ihrer Heldin
"Uusnhnbar" nennt, was sie an einem Helden vielleicht nicht so genannt haben
^'urbe. Aber die Heldin ist unmöglich, und darin bestellt der unsühnbare ästhe¬
tische Fehler des Romans, der doch auch ins moralische Gebiet schlägt. Nehmen
^ir an, die Gräfin wäre wirklich so schwach gewesen, beim Anblick ihres frühern
Liebhabers eine Regung der Zärtlichkeit p, spüren in dem Augenblicke, wo er
"Neue machte, die Grenzen des Auslandes zu überschreiten, würde sich die Zärtlich¬
st in Unwillen verwandelt haben, und das Höchste, was der gewissenlose Lebe¬
mann (denn als ein solcher, nicht als ein liebeglühender, unschuldiger Jüngling
^ geschildert) davongetragen hätte, wäre „n Watschn" gewesen. Daß
- Wurm ihren Männern untreu werden, kommt ja vor, aber daß eine körperlich
und geistig starke Frau von hoher Bildung, klarem Verstände und edelm Charakter
unter solchen Umständen der Versuchung erliegen sollte, halten wir für un¬
möglich- „ut daß unsre Mädchen und Frauen lesen, wie man eine bis zur Engel-
^stlgteit erhabene und tugendhafte Gattin und Mutter sein und doch eine solche
ummheit begehen könne, halten nur nicht für besonders nützlich.
. Selbst der unstreitig größte unsrer lebenden Novellisten, Gottfried Keller, hat
">>ers Erachtens einen ' ähnlichen (eine andre Region des sittlichen Lebens be¬
llenden) Fehler begangen, noch dazu in seinem bedeutendsten Werke. Der grüne
'-einrieb wird uus als ein zwar wunderlicher und leichtsinniger, aber im Grunde
- uoinmeu guter und edler Junge dargestellt. Nun halten nur es für ganz un-
>u> guter und edler Junge so schlecht an seiner Mutter handeln könne,
Heinrich Lee es thut. Daß er sie um seinetwillen jahrelang Hunger leiden
M, mochte noch hingehen; Studenten halten es meistens für selbstverständlich, daß
Gr s ^ ""^ Geschwister für sie aufopfern, Aber daß er monatelang auf dem
schloß herrlich und in Freuden lebt und ein Tnusenguldenpacket nach dem
„. empfängt, ohne einen Geldbrief, ohne auch nur eine Zeile Geschriebenes
er .-,>^"^e zu schicken, das ist einfach niederträchtig; das ist schlimmer, als wenn
^^^"^Miitterlein im Zorne totgeschlagen hätte. Was wir wissen, das weiß Gott-
jst' Keller natürlich schon lange; er weiß also mich, daß das gar nicht möglich
Lee s""^ ^ geschrieben hat; er hebt diesen Widerspruch im Charakter seines
^ sogar geflissentlich hervor, als wollte er sagen: Dummes Publikum, wirst
Lu,/^ ""H dieses aufbinden lassen? War es vielleicht nur eine solche übermütige
der'!»' ihn. zu dieser Sonderbarkeit bewog? Für den geistesschwachen Teil
^rin ^feumM sind und bleiben nun einmal solche Verzeichnungen gefährlich. Nicht
' U"i. das noch einmal zu sagen, liegt der Fehler, daß Heinrich schlecht an
also "leer handelt, alle Arten von Schlechtigkeiten kommen im Leben vor, müssen
es in Romanen vorkommen; sondern darin, daß Keller uns überreden will,
dieiw^ edler Mensch sein und die volle Sympathie seiner Freunde ver-
"kund dabei schlecht an seiner Mutter hseiner Mu handeln.
u»d '"^ ^ unabsichtliche (naive) Obszönität werden von der Polizei
em Strafrichter aus der Öffentlichkeit verdrängt, und mit Recht verdrängt,
obwohl sie nur roh, an sich ober weder unsittlich sind, uoch notwendigerweise zur
Unsittlichkeit verführen. Rechtschaffene Bauerfrauen hören die derben Späße der
Männer mit unbefangnen Lachen an, sprechen mit jedem beliebigen fremden Manne,
wenn es die Gelegenheit so schickt, über alle natürlichen Zustände und Verrichtungen,
wobei sie jedes Ding mit seinem richtigen Ruinen nennen, und wenn sie irgendwo
am Körper einen Schaden haben, so sind sie jederzeit bereit, die Beschreibung durch
Demonstration zu verdeutlichen. Aber wenn sich ein städtischer Galan dadurch zu
dem irrigen Schlüsse verleiten lassen sollte, daß sie unsittlichen Anträgen zugänglich
wären, so würden sie ihm mit ihrer derben Hand, mit Besen und Dreschflegel die
Wege weisen. Sie sind durchaus pflichtgetreue Gattinnen und Mütter. Gegen
die unter allen Umständen schädliche Verdunkelung und Verwirrung der sittlichen
Begriffe aber vermögen Polizei und Strafrichter nichts auszurichten. Denn es
giebt keinen unfehlbaren Sittenkodex; die sittlichen Urteile sind, wie sie Herbart
richtig nennt, Geschmacksnrteile, und der Geschmack ist verschieden. Diese Ohnmacht
der Obrigkeit ist ja ein Glück; denn könnte die Sittlichkeit von der Rechtsordnung
verschlungen, gewissermaßen verstaatlicht werden, so wäre es um das höchste Gut
der Menschheit, um die freie Sittlichkeit geschehen. Aber eben deswegen sollen
die tonangebenden Schriftsteller als priesterliche Pfleger und Hüter der idealen
Güter umso gewissenhafter ihre Pflicht thu». Nicht Moral Predige» sollen sie,
sondern singen und sagen, wozu der Gott im Busen sie treibt (also, wenn der
Gott sich nicht einstellt, das Singen und Sagen hübsch bleiben lassen); aber dann
bei der Ausführung wenigstens keine verkehrte Moral in ihre Schöpfungen hinein¬
klügeln.
Die (frühere Augsburger, jetzt-Münchener) „Allgemeine
Zeitung stand sonst in dem wohlbegründeten Rufe, daß die Sorgfalt der Re¬
daktion sich auch auf Richtigkeit und Reinheit der Sprache mehr erstrecke, als bei
deutschen Zeitungen im allgemeinen üblich ist. Neuerdings scheint die Beaufsichti¬
gung der Mitarbeiter in dieser Richtung weniger streng zu sein, ihnen namentlich
in der eigenmächtigen Bereicherung des deutschen Sprachschatzes freie Hand gelassen
zu werden. So wurde unlängst Viktor Hehn ein. ..stannenhaftes" Wissen nach¬
gerühmt; haft bezeichnet sonst BeHaftung, Besitz, nun soll aber doch das Wissen
nicht erstaunt sein, sondern Staunen erregt haben. In diesem neuen Sinne
staunenhaft sind vollends die Leistungen eines Wiener Berichterstatters über Kunst-
nusstellungeu. Da wird von einem Musikfreunde erzählt, daß ihn Melodien ,,w>e
ein klingender Duft umwittern." Klingender Duft, darauf dürfte wohl- oder übel¬
riechender Klang folgen. Und „wittern" kommt nach heutigem Sprachgebrauche
doch nur in zweierlei Sinne vor: gewittern, und durch deu Geruch kenntlich werden
oder an dem Geruch etwas erkennen. Darnach scheint den Musikfreund der
klingende Duft wie Sturm, Donner und Blitz zu umtoben. Dann kommt ein
„toll gespachtelter orgienhafter Stegreif in Farben!" Stegreif ist, wie anch dem
geistreichen Verfasser vielleicht bekannt ist, unser heutiges Steigbügel, man kann von
Rittern vom Stegreif sprechen, man kann „aus dem Stegreif" eine Rede halten,
aber ein Bild eiuen Stegreif nennen ist barer Unsinn Und nun gar ein orgien¬
hafter Stegreif! Bedient sich etwa der Korrespondent eines Spachtels anstatt der
Feder? Bisher haben nur schlechte Romanschreiber eine solche Sorte von Origi¬
nalität angestrebt, und denen sollte man sie auch neidlos überlassen!
Dir erste Bevölkerrmgsstufe besteht aus den Bauern. Im altgeruiauische»
Innern- und eigentlich auch noch im Feudalstaate >var sie die einzige. Der Über-
>chuß an Bauernsöhnen wurde dnrch Kolonisation versorgt; die tüchtigsten der
überzähligen Sprößlinge stiegen in den Klerus und in den Dienstadel auf, welche
veideu Stände ebenfalls unmittelbar vom Ertrage des Grundbesitzes lebten. Mit
Zeit entstanden in den Städten neue A»fuahmegefäße für die überquellende
^auernbevölkerung- Die städtische Bevölkerung trieb zwei Zweige: einerseits den
^ewerbestand (Kaufleute und Handwerker), anderseits den akademischen Stand
(Gelehrte, geistliche und weltliche Lehrer, Beamte, Künstler n. s. w.), die beide unter
^>n Namen des Mittelstandes zusammengefaßt werden können. Das ist die zweite
^use- Nachdem einzelne Gewerbtreibende hinlänglich reich geworden waren, um
^re Handarbeit durch andre verrichten zu lasse», entstand, durch das Maschinen¬
wesen gefördert, die dritte Vevölkernngsstufe, die der „Arbeiter." Der Mittelstand,
'n dem sich die besten geistigen Kräfte des Volkes sammeln, bildet den Höhepunkt
Mner Entwicklung. Die schwächern Sprößlinge des Mittelstandes sinken auf die
^rede Stufe hinab. Bon dieser dritten Stufe auf die zweite zurückzukommen,
lMuigt nur wenigen, Grundbesitz zu erwerben, fast keinem. Im Vagabundentum
Med sich si^ die Masse der Überzähligen dieses Standes ein Abzugskanal, den
erstopfen zu wollen ein unmögliches und schädliches Beginnen ist. Die gut ge-
'"eurem Arbeiterkolonien bewirken weiter nichts, als daß zu Gunsten einiger schon
^'kommenen ebenso viele, die sich bisher noch geHallen haben, denen aber durch
^ Kolonie ihre Arbeit genommen wird, in den Schlammkanal hinabgestoßen werden.
den Verbrechervierteln der großen Städte wird diese unterste Bevölkerungsschicht
^gnr s^h^se und Pflanzt sich fort. Da die Sprößlinge der zweiten Bevölkeruugs-
^use, des Mittelstandes, schnell ausarten, so hängt dieses Standes Gedeihen und
^>>nach des ganzen Volkes Blüte von dein ununterbrochene» Zufluß frischer Kräfte
dem Bauernstande ub. Aber der reich gewordene Mittelstand geht auf die
^Wichtung des Bauernstandes aus und verstopft so selber seine Lebens- und Ver-
j"Mngsquelle; er bringt die Bauer» in Zinsknechtschaft, mobilisirt den Grund-
»c, We das Land veröde» und die Landbevölkerung verarmen. Auf diesen und
Michx^ Wegen, sind Italien, Frankreich, die Niederlande heruntergekommen, und
^h und England geht es trotz seines Reichtums schnell bergab. Das Schicksal
Esthlands hängt davon ab, ob es gelinge» wird, den: Verfall des Bauernstandes
die s^, -^"KU werden allerdings die Agrarzölle nicht genügen; es müßte
5w ^^derbefeflignng des Grundbesitzes durch Änderung der Erbteilnngs- und
u,n ^^^'^esetzgebung hiuzukvnnnen. Geschieht das nicht, da»» werden bei de»r
^ ^'"eidlichen sprach gewaltige Flächen Landes um einen billigen Preis in den
5,«,^ Großkapitals übergehen. Dann wird sich der Grundbesitz in „kräftigen"
gute^ befinden. Das Land wird ausgezeichnet bewirtschaftet werden und eine
'Rente abwerfen, aber an die Stelle des Bauernstandes wird ein „taglöhnendes
Lumpengesindel getreten sein, dem in der Stadt bald die »Krämer und Pfuscher«
folgen werden." (Taglöhneudes Lumpengesindel auf dem Lande, Kriimer und
Pfuscher in den Sttidten, so hatte Niebuhr das genannt, was vom fünfzehnten
Jahrhundert ab ans den Italienern wurde.) Die Landwirtschaft null eben vor
allem als Pflanzstätte für Menschen gepflegt werden, was die übersehen, die immer
bloß nach der Rentabilität fragen.
Dies der Gedankengang des Buches, das im einzelnen viel Originelles und
unsers Erachtens meist Zutreffendes enthält. Der landläufige Begriff vom.Kapital¬
zins wird nicht allein kritisirt, sondern auch derb verspottet; namentlich wird die
Phrase lächerlich gemacht, der Kapitalzins sei der Lohn der Enthaltsamkeit. Auf
die Frage, wer die in der Kapitalisten Taschen fließenden Zinsen der Staatsschuld
aufdringe, giebt Hansen zur Antwort: Die Beamten, deren geistige Arbeit vom
Staate um eben so viel zu schlecht bezahlt wird, als die Arbeit der Kaufleute,
Unternehmer und Spekulanten zu hoch gelohnt wird. Sehr hübsch ist die
Charakteristik des Staates Friedrichs des Großen und seine Bergleichnng mit dem
französischen und dein englischen Staatswesen, sowie die Rechtfertigung des adliche»
Offizicrl'orps im alten Preußen. Die Schnlrefvrmbestrebungen bezeichnet Haufen
als einen Kampf des Elterninteresses gegen das Staatsinteresse. Die Eltern des
Mittelstandes wollen alle ihre Sohne, auch die unfähigen, in höhere Stellungen
bringen und daher den Gymnasialnnterricht möglichst leicht machen. Der Staat,
der das Interesse des ganzen Volkes, und zwar nicht bloß des gegenwärtigem
sondern auch des zukünftigen Geschlechts vertritt, muß das Gegenteil »vollen: die
Fernhaltung der unfähigen Beamten- und Kapitalisieusöhne vou den einflußreichen
Stellen und die Offenhaltung dieser für die fähigen Köpfe des Banernstandes-
Deshalb darf der Gymnasialunterricht uicht leichter werden, als er ist. Drum will
Hansen von Abschaffung der alten Sprachen und vou Erleichterung der Methoden
nichts wissen; dadurch würden die Gymnasien ihre Fähigkeit, als Siebe für die
Talente zu dienen, verlieren. Beachtung verdient auch Haufens Ansicht von den
Bedingungen, uuter denen klassische Litteraturen entstehen. Es gehöre dazu, meint
er, zweierlei: einmal die Bedingung aller Geistesblüte, fortwährendes Einströmen
frischer bäuerlicher Kräfte in die städtische oder die sonstige maßgebende Bevölkerung i
zweitens, daß das Volk noch keine oder doch noch keine gute Schriftsprache habe.
Denn Dichten sei Sprache schaffen; wer in eiuer schon fertige» Sprache dichte, der
könne nur Phrasen drechseln. Klopstock habe uoch mit der Form gerungen,
Schiller sei schon der Herrschaft der Phrase verfalle». Weil bald «ach Dante
Boccaccio den Italienern eine gute Prosa gab, die sie bisher unverändert behalte»
haben, konnte ihnen kein großer Dichter mehr erstehen Das Deutsch der Minne-
sänger hingegen wurde nicht Schriftsprache, man fuhr in Dentschland fort, lateinisch
zu schreiben, daher waren Luther und Hans Sachs möglich. Diese zweite klassische
Periode wurde an der volle« Entfaltung gehindert, zu unserm Glück, sonst hätten
wir Goethe nicht bekommen. Der dreißigjährige Krieg entvölkerte das Land. So
lange die Bauernbevölkerung nicht ergänzt war, konnte sie nichts an die Städte ab¬
geben. Das sich selbst überlassene Bürgertum verkümmerte und verlernte ». a. auch
die Muttersprache; an, Aiifange des vorigen Jahrhunderts kaltem die deutschen Ge¬
lehrten und Beamten bloß noch. So fanden unsre Klassiker die beiden Bedingungen
vor. Wollen wir eine vierte klassische Periode erleben, so müssen wir uns eine»
zweiten dreißigjährigen Krieg gefallen lasse» und eine solche Nerhnnzung unjrer
Sprache, daß wir Goethe uicht «lehr verstehen. Nun wähle« Sie, mei«e Herren
Sprachverbesserer!
Der Verfasser dieser Schrift, ein aktiver Offizier, verwahrt sich gegen die
Annahme, als habe er mit seinen Streiflichtern ein bestimmtes Offizierkorps treffen
Nullen, die von ihm gerügten Mängel und Gebrechen fänden sich bei allen Nationen,
'n allen Heeren; im Gründe aber meint er doch wohl die deutschen Offiziere und
deren gegenwärtige Stellung in der gebildeten Gesellschaft. Die kaiserliche Kabinets-
ordre vom 29. März d. I., die sich auf deu Ersatz des Offizierkorps bezieht, wird
ziemlich pessimistisch dreinschauenden Verfasser über manche dunkeln Punkte,
wenigstens im deutschen Soldatenleben, beruhigen. Viele Schäden oder wunde
stellen unsrer modernen Offizierkorps werden trotzdem weiter bestehen, und von
nehm einmal freimütig, wenn auch mit Übertreibungen, gesprochen zu haben, ist
unmerhin ein Verdienst des ungenannten Verfassers. „Der Militarismus, wie er
^tzt in ganz Europa vorkommt — sagt er — lastet wie ein Alp auf deu fort¬
geschrittene« Zeiten des neunzehnten Jahrhunderts, und es ist ein eitler Wahn, zu
glauben, daß nur die bürgerliche Bevölkerung seinen Druck verspüre. Man glaubt
drücken und wird selbst gedrückt, die Militärs empfinden es am meisten, was
es bedeutet, im Jahrhundert der Aufklärung, der freiheitlichen Ideen zu leben und
Mittelalterlichen, den Menschen um einige hundert Jahre zurückversetzenden Satzungen
«u unterstehen." Die Offiziere seien ihrer ganzen Stellung und ihren Rechtennach
weiter nichts als Landsknechte; ihre allgemeine Bildung sei unzureichend und stehe
M^um Einklange mit dem ersten Range, der ihnen im Staate eingeräumt werde;
Offiziere mit einer vollständigen Gymnasial- oder Nealschnlbildnng seien selten¬
sten. Wir müssen das letztere für Deutschland entschieden bestreiten, denn sonst
lutte der Kaiser keine Veranlassung gehabt, Negimcutskommandeure zu tadeln, die
"is unabweisbare Bedingung für die Annahme eines Offizieraspiranten das Reife-
^ugnis aufgestellt haben. Der Verfasser befindet sich auch in dem alten Wahn,
pb jeder junge Mann , der die. Reife zur Universität besitzt, bereits ein ge¬
ödeter Mensch sei, als ob man sich außerhalb der Schulbänke keine Bildung an-
Ugnen könne; er überschätzt die moderne Schulgelehrsanikeit, sie ist heutzutage nicht
ehr maßgebend, denn sonst müßten unsre Philologen die gebildetsten und einflnß-
eichst^, Miwner sein, wogegen schon die vielsagende Thatsache spricht, daß kaum
ans diesem Stande dem neuen Reichstage angehört. Es giebt unter den
, lMereu, was auch in der Broschüre anerkannt wird, sehr viel strebsame Leute;
^ diesen oft die Gelegenheit versagt ist, sich weiter zu bilden und ihre geistigen
^ ^gleiten nutzbar zu machen, ist allerdings ein großer Übelstand und mag Wohl
? ^ Entmutigung manches begabten Offiziers beitragen. Kommt . dazu uoch die
'""er weiter gemachte Kluft zwischen den Mitgliedern des Generalstabs und dem
c ?^^ffizier, so kann die Stellung des letztern allerdings eine ziemlich un-
Medigende werden. Der Verfasser klagt über die mangelhafte pädagogische Be-
gabunund Schulung der militärischen Lehrer, die gewöhnlich ihren Schülern nur
cme Lektion voraus seien, über die oft brutale B<Verfahre«, das in, den alten> rie Lektion voraus seien, über die oft brutale Behandlung der Offiziere durch
Vorgesetzten, über das militär-strafgerichtliche Va
ireln 'der Landsknechte wurzle; er bezeichnet das Militärgericht als ein Behm-
bei dem der Untersuchungsrichter, der Verteidiger und der endgiltige Richter
^' ""er Person vereinigt seien. Für eine andre äußerst verderbliche Folge des alten
^uechttums hält der Verfasser die gezwungene Ehelosigkeit der Offiziere in
'".Modernen Armeen. „In ihr — sagt er — liegt die Ursache des unde-
" ichen innern Elends, des klaffenden Abgrundes zwischen den, übermenschlich
hohen Anforderungen, die an einen Offizier gestellt werden, und dem jedem Menschen
angeborenen Naturtriebe, zu lieben, eine Familie zu gründen und in ihrem häus¬
lichen milden Kreise das ersehnte Lebensglück zu finden. Keine Ehren, keine Aus¬
zeichnungen der Welt sind imstande, das vernichtete Lebensglück zu ersetzen, Hunger
und Liebe lassen sich durch keine philosophischen Spitzfindigkeiten, durch keine Ge¬
setze und durch keine Faseleien von Selbstverleugnung und Aufopferung vertreiben."
Der moderne Offizier gehe zu Grunde durch das Kneipenleben und dnrch den
Verkehr mit liederlichen Frauenzimmern.
Der Verfasser hätte nicht Soldat werden sollen; unruhige Köpfe sind heut¬
zutage nicht mehr für den Militärstand geschaffen; er ist enttäuscht, gereizt, ver¬
bittert und sieht daher alle berechtigten und unberechtigten Eigentümlichkeiten der
modernen Offizierkorps in den dunkelsten Farben. Die Broschüre giebt aber Anlaß
zum Nachdenken, und in diesem Sinne mag sie unsern Lesern empfohlen sein.
Es ist dies eines der seltenen Bücher, um denen man unbedingt seine Freude
haben kann. Ein Buch, das uicht für enge fachmännische Kreise geschrieben ist,
sondern mit seiner schonen und vornehmen Form, mit dem warmen Gefühl, das
aus ihm quillt, und mit der großen Gelehrsamkeit, die es anspruchslos bekundet,
sich an die Gebildeten der ganzen Nation wendet, um anmutig zu belehren und
anzuregen. Graf Schack gehört zu den in unsrer Zeit gar seltenen Gelehrten von
wahrhaft universalem Geiste. Wir andern alle sind bestenfalls gute Spezialisten;
ein Mann wie Schuck erbt die alte Überlieferung fort von dem unentbehrlichen
Zusammenhang aller Wissenschaften. Konnte er in der Naturwissenschaft nicht mit
eignen Forschungen eingreifen, so hat er sich doch bemüht, die Ergebnisse fremder
Forschungen zu seinem Eigentum zu machen. In den Geisteswissenschaften, in der
Kunst-, Sprach- und Litteraturgeschichte weist er Kenntnisse auf, die kaum ein
zweiter Kopf in dieser Klarheit und Fülle vereinigt. Dies zeigt der zweite
große Essay dieses Bandes: „Die erste und die zweite Renaissance." Schack meint
damit die Wiederauferstehung des griechischen und (als zweite Renaissance) des
orientalischen Altertums im Geiste der neuen Zeit. Er giebt uns zunächst vorn
Untergange der hellenischen Kunst bis zur völligen Wiedergeburt derselben im acht¬
zehnten Jahrhundert einen großartigen Überblick; dann aber folgt eine Geschickste
der orientalischen Studien im Abeudlnnde vom sechzehnten Jahrhundert bis in d:e
Gegenwart, wie sie kaum noch so geschrieben worden ist. Als den größten Erfolg
der orientalischen Studien erkennt Schack die Klärung im Verständnis der christ¬
lichen Religivnsurkunden. Da aus dem Mißverständnis der Sprache des Alten und
Neuen Testaments sehr viel Unheil in der europäischen Welt entstanden ist, so weist
Schack mit sehr viel Recht auf die großen Verdienste dieser zweiten Renaissance
für die Fortschritte der gesamten Christenheit hin. Schack — obgleich ein Ver¬
ehrer Schopenhauers — bekennt sich überhaupt zu einem großartigen Vertrauen
auf die Zukunft der Menschheit infolge des Fortschrittes der Wissenschaften der
Natur und der Geschichte. Auch er glaubt die Menschheit noch in dem Kindesalter
ihrer Entwicklung, wie die Naturhistoriker es thun, und keine Utopie ist ihm utopisch
genug, daß er an ihre Verwirklichung schlechthin zweifeln möchte. Diese Begeisterung
eines greisen Dichters und Gelehrten hat wirklich etwas Erhabenes. Von dieser
Höhe der Betrachtung aus ist sein Essay ..Weltlitteratur" geschrieben, der mit einer
scharfen Polemik gegen die Goethekonunentirwut einsetzt, um mit erhabnen Träumen
v°» der Zubn.se aller Litteratur «ach Jahrtausenden zu es.eßen. Ichack ist
recht der llomo wrmunu. der Renaissancezeit. nichts Menschlichem v r "g er s^
Interesse. Er kennt die enropttischen Hauptsprache.i, aber ^
Indisch, und seine litterarischen Betrachtungen siihren «"s ^rdn ' '.ut ^
^» Byron. Rousseau, Voltaire. Alfieri. Sein warmer Essay übe Plat u ge n
d'sha Verkleiner enthalt auch biographische Einze he.te». die "e" ^ . SclMt ha
in nach ....gedruckten Teil von Platens Tagebücher» in der Mines SW t
bibliathek benutzen können. Aber nicht ganz ohne spende'l. che Bedeutung ha er
ich seine Sammlung vermischter Schriste» mit dem in»rohe» ^»ten Pa ^bezeichnet; bei dein Kapitel: „Der Hexentnrm von L.ndhenn." ^e: Wudergab
der alten spanischen Erzählung: „Die sieben Infanten von Lara," bei der Reihe
d»n fesselnde^Uf^u' aus ?i»em großen französischen Sa»n»elwerke vo» Ter»a»x
zur Geschichte der Entdeckung Amerikas, bei den ^^"^"''^^ 'le " s »se
Gruseln überlaufen. Die Geschichte des Hexeuwese»s .» De»tscksta..d hat S ha
^ folgende», furchtbaren Satze (S, 188) bewogen: „D.e ^ransamken n w h d e
panische Jngnisition gegen Andersgläubige, besouders Mauren und I d . v übt
' ob arg genug um ur innrer gebrandn.arke hohen. Attun se t . h d ^
flehte des Nexeuwes us besonders it. Deutschland kenne ,se nur das Späne» d s
Torguemada lind der drei Philippe stets als ein vcrhältuismasug glückt.adeo Land
schienet.. Es leide! M mich^u Zweifel, daß nicht nnr die Ke^remmugeu
d°" eiuen weit geringern Prozentsatz der Einwohnerzahl "» Opfer» ges rde t
bade», als die Heienprozesse bei uns. sonder» °"es - daß das Verses en ^'llnsition «unter willkürlich und grausam war. So über ale^ Maß hehre euch
wurde das Uuwese w Ä daß der Magistrat s er k^u S ad^aß jedes Patrimonialgerich! ans dem La»de. ja daß. w.e w.r be. L h " ^s'hen. jeder Gutsverwalter durch el» vo» ihn. U'illturl.es ^form geseh -
Schbffeugericht gegen Hexe» iuguirireu. sie ».arten. u»d z.un Tode verurte.le»
D
hat „7'^' ^ Charakteristik von Schacks „Pandora" genügen. Hie und da
cibfnlli"" allerdings auch Lust zu widerspreche», z. B. wen» Schack über Hebbel
En,^? ,"^eilt, weil er Bhrvus Ruhm »»d Wert angegriffen hat; aber dergleichen
ist Seil ""°ern nichts um dein Gesamtwerte des Buches. Sehr dankenswert
zurcckt, ? . schneidiges „Wort über die Lyrik," das vielen Rezensenten den .Kopf
^»setzen geeignet ist.
über Py?° hitzige, geschickte und lesbare Zusammenstellung aller Äußerungen Goethes
^'ste tuis?s^"'er Persönliche» Beziehungen zu Pole» und Polinnen füllt die
hube'u V" «^/?^'^?'» dieses Buches aus. Und das ist ja nicht wenig, denn Polen
^s,.o!^,>„ in^fil,^^,,, Re;iebunaenbn'iii/Z^ ^'^^ ^»^^ ..... ....
polnis>-s ^ "^^' Dichters, abgesehen vo» zahlreiche» flüchtigern Beziehungen
Fürst Kurgästen in Karlsbad, zweimal sehr bedeutsam mitgespielt: der
d"rchgcst>t,^""'^ ^ gierst mit Begeisterung die Btthncudarstellnng des „Faust"
Dick^, ""^ ^'^ schöne Polnische Künstlerin, Frau Marie Szymcmowskn hat
^en.nate ?^ "'^ jugendlicher Liebesleidenschaft erfiillt. Karpeles stellt zum
zweite klei" °>ehe Episode bezüglichen Überlieferungen zusammen. Die
'"ieressant ,"^s "'^ Bericht über Goethe in Pole», und es ist immerhi»
nationalen A-/^"' ^aß Goethes Dichtungen dort, »amentlich in dem größten
^"ster, Adam Mickiewitz, der Goethe in Weimar selbst keimen lernte,
begeisterte Apostel und Schiller gefunden haben, Mickiewitz vertrat die Romantik
gegenüber der altern klassischen Schule Polens, die ausschließlich die Franzosen nach¬
ahmte. Das Buch ist mit einem Lichtdruck des Porträts von Mickiewitz geschmückt,
das Goethe von ihm in Weimar machen ließ.
Der Verfasser beschreibt die genannte Kirche, die sich durch große Mannich-
faltigkeit der Formen auszeichnet (an 150 verschiedne Kapitale und Friese), und
die deutlicher als die übrigen spätromanischen Bauwerke des Rheinlandes den Über¬
gang zur Gothik veranschaulicht. In Ermangelung hinreichenden Urkundenmaterials
versucht er die Baugeschichte ans den Charakterverschiedenheiten der Teile heraus¬
zulesen. Außerdem scheint er Probiren zu wollen, wie viel Sprachschnitzer und
ungeschickte Sätze sich auf achtundvierzig kleinen Seiten anbringen lassen, Ein paar
Beispiele: Seite 7: „Was den Anschein hierzu giebt," nämlich daß der Bau ein
abgerundetes-Ganze sei. ,S. 9: „Aus Rücksicht für die Konstruktion.« S. 11:
„Von Karolingerzeit ab." S. 12: „Mit dem alten Querschiff und >der> AM'
verbunden." S. 17: „Es gewinnen somit die Pfeiler den Anschein des Trägers,
wahrend die Säulen mehr dekorativ wirken." Das soll heißen: die Pfeiler erscheinen
somit als Träger. S. 19: „Die jetzigen libermäßigen gothischen Fenster." S. 26:
„Die ganze Einfachheit des äußeren Schmuckes wird mit dem prächtigen Chor
durch die Portale vermittelt." Das soll vermutlich heißen: zwischeu dem schmuck¬
losen Äußern und dem reichverzierte» Chor halten die Portale die Mitte. Der
folgende Satz lautet: „Besonders steht das Nordportal in herrlichem Einklang mit
denselben." Mit welchen selben? Mau bekommt es nicht heraus, und wenn nun
sich auf den Kopf stellt.
Hugo Kauffmann ist den Lesern dieser Blätter als Zeichner köstlicher Szenen
und Gestalten aus dem Volksleben längst bekannt. Das vorliegende Bändchen enthält
gegen zwanzig Charakterköpfe aus ,der Sommerfrische im baierischen Gebirge (A
Herrischer, Der Professor, Die Kellnerin, Der Förstuer, Der Lehrer, Die Senderin,
Der Herr Pfarrer u a.) die mit wahrhaft Dürerischer Kraft aufgefangen und aufs
Papier gezwungen siud. Jedes Blatt ist vou ein paar launigen Dialektstropheu
Stielers begleitet. Und das Ganze zum Glück uicht in Prachtwerksformnt, sondern
in behaglichem Oktav - solche Bücher läßt man sich gefallen! Wer in die Sommer¬
frische fährt oder aus der Sommerfrische kommt, dem wird man mit dem Büchlein
große Frende machen.
n einem Bortrage, den kürzlich Regierungsrat or. Nuinpelt über
den Stand der deutschen Sozialrefvrm in einem Dresdner Be¬
zirksverein hielt, wies er auch darauf hin, daß, wie es sich auch
immer mit dem Widerspruch Bismarcks gegen die Weiterbildung
der sogenannten Arbeiterschutzgesetzgebung verhalten möge, einem
Widerspruch, der bekanntlich die hauptsächlichste Schuld an dem Scheiden
Bismarcks aus dem amtlichen Leben tragen soll, wir nicht vergessen könnten,
daß Fürst Bismarck „nicht nur der gewaltige Einiger Deutschlands, sondern
auch der Vater unsrer heutigen Sozialreform gewesen ist. Sein nnbeugsnmer
Wille, seine eiserne Hand haben zu einer Zeit, wo Staatshilfe auf sozialem
Gebiete noch für einen nationalökonomischen Greuel galt, die besitzenden Klassen
genötigt, die Verhältnisse der besitzlosen Arbeiterbevölkerung durch Versicherungs¬
gesetze zu heben und zu verbessern." Wie es nun heutzutage im Interesse aller
derer liegt, die mit der Fortschrittspartei und den Ultramontanen in irgend
einem Zusammenhange stehen, die Dankesschuld des deutschen Volkes gegen
den Schöpfer seiner Einheit, Macht und Größe dadurch auszulöschen, daß man
die Blätter der Geschichte zudeckt, auf denen das „Fort mit Bismarck!" ver¬
zeichnet ist, wie man ihn gern als den Baumeister unsers Staates beiseite
schieben möchte, so unb noch viel mehr möchte man ihn auch als den Schöpfer
unsrer Sozialreform beiseite schieben; man möchte sie am liebsten erst mit
den kaiserlichen Erlassen vom 4. Februar und mit der internationalen Arbeiter¬
schutzkonferenz vom 15. März dieses Jahres beginnen. Aber wie mau einst
w der Kvnfliktszeit unter sein Bild die Worte Homers schreiben konnte: „Einer
allein ist der Mann, die andern sind wankende Schatten," so wird man auch
u> Bezug auf die deutsche Sozialrefvrm, die einst nicht mehr bloß die deutsche
bleiben wird, mit Rudolph Genve sagen können:
Und sein Geist sah weit, und sein Heiz war stark,
Das war Bismarck.
Daß es so kommen wird, daß einst, und vielleicht in gar nicht langer Zeit,
die Welt das Urteil des Lona^ra begründet finden wird: „Es mag größere
Diplomaten gegeben haben als Fürst Bismarck, jedenfalls hat es niemals eine»
bessern Administrator, einen weisern Nationalökonomen und einen geschickteren
Finanzmann gegeben," daß die Worte, die der Vorsitzende des Vereins zur
Währung der gemeinsamen Wirtschaftsinteressen für Rheinland und Westfalen
vor kurzem sprach: „Die Verdienste, die sich Fürst Bismarck nicht allein um
die politische Wiedergeburt des deutschen Reiches, sondern auch um die wirt¬
schaftliche Erstarkung des deutschen Erwerbslebens erworben hat, sind so groß,
sie leben noch so frisch und unverwelklich im Gedächtnis aller, sie werden
noch tagtäglich von den Millionen der im Erwerbsleben stehenden Deutschen
so tief empfunden, daß es überflüssig ist, sie im einzelnen darzulegen," daß
diese Worte die reine Wahrheit enthalten, geht für jeden Unbefangnen ans den
Aktenstücken zur Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck hervor, die
v. Poschinger kürzlich herausgegeben hat, nachdem sie bereits in seinem Buche
„Fürst Bismarck als Volkswirt" verwertet wordeu waren. Diese Aktenstücke
wollen wir uus hier daraufhin etwas näher ansehen, welche leitenden Gesichts¬
punkte sie uns zeigen, denen Fürst Bismarck bei der von ihm ins Werk ge¬
setzten sozialpolitischen Gesetzgebung gefolgt ist. Wir haben da drei Aktenstücke
ins Auge zu fassen, die für unsre svzialreformatvrische Gesetzgebung von dem¬
selben Werte sind, wie es einst der sogenannte „Prachtbericht" und das „kleine
Buch" auf dem politischen Gebiete gewesen sind.
Das erste ist ein Schreiben Bismarcks an den Handelsminister Grafen
Jtzeuplitz, datirt vom 21. Oktober 1871, das die Maßregeln gegen die
soziale Arbeiterbewegung betrifft. Es führt uns in die Zeit zurück, wo
die sozialen Agitationen aufhörten, bloß örtlicher Natur zu sein und sich
aus mehr oder weniger gerechtfertigten und begreiflichen Wünschen der
arbeitenden Klassen erklären zu lassen, sondern wo sie bereits eine prinzipiell
feindselige Stellung zur bestehenden Gesellschaftsform annahmen und in hohem
Grade ftaatsgeführlich wurden. Darauf weist das Schreiben auch zunächst
hin, indem es von dein Bestehen eines über ganz Europa verbreiteten
Arbeitervereins redet, der eine einheitliche Leitung habe, die er von einer
Zentralbehörde in London empfange; durch die Veröffentlichungen dieser Be¬
hörde und noch mehr durch die Thätigkeit ihrer Sendlinge in der Pariser
Kommune sei ein Licht über die Ziele dieser Agitation, über ihre Gemeinsamkeit
und den Ernst der Gefahr für die bestehenden Staatseinrichtungen verbreitet
worden, das den größern europäischen Regierungen den Gedanken nahe legen
müsse, sich über ihr Verhalten gegenüber diesen Erscheinungen zu verständigen.
Der Kanzler habe bereits bei einer Begegnung mit dem österreichischen Reichs-
kanzler in Gastein einen Gedankenaustausch über die Sache gehabt, der eine
Übereinstimmung der Ansichten dahin ergeben habe, daß eine Thätigkeit der
Regierungen sich in doppelter Weise äußern könne, indem sie einmal „den¬
jenigen Wünschen der arbeitenden Klassen, welche in den Wandlungen der
Prodnktivns-, Verkehrs- und Preisverhältnisse eine Berechtigung haben, durch
die Gesetzgebung und Verwaltung entgegenkommen, soweit es mit den all¬
gemeinen Staatsinteressen verträglich ist," sodann, indem sie „staatsgefährliche
Agitationen durch Verbots- und Strafgesetze hemmen, soweit es geschehen kann,
ohne ein gesundes öffentliches Leben zu verkümmern."
Wir finden hier das spätere Vorgehen Bismarcks gegen die soziale Agi¬
tation schon im Keim. Erstens also: Befriedigung der Wünsche der arbeitenden
Klassen durch Gesetzgebung und Verwaltung, soweit es mit den allgemeinen
Staatsinteressen verträglich ist. Diese Verträglichkeit mit den allgemeinen
Staatsinteressen näher zu bestimmen und ihre jeweiligen Grenzen festzustellen,
ist natürlich Sache der Gesetzgebung, und die Weisheit des Staatsmannes hat
sich auf diesem schwierigen Gebiete darin zu bewähren, daß er ermessen kann,
wie weit er gehen darf. Nachdem Bismarck auch auf diesem Gebiete, dem
sozialpolitischen, seine Studien- und Lehrjahre so durchgemacht hatte, wie vorher
für das politische Gebiet durch seine diplomatische Thätigkeit in Frankfurt,
Petersburg und Paris, stellte er sowohl die Art der Behandlung dieser Frage
als die Grenzen des Vorgehens fest in den großen sozialreformatorischcn Ge¬
setzen, die das Gebiet der Kranken- und Unfall-, der Jnvaliditäts- und Alters¬
versicherung umfassen. Den zweiten Punkt: Hemmnis der staatsgefährlichen
Agitation durch Verbots- und Strafgesetze, „soweit es geschehen kann, ohne
ein gesundes öffentliches Leben zu verkümmern," hat Bismarck durch das
Sozialistengesetz erreicht. Man muß wirklich sagen: „erreicht," nicht etwa nur:
zu erreichen gesucht. Denn daß die sozialdemokratischen Agitationen die Grund-
lagen unsers Staates nicht erschüttert haben, ja daß wir die sozialreformatorische
Gesetzgebung selbst mit jener Sicherheit in die Hand nehmen konnten, die den
Erfolg verheißt, das ist nur möglich geworden durch das Sozialisteugcsctz.
'lusuahmezustättdeu ist nur ein Ausnahmegesetz gewachsen; auch wird es dem
nihigeu Teil der Staatsbürger allem gerecht, weil es ihnen ihr Maß von
Freiheit sichert, „ohne das gesunde öffentliche Leben zu verkümmern." Der
Vorschlag des Freisinns, daß das allgemeine Recht mit solchen strafgesetzlichen
Bestimmungen versehen werden solle, die auch zur Niederhaltung der staats¬
gefährlichen Bestrebungen der sozialdemokratischen Agitation ausreichten, ist ent¬
weder ein dilettantischer Firlefanz, oder er verkümmert durch allzu starke Ve-
schreibung der allgemein biirgerlichen Freiheit das gesunde öffentliche Leben
und befördert jenen Rückschritt, dem unsre Fortschrittspartei überhaupt huldigt,
weil das Staatsgefühl in ihr wenig entwickelt ist. Da das Svzialistengesetz
allein Anschein nach seinem Ende entgegengeht, so ist die Sache, von der wir
hier reden, im Gange, und wir werden die Verminderung der bürgerlichen
Freiheit, die uns durch die Güte der Fortschrittspartei beschert werden wird,
bald genug zu schmecken bekommen. Wir werden dann erst wieder durch die
Erfahrung klug werden, wie es sich denn auch im staatlichen Leben zeigt, daß
ein ganzes Geschlecht gerade so wie der Einzelne erst durch die Erfahrung klug
werden muß, die es selber macht. Manchmal kommt aber dann diese Erfahrung
zu spät, um noch heilsam zu sein. Doch wir wollen hier niemand belehren
und niemand bekehren.
Wir kommen auf das Schreiben Bismarcks zurück. Er sagt darin weiter,
daß er in Übereinstimmung mit dem Vertreter Österreichs zum weitern Vor¬
gehe»? in der angegebnen doppelten Weise an kommissarische Beratungen sach¬
kundiger ans beiden Ländern denke, und zu diesem Zwecke wünscht er von dem
Handelsminister Material für die Beratungen. Er will, daß der Handels¬
minister einen geeigneten Beamten aus seinen: Ressort bezeichne, um den sich
einige Männer sammeln sollen, die mit den Verhältnissen der Arbeiter in den
verschiedenen Gegenden des preußischen Staates vertraut wären, Grundbesitzer,
die ihre Güter selbst bewirtschafteten, Fabrikanten, die sich mit werkthätiger
Fürsorge für Ernährung, Gesundheit und Bildung der Arbeiter beschäftigten,
endlich Schriftsteller, die die verschiednen wissenschaftlichen Richtungen auf diesem
Gebiete verträten. Auch die Vernehmung von intelligenten Arbeitern soll nicht
ausgeschlossen sein. Es war also an eine Versammlung mit den wirtschaftlichen
Verhältnissen in den betreffenden Kreisen unterrichteter Männer gedacht, die
zunächst für den preususchen Staat die Punkte feststellen sollten, die sür eine
Besserung der wirtschaftlichen Lage der arbeitenden Klassen ins Auge zu fassen
wären, um dann weiter zu Entschlüssen zu führen, die in den größern euro¬
päischen Staaten, allen voran in Deutschland und Österreich-Ungarn, ihre Ver¬
wirklichung finden sollten. Es ist also derselbe Gedanke hier ausgesprochen
und zum Zwecke positiver Forderung der Arbeiterthätigkeit und ihrer Interessen
aufgestellt, der der Zusammenberufung einer internationalen Arbeiterschntz-
konferenz zu Grunde lag, wie sie Kaiser Wilhelm II. jüngst zur Erreichung
vorbeugender Maßregeln berief.
Der Haudelsmimster Graf Jtzenplitz wies es von sich, „dem Übel durch
stnatssozialistische Mittel" abzuhelfen. Vornehmlich wies er es von sich, durch
Einsetzung seiner Autorität oder seines Kredits bei Begründung oder Leitung
von Produktivassoziationen oder bei Auseinandersetzungen über den Anteil der
Arbeiter am Ertrage der gemeinsamen Arbeit auf die wirtschaftlichen Verhält¬
nisse einzuwirken. Damit kehrte sich der Handelsminister gegen ausgesprochene
Anstehen Bismarcks selbst. Denn Bismarck hatte bereis seit dem 15. Februar
1864 die Begründung von Produktivassoziationen durch Einsetzung eines ge¬
wissen staatlichen Kredits unterstützt, indem er die Deputation der Weber des
Waldenburger Kreises aus Wnstegiersdorf beim König eingeführt und es be-
Wirkt hatte, daß ihr ans der königlichen Schatulle 12000 Thaler zur Begrün¬
dung einer Assoziativ« verabreicht wurden. Er hatte dabei die Absicht, „durch
einen Versuch zu konstatiren, ob und mit welchem Erfolge es möglich sei, die
Weber ans dem Wege einer von ihnen gebildeten Assoziation zu einer Ver¬
besserung ihrer Lage hinzuführen." Er ging davon aus, daß man gerade auf
volkswirtschaftlichen Gebiete nicht anders vorwärts kommen könne, als durch
solche Versuche. Ju diesem Sinne machte er auch seine siebenundfünfzig eng
beschriebene Seite« füllenden Bemerkungen und Erinnerungen zu einem ihm
z«r Mitunterzcichnnng unterbreitete« Jmmediatbericht des Staatsministeriums
um den König über die Lage der schlesischen Weberbevölkcrnng. In diesem
Bericht hatte sich auch die Redewendung gefunden: gewisse Vorschläge zur
Verbesserung der Lage der Weber widersprächen den ersten Grundsätzen der
Volkswirtschaftslehre. Hierzu bemerkt Vismarck: „Zunächst scheint es mir der
Stellung des Staatsministeriums überhaupt uicht entsprechend, daß dasselbe
seine Entschließungen auf die abstrakten Doktrinen einer volkswirtschaftliche«
Theorie gründet. Die Aufgaben des Staatsministeriums liege« meines Tr¬
achtens nicht ans den: Gebiete der Theorie, so«der« ans dein des praktische«?
Lebens. Es können daher für die Entscheidung desselben meiner Ansicht nach
die Theorien der Volkswirtschaft nur insofern zur Anwendung gelangen, als
sie auf das Maß und die Bedingungen der vorhandenen Zustände zurück¬
geführt siud." Ähnlich sprach sich der Ministerpräsident im Abgeordnetenhause
am 15. Februar 1865 aus, als der Abgeordnete Reichenheim ihn deshalb an¬
griff, daß er die Weberdeputation beim König eingeführt habe. „Ich frage,
mit welchem Rechte hätte ich diese« Leute« de« Weg zum Throne versperren
sollen? Es scheint fast, als ob die Krone einer Rechtfertigung bedürfe, wenn
sie der Stimme des Armen ihr Ohr leiht. Die Könige von Preuße« sind
niemals Könige der Reichen vorzugsweise gewesen. Ich sollte glauben, daß
es Dank verdient, wen« ein mächtiger Monarch mit einigen Opfern, angesichts
einer großen und schweren Zeitfrage, es versucht, sich durch eigne Erfahrung
darüber zu belehren, welches die Bedingungen des Gedeihens einer Prodnktiv-
"ssoziativn sind, und an welchen Klippen dieselbe bei uns miaute am leichtesten
zu scheitern Gefahr läuft. In diesem Sinne hat Se. Majestät der König in
wahrhaft königlicher «ut großherziger Weise seine Wohlthat den Webern in
Waldenburg und in ander« Bezirken zugewendet. Sein Ratgeber war ich, und
ich glaube, keinen schlechten Rat gegeben z« haben."
Also als einen Versuch auf einem Gebiete, wo es, wenn irgendwo, sich
Mühe lohnte, Versuche zu machen, betrachtete Bismarck dieses Einsetzen
des staatlichen Kredits, zur Begründung von Produktivgenosse«Schafte«. Immer
wieder kommt er in den Erinnerungen der Denkschrift darauf zurück, daß er
volkswirtschaftlich Handgreifliches, nicht Theorien brauche. Zwar glaubt er
'naht, daß der Staat selbst Unternehmungen gründen könne, aber, „ob er solche
etwa prämienweise nicht unterstützen und befördern kann, wo sie sich gebildet
haben, das ist eine Frage, die meiner Ansicht nach nicht von vornherein z»
verneinen ist." Wie sehr ihn schon damals das Verlangen einer praktisch be¬
währten Erkenntnis in der Frage nach positiven Mitteln, mit denen der Staat
in die Wirtschaftsverhältnisse eingreifen könne und solle, beschäftigt, geht auch
ans dem Ersuchen hervor, das er an den Berliner Gelehrten Dr. Dühring
stellte. Dieser hatte sich auf dein Gebiete der Volkswirtschaftslehre durch sein
Buch: „Die kritischen Grundlagen der Volkswirtschaftslehre" das Vertrauen
Bismarcks erworben; er ersuchte ihn darum, eine Denkschrift abzufassen „über
die Bedingungen, unter denen sich seitens des Staates und in einem gewissen
Maße auch mit Staatsmitteln für die Arbeiter etwas thun läßt." So hat
sich schon in dieser Zeit, die noch vor den volkswirtschaftlichen Lehrjahren
Bismarcks liegt, sein sozialpolitischer Standpunkt geltend gemacht, der seine
Auffassung vom Wesen des Staates weit über die der damaligen Staats¬
männer, auch seiner Ministerkollegen, hinaushob, die alle dem Staat, und das
brachte man damals von der Universität mit, die Rolle des Sicherheits¬
beamten zuwiesen, eine Rolle, die treffend mit dem Ausdruck „Nachtwächter¬
staat" bezeichnet worden ist. Es war nicht bloß der damals wirtschaftlich
dominirende Schulze-Delitzsch mit seinem große» Anhange, der in dieser Bis-
marckschen Auffassung nur einen „politischen Puff" sah; weder im preußische»
Parlament noch im Staatsministerium, noch, um spätere Zeiten gleich mit ins
Auge zu fassen, im Bundesrate gab es damals irgend jemand, der gewußt
hätte, daß der Staat das Recht und die Pflicht hat, das Los der Arbeiter
auch durch positive Maßregeln so günstig zu gestalten, wie es mit Rücksicht
ans die Linas Million geschehen kann. Bei Bismarck stand das von vorn¬
herein fest. Nur in welcher Richtung sich die soziale Gesetzgebung zu bewegen
habe, darüber war er mit sich noch nicht im Reinen. Darum konnte es da¬
mals auch für ihn, sobald eine Aufforderung zu praktischem Eingreifen an ihn
herantrat, schlechterdings noch nichts andres als Versuche geben. Als aber
seine volkswirtschaftliche Lehrzeit zu Ende war, da hörten auch die Versuche
auf, und es traten feste Maßnahmen an ihre Stelle. Aber auch über diese
Versuche hat er nie Neue zu empfinden brauchen, weil er sie nicht unter¬
nommen hatte als spielender Dilettant, sondern als ein Mann, der eifrig und
ernst die Wahrheit sucht. Daher dürfte sich Bismarck noch in seiner Reichs¬
tagsrede vom 17. September 1878 rühmen: „Der Versuch entstand entweder
unter dem Eindruck von Lassalles Raisonnement oder unter dem Eindruck meiner
eignen Überzeugung, die ich zum Teil in England während eines Aufenthalts
im Jahre 1862 gewonnen hatte. Mir schien es, daß in der Herstellung von
Produktivassoziationeu, wie sie in England in blühenden Verhältnissen existiren,
die Möglichkeit liege, das Schicksal des Arbeiters zu verbessern, ihm einen
wesentlichen Teil des Unternehmens zuzuwenden. Ich habe darüber damals
auch mit Sr. Majestät, der für das Schicksal der arbeitenden Klassen ein natür¬
liches, angeborenes Wohlwollen und Fürsorge hat, gesprochen, und der König
hat ans eignen Privatmitteln eine Summe Geldes hergegeben, um zu seiner
eignen Belehrung einen Versuch dieser Art zu machen. Wir stellen im land¬
wirtschaftlichen Ministerium Versuche an über landwirtschaftliche Systeme;
wäre es nicht nützliche auch in der Beschäftigung der Menschen und in dem
Bestreben, die soziale Frage durch Verbesserung des Loses der Arbeiter zu
lösen, dergleichen Versuche zu erneuern? Ich sehe auch für einen Staatsmann
kein Verbrechen darin, wenn er zu dem Behufe den Arbeitern, die eine Asso¬
ziativ» bilden wollen, Staatshilfe gewährt, namentlich um Versuche in der
Richtung zu machen. Ich habe, soweit meine Erinnerung reicht, den Eindruck
erhalten, daß der ganze fabrizirende Teil der Einrichtung und der Beschäfti¬
gung keine Schwierigkeiten bot; es war der kaufmännische, in dem die Sache
stockte, die Verwertung der gewonnenen Produkte durch Reisende, in Lagern,
in Magazinen, durch Proben. Das alles ließ sich uicht macheu innerhalb
einer Sphäre, welche die Arbeiter übersehen konnten." In einer Reichstags¬
rede vom 9. Oktober 1873 wiederholte er diese Gedanken und schloß mit den
Worten: „Sobald uns von sozialdemokratischer Seite irgend ein positiver Vor¬
schlag entgegenträte oder vorläge, wie sie in vernünftiger Weise die Zukunft
gestalten wollen, um das Schicksal der Arbeiter zu verbessern, so würde ich
wich einer wohlwollenden, entgegenkommenden Prüfung der Sache uicht ent¬
ziehe» und würde selbst vor dem Gedanken der Staatshilfe nicht zurückschrecken,
um den Leuten zu helfen, die sich selbst helfen." Unter den Leuten, die sich
selbst helfen, verstand er die Arbeitsamen und sparsamen. Denn „der Faule
und Ungeschickte wird (auch nach einer Teilung der Güter) wieder arm werden;
und wenn das nicht ist, wenn jedem das Seinige von oben her zugemessen werde»
soll, gerät man in eine zuchthausmäßige Existenz, wo keiner seinen selbständigen
Beruf und seine Unabhängigkeit hat, sondern wo ein jeder unter dein Zwange
der Aufseher steht." Man sieht, das Entgegenkommen, das Bismarck in Aus¬
sicht stellte, konnte nicht den sozialdemokratischen Zuchthansideen gelten, wohl
aber schienen ihm Versuche zweckmäßig, die sich auf die Grundlage der be¬
stehenden Gesellschaftsordnung ohne Antastung der bürgerlichen Freiheit und
des errungenen Kulturbesitzes stellen lassen konnten. Seinen Kollegen, zunächst
dem Handelsminister, an den das Schreiben vom 21. Oktober 1871 gerichtet
war, schien das nicht so.
Wir kommen nun auf die Stellung zurück, die Graf Jtzenplitz zu diesem
schreiben einnahm. Er wollte nichts von staatssvzialistischeu Mitteln hören.
erschien ihm auch uicht ratsam, daß die Regierung selbst Erörterungen
hervorrufe, „deren Verlauf gerade in der hier fraglichen Beziehung (?) nicht
nut Sicherheit vorher zu bemessen sei, und welche die Regierung in die alß-
^übe Lage bringen können, Meinungen niederkämpfen zu müssen, deren Äußerung
sie selbst gewissermaßen provozirt hatte." Dann vergegenwärtigt er, was alles
in Preußen ans dem praktisch in Betracht klimmenden Gebiete erreicht sei,
Sparkassenwesen, Vorschuß- und Konsumvereine, Kuappschnftskassen, gelverbliche
Hilfskassen, Haftpflichtgesetz, gelverbliche Schiedsgerichte n. s. w. Aus den ge¬
lverblichen Schiedsgerichten hofft der Handelsminister Schieds- und Einignngs-
cimter nach englischem Vorbilde hervorlvachsen zu sehen. Das scheint ihm aber
zu genügen. „Nach der Gesamtheit der vorstehend dargelegten Erwägungen
muß ich es für zweifelhaft erachten, ob von der Veranstaltung kommissarischer
Erörterungen seitens meines Ressorts, wie Ew. Durchlaucht dieselben anregen,
ein praktisch wertvolles Resultat erhofft werden kann, so lange wenigstens nicht
mit größerer Bestimmtheit die Ziele festgestellt sind, welche dabei ins Ange
zu fassen sein könnten, und ich würde Ew. Durchlaucht, wenn Hochdieselben
gleichwohl bei dem Gedanken beharren sollten, für eine derartige nähere Be¬
zeichnung der mit Bezug auf vorhandene Bedürfnisse dabei zu stellenden Auf¬
gaben zu Dank verpflichtet sein."
Ans dieses schreibet! des Handelsmiuisters folgte eine Erwiderung Bis-
marcks, datirt vom 17. November 1871. Bismarck erneuert seine Bitte ein
den Handelsminister, ihm zur Vorbereitung der weiter zu treffenden Maßregeln
seiue Mitwirkung nicht zu versagen, da er dessen Gedanken als ausschlag¬
gebend nicht anerkennen kann. Er weist darauf hin, daß die internationale
Sozialdemokratie (in Deutschland die Bebel-Liebknechtische Partei) im Gegensatz
zur Lassallischeu mit dem jetzigen Staate überhaupt nicht rechne, weder in
seiner nationalen noch in seiner prinzipiellen Bedeutung, daß sie vielmehr an
die Spitze ihres Programms die Forderung der Umformung der bestehenden
Staaten in den sozialistischen Volksstaat stelle und darum jede Mitwirkung
der bestehenden Regierung grundsätzlich zurückweise. Hiermit hebt Bismarck
bereits damals, im Jahre 1871, aufs schärfste deu grundsätzlichen Unterschied
hervor, der sich einerseits zwischen beiden damals bestehenden sozialistischen
Arbeiterparteien vorfand, anderseits zwischen der sogenannten Internationale,
die heutzutage die herrschende Arbeiterpartei geworden ist, und zwischen dem
Staate bestand und sort und fort besteht. Mit der erstern, der Lassallischeu
Partei, hatte Bismarck, seitdem sie im Jahre 1864 in Fluß gekommen war,
Fühlung gesucht. Er erkannte die Bedeutung Lassalles, dessen Streben dahin
ging, durch den Staat und die Staatsregierung eine Verbesserung des Loses
der Arbeiter zu erreichen, ein Streben, mit dem Bismarck grundsätzlich ein¬
verstanden war und das auch in der That Lassalle nicht gehindert haben
würde, sich zu einem konservativen Staatsmann zu entwickeln, wenn ihm das
Geschick vergönnt hätte, spätere Tage zu erleben. An Lassalle konnte Bismarck
nicht so vorübergehen, ivie es Jtzenplitz that, dem der Verkehr mit dem klugem
Agitator ein Greuel gewesen wäre und der in der Proviuzialkorrespondenz
(15. Februar 1865) das Treiben und Sinnen Lassalles als „revolutionär"
bezeichnen ließ. Bismarck konnte dies umso weniger thun, als er die der
Arbeiterfrage innewohnende Wichtigkeit von vornherein begriff und der Be¬
friedigung der wirklichen Bedürfnisse des Arbeiterstandes sofort seine volle
Aufmerksamkeit zuwandte, als Lassalle die Arbeiterbewegung so mächtig in Gang
brachte. Die Ohnmacht des Staates, die der Handelsminister (und mit ihm
war die ganze herrschende manchesterliche Freihandelspartei) in seinen offiziösen
Preßartikeln verkündete, war niemals Bismarcks Standpunkt gewesen.
Es ist also begreiflich, daß Bismarck in der schon erwähnten Reichstags-
rede vom 17. September 1878 den Eindruck, den Lassalles Gedanken einst auf
ihn ausgeübt hatten, nicht leugnen wollte; er sah darin keine staatsverderbliche
Lehre, wie der Handelsminister, und so wies er dessen Bedenken, die sich über¬
haupt gegen eine Einmischung des Staates in die soziale Bewegung richteten,
mit den Worten zurück: „Eine Einmischung der bestehenden Staaten in
sozialistische Bewegung ist deshalb so wenig gleichbedeutend mit dem Siege
der sozialistischen Doktrin, daß mir vielmehr die Aktion der gegenwärtig
herrschenden Staatsgewalt als das einzige Mittel erscheint, der sozialistischen
Bewegung in ihrer gegenwärtigen Verirrung Halt zu gebieten und dieselbe
besonders dadurch in seltsamere Wege zu leiten, daß man realisirt, Unis in
den sozialistischen Forderungen als berechtigt erscheint und in dein Nahmen
der gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsordnung verwirklicht werden kann."
In dem letzten Satze liegt der Keim und der Grundgedanke unsrer ganzen
spätern Gesetzgebung zum Schutze der wirtschaftlich schwachen. Es liegt aber
auch die Auffassung darin, daß der Staat der höchste sittliche Organismus sei,
worin das Menschengeschlecht die ihm von der Vorsehung gestellten Kultur-
aufgabeu zu lösen berufen ist, wie es bereits Hegel, dieser hervorragend
Politische Denker unter den Philosophen, gelehrt hatte. Auf diesen Standpunkt
stellte sich auch — und es war das die erste bedeutende Unterstützung, die
Bismarck jetzt, wo seine wirtschaftlichen und sozialpolitischen Gedanken der
>^elfe zustrebte», vou außen kam — die Versammlung von Sozialpolitikern
(sogenannten Kathedersozialiste»), die im Oktober 1872 unter der Anregung
Professor Schnivllers in Eisenach zu stände kam. „Wir geben zu — sagte
^chmvller in seine»! einleitenden Vortrage —, daß die Aufgaben des Staates
je nach den Kulturverhältnissen bald enger bald weiter sind-, niemals aber
betrachten wir ihn als ein notwendiges, möglichst zu beschränkendes Übel;
immer ist uns der Staat das großartigste sittliche Institut zur Erziehung des
Menschengeschlechts." Von diesem Standpunkt ans, dem modern-reformato-
rischen gegenüber dem ultramontan-kirchlichen und dem manchesterlichen, die
sich beide darin begegnen, den Staat als ein „Übel" anzusehen und so zu
behandeln, von diesem Standpunkt aus ist es von selbst gegeben, daß der Staat
die wirtschaftlich schwachen gegen egoistische Klasseninteressen schützt und sie
in ihren Daseinsbedingungen auch positiv fördert. Das heißt soziale Reform
treiben. „Vorausgesetzt wird dabei natürlich — sagt Bismarck in seinem
Schreiben an den Handelsminister —, daß dies in der rechten Weise und dem
rechten Sinne geschieht, wobei ich freilich darin abweiche, als ob eine bloße
Klarlegung und Diskussion der sozialistischen Forderungen dieselben erst recht
eigentlich in die Öffentlichkeit einführen und damit die Gefahren heraufbeschwören
werde, die man vermeiden wolle." Es scheint ihm vielmehr ein ganz vergeb¬
liches Bemühen, die sozialistischen Lehren und Forderungen ignoriren oder ihre
Gefahren durch Stillschweigen beschwören zu wollen; dazu seien sie bereits viel
zu tief und zu breit in die Massen eingedrungen. „Im Gegenteil erscheint es
mir als dringend geboten, dieselben so laut und so öffentlich als möglich zu
erörtern, damit die irregeleiteten Massen nicht immer lediglich die Stimme der
Agitatoren vernehmen, sondern ans dem Für und Wider lernen, was an ihren
Forderungen berechtigt und unberechtigt, möglich und unmöglich ist." Dn der
Handelsminister selbst in seinen: Bericht unter den Dingen, die bereits zur
Besserung der Lage der arbeitenden Klassen in Preußen geschaffen seien, mich
die gewerblichen Schiedsgerichte mit aufgezahlt und gehofft hatte, daß sich aus
diesen Schieds- und Einigungsümter bilden würden, so ergreift Bismarck die
Gelegenheit und weist den Handelsminister darauf hin, daß sehr wichtige soziale
Forderungen gerade ein berechtigter Gegenstand für das Wirken dieser Ämter
sein müßten. „Daß hierbei die brennendsten Fragen von Arbeitszeit und
Arbeitslohn, Wohnungsnot und dergleichen nicht ausgeschlossen werden dürfen,
betrachte ich als selbstverständlich, umso mehr, als' Ew. Exzellenz in den
Schieds- und Einigungsämtern selbst Institute vorschlagen, welche recht
eigentlich auf die Regulirung der beiden ersten Fragen (Arbeitszeit und Arbeits¬
lohn) berechnet find, und es als ein vergebliches Bestreben erscheint, die Agi¬
tation zu beschwören, wenn man den Agitatoren ihre besten Aqitntionsmittel
beläßt."
Daß auch der Handelsminister, wenn er uicht rat- und thatlos der ganzen
Arbeiterbewegung gegenüberstehen wollte, nicht seinen ninnchesterlicheu Standpunkt
unverrückt festhalten konnte, geht aus dem Artikel der Provinzialkorrespondenz
vom 4. September l»72 hervor, worin er bereits soweit gekommen ist, den
von ihm selbst gehofften Schieds- und Eiuigungsämtern eine sehr starke so-
zialistisch angehauchte Thätigkeit zuzuleiten; diese Ämter sollten mit Rücksicht
auf die Schwankungen der Waren- und Lebensmittelpreise auf eine angemessene
Regelung der Lohnsätze hinwirken und überhaupt als Vermittlungsvrgan
zwischen Arbeitgebern und Arbeitern dienen. So weit sind nur sogar heute
»och nicht und wollen froh sein, wenn es dem jetzigen Reichstage gelingt, durch
Schaffung von solchen Schiedsgerichten, die als Einigungsämter wirke» können,
die Gleichberechtigung von Arbeit und Kapital gerade da zum Ausdruck zu
bringen, wo es sich um Regelung der Arbeitszeit und des Arbeitslohnes
handelt. Gelingt die Sache, so kann sie viel dazu beitragen, die Arbeiter¬
bewegung in ein ruhigeres Fahrwasser zu bringen. Es ist das allerdings einer
der schwierigsten Punkte in der Arbeiterschutzgesetzgebung. Auch wenn das Gesetz
nut Unparteilichkeit und Sachlichkeit ausgerüstet und das Schiedsgericht, worauf
die Vorlage jetzt mit Recht besteht, dnrch die staatliche Bestätigung des Vor¬
sitzenden und durch die Unwiderruflichkeit seiner Entscheidungen gekräftigt wird,
indem eine Berufung an die Landgerichte uicht eintritt, so bleibt doch immer
das drohende Gespenst der Streiks, die jede Entscheidung schließlich illusorisch
machen. Doch gilt es auch hier deu Versuch; soll es überhaupt eine Aus¬
gleichung der streitenden Interessen geben, so ist sie nur durch diese von Bis-
warck bereits als notwendig anerkannten Schiedsgerichte möglich.
Wir kommen nun zu dem dritten Schriftstücke. Es ist datirt vom 10. Aug.
1877 und ist wieder an den Handelsminister gerichtet (damals Dr. Ueberhand).
Das Schreiben betrifft die Einrichtung der Fabrikinspektoren, worin Bismarck
»ach ihrem damaligen Bestand eine Behörde von fehlerhafter Organisation
sah. Am meisten nimmt er Anstoß an der diskretionäreu Gewalt des Fabrik-
uispektvrs. Er weist auf 5? 107 der damals bestehenden Gewerbeordnung hin,
der lautete: „Jeder Gewerbeunternehmer ist verbunden, auf seine Kosten alle
diejenigen Einrichtungen herzustellen und zu unterhalten, welche mit Riicksicht
"us die besondere Beschaffenheit des Gewerbebetriebes und der Betriebsstätte zu
thunlichster Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr für Leben und Gesundheit
notwendig sind." Die Entscheidung über das, was „notwendig" sei, liege
"un thatsächlich in der Hand des Fabrikinspektvrs, d. h. eines Einzelbeamten,
bon dem man nicht erwarten könne, daß er die Universalität, die für dieses Amt
notwendig sei, anch immer habe; man könne uicht erwarte», daß eine genügende
Anzahl von Beamten zur Verfügung stehe, die technisch gebildete Männer
wären und zugleich ein uicht unbedeutendes Maß von juristischen und
politischen Kenntnissen besäßen, dabei von einer solchen sozialen Bildung
nud vor allem von einer solchen Selbstbeherrschung, wie sie mit einer so
umgreifenden Stellung verbunden sein müsse. Zwar könne der Fabrikin¬
haber, wenn er sich durch die Anordnungen des Inspektors beschwert fühle,
Rekurs ergreifen, aber er werde sich in der Regel hüten, das zu thun; bei
der großen diskretivuären Gewalt des Fabrikiuspektors liege ihm vielmehr
daran, sich dessen guten Willen zu erhalten. Er füge sich darum lieber gegen
besseres Wissen und in dem Gefühle, Unrecht zu erleiden, aber er äußere seine
Nerstimmung bei den Wahlen und bei all den Gelegenheiten, wo sein freund¬
liches oder feindliches Urteil über die Negierung Ausdruck finden könne. Die
Einrichtung des Fabrikinspektors war nach deu damaligen unter dem Nord¬
deutschen Bund erlassenen Bestimmungen der Gewerbeordnung noch mehr
vorbeugender Natur, als es jetzt der Fall ist, nachdem sie im Jahre 1878 von
dem Bundesrat, und zwar im wesentlichen nach den Vorschlügen des Fürsten
Bismarck, nen organisirt worden ist. Bismarck stand allen gesetzgeberischen
und Verwnltungsmaßregeln von solcher vorbeugenden Art, also dem ganzen
Gebiete der Arbeiterschutzgesetzgebung, nicht gerade feindlich, aber vorsichtig
gegenüber, weil jede Übertreibung hier natürlich mit Eingriffen in Privatrechte
verbunden ist, für die dann, abgesehen von ihrer Schädlichkeit für die Industrie
selbst, auch von konservativen, ruhigen und verständigen Männern die Regierung
verantwortlich gemacht zu werden pflegt. Er berief sich dabei auf seine
eignen Erfahrungen: „Ich bin in der Lage, die Wirkung unsrer gesetzgebe¬
rischen und administrativen Arbeit zu beobachten, weil ich nicht bloß der
regierenden und gesetzgeberischen Klasse angehöre, sondern auch der regierten,
und selbst fühle, wie fehlerhafte Gesetze wirken." Er fürchtete darum jedes
weitere Vorgehen in dieser Richtung und war nicht bereit, ein solches mit
seiner ministeriellen Verantwortlichkeit zu decken. „Wie weit in dieser Richtung
die Aspirationen der in unsrer Gesetzgebung entwickelten Faktoren bereits gehen,
habe ich aus dem Gesetzentwürfe entnommen, welcher unter dem Namen eines
»Fabrikgesetzes« in diesen Tagen von dem Neichskanzleramtc vorgelegt worden
ist." Für seine eigne Stellung zur Sache beruft er sich auch auf ein Schreiben
vom 30. September 1876, auf das wir noch zurückkommen werden. Im
übrigen war er der Ansicht, daß die Kämpfe der Arbeiter und Arbeitgeber sich
wesentlich nur um Lohn und Arbeitszeit drehten. Die Punkte dagegen, die
jener Gesetzentwurf ius Auge fasse, die Sorge für die körperliche Sicherheit
der Arbeiter, für die Schonung der Jugend, für die Trennung der Geschlechter,
für die Sonntagsheiligung, würden ebenso wenig den Frieden zwischen dein
Arbeiter und dem Arbeitgeber herstellen, als dies die Steigerung der Macht der
Inspektoren thue. „Im Gegenteil, jede weitere Hemmung und künstliche Be¬
schränkung im Fabrikbetriebe vermindert die Fähigkeit des Arbeitgebers zur Lohn¬
zahlung." Er scheute also jede Übertreibung. „Wenn von der Industrie alle
Gefahren, mit denen sie die Sicherheit und Gesundheit des Arbeiters bedrohen kann,
fern gehalten werden sollen, so müßte den Pulver- und Dynamitfabriken, der Ver¬
arbeitung von giftigen Stoffen und Anstrengungen, wie die der Glasfabrikation und
andrer, die eben nur eine kurze und hochbezahlte Periode eines Arbeiterlebens
hindurch ertragen werden können, schon jedes Existenzrecht versagt werden.
Schon jetzt hat die wohlwollende Sorge für jugendliche Arbeiter die Folge',
daß die Arbeitgeber in der Regel Arbeiter unter sechzehn Jahren nicht an¬
nehmen, und daß die letzter», verdienstlos und allen? Gefahren des Müßig¬
ganges ausgesetzt, ihren Eltern zur Last liegen." Was die Förderung der
Sittlichkeit durch Trennung der Geschlechter in verschiednen Arbeitsränmen
anlangt, so meint er, auch hier lägen Anschauungen zu Grunde, die nicht dem
Praktischen Leben entstammten. Wahrend der Arbeit selbst sei keine Gelegenheit
zu unsittlicher Annäherung; man müßte dann eher das gemeinsame Verlassen
der Lokale beaufsichtigen; aber dann hätte man noch viel mehr Anlaß, in jeder
Landwirtschaft die gemeinsamen Arbeiten beider Geschlechter in dunkeln Scheunen
und Heubodenräumen zu verhindern. Daß Bismnrck hier andre Beschäftigungs¬
arten mit der Thätigkeit des Fabrikarbeiters vergleicht, ist sehr verständig.
Er hätte auch da, wo er von den gesetzgeberischen und administrativen Ma߬
nahmen spricht, die darauf abzielen, von der Industrie alle Gefahren fern zu
halten, mit denen sie die Sicherheit und die Gesundheit deS Arbeiters be¬
drohen kann, darauf hinweisen können, wie ans audern Gebieten solche ängst¬
liche Sorge ganz unbekannt ist. Man braucht nnr an den Arzt oder an
die Post-, Telegraphen- und Eisenbahnbeamten zu denken, ganz zu schweige»
von dem, was der Marine und dem Landsoldaten zugemutet wird und tag¬
täglich zugemutet werdeu muß. Vismarck hat ganz Recht, wenn er sagt: „Ich
habe kein rechtes Verständnis dafür, warum unter allen Zweigen menschlicher
Thätigkeit gerade bei dem schwierigsten und von fremder Konkurrenz am meisten
abhängigen die Bevormundung zur Verhütung einiger der Gefahren, die das
menschliche Leben überall bedrohen, bis zu dem hier gewollten Maße
getrieben werden soll." Es ist das einer von den Sätzen, in denen sich
Bismarcks großes und starkes Wahrheitsgefühl zeigt; Schmeicheln und Hätscheln
kann er nicht übers Herz bringen, auch der Arbeiterwelt gegenüber nicht. Als
das wirksamste Schutzmittel fiir die Arbeiter betrachtet er „die Haftpflicht für
Unfälle, wenn nötig, eine Verschärfung derselben, und ihre mögliche Ausdehnung
auf die Invalidität, die aus Erschöpfung durch Arbeit und aus Krankheit im
Dienste hervorgeht."
Mit diesem letzten Satze giebt der Kanzler den Kern des ganzen svzial-
Pvlitischen Programms, wie es später in der kaiserlichen Botschaft vom
17. November 1881 verkündet wurden ist. Bereits im Jahre 1877 stand es
bei ihm fest, daß zu Gunsten der wirtschaftlich schwachen der Weg der sozialen
Gesetzgebung im Sinne eines Kranken-, Unfall- und Jnvaliditätsgesetzes zu
betreten sei. Daß die seit lauge schon von ihm geplante Altersversicherung
mich mit in dieses Programm gehörte, versteht sich von selbst. Damit, kann
man sagen, hatte er seine sozialpolitischen Lehrjahre wie auch seine volkswirt¬
schaftlichen, deren Beginn er selbst in das Jahr 1875 verlegt, hinter sich. Er
^ in seine Meisterjahre eingetreten. In dem Schreiben an den Handels¬
minister, das wir soeben besprochen haben, spricht er bereits seine Bereitwilligkeit
aus, auf diesem Wege positiver Gesetzgebung vorzuschreiten, auf dem einer ver¬
schärften, die Industrie hemmenden Arbeiterschutzgesetzgebung aber nicht weiter
zu gehen. „Wenn Ew. Exzellenz ans diesem Wege die nähere Ausbildung
unsrer Gesetzgebung in Angriff nehmen wollen, so werde ich dabei zu voller
Mitwirkung gern bereit sein, auf dem der Prophylaxis durch Beamte aber
nicht."
Und so geschah es. Ein „Fabrikgesetz" wurde dem Reichstage uicht vor¬
gelegt. Dagegen wurde die Gewerbeordnung unter Festhaltung ihrer Grund¬
lagen und unter Beriicksichtignng der hervorgetretenen praktischen Bedürfnisse
nach den in dem Schreiben des Kanzlers enthaltenen Gesichtspunkten durch die
Vorlage des Bundesrath an den Reichstag vom 23. Februar 1878 verbessert.
Die Allmacht der Fabrikinspektoren wurde wesentlich eingeschränkt und durch das
Gesetz von 17. Juli l878 die bestehende Gelverbeordnnng insoweit abgeändert,
daß eine größere Sicherung der Beteiligten gegen die Verletzung der durch den
Arbeitsvertrag eingegangnen Verpflichtungen, eine strengere Ordnung des Lehr¬
verhältnisses, eine Regelung der Beschäftigung jugendlicher Arbeiter, die den
besondern Verhältnissen der verschiednen Industriezweige Rechnung trägt, darin
Aufnahme fand. Das wichtigste aber, die auch von Vismarck gewollte, in dein
Regiernngsentwurf vvrgeschlngne Einführung von Gewerbegerichten, und damit
eine zur Erledigung der Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitern
festgesetzte Einrichtung, fand beim Reichstage keine Zustimmung.
Wie wir schon sagten, hatte sich Vismarck anch in seinem Schreiben an
den Handelsminister auf ein Votum vom 30. September 1870 bezogen, das
er über beabsichtigte Änderungen der Gewerbeordnung abgegeben hatte, die aus
Grund von Erhebungen über die Frauen- und Kinderarbeit in Allssicht ge¬
nommen waren. Diese Erhebungen waren infolge eines Neichstagsbeschlnsses
vom 30. April 1873 veranlaßt worden und sollten zur Beurteilung dienen für
die Angemessenheit und Notwendigkeit eines gesetzlichen Schutzes der in den
Fabriken beschäftigten Frauen und Minderjährigen gegen Sonntagsarbeit sowie
gegen übermäßige Beschäftigung all den Werktagen. In diesem Votum wird
darauf hingewiesen, daß die Ergebnisse dieser Erhebungen sehr wenig brauchbare
Anhaltepunkte zur Prüfung der Frage böte», ob die Bestimmungen über Frauen-
und Kinderarbeit einer schützenden Verschärfung bedürften. Darum schien es
Bismarck richtiger zu sein, zumal bei der damaligen ungünstigen Lage der
Industrie, dieser zunächst Ruhe zu lassen, als dnrch neue Gesetze deu Kampf
mit der ausländischen Konkurrenz zu erschweren. Eine Verschärfung der
Schutzgesetze sei nur gerechtfertigt, wenn durch die Erhebung Notstände auf¬
gedeckt worden seien, die unverzügliche Abhilfe erheischten, was nicht der Fall
sei. Bismarck geht bei der Beurteilung über die Notwendigkeit einer Aus-
dehililng und Verschärfung der gesetzgeberischen und administrativen Thätigkeit
auf dem Gebiete von Schutzmaßregeln immer darauf zurück, ob die Lage der
Industrie eine solche nötig oder auch nur rötlich mache. Bei ungewöhnlicher
Nachfrage, wo die Besorgnis nahe liegt, daß die Kräfte der Arbeiter und
Arbeiterinnen unbarmherzig ausgebeutet werden, da erscheint es ihm „als eine
Aufgabe der Humanität, namentlich die Frauen und jugendlichem Arbeiter vor
Überanstrengung zu schützen." Wo sich die Sachlage ändert, der Fabrikant viel¬
leicht geradezu mit Verlust arbeitet, da würde, wenn die Gesetzgebung mit neuen
Verschärfungen hervorträte, damit den Arbeitgebern nnr ein willkommner Aulas;
geboten werden, „namentlich solche Arbeiter zu entlassen, deren Leistungsfähigkeit
eine relativ beschränkte ist, also jugendliche Arbeiter und Frauen. Daß eine derartige
Wendung vou dem Arbeiterstande, in dessen Interesse ja die Enquete unternommen
wurde, zu beklagen sein würde, liegt aus der Hand." Vismarck will darum
keine allgemeinen Regeln aufgestellt haben, die auf besondre Verhältnisse und
Bedürfnisse nicht Rücksicht nehmen; er vermag die Notwendigkeit nicht einzu¬
sehen von so allgemeinen Bestimmungen, „wie die einer generell gleichen Zeit¬
dauer der täglichen Beschäftigung für Mädchen unter achtzehn Jahren, oder
der generellen Fixirung des Beginns und Schlusses der Arbeitszeit für jugend¬
liche und weibliche Arbeiter. In gewissen Industriezweigen können zweifellos
die jugendlichen und weiblichen Arbeiter länger beschäftigt werden, als in
andern, und warum nur von der Nachtarbeit, von dieser aber unbedingt,
Nachteile für die Sittlichkeit der Frauen zu befürchten sein sollten, ist nicht
ersichtlich. Es wird hierbei doch sehr auf die Art der Beschäftigung ankommen."
Er meint, die Gründe, die gegen die Nachtarbeit sprechen, sprächen mich gegen
bie Tagesarbeit der Frauen, da ein zweckmäßig geordnetes Hauswesen mit der
Arbeit der Frauen in Fabriken überhaupt nicht zu vereinigen sei. Von einem
allgemeinen Verbot der Frauenarbeit könne aber doch keine Rede sein. Was
aber die Herabsetzung der Arbeitszeit für junge Mädchen bis zu achtzehn
Jahren, etwa ans sechs Stunden, wie die Denkschrift des Handelsministers
vorgeschlagen hatte, betreffe, so sei ihm der Wert einer solchen sehr zweifelhaft.
»Ist mit einer langen Arbeitszeit eine gute Ernährung verbunden, so wird
sie der Gesundheit weniger schaden, als eine kurze Arbeitszeit, bei welcher es
an der notwendigen Pflege des Körpers fehlt. Daß aber, je kürzer die Arbeits¬
zeit, desto kleiner der Verdienst und desto größer die Schwierigkeit wird, die
Mittel zu reichlicher Ernährung des Körpers zu beschaffen, bedarf keines
Beweises." Und wie Bismarck hier hinsichtlich der Erwerbsfähigkeit junger
Mädchen, was natürlich hinsichtlich der Erwerbsfähigkeit der Arbeiter über¬
haupt gilt, aus Rücksicht auf den Arbeitslohn von der staatlichen Bevormun¬
dung so viel als möglich absehen zu müssen glaubte, so glaubte er auch vou
hinein allgemeinen Verbot der Sonntagsarbeit hauptsächlich aus Rücksicht auf
die Freiheit des einzelnen Arbeiters absehen zu müssen. „Das Verbot der
Sonntags- und Svnnabendnachncittagsarbeit, wird in der Allgemeinheit, wie
es vorgeschlagen ist, ebenfalls ans so viele Hindernisse in der Praxis stoßen
lind Limen so wesentlichen Eingriff in die Freiheit des Einzelnen bilden, daß
es von vornherein als undurchführbar bezeichnet werden kann. Das; das den
Sonnabend betreffende Verbot für den damit erstrebten Zweck (die Pflege des
häuslichen Sinnes) wirkungslos sein würde, kommt dabei nicht einmal in
Betracht."
Nach allem sieht man, was Bismarck hinderte, sich, „wenn nicht etwa
bisher verschwiegen gebliebene, der Abhilfe dringlich bedürfende Zustände noch
nachgewiesen werden," gegen eine Verschärfung der sogenannten Arbeiterschutz¬
gesetze auszusprechen. Zuerst war es der Ausfall in der Einnahme des Ar¬
beiters. Ehe man ihm nicht nachwiese, so äußerte er sich auch später wieder¬
holt, wie dieser Ausfall zu decken sei, könne er sich ans eine Veränderung der
bestehenden Gewerbeordnung nicht einlassen. Sodann war es der Eingriff in
die Freiheit des einzelnen Arbeiters, ein Eingriff, den er darum nicht befür¬
worten wollte, weil er damit eiuer Lösung der sozialen Frage nicht näher zu
kommen glaubte. Durch alle diese Veschräukuugeu, die verschärfte Arbeiter¬
schutzgesetze im Gefolge haben müssen, sah er den Frieden der Arbeiter und
Arbeitgeber nicht hergestellt. „Im Gegenteil, jede weitere Hemmung und
künstliche Beschränkung im Fabrikbetriebe vermindert die Fähigkeit des Arbeit¬
gebers zur Lohuzahlung."
Was die Lösung der sozialen Frage betrifft, so bekennen wir uns zu dem¬
selben Glauben. Wer aber nun nicht dieses Glaubens lebt, wer der Ansicht
ist, daß das Kapital auch uoch mit dem Gewichte belastet werden könne, das der
Arbeiterschutz ihm noch aufzuerlegen sich anschickt, der wird trotz aller Bedeuten
der Ausdehnung und Verschärfung der Schutzgesetzgebung mit ruhigem Auge
und gutem Gewissen entgegensehen. Bismarck glaubte die Angelegenheit noch
vertagen zu müssen; grundsätzlich und unbedingt von der Hand geWiese» hat er
sie nicht, das hätte ihm schon sein menschenfreundlicher Sinn in vielen Punkten
nicht erlaubt; aber er glaubte aus den angegebenen Gründe», „auf diesem wie
a»f andern Gebieten der Legislatur dürfte eine Pause durchaus iudizirt sei»."
Der letzte Reichstag dagegen hat durch seineu fast mit Einstimmigkeit gefaßten
Beschluß und durch sein wiederholtes Drängen gegenüber dem Bundesrat ans
Durchführung der Arbeiterschutzgesetzgebung schon allein und ganz abgesehen
von allen deu Erscheinungen, die die Ausstandsbewegungen an vielen Orten
zu Tage treten ließen, dem .Kaiser dus Recht gegeben, den Arbeiterschutz
als die bedeutsamste Frage der Gesetzgebung für den neue» Reichstag hin-
zustellen. Die fast hundert Paragraphen des Entwurfs werden nnn einer
gründlichen und gewissenhafte» Prüfung zu unterwerfen sein, für die die
Rücksicht auf die Konkurrenzfähigkeit unsrer Industrie auf dem Weltmarkt
obenan stehen muß. Wenn der Fabrikant keine» Lob» oder keine» auskömm¬
liche» Lohn mehr zahle» kann, dann kann dem Arbeiter alle Schntzgesetzgebung
nichts helfen.
Unsre Aufgabe hat es hier nicht sein sollen, eine Kritik der Vorlage zu
geben, die der .Kaiser mit so großem Ernst in den Vordergrund der Reichstngs-
nrbeiten gestellt hat. Manche Bestimmung muß von vornherein jedes menschen¬
freundliche Herz für sich einnehmen, so die Forderung, daß auch im Handel
die Arbeit Sonntags nicht über fünf Stunden dauern solle; Tausende von
Handelsbeflisseneu werden dem Kaiser dankbar sein, wenn ihnen die Gabe ge¬
boten wird, daß sie allsonntäglich ein paar Stunden Erholung und Freiheit
genießen können. Auch im Eisenbahn- und Postbetriebe wird die vergönnte
Sonntagsruhe für viele Tausende eine beglückende, bisher mir wenig gekannte
Wohlthat sein. Einer der heilsamsten Gedanken der ganzen Vorlage ist die
Kontrole, die Vätern und Vormündern über unmündige Arbeiter gegeben
werden soll. Ihre Art ist ziemlich begrenzt, doch ist es immer ein Anfang,
eine xg-tila potsstW wieder geltend zu machen, deren fast gänzliches Aufgeben
in der Arbeiterwelt geradezu verheerend gewirkt hat. Denn die Erscheinung,
die sich jetzt bei allen Aufständen zeigt, daß Bursche, die kaum flügge geworden
sind, dein reifen Alter Vorschriften zugehen lassen, durch die sie ganze Familien
ruiniren, würde unmöglich sein, wenn nicht alle und jede väterliche Gewalt
über sie von dein Augenblick an aufhörte, wo sie mit dein Eintritt in die Fabrik
durch Allszahlung des Lohnes an sie ihre wirtschaftliche Scheinselbständigkeit
gewinnen. Die Kontrole müßte aber dadurch erweitert werden, daß die jungen
Leute auch der Aufsicht und Leitung des Fabrikherrn unterworfen würden,
daß diesem eine gewisse Überwachung in der Lebensführung zuzusprechen wäre.
Wie man sich vor solcher Überwachung schellen kann, ist unbegreiflich. Der
Student steht unter einer solchen ihrer Disziplinargewalt, die Rektor und
Senat über ihn haben, der junge Offizier wird in seiner Lebensführung von
seinen Vorgesetzten gerade so überwacht, wie der angehende Beamte. Und
das sind junge Leute von ganz andrer sittlicher Kraft zur Selbständigkeit, als
der unmündige junge Arbeiter. Der Gedanke der Vorlage ist also noch frucht¬
barer zu machen und weiter auszudehnen. Dankbar anzuerkennen ist aber,
daß wenigstens ein Anfang gemacht worden ist. Die Besonnenheit, mit der
der Entwurf ausgearbeitet ist, giebt sich auch darin zu erkennen, daß eine Be¬
stimmung über die Arbeitszeit der Erwachsenen, also der Normalarbeitstag
fehlt. Es ist wohl keine Frage, daß das absichtlich geschehen ist, und das mit
Recht. Die Feststellung einer Normalarbeitszeit kann gar nicht nach einem
einzigen Maße und für alle Arbeiter geschehen. Es muß dem Arbeiter frei¬
gestellt bleiben, im Einverständnis mit dem Arbeitgeber die Arbeitszeit zu
regeln. Der Wunsch nach einer Nvrmalarbeitszeit geht auch, darin stimmt
das Urteil der Fabrikinspektoren überein, nur von jenem kleinen Teile der
Arbeiter aus, die bei wellig Arbeitsstunden hohen Lohn beanspruchen. Wie
diese dazu kommen, den Normalarbeitstag zu wünschen, natürlich den acht¬
stündigen, das sagt der Jahresbericht der sächsischen Gelverbeinspektoren aus
das Jahr 1889: „Es ist unverkennbar, daß dnrch die immerwährenden und
des Abends ziemlich lang andauernden Versammlungen der Arbeiter, in denen
sich die Gemüter erhitzen nud durch die der nötige Schlaf verkürzt wird, eine
gewisse Unlust zur Arbeit eintritt, die auf der andern Seite die Forderung
nach verkürzter Arbeitszeit und erhöhtem Lohn mit sich bringt." Wein dieser
Wunsch nach dem Normalarbeitstag in der Arbeiterwelt allgemein zu sein scheint,
für den führen Nur noch aus dem eben genannten Bericht folgenden Satz an:
„Obgleich ältere, erfahrene und meist verheiratete Arbeiter das Verlangen nach
Verkürzung der Arbeitszeit im allgemeinen nicht teilen, so widersprechen sie
doch den andern Arbeitern in den Versammlungen, in denen die Arbeitszeit
behandelt wird, nicht."
Welches Schicksal aber auch die Gesetzesvorlage im Reichstage haben möge,
das eine bleibe unvergessen, daß auch die beste Arbeiterschutzgesetzgebung für das
Wohl des Volkes uicht im entferntesten die Bedeutung hat, wie die großen
svzialreformatvrischen Gesetze, die Bismarck mit unsagbarer Mühe durch jahre¬
lange aufreibende Kämpfe dem Klassen- und Parteiegvismus abzuringen ver¬
mocht hat. Was diese Gesetze für die Welt der armen Leute zu bedeuten
haben, begreift wohl jeder, der erwägt, daß den Arbeitern dnrch Belastung
des Kapitals infolge dieser Gesetze jährlich 400 Millionen Mark zufließen,
d. h. wie Gebiert jüngst in den Grenzboten gezeigt hat, daß ein Kapital
von 11^2 Milliarden durch diese Gesetzgebung den Besitzenden entzogen und den
Armen zugewendet worden ist. Und das ist Vismnrcks Werk: Nonuinönwm,
iuzrs xöreniüu8!
s wäre sehr überflüssig, die hunderterlei Übelstände und Schwierig¬
keiten aufzuzählen, deren verfilzten Knäuel wir die soziale Frage
nennen. Jedermann kennt sie. Nur um eine Musterung der
Heilmittel ist es uns hier zu thun. Aber giebt es denn über¬
haupt eine soziale Frage? Der Liberalismus ist geneigt nud
durch feine Theorie eigentlich genötigt, es zu leugnen; da die Welt immer
besser wird, wie kann sie denn da im letzten Jahrhundert in gewisser Be¬
ziehung schlechter geworden sein? Unsre Feuerarbeiter, sagte Laster einmal,
leben besser als indische Fürsten. Mag sein, daß der Berliner Feuerarbeiter
bei auskömmlichen Verdienste die Nationalzeitung liest, Parlaments- und
Bereinsreden anhört, auf gut gekehrten Straßen einherschreitet und seiner
Frau eine Kochmaschine neuester Konstruktion zum Geburtstage schenkt, was
alles der indische Fürst vielleicht nicht kann; ob er sich aber im Mitgenuß
unsrer Kulturschätze wohler fühlt als der Nabob in seinen rohen Genüssen, ist
doch fraglich. Und aufs Wohlfühlen kommts an, nicht darauf, was ein Philo¬
soph oder Parlamentarier sür Glück erklärt. Und dann: es ist nicht jeder¬
mann Feuerarbeiter bei Krupp oder Borsig; es giebt auch weniger gut ein¬
gerichtete Werkstätten. Es ist überhaupt nicht sedermann Feuerarbeiter: es
giebt Schuster und Schneider, Weber und Strcichhölzchenmacher, Bergarbeiter
und Weichensteller. Gestern fragte ich meinen Schuster, wie viel seine Ge¬
sellen verdienen. Antwort: bei Stückarbeit höchstens zwölf Mark; durchschnitt¬
licher Wochenlohn acht Mark; wenn beim Meister in Kost, drei Mark. Es
giebt hier am Orte (es ist eine ostdeutsche Stadt von 20000 Einwohnern)
eine Anzahl verheirateter Meister, die für größere Schuhmacher arbeiten und
auch nicht höher kommen. Wenn sich ein Gesinnungsgenosse Lasters gefälligst
Mi Jahr lang auf deu Schusterschemel setzen, täglich von früh fünf bis abends
acht Uhr arbeiten, mit höchstens zweihundert Thalern jährlich Wohnung, Klei¬
dung, Feuerung, Rührung für sich, seine Frau und drei Kinder und endlich
seine — Erholnngsgenüsse bestreiten will, und wenn er nach Ablauf dieses
Prüfungsjnhres dabei bleibt, daß er sich wie ein indischer Fürst fühlt, so ge¬
stehe ich ihm dann zu: es giebt keine soziale Frage.
Es war ja immer so. Es hat ja immer Arme und Reiche gegeben; im
Mittelalter außerdem noch wirkliche Hungersnöte, die wir heute nicht mehr
kennen, mit der angenehmen Zugabe von gelegentlichem Gefoltert-, Gespießt-
und Lebendiggebratenwerden. Aber gewaltige Unterschiede bestehen doch zwischen
heut und früher. Der mittelalterliche Gutsherr lebte, den Müßiggang abge¬
rechnet, der ein zweifelhaftes Vergnügen ist, nicht viel besser als seine Hörigen,
^on Komfort keine Spur. Zinnner mit Steinfliesen ohne Teppiche, ohne
Ofen und ohne Glasfenster. Im Winter fror er wie ein Hund. Möhte ich
verslafen des winters z!t! singt Walther von der Vogelweide. Zog so ein
Ritter gen Rom, zum heiligen Grabe oder gegen die wendischen Heiden, so
reiste er uicht im Salonwagen, sondern ritt zu Pferde auf Wegen, die keine
Wege waren; auch wenn er krank, auch wenn er verwundet war, vielleicht ein
^ein gebrochen hatte, gab es kein andres Transportmittel für ihn. Und in
welch bequemer Kleidung! Nicht in weicher Watte, sondern in hartem Eisen.
Sein Luxus bestand vorzugsweise darin, daß er bei jedem Feste so und so
viele Ochsen, Schafe, Schweine, Hirsche und Fässer Wein zum besten gab,
woran sich nicht allein seine Gesippten, sondern anch seine und ihre Diener¬
schaft, und manchmal alle seine Gutsunterthanen und Hörigen drei oder sieben
Tage lang gütlich thaten. Herren und Knechte lebten in einer solchen Ge¬
meinschaft des Entbehrens und Genießens, wie sie heute nur noch bei Offi¬
zieren und Soldaten im Felde, bei Expeditionen an den Nordpol und in
Jnnerafrika vorkommt. Die großstädtische Nähterin unsrer Tage dagegen,
wenn sie abends in ihr Dachstübchen hinaufsteigt, kommt bei so viel Paradiesen
vorüber — zuweilen quillt ihr daraus durch einen Thürspalt ein Bächlein
Farbenpracht, Vlnmcn- und Bratenduft entgegen — als das Haus Stockwerke
hat, und droben findet sie die Hölle; im Sommer die gewöhnliche heiße und
im Winter die Eishölle/ Leben aber alle Proletarier aus den feinen Stadt¬
teilen hinausverbannt in Arbeitervierteln beisammen, dann wirkt der Gegensatz
erst recht grell auf sie ein, so oft sie früh morgens aus den Höhlen des Massen¬
elends hereinkommen in die lichten Hallen des Massenluxns, um an der Her¬
stellung, Ausbesserung oder Erhöhung dieses Luxus zu arbeiten. Luxus gab
es ja auch schon in den alten Kulturstaaten, und der Gegensatz zwischen Reich
und Arm war daher dort fühlbarer als im mittelalterlichen Deutschland. Aber
doch nicht so fühlbar wie bei uns heute. Einmal liegen alle jene Länder im
Süden, und das begründet einen gewaltigen Unterschied; erst der Winter macht
im Norden das Leben der Armen zur Hölle. Sodann wirkten stets Kriege
und Laster zusammen, die Übervölkerung zu verhüten; man kannte nicht den
gewerblichen Kampf ums Dasein und seine beständige Angst. Endlich fehlte
der Druck, den heute Sitte, Mode und Gesetz im Verein ausüben, den zwar
alle empfinden, die Armen aber doch am meisten. Die Armen der alten Kultur-
welt waren teils hauptstädtischer Pöbel, der auf Unkosten des Staates nicht
allein gefüttert, sondern auch belustigt wurde, teils Sklaven der Großem, ein
manchmal geplagtes, meist aber vergnügt lebendes und immer liederliches Ge-
sindel, das an den Genüssen und am Müßiggange der Herren teilnahm. Heute
ist die Zahl der Leibdienerschaft großer Herren gering; aber eben diese mit
Recht sogenannten „Bedienten" (sie werden nämlich weit mehr bedient als sie
selber dienen) sind die einzigen sorglos lebenden wirklichen Freiherren unsrer
modernen Gesellschaft. Heute dagegen ist die Armut nicht bloß ein Unglück,
sondern ein Verbrechen. Wer sein Elend öffentlich zeigt, wer bettelt, wer sich
obdachlos umhertreibt, wird bestraft, auch wenn es ihm völlig unmöglich ist,
Arbeit zu bekommen und sich ein Obdach zu verschaffen.
Das Vergleichen arabes! Aus dem Vergleichen der verschiednen Lebens¬
lagen steigen die Fragen auf: warum? wozu? muß es so sein? kann es nicht
geändert werden? Und damit ist die soziale Frage gegeben. Wir haben heute
eine die ganze Kulturwelt erfüllende soziale Frage, während die früher» Zeiten
nur örtliche soziale Fragen kannten, weil heute im Weltchvr gefragt wird, was
früher nicht der Fall war. Früher gab es much in Europa Bevölkerungen,
wie sie heute nur noch in Asien und Afrika vorkommen, die da hungerten,
froren, schwitzten, sich plackten, sich prügeln und auch wohl das Fell über die
Ohren ziehen ließen, ohne zu fragen. Sie fragten nicht, weil sie entweder zu
stumpfsinnig dazu waren, oder weil ihnen durch irgend einen religiösen Glauben
oder Aberglauben die Überzeugung eingeprägt worden war, daß dieser ihr
elender Zustand eine unabänderliche Einrichtung Gottes sei, und daß sie im
Jenseits für ihre diesseitigen Leiden würden entschädigt werden. Diese Wir¬
kung des religiösen Glaubens darf man übrigens nicht überschätzen; sie hängt
vom Temperamente des Volkes ab. Vollständig tritt sie nur bei den schlaffen
Orientalen und den halborientalischcn Slawen ein. Die lebhaften Italiener
haben in der Zeit naiver Gläubigkeit uach der Berechnung eines ihrer Geschicht¬
schreiber über siebentausend Revolutionen unternommen, deren meiste sozialer
Natur waren.
Also wir haben eine soziale Frage, aus dem ganz einfachen Grunde, weil
die Leute fragen, lind wir warten nicht einmal, bis sie von selber damit an¬
fangen, sondern wir drillen sie dazu; wir erziehen sie dazu. Wir zwingen die
Kinder der Armen, in die Schule zu gehen. Wir lehren sie dort denken, Nur
schärfen ihr Urteil, wir sperren ihnen die Augen auf und zeigen ihnen alle
Herrlichkeiten der Welt; wir lehren sie über alles räsonniren (der alte Fritz,
der kein Freund vom Räsonniren der Untergebenen war, wollte, daß der Schul¬
unterricht der ärmern Klassen auf das Notdürftigste beschränkt bleibe), und wenn
sie nicht schnell genug fortschreiten in der Kunst des Denkens, Näsvnnircns und
Fragens, so treiben wir sie aus Furcht vor dem gestrengen Herrn Schulrat
mit Prügeln dazu an. So viel allerdings wie die frühern Schulmeister dürfen
wir nicht mehr prügeln, das leidet wieder der Schulrat nicht. Denn wir
sollen jn die Kinder auch verfeinern, ihre Manieren und ihre Empfindung ver¬
edeln. Das letztere durch Poesie und moralische Betrachtungen und rührende
Geschichten und Tierschutzkalender; damit sie nur ja das Leiden jedes hart an¬
gefaßten Würmleins und jedes geprügelten Pferdes mit- und demzufolge dann
ihre eignen Leiden, Strapazen und Entbehrungen, wirkliche wie eingebildete,
zehnfach empfinden. Ein Tierarzt — er hat es mir selbst erzählt — stellte
kürzlich einen Maun zur Rede, der ein abgetriebenes Pferd vor seinen Wagen
gespannt hatte. Der Mann antwortete: Nun, untersuchen Sie mal gefälligst
Meinen Körper, und sagen Sie dann, ob es nicht die ärgste Tierquälerei ist,
wenn ich noch arbeiten muß? Und wovon sollte ich leben, wenn ich nicht
arbeitete?
Und nachdem N'ir die armen Leute in der Schule fragen gelehrt haben,
Lesern wir ihnen in der Presse das Material zum Fragen. Wir thun das
uicht absichtlich, sondern wir thun es, weil wirs nicht lassen können. Wir
können es nicht hindern, daß Zeitungen und Wochenblätter gedruckt werden,
und daß alle Leute lesen, die lesen gelernt haben. Die Beschaffenheit der
Presse ist nicht ganz gleichgültig, aber in Beziehung auf die Sache, um die es
sich hier handelt, spielt sie doch nur eine untergeordnete Rolle. Die Leute siud
heute deulgeübt genug, um aus den Thatsachen (z. B. Preisverzeichnissen, Lohn¬
tabellen, Fcstberichten u. s. w.) ihre Folgerungen zu ziehen, gleichviel ob diese
Thatsachen in einer sozialdemokratischen oder einer fortschrittlichen oder einer
konservativen Brühe aufgetischt werden. Auch darauf, daß die Presse im
großen und ganzen an der Vernichtung der Religion arbeitet, ist nach dem
oben gesagten kein übertriebenes Gewicht zu legen, obwohl man es natürlich
bedauern muß. Nehmen wir dazu die Verkehrsmittel unsrer Zeit und die
Zusammendrängung der ärmern Leute in Proletariervierteln und Industrie-
bezirken, so sehen wir deutlich: jede Werkstätte, jedes Wohnhaus mit Proletarier-
Wohnungen, jede Kneipe, jeder Ort für Volksbelustigung und Erholung ver¬
wandelt sich unter diesen Umstünden notwendigerweise in eine Akademie, in der
soziale Fragen aufgeworfen, erörtert und studirt werden. Es kann nicht anders
sein. Es ist eine physische Unmöglichkeit, das zu ändern. Wer es ändern will,
der muß entweder die Volksschule schließen, oder die Presse vernichten, oder
alle Personen unter 2000 Mark Einkommen in Jsolirhaft arbeiten lassen, oder
sie in empfindungslose Maschinen verwandeln. Mit der allgemeinen Volks¬
bildung und der allseitigen Berührung jedes mit jeden: im Weltverkehr ist die
soziale Frage gegeben, und falls diese Bedingungen bis zum jüngsten Tage
fortbestehen, werden auch bis dahin die Herrschenden dem fragenden Volke Rede
und Autwort stehen müssen. Ob sich die Fragenden dieses oder jenes Zukuufts-
ideal träumen, ob ihre Führer dieser oder jener Theorie huldigen, ob sich die
Unzufrieduen Bundschuh, Jacques Bonhomme, Chartisten, Nihilisten, Kom¬
munisten oder Sozialdemokraten nennen, darauf kommt gar nichts an. Sozial-
demokratie ist ein Name, weiter nichts. Ein Name, der seine Zeit hat und
dann vergessen wird; die Sache wird bleiben. Hört blutrot einmal auf, die
Farbe der Unzufriedenen zu sein, so wird vielleicht kornblumenblau oder grün,
die Farbe der Hoffnung, Mode.
Am wenigsten darf sich der Staatsmann verleiten lassen, die soziale Frage
mit der Svzialdemokratenfrage zu verwechseln. Gegen Demokraten helfen
Soldaten, so oft die Demokraten rebellisch werden; in dem Punkte giebts nichts
zu frage«, der ist von jeher und für alle Zeiten entschieden. Auch das be¬
drohte „Kapital" wird dein erleuchteten Staatsmanne keine Schmerzen machen.
Es ist stärker als je; es ist in mehr als einem Staate, in Deutschland zum
Glück noch nicht, so stark, daß es fragen darf: Was kostet der Staat? Es hat
nichts zu fürchten. Haben die Arbeiter lange genug gestreikt, so zwingt sie der
Hunger wieder weiter zu arbeiten. Gehen in den Streiknuruhen einige Unter¬
nehmer zu gründe, so sind das allemal kleinere und mittlere; sie werden bei
dieser Gelegenheit rascher von den großen verspeist, als es sonst der Fall ge¬
wesen wäre, und das „Kapital" wird dadurch nnr umso stärker. Auch nach
den Leiden der Armut hat der Staatsmann nicht zu fragen; das ist Sache der
Geistlichen, der barmherzigen Schwestern und der menschenfreundlichen Privat-
lente. Der Staatsmann hat nur nach der Stärke und Gesundheit des Volkes
M fragen, mit deren Steigerung sich allerdings die Armut und deren Leiden
von selbst vermindern. Also weder die Bedrohung der Besitzenden durch die
Proletarier, noch das Schicksal der Proletarier ist es, was dem Staatsmanne,
der diesen Namen verdient, Sorge macht, sondern die Frage: Wie ist das
Herabsinken des Volkes in den Schlamm des Proletariats zu verhindern? Wie
ist der Verlumpung des Volkes zu steuern? Diese Frage ist allen Kultur-
staaten gemeinsam. In Italien, England, Frankreich hat die Verlumpung schon
längst begonnen; ob auch in Deutschlnud, das mag einstweilen dahingestellt
bleiben. Schreitet die Zerreibung des gewerblichen Mittelstandes fort wie
bisher, und wird auch der Bauernstand in den Prozeß hineingezogen, so ist
das allmähliche Hinabsinken auch unsers Volkes in proletarische Zustände un¬
ausbleiblich. Man lasse sich nicht durch deu schönen Schein blenden, weil man
bellte nicht mehr deu zehnten Teil so viel zerlumpter Leute auf der Straße
sieht wie vor fünfzig Jahren; das ist der Polizei und der Mode zu danken,
aber nicht dem steigenden Volkswohlstände. „Hat der Mann bei Ihnen ge¬
bettelt?" — mit diesen Worten stürzte neulich ein pflichteifriger Polizist in einen
Vankierladen hinein, ans dem er einen ärmlich gekleideten Mann herauskommen
gesehen hatte. Der vermeintliche Bettler war — ein Bauer, der sich etliche
Pfandbriefe gekauft hatte. Von den feinen Herrn und Damen dagegen, die
Man in öffentlichen Gärten sieht, tragen sehr viele ihr ganzes Vermögen auf
dem. Leibe herum, und gar manche nicht einmal ihres, sondern einen Teil des
Vermögens ihres Schneiders, der aber seinerseits auch eigentlich nichts hat,
sondern mit Haut und Haaren dem Schinttwarenkaufmann verschrieben ist u. s. w.,
nicht in ülliiiiwrn, sondern nur bis zu dem kleinen über allen Erdenjammer
erhabenen Kreise der Geueralgläubiger hinauf.
Also dieses ist der Kern der sozialen Frage für den Staatsmann: Wie
ist der Volkswohlstand oder, was dasselbe ist, ein wohlhabender Mittelstand
zu erhalten oder wieder herzustellen, oder was dasselbe ist, wie kaun das Volk
gesund und kräftig erhalten werden? Eine Bevölkerung, die nur noch ans
wenigen sehr Reiche» und einer Musse von Proletariern besteht, verdient gar
uicht mehr den Namen eines Volkes. Mit unsrer Überschau der Heilmittel
knüpfe» wir an die bekannten Schlagwörter an: innere Kolonisation, aus¬
wärtige Kolonisation, Sozialismus, Eingreifen des Staates, Religion und
Kirche.
Daß Großstaaten ohne große Städte und ohne großartige Werkstätten
uicht bestehen können, ist ebenso unbestritten, wie die aus solcher Anhäufung
ärmerer Meuscheu entstehenden Gefahren und Übelstünde anerkannt sind. In
Kite'n menschlichen Dingen, die Tugenden uicht ausgenommen, giebt es ein
Mittleres, das ungestraft weder nach rechts noch nach links hin überschritten
werden kann. Und nachdem die Konzentration der Bevölkerung das richtige
Mittelmaß überschritten hat, wünsche» alle Verständigen die Zurückführung eines
Teiles der industriellen Bevölkerung aufs Land.
Denken wir uns eine Gegend, wo Landwirtschaft und Gewerbe innig
verbunden siud. Der Bauer findet hinreichenden Absatz seiner Erzeugnisse in
den nahen, nicht zu großen Städten, und die städtische» Handwerker versorgen
ihn mit Werkzeugen, Hausrat und Kleidung. Beide genügen einander gegen¬
seitig und brauchen nicht auf den Auslandsmarkt, uicht einmal auf einen fern
liegenden Inlandsmarkt zu spekuliren. Die Handwerker siud sämtlich Haus¬
besitzer; freilich sind ihre Häuser klein, nur Familienhäuser, höchstens uoch für
einen Mietsmann berechnet. Außer dem Hause besitzen fast alle, mögen sie
auf dem Dorfe oder in der Stadt wohnen, einen Garten und ein Ackerstück.
Jeder mästet mindestens ein Schwein, mancher hält auch noch ein paar Ziege»
oder Schafe oder sogar eine Kuh daz». Reich kann keiner werden, da sie alle
»ur mit wenigen Leuten, durchschnittlich mit einem Gesellen und einem Lehr¬
ling arbeiten. Aber jeder erfreut sich eines gleichmäßigen Einkommens und
einer großen Sicherheit seines Daseins. Er ist nicht von den Schwankungen
des Weltmarktes abhängig, weil er sei» Absatzgebiet in der Nähe hat und es
überschaut. Kleinere Schwankungen kommen auch in diesem kleinen Gebiete
vor; was ihm diese überstehen hilft, was die Ungleichheiten sowohl seiner
gewerblichen Beschäftigungen wie seiner Einnahmen in den verschiednen Jahres¬
zeiten ausgleicht, das ist sein Stückchen Acker und Vieh. Da nicht viele Lehr¬
linge eingestellt werden, haben alle oder doch sast alle Gesellen Aussicht, Meister
zu werden, und es entsteht kein Interessengegensatz zwischen den Meistern und deu
Gehilfen. Es geht ein wenig armselig und sehr spießbürgerlich zu in einer
solchen Gegend, aber bei der Gleichartigkeit der Lage aller kann kein tiefer
Interessengegensatz, daher auch keine soziale Frage entstehen. Auch ist ein arm¬
seliges Dasein noch nicht proletarisch; wer ein Stückchen Grund und Boden
besitzt, ein festes Heim, aus dem ihn niemand vertreiben kann, wer einige
arbeitslose Monate überstehen kann, weil ihm keine „Exmission" wegen rück¬
ständiger Miete droht, und weil er Kartoffeln im Keller, einige Speckseiten
in der Rauchkammer und ein paar Klaftern Holz im Hofe hat, der ist noch
kein Proletarier und wird auch nicht sobald einer.
Die Sicherheit des Daseins kann sogar noch fortbestehen, wenn ein Teil
dieser Handwerker für den Export arbeitet. So lebten noch 1806, wo sie noch
nicht durch die Grvßfabrikcmten zu Grunde gerichtet waren, die 3500 Tuchmacher
ans den Dörfer» um Leeds als Ackerhüusler. In der Stadt hatten sie ihre
gemeinsame Tuchhalle, wo sie ihre Ware an die Kaufleute absetzten. Ähnlich
leben noch hente i» manchen Gebirgsgegend«.'» Deutschlands die Angehörige»
der sogenannten Hausindustrie. Es ist wahr, daß es vielen von ihnen recht
schlecht geht, und daß ihre Not stellenweise viel größer ist, als die der am
schlechtesten bezahlten Fabrikarbeiter. Allein das liegt nicht an der Haus¬
industrie an sich, sondern an Umständen, die man nicht als unabänderlich an¬
sehen darf. Zum Beispiel daran, daß sie, wie die Handweber, an einer Art
des Betriebes festhalten, der nicht mehr konkurrenzfähig ist, oder weil sie in
Abhängigkeit von Unternehmern geraten sind, oder weil der Markt mit ihren
Erzeugnissen überfüllt ist. Wäre die Rückbildung eines Teiles des Gewerbes
zu diesen ältern Zuständen möglich, so würde damit offenbar ein Teil der
sozialen Frage wegfallen.
Schäffle ist bekanntlich ein sehr entschiedner Gegner der Kapitalswirtschaft,
will aber dennoch von der Wiederherstellung des Kleingewerbes nichts wissen,
weil sie seiner Ansicht uach ein Rückschritt wäre. Diese Abneigung würde
begründet sein, wenn die Vernichtung der Großindustrie und die Aufhebung
der Fortschritte, die wir ihr verdanken, gefordert würde; aber das fällt ja
keinem verständigen Freunde des Kleingewerbes ein. Daß im Hinterstübchen
weder Kanonen gegossen, noch Schiffe, Lokomotiven und Dampfkrahue gebaut
werden können, liegt auf der Hand. Werkzeuge und Beförderungsmittel vou
gewaltigem Umfange können nur in den Werkstätten der Großindustrie her¬
gestellt werden. Daß es aber ein Rückschritt wäre, wenn die Herstellung kleiner
Gegenstände teilweise dem Kleingewerbe wiedergegeben würde, vermögen wir
nicht anzuerkennen. Der Fortschritt besteht nicht darin, daß man in derselben
Richtung ins Maßlose fortschreitet und etwa, nachdem die Leistungen des
Hochbaues durch die Anwendung des Eisens gesteigert worden sind, die Paläste
in Eifelturmform baut: alle Gemächer über statt neben einander legend. Sehr
hünfig verläßt der Kulturfortschritt die gerade herrschende Form, nachdem diese
ihre Aufgabe erfüllt hat, und kehrt zu ältern Formen zurück, sie mit den
mittlerweile erworbenen Hilfsmitteln verjüngend. Gerade als die nächste Auf¬
gabe des technischen Fortschrittes hat es Werner Siemers auf der Berliner
Naturforscherversammlung bezeichnet, das Kleingewerbe dnrch Kleinmotoren
und durch Kraftübertragung von Großmotoren aus wieder lebensfähig zu
"wehen; und er hat diese neue Entwicklung mit dem Sinken des Zinsfußes
in Zusammenhang gebracht, das schließlich der Kapitalanlage im heutigen
Sinne ein Ende machen werde. Was der größte Techniker Deutschlands auf
diesem Gebiete für möglich und für einen Fortschritt hält, das ist kein Laie
berechtigt für unmöglich und für einen Rückschritt zu erklären.
Daß der Kleinbetrieb dein Großbetriebe einfach zu weichen habe, das
gehört gewissermaßen zu den Glaubenssätzen des Liberalismus. Aber was
wirklich ist, das ist auch möglich; und da ich persönlich kleine Handwerker der
verschiedensten Gattungen kenne, die sich ganz gut nähren, darunter sogar
Schneider, so glaube ich nicht an die Unmöglichkeit des Kleinbetriebes. Die
günstigen Bedingungen, die jenen einzelnen den Fortbestand ermöglichen, lassen
sich durch körperschaftliches Zusammenwirken verallgemeinern und vielen zu¬
gänglich machen. Noscher hat es schon vor mehr als zwanzig Jahren für
Aberglauben und Irrtum erklärt, daß alles Kleingewerbe dem Untergange
geweiht sei. Eine flüchtige Umschau wird uns sofort zeigen, wie verschieden
sich die verschiednen Gelverbszweige dem Großkapital und dem Maschinenwesen
gegen ü ber verhalten.
Einige der Gewerbe, die nur als Großindustrie denkbar sind, wurden
schon genannt. Beim Maschinenbau kommt es darauf an, was für Maschinen
gebaut werden. Je großer sie sind, desto großer müssen natürlich auch Werk¬
statt, Arbeiterzahl und Kapital sein. Für mittelgroße Maschinen genügen
mittelgroße Werkstätten. Ich kenne solche, die ausgezeichnete Geschäfte machen,
die vom Großkapital nicht das mindeste zu fürchten haben, und in denen ein
herzliches Einvernehmen zwischen Prinzipalen, Werkführern und Arbeitern
herrscht. Je kleiner die Maschinen sind (Handsiedemaschinen n. dergl.), desto
leichter können sie in einer gewöhnlichen Mechaniker- oder Schlvsserwertstatt
hergestellt werden. Es giebt Werkstellen, in denen es geschieht, und ihnen
vor allem wird der von Siemers in Aussicht gestellte Fortschritt zu statten
kommen.
Die Baugewerker im engern Sinne: die Maurer, die Zimmerer und die
Schieferdecker, haben bisher weder vom Großkapital noch von der Dampf¬
maschine irgend welche Störung erlitten. Sie verwenden einige Maschinen-
Produkte, wie eiserne Anker und Schienen, aber zum größten Teil ist ihr
Material dasselbe wie vor Jahrhunderten. Wenn nußer den Steinen und
Backsteinen, Brettern und Balken, Schiefertafeln und Zinkplatten auch Dach¬
pappen, Asphalt, Stuck u. dergl. in die Mode gekommen sind, so schadet
das niemandem, nützt aber vielen durch Erzeugung neuer Gewerbe. Beim
Kanal- und Brückenbau wird allerdings die Dampfmaschine verwendet, beim
Häuserbau aber kennt man keine andern Maschinen als die seit Jahrtausenden
üblichen: Krähn und Flaschenzug. Und was das Kapital anlangt: ganz arme
Maurer- und Zimmermeister giebt es seit Jahrhunderten nicht mehr. Allein
oder mit einem Lehrjungen kann der Mail» kein Haus bauen. Um aber
zwanzig Leuten den Unterhalt verbürgen und Bauholz kaufen zu können, muß
er einiges Vermögen haben. Darin ist seit Ablauf jener sehr alten Zeiten,
wo der Bauherr das Material lieferte und mit seinen Hörigen baute, keine
wesentliche Änderung eingetreten. Neu ist nur, daß einzelne Maurer- und
Zimmermeister sich zu Bauunternehmern und Hüuserspekulanten emporschwangen,
als welche sie entweder Reichtümer aufhäufen oder Ptene machen. Im allge¬
meinen bleibt das alte Verhältnis von Meistern, Polieren, Gesellen, Lehrlingen
und Handlangern bestehen.
Den Hilfsgewerben des Baugewerks haben die Mode und der technische
Fortschritt einige neue hinzugefügt, was wahrlich kein Schaden ist. Unter den
alten hat sich die Steinmetzarbeit über Beeinträchtigung durch die Thonwaren¬
fabriken zu beklagen. Die Töpfer sind nur noch Ofensetzer; die Bestandteile
des Ofens werdeu ihnen fertig aus der Fabrik geliefert. Die Bautischler und
-Schlosser, namentlich die letztern, haben einen Teil ihrer Arbeit an die Fabrik
verloren, die ihnen Schlösser, Thür- und Fensterbeschläge fertig liefert; sie
selbst können niemals überflüssig werdeu, denn das Anpassen, Anschlagen u. s. w.
muß an Ort und Stelle besorgt werden. Letzteres gilt auch von den Glasern
und Klempnern.
Die Gewerbe der persönlichen Hilfsleistung können vom Kapitalismus nur
wenig, von der Dampfmaschine gar nicht beeinträchtigt werden. Dem Barbier
und Friseur wird niemals eine dumme Dampfmaschine sein Vorrecht streitig
machen, die Gewaltigen der Erde an der Nase zu fassen und Engelsköpfen in
den Locken zu wühlen, und weder die Hühnerangenkünstler, Badediener,
Masseure, Masseusen und Wehmütter, noch die Schornsteinfeger haben bis jetzt
Besorgnis vor der Konkurrenz der Dampfmaschine geäußert. Den Nagelschmied
verschlingt die Fabrik; den Hufschmied wird sie sein an: Amboß lassen, denn
das Pferd will mit Hand und Auge bedient sein; auch ist kein „Dörflein so
kleine," in dem sich nicht Rad- und Deichselbrüche ereigneten, zu deren Heilung
der Meister Schmied und der Nachbar Stellmacher zusammenwirken müssen.
Alle diese Gewerbe lassen sich teils ohne, teils mit einem ganz geringen Kapital
betreiben.
Manche Gewerbe sind von Haus aus und ihrer Natur nach Neparatur-
gewerbe, nicht etwa erst durch die Konkurrenz der Dampfmaschine dazu herab¬
gedrückt worden. Hauptvertreterin dieser Gattung ist die gewöhnliche Uhr-
macherei. Die Anfertigung neuer Uhren ist als rentables Gewerbe, wie sich
jeder selbst klar machen kann, nur im großen bei weitgehender Arbeitsteilung
möglich. Die Büchsenschäfter und Goldschmiede sind erst in neuerer Zeit zu
Neparaturhandwerkern herabgedrückt worden. Der Optikus und Mechanikus
bezieht zwar die meisten seiner Waren fertig, stellt aber auch einzelne selbst
her und findet Gelegenheit, die erworbene Kunstfertigkeit bei Telegraphen-,
Telephon- und andern ähnlichen Anlagen zu bethätigen. Der Gerber, der Sattler,
der Tapezierer, der Instrumentenmacher, der Orgelbauer, der Buchdrucker
dürften sich kaum über die Dampfmaschine beklagen. Einige der Genannten
ziehen sie in ihren Dienst, andre haben überhaupt nichts mit ihr zu schassen.
Mit der Dampfmaschine kann man weder Tapeten ankleben noch den Gardinen
einen schönen Faltenwurf geben. Einiges Kapital gehörte zu allen diesen Ge¬
werben von jeher. Ein Sattler, der das Leder in kleinen Stücken auf Borg
beziehen müßte, würde besser thun, er schlösse seine Werkstatt und arbeitete als
gut bezahlter Geselle bei einem größern Meister. Weniger Kapital erfordert
die Buchbinderei. Auch ihre Verhältnisse haben sich nicht sehr geändert. Es
lst nur ein kleiner Teil ihrer Beschäftigung, den die Buchbinder der amusischen
Philisterstädte durch jene Prachtbände verlieren, mit denen namentlich die schön¬
geistigen Litteraturerzeugnisse schon an den Sitzen des Bücherverlags bekleidet
werden.
Die Nahrungsmittelgewerbe werden ebenfalls vom Kapitalismus wenig
und von den Fortschritten der Technik höchstens in angenehmer Weise berührt.
Der Koch von heute erfreut sich zweckmäßigerer Öfen als sein Amtsvvrgänger
vor hundert Jahren. Dem Wurstmacher erleichtern Fleischbank- und Fttll-
maschinen die Arbeit. Von den Vorteilen, die die Chemie den Brauern,
Schnaps- und Weinfabrikanten gewährt, wollen wir lieber nicht reden. Seine
Frühstücksemmeln bezieht niemand aus einer entfernten Fabrik, denn jeder Null
sie frisch genießen. Dasselbe gilt von den meisten Zuckerbäcker- und Pfeffer¬
küchlerwaren. Ganz ohne alles Kapital haben diese Gewerbe (mit Ausnahme
des, Kochens, da der Koch seine Kunst entweder als Angestellter oder als Lohn¬
arbeiter ausübt) auch früher schou niemals betrieben werden können, weil die
Einrichtungen und Rohstoffe Geld kosten. Größe und Reichtum der Bäckereien
und Fleischereien finden wir natürlich nach der Größe der Orte abgestuft, an
denen sie sich befinden. Wenn manche Brauereien sich zu einem Umfange aus¬
dehnen, der ihnen gestattet, ihren technischen Leitern Ministergehalte zu zahlen,
so ist das für diese kein Unglück, und die mittlern und kleinern Brauereien
bleiben daneben an mittlern und kleinern Orten fortbestehen. Etwas anders
verhält es sich mit der Mutterei; die Windmühlen und die kleinen Wasser¬
mühlen gehen allmählich ein. Daß dieses Gewerbe seit Einführung der Dampf¬
maschine überhaupt nicht mehr von Wind und Wasser abhängt, ist ein Glück
fürs Volk: eine Mnhlteuerung infolge des Austrocknens der kleinen Wasserläufe
kann nicht mehr eintreten. Was dem Müllereigewerbe in den letzten Jahren
manchmal das Leben schwer gemacht hat, das war die Störung der Ein- und
Ausfnhrverhältnisse dnrch den Zollkrieg, hängt also mit dem Maschinenwesen
nicht zusammen.
Das Kunsthandwerk (Goldschmiede, Graveure, Drechsler, Tischler, Schlosser,
Lithographen, Porzellanmaler u. s. w.) befindet sich in der eigentümlichen Lage,
unsre Zeit zugleich preisen und anklagen zu müssen. Unsre Zeit hat es, dank
dem wiedererwachten Geschmack und dem gesteigerten Nationalreichtum, aus
langem Erstarrungsschlafe zu neuem Leben erweckt; aber zugleich erschwert sie
den Absatz seiner Erzeugnisse durch billige Nachahmungen, die in Masse zu
produziren ihrer hochentwickelten Technik ein leichtes ist. Nur ein Kennerauge
vermag die unechten, mit der Maschine gepreßten Schmucksachen von der müh¬
samen Handarbeit des Ciseleurs zu unterscheiden; dasselbe gilt von guß- und
schmiedeeisernen Gittern, mit der Maschine gedrehten Möbelverzieruugen u. s. w.
Mittelmäßige Maler können neben der Photographie und dem Ölfarbendruck
nicht mehr aufkommen, was ja vielleicht ein Vorteil für die Kunst, aber ein
Unglück für viele, wenn auch nicht geniale, so doch ganz tüchtige Menschen ist.
Emailleverziernngen stellt Professor Schirm in Berlin auf photographischem
Wege her u, s. w. Gegen diese Übel, wenn es solche sind, giebt es aber zwei
Heilmittel, die allerdings verbunden wirken müßten: stetige Hebung des Ge¬
schmacks und Verbreitung des Reichtums. Je mehr Personen sähig sind, die
künstlerische Handarbeit von der Fabrikware zu unterscheiden und zu würdigen,
und zugleich die Mittel haben, teure Gegenstände zu kaufen, desto mehr ver¬
bessern sich die Aussichten des Kunsthaudwerkers. In ähnlicher Lage wie die
eigentlichen Knnsthandwerke befinden sich manche Industrien, die daran grenzen,
wie die Spielwaren- und Galanteriewarenfabrikation. Diese wurden auch
früher schon insofern fabrikmäßig betrieben, als die darin beschäftigten Hand¬
werker kolonienweise beisammen wohnten, teils in armen Gebirgsgegenden, teils
in großen Städten (Paris!) und der Absatz ihrer Erzeugnisse durch Gro߬
händler oder Unternehmer vermittelt wurde. In neuerer Zeit bemächtigt sich
aber die Großindustrie mehr und mehr dieser Gegenstände und drückt den
Hansindustriellen, der früher dem Abnehmer als selbständiger Verkäufer gegen¬
überstand, in das Verhältnis eines Arbeiters herab, der vom Prinzipal die
Rohstoffe und Aufträge empfängt und mit Stücklohn bezahlt wird. Hie und
da ist er auch genötigt, die häusliche Fabrikation aufzugeben und in die Fabrik
zu gehn. Der Klempner verwandelt sich, soweit er nicht Vauarbeit ausführt,
mehr und mehr in einen Händler, der im übrigen nur Reparaturen besorgt.
Doch darf man die Lichtseite dieser Umwandlung nicht übersehen. Der heutige
Klempner fertigt zwar die schönen Lampen, die sein Schaufenster zieren, nicht
selbst an. Allein die geschickteren Arbeiter der großen Lampenfabriken verdienen
wahrscheinlich mehr und erfreuen sich eines behaglichem Daseins als mancher
der Klempner, die vor fünfzig Jahren Öllampen mit grünen Blechschirmen
anfertigten.
Nur zwei Klassen von Handwerken sind es, die wirklich durch das Gro߬
kapital und die Dampfmaschine teils geschädigt, teils vernichtet werden: die
Textilgewerbe durch die Dampfmaschine, die Bekleidungsgewerbe dnrch das
Kapital. Was das Verhältnis der Weber zum Kapital anlangt, so war das
schon im Mittelalter hie und da ähnlich wie hente. Während es allerdings
den Tuchmacherzünften in Deutschland gelang, durch gesetzliche Beschränkung
der Znhl der Webstuhle, die ein Meister aufstellen, und der Gesellen, die er
beschäftigen durfte, die Fortentwicklung der wohlhabenderen, geschickteren und
unternehmeuderen Meister zu Fabrikanten zu verhindern, wurde in Florenz die
Tuchmacherei schon im vierzehnten Jahrhundert ganz fabrikmäßig mit obligaten
Arbeiteraufständen betrieben. In einigen Gegenden Englands gelang es den
Tuchmachern, sich als Korporationen bis in den Anfang unsers Jahrhunderts
herein zu behaupten. Die Dampfmaschine hat nun das Spinnrad vernichtet
und steht im Begriff, auch deu Webstuhl zu vernichten. Doch ist die Mög¬
lichkeit nicht ausgeschlossen, daß der Webstuhl auf dem von Siemers bezeich-
unter Wege in vollkommnerer Form wieder hergestellt werde. Auch hier kommt
die Kunst dem Handwerk zu Hilfe; je mehr der Geschmack an Leinen- und
Seidendamast, an Brokaten, an neuen, selbständig erfundenen Mustern steigt,
desto weniger vermag die Maschine mit dein durch die beständige Mitwirkung
von Auge und Geist unterstützten Handweber zu konkurriren. Die höchste
Stufe der Weberei, die Gobelinweberei, bleibt der Handarbeit sicher. Die Be-
klcidungshandwerker haben die Maschine nicht zu fürchten, im Gegenteil er¬
leichtert ihnen die Nähmaschine ihre Arbeit ganz außerordentlich. Dagegen
geraten sie mehr und mehr in die Hörigkeit kapitalistischer Unternehmer. Es
sind dies namentlich die Schneider, Schuhmacher und Handschuhmacher samt
ihren Leidensgefährtinnen, den Konfektionsdamen, Putzmacherinnen, Wäsche-
näherinnen, Stickerinnen, Wollarbeiterinnen, Posamentennrbeiterinnen n. s. w.
Aber auch ihretwegen braucht man nicht zu verzweifeln, vielmehr darf man
ihre Wiederherstellung durch reformirte Innungen und namentlich durch eine
Reform deS Kreditwesens (nicht im Sinne der Vorschnßvereine) erwarten.
Obwohl unsre Übersicht auf Vollständigkeit keinen Anspruch erhebt, haben
wir doch eine stattliche Reihe von Gewerben gefunden, die sich weder von der
Dampfmaschine noch vom Großkapital bedroht fühlen, und was die bedrohten,
geschädigten und teilweise vernichteten anlangt, so vermochten wir auf einen
Rettungsweg hinzuweisen. Durch das Geschrei: die Zeit des Handwerks sei
ein für allemal vorüber, es habe einfach der Großindustrie Platz zu machen,
darf man sich nicht beirren lassen. Dieses Geschrei wird in einer dafür be¬
zahlten Presse im Auftrage vou Leuten erhoben, die ein Interesse daran haben,
die Handwerker von allen Versuchen korporativer Selbsthilfe abzuschrecken und
sie zu entmutigen. Wenn übrigens auch die Fabrikation gewisser Stück für
Stück gleichartiger Gegenstände des Massenverbrauchs, wie der glatten Ge¬
webe, der Großindustrie für immer verbliebe, so würde dadurch dem Hand¬
werk doch nur ein kleiner Teil seines Gebiets entzogen sein, ohne daß sein
Bestand im großen und ganzen angetastet würde. Ist nun aber der Fort¬
bestand des mittlern und kleinen Gewerbebetriebes gesichert, so ist anch die
Anhäufung der Handwerker in Großstädten und der Gewerbenrbeiter in Industrie-
bezirken nicht in dem Grade nötig, wie wir sie jetzt erleben, vielmehr ihre Ver¬
teilung übers Land möglich, und sie wird um so leichter durchzuführen sein,
je mehr durch die Vervollkommnung der Einrichtungen für Kraftübertragung
der Betrieb kleiner Maschinen ermöglicht und durch Nnsgestnltuug der Bahn-
nnd Kanalnetze der Absatz der Erzeugnisse nud die Herbeischaffung des Roh¬
materials erleichtert wird. Ob aber dieser Dezentralisirnngsprozeß eintritt, und
wie rasch oder langsam er fortgeht, das hangt ganz wesentlich davon ab, ob
die Großstädter Lust haben, aufs Land zurückzukehren, und ob die Kleinstädter
und die Dörfler Lust haben, daheim zu bleiben; ob ihnen das Freie besser ge¬
fällt als mauerumschlvssene Räume. So stoßen wir denn zum zweitenmale
auf eine Geschmacksfrage. Gewöhnlich versteht man unter innerer Kolonisation
die Besiedelung von Parzellen großer Güter (unkultivirtes Land haben wir
in Deutschland nur uoch sehr wenig) mit Kleinbauern. Da aber Landwirt¬
schaft und Industrie in enger gegenseitiger Abhängigkeit von einander stehen
die Gutsbesitzer der industrielosen Provinzen Ost- und Westpreußen werden
ihr Getreide daheim nicht los, und Mittel- und Westdeutschland mag es
uicht — so haben wir die Gewerbe mit einbezogen und dem Begriff einen
weitern Umfang gegeben.
Was nun die innere Kolonisation in dem bisher üblichen Sinn anlangt, so
können wir die bekannten darauf gerichteten Maßregeln des preußischen Staates
sehr kurz abfertigen. Die Zahl der Westdeutschen Landwirte, die durch das
Ansiedelnngsgesetz für Posen und Westpreußen in diese dünner bevölkerten
Gegenden übergeführt werden kann, ist, selbst wenn alles nach Wunsch geht,
so gering, daß eine erhebliche Verschiebung der Bevölkerungsverhältnisse da¬
durch nicht bewirkt wird; zudem wird der Abfluß deutscher Bauern aus dem
Westen durch den Zufluß polnischer Arbeiter dahin mehr als ausgeglichen.
Der Gesetzentwurf über die Rentengüter aber ist zwar im Herrenhause als
gutgemeint und unschädlich angenommen worden, aber zugleich haben die meisten
der Großgrundbesitzer, die am 22. März und am 25. April das Wort er¬
griffen, rund heraus erklärt, daß uach ihrer Ansicht von dem Gesetze nur
wenig Gebrauch gemacht werden wird; und die Herren sind doch ohne Zweifel
Sachverständige.
Auch hier wird alles auf den Geschmack ankommen. Hie und da war
der Arbeitslohn der ländlichen Tagelöhner in den östlichen Provinzen so tief
gesunken, daß sie schlechterdings nicht mehr dabei bestehen konnten und aus¬
wandern mußten. Nehmen wir aber auch an, daß er jetzt durch die Sachsen-
gängerei ein wenig hinaufgeschraubt worden und auskömmlich sei, so muß man
doch aus der Fortdauer des Abflusses schließen, daß es den Leuten in Sachsen,
M Westen und in den großen Städten besser gefällt als daheim. Wer das
bessere kennen gelernt hat, dein gefällt eben das Schlechtere nicht mehr. Dazu
kvnimt noch ein merkwürdiger Umstand. Seit mehr als zwei Jahrzehnten be¬
obachte ich mit steigender Verwunderung, wie geflissentlich man in gewissen
legenden unsers Vaterlandes bemüht ist, den Landleuten, und namentlich den
Endlichen Arbeitern, die Heimat zu verleiden dnrch allerlei Polizeivorschriften
Kilt Maßregeln, die mehr Dienst- und Pflichteifer als Menschenkenntnis und
Weisheit verraten. Ja wenn es sich um Zustände handelte, wie die in Ur. 13
d^r Grenzboten geschilderten des Vogelsberges! Aber davon ist keine Rede.
handelt sich um ganz harmlose Dinge, um die Kirmeßfeier und den Sonntags-
^uz, die voriges Jahr in den Grenzboten erwähnt wurden, und ähnliches.
-Man den» auch oft genug die Klage, daß es „Genußsucht, Vergnügungs¬
sucht und das Verlangen nach Ungebundenheit und Zügellosigkeit" sei, was
die Leute forttreibt. Ja du lieber Himmel! Sein bißchen Vergnügen will
halt jeder Mensch haben, und was der ländliche Arbeiter, der im Sommer
Wochentags von früh um vier bis abends acht Uhr Schanze, des Sonntags
teils für fünfzig Pfennige, teils kostenlos sich verschaffen kann, ist nicht über¬
mäßig viel. Will man, daß er dem entsage, so muß man ihm entweder die
Mönchsgelübde abnehmen oder ihn an die Kette legen. Ohne Gelöbnis und
unangebunden bleibt kein gesunder Mensch auf die Dauer an einem Orte, wo
ihm verwehrt wird, sich auf seiue Weise zu Vergnügen. Auf feine Weise, das
versteht sich von selbst. Mulet man den Pferdeknechten und Stallmägden zu,
sich ihre freie Zeit etwa mit Goldschnittlitteratur zu vertreiben, so müssen die
Herrschaften ihre Glaeeehnndschuhe ausziehen und selber Mist laden, Kartoffeln
und Steine klauben; fein gewordene Knechte und Mügde thun das nicht mehr.
Der Verfeinernngsprvzeß macht so hübsche Fortschritte, daß die Eiferer für
Volksbildung ihre helle Freude daran haben müssen. Der Stallmagd wird
beigebracht, daß ihr hergebrachtes für die Arbeit in der Mistpfütze allein ge¬
eignetes Kostüm unanständig sei. Sie legt Beinkleider und lange Röcke an.
Das ist unbequem und kostet Geld. Dadurch wird ihr der ohnehin schwere
Dienst noch lästiger. Bald findet sie, daß auch die meisten ihrer Verrichtungen
an sich schon unanständig seien. Im nächsten Städtchen sitzt ein Menschen¬
freund, der — natürlich nur aus reiner Nächstenliebe — der armen Bevölke¬
rung der Umgegend mit einer neuen Industrie unter die Arme greift. Er
läßt filiren, häkeln, Wollfäden knüpfen. Bald sitzen in den benachbarten
Dörfern alle Kinder, sitzen und knüpfen, knüpfen von früh bis in die Nacht,
knüpfen sich lahm, bucklig, blind und blödsinnig. Auch unsre Kuhmagd greift
zur Filetnadel, die sich ja bedeutend leichter handhabt als die Mistgabel. Sie
ist nun eine Dame, ein Fräulein, sie stolzirt Sonntags in Kleidern herum,
die nach der neuesten Pariser Mode zugeschnitten sind, und siedelt sie in die
Stadt über, so kann sie überdies jeden Sonntag zu Tanze gehen. Nach ein
paar Jahren verduftet der Wohlthäter der Menschheit, nachdem er einigen
tausend jungen Landleuten das Mark aus den Knochen gesogen und zu Gelde
gemacht hat. Nun persuades unsre Kuhmagd wieder mit Sichel und Dünger¬
gabel. Allein es geht nicht mehr; bei ihrer Tündelarbeit und bei kraftloser
Nahrung hat sie ihre Muskelkraft und Gliedergelenkigkeit eingebüßt. So wird
von unserm kräftigen Volke eine Schicht nach der andern verfeinert und ver¬
krüppelt. Es giebt noch andre Dinge, die den Leuten in manchen Gegenden
das Leben leid machen. Rigorose Bestrafung der Schulversäumuisfe gehört
auch dahin. In eiuer frühern Nummer der Grenzboten wurde über das
Gegenteil geklagt. Aber man muß die Verhältnisse der armen, dünn bevölkerten
Landesteile erwägen: die Schule weit entfernt; der Weg bei Regenwetter un¬
ergründlich, bei Frostwetter Schneestürmen ausgesetzt; Kleidung und Schuhe
schlecht oder gar nicht vorhanden; im Sommer zu Hause kleine Geschwister,
die sich und das Hans anzünden, während die Eltern auswärts ans Arbeit
>ind; manchmal eine kranke Mutter oder Großmutter, die allein zu lassen
grausam wäre; und nnn von den paar Pfennigen Wochenlohn, die kaum für
Brot reichen, auch noch Strafgeld zahlen! Es ließe» sich Bücher darüber und
über ähnliche Sachen schreiben.
le Stadt Wetzlar an der Lahn gehört zu den ältesten Nieder
lassungeu Deutschlands. Nach sagenhafter Überlieferung bereits
zur Zeit der Römer gegründet, erscheint sie geschichtlich zuerst
in einer Urkunde Ottos des Großen vom Jahre 943 n. Chr., wo
die Stadt V/MllMg. heißt. Nachdem sie im Jahre 1180 n. Chr.
von Kaiser Friedrich I. den ersten Freibrief erhalten und damit den Grund zu
ihrer Reichsunmittelbarkeit gelegt hatte, gelang eS ihr, im Bunde mit den
drei untern ivetteraui scheu Städten: Frankfurt am Main, Gelnhausen und
Friedberg in Hessen, ihre Macht dein Neichsoberhaupt gegenüber mehr und mehr
Zu stärken, sodaß sie im dreizehnten Jahrhundert bereits wagen konnte, dem
Kaiser selbst Trotz zu bieten, allerdings nicht lange. Es geschah das in der
etwas sagenhaften Episode des Tile Kolup, eines ehemaligen Mönches, der sich
für den verstorbenen Kaiser Friedrich I. ausgab. Nachdem er in Köln um
Rhein und Neuß vergeblich versucht hatte, die Menge für sich zu erregen, kam
er nach Wetzlar und fand dort bei der Bürgerschaft Glauben und Unterstützung.
Als sich auch einige deutsche Fürsten ihm anschlössen, wurde er kühner und
maßte sich das Schiedsrichteramt in einem zwischen den Friesländern und dem
Grafen Florens von Holland ausgebrochenen Streit an. Zwar leistete der
Graf der an ihn ergangenen Ladung nicht Folge; aber der Pseudokaifer ließ
sich nicht abschrecken: in einem trotzigen Schreiben forderte er selbst den neu-
gewählten Kaiser Rudolf von Habsburg vor feine Schranken. Die Folge war,
daß Kaiser Rudolf gegen die abtrünnige Stadt zu Felde zog und sie zwang,
den Betrüger auszuliefern. Noch heute führt ein kleines Wiesenthal in der
Nähe der Stadt, wo Tile Kolnp zur Strafe deu Feuertod gestorben sein soll,
den Namen „Kaisersgrund," und ein Reichskainmergerichtsbeisttzer Hut das An¬
denken des merkwürdigen Abenteurers dnrch einen an den Ort gesetzten mäch-
tigen Stein vor der Vergessenheit zu bewahren gesucht; eine lateinische Inschrift
überliefert sein Schicksal der Nachwelt. Dies Ereignis ist im Laufe der Jahr¬
hunderte von einem ganzen Mythenkreis umsponnen worden, und es ist schwer
zu unterscheiden, was wahr und was falsch daran ist. Neuerdings haben
verschiedne Städte um Tile Kvlup gestritten, fast wie ehedem die sieben helle¬
nischen Städte um ihren Homer: mau hat die Wirksamkeit des falschen Friedrich
bald hier- bald dorthin verlegt, ja ganz geleugnet, das; er jemals gelebt habe —
dieses sicher mit Unrecht.
Das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert bezeichnet, wie bei vielen
deutschen Städten, so auch bei Wetzlar den Höhepunkt seiner Macht. Mit
dein sinkenden Wohlstande der Bürger schwand auch das Ausehen nach außen.
Innere Streitigkeiten zwischen den Geschlechtern und den Zünften führten eine
weitere Schwächung herbei, und allmählich gewährte sie, wie so viele ihrer
Genossinnen, das halb traurige, halb komische Bild eines Kleinstaates, wie sie
damals überall auf dem fruchtbaren Boden des ehrwürdigen deutschen Reiches
wucherten. Das Kontingent der freien Reichsstadt, die im Reichstage den
vierzehnten und letzten Platz ans der rheinischen Städtebank einnahm, bestand
nach der Reichsmatrikel aus acht Mann zu Fuß, einer Mannschaft, der
sie „die nötigen Unteroffiziere und einen Oberoffizier" vorzusetzen hatte; ihr
Beitrag zu der für die Unterhaltung des Neichsheeres bestimmten „Reichs¬
operationskasse" betrug 32 Gulden. Außerdem besaß Wetzlar zu eignem Schutz
eine Bürgerwehr, für deren Verhalten ans Wache „Bürgermeister und Rath
der Kaiserlichen und des Heiligen Reichs Freyen Stadt" im Jahre 1746 eine
Ordnung zu erlassen für gut fanden. Darin wurde den wachhabeudeu Bürgern
aufgegeben, „sich des Vrandeweinsaufens zu enthalten," und weiter bestimmt,
„daß ans ein Mal nicht mehr als ein Mann von der Wacht bei würklicher
Straf nach dem Essen gehen soll, damit die Wacht an nöthiger Mannschaft
nicht entblößet werde"; der die Wache habende Offizier sollte alle Morgen und
Abend „dem Herrn Bürgermeister und Stadthauptmann geziemend rapportiren"
und „nach löblichem Brauch und Herkommen auf Sonn- und Feyertagen, be¬
sonders unter der Kirche, die Stadtthore verschlossen halten." In einem „Kriege"
mit darmstädtischen Truppen erhielt diese Bürgerwehr Gelegenheit, eine Probe
ihres Mutes und ihrer Geschicklichkeit abzulegen. Es war im spanische» Erb-
folgekriege. Französische Truppen schwärmten ziemlich dicht an die Stadt heran,
nud der Landgraf von Hessen-Darmstadt hielt es, als vom Kaiser bestellter
Schutzvvgt der Stadt, für seine Pflicht, zur Verteidigung herbeizueilen. Die
guten Wetzlarer aber, vielleicht uicht ohne Grund für ihre Freiheit fürchtend,
schlössen vor dem unerwünschten Helfer die Thore und warfen die Hessen, die
jetzt aus Verteidigern der Stadt Belagerer wurden, von den Stadtmauern mit
Steinen. Sechs Tage währte diese denkwürdige Belagerung, einem Frosch¬
mäusekriege nicht »»ähnlich. Eine kurz darauf erschienene Spottschrift von den
Reichsta!>nnergerichtsprvkuratvre>i vo» Pulian und r),-, Liudheimer, betitelt
Ilinrium, od8essioni!? ^etslariensi^, hat uns einige ergötzliche Züge daraus
überliefert. Mit vortrefflichem Humor wird in diesem „Diarium" erzählt, wie
die Verteidiger in einer dunkeln Nacht einen Esel mit wohlgezielten Flinten¬
schüssen zu Boden strecken, in der Meinung, es sei ein Spion; wie sie in
Furcht und Entsetzen geraten und glauben, der Feind werfe Faschinen in den
Stadtgraben, als nächtlicherweile ein Fisch im Wasser aufspringt. Bor dem
Entscheidungskampfe halt der Höchstkommandireude große Heerschau und er¬
nährt sie zu ritterlicher Gegenwehr: „Darum schlagt an, wenn sie anschlagen,
und gebt Feuer, wenn sie geschossen haben, sonst könnte ein großes Herzeleid
entstehn." Auf den Einwand eines Tapfern, sie könnten jn in finsterer Nacht
uicht sehen, wann der Feind anschlüge, faßt sich der Führer schnell und sagt:
„Es ist anch wahr, drum, wenn sie Kourage hätten, so kämen sie bei Tag,
daß man sie sehen könnte." Nun rücken die Truppe» ius Gefecht, man steht
dem Feinde gegenüber. „Wie man nnn fast eine Viertelstunde das Weiße in
den Augen gesehen, indeß des Hessischen Majors Pferd mit flachem Degen und
Mistgabelstreichen wacker zum Tanz aufgemuntert wurde, konnte dasselbe dies
Ausspielen länger uicht aushalten und sprengte einem vornehmen Metzger aufs
Aug, daß man ihn blind zu sein vermeinte; worauf sich die Schlacht, jedoch
ohne Blutvergießen geendigt." Schließlich bequemte sich der Rat zur Übergabe;
die Wachmannschaften am Thor, die sich gerade am reichlichen Frühstück labten,
merkten von der Kapitulation nicht eher etwas, als bis die hessischen Truppen
in die Stadt eingezogen waren. Der Sieger aber suchte den Uunbhängigkeits-
gelüsten der Bürger dadurch vorzubeugen, daß er von da an eine ständige
Besatzung in die Stadt legte.
Wie in ihren inneren politischen Verhältnissen, so war sie aber auch
i» ihrer äußern Erscheinung ein richtiges Krähwinkel. Noch Goethe sagt:
«Die Stadt selbst ist unangenehm," und doch war seit dem Einzug des Neichs-
kammergerichts manches besser geworden. Wenn wir den Schilderungen der
Gewährsmänner ans dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts glauben dürfen,
so muß der Zustand der inneren Stadt geradezu abschreckend gewesen sein.
Man stelle sich die engen und winkligen Güssen unsrer mittelalterlichen Städte
auf abschüssigem Boden vor, einem Boden, der manchmal so starkes Gefall hat,
dnß Treppen in die Straßen haben eingehauen werden müssen. Bei Regen,
Schnee oder Glatteis sind diese Strafzeit noch heute geradezu lebensgefährlich.
Wie erst damals! In dem Bericht einer Chronik heißt es, die Straßen seien
tuts gar uicht, teils sehr übel gepflastert und äußerst unflätig. Und wie
waren die Häuser, die an diesen Straßen standen! Derselbe Chronist berichtet,
die Stadt habe nur hölzerne, mit Stecken geflochtene und mit Lehm übertünchte
Häuser, die großenteils nur mit Stroh gedeckt und mit hölzernen Schornsteinen
versehen seien; in deu Häusern wie in den engen Straßen herrsche eine feuchte,
ungesunde Luft und ein mit der starken Viehzucht an Pferden, Rindvieh und
Schweinen verbundener übler Geruch; vor den Häusern lägen die Misthaufen,
sodaß kaum ein Wagen vorüberfahren könne.
Kein Wunder, daß des heiligen römischen Reiches Kammergericht sich
schwer entschloß, sein dauerndes Heim in den Mauern der guten Reichsstadt
aufzuschlagen. Es geschah in der That nur der Not gehorchend, nicht dein
eignen Triebe.
Seit dem Jahre 1527 hatte das höchste Gericht des deutschen Reiches
in Speier getagt, war aber von dort durch den Eroberungszug Melach, der
die schönsten Städte der Pfalz in rauchende Trümmerhaufen verwandelt hatte,
im Jahre 1689 vertrieben worden. Das Gericht war nun obdachlos, und
man mußte das Schauspiel erleben, daß sich fast alle Reichsstädte, die man
um Aufnahme ersuchte, weigerten, dem Reichskammergericht Gastfreundschaft
zu gewähren. So hatten Frankfurt a. M, Schweinfurt, Memmingen, Augs¬
burg it. a. mit Beharrlichkeit die Aufnahme verweigert, ja Frankfurt ging so
weit, daß es den Mitgliedern des Gerichts den Aufenthalt nnr ans kurze Zeit
und gegen Schein gestattete. Erst einem Reichsschluß, der die provisorische
Abhaltung der Sitzungen in Frankfurt anordnete, beugte sich die stolze Stadt.
Mnu muß sich wundern, daß sich noch Männer fanden, die trotz solcher
Demütigungen in ihrer einmal übernommenen Pflicht auszuharren bereit waren.
Ein erfreuliches Bild deutscher Ausdauer und Gewissenhaftigkeit! Schade,
daß dieses würdige Geschlecht so bald ausstarb, und daß bei den nächsten Ge¬
schlechtern Mißbräuche hervortraten, die einen trüben Schatten auf die ganze
Geschichte des Neichskammergerichts werfen.
Nur zwei Reichsstädte erklärtem sich zur Aufnahme bereit, Wetzlar und
Friedberg (in Hessen). Beiden schien das Reichskammergericht eine vortreffliche
Gelegenheit zu bieten, den verarmenden Bürgern neue Erwerbsauellen zu
schaffen. Das Gericht sandte daher fünf seiner Mitglieder nach Wetzlar, um
die Stadt in Augenschein zu nehmen. Der Bericht, den diese Abordnung
erstattete, faßte das Ergebnis der Untersuchung in die Worte zusammen, die
Stadt sei zwar eine Reichsstadt, aber so ganz unansehnlich, daß das Kammer¬
gericht ohne eine Verminderung der ihm gebührenden Würde, selbst ohne
Nachteil der Hoheit des heiligen römischen Reiches darinnen nicht wohnen könne.
Der Rat der Stadt, der von dem ungünstigen Bericht gehört hatte, ver¬
sprach Abstellung aller Mängel, und so entschloß sich das Gericht, nach vier-
bis fünfmonatlichen Zögern, Wetzlar zu seinem Sitz zu erwählen. Das
Gericht hat dann nacheinander drei Gebände in der Stadt innegehabt; seine erste
Sitzung hielt es am 30. Januar 1690 im alten Rathaus ab, das der Rat
fürs erste zu diesem Zweck eingeräumt hatte. Als „Audienzsaal" wurde der
im Rathause befindliche Tanzboden benutzt, worin die Geschlechter der Stadt
nach mittelalterlichen Brauch vordem ihre Festlichkeiten, insbesondere ihre
Hochzeiten gefeiert hatten.
Es muß ein wunderbarer Gegensatz gewesen sei», als sich das hohe Ge¬
richt mit dem ganzen äußeren Pomp und Gepränge seiner Würde durch die
schmutzigen und engen Gassen der Stadt bewegte und vor der Kammer, d, h.
dein Gebunde des Kammergerichts, auffuhr: Läufer und andre Bediente des
Kammerrichters eröffnen den Zug, dann kommen die Unterbeamten des Ge¬
richtes, Schreiber n. dergl., zu Fuß, ihnen folgen zu Wagen die Reichs-
kaminergerichtsbeisitzer, d. h. die ordentlichen Mitglieder des Gerichtshofs, und
endlich erscheint der Kanunerrichter in hoher Person, in einem sechsspännigen
Wagen, umgeben von Edelknaben und Heiducken; die Assessoren lassen ihre
Bedienten gleichfalls vorangehn. Düster hebt sich die schwarze spanische Mnntel-
tracht der richterlichen Beamten von den farbigen Gewändern der Dienerschaft
und dem schlichten Bürgerkleid ab, als ein Merkzeichen, daß eine breite Kluft
die hochgeborenen Richter von den übrigen trennt. Gehörten doch die Gerichts-
ȟtglieder fast ohne Ausnahme dem Adel an, der sich in damaliger Zeit noch
ganz anders als besonderen hervorgehobenen Stand fühlte als jetzt. Zwar
bestand der Grundsatz, daß auch „die der Rechten gewürdigten," d. h. rechts¬
gelehrten Bürgerlichen zu Assessoren erhoben werden konnten, aber thatsächlich
kommen wenig bürgerliche Namen in der Geschichte des Reichskammergerichts vor.
Der Kammerrichter, d. h. der Vorsteher des gesamten Gerichts, mußte
unmittelbar von hohem, reichsunmittelbaren Adel sein, ebenso seine beiden
Stellvertreter, die Kammergerichtspräsidenten; dies deshalb, weil über die
Fürsten und Fürstenmüßigen des Reiches nur Ebenbürtige zu Gericht sitzen
konnten. Wurde eine solche Sache verhandelt, so führte der Kannnerrichter
oder ein Präsident den Vorsitz, neben ihm saßen vier Assessoren, während sonst
auch ein Assessor Präsidiren konnte und nur zwei Beisitzer erforderlich waren.
Nach der Neichskammergerichtsordnnng vom Jahre 1495 sollten im ganzen
vierundzwanzig Beisitzer angestellt werden; man begnügte sich aber mit zwölf,
da die Mittel nicht aufgebracht werden konnten. Schon damals zeigte sich der
Mangel, den Goethe den ersten und ewigen Grundfehler des Neichskammer-
gerichts nannte: die Geldnot; sie wurde die Quelle aller übrigen Übel und
Miszbräuche. Im westfälischen Frieden hatte man zwar die Zahl der Assessoren
auf fünfzig erhöht, aber diese blieb gleichfalls auf dem Papier, man mußte sie
1720 wegen des säumigen Eingangs der „Kammerzieler," d. h. der Matriknlar-
beiträge der Reichsstände, wieder auf fünfundzwanzig herabsetzen.
Die Ernennung des Kammerrichters und der beiden Präsidenten erfolgte
durch den Kaiser, die Assessoren wurden durch die Neichsstünde dem Kammer¬
gericht präsentirt. Präsentanten waren der Kaiser, alle Kurfürsten und alle
Kreise, außer dem kurrheiuischeu. Wie der ganze Geschäftsgang am Reichs¬
kammergericht, so war auch das Verfahren bei der Kooptation eines Beisitzers
lehr weitläufig: mit dem Präsentationsschreiben versehen, begab sich der Kan¬
didat, meist schon ein älterer Mann von Rang, an den Sitz des Reichskanuner-
Gerichts und tourbe hier zunächst einen? feierlichen vxiimLn Asuvr^Je! unter¬
worfen, bei dein seine Examinatoren, zwei Beisitzer des Gerichts, sich mit
bedecktem Haupt auf ihren Platz setzten, während der Examinand auf einem
niedrigen Schemel Platz nahm und nun nach Namen, Religion, Adel und ob
und wo er promovirt habe, gefragt wurden Darnach erhielt er einen „Stock"
Akten zur Relation, und das sxuurvn AsinziÄv war zu Ende. Wurde die
Relation in dem darauf folgenden öxairuzn spsomlc- für genügend erachtet, so
wurde er gewählt und einberufen, manchmal freilich erst uach Jahren. Seine
feierliche Einführung erfolgte in öffentlicher Sitzung des Gerichts: hinter dem
Pedell, der den Gerichtsstab in der erhobenen Rechten trägt, tritt der neu-
erwählte Assessor in den Saal vor das versammelte Gericht; in der Mitte sitzt
der Kammerrichter ans einem drei Stufen hohen Thron in einem rotsammtenen,
mit goldnen Tressen besetzten Armsessel, unter einem Baldachin von rotem
Seidenzeug mit goldnen Tressen; zu seiner Rechten und Linken stehen zwei
Lehnstühle für die beiden Präsidenten, daran reihen sich die rotausgeschlagnen
Bänke für die Assessoren. Sobald der Pedell vor der feierlichen Versammlung
angekommen ist, überreicht er dem Kammerrichter den Gerichtsstab, der neu¬
ernannte Beisitzer spricht dem Protvnotarius, d. h. dem ersten Gerichtsschreiber,
deu Eid nach und berührt den Gerichtsstab, während alle übrigen Mitglieder
des Gerichts, die bis dahin gesessen haben, sich erheben und das Haupt ent¬
blöße!?. Damit ist der Präsentirte ordentliches Mitglied des Gerichts
geworden.
Der äußere Glanz, deu das Reichskammergericht entwickelte, behagte deu
gewerbtreibenden Klassen der Stadt, da es ihre Einnahmen vermehrte. Sie
ließen sich deshalb das oft hochfahrende Wesen der Gerichtsmitglieder um ihres
Borteils willen gern gefallen. Die untern Stände dagegen und die Geschlechter
der.Stadt, denen das Reichskammergericht wenig eintrug, fühlten sich in ihrem
Stolz als freie Reichsbürger mehr als einmal gekränkt, und nicht immer herrschte
Friede und Eintracht zwischen dem höhern Bürgerstande und den reichskammer-
gerichtlichen Kreisen, zu denen nur der Adel Zutritt hatte. Noch zur Zeit
der französischen Revolution hielten die hohen Herren mit zähem Sinn an
ihren exklusiven Neigungen sest, und der arme Jerusalem — Goethes
Werther — hat es schwer büßen müssen, daß er sich einst in ihre Mitte gewagt
hatte. Er hatte einem der Präsidenten, an den er empfohlen war, einen
Besuch gemacht und sich dabei über den Beginn der Gesellschaftsstnnde hinaus
verspätet. Und nun erscheinen sie plötzlich einer nach dein andern und rümpfen
die Nase über den bürgerlichen Eindringling, zuerst die „übergnädige Dame von
S mit ihrem Herrn Gemahl und wohlausgebrütetem Gänslein Tochter mit
der flachen Brust und dem niedlichen Schuürleibe, die ein p-z-ssaut ihre herge¬
brachten hochadlichen Augen und Naslöcher machen," dann „der Baron F mit
der ganzen Garderobe von deu Kröuungszeiten Franz I. her, der Hofrat N,
hier aber in W^Iiwtv von N genannt, mit seiner tauben Fran u. s. w., den
übel fourmrten S nicht zu vergessen, der die Lücken seiner altfränkischen
Garderobe mit neumodischen Lappen ausflickt." Das Ende vom Liede war,
daß der Hausherr, obgleich dem jungen Jerusalem persönlich wohlgesinnt, ihm
aus das Drängen der adlichen Gäste die Thür weisen mußte.
Wenn die Gesellschaft nur wenigstens nnter sich zusammengehalten hätte!
Aber auch hier derselbe leere Formenstreit, wie nach außen, „das glänzende
Elend und die Langeweile nnter dem garstigen Volke, die Nangsucht linker
ihnen, wie sie nur wachen und aufpassen, einander ein Schnittchen abzuge¬
winnen."^) Möglich, daß Goethe bei den letzten Worten eines Vorfalls gedachte,
der sich kurz vor seiner Zeit in Wetzlar ereignet hatte und als große
Haupt- und Staatsaktion sogar vor den Thron des Kaisers gebracht war: .
der .Kammerrichter gab eines Abends im Gasthof zum Römischem Kaiser großen
Ball, die ganze Neichskammergerichtsgesellschaft war versammelt. Heiterkeit
und Frohsinn herrschten — soweit dies in der steifen Gesellschaft möglich
war —, denn es war Fastnacht. Da erhebt sich plötzlich ein Murmeln des
Unwillens am äußersten Ende des Saales, ein Zwiespalt geht durch die Ge¬
sellschaft. Wie in einem Bienenkorbe summt alles durch einander. Man raunt
und zischelt: Niris o'oft- iuom, quölle l)se,i.86, Huslls inrxörtinemvs! tönt es in
der heimischen Zunge des Reichskammergerichtssalons. Was mag die Gesell¬
schaft so empört haben? Etwas Entsetzliches hatte sich ereignet: Die Gattin
eines der 5!!anlmergerichtspräsidenten hatte verlangt, daß ihre noch ledige
Tochter, als „stiftsmäßiges, mit sechzehn Schilden gewappnetes Fräulein" vor
den Gattinen der sämtlichen Kammergerichtsbeisitzer den Vortritt und Vvrtanz
haben solle. Die Assessoren, noch mehr aber vermutlich ihre Gattinnen, waren
voll Unwillen über diese Anmaßung und der Beisitzer von Ortmann, „als
von Jhro Römisch-Kayser-Königlichen Majestät als Erzherzogin in Oester¬
reich wegen des Oesterreichischen Creyses praesöntirtör Assessor" wandte sich
wie einer Beschwerde um den Kaiser, worin er ausführte, daß nach jenem
Vorgang jeder uustiftsmäßige Kavalier, er stehe in einem Charakter, wie er
wolle, sogar jeder Kammergerichtspräsident selbst, wenn er nicht just Stifts-
"u'ißig, einem jeden stiftsmäßigen Kind in der Wiege schon den Vorzug zu
gestatten Hütte. Die Amtspflicht und Obliegenheit eines jeden Beisitzers dieses
kaiserlichen und Neichskammergerichts, wie auch die Würde dieses ältesten und
höchste,, Neichsdieasterii erforderten, daß er solche, in allen Vorfallenheiten,
Aufrecht erhalte und nichts Verkleiuerliches dawider aufkommen lasse. Wie der
streit ausgegangen ist, ist leider nicht überliefert.
Oft war der Erzmarschall beschäftigt, die bei dem Gericht nusbrechenden
Rangstreitigkeiten zu entscheiden. Für die Hauptfälle hatte allerdings die
Reichskammergerichtsvrdnuug 1495 Sorge getroffen, indem sie die Reihenfolge
der Assessoren vorschrieb. Es sollte nämlich unter ihnen, da sie als Ver¬
treter ihrer Herren angesehen wurden, dieselbe Rangordnung herrschen wie
unter diesen; daher nahmen die Präsentaten der geistlichen Herren die erste
Stelle ein, dann kamen die der weltlichen Kurfürsten, alle in ganz bestimmter
Reihenfolge; diesen folgten der kaiserliche, dann die von den Kreisen des Reichs
präsentirten. Dennoch war ewiger Unfriede, und die Mahnung Kaiser Karls VI.,
daß er sowohl als das ganze Reich von ihnen als den obersten Richtern das zur
Nachahmung reizende Beispiel der Eintracht, der Verträglichkeit und der Billigkeit
erwarte, fiel auf unfruchtbaren Boden. Ein Vorfall ist besonders bezeichnend.
Es handelte sich darum, einen von zwei, kurz nach einander präsentirten
Kandidaten zum Beisitzer zu wählen: den Freiherrn von Ow — den der
Volkswitz nachmals wegen der dnrch ihn hervorgerufenen Ereignisse den Frei¬
herrn von O weh nannte — oder einen Grafen von Nytz. Den einen be¬
günstigte der Präsident Ingelheim, den andern der Präsident Graf von Solms.
Nun war die Stimmung gegen den erstgeuaniiteil Präsidenten keine freundliche:
mau warf ihn: vor, daß er das Ansehen und die Achtung der Kammergerichts¬
beisitzer herabsetze und kränke, sich bei gottesdienstlichen Prozessionen, Leichen-
begängnissen, im Gehen, Fahren und selbst in der Kirche von den Assessoren
abzusondern suche; das gehe so weit, daß bei einem Leichenbegängnis die Jngel-
heimschen Lakaien sich den Beisitzern hätten vordrängen müssen. Diese Vor¬
würfe faßte man in einem Schriftstück zusammen, das dem Präsidenten über¬
geben wurde. Der Angegriffene erwirkte einen Widerruf der Schrift in
öffentlicher Ratsoersammlnng und drohte, daß er sich gegen den von Ow, der
„ein Jntriguenmacher und Lügner" sei, und „andre Bärenhäuter bei dem
(!0>to»'lo <ZNNvra.Il, die mit unter der Decke lügen," Rache verschaffen werde.
Wie man sieht, war der Ton schon recht fein geworden. Aber es sollte noch
besser kommen. Am Tage der vier gekrönten Kalenderheiligen wurde in der
Stadt ein gedrucktes, lateinisches Gedicht verbreitet, das die eheliche Treue
einzelner Assessorenfrauen in sehr bedenklichem Lichte erscheinen ließ. Es lautete
im Eingang:
Huci-tuor ooog ooron^eorum loses romirrunt,
Hustuor vn iotMoin vorouti, Ksoo loses, oslodrimt.
Ein andrer, der Assessor von Phrk, veröffentlichte verschiedne in dem Streit
erlassene Verfügungen des Kaisers und des Kammerrichters und fügte diese»
auf der Kehrseite des Titelblattes allerlei anzügliche Bibelsprüche bei, vor allen
den Psalmsprnch: „Große Farren haben mich umgeben, fette Ochsen haben mich
umringt; ihren Rachen sperren sie auf wider mich wie ein brüllender und
reißender Löwe."
Als diese und andre Dinge in einer Ratssitzung zur Sprache kamen,
sagten die Mitglieder einander wieder verschiedne Liebenswürdigkeiten, diesmal
von Angesicht zu Angesicht; uuter anderen beklagte sich einer der Richter über
Schelmstücke und Komplotte und behauptete, es gehe beim Kammergericht ärger
zu als bei einem Bauerngericht; ein andrer erhob den Vorwurf der Bestechung,
des Kaufes von Zeugen, und man scheute sich nicht, Drohungen gegen einander
auszustoßen, wie die, das; man dem Gegner den Degen durch den Leib rennen
werde. Einzelne Assessoren wagten sich nur uoch mit geladenem Gewehr auf
die Straße.
Endlich schritt der Kaiser ein. Aber man beeilte sich damals nicht, son¬
dern forderte zunächst Anklage und Verteidigungsschriften. Da gab es wieder
wunderbare Titel. Ein Beisitzer hatte seine beiden Schriften benannt: „Die
nach dein Richter seufzende Unschuld" und „Die vor dein Richter lachende
Unschuld." Der schou genannte Beisitzer von Pyrk aber, der der Haupt¬
beschuldigte war, reichte eine Abhandlung ein mit dem Titel: .7ven8 arguingniis
ferus a nor080rum, tot,rie,ni'MA, inliunnrnvrmn, nasutuIoruM, rü8lie:orrim es.-
luinniis vinälv^of, worin er die Strafbarkeit des erwähnten Pamphlets zu
bestreiten suchte.
Nach Verlauf von zwei Jahren erging das Urteil. Pyrk wurde darin
seiner Beisitzerstelle entsetzt, und es wurde ausgesprochen, daß die von ihm
verfaßten Schmähschriften durch den Kammergerichtspedell vor seinen Angen
zerrissen und die Stücke ihm vor die Füße geworfen werden sollen.
Dieselbe Kommission, die die eben geschilderten Vorfälle abgeurteilt hatte,
befaßte sich noch mit andern Beschuldigungen, die sich leider gegen die Un-
eigennützigkeit und Unbestechlichkeit der Richter wandten. Einer der Assessoren
hatte sich von einer Partei drei Fässer Wein schenken lassen und verteidigte
sich ans die gegen ihn erhobene Anklage damit, daß er ein so geringes Geschenks!)
Wohl annehmen dürfe. Die Kommission sprach ihn daraufhin thatsächlich frei,
erklärte aber ausdrücklich für künftige Fälle, daß sich die Richter auch kleine
Geschenke nicht dürften machen lassen. Wie weit damals die Begriffsverwir¬
rung zwischen „erlaubt" und „unerlaubt" ging, zeigt der Umstand, daß sogar
ein Mitglied der Kommission behauptete und durch Gesetzesstellcn zu belegen
versuchte, der Richter dürfe sich bis zu hundert Dnknten von der Partei
schenken lassen.
(Schluß folgt)
Am 3. Mai hatte der Vertreter eines
Pariser Blattes eine Unterredung über die bevorstehende Arbeiterkundgebung mit
dem bekannten Londoner Sozialistenführer John Burns. Er fragte u. a: Wie
denken Sie über den deutschen Kaiser? Burns antwortete: „Ich glaube, daß er
Intelligenz und Pflichtgefühl besitzt und zugleich unter dem Einfluß seiner militä¬
rischen Anschauungen und Gewohnheiten steht. Ein Kaiser, ein König, der die
Armee liebt, kann es nicht anders als mit Unwillen mitansehen, wie die Menschen
in den Werkstätten zugerichtet werden; es muß ihn betrüben, so diele Kraftlose und
Bresthafte dort sehen zu. müssen, wo man starke und schöne Menschen braucht.
Man trifft diese Empfindung bei Aristokraten häufig an. Ein echter Aristokrat,
ein Lord, ein Fürst Pflegt nicht so grausam gegen das Volk zu sein, wie unsre
Großindustriellen es sind, mögen sie sich auch liberal oder gar radikal nennen. Der
Aristokrat hat Sinn für das Schöne; er leidet es nicht, daß Menschen und Vieh
auf seinen Gütern schlechter aussehen, als auf denen der Nachbarn. Bei Guts¬
besitzern von altem Adel habe ich immer mehr Großmut wahrgenommen, als bei
gewissen andern Herren, die einen wahren Haß gegen das Volk zu empfinden
scheinen. Jedenfalls steht der deutsche Kaiser dem Sozialismus näher, als die
Großindustriellen seines Landes."
In zwei Richtungen hat mau bisher die soziale Auf¬
gabe gefördert: man hat die Arveiterversicherung und den Arbeiterschutz geschaffen.
Aber daneben stehen noch zwei andre wichtige Aufgaben der sozialen Fürsorge:
die Arbeiterwohnung und die Arbeitererholuug. Namentlich die Wohnungsfrage tritt
als ein Hauptstück der soziale» Frage immer dringlicher an uns heran.
Man hat bisher auf zwei Wegen versucht, der wachsenden Wohnungsnot ab¬
zuhelfen: erstens durch Arbeiterkolonien, indem von Unternehmern auf größern
Baugründen kleine Häuser erbaut und den Arbeiterfamilien zu eigner Erwerbung
angeboten wurden, sodaß fie gegen geringe Anzahlungen in deren Eigentum über¬
gingen. Der Versuch soll sich aber meist nicht bewährt haben, weil die Hänser
bald in fremde Hände, wohl auch in die Hand von Spekulanten kamen und so
ihrem Zweck entfremdet wurden. Offenbar schießt dieses Mittel über das Ziel
hinaus; es ist eine Übertreibung, das, wonach selbst der größte Teil der Bemittelten
vergeblich strebt, den Unbemittelten verschaffen und erhalten zu wollen. Dazu
kommt, daß es erfahrungsmäsng nicht gut thut, der Masfeuanhäufuug der Armut
Vorschub zu leiste«. Weder Arbeiterkolouien noch Arbeiterviertel thun gut. Da
sammelt sich der gefährliche Stoff des Neides, der Mißgunst, der Klatschsucht, der
Verleumdung, der Aufhetzerei, der sozialistischen Aufstachelung und Verschwörung,
denn nicht das Gute, sondern das Böse steckt an. Und solche Zusammenklumpuug
der Unbemittelten macht den Riß zwischen den Kreisen der Bemittelten und der
Unbemittelten größer statt kleiner; sie erschwert den. mildernden Verkehr zwischen
beiden, viviäcz ot iinxsra,! möchte man auch in das Gebiet der Wohnungsfrage
hineinrufen. Es gilt vielmehr die Massen zu teilen, ans einander zu quartieren und
die Berührungsfläche zwischen beiden Kreisen möglichst zu vergrößern.
Der andre Versuch, die Wohnungsnot zu lindern, ist die Einrichtung von
Zinshäusern für kleine Leute. Man baut oder kauft oder mietet (auf längere Zeit)
ein oder mehrere Hänser, richtet darin lauter kleine Familienwohnungen ein (wo-
möglich mit gesonderten Eingängen) und zieht den fälligen Mietzins in ganz kurzen
Zwischenräumen, etwa alle Wochen (des Sonnabends) ein, was sich am besten den
Löhnungsverhältnissen anschmiegt. Wenn dieses Einsammeln des wöchentlichen
Mietzinses durch menschenfreundliche Personen, etwa gebildete Frauen, geschieht,
so giebt das Gelegenheit zu fürsorglicher Annäherung; es erleichtert den Eingang
der Zinsraten und sichert die Rentabilität des Unternehmens. Man hat daher
bereits mehrfach auf diesem Wege gute Erfahrungen gemacht, und das menschen¬
freundliche Werk soll sich zugleich als gewinnbringend erwiesen haben. Ich wüßte
auch nichts, was dagegen einzuwenden wäre, und es ist nur zu wünschen, daß sich
recht viele menschenfreundliche Spekulanten und spekulative Menschenfreunde fänden,
die auf diesen Gedanken eingingen, und recht viele Frauen, die bei dem Geschäft
des wöchentlichen. Zinseinsmnmelns ausdauernd zur Hand gingen. Ich kaun aber
uicht verhehlen, daß ich fürchte, es konnte leicht an solchen helfenden Händen fehlen
und die Ordnung gefährdet werden, denn die Frauenwelt läßt sich nicht so auf¬
rufen und kommandiren wie die Männerwelt. Schon aus diesem, aber auch aus
andern Gründen wird der vor- und eingeschlagene Weg kaum je zu großen Er¬
folgen führen. Der Gedanke ist nicht auf Massenwirkung berechnet, nicht für solche
geeignet; die Wohnungsnot ist aber eine Massenfrage. Es handelt sich da um
einen Abgrund, der ein Meer fassen kann; was helfen dn Tropfen? Und wenn
sich mehrere hundert solcher kleinen Mietzinsunternehmungen in einer Großstadt
glücklich entwickelten, was wäre das, wo vielleicht Fünfzig- oder Hunderttausende
nach bessern Wohnungen schmachten?
Ich meine daher, ohne damit den eben betrachteten Weg verachten zu wollen,
daß ein dritter Weg gesucht, eine Form gewählt werden müsse, die eine Ent¬
faltung zu größerer und größter Ausdehnung ohne Schwierigkeit zuläßt. Ich nieine
den Weg der Assoziation von Hauseigentümern zu großen Mietzinsvereinen, in
denen den Teilnehmer» eine gewisse Rentabilität verbürgt wird. Man bemächtige
sich nur des auf jenem zweiten Wege erprobten Mittels, eine wöchentliche Ein-
sammlung des Mietzinses in menschenfreundlicher Weise durchzuführen.
Werden solche Vereine leicht zu stände zu bringen sein? Sie werden es sein,
wenn die Rentabilität dieser Vermictnngsform erwiesen wird. Ich denke aber, daß
die Rentabilität kein Hirngespinst ist. Man erwäge nur, daß die kleinen Woh¬
nungen wie die verhältnismäßig teuersten für die Abmieter, so die verhältnis¬
mäßig einträglichsten für die Vermieter sind, und daß der schwache Punkt der
kleinen Mietverhältnisse, das unregelmäßige Eingehen des Mietzinses, bei den Ver¬
einen, wie sie gedacht sind, durch die Art des Einsammelns auf das geringste Maß
zurückgeführt wird, ja durch die Bürgschaft des gesamten Vereins so gut wie ganz
beseitigt werden kann.
Wäre ein solches ausgleichendes Medium gegeben, so würden Hausbesitzer und
Hauserbnuer leichter geneigt sein, etwa in den: dritten oder vierten Stockwerk kleine
Jamilienwohnungeu einzurichten; sie schlössen sich dem Mietzinsverein an und er¬
langten dadurch die Gewißheit regelmäßigen Einkommens aus dem Hause. Auf
diesem Wege würden sich die kleinen Wohnungen durch die Häuser, Straßen, Viertel
zerstreuen und verteilen, eine Häufung und Reibung der gefährdeten und gefähr¬
lichen Bevölkernngselemente vermieden und eine gesunde Berührung der Bemittelten
und der Unbemittelten gefördert werden.
Ein solcher Verein zu Schutz und Trutz in Mietzinsangelegenheiten könnte
mehrere Straßen umfassen. Die Praxis müßte zeigen, welchen Umfang er an¬
nehmen kann. Durch die Mitgliederbeiträge wären die Verwnltnngskosten zu decken.
Diese aber müßten namentlich zur Einrichtung einer Geschäftsstelle des Vereins
dienen. Der Geschäftsführer müßte ein gebildeter und menschenfreundlicher Mann
sein, denn er hätte das Einsammeln der Mietgelder zu bewirken oder zu über¬
wachen. Helfende Hände, vielleicht auch die menschenfreundlicher Frauen als frei¬
williger Helferinnen, könnten ihm zur Seite sein.
Auf diesem Wege könnten Tausende von kleinen Familienwohnungen geschaffen,
gewahrt und geschützt werden. Es wäre eine Form, die ohne Grenzen und den
größten Aufgaben gewachsen wäre, und die Assozicitionsform böte zugleich die Mög¬
lichkeit, dem Unternehmen Stetigkeit und feste Ordnung zu verleihen, denn wenn dem
Geschäftsführer ein Ausschuß von Vereinsgenossen zur Seite träte, so könnte dieser
den Geschäftsgang überwachen, die erforderlichen Verwaltungsbeschlüsse fassen, die
gesundheitliche Beschaffenheit aller Wohnungen lontrvliren und den Verkehr mit den
Polizei-, Steuer- und Versichernugsbehörden besorgen. Das Unternehmen böte
also den Hausbesitzern nicht bloß Sicherheit, sondern auch Bequemlichkeit, und wenn
die Häuser in andre Hände übergingen, würde es den neuen Erwerbern nnr eine
Wohlthat sein, ohne Umstände an den Vorteilen der Vereinsgenossenschaft teilnehmen
zu können.
In Dresden kann man lange Straßen sehen, in denen Haus für Haus Man¬
sardenwohnungen sich befinden, vielleicht hundert in einer Straße. Was da von
den einzelnen Hausbesitzern für gewinnbringend, erkannt ist, sollte das nicht in ge¬
steigertem Grade durch Assoziation gelingen? Mansardenwohnungen können freund¬
lich und wohnlich sein und so eingerichtet werden, daß sie nicht allzusehr der
Sommerhitze ausgesetzt siud. Sie find hell und luftig, und sie geben ihren In¬
sassen gleichsam eine thatsächliche Anweisung auf die freundnachbarliche Teilnahme
der übrigen Hausbewohner für einzelne Fälle der Not, wo es sich oft nicht bloß um
materielle Unterstützung, sondern um gemütlichen Zuspruch und sachkundigen Rat
handelt. Ein so begünstigtes Beieinanderwohnen von Bemittelten und Unbemittelten
würde in aller Stille die Kluft überbrücken, die sich so leicht zwischen den beiden
großen Gesellschaftskreisen aufthut, und würde sicherlich zur Milderung der heutigen
Reizbarkeit der untern Stände beitragen.
Im Reiche, in Preußen und in Sachsen, vielleicht auch
in andern Ländern, ist jetzt viel von Erhöhung der Bcamtengehnlte die Rede. Es
wäre ein großer Fortschritt, wenn bei der Änderung der Gehalte gleichzeitig fest¬
gesetzt würde, daß in Zukunft das Aufrücken in höhere Gehaltsklassen (nur meinen
nicht das Aufrücken in höhere Stellen, für die eine besondre Befähigung vorhanden
sein muß) in ganz bestimmter Reihenfolge stattzufinden hat, wie es für die Richter
vorgeschrieben ist. Wie viel unnötige Aufregung wird verursacht, wenn die Ver¬
teilung der Gehalte nicht an ein festes Prinzip gebunden ist und der einzelne
Empfänger nicht weiß, ob sein Gehalt seinem Dienstalter entspricht oder eine Zurück¬
setzung gegen andre stattgefunden hat!
Herr Guido Lamprecht in Bautzen, dessen neue Wettertheorie
vor kurzem in den Grenzboten stark angezweifelt worden ist, hat sich dadurch nicht
abschrecken lassen, uns folgende Voraussage über das Wetter der nächsten Woche»
zuzuschicken^ „Nach den von mir bestimmten Ringpcrivden, deren Länge zwischen
zehn und dreißig Tagen beträgt, haben wir wieder stärkere Wettervorgänge zu er¬
warten den 22., 23. und 29. Mai, den 3., 4., 11., 26. und 29. Juni und den
2„ 3., 7., 13., 22., 20., 27., 29. und 30. Juli. Die Mondperiode (chaldäische
Periode) bezeichnet als stärkere Wetterlage den 23. Ma, 20. Juni und den 1.,
6-, 8., 9., 10., 13., 14., 20., 28. und 29. Juli. Eine von mir durchgeführte
Wahrscheinlichkeitsrechnung ergab deu Mai und Juni als warm mit Gewitter, den
Juli als kalt mit Landregen. Den 26. Juni ist strichweise starker Hagel zu er¬
warten, vom 26. bis zum 30. Juli sehr starke und nilsgedehnte Niederschlage."
Nun, wir werden ja sehen!
Haben die Arbeiterfortbildnngsvereiuc noch eine Zukunft oder haben sie ab¬
gewirtschaftet gegenüber der Sozialdemokratie und gegenüber der Fürsorge, die der
Staat jetzt dem Arbeiterstande zu teil werden laßt? Diese Fragen Null der Ver¬
fasser beantworten, indem er zunächst die Erfahrungen mitteilt, die er als lang¬
jähriger Leiter eines Arbeiterfortbildungsvereins unter vielen Anfechtungen von
oben und unten, von rechts und links gesammelt hat. Er erkennt diesen Vereinen
»mener noch eine bedeutende Wirksamkeit zu, wenn sie sich nur den veränderten
Verhältnissen anzupassen verstehen. Der Sozialdemokrntie können sie es durch Förde¬
rung der wahren, frei machenden Bildung zuvorthun. Wie der Mensch nicht von
dem, was er ißt, sondern von dem, was er verdaut, lebt, so wird er auch geistig
uicht durch alle seinem Geiste zugeführte Nahrung gefördert, sondern nur durch
die, die er zu verarbeiten imstande ist. Halbbildung bringt mehr Fluch als Segen.
Ein „volkstümlicher" Vortrug über die nordische Götterwelt z.B. erscheint dein Verfasser
wenig am Platze, aber eine gründliche Besprechung und Durcharbeitung der den Arbeiter¬
kind berührenden Fragen hat unter seiner Leitung zu den besten Ergebnissen ge¬
führt. Alles übertriebene, auch im äußern Leben, ist zu vermeiden und zu bekämpfen,
um den Arbeiter von falschen Richtungen abzuhalten und ihm die „verfluchte Zu¬
friedenheit" zu bewahren, ohne ihn doch in der auch ihm vom Schicksal beschiedueu
Entwicklung zu hindern. Hat auch ferner der Staat jetzt eine Neihe vou Dingen
'n die Hand genommen, die bisher ausschließlich als Erzeugnisse der „Selbst¬
hilfe" angesehen wurden, so bleiben doch noch eine Menge Gebiete übrig, auf
denen sie thätig eingreifen können, ohne ihre Thätigkeit von der des Staates ge¬
furzt zu sehen, und gerade ihre Verhandlungen werdeu zur Ausbildung des
Arbeiters für die Teilnahme an der Verwaltung der neuen Einrichtungen dienen
^unen. Jedem, der wie der Verfasser das Wort der erbarmenden Liebe: „Mich
kümmert des Volkes" als seine Richtschnur anerkennt und sein Teil dazu beitragen
will, daß unser Vaterland die soziale Krisis glücklich bestehe, sei das Büchlein empfohlen.
Das Verhältnis Goethes zum Volksliede darf man wohl als eines der tiefsten
-Probleme der Goetheforschung bezeichnen. War doch das wichtigste Ereignis für
Mre dichterische Entwicklung die in Straßburg durch Vermittlung Herders gewonnene
Teilnahme für Volkspoesie, und nimmt doch von dem für das Volkslied empfänglich
gewordenen Sinn der ganzen Nation unsre neue Litteratur ihren Ausgang. Bis
in sein hohes Alter hat Goethe die inzwischen zu mächtigem Umfange gediehene
Forschung nach Volksliedern nicht bloß in Deutschland, sondern auch bei den andern
Nationen mit größter Teilnahme verfolgt, so wie er sein ganzes Leben lang am
„Faust" gedichtet hat. Dieses Verhältnis nnn stellt Waldberg in dem vorliegenden
Essay dar. Er weist nach, wo Goethe sich in der Auffassung des Volksliedes von
seinem Freunde Herder trennt und wie er dies thut; wie sich in ihm selbst der
Begriff von Volkspoesie im Laufe der Jahre läutert, und zu welcher bleibenden
Anschauung er schließlich gelangt, die sich auch von den inzwischen herangewachsenen
Männern der romantischen Schule unterscheidet; er weist ferner nach, von welcher
Bedeutung die Kenntnis der Volkspoesie für Goethes eigne Kunstübung geworden
ist. Deu Standpunkt Herders formulirt Waldberg so: „Er ließ sich von der
Anschauung leiten, daß der wesentliche Unterschied zwischen Natur- und Kunstpoesie
der sei, daß die ältere Naturlyrik aus dem subjektiven Gefühl des Dichters Herans¬
ströme, die neuere Kunstdichtung hingegen fremde, abgeleitete Empfindung darstelle.
Die erstere war das echte Kind der Natur, die andre das Ergebnis des kalten
Zwanges, des Hineinlebens in fremde Affekte. Das wahre Kriterium der Natur¬
poesie war nach Herder Originalität im Gegensatze zur Nach- und Anempfindung
der Kunstpoesie." Bei dieser Anschauung blieb Herder stehen. Goethe dagegen
läuterte seiue Ansichten von der Volkspoesie, wie Wnldberg fein bemerkt, an seinem
eignen Schaffen. „Der große Einschnitt, den die italienische Reise für sein künst¬
lerisches Thun bedeutet, gilt auch fiir sein ästhetisches Empfinden." Darnach räumte
er alle Scheidungen, die Herder zwischen Kunst- und Naturpoesie aufstellte, aus
dem Wege. „Fiir Goethe giebt es mir eine Poesie, die echte, wahre, alles andre
ist nur Annäherung und Schein. Das poetische Talent ist nach ihm dem Vaner
so gut gegeben als dem Ritter. Es kommt nur darauf an, ob jeder seinen Zu¬
stand ergreift und ihn nach Würden behandelt. Der eigentümliche Wert der Volks¬
lieder ist, wie er in den Sprüchen in Prosa äußert, der, daß ihre Motive un¬
mittelbar von der Natur genommen sind; meistens aber unterschieben (!) die gebildeten
Künstler der Natur die Idee. Jeder echte Dichter muß, wenn er ins volle Leben
hineinzugreifen weiß, auch ein Volksdichter sein." Damit ist Goethes eigenste That
glücklich zusammengefaßt. Wenn aber Goethe die gemeinsamen Eigenschaften aller
Poesie erkannt hat, so hat er doch auch wieder nicht die Unterschiede der zwei ver¬
schleimen Formen dieser Poesie: des Volks- und des Kunstliedes übersehen, und
diese Unterschiede faßt Waldberg treffend so zusammen: „Goethes Lyrik ist an einem
Wendepunkte in der Entwicklung der Poesie eingetreten. Die Volkspoesie war im
Aussterben begriffen. Schon daß sie gesammelt werden mußte, war das Zeichen
nahenden Todes. Lebendiges Lied drängt sich von selbst vor. Das Volkslied war
eine Poesie fürs Ohr, eine Dichtung zum Singen, die durch das sich immer mehr
verbreitende Lesen fortwährend zurückgedrängt wurde. Es galt nnn eine Volkspoesie
fürs Auge zu schaffen, eine Poesie, die im Lesen die künstlerischen Bedürfnisse be¬
friedigt, und da trat nun Goethe ein. Fiir die Gebildeten hatte das Volkslied
keine unmittelbare Wirkung mehr. Goethe selbst fühlt es, wenn er die Äußerung
macht, daß die Volkslieder ans die Gebildeten einen ähnlichen Reiz ausüben, wie
die Erinnerung der Jugend auf das Alter. Er deutet damit zart den Unterschied
des Eindruckes an, den das Volkslied ans das singende Volk und den es auf die
Lesenden macht. Dort ist es die einfachste Bethätigung des Kunstdranges, der im
Menschen schlummert, während bei uns gewisse Momente mitwirken, die die neuere
Kunstlehre mit dein Allsdruck »ästhetisches Assoziatiousprinzip« bezeichnet." Damit
hat Waldberg einen fruchtbaren Ausgangspunkt für die Betrachtung des Stil-
Unterschiedes zwischen Goethes Lyrik und der Volkspoesie gewonnen, und sein sorg¬
fältiger Nachweis aller jener stilistischen Formen, die Goethe vom Volkslied ange¬
nommen hat, ist sehr lehrreich. Nur seine Schlußbemerkungen, die das „monumentale
Werk der Weimarer Goetheausgabe" preisen: „Jetzt, wo Goethe zum deutsche»
Volke so deutlich sprechen wird wie noch nie —" kann man nicht ohne Lächeln
lesen. Mit Museumswerken hat man uoch nie „deutlich zum Volke" gesprochen,
und wenn Deutschland, um seinen Goethe zu kennen, auf die Weimarer Ausgabe,
die doch nur den allerobersteu Zehntausend zugänglich ist, hätte warten müssen, so
Wären beide, Goethe und die Deutschen, sehr übel darnu.
Während die Geschichte der niederländischen, insbesondre der holländischen
Malerei in neuerer Zeit mehrfach Gegenstand der Darstellung sowohl in wissen¬
schaftlicher als in allgemein verständlicher Form gewesen ist — wir erinnern nur
nu die Arbeiten Bodes, an die betreffenden Abschnitte in Woermanns „Geschichte
der Malerei" und an die in deutscher Sprache veröffentlichte Beschreibung des
Amsterdamer Rijksmuseums von dem Holländer Abraham Bredius mit den Hanf-
stänglschen Photogravüren —, haben die Schwesterkünste bisher nur geringe Be¬
rücksichtigung erfahren, im Lande selbst wie in der kosmopolitisch angelegten Kunst-
litteratur Deutschlands. In Anbetracht des reichen Besitzes der deutschen Galerien
an niederländische» Bildern., dessen Gesamtsumme den Kunstbesitz Hollands und
Belgiens weit übersteigt, war ein Führer durch die Geschichte der niederländischen
Malerei ein Bedürfnis, wogegen das Interesse an niederländischer Bau- und Bild¬
hauerkunst untergeordnet war und noch ist, schon deshalb, weil den Besuchern Hol¬
lands, deren Mehrzahl nur die Hauptstädte, Amsterdam, den Haag, Rotterdam,
Hnnrlem und Utrecht, höchstens noch Dortrecht und Delft, berührt, nur noch
wenige Überreste der holländischen Architektur und Plastik aus den Zeiten entgegen¬
treten, wo sich die Malerei entwickelte und zur vollsten Blüte gedieh. Es wäre
aber ein Irrtum, daraus zu schließen, daß die Baukunst, die Bildnerei und die
verschiednen Zweige der Kleinkunst nur eine nebensächliche Rolle neben der Malerei
gespielt und in ihrer Abhängigkeit von italienischen Vorbildern es niemals zu einer
eigentümlichen nationalen Physiognomie gebracht hätten.
Schon die im vorigen Jahre abgeschlossene Veröffentlichung des Architekten
Franz Ewerbeck über die Renaissance in Belgien und Holland (Leipzig, E. A. See-
Mann) hat uns überraschende Aufschlüsse über den immer uoch vorhandnen Reichtum
an architektonischen und plastischen Denkmälern des sechzehnten und siebzehnten
Jahrhunderts in den Niederlanden gegeben, deren charaktervollste und künstlerisch
bedeutsamste jedoch nicht in den gegenwärtigen Hauptstädte», sondern abseits von
den große» Verkehrswegen zu suche» sind. Noch reicher und umfassender ist die
^ils geschichtlich, teils topographisch angeordnete Übersicht, die uns Georg Galland
>u dem vorliegenden, auf das gegenwärtige Königreich der Niederlande beschränkten
Gliede ermöglicht, das die Frucht achtjähriger Studien, zuletzt eines einjährigen
Aufenthaltes im Lande ist. Der zwiespältige Charakter des Buches erklärt sich
daraus, daß es an systematischen Vorarbeiten auf diesem Gebiete der Kunstgeschichte
Mus im einzelnen bisher gefehlt hat. Der Verfasser mußte Sammler, Kritiker und
Ordner zugleich sein und nach dieser mühevollen Vorarbeit als Historiker die be¬
legenden, schaffenden und leitenden Kräfte heraussuchen und ihre Wirkung klar-
machen, wobei er sich seine Aufgabe noch dadurch erschwerte, daß er die südlichen
Provinzen der Niederlande, das heutige Belgien, die doch einen sehr wesentlichen
und bestimmenden Einfluß auf die Architektur und die Plastik der nördlichen Pro¬
vinzen geübt haben, nur beiläufig in seine Betrachtung hineinzog. Aber diese zum
Teil durch die Natur des Stoffes verursachten Mängel treten hinter den. zahlreichen
Vorzügen des grundlegenden Buches zurück.
Da eine große Anzahl wichtiger, für die geschichtliche Entwicklung bedeutsamer
Reunissaneedenkmäler in Holland durch Kriege, durch deu spätern Verfall des
Landes und durch die Gleichgültigkeit verständuisloser Nachkommen zu Grnnde ge¬
gangen ist, mußte Galland oft alte Kupferstiche, Zeichnungen, Chroniken, Urkunden
und andre Geschichtsquellen zu Rate ziehen, und durch dieses Zusammenwirken der
litterarischen mit der Denkmälerforschung ist es ihm möglich gewesen, die Geschichte
der holländischen Bau- und Bildhauerkunst, deren Blüte nur die kurze Zeit von
1560—1620 umfaßt, wenigstens in den Grundzügen festzustellen, ihre nationalen
Eigentümlichkeiten zu kennzeichnen und uns zum erstenmale künstlerische Persönlich¬
keiten vorzuführen, wo wir bisher nur inhaltslose Namen oder gar nur Gattungs¬
begriffe kannten. In Bezug auf Personalien haben die holländischen Orts- und
Archivforscher allerdings reichlich vorgearbeitet; aber aus vielen verstreuten Einzel¬
heiten ein zusammenhängendes Bild geschaffen zu haben, ist das Verdienst des
deutschen Forschers, dem für die eine Hälfte seiner Aufgabe seine Vorbildung als
Architekt sehr zu statten kam. Freilich fehlt es um Bnnkünstlern und Bildhauern
von so ausgeprägter Kraft und Ursprünglichkeit, wie sie die Malerei in Frans Hals,
de Keyser, Rembrandt, van Goyen, Jnkob van Ruisdael, Terborch und andern besaß;
aber diese Erscheinung finden wir in allen Ländern, die die Renaissance aus zweiter
Hand bekamen. Nur Italien hat Architekten und Bildhauer von ursprünglicher
Schöpferkraft hervorgebracht, die der Formensprache der Antike, die auf italienischem
Boden nie ganz verstummt war, neue Laute von wohMngeuder Harmonie ent¬
lockten. Wo die Renaissance, sei es als Modesache, sei es als Reflex der litterarisch¬
humanistischen Bewegung, eingeführt wurde, hat sie niemals die heimischen Kunst-
uud Hnndiverksüberliefernngen zu überwinden vermocht, und je mächtiger diese
waren, desto stärker ist der Zwiespalt zwischen fremdländischer Bildung und natio¬
nalem Naturtrieb geblieben. Dieser wird immer mächtiger, je weiter wir nach
Norden kommen. Und unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, bietet die holländische
Renaissance das eigenartigste Gepräge, das diese Kunst- und Geistesrichtung nördlich
von den Alpen erhalten hat.
Gallands Buch, dessen klare und lebendige Darstellung auf den größern Kreis
der Kunstfreunde berechnet ist, hat durch eine große Zahl gutgewählter Abbildungen
eine Unterstützung erhalten, die hier umso notwendiger war, als es sich meist um
Schöpfungen der Kunst handelt, die in den allgemein verbreitetet: Nachschlage¬
büchern, Bildersammlungen und Atlanten nicht zu finden sind. Vier Fünftel der
Abbildungen erscheinen in diesem Buche zum erstenmale. Sie geben dem, der selbst
sein Auge zu bilden und dann zu urteilen gelernt hat, die Mittel, die Beweis¬
führungen und die meist sehr feinsinnigen stilistischen Kritiken des Verfassers unbe¬
fangen zu prüfen. Wie auch diese Prüfung im einzelnen ausfallen möge, so wird
sie doch um dem Urteil nichts Wesentliches' ändern, daß mit diesem Buche eine der
größten bisher noch vorhandnen Lücken in dem Gesamtbilde der Renaissancebewegung
glücklich ausgefüllt worden ist.
er Verfasser eines Aufsatzes in Ur. 17 dieser Zeitschrift fuhrt
den Gedanken aus, neue Gesetze seien nicht nötig, die vor¬
handenen Bestimmungen genügten, würden aber nicht ausgeführt.
Es seien Revisionen nötig durch Beamte der Zentralstelle, die
der Willkür der Lokalbehörden einen Riegel vorschöben. Man
müsse ans bessere Armenpflege, strengere Übung des Schnlzwanges, lebhaftere
Mitwirkung der Kirche dringen.
Wie der Verfasser durch einen in Nummer lO enthaltenen Aufsatz über
hessische Zustände Anregung empfangen hat, so giebt er selbst wieder zu einer
Reihe von Betrachtungen über die von ihm berührten Gegenstände ?l»laß.
Ich meinerseits möchte diesmal die Frage herausgreifen: Wie kommt es, daß
wir Gesetze machen, und sie nicht in der Weise ausgeführt werden, wie sie
beabsichtigt waren? Diese Frage scheint mir überaus wichtig zu sein. Denn
offenbar liegt hier nicht ein Zufall oder eine gewisse Trägheit vor, die dnrch
Wien einfachen Anstoß überwunden werden könnte, vielmehr sind Gründe vor¬
handen, die in den Gesetzen selbst, in den Neben um ständen, unter denen sie aus¬
führt werden, auch in dein Charakter der ausführenden Personen enthalten sind,
^es werde ein wenig Kritik üben müsse», will aber dabei ausdrücklich bemerke»,
daß es mir fer» liegt, einzelne Personen oder Parteien anzuklagen. Es kaun
^ein thörichteres Unternehmen geben, als wenn ein Volk, dem etwas mißraten
ist, nach Sündenböcken sucht, um sich selbst weiß zu brennen und alles beim
"leer zu lassen. Es handelt sich darum, was nicht gut war, besser zu machen,
Und daß dabei jeder bei sich selbst anfange. Und auch du, lieber Staat, übersieh
dich selber uicht.
Es ist eine Thatsache, daß sich die gesetzgeberische Kraft nach unten zu
verflüchtigt, und daß sich die staatliche Autorität gerade da unwirksam zeigt,
wo sie am meisten wirken sollte, in der breiten Masse des Volkes. Denkt
man sich das staatliche Regiment als eine Anzahl von Zügeln, die in einer
Hand beisammen liegen und sich weiterhin teilen und verzweigen, so ist das
Ende der Verzweigungen so dünn und schlaff, daß sich der kräftige Zug in
ein gelindes Wackeln auflöst — eben da, wo er wirken sollte.
Machen wir uns keine Illusionen. Die obern Zehntausend sind nicht das
Volk, die Ministerien und Regierungen sind nicht der Staat. Der Schwer¬
punkt der Staatsregierung ruht nicht einmal bei ihnen, sondern - so wunderbar
es klingt — bei der Lokalbehörde. Was ein Bergwerk gewinnt, wird „vor
Ort" erarbeitet. Die Herren im Bureau, „die es wissen, aber nicht können,"
sind ja auch nötig, aber ein bureaukratisch geleitetes Bergwerk macht keine Ge¬
schäfte. So geht es dem Staate auch. „Bor Ort" wird gearbeitet. Die
beste Regierung, die schönste Verwaltung bleibt wirkungslos, wenn den Loknl-
behörden die Aufgabe verkümmert oder das Werkzeug entzogen wird. Darum
hat der Herr Berichterstatter über die hessischen Zustände recht, wenn er sagt:
Die Lokalbehörden müssen gestärkt werden. Man kann unmöglich einen Körper
mit großem Kopfe und kümmerliche» Armen und Füßen für normal erklären;
einen Staatskörper mit ausgebildeten Zentralbehörden und verkümmerten Lvknl-
behörden wird mau auch nicht normal nennen können.
Ich muß hier einige Fragen auswerfen, die den Freunden der Gesetzgebung
der letzten Jahrzehnte als gar nicht aufwerfbar erscheinen, deren Beantwortung
in unserm Sinne als ganz unmöglich bezeichnet wird. Es ist nur merkwürdig,
daß so vieles, was später nicht allein möglich, sondern auch wirklich ge¬
worden ist, seinerzeit als unmöglich bekämpft wurde. Ich frage also: Ist es
richtig, daß sich der Staat seinen unmittelbaren Einfluß auf die Behörde bei
der obern Instanz vorbehalten hat, daß er aber bei der untern Instanz nur
noch einen mittelbaren Einfluß ausübt? Ist es richtig, die ober» Instanzen
zu ernennen, aber die untern Instanzen wählbar zu machen? Ist es richtig,
neben die Provinzial- und Kreisregierung Selbstverwaltungs-Körperschaften mit
solcher Selbständigkeit zu stellen, daß die unmittelbaren Staatsbehörden in ihrer
Thätigkeit arg beeinträchtigt werden? Ist es richtig, den Amtskreis der Selbst¬
verwaltung ans Gegenstände auszudehnen, die sich der Staat vorbehalten müßte?
ich meine unter anderm die Polizeiverwaltnng, ich meine die so sehr gerühmte
Einrichtung der Amtsvorsteher. Ist es richtig, den städtischen und ländlichen
Gemeinden — um „gute Wahlen" zu haben und um das Verwaltuugsstreit-
verfahren und andre Unbequemlichkeiten zu vermeiden -......ein Entgegenkommen
zu zeigen, das an Schwachheit grenzt?
Der Staat von oben besehen sieht ganz anders ans als von unten besehen,
und leider kennen die Herren ebeu meist nnr den Anblick von oben. Da macht
das Gefüge der Ämter, die Verzweigung der Verwaltung, das System der
Sicherheits- nud Bremsvorrichtungen einen, meisterlichen Eindruck. Bon unten
besehen, nimmt man von alledem nichts gewahr, man sieht nur die Enden,
und die entbehren, wie gesagt, der nötigen Festigkeit. Der Verfasser des Aus¬
satzes in Nummer 17 beklagt es mit Recht, daß die großen Stadtgemeinden
innerhalb des Staates aristokratische Republiken darstellen; aber die kleinen
Stadtgemeinden sind Demokratien, in denen die kleinen Kleons mit „nnent-
wegtem" Mannesmute ihr großes Maul aufthun, wahrend die Bürger in ihrem
kleinen, feigen Eigennutz ins Mauseloch kriechen. Und auf dem Lande herrscht
— man kann sagen an vielen Orten — polnische Wirtschaft. Da ist jeder auf
seinem Misthaufen ein kleiner König, dn macht jeder, was er will, vorausgesetzt,
daß er sich nicht vor seinem eignen Knechte ducken muß. Eine Gemeindeordnung
ist nicht vorhanden, die Gemeindebeschlüsse geschehen nnter endlosem Gezänk
und nach den verkehrtesten Gesichtspunkten, die Gemeindewahlen sind oft der
reine Spott. Die staatliche Aufsicht erstreckt sich auf Geldsachen, als ob die
Paar Groschen das höchste Gut des Volkes wäre; sie wird nach den Regeln
der Kunst ausgeübt, verhindert aber nicht, daß, wo ein geriebener Schulze und
ein geriebener Dorfschreiber vorhanden sind, dem Herrn Landrat ein .L für
ein U gemacht wird. Ich könnte erbauliche Geschichten erzählen. Wenns einmal
schlimm wird, so ist es nicht schwer, zu entschlüpfen. Man hat zu den land-
rntlicheu Bureaus seine Hinterthüren, und der Herr Landrat, der mit Geschäften
überbürdet ist und dem jedes neue Gesetz die Hauptlast bringt, muß sich auf
seine Unterbeamten verlassen.
In den untern Volksschichten ist das Gefühl der Unterthänigkeit, das
Bewußtsein, daß man außer Dienen und Steuerzahler überhaupt noch etwas
müsse, daß man der Allgemeinheit irgend etwas schuldig sei, ganz verloren
gegangen. Die Steuererlasse haben dabei nicht günstig gewirkt. Bor dem
Herrn Staatsanwalt und dem Herrn Gendarmen hat man allen möglichen
Respekt, hier tritt die Staatsgewalt mit ungeschwächter Kraft auf; aber ihre
Wirksamkeit beginnt erst mit dem Vergehen, also jenseits der Grenze des Ge¬
bietes, das hier in Frage kommt. Man überschätze die ländliche Bevölkerung
nicht, auch die nicht, die konservativ wählt. Sie ist tief angefressen, es bedarf
w'ehe erst der Berührung mit den Städten, um sie zu verderben. Die zu Tage
tretenden Erscheinungen der Volkskrankheit sehen dort anders ans als die der
reinen Sozialdemokratie, darum werden sie leicht verkannt, aber beide sind nahe
'uit einander verwandt. Wir stehen unmittelbar vor dein Beginne der ländlichen
Streiks, vielleicht, daß sie schou während der diesjährigen Nübeuarbeit — dem
^wpfindlichsteu Punkte des Landwirtes — ausbrechen.
Es ist dem Einzelnen ein großes Maß persönlicher Freiheit gegeben, aber
dabei übersehen worden, dem Staate das nötige Gegengewicht zu bewahren.
Der Staat selbst hat sich hinter die Kulissen zurückgezogen in dein übergroßen
Vertrauen, dnß die Leute verständig sein und sich selbst regieren würden. Wer
bleibt nun übrig? Der Bürgermeister ist Parteimann und Stadtdiplomat.
Er hat die schwere Aufgabe, sein Werk durch die Klippen der Stndtverordneten-
beschlüsse hindurch zu steuern, und zwar so, daß er Aussicht hat, nach zwölf
Jahren wiedergewählt zu werdeu. Der Landrat muß sich sehr vorsehen, wie
er mit seinem Kreistage und mit seinen querköpfigen Bauern auskommt, ohne
seinem Ansehen etwas zu vergeben. Der Schulze — du lieber Gott, der
Schulze! Wen wählt man zum Schulzen? Sicher nicht den, von dem zu er¬
warten ist, daß er auf gute Ordnung halten werde. Jede Gemeinde hat den
Schulzen, den sie verdient; darum haben viele Gemeinden recht schlechte Schulzen.
Es ist ein schwerer Fehler, daß der Schulze von der Gemeinde gewählt wird.
Ein gewählter Mann, ein abhängiger Mann. Der Amtsvorsteher endlich ist
ein Beamter, der seine Geschäfte im Nebenamte verwaltet, aber dafür so be¬
zahlt wird, daß man für je zwei Amtsvorsteher einen solchen im Hauptamte
haben könnte, was ein großer Gewinn sein würde. Schon die Ungleichmäßig-
keit der polizeilichen Verfügungen in kleinen neben einander liegenden Bezirken
wirkt auf das Rechtsgefühl des Volkes ungünstig. Hier herrscht ein Amts¬
vorsteher, vielleicht ein gewesener Offizier oder so etwas, als Pascha, gleich
daneben läßt Herr von Waschlappsky die Geschäfte von einer Schreiberseele
besorgen, und daneben sitzt ein Bauer, der seinen Vorteil kennt, und dem es
nicht darauf ankommt, die Schulen des Scharlachs wegen zu schließen, um
Kinder zum Rübenziehen zu haben.
Aber die Selbstverwaltung hat sich doch durchaus bewährt. Ja, von
oben besehen. Die Maschine geht; aber welche Gewähr für Dauerhaftigkeit
giebt sie? Wo die gute alte Sitte noch nicht durchbrochen ist, da ist keine
Not, da hat man friedliche Gemeinden und eine patriarchalische Verwaltung.
Unter solchen Umstünden geht es bei jeder Staatsverwaltung und auch ohne
sie; wo es aber darauf ankommt, der hereinbrechenden Verwilderung Wider¬
stand zu leisten, da erweist sich die Selbstverwaltung als wehr- und hilflos.
Eine höchst optimistische Voraussetzung der Selbstverwaltung ist die Annahme,
daß die Menschen in ihrer großen Menge verständig und mündig seien. Die
große Menge schickt sich eben an, den Gegenbeweis zu liefern.
Hierzu kommt noch ein Übelstand, der nicht in den Gesetzen selbst liegt,
aber doch ihre natürliche Folge ist: die obern Instanzen saugen das Ansehen
der untern auf. Die obern Instanzen haben neben sich beratende Körperschaften,
die ihnen einen Teil der früher unbeschränkt ausgeübten Macht abnehmen. Da
es nur ein menschlicher und natürlicher Wunsch ist, zu herrschen, so holen sich
die höhern Instanzen die verloren gegangene Macht von den untern, deren
Bestimmungsrecht sie beschränken. Und so gehts weiter, sodaß der ausführende
Beamte eine verdächtige Ähnlichkeit mit einem Hampelmann gewinnt, der Hand
und Fuß nur regen darf, wenn von fremder Hand an dem Faden gezogen
Wird. Die Merkzeichen dieses Adelstandes findet man in allen Zweigen der
Verwaltung, der staatlichen, wie der kirchlichen. Nur in der Armee hat man
wohlweislich nicht zentralisirt, in der Armee liegt nach wie vor der Schwer¬
punkt der Verwaltung bei der Kompagnie. Weiß der Beamte, daß er nichts
zu sagen hat und nichts gilt, wenn nicht die höhere Genehmigung hinzukommt,
hat er das Gefühl, daß er im Rücken uicht sicher gedeckt ist, daß er vielmehr
^ mag er sachlich noch so sehr Recht haben — in der Patsche sitzen bleibt,
wenn ein formelles Verschen vorliegt, hat er die Erfahrung gemacht, daß es
schwer ist, an den vielen Schntzparagraphen für allerlei Leute, besonders auch
für die „edelsten Elemente der Nation" vorbei zu kommen, ohne sich zu reißen,
so geht die Sicherheit des Auftretens, das Vertrauen, die Lust zum Amte ver¬
loren. Wenn die da oben es besser Nüssen, laßt sie es doch machen! Darum
fehlt es an der von oben erwarteten sichern Ausführung von Verordnungen.
Ich bezweifle es, daß vermehrte Revisionen daran viel ändern würden. Was
will man auch revidiren? Das Beste, den Geist der Amtsführung, kann man
nicht durch Reglements schaffen. Ich würde vielmehr den umgekehrten Weg
für den richtigern halten, die Lokalbehörden zu stärken, ihnen freiere Hand
und sichere Stellung und bestimmt umschriebene Angaben zu geben.
Es wird viel zu viel regiert, und dabei befindet sich der Regierende in
einer selbstgeschaffenen formalen Welt, aber die wirkliche Welt geht ihre
eignen Wege. Wir haben es erlebt, daß ein lange vorbereiteter Streik von
ungeheurer Ausdehnung losbricht, und die Behörden haben keine Ahnung von
der Lage der Dinge gehabt. Man kann vom grünen Tisch aus und nach
juristischer Schablone nicht das Land regieren, man kann es vor allen Dingen
uicht in schwierigen Zeiten. Das fühlt man, darum herrscht in den höhern
Verwaltungskreisen eine begreifliche Zaghaftigkeit den kommenden Dingen
gegenüber.
Wir brauchen ein persönlicheres Regiment, wir haben zuviel Kollegien. Wir
brauchen auch ein sachlicheres Regiment, wir haben zu viel Juristen. Die
gesamte Verwaltung ist gesättigt mit Juristerei, und die Juristen sind Leute,
die ihr juristisches Einmaleins trefflich verstehen, aber in dein Vorurteil be-
fangen sind, daß sie alles verstünden und daß, was nicht juristisch gedacht und
eingefügt ist, überhaupt keine Existenz habe. Das Wort: Huocl non ost In
Koels, non ost in iriuuclo gilt heute noch und läßt sich so übersetzen: Was
formell erledigt ist, ist durchaus erledigt. Die sachlichen Beiräte, deren man
allerdings nicht entbehren kaun, sind das fünfte Rad am Wagen der Kollegien.
Von diesen sachlichen Beiräten, überhaupt von deu herangezogenen Sach¬
verständigen wird vorausgesetzt, daß sie unfehlbar seien, und daß sie aus der
Ferne alles besser wüßten als die, deren eigne Sache es ist. Denn in eigner
Sache hat niemand ein juristisch wiegendes Urteil. Das heißt: es muß jede
Aussage uuter Beweis gestellt werden, auch das, was um sich glaubwürdig
oder einleuchtend ist. Dies geschieht durch das Zeugnis einer zweite» Person,
die darauf vereidigt ist, alles zu wissen. Das ist formell ganz schön und
richtig, aber wie oft wird hierbei Vernunft Unsinn! Was wird regiert, ge¬
schrieben, gefragt, geantwortet, und nur die Post hat den Nutzen davon.
Hier ein kleines Beispiel. In W. wird der Kircheuacker neu verpachtet.
Er bringt statt 5Ul Mark 515 Mark. Der Gemeindekirchenrat freut sich, seinen
Acker so gut angebracht zu haben, wenn auch 20 Mark sür den Morgen
nicht viel ist. Aber der Acker unterm Walde ist nicht besonders gut, und der
Zuckerkrach hat ein allgemeines Weichen der Pachte zur Folge gehabt. Unter
diesen Umständen zwei Mark mehr zu erhalten, ist eine erfreuliche Sache. Die
Kontrakte werden zur Genehmigung an die Regierung geschickt. Natürlich gilt
die Stimme der Mitglieder des Gemeindekirchenrats, angesehener Männer in
ihrer Gemeinde, in eigner Sache nichts. Dagegen ist das sachverständige Ur¬
teil des Amtsvorstehers, der ein paar Stunden von W. entfernt wohnt und
den Kirchenacker nie gesehen hat, auch nie sehen wird, unanfechtbar. Die Kon¬
trakte wandern zu dem Amtsvorsteher mit der Anfrage, ob 20 Mark für den
Morgen nicht zu billig sei. Der Amtsvorsteher fordert den Schulzen auf,
über die Verpachtung des Kirchenackers zu berichten. Der Schulze erwidert:
er habe den Acker nicht verpachtet, sondern der Gemeindekirchenrat. Nochmals
an den Schulzen: er solle sich gutachtlich äußern, ob 20 Mark für den Morgen
nicht zu billig sei, und wie hoch sich der Durchschnittsbetrag der Pachte belaufe.
Der Schulze, der selbst gepachtet hat, Hütte gern auch zwölf Mark für angemessen
gehalten. Um eine Antwort fertig zu bringen, geht er zum Herrn Pastor und
läßt sich die Sache klar machen. Man antwortet: 20 Mark seien angemessen,
der Durchschnittsbetrag der Pachte in der Flur sei 25 Mark. Zurück an
den Amtsvorsteher — Laudrat — Regierung. Zurück an den Gemeinde¬
kirchenrat: woher es komme, daß der Kirchenacker so billig verpachtet sei, da
der Durchschnittspreis 25 Mark betrage. Man mache sich klar, welchen Ein¬
druck eine solche Verfügung auf den Gemeindekirchenrat und auf die Gemeinde
machen muß! Der Pfarrer kaun die Partei der Behörde nicht nehmen, sondern
muß antworten: Weil nicht mehr geboten worden ist. Gemeindekirchenrat
würde königlicher Regierung' höchst dankbar sein, wenn sie eine höhere Ver¬
pachtung des Kirchenackers bewirken könnte. Nun erfolgt die Genehmigung.
Wozu also der ganze Umstand?
Es ist eine überaus bequeme Sache, formell zu entscheide!?, wobei man
sich um die praktische Wirkung nicht zu kümmern braucht; es ist aber zu einer
wirkungsvollen Verwaltung unerläßlich, daß die Sache niemals aus dem Auge
verloren werde. Wir haben Polizeivervrdnnngen über die äußere Heilighaltung
des Sonntags. Der Sinn dieser Verordnung ist doch die Einstellung der
Arbeit. Nun kann man alle Jahre sehen, daß zur Bestellzeit in gewissen
großen Domänen alle Sonntage mit allen Gespannen geankert wird. Wie ist
das möglich? Sehr einfach: der Herr Amtsrat zahlt alle Sonntage seine
Mark fünfzig Pfennige Strafe, was für ihn gar nichts bedeutet. Und die
staatliche Behörde giebt sich mit solcher Verhöhnung ihres eignen Gesetzes zu¬
frieden! Übertretung und Strafe heben sich, um weiteres kümmert man sich
nicht. Aber welchen Eindruck machen solche Vorgänge ans die ganze Gegend!
Was sagt man dazu, daß sich ein Staatsanwalt und mehrere Juristen, die
gern einen verbotenen Weg gehen wollten, bereit erklärten, die Strafe im
voraus zu hinterlegen? Das läßt tief blicken, sagt Sabor. In einer
thüringischen Stadt besteht die Pvlizeiverordnung, daß mit so und so viel
bestraft wird, wer Mist aus seinem Wagen fallen läßt. Um, fährt ein
Bäuerlein Mist ab, der mehr Jauche ist, und zieht durch die ganze Stadt
seine duftende Linie. Er wird polizeilich bestraft, aber gerichtlich freigesprochen,
weil der Mist herausgestossen — nicht herabgefallen sei. Es sind Hauptkerls, die
Herren Juristen. Es soll nicht behauptet werden, daß Entscheidungen wie die
eben angeführte die Regel seien; aber das in die Angen springende Beispiel
läßt erkennen, wie weit sich juristisches Denken von dein natürlichen, gesunden
Menschenverstande entsernen kann. Wir brauchen Juristen, die etwas mehr
verstehen als ihre Juristerei, die auch die schwere Kunst üben, bisweilen
zu vergessen, daß sie Juristen sind, und zu denken und zu sehen wie gewöhn-
liehe Menschenkinder. Wenigstens ist vorderhand noch nicht zu erwarten, daß
sich die Welt zu einer rein juristischen umgestalten werde. Es ist durchaus
nötig, die juristische Allmacht in den verschiednen Gebieten der Verwaltung
zu beschränken und den nicht juristischen Mitgliedern der Räte, den technische»
Beamten die nötige Freiheit und das nötige Gewicht zu verschaffen. Wir
brauchen ein sachliches Regiment.
Was ist denu die Aufgabe? Sozialdemokratin zu bekehren ist nicht die
Aufgabe, denn das würde ein undurchführbares Unternehmen sein; aber die
Vevölkerungsschichten, die noch nicht uubekehrbar geworden sind, von den un¬
verbesserlichen zu trennen und sie vor weiteren Verfalle zu bewahren, das ist
die Aufgabe. Es ist wunderbar, mit welchem Fanatismus jene Weltverbesserer
an ihre „Religion" glauben. Ein protestantischer Bischof hat schon vor fünf¬
undzwanzig Jahren diesen begeisterten Glauben, der einer bessern Sache würdig
wäre, mit dein der ersten Christen verglichen. Das ist zu günstig geurteilt,
^ber man könnte ihn mit dem eiues Spekulanten vergleichen, der seinen letzten
Groschen eingesetzt hat, und der mit Hartnäckigkeit an seinen Erfolg glaubt.
Denn wenn er nicht Erfolg hat was dann? Gründe helfen nicht, Vernunft
6lebt nicht, wo eine so leidenschaftliche Begehrlichkeit dawider redet, und wo
scheinbare Erfolge zu neuen Thaten anspornen. Auch die Erfüllung berechtigter
Wünsche wird nichts helfen. Die nltiinu, ratio ist auch nicht die Kanone,
sondern der Hunger. Wir befinden uns vielleicht in größerer Nähe dieser
^ntscheidnng, als man glaubt. Sobald sich der Arbeitgeber den Forderungen
seiner Arbeiter gegenüber in die Unmöglichkeit versetzt sieht, weiter arbeiten
zu lassen, hat der Spaß ein Ende, die Bewegung zerplatzt und vergeht wie
eine Blase. Es würde uicht das erstemal sein, das; sozialistische Bewegungen
dieses Ende genommen haben. Die Zigarrenarbeiter in Magdeburg, Halber¬
stadt, Wernigerode und Vraunschweig, die mit ihrem Arbeiternachweisungs-
bürean ganz unmögliche Bedingungen gestellt hatten, haben bereits bittere Erfah¬
rungen machen müssen. Hier hat die Welle des Sozialismus bereits ihren
Höhepunkt erreicht und kippt über.
Es ist kein Grund zur Mutlosigkeit vorhanden, sofern es sich um die
eigentliche soziale Krankheit handelt. Aber die Lage erscheint bedenklich genug,
wenn wir bemerken, daß wir es im Grunde mit einer tiefern und weiter ver¬
breiteten Volkskrankheit zu thun haben, der Verwilderung, deren eigentliche
Wurzeln im Familienleben liegen. Die Aufgabe ist eine volkspädagogische.
Es ist in der That eine staatliche Aufgabe. Denn offenbar muß, wo die
Kraft des Einzelnen nicht ausreicht, die Kraft der Gesamtheit eintreten, das
ist doch der Sinn jeder Staatsaufgabe. Wenn die Gesamtheit den Entschluß
nicht fände, einzugreifen, dann wäre die Lage hoffnungslos. Der Staat, dessen
Aufgaben man anf „Nachtwächterdienste" beschränkt hat, kann es freilich nicht,
aber von unserm preußischen, monarchischen, christlichen Staate hoffen wir mit
Zuversicht, daß er der Staat, Kirche und Familie auflösenden Strömung werde
Herr werden. Der Staat hat in dein Menschenalter nach dem dreißigjährigen
Kriege schon einmal die Aufgabe gehabt, die aus den Fugen gegangene Gesell¬
schaft nen zu ordnen, es liegt ihm jetzt, nachdem man der Selbstbestimmung
des Einzelnen einen größern Raum gegeben hat, als ihm gut war und er
vertragen konnte, die Aufgabe ob, die Zügel straffer anzuziehen und das Gewicht
seines Ansehens dn einzusetzen, wo der Einzelne das eigne Ansehen nicht zu
wahren vermag. An die Rücksichtslosigkeiten des Absolutismus jener Zeiten,
an den Korporalstock Friedrich Wilhelms I. denken wir nicht, jede Zeit hat
ihre eigne Art und ihre eignen Mittel; aber doch an kräftigere und tiefer
greifende Maßnahmen, als sie in der eben dein Reichstage vorliegenden Gewerbe-
nvvelle vorgeschlagen werden. Da soll den Eltern, um ihre elterliche Autorität
zu stärken, gestattet sein, die Arbeitsbücher ihrer Kinder einzufordern und ein¬
zusehen. Ob das etwas helfen wird? Wenn wir es mit Eltern zu thun
hätten, die ihre Elternrechte ausübten, so wäre der Notstand überhaupt nicht
vorhanden.
Vor allem aber müßte der Staat bei sich selber anfangen, er müßte seine
Negiernngsmaschine straffer und zuverlässiger einrichten und deu Schwerpunkt
mehr auf die Seite der Lokalbehörden legen. Die Stärkung der Autorität
an Haupt und Gliedern, das ists, was uns not thut.
er Entwurf des Sozialistengesetzes war trotz seiner bedeutenden
Abschwäch» ng vom Reichstag in einer solchen Weise abgeändert
worden, daß er der Regierung unannehmbar wurde, und wenn
nicht alle Zeichen trügen, so wird die Regierung dem Reichstag
einen neuen Entwurf nicht vorlegen, mag sie min von der durch
den Staatsminister Herrfurth vertretenen Anschauung von der Notwendigkeit
des Sozialistengesetzes zurückgekommen sein, oder mag sie annehmen, der jetzige
Reichstag werde ihr gewiß das nicht gewähren, was ihr der letzte, so wesentlich
anders zusammengesetzte verweigert hat. Wir wollen hier nicht die Gründe für
oder wider den Erlaß eines Sozialistengesetzes erörtern, sondern nur einen kurzen
Rückblick auf die Anwendung und die Wirksamkeit des Gesetzes werfen und einen
Blick auf die nächste Zukunft, wie sie sich nach Wegfall des Gesetzes gestalten wird.
Es wird jetzt dem Gesetz und zwar, seit es von der Regierung auf¬
gegeben scheint, auch von solchen, die früher lebhaft dafür eingetreten sind,
manches schlechte nachgesagt. Es soll gar nichts genützt haben, da es die
Bewegung uicht aufgehalten habe. Man giebt zu, daß es zwar den äußern
Svektcckel etwas zurückgehalten, die Führer zur Vorsicht gemahnt und gewisser¬
maßen erziehend, wenn auch nur äußerlich, auf die Auhüuger der Sozialdemo¬
kratie gewirkt habe, aber das, meint man, sei nicht der Rede wert. War denn
das aber nicht eine recht bedeutende Wirkung? Sollte wirklich jemand im
Ernst die Absicht für richtig gehalten haben, die Bewegung, in der doch an¬
erkanntermaßen manches richtige zu Tage tritt, einfach niederzuschlagen! Wie
man jetzt auch wieder so oft hervorhebt, daß mau den Sozialdemokraten vom
Anarchisten trennen müsse, so war es auch der Zweck des Gesetzes, nur die
»gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" zu bekämpfen, und die
Verteidiger des Gesetzes haben nie ein Hehl daraus gemacht, daß nur die „auf
den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gerichteten"
svzinldemvkratischen Bestrebungen vom Gesetz getroffen werden sollten. Nie¬
mandem fiel es ein, die in der sozialdemokratischen Bewegung hervortretenden
guten Gedanken, denen sich auch die Regierung seit Jahren nicht verschloß,
An ersticken; daß nur aber deren Weiterentwicklung nnr ans friedlichem Wege
wünschen konnte, lag auf der Hand. Hat aber das Sozialistengesetz die Be¬
wegung in einer ruhigen Bahn erhalten, hat es erziehend gewirkt, so hat eS
auch reichlich genützt. Geht doch überhaupt die Erziehung darauf aus, die
fortschreitende Entwicklung des Menschengeschlechts in ruhigere Bahnen zu
leiten und darin zu erhalten, nicht aber sie zu hemmen. Wer jetzt der Ansicht
ist, daß diese erziehende Seite des Sozialistengesetzes so gering anzuschlagen sei,
der werfe einmal einen Blick in die sozialdemokratischen Zeitungen, wie sie
vor dem Erlaß des Sozialistengesetzes erschienen, der lese die Berichte über
die svzialdemvkrntischen Versammlungen aus jeuer Zeit, von andern Dingen zu
schweigen, und er wird gewiß das Irrtümliche seiner Ansicht einsehen. Auch
der so schrecklich geschilderte Ausweislingsparagraph soll keinen Nutzen gehabt,
vielmehr nur die sozialistische Bewegung aus den großen Städten in die Pro¬
vinz getrieben haben. Nun ist es ja richtig, daß ein ausgewiesener Sozial-
demokrnt leicht an seinem neuen Aufenthaltsorte der Mittelpunkt einer Bewegung
werden konnte; er wurde es aber nicht immer, viele haben sich nach erfolgter
Ausweisung sehr ruhig verhalten. War aber den Hanptlenkern der Bewegung
daran gelegen, diese an irgend einem Orte hervorzurufen, so brachten sie das,
wie jeder, der mit diese» Angelegenheiten zu thun gehabt hat, bezeugen kann,
anch ohne die Mithilfe ausgewiesener Aufreizer fertig. Umgekehrt bot der Alls¬
weisungsparagraph auch die willkommene Gelegenheit, die ärgsten Wühler aus
den kleinern Orten fortzuschaffen, indem man ihnen auch dort den Aufenthalt
versagte, und es ist eigentlich merkwürdig, daß dieser wichtige Punkt bei den
Verhandlungen über das Sozialisteugesetz so gar nicht hervorgehoben worden ist.
Wenn man schließlich den: Gesetze gar zum Vorwurf macht, es habe die Arbeiter
gereizt und deshalb die Aufhebung verdient, dann muß man folgerichtig alle
Gesetze für fehlerhaft erklären, die in irgend einer Weise der freien Bewegung
eine notwendig erscheinende Schranke setzen; denn jeder, der hierdurch seine
freie Bewegung gehemmt sieht, wird dadurch mehr oder weniger verstimmt
oder gereizt werden.
Aber nicht nur das Gesetz selbst, sondern namentlich auch seine Anwendung
ist oft und insbesondre bei den Neichstagsverhandlungen über den letzten Ent¬
wurf lebhaft getadelt worden, auch von solchen, von denen man mehr auf eine
Unterstützung der Behörden hätte rechnen sollen, und derartige Vorwürfe sind
auch aufrecht erhalten worden, obwohl ihnen der Minister Herrfurth, gewiß
ein klassischer Zeuge, aufs kräftigste entgegentrat. Hätte man doch über die
Handhabung des Sozialistengesetzes statistische Angaben verlangt, die gar nicht
so schwer zu beschaffen gewesen wären! Man hätte z. V. feststellen sollen, wie
viele sozialdemokratische Versammlungen überhaupt abgehalten worden sind, wie
viele davon ausgelost oder verboten worden sind, gegen wie viele dieser Auf¬
lösungen und Verbote Beschwerde erhoben ist, und wie viele von diesen Be¬
schwerden endlich von Erfolg begleitet gewesen sind. Es würde sich dann eine
verschwindend kleine Zahl ergeben haben. Ein ähnliches Verhältnis Hütte sich
ergeben, wenn man Erhebungen über die Erzeugnisse der sozialdemvkratischeii
Litteratur und die dagegen ergriffenen Maßnahmen angestellt hatte. Vielleicht
darf man aber auch bei aller Bescheidenheit die Frage auswerfen, ob denn die
Aufhebung der Verfügung einer untergeordneten Behörde durch eine höhere
Instanz immer als Beweis einer fehlerhafte» Entscheidung oder Maßnahme
der untern Instanz gelten kann. Die Sachen nehmen im Beschwerdeverfahren
eine mit der Höhe der Instanz sich steigernde Abblasfung der Farben an,
sodaß eine Menge Punkte, die in erster Instanz maßgebend sein mußten, oben
gar nicht mehr zur Erscheinung kommeu. Man kann getrost sagen, daß gar
manche Vcschwerdeinstanz der ersten Instanz entsprechend entscheiden würde,
wenn die Angelegenheit sich vor der erkennenden Behörde selbst abgespielt hätte.
Es kommt aber auch, namentlich bei politischen Behörden, öfters vor, daß in
den obern Instanzen andre Anschauungen maßgebend werden, ohne daß die
untern Instanzen davon Kenntnis erhalten, sodaß diese nach den bisherigen
Anweisungen und Entscheidungen weiter Verfahren und erst recht spät bei Ge¬
legenheit eiues zufälligen Spezialfalles von der Änderung in den Anschauungen
der maßgebenden Behörden Kunde erlangen, indem thuen eine früher für
richtig befundene Verfügung nun als unbegründet aufgehoben wird. Es ist
wahrlich kein Grund dazu vorhanden, aus der Aufhebung eines mäßigen
Prozentsatzes polizeilicher Verfügungen Anlaß zum Mißtrauen gegen die Po¬
lizeibehörden zu entnehmen, ebenso wenig wie nun unsre Gerichte für unzu-
verlässig hält, obwohl doch die abweichende Entscheidung derselben Sache in ver¬
schiedenen Instanzen durchaus nicht zu den Seltenheiten gehört. Sonach dürsten
die Vorwürfe gegen das Gesetz und dessen Handhabung in sich zusammen
fallen, wie ja auch die Handhabung des Ausweisungsparagraphen ausdrücklich
als rücksichtsvoll anerkannt worden ist.
Wie wird es nun uach Wegfall des Sozialistengesetzes werden? Wer das
Gesetz für schädlich hält, muß natürlich annehmen, daß nach der Wegräumung
dieses Steines des Anstoßes eitel Wohlbehagen im Reiche einziehen wird.
Wohl die überwiegende Mehrheit giebt sich aber solchen Hoffnungen uicht hin,
sondern sieht der Zukunft nicht ohne Bedenken entgegen. Wenn von denen,
die wesentlich zum Fall des Gesetzes beigetragen haben, nun der Regierung die
Verantwortung dafür zugeschoben werden soll, weil sie dem Reichstage das
Gesetz nicht noch einmal vorgelegt habe, so kann dies nur einen etwas eigen¬
tümlichen Eindruck hervorrufen, läßt aber durchblicken, daß denen, die sich dieser
Schlußfolgerung bedienen, selbst vor ihrem eignen Werke bange wird und sie
die Verantwortung dafür gern auf andre Schultern wälzen möchten.
Andre halten den Wegfall des Sozialistengesetzes für nützlich, weil infolge
der dann entstehenden Freiheit der bisher verborgen gehaltene Giftstoff offen
hervortreten und der dadurch bewirkte Zustand auch dem blödesten Auge die
Notwendigkeit der jetzt bei der nicht genügend verbreiteten Kenntnis des Nbels
für überflüssig gehaltenen Beschränkungen der Freiheit der sozialdemokratischen
Agitation klar machen werde. Man werde dann die nötigen Schranken wieder
ziehen können, ehe es zu spät sei. Gewiß, weder das deutsche Reich noch der
preußische Staat werden über der sozialistischen Bewegung zu Grunde gehen.
Das Schicksal beider wird von einem starken Arm gelenkt, und nur haben noch
Gesetze, die im äußersten Notfall in Anwendung gebracht werden können; die
Perspektive ans diese Gesetze hat Minister Herrfurth in uicht mißzuverstehender
Weise im Reichstag eröffnet. Aber von dem Beginn der Zuchtlosigkeit bis zur
Anwendung der - erwähnte» Notgesetze ist el» gefährlicher Weg zurückzulegen,
doppelt gefährlich für zwei Klassen von Personen. Vor allem für den Arbeiter,
der um wieder allen Hetzereien und Wühlereien ohne jeden Schutz ausgesetzt
ist. Wie der Arbeiter durch solche Einwirkungen widerstandslos beherrscht wird,
hat »och jüngst die „Kölnische Zeitung" in einem sehr beachtenswerten- Artikel
gezeigt, worin sie als den größten Feind des Arbeiters den Arbeiter selbst
schilderte. Die andre Klasse von Menschen aber, für die die Übergangszeit
größere Bedenken mit sich bringt, sind die Behörde», die der sozialdemokratischen
Bewegung zunächst gegenüber stehen, insbesondre die Polizeibehörden; diese
werden einen sehr schweren Stand bekommen. Man wird nach wie vor von
ihnen verlangen, daß sie für Ruhe und Ordnung einstehen sollen, obwohl ihnen
eins der wirksamsten Mittel zur Erfüllung dieser Forderung entzogen ist. Sie
werden natürlich mit demselben Eifer und derselben Berufstreue den Kampf
für die bürgerliche Ordnung weiter führen wie bisher; was aber alles uach
denk 1. Oktober eintreten wird, kaun der aufmerksame Beobachter schon jetzt
zur Genüge wahrnehmen. Hoffentlich wird deu Polizeibehörde» dan», wenn
sie nicht mehr das leisten können, was sie möchten, eine mildere Beurteilung
zu teil werden, als sie ihnen wegen der Handhabung des Sozialistengesetzcs
vielfach zu teil geworden ist.
meer dem Titel „Deutsche Bestrebungen in Ostafrikn" ist in:
Maihefte von Blackwoods I^iinbuigli NsAa-imo ein Aufsatz er¬
schienen, der sich, wie es im Eingänge heißt, die Aufgabe gestellt
hat, dem englischen Publikum über die deutsche Politik in Ost¬
afrika die Augen zu öffnen und nachzuweisen, daß zwischen den
so oft wiederholten Bersichernngcn der dentschen Regierung, freundliche Be¬
ziehungen mit England unterhalten zu wollen, und ihrem thatsächlichen Vor¬
gehen in jenen Gegenden der schroffste Widerspruch bestehe.
Der Aufsatz, der den Raum von achtzehn dopvelspaltigcu Seiten einnimmt,
enthält eine ununterbrochene Reihe von unrichtigen und tendenziös gefärbten
Ausführungen, die in dem Satze gipfeln, daß es keinen Vertrag, leine Über¬
einkunft und keine öffentliche Verbindlichkeit irgend welcher Art bezüglich Ost-
nfrikas gebe, die Deutschland in seiner England feindlichen Politik nicht ohne
Zandern durch Handlungen seiner Beamten und Vertreter verletzt habe. Daß
der ungenannte Verfasser mit seinen Darlegungen ans weitere Kreise Eindruck
machen sollte, ist bei der ruhigen und nüchternen Denkweise des englischen
Publikums kaum anznuehnien; da aber der Aufsatz in einer so angesehenen
Zeitschrift Aufnahme gefunden hat, wäre es kaum angemessen, wenn er von
deutscher Seite mit Stillschweige» Übergängen würde.
Der Verfasser geht bei seinen Ausführungen von dem zwischen
Dentschland und England über die Ausdehnung des Sultanats von
Sansibar und über die Abgrenzung der beiderseitigen Interessengebiete in
Ostafrika getroffenen Abkommen vom 2'.», Oktober/1. November 1886 aus.")
Dieses Abkommen, soweit es hier in Betracht kommt, lautet: „Nachdem die Regierung
Seiner Majestät des Kaisers und die Königlich Großbritannische Regierung übereingekommen
sind, im Wege freundschaftlicher Verständigung verschiedne das Sultanat von Sansibar und das
gegenüberliegende ostnfrikanische Festland betreffende Fragen zu regeln, haben zu diesem Zwecke
mündliche Berhandluugeu stattgefunden, bei welchen die nachstehenden Artikel vereinbart sind.
1. Deutschland »ud Groschritcmnieu erkennen die Souveränität des Sultans von Sansibar
über die Jnseln Sansibar und Panda, sowie über diejenigen kleineren Inseln an, welche in
der Nähe der ersteren innerhalb eine? Umkreises von zwölf Seemeilen liege», desgleichen über
die Inseln Bann und Mafia.
Dieselben erkennen in gleicher Weise als Besitz des Sultans auf dem Festlande eine
Kiistenliuie an, welche ununterbrochen von der Mündung des Mininganiflusses am Ausgang
der Tnnghibucht bis Kipini reicht. Diese Linie beginnt im Süden deS Mininganiflnsses, folgt
dein Laufe desselben fünf Seemeilen und wird dann auf dem Breiteuparallel bis zu dem
Punkte verlängert, wo sie das rechte Ufer des Rovnmaflusses trifft, durchschneidet den Rovuma
und läuft weiter an dem linken Ufer entlang.
Die Küstenliuie hat eine Tiefe landeinwärts von zehn Seemeilen, bemessen durch eine
gerade Linie ins Innere von der Küste aus bei dem höchsten Wasserstande zur Flutzeit. Die
nördliche Grenze schließt den Ort Kan ein. Im Norden von Kipini erkennen die genannten
Regierungen als dem Sultan gehörig an: die Stationen von Kismaju, Barnwa, Merkn,
Makoischn mit einem Umkreis landeinwärts von je zehn Seemeilen und Warscheik mit einem
Umkreis von fünf Seemeile».
N. Beide Mächte komme» überein, eine Abgrenzung ihrer gegenseitigen Interessensphäre«
>n diesem Teile des ostafrikanischen Festlandes vorzunehmen, in gleicher Weise, wie dies früher
bei den Gebieten am Golf vou Guinea geschehen ist.
Das Gebiet, auf welches dieses Übereinkommen Anwendung findet, soll begrenzt sein im
Süden durch den Rvvumafluß und im Norden durch eine Linie, welche, von der Mündung des
Tnnaflnsses ausgehend, dem Laufe dieses Flusses oder seiner Nebenflüsse bis zum Schueidc-
punkt des Äguators mit dem L8. Grad östlicher Länge folgt und dann in gerader Richtung
wrtgeführt wird bis zum Schneidepunkt des ersten Grades nördlicher Breite mit dem "7. Grad
östlicher Länge, wo die Linie ihr Ende erreicht.
Um den Boden für die weitern Ausführungen zu ebnen, wird zunächst dar¬
zulegen gesucht, daß England Deutschland in diesem Abkommen die weitest-
gehenden Zugeständnisse gemacht und sich dadurch — wie zwischen den Zeilen
zu lesen ist — einen Anspruch ans die Dankbarkeit der deutschen Regierung
erworben habe. Es wird in dieser Beziehung zunächst die durch Artikel 5
erfolgte Anerkennung des Sultauats von Wien angeführt. Wien, so wird
bemerkt, sei ein unbedeutender, der Insel Lamu gegenüberliegender Bezirk, der
unter deutschem Schutze stehe und — was vielleicht von vornherein beabsichtigt
gewesen sei — einen Stachel in der Seite des britischen Interessengebietes bilde.
Zu einem Sultgnat sei jenes Ländchen erst durch die Deutschen aufgebauscht
worden, die dem Häuptling Fumo Bakari den Sultanstitel gegeben hätten,
teils um sein Ausehen zu erhöhen, teils weil sie diesen Titel allen Neger- und
Hindu-, allen mohammedanischen und andern Eingelwrnenhäuptlingen ohne
weiteres beizulegen pflegten.
Ein ganz besondres englisches Zugeständnis sieht der Verfasser darin, daß
Deutschland in dem Abkommen ein größeres Gebiet als England zuerkannt
ist. Nicht ohne Bitterkeit wird hierzu bemerkt, daß die sogenannten Rechte
Deutschlands auf das ihm zuerkannte große Landgebiet sich auf acht Verträge
gestützt hätten, durch die zwei schlecht ausgerüstete Reisende, Dr. Peters und
Graf Pfeil, die Gebictsrechte der dort angesessenen Häuptlinge angeblich er¬
worben hätten. Wie unzutreffend diese Ausführungen sind, liegt ans der Hand.
Jeder, der auch nur oberflächlich mit den einschlägigen Verhältnissen bekannt
ist, weiß, daß die Familie der Nebauahideu, der die Herrscher von Wien an¬
gehören, eher in jenem Lande geherrscht hat, als die jetzt in Sansibar regie¬
rende Linie der Sultane von Maskat nach Afrika herüberkam. Jedermann
weiß ferner, daß die deutsche Regierung bei den Verhandlungen über das er¬
wähnte Abkommen niemals behauptet hat, daß ihr auf Grund von Verträgen
oder sonstigen Rechtstiteln die Oberhoheit über das gesamte jetzige deutsche
Interessengebiet zustehe. Eine solche Behauptung ist ihrerseits ebensowenig anf-
Die Demarkationslinie soll ausgehen von der Mündung des Flusses Warga oder Umba,
in gerader Richtung nach dem Jipesee laufen, dann entlang an dem Ostufer und um das
Nordufer des Sees führend den Fluß Luini überschreiten, um die Landschaften Taveta und
Dschagga in der Mitte zu durchschneiden und dann entlang an dem nördlichen Abhang der
Bergkette des Kilimcindjcharo in gerader Linie weitergeführt zu werden bis zu demjenigen
Punkte am Ostufer des Viktoria-Nyanznsees, welcher von dem ersten Grad südlicher Breite
getroffen wird.
Deutschland verpflichtet sich, im Norden dieser Linie keine Gebietserwerbnngen zu machen,
keine Protektorate anzunehmen und der Ausbreitung englischen Einflusses im Norden dieser
Linie nicht entgegenzutreten, während Großbritannien die gleiche Verpflichtung für die südlich
von dieser Linie gelegenen Gebiete übernimmt.
5. Beide Mächte erkennen als zu Wien gehörig die Küste an, welche nördlich von Kivim
beginnt und sich bis zum Nordende der Mcmdabncht erstreckt."
gestellt worden, wie es englischerseits bezüglich des englischen Interessengebietes
geschehen ist. Der Umfang und die Lage des damaligen Besitzstandes beider
Nationen ist aber bei der Teilung des weiten, größtenteils uoch unerforschten
Ländergebietes vom Rovuma bis zum Tanaflusse maßgebend gewesen. Wenn
daher das deutsche Gebiet größer bemessen ist als das englische, so hat das
seinen Grund lediglich darin, daß deutsche Unterthanen damals in weiteren Um¬
fange Gebietsrechte erworben hatten, als englische. Von einem Zugeständnis
Englands kann daher weder hier noch bei der Anerkennung von Wien die Rede sein.
Nachdem der Verfasser auf den Neid hingewiesen hat, der die mit ihrem
ersten Versuch in Ostafrika so kläglich gescheiterten Deutschen gegen die vom
Glück begünstigte Vritisch-ostafrikanische Gesellschaft erfüllt habe, kommt er auf
die einzelnen Punkte, aus denen sich das vertragswidrige Verhalten Deutsch¬
lands ergeben soll. Zunächst wird da die Zollerhebung des Sultans von
Wien im Velesonikanal, einer künftigen Wasserstraße zwischen dem Tana- und
Osiflusse, ins Feld geführt. Den Deutschen wird zur Last gelegt, daß sie diese
völlig unberechtigte Maßregel, durch die der Handel aus dem Innern (mit
Elfenbein ?e.) mich dem der Britisch-ostafrikanischen Gesellschaft vom Sultnu
von Sansibar verpachteten: Küstenstrich schwer geschädigt worden sei, veranlaßt
hätten. Ferner wird der kaiserlichen Negierung der Vorwurf gemacht, daß sie
auf die Vorstellungen Lord Salisburys das Einschreiten gegen die gedachte
Zollerhebung des unter ihrem Protektorate stehenden Häuptlings unter leeren
Ausflüchten abgelehnt und sich zu einem Verbote desselben erst entschlossen
habe, als von der Britisch-ostafrikanischen Gesellschaft mit gewaltsamen Vor¬
gehen gegen die Station gedroht worden sei.
Die Angaben, die zur Begründung dieser Behauptungen gemacht werden,
sind durchweg unzutreffend. Zunächst ist der Velesonikanal nicht, wie erzählt
wird, von den Leuten des Sultans von Sansibar, sondern von dem Vorgänger
des Sultaus Fumo Bakari angelegt. Ferner sind dort niemals Zölle von den
aus dem Innern kommenden, sondern lediglich von den nach Wien bestimmten
Waren erhoben worden; inwiefern daher die von dein Verfasser behauptete
Schädigung erfolgt sein soll, ist unverständlich. Daß endlich der Belesonikanal
in dem dem Sultan von Sansibar gehörigen und nachher an die Britisch-ost-
afrikanische Gesellschaft verpachtete» Küstenstreifen liege, ist von dem Herrscher
von Wien niemals anerkannt worden. Wenn solches nach der Vermessung
eines britischen Seeoffiziers der Fall sein soll, so wird doch immerhin zu¬
gegeben werden müssen, daß dies eine einseitige Feststellung ist, die nicht ohne
weiteres für alle Beteiligten maßgebend sein kann. Die Rechtsfrage, ob die
Zollerhebung des Sultans von Wien berechtigt war, ist daher keineswegs so
klar, wie der Verfasser glauben machen möchte.
Die weitere Behauptung, daß die Errichtung der Zollstation von Deutschland
angeregt worden sei, ist völlig unbegründet. Darüber, ob Clemens Denhardt,
der übrigens niemals, wie in dem Aufsatze behauptet wird, die Stelle eiues
deutschen Konsnlaragenten oder eines Vertreters der deutschen Wien-Kompagnie
bekleidet hat, jene Maßnahme dem Sultan angeraten habe, ist uus nichts be¬
kannt. Jedenfalls hat er dies weder auf Anregung einer deutschen Gesellschaft
noch auf Anregung der kaiserlichen Regierung gethan. Was endlich das Ver¬
sälle,? der deutschen Negierung in der vorliegenden Frage betrifft, so ist zu
bemerken, daß einerseits der Sultan von Wien durch seine Stellung unter
deutschen Schutz das Recht auf Zollerhebung keineswegs aufgegeben, und daß
ebenso wenig der Sultan von Sansibar durch die Verpachtung der Küsten¬
strecke an die britische Gesellschaft auf seine Souveränitätsrechte verzichtet hat.
Hieraus folgt, daß die kaiserliche Negierung, selbst wenn sie die Einrichtung
der fraglichen Zollstation nicht für berechtigt hielt, dem Sultan von Wien
diese Aufhebung nicht ohne weiteres anbefehlen konnte. Weiter folgt daraus,
daß zu Beschwerden in der vorliegeichen Angelegenheit, da es sich um einen
Eingriff in die Souveränitätsrechte des Landes handelte, nicht die britisch-
vstafrikanische Gesellschaft, sondern nur der Sultan von Sansibar berechtigt
erschien. Wenn hiernach die kaiserliche Regierung aus die englischcrseits in
Berlin erhobenen Vorstellungen ein Einschreiten abgelehnt hat, so war dies,
wie übrigens, so viel wir wissen, auch von der königlich großbritannischen
Regierung anerkannt worden ist, durchaus korrekt und der Sachlage entsprechend.
Die Angabe unsers englischen Anklägers, daß die kaiserliche Regierung, als die
britische Gesellschaft Ernst gemacht habe, sich schließlich doch zum Verbote der
Zollerhebung entschlossen habe, ist ebenfalls nicht zutreffend. Sie hat ein solches
Verbot niemals erlassen. Dagegen hat sie allerdings dem Sultan Furo
Bakari, als er ihren Rat in der Angelegenheit in Anspruch nahm, geantwortet,
er werde besser thun, sich unter Vorbehalt seiner Rechte vom Belesonikamil
zurückzuziehen, als es zum Kampfe und Blutvergießen kommen zu lassen. Man
sollte meinen, daß die britische Gesellschaft keinen Anlaß hätte, sich über das
Vorgehet! Deutschlands in dieser Angelegenheit zu beklagen.
Der zweite Punkt der Anklageschrift gegen Deutschland hat die längst ent¬
schiedene Streitfrage über Lamu zum Gegenstand und sucht auch hier eine
deutsche Feindseligkeit künstlich nachzuweisen. Die betreffenden Ausführungen
bedürfen keiner Widerlegung, denn wenn der Verfasser anführt, daß Lord
Salisbury den deutschen Vorschlag, die Angelegenheit einem Schiedsrichter zu
unterbreiten, im Vertrauen auf die Gerechtigkeit seiner Sache angenommen habe,
so wird sich der Leser selbst sagen, daß die kaiserliche Regierung jenen Vorschlag
nicht ohne ähnliche Ansicht vou der Berechtigung ihrer Auffassung gemacht hat.
Von der Insel Lamm geht der Verfasser zu den Nachbarinseln Marta
und Palla über, deren Zollverwaltung von dem Sultan von Sansibar kürzlich
an die Britisch-ostafrikanische Gesellschaft verpachtet worden ist. Der Umstand,
daß die kaiserliche Regierung das Recht des Sultans zu dieser Maßunhme
^
nicht anerkannt und wahrend der hierüber eingeleiteten Erörterungen die
Wiederherstellung des se^tus <^no lodo verlangt hat, ist ihm ein neues Zeichen
der Perfidie Deutschlands. Allerdings wird erwähnt, daß auch der Sultan
von Wien Ansprüche auf die Inseln erhebe, diese Ansprüche werden aber als
Liuiävvy vliüins keiner weitern Erörterung wert gehalten. Ob sie wirklich so
schattenhaft sind, kann füglich den Verhandlungen der beiden beteiligten Regie¬
rungen überlassen bleiben. Einstweilen darf, da in dem deutsch-englischen Ab¬
kämmen vom Jahre 1886 wohl Lamu, nicht aber Manta und Palla als zum
Reiche des Sultans von Sansibar gehörig anerkannt sind, angenommen werden,
daß es mit dem Rechte des letztern auf die fraglichen Inseln nicht allzu sicher
bestellt sei. Wo bleibt nun aber die Perfidie Deutschlands? Hierfür findet
der Verfasser den klaren Beweis darin, daß bei Begründung der deutschen An¬
sprüche auf Lamm ein Versprechen des Sultans von Sansibar angeführt
worden ist, durch das die deutsche Wien-Gesellschaft eine Konzession für
Lamu und für Marta und Palla erlangt habe. Was bedürfen wir weitern
Zugeständnisses, führt der Verfasser aus; damals, als es sich um eine 5kou-
zessivu für die deutsche Gesellschaft handelte, war die deutsche Regierung sehr
bereit, die Souveränität des Sultans über Marta und Puela anzuerkennen,
jetzt aber, wo er die Konzession einer englischen Gesellschaft erteilt hat, werden
seine Rechte von ihr bestritten! Dem gegenüber ist zu bemerken, daß der Witu-
gesellschaft, als sie die Zvllerhebuug auf deu Inseln der Mandabucht zu über¬
nehmen wünschte, sehr wohl bekannt war, daß der Sultan von Sausibar neben
Lamu anch die Inseln Marta und Palla beanspruchte. Es war uuter diesen
Umständen natürlich, daß sie damit auch wegen der beiden letztgenannten Inseln
M Verhandlungen trat. Der Zustimmung des Sultans von Wien zu der
beabsichtigte!! Zvllüberncihme sicher, konnte sie hoffen, auf diesem Wege eine
von keiner Seite bestrittene Stellung zu erhalten und gleichzeitig bei Regelung
des Pachtverhältnisses einen befriedigenden Ausgleich der konkurrirenden An¬
sprüche beider Herrscher herbeizuführen. Eine Anerkennung der Rechte des
Sultans von Sansibar ist hierin also keineswegs zu finden. Noch »veniger ist
eine solche Vonseiten der kaiserlichen Regierung erfolgt. Diese hat im Gegen¬
teil auf eine frühere, hierauf bezügliche Anregung der englischen Regierung
ausdrücklich erklärt, daß der Frage, dein Sultan von Sansibar die Herrschaft
über jene Inseln einzuräumen, nur dann näher getreten werde» könne, wenn
^ dafür in Gebietsabtretung um der Südgrenze des Witusultauats einwillige.
Weiter nach Norden schreitend kommt der Verfasser zu der Küstenstrecke
bon Wien bis Kismaju. Er behauptet, daß die Stellung dieses Gebietes
Unter deutschen Schutz weder den Vorschriften der Kongvakte über die bei
Neuen Vesitzergreisungen an der ostafrikanischen Küste zu erfüllenden Bedin¬
gungen entspreche, noch mit dem oben erwähnten deutsch-englischen Abkommen
1886 im Einklang stehe. Bezüglich des ersten Punktes scheint ein Streit
mit den: Verfasser überflüssig. Es darf wohl angenommen werde», daß die
kaiserliche Regierung gemäß der Kongvakte der königlich großbritannischen
Negierung vou der Annexion des Küstenstreifens Anzeige gemacht hat, und
daß diese, wenn gegen die deutsche Besitzergreifung Bedenke« zu erhebe»
gewesen Ware», sie geltend gemacht hätte. Dagegen ist gegen die zweite
Behauptung, da sie eine irrige Auffassung hervorrufen konnte, energisch Ver¬
wahrung einzulegen. Wenn der Verfasser aus dem Abkomme« vom Jahre
1886 folgern will, daß Deutschland nördlich vo» Tana keine Erwerbungen
zu machen befugt sei, so ist dies nach deu klaren Bestimmungen der Verein¬
barung völlig unbegründet. Die von Deutschland in dieser Beziehung über¬
nommene Verpflichtung bezieht sich nach Artikel 3 des Abkommens lediglich
auf den England zuerkannten Teil des zwischen dem Rovuma- und dem Tana-
flusse gelegenen Gebietes. In der Erwerbung von Protektoraten nördlich vom
Tana ist Deutschland dagegen in keiner Weise behindert.
Auch im Süden des englischen Interessengebietes ist nach dem Aufsatz
Gelegenheit zum Nachweis deutscher Feindseligkeit geboten. Es wird hier
namentlich auf die Haltung aufmerksam gemacht, die die kaiserliche Regierung
in der Streitfrage über deu Ausgangspunkt der die beiden Interessengebiete
trennende» Grenzlinie angenommen hat. Nach Artikel 3 des Abkommens soll
diese an der Mündung des Wcmga oder Unde beginnen. Bei de» gemein-
schaftlichen Vermessungen durch deutsche und britische Seeoffiziere ist nun fest¬
gestellt worden, daß Warga nud Unde nicht Bezeichnungen für ein und dasselbe
Gewässer sind, sondern daß der Unde ein kleiner Fluß und daß der Warga
ein etwa zwei Meilen nördlich davon oberhalb der gleichnamigen Stadt ge¬
legener Criek ist. Englischerseits wird hiernach der Unde, deutscherseits der
Warga als Ausgangspunkt der Grenzlinie betrachtet. Durch den Wortlaut
des vou der Deutsch-ostafrikanischen Küsteugesellschaft mit dem Sultan von
Sansibar abgeschlossene» Kttstenvertrages wird die Frage keineswegs, wie in
dem Aufsatz behauptet wird, entschieden, denn wenn hier der Unde als Nord¬
grenze des deutscheu Gebietes bezeichnet wird, so ist anderseits anzuführen, daß
nach dem Vertrage der Britisch-ostafrikanischen Gesellschaft der Warga die
Südgrenze des englischen Gebietes bilden soll. Hiernach stehen sich also die
beiderseitigen Auffassungen gleichberechtigt gegenüber. Für die deutsche Ansicht
aber kommt in Betracht, daß, wenn bei den Verhandlmigen über das Abkommen
von 1886 anch über de» Flußnamen infolge widersprechender Kartemmgcibe»
Unklarheit bestand, doch deutscherseits davon ausgegangen wurde, daß die Stadt
Waugn in unser Interessengebiet eingeschlossen werden sollte.
Als neuester Beweis deutscher Feindseligkeit gegen England wird schließlich
eine von Major Wißmann erlassene Proklamation angeführt, wodurch Handels-
karawcmen verboten wird, deu nördlich vom Tanga bis zum Kilimandscharo
gelegenen Teil des deutschen Gebietes zu betreten. Nach der Ausführung des
Aufsatzes soll es durch diese Maßregel verhindert werden, daß Karawanen vom
deutscheu in das englische und umgekehrt vom englischen in das deutsche
Interessengebiet hinübergehen. Der Verfasser sieht darin ein Vorgehen gegen
englische Handelsinteressen, das er unter Anführung der Kongoakte für durch¬
aus unzulässig erklärt. Wir müssen gestehen, daß wir von der Proklamation
mir durch englische Zeitungen Kunde erhalten haben. Es kann mit Sicherheit
angenommen werden, daß sie, wenn sie wirklich ergangen ist, aus militärischen
Gründen und wahrscheinlich im Interesse der Sicherheit der Karawanen erlassen
worden ist. Daß damit aber nicht der in dem Aufsatz angegebene Zweck verfolgt
wurde, geht am besten daraus hervor, daß Major Wißmann ebenfalls nach eng¬
lischen Zeitungen inzwischen bereits die Wiederaufhebung des Verbotes verfügt hat.
Nachdem wir den Ausführungen des Aufsatzes bisher gefolgt siud, halten
wir uns eines Eingehens auf die Befürchtungen, die der Verfasser über die
England von der deutschen Politik in Zukunft drohenden Gefahren anstellt,
für überhoben. Es genüge die Bemerkung, daß er nnter einer Fülle von un¬
zutreffender und geradezu unwahren Behauptungen darzulegen sucht, Dr. Peters,
der Führer der deutschen Emin-Pascha-Expedition, sei ausgesandt worden, um
für Deutschlnud im englischen Interessengebiet selbst und in dessen Hinterland
Gebietsrechte zu erwerben. Nachdem er in Kavirondo angekommen sei, sei ihm
Emin entgegengeschickt worden, um das Werk zu vollenden und nun auch die
Ufer des Viktoria - Nhanza im Süden und Westen nebst Uganda und der
Aquatorialproviuz für Deutschland zu gewinnen.
Jedermann in Deutschland weiß, daß die deutsche Emin-Pascha-Expe¬
dition und ihr mutiger Führer wirklich nur die Befreiung eines bedrohten
Landsmannes und Gelehrten und keine politischen Ziele im Auge hatten. Welche
Aufträge Emin erteilt worden sind, ist uns nicht bekannt, jedenfalls stehen sie
aber mit dem deutsch-englischen Abkommen vom Jahre 1886 in Einklang.
Wir haben bei unsrer Besprechung des Aufsatzes die gehässigen Bemer¬
kungen des Verfassers und seine frivolen Angriffe gegen Deutschland nicht
berührt, auch ans Wiedernngriffe gegen das Borgehen von Engländern und
wglischen Gesellschaften, zu denen genügendes Material zur Verfügung gestanden
hätte, verzichtet. Wir haben uns bemüht, die Erörterung in streng sachlichen
Nahmen zu halten, da wir in der That der Überzeugung sind, daß Deutsch¬
land wie England mir bei wirklich freundschaftlichem Zusammengehen in der
Lage sein würden, dauernde Erfolge in Ostafrika zu erreichen. Wenn zwischen
den beiderseitigen Regierungen, wie im deutschen und englischen Parlament
wiederholt amtlich ausgesprochen worden ist, volles Einvernehmen besteht, so
sollte ein freundliches Verhältnis nicht minder von den englischen und deutschen
Interessenten und Gesellschaften erstrebt werden. Die Erreichung dieses Zieles
kaun aber durch Darstellungen, wie sie der Verfasser des Artikels „Deutsche
Bestrebungen in Ostafrika" gegeben hat, mir erschwert werden.
ach siebenjährigen Stillstand hielt das Gericht endlich seine erste
öffentliche Sitzung wieder ab - ein unersetzlicher Verlust für
manche Partei: man stelle sich nur vor, daß heutigen Tages das
deutsche Reichsgericht so viele Jahre hindurch seine Thätigkeit
unterbrechen wollte!
Auch für die Bürgerschaft war der Schade groß. Am Sitze des Reichs¬
kammergerichts hatte sich eine Menge von Gewerbtreibenden aller Art nieder¬
gelassen: Schreiber, Sprachlehrer, Tanz- und Fechtmeister, Fuhrleute, Gast¬
wirte, die samt und sonders fast allein von dem Gericht und seinem Anhang
lebten. Am letzten Ende bezog beinahe jeder seine Einkünfte von dem höhern
uns niedern Kammergerichtspersvnal; fast jedes Haus war in ein Gasthaus
umgewandelt, man erkennt das noch hente an den Bezeichnungen zahlreicher
Privathäuser: „zur Quelle," „zum Ring," „zum Löwen" u. s. w. Kein
Gewerbtreibender dachte ernstlich an Arbeit, fiel ihm doch der Gewinn mühelos
in den Schoß. Die Handwerker saßen am frühen Morgen schon in den Wirts¬
häusern, bnmmelten umher und lebten wie der Herrgott in Frankreich. Da
war der Stillstand des Gerichts ein empfindlicher Schlag; denn der ganze
Anhang des Gerichts, die Sollizitanten und die Praktikanten, verschwanden,
und diese hatten das meiste Geld in die Stadt gebracht.
Der Leser wird fragen: Was ist das, ein Sollizitcint und ein Prak¬
tikant? Das im Jahre 1776 erschienene'„Kurzgefaßte Cammerallexikon" giebt,
wie über manche andre beim Reichskammergericht übliche, dein Uneingeweihten
unverständliche Ausdrücke, so auch hierüber Auskunft. Ein Sollizitcint ist der,
der persönlich um Beförderung einer Rechtssache nachsucht. Mit welchen
Mitteln dies hin und wieder geschah, haben wir schon gesehen. In hellen
Scharen kamen die Parteien aus aller Herren Ländern, um ihre Sache vor¬
wärts zu bringen. Die Stadt war oft so voll, daß der Stadtrat den niedrigen
Leuten bei Turmstrafe gebieten mußte, die Stadt zu verlassen, da sie haufen¬
weise auf den Straßen herumlungerten und den Verkehr hemmten. Die
Praktikanten waren nach derselben Quelle die Personen, die sich am Sitze des
Neichskammergerichts aufhielten, „um sich daselbst in ruMi zu üben," in
Preußen würde man sie Referendare nennen. Das Reichskammergericht hat
unter diesen Praktikanten innerhalb der kurzen Frist von fünf Jahren zwei
Männer gehabt, auf die noch heute jeder Deutsche stolz ist. Ju der Matrikel,
in die sich nach dem Brauch des Gerichts die Praktikanten eintragen mußten,
liest man unter Ur. 956:
Johann Wolfgang Goethe von Frfurt am Mayn 25 May 1772
und wenige Seiten später, unter Ur. 1106, findet sich der Eintrag:
Horrrioug l^riäoricus (Ärolns as Lehm sont. d. se s,"*)
Der Freiherr von Stein ist sehr fleißig gewesen. Dagegen versichert man,
daß sich die Thätigkeit Goethes beim Gericht so ziemlich auf jenen Eintrag in
die Matrikel beschränkt habe. Wenigstens hat man, trotz aller Nachforschungen,
keine Arbeiten von ihm in den Akten des Reichskammergerichts aufgefunden.
Er wäre auch ein schlechter Advokat geworden: von all meinen Fähigkeiten ist
die Jurisprudenz der geringsten eine, sagt er selbst. Um so thätiger war der
Dichter. Ist doch Wetzlar der Schauplatz der Leiden des jungen Werthers!
Man redete damals viel von dem traurigen Schicksal des braunschweigischen
Legationssekretärs Jerusalem, den gekränkter Ehrgeiz und unglückliche Liebe zu
der Gattin eines Freundes in deu Tod getrieben hatten. Obwohl Goethe ihm
im Leben ziemlich fern gestanden, ihn nie bei sich, selten bei andern gesehen
hatte, so war er doch von dem Selbstmorde des hoffnungsvollen jungen
Mannes tief ergriffen, und eine gewisse Ähnlichkeit zwischen eignen Erlebnissen
und Jerusalems Geschick trieb ihn, den Vorgang dichterisch zu verwerten und
dadurch zugleich sich selbst von dem Liebesbann zu losen, in dein ihn die
Braut eines andern, des hannöverschen Legationssekretärs ^"^) Kestner, ver¬
strickt hielt.
Wohl mehr um des Dichters und seiner Schöpfung, als um Jerusalems
willen ist an dem Hause, wo sich „Werther" erschossen hat, eine Gedenktafel
angebracht wordeu. Vergeblich hat man sich neuerdings bemüht, das Grab
Jerusalems auf dem Wetzlarer Kirchhof aufzufinden. Der Stein, der den Un¬
glücklichen deckte, ist längst zerfallen, und die „zwei Lindenbünme hinten in
der Ecke nach dem Felde zu," unter denen Werther nach seinem letzten Wunsch
angeblich begraben worden sein soll, sind nicht mehr vorhanden. Ein schwär¬
merisches Gemüt hat geglaubt, das Grab in dein benachbarten Garbenheim,
dem „Wahlheim" Werthers, entdeckt zu haben, und hat den Manen des Toten
ne einem dortigen Wirtsgarten einen Grabhügel geschichtet: eine Trauerweide
bezeichnet die Stelle. Schade, daß der Gedanke nicht früher jemandem ge¬
kommen ist! Zur Zeit der Werthermanie, wo die empfindsame Jugend sich in
blauen Frack, gelbe Weste und gelbe Beinkleider hüllte, wären sicher ganze Scharen
an den heiligen Ort gewnllfahret.
Goethe blieb nur den Sommer über in Wetzlar. Er wohnte in einer
der engsten und schmutzigsten Gassen, der Gewandsgnsse, in einem dumpfigen,
häßlichen Hause; eine Gedenktafel unter dem Fenster seines niedrigen Zimmers
erinnert an seinen Aufenthalt. Man begreift kaum, wie der verwöhnte Frank¬
furter Patriziersohn sich hat entschließen können, eine solche Wohnung zu be¬
ziehen. Aber einerseits war die Stadt stets sehr überfüllt, und es hieß vor¬
lieb nehmen, anderseits scheint man nach allem damals überhaupt uicht das
Bedürfnis empfunden zu haben, frei und luftig zu wohnen: die vielen engen
und dunkeln Gassen aus früherer Zeit sind ein sprechendes Zeugnis dafür.
Das Gasthaus „Zum Kronprinzen," wo Goethe nach seiner Erzählung
in „Wahrheit und Dichtung" an phantastischer, das steife Zeremoniell des
Neichskammergerichtskreises karrikirender Rittertafel seine Mittagsmahlzeiten
einnahm, besteht als solches nicht mehr. Dagegen steht, wenige Schritte von
des Dichters ehemaliger Wohnung, in feinem ursprünglichen Aussehen unver¬
ändert ein kleines, unscheinbares Häuschen, dessen Inschrift die mannichfachsten
Erinnerungen wachruft: „In diesem Hanse wurde Charlotte Sophie Henriette
Buff am 11. Januar 1753 geboren" — heißt es in chrvnikartiger Kürze. Es
ist das alte deutsche Ordenshaus, oder vielmehr ein Seitenbau desselben. Hier
wohnte der Amtmann des deutschen Ordens, Buff, und hier lebte und wirkte
Goethes Lotte, die den früh verwaisten kleinern Geschwistern Mutterstelle ver¬
trat. Das Haus ist Besuchern zugänglich; noch jetzt zeigt man verschiedne
Sachen, die Lotten gehört haben oder von ihr gearbeitet worden sind: ein
Spinett, auf dem sie Goethe ihre einfachen „himmelsüßen" Melodien vorgespielt,
Stickereien u. a. Der Dichter sah die Geliebte zum erstenmal in dem Wetzlar
benachbarten Dorfe Volpertshausen, als sie schon die Braut des Legations-
sekretärs Kestner war. „Mehrere junge Leute hatten einen Ball angestellt, zu
dem ich mich auch willig finden ließ" — erzählt er in Werthers Leiden. Das
Haus, wo Goethe damals mit Lotte getanzt und das eigentümliche Liebes¬
verhältnis zu Dreien angeknüpft hat, steht noch heutigen Tages.
Auch sein „Wahlheim" liegt nahe vor den Thoren der Stadt: es ist
das Dörfchen Garbenheim. „Die Lage an einem. Hügel ist sehr interessant,
und wenn man von oben auf dem Fußpfad zum Dorfe herausgeht, übersieht
man auf einmal das ganze Thal." Auf dem Platze vor der Kirche, unter
dem Schatten zweier mächtigen Linden verträumte der Dichter manche Stunde,
spielte mit den Kindern, unterhielt sich freundlich mit den Erwachsenen und
las feinen geliebten Homer. Es giebt in Wetzlar noch Leute, die „die gute
Wirtin, die gefällig und munter in ihrem Alter" war, noch persönlich gekannt
und von ihr über Goethe gehört haben. Leider hat der Platz sein Äußeres
sehr verändert: bei eine»! großen Brande ist beinahe das ganze Dorf in
Flammen aufgegangen und dann neu aufgebaut worden; auch die schönen
Linden sind verschwunden. Am hundertjährigen Geburtstage des Dichters hat
man sein Andenken dem jetzt lebenden Geschlechte durch eine schlichte Erinnernngs-
süule ins Gedächtnis zurückgerufen.
Auf dem Wege nach „Wahlheim" vergaß der Dichter nie, an seinem
Lieblingsplätzchen, dem Wildbacher Brunnen, kurze Rast zu halten. „Da ist
gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein Brunnen, um den ich gebannt bin, wie
Melusine mit ihren Schwestern. Du gehst eiuen kleinen Hügel hinunter und
findest dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo
unten das klarste Wasser ans Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, die
oben umher die Einfassung macht, die hohen Bäume, die deu Platz rings¬
umher bedecken, die Kühle des Ortes — das hat alles so was Anzügliches."
Der Brunnen ist noch genau so, wie ihn der Dichter beschreibt, man nennt
ihn jetzt Goethebruunen; von den hohen Bciumeu dagegen ist unmittelbar an
der Quelle mir noch eine Linde übrig geblieben, und auch sie wird uur mit
Mühe vor dem gänzlichen Absterben bewahrt.
Goethe kam zu einer wenig günstigen Zeit nach Wetzlar: es waren
wieder Untersuchungen gegen Mitglieder des Gerichts im Gange, und man
erlebte von neuem den Anblick des richtenden und gerichteten Gerichts. Ver-
schiedne Assessoren hatten sich durch Vermittlung eines Juden ans Frankfurt
am Main, Nathan Aaron Wetzlar, in der schnödesten Weise bestechen lassen.
Man kassirte sie mit Schimpf und Schande und schickte den Vermittler auf
sechs Jahre ins Gefängnis. Diese Herren rechtfertigten wenig den stolzen
Titel „Amphiktyonen," den mau ihnen dann und wann rednerisch beilegte.
Freilich lag die Schuld weniger an den Personen, als nu den Verhältnissen.
Wie überhaupt die Beschaffenheit der Gerichte die genaueste Einsicht in die
Beschaffenheit des Landes gewährt, so ist das Neichskaunnergericht ein getreues
Abbild der Zerrissenheit und Schwäche des ehemaligen deutschen Reiches. Es
waren die letzten Zuckungen eines sterbenden Körpers. Bald war die Rolle
des Reiches und seines höchsten Gerichtshofes völlig ausgespielt.
Schon im Jahre 1796 fluteten die Wogen der französischen Revolution
bis in den ruhigen Hafen des Reichskammergerichts: feindliche Heere er¬
schienen unter Jourdan und Hoche in dem stillen Thal, um durch diese alte
Völkerstraße von Westen nach Osten in die deutscheu Gaue einzudringen. Für
diesmal wurden die Franzosen durch deutsche Truppen unter Erzherzog Karl
noch zurückgeworfen, einer der Führer, Hoche, wurde zu Tode verwundet und
starb in Wetzlar im jetzigen Gnsthof zum herzoglichen Hause. Aber nach kurzer
Frist kehrte der Feind °als Sieger zurück, der deutsche Kaiser legte die Krone
nieder, das ehrwürdige römische Reich deutscher Nation war nicht mehr. Damit
löste sich das Reichskammergericht von selbst auf. Die Mehrzahl der Assessoren
kehrte in die Heimat zurück, nur einzelne behielten ihren Wohnsitz in Wetzlar
bei und führten dort ein Scheindasein. Ihrer letzten einer war der Neichs-
generalfiskal, d. h. der erste Anwalt des Kaisers, Franz Albert Konstantin
Werner. Man begrub diesen letzten Zeugen einer dahingeschwundener Zeit im
Jahre 1834 auf dem Kirchhofe zu Wetzlar.
Die Gebunde, in denen das Gericht seine ersten und seine letzten Sitzungen
abgehalten hat, sind verschwunden. Das eine — das alte Rathaus — ist
im vorigen Jahrhundert niedergebrannt, das andre hat unlängst dem neuen
Pvstgebäude weichen müssen, nachdem es zuerst als Kaserne und dann, in
seinen untern Räumlichkeiten, gegen wenige Mark Miete einem Weinhändler als
Lager gedient hatte. Lio drinne, g'loren muruii. Nur eines der vom Reichs-
t'ammergericht zu seinen Sitzungen benutzten Häuser ist noch erhalten: ein
Doppeladler auf blutrotem Felde verkündet noch seine ehemalige Bestimmung.
Von den tausend und abertausend Akten, die das Reichskammergericht bei
seiner Auflösung unerledigt zurückgelassen hat, ist nur ein Teil im Staats¬
archiv zu Wetzlar geblieben; alle nichtpreußischen Sachen, also anch die han-
növerschen, hessischen n. s. w., sind in den fünfziger Jahren an die betreffenden
Bundesstaaten abgegeben und von diesen wohl zum Teil längst eingestampft
worden. Schade darum, denn manche Akten enthalten wertvolles geschichtliches
Material. Vielleicht führt ein günstiges Geschick wenigstens alle jetzt preußi¬
schen Akten wieder zusammen, und zwar an einem Ort, der nicht so fern von
der großen Heerstraße liegt wie Wetzlar; denn dorthin verirrt sich selten jemand,
um archivalische Forschungen zu macheu.
Unwillkürlich drängt sich einem die Frage auf, ob denn nicht die Streit¬
teile nach Aufhebung des Reichskamniergerichts auf Beendigung der Prozesse
gedrängt haben? Sehr selten! Einzelne der Landesregierungen erließen damals
entsprechende Aufforderungen, aber der Erfolg war mäßig, nur wenige der
Neichskannuergerichtsprozesfe wurden auf Betreiben der Parteien von den
höchsten Laudesgerichteu zu Ende geführt. Die Parteien waren im Laufe des
Rechtsstreits verdorben, gestorben. War es doch schon zur Zeit des Bestehens
des Neichskammergerichts oft vorgekommen, daß ein Urteil, an dem Geschlechter
von Assessoren gearbeitet hatten, schließlich nicht eingelöst wurde. Dies hatte
den Anlaß gegeben, die Sitte des Sollizitirens einzuführen: die Parteien sollten
ein stetes Interesse an der Förderung des Prozesses zeigen. Der Arbeitsstoff
war zu groß für die wenigen Richter, daher mußten sie aus dem vorhandnen
Prozeßmaterial das dringendste wählen und zur Entscheidung zu bringen suchen.
Alljährlich gingen über hundert neue Sache» ein, erledigt wurden uur etwa
fünfzig. So sammelten sich allmählich ungeheure Altenberge. Manche der im
Wetzlarer Staatsarchiv schlummernden Akten sind von den Richtern überhaupt
nicht berührt worden; umfangreiche Urteile von Untergerichten, mühsam
konzipirte Parteischriften von Ano'alten, die in ihrer wunderlichen, mit zahllosen
lateinischen Brocken gespickter Sprache kaum dein heutigen Juristen verständlich
sind, wurden in großen Pakete» zusammengeschnürt vorgefunden, so wie sie
eingeschickt worden waren; niemand hatte die Zeit gesunden, sie auch nur zu
öffnen.
Neben den Akten bewahrt das Archiv noch eine Anzahl von Merkwürdig¬
keiten aus der Reich skammergerichtszeit- die erwähnte Matrikel und die große
vergoldete Sanduhr, die bei den Sitzungen des Gerichts benutzt wurde und
in vier verschiednen Gläsern Zeitabschnitte von einer Viertel-, einer halben,
drei Viertel- und einer ganzen Stunde maß. Der Gerichtsstab, den der
Vorsitzende als Zeichen seiner Würde bei öffentlichen Sitzungen in der Hand
hielt — ein Geschenk Kaiser Maximilians I. an den ersten Knmmerrichtcr,
Grafen Eitel Friedrich von Hohenzollern —, ist leider in den Wirren der Zeit
verloren gegangen. Er war ungefähr einen Meter lang, von braunem Holze,
am schwarzen Griff mit zwei elfenbeinernen Ringen versehen.
Wetzlar empfand den Verlust des Reichskammergerichts zuerst sehr schwer.
Zwar war der Großherzog von Frankfurt, Fürstprimas von Dalberg. an den
die Staat bei Auflösung des Reiches fiel, nach Kräften bemüht, den Wohlstand
der Stadt zu erhalten und für das Reichskammergericht Ersatz zu schaffen.
Er gründete zu diesem Zweck eine Rechtsschule. Diese kam aber nie zu be¬
sondern: Ansehen, obwohl Dalberg, um möglichst viele Studenten anzuziehen,
die Vorlesungen umsonst halten ließ; sie hatte auch nie hervorragende Lehrer.
Bei der bald duro.uf folgenden Umwälzung starb die neuerrichtete Akademie
eines sanften Todes.
Erst in netterer Zeit hat sich Wetzlar wieder gehoben. Eine mächtig auf¬
blühende Industrie hat die Bürger für den Verlust der Freiheit und des
höchsten deutschen Gerichtshofes in reichem Maße entschädigt. Wetzlars
Mikroskope gehen in alle Welt hinaus, seine Hochöfen schmelzen täglich unge¬
heure Eiseumcissen, die das metallreiche Lahngebirge zu Tage fördert, Walzwerke
vollenden den Prozeß und senden die glatten Eisenbarren nach allen Richtungen.
So ist, wo früher das ganze geschäftliche Leben auf allzu leichten und deshalb
unsolider Erwerb gegründet war, ein gesunder Zustand wiedergekehrt.
Der große Reiseverkehr hat Wetzlar bisher ungebührlich Vernachlässigt.
Die alte Reichsstadt ist eines Besuches wohl wert. Nicht nur, daß ein Schatz
allgemein- und litterargeschichtlicher Erinnerungen sich n» sie knüpft — anch
das Landschaftsbild ist voll malerischen Reizes. Goethe spricht von ihr in
Ausdrücken des höchsten Entzückens' „Rings umher ist eine unaussprechliche
Schönheit der Natur" — „Ich weiß nicht, ob täuschende Geister um diese
Gegend schweben, oder ob die warme, himmlische Phantasie in meinem Herzen
'se, die mir alles ringsum gar so paradiesisch macht." Die Aussicht von
dem die Stadt beherrschenden Lahnberge ist in der That sehr schön und ver-
fehlt auch auf den Weitgereisten ihre Wirkung nicht. Kühn klettern die schmucken
schiefergedeckten Häuser der Stadt deu Bergrücken hinan, der sich ans dein
Thal zwischen dem Lahnberg und der Höhe des Kalsmunt erhebt, allesamt
überragt von dem stattlichen Dom, der mit seinen mannichfachen, vom roma¬
ttischen zum gothischen Stil übergehenden Bauformen ein Abbild der Jahr¬
hunderte seiner Erbauung ist. Einer der Türme, ein plumper Rundbau aus
blauschwarzeiu Basalt, soll nach sagenhafter Überlieferung noch aus der Römer¬
zeit stammen; wenigstens hat mau behauptet, daß gewisse roh gemeißelte Stein-
metzarbeiteu in seinem Mauerwerk, angeblich Widderhörner, den Turm als
ehemalige» Tempel des Juppiter Ammon kennzeichneten. In neuerer Zeit ist
zwar mit ziemlicher Sicherheit dargethan worden, daß der Bau erst dem achten
oder neunten Jahrhundert n. Chr. angehört, im Volksmunde heißt er aber
trotzdem uach wie vor der Heideuturm. Leider ist der Wetzlarer Dom gleich
so vielen andern Baudenkmälern des Mittelalters unvollendet geblieben und
geht jetzt laugsam dem Verfall entgegen, da seit der großherzigen Spende
König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen nichts mehr sür seine Erhaltung
geschieht.
Jenseits der Stadt steht auf schroffem Bergkegel die alte Burgfeste Kals¬
munt, ehemals der Sitz stattlicher Burgmänner, denen der Schutz der Stadt
anvertraut war. Einzelne Chronisten haben auch in ihr einen Überrest aus
römischer Zeit erblicken wollen; jetzt betrachtet man die Burg mit mehr Grund
als eine der Befestigungen, die Karl der Große zum Schutz gegen die Einfälle
räuberischer Sachsen an den Marken des Reiches errichtete: daher der Name
Kalsmnnt, d. h. Karls Schutz. Ju deu unruhigen Zeiten des frühern Mittel¬
alters war die Feste oft berufen, ihre schützende Hand über die Stadt auszu¬
breiten. Denn nicht immer genügte die Mauer der Stadt, um die Bürger
vor Kriegsnvt zu wahren. Jetzt sind Burg und Mauer zerfallen; die Burg
ist von Feindeshand zerstört, die Stadtmauer hat der Baulust der Neuzeit
weichen müssen, die überall über das Weichbild der mittelalterlichen Städte
hinausgreift. Einst hatte die Mauer sieben Türme, entsprechend der Zahl der
Zünfte, die zu ihrer Verteidigung bestimmt waren; aber nur einer von ihnen
fristet noch ein kümmerliches Dasein, der sogenannte Säuturm; seinen letzten
Genossen, den Schneiderturm, den die ehrsame Zunft von der Nadel be¬
wachen mußte, hat man vor einigen Jahren niedergerissen.
Rings um die Stadt zieht sich ein Kranz wohlgepflegter Gärten, aus
deren lauschigen Grille die barocken Häuser der alten Neichskantinergerichts-
beisitzer im Sommer freundlich hervorblicken. Über die Stadt hinaus aber
schweift der Blick in die fruchtbaren Gefilde des weiten Lahnthales. Zu beiden
Seiten erheben sich sauftgeformte Höhenzttge, zur Rechten der Westerwald, zur
Linken der bäderreiche Taunus, gekrönt von romantisch gelegenen Burgen und
Klöstern. Da ist zur Rechten, dem Kalsmunt schräg gegenüber, das frühere
Kloster Altenberg, das den bedrängten Thalbewohnern bereits gegen die grimmen
Hunnen eine Zufluchtsstätte war; später wirkte dort die Tochter der heiligen
Elisabeth, Gertrud, als Äbtissin, das Opfer eines frommen Gelübdes ihrer
Mutter, die die Tochter in schwerer Stunde dem Himmel versprochen hatte;
die alte Klosterkirche birgt ihr Grab, Nicht weit von Nltenbcrg erhebt sich die
Dahlheimer Kapelle als das einzige Bauwerk, das der dreißigjährige Krieg von
dem einst blühenden Dorfe zurückgelassen hat; im übrigen ist es, wie so mancher
volkreiche Ort, im Kriege zu gründe gegangen und dem Erdboden gleich gemacht
worden. Gleich einem silbernen Bande dnrchschliugt der Fluß in anmutigen
Windungen die Sohle des Thales, bis er sich in weiter Ferne hinter einer viel¬
fachen Hügelkette verliert. An schönen Abende», wenn die scheidende Sonne
hinter dunkler Wolkenwand ihre letzten Strahlen ans diese Landschaft wirft und
Berge und Thäler in scharfen Schattirungen von einander scheidet, ist der
Anblick von großer Lieblichkeit.
f-TMA»^
Mcum ich nur endlich einmal dahinter kommen könnte, was eigent¬
lich bedingen heißt! Auf jeder Seite eines neuen Buches, in
jeder Zeitnugsspalte muß ichs lesen — gehört habe ichs selten —,
aber jeder braucht? in anderm Sinne! mitunter ein und derselbe
Mensch dreimal auf einer Seite, und jedesmal in anderm Sinne!
Für eine» Leser, der noch nicht gelernt hat, bloß mit den Auge» zu lesen, der
steh gern etwas dabei denken mochte, wenn erkiest, ist es rein zum Tvllwerdeu!
Mir flimmerts jedesmal vor den Angen, wenn ich das Wort nur von ferne
herankommen sehe: in welchem Sinne wird denn ders wieder brauchen! denke
ich immer. Unter allen Modewörtern, die jetzt im Schwange sind, ist es wohl
das widerwärtigste; ich schriebe es nicht, nud wenn ich hundert Jahre alt würde.
Daß es Sprachmoden giebt so gut wie Kleidermoden, und Modewörter
^ gut wie Mvdekleider, Modefarben und Modefrisuren, darüber kann wohl
^'in Zweifel sein. Es giebt Wörter und Redensarten, die alle Kennzeichen einer
^odeschöpfung an sich tragen. Denn welches sind diese Kennzeichen? Die Mode
wird gemacht von Leuten, die in der Regel nicht den besten Geschmack haben.
ist sie ja so dumm, daß man sich ihre Entstehung kaum anders erklären
k"um, als daß mau annimmt, der Fabrikant habe absichtlich etwas recht dummes
unter die Leute geworfen, um zu sehen, ob sie auch darauf hineinfallen würden.
Natürlich fällt die ganze große Masse darauf hinein, denn Geschmack ist, wie
Verstand, „stets bei wenigen nur gewesen": je dümmer, je besser. Zuletzt,
wenn eine Mode so gemein (d, h. allgemein) geworden ist, daß sie auch den
Ungebildetsten als das erscheint, was sie für den Gebildeten von vornherein
gewesen ist, als gemein (d. h. niedrig), verschwindet sie wieder, um einer andern
Platz zu machen, die nun denselben Lebenslauf hat. Vornehme Naturen halten
sich von der Mode fern. Es giebt Frauen und Mädchen, die in ihrer Klei¬
dung alles verschmähen, was an die jeweilig herrschende Mode streift, im
Stoff, in den Farben, im Schnitt, im Aufputz; wenn sie den Hut abnehmen,
sieht man weder Stirnlöckchen, noch Dreher, noch Käuzchen, und doch ist nichts
in ihrem Äußern, was man absonderlich oder gar altmodisch nennen konnte,
sie erscheinen so modern und dabei so vornehm, daß alle Mvdegänschen sie
darum beneiden konnten. Ganz so geht es mit gewissen Wörtern und Redens¬
arten. Man hört oder liest sie irgendwo zum erstenmale, nach einiger Zeit
zum zweiten, dann kommen sie öfter und öfter, und endlich führt sie alle Welt
im Munde, sie werden so gemein, daß sie selbst denen, die sie eine Zeit lang
mit Wonne ungebraucht haben, widerwärtig werden, sie sich darüber lustig
machen, sie gleichsam nur noch mit Gänsefüßchen brauchen, bis sie endlich ganz
wieder verschwinden. Aber es giebt immer auch eine kleine Anzahl von Leuten,
die, sowie ein solches Wort auftaucht, vou einem unbesieglichen Ekel davor er¬
griffen werden, die es nicht über die Lippen, nicht aus der Feder bringen,
lind da ist anch gar kein Zweifel möglich; wer überhaupt die Fähigkeit hat,
solche Wörter zu erkennen, erkennt sie sofort und erkennt sie alle. Wenn zwei
oder drei zusammenkommen, die den Mvdewörterabschen teilen, und sie ver¬
gleichen ihre Liste, so haben sie genau dieselben Wörter darauf — ein schlagender
Beweis, daß es an den Wörtern liegt, und nicht an den Menschen, wenn
manche Menschen manche Wörter unausstehlich finden. Ihrer Ausdrucksweise
merkt aber deshalb niemand an, daß sie die Wörter vermeiden, die klingt so
modern wie möglich, kein Mensch vermißt die Modewörter drin. Leider be¬
gegnet es auch „ersten" Schriftstellern nicht selten, daß sie auf Modewörter
hineinfallen.
Ich will ein paar Beispiele geben. Es mag etwa fünfzehn oder zwanzig
Jahre her sein, daß ich zum erstenmale das schöne Wort Bälde las. Es
dauerte uicht lange, so waren alle Zeitungen voll davou. Alles mürbe als in
Bälde bevorstehend angekündigt. Kürzlich fiel mir auf, daß ich das Wort
mindestens seit zwei Jahren nicht mehr gelesen oder gehört habe. Es ist also
offenbar wieder verschwunden. Da haben wir ein richtiges Modewort. Ganz
ähnlich ist es mit Tragweite gegangen. Das dem Gcschtttzwesen entlehnte
Bild wurde in der Zeitungssprache eine Zeit lang so massenhaft gebraucht,
daß mans schließlich anständigerweise nicht mehr brauchen konnte, und so ist
es wieder „ans der Mode gekommen."
Eine große Menge Modewörter giebt es unter den Adjektiven. Ich nenne
nur: eigenartig, beachtlich, erstmalig, diesbezüglich, belangreich und
belanglos, unerfindlich, verläßlich, selbstlos, zielbewußt, unent¬
wegt, erheblich und unerheblich. Für eigenartig sagte man früher
eigentümlich; jetzt scheint man unter eigentümlich nur so viel wie selt¬
sam, wunderlich zu verstehen, alle Welt spreizt sich mit dem neumodischen
eigenartig, namentlich gern die Herren Kritiker. Für beachtlich sagte man
früher beachtenswert, für belangreich und belanglos wichtig und un¬
wichtig, für verläßlich zuverlässig, für selbstlos uneigennützig. Die
guten, alten Wörter bestehen neben den Modewörtern ruhig weiter, aber der
schriftstellerische Gigerl braucht sie nicht mehr, er braucht nur die Modewörter.
Eine fürchterliche Dummheit ist unerfindlich (statt unbegreiflich), eine große
Geschmacklosigkeit erstmalig (die erstmalige Aufführung statt: die erste,
auch als Adverbium schon beliebt: das Stück wurde gestern erstmalig auf¬
geführt); dennoch war das eine eine Zeit lang außerordentlich beliebt, neuerdings
geht es wieder zurück, das andere gewinnt immer größere Verbreitung. Zu
den großartigsten Modewörtern gehören diesbezüglich und erheblich, ziel¬
bewußt und unentwegt. Ohne diesbezüglich und erheblich kann ein
Beamter oder ein Zeitungsschreiber nicht den kleinsten Aufsatz liefern, und ein
vortrug, eine Rede, ein Toast bei einem Festessen ohne zielbewußt und un¬
entwegt ist gar nicht denkbar. Sie sind aber, mit Ausnahme von erheblich,
auch schon alle wieder etwas im Rückgänge begriffen. Namentlich über dies¬
bezüglich und unentwegt ist so viel gespottet, sie sind so oft mit Gänse¬
füßchen gedruckt worden, daß doch auch die naivsten endlich anfangen, stutzig
l,u werden. Auch zielbewußt gehört in diese Reihe. Daß ich erheblich
und unerheblich mit hierher ziehe, wird manchem Leser auffallen. Mir ist es
unbegreiflich, daß der massenhafte Verbrauch dieses Wortes deu Leuten noch
uicht zum Ekel geworden ist. Es ist das Lieblingsadjektivum aller Zeitungs-
schreiber, Juristen und Beamten. Früher sagte man bedeutend und un¬
bedeutend, wesentlich und unwesentlich. Das bekommt man kaum noch
»u hören, heute ist alles erhepplich und nuerhepplich — so nämlich muß
'»an die Wörter aussprechen, wenn man die Mode richtig mitmachen will.")
^es hatte einen Universitätsfreund, der später zum Schulrat emporklomm und
"us der Heimat versetzt wurde. Als wir uns nach einer Reihe von Jahren
"erstmalig" wiedersahen und vergnügt beim Schoppen saßen, war immer das
dritte Wort, das er sagte: erhepplich und unerhepplich, und ich wußte
"och gennn, daß das früher nie über seine Lippen gekommen war, am aller-
wenigsten in solcher Aussprache. Ja, wenn man Schulrat wird! Unsre
Juristen erörtern jetzt sehr eifrig das Thema von den langzeitigen und
kurzzeitigen Freiheitsstrafen, als ob lang und kurz uicht mehr die Zeit
bedeuten könnte! Wie Habens die Leute nnr früher verstanden, wenn von
trugen und kurzen Freiheitsstrafen die Rede war? Oder von hohem
Fieber, an dessen Stelle die Mediziner jetzt nur noch vou hochgradigen reden?
Mode, nichts als Mode, wohin man hört, immer fchwatzts einer dem andern
gedankenlos nach.
Unter den Adverbien sind reine Modewörter, die sicher über kurz oder
lang wieder verschwinden werden: bislang, selbstredend, uaturgemüß
(statt natürlich) und das herrliche voll und ganz. Bislang (statt bis¬
her) wurde in den siebziger Jahren, wenn ich nicht irre, von Hannover aus
verbreitet und war binnen wenigen Jahren Modewort. Aber es wurde den
Leuten bald zu viel, und heute hat es ziemlich wieder abgewirtschaftet.
Ähnlich ist es mit selbstredend gegangen (statt selbstverständlich); es ist
nnr noch das Lieblingswort der Wein- und Zigarrenreisenden und der Laden¬
schwengel. Auch voll und ganz hat seinen Höhepunkt wohl hinter sich; es
ist auch schon zu oft mit Gänsefüßchen gedruckt und — gesprochen worden
(man kann es wirklich mit Gänsefüßchen sprechen, man braucht sich nur recht
in die Vrust zu werfen, die Unterkehle herauszudrücken und statt o ein schönes
Gaumen-a zu sprechen: pati und ganz!), als daß es noch unbefangen ver¬
wendet werden könnte. Aus dem Wortschätze des Ministers und des Reichs-
tagsabgeordneten ist es allmählich hinabgerutscht in den des kleinstädtischen
Bürgermeisters und des Kriegervcreinsvorstehers; die wirken noch damit bei
ihrem Publikum. Inzwischen versnchens andre noch eine Zeit lang mit Um¬
stellung: ganz und voll, oder mit voll allein: dieser Ausfassung kann ich
nicht voll beipflichten — überall deckt der Ausdruck voll deu Gedanken
»in die Tiefe seiner Auffassung voll zu würdigen — die deutschen Gemälde
hielten den Vergleich mit den französischen voll aus u. s. w. Aber auch das
will nicht mehr recht ziehen, ganz wie eine Kleidermode, die vorbei ist, und
die man durch Umslicken noch eine Weile zu halten sucht. Naturgemäß, oder
vielmehr naturjemäß (denn es stammt unzweifelhaft aus Berlin) scheint noch
im Aufsteigen begriffen zu sein. Es ist ganz komisch, mit welcher Schnelligkeit
sich dieses Wort, das noch vor kurzer Zeit uur in seiner eigentlichen Be¬
deutung gebraucht wurde (naturgemäße Lebensweise), an den Platz des ein¬
fachen natürlich gedrängt hat. Naturgemäß ist die Studentenzeit zum
Lernen bestimmt - bei dem Fehlen einer eigentlichen Metropole nimmt natur¬
gemäß die Ortsfrage deu breitesten Raum ein — die ans dem Arbeitsmarkte
herrschende Selbstsucht sucht naturgemäß den Lob» möglichst hinabzu¬
drücken — die Wiedergabe durch Lichtdruck läßt naturgemäß manches
unklar — die Sorge beginnt naturgemäß bei der Aufnahme der Lehrlinge ^
anders wird gar nicht mehr geschrieben. Aber es wird auch vorübergehen.
Wenn wir erst so weit sein werden, daß der Gigerl naturjemäß für —
selbstredend braucht — und das kommt sicher, ist vielleicht schon da —,
dann wird das alte natürlich wieder in seine Rechte eingesetzt werden.
Nicht immer handelt sichs bei der Sprachmode um neue Wörter; mit¬
unter ist es nur ein neuer Sinn, der einem alten Worte untergelegt wird,
eine neue Satzverbindung, worin das Modische liegt. Das zeigt sich nament¬
lich beim Verbum. Wem wäre es früher eingefallen, vertrauen mit einem
Jnhaltssatze zu verbinden? Das that mau mit hoffen und erwarten. Jetzt
gilt es für fein, zu sagen: wir vertrauen, daß u. s. w. Erhellen brauchte
man früher nur transitiv: die Lampe erhellt das Zimmer. Jetzt ist es Hoch-
Modern, es in intransitivem Sinne zu brauchen (für hervorgehen, sich er¬
geben): aus Vorstehendem erhellt — aus den Jahresberichten der Fabrik¬
inspektoren erhellt — schon aus diesem flüchtigen Überblick dürfte die
Bedeutung des Museums erhellen — der hohe Wert, den die Landesherr¬
schaft auf den Besitz Freibergs legte, erhellt besonders aus der Geschichte der
Landesteiluugeu. Ähnlich ist es mit eröffnen. Von einem Konzert, einer
Versammlung sagte man früher und sagen vernünftige Menschen noch jetzt:
sie wurden eröffnet. Der Sprachmodenaffe sagt jetzt nie anders als: die
Börse eröffnete flau — die Feier eröffnete mit einer Festrede — das
Konzert eröffnete mit Schumanns Manfred-Ouverture. Unterstehen brauchte
man früher nur reflexiv: sich etwas unterstehen; intransitiv sagte man ge¬
trennt: unter der Herrschaft des Kaisers stehen. Jetzt heißt es: der Herr¬
schaft unterstehen, dein Kommando unterstehen.
In andern Fällen liegt die Modencirrheit in der Art der Zusammensetzung.
Früher hoffte oder erwartete man etwas; jetzt wird alles erhofft (erst
°n»n lassen sich Änderungen des Bestehenden in den einzelnen Anstalten er¬
hoffen). Ein Haus war früher in eiuer Straße, eine Fabrik in einer Vor¬
stadt gelegen; jetzt sind sie nnr noch belegen — 's ist zu dumm!") Wenn
eine Summe geteilt wird, so sagte man früher: es kommt oder fällt auf
jeden einzelnen so und so viel; jetzt entfällt alles: auf den national-
liberalen Kandidaten entfielen 3500 Stimmen. Wem entfielen sie denn?
Entfalten verlangt doch Angabe der Person, der etwas entfällt. Von Sitten,
Gebräuchen, Zuständen sagte man früher: sie haben sich gebildet oder aus¬
gebildet; jetzt bilden sie sich nur noch heraus (schou lange vor Einführung
der Vuchdruckerkunst hatte sich bei der Kirche die Sitte herausgebildet).
Wvherans denn?> Der Ausdruck hat etwas so krampfhaftes, daß mau die
Sitte förmlich aus einem Trichter oder Krater hervorbrodeln sieht. Für vor-
hergehen oder vorausgehen sagte man wohl mich früher schon in
dichterisch oder rednerisch gehobener Sprache vorausgehen, für annehmen,
wenn man sich recht feierlich ausdrücken wollte, entgegennehmen. Jetzt sind
aus beiden reine Modewörter geworden. Die Zeitungen reden von der der
deutschen Gewerbeordnung voraufgegangenen preußischen Gewerbeordnung,
und Geldbeiträge für öffentliche Sammlungen, Anmeldungen neuer sehen
ter, Inserate für die nächste Beilage werden nur noch entgegengenom¬
men. Immer großartig! In den Zeitungsberichten über „stattgefundene"
Gerichtsverhandlungen ist seit einigen Jahren das dumme Wort Vorstrafen
Mode geworden, einer hats immer dem andern nachgeschrieben, ohne einmal
über den Unsinn nachzudenken. Täglich kaun man lesen, daß ein schon zehn-
mal vorbestrafter Kellner oder ein schon funfzehnmal vorbestrafter
Riemergeselle abermals auf der Anklagebank gesessen hat. Was ist denn das
für eine besondre Art von Strafen: Vorstrafen? Was Vorgeschmack,
Vorgeschichte, Vorfrühling, Voressen ist, weiß ich; aber Vorstrafe»?
Wenn jemand, ehe er geköpft wird, eine Stunde lang mit glühenden Zangen
gezwickt würde, das könnte man eine Vorstrafe nennen. Aber so etwas
meinen doch die Herren ^öwensteiu und Rosenbaum nicht, wenn sie über Ge¬
richtsverhandlungen berichten. Sie denken sich eben offenbar gar nichts dabei.
Das Vorstrafen gehört jetzt ebensogut in ihren Nepvrterphrasensack, wie
hunderterlei andres auch: die Feier fand programmmäßig statt — der
Kaiser schritt die Front der Ehrenkvmpagnie ab — die Versammlung drückte
ihre Teilnahme durch Erheben von den Sitzen aus (was erhoben sie
denn?) — der Zug setzte sich unter Vvrantritt eines Musikchors in Be¬
wegung u. ahnt. Herrliches Wort, dieses Vorantritt! Der Erfinder ver¬
diente einen Hinterhertritt. Ganz widerwärtig ist für einen, der dann und
wann noch einmal seinen Messing, Goethe und Schiller aufschlägt, das neu¬
modische fortlassen und fortfallen für weglassen und wegfallen. Es
scheint aus Berlin zu stammen, greift aber anch in Mitteldeutschland jetzt
immer mehr um sich. Früher unterschied man deutlich zwischen fort und
weg; fort bezeichnete die Bewegung nach einem Ziele, weg das Verschwinden,
ohne Ziel. Jetzt ist es sein, zu sagen: die lyrischen Stellen hat Wieland
einfach fortgelassen — wo hat er sie denn hingelassen? Von neuen Jahr
an fällt diese Vestimmnng fort — wo fällt sie denn hin?
Daß die Sprachmode wie die Kleidermode auch deu Schwulst liebt, ist
kein Wunder. Geld wird jetzt nicht mehr eingenommen und ausgegeben,
sondern nur uoch vereinnahmt und verausgabt. Ein befähigter Mensch
heißt nicht mehr glücklich augelegt, sondern nnr noch veranlagt. Aber
anch das gehört zu den Kennzeichen der heutigen Sprachmvde, daß sie da,
wo man früher ein Wort mit übertragener Bedeutung brauchte, jetzt Ausdrücke
mit möglichst sinnlicher Bedeutung verlangt. Die Fähigkeit, sich etwas vor-
zustellen (die Phantasie), ist entschieden im Abnehmen begriffen, man will alles
sehen, alles mit Händen greifen. So erklärt sich die außerordentliche Vorliebe
für die zahlreichen Zusammensetzungen mit stellen und legen, die jetzt an
Stelle früherer Abstracta Mode geworden sind. Stellen und legen, dazu braucht
'nun keine geistige Anstrengung, das macht man mit den Händen. Daher wird
jetzt nichts mehr vollendet, berichtigt, gesichert, aufgeklärt, sondern
alles wird fertiggestellt, richtiggestellt, sichergestellt, klargestellt,
klargelegt, festgelegt u. s. w. Wir leben eben im Zeitalter der Technik
und Mechanik. So erklärt sich auch der massenhafte Gebrauch, der jetzt
— geradezu bis zum Ekel — von getragen sein und getragen werden
gemacht wird. Früher sagte man: es ist jemand von Begeisterung oder
von einer Überzeugung oder einem Bewußtsein erfüllt. Das ist für unsre
denkfaule Zeit viel zu innerlich, zu geistig, man kann es ja nicht sehen.
Wie aber der Luftball durch das Gas, das ihn erfüllt, gehoben, also von
dem Gas gleichsam getragen wird, sodaß man die Wirkung der Füllung sieht,
so heißt es jetzt nur noch: von künstlerischer Überzeugung getragen — von
gesundem Humor getragen — von religiöser Gläubigkeit getragen — vou
düsterm Pessimismus getragen u. s. w. Hierher gehört es auch, daß man
nicht mehr sagt: eine Summe, eine Einnahme, eine Ausgabe beläuft sich auf
so und so viel, das wäre ja ein Bild, dabei müßte man sich etwas denken;
jetzt heißt es nur noch sich beziffern: das ihm unterstellte Personal be¬
zifferte sich auf 100 Köpfe der Verlust bezifferte sich auf 30000 Mann.
An die Zahl und ihre geistige Bedeutung denkt gar niemand mehr, bloß an
die verwünschte Ziffer, die doch nur das äußerliche, auf dem Papier stehende
Zeichen für die Zahl ist! Hierher gehört endlich auch die immer weitere Kreise
gehende, kann noch irgend einen Thätigkeitsbegriff verschönerte Umschreibung
einfacher Zeitwörter durch bringen im Aktivum, gebracht werden, kommen
und gelaugen im Passionen. Die Neigung zum Schwulst und die Vor¬
liebe für sinnlichen, mechanischen Ausdruck arbeiten sich hier bestens in die
Hände. Es ist ganz erstaunlich, wozu die Dinge jetzt alles gebracht werden.
Nichts wird mehr vorgetragen, aufgeführt, ausgeführt, durchgeführt,
angeregt, angerechnet, vorgeschlagen, abgezogen, angezeigt, aus¬
gegeben, angewendet, geordnet, erledigt, erfüllt, sondern alles wird
»um Vortrag gebracht, zur Aufführung, zur Ausführung und zur
Durchführung gebracht, in Anregung und in Abrechnung gebracht,
in Vorschlag, in Abzug, zur Anzeige, in Anwendung, in Ordnung,
zur Erledigung, zur Erfüllung gebracht, oder aber: es kommt oder
^'langt zum Vortrage, zur Aufführung, in Vorschlag, zur Anzeige,
gur Anwendung u. s. w. Ein Buch wird nicht mehr gedruckt und aus¬
gegeben, sondern erst gelaugt es zum Abdruck, und dann gelangt es
Zur Ausgabe. Kürzlich zeigte sogar ein Schankwirt in Leipzig an, daß
nächsten Sonntag eine frische Sendung Kulmbacher zum glasweisen (!)
Ausschaut gelangen würde.
Aber die Sprache ist ein launisches Ding, sie gefällt sich in den wunder¬
lichsten Gegensätzen. Wie sie das Streben nach Kürze jetzt bis zur Häßlichkeit
mit der Vorliebe für Breite bis zu eben solcher Häßlichkeit verbindet, so be¬
vorzugt sie auf der einen Seite möglichst sinnliche Ausdrücke und hetzt ans der
andern sinnlos ein Ädstrg.ot.uni, ja no8er!ivtiL8unum zu Tode, wie bedingen.
Der erste Band von Grimms Wörterbuch, der die Jahreszahl 1854
trägt, erklärt bedingen durch: aushalten, bestimmen, ausnehmen. Die
Beispiele, die er anführt, sind meist Luther und Goethe entnommen. Luther
braucht es namentlich in Verbindung mit bekennen und bezeugen (denn
das will ich hiermit gar frei öffentlich haben bedinget und bekennet),
Goethe im Sinne von beschränken (daß nicht des Lebens bedingender
Drang mich, den Menschen, verändert), daher gern bedingt im Gegensatze zu
frei unbedingt (es darf sich einer nur für frei erklären, so fühlt er sich
den Augenblick als bedingt; wagt er es, sich für bedingt zu erklären, so fühlt
er sich frei).
Diese Bedeutungen erschöpfen nun freilich nicht den frühern Sprach¬
gebrauch. Vollständiger ist der Abschnitt über bedingen im ersten Bande
des Sandersschen Wörterbuches vom Jahre 18V0. Dort sind zunächst die
Bedeutungen aufgezählt und belegt: verpflichten, festsetzen, ausmachen,
beschränken, von etwas abhängig machen. Dann aber behandelt Sanders
eine Anwendung des Wortes, die bei Grimm vollständig fehlt, und die heute
fast die einzige ist und die, um deretwillen ich das Wort hier bespreche,
nämlich die Anwendung bei unpersönlichen Subjekt: eine Sache bedingt
eine andre, oder passiv: es ist oder wird eine Sache dnrch eine andre
bedingt. Was heißt das? In den paar Beispielen, die Sanders für den
aktiven Gebrauch anführt, erklärt er es durch: notwendig machen, er¬
heischen, erfordern (die Reise wurde, wie es die Natur des Weges be¬
dingte, zu Pferde gemacht; eine gute Übersetzung bedingt Verständnis des
Urtextes und Herrschaft über die Sprache). Deu passiven Gebrauch erklärt er
durch: abhängig sein von etwas, sei es nnn als etwas daraus hervor-
gehendes oder als etwas notwendig damit verbundenes, ohne dies nicht be¬
stehendes. Außerdem führt er nur noch aus Goethe an: Gühruug und
Fäulnis heben die Farbe nicht auf, soudern bedingen sie, was er durch
modifiziren erklärt (warum uicht durch beeinflussen, verändern?).
Nun vergleiche mau einmal damit den heutigen Sprachgebrauch. Ich
brauche wohl nicht zu versichern, daß ich von den nachfolgenden Beispielen
keins erfunden, sondern daß ich sie alle gesammelt habe. Ich könnte ihre An¬
zahl verzehnfachen, wenn es nicht so langweilig wäre, für ein und denselben
Unsinn immer wieder Beispiele abzuschreiben. In den Weg laufen sie einem
massenhaft. Ich will eine Auswahl geben und dabei den Sinn, in dein das
Wort gebraucht ist, jedesmals gleich in Klammern hinzufügen. Da schreiben
die einen: eine Laufbahn, die akademische Vorbildung bedingt (voraussetzt,
erfordert, erheischt, verlangt, notwendig macht) — der große Aufwand, den die
Aufführung dieser Oper bedingt (verlangt, beansprucht) - es hat sich eine
Schablone des Lebensgenusses gebildet, die einen enormen Aufwand bedingt
(ebenso) — die angegebenen Preise sind die Subskriptionspreise, die die Ab¬
nahme des gnuzeu Werkes bedingen (zur Pflicht machen) — die Ausgaben
für Lvlalmiete, Erleuchtung, Musik und Annoncen bedingen einen Berg von
Kosten (verursache») — unsre gnuzeu Zeitverhältnisse bedingen den zurück¬
gegangenen Theaterbesuch (sind die Ursache, verursachen, bringen mit sich, sind
Schuld an) — wenn ich die Lage der Bergarbeiter studiren will, so ist es
nötig, auch alle die Verhältnisse zu berühren, die diese Lage bedingen
(schaffen, hervorbringen, hervorrufen, erzengen) — das Korset „Plastik" be¬
dingt eleganten Sitz (!) des Kleides (schafft, bewirkt) ^ die wechselnden
Daseinsformen einer Nation bedingen die Mittel ihrer Erziehung (sind von
Einfluß auf) - - der humanistische Charakter des akademischen Stadiums be¬
dingt das ganze Wesen unsrer Universitäten (ebenso) — Thatsache ist, daß
gewisse Affekte den Eintritt des Stotteranfnllcs bedingen (herbeiführen) ^
die Stellung der Thüren in den Wänden bedingt wesentlich die Nutzbarkeit
der Räume (von ihrer Stellung häugt die Nutzbarkeit ab) ^ nur körperliches
Leiden (es handelt sich um die Laokoougruppe) bedingt eine so gewaltsame
Anspannung aller Muskeln (macht erklärlich, macht begreiflich) — dieser Zweck
bedingt sowohl die Mängel des Werkes als die Vorzüge desselben (aus diesem
Zweck erklären sich) u. s. w.
Nun der passive Gebrauch. Da wird geschrieben: die hohen Ränder des
Sees und der dadurch bedingte Reichtum malerischer Wirkungen (geschaffene,
entstehende) — diese außergewöhnliche, durch die Lage Englands und seine
politische Vergangenheit bedingte Gunst des Glückes (geschaffene) — durch
die Verkehrserleichternngen ist ein Rückgang'der buchhändlerischen Kommissious-
iZeschäfte bedingt worden (bewirkt worden, entstanden) die durch die Gro߬
stadt bedingte Vermehrung der Arbeitsgelegenheit (bewirkte, verursachte) —
rascher Fortschritt wird durch zahlreiche Mitarbeiter, durch Arbeitsteilung,
^lebe Hilfsmittel, rasche Verbreitung der Ergebnisse bedingt (entsteht, wird
bewirkt) — der Ausfall der Wahlen ist durch unzählige, nicht in der Macht
der Negierung liegende Verhältnisse bedingt (hängt ab von) — die Zulassung
M einer obern Fakultät war meist bedingt durch den Nachweis des philo¬
sophischen Magistergrades (hing ab von) — der Erfolg des Mittels war durch
die Zuverlässigkeit der Leute bedingt (ebenso) - die Überholung Leipzigs
durch Berlin in der Qualität der Produktion ist durch die Macht der äußern
Verhältnisse bedingt (ist die Folge) diese Aussichtslosigkeit war durch die
seit drei Jahren gemachte Erfahrung bedingt (war entstanden, war die Folge) —
Glück wird durch Leistungsfähigkeit bedingt (entsteht) — die Gefahr für den
innern Frieden ist in Deutschland ausschließlich bedingt durch den Gegensatz
zwischen Besitz nud Besitzlosigkeit (liegt in, beruht auf, entsteht ans) — die
durch den Reichtum bedingten Lebensgenusse (ermöglichten) u, s. w.
Überblicken wir die angeführten Beispiele, so „erhellt" daraus folgendes.
Die einen brauchen das unpersönliche bedingen in dem Sinne von: zur
Voraussetzung haben. A bedingt B, das heißt A hat B zur Boraus¬
setzung, A hängt von B ab, A ist unmöglich, undenkbar, wenn B nicht ist,
A erfordert, erheischt, verlangt also B. Ich will gleich hinzufügen, daß ich
das jetzt für die einzig vernünftige und berechtigte Anwendung des Wortes
halte; nur aus ihr erklärt sich das Wort Bedingung. Die Aufführung der
Oper bedingt großen Aufwand — das verstehe ich sofort; es heißt: die Oper
ist ohne großen Aufwand nicht ausführbar, der Aufwand ist die Voraussetzung,
die Bedingung einer wirkungsvollen Aufführung.
Nun brauchen aber andre das Wort in dem Sinne von bewirken und
den zahlreichen ihm sinnverwandten Wörtern (schaffen, erzengen, hervorbringen,
hervorrufen, verursachen, zur Folge haben). A bedingt B heißt dann: A ist
die Ursache von B; passiv ausgedrückt: B wird durch A bedingt heißt:
B ist die Folge vou A. Ich gestehe, daß meine geistige Fähigkeit, mein
„Können," wie man jetzt sagt, nicht ausreicht, mir diesen Bedeutungswandel
zu erklären. Ich sehe nicht ein, wie der Begriff der Voraussetzung zu dem
der Schöpfung soll werden können.
Nun wird aber noch ein weiterer Schritt gethan, namentlich in der pas¬
siven Anwendung des Wortes. B wird durch A bedingt heißt endlich nicht
bloß: B wird durch A bewirkt, sondern B wird nur (!) durch A bewirkt,
es kann durch nichts andres entstehen als durch A, mit andern Worten also:
V hat A zur Voraussetzung. Und da wären wir denn glücklich bei der
vollständigen Verrücktheit angelangt. Denn wenn es jemandem ganz gleichgiltig
ist, ob er sagt: A hat Ä zur Voraussetzung, oder B hat A zur Voraussetzung,
B ist die Voraussetzung von A, oder A ist die Voraussetzung von B, wenn
er das beides (!) mit dem Satze ausdrückt: A bedingt B (oder passiv: B
wird durch A bedingt), mit andern Worten: wenn es ihm ganz gleichgiltig
ist, ob er sagt bedingen oder bedingt werden, so ist das doch die voll¬
ständige Verrücktheit. Auf diesem Punkte stehen wir aber jetzt thatsächlich. Ge¬
schrieben wird: Glück wird durch Leistungsfähigkeit bedingt — die Zulassung
zur Fakultät wird durch den Magistergrad bedingt, also aktiv ausgedrückt:
Leistungsfähigkeit bedingt Glück- der Magistergrad bedingt die Zulassung
zur Fakultät. Gemeine ist aber: Glück bedingt (d. h. ist nicht denkbar ohne)
Leistungsfähigkeit — die Zulassung zur Fakultät bedingt (d. h. ist nicht zu
erlangen ohne) den Magistergrad.
Man kann ohne Übertreibung den gegenwärtigen Gebrauch des Wortes
bedingen so bezeichnen: Wenn der Deutsche eine dunkle Ahnung davon hat,
daß zwei Dinge in irgend welchem Zusammenhange stehen, aber schlechterdings
weder Neigung noch Fähigkeit, sich und andern diesen Zusammenhang klar zu
machen, so sagt er einfach: das eine Ding bedingt das andre. In welcher
Reihenfolge er dabei die beiden Dinge nennt, ob er sagt: Wärme bedingt
Feuer, oder: Feuer bedingt Wärme, ist ganz gleichgiltig; der Leser wird sich
schon irgend etwas dabei denken.
Nun weiß ich recht gut, daß es Leute giebt, die wieder sagen werden:
Freue dich doch, daß das Wort eine solche chamäleonartige Verwandluugs-
sähigkeit erlangt hat! Wenn es vor dreißig Jahren, wie die Wörterbücher
zeigen, nnr einen kleinen Bruchteil der zahlreichen Bedeutungen hatte, die es
heute hat, so ist das doch ein glänzender Beweis für die wunderbare Triebkraft,
die noch in unsrer Sprache lebt. Aus einem einzigen Worte entfaltet sie noch
jetzt einen solchen Reichtum! - Ich sehe die Sache doch anders. Wenn zwanzig,
dreißig Sinn- und lebensvolle Wörter und Wendungen, die zur Verfügung
stehen und die feinste Schattirung des Gedankens ermöglichen, verschmäht
werden einem hohlen, ausgeblasenen Wvrtbalg zuliebe, wie dieses bedingen,
so sehe ich weder Reichtum noch Triebkraft, sondern nur eine alberne Mode.
Unter den vielen Zeichen der immer mehr zunehmenden Verschwommenheit
»users Denkens, die namentlich durch die hastige Zeitnngsleserei verschuldet,
wollte sagen „bedingt" wird, ist mir dieses in allen Farben schillernde Wort
schon längst als eins der schlimmsten erschienen.
s muß doch etwas an einem Menschen sein, den der alte Bischer
seines vertraulichen Umgangs gewürdigt hat! Mit diesem besten
aller Vorurteile schlugen wir den neuen Band „Hamburger
Novelle»" auf: Zwischen Elbe und Ulster von Ilse Frapan
„(Berlin, Gebrüder Paetel, 1890), um uns darein zu vertiefen,
^»n Ilse Frapan hat sich im vorigen Jahre durch^ihr feinfühliges.Anekdoten-
Schlei» „Vischer-Eri»»erungen," das uns den alten Meister der Kritik im
Hvrsml und im Schlafrock zeigte, ein Plätzche» nicht bloß in unserm Herzen,
sondern in dem aller Freunde Nischers erobert. Wer min weiß, wie alle
Vorurteile, ja schon hochgespannte Erwartungen einem Dichter schädlich zu sein
pflegen (denn man setzt sich von vornherein in eine kritische Positur, und die
große Mehrzahl der Menschen empfindet keine größere Frende als die, solcher
Voreingenommenheit mit selbstgefälligen Nasenrümpfen entgegentreten zu können,
sie kommen sich da gescheiter vor, als in irgend einem andern Falle), der wird
uns wohl die Freude nachempfinden, mit der wir uus schon nach dem Lesen
der ersten Novelle: „Altmodische Leute" gestanden: wahrlich, da ist wieder
einmal ein Dichter, ein echter, gesunder, seine Kunst verstehender Dichter er¬
schienen.
Es wird ja in unsrer Belletristik jetzt fort und fort Moral gepredigt.
Es geht ein so liebloser Ton, eine so katzenjämmerliche Lebensstimmung, ein
ewiges Tadeln und Schelten, eine Unzufriedenheit mit Gott und Welt durch
unsre neuen Erzählungen, daß man in ihnen alles mögliche, uur keinen reinen
Genuß finden kann. In einem fort werden wir belehrt über die Schlechtigkeit
der Gegenwart und über die der Vergangenheit, daß die Welt ein Zuchthaus
oder auch ein Narrenhaus sei, worin der einzig Reine und Vernünftige der
Erzähler selbst ist, dem jeder Humor dabei verloren gegangen ist, und dabei
geht schließlich auch dem Leser der Humor aus und er verzichtet auf das Ver¬
gnügen, neue Bücher zu lesen. Deal auch die Form, in der sie das sagen,
ist so eintönig, so kunstlos, weil sie so freudlos ist, weil sie nicht dichterisch ist.
Da wird man wohl verstehen, was wir mit dem Freudenansrus: „Ilse
Frapan ist ein Dichter" alles sagen wollen. Es heißt das so viel als: Hier
spricht ein Mensch, der sich in allen Wandlungen und Schmerzen des Daseins,
bei allen Erfahrungen mit und an den Menschen ein reines und gesundes
Fühlen, ein Mitfühlen mit den andern, eine Frende am Leben bewahrt hat.
Er stellt sich nicht nüchtern, mit kalter Ironie über sie, sondern teilnehmend
neben sie. Er hat eine so klare, so lebhafte, so sinnlich warme Phantasie, daß
er alle Zustünde, jeden Augenblick, jede Situation tief und stark empfindet,
jeden in seinem eignen Stimmungsgehalt. Er ist nicht einseitig, sondern hat
ein empfängliches Gemüt für die verschiedensten menschlichen Charaktere. Er
kann liebevoll lächeln über die Thorheit, er kaun elegisch in die Vergangenheit
zurückschauen, ohne der Gegenwart Unrecht zu thun, er versteht die Sprache
der Natur und die Sprache der Leidenschaft, er schaut mit unmittelbarer Er¬
kenntnis in die Herzen hinein, darum kann er die Sprache des naiven Kindes
sprechen, und er sieht seine Charaktere in einer solchen Fülle von Äußerungen,
daß er nicht erst ihr Inneres analysiren muß, um es uus begreiflich zu machen,
er ist nie in Verlegenheit, durch sichtbare Handlungen und Vorgänge alles
verständlich zu macheu, was er braucht. Sicherlich hat Ilse Frapan mit großem
Fleiß und mit gutem Erfolg Theodor Storm studirt. Denn wie dieser, hebt
sie mit aller Sorgfalt ein oder zwei Situationen in jeder Fabel hervor und
"begeht rasch das minder wesentliche, von ihm mag sie auch ihre Kunst des
Helldunkels gelernt haben. Auch ihre Absicht ist immer, Stimmung hervor¬
zurufen, das satte Bild und Gefühl eines Zustandes zu erzeugen. Dabei ist
sie Meister in der Charakteristik. Sie, der Erzähler, spricht scheinbar gar nichts,
sie kritisirt nicht ihre Figuren, sondern alles wird durch kleine oder größere,
mehr oder weniger symbolisch bedeutsame Züge vor Augen gestellt. Es wird
wahrhaft erzählt. Damit erreicht sie eine fesselnde Gegenständlichkeit, erzeugt
in uns die rein ästhetische Stimmung des Beschauers, und wenn sie uns auch
Furchtbares erzählt - - das Entsetzlichste erspart sie uns so ist das noch
lange nicht so nervenzerreißend, wie es heutzutage Mode ist. Sie gestaltet,
sie bildet eben lind redet nicht. Charakteristik und Handlung sind in vor¬
trefflichem Gleichgewichte, man kann die eine nicht von der andern trennen,
kaum anders nacherzählen, als wie sie es selbst gethan hat, weil alle Schönheit
in der Form liegt. So durchaus Form, d. h. so künstlerisch durchgebildet aus
jeder Seite ist uicht so bald ein modernes Novellenbnch. Die Folge davon
ist, daß man die Geschichten nicht atemlos liest, sondern behaglich bei jeder
Seite verweilt.
Über eine solche Erscheinung muß man doch seine Freude haben. Ihre
Menschen wählt die Erzählerin aus der bürgerlichen Sphäre, dein Arbeiter-, Kauf¬
manns-, Lehrer-, Gewerbestand, auch die Theaterwelt kennt sie. Es sind meist
lveuig komplizirte Naturen, die in voller Harmonie mit sich selbst und ihrem
Zustande leben, den Blick auf naheliegende bescheidne Ziele gerichtet. Auch sie
verhält sich kritisch gegen die Gegenwart, aber man vergleiche doch ihre „Alt-
Modischen Leute" mit irgend einem an französischen Mustern großgezogenen
Berliner Realisten. Ma» sollte es kaum glauben, daß moderne Figuren in so
Poetischer Satire dargestellt werden können. Da stellt sie uns einen solchen
Charakter neuesten Schlages mit seinem rohen Nützlichkeitssinn, mit seiner un-
lvählerischen Genußsucht, mit seinem Mangel an Pietät, mit seinein patzigen,
Protzigen Auftreten voller Selbstgefühl, weil er so und so viel tausend Mark
besitzt, in Gestalt ihres Möbelhändlers Tewes hin und kontrastirt ihn mit
^>nem „altmodischen" Geschwisterpaar, uns dem ein Hauch liebevollen Humors
liegt. Jener Tewes weiß z. B. mit einem sommerlichen Feiertag im Freien
nichts anzusaugen, er ist in Verzweiflung darüber, wie man die Zeit „totschlagen"
soll; er muß Karten spielen, und wäre es auch mit dein ersten besten fremden
Menschen, der ihm mi Biergarten gegenübersitzt. Indes gehen die „altmodischen"
^nee ans nahe Ufer der Elbe und genießen das schöne Strvmbild, den Sonnen¬
untergang. Tewes ist als Tischlergeselle durch ganz Europa gewandert; er
kennt alles; aber die Klopstocklinde in der Heimatstadt, an der er hundertmal
vorübergefahren ist, kennt er nicht. Die „altmodischen" Leute bleiben andächtig
vor ihr stehen, um mit leiser Stimme die Inschrift des Grabes zu lesen:
"Saat vou Gott gesäet, dem Tage der Garben zu reifen." Dann heißt es
weiter: „Tewes schlich sich zu Nike und sagte in teilnehmender Bekümmernis:
»War jewiß ein naher Verwandter von ihr, der Herr Klopfstock!« Nike sah
ihn mit Angen an, die vor Verwunderung rollten, dann lachte sie ziemlich
laut und wandte, darüber erschreckend, ihr freundliches Gesicht zu Hannchen
hin seiner Vrant, ihrer Schwester^, ob die wohl die Frage gehört habe. Nein,
es war noch gut abgegangen. Tewes stellte sich, etwas gelangweilt, an den
Stamm der Linde, schlug mit seinem gelben Stöckchen daran lind sagte, nach¬
dem er anch die Arme probeweise um den gewaltigen Baum gelegt hatte:
»Wenn der richtig jeschnitten wird, kam? er mindestens eine halbe Million
Hammerstiele liefern.« Betroffen sahen die Geschwister in die prächtige Krone
hinauf, in all die Tausende von leise schwankenden grünen Herzen, in deren
jedem der geheimnisvolle Lebenssaft von Zelle zu Zelle stieg und feinen vollen
frischen Odem über die stillen Grabsteine und die noch im Tageslicht wan¬
delnden ausgoß. Hannchen fühlte plötzlich eine Thräne ihr (ihr?) ins Auge
treten, sie senkte den Kopf und kehrte nach dem Wagen zurück" u. f. w.
Dies ein Beispiel von der großen Kunst Ilse Frapans, durch Handlung
zu charakterisiren. Sie ist lakonisch oder wortreich, je nachdem es ihr zur
Charakteristik der Figur Paßt; aber die seltne Kunst, mit einem Ausruf, mit
einem Wörtchen eine Sache abzuthun, eine Natur sich verraten zu lassen, besitzt
sie in ungewöhnlichem Maße. In derselben Novelle findet folgender kleine
Dialog zwischen den altmodischen Geschwistern statt. „Einmal kam Johann zu
Nike in die Küche und fragte ohne alle Einleitung: »Hör, wie lauge ist sie
eigentlich tot?« — »Tot? wer soll tot sein?« rief Nike erschrocken. »Seht!
Tewes' Frau!« erwiderte er, sich ängstlich umsehend. »Ein halbes Jahr,
glaub ich,« stotterte die Schwester. »Oha!« machte Johann und sah sie mit
so ausdrucksvoller Miene an, daß ihr das Blut ins Gesicht stieg. Als sie
sich auf eine Antwort besonnen hatte, war der Bruder schon weg." Dieses
„Oha!" spricht mehr als eine lange Auseinandersetzung über den Manu, der
nach kaum sechsmonatlicher Witwerschaft schon wieder auf Freiersfüßeu wandelt;
und die Erzählerin fügt auch weiter nichts hinzu. Das sind Stileigenheiten,
wie sie nur bedeutende Dichter aufweise».
Die acht Novellen des Bandes sind von ungleicher Größe, auch vou un¬
gleichem Werte. „Das Vrosämle," „Der Erste," „Vou der Straße," „Die
Liebe ist gerettet" sind kleinern Umfanges, Skizzen tragischer und heiterer Art,
die mit einer oder zwei Situationen den Stoff erschöpfen. Das Meisterstück
unter diesen Kleinigkeiten ist ohne Zweifel „Von der Straße." Die Erzählerin
fängt im Vorübergehen einen unfreundlichen Wortwechsel zwischen zwei Liebes¬
leuten auf, die sie nie gesehen hat: der Dialog allein erzählt genug von dieser
Liebe eines wenig klugen Mädchens zu einem rohen Manne. Nach einiger
Zeit trifft die Erzählerin dasselbe Paar in einer dramatisch bewegten Szene:
der Mann wird, vermutlich wegen eines schweren Diebstahls, von der Polizei
abgeführt; das Mädchen steht in der Thoreinfahrt und sieht, wie die Knechte
des Pferdansschrvters ein krankes Roß prügelnd vor sich treiben, bis es zu¬
sammenbricht. In diesem Schauspiel scheint das arme Madchen ein Symbol
seines eignen Schicksals zu erkennen und fällt ohnmächtig nieder. Die Darstellung
ist packend, wenn auch die Symbolik nicht ganz sachlich geblieben ist, denn sie
gilt doch mehr für den Leser als für das Mädchen. Die Frapan hat aber
immer ein starkes Bedürfnis, poetisch befriedigend abzuschließen, was ihr auch
meist sehr gut gelingt und jedenfalls das beste Zeugnis für ihren künstlerischen
Sinn ist. Es gelingt ihr namentlich bei einem andern, so recht modernen
Stoff, einem Ehebruchsmvtiv: „Die Liebe ist gerettet." Ein Mann, der zwei
Jahrzehnte lieblos »eben seiner reichen, kinderlosen Frau gelebt hat, hat im
geheimen eine andre geliebt, die er fort und fort mit dem Versprechen, sich
von jener scheiden zu lassen, um sie zu heiraten, hingehalten hat. Nun stirbt
diese Geliebte. Er, der Schwächling, ist jetzt ganz verzweifelt. Seine kalte
Gattin, die seine andre Liebschaft wohl gekannt, aber gleichgiltig geduldet hat,
sucht ihn mit überlegener Ironie von allein öffentlichen Skandal zurückzuhalten.
Er aber mischt sich barhäuptig uuter die Leidtragenden des Leichenzuges und
scheidet von seiner Frau, um wenigstens im Tode der wahren Liebe Treue zu
bewahren. Diese eine Skizze wiegt Bände von Naturalisten auf.
Mit besondrer Vorliebe schildert Ilse Frapan Kinder. Das „Brvsämle"
ist ihr wohl gar zu altklug geraten; dagegen ist die rührende Schulgeschichte
„Thedchen Bolzen" ein humoristisches Prachtstück, das gelesen werden muß,
mit der Nacherzählung ist nichts gethan. Ebenso „Uns' Jda," wo ein gut¬
mütiger Fischhändler alten Schlages, der neidisch auf seinen erfolgreicheren
Konkurrenten schimpft, weil er ihm alle Kundschaft raubt, durch eine» kurzen,
heftigen, aber schließlich grundlosen Schreck über sein Verlornes Töchterchen
Jda von seinen bösen Gedanken geheilt wird. Das hervorragendste Kunst¬
werk des Buches ist auch sein umfänglichstes Stück: „Die Last," eine Eifer¬
suchtstragödie der furchtbarsten Art, aber mit eiuer poetischen Feinheit und
Schönheit, die nicht leicht erschöpft werden kann. Und auch mitten aus der
Gegenwart Heralls. In einer chemischen Fabrik ist ein Arbeiterpaar beschäftigt,
die Leutchen haben sich geheiratet, ohne es öffentlich bekannt zu machen, denn
wie verheiratete Arbeiterin wird aus der Fabrik entlassen, sie sind aber auf
das bescheidene Wochengeld angewiesen. Diese Heimlichkeit hat ihre tragischen
Folgen. Der neue Maschinenmeister ist ein leichtsinniger Mensch, obwohl
verlobt, hat er doch Don-Juan-Gelüste. Er stellt der schönen, jungen Gesa
"ach, er glaubt nur an eine Liebelei von ihr mit ihrem Hein Klefecker. Dieser
Hein ist aber umso eifersüchtiger, je mehr Recht er auf die Gehabe hat und
mehr ihn die Heimlichkeit seiner Ehe quält; und der Maschinenmeister ist
umso frecher nud rücksichtsloser gegen seinen Untergebenen, je eitler er ist.
Es kommt endlich so weit, daß ihn Hein in der entsetzt ich steil Weise umbringt,
indem er ihn in den kochenden Kessel wirft. Diese furchtbare Szene wird uns
allerdings Gottseidank erspart! Aber ein Beispiel wird uns vorher von der
Furchtbarkeit dieses mit kochenden Chemikalien gefüllten Kessels dadurch ge¬
geben, daß einmal eine Rose hineinfällt, die spurlos und still verschwindet.
Ganz genau so hat es Hans Hoffmann in seiner Novelle „Irrlicht" gemacht,
wo ein Mann in dem sumpfigen Sande des Moorbodens untergeht; da wird
vorher von Schulbuben eine Maus hineingeworfen und deren Versinken ver¬
folgt. Vielleicht ist eine Beziehung in diesen so ganz ähnlichen Kunstgriffen
Hoffmanns und unsrer Erzählerin vorhanden. Hier aber hat die Novelle
damit noch nicht ihren Abschluß. Denn nun erhebt sie sich zu erschütternder
Poesie in der Schilderung von Heims Bestreben, die Last des guälerischen
Gewissens von sich abzuwerfen. Wie er sich mit der Hoffnung schmeichelt,
in ein Land zu kommen, wo keiner Kenntnis von ihm hat, wie er sich selbst ver¬
rät, und wie er schließlich in einem immerhin ehrenvollen Tode, bei der
Rettung eines vom Sturm gepeitschten Bootes untergeht - ^ denn ohne wohl¬
thuende Lösung mag uns Ilse Frapan nicht entlassen - , diese ganze Dar¬
stellung atmet hohe Poesie.
Man darf Ilse Frapan ohne Bedenken zu unsern besten Novellisten
rechnen. Sie darf neben die Ebner gestellt werden, deren Tiefe sie zwar in
der schöpferischen Menschenbildung nicht erreicht, vor der sie aber die gänzliche
Freiheit von irgendwelchen moralischen oder politischen Tendenzen, die rein
künstlerische Haltung voraus hat; freilich ist sie auch kein so originaler Geist,
wie diese. Nicht einen neuen Menschen, sondern ein ungewöhnliches poetisches
Vermögen hat Ilse Frapan bisher bekundet. Aber es ist doch noch viel von
ihr zu erwarten; der vorliegende Band ist erst ihr drittes Nvvellenbuch. Als
Eigentümlichkeit verdient noch ihre Vorliebe Erwähnung, durch den Dialekt
— hier den plattdeutschen und auch schwäbischen (Brosämle) — zu charakterisire«;
es steht das im Zusammenhange mit ihrem sachlichen Stil. Ju dieser Sach¬
lichkeit ist sie auch Hans Hoffmann überlegen, der nicht ganz in den Dingen
aufgehen kann; gemein mit ihm hat sie die auf die Vischersche Ästhetik
gegründete künstlerische Bildung.
Nicht ebenbürtig, aber doch als ein echt dichterischer Mensch tritt ein
junger Wiener Dichter I. I. David, dessen zerstreut veröffentlichte Ge¬
dichte und Novellen viele Anerkennung gefunden haben, mit seinein ersten
Buch hervor: Das Höfe-Recht, eine Erzählung (Dresden, Minden). Erflehe
noch im Banne des Realismus; auch im Mittelpunkte seiner Erzählung steht
das Weib, das mit seiner Selbst- und Genußsucht die Männer ins Verderben
zieht: das beliebteste Motiv der Modernen. Aber in der Darstellung hat
David seinen eignen Ton offenbart, wenn auch noch nicht eigen genug. Jeden¬
falls hat er mitten unter den vielen Feuilletonisten Wiens seine originalen
Beobachtungen gemacht und sittlichen Ernst, kräftige Gestaltungskraft an den
Tag gelegt. Es ist manches Bekenntnis in das Buch verwoben, das ihm seinen
Persönlichen Reiz verleiht.
Es zerfällt nach den: Schauplatz der Handlung in zwei Teile; die erste
Hälfte ist Dorfgeschichte, und zwar in einem Dorfe des Kuhländcheus, einer
deutschen Sprachinsel Mährens (wo Eichendorff in seineu letzten Jahren an¬
sässig war); die zweite Hälfte ist ein Wiener Sittenbild. Ans dem großen
reichen Hofe des Erbrichters von Kunzcndorf wachsen die zwei ungleich ge¬
arteten Söhne in der gemeinsamen Liebe zu ihrer Gespielin, den: Judenmädchen
Fany, der Tochter des blutarmen Mautjnden, heran. Georg, der ältere, ist
nach dem uralten Hofrecht der einstige Erbe des Hofes; er ist stolz und
bäurisch roh. Gustav, der jüngere Bruder, studirt und geht schließlich ans
die Universität »ach Wien. Fany zieht ihn vor, nicht weil sie ihn wirklich
liebte, sondern weil sie von ihm mehr für sich erwarten kauu. Sie geht ihm
nach Wien nach und wird dort sein Verderben. In der großen Stadt wächst
ihre Begehrlichkeit, sie stürzt den liebenden Studenten in Schulden, verläßt
ihn, macht ihn zum Kasfeehnusbummler — echt wienerisch. Enttäuscht, sittlich
herabgekommen kehrt er ius Dorf zurück und läßt sich von seinem rohen Bruder
viele Demütigungen gefallen, bis er ihn, gemein herausgefordert, im Zorn
erschlägt. Die Mutter, eine stolze, hohe, herb ideale Gestalt, steht, beider
Söhne mit dem einen Streiche beraubt, an: Schlüsse wie eine Niobe da; der
zerrüttete Brudermörder wandert ins Gefängnis.
Das Höferecht ist im vergangnen Jahre Gegenstand lebhafter Debatten
im österreichischen Parlament gewesen. Es wurde die Frage erörtert: was ist
für die Erhaltung des Bauerntums vorteilhafter: Schutz des alten Höferechts,
wonach der Erstgeborene den ungeteilten Hof erbt, die andern Kinder aber mit
einer Auszahlung abgefertigt werden und meist dem Proletariat der nahen
Städte verfallen, oder fortschreitende Teilung der Bauerngüter, bis sie schließlich
so klein werden, daß sie eine Bewirtschaftung nicht lohnen und von Kapitalisten
wieder aufgekauft werdeu, dabei aber die alten Bauerngeschlechter verlieren.
Ili dieser schwierigen politischen Frage ergreift Davids Erzählung uach keiner
Seite hin Partei, man darf sich von dem Titel uicht irre führen lassen. Nicht
das Höferecht, sondern die Eifersucht, der ursprüngliche instinktive Charakter-
gegensatz zweier Brüder ist ihr Motiv, das allerdings durch die ungleiche Ver¬
teilung der Güter verstärkt wird. Als realistische Dichtung entbehrt sie auch,
wie der politischen Tendenz, einer allgemeinen poetischen Idee- Es ist ein ganz
individueller Fall. Sitteumalend ist nnr der Teil, der das Wiener Studenteu-
kaffeehaus und man muß sagen mit großer Lebenswahrheit und treffendem
Lokalkolorit schildert. Die Jugendgeschichte, die Erklärung der durch die Um¬
stände der Geburt, der Erziehung und des Charakters verhärteten Fany ist
Mit gelungen. Die Charakteristik der Mutter der feindlichen Brüder entbehrt
nicht der Größe. Mit kräftiger Folgerichtigkeit sind auch die Brüder selbst
bis zum äußersten gestaltet. Wenn dennoch die Erzählung nicht fesselnd genug
wirkt, so liegt es daran, daß der Erzähler der Technik noch nicht ganz Herr
geworden ist. Statt in reicher Handlung, mit vielen kleinen Zügen ausgestattet,
episches Behagen erzeugend die Menschen darzustellen, verweilt er bei der
kritischen Analyse ihrer Charaktere, er spricht selbst zu viel, der Dialog ist nur
spärlich verwendet. Der Verfasser ist nicht mehr naiv genug, um schlicht zu
unterhalten, er ist schon zu sehr litterarisch, um nicht noch weit mehr zu wollen,
und er ist doch noch nicht Künstler genug, um das Wollen über den, Können
vergessen zu machen. So nehmen wir sein „Höferecht" als eine Talentprobc
in der Erwartung größerer Leistungen hin.
Nochmals die Arbeiterwohnungen. Der Vorschlag den jemand in der
letzten Nummer der Grenzboten macht, der Wohnungsnot dadurch abzuhelfen, daß
sich die Hausbesitzer Straßen- oder stadtviertelweise zu Vermietergenossenschaften zu¬
sammenthun, würde nicht übel sein, wenn der Mangel an billigen Wohnungen in
unsern großen, neuen Zinshäusern nur damit zusammenhinge, daß die Hauswirte
keine Lust haben, sich mit unsichern Mietern zu belasten, die möglicherweise mit
dem Hauszins im Rückstand bleiben und schließlich, nachdem sie die Wohnung ab¬
genutzt daven, gar hinaufgesetzt werden müssen. Der Hauptgrund ist vielmehr der,
daß die bessern, teuerern Wohnungen sich leichter an sichere Leute vermieten,
wenn es in demselben Hause nicht zugleich billige Wohnungen giebt. Und das ist
doch auch ganz natürlich. Setzen wir den Fall, in einem neuen Zinshause kostete
das Erdgeschoß 1600, das erste, zweite und dritte Obergeschoß 2000, 1300 und
wieder 1600 Mark Miete, und im vierten Obergeschoß befänden sich vier Woh¬
nungen zu je 400 Mark. Was würde die Folge sein? Die unausbleibliche Folge
würde die sein, daß die Wohnung im dritten Geschoß, die namentlich in Neu¬
bauten, wo dieses dritte Geschoß das oberste Stockwerk bildet, erfahrungsgemäß
stets zuerst vermietet ist, weil es alle Annehmlichkeiten der übrigen Stockwerke bietet,
dazu die beste Luft und die meiste Sonne hat, dabei billiger ist als die übrigen
Wohnungen und den ganz unbezahlbaren Vorteil gewährt, daß der Mieter nie¬
manden über sich hat(!), daß diese Wohnung schlechterdings unvermietbar sein
würde. Denn wer soll sich von vier Familien, vielleicht kinderreichen Familien, auf
dem Kopfe herumtrampeln lassen? Er würde ja in seiner ganzen Wohnung nirgends
einen Raum finden, wohin er sich vor dem Lärm tapsender Männer-, schlurfender
Weiber- und springender Kinderbeine, hin- und hergeschobener Tische und Stühle
flüchten könnte. Aber auch die andern Wohnungen würden sich schwerer vermieten
lassen, weil sich viele teilte, mich wenn ihnen die Wohnungen sonst noch so gut
gefielen, doch besinnen würden, in ein Haus zu ziehen, worin sie auf Schritt und
Tritt mit Leuten, die ganz altre Lebensgewohnheiten, jn vielleicht ganz andre Be¬
griffe von Ordnung und Reinlichkeit haben, in Berührung kommen können. Mit
stundenlangen Fingerübungen auf dem Klavier würde man ja von den Bewohnern
des vierten Stockes verschont werden, und vor bedenkliche» Aftermieteru könnte
man sich durch Mietvertrng sicher». Aber man denke an den Anhang, den die
Leute oft haben, und dem der Verkehr im Hause nicht zu verwehren sein würde,
an die gemeinschaftliche Benutzung mancher Einrichtungen, wie Waschhaus, Trockeu-
bvdeu, und die Unannehmlichkeiten, zu denen das führen kann, u. dergl. Kurz,
begreife» läßt sichs, wenn es die Hausbesitzer vermeiden, in Neubauten gleichzeitig
für ga»z verschiedne Bevölkcrrmgsklasseu Wohnungen einzurichten.
Landschaftlicher Patriotismus ist nicht ganz zu verachten. Fände jede
deutsche Landschaft eine» Geschichtsschreiber für die Schicksale, Thaten und Leiden
ihrer Söhne in den andern Erdteilen, so bekämen wir damit eine Ergänzung der
deutschen Geschichte zur Geschichte der Deutschen. Was in dem vorliegenden Buche
über Aussichten und Lage der deutschen Auswanderer, über den Wirtschaftsbetrieb
in Amerika und sonst allgemeines gesagt wird, brauchte »icht wiederholt, sondern
nur vervollständigt und vielleicht hie und da berichtigt zu werden. Das auf der
Fachlitteratur und auf amtlichen Nachweisungen fußende Buch enthält eine Be¬
schreibung Luxembnrgs, eine Schilderung von Land und Leuten, eine Geschichte
der meist unglücklich verlaufenen Auswanderungen nach verschiedenen Gegenden Süd¬
amerikas, eine Geschichte der Auswanderung nach Nordamerika, Nachrichten über
die Beschäftigungsarten der Luxemburger in ihrer neuen Heimat, genaue Auskunft
Wer den dortigen Wirtschaftöbetrieb, die Vorteile und Nachteile'der Ansiedlung
im Urwald und ans der Prairie („die Farm im Wald giebt sichern, die auf der
Ebene größer» Ertrag; jede Lage hat auch ihre Plage"), berichtet über Sitten,
Sprache, kirchliche Haltung der Luxemburger, über die Gründung der „Luxem¬
burger Gazette" in Dubuque, über die Beteiligung von Luxemburgern am Sczessions-
kriege, giebt eine ausführliche Statistik der Ansiedlungen vou Luxemburgern in den
seinen Staaten der Union, der von ihnen gegründeten Vereine, ein Verzeichnis
der Luxemburger, die öffentliche Ämter bekleiden, biographische Nachrichten von
allen Luxemburgern, die sich verdient gemacht oder in irgend einem Fach ausge¬
zeichnet haben und schließt mit Ratschlägen für Auswanderer.
Der Verfasser ist gleich den meisten seiner Landsleute ein eifriger und, so¬
weit das religiöse Vorurteil ihn beeinflußt, bornirter Katholik. Die Gründung der
Zeitung, die er leitet, wurde 1870 durch die Furcht der amerikanischen Luxem¬
burger veranlaßt, ihre liebe Heimat könne von den Protestantischen Preußen ver¬
schluckt werden. Um sie vor diesem schrecklichen Schicksale zu bewahren, beschlossen
die wackern und klugen Männer im Staate Iowa (Eiowch!) eine Zeitung zu
gründen und in dieser täglich zu Protestiren. Das mußte doch helfen! Der von einem
Geistlichen verfaßte Aufruf atmete einen ans mehr als abergläubischen Vorstellungen
entsprungenen wütenden Preußenhaß. Mit der Zeit legte sich die Rügst »ud schwand
das Vorurteil. Die guten Luxemburger lernten ausgewanderte Preußen kennen
und überzeugten sich, daß diese keine kleinen .Kinder fresse«. Sie sagte« sich: das
siud ja ganz prächtige Leute; dafür können sie nichts, daß sie eine so schlechte Ne¬
gierung habe»; sie sind eher zu bedauern als zu hassen. Schließlich fanden sie
sogar, daß anch diese abscheuliche Regierung, gleich maucher andern bösen Macht,
das Böse zwar will, aber das Gute schafft, daß von Preußens erhöhtem Ansehen
„auch die Luxemburger profitiren mußten, da in deu Augen des Amerikaners und
des Jrländers nicht allein der Grvßpreuße, sondern jeder, der sich der deutschen
Sprache bedient, als Llsrinan, gilt." Und als Deutscher fühlt sich der Verfasser
bei aller Abneigung gegen das deutsche Reich. „Zu den größten Vorzügen des
deutschen Volkes im allgemeinen, sagt er, gehört auch der, daß es mit besondrer
Vorliebe an der Scholle hängt und ein großes Gewicht auf den Besitz von Grund
und Boden legt. Daher wendet sich die Mehrzahl der deutschen Einwanderer dein
Ackerbau zu. Während die Irländer, die Franzosen und die Italiener in den
großen Städten hängen bleiben und dort im Durchschnitt von der Hand in den
Mund leben, in engen, schmutzigen Gassen wirtschaften, treibt es den Deutschen und
den ihm stammverwandten Skandinavier hinaus nach dem fernen Westen in Gottes
freie Natur. Nicht ruht er, uicht rastet er, bis er auf eignem Grund und Boden
die eigne Hütte aufgeschlagen hat. Und liegen die Hindernisse bergehoch vor ihm,
mit des Allmächtigen Hilfe, mit der ihm eignen Ausdauer und Genügsamkeit über¬
windet er sie, und nach wenigen Jahre« ist der Fleck Erde, auf dem er lebt, sein
Eigentum. Mit freudigem Stolz setzt er deu Fuß fest auf das Stückchen Gottes¬
erde, welches er sein eigen nennt und jdas^ deu seinen die sorgenfreie Zukunft
sichert. Dieses Lob gilt auch dem Luxemburger; jn es bekundet schlagender viel¬
leicht als alles andre sein kerniges Deutschtum. Nicht allein, daß er den Deutschen
der andern Stämme in der Liebe sznj und fderj Anhänglichkeit an Grund und Boden
gleichsteht, nein, er überflügelt eiuzelue der Vrüderstämme in dieser Hinsicht, so
z. B. den Oberschlesier und den Thüringer. Wie wenig ihn die Großstädte an¬
sprechen , geht daraus hervor, daß 1870 uur drei und 1880 nnr neun Prozent
aller eingewanderten Luxemburger in den Großstädten wohnten." Die luxembur¬
gischen Kolonisten besaßen 1882 in den Vereinigten Staaten zusammen 645 000
Acker (2,47 Acker --- 1 Hektar), während das Großherzogtnm 039 000 Acker ent¬
hält. Heute, fügt der Verfasser bei, ist der luxemburgische Besitz in der Union
schon bedeutend größer als das ganze Großherzogtnm. Die Luxemburger halten
drüben gut zusammen; dafür sorgen besonders die Geistlichen. Könnten sie in einer
geschlossenen Ansiedelung zusammenleben, so würde sich anch ihre Mundart erhalten.
Das ist natürlich nicht möglich, und so werde« sie sich denn allmählich dazu be¬
quemen müssen, hochdeutsch zu sprechen; denn das Hochdeutsche, meint der Ver¬
fasser, wird sich dem Englischen gegenüber behaupte«.
Der Verfasser will niemandem zum Auswandern zureden, giebt aber genaue
Antwort auf die Frage, wem es anzuraten sei und wein nicht. Auswandern
sollen Bauern, die ihr verschuldetes Anwesen nicht mehr zu halten vermögen,
und Tagelöhner, die gesonnen sind, in harter Arbeit Grundeigentum zu erwerben,
wozu sie in der alten Welt keine Aussicht habe». Von Handwerker» finden drüben
„ziemlich leicht" (aber nicht etwa leichte!) Arbeit, vorausgesetzt, daß sie ihr Geschäft
verstehen und drüben eine Art neuer Lehrzeit 'durchmachen wollen: Schneider,
Sattler, Bauschreiner, Möbeltischler, Anstreicher, Steinhauer, Maurer, Tapezierer,
Klempner, Zigarrcumacher, Wagenbauer, Maschinisten Maschinenbauer?^, Weber,
zum Teil auch Schmiede. Der Auswandrer soll womöglich nicht über dreißig Jahre
alt sei»; „nach vierzig Jahren sollte man die Idee, in der neuen Welt ein neues
Leben zu beginnen, aufgeben. Alte Bäume verpflanzt man nicht." Keine Aussicht
drüben fortzukommen haben Schreiber, Litteraten, Künstler und Kaufleute, d. h. also
gerade die Leute, deren Überzahl wir hier in der alten Welt gern loswerden
möchten. Eltern, die ihre ungeratenen Söhne hinüberschicken, nennt der Verfasser
gewissenlos; nur wenige solche Burschen würde» gebessert, die meisten gingen erst
recht z» Grunde.
Die Sprache des Buches zeigt hie und da Amerikanismen und ist auch sonst
nicht ganz korrekt, dafür aber natürlich, kräftig, frisch und stellenweise mit mund¬
artlichen Anekdoten gewürzt. Mit einer solchen wollen nur schließen. Matthias
Kieffer trat 18K1 in das Heer der Union ein und wurde schon nach zwei Jahren,
obwohl »och sehr jung, zum Hauptmann befördert. Er traf nicht selten Landsleute
im Felde, einmal drei auf einem Dampfschiffe. Deu drei Burschen gefiel es nicht
beim Militär, und sie räsonnirlen halblaut mit einander. Da bemerkte der eine
den Kieffer und sagte zu dem eben sprechenden: Geseist de net, elo geel en offezeer;
tutt den dech nach heert! Der aber erwiderte: Do aß de fill ze domin. Da trat
Kieffer dazu und sagte: Nee eso setzend, mei Jorg, mer braucht dach net eso arg
gescheit ze sin, fir ces ze verstöen. Der anfängliche Schrecken der Burschen löste
sich bald in gemütliche Heiterkeit auf.
Seit sechs Jahre» besitzt die Hauptstadt Böhmens ein dem verstorbenen Kron¬
prinzen zu Ehren Rudolphinum genanntes „Künstlerhaus," worin außer ander»
Sammlungen auch die Gemäldegalerie der „Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde"
endlich eine bleibende und angemessene Stätte gefunden hat. Damit ergab sich das
Bedürfnis einer neue» Bearbeitung des Kataloges, die, wie es scheint, von dem
Gnlerieinspektor Architekten Barvilius vorgenommen und vou Bode in Berlin und
Bredius in Amsterdam durchgesehen worden ist. Z»in erstenmal liegt hier eine
Nach wissenschaftlichen Grundsätzen verfaßte Beschreibung der Sammlung vor; sie
bildet einen stattlichen und doch handlichen Band mit getreuer Wiedergabe der
Meisterzeichen und dreißig trefflichen Lichtbrücken nach hervorragenden Werken.
Dein Verzeichnis geht eine geschichtliche Einleitung voraus, die zugleich einen Bel¬
ang zur Kulturgeschichte der böhmischen Königsstadt liefert. Die genannte Gesell¬
schaft wurde 179K ins Leben gerufen zur „Wiederemporbringuug der Kunst und
des Geschmackes.« Wie die von Rudolf II. aufgehäuften Kunstschätze zuerst im
dreißigjährigen Kriege geplündert, dann nebst der vou Herzog Leopold Wilhelm
^sammelten Gemäldegalerie teils nach Wien weggeführt, teils verkauft, teils endlich
"uff schmählichste verwahrlost und verschleudert wurden, als Joseph II- 1?«2
die Umwandlung des Schlosses auf dem Hradschin in eine Kaserne genehmigt hatte,
das ist seiner Zeit von Joseph Spatel in seinen „Kulturhistorischen Bildern aus
Böhmen" (vgl. Grenzboten 1882, II. S. 173 ff.) aktenmäßig geschildert worden;
1783 wurden auch die drei Malerkonfrnterniläten aufgelöst, deren älteste länger als
vier Jahrhunderte bestände» hatte- weder zum Anschauungsunterricht noch zur
Unterweisung in der Technik gab es Gelegenheit in der Stadt, die sich seit den
Tagen Karls IV. eines regen Kunstlebens erfreut hattet) Dieser Not abzuhelfen,
erkannte der böhmische Adel als seine Pflicht. Er war noch nicht national ge¬
spalten. Mit dem Grafen Franz Sternberg von der ältern, sich nach ihrem Besitz
in der Eifel Sternberg-Manderscheid nennenden Linie (Goethes Freund Kaspar
Maria gehörte der jüngern an) verbanden sich die Ahnen von böhmischen Edel¬
leuten, die zum Teil heute in den Reihen der Tschechen stehen, ein Lobkowitz, ein
Kolowrat, ein Czeruin, ein Clam u. f. w. Sofort wurde eine Sammlung von
Gemälden aus Privatbesitz zusammengebracht und nach und nach durch eigne An¬
läufe der Gesellschaft vermehrt; sie mußte mehrmals wandern, bis die Gesellschaft
1311 ein eignes Gebäude erwarb. Aber auch der Bestand der Galerie wechselte
fortwährend, da die angekauften Bilder in den Besitz der einzelnen Mitglieder über¬
gingen und uach einem Zeitraume von mindestens zwölf Jahren zurückgezogen
werde» konnten. Erst 183S wurde diese Einrichtung aufgehoben, sodaß eigentlich
die Galerie erst seit diesem Jahre besteht. Geschenke, Vermiichtuisse und Ankäufe
(z, B. von 2819 Blättern Wenzel Hollars, eine „Hollareum" genannte Sammlung,
die durch eine Schenkung des bekannten Kunstfreundes Ad. v. Lama zu einem
vollständigen Kupferstichkabinet erweitert worden ist) ließen die Galerie rasch an¬
wachsen. Sie zählt jetzt 589 Ölgemälde, die »eben den italienischen, deutschen
und niederländischen Schulen selbstverständlich die böhmische Kunst vom Mittelalter
bis in die Gegenwart vertreten. Auch die Kunstakademie in Prag und der dortige
Kunstverein sind Schöpfungen der Gesellschaft.
er österreichische Reichsrat ist vertagt. Mit frohen Hoffnungen
hatten die deutschen Abgeordneten den Wiederbeginn der Sitzungen
im Januar begrüßt, denn in der Zwischenzeit war ja, unzweifelhaft
auf unmittelbaren Befehl des Kaisers, vom Ministerpräsidenten eine
vorläufige Verständigung zwischen Vertraueusmäuueru der Deutsch¬
böhmen und der Tschechen zuwege gebracht worden. Und wenn auch die schwer
begreiflichen Illusionen der Linken, die bereits zwei ihrer Führer an Stelle des
Polnischen Finanzministers und des klerikalen Ackerbauministers erblickte und die
Beseitigung des herrschenden Systems nur uoch als „Frage der Zeit" betrachtete,
sich rasch verflüchtigt hatten, so rechnete man doch mit Zuversicht darauf, daß
die klaffende böhmische Wunde sich endlich schließen und daß die eine An¬
erkennung der Bedeutung des Deutschtums für Österreich weitere nach sich
ziehen werde. Die deutschen wie die tschechischen Teilnehmer an den Beratungen
bemühten sich redlich, ihren Parteien klar zu machen, für sie sei so viel erreicht
worden, daß man andre Wünsche — auf deutscher Seite vor allem die An¬
erkennung des Deutschen als Staatssprache — wohl vor der Hand ruhen lassen
könne. Und die deutschen Wähler stimmten dem bei, wenn auch zum Teil mit
schwerem Herzen. Die Jungtschechen aber ließen sich nicht umsonst gesagt sein,
daß ihre letzten Wahlerfolge eigentlich den Anstoß zu der „Ausgleichsaktivn"
gegeben haben, da die Regierung und die Alttschechen selbst der deutschen Ab¬
geordneten im böhmischen Landtage bedurften, um diesen nicht gänzlich den
Radikalen auszuliefern. Eben jene Erfolge hatten ja gezeigt, welche Gewalt
skrnpelfrcie Demagogen auf die große Masse auch in B-odnen ausüben können,
der tattische Fehler, diese Partei von deu Konferenzen auszuschließen, lieferte
zu den abgebrauchter Redensarten von dem unfindbnren böhmischen
Staatsrechte, von der Unterdrückung der gebornen Herren des Landes dnrch
Fremde u. s. w. eine neue Note, und die Behörden thaten ein übriges, indem
sie jede Besprechung der vereinbarten Bestimmungen, mündliche wie gedruckte,
verhinderten. So wurde von neuem den Alttschechen solche Angst um ihre
Mandate eingejagt, daß sie sich durch allerlei Winkelzüge von der Erfüllung ihrer
Zusage loszuschrauben oder doch wenigstens die Entscheidung durch den Landtag
bis zum Herbste hinauszuschieben versuchten. Bor allein ist es ihnen lästig, daß
an Stelle des Justizministers Praschak, ihres Parteigenossen, der sich durch
Proklamirung des böhmischen Staatsrechtes im Abgeordnetenhause berühmt
gemacht hat, jetzt Graf Schönborn steht, der, in dem Rufe hvchkirchlicher und
tschechensreuudlicher Gesinnung ins Amt gelangt, in diesem sich wirklich als
Vertreter des Rechts ohne Rücksicht auf Parteifreundschaft gezeigt hat. Die
gänzliche Verschleppung der Angelegenheit ist den Tschechen nicht gelungen, der
Landtag berät sie, aber wie sie aus den Verhandlungen hervorgehen wird,
läßt sich noch keineswegs sagen.
Und zum Schlüsse des Reichsrates wurde den Deutschen uoch nachdrücklich
eingeprägt, wie sehr sie sich getäuscht hatten, als sie — zum wievieltenmal! —
den Zerfall der Mehrheit verkündeten. Die schon oft verhandelte Frage, wer
die Entschädigung für die Aufhebung der Robot in Galizien zu leisten habe,
das Kronland oder das Reich, wurde „glücklich" aus der Welt geschafft, d. h.
das Reich übernimmt die Kleinigkeit von 196 Millionen Gulden der galizischen
Grundentlastung aus seine Rechnung, während die übrigen Länder die ent¬
sprechenden Lasten selbst zu tragen haben. Das klingt unglaublich, aber die
galizische Grundentlastung hat allerdings ihre eigne Geschichte, die nur nicht
ganz so aussieht, wie die Polen mit gewohnter Unbefangenheit sie darstellen.
Bekanntlich war im Jahre 1846 der Schlachta in Galizien der Versuch, die
Landbevölkerung in den Aufstand hineinzuziehen, sehr übel bekommen, und daher
war zur Zeit des Völkerfrühlings die Besorgnis nicht unberechtigt, der Bauer
könnte die neue Freiheit in seiner Art zur Wahrheit machen wollen. Erklärte
man ihn aus eignem Antriebe frei auf seiner Scholle, so war die Möglichkeit
gegeben, den Feind in einen Verbündeten zu verwandeln und mit dessen Hilfe
die österreichische Herrschaft abzuschütteln. So klug war jedoch auch die Re¬
gierung; Graf Stadion, von dem später die Polen und deren deutsche Nachbeter
aufbrachten, er habe die ruthenische Nationalität „erfunden," kam jenen zuvor
und überbot sie auch gleich, indem er in dem Befreiungspatent vom 17. April
dem Kaiser die Leistung der Entschädigung durch den Staat versprechen ließ.
Darauf fußen nun die Polen und ihre Freunde. Aber das Patent ist an¬
fechtbar; als es erlassen wurde, war Österreich wenigstens dem. Namen nach
schon ein konstitutioneller Staat, das Versprechen ist später, wenn nicht formell,
doch thatsächlich außer Kraft gesetzt worden.
Immerhin bleibt die Rechtsfrage streitig. Das gaben auch die deutschen
Abgeordneten zu, und deshalb beantragten sie deren Entscheidung durch das
Reichsgericht. Sollte, sagten sie, dessen Spruch gegen die polnischen Ansprüche
ausfallen, so werde man, wie immer, Billigkeit walten lassen. Doch die Polen
müssen von der Unanfechtbarkeit ihres Rechtes nicht so durchdrungen sein, wie
sie versichern, und die Unbilligkeit in der Hand dünkt ihnen sicherer als die
Billigkeit in der Ferne. Genug, sie setzten im Verein mit Tschechen (alten und
jungen), Slowenen, Südtirolern — die sich damit den Anspruch auf gute
Gegeildienste erwarben — die Annahme ihrer Forderung durch.
Alle Fraktionen der Linken stimmten geschlossen dagegen, mit ihnen ein
Teil des Klubs der Deutschklerikalen, der Rest enthielt sich der Abstimmung:
die Herren hatten nicht den Mut, zu der neuen schweren Belastung der deutschen
Bewohner der Alpenländer, deren Vertreter sie sind, ja zu sagen, wagten aber
auch nicht, sich gegen die Rechte aufzulehnen. Es ist nicht unmöglich, daß
die ganze Partei in die Brüche geht, da die Bauern überhaupt kaum verstehen
werden, weshalb sie für die gcilizische Grundentlastung zahlen sollen, umso
weniger als ein gut katholischer konservativer Mann, der Abgeordnete Lien-
bacher, entschiedner als irgend ein Liberaler gegen die Zumutung aufgetreten
ist. Die Linke spendete ihm dafür lebhaftesten Beifall; ob sie endlich einsehen
wird, daß es eine verkehrte Politik ist, so viele Deutschen darum als Feinde
zu behandeln, weil sie konservativ und kirchlich gesinnt sind, das ist mehr als
fraglich.
Sind sie doch naiv genug, darüber entrüstet zu sein, daß die polnischen
Redner sich nicht begnügten, ihren Schein vorzuweisen, sondern frischweg be¬
haupteten, ihr vorher blühendes, glückliches Land sei dnrch das österreichische
Beamtentum zu Grunde gerichtet worden. Das haben sie seit so langer Zeit
und so oft erzählt, daß sie es vielleicht endlich selbst glauben. In den Sitzungs¬
berichten des konstituirenden Reichstages von 1848 sind Reden zu finden, die
dein jetzigen Hauptwortführer der Partei, dem Herrn v. Jaworski, als Konzept
gedient haben könnten. Damals schmähte ein Graf Potocki die Beamten, die
sich herausgenommen hatten, die freie Bewegung des polnischen Adels im Kon-
spiriren und im Bedrücker des Landvolks zu stören, versicherte zugleich, daß
die Polen es mit Österreich ehrlich meinten, wenn sie auch „ihre Zukunft nicht
aus dem Auge verlören." Damals nahm der Minister des Innern, der sanfte
Pillersdorf, wenigstens seine Beamten in Schutz, indem er geltend machte, sie
seien anders als die frühern. Diesmal blieb es der deutschen Opposition über¬
lassen, die Ehre der Angegriffenen zu verteidigen, und erst nachdem Lienbacher
im Abgeordnetenhause, der Geschichtschreiber Arneth und der ältere Pierer im
Herrenhause dem Obmann des Pvlenklubs scharf zuleide gegangen waren und
nachgewiesen hatten, daß erst seit dem Einzuge der verunglimpften deutschen und
tschechischen Beamten (unter denen es natürlich auch räudige Schafe gegeben
haben wird) der galizische Bauer zu dem Bewußtsein seiner Menschenrechte
gekommen ist, als man in Erinnerung gebracht hatte, daß die ganz allgemein
gehaltenen Beschuldigungen nicht allein Männer wie Stadion und Clam-
Martinitz und Tcmffe, den Vater des Ministerpräsidenten, sondern sogar die
Erzherzoge Maximilian und Karl Ludwig antrafen, die, wenn nicht selbst das
Volk „ausgebeutet" und „sich bereichert," mindestens ein „Willkürregiment"
geduldet haben müßten, das nach Jaworskis Ansicht ein „Schandblatt" in der
Geschichte Österreichs fülle: erst da ermannte sich der Minister sür Galizien
zu der Erklärung, Herr v. Jaworski habe seine Worte nicht so böse gemeint.
Dieser milden Auslegung widersprechen aber die polnischen Organe ganz be¬
stimmt!
Solche Sprache verrät wohl, wie sehr den Herren der Kamin geschwollen
ist, etwas Neues enthüllt sie uns nicht. Die Polen verlieren nie „ihre Zu¬
kunft aus den Augen." Ähnlich den Sozialdemokraten teilen sie sich in Auf¬
richtige und Opportunisten, die vom Staate zu erringen trachten, was
möglich ist, ihn aber nur anerkennen, so lange sie müssen. Ihnen jetzt Vor¬
träge über polnische Geschichte und über Zustände, auf die sich die deutsche
Redensart „polnische Wirtschaft" bezieht, zu halten, ist eine fruchtlose Mühe.
Die glorreiche Republik mit dem Wahlkönig, der Adelsherrschaft, dem Veto,
den Konföderationen und dem lustigen Leben ist und bleibt ihr Ideal, und die
Hoffnung, daß eine europäische Verwicklung die Wiederherstellung des polnischen
Reiches ermöglichen werde, verläßt sie nicht. Der alte Pierer hielt den Gali-
ziern vor, daß sie Grund hätten sich zu beglückwünschen, weil sie unter keine
andre als österreichische Herrschaft gekommen seien, und das thun sie auch im
Stillen, oder wenn Loyalität „opportun" erscheint, laut, doch aufrichtig nur
in dem Sinne, daß sie aus Österreichs Kosten „ihre Zukunft im Auge behalten"
dürfen.
Man könnte damit zufrieden sein, daß Tschechen und Polen so ungescheut
die Masken abwerfen und für die Erkenntnis der Wahrheit wirken: das stnats-
erhaltende Element in Österreich muß auf Seiten der Deutschen gesucht werden.
Leider ist ans der linken Seite des Abgeordnetenhauses der Zeitpunkt für passend
gehalten worden, zu zeigen, daß auch da wenigstens die politischen Kinderschuhe
noch nicht ausgetreten sind. Haut die Rechte die Beamten, so reibt sich die
Linke an der Armee. In den Ostertagen gab es bekanntlich in einigen Vor¬
orten Wiens Krawatte, die von der liberalen Presse sehr ernst genommen
wurden, da der Pöbel sich an jüdischen Branntweinschänken vergriffen hatte.
Ein Abgeordneter rügte die Verspätung des militärischen Eingreifens und
lieferte eine mit abgeschmackten Witzeleien verbrämte Erzählung, aus der her¬
vorging, daß in einer Kaserne die Mannschaft, die vorschriftsmüßig in Bereit¬
schaft sein sollte, nicht bereit gewesen sei, der Offizier erst aus einem Theater
geholt werden mußte u. dergl. in. Diese Erzählung erwies sich als grobe
Entstellung. Als nun der Oberst des betreffenden Regiments vom Redner in
der üblichen Weise Genugthuung verlangte, verschlang dieser seine eignen, in
dem amtlichen stenographischen Protokoll schon schwarz auf weiß vorliegenden
Worte und behauptete, die Zeitungen hätten erst seiner Rede den erwähnten
Sinn gegeben. Die Parteipresse aber, anstatt dankbar anzuerkennen, daß die
Offiziere sich mit einem so sonderbaren Rückzuge zufriedengaben, erhob ein
Wehgeschrei über indirekte Verletzung der Immunität. Wenn die Abgeordneten
und die Journalisten doch wüßten, wie die gebildete Welt über das heilige
Recht der erster» denkt, andre leichtfertig in ihrer Amtsehre zu beleidigen!
Unsers Erachtens wäre es gerade für den Parlamentarismus sehr heilsam,
wenn einer, der persönliche Anschuldigungen vorbringt, darauf gefaßt fein
müßte, sich einer Pistolenmündung gegenüber zu stehen. Und die deutsche
Linke kau« sich darauf verlassen, daß ihre Gegner diese alberne Geschichte zu
benutzen verstanden haben, wahrscheinlich besser, als sie die polnischen und
tschechischen Thaten für ihre Partei ausnutzen wird.
reimal sind wir im vorigen Aufsatze uns den Geschmack gestoßen,
als eine unerläßliche Bedingung sowohl für den Fortbestand und
das Gedeihen sehr wichtiger Handwerke wie für eine gesunde Ver¬
teilung der Bevölkerung über das Land — Aufforderung genug,
der volkswirtschaftlichen Bedeutung des Geschmacks eine besondre
Erwägung zu widmen.
Die Lazzaroni können mit zwanzig Pfennigen Tagesverdienst nicht allein
^ben, sondern sogar angenehm leben. Denn außer billiger Pflanzenkost braucht
der Manu nichts als eine Schwimmhose; alle Lebensgenusse: freie Luft, See¬
bad, Unterhaltung, Spiel, Tanz, Musik und — Liebe hat er umsonst. Der
Zutsche Tagelöhner, Fabrikarbeiter, Kleiuhandwerker oder Uuterbeamte braucht
außer einer reichlicheren und kräftigeren Nahrung auch uoch eine etwas voll-
^äudigere Bedeckung für den Sommer und warme Winterkleider, namentlich
Stiefel, die sehr teuer sind, Wohnung und Feuerung; er muß Kommunal-
neuern oder Gewerbesteuer zahlen; er muß, wenn er verheiratet ist, den Unter¬
halt der kleineren Kinder ganz, den der Fran und der halberwachsenen Kinder
Wu Teil bestreikn und hat auch mich Aufhebung des Schulgeldes uoch manche
Auslagen für die Erziehung der Kinder. Bei den untersten Klassen der ge¬
nannten Berufsstnnde reichen nun die Einkünfte zur Bestreitung aller dieser
Ausgaben nicht hin, bei den Unterbeamten wenigstens dann nicht, wenn sie
viel Kinder haben. Wir ziehen dabei solche außerordentliche Fülle gar nicht
in Betracht, wie den einer Arbeiterin in einer Spielwarenfabrik, die neulich
wegen Unterschlagung einiger Bleiabfülle angeklagt, vor Gericht nachzuweisen
vermochte, das; sich ihr Wochenlohn auf zwei Mark beläuft. (Sie wurde zu
sechs Mark Geldstrafe verurteilt; wovon soll sie die bezahlen?) Sondern wir
halten uns an ganze größere Gruppen. Die „Schlesische Zeitung," ein
regierungsfreundliches und der freikouservativen Partei nahestehendes, in allen
seinen Nachrichten und Angaben sehr vorsichtiges und zuverlässiges Blatt, be¬
richtete am 26. März d. I. über den Winterverdienst in der Grafschaft Glatz,
die nicht zu den wohlhabenden, aber auch noch nicht zu den ärmsten Gegenden
unsers Vaterlandes gehört. Der ländliche Tagelöhner verdient dort im Winter,
vorausgesetzt, daß er Arbeit bekommt, 70 bis 80 Pfennige täglich, also
4,90 bis 5,60 Mark wöchentlich; der Handwerker und seine Frau bringen es
zusammen auf 6 Mark wöchentlich; bei der Anfertigung von Streichholz¬
schachteln verdient ein fleißiger Arbeiter in voller Tagesarbeit 60 Pfennige,
wovon aber die Auslage für Klebstoff abzuziehen ist; das macht wöchentlich
nicht ganz 4 Mark 20 Pfennige, wenn er Sonntags feiert. In den preußischen
Zuchthäusern werden auf die tägliche Beköstigung des Mannes 30 bis 31 Pfennige
gerechnet. Da nun aber die Tagelöhuerfrau bei ihrem Einzeleiukauf für das¬
selbe Geld nicht allein weniger, sondern anch schlechtere Ware bekommt (beim
Fleischkanf gewöhnlich nur Sehnen und Knochen) als jede im ganzen ein¬
laufende Anstaltsverwaltung, so müßte sie allermindestens 35 Pfennige für den
Kopf der erwachsenen Person aufwenden, um den Ihrigen dasselbe Essen auf
den Tisch setzen zu können, wie es die Zuchthäusler bekommen. Das würde
für eine Person 2,45 Mark, für zwei Personen 4,90 Mark, sür Mann, Frnu
und zwei Kinder 7,35 Mark die Woche machen. Wo blieben da die andern
Ausgaben? Es steht also fest, daß die untersten Lohnsätze, wenigstens für
Familien, zum notdürftigen Lebensunterhalt nicht hinreichen.
Zum Glück erfreuen sich die meisten Angehörigen der genannten Berufs¬
stände höherer Einnahmen; und selbst in der Grafschaft Glatz bringen es die
Fabrikarbeiter auf 1,30 Mark täglich, also auf 7,80 Mark die Woche. Bei
einem Wochenverdienst von 7,80 Mark könnte nur der Einzelne und bei einem
Gesamtverdienst von 12 bis 20 Mark könnte eine kleine Familie durchkommen,
wenn ^- die Mode uicht wäre. Die Tyrannei der Mode, die zur „standes¬
gemäßen Lebenshaltung und Lebensführung" zwingt, drückt alle Klassen vom
Minister bis zum Kühjnngen herab. Denn auch der Kühjunge darf Sonntags
uicht mehr in der kurzen Jacke erscheinen (der Abcndmahlsrock wurde früher
nicht an jedem beliebigen Sonntage getragen und mußte mindestens drei Ge-
schlechtsfolge» dienen), sondern auch für ihn ist der schwarze Rock alö rigusur
(fiir Pariser Dinge ist wohl ein französischer Ausdruck erlaubt?). Auch er
trügt Handschuhe und gesteifte Manschetten; auch er trägt eine Talmiuhrkette
und eine Talmibnsennndel. Auch er beschenkt seine Freunde und seinen Schatz
mit der Photographie seines geistreichen Antlitzes. Auch er hält sich sür ver¬
pflichtet, die schöne Gotteswelt mit dem Qualmseiner Stinkadores zu verpesten.
Und das geht nun so durch alle Schichten hindurch, bis zu deu Korpsstudenten
hinauf, die sich für „verpflichtet" halten, auf der Eisenbahn erster Klasse zu
fahren. Sommer wie Winter neue „Saisvnanzüge" sür Manu, Frau und
sämtliche Kinder, die Saisondamenhüte, die um so teurer sind, je weniger
daran ist (dieses Jahr soll es eine Sorte geben, die nur noch aus einem gar-
nirten Loche besteht), die Photographien jedes einzelnen Familiengliedes mit
zeitweiligen Gruppenaufnahmen, die Visitenkarten, ohne die selbst der zwölf¬
jährige Schuljunge nicht mehr bestehen kann, die Handschuhe, ohne die kein
fünfjähriges Mädchen mehr über die Straße geht, die ebenso teuern als un¬
nützen und zum Teil schädliche» Spielwnre» sür die kleineren Kinder; alles das
und verschiednes andre, was den Lesern aus dem Leben, aus ernsthaften Straf¬
predigten und illustrirten Witzblättern zur Genüge bekannt ist, fängt schon in
den Beamten- und Handwerkerfamilien mit 720 Mark Einkommen an. Kein
Wunder, daß die Butterschnitten immer kleiner und magerer werden, daß ein
ordentlicher Braten niemals ans den Tisch kommt, und daß die Familie
trotzdem bis über die Ohren in Schulden steckt. Etwas höher hinauf finden
wir die berüchtigte, mit tausenderlei geschmacklosen Raritätenkram angefüllte
„gute Stube," der zuliebe die Familie sich beim Schlafen in ein ungesundes
Loch zusammendrängt; dazu dann den Wirtshausbesuch, unnötige Badereisen,
die Vereinsfexerei und den Skat des Mannes u. s. w. Mit einem Worte:
niemand reicht mehr mit seinem Einkommen aus, weil ihn die Mode zwingt,
oder weil er sich einbildet, daß die Mode ihn zwinge, einen beträchtlichen Teil
seiner Einnahmen auf unnütze Dinge zu verwende».
Und nun beachte man, wie gewaltig und wohlthätig eine Umkehr von
dieser verhängnisvollen Geschmacksverirrung noch nach drei andern Seiten hi»
wirken würde! Zuvörderst würden alle die, die bisher um des Überflüssigem
Willen auf das Notwendige verzichtet haben, nicht bloß ihre Finanzen in
^rdnnng bringen, sondern auch gesünder und schöner, ein wenig mehr
^«Xoxä-s^ol werden. Man würde seine Erholung im Freien und nicht in
Räumen suchen, die durch Tabaksqualm und Alkvholdünste verpestet sind. Mai-
Würde die größten und schönsten Zimmer zum Wohnen und Schlafen benutze»,
^le Frauen würden sich nicht mehr schnüren und nicht bald mit den Umriß-
linien eines Vogel Strauß, bald als wandelnde Doppelholzkegel mit dazwischen-
geschvbemm Viereck in der Öffentlichkeit erscheinen. (Seit einigen Jahren wird
^ Parallelogrammfvrm des großen Kragens dnrch die zwei Hörnchen auf den
Schultern unterbrochen, was zwar den streng geometrischen Umriß der Figur
aufhebt, aber weder zur Verschönerung dient, noch dazu, den wandelnden Holz¬
kegel der Menschengestalt ähnlicher zu machen.) Niemand würde mehr durch
spitzschnäblige Hakenschuhe auf Verkuppelung seiner Füße hinarbeiten. Man
würde der ürmern Jngend nicht mehr verbieten, im Sommer barfuß zur Schule
zu kommen, vielmehr auch die Kinder der Reichen anhalten, beim sommerlichen
Spiel im Freien die Fußbekleidung abzulegen, weil nur durch zeitweiliges
Varfußgehen der Fuß völlig gesund und wohlgebildet erhalten werden kann.
Endlich würde es weder an warmer Winterkleidung noch an hinreichender
Nahrung fehlen.
Zweitens sind es gerade jene überflüssigen Dinge, bei deren Herstellung
die Arbeiter verkümmern, während die Gewerbe, die sich mit der Erzeugung
des notwendigen beschäftigen, größtenteils gesund sind. Gesunde Gewerbe sind
die Landwirtschaft, die Gärtnerei, die Baugewerbe, die Wagenbcmerei (in einer
Gesellschaft von Handwerksgesellen erkennt man die Zimmerleute und Stell¬
macher schon am schönen Wuchse), die Maschinenbauerei und die meisten der
übrigen Eisenindustrien (sofern nicht durch Überanstrengung Schwindsucht und
andre Leiden erzeugt werden), die Tischlerei, die Gerberei, die Sattlerei, die
Fleischerei und die übrigen Nahruugsmittelgewerbe mit Ausnahme der Bäckerei.
Zugleich werden in diesen Gewerben die höchsten Löhne gezahlt, mit Ausnahme
der Landwirtschaft, wo jedoch die Geringfügigkeit des Lohnes durch kräftige
Naturalverpflegung, gesunde Lebensweise und Bedürfnislosigkeit leicht aus¬
geglichen werden kann und bisher auch meist ausgeglichen wurde. Fast nur
eins giebt es unter den großen und notwendigen Gewerben, das ungesund ist
und schlecht bezahlt wird, die Schneiderei. Die Schühmacherarbeit wird eben¬
falls schlecht bezahlt, ist aber nicht in demselben Grade ungesund. Die Hand¬
weberei rechnen wir nicht, weil ihr Weiterbetrieb unter den gegenwärtigen
Umstünden keinen Sinn mehr hat. Dagegen sind die mit Herstellung des
unnützen Flitterkrams beschäftigten Gewerbe die ungesundesten und zugleich
gerade die, in denen Hungerlöhne die Regel bilden. So z. B. wurde vor ein
paar Jahren in Breslau amtlich ermittelt, daß die Spulerinnen und Maschinen-
dreherinnen in der Posamentenfabrikation, die Strvhhntnäherinnen, die Pack¬
mädchen in den Zigarettenfabriken, die Arbeiterinnen in der Vuntpapier-
fnbrikation auch bei übermüßig langen Arbeitsschichten nicht höher als auf
drei bis fünf Mark Wochenlohn kommen. In vielen Zweigen der Luxus¬
industrie werden giftige Stoffe verwendet und wird anhaltendes Sitzen in
schlechter Luft erfordert. Das Elend der verschiednen Klassen der Weber ist
allgemein bekannt; die englischen Bandweber und Strumpfwirker marschirten
immer an der Spitze jener Arbeiterklassen, deren Lage schon vor achtzig Jahren
die Menschenfreunde zur Erörterung der Frage nötigte, ob der Fortschritt der
Industrie wirklich ein Segen und nicht vielmehr ein Fluch sei. Die Gewebe
sind freilich an sich kein Luxus, Wohl aber ist es ihre Überfülle. Gelänge es
nun, einen erheblichen Teil des Volkes aus diesen ungesunden und kärglich
bezahlten Luxusgewerben in die gesundem und besser bezahlten Bedarf»is-
gewerbe überzuleiten, so würde damit für diesen Teil die körperliche, geistige
und wirtschaftliche Gesundheit zurückerobert sein.
Aber könnten denn mehr Arbeiter als bisher in den Bedürfnisgewcrben
Verwendung finden bei der herrschenden Überproduktion? Und ob! An Über¬
produktion, damit kommeu wir zur dritten Seite des Gegenstandes, leiden ja
nur eben dieselben Luxusgewerbe, die ihrer wirtschaftlichen und Gcsnndheits-
schädlichkeit wegen verlassen werden sollten. An allen notwendigen Dingen
dagegen leiden wir, das Volk im ganzen, immer noch Mangel. Wir haben
zwar viel zu viel Krimskrams, Flitterstaat, Taschentücher mit Bildern, das
Stück für drei Pfennige, Abziehbildchen und andre Spielereien, Zeitungen,
Schundlitteratur auf elendem Papier in elenden Einbänden, Fusel und Tabak.
Aber wir haben viel zu wenig Brot. Fleisch, Fische (durch die Abwässer der
Fabriken werden die Bäche in stinkende schwarze Höllenströme verwandelt und
die Fische darin getötet), gute Milch und Butter, gutes Gemüse und Obst,
viel zu wenig geräumige und gesunde Wohnungen, viel zu wenig bequemes
und nützliches Hansgerät und nützliche Maschinen; viel zu wenig gute Bilder
und gute, gut ausgestattete Bücher in guten Einbänden (im Buchladen stecken
sie wohl, aber dem Einzelnen, der sie braucht, sind sie meist unerreichbar); viel
zu wenig Gärten, viel zu wenig Luft, Wasser und Reinlichkeit. Luft und
Reinlichkeit kosten nämlich in größern Städten weit mehr Geld, als neun
Zehntel der Einwohner dranzuwenden haben, um bei Tag und bei Nacht
gesunde Luft atmen zu können, muß der Großstädter auf Wohnung mindestens
vierhundert Thaler ausgeben. Und Reinlichkeit ist im Norden ohne einen
gewissen Wäschvorrat, ohne häufige Anwendung von heißem Wasser und Seife
und die damit verbundene mühselige, unangenehme und nicht ganz billige
Arbeit nicht möglich. Was uns endlich ganz fehlt, das sind öffentliche Ge¬
bäude, wie sie die alten Griechen und Römer in ihren Gymnasien, Stoen und
Bädern besaßen, und zu deren Einrichtung unsre vielgerllhmte Kultur sich noch
uiuner nicht aufgeschwungen hat, obwohl wir sie viel nötiger brauchen als die
südlichen Völker. Wie armselig sind unsre großen Städte mit Kinderspiel¬
plätzen ausgestattet! Wie viel tausend Kinder sind auf die Straße angewiesen,
Wenn sie die Polizei dort duldet, lind nun gar im Winter! Namentlich bei
Regenwetter; denn wenn Schnee liegt und die — für Ärmere freilich meist
unerschwinglich terre — Eisbahn geöffnet ist, da geht es ja. Und was machen
Wir Erwachsenen bei Regenwetter? Wir kriechen in Spelunken, deren Luft und
Behaglichkeit für Sträflinge gerade gut genug wäre, und hocken dort beim
Biere, oder wenn es gar zu naßkalt ist, bei wärmendem aber dafür teureren
Getränken, nach denen wir keine Sehnsucht empfinden würden, wenn wir uns
in trockenen Hallen warm laufen, turnen oder spielen könnten. Oft trinken wir
sogar ohne Bedürfnis, nur um uns die Berechtigttilg zum Verweilen an einem
Erholungsorte zu erkaufen. Den einzigen vernünftigen Ausweg bieten Billard
und Kegelschieben, aber in welcher Luft wird jenes gespielt und in was für
Räumen dieses betrieben! Und beides kostet Geld. Auch die kleinste Stadt
müßte ihre weite lichte Halle haben, mit Spielplätzen für die Kiuder, Turn¬
plätzen für die Jugend, Wandelgäugen für das bequemere Alter, daranstoßenden
Lesezimmern und Bibliotheken, mit Gurten und Vvlksbäderu. Das Gebäude
oder der Gebäudekvmplex müßte ein architektonisches Kunstwerk und mit Kunst¬
werken ausgeschmückt sein: mit Wandmalereien und Statuen. Und jede größere
Stadt müßte eine entsprechende Anzahl solcher Einrichtungen besitzen, sodaß
die ganze Bevölkerung versorgt wäre. Das Mittelalter hatte wenigstens seine
Kirchen, seine Rathäuser, Zunfthäuser und Vadstubeu, aber wir Heutigen haben
gar nichts als das „Lokal" und den Biergarten. Einige Anfänge sind ja
vorhanden in Vereiushänsern, Volksbibliotheken, Volksgarten, Vvlksbäderu; die
in Dresden und Leipzig bestehenden Anstalten dieser Art werden hoffentlich
Nachahmung finden; und in London ist vor wenigen Wochen dem Volke ein
sehr großartiges Erhviungshnus übergeben worden — für die Wochentage
natürlich, wo das Volk nicht Zeit hat, denn Sonntags darf man sich ja in
England nicht vergnügen. Aber wie vereinzelt bleiben vorläufig diese Anfänge;
wie wenig genügt das alles dem Bedürfnis und wie wenig entspricht es dem
großartigen Zuschnitt des modernen Lebens! Wahrlich, um unsre wirklichen
Bedürfnisse zu befriedigen, würde die doppelte und dreifache Zahl der Bau¬
arbeiter, Gärtner, Künstler und nützlichen Handwerker nicht hinreichen!
Mit diesen Betrachtungen haben wir zugleich die alte, in sittlicher wie in
volkswirtschaftlicher Beziehung gleich wichtige Frage beantwortet, ob und in¬
wieweit der Luxus nützlich oder schädlich sei.
Man muß unterscheiden: 1. solche Dinge, die auf niedern Kulturstufen
als Luxus erscheine», auf höhern aber Bedürfnis sind, und zwar Bedürfnis
jedes einzelnen Menschen. Gut zubereitete Speisen; Kleider, die den Jahres¬
zeiten angemessen sind; ein hinreichender Vorrat reiner Leibwäsche;^trockene, sonnige,
luftige Wohn- und Schlafzimmer; besondre Räume für die mancherlei Ver¬
richtungen, die sich nicht gut mit einander vertragen; eine hinlängliche Menge
reinen Wassers zum Trinken, Kochen, Waschen und Baden; zweckmäßiges und
bequemes Hausgerät; ein Garten oder ein Gürtcheu; gute Heiz- und Kvch-
vorrichtungen; hellbrennende Lampen; eine Zeitschrift, einige Bücher — das
sind Dinge, die heutzutage jeder Einzelne haben muß, wenn er sich wohl¬
fühlen soll.
2. solche, die zwar ein Kulturvolk als Ganzes nicht entbehren kann, die
aber nicht jeder Einzelne zu besitzen braucht. Paläste, Juwelen, Brokate, die
Hilfsmittel wissenschaftlicher Forschung, Kunstwerke, Musikinstrumente, Teppich-
beede, Rassenpferde u, s. w. sind teils für den materiellen, teils für den
ideellen Bestand eines Volkes notwendig; das letztere deswegen, weil das geistige
Leben aus Vorstellungen erwächst, und weil sowohl die Erzeugung wie die
Beschattung und Benutzung jener Dinge eine Fülle von Vorstellungen hervor¬
ruft, bei deren Wegfall das Volk geistig verarmen würde. Aber es ist nicht
notwendig, daß jeder Einzelne diese Dinge besitze. Es genügt, wenn sich ihrer
eine hinreichende Anzahl im Besitze des Staates, der Reichen und in öffent¬
lichen Anstalten (Museen. Kirchen u. s. w.) befindet; die Menge nimmt durch
die Arbeit bei ihrer Erzeugung, sowie durch Beschauung oder Entleihung an dem
Nutzen teil, den sie stiften. Daß bei uns in Deutschland die sehr reichen Leute
das NodlvLLö «Mig-ö in dieser Beziehung heute weniger vor Augen haben als
ehedem und als jetzt noch in England und selbst in Nordamerika, ist eine alte
Klage. In einigen deutschen Magnatenschlösscrn befinden sich Bibliotheken und
Kunstsammlungen, deren beschränkte Benutzung dein Publikum gestattet ist;
aber sie stammen sämtlich ans älterer Zeit. Und was soll man dazu sagen,
wenn vielfache Millionäre Bücher mit Leihbibliothekseinband in ihrer nicht
übermäßig großen Bücherei dulden?
3. solche Dinge, die teils an sich überflüssig, wo nicht schädlich sind
(z. B. Schnürmieder), und solche, die zwar an sich noch zur zweiten Klasse
gehöre», die aber, wie oben schon hervorgehoben wurde, durch ihre zu große
Menge lästig und mitunter schädlich werden. Abgesehen von dem besondern
Schaden, den einzelne Arten von Luxusartikel« der dritten Klasse anrichten,
schaden sie allesamt ganz allgemein, indem sie den Geschmack für das Schöne,
Gediegene, Echte, wahrhaft Wertvolle abstumpfen, die untern und mittlern
Klassen zu unnützen Ausgaben verleiten und die Anhäufung eines elend be¬
zahlten Arbeiterprvletariats befördern. Wir sind durch sie auf eine schiefe
Ebene der schlimmsten Art geraten. Die Überfülle an Luxusartikeln, an Tand
und Kinkerlitzchen hat deren große Billigkeit zur Folge, und diese Billigkeit
drückt die Arbeitslöhne, ohne daß die Unternehmer besonders gute Geschäfte
damit machten. Die Berichte der Handelskammern Pflegen bei solchen Industrie¬
zweigen anzumerken, nur dnrch Umsatz großer Massen könne das Geschäft
rentabel erhalten werden. Um aber diesen mehr und mehr anschwellenden
Massen den Absatz zu sichern, ist einerseits die Gewöhnung auch der untersten
Volksklassen an den Gebrauch dieses Plunders, anderseits ein rastloser Mode¬
wechsel unerläßlich.
Man wende nicht ein, in der Vermehrung und Verfeinerung der Be¬
dürfnisse bestehe ja eben der Kulturfortschritt. So allgemein ausgesprochen,
ist das uicht weniger falsch, wie wenn andre die göttliche Bedürfnislosigkeit
als das zu erstrebende Ziel bezeichnen. Auch hier behauptet das Wort von
der goldnen Mitte sein Recht. Der nackte Wilde ist noch kein Mensch, und
der Gigerl ist keiner mehr. Den Alten verdanken wir diese Erkenntnis. Ihnen
halx?n wir Europäer es zu verdanken, daß, so oft unser geistiger Reichtum in
Schwulst und der materielle in barbarischen Prunk, unser Streben in Sinn-,
zweck- und ziellose Geschäftigkeit, unser Schönheitsideal und unsre Umgangs¬
formen in Fratzen ausarten, wir uns auf uns selbst besinnen und den Weg
zur Natur zurückfinden. Zum drittenmale seit der Völkerwanderung ist die
europäische Menschheit bei diesem Wendepunkte angelangt. Zum drittenmale
erhebt sich von vielen Seiten der Ruf: Zurück zur Natur! Und mit vollem
Recht. Denn so sehr ist in weiten Kreisen der Sinn für das Naturgemäße
geschwunden, daß man sogar vielfach das Genießen verlernt hat, weil man nur
das für Genuß zu halten wagt, was die Mode dafür ausgiebt. Der Quar¬
taner, der sich zwingt, seine Vierpfennigzigarre für ein Genußmittel zu halte»,
obwohl sie ihm wie ^g. tostiäii schmeckt, ist der Typus des modernen Menschen.
Was uns not thut, wäre also: allmähliche Rückkehr des Geschmacks zum
Natürlichen; Einsicht in die Nichtigkeit des Konventionellen und der sogenannten
städtischen Genüsse; unbefangene Anerkennung jener Güter und Genüsse, die
uus die Natur darbietet, und die ein gebildeter Sinn zu vertiefen und zu
verklären vermag; Freude am Landleben und um ländlichen Beschäftigungen;
wo sogar das Bedürfnis nach reiner, frischer Luft, eine Äußerung des Triebes
der Selbsterhaltung, verloren gegangen ist, müßte mit einer förmlichen Erziehung
der Nase nachgeholfen werden.
Nur von dieser Umbildung des Geschmacks ist die Rückkehr eines Teiles
der industriellen Bevölkerung muss Land, die Wiederherstellung des Klein¬
gewerbes und des Ackerbürgertums, die innige Verbindung von Gewerbe und
Landwirtschaft zu erwarten, die wir unter dem Ausdruck innere Kolonisation ver¬
stehen. säße wieder mit geringfügigen Ausnahmen jede Familie auf ihrer eignen
Scholle, und wäre die überwiegende Mehrzahl der Männer in den gesunden
und nützlichen Gewerben beschäftigt, so wäre damit für ein gesundes Volksleben
die breiteste Grundlage wiedergewonnen. Bei dein bessern Berdienste der
Männer fiele die industrielle Frauen- und .Kinderarbeit von selbst hinweg.
Frauen und Kinder würden deswegen nicht müßig gehen, da sie ja in Haus¬
wirtschaft und Garten genug zu thun fänden, während heutzutage viele ver¬
heiratete Arbeiter gar keine Hauswirtschaft haben, und demnach in diesen
Schichten zwar Eheleute und Kinder, aber streng genommen keine Familien
vorhanden sind.
Wie aber nun, wenn der vaterländische Boden zur Ausstattung aller
Volksgenossen mit Heimstätten nicht hinreicht?
Daß unser heimatlicher Boden für seine 47 Millionen Bewohner nicht
mehr ausreiche, muß wohl die allgemeine Meinung sein, sonst wäre die
Kvlonialbewegnng bei unserm nichts weniger als romantischen und nbenteucr-
lustigen Geschlecht unerklärlich. Ans Gründen, die auf der Hand liegen, wird
diese Ansicht selten ausgesprochen, von Behörden und Volksvertretungen nie¬
mals. Ist man genötigt, den verhängnisvollen Punkt zu berühren, so hilft
man sich mit Umschreibungen. So heißt es z. B. in dem amtlichen Bericht
der Berliner Arbeiterschutzkonfcrenz: „Was die Frage der Frauenarbeit an¬
langt, so wies der italienische Vertreter auf deu Umstand hin, wie in Ländern
mit starker Auswanderung es sehr oft geschieht, daß nur die Mäuner einen
gewissen Teil des Jahres im Auslande zubringen. Während ihrer Abwesen¬
heit müssen die Frauen mit ihrem Arbeitsverdienste den Unterhalt des Haus¬
standes auf sich nehmen." Statt des einfachern, alles erklärenden Ausdrucks
„in übervölkerten Länder»" ist der verblümtere beliebt worden: „in Ländern
mit starker Auswanderung."
„Die Möglichkeit einer Übervölkerung, sagt Röscher (System der Volks¬
wirtschaft, elfte Auflage, I, 5!)9) wird vou vielen Theoretikern bestritten; und
wirklich sind die Klagen darüber in den meisten Fällen eben nur eine aber¬
gläubische Ausrede der Trägheit, welche deu Druck der Volksvermehrung
empfindet, ohne sich dadurch zur Vermehrung der Unterhaltsmittel spornen zu
lassen. Ich rede von Übervölkerung allenthalben, wo das Mißverhältnis
zwischen Bewvhnerzahl und Nnterhaltsmitteln eine drückende Kleinheit der
Durchschuittspvrtionen bewirkt." Natürlich werden die Ansichten darüber, ob
die Durchschuittspvrtion schon drückend klein sei, verschieden ausfallen. Um
sie zu berechnen, kaun man entweder die amtliche Einkvmmeustatiftik in Ver¬
bindung mit den ebenfalls amtlich nachweisbaren Unterhaltungskosten für einen
Soldaten zu Grunde legen, oder die Mvrgcnzahl des vorhandenen Pflug- und
Weidelandes durch die Einwohnerzahl dividiren. Wir lassen uns ans eine
solche Berechnung nicht ein und versuchen keine unmittelbare Antwort auf die
Frage zu geben, ob Deutschland übervölkert sei, sondern veranschaulichen
uns nnr, wie stetige Zunahme der Bevölkerung ans die Lage der Einzelnen
einwirkt.
Was Nur zu diesem Zwecke zu sagen haben, ist so einfach und so all¬
gemein bekannt, daß wir um Entschuldigung bitten müssen, wenn wir eS dennoch
sagen. Wir sagen es aus dem Grunde, weil es in Fälle», wo es an erster
Stelle gesagt werden müßte, verschwiege» zu, werde» pflegt. In den amtliche»
Berichten über die Lage der Landwirtschaft in einzelnen deutschen Staaten und
Provinzen findet man als Ursachen der Snbhastativnen verzeichnet: schlechte
Preise, Verschuldung, Wucher, u»gü»feigen Kauf, zu kleines Betriebskapital,
Erbteilung u. s. w. Daß aber der ungünstige Kauf, das zu kleine Betriebs¬
kapital und die Verschuldung in der fortgesetzten Erbteiluug ihre gemeinsame
Wurzel haben, wird kaum angedeutet, geschweige denn offen eingestanden. Es
^ aber eines großen und hochgebildete» Volkes unwürdig, bei Beratung
über die wichtigste aller Fragen den Ker» der Sache zu umgeben und sich der
Pflicht gründlicher Prüfung durch eine Scheindebatte über die Goldwährung
zu entziehen, die nach der Behauptung der Vimetallisten an der Not der Land¬
wirtschaft schuld sein soll. Sogar Noscher versteckt in seiner Erörterung des
Gegenstandes den entscheidenden Satz in eine Anmerkung: „Die vom Verein
für Sozialpolitik veranstaltete Untersuchung der bäuerlichen Zustände hat doch
meistens ergeben, daß die wachsende Verschuldung der Bauern und andern
Landwirte selteu durch Not, auch selten durch Bauten, am häufigsten durch
Eintragung zu hoher Erdteile und Kaufgelderreste bewirkt ist." (a. a. O.
II, 485.) '
Überblicken wir den Gang der Besiedlung unsers Vaterlandes. Die alt¬
deutsche Markgenossenschaft und der Edelmann der fränkischen Zeit besaßen
neben ihrem Ackerland noch so viel Wald, Sumpf, und sonstiges Urland,
daß zur Versorgung der Söhne, die den Hof uicht erbten, nur weitere Flachen
urbar gemacht und neue Höfe angelegt zu werden brauchten. Nicht eiuer aber-
gläubischen Frömmigkeit entsprangen die zahlreichen Schenkungen an Kirchen
und die Neugründungen von Stiftern, sondern dem Bedürfnis rascher Besied¬
lung. Noch um das Jahr 1000 war der nordöstliche Winkel des heutigen
Baierns, die Oberpfalz und Oberfranken, beinahe eine menschenleere Wüste;
und wenn Kaiser Heinrich II. auf der Synode zu Frankfurt am 1. November
1007 einige Bischöfe fußfällig bat, in die Verkleinerung ihrer Sprengel zu
willigen, damit er durch Gründung des Bistums Bcuuberg deu Böhmen ihr
Ausfallsthor, wie Giesebrecht den Landstrich nennt, verschließen könne, so war
dieses nach unsern Begriffen unkönigliche und widerliche Gebahren nur ein in
die Formen jeuer Zeit gekleideter Akt einer weisen und großen Politik.
Übrigens hatten damals die fünf deutschen Stämme die Kolonisation des
slawischen Ostens, d. h. der Ländermasse, die den österreichischen Staat, das
.Königreich Sachsen und die alten Provinzen Preußens umfaßt, schon in An¬
griff genommen. Den Bnieru fiel dabei natürlich der südliche, den Sachsen
der nördliche Flügel des gewaltigen Gebietes zu. Kein deutscher Grundherr
und Bauer brauchte damals sein Anwesen unter seine Söhne zu teilen; mit
Schwert und Pflug eroberten sich die überzähligen Sohne ihr Erbe, ohne das
väterliche Gut mit Hypotheken zu belasten.
Und das war nicht die einzige Versvrgungsart. Widmete sich doch fast
in jeder vornehmen Familie mindestens ein Sohn der Kirche. Viele Pfründen
wurden geradezu als Sekundogenituren gestiftet. Über wieviel Pfründen ein
Grundherr das Patronat besaß, soviel jüngere Söhne konnte er versorgen, und
nicht bloß er, sondern jeder seiner Gntsnachfvlger. Denn der Inhaber der
Pfründe durfte ja nicht heiraten; durch jede Erledigung wurde sie wieder frei
für ein Glied des Stammhauses. Zwar fehlte es dem geistlichen Adel nicht
an unehelichen Kindern; allein diese brauchten doch nicht standesgemäß aus¬
gestattet zu werden. In späterer Zeit versorgte man sie mit einem Geldkapital,
das aus den Einkünften entnommen wurde. So jener Jaaues de Crvh, Bischof
von Cambrai, im fünfzehnten Jahrhundert, der als zärtlicher Vater in einer
Krankheit nicht allein seine schon vorhandenen Kinder reichlich bedachte, sondern
auch noch ein ansehnliches Kapital aussetzte für die Kinder, die er noch zu
zeugen gedachte, wenn Gott ihm in Gnaden die Gesundheit wiederschenke. Die
sittliche und die kirchlich-religiöse Seite der Sache ziehen wir hier nicht in
Betracht; in ökonomischer Beziehung wirkte die Einrichtung vortrefflich. Auch
Luther wollte die zur Versorgung uachgeborner Söhne und unverheirateter
Töchter gegründeten Stifte erhalten wissen. Das Abkommen Kaiser Heinrichs V.
mit Papst Paschalis II., wonach der Kaiser das Kirchenvermögen einziehen,
der Papst das Jnvestiturrecht erhalten, und die Geistlichkeit auf Zehnten und
Almosen angewiesen werden sollte, scheiterte an dein Widersprüche des deutschen
Adels, der das Kirchenvermögen als sein Vermögen ansah.
Und damit waren die Auswege uicht erschöpft. Mau hatte noch Italien.
Bei jedem Römerzuge blieben in dem schönen Lande eine Anzahl Herren zurück,
die teils mit Kircheupfründen, teils mit den Lehnsgütern gefallener oder ver¬
jagter „Rebellen" versorgt, teils als kaiserliche Vikare angestellt wurden, deren
Besoldung die reichen Städte aufzubringen hatten. Später fanden noch viele
Deutsche, denen die Heimat zu enge ward, als Söldner und Söldnerhauptleute
in Italien ihr schönes Brot bei einer mehr lustigen als gefährlichen Kriegs¬
führung. Und wie viele kamen in den Kreuzzügen um, oder gründeten sich
auch Herrschaften im Orient, die freilich nicht lange Bestand hatten! Rechnet
man dazu die anstrengende, unbequeme und oft zügellose Lebensweise, die nur
wenige der ritterlichen Herren zu hohen Jahren kommen ließ, bedenkt man
ferner, daß deutsche Kolonisten noch weit hinaus über das eroberte Neudeutsch¬
land droben am baltischen Meer und drunten bis in die transsilvanischen Alpen
hinein Vorposten anlegten, so wird man begreifen, daß den Grundherren jener
Zeit die Versorgung einer zahlreichen Nachkommenschaft kein Kopfzerbrechen
verursachte. Schließlich siedelte auch noch ein Teil des Adels in die auf¬
blühenden. Städte über und erschloß sich in den angesehenen Gewerben der
Kaufleute und Wechsler neue Quellen des Wohlstandes.
Trotzdem war um 1500 das Land bereits in dem Grade gefüllt und ver¬
teilt, daß der Grundadel von der damals eintretenden wirtschaftlichen Krisis
nicht unberührt blieb. Von einem verschuldeten Adelsgeschlecht erwarb damals
die Stadt Görlitz ihre großen Forsten. Die Säkularisation half für den Augen¬
blick — auf Kosten der Zukunft; das römische Recht half dem Adel — ans
Kosten der Bauern. Endlich wurde das ganze an Blutüberfluß leidende Volk
einer Eisenbartkur unterworfen in eiuer Reihe furchtbarer Kriege. Ehe es sich
von dem dreißigjährigen erholt hatte, folgten weitere Aderlässe in den dyna¬
stischen Kriegen des achtzehnten Jahrhunderts, in den Revolutions-, den napo-
leonischen und den Befreiungskriegen.
Seitdem nimmt der natürliche Bevölkerungszuwachs seinen ungestörten
Fortgang, und die Besitzverhältnisse der Landgüter andern sich nach folgendem
Schema, Denken wir uns einen gräflichen Besitz, der zwei Millionen Thaler
wert ist, dreißigjährige Geschlechtsfolgen und je vier Kinder. Da zwei davon
in andre Güter einheiraten, wird das Stammvermögen bei jeder Erbteilung
halbirt. Demnach zerfällt der ursprüngliche gräfliche Besitz nach sechzig Jahren
in vier Güter zu 500000 Thalern, die wir als freiherrlich bezeichnen dürfen;
nach 120 Jahren in 16 Rittergüter zu 125000 Thalern, nach 180 Jahren
in 64 Bauergüter zu reichlich 30000 Thalern, nach 240 Jahren in 256 klein¬
bäuerliche Besitzungen zu, 7500 Thalern, nach 300 Jahren in etwa 1000 Acker-
hüuslerstellen, und nach weiter» 60 Jahren in Parzellen, deren Besitzer auf
Tagelöhuerarbeit angewiesen sind. In diesem Schema ist die Veränderung der
Besitzverhültnisse auf den Gütern, die von vornherein kleine Rittergüter oder
Vanergüter waren, schon mitenthalten. Bleiben die Güter unzerstückelt, und
werden sie bei der Erbteilung mit Hypotheken belastet, so tritt über kurz oder
lang ein Zeitpunkt ein. wo sie der Besitzer nicht mehr halten kann. Ein
Rittergutsbesitzer, dessen Gut 120000 Thaler wert ist, dessen wirkliches Ver¬
mögen aber nur 10000 Thaler beträgt, hat die Wahl, ob er das Gut auf¬
geben, oder nicht mehr als Rittergutsbesitzer, fondern als Bauer, was er seinem
Vermögen unes ist, darauf weiter leben will; d. h. ob er uns herrschaftliche
Einrichtung, Kost und Kleidung, ans Equipage, auf die Anstellung eines Wirt-
schnftsinspektors verzichten, eigenhändig Mist laden, seine Söhne auf den Acker
und hinter die Ochsen, seine Frau und Töchter in den Stall schicken will.
Und da er sich zum zweiten niemals entschließt, so bleibt ihm nur das erste
übrig. Der umgekehrte Fall kommt vor; nämlich daß der Bauer ein Gut,
das 200000 Thaler wert ist, besitzt und fortfährt wie ein Bauer zu leben.
Natürlich verzehrt ein solcher Maun nicht den fünften Teil seines Einkommens
und kauft alljährlich neue Äcker dazu und auch zinstragende Papiere. Dem
bereitet die Versorgung seiner Kinder keine Schwierigkeiten. Merkwürdigerweise
haben solche Bauern gewöhnlich bloß einen Sohn, und manchmal stirbt auch
der uoch.
Selbstverständlich verläuft die Sache in keinem einzigen Falle genau nach
dein Schema, aber der Durchschnitt aller Fülle wird ungefähr das Schema
ergeben. Die Ergänzung des Stammvermögens durch das Zugebrachte der
Schwiegertöchter ist schon mit angeschlagen, indem wir bei vier Kindern nicht
Vierteiluug, sondern Zweiteilung annahmen. Meliorationen, Fortschritte der
Ackerbautechuik kommen durch Vermehrung des Ertrages zwar dem Volts¬
vermögen, aber nicht dem Vermögen des Besitzers zu gute; dieser kann schon
froh sein, wenn er die Zinsen des Kapitals hereinbekommt, das er auf Drainagen,
Düngversnche, neue Maschinen, teure Zuchttiere verwendet. Die Verbindung
der Industrie mit der Landwirtschaft wirft dem ersten Unternehmer gewöhnlich
reichen Gewinn ab, um dann den ersten oder zweiten Nachfolger desto tiefer
in Not zu stürzen, mich dein bekannten Programm: Reingewinn, Überproduktion,
Preisfall, Krach (Zucker!), Der steigende Vodenpreis endlich nutzt nur dem,
der ihn erlebt, nachdem er seine Geschwister noch zu dem alten niedrigen Preise
abgefunden hat. Seinem Sohne nützt der hohe Preis nichts mehr. Denn
der erbt zwar ein nominell größeres Kapital, muß aber seinen Geschwister»
entsprechend größere Kapitalien Heranszahlen oder verzinsen, sodaß heilt Ve-
sitznnteil am Gute derselbe bleibt, als wenn die Preise nicht gestiegen
wären.
Im einzelnen gestaltet sich die Lage der Landwirte nnter dem Einfluß
verschiedner Umstände ungemein verschieden. Manchem scheinen alle guten
Geister zu helfen; schöner Boden, günstiges Wetter, schuldenfreie Übernahme
von einem Vater, der so gefällig war, ihn mit Geschwistern zu verschone»,
eine reiche Heirat, leichte Verwertbarkeit der Produkte, glückliche Juspektvrwahl
und andre glückliche Umstände begründen im schönen Verein seinen Wohlstand
so bombenfest, daß ihn nnr unsinnige Verschwendung erschüttern könnte. Ander¬
seits giebt es Pechvogel. Sie stammen aus kinderreichen Familien, übernehmen
das Gut mit übermäßigen Schulden, heiraten aus Liebe, werde» vo» jeder
Viehseuche heimgesucht, müssen ihren Roggen oder Weizen meilenweit auf
schlechten Wege» auf deu nächsten Markt oder zur nächsten Bahnstation schleppen
lassen und sind mit einem halben Dutzend lebenslnstiger Söhne und vier oder
fünf heiratsfähigen Töchtern gesegnet. Zuweilen finden sich die günstige» wie
die »»günstigen Unistände dvrferweise beisammen. Es giebt Dörfer, deren
Bauer» sich sämtlich in der behaglichsten Lage befinden, und gleich daneben
andre, deren Güter überschüttet siud. Vor allem führen Erbteiluug und
Subhastation großer Güter weit seltner zu der im Schema angenommenen
Entstehung kleinerer Güter als im Gegenteil zur Latifundienbildung. Je größer
ein grundherrlicher Besitz ist, desto weniger vermag der Besitzer den Ertrag
zu verzehren; er kauft demnach vom Überschuß ein Landgut nach dem andern
dazu, und die Kinder können ohne Teilung oder Belastung des Stammguts
versorgt werden. Der Haupterbe übernimmt es sogar vergrößert, und all¬
mählich wächst es sich zur Magnatenherrschaft aus. Das Gesetz des Kapita¬
lismus, wonach die kleinen von den großen verschüuige» werde», herrscht eben
i» der Landwirtschaft so gut wie in der Industrie. Wer hat, dem wird ge¬
geben, auf daß er die Fülle habe, und wer wenig hat, dein wird auch das
Wenige genommen; dieses Bibelwort ist der volkswirtschaftlichen Erfahrung
entnommen.
Beruht nnn die „Not der Landwirtschaft," die richtig ausgedrückt uur die
Not der verschuldeten Landwirte ist, ans unabänderlichen geometrischen und arith¬
metischen Verhältnissen, so steht auch von vornherein fest, daß ihr dnrch Ge¬
setzgebungskunststücke nicht beizukommen ist; wer die Mvrgenzahl nicht ver-
mehren kann, der kau« nicht helfen. Die Landwirtschaft an sich bleibt auch
bei den Preisen, wie wir sie vor zwei Jahren hatten, immer noch ein gutes
und einträgliches Gewerbe, Mir ist ein Gutsbesitzer bekannt, der sich mit
K000 Thalern Vermögen auf einem zu 70 000 Thalern abgeschätzten Gute
noch hält! Es wird wenig Kanfmannsgeschäfte und Fabriken geben, wo das
möglich wäre. Und wie viel angenehmer ist die Arbeit und sind die Lebens¬
verhältnisse eines Rittergutsbesitzers als die eines Kaufmanns oder Fabrikbe¬
sitzers! Was heißt das: zu niedrige Preise? An sich ist es gleichgiltig, ob
der Zentner Roggen 2 oder 20 oder 200 Mark gilt, vorausgesetzt, daß alle
Warenpreise, Löhne und Besoldungen entsprechend niedrig oder hoch stehen.
Fassen wir nnn die Konsumenten ins Ange, so war der Preis der landwirt¬
schaftlichen Erzeugnisse, wie wir ihn vor zwei Jahren hatten, für die Familie»
mit einem Einkommen von 2000 bis 5000 Mark gerade recht, für die mit einen,
kleineren Einkommen aber noch zu hoch, denn sie konnten zur Not so viel Kar¬
toffeln und Brot davon beschaffen, als sie zur Sättigung brauchten, und viele
darunter mußten auf Milch, Butter und Fleisch verzichten. Für Haushal¬
tungen mit großem Einkommen sind die Preise der Lebensmittel gleichgiltig.
Unter den Produzenten aber konnten die wenig verschuldeten und die unverschul¬
dete» bei jenen Preisen sehr gut bestehen, während den verschuldeten anch die
jetzigen Preise noch nicht hoch genug sind. In dieser Thatsache, daß die Lebens¬
mittelpreise für einen Teil der Produzenten noch zu niedrig, für einen Teil der
Konsumenten aber schon zu hoch sind, kommt eben das Mißverhältnis zwischen
Boden und Bevölkerung zum Borschein; der Boden reicht für die Bevölkerung
nicht mehr ans.
Die Getreideeinfuhr ist unter diesen Umständen nicht ein Unglück, sondern
ein Glück, eine Notwendigkeit. Von was sollte die Bevölkerung leben, wenn
wir die mehreren Millionen Doppelzentner russischen Roggen und amerikanischen
Weizen nicht ins Land bekämen? Die Beschwerde der Agrarier darüber
wäre nur dann berechtigt, wenn sie das heimische Bedürfnis zu befriedigen
vermöchten, und wenn infolge der Einfuhr ihr eignes Getreide ungenossen ver¬
faulte und ihr Acker unbestellt bliebe. Davon ist aber doch keine Rede. Nun
kann es sein, daß die Getreidezölle den bedrängten Gutsbesitzern augenblickliche
Rettung gebracht und die drohende Katastrophe verschoben haben. Aber sicher¬
lich nnr verschoben. Wem die Katastrophe droht, von dem läßt sie sich durch
Zölle, durch künstliche Hebung der Lebeusmittelpreise auf die Dauer nicht ab¬
wenden. Die Hebung der Lebensmittelpreise hat, wie ja offen zu Tage liegt,
eine entsprechende Erhöhung aller Warenpreise, Löhne und Besoldungen zur
Folge, die schon nach einem Jahre jenen Borten ausgleicht, und die Guts¬
besitzer stehen dann auf dem alten Flecke.
Weit wirksamer würde eine Seisachtheia, eine Erleichterung oder gänzliche
Tilgung der Grundschulen sein; und der Argwohn ist nicht ganz unbegründet,
daß manche Vimetallisten eine solche von der empfohlenen Währungsänderung
erwarten. Aber natürlich würden dann die Gläubiger, die doch auch Staats¬
bürger und Volksgenossen sind, um eben so viel geschädigt werden, lind diese
Gläubiger sind nicht etwa lauter „Geldjuden." Legen doch auch christliche
Rentner, Witwen, Kirchen und Stiftungen, wohlhabende Handwerker und --
Gutsbesitzer ihr bewegliches Vermögen in Pfandbriefen und Hypotheken an.
Der Staat würde also durch solches Eingreifen in den natürlichen Lauf der
Dinge eine Klasse der Bürger der andern opfern; die Zahl der Opfer und die
Größe des Unglücks würden dieselben bleiben.
Anerbenrechte und Fideikommisse endlich sind durchführbar in Zeiten und
Umständen, wo — mau sie nicht braucht. So lauge die nachgebornen Kiuder
bequem auf andre Weise versorgt werden können, läßt sich die gesetzliche Be¬
stimmung, daß das Stammgut ungeteilt und unverschuldet bleiben soll, leicht
durchführen. Bleibt aber für die Ausstattung der überzähligen Nachkommen
nichts übrig als ein Angriff aufs Stammvermögen, so werden die Eltern durch
das Verbot dieses Angriffs gezwungen, zur Sicherung des Anerben die übrigen
Kinder einem proletarischen Dasein zu überantworte», während andernfalls
sämtliche Kiuder zwar notdürftig, aber doch anständig versorgt würden.
Konnten sich nun auch die Eltern dazu entschließe», so wird doch der Staat
zögern, die ohnehin gefährliche Vermehrung des Proletariats noch zu be¬
schleunigen.
In sozialer Beziehung, d. h. für das Volkswohl, ist es gleichgiltig, in
welcher der drei Formen die Verminderung deS Anteils der Einzelnen nur vater¬
ländischen Boden bei stetig wachsender Bevölkerung zur Erscheinung kommt:
ob durch das Zusammenschrumpfen der Landgüter zu Zwergwirtschaften, oder
durch drückende Verschuldung der Güter, oder durch Zersetzung der ländlichen
Vevölkernng in eine kleine Gruppe von Großgrundbesitzern nud eine große
Schar proletarischer Pächter nud Tagelöhner. Vom ritterlichen, gräflichen und
fürstlichen Grundbesitz insbesondre aber gilt noch folgendes. Nachdem der
heimische Boden aufgeteilt, und da Kolonialland nicht mehr oder noch nicht
vorhanden ist, fo wird sich die Grundbesitzeraristokratie auf die Dauer schwerlich
halten lassen, wenn man nicht zum englischen System übergeht, d. h. den Titel
an den Besitz bindet, diesen unteilbar und uuverschuldbar macht und die jüngern
Söhne uuter bürgerlichem Namen ihrem Schicksal überläßt. Für standesgemäße
Versorgung der nicht erbeuten Söhne reichen die Offiziers- und höhern Ver¬
waltungsstellen, von denen doch die bürgerlichen Bewerber nicht ganz aus¬
schlossen werden können, nicht hin, wozu noch kommt, daß solche „Versorgung"
bas natürliche Gut ans bekannten Gründen zuweilen mehr beschwert als ent¬
lastet. Während es nun allerdings in politischer Beziehung höchst wünschens¬
wert wäre, wenn die alten Familien im Besitz ihrer Güter bleiben konnten,
wird die Landwirtschaft durch eine größere Zahl von Besitzwechseln nicht
geschädigt, wenn nur die Güter nicht von Spekulanten ausgeschlachtet
werden, sondern an ebenfalls tüchtige Landwirte bürgerlicher Abkunft über¬
gehen.
In dem Schicksale der einzelnen Gutsbesitzerfnmilie liegt schon das Schicksal
des Volkes vorgebildet, denn das Vaterland ist das Landgut des Volkes.
o sichs an die natürlichen Bedingungen und sittlichen Grund¬
lagen des Staates handelt, wo mun über die geistige und phy¬
sische Gesundheit einer Nation zu wachen hat, wo man die
Krankheitei? und ihren Ansteckungsherd in unsrer ganzen Kultur
vor allem aufdecken muß, um Abhilfe schaffen zu können, da hat
man jede Rücksicht auf weibische Zimperlichkeit fallen zu lassen. Ein kreißendes
Weib, dessen Gesundheit oder Leben ans dein Spiele steht, handelt unsittlich,
wenn es aus angelernter Prüderie den Arzt zurückweist; eine Nation begeht
ein Verbrechen, wenn sie die Angen ängstlich vor ihren sittlichen Schäden ver¬
schließt und nicht den Mut hat, laut und freimütig darüber zu sprechen, wenn
sie nicht sofort bereit ist, von allen Seiten dagegen vorzugehen.
Ein solches Gebrechen am Körper eines Volkes ist die Prostitution.
Gegen diese Ansicht werden die Freisinnigen nach den letzten Vorgängen im
Preußischen Abgeordnetenhause Einspruch erheben, denn nach ihrer Meinung
gehört dieses Thema nicht in die Öffentlichkeit, nicht in die Laudtagsverhnnd-
lnngen, wo man alle Rücksicht zu nehmen habe ans die empfindsame Tribüne,
auf die keuschen, errötenden Damen da oben: (Zvlu, «0 k-rit, mais us Sö sie xss.
Diese freisinnige Prüderie nimmt sich in der That seltsam aus. Wohin in
aller Welt gehört denn das Thema? Sind die Abgeordneten nur dazu da,
fortwährend in die Lande zu posaune», wie sehr das gesunde Volk unter
dem Drucke des kranke» Staates zu leiden habe? Ist es nicht ihre erste und
heiligste Pflicht, der Nation auch ihre sittliche» Schäden und Krankheiten rück¬
sichtslos zu Gemüte zu führen, und zwar mit so vernehmlicher Stimme, daß
es in alle Lasterhöhlen dringt? Ist es nicht ihre unerläßliche Aufgabe, über
Mittel und Wege zu beraten, wie einem gefährlichen Übel, einem schleichenden
Gifte im Volkskörper der Garaus zu machen sei? Das Thema gehört nicht
nur ins Abgeordnetenhaus, es gehört ans alle Marktplatze, in jede christliche
und umhristlichc Versammlung, in alle Kirchen und Schule»; es hat nicht
allein die Sanitätspolizei daran el» Interesse, sondern das ganze Volk, alle
Familien, alle Männer und Frauen.
Wollen wir dem, bei aller iinsrer Schulweisheit gar nichts aus dem Laufe
der Weltgeschichte lernen? Wer die Kulturgeschichte des Altertums und der
Neuzeit kennt, der weiß, daß die begabtesten und mächtigsten Völker vor allein
dnrch die Prostitution entnervt, vergiftet, gestürzt worden sind. Wir brauchen
dabei nicht an den schauderhaften Mhlittakultus der Orientalen zu erinnern,
oder um die Hetärenwirtschaft der Griechen und an die Lupauarien der Römer,
oder an die Maitressenzncht des vorigen Jahrhunderts »ut ihrem niederträchtigen
Wahlspruch ^.xrvs nous ig ävlugö!
Die Prostitution ist keine Frage, die heutzutage am grünen Tisch hinter
verschlossenen Thüren erledigt werden darf; sie ist eine Frage von so allge¬
meinem Charakter, von so öffentlicher Bedeutung, daß jedermann, insbesondre
der Vaterlnudsfreuud, das Recht hat, die bloßgelegten Schäden und die vor¬
geschlagnen Maßregeln in vollem Umfange kennen zu lernen.
Wir lebe» in einem Zeitalter der abgewalzten Verflachung, des allein¬
seligmachenden Sports. Edle und erhabene Bestrebungen werden zum Sport
heruntergezogen, gemeine, widerwärtige, tierische zum weltmännischen Sport
geadelt. Der Sport ist der große Steppensnmpf, wo gegenwärtig alle Begriffe
von Sittlichkeit und Würde, von Ehre und Keuschheit, von Tugend und Pflicht
zu einem einfarbigen, unterscheidnngslvseu Brei zusammengeflossen sind. So
sind viele Strömungen in unserm parlamentarischen Lebe», so sind unsre
litterarischen, künstlerischen und gesellschaftlichen Bestrebungen, so ist vor allen
Dingen ein gesundes Geschlechtsleben im großen und ganzen zu einem frivolen
Sport hinabgesunken. Was aber in den höhern Klaffen noch leichtfertige Ge¬
wohnheit bleibt, das wird in den untern Schichten zur brutalen Gemeinheit.
Der Student oder der junge Offizier, der heutzutage nach Grundsätzen
der Keuschheit leben oder sie sogar verfechten wollte, würde unter seinen
Kameraden der Gegenstand unendlichen Spottes werden — so weit sind wir
glücklich mit unsern sittlichen Anschauungen! Ja, wer die Primn oder Sekunda
i» einer größer» Stadt besucht hat, der weiß zur Genüge, welche Verdorbenheit
sich schon unter den jungen Burschen verrät, wie notwendig es ist, daß hier
die Schule rücksichtslos eingreift, daß der Jugend so früh wie möglich die
Augen geöffnet werden, nur sie vor jenem Gifte zu bewahren. Vor alleu andern
Leidenschaften und Laster» wird die Jugend in nachdrücklichster Weise gewarnt;
sobald aber der Erzieher vor dem Thema der Geschlechtsliebe steht, macht er
es wie der Vogel Strauß oder behandelt den Stoff wie ein großes Mysterium.
Kommt dazu noch die aufreizende, oft versteckt sinnliche Lektüre alter und
moderner Schriftsteller, eines Ovid. eines Horaz u. s. w., so ist es kein Wunder,
daß sich die maßlos gesteigerte Phantasie und die künstlich herausgelockten
Triebe des jungen Menschen allmählich ganz von allen Gesetzen der Bernnnft
ablösen.
Man muß Schopenhauer Recht geben, wenn er sagt: ,,Die Geschlechtsliebe
erlveist sich nächst der Liebe zum Leben als die stärkste und thätigste aller
Triebfedern, nimmt die Hälfte der Kräfte und Gedanken des jüngern Teiles der
Menschheit fortwährend in Anspruch, ist das letzte Ziel fast jedes menschlichen
Bestrebens, erlangt auf die wichtigsten Angelegenheiten nachteiligen Einfluß,
unterbricht die ernsthaftesten Beschäftigungen zu jeder Stunde, setzt bisweilen
selbst die größten Köpfe auf eine Weile in Verwirrung, zettelt täglich die ver¬
worrensten und schlimmsten Händel an, löst die wertvollsten Verhältnisse auf,
zerreißt die festesten Baude, nimmt bisweilen Leben oder Gesundheit, bisweilen
Reichtum, Rung und Glück zu ihrem. Opfer, ja macht den sonst Redlichen
gewissenlos, den bisher Treuen zum Verräter, tritt demnach im ganzen ans
als ein feindseliger Dämon." Man verlangt fortwährend von der Mädchen-
erziehung, die weiblichen Wesen zu verständigen Müttern heranzubilden, aber
man spricht seltsamerweise-niemals davon, daß der Staat ein ebenso großes
Interesse daran haben müßte, sittliche Staatsbürger und vernünftige Familien¬
väter zu erziehen. In Wirklichkeit sind denn mich alle unsre Einrichtungen
geradezu darauf angelegt, ans der männlichen Jngend die selbstsüchtigsten
Junggesellen zu machen. Der Staat scheint nicht zu Nüssen, daß er sich in
sein eignes Fleisch schneidet, wenn er den Junggesellen dieselben oder verhält¬
nismäßig noch größere Rechte gewährt als den Familienvätern; man braucht
dabei nur an den gleichen Wohnnngsgeldzuschuß, an die gleiche Alters-
znlage, an dieselbe Besteuerung bei gleichem Gehalt u. s. w. zu erinnern.
Eine Nation, die nicht mehr weiß, daß eine ihrer vorzüglichsten Aufgaben
die Sicherung eines geordneten Geschlechtslebens und einer gesunden Fort-
Pflanzung ist, daß ihre natürliche Stütze und Kraft einzig und allein in einem
fest gegründeten Familienleben liegt, befindet sich bereits im Niedergang. Die
Familie hat aber keinen gefährlicheren und hinterlistigeren Feind, als die
Prostitution. Seit einer Reihe von Jahren, sagt der französische Arzt L. Reuß
in seinem kulturgeschichtlich wertvollen Buche: l'rostitrckion an xvint alö
vno <lo l'b/g'Ivno ot av 1'aÄwim8er»lion on Franoe 0t ü (Paris,
Baillivre und Sohn, 1889), hat die Frage der Prostitution eine außerordentliche
Wichtigkeit angenommen. Die allmächtige Auflösung aller guten Sitte, das
beständige Wachsen der geheimen Unzucht, die allgemeine Verbreitung der ge¬
schlechtlichen Krankheiten, insbesondre der Lustseuche, das tägliche Aufblühen
einer Schmutzlitteratnr und Schmntzmalerei beschäftigen in hohem Grade nicht
nur die Gesuudheitslehrer und die Staatsregierung, sondern alle aufgeklärten
Männer, die um die Zukunft der Familie und des Vaterlandes besorgt sind.
Sollen wir uns vor diesem gefährlichen Feinde die Augen verbinden, nur
flüsternd von ihm reden und ihn achselzuckend sogar als eine „berechtigte
Eigentümlichkeit unsrer Kultur" anerkennen? Ein unausrottbares oder ge¬
schichtlich zu allem Zeiten nachweisbares Übel ist noch lange keine berechtigte
Eigentümlichkeit, und wer es unterläßt, in seinem eignen Körper den Herd
einer ansteckenden Krankheit so fest wie möglich abzusperren, der läuft Gefahr,
daß er bald von seiner „berechtigten Eigentümlichkeit" ganz aufgefressen wird.
Es ist geradezu erschreckend, welchen Schaden man durch Unthätigkeit und
Gleichgültigkeit, oder gar dnrch einfältige Beschönigung auf sittlichem Gebiete
verursachen kauu. Nirgends in der Welt offenbaren sich die Folgen eines
solchen Verfahrens verblüffender, als bei dem wegen seiner Sittlichkeit geprie¬
senen Volke der Engländer. Die Zahl der Prostituirten in London ist rach
Reußens statistischen Angaben in den letzten Jahren bis aus 10000V gestiegen,
von denen 15 bis 20000 mit ansteckenden Krankheiten behaftet sind. Trotz
der zur Schau getragenen Religiosität, trotz der Sabbathfeier und der Heils¬
armee wird das schmachvolle Gewerbe nirgends in der Welt mit solcher Scham¬
losigkeit und Frechheit betrieben, wie in England. Man braucht nur abends
auf Regent-street, Waterloo-road, Waterloo-place, Haymarket u. s. w. spazieren
zu gehen, um zu dieser Überzeugung zu gelangen. Die Prostitution ist in
England aus Achtung vor der unverletzlichen persönlichen Freiheit nicht den
geringsten Beschränkungen unterworfen; die Dirnen und ZuHalter stehen unter
keinen andern Bestimmungen, als unter denen des gemeinen Rechtes. Die
Unzugänglichkeit der Behausung, eines der heiligsten Vorrechte des englischen
Bürgers, bezieht sich auch auf jene Personen. Eine polizeiliche Durchsuchung
der Lasterstätten ist in England nnr dann möglich, wenn mindestens zwei
vollberechtigte Bürger Beschwerde erheben; aber erst wenn sie eine Kaution
von ungefähr 600 Thalern hinterlegt haben, wagt die Polizei eine Unter¬
suchung des denunzirten Hauses. Kein Wunder, daß unter solchen Umständen
die Zuchtlosigkeit ungestört um sich greifen kann. Der reiche Engländer hat
weder Zeit noch Geduld, seine Vergnügungen vorzubereiten; das müssen andre
für ihn thun. Wenn ihn seine Sinnlichkeit reizt, so gehorcht er blindlings
und milt dann auch sofort bedient sei». Diese Eigentümlichkeit der Engländer
hat die Kuppelei in London zu einer unglaublichem Entwicklung gebracht. Wir
können hier auf dieses unerquickliche Thema uicht weiter eingehen. Wer dar¬
über näheres erfahren will, mag das in dem genannten Werke nachlesen.
Im Jahre 1804 wurde endlich, weil die Lustseuche im Heere und in der
Marine Englands eine beispiellose Höhe erreicht hatte, die eonwFious ävsLÄSks
xrevention -lok. erlassen, seltsamerweise aber unter Ausschluß von London, Edin-
l'urg, Dublin, Glasgow und Manchester. Die segensreichen Folgen dieses
Gesetzes, das eine weitgehende sanitätspolizeAche Aufsicht über alle Prosti-
tuirten vorschrieb, wurden sehr bald von den Ärzten wahrgenommen. Die
ansteckenden Krankheiten nahmen in den betreffenden Städten immer mehr ub,
und die öffentliche Sittlichkeit, Ordnung und Ruhe wuchsen zusehends.
Da trat eine Wendung ein, die nur in einem. Lande möglich ist, wo die
Heuchelei und das Muckertum alle Lebensanschauungen so durchtränkt haben, wie
in England. Eine große Zahl gebildeter anständiger Frauen trat zusanunen, um
gegen dieses Gesetz, das angeblich die geheiligten Freiheiten des Weibes beschränkte,
seine Würde mit Füßen trat und die Prostitution in England offiziell anerkannte,
geschlossen vorzugehen. Unter der Leitung einer Miß Vnttler und unter dem
Beifall und der Mitwirkung kurzsichtiger viol'g'vnuzn kam ein Verein zu stunde,
der sich nannte: "I'tlo Iaäiv3 national aWooiation lor tuo revval ok vont»Al»n8
6686^808 ave3, und der alle Kräfte aufwandte, das die ganze englische Nation
angeblich bloßstellende Gesetz vom Jahre 1864 so schnell wie möglich wieder
abzuschaffen. Diesem Vereine mit seineu scheinbar hochherzigen und nationalen
Bestrebungen anzugehören, wurde in der bessern Gesellschaft allmählich zum
Sport. Die geschickt betriebene Agitation machte so große Fortschritte, daß
schon im Jahre 1873 dem Unterhause eine Petition um Abschnffnng jener
Verordnung eingereicht werden konnte. Sie wurde selbstverständlich abgelehnt.
Um so heftiger entbrannte der Kampf. Die ersten Damen Englands traten
dem Vereine bei, und schon im Jahre 1879 kounte eine so umfangreiche Ein-
gabe an das Parlament gemacht werden, daß sich dieses genötigt sah, eine
besondre Kommission zur Untersuchung der Frage zu erwählen. Im Jahre
1882 war diese mit ihrer Beratung fertig; sie entschied sich in der Mehrzahl
für Beibehaltung des Gesetzes von Jahre 1864. Der Kampf dauerte weiter
und wurde immer erbitterter. Man vergaß schließlich, daß es sich im Grunde
um die Unterdrückung der Prostitution und um die Sicherung der öffentlichen
Gesundheit handle. Die Frage wurde zur Parteisache, und endlich im Jahre
1883 zum allgemeinen Entsetzen der Ärzte, der Sittenlehrer und aller ver¬
stündigen Männer die Abschaffung der xrovvntion ave mit Stimmenmehrheit
durchgesetzt. Die Prostituirten haben damit wieder alle Rechte der übrigen
Frauen Englands erhalten; sie sind wieder frei, können thun, was sie wollen
und anstecken, wen sie wollen. Die Unsittlichkeit hat selbstverständlich seitdem
in allen Städten in doppeltem Maße zugenommen, aber die Regierung und
die englischen Frauen haben nun doch das erhebende Bewußtsein, daß es für
sie offiziell keine Prostitution in England mehr giebt und daß man die Eng¬
länder nun wieder das erste der gesitteten Kulturvölker zu nennen Pflegt, üst-
es 1», sagt Reuß, 1s rösulwt imqnsl von1s.it -u/rivor 1» lig'us nos tominoL
u-nglaiMs! Il n'/ a ora-iinent xa8 lion alö lo8 on tolle-ita'.
Zwar wurden infolge der unerhörten Enthüllungen, die bald darauf die
Aali-nött 6a?6des brachte, zwei Gesetze von englische» Parlament gegeben, um
die unmündigen Frauenzimmer zu schützen und die drotnols zu unterdrücken; aber
auch diese Verordnungen bleiben gegenüber der persönlichen Freiheit wirkungslos.
So lange die Sanitätspolizei die Prostituirten in ihrer Gewalt hat, kann
wenigstens die Ansteckungsgefahr immer mehr beschränkt werden; gegen die
versteckt betriebene Unzucht ist sie jedoch aus naheliegenden Gründen ziemlich
machtlos. Daher das erschreckende Anwachse» der geheimen Prostitution, z, B, in
Wien und in Berlin. In Wien gab es bis zum Jahre 1873 keine besondern Ver¬
ordnungen gegen dieses Unwesen. Man verurteilte jede Dirne und jede Kupplerin,
deren man habhaft werden konnte, mit drakonischer Strenge zur Zwangsarbeit;
trotzdem zählte man schon im Jahre 1873 in Wien nicht weniger als 15000
Prostituirte. und dabei stieg die Zahl der unehelichen Geburten doch noch auf
die unglaubliche Höhe von fünfzig Prozent. Erst jetzt wurden zahlreiche Be¬
stimmungen erlassen, um der sittlichen Verwilderung in allen Schichten des
Volkes entgegenzuarbeiten. Mau erkannte gesetzlich das Dasein der Prostitution
an und machte alle Anstrengungen, die eingeschriebenen Dirnen unter polizei¬
licher und ärztlicher Aufsicht zu halten und die heimlichen oder vngabundirenden
festzunehmen. Da aber gegenwärtig im Ressort der Wiener Sittenpolizei eine
einheitliche Oberleitung fehlt und jeder Polizeikommissar in seinem Revier nach
eignem Ermessen schalten und walten kann, so gedeiht die Kuppelei in Wien
üppiger als zuvor. Die Verführung und das Angebot zeigen sich an allen
Straßenecken, und die Syphilis ist keineswegs im Abnehmen begriffen. Am
gefährlichsten wird sie verbreitet von den geheimen Prostituirten, zu denen in
Wien die meisten Wäscherinnen, Dienstmädchen, Köchinnen und Zofen, selbst
ans den angesehensten Häusern, gehören. So wurden im Jahre 1881 von
ihnen nicht weniger als 1518 Individuen wegen dieser ansteckenden Krankheit
in die Lazarete aufgenommen, während von den polizeilich beaufsichtigten nur
487 hineingeschickt zu werden brauchten. Wie verheerend die Krankheit wirkt,
läßt sich statistisch genau mir aus den Militärberichten ersehen. Darnach
waren durchschnittlich in den Jahren 1870 bis 1884 in der österreichisch-
ungarischen Armee nicht weniger als 18324 Mann, d. h. sieben Prozent
syphilitisch; in einigen Städten, wie Pest und Insbruck, stieg das Verhältnis
sogar auf neun Prozent.
In Berlin schätzt man die Zahl der feilen Frauenzimmer auf mehr als
30 000. Davon waren im Jahre 1885 nur 3598 ius Sittenbuch eingetragen,
während von den übrigen etwa 12 450 bei der Ausübung ihres Gewerbes ab¬
gefaßt werden konnten. Bedenkt man, daß nach statistischen Berichten von den
unter beständiger Kontrolle stehenden Individuen schon mehr als 25 Prozent
als krank befunden wurden, so kann man sich den gefährlichen Gesundheits¬
zustand der nicht beaufsichtigte» Dirnen leicht vorstellen. Es ist denn auch
kein Wunder, daß sich unter der Zahl der zur Berliner Krankenkasse gehörigen
Arbeiter im Jahre 1885 nicht weniger als 8327 angesteckte befanden, und daß
um, auf ähnliche Zustände beim Militär, unter der Studentenschaft und im
Kaufmannsstande stößt. Die meisten haben zeitlebens an dieser Krankheit zu
leiden, zerstören ihr eignes und andrer Menschen Lebensglück, versündigen sich
an ihren eignen Kindern oder gehen völlig an dem Leiden zu Grunde. Sonst
wird jedermann vor den Richterstuhl gezogen, der aus Fahrlässigkeit andre an
Leib und Leben schädigt, hier aber läßt man ruhig den Giftstoff weiter wüten,
ohne die Schuldigen zu bestrafen. Diese gemeingefährlichen Personen unter
das allgemeine Recht zu stellen, ist eine Verirrung, die sich schwer an unsrer
nationalen Gesundheit und Sittlichkeit rächt. Die Moralstatistik in Berlin seit
dem Jahre 1885 weist in dieser Hinsicht keine Besserung auf. Zwar arbeitet
die Sittenpolizei mit aller Anstrengung, aber gegen die überall auftauchende
geheime Prostitution in den OKs,iiibr08 Mrmes (mehr als 2000), in den
Bier- und Weinkneipen (mehr als 800), in den Cafvs, Tingeltangels, Tanz¬
sälen u. s. w. (mehr als 230 Lokale) fehlen der Behörde die ausreichenden ge¬
setzlichen Mittel.
Berlin gehört jetzt thatsächlich zu den Städten, die nach dieser Richtung
mit Paris völlig wetteifern können. Auch bei uns erstehen schon Dichter,
Romanschriftsteller und Maler, die sich die Verherrlichung der Demimonde
zur künstlerischen Aufgabe machen. Auch bei uns fängt man bereits an, die
Gefnllnen auf die Bühne zu bringen und zu bewundern und der Halbwelt mit
sichtlichem Wohlbehagen eine gesellschaftliche Daseinsberechtigung zuzuerkennen.
Die einzige Abschreckung von der Zuchtlosigkeit war bei vielen Mädchen bis
jetzt noch die Ausstoßung aus unsrer Gesellschaft. Wenn auch diese Strafe
wegfällt, wenn die Gefallne gleichsam zu einem pshchvlvgischen Rätsel oder gar
zur Märtyrerin unsrer modernen Kultur erhoben wird, dann ist der Prostitution
auch in höhern Kreisen Thür und Thor geöffnet.
Zwar scheut man sich noch ein wenig, sie in unsern Zeitschriften und
Witzblättern zu feiern, aber wenn wir erst Zeichner wie Mars, Stop oder
Grovin auf diesem Gebiete haben, so wird der Schritt, der uns zu einem
deutschen ^ouriM ^lui8Me oder LAiZ^örruznt I'ariÄM führt, nicht mehr aus¬
bleiben, und auch wir werden unsern Sprachschatz bald bereichern müssen, wie
die Franzosen mit ihren unzähligen Benennungen: Lvllvs als iruit,, (ZouillöröL,
LillöLlrss, I)g.hö8, OolMrs8, 6ibsrQL8, <Zorig.löU8ö8, Oömxpös, Omnidu8,
turn<Z8, ?g.nri.czllL8, NurmiteV, 6oni?«Z88«Z8, ?0it!als8, 1'0I1«Z88S3, Il0U8«!liIlöU868,
1ort,N«Z8, V«Z88i(Z8, VöMN8, Vo1iM08 u. s. w.
Nur eins hat man gegenwärtig in Paris noch vor uns voraus. Früher
verrieten die anständigen Pariser Frauen nur eine gewisse krankhafte Neugier,
das abenteuerliche Leben der Courtisanen kennen zu lernen. Heute ist die Neu¬
gier in eine wachsende Eifersucht auf jene gefährlichen Wesen umgeschlagen, die
ihnen die Ehegatten, die Verlobten, die Brüder fast vor den Augen fortziehen.
Die Frauen stehen machtlos da und glauben ihre Männer nur dadurch fesseln
zu können, daß sie das Wesen, den Ton und die Gewohnheiten der Zrg.nah8
uori2onwtv8 nachahmen. Die Pariser Salons haben sich daher in den letzten
Jahren auch völlig verändert. Aus der vornehmen Dame ist die sogenannte
Coeodette geworden, die unter dem Beifall der jungen blasirten Männer und
der ausgemergelten Greise die Sprache, die Nngenirthcit, selbst das Parfüm
der gefeierten Cocotte angenommen hat, Soll man sich da noch über die Un¬
verschämtheit wundern, sagt der französische Arzt, womit am Ende dieses Jahr¬
hunderts die geheime Prostitution auftritt, die ihre Lebenskraft aus dem ver¬
derbten Zustande unsrer Sitten selbst zieht, und die man in solcher Ausdehnung
nur in den traurigsten Zeiten der Geschichte wiederfindet?
Wir haben zwar in Berlin noch keine Avenue de Villiers, keine Nile
Prony, leine Champs-Elis/;es, wo sich gegenwärtig die Hotels der Horizontalen
befinden, aber jeder Eingeweihte weiß, daß es auch in einigen Berliner, nament¬
lich in jüdischen Kreisen, schon zur vornehmen Gewohnheit gehört, neben der
eignen Frau noch eine Courtisane zu unterhalten. Das sind heillose Zustünde,
die den deutscheu Begriffen von Ehe und Familienleben geradezu ins Gesicht
schlagen und ans die man nicht früh genug die leitenden Personen aufmerksam
macheu kann. Mit polizeilichen Verordnungen und Gewaltmaßregeln wird
gegen diese sittlichen Verirrungen kaum etwas auszurichten sein; aus einem
Morast läßt sich kein Alpensee machen. Wer hier bessernd auftreten und wirken
will, der muß das Übel an der Wurzel anfassen und vor allen Dingen die
Quellen aufspüren und zu verstopfen suchen, aus denen die Prostitution gegen¬
wärtig ihre Zuflüsse erhält.
Die Gründe, die zu diesem Schandgewerbe führen, sind in allen Ländern
dieselben. Nur wenige Mädchen stürzen sich ans krankhaft gesteigerten Trieben
>" geschlechtliche Ausschweifungen, die große Mehrzahl wird durch äußere Um¬
stände auf abschüssige Wege geführt. Zu diesen Ursachen gehören vielfach die
"»eheliche Geburt des Mädchens, deren Unsegen ihm zeitlebens anhaftet, die
beschränkten Wohnungsverhältnisse, die eine Vermischung der Geschlechter ohne
Altersunterschied und die allmähliche Unterdrückung jeglichen Schamgefühls zur
Folge haben, die nochmalige Verheiratung der Mutter oder des Vaters, wo¬
durch gewöhnlich die Stiefkinder aus dem Hause getrieben werden und jeden
natürlichen Halt verlieren. Ferner gehört dazu die mangelhafte Erziehung in
der Familie und in der Schule, die es versäumt, in den Mädchen ans klarem
Bewußtsein beruhende sittliche Grundsätze zu erwecken, oder ihnen gar eine
geistige Bildung zuführt, die in ihnen ungerechtfertigte Ansprüche hervorruft
und sie für das praktische Leben mit seinen oft untergeordneten Dienstleistungen
untauglich macht. Zu diesen schwerwiegenden Gründen kommen die wachsende
Überzahl der weiblichen Personen und der Mangel um Berufsarten für Frauen.
Daher die auffallende Erscheinung, daß überall unter den Prostituirten eine
große Zahl gebildeter Mädchen. Musiklehreriuncu, Erzieherinnen, Künst¬
lerinnen u. s. w. zu finden ist. Auch das ziemlich leichtfertige Leben in den
Geschäftsräumen, den Arbeitsstätten und den Fabriken trügt zur Untergrabung
der sittlichen Begriffe bedeutend bei. Der Gehalt oder der Wochenlohn der
Mädchen reicht selten zu ihrem Lebensunterhalte aus; kommt zu diesen Übel-
ständen noch die Vergnügungssucht, der Hang zu Putz und Luxus, das Lesen
frivoler Unterhaltungsschriften, so ist ven betreffenden Wesen der Weg zur ge¬
heimen Prostitution bereits vorgeschrieben.
Von allen diesen Gefahren sind aber die jede Unzucht befördernden
Wohnungsverhültnisse der untern Volksschichten die schlimmsten. Wer jemals
einen Einblick in diese unerhörten Zustände, selbst in kleinern Städten, gethan
hat, wer mit angesehen hat, wie in einem engen, unsaubern, verpesteten Raume
nicht weniger als drei Familien mit ihren Kindern bunt durch einander Hausen
und schlafen, der wird begreifen, daß man von einem hierin großgezogenen
Geschlecht keine sittlichen Begriffe erwarten darf. Hier hat der Staat vor
allem rücksichtslos einzugreifen und die Kinder nötigenfalls aus solcher gefähr¬
lichen Umgebung zu entfernen. Hier kann die Kirche ein praktisches Christentum
pflegen und den segensreichen Einfluß wiedererlangen, den sie leider auf unser
Volk immer mehr zu verlieren scheint. Hier ist das eigentliche Gebiet unsrer
Geistlichen, die gegenwärtig in der großen Zahl, dein Himmel seis geklagt! weiter
nichts als Prediger sind, nichts als Männer des Wortes, die ihre von Amts¬
handlungen sreie Zeit oft in allen möglichen Beschäftigungen, in Privatschulen,
in weltlichen Vereinen, in Musikkränzchen u. s. w. verzetteln, anstatt eine syste¬
matische und ersprießliche Seelsorge im Volke zu betreiben.
Auch die Schulen müssen unbedingt mehr auf das praktische Leben Rücksicht
nehmen; man sollte z. B. im Religionsunterricht weniger auf das Lernen und
Herleiern oft unverstandener Bibelstellen und Kirchenlieder hinarbeiten, als auf
das Verständnis und die Aneignung der christliche» Sittenlehre. Die ganze
Bibel dürften die Kinder überhaupt nicht in die Hand bekommen. Wer an
seine Schulzeit und den Konfirmandenunterricht zurückdenkt, wird das verstehen;
denn vor all den unsaubern Geschichten in der Bibel, auf die das Kinder¬
gemüt auch absichtslos stoßt, vergißt es alles Schöne und Edle in dem Buche
aller Bücher.
Unser ganzes Müdchenschnlwesen darf nicht einer zufälligen, willkürlichen
Entwicklung ausgesetzt sein, wie es in Preußen der Fall ist; die Regierung
muß die Ordnung und den Ausbau dieser Schulen selbst in die Hand nehmen
und nicht, wie es seit etwa zwanzig Jahren geschieht, beständig vor „unüber¬
windlichen Schwierigkeiten" zurückschrecken. Daran schließen sich noch andre
Forderungen: die Verufsarten für Frauen sind unbedingt zu vermehren und
die Geschäftsinhaber oder Fabrikbesitzer anzuhalten, auch für das sittliche Wohl
der Arbeiterinnen zu sorgen. Vor allen Dingen ist ans gesundheitlichen
Gründen die geheime Prostitution mit allen Mitteln zu unterdrücken, jedes
felle Frauenzimmer sofort unter polizeiliche und ärztliche Aufsicht zu stellen
und streng zu bestrafen, wenn es sich der Kontrolle entzieht. Den Prostituirten
muß der Dienst und Aufenthalt in öffentlichen Lokalen bei Strafe untersagt
und ihnen das Wohnen nur in bestimmten Stadtvierteln erlaubt sein. Denn
Wer sich über die sittlichen Vvrnussetzmige» leichtfertig hinwegsetzt, nus denen
im Grunde alle unsre Rechtsverhältnisse beruhen, wer beständig die Gefahr
der Verbreitung ansteckender Krankheiten bietet, der darf vom Staat und von
der Gesellschaft nicht die Behandlung und den Schutz erwarten, die sonst jedem
Staatsbürger zu teil werden. Es ist keine Frage, daß damit eine völlige
Neuordnung der ganzen Sittenpolizei notwendig wird. In Belgien hat man
mit dieser Neugestaltung bereits den Anfang gemacht. Von der ^o-iÄsmia <Jo
mväsomö zu Brüssel siud uach einer langen und eingehende» Beratung im
Jahre 1887 folgende These» nugenvmmeu worden:
1. Die Akademie hält eine gesetzmäßige Beaufsichtigung der Prostitution für
notwendig, um die Verbreitung der geschlechtlichen Krankheiten zu beschränken.
2. Die Prostitution, die sich auf den Straßen, den Promenaden und den
öffentlichen Plätzen breit macht und die hauptsächlichste Ursache jener Verbreitung
ist, muß untersagt werden.
3. Die Frauen, die überführt werden, sich gewohnheitsmäßig der Unzucht
hinzugeben, sind einzutragen und ärztlichen Untersuchungen zu unterwerfen.
4. Die Eintragungen und die Untersuchungen werden mit der Rücksicht aus¬
geführt, die unter allen Umständen auf jede Person zu nehmen ist.
5. Die königlich belgische Akademie der Arzneiwissenschaft halt dafür, daß die
häufigen ärztlichen Untersuchungen das wirksamste Mittel bilden, die Verbreitung
der ansteckenden Krankheiten aufzuhalten.
In Paris werden gegenwärtig ähnliche Bestimmungen getroffen. Aber
mich in Dentschland ist es notwendig, daß sich die Verwaltung, die Ärzte und
die Sittenlehrer vereinigen, um gegen das wachsende Übel gemeinsam in ver¬
schärften Maße vorzugehen. Deal nirgends mehr als da, wo es sich um die
sittlichen Güter der Nation handelt, darf man der Regierung zurufen: Land¬
graf, werde hart!
on musikalische» Halbphilosophe» ist nicht wenig über „das Ver¬
hältnis der Schopenhauerischeu Philosophie zur Wagnerischen
Musik" gefabelt worden, in der Überzeugung, die natürlich
allemal im voraus feststand, daß dabei etwas sehr Feierliches
und Tiefes, etwas kulturgeschichtlich Bedeutsames herauskommen
?uüsse. Ich gedenke zu zeigen, daß jenes Verhältnis nur ein Mißverhältnis
ist: Wagner hatte sich zwar die Gruudstiuuuung der Schopeuhauerischen Meta-
Physik angeeignet, aber der Musik hatte er metaphysische Aufgaben zugemutet,
die sie ebenso wenig wie irgend eine andre Macht der Welt zu erfülle» vermag,
und die Art, wie er der Musik dergleichen auszuüben aufgab, nötigt uns fast,
anzunehmen, daß er auch den Begriff des Metaphysischen selbst mißverstanden
habe: er hatte die Glocken läuten hören, aber nicht gesehen, wo sie hängen,
und noch weniger erkannt, daß das Begräbnis, zu dem sie läuteten, nämlich
das des gesunden Menschenverstandes, noch nicht stattgefunden hatte. Ob aber
dabei nicht doch etwas kulturhistorisch Bedeutsames herausgekommen ist?
Gewiß! Warum auch nicht? Manchmal hat ein Mißverständnis sogar
epidemische Geistes- oder Gemütskrankheit herbeigeführt, die gewiß etwas
kulturhistorisch Bedeutsames ist. Auch das wirkliche Verständnis einer be¬
stimmten Geistesrichtung oder Geistesverirrung ist dazu imstande gewesen: die
weiland Hegelei war die letzte deutsche „Influenz" dieser Art; sie ist zu bald
vergessen worden, wohl weil ihr Andenken für den patriotisch verehrten „deut¬
schen Geist" gar zu beschämend ist. Auf musikalischen Gebiete ist der be¬
kanntlich bis zur Kinderei getriebene Liszt-Schwindel, der in dieselbe Zeit fällt,
etwas Verwandtes: in jenem Falle täuschte, die Schule über deu erbärmlichen
Mangel an Genie, in diesem das Genie über den Mangel an Schule, wenn
man bedenkt, wodurch Liszt in jener Schwindelperiode am meisten „wirkte,"
nämlich durch seine als Kompositionen meist erbärmlichen Fantasien, die man
heute auch nur mit einer Art Beschämung von Tastenhelden noch nachträglich
herunterhämmern Hort, und deren vor allem Liszt selbst später nnr noch mit
Beschämung gedachte („Ich mag das Zeug nicht mehr sehen," sagte er 1876
zum Verfasser dieser Zeilen). Die heute herrschende und sich immer noch weiter
verbreitende Wagner-Manie ist eine im Vergleich zum Liszt-Schwindel und selbst zur
Hegelei weit weniger harmlose Krankheit, denn sie stammt aus derselben Quelle
wie die Ibsen-Manie; beide Verirrungen sind zwei Arme desselben Stromes von
geistiger Epidemie, der sich gegenwärtig über Deutschland und weiter über die
„gebildete Welt" ergießt; das Bett gräbt ihnen das in Deutschland wohl im
Abnehmen, in Frankreich aber im Zunehmen begriffene Bekenntnis zur Schopen¬
hauerischen Metaphysik als Mystik wie als Pessimismus. Die Überschwemmung
der deutschen Bühne durch die Wagner-Strömung einerseits, die Ibsen-Strö¬
mung anderseits läßt sich in verschiednen Sinne, aber mit gleichem Recht als
die „Sichtbarkeit" einer Herrschaft der Kakoterpe als Muse der „Jetztzeit"
bezeichnen; und dies ist kulturgeschichtlich allerdings bedeutsam, mehr als uns
lieb sein kann. Die Quelle dieses stygischen Stromes, der sich gern Lethe
nennen hört, ist die romantische Leichtgläubigkeit des deutschen Geistes, die
sich zu willig von der „Wahrheit" imponiren läßt, ausgenommen die that¬
sächliche, geschichtlich oder naturwissenschaftlich begründete Wahrheit; und das,
weil er so viele Sorten Wahrheit kennt: innere und äußere, subjektive und
objektive, exakte und etwa theologische, endlich metaphysische und —
Photographische Wahrheit, von denen die metaphysische die innerlichste und
tiefste ist, noch innerlicher nämlich, als der Kern der Sache, jenseits dessen
ihre Strahlen erst ein Bild machen, wie jenes verschwommene, das auf der
Netzhaut weitsichtiger Augen entsteht, weil es erst hinter dem Kreuzungspunkt
der vom Gegenstande zum Auge führenden Lichtstrahlen zu stände kommt; die
Photographische ist aber aus guten Gründen die äußerlichste: beide empfehlen
sich dem Publikum heute im Gewände der Kunst, oder die Kunst empfiehlt sich
dem ihr fremd gewordnen Geiste der Zeit im Gewände der angeblichen „Wahr¬
heit." Wagner hüllt sich dazu in den düstern Mantel pessimistisch-meta¬
physischer, zuletzt halb buddhistischer, halb hyperkatholischer Schwärmerei,
und Ibsen duckt sich unter die schäbige Hülle des „beobachtenden" Photo¬
graphen (vgl. E. Groths „Streifzüge durch die französische Litteratur der
Gegenwart," Grenzboten l88», S. 507); des einen Muse sucht das Welt¬
übel, des andern Muse das Schlechte in der Welt, beide übereinstimmend im
Dienste genannter Kakoterpe, an deren Altar die pathetische Unwahrheit und
das unwahre Pathos zuletzt gleich willkommen sind, während Euterpe ihr
Angesicht verhüllt — beide "übereinstimmend in dem Gedanken des Pessimisten,
daß die Welt etwas ist, das besser uicht wäre. Der Urheber dieses Gedankens,
sofern er in unsrer Zeit in den Köpfen der obern Tausend, wenn es nicht
bloß Hundert sind, nämlich der Denkenden und der Dichtenden, Platz gegriffen
und eine Art Gesamtstimmung erzeugt hat, die natürlich in der Kunst am
ehesten Ausdruck findet, ist bekanntlich Schopenhauer. Er hat uns die Welt
als die platonische Höhle geschildert, in die die Urbilder des Seienden, Wahren,
Ewigen höchstens schwankende Schatten werfen; allenfalls der Künstler vermag
sie soweit festzuhalten, daß er durch seine Phantasie blühende Abbilder von
ihnen in der Form des Schönen, in der Schönheit der Form zu schaffen ver¬
mag, die er nun gleichsam zwischen Welt und Ewigkeit vor uns hinstellt. Es
sei hier gleich bemerkt, daß darnach eigentlich nicht der Musik, sondern der
Plastik und der Malerei der höchste Rang von ihm hätte zugesprochen werden
müssen, denn deren Gebilde sind es, die am ehesten, die einen die Zeit, die
andern den Raum überwinden zu können scheinen. Die Höhle selbst aber blieb
so beschaffen, daß in sie hinein zu wollen, d. h. daß der „Wille zum Leben" schon
sündlich ist. Kinder zur Welt bringen ist an sich keine Sünde (da es nur die
Folge dessen ist, was neun Monate früher geschah), wohl aber Geboreuwerden,
als (vorläufig wenigstens) durchgesetzter Wille zum Leben. Das kommt davon,
daß in der Schopenhancrischen Welt einer schon etwas wollen kann, acht
bloß ehe er etwas ist, sondern ehe er überhaupt ist, und geboren werden zu
wollen, wäre wahrlich, wenn man Ärzte und Frauen fragen wollte, keine
Kleinigkeit; in einem Prozent der Fälle wäre es bekanntlich Mord, und es
verlohnte sich schon, solchen Willen zum Leben Sünde zu nennen, als Folge
von Erbsünde. Diese Vorstellung, die in den Vordergrund zu stellen sogar
die Kirche schon vergessen hat, wurde von Schopenhauer noch verdüstert und
zum Untergrunde alles Daseins gemacht, womit er denn freilich den Willen
zum Gegenteil der Vernunft, alles Wollen an sich zur Unvernunft stempeln
mußte. Dieses Dasein, dem das Nichtsein mit Hiob vorzuziehen sein soll, ist
nach ihm Leiden, und der Grund von allein, was wir einander sein können,
Mit-Leiden oder, was dasselbe ist, Mitleid, also daß jeder zu dem, was er
in seiner Art zu leiden hat, noch freiwillig selbstvergessen mit erleidet, anfühlt,
was der andre in seiner Art leidet. Und nun ist dieser Leiden schaffende Wille
zum Leben nicht bloß des menschlichen Lebens und Daseins, sondern alles
Seins und Werdens Urgrund. Wald und Fels, Luft und Wasser und alle
Sterne des Himmels, auch unser unvernünftiger Bruder, das Tier, sie alle
sind da, weil sie da sein zu wollen den sündlichen Drang empfanden; des
Mondes Wille zum Dasein war vielleicht ein Heinischer, der des Waldes ein
Lenauischer, der der Sterne ein Beethovenscher, der des Baumes ein Jean
Paulischer, der des starrenden Felsens, des rauschenden Stromes, des Büchleins
und der Linde ein Schubertscher, der des Pudels ein Faustischer Wille? Sie
alle demnach (der Pudel nach Schopenhauer ganz gewiß) fühlen und leiden
also auch menschlich, sind wie wir der Erlösung von diesem Leben, das ja
auch sie wollte«, bedürftig — ein Gedanke, den selbst das Christentum doch
nur einmal im Vorübergehen (Nömerbrief 8, 18 bis 22) auf die „unver¬
nünftige," auch „seufzende" Kreatur ausdehnt. Da können also nicht nur wir
leidende Brüder und Schwestern, mit oder ohne Vernunft, nichts Höheres thun,
nichts Tieferes angelegentlicher wollen, als uns gegenseitig leid zu thun, jeder
sich um den andern zu „kümmern," sondern die ganze Welt bis in Sirius¬
fernen ist in Leiden getaucht; die Harmonie der Sphären selbst ist eine un¬
geheure Dissonanz, und statt einen Dithyrambus des Daseins hören wir überall
als ?onäam<zuo ostiniiw wie im (ürnoilixuL der I4-mo11-Messe von I. S. Bach
das Thema „Weinen, Zagen, Sorgen, Klagen," das dort „der Christen
Thränenbrot" heißt, und für uns arme Erdenbewohner wäre es zunächst das
Beste, wenn der arme leidende Planet in die vernichtende Glut irgend einer
Sonne zurückstürzte, denn das geschähe doch wenigstens so schnell, daß wir
gar nicht Zeit hätten, erst noch zu „sterben." Da wäre uns doch dieses
Leiden und damit unsre andern alle abgenommen, und das Weltenelend bliebe
für sich, s-prös mein8. Denn: es bliebe! Mit dem Auge des Menschen würde
(nach Schopenhauer) die Welt nur als „Vorstellung" erlöschen, nicht als
„Wille," nicht als Leiden, nicht als ,.Sünde."
Der Gedanke von dem bessern Nichtsein der Welt ist aber der Art, daß er
weder den dänischen, noch den deutschen Bühnenpriester des „Pessimismus"
rechtfertigen kann; jenen nicht, weil der echte Pessimismus nicht so gemeint
ist, daß die Welt wegen des Schlechten, das in ihr ist, besser nicht wäre,
sondern so, daß mit allem Guten, allem Erfreulichen in ihr das Dnsein an
sich übler als das Nichtsein, und selbst schon Leiden sei; diesen nicht, weil
„besseres Nichtsein," bei Lichte besehen, überhaupt nichts Denkbares ist, weder,
wenn mau, um sich ein allgemeines Nichtsein vorzustellen, sich aus der Welt
hinweg, noch wenn man dazu die Welt aus sich hinweg denken will. Im
erster,, Falle kehrt man, wie Schopenhauer selbst schou bemerkt hat. unver¬
sehens als Zuschauer einer künftigen oder einer vergangenen Welt im Geiste
in die Welt zurück, müßte aber mindestens, um sein gewordenes „Ich" hinaus¬
zudenken, sie dabei mit dem Ange des soeben erschaffenen ersten Menschen an¬
sehen können; dieser hätte jedoch wieder kein solches Auge gehabt, denn er hätte
alsbald etwas andres zu thun bekommen, als sie sich anzusehen, schon weil er
uoch nüchtern und nackt dazu war, und außerdem noch arm, daher die Genesis
ihn vorsichtig gleich ins Paradies setzt. Im andern Falle müßte man, um
das bessere Nichtsein zu denken, sich mit Leib und Seele ans sich hinaus denke»,
schon weil beide von dieser gegenwärtigen Welt aufs stärkste beeinflußt sind, aber
anch weil mindestens der Leib zur Welt gehört, und dagegen dürfte doch das
Kunststück Münchhnnsens, sich am eignen Schöpfe aus dem Sumpfe zu ziehe»,
»och ein Kinderspiel sein. Vielleicht bliebe doch noch der „Begriff" von mir,
vo» »leinen: oder einem Ich übrig? Aber in Ermangelung von Seele und
Leib gehörte dazu, sich einen Begriff von mir zu macheu, doch wohl ein andrer,
zumal da ohnehin meistens ein andrer dazu gehört. Dieser „andre" ist wieder
ein Stück Welt, selbst sogar eine Welt, ein Mikrokosmos, ein Ich. Geniig,
die Vorstellung des „bessern" Nichtseins ist der denkbar verfänglichste oircmlus
vAosutt, mit dem i»a» gar nichts beweisen, also auch nichts rechtfertigen kann.
Es müßte denn sein, die Schlange, die sich so in den Schwanz beißt, hieße
Gott, als der, der vor mir u»d ohne mich den Begriff von meinem oder irgend
w'ein Ich „nach dem Bilde" seiner „Person" haben könnte - eine theologische
Wahrheit, ich gebe es zu. Aber wohlgemerkt, Gott vor Erschaffung der Welt.
"Iso weder als' Wille, noch als Borstellung. Denn der Wille schafft, wäre es
""es erst am siebenten Tage, den Menschen, dessen Vorstellung dieser Gott
dann ist; zur Vorstellung des bessern Nichtseins gehörten aber Welt und Mensch
als nicht seiend, folglich Gott mindestens als niemanden! bekannt, auch uur der
Erstellung, dein Worte nach. Nicht einmal ^ ä7ol>w>> ^ könnten wir an
des so Erratenen Tempel schreiben, sondern nnr die Gleichung: X? ex>.
Außerdem müßte man, um die Möglichkeit vorstellig zu machen, daß das Nicht¬
sein im Vergleich zum Dasein besser sei, ihm notwendig Dauer beilegen, schon
weil das im Vergleich zum Dasein als besser, höher, heilsamer zu empfindende
doch notwendig als Zustand gedacht werden muß — womit diese ganze Philo¬
sophie sich selbst widerspricht.' Diese Vorstellung einer Dauer des Nichtseins
wäre zwar selbst die höhere Potenz des Fehlers, deir wir machen, locum wir
l'vo Toten sagen, er habe Ruhe, wohl gar: ihm sei wohl, ihm sei (im Nicht-
snn) „besser"; denn er müßte doch Ruhe und Nichtsein empfinden können, um
sie zu haben und sich darin „wohl" sein zu lassen. In dieser Weise aber
müßte dennoch das Nichtsein aller Dinge einschließlich des Ich als besser ge¬
fühlt werden können, um als besser gelten zu können; dazu aber würde Dauer,
würde Zeit gehören, also hinzugedacht werden müsse». Das Nichtsein sollte
ja aber jenseits der Schranken von Raum und Zeit sein, die wir nun wohl
oder übel in sie wieder hineinzudenken gar nicht umhin könnten; kurz, die Idee
des bessern Nichtseins — das bessere Jenseits, dein vergnügt und offenherzig
die „ewige Dauer" (auch wieder eine vouti-Äclictio in g^vet-o) beigelegt wird,
ist eine gemütliche Sache dagegen — der Pessimismus also ist, wie die Hegelei,
ein Gedanke, den man, um ihn zu verstehen, um sich etwas dabei zu denken,
wenigstens mißverstehen muß, wie es Hegel, wenn auch unfreiwillig, selbst von
dem Schulgespeust aussagte, das er seine Philosophie nannte: „Nur einer hat
mich verstanden, und der hat mich mißverstanden." Aber keiner kann etwas
andres damit anfangen, um sie zu verstehen, wenn er nicht verrückt dabei
werden will. Darum waren die Hegelianer besser als Hegel, bei dem sie sich
noch für ihr Selbst bedankten, seinen Kredit vermehrend. Für den Gläubigen
des Pessimismus aber, der ihn nicht mißverstehen will, der ihn durchaus ernst
nimmt, muß gerade dies zweifelhaft bleiben, ob er im Tode nicht bloß des
eignen Nicht-mehr-Seins genießen werde, ob er in ihm schon des Nirwana teil¬
haftig werden könne, des Nichtseins aller Dinge, des AufHörens von allem
Wohl und Wehe, allem Wollen als Suchen wie als Fliehen, allem Werde»
und Vergehen, allem Wandel der Dinge. Die etwaige Unsterblichkeit der Seele
hätte echten und ernsten Pessimisten daher als ein Gut von sehr zweifelhaftem
Werte erscheinen müssen. Dazu um noch die Ungewißheit, die jeder Leichnam
sichtlich genug lehrt, ob mau mich dem Tode noch irgeud etwas, also auch ob
man das Nirwana aufzusuchen imstande sein werde! Wer also den Glauben
an das Nirwana, wer den Pessimismus, den Schopenhauer ans einer brah-
manischen in eine deutsche Lehre verwandelt hat, durchaus ernst nimmt, dem
bleibt, um in das Nirwana zu gelangen, um dieses Vorteils für die Seele
habhaft zu werden, in der That kein Weg, als der Versuch einer praktischen
Vorausnahme desselben im Leben, also — die Hypnose. So steigt der Fakir
auf die Säule und starrt bei Tag und Nacht, bei Wetter und Wind gefühllos
ins Firmament; oder er setzt sich ein für allemal auf den Erdboden, eine
Handvoll Reis, ein Schluck Wasser täglich seiue Nahrung, vielleicht noch still
verzückt Orakel an bedauernswert lebenwollende spendend, oder er hungert
Wochen lang, ja er macht sich zuletzt für Monate scheintot; kurz, er bringt sich
in abnorme, für uus unbegreifliche Körperznstäude, durch die Ekstase», Nerven-
bemuschungen, Krümpfe, Phantasien und Worte zu stände kommeu, die das
Volk dann für überirdische, „metaphysische" Erfahrungen und Wahrheiten
nimmt. Beides, Hunger u»d — i» Indien — selbst eine Art von Tod a»f
Zeit durch Hypnose, ist noch in neuester Zeit mit Erfolg unternommen oder
nachgemacht worden, das letztere sogar einschließlich öffentlichen, englischerseits
amtlich streng bewachten Begräbnisses. Auch an wahnsinniger Verehrung für
Hungernde, für die Hypnose, für die Ekstase hat es neuerdings selbst in Berlin,
Newhork mit anderwärts nicht gefehlt. In der indischen Kultur war dies
immerhin ein Mittel, fiir wenige besonders Begnadigte, durch einiges Wehe
etwa hindurch, wie es die Entsagungen, bis sie Gewohnheit geworden waren,
mit sich brachten, zu der Erhabenheit über Wohl und Wehe, über den Unter¬
schied von Gut und Böse, anch von Gut und Schlimm hinweg zu kommen.
Die Menschen ließen deu Fakir in Ruhe, und gegen die Forderungen der
Natur machte er sich, vom Klima begünstigt, unempfindlich; dazu wurde die
öffentliche Verehrung und die damit verbundene Macht doch wohl im Stillen
als Erleichterung empfunden.
In der europäischen Kultur war bis auf die Zeit der pessimistischen Kunst¬
werke die Kunst das Mittel, sich von der Misere des Lebens und seiner All¬
täglichkeit, seiner Schwere und seinem Ernst aufzuspannen, zu befreien, nicht
auf Lebenszeit freilich, sondern auf Stunden und auf eine unterhaltendere Art,
sodaß diese Stunden erleichternd ans das Leben in Summa weiter wirken
konnten. Und diese Wohlthat ist nicht fiir wenige Begnadigte, sondern für die
doch große Zahl der künstlerisch gennßfühigen zugänglich; zu diesen sich zu
gesellen, unterliegt nicht so strengen Bedingungen, wie das Sterben im Leben,
das Begehren nach Nirwana. Die Kunst ist aber natürlich nicht eine Ver¬
besserung des Pessimismus, wie man sie etwa wegen des tragischen Kunst¬
werkes auffassen könnte, sondern toto gsners von ihm verschieden. Ihre Grund¬
lage »ut auch ihr Ziel ist Heiterkeit. Sie steigt noch heute vom Muninn
der Menge zur Maritas der feinern Menschen und von da zur Lorouitas der
Weisen und Edelsten durch mannichfache Stufen hinauf, und zwar auch bis
"ber den Unterschied von Wohl und Wehe, Lust und Leid, selbst über den von
Gut und Böse. Noch das vorige Jahrhundert hatte ganz allgemein die Vor¬
stellung, daß Heiterkeit ein Vorzug, eine Kraft und Sache des vornehmen
Menschen sei. Der Fürst, ob er dabei Mitleid empfand oder nicht, mußte dem
Einzelnen, auch wohl ganzen Klassen, Städten u. s. f. Leid zufügen können; die
Höhe, auf der er stand, das Durchschauen menschlicher Beweggründe, das
Überschauen wechselnden Mcnschenschicksals sollte ihn über Wohl und Wehe,
über Lust und Leid, auch über das gewöhnlich fiir gut oder böse gehaltene
stellen. Macchiavell klang noch nach. Daß man die Sorge für das eigne
Wohl hinsichtlich der Wohnung, Nahrung, Kleidung, der Gesundheit, des Ver¬
gnügens, deu Kriegsfall ausgenommen, in einem Maße, das jeden höchsten
Wunsch befriedigt, dem Fürsten abnimmt/ hat noch heute den Sinn nicht, ihm
ein Mu<Zom zu machen, sondern man will damit seinen Blick und Sinn vor
allem frei machen für das öffentliche Wohl, zu dessen Besorgung die Uner¬
schütterlichkeit gehört, die von jenen Unterschieden nicht angefochten wird, wozu
menschlicherweise die Sorge für seine lliliU'iiW als Vorstufe nötig war. Vor¬
nehmlich wegen dieser zur Fürstentngend gehörenden Erhabenheit hieß er „Ho¬
heit" und Lsr0mis8iiiui8, der heiterste. Wie oft und schwer dies, auch von
den Fürsten selbst, im Sinne von In1g.riti>,8, auch von ssimäwM, als Zweck mi߬
verstanden und gemißbraucht worden ist, kommt dabei nicht in Betracht; die
8srsnilN8 war und ist damit als Ideal aufgestellt. Statt der lächelnden ist
heute freilich die grinsende „Heiterkeit" bekannter, die entsteht, wenn ein Parla¬
mentarier einen Witz oder eine Dummheit losgelassen hat, und die Menge der
andern darüber lacht. Dennoch, so gut jeder auch weiß, daß der Herrscher
ernstlich arbeiten muß, um sich zu behaupten, denkt doch jeder, denkt mindestens
das Volk den Fürsten sich unwillkürlich als heiter, und so allenfalls kennt
man heute noch das Ideal der 8LrsintA8, das dein vorigen Jahrhundert so
vertraut war.
Wie aber heute wenigstens noch das niedrige Volk sich den Fürsten als
den denkt, der lächelnden Angesichts nur zu befehlen brauche, um seinen Beruf
auszuüben, fo denkt sich die Gesellschaft bis in viel höhere Schichten der
„Bildung" hinauf den Künstler als jemanden, der nicht nötig habe, zu „üben,"
sondern der jederzeit, um seinen Beruf als Säuger, als Virtuose zu erfüllen,
nur den Mund nnfzuthuu, fein Instrument zur Hand zu nehmen brauche,
d. h. es wird in Bezug auf den Fürsten wie auf den Künstler das Ideal
der Erhabenheit über den Ernst und die Arbeit, des Angelangtseins auf der
Höhe müheloser Heiterkeit als das Auszeichnende, Vornehme in der Vorstellung
festgehalten, so stark, daß der Künstler mit der Entschuldigung, er sei jetzt
außer Übung, niemals, auch in bester Gesellschaft nicht, Glauben findet. In
dieser überall anzutreffenden Ansicht pflanzt sich noch die Erkenntnis fort, daß
die Kunst dem Ideal der Heiterkeit diene.
Wird die Kunst von niederen Menschen geübt oder genossen, so ist sie
auf das Gaudium der Menge oder auf die stupide Bewunderung gerichtet.
Aber selbst noch oberhalb der Stufe der Marita dient demselben Ideal die
tragische Kunst, die des Bösen nur als bewegender Kraft bedarf: sie will
weder durch das dargestellte Böse abschrecken, noch durch das dargestellte Gute
anziehen oder den Zuhörer „bessern"; denn dann müßte es nicht auf den Zu¬
hörer ankommen, ob ihn nicht das Böse anzieht und der „Gute" ihn
langweilt, was doch auf jeder Kulturstufe vorkommt. Keins von beiden:
soll vorbildlich verstanden werden, sondern beides als naturnotwendig, die
Schicksale des Handelnden als unabwendbar aus eines jeden Natur uuter
den gegebenen Umstünden herbeigeführt; nur auf das Gebiet des blinden,
absoluten Zufalls 1^ Müllner und Werner) soll die Kunst nicht sklavisch
der Wirklichkeit oder Möglichkeit folgen. So soll sie uns über beides, Gut
und Böse, stellen, die Handelnden nur als dramatische Kräfte aufführen,
weder ein Verwerfen noch auch ein Verzeihen in uns anregen. Weder Furcht
noch Mitleid, weder Klage »och Jubel, wen» sie ihrer auch als wirkender Mittel
nicht mag entbehre» könne», soll sie zum Zwecke, zur Wirkung des Ganzen
machen; sie ist im höchsten Sinne des Wortes optimistisch, natürlich ohne den
Glauben, der sie gar nichts angeht, alles in der Welt oder das meiste sei
„gut" oder nützlich, a»ge»eben oder schön. Die Aristotelische Lehre von
„Furcht und Mitleid," in meinen Auge» von jeher ein ga»z äußerlich ab-
strahirter Dilettanteneinfall, beherrscht die Ästhetik des Dramas leider ins zum
Überdruß,
Die Wagnerische Kunst hat sich nnn aber mit den eigentlich „Wagnerischen"
Dramen wie „Tristan und Isolde" »»d de» vier Nibelungendrame» in den a»f
el»er tieferen Kulturstufe entstandene» Pessimismus zurückbegeben. Wagner hat
die Kunst wieder in den Dienst des bessere» Nichtseins gestellt; wer jene Dramen
ernstlich und gläubig angehört hat, verläßt das Theater, statt befreit und auf
eine das Leben lminiv sorsuv oder auch nur a,cano imimo überschauende Höhe
gestellt, vielmehr mit einer Fülle von tiefschmerzlichen Problemen beladen, die
die Grundlagen des Lebens betreffen: Ehe, Eigentum, Arbeit, Rang. Ihre
Lösung im Bilde ist durchaus nicht Zweck der Kunst; denn nicht das Sein¬
sollende oder das besser Nichtseiende, sondern das Seiende ohne den Beigeschmack
der Klage, des Vorwurfs, des Vorschlages zum Besseren, und zwar das
Seiende, Wirkende auch nicht bloß im geschichtlichen Sinne (als wirklich
Gewesenes), ist ihr Objekt. Bei Wagner ist die Lösung im Bilde versucht, und
das noch auf eine so täppische Art, daß man bei näherem Zusehen erstaunt, wie
diese Dramen in solchem Sir»e ernst genommen werden könne», denn der
Hauptgrundsatz der Lösungen ist, auch schon im „Lohengrin" und „Tannhäuser,"
der Satz: das höhere Recht ist allemal auf Seite» des genialeren Unrechts,
und der Vorrang gebührt allemal dem, der der Begabtere ist, alö lar visu
oder als igs cllcmx oder ac äroit imwrvl; es ist das Recht des Stärkeren
auf geistiges Gebiet übertragen, also nnr auf einer höheren Stufe, nahezu vou
derselbe» Roheit wie das Faustrecht. Daß der Pessimismus einer tiefern Kultur¬
stufe entspricht, ist zweifellos; seiue Grundidee ist eine solche, die ihre Bekenner
vernünftigen Menschen oder einer Mehrzahl vo» Mensche» auf die Dauer doch
nicht weismache» könne», nämlich daß der Quell der Erkenntnis und des
Heils in etwas liege, das zu erkennen der Verstand des Menschen, wie die
Natur ihn erschaffen hat. schlechterdings durch seine Beschaffenheit selbst un¬
fähig sei und das im Leben nicht anders endgiltig zu verwirklichen gesucht
werden könne, als durch jene Art von Scheinselbstmord — daß aber eine
bestimmte Menschenart, wenn sie auch jenes höchstens Vorzuges, des Nirwana,
hienieden noch nicht teilhaftig geworden sei, jene Beschaffenheit des Verstandes
so weit überwunden habe, um deu schlichten, gesunde» Menschenverstand den
gemeinen, schlechten schelten zu können und die wirklich oder angeblich minder
begabten als Mensche» zu tieferem Range, ja bis zur gänzliche» Verworfen-
heit bestimme», verurteilen, herabwürdigen zu dürfen. Dem Buddhisten, also
dem Originalpessimisten, wäre es niemals bcigekommen, daß der Buddhismus
uur eine Lehre, eine Erkenntnistheorie sein könne, ihm war er praktischer Ernst,
Lebensprinzip, das nicht bloß von Einzelnen, sondern irgendwie von Allen die,
wenn nötig passive, Verwirklichung forderte. Selbst der Fürst war nur Werk¬
zeug; die Welt zerfiel in Priester oder Höchstbegabte und solche, die es nicht
sind, sie ward in Kasten gegliedert. Sie war des Nichtseins wegen da, so
ungeheuer dieser Widerspruch in sich auch ist. Sie begann beim Oberpriester
und endigte bei der Pest, bei den Tschandalci, die so gehalten wurden, daß sie
die Pest bekommen mußten; nur die Pest machte nachher nicht Halt vor den
Scheidewänden der Kasten und fraß diese ganze buddhistische Welt gelegentlich
auf. Schopenhauer» aber, dein Guten, Tiefen, war die Metaphysik im Gegensatz
zum buddhistischen Originalpessimisten doch wesentlich nnr ein faustisches
Erkenntnisvergnügen. Der Stand der Wissenschaften ließ zum letztenmale
einen Nachklang der mittelalterlichen Illusion zu, daß einer alles bisher er¬
forschte wissen und den Nest hinzuthun könne, den Nachklang, der in der
Illusion besteht, die Welt, das All wie den Menschen aus einem Punkte er¬
klären zu können, als ob es nicht vielmehr darauf ankäme, den Menschen zu
steigern. So verbesserte er das „Ding an sich," von dem uns mstapIiMoL
verboten wurde, zu sagen, es sei nie und nirgends, und gelehrt wurde, es sei
zu keiner Zeit, um keinem Ort, aber es sei und sei das Seiendste von allem,
was da sei; um Etwas zu haben, was es sei, nahm Schopenhauer die mit dem
Mangel an „Zeit" und „Raum" verteidigte „Festung" durch „Verrat" — das
Verratene war der schlichte Verstand — und setzte den Willen zum Machthaber
ein, und wie es dann weiter ging, die gnostische Jakobsleiter vom Stein zur
Pflanze, zum Tier, zum Menschen hinauf, und ferner über die Brücke der
„Vorstellung" zu den „Ideen" als den Müttern der „willeusfreien" Künste,
endlich auf die höchste Staffel, wo die „Musik" über allem Menschlichen und
Übermenschlichen thronte. Nur schade, daß das alles schließlich doch besser
nicht wäre, am besten sich in die Götterdämmerung des Nirwana auflöste.
An diesem mystisch-melancholischen Traume mochte sich eine stille Gemeinde
erbauen, die dann wohl unter sich den Grundsatz des Mitleidens als Kor¬
relat des Urleidens praktizirt hätte. »min>>in l-recte, imo orlinss <,iumlmn
xotss Al^uvÄ, dieser Satz wurde das praktische Endergebnis der Lehre, weil zur
Philosophie am Ende auch eine „Ethik" gehörte. Diesen simpeln Grundsatz
aber zu finden, zu begründen (oder wieder zu erwecken) Hütte Schopenhauer
nicht faustisch Himmel und Erde, Künste und Wissenschaften, Willen und Vor¬
stellung in Bewegung zu setzen brauchen, das konnte er etwa der „freien
Gemeinde" oder irgend einer weichseligen Vetbrüderschaft überlassen; denn daß
er zu einem allgemeinen Lebensgrundsatz für die menschliche Gesellschaft (ohne
sophistische Interpretation, die ja alles kann) nicht taugt, liegt gar zu sehr
auf der Hand, da er alles Regieren und Dirigiren von der Kinderstube oder
dem Konservatorium bis zum Kaiserthron unmöglich machen und die Welt
zuletzt in einen weinenden Pöbel auflösen würde, worin nnr doch wieder keiner
wüßte, wie er dem „andern" helfen solle, und schwerlich jemand Zeit behielte,
zu philosophiren oder Flöte zu blasen, wie er!
(Schluß folgt)
cis Anlnnstssignal ertönte, wir fuhren in B, ein. Mit Paketen be¬
laden, drängten wir uns auf dem Bahnsteig durch die Meuge, Wir
wurden von einem großen, starken Herrn mit nicht gerade vornehmer
Haltung begrüßt. „Guten Abend, Frau Vorsteherin," rief er uus
entgegen. Meine Begleiterin, Frau Vorsteherin von L., unsre
„Mutter," wie wir sie nannten, streckte dem Herrn die Hand ent¬
gegen. „Sie haben doch einen Gepäckschein?" Mit dieser Frage wandte er sich
"n mich, nahm den Schein in Empfang und überreichte ihn einem Dienstmann,
oben er diesem einen Auftrag gab. Dann war ich für ihn nicht weiter vor¬
handen.
Wir schritten genieinsam der Stube zu, Kommerzienrat Hahn erklärte der
"-palier" dies und das, was ihm bemerkenswert schien. Mir war alles ziemlich
weichMig. Müde von der Reise, heißes Trennungsweh im Herzen, hatte mich
'eher hijchst seltsame Empfang noch unzugänglicher gemacht.
Der Konunerzienrnt führte uus in sein Haus, dort sollten wir zu Abend essen.
^ 'vor der Vorsitzende des Komitees, das die Kleinkinderschule in B,, die ich von
nun an leiten sollte, ins Leben gerufen hatte; daher hatte man ihm überlassen,
uns in Empfang zu nehmen.
In dem sehr einfach ausgestatteten Wohnzimmer befand sich Frau Kommerzienrat
^ahu nebst ihrer dreizehnjährigen Tochter Grita. Es erfolgte nun eine kurze Vor¬
an^ Einladung zum Abendbrot, und in wenigen Minuten saßen wir
H ""' den einfach hergerichteten Theetisch. Zwischen der „Mutter" und dem
/»»u.ierzienrat entspann sich ein, lebhaftes Gespräch; da ich mich aber fremd, sehr
u-ab fnhllr. «.ihm ich nicht daran teil, folgte ihm auch nicht, sondern betrachtete
prüfend das Hahnsche Ehepaar.
,^ ^>e ungleich sie äußerlich waren! Die große kräftige Gestalt des Kommerzieu-
Kug eine» runden, dicht mit braunem Haar bedeckten Kopf, seine braunen
'"'gen blickten lebhaft und klug, ein bewegtes Mienenspiel belebte seine Rede, doch
vUei, ein stark ironischer Zug um den Mund, sein breites, schallendes Organ und
u starker Zug von Selbstbewußtsein den guten Eindruck. Wie klein und winzig
dagegen die in Sammet gekleidete Frauengestalt, wie leise, fast hingehaucht ihre
Rede, wie freundlich lächelnd der Mund, aber wie kalt die großen, grauen Augen!
Sanfte, gute Menschen blicken nicht so kalt, also sanft war sie nicht, nur leise.
Die Unterhaltung war sehr lebhaft geworden; die „Mutter" schien gar nicht
müde. Der Konmierzieurat schilderte, wie viel Sorge und Mühe er gehabt habe,
die Kleinkinderschule ins Leben zu rufen. B. sei ein Ort von 5000 Einwohnern,
doch sei wenig humaner Sinn, wenig Verständnis für Missionszwecke vorhanden,
aber er habe die ersten Kreise zu interessiren gesucht, die dann mich willig nach
Kräften die Mittel gewährt hätten. Außerdem sei eine Sammlung in der Bürger¬
schaft schließlich auch noch reichlich ausgefallen. Er sprach gut. Mein Interesse
erwachte, da es sich um mein künftiges Arbeitsfeld handelte. Dennoch war ich
sehr zufrieden, als wir endlich aufbrachen, um die Schule aufzusuchen Das ein¬
stöckige, längliche Gebäude lag nur zwei Minuten von der Wohnung des Kommerzien-
rath. Zur rechten Hand befand sich die Klasse, ihr gegenüber das Wohnzimmer.
Es brannte eine Lampe darin, als wir eintraten, der Kommerzienrat und Grita
hatte« uus begleitet. Wie suchend sah ich einen Augenblick umher. Doch was
suchte ich eigentlich? Wer sollte mich hier willkommen heißen? Wer nur ein
Blümchen als Gruß spenden? Das war vorüber! Fremd, bis ans Herz fremd
mutete mich alles an. Ich atmete erleichtert auf, als sich der Kommerzienrat und
Grita verabschiedete», nachdem sie noch rühmend anerkannt hatten, wie schon alles
für die Lehrerin eingerichtet worden sei. Die „Mutter" begleitete Hahns, sie sollte
dort bleiben; und so war ich denn allein in meiner nunmehrigen Heimat.
Der nächste Tag war ein Sonntag. Kommerzienrath gingen regelmäßig zur
Kirche, denn sie gehörten der konservativen Richtung an, zu der sich auch die adlichen
Familien in B. und Umgebung hielten. Heute sollte noch besonders von der Kanzel
herab der Beginn der Schule bekannt gemacht und zu fleißigem Besuch eingeladen
werden. Ich wurde auch wieder in das Hahusche Haus beordert. Frau Hahn
beauftragte Grita, mich vor ihnen zur Kirche zu. führen, aber ihr Gatte wollte
es anders. „Heute gehen wir alle zusammen," sagte er. Warum das Wohl Frau
Hahn so beharrlich zu vermeiden suchte? Als es zum Gottesdienst läutete und
wir alle bereit standen, erklärte sie, uoch Besorgungen zu haben, und bat uns,
vorauszugehen. Sie kam dann allein, als der Gesaug längst begonnen hatte. Lang¬
samer Schrittes, den Kopf etwas erhoben, mit dem Lächeln vom Abend vorher,
die Augen stolz über die Gemeinde schweifen lassend, so nahte sie uus. Wenn der
Hochmut verkörpert werden könnte, dann müßte er ihrem Bilde gleichen. Wie
peinlich es nur war, im Stuhle des Kommerzienrates sitzen zu uüisseu! Peinlicher
konnte es der kleinen Fran nicht sein, die der „Mutter" wegen sich diesmal meine
unliebsame Nahe gefallen lassen mußte. Doch die Leute von B. sollten von vorn¬
herein die Schranke sehen, die sie und mich trennte, daher vermied sie, in meiner
Gesellschaft das Gotteshaus zu betreten und zu verlassen, denn sie ging vor uus
nach Hause.
Von der Predigt hörte ich nicht viel, ich war zu unruhig. Wie durch einen
Nebel sah ich die hohe, blasse, ernste Gestalt des Geistlichen, und seine Worte er¬
klangen mir Wie im Traume. Mich erfüllte ein plötzliches Bangen vor der Zukunft.
Es stand etwas Unüberwindliches zwischen Kommerzienrath und wir.
Die „Mutter" reiste nach einem einfachen Frühstück, das wir gemeinschaftlich
im Hahnschen Hanse einnahmen, ab. Ich begleitete sie zur Bahn. Sie sprach
rühmend vou dem begabten, freundlichen Mann und der kleinen, sanften Frau, die
nur in allen Dingen zur Seite stehen würde, und fand mich gut nufgehobeu. Ich
heilte andres gefunden und freute mich wenig auf den guten Rat der Frau Hahn.
Ich schwieg, doch im Innern sah es sehr Übel aus, als sie davonfuhr.
Am Nachmittag Mrte mich Frau Konilnerzienrat über die Verhältnisse in ^.
auf, besonders die in der arbeitenden Klasse. B. habe einen ausgedehnten Arbetter-
stand, in dem viele Laster um sich gegriffen hätten, besonders die Trunksucht, ^am
seien die Leute roh, undankbar und unzugänglich. Es sei also ein rechtes Arbeits¬
feld für eine Lehrerin der Kleinsten gegeben. Sie bemühe sich seit Jahren, die
Leute uach Kräfte« zu erziehen, könne aber leider nicht selbst in die Häuser gehen
und freue sich, nun in mir fortan eine Hilfe für ihre Bestrebungen zu haben.
Frau Hahn forderte mich auf, wenn ich des Rates und der Hilfe bedürfte, Mich
stets an sie zu wenden, dn sie die Leute genau kenne und am ersten. Auskunft
geben könne. Schließlich trug sie mir auf, den verschiednen Familien des Frauen-
Vereins Besuche zu machen, da der Frauenverein sehr thätig und aufopfernd bei
der Einrichtung meines Wohnzimmers, wie auch der Klasse gewesen sei. Sie net
mir, das Danken, nicht zu vergessen.
Als ich in meinem Stübchen saß, ließ ich das Gehörte an meiner Seele
vorüberziehe». Es war so manches dabei, das mir zu denken gab. Frau Hahn
sprach von den Armen immer nur wie von einer besondern Menschenklasse oder
einen: besondern Menschenschlag; das gab eine tiefe Kluft zwischen ihr und ihnen.
Kein Hauch des Erbarmens war mir ans ihren Worten cutgegengekluugen. Dann
gab sie zu, daß sie nie selbst die Arbeiterhäuser aufsuche, und doch wollte sie sie
kennen! Mir schien, sie kannte sie nicht und liebte sie auch nicht, eben weil sie sie
nicht kannte. Aber warum widmete sie dann ihre Zeit den Notleidenden? ^>es
fand auf diese Frage keine Antwort.
^vDie Schule nahm ihren Anfang, doch befremdete es mich, wie spärlich tue
Kinder gemeldet wurden. Die meisten Mütter arbeiteten doch außer dem Hause
und mußten. meiner Ansicht nach, froh sein, ihre Kinder für ein geringes Geld
der Obhut der Schule anvertrauen zu können. Ich war schon mehrere Wochen
w Orte, und kaum war die halbe Klasse gefüllt. Diese mallgelhafte That.gtelt
befriedigte mich nicht. Befremdet fragte ich eine der Mütter nach der Ursache diefer
Teilnahmlosigkeit. Nach minutenlangem Zögern entgegnete die Frau: „Das kommt
daher, weil Kommerzienrath die Schule haben; die hat keiner gern, und die armen
Leute mögen auch nichts mit ihnen zu thun haben." Aber weshalb denn mcyt,
fragte ich verwundert. „Frau Hahn hat nie ein freundliches Wort für die ^eure
f'e tritt alleu so stolz gegenüber und imiuer findet sie etwas zu schelten, tap Inpr
sich keines gern, gefallen)' Nach einer Pause fuhr sie fort: „Die Leute dachten
»se. Sie wären auch so, Fräulein, lind darum wollte keiner 'ran mit der <sehn c,
"ber jetzt heißt es. Sie Wären für die Armen bedacht, und um wollen sie ane
do Kinder bringen." Es ist doch nicht recht von den Leuten, so von Kommerzlen-
r"es zu denken', da sie jn für die Armen sorgen, entgegnete ich ernst. >t)u
Angeredete machte mir eine lebhafte Bewegung, näher zu komme«. „Aau
'^mmerzienrat ist die Erste im Fra«e«verein, ««d da muß sie ja schon ,v thun,
°!s ob sie svrqte," sagte sie bitter erregt. „Doch glauben Sie mir, kosten darf
dle Sache nicht viel, dazu ist sie zu geizig. Sie giebt, aber es ist auch darmich
und wenn davon ein Kranker bestehen sollte, so würde er nicht we.t kommen, ^un
haben sie allerdings die Schule eingerichtet. aber warum? Nur um sich einen
u"neu zu machen, von ihnen kommt dazu das welligste Geld. Sie bescheren zu
^brachten auch deu arnum Kindern, doch die es bedürftig sind, die wegen nchts
Da wird alles darnach verteilt, wie die Meiern Bescheid bringt, und die wendet
es ihren Günstlingen zu." Wer ist denn die Meiern? fragte ich. „Die Waschfrau der
Kommerzienrätin. »Die Post« wird sie in der ganzen Stadt genannt, weil sie
alles, was in der Stadt Passirt, Kommerzienrath zutragen muß." Es war mir,
als säße mir plötzlich was in der Kehle. Glauben Sie das nicht, Frau Merker,
sagte ich, denken Sie daran, daß Sie Kommerzienrath Dank schuldig sind! Damit
entließ ich die Frau.
Sie hatte Recht gehabt mit ihrer Vorhersage. Die Klasse füllte sich zu¬
sehends, und mit ganzer Seele widmete ich mich nun meiner Arbeit. Es gab so
viel abzustellen in dem Wesen der Kleinen, so dick zu ernähren und zu rügen,
aber auch so unendlich viel — zu lieben. Das Herz wurde mir weit bei dem
Anblick dieser Menge mehr oder minder verwahrloster Kinder, und unermüdlich
war ich bestrebt, sie wenigstens in die äußere Schulordnung einzufügen.
Es mangelte noch manches an der Klnsseneinrichtung, und da ich an Hahns
gewiesen war, führten mich solche Bedürfnisse öfter in ihr Haus. Der Kommerzien-
rat begegnete mir immer gleich gravitätisch, laut und erhaben. Aber sein lebhafter
Geist half mir über manche unangenehm berührende Äußerlichkeit hinweg, und ich
nahm gern jede Gelegenheit wahr, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er hatte
vielseitige Interessen: Politik, Litteratur, Kunst und Wissen, das Größte draußen
in der Welt, aber auch das Kleinste in der kleinen Stadt kümmerte ihn. Angeregt
folgte ich seinen Gesprächen, wenn sie sich auf geistigem Gebiet bewegten; seine von
Satire durchtränkten Urteile gaben mir Stoff zum Nachdenken und machten mir
manches Dunkle klar. In solchen Augenblicken vergaß ich mich wohl auch etwas,
und rückhaltslos drang mein Denken und Meinen über meine Lippen. Wir standen
auf gemeinsamem Boden, und diese kurze Zeit war mir immer wert im Hahnschen
Hause. Jäh aber rüttelten mich dann oft seine „Neuigkeiten" aus dieser kurzen
frohen Stimmung auf. Er wußte alles, was man im Städtchen von ihm und von
mir und von vielen Andern dachte oder sprach, und war der übelberatenen Bürger¬
schaft gegenüber in steter Kampfbereitschaft. Ich verhielt mich solchen Mitteilungen
gegenüber schweigsam, es war mir ganz unbegreiflich, wie er förmlich Jagd auf
diese Neuigkeiten machte. Er war bald in dem, bald in jenem Lokal, bald in der,
bald in jener Straße, suchte mit Vorliebe Familien ans, die ihn ans dem Laufenden
erhielten, und ging dann vollgeladen und erbittert nach Hause. Wie schrumpfte
der große Mann in meinen Augen zusammen!
Frau Hahn dagegen blieb immer gleich leise und gebrechlich. Wir entfernten
uns nie von dem einen Thema: die Erziehung der Armen. Ich sage: wir; im
Grunde blieb ich aber völlig passiv ihr gegenüber, während sie sich in Auseinander¬
setzungen über ihre Theorie der Armenerziehung erging. Sie hatte schon Ursache
gefunden, mir mit leisen Worten anzudeuten, daß ich meine Arbeit falsch angriffe
und recht zu ihr aufschauen müsse. Sie war öfter in der Klasse gewesen und hatte
mich einmal dabei überrascht, daß ich einem hübschen Krauskopfe das Gesicht wusch
und das Haar kämmte. Ihre kalten Augen wurden bei diesem Anblicke noch kälter.
„Solche Dinge darf man den Leuten nicht abnehmen," sagte sie mit ihrem ge¬
wöhnlichen Lächeln. „Sie müssen das schmutzige Kind öffentlich in der Klasse be¬
schämen und dann nach Hanse schicken, das erzieht die Leute." Ich sah, daß sie
von den Grundsätzen einer Kleinkinderschule keine Ahnung hatte, wir waren ja an¬
gewiesen worden, ohne vieles Reflektiren die schnnchigen Kleinen zu Waschen, in der
Schule sollten wir erziehen, dieses Werk auf die Mütter auszudehnen, bestand für
uns keine Verpflichtung. Ich erwartete zuerst, daß Frau Hahn bei meinem Ver¬
fahren zu der Überzeugung kommen sollte, daß ich nach den Grundsätzen der Mutter-
anstatt handelte, und sie das achten, nötigenfalls auch ihre Ansicht der Ansicht des
Seminars unterordnen würde. Aber weit gefehlt. Sie wurde nicht müde, alles
und jedes anzuordnen und zu leiten, und brachte mich dadurch in die Lage, ihr in
hundert Fällen entgegenhandeln zu müssen. Ja sie trieb mich schließlich dazu,
sie für eine unverständige, anmaßende Person zu halten und mich ihren endlosen
Quälereien immer mehr zu entziehen. Wunderbar war es, daß ihre Vorwürfe stets
in einem Punkte gipfelten! meiner „Weichlichkeit" gegen die Armen.
Ich ging indes unerschütterlich weiter auf dem betretenen Wege. Um besser
auf die Kleinen einwirken zu können, schien es mir nötig, ihre häuslichen Verhält¬
nisse kennen zu lernen. Manche Nbelstände gelang es mir, trotz aller Ermahnungen,
uicht abzustellen. Der größte Teil der Kinder erfüllte die Forderung, ordentlich
und reinlich zur Schule zu kommen; doch gab es manche und zwar immer dieselben,
die stets irgeud etwas zerfetzt oder unsauber hatten. Diesen galten meine nun¬
mehrigen Entdeckungsreise».
Ich begann damit, das überfüllte Armenhaus aufzusuchen, denn von dort
hemmende eine ziemliche Zahl der kleinen Pfleglinge. Eine Treppe hoch in einem
Knmmercheu wohnte die kleine Hulda mit ihrer Großmutter. Ich fand die alte
Frau im Bett mit großer Atemnot kämpfend. Vor ihr auf dem Deckbette lag ein
Stuck trocknes Brot, eine Tasse Kaffee hielt sie in der zitternden Hand. Das
siiufjährige Kind war ihre einzige Hilfe. Wer sorgt denn für Ihre Pflege? fragte
ich. Sie zeigte auf das Kind. „Die kocht Kaffee, holt alles heran, was wir
brauchen, und das Mittagbrot bekommen wir aus dem Frauenverein. Wen» sonst
was z» thun ist , macht es die Webern nebenan, Fräulein; aber nicht umsonst!
Solange ich einen Pfennig vom Armengelde habe, muß ich ihn mit ihr teilen."
Das Asthma erschwerte ihr das Sprechen. Nach einer Ruhepause fuhr fie fort:
.Zanken Sie nicht, liebes Fräulein, wenn Huldas Anzug nicht immer ganz gut
ist; ich l-aun die Nadel uicht mehr halten, so schwach bin ich, und die Sachen flicken
SU lassen, fehlt es mir an Geld." Ich mußte darauf den einzigen Schrank, der
sich in dem kleinen Raume befand, aufschließen, um mich zu überzeugen, wie sehr
sie auf Ordnung bedacht sei, heute noch, obwohl sie schon lange nicht mehr aus
dem Bette könnte. Da lagen reine, gute Hemden sür sie und Hulda, ihr und
Huldas tadelloser Sonntnqsnnzng, den sie in Acht nehmen müßten; mich Bettwäsche
und Handtücher fehlten nicht. Ich sprach ihr meine Frende ans. versprach, mich
öfter »ach ihr umzusehen, und »ahn mir vor, selbst Hand an Huldas Wvchenzcug
Zu legen. Das war nun eine der Familie», die mir Frau Hahn als Muster der
Verworfenheit hingestellt hatte, laut Auskunft der „Frau Meier." ,
Ich ging die Treppe wieder hinab. Ein Gejohl und Gekreisch scholl mir
aus dem zunächst der Treppe gelegenen Zimmer entgegen, als würde drinnen .rauher
oder Krieg gespielt. Bei meinem Eintreten stoben ein halbes Dutzend Buben nach
allen Richtungen aus einander. Nur einer, der älteste, ein Knabe von elf Zähren
We mir zerrauft und verlegen lächelnd entgegen. Wo ist eure Mutter, ^ungens/
ragte ich. „Waschen," erwiderte prompt der Große. Waren hier nicht mich deine
Brüder? Mir war, als hätte ich Ernst und Moritz gesehen, fragte ich weiter.
Em unterdrücktes Gekicher drang unter dem Bett hervor, und richtig zog ich die
beiden Gewünschten ans Tageslicht. Ernst, die Knöpfe von den H"hin ^r.f en,
stand mit dem herabhängenden Hosenhinterteil wie ein Modell zu einem Bilde von
fletsch da; Moritzens Jacke zeigte zwei lange Fetzen. Seht ihr. das kommt von
euerm Toben! rief ich mit strenger Stimme, während ich innerlich lachte uver me
frischen, übermütigen Jungen, die. eingeschüchtert durch mein hartes Wort. Nymo-
bewußt die Köpfe senkten. Hier ist immer noch das Loch in der Jacke, Moritz,
fuhr ich fort. Schon vor drei Tagen habe ich dirs gezeigt, warum läßt du es
Muttern nicht flicken? „Solange Vater tot ist, ist Mutter alle Tage auf Arbeit,
und wenn sie spat nach Hause kommt, ist sie so müde, daß ihr die Augen beim
Flicken zufallen," erwiderte der Große. Du müßtest helfen, sagte ich ernst. Ich
Habs auch schon versucht, die Strümpfe zu stopfen, aber ich bringe es noch immer
nicht fertig, und dann wird Mutter ärgerlich und — er schwieg und senkte die
Augen. Nun, und? forschte ich. „Sie bunt ihm das Stopfzeug um die Ohren!"
rief Moritz jubelnd dazwischen in Erinnerung an die mütterliche Methode. Allmählich
waren auch die uoch fehlenden drei Buben herzugetreten, und ganz hingenommen
von dein fesselnden Thema sprang einer in die Ecke des Zimmers, durchwühlte
eiuen dort stehenden Korb und zog endlich ein angefangenes Stopfzeng hervor.
„Das hat Wilhelm gestopft!" frohlockte er, den Strumpf wie eine Fahne schwenkend.
Ich betrachtete kritisch das übel behandelte Loch; die Erstlingswerke des Großen
waren allerdings nicht vielversprechend, und ich begriff den Zorn der müden Frau
bei der geringen Anstelligkeit ihres Großen zu solchen Hilfsleistungen. Gieb nur
den Mut nicht auf, Wilhelm, sagte ich tröstend, Übung macht den Meister. Da
ihr keine Schwester habt, ist es durchaus nötig, daß du hilfst. Auch hier war mir
jetzt klar, warum bei Ernst und Moritz nicht immer alles in Ordnung war.
Doch nicht in allen Fällen gab es so triftige Entschuldigungsgründe für augen¬
fällige Unordnungen. Ich kam in ein Haus, das mir täglich zwei kleine Mädchen
sandte, die sich durch äußere Liederlichkeit auszeichneten, die mir aber eine außer¬
ordentliche Anhänglichkeit bewiesen, und deren Betragen in der Schule nichts zu
wünschen ließ. Die Mutter, eine gesunde, starke Frau, saß am Tische. Es war
um die Vesperzeit. Vor ihr stand ein großer eiserner Topf mit Kaffee, dcizn eine
unsaubere Obertasse ohne Henkel.- Neben diesem Kaffeegeschirr standen einträchtig
die gebrauchten Teller, Löffel und Schüsseln vom Mittagessen her. Große Hansen
von Kartoffelschalen und Heringsgräten erhöhten das Widerliche des Eindrucks. Die
Frau sah in ihrem Anzüge eben so verwahrlost aus wie ihre kleinen Mädchen.
Die übrige Zimmereinrichtung bildete einen würdigen Nahmen zu dem lieblichen
Bilde am Tische. Das rohe Gesicht der Frau blieb äußerst gleichmütig bei meinem
Eintritts. Erst nachdem sie die angetrunkene Tasse ruhig geleert hatte, erhob sie
sich schwerfällig, um mich zu begrüßen.
Ich fragte nach den Kindern, und ob sie sich nicht freue, daß sie so gern die
Schule besuchten. Sie sah mich von oben herab an. „Freue«? nee, Fräulein, ich
behielte sie lieber zu Hause; hier können sie ebenso gut spielen, und dann hat man
sie, wenn man sie braucht. Aber das Getute und Geheule, wenn sie Hierbleiben
sollen! Da sage ich: lauft; aber Geld bezahle ich nicht dafür." Sie hatte Recht,
das hatte ich längst für die Kleinen, die mir besonders ans Herz gewachsen waren,
besorgt. Aber über das unsaubere Aussehen der Kinder kam kein Wort des Tadels
über meine Lippen. Ich wußte, dieser Frau gegenüber hätte ich mir jede Möglich¬
keit geraubt, die Kleine» wenigstens tagsüber dem mütterlichen Einfluß, der hier
kein guter war, zu entziehen.
Ich setzte solche Besuche eifrig fort, so viel es meine Zeit erlaubte, und das
Ergebnis war, daß ich immer mehr die Mittel und Wege entdeckte, Übelstnnden in der
Schule abzuhelfen. Und noch eine andre Frucht brachten mir diese Gänge: ich fand
hie und da und oft in kinderreichen Häusern noch manch ein Altes, das mit ernährt
werden mußte und dem oft schmale Bissen blieben. Ich nahm mir vor, die wohl¬
thätig gesinnten Familien darauf aufmerksam zu macheu, um sie nicht darben zu lassen.
Das führte mich in einen andern Kreis, als den, in dem ich von Berufs
wegen fast ständig lebte. Ich lernte die Beamtenwelt und den Adel von B. kennen.
Ich denke mit stillem Glück daran, wie manche Unterstützung den Bedürftigen
dadurch zugewendet, ja wie manche Thräne des, Dankes und der Freude geweint
worden ist.' Oft, wenn ich abends im Bette lag, beruhigte es mich, zu wisse»,
daß der nud jeuer Darbende versorgt worden war. Ebenso aber war es mir von
Wert, die Familie» des ersten Kreises kennen zu lernen. Man nahm mich überall
freundlich ans, bewies mir ein herzliches Interesse. wenigstens schien es mir so.
Ich dachte nicht daran, daß jedes Neue in einer kleine» Stadt die Gemüter be¬
schäftigt, so lange es eben neu ist. Mir that es wohl, umso wohler, als ich tiberall
durchfühlte, daß mau das Schwere meiner Stellung der Hahnschen Familie gegen¬
über begriff. So verschiede» auch sonst die Ansichte» der Einzelnen waren, in
einem Punkte waren sie alle einig: alle sprachen mit Erbitterung von Kvmmerzie»-
rath. Die meisten junge» Fra»e» hatte sie genötigt, sich vor der Flut ihrer nn-
erbeteueu guten Ratschläge zu retten, deun sie waren nun einmal andrer Meinung
und qestauden ihr das Recht der Einmischung in ihre Häuslichkeit uicht zu. Man
nannte sie unausstehlich, aufdringlich. Daß Frnn Hahn sich infolge dieser Unzu-
anuglichkeit der Frauenwelt zurückzog und im Gefühl eiuer Märtyrerin ans ihrem
hohe» Stnudpuukte verharrte, schmerzte keinen; höchstens witzelte man darüber.
Ganz anders beschäftigte der Mann die Gemüter. ES gab in B. keine Familie,
die nicht Wundeumale Hahuscher Grobheit und Hahusche» Hohnes auszuweisen hatte,
keine, die nicht eine Anzahl taktloser Witze von ihm zu erzählen wußte. Er fühlte
sich von Gott berufen, die Mängel seiner Mitmensche», mich solche, die sie als
göttliche Schickung ertrage» mußte», schonungslos zu geißeln. Und er fand immer
Gelegenheit dazu, sei es auf der Straße oder in öffentlichen Lokale» oder in den
Gesellschaften. Er warf mit verletzenden Reden um sich, wie ein streitsüchtiger
Bube ans ahnungslos vorübergehende Steine wirft. Dn konnte es nicht Wunder
nehmen, wenn die wenigen, die ihm gewachsen Ware», ihm mit scharfen Hieben
^gälten, daß er bisweilen ganz verblüfft stand, und die, die nicht seine Schlag-
fertigtest besaßen, ihren Grimm dadurch entluden, daß sie — vor ihn, ausspuckten,
wenn er in ihre Nähe kam; andre, Arme und Hilfsbedürftige, beugten sich zwar
vor seiner Allmacht, aber wo er es uicht sah, ballten sie die Fäuste. Das waren
die Mitteilungen, die mir in den Häusern der sogenannten guten Gesellschaft über
Hahns wurden. Dem Adel freilich zeigte er seine beste» Seite». Aber seine
innerlich durch und durch rohe und ungezügelte Natur konnte er auch dort nicht
verleugnen. Man war einfach „starr" über seine Witze. Schon um deswillen
allein hätte nun ihm dort die Thür weisen mögen. Aber er war doch anderseits
c>n reger, begabter Geist, und man übersah das Unangenehme um ihm um dieses
Erwünschten'willen. So hielt ihn der Adel und trug dazu bei, daß er immer
anmaßender und unleidlicher wurde. Deu Widerwillen der Gesellschaft, der aller¬
dings immer »ur im Geheimen gedieh, deu er aber doch aHute, erwiderte er in
vollstem Maße. Er gab mir eine vollständige Schilder»»g der Familie», die sich
nicht unbedingt seiner und der Autorität seiner Fran unterwarfen. Ein Band aber
umschlang »»zerreißbar diese in sich zerfallene, von Haß u»d Bitterkeit schwangere
Menge, das war das gesellige. Man lud sich gegenseitig zu Diners und Soupers,
trotz alles Hasses, und'Grolles.
Den Druck des Gemütes, der d»res die immer zunehmende Entfremdung gegen
Hahns bei mir entstanden war, suchte ich in immer angestrengterer Arbeit zu ver¬
gessen, und wenn er sich dennoch zeigte, mit Willenskraft zu unterdrücken. Ich
glaubte es so abgethan zu haben, und erschrak dann, wie beim Klänge eines Liedes
oder beim Anhören eines Musikstückes (ich liebe Musik sehr) meine Seele plötzlich
von heißem Weh überflutet wurde. Wie hatte mein Herz vor Lust und Fröhlich¬
keit gebebt in der Arbeit und im Verkehr mit guten, sittlich höhern Menschen in
meinem frühern Wirkungskreise! Es lastete etwas auf mir, das fühlte ich auch,
wenn man mich vertraulich wegen meiner Beziehungen zum Hahnschen Hause fragte.
Ich glaubte diesen teilnehmenden Worten und fühlte mich in meinem Gewissen
beruhigt, wenn man mir ein maßgebender Stelle versicherte, man habe es Wohl
befürchtet, daß sie der Kleinkinderlehrerin das Leben schwer machen würden. Ja,
sie machten es mir schwer, davou sollte ich bald eine neue Probe bekommen.
Seit jenen Besuchen in den Arbeiterhäusern ließ ich mir die äußere Ordnung in
der Schule immer mehr angelegen sein, und wenn es die nrbeitsüberbürdeten
Mütter nicht erreichen konnten, daß die Kiuder vorschriftsmäßig zur Schule kamen,
sorgte ich selbst dafür, daß es besser wurde. Ein großer Sorgenstein waren mir
die schmutzigen, sonnenverbrannten Füße, auf die schwerlich je ein Seifcnlappen
kam. „Wir plumpe» drüber!" antworteten mir die Kiuder, wenn ich sie schalt,
und „Seife hat Mutter nicht." Da war es ein Glück, daß eine ahnende Seele
beim Beginn der Schule eure Kiste Seife geschenkt hatte. Wie fleißig machte ich
Gebrauch davou! Allerdings wurde der Inhalt dadurch nicht mehr.
Noch sehe ich das entsetzte Gesicht der Frau Halm, wie sie dazu kam, als
eben ein dickes Büblein mit seinen nackten Beinchen fröhlich im saubern Zuber mit
warmem Wasser patschte; die fast geleerte Seifenkifle stand daneben. „Wohin soll
diese Wirtschaft führen!" kam es endlich bebend über die jetzt einmal nicht
lächelnden Lippen. „Nicht nnr, daß die Kosten der Station nun weit über den
Anschlag gehen, anch die Leute werden verdorben, statt erzogen. Diese Arbeit ist
kein Segen für unsre Bevölkerung. Hier muß man die Augen aufthun lernen und
nicht blind handeln. Freilich wenn man überall lieb Kind sein will!" Ich frage
nichts darnach, ob diese Sorte Leute mich lobt oder verachtet, erwiderte ich. „Und
dabei wird mit einer Selbständigkeit Verfahren, die wahrhaft frappirend ist," fiel
Herr Hahn ein, der eben eingetreten war und den Vortrag seiner Frau gehört
hatte. „Diese Schule ist durch meine Bemühung ins Leben gerufen, ich bin der
Vorsitzende und bestimme das Einzelne, ich kann nicht dulden, daß die Dinge so
fortgehen. Wie können Sie ohne mein Vorwissen liederlichen Menschen noch Unter¬
stützungen zuwenden; Unterstützungen auszuteilen ist Sache meiner Fran, die über
die Bedürftigkeit der einzelnen Familien genau orientirt ist." Davon habe ich mich
überzeugt, dachte ich bitter, zugleich aber brauste eine tiefe Empörung in meinem
Herzen auf „Sie haben, scheint mir, eine Besprechung im Schulzimmer, da ge¬
statten Sie wohl, daß ich hinausgehe," sagte ich kalt und verließ das Zimmer.
Seit jeuer Stunde griff ein förmlicher Widerwille gegen die Familie Hahn
in meinem Herzen Platz. Noch war nur nicht klar, wie sich das Verhältnis ferner
gestalten sollte, aber klar war mir, daß ich nnr im äußersten Notfalle das Hnhnsche
Haus noch betreten könne; klar war mir außerdem geworden, daß Hahns zur
Gründung der Schule nicht die Liebe zur Armut getrieben hatte, sondern die Eitelkeit.
Wenn doch Frau Hahn einmal mit mir hinausgekommen wäre, wohin die Mütter
auch die Säuglinge schleppen mußten! Da liegen die Kleinen tagüber in Sonnen¬
brand und Staub, und die Mütter arbeiten mit geteilten Herzen. Zuerst wenigstens.
Dann werdeu sie gleichgültig, und für ein paar Groschen Tagelohn geht ihnen das
Edelste des Mutterherzens: selbstlose, fürsorgliche Liebe verloren. So wachsen die
Kleinen auf, die treue, huderte Mutterhand meist entbehrend, und das Unkraut
des Herzens, durch den Schmutz der Straße gedüngt, schießt üppig empor und
zeitigt die Früchte, die später die Spalten der Zeitungen füllen und mit Entsetzen
wahrgenommen werden. War es ein Wunder, daß sie die Besitzenden haßten und
in deu bestehenden Ordnungen eine Ungerechtigkeit sahen, die sie zu stürzen ein
Recht zu haben glaubten? Ja, es war leicht, vom hohen Seichte herab zu
richten! Mit Fußtritten wollte man die sittlichen Schäden ertöten. Unter diesen
Fußtritten erwartete man dann eine Tugeudsnat hervorsprießen zu sehen.
Unter den Bewohnern von B. gab es auch solche, denen die Stellung des
Kommerzienrath imponirte, die, wenn er ihnen die Gnade seiner Beachtung erzeigte,
wuchsen und schwollen und ihre Seele verkauft hätten, wenn er es verlangt hätte.
Solche Leute, meist Emporkömmlinge ans Bauernstande, suchte der Kouuuerzieurat
gern auf. Es war ihm erquickend, sich von ihnen anbeten zu lassen. Da manche
dieser Familien wohlhabend waren und Wohlthätigkeit übten, geriet auch ich um
der Armen willen in ihre Häuser. Man überhäufte mich mit Freundlichkeiten,
bezeigte mir ein Vertrauen, das mich geradezu überraschte, denn man ließ mich bis
in die geheimsten Ecken des Familienlebens blicken. Und ich war thöricht genug,
im gelegentlichen Gespräche meines Mißverhältnisses zur Familie Hahn zu gedenken.
Mir fiel nicht ein, daß man geschenktes Vertrauen mißbrauchen könne. Aber ich
sollte bald eines Bessern belehrt werden.
Es dauerte nicht lange, so wußte der Kouuuerzieurat um meine Äußerungen.
Und da sie vielleicht noch nicht eindrucksvoll genug gewesen waren, nahm man die
Phantasie zu Hilfe, um ein recht grelles Bild daraus zu malen. Ich hatte ja, trotz aller
mir erwiesenen Freundlichkeiten, nie das Gefühl des Fremdseins in B. überwinden
können. Ich fand lange die Erklärung nicht dafür; aber endlich fand ich sie. Es
war in den adlichen wie in den bürgerlichen Häusern eine angenehme Abwechslung
gewesen, einmal seinem Herzen Luft machen zu können über die Mißverhältnisse
in B., die durch das Hcchusche Paar hervorgerufen wurden. Nun, da man es
herunter hatte, erwachte die Liebe zu den guten alten Verhältnissen wieder. Man
schloß sich nach kurzer Spannung, die durch die Parteinahme für die uuter dem
Druck lebende Kleinkinderlehrerin entstanden war, um so inniger an einander an.
Daß man dnrch die eignen Mitteilungen das Herz der Fremden noch mehr belastet,
ihre Abneigung gegen Kommerzienrath genährt hatte, daran dachte man nicht. Mau
sah nnr, daß das Verhältnis der Kleiukinderlehrerin zniu Hahnschen Hause uicht in
Ordnung war, daß sie ihn, der die Schule gegründet hatte, mied und — mau warf
Steine auf sie. Nicht alle! Das muß ich rühmend hervorheben.
Der Kommerzienrat, der mein Fernbleiben sehr übel vermerkte, sammelte nun
Plaumäßig Material, um eine Anklage gegen mich daraus zu schmieden. Mein
Fernbleiben, mein selbständiges Vorgehen sah er als eine Schädigung seiner Autorität
M, ich setzte ihn, der so großes Verdienst um die gute Sache hätte, zurück. Die
ihm treulos ausgeplauderte« Unterredungen bildeten die Grundlage seiner Anklage.
Hahns hatten aber auch die genauesten Erkundigungen eingezogen, in welcher Weise
ich meine Tage verlebte. Dabei hatten sie Hilfe gefunden, auch da, wo man sich
^rst in mein Vertrauen gedrängt hatte. Als Hahn genug Material gesammelt zu
haben glaubte, berannte er eine Konferenz im Komitee an, um mich unschädlich zu
wachen. Er verschoß sein ganzes Pulver, er trug jede Kleinigkeit vor und färbte
die Vorfälle derart, daß es jedem in die Augen springen mußte, wie unrecht ich
gehandelt hatte.
Leider glaubte ihm ein Teil der Herren des Komitees uicht, sondern schob
ziemlich unumwunden die Ursachen des Konflikts auf seine Seite. Dadurch wurde
er in seinen eignen Augen zum Märtyrer. Für mich waren diese Vorgänge ent¬
scheidend. Mir lag nicht daran, den Sieg über Kommerzienrath zu erringen, denn
nur durch Einmischung andrer wäre das möglich gewesen, und ich wollte solche
Opfer nicht, mir lag nur an friedlichen Erfolgen. Es gab nur einen Ausweg:
zurückzutreten. Mit dem Gefühl innerer Demütigung, daß es mir nicht gelungen
war, würdig das Feld zu behaupten, schrieb ich der Seminarvorsteherin von meinem
Wunsche, hier abgelöst und uns ein andres Arbeitsfeld versetzt zu werden. Wenn
eine Lehrerin hier arbeitete, die nicht mit sich selbst in Konflikt kam, wenn sie
Hahns Anordnungen befolgte, war die Schule doch vielleicht zu halten.
Die „Mutter" glaubte mir das und erfüllte meine Bitte. Nach einer halb¬
jährigen Thätigkeit trug mich der Dampfwagen wieder heim.
Wie dem Vogel, der in der Irre lange vergebens nach seinem Neste gesucht,
endlich aber seine Spur gefunden, hat, so war mir zu Mute, als ich mich von B.
entfernte. Den Männern aber, die eine Lanze für mich gebrochen haben, werde ich
das bis zum letzten Atemzuge gedenken, denn, ich weiß es, sie haben damit Großes
gethan in den kleinlichen Verhältnissen in B.
Ludwig XVI. und Marie Antoinette auf der Flucht nach Montmedy im Jahre
1791. Aus dem Nachlasse des Freiherrn Ernst von Stockmar herausgegeben von Emil
Daniels. Berlin, Wilhelm Hertz, 18V0
Der Freiherr Ernst von Stockmar, ein Sohn des bekannten und vielgenannten
koburgischen Hansdiplvmaten Baron Christian von Stockmar, von 1858 bis 18l>4
Kabinetssekretär der Kronprinzessin Viktoria von Preußen, der spätern Kaiserin und
Königin Friedrich, wurde dnrch ein Lähmungsleiden, das seine körperliche, aber
nicht seine geistige Kraft brach, ans Zimmer gefesselt und an jeder amtlichen und
öffentlichen Thätigkeit verhindert. In seiner Zurückgezogenheit plante er eine große
und anschauliche Geschichte der französischen Staatsumwälzung seit 1789, an deren
Ausführung ihn jedoch sein früher Tod im Jahre 1886 verhinderte. Als eine
Probe seiner gründlichen Untersuchungen, wie seiner glänzenden und fast poetisch
anschaulichen, dabei immer vollkommen treuen und wohlbelegten Darstellung tritt
die Geschichte einer Episode, der verunglückten Flucht des unseligen französischen
Königspaares im Sommer 1791 aus Stockmars Nachlaß hervor. Genuß ist es
mißlich, aus einer solchen Episode heraus die Befähigung des Verfassers für ein
umfassendes Geschichtswerk beurteilen zu wollen. Aber wir unissen doch sagen, daß,
wenn es dem Verfasser vergönnt gewesen wäre, anch nur einen größern Teil der
Geschichte der französischen Revolution mit dieser Lebendigkeit, dieser Farbengebung,
dieser Schärfe des Urteils und dieser vortrefflichen Ausnutzung aller Quellen und
Hilfsmittel darzustellen, er ohne Frage zu unsern besten Geschichtschreibern gerechnet
werden müßte. Die Erzählung fesselt trotz ihrer Breite und Ausführlichkeit un¬
widerstehlich und gehört zu, deu wertvollsten kleinen historischen, Schriften, die nus
in neuerer Zeit zu Händen gekommen sind. Die erschütternde Überzeugung von der
unglaublichen, Unfähigkeit nahezu aller, die in dem damaligen Frankreich berufen
waren den revolutionären Elementen zu widerstehen, drängt sich bei der Lesung des
vortrefflichen kleinen Buches jedem Unbefangenen aufs neue aus. Sollte Stockmar
noch einige in gleicher Weise ausgearbeitete Bruchstücke seiner Revolutionsgeschichte
hinterlassen haben, so würde ihre Veröffentlichung sicherlich dankenswert sein.
ur Bekämpfung der Sozialdemokratie wird zunächst der Staat
die Aufgabe haben, durch Erfüllung der berechtigten Wünsche
des Arbeiters der Bewegung die Wurzeln abzugraben, unbe¬
rechtigte Forderungen zurückzuweisen und Ausschreitungen mit
dem vollen Gewichte seiner Macht niederzuschlagen. Aber auch
die Kirche soll helfen. Der Kaiser hat es in seiner Ansprache an den zur
Borbereitung der sozialen Gesetze versammelten Reichsrat gesagt, und neuerdings
lesen wir es wieder in den Motiven zu der gegenwärtig vorliegenden Gewerbe¬
gesetznovelle.
Von andrer Seite wendet man dagegen ein: Die soziale Frage ist eine
staatliche Frage, die Kirche soll die Hand davon lassen. Ich habe sogar ge¬
hört, daß ein Geistlicher sich auf die Schriftstelle berief, worin es Christus
ablehnt, das Erbe zwischen zwei streitenden Brüdern zu teilen, woraus er
schloß, daß das Evangelium mit Geld und Gut überhaupt nichts zu thun
habe. Wäre das so, so wäre uur zu verwundern, daß das siebente Gebot im
Dekalog stehen geblieben ist.
Die soziale Frage ist offenbar nicht allein sozial, sie bezieht sich nicht
allein auf den Besitz, sondern ebenso gut auf das sittliche Verhalten des
Menschen, sie ist ebenso gut eine religiöse Frage. Es ist sogar zu erwägen,
ob die Frage in der Gestalt, die sie gegenwärtig angenommen hat, überhaupt
uoch eine soziale sei. Dein Sozialdemokratin! ist sein Programm eine ganze
Weltanschauung, es ist seine Religion. Der Inhalt ist in kurzem der: Du
hast nur Rechte, keine Pflichten, weder Gott, noch dein König, noch dem Vater¬
lande gegenüber. Nieder mit dein allen! Der soziale Staat schafft deu Hummel
auf Erden, Man erkennt schon ans diesen kurzen Sätzen, daß der Boden, auf
dem sie erwachsen sind, viel mehr in das Reich der Sitte, der Religion, des
Charakters, als ins soziale Gebiet gehört. Soziale Mißstände sind vorhanden
gewesen, die Ausbeutung des Arbeiters durch das Kapital hat stattgefunden,
Grund zu Unzufriedenheit war da, aber die Begehrlichkeit und Herrschsucht der
gegenwärtigen Sozialdemokratie geht weit darüber hinaus. Der Sozialdemokrat
von heute ist ein junger Mensch, der ohne Zügel und Zucht aufgewachsen ist,
mit fünfzehn Jahren selbständig geworden ist, ein für sein Alter hohes Ein¬
kommen hat, aber stets mehr braucht, als er einnimmt. Es ist ein Mensch, der vor
nichts Achtung hat, der nichts kennt als die ödeste Selbstsucht, der niemandem
gehorchen will, der sich einen Arbeiter nennt, aber die Arbeit für das größte
Übel hält und glaubt, sich alles Glück auf Erden in Volksversammlungen er-
brülleu und erstimmen zu können. Und weil er sich als Teil einer großen,
weltstürmenden Macht fühlt, gebraucht er seiue Macht dem Arbeitgeber gegen¬
über. Es ist doch eine schöne Sache, sich durch Faulenzen höhere Löhne er¬
trotzen zu können. Die meisten der gegenwärtigen Streikbewegungen sind der
reine Übermut. Wenn Not vorhanden ist, so pflegt sie gerade da zu sein,
wo man nicht Streikt. In der Eisleber Gegend haben neulich die Hundejungen
gestreikt; das sind die jungen Burschen, die im Bergwerke den niedrigen Wagen
ziehen, der Hund heißt. Diese erhalten täglich 2 Mark 20 Pfennige Lohn,
also mehr als mancher Landbriefbote, der ein ebenso beschwerliches, aber ver¬
antwortlicheres Amt hat und Weib und Kind zu ernähren hat. Die Jungen
sind sechzehn bis achtzehn Jahre alt, haben für niemand zu sorgen und — kommen
nicht aus. Natürlich, denn sie sind bei allen Vereinen, besuchen alle Tanz¬
böden und kaufen in Eisleben in den „Fnnfzigpfennigbazars" Geschenke ein, die
sie den Dienstmädchen zuwerfen. So schlimm treibt es ja nun ihr Herr Vater
nicht, aber auch er hat seineu silbernen Seideldeckel und befolgt den Grundsatz:
Was verdient wird, wird versoffen, und die Fran Mutter versteht uicht zu
wirtschaften, wenn sie auch wollte. Das sind die Mansfelder Bergleute, deren
Lob von gewisser Seite kürzlich mit Trommeln und Trompeten verkündet wurde,
weil sie noch konservativ gewählt haben. Man sehe sich die Leute nur näher
an. Die Zigarrenarbeiter, die Handschuhmacher, die Gasarbeiter kämpfen nur
die Herrschaft über ihre Arbeitgeber, indem sie ganz offen den Grundsatz auf¬
stellen: Wir sind so viele Hunderttausend, und ihr seid so wenige, ihr habt
uns zu gehorchen. Der Vauhandwcrker hätte es am liebsten, wenn der Herr
Maurernleister ihm sein Handwerkszeug nachtrüge — wie es wirklich geschehen
ist —, er frühstückte am liebsten Kaviar, sicherlich leistet er sich ein üppiges
Frühstück, während das Mittagessen schnöde behandelt wird, um Weib und
Kind nichts abgeben zu müssen, und alle betrachten den Tagelohn als eine
Art vou Einkommensteuer, die der „Burschewa" dem Arbeiter zu zahlen hat,
wobei es auf Menge oder Art der Arbeitsleistung nicht weiter ankommt.
Hier sieht man doch nicht eine Spur von Sozialismus mehr, sondern nur
Faulheit, Übermut und Genußsucht, mit einem Worte, Zeichen der Ver¬
wilderung.
Natürlich will jedermnnu Recht haben, auch dann, wenn er Unrecht hat,
und so sind die Theorien vom menschenwürdigen Dasein, so ist die Lehre des
Materialismus höchlichst willkommen. Diese Lehren haben die Sozialdemokratie
nicht gemacht, aber sie haben die vorhandenen bösen Triebe genährt und gro߬
gezogen. Der Materialismus ist die Religion der krassen Selbstsucht, es ist
sehr begreiflich, daß ihr jene versetzten, unzufrieden und begehrlich gemachten
Leute mit Begeisterung zufallen. Hier ist es wieder nicht die gedrückte Lage
des Arbeiters, der Kampf ums Brot, um den es sich handelt, sondern ein
sittlicher und religiöser Schade, der einesteils ans dein Boden des Sozialismus
erwachsen ist, andernteils dem Sozialismus die Wege bahnt. Es sind also
Dinge, die die Kirche sehr wohl angehen, ja vielleicht mehr und unmittelbarer
als deu Staat. Man sieht es bei der gegenwärtig vorliegenden Gewerbegesetz¬
uvvelle. Schon wenn er die Sonntagsarbeit verbietet, tritt der Staat auf
kirchliches Gebiet, noch mehr, wenn er sich bemüht, die Autorität der Eltern
einer zucht- und pietätlosen Jugend gegenüber zu stärken. Aber man sieht
auch, daß der Staat auf diesem Gebiete, wenn er nur mit Gesetzen und Straf-
bestimmungen vorgeht, ziemlich wehrlos ist. Ich bin neugierig, welche Para¬
graphen schließlich zutage kommen werden, aber fest überzeugt, daß sie wenig
nützen werden.
Aber die Kirche soll helfen. Der Kaiser hat es gesagt, und an eines
Kaisers Wort soll mau nicht drehn noch deuteln. Wir thun es auch uicht,
sind vielmehr ganz sicher, daß des Kaisers Wort mehr als ein bloßes Wort sei,
daß es nicht mir einen Willen, sondern auch einen Weg bedeute. Inzwischen
steht doch noch vieles im Wege; wie viel, das läßt ein Artikel der „Nord¬
deutschen Allgemeinen Zeitung" erkennen, worin die Geistlichen im Dienste des
Staates zu desto treuerer Seelsorge aufgefordert und alle die Vereine und
Anstalten aufgezählt werden, die der innern Mission dienen. Der Artikel giebt
einer Anschauung Ausdruck, wie sie in weiten Kreisen der Gebildeten und
namentlich auch in denen der höhern Beamtenkreise herrscht. Sie bewegt sich
in der schon früher bezeichneten Denkgewohnheit, sich mit den Dingen schnell
abzufinden, indem man sie einfach begrifflich aneinander reiht. Also: Mit¬
wirkung der Kirche, Seelsorge der Geistlichen, kirchliche Institute, siud vor¬
handen — fertig! Man hat nnr nötig hinzuzufügen: Auf auf, ihr Herren,
ihr machts euch zu bequem; tummelt euch, springt an!
Als ob es darau läge! Die Aufgabe der Kirche liegt in der Richtung
der staatlichen Aufgabe«, aber sie deckt sich nicht mit ihnen. Was die Kirche
an Seelsorge übt, was sie an Werken und Anstalten ins Leben ruft, thut sie
in eigner Sache; ja alle diese Arbeiten haben nur Sinn, insvfem sie Sache
der Kirche sind. Die Reihe kirchlicher Anstalten ist lang, was ein Mitteln und
Kräften aufgewendet wird, ist nicht unbedeutend, aber der Erfolg ist im Ver¬
hältnis zur Aufgabe verschwindend klein. Es sind immer nur einzelne, die
gerettet oder bewahrt oder gepflegt werden können. Das muß der Kirche ge¬
nügen; sie hat es mit der einzelnen Seele, mit dem „Nächsten" zu thun. Der
Nächste ist aber der, den sie erreichen kann und der sich erreichen läßt. Was
aber die Seelsorge betrifft, so möchte ich wohl wissen, ob so viele, die das
Wort brauchen, auch wissen, was Seelsorge sei. Seelsorge ist ein geistlicher
Rat, der nur dem gegeben werden kann und darf und nur bei dem hilft, der
sich beraten läßt. Seelsorge kann sich mir auf die noch kirchlichen Bestandteile
der Gemeinde beziehen. Versteht man aber unter Seelsorge eine persönliche
Thätigkeit in der Gemeinde, so kann man sich bei einiger Gerechtigkeit nicht
beklagen, daß es daran fehle. Truge Leute giebt es natürlich in jedem Stande;
im allgemeinen kann man sagen, daß es an Arbeit der Geistlichen außerhalb
der Kirchenmauern keineswegs mangelt, daß vielmehr eine gewisse hastige Viel¬
geschäftigkeit Platz gegriffen hat, der man einige Sammlung und Beschränkung
empfehlen könnte. Wenn nun diese Thätigkeit nicht das bewirkt, was man
hoffte, so liegt das daran, daß, wo sie besonders nötig ist, das heißt in den
großen Gemeinden, die Kräfte nicht entfernt ausreichen, und daran, daß sie
ihrer Natur nach in den Kreisen, wo sie Einfluß ausüben sollte, nicht wirken
kann. Da, wo der Einfluß der Sozialdemokratie beginnt, hat der der Kirche
längst aufgehört. Auch wird eine väterliche Vermcihnung dort, wo das Haus
seine Schuldigkeit nicht thut oder da, wo die Werkstatt oder die Mitarbeiter¬
schaft eine erdrückende Herrschaft auf den Einzelnen ausübe«, wenig ausrichten.
Der Lehrling oder Geselle wird so lauge geschunden, bis er mit in das Horn
der Führer stößt, der ordentliche Arbeiter, der es ablehnt, sozialistische Schriften
zu lesen und zur Streikkasse beizusteuern, wird einfach weggebissen. In diesen
Kreisen hat die Kirche nichts zu suchen, solchen Mitteln hat sie nichts gleich¬
wertiges entgegenzusetzen. Sie hat ihre Schuldigkeit gethan, wenn sie lehrte
und Warute, so lange die Leute noch zugänglich waren.
Ganz anders gestaltet sich die Aufgabe des Staates. Die staatliche Auf¬
gabe empfängt ihren Umfang durch die Grenzpfühle und die Bevölkerungsziffer.
Der Staat kann die Grenze seiner Thätigkeit nicht enger ziehen, als seine eignen
Grenzen sind, er hat es selbst mit denen zu thun, die sich außerhalb der Ge¬
setze stellen. Wenn also die Kirche helfen soll, und wenn diese Hilfe etwas
schaffen soll, so heißt das: die Kirche soll sich an diesen weitern Aufgaben
des Staates beteiligen, denn ihre eigne Arbeit macht sie doch so wie so.
Eine solche Beteiligung wäre etwas ganz natürliches, wenn die Dinge so
geblieben wären, wie sie zur Zeit der Nieformation waren. Damals wurde
bei der Gründung der evangelischen Kirche der christliche Staat gleichsam als
Vorhof der Kirche angesehen. Er hatte die Verwaltung der weltlichen Ge-
rechtigkcit, des nlttestamentlichen Gesetzes, und die Kirche verwaltete das Evan¬
gelium. Der christliche Staat war die Voraussetzung der evangelischen Kirche,
die darum auf eine selbständige Organisation verzichten konnte. Es wäre
besser gewesen, sie hätte nicht verzichtet. Denn nun fehlt diese Voraussetzung.
Im paritätischen Staate giebt es streng genommen keine Landeskirche, sondern
nur eine Kirche im Lande. Man kann also ernstlich fragen, ob die Kirche
die Aufgabe habe, sich an staatlichen Arbeiten zu beteiligen, und ob die Nei¬
gung vorhanden sei, mit dem Staate Hand in Hand zu gehen. Wollte die
Kirche gleiches mit gleichem vergelten, so könnte sie, von einer gewissen Bitter¬
keit bewegt, antworten: Du hast es ja so haben wollen, wie es gekommen ist,
nun sieh zu, wo du bleibst. Sie könnte wohl mit ihrer Hilfe zurückhalten in
der Erwartung, später desto dringlicher gebeten zu werdeu.
Die Kirche hat es schmerzlich empfunden, daß sie behandelt worden ist
wie ein Knecht, mit dem mau uicht viel Umstünde macht, weil man weiß, daß
er nicht kündigen werde. Es soll nicht verkannt werden, daß der Staat der
evangelischen Kirche Wohlthaten erwiesen hat, nnr hat der Herr Fiskus dabei
die alte, unliebenswürdige Gewohnheit nicht ablegen können, mit einer Hand
zu geben und mit der andern das Gegebene zurückzunehmen. Er hat zum
Beispiel durch die allerhöchste Verordnung vom 5. September 1877 die Ver¬
waltung der eignen Angelegenheiten der Kirche den kirchlichen Behörden über¬
wiesen, aber die dazu nötigen Mittel uur in kärglicher Weise bereitgestellt.
Er hat der Kirche eine Art von eigner Verwaltung gestattet, kommt aber hernach
als fiskalischer Patron und nimmt sie wieder zurück, indem er zwar als
staatliche Behörde nicht mehr sein Regiment übt, sondern nunmehr als
Patronatsbehörde, und zwar in einer Weise, daß die kirchliche Verwaltung völlig
lahmgelegt wird. Wenn jetzt die städtischen Patronate und die Privatpatrone
in gleicher Weise vorgingen, so bliebe von einer Selbstverwaltung der Kirche
nicht mehr viel übrig. Eben jetzt, wo es heißt, wir brauchen die Kirche, und
nachdem der Landtag zwar nicht viel, aber doch etwas für die Superintendenten
gethan zu haben glaubt, verwandelt eine Ministerialverfügung vom 8. Januar
dieses Jahres die den Superintendenten zugedachte Wohlthat in ihr Gegenteil
und erregt in allen davon betroffenen Kreisen einen wohlbegründeten Unmut.
Als die Schulaufsicht auf den Staat überging, wurde von den Superintendenten
geltend gemacht, daß sie doch wohl bei ihren Dienstreisen um auch nach dem
Satze der Staatsbeamten liquidiren könnten. Nein, hieß es, in Bezug auf die
Liquidation ist alles beim alten geblieben. Schön, es blieb also der veraltete
Satz in Wirksamkeit. Immerhin blieb noch ein Weniges übrig, sodaß die
Superintendenten für ihre Arbeitslast wenigstens in dieser Form ein geringes
Einkommen hatten. Nachdem nun der Landtag eine runde Summe für die
Superintendenten bewilligt hat, doch wohl in der Meinung, daß die Super-
intendenten diese Zuwendung mehr haben sollten als zuvor, und daß die Gabe
nicht an besondre Bedingungen geknüpft werden dürfe, verfügt der Herr Minister
die Auszahlung einer Remuneration von etwa 200 Mark, bestimmt aber
zugleich, daß von den Gemeinden keine Fuhrkosten mehr erhoben werden dürfen.
Durch diese Wohlthat sind die Superintendenten in die Lage versetzt, aus ihrer
Tasche zu den Kosten ihres „Ehrenamtes" zuzuschießen. Denn es liegt doch
auf der Hand, daß diese Summe uicht einmal für die Fuhrkosten ausreicht,
geschweige denn für Vüreau- und Nebenkosten. Diese großartige Zuwendung
wird von der Negierung — oder ist es der Herr Minister selbst — an eine
Bedingung geknüpft, die die Superintendenten als ebenso verletzend wie be¬
drückend empfinden müssen, sie erhalten die Remuneration nur unter der Be¬
dingung, daß sie sich ausdrücklich verpflichten, jede der unter ihre Aufsicht
gestellten Schulen jährlich mindestens einmal gründlich und außerdem nach
hervortretendem Bedürfnisse zu revidiren.
So behandelt der Staat die Männer, die in selbstloser Arbeit mit dem
größten Teile ihrer Kraft dem Staate dienen. Es wäre ein interessantes
Schauspiel, wenn von den Herren Superintendenten in größerm Umfange einmal
eine Arbeitseinstellung bewirkt würde. Und wem kommt es zu gute? Die
ländlichen Gemeinden sollen einmal wieder „entlastet" werden. Wer einem
Bauer etwas schenkt, thut ihm das größte Unrecht, und wer auf Verständnis
oder Dank für die Gabe rechnet, irrt sich. Denn da der Bauer selbst nur
thut, was er muß, setzt er bei einer Gabe, die ihm freiwillig gegeben wird,
einen Zwang oder mindestens einen Vorteil auf Seiten des Gebers voraus.
Dies sind nur ein paar Beispiele; es ließe sich noch viel über diesen Punkt
sagen. Es ist also nicht zu verwundern, wenn ein Liebeswerben des Staates
bei der Kirche sehr gemischten Gefühlen begegnet, und wenn die natürliche
menschliche Empfindung geneigter ist, nein als ja zu sagen. Trotzdem steht
außer aller Frage, daß alle die Männer, die Grund haben, sich über eine un¬
freundliche und fast geringschätzige Behandlung durch den Staat zu beklagen,
sogleich bereit sind, ihre Kräfte dein Vaterlande zu widmen, wenn das Vater¬
land dieser Kräfte bedarf. Nur fragt es sich, ob die Kirche, was sie wohl
möchte, auch noch kann. Das ist die ernstere Frage.
Die Kirche soll helfen, aber man ist seit dreißig Jahren bestrebt gewesen,
die Kirche aus der öffentlichen Welt zu verdrängen und sie zu einem Privat¬
institut herabzudrücken. Und das ist ja auch so ziemlich gelungen. Die kirchen-
feindliche Strömung ist vom Staate nicht geschaffen worden, aber er hat sich
von ihr treiben lassen. Fassen wir nur ein kleines Stück der staatlichen
Gesetzgebung ius Auge, deren Wirkung es war — wir wollen uicht sagen:
deren Absicht es war, denn die bewußte Absicht, die Kirche zu schädige», lag
sicher nicht vor —, den Einfluß der Kirche zu beschränken und auch aus den
Geschäften zu verdrängen, die am besten und natürlichsten in ihrer Hand
lagen. Zu Anfang der siebziger Jahre kam das Schulaufsichtsgesetz, worin
bestimmt wurde, daß die Kirche nur im Auftrage des Staates die Schule
beaufsichtigen dürfe. Es ist ja mir eine Form, hieß es. Aber es ist mehr
als eine Form, wenn die Meinung eine gesetzliche Begründung erhält: Du
Pastor hast uns als Pastor nichts zu sagen, und wenn Magistrate, Stadt-
schulräte, weltliche Schnlinspektvren und Schulvvrstände, in denen der Schulze
das inöinornni pr-uzoiprium ist, zwischen Kirche und Schule treten. Dann kam
das Zivilstnudsgesetz, dessen Notwendigkeit in ländlichen und konfessionell
ungemischten Bezirken auch hente noch unauffindbar ist, und das besonders
durch die überhastete Art, mit der es eingeführt wurde, unendlichen Schaden
angerichtet und die Kirche um Millionen gebracht hat. Es war allen Ernstes
im Volke die Meinung verbreitet, der Kaiser wolle die kirchliche Trauung nicht
mehr. Später sah man den Zivilakt als die billigste Klasse der Trauung an,
was zur Folge hatte, daß die städtischen Diakonen, die ans das Einkommen
aus Stolgebühreu angewiesen sind, ans ihr Einkommen verzichten mußten.
Welcher Stand hat für sein Amt solche Opfer gebracht wie die Geistlichen und
besonders die städtischen Geistlichen! Und der Staat hats verschuldet. Die
neue Armen- und Waiseugesetzgebung brachte für die Geistlichen, die früher
von Amts wegen Mitglieder der Kommissionen waren, die Erlaubnis, sich wählen
zu lassen. Natürlich wurden sie da, wo es besonders nötig gewesen wäre,
nicht gewählt. Ihr müßt euch bemühen, hieß es hinterher, seht zu, wie ihr
zur Hinterthür wieder hineinkommt! Das ist doch der reine Hohn. Die staat¬
liche Rechtspflege und Gesetzgebung war recht eigentlich darauf eingerichtet,
der Kirche das Leben schwer zu macheu und ihr den Boden nnter den Füßen
wegzuziehen. Mau beklagt sich, daß die Zügellosigkeit der heranwachsenden
Jugend zunimmt — der Staat setzt das Mündigkeitsalter herab; man sieht
aufs deutlichste, daß der Verfall der Sitten reißende Fortschritte macht — der
Staat beseitigt einer juristischen Theorie zuliebe (juristische Theorien sind
übrigens sehr wandelbar und meist nur Gegenbilder praktischer Gewohnheiten)
die vorbeugenden Gesetze, um die nachfolgenden Strafen zu verschärfen. Als
ob durch eine Strafe irgend etwas gut gemacht würde! Man giebt uuter dem
Einflüsse von Laster und Genossen allen: möglichen Schwindel und aller
möglichen Unsitte weiteste Grenzen, richtet aber durch unerhörte Straf-
bestimmungen über die Verbalinjurie die ganze Schärfe des Gesetzes gegen die,
die sich einfallen lassen könnten, ein offnes, wahres Wort zu reden. Diese
Paragraphen richten sich also gegen die Leute, die das redende Gewissen des
Volkes sein sollen, sie kommen durch eine Überspannung des Begriffes der
Beleidigung, einer Versündigung an dem. Gewissen des Volkes fast gleich.
Zuletzt kommt der Kanzelparagraph, dieses reizende Erzeugnis eiuer Gesetzgebung,
me klärlich ab ÜAw gemacht ist, ein Paragraph, der nichts verhütet hat, der
kaum ein halbes Dutzend mal angewendet worden, aber im Volke von ver¬
hängnisvoller Wirkung gewesen ist: Seht ihrs, auch auf der Kanzel hat der Pastor
nichts mehr zu sagen. Dagegen erweist sich der Staat als zu schwach, eine
Presse in Zucht zu nehmen, die in der Vergiftung des Volkes täglich großes leistet.
In der Gesetzgebung und der Verwaltung des hinter uns liegenden Zeit¬
abschnittes hat der Staat der Kirche gegenüber offen und versteckt zu erkennen
gegeben: Wir brauchen euch nicht. Und das Volk spricht mit Massettv: Habs
verstanden, Habs verstanden. Wenn sich nun die Meinung ändert und die
Losung ausgegeben wird: Die Kirche soll helfe», so ist damit das geschehene
nicht ungeschehen gemacht. Man hat die Kirche aus dem öffentlichen Leben ver¬
drängt, man hat ihr die Massen entfremdet, man muß sie also erst rehabilitireu,
wenn mau eine erfolgreiche Wirksamkeit von ihr erwarten will. Das ist es,
was zu thun ist, nicht aber die Geistlichen zu umso treuerer Pflichterfüllung
zu ermahnen. Denn das würde ungefähr auf die Methode jenes Pharao
von Ägypten hinauslaufen, der den Kindern Israel das Stroh entzog, das sie
zum Ziegelbrennen brauchten, und sie hernach zu desto treuerer Pflichterfüllung
anhielt. Die Geistlichen haben in diesen ungünstigen Jahren nicht geschlafen.
Man weiß es zu wenig zu würdigen, aber man wird es ihnen vielleicht später
noch danken, was sie in mühsamer und undankbarer Arbeit in dieser Zeit
gerettet und zusammengehalten haben. Jetzt sollen sie sich daran beteiligen,
verlorenes Land wieder zu gewinnen, aber möglich wird das erst dann sein,
wenn das, was bisher ein Hindernis ihrer Wirksamkeit war, beseitigt wird.
Die Anforderung ist nicht zu groß. Zunächst freilich ist es nötig, die
Meinung zu beseitigen, als könne man der Kirche in dein bevorstehenden Feldzuge
gleichsam die Rolle des Schlachtenbummlers zuweisen. Die Arbeit des Roten
Kreuzes hat sich in Form der Freiwilligkeit 1870 nicht besonders bewährt.
Für die Zukunft hat man die freiwillige Krankenpflege ordentlich eingereiht.
Etwas ähnliches wird geschehen müssen, wenn sich die Kirche an der Besserung
sozialer Nöte beteiligen soll. Man wird nicht bloß durch schöne Worte, sondern
durch die gesetzgeberische That die Meinung aussprechen müssen: Wir brauchen
euch und wir wollen euch haben.
Euch, die Kirche! Was ist die Kirche, die hier in Frage kommt? Die
kirchlichen Behörden sind es nicht, mögen sie auch noch so treffliche Hirtenbriefe
erlassen, die Synoden sind es auch uicht, mögen sie auch noch so gründlich
die vorliegende Frage beraten und noch so eifrig Beschlüsse fassen; es ist das
Pfarramt, es sind die dem Pfarramt nahestehenden kirchlich lebendigen Gemeinde¬
glieder, die gewillt sind, etwas zu opfern und etwas zu thun. Denn was im
Volke gearbeitet wird, geschieht „vor Ort." Das Volk kaun uicht von oben
beglückt werden.
Wir stellen hier wieder die Frage: Was ist denn die Aufgabe? Wir
gaben bereits im vorigen Aufsatze die Antwort: Die Aufgabe ist im letzten
Grunde eine pädagogische, und zwar eine volkspädagogische. Zur Wahrung
seiner Autorität durch die äußere Macht, zur ausgleichende!« Gerechtigkeit, zur
eigentlichen Sozialgesetzgebung braucht der Staat die Kirche nicht; will er aber
dem. Übel an die Wurzel gehen, will er heilen, will er die aus den Fugen
gegangene Gesellschaft neu ordnen, will er seinen Einfluß zu Gunsten der Zucht,
der Sitte, der Ordnung, der Wirtschaftlichkeit geltend machen, so kann er die
Hilfe der Kirche nicht entbehren. Eine Gesetzgebung, die sich mit solchen
Dingen abgiebt, hält mancher sür unmöglich; aber nur werden sie ja doch
haben, jn wir haben sie zum Teil schon jetzt. Nun aber braucht jedes
Gesetz, um zur Wirkung zu kommen, der ausführenden Organe; wo diese
Organe nicht vorhanden find, oder wo die Ausführung ungeeigneten Organen
übertragen wird, bleibt der beste Wille und die weiseste Vorschrift tot. Für
alle gesetzlichen Regelungen, die sich auf die Besserung der Sitten des Volkes
beziehen, ist das Pfarramt das gewiesene ausführende Organ. Man hat höchst
unwirtschaftlich gehandelt, daß man die Pfarrer als entbehrlich beiseite ge¬
schoben und alles den Landräten und Amtsvvrstehern aufgehalst hat. Jn den
Pfarrern könnte der Staat, wenn er wollte, eine große Zahl von Helfern
haben, denen er bestimmte Wirkungskreise aufthun müßte. Wie wir uns das
denken, davon soll später noch die Rede fein.
Um dahin zu kommen, müßte sich noch manches ändern. Es müßte an
maßgebender staatlicher Stelle etwas mehr Wärme für das Volk, dem geholfen
werden, und für die Kirche, die helfen foll, vorhanden sein. Wir hoffen, daß
die neue Sonne in jenen nach unserm Gefühle etwas eisigen Höhen eine be¬
lebende Wirkung üben werde. Es müßte in der Gesetzgebung die Überzeugung
durchdringen, daß gründlich gebessert werden muß, wenn etwas besser werden
foll, es müßte in jenen Kreisen, die mit klugem und kühlem Rate zur Hand
sind, eingesehen werden, daß es nicht auf Worte, sondern auf Thaten ankommt,
und daß es unmöglich ist, das Volk „religiös" zu machen, wenn nicht die,
die um hervorragender Stelle stehen, selbst mit gutem Beispiele vorangehen.
ein Erlaß Kaiser Friedrichs an den Reichskanzler vom 12. März
1888 reihen sich die neuern Kronbefehle Kaiser Wilhelms II. an
das Kadetten- und das Offizierkorps an. So verschieden in ihrem
Inhalt diese Äußerungen sein mögen, so stehen sie doch in einem
innern Zusammenhange. Sie gehen aus von dem Gedanken, daß
durch die Erziehung bestimmte Wirkungen für das gesellschaftliche Leben im
allgemeinen wie für einzelne Berufszweige im besondern erwartet werden können.
Und das erscheint bei den Hohenzollern nicht wunderbar, wenn man sich des
bekannten Ausspruchs Friedrichs des Großen erinnert: „Wer die Menschen
für gut hält, der kennt diese Nasse nicht; denn die menschliche Gattung, sich
selbst überlassen, ist brutal; bloß die Erziehung vermag etwas." Kant wieder¬
holte den Gedanken mit den Worten: „Der Mensch kann uur Mensch werden
durch die Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht."
Seit Plato verkündete: Es giebt nichts Göttlicheres als die Erziehung,
hat man in immer neuen Tonarten die Macht der Erziehung gepriesen und
von ihrem Einfluß alles erwartet. Ja man sprach es geradezu aus: Das
Schicksal eines Volkes, seine Blute wie sein Zerfall hängen im tiefsten Grunde
von der Erziehung ab, die der Jugend zu teil wird. Die Verwirklichung seiner
sozialen Ideale hoffte Plato von dem Aufsteigen des heranwachsenden Geschlechts
zu höhern Stufen. Gleich ihm wollte Rousseau eine Erneuerung der Gesell¬
schaft durch die Verbesserung von Erziehung und Unterricht herbeiführen, in
Übereinstimmung mit dem Leilmizschen Satz: 8i 1'on, rtzkornrg.it I'väuo-Mon, l'on
rvkornrtzrait I«z g-fürs Iiunmin. Wie Fichte, die Pestalozzischen Ideen ausgreifend,
die Wiedergeburt der Nation auf Grund eiuer neuen Nationnlerziehuug er¬
wartete, ist bekannt. Ähnlich hatte Luther verlangt, daß die Reformation der
Kirche mit den Kindern beginnen müsse. Ähnlich ist die Hoffnung der Vater-
landsfreunde im Elsaß auf das heranwachsende Geschlecht gerichtet. Und in
gleicher Weise erwartet man in der Gegenwart von der Erziehung der Jugend
einen neue» Aufschwung im allgemeinen und im besondern die wirksamste Hilfe
gegen das Umsichgreifen sozialistischer Theorien.
Das hängt ohne Zweifel mit der pädagogischen Zeitströmung zusammen,
die, wie vor hundert Jahren, mit der sozialen Frage in den Mittelpunkt des
Interesses gerückt ist. Konnte sonst die warme Aufnahme von Schriften wie
Rembrandt als Erzieher, Güßfeldt, Die Erziehung der Jugend und vieler
andern begreiflich erscheinen? Und würden sonst kaiserliche Erlasse und Krvn-
befehle eines Gebietes gedenken, gegen das sich die höchsten Zentralstellen
unsrer Bildung, die Universitäten, ablehnend Verhalten?
Mit dem Vordrängen der sozialen Frage aber wurde zugleich die päda¬
gogische aufs Schild erhoben. Deshalb hieß es in dem Erlaß Kaiser Friedrichs:
„Mit den sozialen Fragen eng verbunden erachte ich die der Erziehung der
heranwachsenden Jugend zugewandte Pflege. Muß einerseits eine höhere Bil¬
dung immer weitern Kreisen zugänglich gemacht werden, so ist doch zu ver¬
meiden, daß durch Halbbildung ernste Gefahren geschaffen, daß Lebensansprüche
geweckt werde», denen die wirtschaftlichen Kräfte der Nation nicht genügen
könne>?, oder daß durch einseitige Erstrebung vermehrten Wissens die erziehliche
Aufgabe unberücksichtigt bleibe. Nur ein auf der gesunden Grundlage von
Gottesfurcht in einfacher Sitte aufwachseudes Geschlecht wird hinreichend
Widerstandskraft besitzen, die Gefahren zu überwinden, welche in einer Zeit
rascher wirtschaftlicher Bewegung durch die Beispiele hochgesteigertcr Lebens¬
führung einzelner für die Gesamtheit erwachsen."
In diesem Erlaß spiegeln sich einige der Mächte wieder, die auf die Er¬
ziehung des heranwachsende!? Geschlechts bestimmend einwirken. Denn wenn
einerseits eine planvolle Erziehung auf dem Verhältnis zwischen Erzieher und
Zögling beruht, so macht sich anderseits als ebenso grundlegend und einflu߬
reich das Verhältnis von Geschlecht zu Geschlecht geltend. Nur daß hier von
einer planvollen Thätigkeit nicht die Rede sein kann. Hier findet Assimilation,
dort Erziehung statt. Welches ist die stärkere Macht? Bald scheint das eine,
bald das andre das Übergewicht zu haben. Die Erziehung sollte die stärkere
Macht sein; sie sollte alles das in sich vereinigen, was an guten Einflüssen
in der Gesellschaft wirksam ist, sie sollte alles in sich auflösen, was an schlechten
Wirkungen von dem ältern Geschlecht ausgeht. Oft auch birgt eine hoch will¬
kommene Strömung Gefahren in sich. So brachte der Aufschwung, den
unser Volk seit der nationalen Einigung auf allen Gebieten menschlichen Denkens
und Handelns genommen hat, ein erneutes Nachdenken, eine vertiefte Betrach¬
tung der großen Erziehungsfragen mit, von deren richtiger Beantwortung das
Gedeihen des Ganzen im wesentlichen abhängt. Dabei scheut aber der deutsch-
nationale Gedanke nicht davor zurück, alles Fremde von unsrer Bildung aus¬
zuscheiden, namentlich auch die klassische Grundlage unsrer höhern Bildung
aus den Gymnasien zu entfernen, um sie auf deu Besitz weniger Gelehrten
einzuschränken. Das sind Krisen, die bei jeder Entwicklung hervortreten, sobald
diese ein rascheres Tempo annimmt. Sie sind nicht ohne heilsame Wirkung,
insofern sie auf eine erneute Untersuchung der Lebenssäfte hinweisen, die den
Körper der Nation durchziehen, zu dem Zwecke, alle krankhaften Erscheinungen
auszustoßen. Allerdings darf die Nation in den Krisen nicht stecken bleiben,
sie muß sie überwinden, sonst geht sie zu Grunde, so gut wie der Einzelne,
der einer Krisis, sei es ans geistigem, sei es ans körperlichem Gebiet, nicht den
nötigen Widerstand entgegenzusetzen vermag.
Am schärfsten spitzen sich die Krisen auf sozialem Gebiete zu, nicht uur
soweit diese die wirtschaftlichen, sondern auch die Kulturverhältnisse im engern
Sinne betreffen. Wie große Reformen hier bei uns eingeleitet worden sind,
dürfen wir rühmend hervorheben. Eingeleitet — noch lange nicht vollendet.
Das Ringen des vierten Standes nach materieller Hebung in Verbindung mit
einer Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse steht im Vordergründe
der geistigen Bewegung. Wird sie auch zur Zeit von vielen noch nicht be¬
griffen, weil sie sich von liebgewordenen Vorurteilen nicht trennen können, so
wird die soziale Frage kraft ihrer innewohnenden Bedeutung und ihrem drohenden
Ausblicke sich immer stärker aufdrängen.
Wie das Kaisertum hier vorangegangen ist, weil es die Zeichen der Zeit
versteht, ist schon mehrfach hervorgehoben worden. Daß es nun auch zu den
sozialen Fragen die Aufgaben der Erziehung in innige Beziehung setzt, zeugt
von tiefer staatsmäunischer Einsicht. Denn die auf die Verbesserung der
materiellen Lage der arbeitenden Klassen gerichteten Bestrebungen treffen, so
notwendig und unabweisbar sie sind, doch nur zunächst das Äußere. Die
innere Zufriedenheit, die Aussöhnung mit ihrem Geschick und mit der Leitung
des Staatswesens, dem sie sich als unentbehrliche Glieder einordnen, kann den
arbeitenden Klassen nur daun wahrhaft und dauernd gebracht werden, wenn
sich mit der Hebung der äußern Lage eine sorgfältige, den Verhältnissen an¬
gepaßte Erziehungsweise und eine vernünftige Pflege der geistigen Interessen
verbindet.
Das letztere wäre ohne Zweifel Pflicht der Kirche, vor allem der evange¬
lischen. Und wirklich erinnert sich diese auch in neuerer Zeit dieser Pflicht.
Es beginnt auch bei dem liberalen Teil ihrer Beamten die Überzeugung zu
dämmern, daß mit der Sonntagspredigt doch uur ein kleiner und recht un¬
wesentlicher und unwirksamer Teil ihres Berufes erledigt sei. Denn wenn
auch alle Geistlichen, nicht bloß einzelne, mit Engelzungen redeten, was nützt
es denn, da die davon nicht berührt und beeinflußt werden, die in erster Linie
davon getroffen werden sollten? So lange die Herren ihren Schwerpunkt nicht
in die Seelsorge legen, so lange sind sie wohl Diener des Wortes, aber nicht
Diener der That. Nachdem die evangelische Kirche Jahrhunderte lang gepredigt
hat, möchte sie nun auf einige Jahrzehnte thatkräftig handeln. Nach dieser
Seite hin könnte ein vielgeschmähter Maun seinen Amtsbrüdern immerhin als
leuchtendes Beispiel dienen!
Mit der Kirche aber wäre die Volksschule berufen, zu arbeiten, die idealen
Interessen so fest zu begründen, daß sie nicht bei dein ersten besten Windstoß,
den das Leben bringt, sofort umgeworfen werden. Sie hat ja die Jugend
eine Zeit lang in der Hciud, vom sechsten bis zum sechzehnten Jahre, wenn
wir die Fortbildungsschule mit dazu rechnen. Sollte sie in den zehn Jahren
nichts erreichen können? Sollte sie sich ganz machtlos erweisen gegenüber den
zerstörenden Einflüssen, mit denen das ältere Arbeitergeschlecht das heran¬
wachsende zu zersetzen sucht? Wir sind überzeugt, daß sie nicht machtlos ist.
Nur muß sie es aufgeben, in der Menge der Wissensstoffe, im religiösen wie
in dem profanen Unterricht, das Heil zu erblicken. Die Masse thuts wahrlich
uicht. Aber so verblendet ist das Schulregiment immer noch, daß es alles
eingepaukte Wissen ohne weiteres für Kraft hält, während es doch uur die
Fracht von hundert Kameelen bedeutet, die abgeworfen wird, sobald das Ziel
erreicht ist. Auch hier gilt es, wenn etwas erreicht werden soll, mit manchem
alten, unbrauchbar und darum schädlich gewordenen zu brechen und ein Neues
entsprechend deu neuen Verhältnissen zu bauen.
Welch entzückender Ausblick eröffnet sich in dem Gedanken, daß eine Er¬
ziehungsform oder ein Erziehungssystem gefunden werden könnte, das imstande
Wäre, die blutenden Wunden der Gesellschaft zu heilen, die klaffenden Nisse zu
schließen, die offenen Schäden zu beseitigen und einem neuen Geschlecht ein
neues, schöneres Zeitalter zu verheißen! Nicht wenige freilich mögen sich mit¬
leidig lächelnd von solchem Optimismus abwenden. In pessimistischer Ver¬
stimmung spotten sie des Gedankens an eine glücklichere Zukunft. Mag das
Rad, so seufzen sie resignirt, das einmal in: Rollen begriffen ist, ruhig weiter
laufen! Wo der Glaube an die Zukunft verloren gegangen ist, da braucht
man sich allerdings nicht zu bemühen um die Frage, was aus dem kommenden
Geschlecht werden soll. Wo aber die Überzeugung fest wurzelt, daß die Er¬
ziehung etwas vermag, indem sie glückverheißende Anfänge zur Blüte bringt
und vordringende Schäden vorsorglich eindämmt, da wird dieser Glaube in
Wahrheit auch Berge versetzen. Jede gründliche und haltbare Reform des
Gesellschaftslebens ist nur in einer planvollen und stetigen Hebung der Volks¬
kultur zu suchen. Hier ist immer und immer wieder der Hebel anzusetzen.
Erlahmt die Kraft, ist sie nicht ausreichend, dann ist kein Halten auf der ab¬
schüssigen Bahn, dann war es zu spät. Daher muß bei Zeiten dafür gesorgt
werden, es darf keine Lücke in der Fortbildung entstehen, weder zu langes
Ausruhen ans den erworbenen Schätzen, noch ein zu hastiges, überstürztes Vor¬
wärtsdrängen. Immer und überall wird es sich aber rächen, wenn eine Be¬
wegung, die sich von innen heraus geltend macht, künstlich eingedämmt wird.
Deshalb forderte der Erlaß Kaiser Friedrichs mit Recht, daß eine höhere
Bildung immer weitern Kreisen zugänglich gemacht werden solle. Denn der
mittelalterliche Standpunkt einer künstlichen Einengung und Zurückstauung der
Volksbildung ist dem einsichtigen staatsmännischen Blick gegenüber nicht mehr
haltbar. Überdies birgt sie die größten Gefahren in sich. Wie der Strom,
der künstlich aufgehalten sich in seinem ruhigen Fortgang gehemmt fühlt, nach
und nach immer mächtiger anschwellend die Ufer überströmt und Verheerung
bringend sich in die fruchtbaren Fluren ergießt, so wird auch die Volksbildung,
wenn sie künstlich zurückgehalten und gehemmt wird, eiues Tages die gezogenen
Schranken durchbrechen und alles mit sich fortreißen, was ihr in den Weg
tritt. Darum sorgt eine weise Staatsregierung für ein gesundes, stetiges
Wachstum, ohne Übereilung, ohne Überstürzung, vor allem auch ohne einseitige
Bevorzugung eines der Interessen, die den menschlichen Geist erfüllen. Hieraus
vor allem, aus der Einseitigkeit, geht die Halbbildung hervor, vor der der
kaiserliche Erlaß so eindringlich warnt. Wird die Bildung des Verstandes in
den Bordergrund gestellt — und der übliche katechetische Unterricht läuft
wesentlich nur auf eine Verstandesübnng hinaus —, wird dadurch die Pflege
des Gemütes und des Willens überwuchert, so kann das Ergebnis nur eine
traurige Halbbildung sein. Wo die Gymnasialbildung nur in der grammatische!,
Beherrschung der alten Sprachen mittels der berüchtigten Extemporalien gipfelt,
da kann nach der formalen Seite hin wohl Vorzügliches geleistet werden, aber
in Dingen des Geschmacks eine krasse Lücke sein. Bei aller sogenannten gelehrten
Bildung ist der Zögling ein Barbar, insofern ihm wesentliche Gebiete des
menschlichen Geistes ganz fremd bleiben. Und wo eine einseitige Erstrebung
vermehrten Wissens, namentlich auf dem Gebiete der Realien, stattfindet, auch
da entsteht nur Halbbildung, weil wertvollere Aufgaben unberücksichtigt bleiben.
Daß es nicht die Aufgabe der Erziehung sein kann, zweibeinige Enehklopädien
herzustellen, aus den Zöglingen Wissensspeicher zu machen, das wird hoffentlich
bald allgemeine Überzeugung werden; denn es kommt weit weniger darauf an,
wie viel Wissen sich der Schüler aneignet, als vielmehr darauf, daß er geistig
arbeiten lernt. In Dingen der Religion ist es aber so, daß das viele Memoriren
und Katechisiren nur zu oft alles religiöse Gefühl im Keime erstickt. Der
Mensch muß wirklich viel Religion haben, da der gewöhnliche theologische
Unterricht sie nicht ausrottet. Sehr wichtig ist ans dem gegenwärtigen Punkte
der geschichtlichen Entwicklung, daß in der Schule auf allen ihren Stufen die
zarte Pflanze der jugendlichen Frömmigkeit durch ein besonnenes Maßhalten
und ein verständnisvolles Anschmiegen an die kindliche Anschauungsweise mit
wahrhaft religiöser Vorsicht geschont werde. Gewiß ist nicht zu wenig
Religionsunterricht in den Schulen; eher ist zu wenig lebendige Religion in
den Lehrern. Und doch dürfte keine andre Kraft und Macht in der Welt den
Prüfungen, Gefahren und Versuchungen gewachsen sei», die die materielle
Kultur, sobald sie einen gewissen Höhepunkt erreicht hat, den Völkern bereitet.
Eine verweltlichte, konventionelle, in Dogmatismus erstarrte oder sonstwie
salzlos gewordene Kirche und Kirchlichkeit vermag es nicht; ebensowenig der
weltliche Idealismus, Bildung und Wissenschaft, Staatsgeist und Staats-
gesiunuttg. Es ist ein leerer Wahn, daß man ohne Zuziehung religiöser
Motive, sei es die Jugend, sei es das Volk, erziehen könne. Ohne solche bleibt
ein ungedeckter Rest in dem Suchen nach höchsten und letzten Beziehungen, den
man mit allem Predigen von Humanität und Menschlichkeit nicht decken kann.
Hier hat die Erziehung eine große Aufgabe. Sie soll mit dafür sorgen, daß das
alle andern überragende, schließlich allein durchschlagende religiöse Motiv die
weltbewegende Kraft wiedergewinne, in deren Schwächung der Mißbrauch der
Vernunft mit Glaubenssätzen, die ihr widersprechen, gewetteifert hat. Die
Schule muß darthun, daß wir noch Religion haben, daß wir noch Christen
sind, und daß wir es sein können, ohne uns den berechtigten Kulturstandpuukten
der Gegenwart irgendwie entfremden zu müssen. Es wird sich zeigen, ob die
Wahrheit des Christentums die Welt des Svzialdemvkrntentuius überwinden
kaun, das in seiner fanatischen Erfassung den Charakter einer religiösen Sekte
angenommen hat.
Ohne Zweifel wird nur ein auf der gesunden Grundlage von Gottesfurcht
in einfacher Sitte aufwachsendes Geschlecht hinreichend Widerstandskraft gegen
die unheimlichen Gewalten entwickeln können, die wie die nagenden Würmer
ein Agdrasils Esche den stolzen Leliensbanm unsers Volkes zu unterwühlen
drohen.
Aber der Schulerziehung allein kann diese schwierige Arbeit nicht über-
lassen werden. Wenn in der geistigen Arbeit, in dem Streben, die idealen
Güter der Menschheit zu mehren, das beste Gegengewicht gegen die Gefahren
liegt, die eine materielle Zeitströmung mit ihren Beispielen hochgesteigerter
Lebensführung Einzelner mit sich führt, so liegt hierin eine dringende Mahnung
an das ältere Geschlecht, und hier vor allem an die Besitzenden, deren Bei¬
spiel so unendlich fördernd, wie anderseits so unendlich verderblich auf die
breitern Schichten der Gesellschaft einwirken kann. Wie ganze Geschlechter in
die Fußtapfen der Knlturschöpfer eintreten, in ihnen Führer und Berater er¬
kennen, so hebt auch der Einzelne im täglichen Leben seinen Blick zu denen
empor, die über ihm stehen. Nach ihrem Vorbild formt er fein äußeres Leben,
ihr Handeln bestimmt sein sittliches Urteil, sein ganzes Thun. Was die Be¬
sitzenden denken und erstreben, thun und treiben, das pflanzt sich fort in leisen
Wellenschlügen bis in die untersten Volksschichten, bis in die entlegensten
Winkel. Ihr Verhalten wirkt bestimmend auf das wirtschaftliche und sittliche
Leben des Volkes. Schon Aristoteles nannte den Menschen das nachahmungs-
lustigste Geschöpf ('^Loo ^^.^i^x^oc^vo). In den besitzenden Gesellschaftskreisen
sucht das Volk fein besseres Ich verkörpert wieder. Darum ist es so empört,
wenn es das nicht sindet, sondern Zustünde, die mit seinem bessern Empfinden
in vollem Widerspruch stehen. Darum erwächst aber auch für die besitzenden
Kreise die Pflicht, allezeit sich der hohen, erzieherischen Aufgabe bewußt zu
fein, ihr gemäß zu denken und zu handeln. Sie haben viel versäumt und
viel gut zu machen. Wären sie allezeit ihrer Pflicht eingedenk gewesen, hätten
sie nicht in blutsaugerischer Weise die untern Stände für ihre materiellen
Interessen ausgebeutet, so wäre das, was wir Sozialdemokratie nennen, über¬
haupt nie entstanden.
Noch ist es nicht zu spät, wenn nur die obern Schichten immer mehr das
Bewußtsein durchdringt, daß man mit der erhöhten Stellung auch erhöhte
Pflichten übernimmt, insofern man den untern Schichten des Volkes als Er¬
zieher entgegentritt, um sie nach allen Seiten hin zu heben und zu fördern.
Ein großartiger Gedanke, der auch dem Erlaß Kaiser Wilhelms II. an die
Offiziere zu Grunde liegt, weittragend in den Folgen und schwierig in der
Ausführung, da er von jedem Einzelnen Opfer verlangt und Umbildung der
Gesinnung. Aber in ihm. eröffnet sich der Ausblick auf ein neues geistiges
Dasein. Denn in dem Bewußtsein, daß die höhere Kultur innerhalb des
Volkes sich nicht wie auf ein mir ihr zugehöriges Privileg zurückziehen darf,
sondern daß sie die tieferstehende zu sich emporziehen muß, entsteht eine Macht,
die zu einem wahrhaft geschichtlichen Prinzip anwächst, durch das die Fort-
bildung der kommenden Geschlechter ans lange bestimmt wird.
So werden im Schoße der Gesellschaft selbst Kräfte lebendig, die der
Volkserziehung eine bestimmte Richtung geben können. Die Schule legt den
Unterbau, möglichst fest, möglichst sicher, die Gesellschaft arbeitet mit und giebt
im Oberbau die Krönung des Gebäudes.
Alle Fürsorge um materielle Hebung des Volkes aber wird vergeblich
sein, wenn sich uicht die sorgsamste Pflege der geistigen, der idealen Interessen
damit verbindet. Die Besitzenden mögen sich uicht täuschen. Nicht durch
mühsam abgerungene Almosen wird die Gesahr beseitigt. Die Erziehung im
weitesten Sinne muß in den Vordergrund treten. Wer aber erziehen will,
muß selbst erzogen, muß vor allem darin mit sich einig sein, ob das Herz
oder ob der Geldbeutel den Schwerpunkt seines Lebens bilden soll. Die
Lösung der sozialen Frage möge man aber darin erkennen, daß der Beutel recht
erleichtert und das Herz recht beschwert werde, nämlich mit der Sorge um
alle Mühseligen und Veladenen, die man nicht durch chinesische Mauern von
sich absperren, sondern freudig aufsuchen und gern in allein Guten fördern soll.
le Andeutungen der Regierungsvertreter bei Gelegenheit der
Kommissionsberatnngen der neuen Militürvvrlage, „daß man
daran denke zur thatsächlichen Durchführung der bisher nur auf
dem Papier zu Recht bestehenden allgemeinen Wehrpflicht zu
schreiten," haben in weiten Volkskreisen eine große Überraschung,
um uicht zu sagen Verblüffung erzeugt. Darauf war man nicht gefaßt. Fast
durchgängig glaubte mau, die Militärverwaltung würde sich darauf beschränken,
die augenblicklichen Bedürfnisse zu decken und mit der Bewilligung des jetzt
geforderten, für eine Zeit lang wenigstens, zufrieden sein. Es ist anch nicht
zu leugnen, daß diesem Gefühl der Überraschung uach allem Vorangegangenen
eine gewisse Berechtigung innewohnt; das Volk war nachgerade an Flickarbeit
— im guten Sinne — gewöhnt worden. Dennoch kann das erwähnte Gefühl
als gänzlich unbegründet bezeichnet werden, wenn man die thatsächlich be¬
stehenden, ausschlaggebenden Verhältnisse ins Auge faßt.
Wer den Vorgängen auf militärischem Gebiet bei unsern Nachbarn im
Westen und Osten mit einiger Aufmerksamkeit gefolgt ist, dem muß die Not¬
wendigkeit eines solchen energischen Schrittes, eines entschiednen Überganges
zu ganzen Maßregeln klar sein.
Frankreich hat die allgemeine Wehrpflicht in Wirklichkeit durchgeführt; es
ist auf dem besten Wege, uns trotz seiner bedeutend geringern Bevölkerung in
der Zahl der ausgebildeten wehrfähigen Mannschaften beträchtlich zu Überholen.
Rußland schlägt uns darin schon längst, obwohl es die allgemeine Wehrpflicht
nicht durchführt, in absehbarer Zeit auch wohl kaum in die Lage kommen wird,
sie durchzuführen. Dem gegenüber wird eine Anspannung aller Kräfte für einen
etwaigen Krieg dringend notwendig. Was helfen aber Millionen waffenfähiger
Leute ohne militärische Ausbildung? So gut wie nichts, denn sie sind sür die
entscheidenden Schläge, die ganz gewiß im Beginn der Zukunftskriege fallen,
nicht verfügbar. Deshalb genügt es nicht, daß sie durch das Gesetz sür den
Kriegsfall bereit gestellt sind, sondern sie müssen auch im Frieden auf ihre
kriegerische Thätigkeit vorbereitet werden.
Aber neben diesem äußern Grunde mußten auch schwerwiegende innere
jeden, der sich mit derartigen Fragen beschäftigt, auf die jetzt von der Regierung
geplante Maßregel bringen.
Wir haben doch seit des unsterblichen Scharnhorst Tagen niemals auf¬
gehört, die Armee als die beste Volksschule zu betrachten. Dieser Gedanke
konnte vor andern, vor finanziellen Rücksichten zurücktreten, er konnte aber nicht
spurlos verloren gehen. Allerdings ist die allgemeine Wehrpflicht in Preußen
aus der Not des Augenblicks erwachsen, aber sie war und ist trotzdem keine
auf den Augenblick berechnete Einrichtung. Nicht in erster Linie ist sie ge¬
schaffen, um ein den Franzosen oder Russen oder irgend einem andern be¬
stimmten Gegner gewachsenes Heer zu liefern; das hätte sich 1814 ohne jeden
Zweifel wenn nicht auf einfachere, so doch gewiß auf billigere Weise erreichen
lassen. Sie verdankt ihre Entstehung sehr viel mehr der Absicht, allen waffen¬
fähigen Bürgern des Staates die militärische Schulung zu geben, um so deu
männlichen, wehrhaften Sinn und zugleich den Staatsgedanken in der Nation
zu stärken. Man vergesse nicht, daß sie in derselben Zeit ihre Wieder-
auferstehung feierte, wo die letzten Schranken der persönlichen Freiheit in
Preußen sielen; sie stellt nur eine Erneuerung des uralten germanischen Rechts¬
grundsatzes dar, daß jeder Freie zur Verteidigung des heimischen Herdes ver¬
pflichtet sei.
Niemals aber ist eine strenge Zucht der Jugend — „zuchtlos" nannte sie
der Reichskanzler im Reichstage, ohne Widerspruch zu finden — notwendiger
gewesen als hente, niemals hat sie heilsamer wirken können. Ohne uns in
langatmige politische Erörterungen zu verlieren, können wir doch als Beweis
für diese Behauptung erwähnen, daß nach allen Berichten der gefährlichste,
unruhigste Bestandteil jener Partei, die die Grundlagen unsers Kultur- wie
Staatslebens umzustürzen bemüht ist, die jungen Arbeiter im Alter von
siebzehn bis vierundzwanzig Jahren sind, die nicht den bunten Rock getragen
haben.
Schließlich ist auch die gegenwärtig bestehende Ungleichheit der Bürger
hinsichtlich der militärischen Lasten nicht mehr aufrecht zu erhalten. Es ist
Thatsache, daß jährlich mehr als 50000 brauchbarer, waffenfähiger junger
Leute nicht zum Dienst herangezogen werden. Welche Vorteile genießen diese
im Vergleich zu denen, die drei Jahre lang durch die militärischen Pflichten
ihrem bürgerlichen Beruf entzogen werden! Glaubt man, es trüge zur Stär¬
kung des Vertrauens des Volkes zur Gerechtigkeit der Negierung, zur Zu¬
friedenheit im Volke bei, wenn der Rekrut Hinz sieht, wie der Nachbar Kunz,
von dessen Tauglichkeit für den Dienst er die „schlagendsten Beweise" hat,
sehr vergnügt seinen Privatgeschäften nachgeht, während Hinz seine .Kräfte in
ernster Schulung für den Krieg dem Staate opfern muß? Wir denken nicht.
Erwägt man dies alles ehrlich, so wird man dem Bestreben, die allge¬
meine Wehrpflicht wirklich durchzuführen, kaum feindlich entgegentreten können.
Wer nicht zugeben will, daß wir der durch die Wehrpflicht gelieferten Heeres¬
massen zur Sicherung nach außen bedürfen, der wird ihr doch beistimmen,
weil sie als Schule des Volkes unschätzbar ist. Wer sie als solche nicht
würdigt, dem muß ihre militärische Bedeutung einleuchten. Doch steht hoffent¬
lich die Mehrzahl der Deutschen nicht auf einem dieser Standpunkte, sondern
erkennt beide Gründe als gleich richtig und gleich wichtig an. Es handelt
sich jn vorläufig nur um das Prinzip, nicht um die Art der Aufbringung der
.Kosten für seine Durchführung. Die Regierung hat keinerlei Anhaltepunkte
gegeben, wie sie in dieser Hinsicht vorzugehen gedenkt, deshalb dürfte die Frage
kaum schon spruchreif sein.
Demnach werden die Kosten von gewisser Seite schon jetzt in den Vorder¬
grund geschoben und merkwürdigerweise mit der Verkürzung der Dienstzeit
in Verbindung gebracht. Man verlangt diese Verkürzung dort mit Nachdruck
als „Kompensation" (warum nicht als Ausgleichung?) sür die in Aussicht
stehende stärkere Belastung.
Die Forderung einer „Kompensation" mag hingehen, obgleich es wohl
unsicher ist, ob sie bei derartigen Vorlagen der Negierung ganz berechtigt ist.
Irgendwelche größern Ersparnisse aber würden sich durch die Einführung der
zweijährigen Dienstzeit bei den Fußtruppen nicht machen lassen. Im Gegen¬
teil, der Regierungsvertreter hat in der Kommission nachgewiesen, daß die
Verkürzung der Dienstzeit unter Festhaltung der jetzigen Heeresstärke etwa
20 Millionen an dauernden und 140 bis 150 an einmaligen Ausgaben mehr
erfordern würde als jetzt. Man könnte nun einwenden, daß diese Ausgaben
auch bei der Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht mit dreijähriger
Dienstzeit notwendig sein würden und die Erleichterung des Einzelnen bliebe,
da er kürzere Zeit seinem Beruf entzogen würde. Gewiß, die Erleichterung
ist unbestreitbar, aber man vergißt, daß wir nach Durchführung der allgemeinen
Wehrpflicht den sehr großen Vorteil haben werden, die allgemeine Wehrpflicht
eben thatsächlich durchgeführt zu haben, während die zweijährige Dienstzeit
uns mit denselben Kosten das nicht erlauben würde. Sobald man unter ihrer
Annahme die allgemeine Wehrpflicht, so streng als es nötig ist, zur Ausführung
bringt, steigen die Kosten bedeutend über die bei Festhaltung der gegenwärtigen
Dauer des aktiven Dienstes.
Selbstverständlich dürfte» die Kosten nicht in Betracht kommen, wenn es
vom militärischen Standpunkt aus unbedenklich wäre, die Dienstzeit zu ver¬
kürzen. Das ist aber nicht der Fall, denn es ist nicht möglich, den Durchschnitt
unsers Ersatzes in zwei Jahren genügend durchzubilden, es ist gefährlich, einem
Teile des Volkes grundsätzlich nur zwei, dem andern drei Jahre Dienstver¬
pflichtung aufzuerlegen, und es läßt sich nicht absehen, woher mau augenblicklich
die in sehr viel größerer Zahl als bisher nötig werdenden Offiziere und Unter¬
offiziere nehmen soll. Über die beiden ersten Punkte habe ich schon früher in
diesen Blättern eingehend gesprochen, sodaß eine nochmalige Erörterung hier
überflüssig erscheint. Der letzte Punkt würde einer solchen ebenfalls nicht bedürfen,
da es klar ist, daß eine um ein ganzes Drittel gesteigerte Arbeitsleistung auch
annähernd ein Drittel mehr Arbeitskräfte verlangt, und da, wie jedermann
weiß, die Füllung unsrer jetzigen Offizier- und Unteroffizieretats nur mit großen
Schwierigkeiten gelingt — wenn nicht in einer großen Berliner Zeitung ein
Vorschlag aufgetaucht wäre, der nicht scharf genug zurückgewiesen werden kann.
Mit der größten Gemütsruhe wird da der Heeresleitung an die Hand gegeben,
zur Abstellung der erwähnten Notlage einfach den Unteroffizieren die Laufbahn
des Offiziers zu öffnen. Wenn freilich mit einer solchen Leichtfertigkeit über
ernste Dinge zur Tagesordnung übergegangen wird, dann läßt sich jedes Rätsel
lösen. Jedem Kinde ist bekannt, daß die Erfolge unsrer Armee einzig und
allein dem Offizierkorps zu verdanken sind: es hat das Instrument geschult,
es hat es zu gebrauchen verstanden. Die Verdienste des gemeinen Soldaten
werden durch diese Thatsache in keiner Weise berührt, ihm bleibt der Nuhm
der einzige und höchste, der ihm bleiben kann, das, was man von ihm ver¬
langt hat, mit deutscher Treue, Tapferkeit und Tüchtigkeit geleistet zu haben.
Das Offizierkorps anderseits hat wieder nur deswegen so Großes vollbringen
können, weil es ein einheitliches, weil es ein wissenschaftlich erzogenes und weil
es ein gebildetes Offizierkorps ist. Alle drei Grundlagen würden ihm mit
einem Schlage durch die Zulassung von Unteroffizieren zum Offizierstande ent¬
zogen werden. Die Einheitlichkeit ginge verloren, denn Leute, die nicht aus
denselben gesellschaftlichen Kreisen kommen, können erfahrungsmäßig nicht
dauernd zusammen leben und wirken. Der wissenschaftliche Boden schwante
dahin, denn die Masse der Unteroffizier-Offiziere würde niemals fähig sein,
sich gründliche wissenschaftliche Kenntnisse zu verschaffen. Mit der Bildung
des Offizierstandes endlich sähe es traurig aus, denn man kennt ja die
Bildung, die Leute „ohne Kinderstube," d. h. ohne regelrechte Erziehung von
Kindesbeinen an, in der Regel haben. Ein gähnender Riß, so oft man
ihn auch zu verkleistern gesucht hat, geht nach dem eignen Eingeständnis der
Franzosen durch das stolze Heer Frankreichs. Und was ist seine Ursache?
Der Umstand, daß es darin zwei Sorten von Offizieren giebt, die eine, kleinere,
für die große Karriere bestimmt, aus den höhern Militärschulen hervorgegangen,
die andre, größere, aus dem Unteroffizierstande entsprossen, subaltern denkend
und drzu verdammt, mit höhern Ansprüchen das Leben in subalternen Stellungen
zuzubringen. „Alles können sie uns nachmachen, nur den preußischen, den
deutschen darf man jetzt wohl hinzusetzen, Sekondeleutnant nicht!" sagte Fürst
Bismarck in seiner berühmten Februarrede 1887. Und den sollten wir opfern,
sollten wir hingeben, um phantastischen Luftbildern der Gleichmacherei — denn
dies ist doch die innerste Veranlassung jenes jetzt noch zaghaft vorgebrachten
Vorschlages — nachzujagen. Wir wollen uns lieber der Worte des großen
Menschenkenners Washington erinnern, mit denen er stets den Genossen, denen
die Bildung der Armee oblag, antwortete, wenn sie mit Bitten um Rat auf
ihn eindrangen: Wählt nur Gentlemen zu Offizieren!
Die Heeresverwaltung hat ihren Standpunkt zur Reform der Heeres-
verfnssung scharf dargelegt. Sie sagt: Die Annahme der zweijährigen Dienst¬
zeit ist zur Zeit uicht möglich, sie wird eintreten, sobald die gegenwärtig be¬
stehenden, oben aufgeführten Hindernisse beseitigt sind; auch ohne sie aber
wird man auf Mittel sinnen müssen, die allgemeine Wehrpflicht thatsächlich
durchzuführen. Diese Sachlage läßt einen Umstand in den Vordergrund treten,
der seit langer Zeit wirkt, jedoch scheinbar nicht genügend beachtet wird.
Haben wir alle unsre waffenfähigen Männer für einen etwaigen Krieg nötig,
so liegt es auch in unserm Interesse, eine möglichst hohe Zahl derselben zu
besitzen. Eine Grenze, an der man sagen könnte, jetzt sei es genng, giebt es
in dieser Beziehung uicht.
Schon in einem frühern Aufsatz habe ich darauf hingewiesen, daß Deutsch¬
land verhältnismäßig weniger Männer im wehrfähigen Alter hat als z. V.
Frankreich oder ein andrer Großstaat Europas. Man hat diese merkwürdige
Erscheinung durch die größere Kindersterblichkeit in Deutschland zu erklären
gesucht, und sie mag mitsprechen, sie ist aber nicht der Hauptgrund. Dieser
liegt vielmehr in der Auswanderung und in der Entvölkerung des platten
Landes zu Gunsten der Städte.
In seiner „Vevölkerungslehre" weist Rümelin mit Recht darauf hin,
daß durch die Auswanderung die zurückbleibende Bevölkerung nicht nur einen
Verlust an Personenzahl, sondern einen relativ größern an Arbeits- und
Wehrkraft erleidet. In den Jahren 1875 bis 1889 betrug die Zahl der
deutschen Auswanderer etwa 1,4 Millionen, weit über ein Drittel davon männ¬
liche Personen im Alter von vierzehn bis vierzig Jahren. Frankreich, das
wir zum Vergleiche stellen, weil uns die statistischen Angaben dafür zugänglich
sind, zählte im Jahre 1880 4^ Millionen wehrfähige Männer, Deutschland
nicht ganz 5 Millionen. Ohne die Auswanderung würde Deutschland uicht
nur ^ Millionen wehrfähiger Männer mehr haben als Frankreich, sondern
fast 1^/z Millionen mehr. Das sind Zahlen, die für sich selbst sprechen.
Was die Entvölkerung des platten Landes anbetrifft, so ist es Thatsache,
daß mit ihrem Fortschreiten die Zahl der wehrfähigen Männer schnell ab¬
nimmt. Leider lassen sich Zahlen im großen als Beweis nicht beibringen, denn
eine Statistik hierüber fehlt noch; doch ist nach der Erfahrung an der körper¬
lichen Entartung der Stadtbevölkerung nicht zu zweifeln.
Von 1880 bis 1885 ist nun die Bevölkerung des deutscheu Reiches vou
45,2 auf 46,8 Millionen gestiegen. In demselben Zeitraume hat aber die
ländliche Bevölkerung trotz des großen Überschusses der Geburten auf dein
Lande gegenüber der Stadt abgenommen, und zwar um etwa 113000, während
die städtische um ungefähr 1730000 gestiegen ist. Das Ungesunde dieser
beiden Prozesse ist von den Nationalökonomien längst erkannt; es war aber
nötig, auch auf ihre Gefahr für die Wehrkraft des Landes hinzuweisen. Unter
keinen Umständen durfte es überflüssig sein, sie bei Gelegenheit der bevor¬
stehenden Heeresverfassttngsrcform zur Sprache zu bringen.
/T^LlM
(^)
^«.5^
Mez^agner nahm den Pessimismus ernst, ernster als Schopenhauer
selbst, und endigte folgerichtig bei der Religion, denn bei ihr,
der zwar hart gescholtenen, endet noleng volML auch bereits
die Schopeuhauerische Philosophie: der Wille zum Leben als
einziger Schöpfer und Erhalter der Welt jenseits aller mensch¬
lichen Vernunft ist durchaus nichts andres als Jehova, namentlich wie
ihn auch der gebildete Jude von heute versteht; und Wagner machte aus
diesem noch passabel vernünftigen Judaismus ein taumelseliges, halbbrahma-
»isches, halb mittelalterliches, schließlich modernstes Allerweltschristentum und
wollte mit ,,Parsifal" so wenig wie früher mit den „Nibelungen" nud dein
,,Triften" etwas andres, als das Lebe» vou der Bühne aus gestalten, zuletzt,
indem er eine Bayreuther Religion und durchaus nichts Geringeres durch die
Kunst zu stiften gedachte: eine Religion, deren Überführung in die Wirklichkeit
er uicht weniger ernstlich wünschte, also für möglich und heilsam hielt, wie
der Buddhist, der es in der That mit seiner Lehre fertig gebracht hatte, das
Leben zu gestalten. Natürlich bedürfte Wagner dazu vor allem einer Musik mit
metaphysischen Kräften — das hatte der edle Schopenhauer in seiner naiven
Schwärmerei für den schnöden Melodiker Rossini freilich übersehen, daß nur
die jener melodischen absolut entgegengesetzte Wagnerische Musik solche Kräfte
besitzen, nur sie des Weltenrätsels Lösung verkünden, Himmel und Erde zu
umsahen, zu erklären, zu erobern Aussicht haben konnte, daß sie eine gänzlich
anders als die Musik bisher wirkende Kraft fein müsse, um die Zuhörer in
den nötigen metaphysischen Zustand zu versetzen. Ob ihre Wirkungen dabei
musikalisch blieben, ob diese Musik an sich noch Kunst heißen konnte, davon
gleich mehr. Mit der 8vrsniw8 aber war es gründlich vorbei, und da immerhin
in einem Kunstwerke, es sei denn wie Shakespeares Othello eins für bekenntnis¬
feste Ochsensleischfresser, sich nicht alles etwa um ein verlorenes Taschentuch
in puren Kummer und Jammer auflösen konnte, so trat an dessen Stelle, zwar
auch zuletzt um etwas wie einen gestohlenen Trauring eine selig verhimmelnde
Vernichtungsapotheose, die mit des Fakirs Verzückung bis in den Tod eine
verzweifelte Ähnlichkeit hat. Und konsequent erschienen auf der Bühne außer
dieser Apotheose auch die Vorstufen dazu, die abnormen Körperzustände, die
Hypnose, das vorschriftsmäßig starr im Mondschein glänzende Auge des im
Schlaf wachenden, sehenden, der Somnambulismus, der Lach- und der Schrei-
krampf — Dinge, an deren metaphysischen Wert ja auch Wagner in letzter
Konsequenz fest geglaubt hatte (er glaubte sogar an den Psychographen und
bediente sich desselben), und neben dem Weltenwch als höherer Potenz des
Weltschmerzes erschien die Satansbosheit und kleinliche Gemeinheit Akte lang,
Abende lang, zwar theoretisch als verwerflich, verächtlich dargestellt, aber doch
lange, lange zum Genusse dargeboten, mit sichtlicher Liebe vorgeführt und auch
über Götter und Göttlichstes zuletzt siegend — dies wie bei Ibsen —, und im
unsichtbaren Orchester rauschte mystisch dazu die Nerveuberauschuug, die Hhpuose
für den in ihr „hellsehend" gemachten Zuschauer!
Schopenhauer freilich hatte guten Grund gehabt, die Musik an die Spitze
aller Künste und (vermutlich eben deshalb) die Künste über Vernunft und
Wissenschaft zu stellen, in denen Goethe und der Satan selbst „des Menschen
allerhöchste Kraft" erkennt. Wodurch nähert uns denn die Musik, außer dem,
daß sie alles Menschliche an Gefühlen zarter, eindringlicher, sprechender aus¬
drückt als die Sprache, auch das Außer- und Übermenschliche? Sie hat zuerst
Geberden (des Marsches, dann des Tanzes, des Reigens u. s. f.) nachgebildet
und dabei gelernt, unsre Gefühle auszudrücken, denn in der Geberde liegt immer
ein Gefühl; Mienen und Blicke gehören als zartere, verfeinerte Geberden dazu.
Auf einer höhern Stufe lernte die Musik auch, was in ihnen lag, und in der
Folge, das Gefühl allein, losgelöst, gleichsam nur noch als eine Geberde der
Seele auszudrücken; die Kraft aber, die als Muskel- und Lebenskraft sich
gleichfalls stets in der Körpergeberde äußert, bildet das Mittelglied dazu, das
Spiel der Kräfte in der Natur, wie es dein Auge und dem. Ohr sich zu er¬
kennen gab, in Tönen nachzubilden und diese Gebilde nun auch wie ein Ge¬
berdenspiel gleichsam des Weltgeistes, des Demiurgos, zu verstehen, womit das
Außer- und Übermenschliche mit in den Bereich des menschlich verständlichen
Ausdruckes gezogen ward. So erweckt Musik den Schein, daß die Dinge, denen
sie ihre Sprache leiht, die Naturkräfte und die von ihnen bewegten Gegen-
stände sich nicht nur empfinde», was sie nach Schopenhauer müssen (wiewohl
er es nur schüchtern andeutet), sondern sich auch so empfinden, wie wir uns
und vor allein wie wir sie empfinden, was denn unversehens mit dem, wie sie
sind, gleichgesetzt wird. Denn eine andre Sprache als die menschlicher Ge¬
fühle, wie sie auch diese zu potenziren vermöge, kann sie mit ihren immer doch
wieder menschlichen Mittel,?, zu denen das Genie natürlich auch gehört, deu
Dingen doch nicht leihen: die Musik ist ein durchgeführter Anthropomorphis¬
mus, eine tönende Vermenschlichung alles Seienden, des Lebenden wie des
Andern, uns ewig Fernen und' Fremden — ein holder Wahn, erhebend
und beseligend; unschädlich, so lange er Musik bleibt, auch nützlich und
veredelnd, indem Musik, verstanden, auch den gewöhnlichen Sterblichen
befähigt, jn nötigt, den Geistesflug des Genies mitzusliegeu, wie es
Riemann nüchtern-richtig erkannt hat. Das geschieht, indem man die thema¬
tische Entwicklung und architektonische Gestaltung als Hörer mitarbeitend ver¬
folgt; natürlich kann es nicht geschehen, wenn das Werk selbst in jenen Be¬
ziehungen so verwickelt und undurchsichtig oder verschwommen ist, daß nur ein
Musiker, und gar dieser vielleicht nur zu Hause, lesend, folgen kann. Diesen
Sinn und Segen der Musik, der das Genie zum. Erlebnis des Hörers macht,
wahrzunehmen, war Schopenhauer, wie aus seinem Kapitel über die Musik
hervorgeht, zu sehr Dilettant. Wohl aber wurde er jenen kosmogonischen
Sinn der Musik gewahr und ihre Gleichsetzung des Makrokosmos der Natur
und dem Mikrokosmos des Menschen, die ihr beseligender „Wahn" ist. Wahn?
'M, wollt ihr, meine Herren Lonirtckrss musioi, denn ganz allein eine Selig¬
keit besitzen, an der nichts, sicher nichts Wahn ist? Muß der Musiker, wenn
Musik einen höhern Wert haben soll, als den eines flachsinnigen Vergnügens,
durchaus als solcher ein Erkennender sein, der in Tönen bis zu den „Müttern"
hinabsteigt, bis übers Sternenzelt hinausfliegt, immer der Welt Gesetze in der
eignen Brust „empfindend," also „intuitio" findend — erteilt ihr den Preis
acht, wie es Jupiter-Goethe that, „seinem Schvßkinde, der Phantasie"? Ist
ehr Flug darum nur Trug, dein wir erlägen? Bereitet sie uns nicht wenigstens
um Bilde, was wir in der Wirklichkeit nicht haben: eine Welt, in der wir nicht
Fremde sind, weil wir das Wesen aller Mächte kennen, die in ihr wirken,
deren Gesetze uns vertraut und in allen ihren Folgen absehbar sind, eine Welt
ohne Zufall, zu schönen Formen mit allem, was in ihr Gewalt und Leiden¬
schaft ist, gerundet und edel gebildet? Ist das nicht genug? Beide aber,
Welt und Seele, Schöpfertricb und Ich, Stoff und Geist, Wille und Vor¬
stellung, Makro- und Mikrokosmos hatte Schopenhauer in seiner Philosophie
für „Wesenseins" erklärt; wie willkommen mußte ihm eine Kunst sein, die auf
derselben Vorstellung beruht, die auf das glänzendste die „innere Wahrheit"
dieser Vorstellung zu bestätigen schien, ihre Wahrheit für „die Erkenntnis des
wahren Wesens aller Dinge"! denn diese, so lehrte er, offenbaren dem nur
erkennenden ihr wahres Wesen nicht, es bleibt ihm verborgen, nicht etwa bloß,
weil sie zu mannichfach und dunkel in einander verflochten sind, sondern weil
des Menschen Erkenntnisvermögen, befangen in Raum und Zeit, überhaupt
nicht imstande ist, jenes wahren Wesens der Dinge habhaft zu werden. (Denn
einen solchen, schließlich erkenntnis-unfähigen, also nur „überzeugungs"fähigen,
„begeisterungs"fähigen Intellekt brauchte er für seine Leidenswelt, damit wir
an der Wahrheit dieses Leidens als „im Wesen der Dinge begründet" wenigstens
zweifeln zu können den Trost behielten.) Aber nun war die Musik wenigstens
das denkbar beste Surrogat für jenes Wesen der Dinge an sich; sie war doch
wenigstens so beschaffen, daß, „wenn jemand in Worten sagen könnte, was
sie in Tönen sagt, er das Rätsel der Welt gelöst haben würde." (Daß das
Unternehmen selbst schon unmusikalisch ist, wurde dabei übersehen, ebenso,
daß „die Musik" ein Unding ist, wenn es aufs Übersetzen ankommt, da
es doch nur Musikstücke giebt.) Nun aber hatte „die Musik" plötzlich
„metaphysische Bedeutung" gewonnen, d. h. einen Wert für die intuitive Er¬
kenntnis des Dinges an sich oder des wahren Wesens der Dinge, sie vermochte
diese, also auch das Ding an sich sogar irgendwie zu ersetzen. NuÄ<ni sse,
so lautete der feierliche Wahrspruch, LxsroiUum niekrpb.^8le,ö8 on-vultum animi
uWeiöntis 8ö xlülosoxbari! Das dankte ihr Schopenhauer damit, daß er ihr
das Szepter der Urania erteilte — wurde doch seine Sibylla, seine Philosophie,
dadurch auch die ebenbürtige Schwester dieser Himmelskönigin! Wie will¬
kommen mußte die Musik aber nun, mit dieser metaphysischen Würde und
Hoheit angethan, einem hoch strebenden Musiker, dem Dramatiker und vor allem
dem Szeniker R. Wagner sein, der das höchste Interesse hatte, nicht nur alles
Menschliche bis hinab in bisher unerreichtes Häßliche und Gräßliche, sondern
in gleichfalls bisher unerhörtem Maße auch alle Mächte der Natur in Tönen
reden zu machen, während er ihrem Weben und Wirken zugleich auf der Bühne
Farbe und Gestalt gab, ein zweiter Demiurgos! Er, der von Natur ehedem
Freudige, stürzte sich nun mit Leidenschaft in diesen acherontischen Strom der
Schopenhauerischen Philosophie, worin das Bad uns aber nicht, wie dem Faust
seine Zauberschale, eine späte Jugend, sondern dem ein frühes Alter erwirbt,
der wirklich in ihm badet oder aus ihm trinkt, was man trinken nennt, d. h.
wer Schopenhauer nicht bloß liest. Mit einer glühenden Phantasie, einem
starken Willen, hohen, ehrgeizigen Zielen und wenig geschulten Denken war
Wagner gegen diese Wirkung wehrlos und verfiel ganz und gar dem Banne
der Schopenhauerischeu Metaphysik und des Pessimismus. Das erste war
nun, dem Tage und seinem Lichte, als der Werkstatt dieses „Willens zum
Leben" zu fluchen, er war zum „Tristnn" geworden, denn er war immer ganz,
war immer, was er schrieb. Und die Musik? Nun, jetzt hatte sie ja keinen
höhern Beruf mehr, als ihrer metaphysischen Bedeutung entsprechend jede Art
des n«l)>0;, zu deutsch Leide» oder tiefes oder hochgespanntes Gefühl auszu-
drttcken! Die Heiterkeit war kein Gipfel mehr, sie mußte für Physisch, weltlich,
nur zu bald flach gelten, und es galt ja nun, hinabzutauchen in Urtiefen der
Dinge und des Leidens!
Zum Unglück wandte Wagner den Begriff des Metaphysischen in dem
völligen System, das er als Kmnpvnist darauf ballte, nun noch falsch an!
Wenn vor dem Hörer Wotan tief über die Ursache des Unterganges der Götter
nachsann, und es ertönte um dumpf aus dem Orchester das Motiv, dem die
Vertretung der Idee des gekränkten Ehercchtes anvertraut war, der Rhythmus
(der Pauke p.). der der Nachklang der Hundings-Worte ist, so galt Wagnern
dies als eine Bethätigung der metaphysischen Kraft der Tonkunst, weil es dem
Hörer das Bewußtsein von dem gab, was die gegenwärtige Wirklichkeit (näm¬
lich die Bühnenwirklichkeit) weder zu sehen, noch in Wotans Worten zu hören
gab — um dies eine Beispiel sür tausend gleichartige anzuführen. Und was
hatte dein Motiv diese Bedeutung erteilt? — da doch wohl niemand umge¬
kehrt aus seinen Tönen heraus, z. B. aus seinem Rhythmus, auf die Idee des
gekränkten Eherechtes zu kommen vermag? Eine fehr vorsichtig, sehr allmählich
herbeigeführte Gewöhnung des Hörers, sich dies dabei zu denken, eine Allmäh¬
lichkeit, die auch sehr nötig war, in» den Hörer über die vollkommene Äußer¬
lichkeit der Konvention, daß jene Töne diese Vorstellung bedeuten sollten, zu
täuschen. Gewöhnung aber und wiederholte Erfahrung sind das Gegenteil aller
angebliche-, metaphysischen Kraft. Und welcher Kraft wurde das Festhalten
dieser Bedeutung bis in die fernste Anwendung (z. B. vom ersten Stück bis
in das vierte) aufgetragen? Notwendig dem Gedächtnis, das wiederum absolut
nicht metaphysisch, sondern nach Schopenhauers eignem Ausdruck eine „Flächen¬
kraft" ist, niemals in die Tiefe führend. Wie also kann die nach Wagners
Mister Meinung hellseherische, metaphysische, über alle „Erfahrung" erhabene
Wirkung zu stände, daß uns die Musik dort in das Herz Wotans und in den
Gedanken der Erbsünde blicken ließ? („Ich will die Sünde» der Väter Heiin-
suchen an den Kindern" u. s. w.) Durch die denkbar äußerlichste Jdeenkom-
bination, eigentlich einen bloßen srvi8 iur löcztour oder ^ 1'g.uäiwur, nnr daß
die Wirkung, das Gewahrwerden aller dieser in der That an sich sinnreichen
Beziehungen eigentlich und wirklich erst beim stillen, aufmerksamen Lesen zu
Hause, beim Anblick der Noten, ein recht gutes Gedächtnis vorausgesetzt, wirklich
zu stände kommt, so sehr sich auch Wagner selbst gegen das nur zum Lesen
taugliche Kunstwerk, gegen die dichtende ,.Litteratur" empörte. Wir werden,
wenn auch in Tönen, benachrichtigt, „erfahren" also ganz von außen, und
sehen ganz hell, ohne „hellzusehen," was Wotan dort dunkel ahnt, oder was
über ihn hinaus als düstere Wahrheit gelten soll. Die hundertfache und fast
immerwährende Anwendung dieses Prinzips macht es um nichts metaphysischer,
um nichts eigentlich musikalisch ausdruckskräftiger. Nur die Motive selbst,
einzeln genommen, in der Ausdehnung von ein paar Takten, ein paar Tönen
selbst, sind ausdrucksvoll, eine Art von Zusammendrängung und Abkürzung
des Empfinduugsausdruckes, in der Wagner zweifellos einer der größten
Meister war — als Musiker also groß im Kleinen, mochte der Horizont seiner
Dichtungen noch so weit sein oder scheine«. Für die Wirkung, die auf den.
Hörer zu machen sei, bewertet es um aber in der Hauptsache bei dieser Aus¬
druckskraft im Einzelnsten und bei der Hellseherei, die durch die wesentlich eben
nnr benachrichtigende Anwendung der mit einer bestimmten Bedeutung abge¬
stempelten Motive in der jeweilig passenden Anwendung und Aufeinanderfolge
vermeintlich erzielt wird; die musikalische Helligkeit, Durchsichtigkeit, Folgerich¬
tigkeit und der Aufbau, also jegliche Art der Form wurde ihr zu neun Zehnteln,
also überhaupt geopfert. Begleitungsmotive, die eine Zeit lang durchgeführt,
eigentlich nur wiederholt, ja abgehetzt werden (z. B. in der Einleitung zur
Walküre), ein gelegentliches Erwachen der Rezitation zu mehr melodischem
Charakter, zur Not bisweilen eine nicht bloß rhetorische Melodie ändern nichts
an dem Wesen seiner Kompositionsweise; die Motive, bald hier bald da je
nach Anlaß nnftanchend, machten den Hörer ja rückwärts, im vorbereitenden
Sinn auch vorwärts, vor allein nach innen hellsichtig — was bedürfte es
nun musikalischer Helle und orientirender Festigkeit, wenn nur die angewandten
Musikausdrücke oder Symbole (denn das sind die kurzen Motive im einzelne»)
intensiv waren: tief, heftig, nervös, erotisch, hymenäisch, selbst priapisch (denn
das und nichts andres sind sie für jeden, der es hören will, am Ende des
zweiten Walkürenaktes, wo Sieglinde und Siegfried aneinanderstürzen) oder
narkotisch, aufregend, faseinirend, je nachdem! So ward das Schaffen in
großen Formen aufgegeben, denn wäre eine Tetralogie statt zehnmal, auch
hundertmal länger als eine Symphonie, ein Schaffen in großen Ausdehnungen
ist noch kein Schaffen in großen Formen; eines ohne solche oder in losen
Formen in der größten aller musikalischen Ausdehnungen, der Oper, ist, was
man will, je nach der Wahl insbesondre auch der phonetischen und mit Hilfe
der szenische» Mittel: berauschender, sinnewandelnder Zaubertrank, heiß oder
kühl gereicht, warmer, Düfte führender Wind oder ein rasend niederbrcchender
Sturm, schimmernder Wolkenzug, Strom mit stiirzenden, Fluß mit sanft-
railschenden Wellen und allerhand bunten Dingen darin und darauf, opiatischer
Traum, glicderlvsende oder starrkrampfige Hhpnose, wechselnd intermittirende
und konstante Elektrizität, Fata Morgana, polychromes Nebelbild, kaleidoskopisch
zuckende Farbenrvsette, kontaino luirunsuM, blendendes Niesenlichtstrahlenbündel
am Firmament, mit einem Wort: Nervenrnusch, je nachdem, bis zum „Nerven-
krumpf" — aber nicht Kunst! Thematische Kunst z. B. ist es nicht, Motive je
uach Bedarf an einander zu reihen, in einander zu flechten und orchestral geschickt
zu koloriren (das bloße Aneinanderreihen ist bei Wagner noch das bei weitem
häufigere), ferner alle Verhältnisse, alle Umrisse bis ans die der Einzelheiten
schlechtweg aufzugeben, alles, was schließen sollte, nur aufhören zu lassen,
während doch der Text nicht umhin kann, eine Reihe in sich geschlossener
Situationen vorzuführen; selbstverständlich schließt das die Musik zwischen den
Grenzen der Situation nicht zu formaler Einheit zusammen. Die bis zum
Überdruß an diesen Grenzen wiederkehrenden Trugschlüsse sind da freilich uoch
zweckmäßiger als wirkliche Schlußkadenzen, die das Fehlen formaler Einheit
zwischen je zweien erst recht ersichtlich machen würden.
Dieser Art zu komponieren lag außer der von Schopenhauer schon
dilettantisch-irrtümlich angenommenen, von Wagner noch mißverständlich an¬
gewandten metaphysischen Bedeutung der Tonkunst noch ein mißverständlich
angewandtes Prinzip zu Grunde, nämlich das Prinzip, den Anschein der
Improvisation hervorzubringen. Das Mißverständnis hatte seine Ursache
wieder in dem obenerwähnten Mangel an geschulten Denken: des Denkens
bedarf ein Autor mit so hohen Aufgaben um einmal durchaus, mag er
es nun um Universitäten oder wo und wie es ihm besser gefiele, erwerben.
Er hatte jenen Anschein an sich richtig als die Ursache des Hinreißenden ent¬
deckt, das er in dein Vortrage der Schröder-Devrient, Wohl trotz der halb
geschwundenen Stimme, und wie er sagt, trotz der schlechten Musik, die sie
sang, empfunden hatte; es ist ein Prinzip, das in der reproduktiven Kunst
an seinem Platze ist, weil da der Komponist, wenn er darnach ist, für Ordnung
gesorgt hat. Ihre Freiheit aber, von dem Wie des Vortrages auf das über¬
tragen, was vorzutragen ist, auf das Schaffen des Komponisten selbst, kann
nicht Ordnung, anch nicht eine nur vou der gewohnten verschiedne, sondern
nur den trügender Schein der Ordnung, der Folgerichtigkeit, der Übersichtlich¬
keit hervorbringen, sondern nur eine allenfalls „entzückende Unordnung," soweit
dieses Entzückende sich mit der absoluten Beunruhigung namentlich des Perioden-
baues vertragen mag, die bei Wagner sehr leicht statistisch nachweisbar ist und
förmlich sein Grundsatz war; er wollte alles Gewohnte, das Bewährteste,
menschlich Notwendigste nicht ausgeschlossen, verneinen. Aber das Hus w <?8
dotis clxms ton ässorärs! ist zuletzt für untergrabene und liederliche Menschen,
wie Alfred de Musset, der ein Gedicht an eine Geliebte aus der Halbwelt so
begann und selber in der Gosse endigte; aber dus Gewand der Muse kann
man in der Kunst selbst (was jener Dichter auch übrigens uicht that) nicht
ungestraft so zerzausen. Und so fehlte denn auch nicht das, was der
schlechten Stimme und der schlechten Musik in jenem Vortrage entsprach,
uümlich die Willkür und das Unvermögen — jene im einzelne»?, dieses gegen¬
über der Aufgabe der Formung in großen Dimensionen, und darum fehlte es
zuletzt auch uicht an schlechter, oder, trivialer Musik. Es siegte der Wahn,
daß das Hinreißende, das Erschütternde, das Entzückte und Verzückte überall
das Erstrebenswerte sei, das Pathos als Leiden und Mitleiden-Machen, anstatt
der Verklärung des Leides wie der Freude, statt der künstlerischen Erlösung
von dem Übel, die nicht durch elementare nervöse Wirkungen, durch schließlich
nur noch physiologisch bewirkte Effekte, sondern nur durch die Form geschehen
kaun, in der sich die Herrschaft des Verstandes über die Leidenschaft (ohne
,,Ertötung" derselben, ohne ,,Temperenz") über das Leiden und die Freude
ausspricht. Erst dies aber ist, und zwar beides, zuletzt Heiterkeit, die in der
Kunst und im höher gearteten Menschen nicht eine ,,Flncheukraft," eine Schwache,
sondern eine Macht der Seele, eine, Höhenkraft ist, die es zum betrachtenden
Spiel mit den Machten bringt, die das Leben und die Natur, wie wir sie
ansehen, bewegen. Auf dieser Stufe der Macht und Freiheit über Wohl und
Wehe, über das Pathos und in verklärender Form von ihm kommt es erst
zum Ethos, zum Maß, zum Wohllaut, zur Ordnung, zu der natürlichen
Schönheit und Deutlichkeit, die wir endlich von der Musik wieder verlangen,
und besonders an der Deutlichkeit, der Verständlichkeit, wie streng sie Wagner
selbst auch vom ausführenden Künstler verlangte, fehlt es hier dein schaffenden
Künstler, welches auch die Vorzüge sein mögen, die Wagner sonst der Oper
wieder errungen hat: ernstgemeinte Gegenstände, verständige Deklamation,
korrekte Sprache, edle Diktion, psychologisch richtige Folge in den Situationen,
integrirende Beteiligung des Orchesters als Herzenskündigers bezüglich der
Denkart der dargestellten Charaktere und der in ihren Worten nicht aus¬
gesprochenen Motive und Ursachen (was es aber auch innerhalb der schönen
Form sein könnte), Vermeidung dramatisch-unlogischer Paradeensembles, die
bloß der Musik wegen da sind, Ausschluß von Unterbrechungen der Handlung,
bloß damit der Inhaber einer Partie, und möglichst jeder, auch eine Arie zu
singen habe, Bereicherung der Tonsprache, besonders nach der Seite der Ton¬
malerei und des Unheimlichen (Grüßlichen, Verzweifelten), Zusammenhang der
szenischen Illusion, die bei ihm. allerdings zu stark integrirt infolge alles
dessen Nötigung der Darsteller und aller Beteiligten, ihre Aufgaben durchzudenken
und ehrlich alle Kräfte für das Ganze einzusetzen, Steigerung des künstlerischen
Ernstes und Berufes, also der Würde dieses Berufes selber: genug, um auch
besonnene Freunde der Kunst eine Zeit lang zu Wagnerimiern zu machen,
heute noch genug, um beschränkte AntiWagnerianer abzuweisen. Aber es ist
endlich Zeit geworden, sich die Kehrseite der Münze zu betrachten und ihr
Metall ans seinen wahren Gehalt zu prüfen. Wie sich jene Vorzüge mit den
nichtwagnerischen der Melodie und der schönen Form, der Erhabenheit über
die Sensation in der ernsten Oper der Zukunft vereinigen mögen, das ist ein
Problem, dessen Lösung wir (wenn die Oper nicht etwa, wie ich fast vermute,
zum Lyrischen und Kölnischen überhaupt besser taugt als zum Tragischen) von
dem nächsten Genie der großen Oper zu erwarte» haben. Und zunächst, d. h.
bis wieder einer den Schmerz und das Leiden ans so verklärender Ferne an¬
zusehen und auszudrücken vermag wie Mozart und manchmal Schubert (z. B.
in der Sonate ox. 122), während schon bei Beethoven so leicht der Grimm
an die Seite des Schmerzes tritt — bis sich dies ereignet, ist es gut, daß
wir uns des Pathos und alles Krankhaften, das es mit sich gebracht hat,
zunächst wieder entwöhnen, wozu auf der Bühne wahrscheinlich die komische
Oper, natürlich mit den Wagnerische« und deu nichtwagnerischen Vorzügen
ausgestattet, vorläufig das Geeignetere wäre; die große Oper macht sich heute
schwer von Wagner los, ihre Komponisten stehen alle »och in seinem Bann.
Denn wir haben aus der Kunst selbst, wozu Schopenhauer als der Philosoph
des bessern Nichtseins, der letzte Romantiker der Metaphysik, nicht wenig bei¬
getragen hat, da Wagner seinem Bann verfiel — wir haben eine Leidenschaft
aus ihr gemacht, die Leiden schafft, indem sie, wie gesagt, die Seele belastet,
statt sie zu befreien. Am Klavier war der erste, der dies that, wohl Robert
Schumann, vom Weltschmerz trotz seiner gesunden Urnatur angekränkelt; ja
vielleicht war Mendelssohn der letzte, der es nicht that, zwar aus Tiefe mehr,
als er nötig hatte, verzichtend. Es ist ein fast unerklärlicher Zug der Zeit,
daß sie bei all ihrem Realismus diese Kunst des Pathos aussucht. Sind die
modernen Kriege mit all ihrem ungeheuern Leid und ihrer Erregung der Massen
daran schuld? oder ist es nur eine geistige Mode, wie wenn jemand nun ebeu
den bittern Geschmack auf der Zunge zeitweise dem süßen vorzieht? oder be¬
täubende Nikotindämpfe lieber atmet als reine Himmelsluft?
Aber wenn Wagner, der Gigant, diese Kunst des bittern Geschmackes noch
ans eine grandiose Art übt, so geschieht es neuestens durch Ibsen, den Knirps,
auf eine kleinliche, bürgerliche, quälende, niederträchtige Manier, für die
Schopenhauer nichts kann, die er verachtet haben würde. Ibsens .Kunst ist der
Bastard des Pathos mit dein modernen Realismus, er hat es nicht selbst,
er bereitet es nur im buchstäbliche» Sinne als Leiden, wie ein Apotheker, der
Gift bereitet, um es zu verkaufen; seine mehr als Kotzebuisch-widerwärtigen
Dramen sind ein Frevel an dem Genius der Menschheit, eine Foltcruug der
Muse im Namen der „Wahrheit," wie sich hier das grinsende Gefallen am
Übel, an betrübenden und entsetzlichen Wirklichkeiten benennt. Nicht viel höher
steht die neufrauzösische, Akte und Abende lange Poesie der Herzenszermarterung
mit Pistolen-Schlnßknalleffekten und höchstens scheinbarem dramatischen Ausgleich.
So weit sind wir nun durch Schopenhauer hier, Wagner dort: die Kunst hat
es gelernt, ihn wiederkäuen, den tiefen und beschwerlichen Ernst des Lebens
und der Gegenwart, die uns doch nichts so sehr zum Bedürfnis macht, als
Erleichterung, Trost, Erquickung, Vergnügen, Unterhaltung, deren Quelle für
Menschen von Geschmack sonst immer die Kunst gewesen ist. Fast ist es schon
verpönt, mit edler Kunst unterhaltend und vergnüglich sein zu wollen. Ich aber
erblicke nachgerade in dein Gefallen an der schnödestell Operette noch eher eine»
erhaltenden Instinkt des Publikums, der das Heitere will, ich fliehe ihn weit,
den Wahnfrieden Wagners, die modernen Sensationen wie ihre düstern Quietive,
und warte derer, die uns von der Schvpeuhauerischen und damit auch von
der Wagnerischen Erlösung, der Erlösung durch das Übel, erlösen sollen. —
Nicht nur die Veranlassung, sondern auch der Quell dieser Vetrachtuugeu
war für mich das Studium einer komischen Oper: „Die heimliche Ehe" von
Peter Gast, deren Text eine erweiterte Neuschöpfung des vou Cimarosa tom-
ponirteu N^triMcmio skg-rsto des Vertati ist. Ich habe zu dieser Oper, die für
Mitte Oktober d. I. am Stadttheater zu Danzig in Vorbereitung ist, bei
C. G. Naumann in Leipzig ein „Thematikon" mit einem einleitenden Essah
herausgegeben und hoffe später an dieser Stelle auf das Werk zurückzukommen.
Eine kürzere Einführung habe ich auch dem bei A. W. Kafemanu in Danzig
erschienenen Textbuche vorangeschickt, und habe es dort bereits ausgesprochen,
daß ein Werk wie dieses nicht bloß Gegenstand der Kritik sei, sondern auch
dein Kritiker selbst neue Bahnen der Beurteilung der Operuprodut'lion eröffne.
ir habe» vor etwa acht Monaten von der Entstehung des deutsche»
Volkstheaters in Wien und vou deu Hoffnungen berichtet, die
die Bewohner — oder besser die theaterfrenndlicheu Kreise —
Wiens daran knüpften. Wenige Wochen noch, und das Theater
wird sein erstes Jahr schließen, Neues wird es bis dahin nicht
mehr bringen, und so kann wohl heute schon ein Blatt seiner Geschichte ge¬
schrieben werden.^ - ^1
MW
Da wollen wir denn gleich gestehen, daß wir uns damals viel zu naiv
hoffnungsfreudig ausgesprochen haben, Wir rühmten es als einen großen
Vorzug des neuen Theaters, daß es keiner Aktiengesellschaft gehöre, die eine
hohe Verzinsung des Grundkapitals anstrebe, keiner Gruppe von Gründern,
die — wie in dem abgebrannten Stadttheater - ihre Freilogeu und Freisitze
im Hause haben. Das ist zwar richtig, aber — ein Geldmann, der dabei ein
Geschäft machen will, ist doch wieder im Spiele; das trat gleich am Eröffnungs¬
tage — am 14. September — hervor, als bei dem Festmahl nach der Vor¬
stellung ein Herr David Geiringer am Tisch des Vereinsausschusses Platz nahm
und Eingeweihte herbeistürzten, um ihre Champagnergläser mit ihm auf das
Gedeihen seines „Geschäfts" zu leeren. Damit ist es gewiß in Zusammenhang
zu bringen, daß der Spielplan des Theaters ein andrer geworden ist, und daß
mau die Preise der Sitzplätze beträchtlich höher angesetzt hat, als es ursprünglich
beabsichtigt war. Einen Gulden und achtzig Kreuzer sollte der teuerste Sitz
kosten; jetzt kostet er vier Gulden, und überdies zahlt man für vorausbcstellte
Karten eine Bestellgebühr von dreißig bis fünfzig Kreuzern. Die Garderoben¬
gelder sind gerade so hoch wie an der Oper — zehn Kreuzer für jedes Stück —,
sodaß ein Familienvater, der bei Regenwetter mit den Seinen ins Theater
gehen will, leicht einen Gulden bloß für die Aufbewahrung der Mäntel und
Regenschirme loswird; ein Theaterzettel, der etwa den Wert eines halben
Kreuzers hat, kostet — wieder wie in der Oper — gleichfalls zehn Kreuzer.
Das alles ist gewiß nicht volkstheatermäßig. Schlimmer aber uoch war die
Veränderung des ursprünglichen Spielplanes: die Abwendung vom Volks¬
tümlichen und Klassischen zum „Sensativnsstück" und zu banalen oder possen¬
haften Lustspielen. Eröffnet wurde das Theater freilich mit Anzengrubers
.Fleck auf der Ehr," baun aber kamen Paul Lindau und Schönthan, Raupach(!),
Moser, Osten und Davis, Brociner und Ganghofer — das krnsfe, widerliche
Stück der beiden letztern, die „Hochzeit von Vaterl," wurde in vier Monaten
dreißigmal gegeben. ^Bessere Stücke, wie sie den: ersten Programm des Theaters
entsprochen hatten - Anzengrubers „Heimgfnndeu" und die „Kreuzelschreiber,"
sowie Linduers „Bluthochzeit" —, verschwanden bald wieder, weil sie nicht so
volle Häuser machten wie die „Hochzeit von Vaterl." Erst gegen Ende März,
"is sich die eigentliche Theaterzeit bereits ihrem Ende zuneigte, trat eine
Wendung zum Bessern ein. Dagegen blieben die Nachmittagsvorstellungen an
Sonn- und Feiertagen, auf die ein Volkstheater ganz besonders Gewicht legen
sollte — so war es ja ursprünglich auch beabsichtigt —, ein reiner Spott.
Mit Ausnahme der „Räuber," des „Wilhelm Tell" und jener Stücke Anzen¬
grubers — die aber auch Seltenheiten waren — erschien lauter Unbedeutendes,
Zum Teil geradezu Schädliches, wie die ganz nach dem Muster französischer
Voulevnrdeffektstücke gearbeitete „Hochzeit von Vaterl." Statt Schiller, Goethe,
Kleist, Otto Ludwig, Hebbel gab es auch hier wieder nur Lindau, Moser,
Schönthan, Osten und Davis, Broeiner und Ganghofer! Daß diese Stücke
um den Svuntagsnachmittagen in der Regel auch noch viel schlechter besetzt
waren als an den Abenden, ist eigentlich gleichgültig, doch mag es erwähnt
sein, weil es verrät, welche Auffassung die Direktion vou diesen wichtigen
Vorstellungen hegt. An Sonntagsnachmittagcn gehen die Leute massenhaft ins
Theater — alle die, die in der Woche nicht Zeit haben —, wozu sich also
anstrengen, da auf alle Fülle Zuschauer kommen, was und wie auch gespielt
werden mag! Es gilt, mit möglichst wenig Kosten möglichst viel Geld zu
verdienen, alles andre ist Nebensache.
Direktor Emerich Bukvvics, dieser lloino uovu8 in der Theater- und
Litteraturwelt, erwies sich bald als ein bloßer Strohmann. Sein Bruder Karl,
der vor zwei Jahren gestorben ist, erfreute sich als guter Komiker großer Be¬
liebtheit in Wien, besonders in den höhern Gesellschaftskreisen, denen er bei
den Aufführungen von Dilettantenvvrstelluugen öfters behilflich gewesen war.
Es ist Thatsache, wenn es auch beinahe unglaublich ist, daß es hauptsächlich
diese Bruderschaft gewesen ist, die Emerich die Direktion des neuen Theaters
verschafft hat. Denn er besaß weder Geld, noch hatte er irgend ein theatra¬
lisches oder litterarisches Verdienst. Niemals hat er ein gutes Stück ge¬
schrieben oder mit Schauspielern einstudirt, niemals früher ein Theater ver¬
waltet; er war jahrelang Journalist in Paris und wurde mir durch den
Einfluß der Gönner seines Bruders zur Leitung des — deutschen Volkstheaters
nach Wien berufen. Nicht genug damit, auch die Tochter des verstorbenen
Karl v. Vukovics, eine Schauspielerin vou sehr mäßigem Talent, sollte hier
eine gute Versorgung finden, und sie fand sie: eine Menge von Rollen, für
die sie durchaus nicht die Begabung besitzt, kamen in ihre Hand. Dann ver¬
langten aber auch die Gönner der Familie Bukovies, daß der vou ihnen ge¬
machte Direktor aus Dankbarkeit ihre Töchter und Vettern in seinem Theater
unterbringe. Auf diese Art kam eine an der Hvfoper ganz unbrauchbare
Sängerin zur Stelle einer „ersten Soubrette," ihre talentlose Schwester in deu
Besitz des Faches der ersten naiven. „Bei der Hälfte aller Anstellungen, die
der Direktor vollzog — sagt ein Kenner des Wiener Theaterwesens — ließen
sich die gesellschaftlichen Beziehungen, die Einflüsse nachweisen, die dabei mit¬
spielten."")
Daß wir nun aber nicht das Kind mit dem Bade ausschütten: gut ist
es doch, daß dieses Volkstheater entstanden ist, wenn es auch in dem ersten
Jahre seines Bestehens seinem nennen wenig Ehre gemacht hat. Denn es
hat doch unstreitig ein regeres Leben in die Wiener Theaterwelt gebracht und
die Kost, die es reicht, war doch immer noch besser als der Operettenblvdsinn
und die französischen „Sitten"stücke im Theater an der Wien. Übrigens sind auch
die Preise immer noch mäßig, und so wurde vielen, die früher nur die Lokal-
Possen des Josefstädter Theaters besuchten, weil ihnen alle übrigen Theater
zu teuer waren, eine edlere Gattung von Bühnendarstellmigen erst erschlossen.
Auch besitzt das Volkstheater wenigstens einige Schauspieler und Schau¬
spielerinnen, an denen sich selbst Kenner erfreuen konnten: Throlt, Martinelli,
Kutschers und vor allen Fräulein Scmdrock. Die letzte ist eine durchaus ur¬
sprüngliche Kraft, wenn sie auch vielleicht im einzelnen von Sarah Bernard
gelernt hat: welche Künstlerin wäre völlig frei von fremden Einflüssen, könnte
sich ganz unabhängig von Vorgängern halten, eines Vorbildes ganz entbehren!
Fräulein Scmdrock hat zuerst im Wiedner Theater die Jsa in dem Dumasscheu
»Fall Clmnenceau" gespielt und da schon die Aufmerksamkeit berufener Beur¬
teiler erregt. Leider war die Rolle undankbar. Im Volkstheater spielte sie
die Hauptrolle in der „Hochzeit von Vaterl," die sie mit großer Gestaltungs¬
kraft wahrscheinlich zu machen bestrebt war. Verdiente Triumphe feierte sie
dann im März und April: in der „Eva" des unglücklichen Richard Voß, in
Heibergs „König Midas" und zuletzt in der „Alexandra" von Voß. Sie ist
eine sehr realistische Darstellerin, der es nicht immer, wie Charlotte Wolter,
darum zu thun ist, die Grenzen des plastisch Schönen einzuhalten, aber sie
versöhnt für so manche allzu heftige Bewegung durch die elementare Gewalt
echter Leidenschaft, mit der sie ihre Rollen erfüllt; das siud immer Frauen
und Mädchen von Fleisch und Blut, nie seufzende, gestikulirende, deklamirende
Puppen, wie es deren auf unsern Bühnen so viele giebt.
Ein Verdienst der Volkstheaterdirektivn war es auch, Friedrich Mitter-
wurzer, der mehrere Jahre in Wien nicht erschienen war, zu einem Gast¬
spiel einzuladen. Wir haben für diesen Schauspieler ein kleines Vorurteil:
es stammt noch aus der Zeit, wo er Mitglied des Burgtheaters war.
Denn es ist etwas von dem Wesen Ludwig Devrients in ihm: er ist
ebenso vielgestaltig und ebenso dämonisch erregt. Viele nennen ihn heute
noch einen Effekthascher und Kulissenreißer, weil er immer mit äußer¬
lichen Dingen überraschen will und besonders nichts so macht, wie es
andre berühmte Schauspieler der Gegenwart machen: er tritt von rechts auf,
wo andre von links kommen, er steht, wo andre sitzen, trägt ein rotes Kleid,
too sonst ein blaues üblich ist, erscheint blond, wo jeder andre eine schwarze
Perücke trägt. Wäre dies nun seine ganze Kunst, dann freilich verdiente er
jene Namen. Aber er macht sich auch in der Charakteristik von dem hergebrachten
Typus los und weiß alte Rollen in neue umzuschaffen. Wo es sich um Gestalten
handelt, die vom Dichter scharf und unzweideutig umrissen sind, wird ihm
diese Gabe freilich oft verhängnisvoll; unbezahlbar aber ist sie, wo der Dichter
schwach »der flüchtig charcckterisirt. Übrigens aber giebt es doch auch große
Dichterschvpfungen, die vieldeutig sind: wer wollte z. V. einen Kanon für die
Darstellung des Mephisto aufzustellen wagen? Gerade dieser war eine der
merkwürdigsten Leistungen der Vurgtheaterzeit Mitterwurzers. Von den übrigen
nennen wir Nareiß, den heute wohl kein andrer deutscher Schauspieler zu so
erschütternder Wirkung bringt, Franz Moor, Jago, Caliban, Michel Peru
in „Donna Diana," Gianettino Doria, Shylock, Benedikt in „Viel Lärm um
Nichts," Mvliöre im „Urbild des Tartüffe," Marinelli. Später, während
der Jahre, wo er im hiesigen Stadttheater und im Riugtheater spielte, so wie
auf seinen jahrelangen Gastspielreisen, die ihn, wie es einmal Mode ist, bis
nach Amerika führten, hat er seinen Nollenkreis nach verschiednen Seiten hin
stark erweitert, und so kam er uns denn auch jetzt als eine neue Erscheinung
zurück. Ihm und dem Volkstheater ist es auch zu danken, daß das Wiener
Publikum mit Ibsens „Stützen der Gesellschaft," sowie mit Heibergs „König
Midas" bekannt wurde: dort spielte er den Konsul Bernick, hier den Wahrheits¬
fanatiker Johannes Ramseth. Außerdem trat er in ein paar unbedeutenden
Lustspielen und in einem schlechten Schauspiel auf. Einen alternden Major,
der auf die Freite geht, einen russischen Obersten, halb Diplomat, halb Kosak,
liebenswürdig, unwiderstehlich, schlau, verwegen und voll Haß gegen Napoleon,
womit er hie und da den leichten Lustspielton vulkanisch durchbricht, endlich
einen verlotterten Menschen, der vor Jahren Glück und Ehre verloren hat und
nun, krank und zerstört, einen Schurkenstreich vereitelt, indem er eine fremde
Schuld auf sich nimmt: diese Figuren führte der Gast in meisterhafter Dar¬
stellung vor, auch seine Gegner mußten gestehen, daß er nichts vom Virtuosen
an sich habe, ruhiger und maßvoller geworden sei. Angenehm fiel es auch
auf, daß ihm keine große Reklame vorausging, daß er sich für sein Gastspiel
Rollen gewühlt hatte, die fast durchaus ohne große Effekte sind, ja daß er es
selbst über sich gewann, an die zweite Stelle zu treten: in „König Midas,"
wo die Sandrock ihn, wie vorauszusehen war, stark in den Schatten stellte.
Wenn uns etwas mit den schweren Gebrechen, an denen das neue Theater
krankt, versöhnen kaun, so ist es vor allem der Kontrakt, den es mit Mitter-
wurzer geschlossen hat: er wird im nächsten Jahr auf vier Monate an diese
Bühne gebunden sein und denn auch hoffentlich seine Kräfte wieder an jene
großen Aufgaben wenden, an denen er sich einst am Burgtheater jugeudmutig
und mit Glück versucht hat.
le deutsche Kolonialpolitik leidet vielleicht mehr als jeder andre
Zweig der Reichspolitik, die Sozialpolitik nicht ausgeschlossen,
an Unfertigkeit. Es giebt da uoch hundert und aber hundert
Fragen von größerer und geringerer Wichtigkeit zu lösen. Auf
der andern Seite aber hat sie doch auch schon eine Reihe unantast¬
barer Thatsachen geschaffen. Die wichtigste ist, daß wir in den Besitz von
fünf überseeischen Gebieten gekommen sind, die eine Gesamtfläche von etwa
50000 Quadratmeilen ausmachend Als weitere Thatsache, die endlich auch
ihren maßgebenden parlamentarischen Ausdruck gefunden hat, verzeichnen wir,
daß sich die überwiegende Mehrheit der Nation trotz aller hämischen Einreden
und trotz mancher unerwünschten Zwischenfälle dieses neuen Besitzes freut, weil
sie von seiner künftigen Ertragsfähigkeit und anderseits von der Dringlichkeit
unsers Kolonialbedürfnisfes überzeugt ist und zugleich die mammas faltigen
Segnungen zu würdigen weiß, die nach den Erfahrungen älterer Kolonialvölker,
ja wie wir hinzusetzen dürfen, schon nach unsern eignen Erfahrungen eine
wirksame überseeische Bethätigung nationaler Kraft tüchtigen Völkern zu ge¬
wahren Pflegt. Es war durchaus berechtigt und erfreulich, daß der gegen¬
wärtige Leiter unsrer Reichspolitik in seiner ersten öffentlichen Auslastung
über Kolonialfrageu, so viel Zurückhaltung er sich auch aus Gründen parla¬
mentarischer Taktik auferlegte, dennoch diesen „nationalethischen" Gesichtspunkt
gebührend betonte. Gleichwohl bleiben unsre Kolonialaussichten vor der Hand
immer noch mehr oder weniger eine Glaubenssache. Es ist leicht, einem Zweifler die
glänzenden Ertrügnisse englischer oder holländischer Kolonien, besonders aus
früherer Zeit, vorzuhalten, aber man ist zunächst nicht in der Lage, durch zwingende
Beweise den EinWurf der Unvergleichbarkeit mit unsern deutschen Schutzgebieten
völlig zu entkräften, und zwar weder hinsichtlich ihrer Bodenfruchtbarkeit noch hin¬
sichtlich der Arbeits- und Kaufkraft ihrer Eingebornen. Dieser Anzweiflung unsrer
kolonialen Zukunft haben sich denn auch, weniger ihren Grundsätzen als ihrem
ganzen Naturell gemäß, zwei größere Parteien, die deutschsreisinnige und die sozial-
demokratische, zugewandt, denen, wie bei so mancher andern Gelegenheit, aus den
Reihen des Zentrums Vorschub geleistet wird. Auch vereinzelte Mitglieder andrer
Parteien verstärken den Neigen dieser Ungläubigen, meist deshalb, weil sie sich
mit der Sache nicht eingehender befaßt haben: so rasch wir heute auch leben,
so leben wir doch nicht so rasch, daß im Verlaufe von kurzen fünf Jahren
eine so fremdartig neue Erscheinung wie die deutsche Kolonisation einem all¬
seitigen Verständnis und Vertrauen im Publikum begegnen könnte. Doch auch
hier dürfen wir eine tröstliche Thatsache feststellen: der Kolonialgedanke macht
nicht Rückschritte, sondern Fortschritte, langsame vielleicht, aber doch stetige.
Das kann man wie im tägliche» Gespräche so besonders in der verschiednen
Haltung der Presse und des Reichstages sonst und jetzt deutlich wahrnehmen.
Die verdienstliche werbende Thätigkeit der „Deutschen Kolonialgesellschaft," der
von Jahr zu Jahr ein immer reicherer Veobachtungs- und Erfahrungsstoff aus
den Kolonien zufließt, und mehr noch der von den Verhältnissen der Nation
auferlegte Zwang, für die Sache thätig einzutreten, wie es vornehmlich in
Ostafrika durch die Expeditionen von Wißmann, Peters und Emin Pascha zur
Zeit geschieht, kommen hier zu erfreulicher Wirkung. Außerdem haben die fünf
Anfangsjahre deutscher Kolonialpolitik für jeden, der sehen will, auch gewichtige
praktische Beweise ihrer Berechtigung erbracht, nicht bloß in Kamerun und
Togo, sondern auch in Neuguinea und Ostnfrika, wenn sie auch freilich in ihrer
Gesamterscheinung noch nicht die erfreuliche Gestalt von Bilanzüberschüsscn an¬
genommen haben. In jeden: Falle giebt es nur sehr wenige urteilsfähige
Stimmen, die sich für keine geringere „Blamage" als die völlige Preisgebung
der bisherigen Errungenschaften begeistern; es muß auch wunderliche, auch solche
Käuze geben. Noch nie hat es einer großen und gesunden geschichtlichen Be¬
wegung an Gegenkräften und Gegeuinteressen gefehlt; man muß sie als etwas
Menschliches, als einen Ausfluß irdischer Gebrechlichkeit hinnehmen. Aber auch
Stillstand ^ das wollen wir uns dankbar von dem neuen Reichskanzler
gesagt sein lassen — bedeutet schon Rückschritt: was kann viel Gutes bei einer
Sache Herauskommen, bei der man nur mit halbem Herzen ist, die man nur
zögernd und widerwillig angreift? Nicht bloß deshalb, weil nun einmal A
gesagt ist, muß weiter buchstabirt werden, sondern weil das A-sagen be¬
rechtigt und notwendig war — das müßte der allgemeine Standpunkt zur
Sache sein oder werden, den sich insbesondre eine gewisse Gesellschaftsgruppe
zu eigen machen sollte, ans die es in diesen Dingen vor allem ankommt. Die
Koloniefrage, soweit sie heute uoch eine solche ist — und sie schließt, wie
gesagt, immer noch ein großes Bündel von ungelösten Einzelfragen ein ^, ist
in der Hauptsache eine Geldfrage, und zwar in dem Sinne, daß die wohl¬
habenderen Klassen des Privatpublikums den geschäftlichen Mut gewinnen
müssen, dem aufgeschlossenen jungfräulichen Arbeitsfelde die befruchtende Wirkung
des Kapitals zuzuwenden. Ohne Frage hat die Nation, selbst wenn unsre
Kolonialversuche am letzten Ende mißlingen sollten, allen Grund und alles
Recht, mit Befriedigung auf ihren volkstümlichen Ursprung hinzublicken. Allein
so gewiß es ist, daß die Regierung ein ungleich geringeres Verdienst der
„Initiative" hat als die zahlreichen theoretischen und die wenigen praktischen
Bahnbrecher deutscher Kolonisation aus dem Volke, so steht doch bis zur
Stunde die Zahl der beteiligten Kapitalisten noch außer allein wünschens¬
werten Verhältnis zu deren Gesamtzahl. Gerade in dem jetzigen Abschnitt
unsrer Kvlonialentwickluug sollte dieser Baun gebrochen werden. Die Mäuner,
die ihr Leben für die Anbahnung einer kolonialen Zukunft unsers Baterlandes
einsetzten, haben das, was sie erstrebten, mit erstaunlich geringen Mitteln
erreicht; nunmehr ist es hohe Zeit, daß in unsern besitzenden Kreisen Neigung
und Gewohnheit Wurzel fasse, unsre überseeischen Besitzungen als ergiebige
Ausbeutnngsfelder anzusehen. Gewiß muß die Neichsregierung fortfahren,
durch entsprechende wirksame Maßregeln Bürgschaften sür eine möglichst un¬
gestörte Privatbethätigung in den Kolonien zu schaffen; das ist eine Bedingung,
ohne deren Erfüllung dem Kapital nicht wohl das Betreten dieser neuen Wege
zugemutet werden kann. Aber was nicht minder wichtig ist: es muß feine eigne
Zaghaftigkeit bekämpfen und verlieren, die es gerade, ja fast ausschließlich unsern
kolonialen Wertmitteln gegenüber an den Tag legt. Wer auch nur im vorigen Jahre
beobachtet hat, mit welcher Hast das besitzende Publikum sich zu den Gründungen
drängte, die in kaum dagewesener plötzlicher Fülle aus dem deutscheu Wirtschafts-
bvden Hervorschossen, und wer nun an der Hand des Börsenzettels die gegenwärtige
Schützung derselben mit dein damaligen Ankaufspreise vergleicht, der wird sich
überzeugen, wie blind und wild jene hastige Mitbeteilignng in zahlreichen
Füllen gewesen ist, und den Glanben an eine allgemeine vorsichtige Zurück¬
haltung unsrer besitzenden Klassen verlieren. Aber das ist es eben: wir haben
abgesehen davon, daß uns manche neue Zöpfe gewachsen sind, noch nicht alle
aus früherer Zeit vererbten abgeschnitten, unter andern auch nicht den des
Mißtrauens gegen unsre wirtschaftliche Kraft. Wenn man dein gegenüber den
scharfen, glücklichen Gegensatz Englands hervorhebt, so wird einem gewöhnlich
die Antwort, daß auf dieser gesegneten meerumflossenen Insel bei gleichzeitiger
größerer Entbehrlichkeit eines zehrenden, Wehrstandes eine ungleich größere
Kapitalfttlle aufgespeichert sei als bei uns, und das ist ja freilich eine leidige
Wahrheit. Allein schon der Hinweis auf die geringe oder doch wesentlich
überschätzte Einträglichkeit so zahlreicher heimischer Jndustriewerte oder auch
ausländischer Papiere, zu deren Erwerb sich das Publikum massenhaft drängt,
überhebt uns jedes weitern Nachweises, daß in Deutschland Kapitalien genug
vorhanden sind, um auch eine vorläufig gewagtere Anlage nicht zu scheuen.
Die technischen Mittel dieses neuen Verkehrs, wie überseeische Banken und der¬
gleichen, wird das Bedürfnis leicht und rasch schaffen, wenn es mir selbst erst
w ausreichendem Grade vorhanden ist. Aus dieser Sachlage ergiebt sich aber
für jeden Wohlmeinenden die doppelt ernste Verpflichtung, mit unuachsicht-
licher Offenheit allen Schwindelgeschäften entgegenzutreten, da diese das Ver¬
trauen des Publikums zu unsern Kolvnialbestrebungen überhaupt mißbrauchen
und verderben; von solchem Gründungsschwindel weiß auch unsre junge Ko-
lvnialgeschichte schon ein Lied zu singen (man denke an die Unternehmungen
der Herren Zehlike und Genossen). Desgleichen sollten nur Männer von er¬
lesener Tüchtigkeit und Arbeitsamkeit hinausgeschickt werden, die zugleich von
dem Bewußtsein erfüllt sind, daß sie nicht bloß eine geschäftliche, sondern anch
eine patriotische Aufgabe übernommen haben. So ärgerliche Zänkereien, wie
sie lange Zeit in Wien an der Tagesordnung waren, thun doppelten Schaden,
indem sie ebenso sehr den geschäftlichen wie den agitatorischen Erfolg unsrer
Kolvnialarbcit beeinträchtigen.
Von entscheidender Bedeutung sür die erfolgreiche Fortführung des Be¬
gonnenen ist das Verhalten des Reichstags und der Regierung. Man erinnre
sich der Äußerung des Fürsten Bismarck, daß er eines sichern Rückhalts an
der Nation und ihrer geordneten Vertretung für die Kolonialpolitik am wenigsten
entbehren könne. Diese Politik muß in ihren Anfängen mit zu vielen unbe¬
stimmten und unbestimmbaren Größen rechnen und sich dabei für etwaige
unvorhergesehene Zwischenfälle immer den Rückgriff ans die Reichskasse vor¬
behalten, als daß die Negierung die alleinige oder vornehmliche Verantwortung
uicht zu drückend finden sollte. Sie unterliegt in dieser Beziehung ähnlichen
Erfordernissen wie ein moderner Krieg, der durchaus populär sein muß, um
mit dem gehörigen Nachdruck geführt werden zu können. Auch der koloniale
Wettbewerb mit dem Auslande setzt ein zuverlässiges Zusammenwirken der
Regierung und der Volksvertretung voraus. Wieder sind uns in dieser Hinsicht
die Engländer dank ihrer hergebrachten praktischen Einsicht und ihres ange-
bornen Nationalstvlzcs bei weitem überlegen. Ich zweifle wenigstens, ob in
England ein ähnlich querköpfiges Urteil möglich oder doch in so weitreichender
Geltung möglich sei, wie der hierzulande noch immer verteidigte Satz: „Afrika
ist ungesund, wo es fruchtbar, und unfruchtbar, wo es gesund ist" — quer¬
köpfig hauptsächlich darum, weil seine Nuhäuger gerade in dieser Kernfrage die
sonst hochgepriesene Autorität unsrer Vettern jenseits des Kanals nicht gelten
lassen wollen, die doch mit dem überzeugendsten Aufwand an ehrlichen und
unehrlichen Mitteln die Beschlagnahme dieser verrufenen Gegenden auf Kosten
fremder Nationen, besonders unsrer eignen, betreiben.
Wie steht es nun mit den voraussichtlichen künftigen Finauzansprüchen
unsrer Kolonialpolitik an das Reich? Kamerun und Togo stehen finanziell
schon auf eignen Füßen, die überschüssigen Verwaltungsausgaben Neuguineas
deckt die Privatgesellschaft; mir Südwest- und Ostafrika belasten noch den
Reichshaushalt. Aber nichts nützlicher und im vorliegenden Falle auch tröst¬
licher, als große Entwicklungen mit dem Maßstab geschichtlicher „Analogien"
zu betrachten lind zu schätzen; man thue es auch hier und erinnere sich nur,
daß im Vergleich zu den allerdings vielaugefochteuen französischen Kvlonial-
erwerbungen der neuesten Zeit unsre bisherigen Aufwendungen eine wahre
„Bagatelle" sind. Und was haben wir damit gewonnen? Wir haben unsre
zukunftsreichste, aber von vornherein am meisten gefährdete Kolonie, aus die
uns durch ein fast beispiellos kühnes Vorgehen Deutschlands verdientester
K^olvuialpolitiker, Dr. Peters, die erste Anwartschaft gab, gesichert: es scheint
geradezu ausgeschlossen, daß jemals in nur annähernd gleichem Umfange der
Aufstand in Ostafrika wieder aufflammen sollte; das Arabertum dort ist durch
Wißmauns Waffen wenn nicht gänzlich niedergeworfen, so doch ans der Neige
seiner Widerstandskraft, und fortan wird die lebenschaffende Arbeit dort er¬
gänzen und befestigen, was das gute deutsche Schwert begonnen und vorbereitet
hat. Unser Vaterland darf in Betreff neuer .Kriegsopfer für Ostafrika ruhig
sein. Wir Gläubigeren aber meinen: der moralische Vorrang, den die that¬
kräftige Niederwerfung der Empörung übereinstimmenden Zeugnissen zufolge
fern am indischen Ozean dem deutschen Namen geschaffen hat, ist die paar
Millionen, so schmerzlich sie bei unsern ungeheuern Militärlasten auch sind,
immerhin wert gewesen; ist dies doch die sicherste Grundlegung für unsre
dortige koloniale Zukunft. Andre Opfer, die in unmittelbareren Sinne ergiebig
sind, werden wir auch leichtern Herzens bringe», und sie dürften kaum gänzlich
ausbleiben. Vor der Hand aber mag man sich in den nächstbeteiligten Kreisen
mit den staatlichen Aufwendungen für eine direkte Dampferlinie nach Sansibar
und die versöhnende, Freundschaft werbende Sendung Emin Paschas zufrieden
geben.
Will man vergleichen, so wird man sagen dürfen: wichtiger noch als die
Haltung der Parteien ist in den fraglichen Dingen die der Negierung bei der
Fülle von „bist'retionüren" Befugnissen, die ihr in Bezug darauf teils nach
der Verfassung, teils nach besondern Gesetzen zustehen. Was dürfen wir von
ihr hoffen? Vor allen: blicken wir mit zuversichtlichen Vertrauen zu der That¬
kraft und Weisheit unsers jungen Kaisers empor, der nach allein, was darüber
verlautet, der Kolonialpolitik ein mehr als bloß pflichtgemäßes Interesse ent¬
gegenbringt. Es versteht sich von selbst, daß sie nnr ein Teilstück ist in einem
weitgespannten Rahmen; sie muß sich deu finanziellen und mehr noch den
großen internationalen Anforderungen der Reichspolitik unterordnen. Wenn
die gegnerische Presse den lebhafter» Freunden dieser Politik nachredet, daß
sie das in ihrer angeblichen Schwärmerei vergäßen, so irrt oder, was in
zehn Fällen neunmal geschieht, verleumdet sie. Aber man sorge, daß sie
je länger, desto mehr zu selbständigem Rechte komme und nie zu einer
bloßen Fundgrube für politische Tauschgeschäfte erniedrigt und entwertet
werde. Daß in dieser mißbräuchlichen Weise bei verschiednen diplomatischen
Vorgängen der letzten Jahre verfahren worden ist, so bei der Abgrenzung
des Hinterlandes von Kamerun und des ostafrikanischen Interessengebietes,
besonders aber bei der unbegreiflich leichtherzigen Preisgebung des Somali¬
landes, das werden selbst kühler denkende, wenn sie nur nicht gerade Gegner
der Kolonialpolitik sind, einräumen müssen. Anders liegt, wie ich kurz ein¬
fließen lassen möchte, die Sache wohl in Betreff der Beteiligung Englands an
ostafrikanischen Besitz überhaupt, die, wie ich glaube, zu Unrecht hin und wieder
als ein Fehler deutscher Diplomatie angegriffen wird. Es war meines Tr¬
achtens kein Fehler, einfach weil es unvermeidlich war. England hatte durch
seine Missionen und durch vieljährige diplomatische Vorbereitung gewisse mora¬
lische Besitzansprüche erworben, denen auf deutscher Seite formell unanfechtbare,
ihrem innern Werte nach aber doch einigermaßen fragwürdige Rechtstitel gegen¬
überstanden; man hätte mit unbilliger und unkluger Schroffheit um den Preis
einer nachhaltigen Verstimmung gegen England vorgehen müssen, um es von
dem leidenschaftlich umworbener Gebiete möglicherweise auszuschließen. Mit
großer Spannung sehen wir nun in diesen Tagen dein Abschlüsse neuer Ver¬
handlungen über Ostafrika zwischen den beiderseitigen Regierungen entgegen.
Es handelt sich an erster Stelle um die 1886 leider versäumte Weiterführung
der nördlichen Grenzlinie unsers Einflußgebietes. Wie bekannt, hat in Ver¬
bindung mit andern eine englische Privatgesellschaft, die südafrikanische,
neuerdings den Plan gefaßt, die Teilungsgeschichte des schwarzen Erd¬
teils in letzter Stunde, soweit als irgend möglich, wieder ungeschehen zu
machen, ein Plan, der ebenso sehr durch seine Kühnheit wie durch die Skrupel-
losigkeit seiner bisherigen Ausführung in Erstaunen setzt. In nächster Zeit
wird voraussichtlich in Berlin die endgiltige Entscheidung über das noch un-
vergebene tropische Jnnerafrika fallen. Die englische Tagespresse spiegelt
die lebhafte Erregung wieder, mit der man jenseits des Kanals Verhand¬
lungen gerade unter den plötzlich veränderten gegenwärtigen Umständen ver¬
folgt. Man war dort in den eingeweihten Kreisen guter Dinge, als Stanley
ohne Sorge um eine deutsche Nebenbuhlerschaft zur angeblichen Rettung
unsers Landsmannes Emin Pascha hinauszog: man wiegte sich in der
freundlichen Hoffnung, daß die Äqnatorialproviuz und Umgebung der hohe
Preis der gebrachten Geld- und persönlichen Opfer sein werde. Es ist
heute kein ernstlicher Zweifel mehr möglich, daß sich ausschließlich auf diesem
eigennützigen Grunde das mit dem heuchlerische» Flitter der Humanität be-
hangene Unternehmen des kühnen Amerikaners aufbaute. 'Die verletzte Ehrlich¬
keit hat sich aber durch seiue Erfolglosigkeit an ihrem Beleidiger zu rächen
gewußt. Desto fieberhafter ist die Ungeduld, mit der man jetzt die begehr¬
lichen Hände nach dem bedrohten lockenden Preise ausstreckt. Es handelt sich
vornehmlich um das Königreich Uganda am Nordwestufer des Viktoriasees,
nicht so sehr deshalb, weil es als fruchtbar gilt und dreihundert Quadrat¬
meilen zählt, was bei den ungeheuern Länderstrecken Afrikas nicht allzu viel
bedeuten will, als vielmehr deshalb, weil es da liegt, wo es liegt, weil es
das Eingangsthor bildet zu den westlichen und nördlichen Sudanlündern mit
ihrer zahlreichen, gewerbfleißigen und kaufkräftigen Bevölkerung, Nun hat es,
wie glaubhafte Nachrichten aus dem Innern soeben verkünden, ein gnädiges
Geschick so gefügt, daß or. Peters, der Führer der deutschen Emin-Pnscha-
Expedition, zur rechten Stunde in Uganda eingetroffen ist. Bestätigt sich die
erfreuliche Kunde, so würde der bisherigen Tragik der Petersschen Unternehmung,
der ohne Wissen des Helden das eigentliche Ziel fast in demselben Augenblick
entzogen ward, als er sie begann, ein Umschwung und Abschluß zu teil, der
ihn selbst und seine teilnehmenden Freunde versöhnen könnte: es wäre ihm
dann gelungen, wie dem vielgeprüften Lande im Herzen Afrikas und der christ¬
lichen Kultur, so auch seinem Vaterlande einen großen Dienst zu erweisen,
indem er von der bereiten Dankbarkeit des schwarzen Herrschers wichtige Vor¬
zugsrechte für Deutschland erbat und erhielt. Wenn uns übrigens Uganda
nicht ohnehin zugedacht sein sollte, so dürfte es sich dringend empfehlen, die
schwebenden Verhandlungen bis zu Peters baldiger Rückkehr auszusetzen. Aber
unser Wunsch sollte in der That kaum einer neuen Begründung bedürfen.
Man blicke auf die Karte und erinnre sich des bei kolonialen Grenzregn-
lirungen gebräuchlichen Grundsatzes, daß das Hinterland dem vorliegenden
Küstenstriche zugehört. Das Lund eröffnet als Durchgang zu dein innern
Afrika zu wichtige Aussichten, als daß wir unsre bessern Ansprüche den eng¬
lischen opfern dürften. schlimmstenfalls sollte eine Teilung zwischen beiden
Rivalen erfolgen, die kaum geographischen oder ethnographischen Schwierig¬
keiten begegnen, freilich immer nur eine unliebsame Abschlagszahlung sein würde.
Wir hoffen, daß der Bureaukratismns untergeordneter Beamten unsern Erwar¬
tungen nicht wieder so übel, wie bei den erwähnten frühern Anlässen, mitspielen
werde. Es sei gestattet, diesem besondern Wunsche noch eine allgemeinere Fassung
zu geben. Alle Politik wird von Personen gemacht, und unsre Kolonialpolitik
hängt nicht zum geringsten Teile ab von den Mitgliedern des in Entstehung
begriffenen Kolvnialamtes. Wir schließen mit dem Ausdruck der Hoffnung,
daß sich in dieser jungen Behörde zu dein bisher herrschenden vorsichtigen
Geiste ein frischer und mutiger geselle, gehegt von Männern, die im über¬
seeischen Dienste bewährt und vorgeschult siud, um die mannichfaltigen Fragen,
die dieser neue Aufgabenkreis unsrer Reichspolitik in Gegenwart und Zukunft
aufwirft, einer gedeihlichen Lösung entgegenzuführen. Deal da wir als Nation
noch lange zu leben hoffen und, wenn nicht alle Zeichen trügen, auch noch zu
leben haben, so gebührt es sich, allerlei Vorkehrungen für die Zukunft zu
treffen, und zu diesen gehört, nicht an letzter Stelle, auch die Sicherung und
der Ausbau unsrer Kolonien.
Im vierten Bande seiner „Deutschen Geschichte" hat
Treitschke eine Charakteristik des „jungen Deutschlands" gegeben, die nach den be¬
kannten Grnttdanschauuugcn des Geschichtschreibers, nach seiner tausendmal bezeugten
Hingebung an die Geschicke und den geschichtlichen Beruf des preußischen Staates,
ohne den es kein neues deutsches Reich gäbe, unes der warmblütige» und leiden¬
schaftlichen Natur, die Treitschke in Liebe und Haß immer und überall bewährt
hat, nicht anders als abfällig und verurteilend ausfalle» konnte. Ob jedes Wort
Treitschkes über Heine, Börne und Gutzkow in Zukunft allgemein unterschrieben
werden wird, ob des Geschichtschreibers Berücksichtigung einzelner geistiger Strömungen
und litterarischer Erscheinungen im richtigen Verhältnis zu seiner meisterhaften Dar¬
stellung der Vorgänge im preußischen Staatsleben steht, ob es eine Betrachtungs¬
weise giebt, die die Ursachen gewisser Krankheiten und Ausschreitungen der dreißiger
und vierziger Jahre schärfer und damit auch gerechter gegen die unerquicklichen und
verhängnisvollen Wirkungen eben dieser Krankheiten abwägt, als dies bei Treitschke
geschehen ist, das alles sind Fragen, die gestellt und je nach der Überzeugung des
Einzelnen verschieden beantwortet werden können. Wir waren der Meinung, daß
auch bei der weitesten Abweichung im Einzelurteil oder im Ausdruck des Einzel¬
urteils sich kein eigentlicher Gegensatz zu der Gesamtnnschmmug Treitschkes ergeben
würde, daß aber selbst ein grundsätzlicher Gegensatz die Bewunderung, die Achtung,
die Treitschkes große und energievolle Darstellung jedem Deutschen einflößen muß,
nicht vermindern, geschweige denn aufheben könne. Wir wissen leider, daß keine
geistige Leistung und Schöpfung norddeutschen, Protestantischen Ursprungs ans die
Würdigung unsrer ultramontane» Fanatiker rechnen darf, und daß von dieser Seite
her ein Buch wie die „Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert" nicht
Kritik, sondern lediglich Schmähung zu erwarten hat. Und daß die sozialdemo¬
kratische Partei, die im Staate selbst nichts erblickt, als deu Zusammenschluß der
Bevorrechteten zu gemeinsamer Ausbeutung der Besitz- und Rechtlosen, dem Geschicht¬
schreiber feindlich gesinnt sein muß, dessen Herz deu Siegen und Ehren und der
heißen und ernsten Arbeit schlägt, durch die wir unsre Kultur und den neuen
deutschen Staat gewönne» habe», erscheint so natürlich, daß es nicht der Mühe
lohnt, ein Wort darüber zu verlieren. Darüber hinaus schien uns ein Augriff auf
die Gesamtheit eines Werkes undenkbar, das vom reinsten vaterländischen Geist
erfüllt, die Reife Polnischer Einsicht mit dem Ernst des Forschers und der Kraft
des lebensvollen historischen Erzählers verbindet, die der Kraft des epischen Dichters
am nächsten verwandt ist.
Nun belehrt uus eine Schrift des or. Paul Nerrlich, des verdienstvollen
Biographen Jean Pauls, daß wir uns hierin gründlich geirrt, daß selbst ein
Schriftsteller, der Bismarck „unsern politischen Genius" nennt, den Anlaß der
Treitschlische» Beurteilung des „jungen Deutschlands" ergreift, um eine ingrimmige
Verurteilung des Treitschkischen Geschichtswerkes in die Welt zu schleudern. Freilich
nennt sich die besagte Schrift nur Herr von Treitschke und das junge Deutsch¬
land (Berlin, Rosenbaum und Hart, 1890) und scheint zur Widerlegung der An¬
sichten geschrieben zu sein, die Treitschke über die Schriftsteller des „jungen Deutsch-
lands" ausgesprochen hat. Aber daß Nerrlich beabsichtigt, mehr zu erreichen als
eine Revision der Urteile Treitschkes über Heine oder Börne, Gutzkow oder Munde,
das legt er in seinen Schlußsätzen aufs bestimmteste an den Tag. „Es könnte
jemand mir das taut etc? in'uit -»our uns muslstts vorhalten und sagen, diese
wenigen soeben besprochenen Blatter können ja immerhin preisgegeben werden,
davon wird aber der Wert des übrigen, schon jetzt vier starke Bände umfassenden
Werkes nicht betroffen; Treitschke ist in erster Linie Polnischer Geschichtschreiber,
als solcher kann er sich sehr wohl bleibende Verdienste errungen haben, selbst wenn
er diese unbedeutende Episode weniger befriedigend aufgefaßt und dargestellt hätte.
Über den speziell Politischen Teil des Buches zu urteile«, steht mir nicht das Recht
zu; ich erlaube mir jedoch für meine Person von vornherein zu bezweifeln, daß
ein Schriftsteller in demselben Buche das Muster von Gewissenhaftigkeit, Klarheit,
umfassender Gelehrsamkeit sein könne, in welchem er so unzweifelhafte Beweise des
Gegenteils gegeben hat. Doch die Zeiten, in welchen das »junge Deutschland«
noch von irgend jemandem als unbedeutende Episode angesehen wird, sind hoffentlich
in kurzem auf Nimmerwiederkehr vorüber. Ans unsern politischen Genius, ans
Bismarck, wird im neuen Jahrhundert der religiöse Genius folgen, dann aber wird
man sich auch wieder desjenigen Mannes erinnern, dem unser naturwissenschaftliches
Zeitalter eine bescheidene Büste im abgelegenen Winkel der Hauptstadt der Intelligenz,
hinter der Universität gegönnt hat, während die beiden Humboldts, deren unsterbliche
Verdienste irgendwie zu schmälern ich der letzte bin, die aber doch vor einem Hegel
bescheiden in den Hintergrund treten müßten, ans ihren lächerlichen Stühlchen in
der Front Paradiren. Hegel wird dann allerdings wiederum das Feldgeschrei werden,
um welches sich die Beste» der Nation, ja die Besten der Welt scharen; aber nicht
der Hegel, welchem ein Göschel und Conradi, sondern welchem ein Strauß und
Feuerbnch die Schleppe tragen." Und weiter unten heißt es! „Treitschke erklärt
die darstellende politische Geschichtschreibung für die Krone der historischen Wissen¬
schaften. Er wird dann Recht haben, wenn neben dem Staat keine Kirche mehr
besteht, wenn der Staat nicht mehr Polizeianstalt oder im besten Falle Rechtsstaat,
sondern wenn er Hnmanitätsstnat geworden ist, wenn er, wie Hegel dies gewollt
hat, sich in die göttliche Idee umgewandelt hat, wie sie ans Erden vorhanden ist.
In dieser Zeit wird die Politische Geschichte in der Kulturgeschichte und dem, was
jetzt Kirchengeschichte heißt, aufgehen, dann aber wird man auch Wagenladung nach
Wagenladung solcher Bücher den Flammen preisgeben, welche die politische Geschichte
der vergangnen Jahrhunderte geschildert haben." Und zu allem Überfluß trägt
das Titelblatt der Nerrlichschen Schrift als Motto einen brieflichen Ausspruch deS
verstorbnen Arnold Ruge, der an gut pommerscher Grobheit nichts zu wünschen
übrig läßt, aber wohl nur im Kreise der Fortschrittspartei für ein „Urteil" ge
nommer werden kann und will.
Wir haben hier weder Beruf noch Raum, die Gesamtheit des großen
Treitschkischen Werkes gegen Nerrlichs Angriff zu verteidigen, noch unsre sehr weit¬
gehenden Zweifel in Bezug auf die Zutüuftsphautasie zu ttußeru, wonach im
zwanzigsten Jahrhundert der Staat der Gott auf Erden und Hegel sein Prophet
sein wird. Zu der Geringschätzung der Politischen Geschichte vergangner Jahr¬
hunderte gestatten wir uns die einfache Bemerkung, daß, wenn selbst eine Zeit
kommen sollte, die alle Geschichte in Geistesgeschichte umwandelt, die Bedeutung
einer geistvollen Darstellung wie die Treitschkische für die Gegenwart und nächste
Zukunft in keiner Weise herabgesetzt werden würde. In diesem Jahrzehnt und
wahrscheinlich in manchem folgenden leben wir noch im Rechtsstaat, für Hundert-
tausende ist die genaueste Kenntnis des Ringens zwischen den Überlieferungen des
Rechtsstaates und den ans andern Lebensgebieten hereindriugenden Anschauungen,
ist das Verständnis für die Kämpfe, unter denen der nationale Gedanke seine Ver¬
körperung gewann, unerläßlich, Hunderttausende bedürfen klarer Einsicht in die
nächste Vergangenheit und haben alle Ursache, sich mit dein zu befasse», was der
Philosoph „unwichtig" nennen mag, Hunderttausende wollen für die politischen
Aufgaben der nächsten Zukunft belehrt, gestärkt, ermutigt und erhoben sein. Was
sollen solchen Thatsachen gegenüber die Prophezeiungen von einem philosophischen
tausendjährigen Reiche!
Doch wie gesagt, es ist heute uicht unsers Amtes, das historische und Politische
Verdienst des Treitschtischen Werkes hier zu vertreten, sondern wir haben es mit der Ver¬
teidigung zu thun, mit der Nerrlich den Urteilen über und Angriffen Treitschkes Wider die
„jungdeutschen" Schriftsteller entgegentritt. Und hier sind es nicht Einzelheiten, die wir
bekämpfen, Einzelurteile, denen wir Wohl hie und da zustimmen könnten, sondern der
Grundton der Schrift, die Wiederbelebung des alten Sophismus, nach dem es ge¬
radezu unmöglich ist, sei es vom historisch-politischen, sei es vom ästhetische» Stand¬
punkt aus el» Urteil über die Mängel und Unzulänglichkeiten der Schriftsteller
des jungen Deutschlands überhaupt abzugeben. Der Sophismus besteht darin, daß,
sobald mau von der unzureichenden Gestaltungskraft, der «»künstlerischen Mischung
poetischer »ud abstrakter Elemente, der geistreich sein wollenden Willkür in den angeb¬
lichen Dichtungen der Jungdeutschen spricht, man belehrt wird, daß diese Schriftsteller
von: politischen Zug und Drang der Zeit erfüllt gewesen seien, daß sie wesentlich
als Publizisten angesehen werden müßten, sobald aber damit Ernst gemacht und
der Maßstab angelegt wird, den man an politische Erwecker und Lehrer des Volkes
legen muß, so „zeigt sich sonnenklar, daß derartiges nicht vor das Forum der
Moral, sondern lediglich der Ästhetik gehört." Die Doppelnntnr Heinrich Heines,
der ein echter Dichter und ein poetisirender Tendenzschriftsteller zugleich war, die
jeder eingehenden und vollends der lakonischer Beurteilung Schwierigkeiten ver¬
ursacht, soll nach der Forderung aller Verteidiger Jungdeutschlands und anch des
neuesten alle» den Zwitternatnren vom Schlage Mundes und Wienbargs zu gute
komme». Ein- für allemal sollen die Forderungen, die der Ästhetiker an den Dichter
stellen darf, ja muß, für die Jungdeutschen mit der einfachen Versicherung beseitigt
werden, daß sie Besseres zu thun gehabt hätten, als den: einseitigen Kultus des
Schönen zu huldige«. Nimmt man aber die Lobpreiser dieser Richtung beim Wort,
räumt man ein, daß das Verdienst der jungdeutschen Schriftsteller in der Erweckung
politischen Sinnes, in der Vorbereitung politischer Thatkraft gelegen habe, ja gefleht
man überdies uoch zu, daß die trostlosen Zensurverhältnisse im damaligen Deutsch¬
land auch eine ernste und tüchtige publizistische Kraft haben nötigen können, sich in
den Mantel des Belletristen zu hüllen, so ertönt wiederum ein Jammergeschrei
über die ungerechte Herabsetzung verdienter Dramatiker und Romanschriftsteller.
Gutzkow zum Beispiel hat sein Leben hindurch in Vor- und Nachworten das kurze
Gedächtnis wie den schwarzen Undank derer beklagt, die die Stimmungen und die
Leiden der dreißiger Jahre in seinen Erfindungen und Gestalten nicht fühlten, er¬
kannte» und würdigten, um dann doch jeden, der in billiger Erwägung der Zeit-
einslüsse die poetischen Mängel entschuldige» wollte, als einen Verkleinerer und
Lästerer seines poetischen Genius anzuklagen. Wenn wir die Schrift Nerrlichs
lesen, so beschleicht uns die Besorgnis, daß wir, dank unserm Parteiwesen, aus
dieser unerträglichen Unklarheit und Zweideutigkeit noch lange nicht herauskommen
werden.
Über das Verhältnis der Jungdeutschen zum Vaterlands und über ihre Ver¬
dienste um unsre ^ politische Entwicklung mag gestritten werden; aber schlechthin
unzulässig ist es, selbst die bewiesenen Verdienste als ein Gegengewicht für Poetische
Geschmacklosigkeiten, für litterarische Barbareien anzuführen. Wenn sich Nerrlich
sonst gern auf Arnold Ruge beruft, warum läßt er ihn dann in Bezug auf die
jungdeutschen Halbromnne, Halbnovellen, auf die greuclvollen, Mischungen von Leit¬
artikeln und poetischen Ansätzen nicht als Autorität gelten? Es giebt ganze Reihen
von Urteilen aus den „Jahrbüchern" und anderwärts, die gegen anspruchsvolle
künstlerische Unzulänglichkeit in den poetisch sein wollenden Werken jungdeutscher
Schriftsteller kräftig genug protestiren; gerade Rüge hat mehr als einmal ,,das
sittlich Schlechte in Werken der Kunst uicht unmittelbar als solches, sondern als
Häßliches dargestellt," weshalb wird er nun gegen Treitschke ins Feld geführt? Doch
Nerrlich findet nun einmal „die geringe dichterische Gestaltungskraft, bei der die
Erzählung ein Vehikel für Reflexionen ist" (die er wenigstens sür Theodor Munde
zugesteht) aufgewogen durch das Verdienst, „Pfeile des Geistes in ihre Zeit hinaus¬
zuschicken, um das Volk der Deutschen aufzuregen und auszuschütteln." Er fordert
zu gleicher Zeit die ästhetische Beurteilung dichterischer Leistungen und lehnt diese
Beurteilung ab, wenn die Jungdeutschen dabei notwendig zu kurz kommen.
Die Nerrlichsche Schrift ist uicht der einzige Versuch aus neuerer Zeit, das
junge Deutschland rückblickend zu verherrlichen. Wir können nur wünschen, die
Lobredner dieser Litteraturepisode brächten es dazu, daß Gutzkows „Maha Guru",
„Wally" und „Seraphine," daß Mundes „Madonna" und „Ccirmela," daß Kühnes
„Quarantäne im Irrenhaus" einmal wieder von einigen tausend Menschen gelesen,
„genossen" werden müßten als das, was sie sein sollen, was sie heißen, als Dich¬
tungen, als Kunstwerke. Wir würden daun wenigstens wieder auf ein Paar Jahr¬
zehnte vor der Behauptung Ruhe haben, daß jeder Kritiker, der diese und ähn¬
liche Leistungen nicht bewundern kann, der wider Heine bei aller Bewunderung
ein Aber hat, in den Wegen des Hofpredigers Stöcker wandle.
In Ur. 20 der Grenzboten
ist dieses Schauspiel einer ebenso scharfsinnigen wie zutreffenden Beurteilung unter¬
zogen worden, in der mit vollem Recht auf die gefährliche» „zersetzenden Ten¬
denzen" des Stücks, auf die in ihm vertretene und im niedrigsten Bühnenpathos
gepredigte „Moral der Gasse" aufmerksam gemacht und die völlige Hohlheit
seines „sittlichen Demokratentums" dargethan wird. Nur in einem Punkte be¬
findet sich der Verfasser in einem Irrtum oder doch in Unkenntnis offenkundiger
Thatsachen, wenn er nämlich schreibt, daß „das Schauspiel ohne jede Reklame,
ohne die Gunst oder Ungunst irgend welcher Vorurteile lediglich durch sich selbst
gewirkt" habe. Wenn er den Vorzug gehabt hätte, der ersten Aufführung des
Schauspiels im Berliner Lessingtheater beizuwohnen, oder wenn er sich die Mühe
genommen hätte, die fieberhafte Betriebsamkeit eines Teils der Tngespresse seit
jener ersten Aufführung zu Gunsten Sudermanns zu verfolgen, so würde der an¬
geführte Satz wahrscheinlich so gelautet haben: „Im goldenen Zeitalter der Re¬
klame ist die journalistische Lärmtrommel für ein litterarisches Erzeugnis noch nie
so emsig, so kunstvoll und so unermüdlich bearbeitet worden wie für Sudermanns
Schauspiel: Die Ehre." Wer jeuer ersten Ausführung beigewohnt hat, konnte nach
einem Blick auf die Zusammensetzung des Publikums und nach Kenntnis der von
dem Berliner Tageblatt geebneten und mit Lorbeer bekränzten litterarischen Lauf¬
bahn des Verfassers vor dem Beginn der Vorstellung keinen Augenblick über
ihren Ausgang im Zweifel sein. Bereits nach dem ersten Akte brach ein Beifalls¬
sturm los, der deutlich erkennen ließ, daß der grüßte Teil des Publikums „seinen"
Dichter gesunden hatte und entschlossen war, die Dichterkrönung um jeden Preis,
wenigstens auf diesem Kapital, zu vollziehen. Seitdem bildeten Silbermann und
seine „Ehre" wochenlang eine stehende Rubrik im Berliner Tageblatt, im Berliner
Börsenkouricr und in der geistesverwandten Presse. Mit Peinlicher Sorgfalt wurden
sämtliche Bühnen verzeichnet, die die „Ehre" zur Aufführung angenommen hatten.
Die Tage der ersten Aufführungen wurden lange zuvor angekündigt, und über jeden
Erfolg berichteten Privattelegramme „unsrer Herren Spezialkorrespondenten" in den
stärksten Superlativen. Von Sudermanns Reiseplänen wurde das Publikum so
feierlich in Kenntnis gesetzt, wie von denen eines regierenden Fürsten. Man er¬
fuhr, daß sich Silbermann nach der Riviera begeben habe, um dort im Verein
mit einem andern Schriftsteller ein neues Schauspiel fern vom Lärm der Gro߬
stadt auszuarbeiten, man ging sogar so weit, zu Ehren des neuen Litteraturgötzen
ältere zu eutgöttcru und ihre menschliche Blindheit zu enthüllen. Man erzählte sich,
daß der Leiter des „Berliner Theaters" die unbegreifliche Kurzsichtigkeit besessen
habe, das ihm zuerst angebotene Schauspiel abzulehnen, und daß der Direktor des
Lessingtheaters, der bis dahin für einen der klügsten Köpfe und einen der geist¬
reichsten und unfehlbarsten Kritiker im letzte» Viertel des neunzehnten Jahrhunderts
gegolten hatte, noch bis zum Tage der Aufführung an dem Erfolge des Stückes
ernste Zweifel gehegt habe. Der Sieg Sudermanns war also ein doppelter! der
Bühnenpraktiker und der Kritiker waren in gleichem Maße beschämt worden.
Der Lohn dieser Ameisennrbeit zum Ruhm einer Sache, deren letzte Grund¬
lagen noch etwas tiefer zu suchen sind, als der Verfasser der Grenzbotenkritik glaubt
oder sagt, ist uicht ausgeblieben. Man kann von Frankfurt a. M. nach Königsberg
reisen, und man kann sicher sein, in den Schaufenstern der Buchhandlungen aller
größer» Städte das photographische Bildnis des „schönen Sudermann," umgeben
von seinen sämtlichen Werken, zu finden. Vielleicht hat dabei auch noch die unter¬
irdisch arbeitende Kraft irgend eines Annoncenbüreans mitgewirkt, das den
Sortimentsbuchhändlern das Porträt Sudermanns als einen „hochaktuellen, höchst
absatzfähigen Artikel" angepriesen hat. Der „schöne Sudermann" ist übrigens eine
Erfindung des Berliner Tageblatts, das den Faden der Reklame mit unver¬
minderter Stärke weiterspinnt. Es besitzt einen Berichterstatter, der fast beständig
für die vielseitigen Zwecke der Zeitung und des von ihr bedienten Verlags herum¬
reist. In einem seiner „Kritischen Reisebriefe für das Berliner Tageblatt" ans
Königsberg (abgedruckt am 14. Mai) schreibt er: „Der Haupttreffer der verwichenen
Schauspielsaison war übrigens, wie an vielen andern Bühnen, auch hier Suder¬
manns »Ehre.« Das Bild des Dichters, der bekanntlich (!) ein Königsberger ist,
hängt in allen Kunsthandlungen, und im benachbarten Seebad Cranz sollen die
Wohnungen im Preise gestiegen sein, seit bekannt geworden, daß der schöne Suder¬
mann in diesem Sommer dort baden werde. So versichert mir wenigstens seine
geistreiche Kollegin Adelheid Weber, die bekannte Romanschriftstellerin." Zwei
Reklamen ans einmal, von denen die erstere allerdings den Vorzug eiuer Pikanterie
hat, die man in Deutschland bisher noch nicht gewagt und auch in Frankreich und
England nnr erst bei Preisringern, Boxern, Trapezkünstlerinnen u. dergl. in. geübt
hat. Wir sagten aber, daß die Reklame systematisch von Frankfurt bis Königsberg
mit gleicher Heftigkeit betrieben werde. Zum Beweis dafür ein Zitat ans der
Frankfurter Zeitung vom 13. Mai, die natürlich denselben Strang wie ihre
Berliner Kolleginnen zieht. Ihr Korrespondent aus Stuttgart bricht am Ende
eines Theaterberichts in folgende Jeremiade uns: „Sudermanns Schauspiel »Die
Ehre,« dem man mit großem Interesse entgegengesehen, ist leider vom Repertoire
wieder abgesetzt worden, und es scheint fast, als ob wir das langerwartete Stück
überhaupt nicht zu sehen bekommen werden si. wurden^; für diese Spielzeit ist
wenigstens alle Hoffnung geschwunden." Die hoffnungslosen Stuttgarter wissen
gar nicht, wie beneidenswert sie find!
Die große neunbändige Weltgeschichte des Grazer Professors Joh. Bayl. Weiß
hat im deutschen Reiche bor Schlossers, Webers und Rankes Werken zurücktreten
müssen. Sehr beliebt scheint sie in Österreich zu sein, wie schon die Thatsache
beweist, daß sie jetzt in dritter Auflage ausgegeben wird und zwar in, Lieferungen,
völlig umgearbeitet und auf zwanzig Bände erweitert. Die erste Lieferung (im
Preise von 85 Pfennigen) ist Ende vorigen Jahres ausgegeben worden; mit der
achten Lieferung liegt der erste Band, der die alte Geschichte der orientalischen
Völker bringt, nebst Einleitung und Inhaltsverzeichnis abgeschlossen vor. Das
ganze Werk soll in fünf bis sechs Jahren vollendet sein.
Ein eigentümlicher Vorzug der Weißischen Weltgeschichte ist schon früher ge-
legentlich in deutschen Besprechungen hervorgehoben worden: es ist die Reichhaltig¬
keit des Buches an geographischen und sittengeschichtlichen Schilderungen. Der
Verfasser nimmt gern größere Stücke aus den wichtigsten alten Schriftstellern und
den besten neuern Geschichtschreibern, gewissermaßen als Anmerkungen, in kleinerm
Druck in seine Darstellung ans. Man kann sein Werk — im besten Sinne! —
als eine überaus geschickte Kompilation bezeichnen. Dieser Vorzug des Buches wird
»och deutlicher in. den spätern Bänden hervortreten, wenn sich die Darstellung den
Völkern zuwendet, deren Geschichte in guter und zuverlässiger Überlieferung bekannt
'se. Bei diesem ersten Bande darf der Vorwurf uicht ganz unterdrückt werden,
daß der Verfasser den Fabeleien der Griechen vielfach einen zu großen Raum ge¬
stattet und neuern Ansichten zuweilen etwas schnell folgt. Anderseits muß mau
anerkennen, daß er eine Fülle von Stoff nach eingehenden Vorarbeiten zu einer
fesselnden Darstellung zusammengefaßt hat.
Wir werden wohl Gelegenheit haben, bei den spätern Bänden das Werk noch
unter andern Gesichtspunkten zu besprechen.
Nur eine kleine Anzahl Bücher kann denen, die nach Italien oder Griechen¬
land reisen wollen, zur Vorbereitung empfohlen werden. Noch geringer aber ist
die Zahl derer, die man auch uach der Rückkehr aus dem Süden gern und häufig
Wieder aufschlägt, um die eignen Erfahrungen zu prüfen und zu läutern. Die
Beschreibung der vorliegenden raschen „Maienfahrt dnrch Griechenland" gehört
weder zu jenen noch zu diesen. Der Verfasser zählt auf nachsichtige Leser. Und
Nachsicht ist allerdings nötig, wenn man das Buch uicht bald unwillig zur Seite
legen soll. Zwar sind die landschaftlichen Schilderungen lebhaft und anschaulich,
die Erzählung der kleinen Reiseabenteuer ist anspruchslos und unterhaltend, und
manchem werden die eingestreuten Übersetzungen kurzer griechischer Erzählungen und
Volkslieder willkommen sein; aber auf dein Gebiete der Geschichte und Kunst¬
geschichte, ja selbst bei der Beurteilung des griechischen Volkes und Volkslebens
begegnet man zahlreichen schiefen Urteilen und einer offenbar ungenügenden Vor¬
bildung des Verfassers.
Die Frühlingsreisen nach Griechenland und Ägypten scheinen allmählich auch
in Dentschland zu einer Art von Sport der reichen Welt zu werden. Doch sollte
man es wenigstens dabei bewenden lasten. Man urteile auf der Tribüne und am
Sattelplatz, wie man will und kann, und wer es über sich gewinnt, mag auch sein
Rößlein ohne Aussicht auf Erfolg in der Rennbahn mittraben lassen und eiuen
Rennbericht schreiben; aber man braucht doch nicht nach jedem Frühlingsrennen
eine ganze Geschichte des Sports in die Welt zu senden! Freue man sich auch
um der eigentümlichen Schönheit der griechischen Landschaft und versenke sich auf
den Trümmern einer geweihten Stätte in geschichtliche Erinnerungen und Be¬
trachtungen, und wer dem Drange nicht widerstehen kann, veröffentliche seine Reise¬
briefe und Tagebuchaufzeichnungen; aber die Lösung der großen geschichtlichen und
tUnstgeschichtlichen Rätsel überlasse man denen, die dazu berufen sind. Das vor¬
liegende Buch hätte nur gewinnen können, wenn der Verfasser bloß über seine
Reise und Reiseerlebnisse geplaudert und auf das xroÄvWv zu Gunsten deL
ckolsotaro verzichtet hätte. Ein offen eingestandnes Nichtwissen ist angenehmer, als
wortreiches Halbwissen und Wifsenwollen."
Auch die Form könnte sorgfältiger sein; gegen Worte wie „griechischartig
(soll heißen „griechisch," „nach Art der Griechen") und gegen Unsinn wie: „Wer
aber den heiligen Bezirk von Olympia recht kennen lernen will, muß mit mir(!)
den Kronvshügel erklimmen" sollte sich die Feder sträuben.
Der dänische Litterarhistoriter Georg Brandes hat voriges Jahr ein
Schriftchen herausgegeben, worin er sich erfrecht, von Bismarck zu behaupten, daß
er nicht auf der Hohe der deutsche» Kultur stehe, unserm Moltke den „Stempel
des freieir Mannes" abzusprechen und das jetzige Dentschland geistig verroht zu
schimpfen, Weil es keinen Goethe auszuweisen hat. Leider fand sich ein Mann, der
das Machwerk ins Deutsche übersetzt, und ein andrer, der diese Übersetzung ver¬
legte. Dem unsern Lesern wohlbekannten Verfasser der Broschüre „Bismarck wird
alt" hat der patriotische Zorn über diesen Unfug die Feder in die Hand gedrückt, und
er züchtigt den frechen Patron nach Gebühr; auch mit den litterarischen Ansprüchen
des eitlen Dänen geht er unbarmherzig ins Gericht. Die Schrift ist von Anfang
bis zu Ende lebhaft und packend geschrieben; aus seiner zornigen Begeisterung
sprudelt der Verfasser eine Menge schöner Gedanken und witziger Einfälle hervor.
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^TMer den fast seit einem halben Jahrhundert in Osterreich ans der
Tagesordnung stehenden nationalen Krakehl mit dem Blick des,
unbefangenen Beobachters verfolgt hat, dem kommt immer wieder
das Goethische Wort in den Sinn: „Vernunft wird Unsinn,
Wohlthat Plage." Wenn man sieht, wie heute die Dinge stehen,
und welche Früchte durch das heillose Treiben gezeitigt worden sind, darf man
mit Fug und Recht auch den zweiten Teil des Spruches „Weh dir, daß du
ein Enkel bist!" hinzusetzen. Man sollte denken, ein großes, aus den ver¬
schiedensten Nationalitäten zusammengesetztes Staatswesen, wie das österreichische,
bedürfe mit zwingender Notwendigkeit eines gemeinsamen, allen diesen Stämmen
zugänglichen lind geläufigen Verständigungsmittels, einer Reichs-, Amts- -oder
Verkehrssprache, gleichviel wie man den unentbehrlichen Behelf nennen will.
Daß dieses gemeinsame Verkehrsmittel, wie die Dinge nun einmal stehen, nur
die deutsche Sprache sein kann, was sie ja auch, wenigstens zur Zeit uoch,
thatsächlich ist, scheint so einleuchtend, daß es keines Wortes weiter bedarf.
Wunderbarerweise ist man aber seit Jahrzehnten eifrig und nicht ohne Erfolg
bestrebt, das Geltungsgebiet der deutschen Sprache in Österreich möglichst ein¬
zuengen, und dies geschieht in einer Zeit, wo einerseits durch die erstaunliche
Vervollkommnung der Verkehrsmittel die Völker einander örtlich immer näher
rücken, und anderseits das Darwinsche Wort vom Kampf ums Dasein längst
zur harten Wahrheit geworden ist. Auf allen Gebieten menschlicher Thätig¬
keit sehen wir heute einen Wettbewerb, von dein unsre Alten keine Ahnung
hatten, und fast überall übersteigt das Angebot bei weitem die Nachfrage.
Ich frage: Müßte unter solchen Umständen nicht die eifrigste Fürsorge
se'wohl der Familie wie des Staates darauf gerichtet sein, das heranwachsende
Geschlecht mit den besten Waffen für den spätern unvermeidlichen Kampf aus-
zurüsten? Zu diesen Waffen gehört aber ohne Zweifel auch die gründliche
Kenntnis der modernen Weltsprachen, für Österreich, mit Rücksicht auf feine
besondern Verhältnisse und auf seine nächste Umgebung, in erster Reihe
die der deutschen. Dem Nachwüchse diese unentbehrliche Kenntnis zu ver¬
schaffen ist zunächst Aufgabe der Schule. Unbestreitbar hat Österreich, das
sein Schulwesen vorwiegend nach deutschem Muster umgestaltet und eingerichtet
hat, im Laufe der letzte» Jahrzehnte auf diesem Gebiete sehr Bedeutendes ge¬
schaffen. Nur wer die frühern Zustände noch aus eigner Anschauung kennt,
vermag den Fortschritt nach Gebühr zu würdigen. Wie viel sich auch vom
politischen Standpunkt aus gegen den seligen Konkordatsgrafen Leo Thun
sagen läßt, das große Verdienst, als Unterrichtsminister die Umgestaltung des
österreichischen Gymnasial- und Universitätswesens mit fester Hand angebahnt
und größtenteils auch durchgeführt zu haben, muß ihm ungeschmälert bleiben.
Trotz aller politischen und nationalen Wirren wurde seitdem auf dein Gesamt¬
gebiete des öffentlichen Unterrichts rüstig weiter gearbeitet, und heute hat die
diesseitige Hälfte der Monarchie in Herrn von Ganthas einen Unterrichtsminister,
der sein Amt sehr ernst nimmt und nicht nur den guten Willen, sondern auch
die Thatkraft besitzt, trotz der ihm von so mancher Seite in den Weg gelegten
Hindernisse seine Ideen zur Geltung zu bringen.
Aber ein> schwerer Übelstand, um nicht zu sagen ein organisches Gebrechen,
ist vorhanden, der sich von Jahr zu Jahr lebhafter fühlbar macht, und auf
den sowohl in der Presse wie in dem österreichischen Parlament bereits mehrfach
und mit Nachdruck Angewiesen wurde. Um es kurz zu sagen: der nichtdeutsche
Nachwuchs, gleichviel ob er seine Bildung an nationalen Gymnasien, Real¬
schulen, Handelsschüler, Lehrerbildungsanstalten oder Priesterseminarien erhält,
lernt heute nur noch sehr unvollkommen Deutsch. Die Prüfnngsergebnisse an
der juristischem (hier sagt man juridischen) Fakultät der Prager tschechischen
Hochschule haben dies seit einiger Zeit schlagend dargethan. Ferner ist es
bereits öffentliches Geheimnis, daß die Reifeprüfungen aus den nationalen
Mittelschnlen, sowie die Prüfungen zum Einjährig-Freiwilligendienste, was die
Kenntnis der deutschen Sprache betrifft, immer kläglichere Ergebnisse ausweisen.
Der Germanist or. Werner, Professor an der Lemberger Universität, sagte
neulich rund heraus, die Mehrzahl der mit dem deutschen Unterricht an den
polnischen Mittelschulen betrauten Lehrkräfte besäße selbst mir eine ganz un¬
genügende Kenntnis des Deutschen. An gewissen nationalen Mittelschulen soll
man sich sogar schon stillschweigend dahin geeinigt haben, einer mangelhaften
Kenntnis der deutschen Sprache keinen entscheidenden Einfluß auf das Gesamt¬
ergebnis der Reifeprüfungen einzuräumen.
Unter solchen Umstünden liegt wohl die Frage nahe, was aus den jungen
Leuten, die mit mangelhafter, wenn nicht ganz unzureichender Kenntnis des
Deutschen aus der Mittelschule zur Hochschule oder ins praktische Leben über-
treten, und aus denen der Staat seine Beamte!,, das Heer seine Offiziere und
Unteroffiziere, Handel und Gewerbe ihre Vertreter holen müssen, schließlich
werden soll? Wie können sie bei dem heute so schweren und rücksichtslosen
Wettbewerb den Kampf ums Dasein aufnehmen und bestehen? Vor allem aber
entsteht die Frage: In welcher Weise ist gegen diese handgreifliche und sich
immer drohender gestaltende Gefahr Abhilfe zu schaffen?
Zur richtigen Erkenntnis und Beurteilung der Sachlage ist es nötig, den
wirklichen Stand der Dinge sins ir-i »wüio darzuthun.
Alle die Herren, die heute im österreichischen Parlament in deutscher (!)
Sprache so schmerzlich über „Germanisirung" klagen und so tapfer für ihre
„bedrückten" Nationalitäten eintreten, sind seiner Zeit aus Anstalten mit deutscher
Unterrichts- oder Bortragssprache hervorgegangen. Ist es nun nicht merk¬
würdig, daß sie trotzdem nicht germanisirt worden sind? Es scheint also, daß
die deutsche Unterrichtssprache denn doch keinen so verderblichen Einfluß ans
die nationalen Gefühle ausgeübt habe. Als nach dem Jahre 1848 das natio¬
nale Evangelium über Osterreich kam, ging das Bestrebe» der nationalen Wort¬
führer vor allem dahin, die Schule in die Hand zu bekommen. Wie kann ein
Unterricht erfolgreich sein, hieß es und heißt es auch heute noch, wenn er nicht
in der Muttersprache des Kindes erteilt wird? Also nationale Schulen, selbst¬
verständlich auch mit Unterricht im Deutschen! Natürlich kam es bei Besetzung
der Lehrstellen mehr auf korrekte nationale Gesinnung als auf didaktische Be¬
fähigung an. Doch dies nnr nebenbei. An die nationalen Volksschulen reihten
sich im Laufe der Zeit die nationalen Mittelschulen, und an diese, wenn auch
zur Zeit noch nicht in allen nichtdeutschen Krvnlündern, die nationalen .Hoch¬
schulen, in erstern mit einer beschränkten Zahl teils obligatorischer, teils fakul¬
tativer wöchentlicher Unterrichtsstunden im Deutschen, an letztern mit Lehr¬
stühlen für deutsche Sprache und Litteratur. „Die Jugend soll und muß ja
auch Deutsch lernen — sagte man —, aber die nationale Sprache bleibt die
Hauptsache." Die Versassungspartei, d. h. die damals am Nuder befindliche
deutsche, machte hierbei noch einen Hauptgeniestreich. Im dritten Alinea des
bielberufenen Paragraphen 19 des StaatSgrundgesetzes von Dezember 1867
heißt es ausdrücklich: „In Ländern, in denen verschiedne Nationalitäten wohnen,
müssen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, daß jede
dieser Nationalitäten die Mittel findet, den Unterricht in der eignen Sprache
ohne Verpflichtung zur Erlernung einer andern Landessprache zu erhalten."
Welchen Erfolg dieser absonderliche Zusatz, durch den die Prager Kasinopartei
den Tschechen einen Riegel vorschieben wollte, wenn diese im Namen der
nationalen Gleichberechtigung die Einführung des tschechischen Unterrichts in
deutschen Schulen verlangen sollten, ins Praktische übertragen, haben mußte,
läßt sich denken. „Wollt ihr keinen tschechischen Unterricht an euern Schulen
^ riefen die Tschechen im ersten Zorn —, dann brauchen wir auch keinen
deutschen an unsern!" Später faßten sie die Sache jedoch etwas ruhiger auf
und fügten die deutsche Sprache teils als obligaten, teils als fakultativen
Unterrichtsgegenstand ein. Mit welchem Erfolge dies geschehen ist, tritt nun
klar zu Tage.
Ich sehe ganz davon ub, ob die mit dem Unterricht in der deutschen
Sprache betrauten nationalen Lehrer, zumeist selbst fanatische Nationale, ihren
Verpflichtungen auch nach bestem Wissen und Gewissen nachgekommen sind,
und ob die gleichfalls fanatische Jugend dem Gegenstande den nötigen guten
Willen entgegengebracht hat, fragte aber jeden praktischen Schulmann, die
Sprachlehrer in erster Reihe, welche Erfolge mit einer beschränkten Anzahl
wöchentlicher Unterrichtsstunden bei stark besuchten, oft geradezu überfüllten
Klassen zu erzielen sind? Wo ist der französische oder englische Sprachlehrer,
der seinen Schülern durch die Schule allein die vollkommene Kenntnis der
betreffenden Sprachen in Wort und Schrift beizubringen imstande wäre? Und
dabei ist noch zu beachten, daß diese Sprachen ganz unverhältnismäßig leichter
sind, als unser von sprachlichen Schwierigkeiten aller Art strotzendes Deutsch.
Ist es zu verwundern, wenn bei den gegenwärtigen Verhältnissen der Unter¬
richt im Deutschen an den nichtdeutschen Schulen in Österreich zum Aschen¬
brödel geworden ist? Im glücklichsten Falle bringen es die jungen Leute dahin,
daß sie beim Austritt aus der Schule mit Hilfe des Wörterbuches einen
deutschen Schriftsteller oder eine deutsche Zeitung lesen können. Korrekt
deutsch sprechen und schreiben kann, abgesehen von entschiednen Sprachtalenten,
die bekanntlich überall dünn gesät sind, keiner mehr. Und nun tritt die so
vorgebildete Jugend ins praktische Leben, wo man im Amte, im Handel, im
Verkehr eine vollkommene Kenntnis des Deutschen verlangt und verlangen muß,
denn wo es sich ums Geschäft, um den eignen Beutel handelt, verstehen auch
unsre in der Wolle gefärbten nationalen Chauvinisteil keinen Spaß. „Ja
— heißt es dann — wenn Sie nicht Deutsch können, kann ich Sie nicht
brauchen!" Aber um solche Dinge kümmern sich die Herren, die bei
uus in Nationalität Geschäfte machen, blutwenig. Sie zucken bedauernd die
Achseln und überlassen den korrekt national erzogenen Nachwuchs ruhig seinem
Schicksale. Mögen sie selbst zusehen, wie sie zurecht kommen. Hat der Be¬
treffende nicht die Mittel, sich nachträglich und um schweres Geld eiuen in
vielen Fällen ziemlich problematischen Privatunterricht zu verschaffen, oder
haben die Eltern nicht, wie dies die wohlhabender« Juden in Ungarn thun,
den Kindern deutsche Gouvernanten gehalten, so bleibt dem jungen Manne
nichts übrig, als den Nest seiner Tage in der teuern Heimat, deren Grenzen
von jedem Punkte aus in einem halben Tage bequem zu erreichen sind, in
nationalem Vollbewußtsein zu verbringen. Da nun aber die weitaus größere
Anzahl der Leute nicht in der Lage ist, mit Privatmitteln nachzuhelfen, so
wird die unentbehrliche Kenntnis der Sprache zu einem Benefizium der „obern
Zehntausend," auf das der weniger Bemittelte oder Mittellose verzichten muß,
und auf diese Weise wird so manchem begabten und tüchtigen aber armen
jungen Manne der Weg zum spätern Fortkommen in der Welt in irmjorcnn
nMong,1it,M8 A'IoriÄM planmäßig versperrt. So und nicht anders stehen die
Dinge heute bei uns, und wenn es so fortgeht, werden sie in nicht allzu ferner
Zukunft noch um vieles schlimmer stehen.
nachgerade fängt freilich auch bei unsern nationalen Chauvinisten die
Überzeugung aufzudämmern an, daß man sich in eine Sackgasse verrannt hat.
Man beginnt aus Abhilfe zu sinnen. Aber die zu diesem Zwecke gelegentlich
gemachten Vorschläge sind so seltsamer Art, daß der Fachmann darüber nur
lächeln kann. Es ist eben das Unglück Österreichs, daß in dieser hochwichtigen
Angelegenheit seiner Zeit Männer das entscheidende Wort sprachen, die ohne
Zweifel im allgemeinen ganz gute Leute, aber, was den besondern Gegenstand
betrifft, herzlich schlechte Musikanten waren.
In der Ausgleichsdebatte im böhmischen Landtage berührte einer der
tschechischen Wortführer, Professor Zucker, kürzlich auch die heikle Sprachen¬
frage. Er meinte, durch eine „bessere Methode" des Unterrichts ließen sich
befriedigendere Ergebnisse erzielen. Man dürfe eben den Unterricht im Deutschen
und im Tschechischen nicht nach Art des Lateinischen und Griechischen betreiben,
sondern müsse zur „Konversatiousmethode" greifen?. Alle Achtung vor dem
juristischen Wissen des Herrn Professor Zucker! Aber vom Sprachunterrichte
in der Schule versteht er nichts. Kouversireu mit einem dulden Hundert und
mehr Buben in einer Klasse ist einfach ein pädagogischer Unsinn. Ans diese
Weise lockt man keinen Hund vom Ofen.
Wie aber soll geholfen werden? Das ist jetzt die Frage, denn daß ge¬
holfen werden muß, und zwar je eher desto besser, ist heute Wohl außer Zweifel.
Ich will in Nachstehendem, selbstverständlich nur im allgemeinen und in großen
Zügen, den einzuschlagenden Weg vorzeichnen, auf die Gefahr hin, daß man
von rechts und links, von Berseba bis Dan, Zetermordio schreien wird. Bei
der Wurzel muß man das Übel fassen, denn mit Flickwerk ist nichts gethan.
Dazu bedarf es keineswegs eines besondern Aufwandes von Scharfsinn, sondern
nur eines offenen Blickes für die wirklichen Verhältnisse, guten Willens und,
was die Hauptsache ist, der gehörigen Thatkraft. Der Staatsmann, der Mut
und Kraft genug besäße, den Gedanken in That umzusetzen, würde sich ein
größeres Verdienst um Osterreich erwerben, als ein Feldherr durch eine ge¬
wonnene Schlacht. Freilich wird man sich hente und für längere Zeit noch
mit Händen und Füßen gegen die vorgeschlagene Umgestaltung sträuben, aber
schließlich wird man sich doch dazu bequemen müssen.
Daß die nationale Bewegung, die fast seit fünf Jahrzehnten Österreich
uicht zur Ruhe kommen läßt, nicht einfach wieder rückläufig gemacht oder
kurzweg beseitigt werden kann, am wenigsten durch rohe Gewalt, ist außer
Frage. Es handelt sich somit, was unsern besondern Gegenstand betrifft,
darum, die nationalen Interessen mit denen des Staates nach Möglichkeit in
Einklang zu bringen und die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart einzurichten,
daß einerseits die jungen Leute nichtdeutscher Nationalität beim Austritt aus
der Schule der deutschen Sprache ebenso in Wort und Schrift mächtig sind,
wie es bei dem ältern Geschlecht noch heute der Fall ist, und daß anderseits
auch die deutsche Jugend in doppelsprachigen Kronländern durch die Schule
eine, wenn auch nicht vollständige, doch immerhin zureichende .Kenntnis der
andern Landessprache erhält.
Zu diesen: Zwecke müssen in gemischtsprachigen Ländern die öffentlichen
Unterrichtsanstalten, kleinere, von örtlichen Verhältnissen erforderte Änderungen
vorbehalten, etwa in nachstehender Weise eingerichtet sein:
1. An der Volks- oder Bürgerschule ist in den vier untern Klassen die
Unterrichtssprache die betreffende nationale, dabei in jeder Klasse täglich eine
Stunde in der andern Landessprache als obligatorischer Lehrgegenstand. In
den höhern Klassen ist die Unterrichtssprache das Deutsche, dabei in jeder Klasse
täglich eine Stunde als obligatorischer Lehrgegenstand in der andern Landes¬
sprache. Es hätten also, z. B. in Böhmen, die deutschen Kinder von ihrem
Eintritt in die Schule bis zum Austritt aus der Volks- oder Bürgerschule
oder bis zum Übertritt in die Mittelschule täglich eine Stunde Unterricht im
Tschechischen, was ihnen nur zu großem Vorteile für das spätere Leben ge¬
reichen kann; die tschechischen Kinder dagegen würden in den vier untern
Klassen hinreichend Deutsch lernen, um in den höhern Klassen den Unterricht
in der deutschen Sprache ohne Schwierigkeit empfangen zu können.
2. An sämtlichen staatlichen Mittelschulen sowie an den mit dem Öffent¬
lichkeitsrecht ausgestatteten Gemeinde- oder Privatmittelschulen, also an den
Gymnasien, Oberrealschulen, Handelsakademien u. s. w., ist die Unterrichtssprache
das Deutsche. Dabei hat jede Klasse täglich eine Stunde als obligatorischen
Lehrgegenstand in der andern Landessprache. Wo mehr als zwei Landes¬
sprachen vorhanden sind, ist, nach Wahl, eine derselben obligatorischer, die
andre fakultativer Lehrgegenstand.
3. An den Hochschulen ist die Vortragssprache die betreffende nationale
der Majorität der Bewohner des Landes. Wo, wie in Böhmen, neben den
nationalen Hochschulen zugleich deutsche bestehen, bleiben diese selbstverständlich
erhalten. An sämtlichen nichtdeutschen Hochschulen muß, was übrigens bereits
der Fall ist, ein Lehrstuhl für Deutsch errichtet sein; um den deutschen Hoch¬
schulen dagegen sind Lehrstühle für sämtliche in Österreich vorhandene uicht-
deutsche Landessprachen zu errichten, wo solche Lehrstühle zur Zeit noch nicht
bestehen.
Dies der Gedanke in großen Zügen. Indem er einerseits auf das, was
früher bestanden hat und durch die Erfahrung erprobt ist, zurückgreift, trägt
er anderseits den nationalen Anforderungen so weit Rechnung, als nicht Lebens¬
interessen dadurch geschädigt werde». Und nun noch einige Bemerkungen zur
Begründung des Gesagten.
Die Erfahrung hat gelehrt, daß die in Österreich ebenso unentbehrliche
wie an Schwierigkeiten aller Art nnr allzu reiche deutsche Sprache uur dann
gründlich erlernt werden kann, wenn die Schule für den nichtdeutschen, soweit
dies überhaupt möglich ist, die Stelle der Familie vertritt. Indem das nicht¬
deutsche Kind während der ersten vier Jahre den Unterricht in seiner Mutter¬
sprache erhält und auch später, bis zum Austritt ans der Schule, sich täglich
eine Stunde damit beschäftigen muß, wird es durch die deutsche Unterrichts¬
sprache der höhern Klassen nicht nur nicht entnationalisirt, sondern es wird
in beiden Sprachen gleich sest, und wenn anderseits das in gemischtsprachigen
Ländern lebende deutsche Kind, vom Tage seines Eintritts in die Schule an,
eine Stunde täglich auf das Erlernen der andern Landessprache verwendet, die,
mit alleiniger Ausnahme des Italienischen, für den Deutschen genau so schwierig
ist, wie für den nichtdeutschen die deutsche Sprache, dann überwindet es fast
spielend die ärgsten der später so unendlich mühsam zu bewältigenden sprach-
lichen Schwierigkeiten. Ist auch der junge Deutsche uach Zurücklegung von
acht oder von elf oder zwölf Klassen (je nachdem er seine Studien in der
Volks- oder Bürgerschule, am Gymnasium, an der Realschule oder an einer
Fachschule macht) der andern Landessprache nicht ganz so mächtig, wie der
junge Tscheche, Pole, Italiener u. s. w. der deutschen, so besitzt er sie doch
jedenfalls hinreichend, um ohne besondre Schwierigkeiten mit den anders¬
sprachigen Landesgcnossen in deren Sprache Verkehren zu können, und wenn
er später bleibend' unter ihnen leben muß, kann er sich im Laufe der Zeit das
noch mangelnde leicht aneignen. In gemischtsprachigen Ländern ist für jeden
die Kenntnis der Landessprachen oft geradezu unentbehrlich und, wo dies viel¬
leicht nicht der Fall sein sollte, doch gewiß sehr wünschenswert. Es ist eine
verwünscht harte Arbeit, in spätern Lebensjahren eine fremde Sprache, besonders
eine slawische, erlernen zu müssen. Der des Lateinischen kundige Beamte wird,
wie Professor Zucker ganz richtig bemerkte, in Sttdtirol oder im Küstenlande
binnen zwei bis drei Jahren gewiß ganz bequem Italienisch lernen. Aber
Italienisch und Tschechisch, Polnisch oder Slowenisch sind gruudverschiedne
Dinge, und es ist sehr fraglich, ob jemand, der in zwei bis drei Jahren gut
Italienisch sprechen und schreiben gelernt hat, sich in acht bis zehn Jahren die
gleiche Fertigkeit in irgend einer slawischen Sprache anzueignen imstande ist!
Was die Hochschule betrifft, so ist diese in Österreich bereits zum Teile
nationalisirt. Prag hat neben den beiden deutschen Hochschulen eine tschechische
Universität und ein tschechisches Polytechnikum. In Krakau besteht eine polnische
Universität, in Lemberg desgleichen, daneben ein polnisches Polytechnikum.
Trieft hat eine italienische Haudelshvchschule. Schon seit Jahren petitivnireu
die Italiener um eine italienische Universität oder mindestens um eine juristische
Fakultät mit dem Sitz in Trieft oder in dem reizenden Görz. Weshalb
man diesem berechtigten Wunsche eines hochgebildeten Volksstammes von etwa
800 000 Köpfen bisher nicht entsprochen hat, ist nicht einzusehen. Besorgnisse
vor irredentistischen Bestrebungen können dabei doch im Ernste kaum maßgebend
sein, und so stark wie die Czernowitzer Universität (25,t> Studenten im letzten
Schuljahre) würde eine italienische Universität gewiß auch besucht werden. Ob
sich die Errichtung einer slowenischen Hochschule jetzt schon in Betracht ziehen
läßt, mag dahingestellt bleiben. Bei dein geringen Unterschiede zwischen dein
Slowenischen und dem Serbo-Kroatischen können slowenische Studenten sich
übrigens nach der nahegelegenen Agramer Universität wenden.
Daß eine so tiefgreifende Umgestaltung des österreichischen Unterrichts¬
wesens (von dem ungarischen habe ich absichtlich nicht gesprochen, obwohl die
Verhältnisse jenseits der Leitha noch schlimmer sind als diesseits, aber mit den
Herren Magyaren ist ja nicht zu reden!) jetzt, wo der Karren bereits arg
verfahren ist, eine sehr schwierige Sache sein wird, bedarf keiner Erwähnung.
Aber die Reform ist unerläßlich. Schon wirken an den nichtdeutschen Anstalten
Lehrkräfte genug, die des Deutschen nur noch teilweise mächtig sind. Dies
sollte, meine ich, zu denken geben. Entschließt man sich zur Umkehr — und
früher oder später wird mau sich uolous volens dazu entschließen müssen —,
dann empfiehlt sichs, schrittweise vorzugehen. Mögen die des Deutschen nicht
völlig mächtigen Lehrer in Gottes Namen ihre Fächer weiter in ihrer Ncitivnal-
sprache treiben, bis sie nach und nach durch Abgang oder Pensionirung aus¬
scheiden. Die andern, die gut Deutsch können — und das ist zur Zeit noch
die, große Mehrzahl —, müssen wieder zu der verpöntem Sprache greifen, und
jede neu eintretende Lehrkraft muß die vollkommene Kenntnis des Deutschen
nachweisen. Bei der fünften Klasse der Volksschule und der untersten der
Mittelschule und der ihr gleichgestellten Fachschulen u. s. w. fängt man mit der
deutschen Unterrichtssprache an und fährt dann von Klasse zu Klasse aufsteigend
fort. Ohne gewisse Härten wird es dabei nicht abgehen. Aber rslxubli«a.o
»uvröiuiZl Ivx!
Ich weiß sehr wohl, daß ich mit den hier ausgesprochenen Ansichten und
Vorschlägen heute noch den Prediger in der Wüste mache. Aber ich bin fest
überzeugt, daß mir ein Weg gleich dem von mir in flüchtigen Zügen gezeichneten,
bei dem ich uur das unabweisbare praktische Bedürfnis im Auge behalten habe,
zwar langsam aber sicher zum Ziele führen und zugleich dein heillosen nationalen
Hin- und Hergezerre, bei dem nie auch nur etwas halbwegs vernünftiges
herauskommt, mit der Zeit ein Ende macheu wird. Aber die Zeit drüugt
bereits stark zur Umkehr. Geht es so fort wie bisher, dann fürchte ich sehr,
daß wir uns zu Anfang des zwanzigsten Jahrhlluderts im Schatten des
babylonischen Turmes zur Ruhe setzen können.
in uns die Einwirkung des Bevölkerungszuwachses auf alle Volks¬
genossen klar zu machen, müssen wir auf den Urzustand zurück¬
gehen. Im Anfange der Besiedelung eines Landes bedeutet jedes
Kind einen erfreulichen Kapitalzuwachs. Nichts braucht der An¬
siedler notwendiger als recht viele kräftige Arme, die ihm helfen
den Urwald roder, das Neuland umpflügen, den Acker bestellen, die Ernte
einheimsen. Ju diesem Anfange der Kultur giebt es keinen andern Vermögens-
zumachs als durch körperliche Arbeit, und der mit zwölf Söhnen gesegnete
Mann wird durch sie zwölfmal so reich als sein Nachbar, dein solches Glück
hersagt bleibt und der allein arbeiten muß. Mit jedem Sohne wächst dem
Stammgute ein neues Gut zu. Das gilt sowohl von den geschichtlichen An¬
sängen der Kulturvölker wie von den Ackerbaukolonisten, die in unserm Jahr¬
hundert in Nordamerika den Urwald gerötet haben; gegenwärtig befinden sich
uoch einige brasilianische Anstedlnngcn auf dieser Stufe. Der Unterschied gegen
die alte Zeit besteht darin, daß sich die im Nachfolgenden zu beschreibende Um¬
wandlung schneller vollzieht.
Da bei vollständig eingerichteter Wirtschaft die Arbeit eines Mannes auf
dein Acker und einer Frau im Stalle genügen, außer ihnen selbst noch ein,
zwei andre Menschenpaare zu ernähren, so werden bei wachsender Familie
Kräfte frei, die für häusliche Bequemlichkeit und für die Werkzeuge der Acker¬
bestellung sorgen können. Der Bauer braucht nicht mehr die Ackerarbeit zu
unterbrechen, wenn ihm der Pflug zerbricht, und sich einige Stunden mit der
Ausbesserung des Schadens aufzuhalten, seitdem ihm ein Sohn zu Hause, der
steh ausschließlich auf Schmiede- und Stellmacherarbeit verlegt, mehrere Pflüge
zur Verfügung stellt. So beginnt die Arbeitsteilung, und sie beschränkt sich
sehr bald nicht mehr auf das Haus, sondern führt zur Scheidung in Ackerbau,
Gewerbe und Handel, zur Ansammlung der gewerblichen nud handeltreibenden
Bevölkerung in Städten, zum Güternmtausch zwischen Stadt und Land.
Je mehr die Teilung und Vervollkommnung der verschiednen handwerks¬
mäßig betriebnen Verrichtungen fortschreitet, je weniger Zeit demnach die Her¬
stellung der Kleidungsstücke, Wohnungen, Werkzeuge und Gerätschaften bean-
Spruche, desto mehr Kräfte werden für geistige Arbeit frei, die nicht allein das
äußere Leben verschönert und durch Entfaltung des innern Lebens den Menschen
erst völlig zum Menschen macht, sondern anch die Leistungsfähigkeit der Ge¬
werbe, die Raschheit und Bequemlichkeit des Verkehrs steigert und für die
Befriedigung jedes Bedürfnisses besondre Veranstaltungen hervorruft. Sollte
ein Großhändler, meint Nvscher, sämtliche Briefe, die er an einem einzigen
Tage fortschickt, selbst an Ort und Stelle tragen, sein Leben würde dazu nicht
hinreichen. Auf dieser dritten Stufe befindet sich das Volk am wohlsten, weil
in ihm vielfache Bedürfnisse geweckt sind, die alle leicht befriedigt werden.
Aber kein Gut wird dem Sterblichen zu Teil, das er uicht mit einem
entsprechenden Opfer bezahlen müßte. Die Zeit, wo das zwölfte Kind noch
mit derselben ungemischten Freude begrüßt ward wie das zweite, und wo der
Jüngling, sobald er mannbar geworden war, von seinen Eltern aufgefordert
wurde, sich eine Gattin zu wählen, diese Zeit ist nun vorüber. Das Land
ist aufgeteilt, die Städte sind gefüllt, die Beamtenklasfen versorgt. Weit
entfernt davon, jede neue Kraft mit Freuden zu begrüßen, wie damals, wo
die Bürgerschaften und Zünfte um die Wette den umliegenden Gutsbesitzern
ihre Hörigen abjagten, um sie zu freien, stolzen Bürgern zu macheu, als die
Schreibkunst eine seltene Kunst war, die der große Haufe ehrfurchtsvoll an-
starrte und der Fürst mit Golde lohnte, sind nun alle Stellen besetzt, und
jeder Stand ist bestrebt, sich gegen die übrigen abzusperren, um die vorhandenen
Stellen dem eignen Nachwuchs zu sichern. Und während in den Zeiten be¬
ginnender Kultur jeder willkommen und nicht allein des Lohnes, sondern
auch des Dankes gewiß ist, der zugreift, wo es etwas zu thun giebt, muß
nun der Arbeitslustige sich erst vergewissern, ob er nicht vielleicht durch einen
Handgriff in die Rechte eines andern eingreift. Vor einiger Zeit wurde in
meinem Wohnort ein Knabe, der einem Reisenden den Koffer vom Bahnhofe
nachtrug, auf die Anzeige eines Dienstmcmnes hin verhaftet. Ein Offizier, der
zufällig Zeuge des Vorfalls war, fühlte sich dadurch so erregt, daß er sich
nicht enthalten konnte, mit der Polizei deshalb in Unterhandlungen zu treten.
Ein Mann, der wegen eines ähnlichen „Vergehens" zu einer Mark Strafe ver¬
urteilt wurde, rief aus: „Was in aller Welt soll ich nun thun? Arbeite ich
nicht, so werde ich eingesperrt, und benutze ich eine mir dargebotene Arbeits¬
gelegenheit, so muß ich den Verdienst als Strafgeld herauszahlen!" Die Sache
beschäftigte mehrere Richterkollegien, und es wurde ein ganzer Berg Akten
darüber zusammengeschrieben.
Auf dieser Stufe wird der Sohn nicht mehr freundlich eingeladen zu
heiraten, sobald er zwanzig Jahre alt geworden ist, und schon das dritte,
vierte Kind wird mit Sorgen begrüßt. Die heranwachsenden Söhne und
Töchter bedeuten freilich anch wieder ein, Kapital, aber diesmal nicht ein
werdendes, sondern ein zehrendes. Die Eltern sind schon froh, wenn dieses
aufgewendete Kapital wenigstens den Kindern Zinsen bringt. Streng ge¬
nommen kann auch in diesem Sinne von Zinsen nicht die Rede sein, denn
von dem, was die kostspielig erzogenen Kinder spater um Gehalt oder Geschäfts¬
gewinn beziehen, müssen sie sich ja jeden Pfennig selbst verdienen.
Es folgt eine vierte Stufe, der Zustand zweifelloser Übervölkerung: wo
schon die Kinder scheel blicken, wenn ihnen noch ein Geschwister geboren wird;
wo jede Erbteilung einen Giftstrom von Haß und Zwietracht und Prozessen,
nicht selten auch Verbrechen erzeugt; wo die greisen Eltern als Auszügler von
ihren Kindern mißhandelt werden; wo täglich in Aborten, in Schränken, im
Bettstroh, im Wasser Kinderleichen gefunden werden; wo die Mädchen massenhaft
teils einem hysterischen Altjungferntum, teils der Prostitution verfallen, die
jungen Männer aber teils infolge mangelnder, teils durch ungehörige Befriedigung
des Geschlechtstriebes ihren Lebensmut und ihre Frische einbüßen. Die Religion
kann diesen Zustand je nach der Geschicklichkeit ihrer Diener und der Gemüts¬
anlage des Volkes entweder durch Trost und Stärkung der sittlichen Kraft
erträglicher machen oder durch Gewissensaunlen verschärfen; die Staatsgewalt
kann, unterstützt durch die Umgangsformen und die äußerliche Selbstbeherrschung
einer höhern Zivilisation, seine widerlichen Erscheinungen aus der Öffentlichkeit
zurückdrängen und den Augen Fernstehender entziehen; zweckmäßige Erziehung
und stramme Beschäftigung können, unterstützt durch allerlei Einrichtungen des
Staates, den Ausdruck) der zuletzt erwähnten Übel bei den jungen Leuten um
einige Jahre verschieben, aber ihn ändern oder beseitigen, das können diese sitt¬
lichen Mächte nicht, das dürfen sie auch gar nicht können, weil, wenn die
Kraft heroischer Verzichtleistung auf Besitz und Lebensgenuß Gemeingut aller
Menschen würde, ein früher und kinderloser Tod aller Erwachsenen der ganzen
Menschheit und damit allerdings auch allem sozialen und sonstigen Elend ein
Ende machen würde.
Wir überlassen es dem Leser, nach seiner persönlichen Erfahrung und mit
dem jedermann zugänglichen Zahlen- und Thatsachenmaterial zu entscheiden,
auf welchen der geschilderten Stufen die einzelnen Länder Europas gegenwärtig
stehen oder welchen sie sich nähern, und bemerken nur, daß es auch noch eine
fünfte giebt, auf der sich die bevölkertsten Provinzen Chinas schon seit langer
Zeit befinden, jene Stufe, wo sich keine seelische Empfindung, keine Gewissens¬
regung mehr gegen unwürdige Lagen, lasterhafte Gewohnheiten und ver¬
brecherische Thaten auflehnt; wo im hündischen Balgen um ekle Nahrung, die
wan auch ans dein Schmutz der Gosse herauszuklauben sich nicht scheut, alles
Ehrgefühl verloren gegangen ist, wo Kindermord, Kinderanssetzung und laster¬
hafte Gewohnheiten Bolkssitte geworden sind, und wo das Leben keinen Wert
mehr hat.
Je nach der größern oder geringern Fruchtbarkeit eines Landes tritt die
Übervölkerung später oder früher ein. Da bei uns in Deutschland ein reget-
mäßiger Zuschuß ausländischen Brotgetreides von der Zeit ab notwendig ge¬
worden ist, wo die industrielle Bevölkerung zu überwiegen anfing, so dürfen
wir annehmen, daß der deutsche Landmann durchschnittlich sich und einen
Städter zu ernähren vermag, daß demnach fünfzig Prozent landwirtschaftliche
und fünfzig Prozent industrielle Bevölkerung das richtige Verhältnis bilden.
Wird das Gleichgewicht nach der einen Seite hin gestört, so leidet die Kultur,
wird es nach der andern Seite hin verschoben, so ist die natürliche Grundlage
eines gesunden Volkslebens bedroht. Daß intensive Wirtschaft den Ertrag
erhöht, ist wohl richtig, aber einmal wird diese Erhöhung fast aufgewogen
durch den Verlust an Fruchtncker bei steter Vermehrung und Vergrößerung der
Straßen, Bahnen, Fabriken nud Gruben. Sodann hat die Vermehrung des
Ertrages durch künstliche Düngung u. dergl. ihre Grenzen; geht man mit
diesen Mitteln über ein gewisses Maß hinaus, so ist das zuviel aufgewendete
nicht bloß verloren, sondern schadet dem Acker. Gar kein Vorteil ist es, daß
man überall mit Pflug und Spaten bis an die Flußufer vorrückt, da ja
jährliche Überschwemmungen etwa die Hälfte des Ertrages wegnehmen, Ließe
man die Uferflächen wieder, wie früher, als Viehweide liegen, so wäre der
Ertrag sicherer.
Es ist ein weises und inhaltreiches Wort, das der Negerhäuptling Man-
deira in seiner merkwürdigen Unterredung mit dem Abgesandten unsers Kaisers,
dem Afrikareisenden Otto Ehlers, so nebenbei fallen ließ. Er berichtete über
die Reiseeindrücke, die seine Leute aus Deutschland mitgebracht hätten, und
sagte u. a.: „Die Menschen laufen bei euch in großen Scharen herum, und
man sieht nicht, wovon sie leben, denn alles ist Stein." Gewiß ist es ein
wunderbarer Triumph der Kultur, daß anderthalb, daß zwei, daß vier Millionen
Menschen auf und zwischen Steinen leben können, Menschen, die niemals weder
säen noch ernten, wie es denn schon ein Triumph der Kultur war, als zum
erstenmale ein Volk den nordischen Winter ohne Hungersnot zu überstehen
vermochte in einer Gegend, die weder Wild noch Fische in hinreichender Menge
zur Nahrung darbot. Allein die Macht der Industrie, die jenes Wunder wirkt,
hat doch auch wie alles Irdische ihre Grenzen. Gesund ist der Austausch
industrieller Erzeugnisse gegen Naturprodukte fremder Länder nur so lange,
als er uns diejenigen Erzeugnisse andrer Zonen verschafft, die daheim nicht
gedeihen, bei den notwendigen Nahrungsmitteln aber sich auf deu Ausgleich
ungleicher Ernten, Verbesserung der heimischen Fruchtarten und Viehrassen
u. dergl. beschränkt. Sobald ein Volk mit feiner Ernährung teilweise auf das
Ausland angewiesen ist, führt es kein natürliches Dasein mehr, sondern nur
noch ein künstliches. Im Kriege befindet es sich in der Lage einer ungenügend
vcrproviantirten Festung, und im Frieden erfordert die Erzeugung der zum
Ankauf der Lebensmittel notwendigen Jndustriewaren übermäßige und darum
nicht mehr heilsame Anstrengungen. Man pflegt solche Erwägungen mit
dem Hinweis auf England abzufertigen. Aber die englischen Politiker haben
erst vorm Jahre gar bänglich erwogen, was wohl aus London werden würde,
wenn es einer feindlichen Flotte gelange, die Themse zu sperren. Auch zehrt
England jetzt von dem früher erworbenen Kapital; nie wird die Zeit wieder¬
kehren, wo England und Holland ungestört ihre indischen Reiche gründen
konnten, während die übrigen Staaten Europas ihre Kraft in dynastischen und
Religionskriegen erschöpften, und wo England, in der Benutzung der Dampf¬
maschine allen Ländern voraus, sich diese durch mehrere Jahrzehnte hindurch
tributpflichtig machte. Heute findet sich kein Land mehr in Europa, das wir
ausbeuten könnten, wie die Engländer uns ausgebeutet haben. England,
Frankreich, Österreich, Belgien sind ebenbürtige Konkurrenten, die übrigen
Staaten eifern nach, und bei den Völkern Asiens und Afrikas, die wir mit den
Gaben unsrer Industrie zu beglücken anfangen, dürfen wir auf Jahrhunderte
langen gleichmäßigen Absatz nicht rechnen. Denn die asiatischen Volker besitzen
so, viel technische Bildung, daß sie unsre Erzeugnisse nachmachen können und,
nachdem sie uns die Kunstgriffe abgesehen haben, sich rasch von uns befreien
werden. Die Völker Afrikas aber sind größtenteils bildungsfähig und werden
ebenfalls selbst anfertigen lernen, was sie brauchen; viele unsrer Produkte aber
können sie ihres Klimas wegen teils gar nicht, teils nur in geringer Menge
brauchen; durch ein Übermaß von Kleidungsstücken und Branntwein würden
wir unsre schwarzen Kunden binnen kurzer Zeit umbringen. Endlich aber ist
auch das Vorbild Englands gar nicht verlockend. Der Reichtum der reichen
Engländer ist, wie Lujo Brentano in seiner Geschichte der Gewerkvereine her¬
vorhebt, mit einem entsetzlichen Volkselend erkauft worden. Die Dampfmaschine
für sich allein genügte noch nicht, die industrielle „Blüte" des Landes zu er¬
zeugen; es mußte das Unterbieten der Konkurrenten hinzukommen, und das
war nur möglich durch billige „Hände." Der Zustand dieser „Hände," die
man mit Recht so nannte, weil man die leidige Thatsache, daß an der arbei¬
tenden Hand auch ein Magen, ein Kopf und sogar eine fühlende Seele hängt,
grundsätzlich ignorirte, wurde allmählich derart, daß schon seine bloße Be¬
schreibung Erbrechen erregt. Jahrzehnte hindurch wurde jeder Versuch, auf
dem Wege der Gesetzgebung etwas zum Schutze der Unglücklichen zu thun,
durch die kaltblütige Erklärung der Unternehmer übergeschlagen, sie würden
ehre Fabriken ins Ausland verlegen, wenn man ihnen die „Hände" verteuere.
Das Malthusische Gesetz ist, wenn auch nicht wörtlich, so doch in dem
^nine als richtig anzuerkennen, daß die Menschen sich rascher zu vermehren
Pflegen als die Unterhaltsmittel. Wir halten mit Noscher diese Einrichtung
unsrer irdischen Welt für heilsam und notwendig, weil sie zu Anstrengungen
spornt, den Kulturfortschritt fördert, lind weil ohne sie das göttliche Gebot:
"Erfüllet die Erde!" unerfüllt bleiben würde. Denn wer daheim seineu be¬
quemen Unterhalt findet, der entschließt sich nicht leicht zur Auswanderung in
unbekannte unwirtliche Fernen, und namentlich unsre nördlichen Gegenden,
die Pflegstätten des höchsten Geisteslebens, würden immer unbewohnt geblieben
sein. Eben darum aber, weil das Gesetz richtig ist, muß man anch seinen
Sinn beachten, und sobald der Bevölkerungszuwachs, den Gleichgewichtspunkt
überschreitend, schädlich zu wirken beginnt, die Pflicht der Erweiterung des
Wohnraums ins Ange fassen. Die Kolonialpolitik ist demnach einfach Er¬
füllung einer nationalen Pflicht und einer Pflicht der Menschlichkeit.
Bei der Stellung unsrer frühern Opposition zur Kvlvuialsrage muß mau
unterscheiden zwischen der grundsätzlichen Auffassung und der Kritik dessen, was
in der Sache bereits geschehen ist. In der Beurteilung dessen, was die ver-
schiednen Kolonialgesellschaften und die Neichsbehörden gethan und unterlassen
haben, kann man verschiedner Meinung sein, aber die grundsätzliche Gegner¬
schaft ist unverzeihlich. Beim Zentrum ist sie nicht schroff hervorgetreten; so
weit sie vorhanden war, entsprang sie wohl nur der Abneigung gegen alles,
was möglicherweise zur Stärkung der Negierung beitragen könnte, bei einigen
frommen Schwärmern vielleicht anch einem gewissen Konkurrenzneide, indem
sie allen sozialen Schäden mit den Hilfsmitteln der katholischen Kirche abzu¬
helfen gedenken, uneingedenk der Thatsache, daß diese Kirche, wenn sie die Macht
und den Willen besäße, zu helfen, zur Zeit ihrer Alleinherrschaft die sozialen
Übel gar nicht erst hätte aufkommen lassen. Die Sozialdemokraten und die
Freisinnigen haben das gemeinsam, daß sie samt ihren Theorien auf dem
städtischen Pflaster aufgewachsen sind, und daß sie an die physische, sittliche
nud ästhetische Bedeutung und Notwendigkeit von Grund und Boden gar nicht
zu denken pflegen. Außerdem ist jede dieser Parteien in eine Schrulle verrannt.
Die Sozialdemokraten bilden sich ein, daß alles Unglück nur von der falschen
Verteilung der Gitter herkomme; ob aber die Güter bei anderweitiger Verteilung
zureichen würden und wo die fehlenden hergenommen werden sollen, danach
fragen sie nicht. Die Freisinnigen aber können sich über die vor mehr als
hundert Jahren vou Adam Smith entdeckte Wunderkraft der Arbeitsteilung
immer noch nicht beruhigen. Sie geraten in Entzücken bei dein Gedanken, daß
mit Hilfe der Maschine an einem Tage hundert- oder tausendmal so viel Strümpfe
gewirkt werden können, als vor hundert Jahren, und über diesem Entzücken
vergessen sie nachzusehen, ob für die mehr fabrizirten hundert Millionen Paar
Strümpfe auch Beine vorhanden find, ob die Menschen, die diese Strümpfe
wirken, satt zu essen haben, und ob nicht vielleicht denselben Menschen, die
viele Millionen höchst überflüssiger Strümpfe wirken, das Geld fehlt, die
Strümpfe zu kaufen, die sie selbst brauche». Diese Herren predigen unablässig,
daß es gleichgiltig sei, ob wir unsre Waren selbst produziren oder ans dem
Auslande beziehen, vorausgesetzt nur, daß wir jede dort kaufen, wo sie am
billigste» ist. Dabei ist ihnen eine Ware so viel wert wie die andre: ob wir
Hemdknöpfchen, Strümpfe, Roggen, Lokomotiven, Streichhölzchen oder Pferde
Produziren, ist ihnen ganz gleichgiltig. Und wenn bei der internationalen
Arbeitsteilung unserm Volke die Aufgabe zufiele, die Menschheit mit Strümpfen
zu versorgen und ganz Deutschland eine ungeheure Strumpffabrik würde, die
ihr Brvtkorn aus Amerika bezöge, so würden sie dabei nichts zu beklagen
finden. Daß die Landwirtschaft, die Eisen- und Holzverarbeitnng nicht bloß
ihrer Produkte wegen nötig sind, sondern auch der gesunden starken Menschen
wegen, die bei diesen Beschäftigungen gedeihen, kommt ihnen nicht in den Sinn.
Derselben Gedankenlosigkeit entspringt der Rat, den sie den Landwirten erteilen,
die unrentable Kvruerproduktion aufzugeben und sich auf die lohnendere Fleisch-
Produktion zu verlegen. Daß bei solcher Umwandlung je hundert gebildete
Bauern- oder Pächterfamilieu zehn rohen Cowboys Platz machen müßten, über¬
legen sie nicht; wie in England und Schottland die Menschen von den Schafen
gefressen worden sind, scheinen sie uicht gelesen zu haben. Es giebt anch
Fabrikanten — nach ihrer Parteizugehörigkeit wollen Nur nicht forschen —, die
ein persönliches Interesse daran haben, einen Notstand aufrecht zu erhalten,
dem durch erfolgreiche Kolonisation gesteuert werden könnte. Manche Expvrt-
industrien beruhen nämlich auf Huugerlöhueu, und nur Hungerlohu arbeitet
niemand, fo lange hinreichend Vrot im Lande ist. Man weiß ja, daß gewisse
Exportfirmen Berlins ihre Arbeiterinnen ganz unverblümt auf den bekannten
traurigen Nebenverdienst anweisen.
Also den Blick nach außen zu richten, ist Pflicht. Wie zu verfahren sei,
welche Aufgabe dabei deu Privatunternehmern, welche den: Staate zufalle,
untersuchen Nur uicht; was wir von Ostafrika zu erwarten berechtigt siud, das
wissen wir nicht; und ob nicht das herrliche und geräumige Siidbrasilien
größerer Aufmerksamkeit wert wäre als bisher, das zu erwägen überlassen wir
den Landeskundigen. Freilich könnten Kolonisationsversuche in Amerika, die
über den Nahmen vereinzelter Privatunternehmungen hinausgingen, ein Quell
schwieriger politischer Verwicklungen werden. Allein — wofür haben wir denn
Diplomaten?
Man gestatte uns einen Zukunftstraum. Die alten Kulturvölker führten
Kriege zur Gründung von Weltmonarchien, die alten Germanen zur Eroberung
von Wohnstätten für ihren überquellenden Nachwuchs, im Mittelalter wechselten
die Fehden der kleinen Grundherren lind der Städte mit Kämpfen für ideale
Zwecke: Weltherrschaft des Kaisers und des Papstes, Eroberung des heiligen
Landes, Ausrottung der Ungläubigen und der Ketzer. Dann folgten die
dynastischen und die Konfessionskriege, dann die Napoleonischen und die Be¬
freiungskriege, endlich neben Kriegen für die Nenbegründung der Napoleonischen
Dynastie und um die Herrschaft in Asien die Kämpfe der staatlich noch un¬
fertigen Nationen für ihre Selbständigkeit. Dabei ist man allmählich fast
überall zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gelangt und zu einer solchen
Vervollkommnung der Mordwerkzeuge, daß in einem Kriege zwischen zwei
Großstaaten, der durch die Bündnispolitik mindestens noch drei andre und
vielleicht ganz Europa ergreifen würde, die gesamte waffenfähige Mannschaft,
die geistige und körperliche Blüte der Kulturvölker, mithin die Kultur selbst
zu Grunde gehen könnte. Bei solchem Einsatz kann um kleine Interessen über¬
haupt kein Krieg mehr geführt werden. Wenn eine der europäischen Regie¬
rungen die ungeheure Verantwortung für einen solchen Krieg auf sich nehmen
sollte, so müßte sich ihre Nation in einer verzweifelten Lage befinden, aus der
es keine Rettung mehr gäbe, als einen — Vertilgungskrieg. Diese Lage könnte
herbeigeführt werden durch steigende Übervölkerung. Aber die Regierung des
Landes, das zuerst in diese traurige Lage käme, würde überlegen, daß die An¬
wendung dieses äußersten Mittels nicht bloß ein ungeheures Wagnis und ein
ungeheurer Frevel, sondern auch so lange eine große Thorheit wäre, als noch
auf Jahrhunderte hinaus anbaufähiges und unbesetztes Land vorhanden ist.
Diese Regierung würde die andern Regierungen zu gemeinsamen Schritten ein¬
laden zur friedlichen Teilung der uoch unbenützten Flächen in jenen südameri¬
kanischen Staaten, die kaum in höherm Grade den Namen von Staaten ver¬
dienen, als die Sultanate von Wien und Sansibar. Welche Aufgabe für die
Diplomatie! Für uns Deutsche giebt es uoch eine näher liegende. Eine sehr
rusfeufreundliche deutsche Zeitung warf einmal gelegentlich die Bemerkung hin,
daß es nicht zwei Länder in Europa giebt, die so auf einander angewiesen
wären, wie Deutschland und Nußland. Sehr richtig! Nußland hat gerade
das in Fülle, was uns fehlt: fruchtbaren Boden und billige Arbeitskräfte,
und wir besitzen überschüssige Intelligenz und manche andre schätzbare Dinge,
die den Nüssen fehlen. Welches Glück wäre es für beide Völker, wenn jener
friedliche Austausch der beiderseitigen Güter wieder hergestellt würde, der bis
vor wenigen Jahren zum Heile beider so schön im Gange war! Wie würde
unsre Industrie aufatmen, wenn die Grenzsperre fiele, und wie einfach würde
sich der Streit zwischeu russischem und deutschem Roggen schlichten, wenn die
überzähligen Gutsbesitzersöhue hinübergingen, um dort ohne große Belastung
des väterlichen Gutes um billiges Geld Acker zu kaufen oder zu pachten und
den russischen Roggen an Ort und Stelle zu verzehren! (Die Ansiedluugsgüter
in Posen und Westpreußen sind für den ersten der beiden angedeuteten Zwecke
zu teuer und erfüllen den zweiten gar nicht.)
Da wir mit unserm Traume in deu Osten geraten sind, so wollen wir
doch noch der Einwendung vorbeugen, unsre Erörterungen und Phantasien
seien höchst überflüssig und geradezu gegenstandslos, da ja die fortschreitende
Entvölkerung der östlichen Provinzen des preußischen Staates beweise, daß uns
nicht Übervölkerung, sondern vielmehr das Gegenteil bedrohe. Nimmt doch
die Einwohnerzahl der Provinz Pommern von Jahr zu Jahr ab. Nun, diese
Entvölkerung des Ostens ist weiter nichts als die Wirkung der be^amender
Übervölkerung. Auf besserem Boden können von vornherein mehr Menschen
leben als auf schlechtem. Außerdem bietet er die Möglichkeit vielfacherer Ver¬
wertung durch Züchtung feiner Handelsgewächse dar, sodaß selbst ohne die
hinzukommende Industrie viele Menschen dort ihr Fortkommen finden, die ihr
Getreide nicht selbst bauen, sondern es von außen beziehen. Der Weinbauer
würde aus Ackerbau und Viehzucht ganz verzichten, wenn er nicht Dünger
brauchte. Je dichter nun die Bevölkerung des Landes wird, desto stärker
machen sich die Vorteile des guten und die Nachteile des schlechten Bodens
bemerklich. Auf dem schlechten wird der Druck der Not infolge der Verkleinerung
der Portionen zuerst empfunden. Hier zuerst tritt die Verschuldung der Guts¬
besitzer ein. Sie können nicht so hohe Löhne zahlen, wie ihre Konkurrenten
in den bessern Gegenden, das entzieht ihnen die Arbeiter. In Sachsen legt
der Schnitter mit jedem Sensenschnitt vielleicht viermal soviel an Stroh und
Körnern in die Schwaden, wie auf oberschlesischen oder märkischen Sandboden.
Zahlt ihm der sächsische Gutsbesitzer doppelt soviel Lohn wie der vberschlesische
oder märkische, so hat er deu Manu immer noch doppelt so billig wie jene
beiden. Und wie es in solchen Lagen zu gehen pflegt, ein Unglück gebiert das
andre. Weil der Gutsbesitzer im Osten schlechten Lohn zahlt, verliert er seine
Leute, und um sie zu fesseln, muß, er höhere Löhne zahlen, als seine Verhält¬
nisse gestatten. Seinen Boden so gut zu machen wie den mittel- und west¬
deutschen, ist nicht möglich, und ihn nur in dem bisherigen Stande zu erhalten,
sehr kostspielig. Denn dieser Boden bekommt ja das nicht wieder, was er
getragen hat; es muß dnrch künstlichen Dünger ersetzt werden. In den Städten
häuft sich der Dünger an, sie wissen nicht, wohin damit. Der natürliche
Kreislauf, dnrch den der Boden imstande erhalten wird, ist gestört. Wenn es
nicht gelingt, die Düngstoffe regelmäßig wieder ihrem Ursprungsorte zuzuführen,
sagt ein älterer Vvlkswirtschnftslehrer, so muß sich dereinst die Pest aus unsern
Flüssen und der Hunger aus unsern Furchen erheben. Nebenbei gesagt, nichts
thörichter als die Gegnerschaft der liberalen Großstädter und der konservativen
Großgrundbesitzer; jene müßten ohne diese verhungern, da die Kleinbauern gar
kein Getreide verlausen und die größern höchstens die Kleinstädte versorgen,
die Großgrundbesitzer aber müßten ohne jene ihren Roggen und Weizen ver¬
faulen lassen. Großstädte und Latifundien bedingen sich gegenseitig; je mehr
die einen wachsen, desto nötiger werden die andern. Endlich kommt hinzu, daß
die geographische Lage und Gestalt des Landes im Westen die Industrie und
damit den Mcnschenzusammensluß begünstigt, im Osten beides hemmt. Das
bstlich gelegene Berlin freilich hat den toten Punkt überwunden, seitdem es,
durch politische Verhältnisse begünstigt, Millionenstadt geworden ist, und wächst
nun rapid weiter. Je größer das Gedränge, desto zahlreicher und mannich-
faltiger die Gelegenheiten zum Erwerb, freilich auch desto größer die Gefahr,
erdrückt zu werden oder über Bord zu fallen. Wo vier Millionen Menschen
sitzen, sagt sich der Engländer, wenn er aus der Provinz nach London zieht,
da findet man eher sein Brot als in der Einöde. Wohl; aber das Brot ist
auch meistens darnach! Wie weit haben wir uns doch entfernt von jenem
Zustande unsrer Vorfahren, wo die geschlossene Markgenossenschaft nichts von
dem, was ihre Feldmark erzeugte, über deren Grenzen hinausließ, damit keinem
der Genossen seine Nahrung entzogen oder geschmälert würde, und wo der
Staatsbeamte das Ackerstück kannte, auf dem sein Brot wuchs, und den Wein-
stock, der ihm seinen täglichen Tischtrunk spendete! Er konnte nicht aufrecht¬
erhalten werden, dieser natürliche Zustand; in solcher Gebundenheit an den
Boden hätte sich unsre höhere Kultur nicht entfalten können. Nur muß man
sich nicht einbilden, daß die Menschheit jemals von ihrem Mutterboden abgelöst
werden könne, und daß Daseiusunsicherheit der Mehrzahl ein Jdealzustand sei.
Etwas mehr Berechtigung Hütte der Einwand, daß doch auch bei uns
noch nicht alles Land urbar gemacht und das urbar gemachte noch nicht im
höchsten Grade ausgenützt sei. Und in der That, wenn es sich bloß um die
leibliche Ernährung handelte, die könnte vielleicht selbst für hundert Millionen
Bewohner noch ohne Beihilfe des Auslandes bestritten werden. Noch sind nicht
alle Moore trocken gelegt, nicht alle Berge bis auf den Gipfel gepflügt; noch
gestatten wir uns hie und da die Naumverschwendung natürlich geschlüngelter
Flußläufe mit regellos verstreuten Ufergebüsch, in dem gefiederte und uuge-
fiederte Paare Versteckens spielen können; noch sieht mau weidende Kühe und
spielende Kinder das kostbare Gras zertreten; noch dulden wir den Luxus be-
blümter Wiesen, während steife Fnttergräser zwar keine bunten Blüten tragen,
dafür aber, wie die Ackerbnuchemie lehrt, mehr Nährstoff enthalten; noch giebt
es Wälder bei uns, und noch lassen wir mit unverzeihlichem Leichtsinn so
manchen Spaziergänger ungestraft, der ein Waldblümchen pflückt, und manches
arme alte Weib und manches Kind, die Pilze und Beeren herausholen und
so die ökonomisch allein zulässige „bestmöglichste" Verwertung der Wald¬
produkte beeinträchtigen. Ja wir haben noch nicht einmal den Hirsch, das
Reh und den Hasen ganz ausgerottet, die des Bauern Saat abfressen, da wir
doch den Abgang des Wildfleisches sehr gut durch die dem Chinesen so teuern
Rattenbraten und Uugezieferragouts ersetzen könnten; wir nützen das Land noch
nicht gartenmäßig ans, wir sind, kurz gesagt, immer noch heillose Verschwender.
Allein es ist nicht gut bestellt um einen Haushalt, der seine letzten Reserven
angegriffen hat, und daun — der Leser verzeihe, daß wir auf diesen wichtigen
Punkt nochmals zurückkommen ^ Nur können die Natur nicht entbehren. Wer
sich niemals auf freier Bergeshöhe oder im weiten Vrachfelde ergehen und
tummeln, das Treiben der Tiere und den Gesang der Vögel im Walde be¬
lauschen, die ungestörte Ruhe der Waldeinsamkeit genießen, dein Spiel der
Wellen zusehen und es mitspielen darf, der ist kein ganzer Mensch mehr, und
mit dem letzten Reste der Jagd würde der letzte Zug des ursprünglichen dent-
schen Volkscharakters verschwinden.
Weit begründeter würde der Einwand sein, daß Frankreich entschieden
nicht übervölkert, Nordamerika sogar außerordentlich dünn bevölkert sei, und
daß trotzdem in beiden Ländern jene Übel, die wir aus der Übervölkerung
ableiteten, in den widerlichsten Formen hervortreten. Diese merkwürdige Er¬
scheinung läßt auf einen Fehler in der Güterverteilung schließen, nud ver¬
pflichtet uns daher zu einer kurzen Prüfung des Sozialismus.")
Nach vorgezeichneten Plane eine neue Gesellschaftsordnung herbeiführen
wollen, und die bestehende für ewig und unabänderlich, für sakrosankt und
unantastbar erklären, diese beiden Thorheiten, die sozialdemokratische und die
kapitalistische, siud eine der andern wert. Niemand kann die Zukunft voraus
wissen, damit ist die theoretische Socialdemokratie gerichtet; aber dieses eine
wissen wir, daß die Zukunft eines lebendigen Geschlechts anders sein muß als
seine Gegenwart, darum konnte dein Großkapital sein Unterfangen, jeden
Versuch einer Neuordnung zu hintertreiben, nicht gelingen. Wenn noch der
bestehende Zustand so himmlisch schön wäre, daß wir heutigen Fauste unsern
vorwärtstrcibenden Mephistopheles entlassen und zum Augenblick sagen könnten:
Verweile! Aber wie ist er denn?
Was bedeutet denn die Überproduktion, vor der wir uns in den wenigen
Augenblicken, wo wir einmal nicht daran leiden, zu Tode fürchten? Sie be-
deutet: Weil wir zu viel Brot und Fleisch haben, darum müssen viele
Millionen Menschen hungern; weil wir zu viel Schuhe haben, müssen die
Ärmeren im Winter barfuß oder in zerrissenem und geflickten Schuhwerk gehen;
weil wir zu viel Kleider haben, müssen sich Unzählige in Lumpen hüllen; weil
zu viel gebaut wird, müssen die Strafrichter tagtäglich einige hundert Personen
wegen Obdachlosigkeit verurteilen; weil zu viel Spielwaren vorhanden sind,
müssen viele tausend Kinder in der Fabrik arbeiten u. s, w. Hat mau, so lange
die Welt steht, etwas Dümmeres und zugleich Komischeres gesehen? Müssen
wir nicht den Bewohnern eines klugem Planeten vorkommen wie eine Herde
Enten, die mit kläglichem Geschrei vor dem jagenden Hunde herwatscheln, an¬
statt links ab in den gleich daneben fließenden Bach zu plumpsen, oder wie
ein Schwarm unverständiger Kinder, die einander in dein engen Zugang zu
einem reichbesetzten Büffet zu Tode drücken? Wahrhaftig, wenn dieses Phantom
der Überproduktion nicht eine ganze Welt von Trauerspielen, von Schrecken
und Elend einschlösse, man müßte sich darüber totlachen. Daß die Menschen
vor tausend Jahren nach einer Mißernte Hungers starben, weil sie eben weder
daheim Korn noch die Mittel hatten, sich welches von außerhalb zu verschaffe«?,
versteht jedermann; aber daß der Reichtum der Gesamtheit den Einzelnen zum
darben verurteilen, und daß diese Verkehrtheit ein unantastbarer Jdealzustand
sein soll, das verstehe, wer da will! Das letzte Wort der Volkswirtschaft, sagt
Nodbertus, wird doch wohl nicht: Arbeite und entbehre! sein, sondern: Arbeite
und genieße!
Wenn wir den ängstlich behüteten gegenwärtigen Zustand mit einigen
flüchtigen Linien zeichnen, so geschieht das natürlich nicht, um gegen daS
Kapital zu Hetzen. Auch der Verfasser dieser Zeilen besitzt einen kleinen Spar¬
pfennig und strebt ihn zu vergrößern; selbst der verbissenste Sozialdemokrat
sehnt sich nach einem Kapitälchen, und kein vernünftiger Mensch denkt daran,
die Besitzer großer Kapitalien für den gegenwärtigen Zustand verantwortlich
zu machen, der im Laufe der Jahrhunderte auf ganz natürlichem Wege ent¬
standen ist, und an dessen Herbeiführung und Aufrechterhaltung die Kleinen
ebenso eifrig gearbeitet haben wie die Großen, beide unbewußt. Wir zeichnen
diesen Zustand in derselben Meinung, wie ein kranker Arzt an seinem eignen
Leibe die Diagnose übt.
Bei der herrschenden „kapitalistischen" Betriebsweise gelangt fast kein
Arbeitender in den vollen Besitz seines Arbeitsertrages. Ein Teil davon wird
ihm in Gestalt von Kapitalzins und Bodenrenke vorenthalten. „Bei jedem
Mittag- und Abendessen — sagte neulich eine Bauersfrau — ißt unser
Hypothekengläubiger mit aus unsrer Schüssel." Von allen den verschiednen
Besitzern, die ihr sogenanntes Kapital zur Produktion eines Gegenstandes her¬
geben, zieht sich auf den verschiednen Prodnktionsstnfen (Kvrnbau, Kornhandel,
Mutterei, Bäckerei; Waldwirtschaft, Holzhandel, Brettsäge, Tischlerei) jeder
seinen Zinsenanteil ub. Die Folge davon ist. daß die Mehrzahl der Arbeitenden
in Dürftigkeit bleibt und sehr wenig verbrauchen kann, jedenfalls weit weniger,
als sie zu verbrauchen Lust hätte und fähig wäre. Dazu kvnunt noch jene
abscheuliche Lehre der englischen Nationalökonomen, daß sich das Einkommen
der „Arbeiter" (wer sind diese Arbeiter? gehört der Handwerksmeister, der
Bauer und der Beamte auch dazu?) niemals dauernd über das „Existenz¬
minimum" erheben könne, sodaß man es in abergläubischer Furcht schon für
eine nationale Gefahr anzusehen gewöhnt ist. wenn sich die Fabrikarbeiter
irgendwo ordentlich satt essen und Sonntags in guter Kleidung einhergehen.
Da sich nun die Produktiv» notwendigerweise nach dein Absatz richten muß,
die vielen Besitzlosen aber das, was sie brauchen, nicht kaufen können, so wird der
Produktion unsrer Kulturstaaten ihr Maß weniger von den vierhundert Millionen
bestimmt, die wenig oder nichts besitzen, als von den vier Millionen Wohl¬
habenden und Reichen. Da aber deren Aufnahmefähigkeit doch beschränkt ist
und ihr Verbrauch selbst bei der größten Üppigkeit niemals den mangelnden
Mnssenkonsum ersetzen kaun, so erleiden wir aller Augenblicke eine Geschäfts-
stockung, Handelskrisis oder wie man das Ding sonst nennt. Das (fälschlich
so genannte) „Kapital" liegt bereit, aber niemand mag es, und der Zinsfuß
sinkt. Die von Tag zu Tag sich glänzender entfaltende Maschinentechnik bietet
die Mittel dar, mit der geringsten Menge von Menschenarbeit alle Gegenstände
unsers Bedarfs zu verzehnfachen, aber man weist ihre Hilfe zurück und läßt
die schon fertigen Maschinen still stehen, weil der Markt mit Waren vollgestopft
ist. Kräftige Arme und gescheite Köpfe bieten zu taufenden ihre Arbeit an,
aber man kann sie nicht brauchen. Kapitalisten und Baumeister teilen sich in
den negativen Kapitalzins, der ihnen ans einem Hüuserkrcich erblüht, und
lassen die Bauarbeiter feiern, und neben den leer stehenden Palästen und Miet¬
kasernen kampiren Hunderte von Familien bei Mutter Grün, die vom Wirte
hinausgeworfen wurden, weil sie die Miete nicht bezahlen konnten, und die,
wenn sie es überhaupt noch einmal zu einer sogenannten Wohnung bringe»,
höchstens ein me»schenunwürdiges Kellerloch oder eine »»heizbare Dachkammer
beziehen werde». Hätte» sie das erforderliche Geld, sich «»ständig el»z»richte»,
so wäre allen vier Klaffen geholfen: ihnen, den Kapitalisten, den Architekten
und den Bauarbeitern. Die Erde spendet Nahrung in Fülle, und falls die
"> der Heimat gewachsene nicht zureicht, so biete» alle Erdteile »»s ihre Er¬
zeugnisse an, und Schiffe wie Dampfwage» stehen bereit, uns diese Erzeugnisse
mit Windeseile herbeizuführen. Aber nicht genug, daß viele Arme kein Geld
haben, die Zufuhr zu bezahlen, man läßt die Zufuhr gnr nicht herein, weil
man fürchtet, wir könnten noch ärmer werden, als wir ohnehin schon sind,
wenn das Ausland uns mit seinen Schätzen überschüttete.
Von den harten Worten, mit denen Nodbcrtns die Ungerechtigkeit dieses
Zustandes rügt, wollen wir keines anführen; aber seine Unvernunft müssen wir
doch noch mit einigen Worten hervorheben. Alles, so klagte vor einigen
Monaten der „Ekonomist" der kapitalistischen „Neuen Freien Presse," alles
scheine sich gegen das Kapital verschworen zu haben: die Arbeiter, die Ver¬
hältnisse, die Fortschritte der Industrie, die Natur, Zwar würden zur Hebung
des Kapitalzinses riesenhafte Anstrengungen gemacht; während man die Grund¬
rente durch künstliche Verteueruug der Lebensmittel zu steigern suche, werde
dem. in der Industrie angelegten Kapital durch Kartelle der Großindustriellen
und durch die ungeheuern Aufträge der europäischen Militärverwaltungen
augenblicklich eine bessere Verzinsung gesichert. Allein es sei leicht einzusehen,
daß diese gewaltsamen und künstlichen Mittel keine dauernde Hilfe bringen
könnten; insbesondre sei schwer zu sagen, was man beginnen werde, nachdem
alle die neuen Kanonen, Gewehre, Panzerplatten und sonstigen Ausrüstuugs-
gegenstände geliefert sein würden, und den Diplomaten ihre verzweifelten An¬
strengungen, Kriegsbefürchtuugen zu erzeugen, nichts mehr nützen würden, weil
ihnen in der ganzen Welt kein Mensch mehr glaube. Das zuletzt erwähnte
Bedenken wurde, natürlich in bedeutend andrer Form, um dieselbe Zeit in
einem Berichte des Sekretärs des Vereins für Bergbauinteressen ausgesprochen.
Nun, wenn es uns noch nicht ganz so schlimm ergeht, wie es uns gehen
könnte, wenn das sogenannte Kapital noch nicht an der Behandlung gestorben
ist, die seiue Pflegevater ihm angedeihen lassen, wenn sich der Zinsfuß in
neuerer Zeit sogar wieder ein wenig erholt hat, so haben wir das haupt¬
sächlich deu Lohnaufbessernngeu zu verdanken, die sich die Arbeiter erzwingen,
und durch die sie sich konsumtionsfähiger machen. Es hat mich daher nicht
im geringsten gewundert, als ich dieser Tage in den amtlichen Berichten der
Gewerberäte las, daß das abgelaufene Jahr 1889, das Jahr der großen
Streiks, für die Industrie günstiger verlaufen sei als seine Vorgänger. Was
würde den Agrariern, den Inhabern der Bodenrenke, der höchste Fleischpreis
nützen, wenn die Volksmassen wegen zu niedrigen Verdienstes aus den Fleisch-
genuß verzichten müßten? Der kleine Beamte verzehrt auch uur mäßig große
Lendenbraten, und was die vornehmen Herren neben Wild und Geflügel und
die Damen mit Wespentaille zu bewältigen vermögen, ist gar nicht der Rede
wert. Anstatt also die Hände überm Kopfe zusammenzuschlagen über die An¬
sprüche der Arbeiter, die zum zweiten Frühstück belegte Stukken verlangen,
sollten die Herren Kapitalisten, Großfabrikanten wie Großgrundbesitzer, viel¬
mehr Gott danken dafür, daß sie einen solchen Arbeiterstand haben. Wären
die europäischen Völker so lammsgednldig und unterwürfig aus Aberglauben,
wie die Hindu, ließen sie sich alles gefallen, dann wären Bodenrenke und
Kapitalzitts längst ein Märchen aus alten Zeiten geworden, und die Jndustrie-
aktien würden teils gar uicht vorhanden, teils Löschpapier sein.
Die englischen Grvßfabrikanten freilich haben Jahrzehnte hindurch gesagt
— natürlich nicht laut, sondern nur inwendig — was kümmerts uns, wenn
unsre Arbeiter darben? Finden wir doch für unsre Waren Abnehmer genug
im Auslande! Diese Zeit ist aber für England vorbei, und wir Festländer
haben nicht zu erwarten, daß eine ähnliche für uns anbreche. So verwerflich
die Praxis, sich auf Kosten einer hungernden heimischen Arbeiterbevölkerung
durch Absatz im Auslande zu bereichern, vom sittlichen und vom patriotischen
Standpunkte aus sein mag, geschäftlich ist sie klug, so lange sie möglich ist.
Aber seitdem sie unmöglich geworden ist, weil alle Völker exportiren, und der
Auslandshandel statt des Charakters einseitiger Ausbeutung den des Güter¬
austausches angenommen hat, seitdem hat jene Praxis auch geschäftlich keinen
Sir» mehr, und Landwirtschaft wie Industrie haben nnr die Wahl, ob sie
daheim eine kaufkräftige Bevölkerung aufkommen lassen oder die Produktion
einstellen wollen.
In der jetzigen Maschiueutechnik und in unsern vortrefflichen Verkehrs¬
anstalten sind — die hinreichende Vodenfläche vorausgesetzt — den Kultur¬
völkern die Bedingungen eines unbegrenzten Nativnalreichtums gegeben. Und
wie steht es damit? Wenn das französische Nationalvermögen unter alle
Franzosen gleichmäßig verteilt würde — sagt ein bei Nvdbertus angeführter
Schriftsteller —, so wäre jeder Franzose gerade nur ein Lump. Auf welchen
Titel der Durchschnittsdeutsche Anspruch hat, mögen sich die Leser aus der
Klassensteuerstatistik selbst berechnen.
Unsre Gesellschaftsordnung muß also fehlerhaft sein, und diese Fehler
müssen sich in der Theorie jener Ordnung, in der Lehre des Adam Smith,
nachweisen lassen. In der That haben die sozialistischen Volkswirtschaftslehrer,
Männer wie Rodbertus, Schäffle, Brentano, Adolf Wagner, schon längst die
Fehler des Kapitalismus aufgedeckt und namentlich über die drei Begriffe
Kapital, Arbeit und Produktion größere Klarheit verbreitet. Im folgenden
gedenken wir zu zeigen, wie die bloße Verbreitung gereinigter volkswirtschaft¬
licher Begriffe und Grundsätze viele und große Übel unsers Erwerbslebens zu
heilen vermöchte, ohne daß wir dadurch auf die abschüssige Bahn kommu¬
nistischer Experimente geraten und die Sicherheit des Privateigentums ge¬
fährden würden. Mit Berufungen auf Autoritäten werden wir sparsam sein;
der sachkundige Leser sieht ohnehin, wo sich die Darstellung an die eine oder
die andre der oben genannten anlehnt, und für den uichtfachkuudigeu hat es
keinen Wert, zu wissen, wer dies oder das schon früher einmal gesagt hat.
Nach Smith hängen der Wohlstand eines Landes und das Wohlbefinden
seiner Bewohner von seinem Kapitalreichtnm ab; das Kapital aber entsteht
durch Sparen. Sparsamkeit, meint er, sei sogar noch wichtiger als Gewerb-
fleiß, da die Gtttererzcugung für sich allein niemals zur Kapitalbildung führen
könne; denn diese bestehe in der Aufhäufung, in der Nnsammlnng der er¬
zeugten Güter. Durch diese Vermischung des Geldkapitals mit dem National¬
vermögen hat Adam Smith eine Verwirrung angerichtet, die aus den Köpfen,
aus dem Erwerbsleben, aus den Staatsverwaltungen kaum mehr auszu¬
treiben ist.
Das Vermögen eines Volkes, das man gewöhnlich sein Kapital nennt,
besteht ans kultivirten Boden, Nutzhölzern, Fruchtbäumen, Weinstöcken und
andern perennirende» Nutzpflanzen, Gebäuden, Viehherden, Düngerbeständen,
erschlossenen Erzaderu und Kohlenlagern (nicht erschlossene können wohl einmal
Vermögeusbestaudteile werden, sind es aber vorläufig so wenig wie Ödland
und Sümpfe), Fabriken. Eisenbahnen, Straßen, Verkehrsanstalten aller Art,
Maschinen und Werkzeugen, Wohlfahrtseinrichtungen, Kunstwerken, Büchern,
Erziehungsanstalten, Sicherheitseiurichtungen, Gemeinde-, Staats- und Kirchen-
anstalten, und natürlich gehört auch deren Gesamtheit, gehören Gemeinde,
Staat und Kirche selbst dazu. Nahrungsmittel und Kleider können nur dort
zum Kapital gerechnet werden, wo sie zum Verkauf oder Wirtschaftsbetriebe
aufgespeichert liegen: z. B, das Saatgetreide, das Korn auf dem Markte und
in der Mühle, die Baumwolle in der Fabrik. Dagegen bilden Vorräte, die
schon in den Verbrauch übergegangen sind, wie das Kleid am Leibe und das
Mehl im Kasten der Hausfrau, uicht einen Bestandteil des Kapitals, sondern
des Einkommens. Gold-, Silber-, Nickel- und Kupfermünzen bilden einen Teil
des Nationalkapitals, weil sie Metallwert haben; daß ihre Gesamtheit selbst
bei den geldreichsten Völkern nur einen winzigen Teil des Volksvermögens
ausmacht und bei der Abschätzung des Wohlstandes kaum in Betracht kommt,
ist seit 1870, wo viel über die Millinrdenzahlung berichtet wurde, allgemein
bekannt. Papiergeld, Banknoten, Staatsschnldscheine, Aktien, Hypotheken sind
an sich nicht mehr wert als das dazu verwendete Papier, d. h. im Vergleich
zum Vermögen eines Volkes so viel wie nichts. Ihr Wert ist nicht fürs
Volk, sondern nur sür den Inhaber vorhanden, dein sie den Anspruch auf eine
gewisse Gütermasse gewähren. Verbrennt mir ein Hundertmarkschein, so habe
ich zwar die Möglichkeit verloren, mir jenen Güteranteil zu verschaffen, der
durch diesen Schein Hütte erworben werden können, aber der Güteranteil selbst
ist noch da; das Volk hat nichts als einige Quadratzoll Papier verloren.
Nur bei ausländischen Papieren verhält sich die Sache anders. Werden solche
vernichtet, so verliert unser Volk so viel, als der Inhaber mit jenen Papieren
vom Vermögen eines andern Volkes in seine und mittelbar in seines Volkes
Gewalt hätte bringen können. Alle die genannten Gegenstände nun, vom
durchgepflügten Acker bis zum Baumwolleuvorrat und dem Hnndwerkszeuge,
haben lediglich dadurch Wert, daß einerseits auf ihre Herstellung menschliche
Arbeit verwendet worden ist, und daß sie anderseits dem Menschen seine fernere
Arbeit erleichtern, durch die er sich Gebrauchsgcgenstünde und Genußmittel
(Einkommen) verschaffen will. Sie sind also sämtlich Werkzeuge, wenn sie auch
gar nicht wie gewöhnlich so genannte Werkzeuge aussehen. Deshalb definirt
Nvdbertus das Kapital mit Recht als den Vorrat an Werkzeugen.
Wenn nun etwas in der Welt klar und unbestreitbar ist, so ist es die
Wahrheit, daß das so verstandene Kapital nicht durch Sparen entsteht und
niemals durch Sparen entstehen kann. Stellen wir uns die Produktion in
ihren rohesten Anfängen vor. Ein Wilder, der von Baumfrüchten lebt, bricht
sich einen Stab und giebt ihm eine solche Form, daß er sich sowohl zum
Herunterschlagen von Früchten wie zum Herbeiziehen entfernter Aste eignet.
Das ist sein erstes Werkzeug, sein erstes Kapital. Ist das durch Sparen ent¬
standen? Offenbar nicht. Wie viel oder wie wenig er von den Früchten, die
sein einziges Einkommen bilden, verzehrt, das hat mit der Zurichtung des
Steckens gar nichts zu schaffen. Ganz so verhält es sich, wenn der Mensch
später nicht mehr von Baumfrüchten, sondern vom Ertrage des Ackers lebt.
Was ihn reicher macht, das ist nicht ein ersparter Kornvorrat, sondern die
Verbesserung und Vermehrung seines Ackergeräts und seines kultivirten Bodens,
seine Arbeit. Nur mit Beziehung auf die Zeit kann hierbei das Wort sparen
angewendet werden. So lange der Grundbesitzer seine ganze Zeit auf die
Erzeugung seiner Lebensmittel verwendet, kann er sein Kapital nicht vergrößern.
Erst wenn er täglich einige Stunden erübrigt, um Werkzeuge herzustellen und
sein Produktionsgebiet zu erweitern, ist das möglich. Nur im Anfange des
Ackerbaues kann das Sparen unter Umständen zur Kapitalbilduug erforderlich
sein; wenn nämlich die erste Ernte so gering ausfällt, daß der Bauer hungern
muß, um das Saatgetreide zu erübrigen. Nodbertus will indes die Be¬
zeichnung Sparen für solches freiwilliges Entbehren nicht gelten lassen, und
jedenfalls hat diese Art des Sparens auf den spätern Stufen der Produktion
keine Bedeutung mehr.
Was in aller Welt sollte denn heilte gespart werden? Roggen, Vieh,
Wein? Was würde das denn nützen? Das nicht verbrauchte Getreide würde
verderben; verwendete man es aber zur Vergrößerung der Aussaat, so würde
die Erzeugung über den Bedarf nur die Wirkung haben, daß nächstes Jahr
ein Teil der Ernte um so sicherer verfaulte, wenn man nicht etwa den Überfluß
aus Mangel an Lagerraum ins Wasser zu werfen genötigt wäre. Oder sollen
Werkzeuge gespart werden? Das wäre erst recht Unsinn. Ein Tischler, der
seine Hobel im Glasschrank verwahrte, ein Fabrikant, der mehr Maschinen
aufstellte, als er braucht, eine Kreisverwaltnng, die Chausseen baute und Tafeln
mit der Inschrift davor stellte: „Darf nicht befahren werden," das wären noch
närrischere Käuze als der Geizhals, der seine Zwauzigmarkstücle in einen
Strumpf versteckt. Vorräte sind da, um verbraucht, Werkzeuge, um ange¬
wendet zu werden; gespart werden nur einzelne merkwürdige Stücke sür
Sammlungen.
Ein Verschwender schädigt zwar sich selbst, nicht aber das Nationalvermögen.
Die Handschuhe, die er zerreißt, die Zigarren, die er raucht, der Wein, den er
trinkt, alle diese. Dinge sind zum Verbrauchen bestimmt; indem er einen nn-
sehnlicher Teil davon vertilgt, erweist er den Erzeugern einen Dienst. Nur
wenn er gleichzeitig ein Faulpelz oder unfähig oder beides ist, schädigt er das
Nationalvermögen, indem er sich an der Produktion seines Volkes nicht be¬
teiligt, also zur Vermehrung des Gütervorrates nichts beiträgt. Seine Familie
allerdings schädigt er, wenn er welche hat, auch schon durch den übermäßigen
Verbrauch für seine Person, der die Anteile seiner Verwandten am Gütergenuß
verkürzt. Etwas ähnliches kommt bei armen Völkern vor; und arm waren im
Beginn des Mittelalters alle Völker Europas. Darum hatte damals die
Askese einen guten Sinn. Sie vermehrte den Wohlstand nicht, aber sie ver¬
ringerte das ans den Armem lastende Maß der Entbehrung. Die Nahruugs-
mittelmenge, die in den langen Fastenzeiten von den Reichern erübrigt wurde,
kam den Armem zu gute. Das Verbot der Fleischspeisen um gewissen Tagen
mehrte sogar das Volksvermögen, indem es zur Fischzucht nötigte. Eine recht
drastische Beleuchtung erfuhr die volkswirtschaftliche Bedeutung des Fastens noch
vor neunzig Jahren einmal. Suwvrvff stand mit seinem Heere in Süddeutsch-
land und verursachte in der schon ausgesogenen Gegend einen empfindlichen
Mangel. Die Ortsbehörde» klagten ihm ihre Not. O, sagte er, dem wollen
wir bald abhelfen. Er verordnete seinen Kerls ein dreitägiges Fasten und
Beten, und in diesen drei Tagen erholte sich der Getreidemcirkt wieder.
Heute hat das, im großen und ganzen wenigstens, keinen Sinn mehr.
Der verbesserte Ackerbau erzeugt so viel Nahrungsmittel, und der Mangel
übervölkerter Länder kann dnrch den Überschuß der untervölkerten so leicht aus¬
geglichen werden, daß es nicht der rasche Verbrauch, sondern das Liegenbleibe»
der unverkauften Getreidevorräte ist, was die Landwirte aller Länder wie den
Tod fürchten. Im einzelnen freilich behält das asketische Sparen leider noch
seine Berechtigung. In taufenden von armen Familien hungern die Eltern,
damit sich die Kiuder satt essen können, oder hungern die Kinder den Eltern
zuliebe, oder darben alle mit einander, die Entbehrung gleichmäßig unter ein¬
ander verleitend. Daß aber dieses Hungern aus Liebe deu Gütervvrrat nicht
vermehrt, liegt auf der Hemd; im Gegenteil, indem es die Arbeitskraft schwächt,
hemmt es die Gütererzeugung, die Kapitalbildung.
Was zum Teil durch Spare» entsteht (zum audern Teil durch Speku¬
lation, Glücksfälle, Betrug u. f. w.), das ist der Kapitalbesitz. Wer sein Ein¬
kommen nicht verbraucht, der behält Geld übrig, mit dem er entweder das
Landgut, d. h. das Kapital eiues weniger sparsamen, oder weniger klugen,
oder weniger glücklichen kauft, oder Wertpapiere erwirbt, die ihm das Anrecht
auf die Nutznießung der Kapitalien andrer erteilen. Diese andern sind jetzt
bloß noch scheinbar Besitzer ihres Kapitals; in Wirklichkeit gehört ihnen nur
so viel davon, als dem Gläubiger noch nicht verschrieben ist. Die ganze
Arbeit, die zur Nutzbarmachung des Kapitals erforderlich ist, müssen sie nach
wie vor verrichte», aber vom Ertrage dieser Arbeit müssen sie so viel abgebe»,
als der Zinsherr zu forder» hat. Wollen wir, der Kürze wegen, den Kapital-
besitz Kapital nennen, also u»ter Nativnalkapital die Summe aller Besitztitel
verstehen, dann dürfen wir die Vermögensstücke selbst nicht mehr zum Kapital
rechnen. Wir wollen es im Nachfolgenden so halten, wollen demnach die
Gesamtheit aller Güter eines Volkes sei» Vermögen, nicht sein Kapital nenne»,
und nnter Kapital bloß die Summe der Wertpapiere und sonstigen Besitztitel
verstehen. Das Metallgeld gehört beiden Massen an; mit seinem Metallwerte
bildet es einen Teil des Nationalvermögens, dnrch seine Kaufkraft ist es für
den jedesmaligen Besitzer ein Besitztitel, ein Mittel, gewisse Güter eines andern
in seine Gewalt zu bringen.
ephästion war gestorben. Alexander rüstete in seinem Schmerz
rin den schönen Freund eine glänzende Leichenfeier. Zweihundert
Fuß hoch erhob sich der Scheiterhaufen ans edeln und köstlichen
Hölzern. Purpurgewänder, Goldschmuck und gestickte Teppiche
umhüllten den Aufbau, und eine Fülle von Bildwerken stand
auf den Vorsprüngen und auf der Höhe der Plattform, wo die Leiche aufge¬
bahrt wurde. Mit der Asche deö Toten sank der ganze Prachtbau in Flammen
zusammen.
Wenige Monate später folgte der große König seinem Freunde in den
^od nach. Der widerliche Kampf um sein Erbe, wobei in seinem Sterbe¬
gemach das Blut rieselte, wurde durch einen Ausgleich der Führer gestillt.
Die Totenfeier einte noch einmal die innerlich schon entzweiten zu äußerer
Gemeinschaft. Man legte die Königsleiche in einen goldnen Sarg, dazu wohl-
nechende Kräuter und Gewürze, um die Verwesung zu verzögern. Jahre laug
dauerten dann noch die Vorbereitungen, ehe sich im Frühling 321 der glänzende
Zug in Bewegung setzen konnte. Sein Ziel war Ägypten. Dort, in der
von Alexander gegründeten Weltstadt Alexandria, sah man mich noch in der
^mischen Kniserzeit das Grab des Macedonen, freilich nicht mehr mit jenen:
goldnen Sarkophag, sondern mit einem Sarkophag uns Glas.
Diese Nachrichten von dem Tode der beiden engverbundnen Freunde, die
sern von der Heimat innerhalb Jahresfrist ins Grab sanken, sind Zeugnisse
dafür, daß im alten Griechenland zwei Arten der Bestattung ohne jeden
Unterschied des Ranges oder des Reichtums in Gebrauch waren: das Ver¬
brennen, wobei man die Überreste der Leiche in eine Aschenurne sammelte und
in einer Gruft oder Felsenkammer beisetzte, und das Beerdigen, wobei man den
Leichnam entweder ohne weitere Umhüllung der Erde übergab oder in einem
Sarg aus Holz, Thon oder Stein barg, der in der Grabkammer oder unter
freiem Himmel aufgestellt wurde.
Unsre schriftlichen Nachrichten gestatten keine Entscheidung darüber, welches
von beiden in Griechenland das ursprüngliche gewesen ist. Für die geschichtliche
Zeit können sie sogar die falsche Vorstellung in uus erwecken, als wäre es
eigentlich griechische Sitte gewesen, den Körper zu Perbrennen. Sagt doch ein
sonst gut unterrichteter Schriftsteller des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts
mit scharfer Gegenüberstellung: „Der Griechen Art war es, zu verbrennen;
der Perser, zu beerdigen." Und von Homer an besitzen wir fast zahllose
Berichte über Feuerbestattung; nur selten, wie bei Alexanders des Großen
Tode, wird ausdrücklich erwähnt, daß die Leiche unverbrannt in einem Sarge
beigesetzt worden sei.
Aber auch auf diesem Gebiete hat sich gezeigt, wie lückenhaft unsre
schriftliche Überlieferung und wie bedenklich es ist, ans dieser Grundlage allem
eine Darstellung des griechischen Lebens aufzubauen. Die Nachrichten über
Ausgrabungen und die Forschungen der archäologischen Wissenschaft, der in
den bemalten Thongefäßen eine Fülle gleichzeitiger sittengeschichtlicher Schilde¬
rungen zu Gebote steht, müssen hinzutreten, um die häusig einseitigen Berichte
der Schriftsteller zu ergänze«. Aus den Gräberfunden und den Darstellungen
auf griechischen Thougefäßeu sehen wir nnn, daß zu allen Zeiten und an
allen Orten in Griechenland das Beerdigen neben dem Verbrennen in Übung
war. Ja für die vorgeschichtliche Zeit dürfen wir gerade das Beerdigen als
eigentlich griechische Sitte hinstellen. Die kleinen Gratckammern neben den
gewaltigen Kuppelbauten von Mykenä und Orchomenos waren offenbar dazu
bestimmt, die Leiche des Verstorbnen, nicht die Aschennrne auszunehmen. In
den Schachtgrübern auf Agamenmons Burg fand Schliemann die Bestatteten
noch in der ursprünglichen Lage, und Haut- und Fleischteile bewiesen, daß man
die Körper nach ägyptischer Sitte vor Verwesung zu schützen gesucht hatte.
Und auch an andern Orten in Kleinasien, auf den Inseln und in Griechenland
selbst sind Gräber ans vorgeschichtlicher Zeit aufgedeckt worden, die das Skelett
des Verstorbnen enthielten.
Es könnte scheinen, als stünden die thatsächlichen Funde in unauflös¬
lichen Widersprüche mit den ältesten schriftlichen Nachrichten. Aus späterer
Zeit wird uns doch wenigstens hie und da einmal auch ein Fall des Ve-
erdigens überliefert. Die homerischen Gedichte dagegen kennen ausschließlich
die Feuerbestattung; nicht nur die gefallenen Fürsten werden verbrannt, auch
die Leichen der Namenlosen werden auf die Scheiter gehäuft. Aber die ho-
menschen Gedichte beweise» doch nur, daß zu ihrer Zeit und in ihrer Heimat,
also in Kleinasien, die Sitte der Feuerbestattnng allgemein üblich war. Auf
das Mutterland und für spätere Zeiten gestatten sie keine Rückschlüsse. In
Griechenland selbst — dafür sind die Gräberfunde aus allen Jahrhunderten
unanfechtbare Zeugnisse — stand in geschichtlicher Zeit die Sitte des Beer-
digens völlig gleichwertig neben der des Verbrennens. Es lassen sich auch keine
bestimmten Grundsätze aufstelle», nach denen man verfahren wäre. Nur so
viel etwa kann man sagen: allgemein üblich war die Feuerbestattnng für die
fern vom Vaterland in einer Schlacht gefallenen oder zu Zeiten eines großen
Sterbens, wie bei der athenischen Pest. Abgesehen von derartigen Ausnahme-
fällen aber war es jedem Einzelnen überlassen, ob er seine Augehörigen be¬
erdigen oder verbrennen wollte. An einigen Orten, wie in Sparta, überwog
das Verbrennen, an andern, wie in Athen, das Beerdigen. Und man blieb
sich auch, wenigstens in Athen, dessen bewußt, daß diese Sitte die ältere und
ursprüngliche war. Die Athener beriefen sich darauf, bereits Kekrops habe in
ihrer Stadt die Sitte des Beerdigens eingeführt. Und zu allen Zeiten dachten
sich die Griechen die Überreste ihrer göttlich verehrten und von den Dichtern
besungenen Heroen, eines Theseus. Orestes und Pelops, als Gebeine, trotz
allein, was Homer von der Bestattung seiner Helden erzählt. Und war wirklich
die Feuerbestattung, wie die epischen Dichter es schildern, zu ihrer Zeit in
Kleinasien ausschließlich in Geltung, so müssen sich die kleinasiatischen Griechen
wenigstens sehr bald davon freigemacht haben; denn schon aus dein sechsten
vorchristlichen Jahrhundert stammen die bemalten Thonsarkophage ans Klazv-
menü, für uns die ersten erhaltenen Beispiele griechischer Sarkophage.
Das gebräuchliche griechische Wort für Sarg ist uicht Sarkophagos,
sondern Soros. Erst sehr spät kommt das Wort Sarkophagos aus, d. h.
Fleischfresser. So nannte man eine Steinart, die im nördlichem Kleinasien
brach und die Eigenschaft besitzen sollte, die Verwesung zu beschleunigen und
den Körper rasch zu verzehren. Als Bruchstätte wird die Stadt Assos in der
Troas genannt. Man vermutet, daß der Stein jener Alaunschiefer sei, aus
dem die in Assos gefundenen spätgriechischen Sarkophage gearbeitet sind. Doch
wie der Name Sarkophag nicht der älteste, so ist gewiß auch Stein nicht der
Stoff gewesen, ans dem man die ersten Särge fertigte. Das Ursprüngliche
war wohl, daß man die Leiche, nnr in ein Tuch geschlagen, der Grabkammer
oder dem Boden übergab; Vasenbilder zeigen uns, daß diese einfachste Art des
Beerdigens auch noch in späterer Zeit in Griechenland üblich war, und in
den ausgedehnten Totenstädten Etruriens sehen wir neben zahlreichen Aschen¬
urnen und Thonsarkophagen noch Hunderte von Leichenbänken, ans denen die
Körper im Schmucke der Erzrüstnng ausgestreckt lagen. Als man dann in
Griechenland — wir wissen nicht, seit wann — den Verstorbenen in einen
Sarg legte, wählte man hierzu zunächst die um leichtesten zu bearbeitenden
Stoffe, Holz oder Thon. Neste sehr schöner und kunstvoll verzierter Holzsärge
sind unter andern in den Gräbern der griechischen Pflanzstädte in Südruß-
land gefunden worden; ihre Gestalt kennen wir auch aus Darstellungen auf
Thongefäßen: es sind ziemlich hohe, viereckige Kisten oder Truhen, mit flachen
Deckel und untergesetzten Füßen und mit Verzierungen, die entweder aufgemalt
oder ins Holz eingelegt sind. Die Gestalt dieser Holzsärge ist also ganz ver¬
schieden von der, die wir an den Marmorsnrkophageu zu sehen gewöhnt sind.
Und dies gilt auch von deu ältesten Thvnsärgen, die zum Beispiel aus Athen
zahlreich bekannt sind: niedrige, aus einzelnen Ziegeln oder größer» Thon¬
platten zusammengefügte Behälter, im Durchschnitt entweder ein Dreieck oder
eine flache Mulde bildend, nur eben Raum genug bietend für die Leiche und
die ihr beigefügten Liebesgaben.
Die frühesten griechischen Särge, an denen wir die später allgemein übliche
Sarkophagform sehen, sind die bereits erwähnten klazvmcnischen Thonsarko¬
phage ans dem sechsten Jahrhundert. Der Fundort, die Stadt Klazomenä,
liegt uicht im eigentlichen Griechenland, sondern im kleinasiatischen Besiedluugs-
gcbiet; und Sarkophage von ganz ähnlicher Gestalt sind in Phönizien, ans
Chpern und in den etrurischen Tvtenstädten gefunden worden. Schon dies
deutet darauf hiu, daß diese Snrkvphagfvrm bei den Griechen nicht ursprüng¬
lich, sondern aus dem Auslande zu ihnen gekommen ist. Die äußere Form
dieser Thousärge ist deu Phöniziern entlehnt. Die Gestalt, die von nun an
bis zu den christlichen Sarkophagen herab mit geringen Umänderungen dieselbe
blieb, ist die des viereckige» Hauses mit einem Dach, das auf beiden Lang¬
seiten schräg abfällt, a» de» Schmalseiten durch einen Giebel abgeschlossen ist.
Der Sarg galt also auch den Griechen als Hans, als letzte Wohnung des Ab-
geschiednen. Und der Wunsch, diese zu schmücken, führte wie in Phönizien dazu,
die glatten Thonflächen zu bemalen, mit Vilderu von Reitern und gerüsteten
Kriegern, wie sie gleicherweise auf den Thongefäßen jener Zeit wiederkehren.
Im Waffenspiel und in der Nossezucht sah der vornehme Grieche seine Ehre
und Freude.
Marmorsarkvphage mit Reliefschmnck scheinen in Griechenland erst gegen
Ausgang des vierten vorchristlichen Jahrhunderts gearbeitet worden zu sein.
Der älteste und zugleich schönste ist wohl ein Sarkophag mit Amazoueu-
darstellungeu in Wien. Vorzügliche Beispiele sind ferner die vor einiger Zeit
in Phönizien (Sidon) gefundenen Sarkophage mit Darstellungen von Jagden
und Perserkämpfen. Sonderbarerweise wurde, als diese Funde gemacht wurden,
in den meisten Tagesblättern verkündet, man habe den Sarg Alexanders des
Großen wiedergefunden. Nur das bekannte Arbeiten mit der Schere kann die
Verbreitung einer so thörichten Nachricht erklären; wir wissen genau, wie und
wo der große.König beerdigt worden ist. Aber das ist ja richtig: diese Sarko¬
phage gehören noch der hellenistischen Zeit an und sind für uns besonders
Wichtig, weil die meisten griechischen Sarkophage erst ans der römischen Kaiser-
zeit stammen, also ans der Zeit, der die große Masse der römischen Sarkophage
angehört, Bon den römischen Sarkophagen aber unterscheiden sich die in
Griechenland gearbeiteten besonders dadurch, daß sie die architektonische Gliede¬
rung des Totenhauses klarer betonen; und dies hängt wohl damit zusammen,
daß siL meist frei aufgestellt, uicht wie die römischen mit der einem Langseite
gegen die Wand gerückt wurden. Sie wirken daher mehr als selbständige Denk¬
mäler, während die römischen Sarkophage nur einen Schmuck der Grabkammer
bildeten. Sie ruhen ans einem besondern Unterbau; das Dach, dessen Gesims
kräftig hervorgehoben wird, liegt zuweilen auf Säulen oder Pfeilern auf, die
die Ecken einfassen, und der Fignrenschmnck ist maßvoll und ordnet sich der
architektonischen Wirkung unter. Zuweilen sind die Wandflächen ganz glatt
oder nur mit Blatt- und Blumengewinden gefüllt; häufig sind spielende Kinder
oder Amoretten darauf dargestellt; auch die Herocusage und das tägliche Leben
sind durch Amazvueukämpfe, Kentauren, Herakles, Achill, Jagden und Perser¬
kämpfe vertreten. Aber gegenüber den fast zahllosen Beispielen heroischer und
bakchischer Darstellungen auf den römischen Sarkophagen sind diese Darstellungen
in Griechenland verhältnismäßig selten, und völlig fremd ist den griechischen
Sarkophagen die häßliche Häufung und Überschneidung der Gestalten.
Nach griechischen Vorbildern arbeiteten die etrurischen Handwerker ihre
Thon- und Steinsarkvphage. Und von Etrurien ging wohl eine Neuerung
nus, die auch in Rom Eingang fand. Wie erwähnt, übten die Etrurier lauge
Zeit die Sitte, die Leichen ohne weitere Umhüllung ans Totenbänke nieder¬
zulegen. Daraus erklärt sich eine eigentümliche Umgestaltung der Sarkophag¬
form i das Totenhaus wird zur Leichenbank, das Giebeldach zum Polster, auf
dem das plastische Abbild des Verstorbenen ruht. Diese Form des Sarkophags
ist in Etrurien in den letzten! vorchristlichen Jahrhunderten sehr häufig. Nicht
Mr die Bvruehmen wurden in Sarkophagen beerdigt, deren Deckel ihr Bild
trägt; auch der arme Marin, der ein derartiges Kunstwerk nicht bezahlen konnte,
wollte wenigstens eine billige Nachahmung besitzen, und so entstanden die hä߬
lichen kleine« Aschenkisten, in denen natürlich nicht der Körper — denn diese
Listen aus Alabaster, Tuff und Travertin oder gebrannter Erde sind selten
über einen Meter lang - , sondern die verbrannten Überreste des Verstorbenen
beigesetzt wurden, und auf deren Deckel das puppenhafte Bild des Toten, auf
deren Seitenflächen fratzenhafte Darstellungen ans der Mythologie oder dem
täglichen Leben angebracht sind.
Auch in Rom schwankte der Gebrauch zwischen dein Beerdigen und dem
Verbrennen. Die auf Nimm zurückgehenden Bestimmungen der Pontifices
kennen niir das erstere; doch wird der Sitte des Verbrennens bereits in den
Zwölftafelgesetze» gedacht, und in der geschichtlichen Zeit hat diese Vestattnngsart
wehr und »lehr zugenommen; sie galt wohl auch als vornehmer. Aber nicht
nur die große Masse des Volkes, dem die Feuerbestattung zu kostspielig war,
auch einige der edelsten Geschlechter der Stadt hielten an der ursprünglichen
Sitte fest. Ausdrücklich wird es von Cicero für das reiche und altadliche
Geschlecht der Cornelier bezeugt, und wie eine glückliche Bestätigung dieser
Nachricht hat uns der Zufall als ältesten römischen Sarkophag gerade den
eines Corneliers erhalten: des L. Cornelius Scipio Barbatus, Konsul im
Jahre 298 v. Chr. Das ehrwürdige Denkmal, das den Besuchern des Vatikans
wohl bekannt sein dürfte, ist aus Peperin gearbeitet, in Altarform, nur mit
architektonischer Gliederung, ohne jeden Figureuschmuck. Auch der zweite im
Seipionengrab gefundene, aus Travertin gearbeitete Sarkophag der Unita
Cvruelin ist lediglich architektonisch gegliedert.
Marmorsarkvphage mit Neliefschmuck scheinen in Rom überhaupt erst in
der mittlern Kaiserzeit bekannt, nun aber auch schnell beliebt geworden zu sein.
Was eigentlich ihre Einführung in Rom veranlaßt hat, ist schwer zu sagen.
Das Eindringen orientalischer Gottesdienste und Gebräuche, durch die das
Beerdigen wieder bei den vornehmen Geschlechtern Sitte wurde, war wohl
ebenso einflußreich, wie der wachsende Luxus, der diese reich verzierten Stein¬
särge zu einem prachtvollen Schmuck der Grabkammer umgestaltete; nicht am
wenigsten aber wirkte auch hier die berückende Gewalt, die von jeder neuen
Mode ausgeht. Mit der Schnelligkeit einer Mode verbreitete sich seit der Zeit
der Antonine, also etwa seit der Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts,
die Sitte des Beerdigens in Marmvrsarkophagen. Zu Hunderten, ja zu tausenden
sind diese Denkmäler wiedergefunden worden. Man schützt die vollständig oder
in größern Stücken erhaltenen auf dreitausend; davon sind die Hälfte etwa in
Rom, die übrigen in den kleinern Städten Italiens und in den nordischen
Sammlungen.
Die Vorbilder der römischen Steinmetzen — denn Steinmetzarbeiten sind
diese Marmorsärge, nur wenige sind Schöpfungen eines wirklichen Künstlers —
waren griechische und etrurische Sarkophage. Die Grundform des römischen
Sarkophags ist ebenfalls viereckig; wenige Beispiele zeigen eine mulden- oder
wannenförmige Gestalt. Während aber noch in Etrurien am architektonischen
Aufbau des Sarkophags festgehalten wurde, ist er in Rom zu einem bloßen
Prnnkstück der Grabkammer geworden. Die Gliederung des Unterbaues und
des Gesimses wird immer schwächlicher, die Dachform des Deckels schwindet,
die Marmorflächen werden mit Figureuschmuck überladen; zuweilen trägt auch
noch der Deckel ein schmäleres Reliefband. Auch sind am römischen Sarkophag
die vier Seiten nicht mehr gleichwertig, sondern da das Denkmal gegen die
Wand der Grabkammer gerückt ist, so wird für den Beschauer die eine Lang¬
seite zur Vorderseite, die beiden Schmalseiten werden zu Nebenseiten, und die
zweite Langseite war überhaupt uicht sichtbar; dem entspricht es, daß sich der
Fignrenschmnck häufig auf die Vorderseite beschränkt, oder die Verzierung der
beiden Schmalseiten vernachlässigt wird; selten sind freistehende römische Sarko¬
phage, die gleich den griechischen ans allen vier Seiten Neliefschmuck tragen.
Kunstwerke sind nun freilich diese Sarkophagreliefs nicht. Man bewundert
vielleicht die technische Geschicklichkeit und die verlMtnismäßige Sicherheit, mit
der selbst diese Handwerkerarbeiten ausgemeißelt sind; aber einen wirklichen
Genuß gewähren nnr ganz wenige Beispiele. Die große Mehrzahl ist unschön.
Viele sind geradezu häßlich. Ein Vergleich dieser Denkmäler mit den griechischen
Grabstelen und deu griechischen Sarkophagen, die doch ebenfalls nnr Hand¬
werkerarbeit sind, lehrt am deutlichsten, wie tief im Verlauf der Jahrhunderte
der künstlerische Geschmack der alten Welt gesunken war. Das Hauptübel der
römischen Neliefkunst, das schon an den ersten kaiserlichen Trinmphalreliefs
bemerkbar wird, nämlich die Neigung zur Häufung der Figuren, macht die
meisten Sarkophagreliefs für ein Auge, das um griechischen Kunstwerken geschult
ist, fast unleidlich, ganz abgesehen von den immer größer werdenden Köpfen und
der übertriebnen Schlankheit der Gestalten, die in der römischen Kunst zur
Manier wird. Eigentümlich wirkt es auch, wenn an zahlreichen Sarkophagen
mehrere örtlich und zeitlich getrennt zu denkende Szenen ganz unvermittelt
neben einander gestellt oder wenn in mythologischen Darstelliuugen den Haupt¬
personen, wie in Amazonenkämpfcn dem Achill, die Porträtzüge des Ver¬
storbnen gegeben werden, oder wenn der Kopf einer Gestalt überhaupt nur in
deu Umrissen augelegt ist, weil er uoch die Porträtzüge des Verstorbnen er¬
halten sollte. Man erkennt an solchen Beispielen, daß die große Masse der
römischen Sarkophage nicht für den besondern Fall oder ans Bestellung, sondern
auf Vorrat, auf Lager gearbeitet worden ist. sinnvoller ist es, wenn das
Bild des Verstorbenen in einem Medaillon in der Mitte der Vorderseite an¬
gebracht ist, oder wenn nach etrurischer Sitte der Sargdeckel seine Gestalt trägt.
Von vortrefflicher Wirkung sind jüngere Sarkophage, an denen die verschiednen
Bilder nicht einfach neben einander gestellt, sondern durch kleine Säulen oder
Pfeiler, auf denen Spitzgiebel oder Rundbogen ruhen, getrennt sind. Eine
derartige Gliederung des Nelieffeldes ist besonders an frühchristlichen Sarko¬
phagen häufig und ging ans die in Metall gearbeiteten frühchristlichen und
romanischen Reliquienbehälter über.
Wahrend aber der künstlerische Wert der Sarkophagreliefs sehr niedrig ist,
ist ihre Bedeutung für die Kenntnis der Sitten und Gebräuche der römischen
Kaiserzeit und für die Erkenntnis der religiösen Gedanken, von denen diese Zeit
beherrscht wurde, umso höher zu schätzen. Zahlreiche Darstellungen führen uns
mitten in das tägliche Leben hinein. Wir sehen das Kind an der Brust der
Mutter und auf dem Arme des Vaters, den Knaben beim Spiel oder mit der
Schriftrolle, den Erwachsenen seinein Geschäft oder seinen Liebhabereien nach¬
gehend, den Handelsmann und den Seefahrer, den Handwerker, den Lehrer,
den Dichter bei ihrer Arbeit, den vornehmen Mann bei den Vergnügungen
der Jagd, in den ernstern Beschäftigungen des öffentlichen Lebens, beim Opfer,
bei der Verlobung und im Dienste des Kaisers in der Feldherrntracht; die
Schaustellungen des Zirkus fehlen auf den Sarkophagen ebenso wenig, wie Dar¬
stellungen der Kämpfe, in denen die Römer den nordischen Barbaren begeg¬
neten, und endlich sehen wir den Verstorbenen auf dein Lager ausgestreckt und
von seinen Angehörigen beklagt. Bei allen diesen Sarkvphagreliefs ist die
Wahl des Gegenstandes leicht verständlich. Schwerer ist die Frage zu beant¬
worten, wie weit bei der Auswahl der noch viel zahlreicheren mythologischen
Darstellungen die religiösen Vorstellungen und der Glaube an die Unsterblich¬
keit der Seele einen Einfluß ausübten. Bei den meisten spätern Schrift¬
stellern begegnen wir dem Zweifel, dem Spott, der Gleichgiltigkeit. Mäuner
wie Cicero und Seneca mit ihrem unerschütterlichen Unsterblichkeitsglauben
bilden fast eine Ausnahme unter den Vornehmen und Gebildeten ihrer Zeit,
Und doch muß auch noch in der Kaiserzeit der Glaube an eine Fortdauer der
Seele nach dem Tode weit verbreitet gewesen sein. Ohne diesen Glauben
wäre der tief eingewurzelte Aberglaube der Römer und der ganze Totenkult
der alten Welt unverständlich. Schwer erklärlich wäre es auch, warum sich
die reichen Römer zu den Mysterien von Eleusis und Samothrake drängten.
Was an diesen Orten die Priester den Eingeweihten verhießen, das verkünden
vielfach auch die Sarkophagreliefs: die tröstende Überzeugung, daß der Tod
nicht das schlimmste aller Übel sei, den festen Glanben, daß wir durch den
Tod hindurch in ein neues, seliges Leben eingehen. Auf christlichen Sarko¬
phagen bildet die Gestalt des Heilandes das Unterpfand dieser Verheißungen;
in den heidnischen Reliefs begegnen wir den Göttern und Heroen, deren Dulden
und Siegen dein armen Menschen gleichsam ein Vorbild seines eignen Schick¬
sals ist. Auch die Heroen mußten kämpfen und leiden, ehe sie zur Unsterblich¬
keit emporgehoben wurden, wie Herakles. Auch sie wurden durch einen frühen
Tod hinweggerafft, wie Adonis, die Nivbiden, Achilleus und Meleagrvs. Aus
den Dnrstelluugeu ihres Geschicks spricht die Wehmut über die Vergänglichkeit
alles schönen zu uns, die Hoffnung, wenn aus den Sarkophagen die kurze
Trennung des Admetvs und der Alkestis dargestellt ist, oder der Tod des
Protesilaos, dem die Götter die Rückkehr aus der Unterwelt zu seiner jungen
Gattin gestatten, oder der Schlummer des Adonis, zu dem Selene beglückend
herabsteigt, der Ariadne, die von Dionysos zu einem seligen Leben erweckt
wird. Vor allem ist in diesem Sinne die mehr als fünfzigmal wiederholte
Darstellung des Raubes der Persephone zu deuten, deren Entführung und
Wiederkehr ja auch den Hauptinhalt der eleusinischen Verheißungen bildete.
Vielfach freilich würde mau zu weit gehen, wenn man für die Allswahl
der Darstellungen eine besondre Veranlassung annehmen und in den Dar¬
stellungen selbst einen tiefern Sinn suchen wollte. Zweifelhaft ist es, ob die
auf Kiildersarkophagen beliebten Eroten, die bald mutwillig spielen, bald schall-
haft die Werke der Erwachsenen nachahmen, eine Hindeutung auf die Unsterb¬
lichkeit enthalten sollen; dieselben Darstellungen sehen wir schon auf griechischen
Sarkophagen und in pompejanischen Wandbildern, wo jede Anspielung auf deu
Unsterblichkeitsglauben ausgeschlossen ist. Schlverlich ist auch die Nuuahme
berechtigt, daß die Hunderte von bakchischen Sarkophagen mit den jubelnden
Zügen des Dionysos und der Ariadne, der Satyrn, Kentauren und Mänaden
als Andeutungen eines seligen Lebens aufzufassen seien. Und Sagen, wie
die oft wiederholten von Phüdra und Hippolytos oder Jason und Medea,
ferner die zahlreiche» Amazonenkämpfe, die häufigen Darstellungen der Musen
und Nereiden sind offenbar ohne jeden Bezug auf das Meuschcnlvs. Wie
in Rom die Sarkophage selbst zu bloßen Prachtstücken der Grabkammern wurden,
so wurden die Reliefs zu einem bloßen Schmuck der Sarkophage, und bei der
Auswahl der Darstellungen wirkte selten genug der Gedanke an ihre Bestimmung
mit. Was dnrch die dichtende Kunst in allen Kreisen bekannt geworden und
an andern Denkmälern zu sehen war, das wurde auch an deu Sarkophagen
gebildet. Man muß die Gefahr vermeiden, hinter diesen Haudwerkerarbeiten
zu viel zu suchen. Wie nahe liegt beim Rande des Ganymedes der Gedanke
an das Emporsteigen in den Himmel! Und doch läßt man diesen Gedanken
sofort schwinden, wenn man sehen muß, daß auf demselben Sarkophag als
Gegenstück zu dieser Gruppe die geradezu unanständig behandelte Vereinigung
der Leda mit dem Schwan ausgewählt ist. Auch unter den bakchischen Sarko¬
phagen sind einige unanständige. Man weiß nicht, ob man sich über die
Gedankenlosigkeit des Käufers wundern soll, der seine Gruft durch solche Särge
schändete, oder über die des Steinmetzen, der sich nicht scheute, derartige Dar¬
stellungen an Särgen anzubringen. Gedankenlos arbeiteten diese Handwerker
in vielen Fällen. Es waren überhaupt nicht ihre eignen Gedanken, die sie in
den Sarkvphagreliefs verbildlichten. Sie besaßen offenbar Vorlagen, denen sie
in freier Weise folgten, bald einfach entlehnend, bald hinzufügend, wenn der
Platz es verlangte, bald abschneidend und auslassend, wem: der Raum
mangelte. Daher bieten die Sarkophage so oft Füllfiguren und unvoll¬
ständige Darstellungen; selbst Mißverständnisse sind nicht selten, und wenn
man trotzdem auch bei schwächlichen Arbeiten häufig die sinnvolle Auswahl
und die wohlüberlegte Gliederung des Stoffes bewundern muß, so liegt das
eben an den Vorlagen, die, von bedeutenderen Künstlern ersonnen, in den
Werkstätten benutzt wurden. Welcher Art diese Vorlagen waren und von wo
sie ausgingen, laßt sich vorläufig noch nicht entscheiden. Man müßte vorher
die ganze große Masse der Sarkophage überblicken können lind verfolgen, wie
oft eine ähnlich behandelte Darstellung wiederkehrt, worin die einzelnen Sar¬
kophage übereinstimmen oder von einander abweichen, und welche Gruppen
schließlich als die ursprünglichen der Vorlage hinzustellen sind. Für einige
der beliebtesten Darstellungen liegen bereits derartige Zusammenstellungen vor.
Die bedeutendste Förderung werden alle diese Untersuchungen erfahren, wenn
erst das große, vom deutschen archäologischen Institut unternommene Sarkophag-
Werk beendet sein wird.
Der Anfang dieses gewaltigen Unternehmens, das in den nächsten Jahre»
womöglich sämtliche bekannte Sarkophage in guten Abbildungen mit begleitenden
kritischen und exegetischen Text bringen wird, ist vor kurzem ausgegeben worden
unter der Aufschrift: Die antiken Sarkophagreliefs, im Auftrage des
kais. dentschen archäologischen Instituts mit Benutzung der Vorarbeiten von
Friedrich Mütz herausgegeben und bearbeitet von Carl Robert. Zweiter
Band. Mythologische Cyklen, (Berlin, G. Grotesche Buchhandlung, 1890.)
Über die Vorgeschichte und die Absicht des Werkes sagen die leitenden
Männer unsers Instituts: „Die Herausgabe der antiken Sarkophagreliefs
bildet ein Glied in der Reihe der Unternehmungen des kais. archäologischen
Instituts, durch welche dieses nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden
Mittel und Kräfte duzn beitragen will, daß der sonst unübersehbare archäo¬
logische Stoff nach Gruppen des unter einen entscheidenden Gesichtspunkt
zusammengehörigen nutzbar vorgelegt werde. Es sind Unternehmungen, ver¬
wandt den Jnschrifteusammlungen, wie sie die königl. preußische Akademie der
Wissenschaften erfolgreich in die Hand genommen hat. Eduard Gerhards
etruskische Spiegel gaben das erste Beispiel der Durchführung einer solchen
Absicht. Die von H. v. Brunn begonnenen, jetzt von Gustav Körte fortge¬
setzten etruskischen Urnen folgten. Ein andres Werk gleicher Art ist das der
antiken Terrakotten, vou welchem bis jetzt zwei Bände unter Reinhard Keknlvs
Leitung ans Licht getreten sind. Der Plan, auch die antiken Snrkophagreliefs
in einer Publikation zu vereinigen, wurde bereits von Otto Jahr ins Ange
gefaßt, aber erst nach seinem Tode von Friedrich Matz im Jahre 1870
wirksam in Angriff genommen. Durch Matz's (sie) frühzeitigen Hingang war
das Unternehmen im Jahre 1875 wieder verwaist. Adolf Michaelis und nach
ihm Alexander Cvnze sorgten bis zum Jahre 1879 dafür, daß es wenigstens
nicht ganz ruhte. Dann übernahm Carl Robert die Arbeit. Er hat seine
volle Kraft dafür eingesetzt, und seiner Bemühung ist es -zu danken, daß das
Ganze in Plan und Ausführung aufs neue gefördert jwvrdenj ist, und daß jetzt
ein Band, der Reihenfolge im Werke nach der zweite, ausgegeben werden kann.
Das ganze Werk ist ans sechs Bände in folgender Anordnung berechnet:
Erster Band: Menschenleben; zweiter Band: Mythologische Cyklen; dritter
Band: Einzelmythen; vierter Band: Bakchischer Kreis; fünfter Band: Musen,
Nereiden, Eroten; sechster Band: Dekoratives."
eher diesen Gegenstand hat Professor Wach in Leipzig vor kurzem
eine vortreffliche Schrift veröffentlicht,") die zwar nur wenige
Druckbogen umfaßt, aber einen umso reichern Inhalt bietet und
deshalb den Lesern dieser Blätter aufs wärmste empfohlen sein
mag. Die Wichtigkeit des Gegenstandes und der Eifer, womit
für die von Wach bekämpften Reformvorschläge von ihren Freunden augen¬
blicklich Schule zu machen versucht wird, veranlaßt uns, das Schriftchen hier
ausführlicher zu besprechen, wenn wir uns auch dabei im allgemeinen ans die
Aufsätze, die von den Grenzboten darüber bereits gebracht worden sind, zurück¬
beziehen können.
Der Verfasser erkennt die Reformbedürftigkeit unsrer Freiheitsstrafen voll¬
ständig an, aber er sucht die Reform auf einem ganz andern Gebiet als die
Anhänger der neuen Lehre, er findet den Grundfehler auf dem Gebiet unsers
Strafgesetzbuches — freilich ein Punkt, den mau aus unde liegenden, hier nicht
weiter zu erörternden Gründen bis vor kurzem gar nicht berühren durfte, denn
daß unser Strafgesetzbuch über alle Mängel erhaben sei, galt ja als eine Art
Glaubensbekenntnis. Wach tadelt vor allem, wobei ihm jeder, der nicht unter
dem französischen oder franzvsisirenden Strafrecht der Gegenwart groß geworden
ist, Recht geben wird, den Aufbau des Strafgesetzbuches auf der Dreiteilung
von Verbrechen, Vergehen und Übertretungen, wonach wieder die drei Straf¬
arten Zuchthaus, Gefängnis und Haft schablonenartig gebildet sind, die ihren
Inhalt erst durch ein Strafvollziehungsgesetz erhalten sollten, aber noch nicht
erhalten haben, sodaß die Vollziehung dieser Strafen häufig einen Unterschied
in den einzelnen Strafarten nicht mehr erkennen läßt. Aber auch die Straf-
vollziehung ist unentwickelt, es fehlt an genügender Aufsicht, an Sonderung
der Gefangenen und vielfach auch an Arbeit, vor allem aber an Anstalten für
jugendliche Verbrecher, die nur als Anstalten der Zwangserziehung zu denken
sind. Die Kriminalstrafe brandmarkt das Kind und giebt es unerzogen, wenn
nicht verdorben, der Gesellschaft zurück, wozu auch schon die öffentliche Ab-
nrteilung eines Dummenjungenstreiches vor dein Strafgericht mit beiträgt. In
allen diesen Dingen sind wir auf halbem Wege stehen geblieben, das Gebäude
ist beim Dachstuhl angefangen worden, aber die Grundlage fehlt. Es muß
daher vor allein das Strafsystem zur Wahrheit gemacht werden. Die Zucht¬
hausstrafe namentlich ist wieder zu einer entehrenden Verbrecherstrafe zu machen.
Das entspricht zwar nicht der heutigen Theorie, aber der Volksanschauung,
das Volk fordert die Aufrechthaltung der Heiligkeit des Gesetzes, die Wahrung
des öffentlichen Gewissens, das gerechte Werturteil über die That und deshalb
auch, daß eine ehrlose Handlung ihre Vergeltung durch eine entehrende Strafe
finde. Die Vollziehung der Zuchthaus- und der Gefängnisstrafe hat deshalb
in getrennten Anstalten und auf eine auch äußerlich hervortretende verschiedne
Art stattzufinden, die einfache Freiheitsentziehung ohne Beschäftigung muß fallen,
für die jugendlichen Verbrecher ist die Zwangserziehung einzuführen.
Andre sagen freilich, wir wären nicht auf halbem Wege stehen geblieben,
sondern wir befänden uns auf einem falschen Wege. Der Hauptvertreter
dieser Richtung, Liszt, hat daher ein andres System aufgestellt: die kurze
Freiheitsstrafe soll beseitigt, ihre Dauer auf mindestens sechs Wochen verlängert,
in den meisten Übertretungsfällen soll nur Geldstrafe verhängt werden, die für
den Fall, daß sie nicht beizutreiben ist, durch Arbeitszwang ohne Einsperrung
verbüßt werden soll, es soll die sogenannte bedingte Verurteilung eingeführt
und die richterliche durch eine exekntivische Strafzumessung ersetzt werden.
Diese Vorschläge, soweit sie sich auf die Reform der Freiheitsstrafen beziehen,
bekämpft der Verfasser unsrer Schrift aufs lebhafteste.
Die kurze Freiheitsstrafe beherrscht unsre Strafrechtspflege. In ihrer
jetzigen Gestalt als einfache Freiheitsentziehung ohne Beschäftigung ist sie
allerdings als schädlich zu, bezeichnen, da sie den vom Verbrechergift bereits
ergriffenen ohne jeden Eindruck läßt, deu Unbescholtenen aber unter Umständen
durch Aufdrücken des StrMngsbrandmals hart trifft und ihn leicht in ver¬
derbliche Gesellschaft bringt. Aber deshalb braucht sie nicht abgeschafft zu
werden, die Kürze der Strafe an sich ist kein Mangel, eher ein Vorzug, da
sie es am leichtesten ermöglicht, völlige Absonderung des Gefnngeuen herbei¬
zuführen und die Strafvollziehung ihm anzupassen. Und wenn man anstatt
der bisher üblichen Strafschwäche, entsprechend dem Zuschnitt der militärischen
Arreststrafen, etwa Schärfungen wie Dunkelhaft, harte Lagerstatt, Herabsetzung
der Kost auf Wasser und Brot einführen wollte, dann würden diese kurzen
Freiheitsstrafe für zahlreiche Gesetzesübertretungen sehr angemessene und em¬
pfindliche Strafen sein.
Was die sogenannte bedingte Verurteilung betrifft, so glaubt der Ver¬
fasser, daß vor allem der Name nicht richtig gewählt sei; richtiger wäre die
Bezeichnung „Strafaufschub," denn verurteilt wird ja, und es handelt sich
nur darum, ob die zuerkannte Strafe verbüßt werden soll. Die Verteidiger
dieses Systems beziehen sich darauf, daß es sich in Amerika und namentlich
in Vvstou vollständig bewährt habe. Wach zeigt aber, daß es sich dort um
ein ganz andres System handelt. Es handelt sich dort überhaupt nicht um
den Aufschub der Strafverbüßung, sondern um den Aufschub der gerichtlichen
Abnrteilung. Der Thäter wird während einer gewissen Zeit nnter polizeiliche
Aufsicht und uicht vor Gericht gestellt, wenn er sich während dieser Zeit gut
aufführt, auch ist dieses Verfahren nnr zulässig bei Trunksucht, Prostitution,
geringen Friedeusbriichen, grobem Unfug, Sonntagsentheiligung, einfachem
Diebstahl, Anfall von Personen u. dergl. Ganz anders ist das in Belgien ein¬
geführte und jetzt auch uns empfohlene System der sogenannten „bedingten
Verurteilung," richtiger also des Strafnufschnbs. Da wird nicht Zwangs-
erziehung auf freiem Fuße, sondern Aufschub der zuerkannten Strafe gewährt,
wenn sich der Verurteilte während der Probefrist kein Verbrechen oder Ver¬
gehen irgend welcher Art zu Schulden kommen läßt. Die entehrende öffentliche
Gerichtsverhandlung wird also dem Thäter nicht erspart, und der Aufschub der
Strafvollziehung wirkt auf einen gewissenhaft fühlenden Menschen vielleicht
noch härter, als wenn er die Strafe verbüßt hätte, dem leicht verführbaren
nimmt er den Schrecken vor der Verurteilung, der harten Sünderseele macht
er das Strafurteil zum Spott. Da der Verurteilte während der Probezeit
nicht beaufsichtigt wird, so kann er inzwischen alles treiben, was er will, er
darf sich nur nicht erwischen lasset«; anch alles, was nur nnter den Begriff
der Übertretung fällt, kann er thun, ohne die aufgeschobene Strafe verbüßen
zu müssen. Eine Sicherheit der Besserung bietet dies System also nicht. Es
ist aber auch ungerechtfertigt, die aufgeschobene Strafe zu vollstrecken, wenn
der Verurteilte während der Probezeit eine mit der frühern That gar nicht
in irgend einem seelischen Zusammenhange stehende That verübt. Da mit dem
Strafaufschub eine Besserung des Verbrechers erzielt werden soll, so ist der
Aufschub logisch unanwendbar in alle» Fällen, wo nach Art der Gesetzesüber¬
tretung, nach der Persönlichkeit des Thäters oder nach der Art der Strafe
weder ein Rückfall noch ein Verderb durch die Strafe zu erwarten ist, mag
es eine Person betreffen, von der ein Rückfall überhaupt uicht zu erwarten ist,
oder mag es sich um eine Person handeln, deren gesellschaftliche Stellung und
deren Fortkommen durch die Vollziehung der Strafe uicht beeinträchtigt wird
oder bei der die That aus- einer grundsätzlichen Überzeugung, wie beim poli¬
tischen Verbrechen, entsprungen ist, oder endlich mag es sich um Personen
handeln, denen das Bestehen der Probe aus eigner Kraft doch uicht zuzutrauen
ist. Wann ist denn also der Strafaufschub um Platze? Darüber soll „der
allwissende Richter in seinem nllweisen Ermessen" entscheiden, dem man doch
selbst die Fähigkeit abspricht, das richtige Strafmaß zu finden, und dessen Er¬
messen jedenfalls vielen Zufälligkeiten unterworfen ist. Wir haben daher zu
fürchten, daß entweder der als Ausnahme angesehene Strafnusschub zur Regel
»der fast gar nicht angewandt werden wird. Noch schlimmer aber wäre es,
wenn infolge eines halt- und ziellosen Schwankens, vielleicht gar einer Be¬
günstigung der bessergestellten Klassen eine Ungleichheit vor dem Gesetz
geschaffen würde. Wie dem auch sei, das ganze System ist zu verwerfen,
es handelt sich um die Rettung eines einzelnen Verbrechers auf Kosten des
Gemeindewvhls, wodurch der Rechtssinn und infolge davon die ganze Rechts¬
ordnung untergraben werden würde. Soll wirklich ein Versuch mit dem.
Strafaufschub gemacht werden, so kaun es jedenfalls nur nach amerikanischem
Vorbild dnrch Aufschub der Aburteilung und Stellung des (jugendlichen)
Thäters unter eine polizeiliche, durch gute Kräfte der Gesellschaft unterstützte
Zwangserziehung geschehen.
Endlich soll das Werk der Reform der Freiheitsstrafen noch dadurch be¬
wirkt werden, daß man die richterliche Straszumessuug durch eine erekutivische,
dnrch das Ermessen einer Strafvollziehungsbehörde ersetzt, der Art, daß die
gerichtliche Verurteilung des Übelthüters auf sechs Woche» bis zwei Jahre
Gefängnis oder auch zwei bis fünf, fünf bis zehn und zehn bis fünfzehn Jahre
Zuchthaus erfolgt, und es dann der Strafvollziehungsbehörde überlassen bleibt,
zu bestimmen, wie lange sie den ihr auf einen dieser Zeiträume überwiesenen
Verurteilten während des jedesmaligen Zeitraums in Gewahrsam behalten
will; denn es gelte nicht das Verbrechen, sondern den Verbrecher zu strafen
und deshalb dürfe mau nicht für die That an sich eine bestimmte Strafe fest¬
setze», sondern der Thäter müsse gerade die für seine Handlung angemessene
Strafe erhalten. Nun ist es ja richtig, daß jede richterliche Strafzumessung
auf vielem Zufällige« beruht und jede erkannte Strafe etwas Äußerliches, For¬
melles an sich trägt, da niemand, der Verbrecher selbst nicht, den festen Ma߬
stab der Gleichung zwischen Verbrechen und Strafe im Busen trägt; es hängt
das eben mit der allgemeinen Unvollkommenheit alles Menschlichen zusammen.
Würde aber die Strafvollziehuugsbehörde, die den Gefangenen auch nicht stets vor
Augen hat, ein besseres Ermessen als der Richter haben? Wir werden einen
wichtigen Schritt zur Verbesserung thun, wenn wir die Strafurteil zu wirklich
sich von einander unterscheidenden Größen entwickeln. Wir müssen ferner das
jetzige Shstem der „mildernden Umstände" über Bord werfen, und statt dessen
Nvrmalstrafrahmen suchen, die sich nach oben und unten erweitern lassen,
uuter gleichzeitiger exemplisizireuder, dein Richter die nötigen Fingerzeige
bietender Angabe von mildernden und schärfenden Gründen. Aber wir dürfen
nicht die Strafzumessung dem Richter entziehen. Man behauptet freilich, in
Amerika habe man seit 1871 die unbestimmte Verurteilung eingeführt und
damit große Erfolge erzielt. Dies ist aber nicht richtig, sondern es handelt
sich auch da um eine Art Zwangserziehung, für Männer von sechzehn bis
dreißig Jahren, die zum erstenmale wegen eines schweren Verbrechens verurteilt
sind und bei denen man auf Besserung hofft. Solche Personen werden zu der
höchsten auf das von ihnen verübte Verbrechen gesetzten Strafe verurteilt und
dann einer Anstalt überwiesen, die berechtigt ist, sie bei guter Führung nach
einer gewissen Zeit aus immer oder auf Widerruf zu entlassen oder auch sie
je nach ihrer Führung aus der Durchschnittsmasse der Gefangenen in die be¬
vorzugte erste Klasse oder in die Strafklasse zu versetzen. Die erste Klasse
lebt allerdings frei, geht gut gekleidet, hat feines Mittag- und Abendessen,
erhält eine eigne Zeitung geschrieben, hat eine reiche Bibliothek mit belehrenden
und zerstreuenden Werken zur Verfügung, Hort abends Konzerte oder Vor¬
trage an und genießt Unterricht von den Elementarfächern bis zur Rechts¬
wissenschaft, Nationalökonomie, Politik und Philosophie. In einer solchen
Anstalt dürfen die Gefangenen auch Klubs bilden. Ob solche Anstalten, in
denen sogar eine gewisse Krankheit, die bei Männern, die auf sich allein an¬
gewiesen sind, nicht vorkommen kann, häufig beobachtet wird, eine nachahmens¬
werte Einrichtung sind, mag billig dahingestellt bleiben. Möge man immerhin
das System der jetzt schon zulässigen vorläufigen bedingten Entlassung aus
der Strafhaft noch weiter entwickeln, aber weiter soll man nicht gehen, um
wenigsten die von Liszt umgeschlagene unbestimmte Verurteilung einführen.
Diese würde eine Ungleichheit in der Bestrafung herbeiführen; denn wenn ein
Gesetzesübertreter etwa mit sechs Wochen Haft richtig bestraft worden wäre,
ein andrer mit anderthalb Jahren, so könnte der erste, der eine leichtere That
begangen hat, 1 Jahr 46 Wochen, der andre nnr 26 Wochen über die eigent¬
liche Strafdauer hinaus im Gefängnis behalten werden. Es würde auch das
Gefühl der ungerechten Behandlung bei dem Sträfling erzeugt werden, dn jeder
Verurteilte der Ansicht sein würde, daß das ihm zuerkannte geringste Maß der
Strafe das ihm angemessene Strafübel sei, er also jeden Tag der Verlängerung
seiner Haft als eine ungerechte Härte empfinden würde. Nimmt man noch
hinzu, daß die Strafvollziehiuigsbehörde auch nach recht subjektiven Gründen
einen Gefangenen für gebessert halten kann, da die gute Führung in der Straf¬
anstalt häufig gerade eine Eigenschaft der Gewvhnheitsverbrecher ist, so wird
auch dies ein derartiges Gefühl ungerechter Behandlung bei den nicht ent¬
lassenen Sträflingen hervorrufen. Die erste und wichtigste Bedingung der
Heilsamkeit aller Strafe ist aber die, daß sie als gerecht empfunden werde.
Ein wahres Wort zur rechten Zeit möchte man Wachs Schriftchen nennen.
Möge es viele Leser finden und sein Inhalt beherzigt werden!
In den verschiedensten Zweigen des öffentlichen Lebens
bereiten sich einschneidende Veränderungen vor; es zieht eine neue Zeit herauf.
Seit den großen Kriegen, die Deutschlands Einheit herbeigeführt bilden, hat der
Deutsche regern Anteil an den öffentlichen, Dingen nehmen lernen. Mancherlei
Einrichtungen, die infolge der Überlieferung unantastbar erschienen, sind ihm bei
reiflichem Nachdenken verbesserungswürdig erschienen. Aber gerade die Jahre, in
die diese Entwicklung fällt, ließen die Ausgestaltung dieser Gedanken nicht zur
Vollendung kommen. Das Alter ist nicht geneigt, Neuerungen zu erstreben, es
sieht das Heil in dem Bestehenden. Jetzt, wo unser junger Kaiser die Zügel der
Regierung ergriffen hat und mit scharfblickendem Geiste alle Gebiete des politischen
und wirtschaftlichen Lebens durchforscht, werden manche bis setzt zurückgestellte
Wünsche laut, die von der neuen Zeit Erfüllung hoffen.
Eine von vielen gemißbilligtc Erscheinung in unserm Staatsleben ist die Vor¬
herrschaft der Jurisprudenz. Überall in der Verwaltung herrscht der Jurist. Mit
dein Assessvrexamen wird dein jungen Rechtsgelehrten die Befähigung zugesprochen,
in den verschiedensten Verwaltungszweigen, dem Kultus- wie dem Medizinalwesen,
dem Bauwesen, dem Forstwesen, dein Eisenbahnwesen u. n. eine leitende Stellung
-- wenn auch erst in späterer Zeit — einzunehmen. Da nun aber die Verwal¬
tung der Berater in den sogenannten technischen Fragen nicht entbehren kann, so
sieht sie sich genötigt, technische Beamte, wie Schulräte, Forstmeister, Baumeister
anzustellen, die gehört werden, über deren Bericht jedoch der Jurist als Abteiluugs-
vorsteher das entscheidende Urteil hat. Vermöge seiner Nechtsgelahrtheit scheint er
eben imstande, mit weitem Blick alle Gebiete des öffentlichen Lebens zu über¬
sehen. Allein auch auf die Gefahr hin, von der alleinseligmachenden Jurisprudenz
mit dem Anathem belegt zu werden, glauben wir es aussprechen zu sollen, daß
wir für die verantwortlichen Stellungen in unserm Staatsleben keineswegs bloß
Juristen brauchen. Ist doch sogar der erste Beamte im Reich gegenwärtig ein Nichtjurist.
Ein gewisses Maß juristischer Kenntnisse ist freilich für jede selbständige
Stellung im Staatsleben erforderlich, nur soll sie neben der Fachausbildung ein
begleitendes Wissen sein; ihr untergeordnet, nicht übergeordnet. Nicht eine Fülle
von Einzelwissen ist erforderlich, es genügt eine historische Übersicht über die Ent¬
wicklung des Rechts und eine genauere Kenntnis der den einzelnen Zweig betreffenden
Gesetze. Männer, die eine solche zwiefache Ausbildung erlangt haben, müssen in
die leitenden Stellungen innerhalb der Verwaltung berufen werden. Es wird be¬
gabten und strebsamen jungen Leuten keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bereiten,
neben ihrer Fachausbilduug sich das Maß juristischen Wissens anzueignen, das für
eine höhere Stellung innerhalb ihres Berufes erforderlich wäre. Es würden die
sei>lechtesteil .Köpfe nicht sein, die sich dieser Doppelarbeit unterzogen, sicherlich niet't
schlechter, als ein großer Teil der auf deutschen Hochschulen Jurisprudenz
studirenden jungen Leute. Der Staat könnte ja immer eine Kontrolle über die
gewonnenen Kenntnisse auf den: Wege einer Prüfung ausüben.
1. Das Wort: Juppiter lacht über die Schwüre der
Liebenden, von Shakespeare in Romeo und Julia angeführt: ut lovsrs xsrfurios,
et,n^ K».^, .lavs liMKliK, stammt ans der sechsten Elegie des Lhgdamus, eines Dichters
der augusteische«, Zeit, über dessen Person und Lebe» so gut wie nichts bekannt
ist, und dessen Gedichte in der unter dein Namen deS Tibull gehenden Sannnlnng
das dritte Buch bilden. In der erwähnten Elegie heißt es:
U°so vns »ut o»xi»ut xonävvtiu briuzIM «vllo
^ut tÄlls-t dI»nÄÄ sorÄicks, lillNiit xrsvo.
lZtsi xorgus suos kalt»x inravit oevllos
^nnouonnzus SUS.M per<iuo suam Vonorom.
UuIIk nass insrii: poriuriÄ riäot sniÄntum
^nvnitor vt vsirtos iri-it», tsrrs indst.
Aber dus Wort hat eine lange Geschichte, und sein Ursprung reicht zurück bis
ans die Anfange der griechischen Dichtung. Apollodor (im zweiten Jahrhundert v. Chr.)
erzählt in seiner „Bibliothek," einer unter Benutzung guter, aber großenteils Ver¬
lornen Quellen abgefaßten Sagengeschichte: „Als Hera ausgespürt hatte, daß Zeus
die Jo verführt habe, verwandelte dieser dus Mädchen in eine Weiße Kuh und
schwur, es niemals berührt zu haben. Deswegen sagt Hesiod, daß die Liebes-
schwüre nicht den Zorn der Götter erregen" (o6x zmmrKsVixt -r^v Ars i7Kv 3>sKv
öjZ^v 17005 "s!,v0^Tvou; 0OX00-; ÜTrsjZ S^,>170;). So iväre denn Hesiod — in einem
Gedichte, das verloren ist — der Urheber jenes Ausspruches, und sein Ursprung
würde somit bis ins neunte Jahrhundert v. Chr. zurückreichen.
Nun muß das Wort häufig zitirt worden sein; findet es sich doch bei Plato
zweimal in wenig verschiedner Fassung. Einmal im Symposion (183 1?): <!>; ^2
>s^on<7l,v in TroX^ol, 0171. X^I, 0^.V0V17I. (se. 17W TOt0ol7!.) ^.von.) o'U's'sVl,)^ 7r«a« L>'se?v
Zx^«ol7l. 170V öoxov' äPOvcii<7i.vo ^«^z ö^)xov on P«<7I,V S?V«I, s^Troivi-^vo, d. h. wie
die Leute sagen, wird auch, wenn er schwort, ihm (dem Liebenden) allem von
den Göttern Verzeihung gewährt, denn ein Liebesschwur ist, wie man sagt, nicht
strafbar. Und ähnlich im Philebns (65 L!): ^czv/> ^.so ä?r«öl7c>>v «>«5voie>^«-
170V, c,>; cis Xo^o;, so i7ixl; ^Tovixl; i7«?z Trs^i. i7«c^^o^in7i.«, ^2^l,?i7«l, 8oxvuc7l.v
s?v«t, x«1 17? A?ri.ooxsl l7u^on>>i^^v sI'X^Ps !)'S<?v, <>>; x«L>>«7rTO ?r«K<>>v i7<?v
^vo<7>v vouv on<>s i7vo öXl'si-^av xsxi7^^hoc,>v, d. h. die Lust ist von allen Dingen
das eitelste, ja bei der Liebeslust, die man doch für die höchste ausgiebt, gewähren
die Götter, wie man sagt, sogar dem Meineid Verzeihung, gleich als ob die Liebes-
freuden wie Kiuder aller Vernunft bar wären. Es scheint also, als ob schon vor
Plato der Satz von der Straflosigkeit der Liebesschwüre als Sprichwort gebraucht
Worden sei. Jedenfalls findet fich das «c^Mmoz ö^xos oux T^naivl,^o? in einer
oder zwei der erhaltenen griechischen Spruchsnmmlungen, und ein lateinischer Dichter
aus Cäsars Zeit, der Mimograph Publius Syrus, giebt in dem Verse:
L.nnwtuin in8,stirmnlnin posnÄin non d-ddot
eine Wörtliche Übertragung davon.
Der hier geradezu und ohne Verhüllung ausgesprochene Gedanke wird von
andern Dichtern mit mehr oder minder anschaulicher Plastik ausgedrückt. So sagt
schon der nlexandrinische Dichter Callimachus in dem sechsundzwanzigsten seiner
Epigramme:
jp/^vo «^«/sso^a
(seiner Jonis Schnur mit heiligen Eiden Adonis,
Nimmer ein anderes Weib höher zu halten als sie.
Schwurs. Doch leider ist wahr, was man sagt: Der liebenden Schwüre
Flattern und gehen nicht ein in der Unsterblichen Ohr.)
Und diese Wendung hat sich der Verfasser der unter dem Namen des Aristaiuetos
senden Briefe (etwa ans dem fünften Jahrhundert n. Chr.) angeeignet. Im
zwanzigsten Briefe des zweiten Buches — einer kleinen Erzählung, die von der
Briefform nicht mehr als die Überschrift hat — verteidigt sich eine Schöne mit
großer Lebendigkeit gegen den Vorwurf der Sprödigkeit, der ihr von einem
zurückgewiesenen Liebhaber gemacht wird. „Eure Thränen — sagt sie zuletzt —
dauern nnr einen Tag >ab werden abgewischt wie Schweiß. Eure Eide aber
gehen, wie ihr selbst sagt, nicht ins Ohr der Götter ein" (-rvvz 8pxove «üiwi
^«i's ^ 7r^S7rT'X«5Li,v ^ni"? <>>^ ^<->v t>s»v).
In ein andres Bild gefaßt erscheint der Gedanke in einem Epigramm des
Meleager (erstes Jahrhundert v. Chr.):
>MvK x«! no/oro^ac^ vo?«»'ax «^ope
^or^Lstv, ««kvov ^ 6/«» vo?ror« ^kli/-ceo
^tü^^e, d-^- xo/l?r»«s o^>qK «re^in»'.
(Heilige Nacht und Leuchte, zu unserer Schwüre Vertrauten
Haben wir keinen als euch beide Verliebte gewählt.
Und nun schwuren wir zwei, uns nimmer im Leben zu lassen
Sondern in Liebe vereint treu zu einander zu stehn.
Ach! nun sagt er es frei, sein Eid sei in Wasser geschrieben.
Treulos siehst du ihn jetzt, Leuchte, in anderer Arm.)
Ähnlich ist die Vorstellung, daß die Winde die Schwüre der Liebenden fort¬
tragen, die wir schon in den oben mitgeteilten Versen des Lygdamns getroffen
haben. Sie findet sich außerdem in der vierten Elegie des Tibull. Da sagt der
Gartengvtt zu einem Verliebten:
Up« iurasss eins; "Vonoi'is xariuria, vsnti
Irrits, nsr tsrras vt. ersts, summid tvrunt.
Und gleich darauf folgt der Gedanke, der beim Lygdnmus voran stand, daß die
Götter die Meineide der Liebenden ungerächt lassen, in folgender Fassung:
<Zr»ti» müAll» >7moi: voluit p»lor ins» vsloro,
^urasssti enpiilo lsui<l<znicl lumpen» amor;
?or<zuo süss imxnns Sinn ViotMN» soHittas
^ftirines, onnss nor^no Niiinrvn, suo8,
d. h. Jnppiter verwirft die Liebesschwüre als eitel und nichtig, und weder Diana
noch Minerva kümmern sich um den Meineid eines Liebenden, mag er mich bei
den Pfeilen der einen, beim Haupte der andern geschworen haben.
Werden hier bereits im Gegensatz zu der ältern Fassung des Gedankens be¬
stimmte Gottheiten genannt, um in ein deutliches Bild zu treten, so fehlt doch
immer noch der Zug von dem „Lachen des Gottes," der in dem Gedichte des
Lygdamns so plastisch hervortritt. Er findet sich zuerst beim Horaz in der achten
Ode des zweiten Buches. Der Dichter wundert sich, daß die eidbrüchige Barine
keinen Schaden nimmt, sondern schöner und schöner wird und mehr noch als früher
die Herzen der Jünglinge entflammt. Und doch hat sie bei der Asche ihrer
Mutter, bei dem stillen Sternenhimmel, bei den ewigen Göttern ihm Treue ge¬
schworen, die sie um gebrochen hat. Aber, fügt er hinzu:
Rillet üoe, wcmam, Vonns ixsa, riäsut
Limxlioss u/mxli^s, torus ot, Luxiäo
Lompor arüöutss Ävuons fanden.»
Lato oruonta,
d. h. Venus, die Nymphen und Cupido lache« über solche Schwüre, geschweige
denn, daß sie zürnen, wenn sie gebrochen werden.
Ob nun Horaz den bekannten Gedanken durch Aufnahme dieses hübschen
Zuges selbständig umgebildet hat, oder ob er das Bild der lachenden Götter einer
griechischen Vorlage verdankt, läßt sich nicht mit voller Sicherheit entscheiden. Der
Ton des kleinen Gedichtes und vielleicht auch der Name des Mädchens deuten auf
griechischen Ursprung. Und so mag es denn sein, daß auch das bedeutsame Bild
griechischer Herkunft ist. Lygdamus aber, dessen Stärke nachweislich in der Nach¬
ahmung liegt, hatte, wie es scheint, in den mehrfach erwähnten Versen die ange¬
führte Stelle des Tibull vor Augen. Doch der Zug von dem lachenden Jnppiter
ist ihm eigen und vielleicht ein Anklang an die eben besprochene Ode des Horaz,
vielleicht auch Nachbildung einer andern, sei es römischen oder griechischen
Dichterstelle.
Schließlich hat die Vorstellung der im Winde flatternden Liebesschwüre dazu
geführt, sie persönlich zu fassen. Es giebt ein Gedicht des Claudia«, des Hof-
Poeten des Kaisers Honorius, worin die Hochzeit des jungen Herrschers mit der
Maria, der Tochter des Stilicho, verherrlicht wird. Amor hat die Liebesklagen
des Honorius gehört nud eilt zur Venus, um sie zu bitten, den Bund zu weihen
und die Vermählung zu beschleunigen. Venus selbst — so heißt es dann weiter
in dem zierlichen Gedicht — läßt den Triton holen und begiebt sich, von diesem
getragen und von den Nereiden begleitet, nach Italien in die Wohnung des Stilicho.
Da findet sie denn die Jungfrau, wie sie den klugen Worten ihrer Mutter Serena
lauscht und unter deren Leitung die Dichter der Alten liest. Sie kündigt ihr die
bevorstehende Vermählung an und übergiebt ihr die Hochzeitsgeschenke, die die
Nereiden aus der Tiefe des Meeres geholt haben. Doch ich komme ins Erzählen
und vergesse die Liebesschwüre, Diese befinden sich im Palast der Venus auf
Cypern, dessen Herrlichkeit von dem Dichter, der die Beschreibungen liebt, mit
breitem Pinsel ausgemalt wird. Dort Hausen die Eroten, dort die Lieentia, die
wilde Begier, dort die leicht zu versöhnenden Zorueswallnugen, dort die vino
ümÄsntvL sxvubinv, d. h. die Wachen, wie sie die Jünglinge vom Gelage kommend
vor der Thüre der Geliebten zu halten Pflegten, dort die schmerzlichen Thränen,
die Kummerblässe der Liebenden, die beim ersten Versuch schon zagende Kühnheit,
die liebliche Furcht, die unsichern Liebesfreuden, und endlich flattern dort auch die
leichtfertigen Schwüre auf leichtem Fittich empor:
se I»seivA vois-ut Isvibus pnriuria. psrnrig.
Da hat man die sämtlichen Attribute, die den Miunedieust der Alte» keunzeichnen
und die aus der lyrische» Poesie der Römer genugsam bekannt sind.
2. In Fritz Reuters „Stromtied" zitirt Onkel Bräsig bei Gelegenheit der
bekannten Bvstonpartie folgenden Vers:
Vinuw, der Vater
Und oosug,, die Mutter (eigentlich matvr)
Und Vsnus, die Hebamm'
Die macheu poÄsgrÄw.
Wer den Spruch in die vorstehende Fassung gebracht hat, ist Wohl unbekannt.
Die Quelle aber ist das folgende Distichon der griechischen Anthologie, das den
Hedylos zum Verfasser hat:'
^to»«/«e^vos Sa««AoL s»» ^/v<7,,//.e/!,0'»->' ^A->^oF«öl?e
^'«^«-ra« Ap^a-r^ Xv»si«eäys ?roF«/^>«.
Herder hat es in den „Blumen eins der griechischen Anthologie gesammelt"
(Buch 2) folgendermaßen übersetzt:
Des gliederlösenden Bacchus, der gliederlösenden Venus
Gliederlösendes Kind — Podagra nennen sie mich.
Ob Zwischenglieder vorhanden sind, weiß ich nicht. Vielleicht sehen sich Kenner
veranlaßt, sie mitzuteilen."
3. „Niemand weiß, wo mich der Schuh drückt ist ein bekanntes Wort, das
zum Sprichwort geworden ist und sich ans diesem Grunde vielleicht bei Büchmann
nicht findet. ?iber die Sprichwörtersammlungen der Alten kennen es nicht, und es
ist in Wahrheit ein Zitat, das zurückzuführen ist auf eine vom Plutarch in den
„Ehevorschrifteu" (Kap. 18) mitgeteilte Anekdote. Ein Römer wird von seinen
Freunde» zur Rede gestellt, weil er sich vou seinem klugen, reichen und jungen
Weibe getrennt hat. Da zeigt er seinen Schuh und sagt: der ist auch hübsch
anzusehen und neu; aber niemand weiß, wo er mich drückt (roa -^«^ c-ullo;
X«?^XI,05), X«^.VZ Ks?V XAl, X0ttV0;, 0ÜTs^ mZsV, llTwll ^.S !)')>,l^SI,).
Diesierweg und die Lehrerbildung, ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Vvlls-
schullehrerstandes. Von Edwin Wille. Berlin, Weidmann, 1890
Seit einer Reihe von Jahren nehmen die pädagogischen Schriften auf unserm
Büchermarkte der Masse nach den ersten Rang ein. Jedes sechste Buch bezieht
sich auf das sehnlicher, die Lehrmethode oder die Jugendlitteratur. Man sollte
meinen, daß auf keinem Gebiete ein frischeres, fruchtbareres geistiges Leben herrsche,
als auf dem der Pädagogik. Und doch wird jeder Unbefangene, der sich mit dieser
Litteratur beschäftigt, sehr bald erkennen, wie viel unfruchtbares Zeug, wie viel
oberflächliches, selbstgefälliges Gewäsch, wie viel wunderliche Wichtigthuerei sich ge¬
rade hier breit macht. Unter all den unzähligen pädagogischen Schriften giebt es
nur wenige, die man nicht zu den Eintagsfliegen rechnen müßte. Zu diesen
wenigen gehört das vorliegende Buch.
Der Verfasser versucht in dieser Schrift, die von der Diestcrwegstiftnug in
Berlin mit dem ersten Preise ausgezeichnet worden ist, unter Hervorhebung von
Diesterwegs Verdiensien die Entwicklung der wissenschaftlichen Ausbildung des
deutschen Vvlksschullehrerstnndes und seiner gesellschaftlichen und staatsbürgerlichen
Stellung darzulegen.
Die Arbeit bietet eine geschickte Zusammenstellung der ans das Thema be¬
züglichen geschichtlichem Thatsachen und weist hin und wieder auch eine tiefer-
gehende Verarbeitung des Stoffes und ein klares, selbständiges Urteil auf. Der
Verfasser hat das reiche Material in sechs Kapiteln geordnet: Der Lehrerstand
ohne besondre Berufsbildung — Anfänge einer besondern Berufsbildung und
bessern Stellung der Lehrer. Die ersten Seminare; Emporblühen des Lehrer-
Standes in der Pestalozzischen, Zeit; Dicsterivegs Lehrerideal; Diesterivegs Arbeit
und Kampf für die Lehrerbildung; Die Lehrerbildung in den letzten Jahrzehnten.
Es ist gerade kein erhebendes Bild, das uns der Verfasser von dein unaus¬
gesetzten Kampfe der Volksschule und ihrer Lehrer mit allen ihren Gegnern ent¬
wirft. Schon Melauchthous Freund Eobauus Hcffus schrieb im Jahre 1500:
„Welcher Lohn wird uns für unsre Mühen? Fasten, Auszehrung, Verdruß, Krank¬
heiten, immerwährender Kummer; jede andre Arbeit nährt ihren Mann: den
Schullehrer drückt schreckliche Armut und der übermütige Stolz andrer schlägt ihn
vollends nieder. Jeder Schreiber, Rabulist, Bettelmönch hat oder fordert den
Vorzug. So übereilt uus mitten im Lenz unsrer Jahre das bleiche Alter! O
lieber den Tod als diesen Zustand!" Dieselbe Klage geht seitdem durch alle Jahr¬
hunderte; und noch im Jahre 18l>9 kounte der Landrat von Waldow-Steiuhösel
im preußischen Herrenhnuse ungerügt ausrufen: „Ich erwarte, daß mir erst eine
verhungerte Lehrerwitwe gezeigt wird; eher werde ich bei diesem Gesetze nicht so
ängstlich sein." Es handelte sich nämlich darum, daß den Lehrcrwitwen eine jähr¬
liche Pension von fünfzig, sage fünfzig Thalern gewährt werden sollte!
Die Zeiten find nun allerdings seitdem etwas anders geworden, und doch be¬
merkt Wilke mit Bitterkeit, daß dem Lehrerstaude auch heutzutage uoch uicht die
Achtung und Anerkennung zu Teil werde, die er in Wirklichkeit verdiene. Mail sehe
auch jetzt noch mit halbem Mitleid und halber Verachtung auf deu Lehrer und sein
Amt. Der Verfasser sucht uach den Gründen dieser Erscheinung und glaubt sie in
dem geschichtliche» Erbteil zu finden, das den Lehrern in demselben Maße wie den
Juden zugefallen sei, ferner in der herkömmlichen Schulaufsicht, in der rechtlichen
und militärischen Ausnahmestellung des Lehrerstandes, in seiner mangelhaften Be¬
soldung, in seiner Bildung und in dem Verhalten einzelner seiner Mitglieder.
Er hätte noch hinzufüge« können: in dem Verhalten der Vorgesetzten, der Schul¬
räte n. s. w. zu deu Lehrern; denn es giebt in der That kaum eine Klasse von
Verwaltmigsbeamten, die mit mehr Überlegenheit, Selbstbewußtsein und Gering¬
schätzung auf die Untergebenen hiuabschaut, als die der Schulräte. Darüber haben
nicht nur die Volksschullehrer zu klage«, sondern auch die akademisch gebildeten
Lehrer. I« Preußen wenigstens sind die Schulräte uicht selten, die den Gymnasial¬
lehrer auch in gesellschaftlicher Beziehung sehr tief unter sich stellen und es als eine
beispiellose Ungehörigkeit betrachten würden, wenn sich der Gymnasiallehrer z. B.
an den Tisch des Schulrath setzen wollte. Viele meiden ängstlich deu Verkehr mit
dein Lehrerstaude, da sie im stillen befürchten, ihre juristisch gebildeten Kollegen
von der Regierung könnten in ihnen noch immer deu alten Schulmeister und uicht
den neuen Regierungsrat wittern. Viele umgeben sich bei Visitationen, Versamm¬
lungen nud Konferenzen mit einer Würde und Unnahbarkeit, die oft ans Lächerliche
streift. Diese thatsächliche Geringschätzung der Lehrer durch die Schulräte überträgt
sich selbstverständlich auf die übrigen gebildeten Stände; denn wie tief muß uach
ihrer Ansicht selbst der akademisch gebildete Lehrer stehen, wenn ein einfacher Re¬
gierungsrat solche Gewalt über ihn hat! Der Jurist und der Offizier sind in ge¬
sellschaftlicher Beziehung alles durch ihren Beruf. Ihre amtliche oder dienstliche
Stellung hebt sie empor, ihre Persönlichkeit, ihre Leistungen, selbst ihre sittliche
Führung mögen sein, wie sie wollen. Der Lehrer ist in unsrer Gesellschaft nichts
durch seinen Beruf. Seine amtliche Stellung hebt ihn nicht in den Augen der Ge¬
bildeten, sondern zieht ihn herunter. Wenn hie und da ein Lehrer trotzdem in der
Gesellschaft etwas gilt, so verdankt er das immer nur seiner Persönlichkeit, seiner
außernmtlicheu Thätigkeit, seinen Bestrebungen, die gewöhnlich mit seinem Amte
nichts zu thun haben, z, B. seinem Wirken für Vereine, seinen schriftstellerischen
Leistungen u. f. w. So uur ist es zu erklären, daß Lehrer, die in ihrem Lebens¬
berufe nichts leisten, in der Gesellschaft oft ein höheres Ausehen genießen, als Lehrer,
die vortreffliche Schulmeister und sonst nichts find. Das ist traurig, aber es ist
wahr. Was hier vom Gymnasiallehrer gilt, gilt erst recht vom Volksschitllehrer;
uicht der Lehrer an und für sich wird von den Gebildeten gering geschätzt, sondern
die engbegrenzte Schulthätigkeit, die scheinbar unproduktive und undankbare Beschäf¬
tigung. Denn der Lehrer arbeitet in einer Sackgasse. Sein amtliches Mnchtgebiet, sein
Einfluß und seine Bedeutung reichen im Grunde nicht weiter als die Schuljahre
der Jugend; er fleht mit seiner ganzen Thätigkeit nur in der Vorhalle zum Tempel
des staatsbürgerlichen Lebens. Man mag reden, was man will, in Wirklichkeit
erzieht doch nicht die Schule die Menschen, d. h. Charaktere, sonder» erst das
Leben mit seiner praktischen Bethätigung, seinen harten Prüfungen, seinen innern
und äußern Kämpfen. Die Schule kaun mit ihrem notwendig Schablonenhaften
Verfahren, das auf das Individuelle keine Rücksicht nimmt, uur vorbereiten, und
jeder Vorbereitungsdienst ist ein untergeordneter Dienst und wird auch von der
Gesellschaft so angesehen. Der Einfluß der Schule auf das politische und soziale
Leben wird vielfach überschätzt; deshalb hatte auch Friedrich Wilhelm IV. Unrecht,
wenn er in der Semiuarlchrerkoufercuz vom 15. Januar 1849 sagte: „All das
Elend, das im verflossenen Jahre über Preußen hereingebrochen, ist Ihre, einzig
Ihre Schuld; die Schuld der Afterbildung, der irreligiösen Massenweisheit, die
Sie als echte Weisheit verbreiten, mit der Sie den Glauben und die Treue in
dem Gemüt meiner Unterthauen nnsgervttet und deren Herzen von Mir abgewendet
haben. Diese pfauenhaft aufgestützte Scheinbildung habe ich schon als Kronprinz
aus innerster Seele gehaßt und als Regent alles aufgeboten, um sie zu unterdrücken.
Ich werde auf dem betretenen Wege fortgehen, ohne mich irren zu lassen. Keine
Macht der Erde soll mich dnvvn abwendig machen. Zunächst müssen die Semi¬
narien sämtlich aus den großen Städten nach kleinen Orten verlegt werden; sodann
muß das ganze Getriebe in diesen Anstalten uuter die strengste Aufsicht kommen."
Die armen Schulmeister!
In jener für die Volksschullehrer sehr trüben Zeit ist Diestcrweg, obgleich
er selbst mit seinen freimütiger Bestrebungen um Amt und Würden kam, der
mächtige Pfeiler gewesen, an dem die preußische Volksschule ihre Stütze fand.
Wille faßt Diesterwegs Bedeutung in folgende Sätze zusammen: 1. Er hat durch
seine praktische Thätigkeit als Seminardirektor eine große Anzahl von, trefflichen
Lehrern gebildet und das Vorbild eines ausgezeichneten Seminarlehrers und
Direktors hinterlassen. 2. Er hat den Lehrern in seinen Schriften ein Ideal des
Vvlksschüllehrers gezeichnet und ihnen dadurch Anleitung und Mittel zur Fort¬
bildung gegeben. 3. Er hat die Idee der Nereinsbilduug und der Selbsthilfe
durch Vereinigung in die Lehrerwelt gepflanzt. 4. Er hat — insonderheit durch
seine Zeitschriften — einen erziehenden Einfluß ausgeübt. 5. Er hat in schweren
Zeiten durch Rede und Schrift gegen die Verkümmerung der Lehrerbildung ange¬
kämpft. 6. Er hat dem Lehrerstaude bestimmte Ziele gesteckt, denen dieser noch
heute zustrebt.
Der hundertjährige Geburtstag Diesterwegs am 29. Oktober d. I. soll auch
in weitern Kreisen gefeiert werden.
s gehört schon lange zu den Gepflogenheiten deutschfreisinniger
Orthodoxie, die Nativnalliberalen des Verrath an der liberalen
Sache zu beschuldigen, sich so zu gebärden, als ob diese unter
falscher Flagge segelten und nur die deutschfreisinnige Partei das
Recht hätte, die Bezeichnung einer liberalen Richtung für sich
zu beanspruchen. Der häusliche Streit, der neuerdings in der dentschfreisinnigen
Partei ausgebrochen ist, sollte in dieser Beziehung die Politiker und die Organe
der Presse, die einst als Vertreter der „liberalen Vereinigung" galten, belehren,
daß sie, wenn sie sich nicht vor dem Parteidespoten, der in der freisinnigen
Partei „sein wird, was er bisher war, oder nicht sein wird" (das hat er ja
Herrn l)r. Barth gesagt!), mit einem xatsr xeoeiivi beugen, Gefahr laufen,
ebenfalls des Rechtes verlustig zu gehn, sich liberal zu nennen — wenigstens
in den Augen ihrer jetzigen Parteigenossen Richterscher Observanz. Die Nickert
und Vamberger, die Forckenbeck und Stauffenberg (ja anch die Hamel und
Genossen!), insbesondre aber die erstern, die ja selber einst nationnllibernl ge¬
wesen sind, sollten sich ernstlich die Frage vorlegen, ob die einstige „Sezession"
und dann gar die „Fusion" wohlgethan war, und ob jemand nicht doch „voll
und ganz" ein Liberaler sem kann, ohne in demselben Fahrwasser zu segeln,
wie sie. Wollen sich die rechtsstehenden Elemente der deutschfreisinuigeu Partei
trennen von den Radikalen ihres Lagers, wollen sie sich auf ihre einstige Zu¬
sammengehörigkeit mit den Nationallibernlen besinnen und Fühlung nach rechts
suchen, sei es daß sie in die nationalliberale Partei eintreten, sei es daß sie,
diesen Schritt scheuend, eine neue Partei bilden, so wird das sicher allen denen
hoch willkommen sein, die eine gesunde Entwicklung unsrer politischen Partei-
Verhältnisse wünschen. Mögen sich diese Politiker vor allem wieder des Unter¬
schiedes der Begriffe „liberal" und „demokratisch" bewußt werden, wofür es
innerhalb der „freisinnigen" Theorie an jedem Verständnis zu fehlen scheint.
Diesen Unterschied recht bestimmt zu betonen, ist deshalb eine Aufgabe, der
gerade im Interesse des Einflusses des gesunden Liberalismus auf unser
Staatsleben jeder gemäßigt liberale Mann sich gar nicht oft und eindringlich
genug widmen kann. Es lohnt der Mühe, hauptsächlichen Fragen unsers
Staatslebens in dieser Beziehung einmal näher zu treten.
Da wollen wir uns denn zunächst fragen, was denn das Wesentliche des
liberalen Gedankens bezüglich unsrer Reichs- und Staatsverfassung im allgemeinen
ist. Doch wohl der Gedanke, daß der „Rechtsstaat" nach Möglichkeit verwirklicht
werde, daß das Gesetz für alle gleichmäßig die Grundsätze ordne, die das
öffentliche Leben auf seinen mannichfachen Gebieten beherrschen, daß keinerlei
Willkür einen Rechtsbruch herbeiführen dürfe. Ein solcher Gedanke führt mit
Notwendigkeit und hat deshalb auch geschichtlich bei uns geführt zu der For¬
derung eines Grundgesetzes, das will sagen zum Verfassungsstaat. Ein solcher
aber braucht seinem Wesen nach, wenn er eine Monarchie ist, keineswegs derart
eingerichtet zu sein, daß der Monarch mir der lebenslängliche Inhaber einer
Staatsgewalt ist, die er, was die Gesetzgebung, d. h. die Feststellung der das
Staatsleben beherrschenden Grundsätze betrifft, nur unes dem Willen der Volks¬
vertretung ausüben darf, selbst wenn dieser Wille dein seinigen entgegenläuft.
Freilich darf im Verfnssungsstaat der Monarch die gesetzgebende Gewalt mich
seinerseits nicht üben entgegen dem Willen der Volksvertretung. Diese Sätze
ergeben mit Notwendigkeit, daß zu positiven Maßnahmen der Gesetzgebung die
Übereinstimmung des Monarchen und der Volksvertretung nötig ist, daß jeder
von beiden solche positive Maßnahmen, die der andre wünscht, verhindern kann,
und daß auf dem Gebiete der Gesetzgebung ebenso wenig etwas geschehen kann
ohne oder gar gegen den Willen des Monarchen, wie ohne oder gegen den
Willen der Volksvertretung. Dies ist zweifellos — und auch Herr Richter
wird nicht in der Lage sein, etwas andres zu beweisen — der Nechtszustnud
in Preußen und ebenso — nur daß an die Stelle des Monarchen begrifflich
der Regel nach der Bundesrat tritt — im deutschen Reiche. Dies und nicht
mehr ist aber auch der liberale Gedanke, der sich auch dahin definiren läßt,
daß er für die Gesetzgebung das Erfordernis einer grundgesetzlich geordneten
Mitwirkung der Volksvertretung (und zwar einer nicht bloß beratenden Mit¬
wirkung) aufgestellt hat. Diesen seinem Ursprünge und seiner Tendenz nach
liberalen Gedanken haben sich die konservativen Parteien, gezwungen von der
Macht der Thatsachen, aneignen müssen, und heutzutage stehen auch sie — und
zwar größtenteils ehrlich, wenn auch bei den Ultras der geheime Herzenswunsch
nach einer Schmälerung des so definirten Rechtes der Volksvertretung vor¬
handen sein mag auf diesem konstitutionellen Boden. Stimmen also die
Nativualliberalen mit deu .Konservativen darin überein, daß sie auf diesem
Boden feststehen, so ist das doch kein Grund, nun die Nativualliberalen zu
bezichtigen, sie seien konservativ geworden, vielmehr haben die Konservativen
den liberalen Gedanken annehmen müssen, und nnn verteidigen sie ihn mit den
Nationallibercilen gegen den demokratischen Gedanken. Der letztere aber geht
weiter als der liberale, er ist mit nichten „konstitutionell," sondern verfassungs¬
widrig — ein Begriff, der doch nur nach der wirklichen Einzelverfassung und
nicht nach einer allgemeinen Verfassungsschablone beurteilt werden kann —, und
darum hüten sich die Deutschfreisinnigen mich wohl, ihn klar in ihren offiziellen
Programmen auszusprechen. Herr Richter wird aber, wenn er ehrlich sein
will, nicht in Abrede stellen, daß die Verwirklichung dieses demokratischen Ge¬
dankens, wie er noch näher skizzirt werden soll, ihm ein — nun sagen wir
erstrebenswertes Ideal ist. Und weil die Nationalliberalen diese Verwirklichung
weder für erstrebenswert noch für ein „Ideal" halten, werdeu sie „reaktionärer"
Neigungen beschuldigt. Ein andrer Grund für den noch im Wahlkampf von
1887 ausposaunten Vorwurf, sie würden die Hand bieten zu einer „Rückwärts-
revidiruug" der Verfassung, läßt sich wenigstens nicht denken. Was denn die
Regierung unter dem Beistande der Nativnalliberalen „rückwärts revidiren"
wollte, inwiefern der liberale Verfassnngsgedanke, wie er oben definirt ist, ge¬
fährdet erscheint, wurde nicht gesagt, weil es eben unmöglich war, irgendwelche
Thatsachen für eine solche Ungeheuerlichkeit vorzubringen, es kann also der
Grund nur das Bewußtsein der Deutschfreisinnigen gewesen sein, daß bei einer
bei gelegener Zeit von ihnen ins Werk zu setzenden „Fortentwicklung" oder,
was vielleicht der fortschrittlichen Redeweise besser entspricht, „Vorwärts-
revidiruug" der Verfassung die Nationalliberalen nicht „mitmachen" würden.
Eben diese „Vvrwärtsrevidirung" würde aber nur den demokratischen Gedanken
zum Ausdruck bringen können, der dahin geht, das Schwergewicht der Gesetz¬
gebung und somit der Staatsgewalt in die Volksvertretung zu legen, d. h.
— wer ehrlich ist, kann es nicht bestreiten — das Verhältnis der Gewalten
im Staate auf Kosten des Monarchen zu. verschieben. Man werfe nicht ein,
so etwas wolle der Freisinn nicht — immer wieder muß wiederholt werdeu:
er schreibt es zwar nicht offen in sein Programm, er arbeitet aber darauf hin,
es je eher desto lieber hineinschreiben zu können, denn was soll sonst die stets
wiederkehrende Exemplifikation auf England, die sich nicht im mindesten um
die gänzliche Verschiedenheit in der Geschichte beider Länder kümmert? ums
das Betonen der „geringen" Rechte der Volksvertretung bei uns, deren Er¬
weiterung doch eben durch dieses Epitheton als wünschenswert bezeichnet wird?
was überhaupt das Geschrei über Preisgebung „unveräußerlicher Rechte des
Volkes," während auch nicht ein einziges solches Recht angetastet worden ist?
Entweder dieses Gebaren ist unehrlich, oder die Behauptung ist es, der Frei¬
sinn erstrebe nicht das, was man gemeinhin „Parlamentsregiernng" nennt.
In England besteht sie ja allerdings, und vielleicht könnte jemand unwider-
leglich beweisen, trotzdem sei die englische Verfassung nicht demokratisch. Gewiß
nicht — aber sie ist es nicht, weil sie aristokratisch ist. Beides sind aber
Gegensätze zur Monarchie, und zwar auch zur konstitutionellen, wie unsre Ver¬
fassung sie aufbaut. England hat von der Monarchie doch nur deu Namen
und von ihrem Wesen so wenig, daß es wunder nehmen muß, wie jemand mit
dem Scheine ehrlicher Überzeugung England als Beweis einer „Monarchie trotz
Parlamentsregierung," also einer Vereinbarkeit beider Begriffe hinstellen kann!
Die Parlamentsregierung aber, die in England das Wesen einer im weitern
Sinne aristokratischen Staatsform ausmacht, würde bei uus ein demokratisches
Staatswesen schaffen, und das hat seinen Grund in der Verschiedenheit der
Wahlsysteme, Ein aus allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen
hervorgehendes Parlament kann nicht auf die Dauer aristokratisch sein, sondern
muß sich demokratisch entwickeln — dieser Satz wird wohl kaum angefochten
werden können. Neben einem solchen Parlament nun, das schließlich — sei
es weil schon formell der Monarch nur ein suspensives Veto hat, wie z. B.
in Norwegen, sei es weil der Monarch thatsächlich kein Ministerium bekommen
kann, das seiner politischen Tendenz nach ihm nicht vom Parlament aufgenötigt
ist, wie in England — auch gegen den wirklichen Willen des Monarchen die
Gesetzgebung durchführe!: kann, ist für den Monarchen, der ein solcher ist,
d. h. der einen Willen hat, der uicht nur das erbliche, mit inhaltlosen Ehren¬
vorzügen ausgestattete, persönlicher Gewalt entbehrende Staatsoberhaupt ist,
kein Platz; das sollte niemand bestreikn, der es mit politischen Begriffen
ehrlich meint.
Wir in Preußen, in Deutschland haben einen Monarchen, wir wollen ihn
behalten; ihm Rechte nehmen wollen, nachdem die Verfassung sie begrenzt
hat, was ja eben eine liberale Errungenschaft war, heißt nicht „liberal,"
sondern „demokratisch" denken, und darum ist das Streben nach einer Parla¬
mentsregierung demokratisch und nicht liberal. Mögen sich die rechtsstehenden
Deutschfreisinnigen das klar machen! Oder sollten sie wirklich überzeugt sein,
die alten Fortschrittsleute wollten die verfassungsmäßigen Rechte des Parla¬
ments nicht nach englischem Vorbilde auszudehnen versuchen? Wohl gemerkt,
natürlich „auf gesetzlichem Wege";- nichts liegt dem Schreiber dieses ferner,
als die Annahme, der Freisinn sei „revolutionär." Aber auch ohne das zu
sein, kann man der demokratischen Idee huldigen und vergessen, daß diese nicht
ein und dieselbe mit der liberalen ist.
Wenn bisher dargelegt worden ist, wie liberale und demokratische An¬
schauung die Thätigkeit der Gesetzgebung im allgemeinen im Verfassungsstaate
doch in recht verschiedner Weise geordnet wissen wollen, so bedarf eine besondre
und regelmäßige Thätigkeit der Gesetzgebung einer besondern Betrachtung, weil
sie vou allen andern eben ihrer Periodischen gleichartigen Wiederkehr halber
sich wesentlich unterscheidet und, insofern sie ans dem Wesen des Staates
heraus den Faktoren der Gesetzgebung auch positive Pflichten auferlegt, an
Stelle der Freiheit dieser Faktoren einen gewissen Zwang setzt, und zwar um
deswillen, weil der Staatsorganismus unter allen Umständen an diesem Punkte
ein positives Ergebnis der Gesetzgebung Jahr sür Jahr verlangt und nicht
bestehen kann, wenn das Ergebnis der Arbeiten der gesetzgebenden Faktoren
negativ bleibt, mit andern Worten, wenn das Gesetz wegen mangelnder Über¬
einstimmung dieser Faktoren nicht zu stände kommt. Diese Thätigkeit ist die
Herstellung des Etatsgesetzes, bei der das sogenannte „Budgetrecht" der Volks-
Vertretung, welches so gern als „der Angelpunkt des ganzen parlamentarischen
Systems" bezeichnet wird, in hervorragendem Maße in Frage kommt.
Wenn man die Redner und die Presse der deutschfreisinnigen oder
gelegentlich auch der ultramontanen Partei hört — von den intransigenten
Elementen, wie Volkspartei, Sozialdemokratin u. s. w. ganz abgesehen —, so
empfängt man, wenn man sich Wesen und Bedeutung des Budgetrechts nicht
klar gemacht hat und, wie es doch ein recht bedeutender Prozentsatz der Wähler
vermöge seines allgemeinen Bildungsgrades unzweifelhaft thut, sich mit dem
ganz allgemeinen dunkeln Rechtsbewußtsein begnügt, die Regierung dürfe die
Staatsgelder nur nach Maßgabe des im Etatsgesetze niedergelegten Willens
der gesetzgebenden Gewalt einnehmen und ausgeben, unwillkürlich den Eindruck,
als ob es in dem freien Belieben der Volksvertretung stehe, durch „Abstriche"
im Etat irgend welche zu Recht bestehende Staatseinrichtungen zu beseitigen.
Man empfängt die Vorstellung, als könnte dnrch Streichung der Ausgaben
beliebig dort im Neichsetat ein Regiment oder eine Oberpvstdirektion, hier im
Landesetat ein Oberlandcsgericht oder eine Prvvinzialstenerdirektion durch ein¬
seitigen Beschluß des Parlaments beseitigt werden. Daß dem aber nicht so
ist, kann bei der im großen Publikum herrschenden Unklarheit der Rechts-
begriffe in diesen Dingen gar nicht laut und oft genug wiederholt werden.
Wohl wird es keinem Deutschfreisinnigeu einfallen, die Behauptung aufzustellen,
es bestehe bei uns ein im obigen gekennzeichneter Rechtszustand z das große
Publikum aber, das von dentschfreisinnigen Rednern oder Preßorganen über
das „Bndgetrecht" gelehrte Auseinandersetzungen vernimmt, gewinnt mit Not¬
wendigkeit jene widersinnige Vorstellung, weil ihm nie von diesen Seiten die
Grenzen des Budgetrechts, die daraus fließenden Pflichten des Parlaments
aus einander gesetzt werden, sondern die Sache immer nur so dargestellt wird,
als ob bei Feststellung des Etatsgesetzes das Parlament lediglich Rechte hätte
und als ob das „Bndgetrecht" eine Waffe wäre, womit das Parlament die
Regierung durch ein plötzliches Stillsteheulassen der Staatsmaschinerie zu allein
und jedem zwingen könne. Die Konsequenz davon, daß die Staatsmaschine
weiterläuft, weil sie eben nicht festgehalten werden kann, sich klar zu machen,
haben Vertreter dieser Anschauung nicht nötig, denn für sie liegt die Sache
einfach so, daß das Ministerium, dessen Budget verwarfen oder so zugerichtet
ist, daß damit das Regieren unmöglich wäre, abtreten und einem andern, der
Parlamentsmehrheit genehmen Ministerium Platz machen muß, dem dann die
unbedingt nötigen Mittel jedenfalls bewilligt werden. Das Budgctrecht soll
also eine Handhabe zur mittelbaren Einführung eben derjenigen Regierungs-
form bieten, die man mit Recht „Parlamentsregieruug" nennt und die nach
den klarsten Bestimmungen der Reichs- wie der preußischen Verfassung bei uns
nicht besteht, deren Einführung auf solchem Umwege also wohl ein demokra¬
tisches, nimmermehr aber ein liberales Gelüst sein kann. In richtiger Er¬
kenntnis der Natur der Dinge ist deshalb im Reiche sowohl wie in Preußen
dieses Recht der Volksvertretung als ein durch das Wesen des Staates und
durch die Gesetze selbst beschränktes Recht eingerichtet. Einerseits fließen der
Reichs- oder Staatskasse aus den auf Grund besondrer Gesetze eröffneten Ein¬
nahmequellen (Steuern, Zölle, Gerichtskosten, Strafe» u. s. w.) die Einnahmen
so lange zu, als nicht eben jene besondern Gesetze aufgehoben oder geändert
sind, anderseits sind ans der Staats- oder Reichskasse die (im Ordinarimn
des Etatsgesetzes eingestellten) Ausgaben für Einrichtungen, die auf Grund
besondrer Gesetze geschaffen sind, so lange fortznzahlen, als wiederum jene be¬
sondern Gesetze uicht aufgehoben oder geändert und dadurch die Einrichtungen
beseitigt oder beschränkt sind. Das „Budgetrccht" des Parlaments tritt also
in dein Umfange einer völlig freien Handhabung nur in Thätigkeit, insofern
es sich um Beschaffung neuer oder Änderung alter Einnahmen und um Be¬
willigung neuer oder Änderung alter Ausgaben handelt, und hierbei schadet
es nichts oder ruft wenigstens keinen unmöglichen Zustand hervor, wenn
das Gesetz nicht zu stände kommt, weil dann eben alles beim Alten bleibt,
keineswegs aber der Staatsmaschine ein Stillstehen zugemutet wird. Etwas
anders schon liegt es, wenn etwa die Summe der Ausgaben, die der Staat
gesetzlich verbunden ist zu machen, an denen also auch das Parlament ohne
Gcsetzesverletzung keine Abstriche machen kann, die Summe der zu Gebote
stehenden Einnahmen übersteigt und neue Einnahmen auf dem üblichen Wege
der Gesetzgebung nicht habe» beschafft werden können. In solchem Falle müßte
durch ein Anleihegesetz Rat geschafft werden.
Das so gestaltete Budgetrecht der Volksvertretung ist und bleibt bei
alledem eine gewaltige Waffe in deren Händen, sie ist aber bei weitem wirk¬
samer ans der Seite der Einnahmen- als der Ausgabenbewilligung. Bezüglich
der Ausgaben treten immer aufs neue an ein großes Staatswesen neue und
veränderte Bedürfnisse heran, denen keine Regierung, sie mag eine politische
Richtung haben, welche sie will, sich entziehen kann und die deshalb auch keine
Volksvertretung auf die Dauer unbefriedigt lassen kann; in der Bewilligung der
deswegen erforderlichen neuen Einnahmen aber behält die Volksvertretung, weil
die Regierung auf ihre Mitwirkung unter allen Umständen angewiesen bleibt,
ein Mittel in den Händen, das in gewisser Weise zu einer Zwangsbefugnis
gegen die Regierung werden kann. Das ganze Dasein des Staates kann von
der Art und Weise abhängen, wie dieses Recht des Parlaments ausgeübt wird,
und man sollte meinen, darin läge so viel parlamentarische Macht, daß man
nicht davon reden sollte, das „Budgetrecht" sei in Deutschland, sei in Preußen
nur ein leerer Schein. Ein solcher ist es keineswegs und soll es nicht sein.
Wiederum eine liberale Einrichtung ist es, dieses Bndgetrecht, wie es bei uns
besteht, und kein Nationalliberaler wird es beschränken oder gar opfern wollen,
denn es sichert allerdings dem Volke (in seiner gewählten Vertretung) den¬
jenigen Grad von „Selbstregiermig," der, ohne die Stärke der Krone zu be¬
einträchtigen, beansprucht werden muß, wenn man in einem Verfassnngsstaate
leben will. Ein Bndgetrecht aber, das keine Pflichten des Parlaments kennt,
sondern ein jederzeit disponibles Machtmittel zu willkürlichem Zwange gegen
die Krone bilden soll, ist keine liberale Forderung, sondern höchstens eine
demokratische. Sagt uns nun ein Deutschfreisinniger, ein solches Budgetrecht
erstrebe er auch nicht für das Parlament, so fragen wir billig: wozu dann
das Geschrei über unkvnstitntionelle Zustände bei uns, über die Gefährdung
des geheiligten Budgetrechts? Wer will es antasten? Wessen versieht sich
die dentschfreisinnige Partei insbesondre von den „pseudvliberalen Heidel¬
bergern?"
Wenn im vorstehenden versucht worden ist, klarzumachen, wie sich die
liberale Auffassung von der demokratischen bezüglich der allgemeinen Ver-
fassungsfragen unterscheidet, so wird es noch wünschenswert sein, im folgenden
auch einige wesentliche einzelne Fragen zu berühren, wegen deren mit Vorliebe
immer und immer wieder von freisinniger Seite der Vorwurf der Preisgebung
des liberalen Prinzips gegen die Nativnalliberalen erhoben wird. Als solche
bieten sich besonders dar das Wahlsystem, die Wirtschaftspolitik, die soziale
Gesetzgebung, die Militürfrage und in gewissem Sinne endlich auch die Ein¬
richtung des Schwurgerichts. Es giebt natürlich noch mehr Punkte, deren
Erörterung eine Abweichung der Ansichten über das, was „liberal" ist, zwischen
Freisinnigen und Nativnalliberalen zu Tage bringt; die genannten sind aber
besonders interessant.
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht mit geheimer Abstimmung ist
eine Einrichtung, die sür die Reichstagswahlen dein deutschen Volte in der
Verfassung und dem Neichswahlgesetze verliehen ist. Es ist, obwohl seinerzeit
niemand anders als Fürst Bismarck es mit kühnem Griff und kühnem Ver¬
trauen den Deutschen verschafft hat, recht eigentlich eine demokratische Einrich¬
tung, die z. B. in dem Lande des parlamentarischen Ideals, in England, nicht
besteht, die also schon deshalb nicht immer als das Palladium konstitutioneller
und liberaler Staatseinrichtungen dargestellt werden sollte. Es ist aber einmal
gesetzlich bei uns eingeführt, die große Masse des Volkes schätzt es und würde
es sich uicht ohne heftige Erschütterungen entreißen lassen. Das Gerede von
einer Gefährdung dieser Einrichtung dnrch die Regierung und eine etwaige
„gefügige" Reichstagsmehrheit ist also einfach haltlos, denn keine Regierung
— sie müßte denn aus ungewöhnlich beschränkten und gleichzeitig stockreak¬
tionären Leuten bestehen — wird ohne Not den Staat, am allerwenigsten aber
das junge, kousolidiruugsbedürftige Reich solchen tiefgehenden Erschütterungen
aussetzen wollen, keine große politische Partei, am allerwenigsten die national-
liberale, wird solche Bestrebungen unterstützen können. Es ist ein Gespenst,
was die deutschfreisinnige Partei dem Volke zeigt, diese Gefährdung des all¬
gemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts mit geheimer Abstimmung, und das
bleibt es, so lauge nicht eine fanatische Agitation dieses Wahlrecht derart mi߬
braucht, daß die daraus dem Reiche erwachsende Gefahr größer ist, als die
durch eine Änderung des Wahlgesetzes zu befürchtende. Ein liberaler Gedanke
ist die Erhaltung eines bestehenden freiheitlichen Wahlrechts um der dem
Staate bei einer Antastung drohenden Gefahr willen, ein demokratischer aber
lediglich die theoretische Hinstellnng des allgemeinen, gleichen und direkten Wahl¬
rechts als eines schlechterdings an sich besten, jedem andern System vorzu¬
ziehenden. Nur ein radikaler Politiker kann die Schattenseiten verkennen, die
ein (wie der verstorbene Bluntschli gesagt hat) „die Unbildung über die Bil¬
dung, die Söhne über die Väter, die Besitzlosen über die Besitzenden" setzendes
Wahlsystem hat, nur ein solcher auch kann es leugnen, daß eine Wählerschaft,
in der großen .Kreisen Dinge mit Erfolg vvrgegaukelt werden können, wie
z. B. 1887 die Darstellung des „Septennats" als einer siebenjährigen Dienst¬
zeit, eine Gefahr für den Staat sein kann. Man kann sehr wohl gut liberal
sein, ohne dieses Wahlsystem gut zu nennen, und mit der Überzeugung, daß
seine Einführung eine schwer bedenkliche war, denn ein solcher Standpunkt ist
nicht gleichbedeutend mit dem Streben nach Abschaffung des einmal einge¬
führten so gestalteten Wahlrechts. Letzteres für eine gute Errungenschaft einen
Sieg des liberalen Prinzips zu erklären, ist nie und nimmer etwas andres,
als ein demokratisches Gebaren.
Ein unverhältnismäßig großes Gebiet der gesetzgeberischen Arbeiten nimmt
seit mehr als einem Jahrzehnt die Behandlung der wirtschaftlichen Fragen ein,
und bis auf weiteres werden diese, schon ihrer Verquickung mit der bren¬
nenden sozialen Frage wegen, auch noch lange das Parlament beschäftigen.
Auf diesem Gebiete nun ist es, wo nach dein Geschrei der freisinnigen Presse
die Reaktion, namentlich in Gestalt der Monopole, zu erwarten sein sollte,
wenn die „Mischmaschpartei" — wie zuerst die „Germania" und ihr nach¬
jauchzend mancher freisinnige Redner mit Borliebe die Minderheit des 1887
aufgelösten Reichstages und demnächst die „Kartellmehrheit" des Reichstages
von 1887 bis 1890 geschmackvoll bezeichnete — Majorität sein würde, wie
letzteres ja 1887 bis 1890 wirklich der Fall war. Verschwiegen wurde ge¬
flissentlich dabei, daß gegen das Tabaks- wie gegen das Branntweinmonopol die
Nationalliberalen so gut gestimmt hatten wie die Freisinnigen, daß also eine
rein konservative Mehrheit Vorbedingung solcher Besorgnisse gewesen wäre.
Die im Monopol liegende Verstärkung eines von der Regierung abhängigen
Beamtentums und die Verdrängung der Privatindustrie von großen Gebieten
ihrer Thätigkeit sind nun allerdings Dinge, die — das kann ohne weiteres
zugegeben werden — dem liberalen Gedanken widersprechen; nichts berechtigte
aber die Freisinnigen zu der Meinung, die Nationalliberaleu seien in dieser
Beziehung nicht „sicher." Das freilich unterscheidet die Nationalliberaleu von den
Freisinnigen, daß sie prinzipiell von ihrem Programm als politische Partei
die wirtschaftlichen Fragen ausgeschieden haben. Freihändler, und Schutzzöllner
sind mit nichten ein Gegensatz, der dasselbe wäre wie liberal und konservativ,
und es ist Verwahrung einzulegen dagegen, daß, wer für diese oder jene
„schutzzöllnerische" Maßregel gestimmt hat, deshalb aufgehört habe, liberal
zu sein.
Erst in allerneuester Zeit hat auf dem hochwichtigen, für die nächsten
Jahre und Jahrzehnte vielleicht alles andre in den Hintergrund drängende
Gebiet der sozialen Gesetzgebung eine gewisse Bekehrung der Deutschfreisinnigen
stattgefunden. Sehr allmählich und zuletzt unter den Parteien haben sie
— insbesondre nach dem Erscheinen der kaiserlichen Februarerlasse — die Un¬
möglichkeit eingesehen, noch ferner ans einem Standpunkte zu verbleiben, der
dem Staate Nichtsthun zumutet auf einem Felde, auf dem der Streit um die
fernere Entwicklung der ganzen menschlichen Kultur entschieden werden muß.
So freudig die Bereitwilligkeit der Deutschfrcisinnigen zu positiver Mitarbeit
auch auf diesem Gebiete zu begrüßen ist, so bedeutungsvoll erscheint es doch,
daran zu erinnern, daß eben diese Bereitwilligkeit noch vor gar nicht langer
Zeit den Nationalliberaleu als ein reaktionäres Gebaren zum schweren Vor¬
würfe von allen Deutschfreisinnigen gemacht wurde und daß ihnen keine Ent¬
rüstung groß genug schien, den „Staatssozialismus" zu brandmarken.
Ein ähnlicher Umschwung freisinniger Anschauungen vollzieht sich neuer¬
dings oder hat sich zum Teil vollzogen in Bezug auf die Militärfrnge. Die
Opposition auf diesem Gebiete galt bisher als ein Verhalten, das jeder Frei¬
sinnige bei Verlust seiner Eigenschaft als solcher zu beobachten hatte. Heute
ist sachliche Prüfung der neuesten, doch recht stattlichen Mehrforderungen eine
Aufgabe, die auch im freisinnigen Lager geboten scheint, ohne daß man die Schlag¬
worte hörte, die besonders im 1887er Wahlknmpfe dem „Militarismus" galten.
Was dabei das sogenannte Septennat betrifft, so hat es ja freilich nicht den
Anschein, als ob selbst die gemäßigter« Elemente der freisinnigen Partei die
Forderung der jährlichen Feststellung der Friedenspräsenzstärke des Heeres
fallen lassei? wollten, gerade bei dieser Frage aber, die wesentlich in die oben
behandelte vom Bndgetrecht hincinspielt, kann gar nicht laut und oft genug
betont werden, daß das Verlangen nach jährlicher Feststellung der Präsenzstärke
durchaus keine notwendige Forderung des Liberalismus als solchen ist. Das
Septennat, ja sogar das „Äternat" zu verteidigen, dieses und nicht die jährliche
Bewilligung für den einzig normalen Zustand zu halten, ist an sich ganz und
gar nicht „antiliberal." Eine dauernde Staatseinrichtung, als die doch schlie߬
lich die Armee wohl auch in den Angen der freisinnigen Partei gelten wird,
bezüglich ihres ganzen Bestandes (dem Umfange nach wenigstens und in der
Wirkung möglicherweise auch dem Inhalte und Werte uach) jährlich in Frage
stellen zu lassen, ist doch an sich wahrhaftig kein liberaler Gedanke, und keinem
Freisinnigen möchte etwas ähnliches bei irgend einer andern Staatseinrichtung
in den Sinn kommen. Wohl kann man aus wirtschaftlichen und Zweckmäßig-
keits-, nicht aber aus politisch-liberalen Gründen eine längere als einjährige
(oder als drei-, oder fünf-, oder siebenjährige) Feststellung des Friedensstnndes
der Armee bekämpfen. Vom „Liberalismus" aber wendet sich kein National-
liberaler ab, wenn er selbst für das „Äternat" stimmte. Will aber der Freisinn
die jährliche Bewilligung als Machtmittel der Regierung gegenüber durchsetze.«!,
so ist das freilich ein politisches Motiv, ein solches Streben ist aber wiederum
uicht liberal, sondern bereits demokratisch in dem oben entwickelten Sinne,
weil es auf die Mehrung der Macht des Parlaments und auf die Minderung
der Macht der Krone, beziehentlich der verbündeten Regierungen hinausläuft.
Übrigens lassen die bei der Erörterung der neuesten Militärforderungen
in allgemeinen Umrissen erschienenen Pläne des Kriegsministeriums wegen
„Durchführung des Scharuhorstschen Gedankens" recht deutlich erkennen, daß
unter Umstünden gerade das „Äternat" die Art der Feststellung der Friedens¬
präsenz sein kann, die um besten vor Überbürdung der Steuerzahler schützen
könnte.
Ein Steckenpferd altfortschrittlicher und jedenfalls auch, sobald die Frage
wieder einmal brennend wird, neufreisinniger Doktrin ist endlich auch — und
damit wollen wir diese Betrachtungen schließen ^ die Einrichtung des Schwur¬
gerichts. Jeder Gegner desselben gilt ohne weiteres als nicht liberal, durchaus
und allein das Geschwvrncngericht soll das Palladium bürgerlicher Freiheit
auf dem Gebiete der Strafrechtspflege fein. Es läßt sich kaum noch neues
über diese Frage sagen; das aber sollte doch jeder Unbefangene zugeben, daß
der „liberale" Gedanke in der Bewegung, die in Preußen zu der Justiz-
reorganisativu von 1849 führte, nicht sowohl das Schwurgericht als solches,
sondern einerseits die Öffentlichkeit und Mündlichkeit, anderseits die Beteiligung
des Lnienelements an der Rechtsprechung gewesen ist. Diese wirklich liberalen
Gedanken wird auch kein Nativnalliberaler aufgeben wollen, ob aber die Thätig¬
keit des Laienelementes zu ihrem wahren Werte besser in dein gemischten
Schöffen- oder in dem bezüglich der Schuldfrage nur mit Laien besetzten
Schwurgericht gelangen kann, darüber werden auch wirkliche Liberale unter
einander verschiedner Ansicht sein können. Daß die für die gegenwärtige
Justizvrganiscition von den verbündeten Regierungen vorgeschlagen gewesene
Einrichtung des kleine», mittlern und großen Schöffengerichts ein viel logischeres
System war, als der ans dem „Kompromiß" entstandene Zustand, bei dem
ohne jegliche Konsequenz und ohne alle innern Gründe für die kleinen Straf¬
sachen das gemischte, für die mittlern das gelehrte, für die großen das Laien¬
gericht thätig ist, kann überhaupt niemand vernünftigerweise bestreikn. Es
würde hier zu weit führen, die Vorzüge des Schöffengerichts vor dem Schwur¬
gericht und die sehr wesentlichen Nachteile des Schwurgerichts zu erörtern;
das aber gilt es hier wiederholt zu betonen, daß, wer gut liberal im wirklichen
Sinne des Wortes ist, sehr wohl ein überzeugter und entschiedner Gegner
des Schwurgerichts sein kann.
KW
MA»as Volksvermögen ist also nicht dnrch Sparen, sondern allein
durch Arbeit entstanden und wird allein dnrch Arbeit erhalten
und vermehrt. Der Vermögensbcsitz, das Kapital, wie wir von
nun an das durch Sparen entstandene Anrecht auf die Mit¬
benutzung des Vermögens andrer oder auf einen Teil ihres Ein¬
kommens nennen wollen, behält feinen Wert nur, so lange gearbeitet wird.
Hört die Arbeit auf, so hört auch das Vermögen, und mit dem Vermögen
das Nntznießnngsrecht, das Kapital ans. In dem Augenblick, wo die Aus¬
beutung eines Bergwerks durch Naturereignisse verhindert wird, oder wo die
Bergleute sich entschließen, lieber Hungers zu sterben, als weiter zu arbeiten,
andre Bergleute aber nicht zu haben find, in diesem Augenblick siud die Aktien
dieses Bergwerks Makulatur. Dasselbe gilt von den Hypotheken auf ein
Grundstück.
Nun ist es klar, daß durch die Vernichtung aller Vesitztitel, also des
ganzen Kapitals, das Vvlksvermögen auch nicht um eines Pfennigs Wert
verringert werden würde. Wenn alle Hypotheken gelöscht, alle Nentenbriefe,
Aktien und sonstigen Schuldscheine verbraunt würden, und alle großen Güter
und Unternehmungen in den Besitz von Genossenschaften kleiner Leute über¬
gingen, was thäte das den Häusern, Ackern und Fabriken? Sie blieben, was
sie sind. Allerdings auf den weitern Fortgang der Produktion würde die
Veränderung Einfluß üben. Manche Gitter würden besser, manche schlechter
bewirtschaftet werden als vorher; solche Betriebe aber, die weder geteilt werden
können, noch sich für genossenschaftliche Leitung eignen, würden eingehen. Daher
wünschen wir eine solche Veränderung nicht; wir wollten nnr zeigen, daß das
Volksvermögen die Hauptsache, das Nalivnalkapital Nebensache, die Vermischung
und Verwechselung beider theoretisch falsch und praktisch schädlich ist. So
lange es große, mittelmäßige und kleine Geister, so lange es Kluge und Dumme,
Fleißige nud Faule, Sparsame und Liederliche, Besonnene und Unbesonnene
giebt, so lange wird es große, mittlere und kleine Vermögen und daneben
besitzlose Leute geben, so lange werden die Unfähigeren unter der Leitung der
Fähigeren arbeiten und diese Leitung mit einem Teile ihres Arbeitsertrages
bezahlen müssen. Es ist richtig, daß die Größe des Besitzes der Würdigkeit
und Tüchtigkeit des Besitzers in preter, vielleicht in den meisten Fällen nicht
entspricht, aber das Streben nach einer gerechtern Verteilung gehört eben zu
jenen Triebfedern, ohne die das Leben still stehen würde. Ganz unerträglich
ist jedoch der Gedanke, daß Millionen, die weder unfähig noch unwürdig sind
und weder durch Faulheit noch durch Laster ihren Anspruch auf Besitz verwirkt
haben, samt allen Kindern und Kindeskindern bis in die fernsten Geschlechter
vom Besitz ausgeschlossen und zum lebenslänglichen hoffnungslosen Entbehren
verurteilt bleiben sollen, und unwillkürlich sieht sich jeder geistig gesunde um,
ob nicht irgendwo noch Besitz vorhanden sei, mit dem sie könnten ausgestattet
werden.
Es scheint mir, daß welcher vorhanden sei. Zwar den Magnaten können
wir nicht entbehren, der durch erleuchtete Leitung seiner Güter und mit großem
Kostenaufwande deu Fortschritt der Landwirtschaft im Gange erhält, der durch
edeln Luxus die Künste und Wissenschaften fördert, und dem es sein Reichtum
gestattet, sich ohne Anspruch auf Entschädigung dem Dienste des Staates, der
Provinz, des Kreises zu widmen und alle gemeinnützigen Unternehmungen zu
befördern. Ebenso wenig können wir den königlichen Kaufmann missen, der
mit weitschaucndem Blick den Güteraustausch zwischen Ländern und Erdteilen
leitet; ebenso wenig den Erbauer von Schiffen und Lokomotiven, den Schöpfer
großer Eisenwerke, der mit Erfindergenie allen Gewerben neue Bahnen eröffnet.
Aber schon die Besitzer der großen mechanischen Webereien halten wir für
weniger unentbehrlich; sie könnten recht wohl durch Genossenschaften kleiner
Tuchmacher ersetzt werden. Unser heutiges Tuch ist nicht wesentlich besser als
das unsrer Urväter vor sechshundert Jahren; sein einziger Fortschritt besteht
darin, daß es alle Jahre dünner wird; hier giebts keine Mannesmannröhren
zu erfinden. Noch überflüssiger sind die Fabriken, die den Markt mit ungeheuern
Massen elenden Schundes überschwemmen und die guten, festen und schönen
Gewebe verdrängen; was hat die Menschheit von all dein karrirten, gegatterten,
gegitterten und gesprenkelten Zeug? Geschmacksverderbnis, Augenschmerzen und
Ärger, sonst nichts. Ganz entschieden überflüssig sind die Ehrenmänner, die
sich durch eine Reihe von betrügerischen Bankerotten ein Vermögen zusammen-
stehlen, und die ander», die ein Vermögen an der Börse gewinnen. Auch ist
es durchaus nicht notwendig, daß Vermögen, die auf rechtschaffene Weise er¬
worben worden sind, ins Unendliche fortwachsen, lediglich durch die lawinen¬
artige Natur des Kapitals. Wenn ein sparsamer Mann, der jährlich keine
2000 Thaler verbraucht, es zu 200 000 Thalern gebracht hat, dann arbeitet
das Geld für ihn weiter. Ohne daß der Manu einen Finger rührt, ohne daß
er Gutes oder Böses thut, saugt sein Kapital ein kleines Vermögen nach dein
andern aus, vernichtet es einen kleinen Betrieb, ein kleines Geschäft nach dem.
andern. Ein Zehnmillivnenkapital, das in einer Maschinenfabrik, in einem
Bergwerk, in einer Grundherrschaft, im Großhandel steckt und von einem weisen
Manne geleitet wird, das hat Sinn, das mehrt den Volkswohlstand, erzeugt
geistiges Leben und gewährt seinem Besitzer innere Befriedigung. Aber jenes
blind wirkende Kapital des großen Rentners oder das Kapital in einer volks¬
wirtschaftlich wertlosen, vielleicht sogar schädlichen Fabrikanlage, das hat keinen
Sinn und keine innere Berechtigung. Die goldne Internationale endlich wird
zwar immer noch für notwendig erachtet zur Besorgung der Geldangelegenheiten
der Staaten. Aber über kurz oder lang wird auch ihr Stündlein schlagen.
Hat doch der preußische Finanzminister in seiner letzten Etatsrede hervorgehoben,
daß die Durchführung bedeutender Konversionen gelungen sei, ohne daß man
nötig gehabt habe, irgend jemandem die Hand zu drücken oder gar zu vergolden.
Also dieses Kapital könnte zu Gunsten der Besitzlosen und Bedrängten
verschwinden, ohne daß für die Zukunft eine Hemmung oder Verschlechterung
der Produktion und eine Schädigung des Volksvermögens zu fürchten wäre.
Haben wir doch dergleichen Kapitalsvernichtungen oder -Übertragungen oder
wie man das nennen will, schon erlebt; die größte darunter war die Säkula¬
risation. Sie hat in Deutschland und Frankreich den Wohlstand erhöht, weil
die Rechtsnachfolger der geistlichen Nutznießer intensiver wirtschaften. In
England freilich — der Staat hätte es verhüten können — trat das Gegenteil
ein. Dort wurde eine fleißige und glückliche Pächter- und Zinsbauernbevölke¬
rung von den Stiftsgütern heruntergetrieben, weil die Lords es vorteilhafter
und angenehmer fanden, das Ackerland in Schafweide und Jagdgründe zu ver¬
wandeln. Eine zweite solche Eigentumsübertragung, die das Gegenteil der
heute anzustrebenden ist, wurde vor l50 Jahren in Schottland und eine dritte
zu Anfang dieses Jahrhunderts in England vollzogen. Der Herzog von
Sntherlaud nnter andern ließ 3000 Familien, zusammen 15 000 Menschen
austreiben und ihre Hütten niederbrennen. Die zweite und dritte Vanern-
nnstreibung erwähnt Röscher (a. a. O. II. 247 und 370); für die erste findet
man die Gewährsmänner bei Döllinger, Kirche und Kirchen, S. 198 ff. Manche
der Lords haben jetzt die Bequemlichkeit, daß sie zehn deutsche Meilen und
mehr von ihrer Hausthür geradeaus jagen können, ohne daß ihnen ein Bauern-
haus im Wege steht (Ratzinger, Geschichte der kirchlichen Armenpflege, S. 394).
Bei Vermögensiibertragnngen durch blutige Revolution werden immer
Güter zerstört, und die Gilterproduktion wird auf einige Zeit gehemmt. Bei
einer Übertragung auf gesetzlichem Wege braucht keine der beideu Übeln
Folgen einzutreten, wie die Geschichte der Säkularisation in deu Ländern lehrt,
wo sie vou umsichtigen und wohlwollende» Regierungen geleitet wurde. In
unserm Falle ist aber das gesetzliche Verfahren nicht anwendbar, weil es sich
uicht um eine juristisch definirbare Klasse von Besitzern handelt. Was geist¬
licher Besitz ist, läßt sich genau angeben, aber welche der vorhandenen Kapitalien
unfruchtbar sind oder schädlich wirken, das wird sich weder ein Regierungs-,
noch ein Richter-, noch ein Sachverständigenkollegium festzustellen getrauen, und
wo die Ungerechtigkeit des Mammons anfängt, das weiß, von einzelnen ganz
klaren Fällen abgesehen, nur Gott allein.
Zum Glück wird ein Gewaltstreich des Staates gar nicht erfordert. So¬
bald einmal die richtigen Begriffe von Vvlksvermögen und Kapital allgemein
bekannt und überall durchgedrungen sind, wird sich die wünschenswerte Vesitz-
titelübertragung bei jedem tüchtigen, intelligenten und charakterfestem Volke
allmählich von selbst vollziehen auf dein Boden der bestehenden Gesetzgebung,
die nur hie und da ein wenig nachgebessert zu werden braucht. Einige An¬
deutungen werden genügen, den Weg zu bezeichnen.
Wir haben soeben wieder einen Krach hinter uns. Man spricht ja nicht
davon, aber ich weiß aus Privntmitteilungen eines Fachmannes, daß bei dein
plötzlichen Kurssturz der Mvntanaktieu sehr viele Personen große Summen
und manche beinahe ihr ganzes Vermögen eingebüßt haben. Wer den Haudels-
teil der großen Zeitungen verfolgte, der wußte seit Monaten voraus, daß es
so kommen würde, daß nur Schwindel die Aktien zu so unnatürlicher Höhe
emporgetrieben haben konnte. Sogar ein Blatt wie die „Neue Freie Presse"
sah sich durch die Vorgänge an der Berliner Börse veranlaßt, ihren Juliner
die beiden Wahrheiten einzuschärfen, daß die Börse niemals Werte schaffen
kann, und daß beim Vörsenspiel das nicht eingeweihte Publikum immer und
unter allen Umstünden verliert. Natürlich nur den Juliner werden solche
Wahrheiten eingestanden im „Ekvnomist"; im Leitartikel so etwas zu sagen,
werden die kapitalistischen Blätter sich hüten; der Phraseuschwall des Leit¬
artikels hat ja die Bestimmung, durch Fragen der hohen Politik oder durch
den Kampf für Freiheit und Menschenrechte die Aufmerksamkeit der zu rupfenden
Gänse von den Operationen der Börse abzulenken. Wie in Frankreich die
berüchtigte Nothschildgruppe ihre Sang- und Druckpumpe handhabt, um in
gemessene» Zeitabständen der arbeitende» Bevölkerung ihren Nahn: von der
Milch abzuschöpfen, das ist in den Grenzboten schon wiederholt dargestellt
worden. Man braucht sich daher nicht darüber zu wundern, daß in diesen,
mäßig bevölkerten Lande sowohl bei den Bauern wie bei einem Teile der
gewerblichen Bevölkerung über drückende Not geklagt wird; das Land reicht
noch hin, aber ein großer Teil davon ist von den Hundertmillivnären mit
Beschlag belegt, sodaß die Masse der Bevölkerung nicht zum vollen Genusse
des Ertrages ihrer Arbeit gelangt.")
Der Staatsnnwalt interessirt sich für diese Dinge nur dann, wenn ganze
Millionen aus einem öffentlichen Geldinstitut geradezu gestohlen werden, und
besonders wenn einer der Hauptuuternehmer, wie es jüngst in Paris geschah,
noch so ehrlich ist, sich zu erschießen, was dem Gericht seine Aufgabe sehr er¬
leichtert, da mau den Toten als Sündenbock mit der ganzen Schuld beladen
und die Überlebenden frei ausgehen lassen oder mit der ihrer hervorragenden
gesellschaftlichen Stellung entsprechende« Rücksicht zu einer ganz gelinden Strafe
verurteilen kann. Daß die Unternehmer dieser periodischen Rnubzüge vom
Richter nicht gefaßt werden können in einer Zeit, wo die Entwertung einer
mit Essig gefüllten Bierflasche unter Umständen vier Jahre Zuchthaus einträgt
(Thatsache!), das füllt einigermaßen auf. Aber das Publikum braucht nur zu
wollen, dann geht die Sache auch ohne den Strafrichter. Wer es weiß, daß
die Börse keine Werte zu schaffen vermag, daß der innere Wert des Papiers
von dem Werte des Vermögensstücks abhängt, auf das es ein Anrecht giebt,
daß die Sicherheit eines Papiers in umgekehrtem Verhältnis zur Höhe seiner
Verzinsung steht, und daß eine Verzinsung, die sich hoch über den Zinsfuß
der Anleihen eines soliden Staates erhebt, von niemand und durch nichts
verbürgt werden kann, der wird Jndnstrieaktieu nur mit großer Borsicht kaufen,
und ein wenig bemittelter Mann wird seinen Sparpfennig niemals in den
Aktien von Gesellschaften anlegen, deren Verhältnisse er nicht zu übersehen
vermag; er wird nur mimdelsichere Papiere nehmen. Bei solcher Vorsicht der
Bevölkerung werden die Aktien schlecht abgehen; dadurch wird nicht allein die
Veranstaltung von Börsenranbzügen erschwert und zuletzt unmöglich gemacht,
sondern auch die Zahl der Aktiengesellschaften vermindert und hierdurch der
Vernichtung der kleinen Betriebe dnrch die großen Einhalt gethan werden;
denn der besonnene Einzelunternehmer dehnt sein Geschäft nicht gern so weit
aus, daß er es nicht mehr zu übersehen vermag. Man wird sich ferner vor
Börsengeschäften mit dem Auslande nach Möglichkeit hüten (das preußische
Handelsministerium kommt, den von Bismarck gegebenen Anregungen entsprechend,
durch seine Mahnung vom 13. Mai an die Gemeinden, bei Geldbedarf das
inländische Kapital zu bevorzugen, diesem Gesnndungsprvzesse entgegen), und
man wird schließlich auch dem Schuldenmachen des eignen Staates Einhalt
thun. Das Volk wird sich sagen, daß es ja doch die Zinsen, die ihm der
Staat bezahlt, selbst aufbringen muß. Den Bürgern eines Staates sind nur
die Schulden vorteilhaft, die der andre macht, und dessen Gläubiger sie werden.
Bei der gegenwärtigen internationalen Pnmpwirtschaft weiß kein Mensch mehr,
wer eigentlich die Kosten des babylonischen Turmes der goldnen Internationale
bezahlt; schließlich werden die soliden unter den Staaten doch einmal auf eine
Liquidation dringen müssen. Kommen doch beim jetzigen Zustande, wie die
Bimetallisten so oft hervorheben, die Staaten am besten weg, die das schlechteste
Geld haben. (Nicht bei der Verzinsung der Staatsschulden erwachsen ihnen
Vorteile aus dem Disagio, sondern beim Auslandshandel; die Sache gehört
also streng genommen nicht in diesen Zusammenhang, aber doch in die Klasse
der unrechtmäßigen Gewinne.)
Aber wo soll der Rentner seine Ersparnisse anlegen, wenn sich die Zahl
der zinstragenden Papiere vermindert? Nun, wie macht es der Bauer alten
Schlages? Er legt seinen Mehrerwerb in einem verbesserten Acker und einer
vergrößerten Viehherde an, und wenn er nicht mehr arbeiten mag, läßt er sich
vom Sohne den Auszug geben. Warum soll es der Handwerker, der Kauf¬
mann nicht ähnlich machen? Warum soll sich ein deutscher Vater nicht lieber
auf seinen Sohn verlassen als auf ein südamerikanisches Bergwerk, das vielleicht
nur im Prospekt einer Schwindlerbande vorhanden ist?
Wenden wir uns von dem Diebstahl im großen zu jenem Diebstahl im
kleinen, der unter dem wohlklingenden Namen der Kreditwirtschaft sein Un¬
wesen treibt. Rodbertus und Schlüssle halten es für möglich, nicht allein den
Kredit, sondern anch das Geld selbst abzuschaffen. Rodbertus hat ausführlich
gezeigt, wie der Wert der Arbeitsleistung jedes Einzelnen ermittelt und ihm
von einer dafür einzusetzenden Behörde in Form einer Anweisung auf eine be¬
stimmte Menge beliebiger Waren ausgehändigt werden könne. In diesem
Punkte stimme ich jedoch den kapitalistischen Vvlkswirtschastslehrern bei, die,
abgesehen von dem Widerspruch gegen die dabei vorauszusetzende sozialistische
Stnntscinrichtung, es für unmöglich erklären, zu ermitteln, wie viel der Anteil
eines jeden der verschiednen Gewerbetreibenden beträgt, die z. B. an einem
Stiefel gearbeitet haben (Landwirt, Fleischer, Gerber, Lederhändler, Schuster,
Lohmüller und die an der Herstellung von Zwirn, Draht, Pech, Strippen,
Nägeln beteiligten). Man wird die Verteilung, wie bisher, dem natürlichen
Spiel der nach einem Gleichgewichtszustände strebenden verschiednen Kräfte
überlassen müssen. Eins aber könnte und sollte geschehen: der sich zwischen
je zwei der vielen Produktiousstufeu eindrängende Geldverleiher, der einen Teil
des Arbeitsertrages wegnimmt, ohne selbst mit gearbeitet zu haben, der könnte
hinausgeworfen und dadurch der Anteil aller derer, die wirklich arbeiten, am
Arbeitserträge erhöht werden. Der Punkt, von dem die Reform auszugehen
hat, ist die Gewohnheit der Konsumenten, Waren auf Kredit zu nehmen.
Weil der Schuhmacher von seinen Kunden nicht bezahlt wird und kein Bargeld
in der Hand hat, muß er sein Leder auf Borg nehmen, der Lederhändler, den
die Schuhmacher nicht bezahlen, bleibt beim Großhändler hängen, und so ver¬
fallen sie alle mit einander der Schuldknechtschaft. Ob die Zinsherren einzelne
Kapitalisten oder Kreditinstitute oder Vorschußvereine sind, das ist dabei ganz
gleichgiltig. Das erste und dringendste, was die Handwerker und die kleinen
Kaufleute zu erstreben haben, ist die unerbittliche und ausnahmslose Durch¬
führung der Barzahlung. Sehr gefördert würde diese werden durch Einführung
und Vervollkommnung des Checkverkehrs. Wenn jetzt ein angesehener und
einflußreicher Mann mit deu Worten in den Laden tritt: „Ach hören Sie,
meiner Frau gefällt gerade dieser reizende Teppich so gut, und wir haben uns
nicht mit dem nötigen Gelde versehen, weil wir nicht mit der Absicht aus¬
gingen, einzukaufen," so darf der Kaufmann nichts erwidern; er muß das
Stück geben und aufschreiben, wenn er auch im voraus weiß, daß er binnen
Jahr und Tag kein Geld bekommt. Bei durchgeführten Checkverkehr wären
solche faule Ausreden uicht möglich, denn ein Bleistift und ein Stück Papier
finden sich immer und überall. Die Gesetzgebung hätte das Streben nach
Wiederherstellung der Ehrlichkeit im Verkehr — denn das ist es, um was es
sich handelt, sonst nichts — zu unterstützen durch eine bessere Konkursordnnng,
durch Verkürzung oder am besten Abschaffung der Verjährung für kleine
Summen und für alle aus Kaufgeschäften von Nichttaufleuten entsprungenen
Forderungen und durch Beschränkung der Abzahlungsgeschäfte.
Drittens endlich werden die Behörden aufhören, unter dem Einflüsse des
falschen Kapitalbegrisses eine ungesunde Kapitalbildnng zu fördern. Ein paar
Beispiele mögen klar macheu, was wir ungefähr meinem Es gab früher
Dörfer, in denen die Pfarrwidmut der Entstehung eines Proletariats vor¬
beugte. Ist der Pfarrer ein verständiger und menschenfreundlicher Mann, so
verpachtet er seinen Acker in Parzellen von fünf bis zehn Morgen an kleine Leute,
die sich nebenbei durch Maurer-, Zimmer- oder Tagelöhnerarbeit etwas ver¬
dienen und so ihre ausreichende und anständige Nahrung haben. Das kann
der Pfarrer aber nur so lange, als er freie Hand hat. Wo ein Kollegium oder
eine Behörde entscheidet, da halten sich diese für verpflichtet, ihm und seinem
Nachfolger das höchstmögliche Einkommen zu sichern. Ebenso wird es mit
dem Kirchenacker gehalten, wovon die Grenzboten in Ur. 22, Seite 390 ein
hübsches Beispiel erzählen. Pfarr- und Kirchenacker, werden also nach dem
herrschenden kapitalistischen Grundsatz an deu Meistbietenden verpachtet. Der
Meistbietende ist entweder der Dominialherr, der sich abrunden will, oder ein
reicher Bauer, der den armen Leuten das bißchen Acker nicht gönnt. Den
zwanzig bis dreißig armen Familien wird die Grundlage ihrer Wirtschaft
entzogen, und die heimatlosen Proletarier sind fertig. Solche Verwendung
des Kirchengnts widerspricht schnurstracks seiner ursprünglichen Bestimmung.
Denn nach altchristlicher Anschauung ist es das Mtrinrmrium xmiperum, und nach
germanisch-nnttclalterlicher die materielle Grundlage für jene vielseitige Thätig¬
keit im Dienste des Staates, des Volkes und der Kultur, die beim Fehlen
eines Beamtenstandes und aller sonstigen Staatseinrichtungen der Geistlichkeit
oblag. Dafür haben die heutigen Behörden ganz das Verständnis verloren.
In der kapitalistischen Auffassung unsrer Zeit befangen, fragen sie bei den
Kirchengütern und bei sonstigen Vermögensstücken des Staates, der Provinzen
und Gemeinden nicht darnach, bei welcher Verwendungsart der größte Nutzen
fürs Gemeinwohl, fürs Volksvermögen herauskommt, sondern wie der höchste
Ertrag für den augenblicklichen Nutznießer zu erzielen sei. „Rentabilität" ist
die Losung. Wenn man eine größere Summe aus der Tasche der Kirchen-
ackerpächtcr in die Kirchtasfe, oder aus der des Dvmünenpächters in die
Staatskasse übergeführt hat, so bildet mau sich ein, das Nationalvermögen
vergrößert zu haben!
Zum Meistbietenden paßt der Mindcstfordernde. In der Koufliktszeit
war ich mit einem Glasermeister befreundet, der seiner konservativen Gesinnung
wegen bei der Regierung sehr gut angeschrieben stand. Zu meinem Erstaunen
erfuhr ich gelegentlich einmal, daß er niemals bei Regierungsbauten beschäftigt
werde. Auf meine Frage, wie das komme, erwiderte er: „Das ist doch sehr
einfach. Alle Arbeiten bei Regierungsbauten werden an den Mindestfordernden
vergeben. Es findet sich um stets entweder ein Dummkopf, der bei der Sache
zusetzt, oder ein Schurke, der entschlossen ist, seine Lieferanten oder den Bau¬
herrn oder Beide zu betrügen. Und da ich weder ein Dummkopf noch ein
Hallunke bin, so sehen Sie wohl ein, daß ich nicht nutbieten kann." Seitdem
ist es ja besser geworden; die Behörden pflegen Gebote, die sich unter den
Voranschlag verirren, nicht mehr zu berücksichtigen. Aber wie viel Vermögen
ist vor dein Eintritt der Besserung durch die „Submissionen" ans ehrlichen
in unehrliche Hände übergeführt worden! Im besten Falle förderte diese Praxis
immer noch die Vernichtung der Kleinen dnrch die Großen. Denn höchstens
sehr reiche Unternehmer kamen mit heiler Haut davon, weil sie sich die Ma¬
terialien außerordentlich billig beschaffen und mit einem ganz geringen Ge¬
winn vorlieb nehmen konnten.
Daß von den gegenwärtigen hohen Kvhlenpreisen nicht die Grubenbesitzer
den Borten ziehen, sondern die wenigen Großhändler, die den Kvhlenhandel
monopolisirt haben, die den Preis zu machen stark genug sind, und denen die
Förderung aller Gruben ans Jahre hinaus vertragsmäßig gehört, ist allgemein
bekannt. Die „Schlesische Zeitung" sprach in Ur. 373 die Ansicht ans, daß
bei längerm Anhalten der hohen Kohlenpreise und weiterer Steigerung der
dadurch hervorgerufenen Ansprüche des Arbeiterkindes der Ruin unsrer Erport-
iudustrie unausbleiblich sei. Im Verlauf ihrer Ausführungen bemerkte sie
uoch: „Die Hoffnung, daß die oberste« Verwaltungsbehörden mittels der fis¬
kalische» Gruben energisch diesem Treiben entgegenarbeiten würden, hat sich
als illusorisch erwiesen." Dazu hat sich eben der falsche Kapitalbegrisf zu tief
eingefressen, als daß es irgend eine Behörde vor ihrem Gewissen verantworten
könnte, bei einem Staatsbetrieb einen sich darbietenden augenblicklichen Geschäfts-
vvrteil von der Hand zu weisen; daß die Rentabilität der Kapitalanlage nicht
selten die Vernichtung des Vermögens bedeutet, das muß erst uoch gelernt
werden. Wir fügen noch bei, daß in Frankreich der Grundbesitz 17, die In-
dustrie 8, das mobile Kapital Prozent Steuern zahlt.
Nicht einmal die richtige Einsicht in die Vermögenslage des Landes ist
zu gewinnen, so lauge sich die Behörde» von dein falsche» Kapitalbegriff be¬
herrsche» lassen. Wenn nicht selten die vorhandenen Wertpapiere mit zum
Vermögen gerechnet werden, so beruht das auf der wahrhaft kindlichen An¬
schauung, als ob diese Papiere neben dem Volksvermögen für sich uoch etwas
wert wäre». Das ist gerade so, als wollte man ein Banergnt, das 29000
Thaler wert ist, auf 35000 Thaler abschätzen, weil 15000 Thaler Schulden
darauf lasten. Der Wert der Wertpapiere steckt im Werte der Häuser, Äcker,
Eisenbahnen u. s. w. drin; neben diesen Realien sind sie nichts als Makulatur.
Nur die ausländischem Wertpapiere, d. h. also die Anweisungen auf im Aus¬
lande liegende Landgüter, Bergwerke, Eisenbalmeu u. s. w. sind bei Berechnung
des Nationalvermögens zu deu heimischen Gütern hinzuzuzählen; dafür aber
müssen die deutschen Wertpapiere abgezogen werden, die sich in ausländischen
Händen befinden. Ans demselben Irrtum entspringt es, daß immer noch das
Wachstum der Sparkasseneinlagen sür gleichbedeutend gehalten wird mit dem
Wachstum des Vermögens der Fabrikarbeiter, Kleiuhandwerker, Tagelöhner
und Dienstboten. Abgesehen davon, daß auch viele wohlhabende Leute einen
Teil ihres Geldes vorübergehend in die Sparkasse legen, wäre das Sparkassen¬
kapital mir dann als Maßstab für das Vermögen der untersten Klassen zu
gebrauchen, wenn man gleichzeitig wüßte, wie es mit ihrem übrigen Vermögen
steht. Wenn zwei Millionen Arbeiter und Dienstboten zweihundert Millionen
Sparlasseukapital besitzen, so macht das hundert Mark auf deu Kopf und fünf¬
hundert Mark auf die Familie, und wenn das ihr ganzes Vermögen ist, so
sind sie eben nur Proletarier; Hausrat und Kleider einer anständigen Hand-
werkerfamilie sind allein schon viel mehr wert. Vor fünfzig Jahren waren
nnn vielleicht die Bäter der meisten dieser Sparkassenkapitalisten ländliche oder
kleinstädtische Ackerstellenbesitzer, deren Anwesen in Geld auf zwei- bis sechs¬
tausend Mark abgeschätzt, in Wirklichkeit aber als sichere Grundlage der
Existenz viel mehr wert war. Durch die alten Höfeordnnngcn war ganz
genan vorgeschrieben, nicht allein was der Hörige dein Herr» an Arbeit zu
leisten, sondern auch, was der Herr dem Hörigen an Deputat zu gewahren
hatte, und das war immer so bemessen, daß sich dessen ganze Familie an
kräftiger Kost satt essen konnte. War ein solches Deputat mit einem Hänschen
nicht zehnmal mehr wert, als fünfhundert Mark Geld bei völliger Existenz¬
unsicherheit?
Ein zweiter Lehrsatz Adam Smiths lautete: Selbstsucht ist die einzige
Triebfeder des Handelns; Wohlwollen und Nächstenliebe sind nur Vorwände.
Eine Handlung wie die Freilassung von Sklaven kann niemals aus Nächsten¬
liebe hervorgehen; wo Sklaven freigelassen werden, da geschieht es, weil die
Sklavenhaltnug nicht mehr vorteilhaft ist. Indem jeder mir seinen eignen
Nutzen verfolgt, befördert er zugleich das Wohl seiner Nebenmenschen weit
wirksamer, als wenn er sich für diese aufopferte; unmittelbare Fürsorge für
andre durch Unterstützung und wohlwollende Bevormundung richtet uur Unheil
an. Folge uur jeder seinen selbstsüchtigen Trieben und kümmere sich sonst um
nichts, so kommt dabei das höchste erreichbare Wohl aller heraus; denn so
hat der Schöpfer die Welt nun einmal eingerichtet.
Eine willkommnere Predigt hatten die englischen Lords und Fabrikanten
noch nie im Leben vernommen. Man kann sich denken, mit welcher Andacht
sie sie anhörten und mit welchem Eifer sie sie befolgten. Wenn die Lords
nun ihre Pächter von Haus und Hof trieben und so Bettlerhorden schufen,
die in Arbeitshäuser gesperrt, dort schlimmer als Zuchthäusler behandelt und
samt ihrem unglücklichen Nachwuchs an die Fabrikanten verschachert wurden,
die so viel Arbeit aus ihnen herauspreßten, als sich aus stets hungernden,
schwindsüchtiger und stumpfsinnigen Menschen Heranspressen läßt, so genossen
beide, Lords wie Fabrikanten, zum Vergnügen und zum Vorteil auch noch
das erhebende Bewußtsein, dein Gemeinwohl gedient und das Wohl ihrer
Nebenmenschen gefördert zu haben. Früher hatte die Arbeit als eine per¬
sönliche Leistung gegolten, die zu einer entsprechenden Gegenleistung verpflichtete,
und die Gegenleistung mußte so bemessen sein, daß der Arbeiter als Mensch,
und wenn er verheiratet war, als Familienvater bestehen konnte. Nach den
Gesetzen der Königin Elisabeth, die die althergebrachten Jnnungsordnungen
aufzeichne« ließ, durfte die tägliche Arbeitszeit zwölf Stunden nicht über¬
schreiten, hatten die Friedensrichter und Stadtvbrigkeiten die Streitigkeiten
zwischen Meistern und Gesellen oder Lehrlingen zu schlichten und alljährlich
den Lohn festzusetzen in solcher Höhe, „daß er sowohl in Zeiten des Mangels
als des Überflusses für die Bedürfnisse des Arbeiters hinreichte." Unter dein
Einflüsse Smiths aber wurde die Arbeit zur Ware, deren Preis sich nach dem.
Gesetze von Angebot und Nachfrage richtete, und wobei die Persönlichkeit des
Arbeiters gar nicht mehr in Betracht kam. Für den Fabrikanten gab es keine
arbeitenden Menschen mehr, sondern nur noch Hände, die mehr oder weniger
billig zu haben waren, und deren Preis durch allerlei Veranstaltungen so tief
wie möglich herabgedrückt werden mußte. Früher hatte man gefragt: Wie viel
braucht Heuer der Mensch zum Leben? Von nun an fragte man: Für wie
wenig kann ich heute auf dem Nrbeitsmnrkte Hände kaufen? Was der Aus¬
beutung Grenzen setzte, war weder Mitgefühl, noch Genüssen, noch Rücksicht
aufs Gemeinwohl, sondern einzig und allein die physische Unmöglichkeit. Ju
der Maschinenspitzenindustrie ist ein Fall von regelmäßiger Beschäftigung eines
zweijährigen Kindes nachgewiesen worden. Damit hatte man die äußerste
Grenze erreicht. I» Belgien kommt es heute noch vor, daß fünfjährige Kinder
vierundzwauzig Stunden lang ununterbrochen beschäftigt werden; diese That¬
sache wird in einer Petition deutscher Fabrikanten um Erhöhung des Eingangs¬
zolls ans Leinenzwirn erwähnt, die dem jetzigen Reichstage zugegangen ist.
Es wird darin u. a. gesagt, nur durch schwarzen Kaffee und durch ununter-
brochenes Singen würden die kleinen Wesen munter erhalten. Man wird wohl
noch andre Mittel anwenden. Röscher erzählt von Industrien in Nord-
frankreich, deren „Blüte" auf dem Ochsenziemer beruht, mit dem die beschäftigten
Kinder zu unnatürlichen Anstrengungen gezwungen werden.
Als theoretische Ergänzung entgegengesetzter einseitiger Ansichten und als
praktisches Gegengewicht gegen katholische Almosenwirtschaft und büreaukratische
Allregiererei kann man sich die Lehre des berühmten Schotten gefallen lassen.
Aber wo sie zur Alleinherrschaft gelangt, da richtet sie größeres Unheil an,
als irgend eine andre Einseitigkeit. In Deutschland hat sie, dank unserm viel¬
seitigen humanen Volksgeiste und unsern gewissenhaften Regierungen, niemals
allgemeine und unbedingte Geltung erlangt. Die gottlose englisch-amerikanische
Bezeichnung „Hände" für Arbeiter hat niemals Eingang gefunden. Nur
schüchtern wagt sich der ihr zu Grunde liegende Gedanke in dein Mvdeworte
Arbeitskraft hervor; leider macht man auch in sehr hohen Kreisen davon Ge¬
brauch und sucht selbst für hervorragende Stellen nicht mehr einen tüchtigen
Mann, sondern eine tüchtige Kraft. Im allgemeinen aber ist der Grundsatz,
daß auch der geringste Mensch noch als Mensch anzusehen und zu behandeln
sei, bei uns weder von den Brodherrn, noch von den Gesetzgebern, noch von
der Verwaltung, noch von den Männern der Wissenschaft verleugnet worden,
und viele Großindustrielle haben schon vor dem Ausbruch der sozinldemo-
kratischcn Bewegung in musterhafter Weise für ihre Arbeiter Sorge getragen.
Seinen stärksten Ausdruck hat der Grundsatz bei uns im Schulzwang gefunden,
gegen den sich in England die Großindustriellen lange mit Händen und Füßen
gesträubt haben, sodann in der allgemeinen Wehrpflicht und im allgemeinen
Stimmrecht.
Demnach hat die Berichtigung dieses zweiten Begriffs, der menschlichen
Arbeit, für uns Deutsche bei weitem uicht die Wichtigkeit wie die des ersten.
Es handelt sich weniger darum, den falschen Begriff zu überwinden und aus¬
zutreibe», als thu abzuwehren, so oft er einzudringen versucht. Und das ver¬
sucht er allerdings auch heute noch, wie u. a. das in den letzten Berichten
der Fabrikinspektoren bezeugte Überhandnehmen übermäßiger Beschäftigung von
Frauen beweist. Wir erfahren da, daß viele Frauen in den Fabriken zwölf
bis sechzehn Stunden täglich beschäftigt werden und zuweilen auch noch Über¬
stunden leisten müssen. Wo das geschieht, da wird die Frau uicht als Person,
sondern nur als Arbeitskraft behandelt. Denn erstens ist es erwiesen, daß der
weibliche Körper eine so übermäßige Austreugung nicht lange aufhält, sondern
dadurch frühzeitigem Siechtum verfällt. Zweitens sind viele dieser Arbeiterinnen
verheiratet. Da aber von einem Familienleben dort nicht mehr die Rede sein
kann, wo die Fran zwölf bis sechzehn Stunden in der Fabrik steckt, wo es
keine Haushaltung und keine leibliche Besorgung der Kinder, geschweige denn
Kindererziehttng mehr giebt, so wird die Frau, wenn sie nicht am Ende gar
auch noch die Nacht über in der Fabrik bleibt, zur Konkubine herabgewürdigt,
und weder die standesamtliche Beglaubigung noch der kirchliche Segen vermag
den solchergestalt vernichteten Inhalt der Ehe zu ersetzen. Die Sozialdemo-
kraten ziehen daher nur die unvermeidliche Folgerung ans diesem Zustande,
wenn sie die zur leeren Formalität herabgesunkenen Rechtsformen vollends
beseitigt wissen wollen. Wo man Verhältnisse duldet, die der Arbeiterfrau
uicht mehr gestatten, Hauswirtin und Mutter zu sein, da ergiebt man sich dem
falschen englischen Begriff der Arbeit und des Arbeiters. Ähnliches kommt
auch schon in der Landwirtschaft vor. Sonst ist das Verhältnis des echten
dentschen Gutsherrn zu seinen Arbeitern immer würdig und menschlich gewesen
anch in der Zeit, wo diese Arbeiter noch seine Hörigen waren. Er fühlte sich
verpflichtet, in väterlicher Weise für sie zu sorgen und sich um ihr Schicksal
zu kümmern. Er würde keine Wöchnerinnen beschäftigt, die Kinder nicht der
Schule entzogen und die Alten und Gebrechlichen nicht haben betteln gehen
lassen. Seitdem aber die Industrie auch in die Landwirtschaft eingedrungen
ist, hat sich vieles geändert. Manche industriellen Großgrundbesitzer — oder
ihre Generaldirektoren — befolgten vor Erlaß des Gesetzes über die Alters¬
versicherung die Praxis, Arbeitern und Unterbeamten, die längere Zeit bei
ihnen im Dienst gestanden hatten, unter irgend einem Vorwande zu kündigen,
um den Verpflichtungen zu entgehen, die ihnen aus dem Gesetz über den Unter-
sttttznngswvhnsitz oder auch uur aus Anstandsrücksichten erwachsen konnten.
Früher wurde überall den Tagelöhnerfranen eine zweistündige Mittagspause
bewilligt, damit sie ihrer Familie ein bescheidenes Mittagsmahl bereiten könnten.
Heikle gönnt man ihnen auf vielen Gütern nur noch eine Stunde; damit fällt
das Familienmahl, ein wesentliches Stück Familienleben, hinweg. Der heutige
Gutsbesitzer rechnet eben, was ihn jede Stunde kostet, während deren die
menschliche Maschine feiert. Wird sie zu schnell abgenützt, so hat er ja die
neue uicht anzuschaffen, da sie sich ihm umsonst anbietet. Erst seit Erlaß des
Gesetzes über Invaliden- und Altersversicherung hat er ein Interesse daran,
der allzuschnellen Abnutzung vorzubeugen. Dabei ist fast überall an die Stelle
des Deputats der Geldlohn getreten. Früher wurde nur ein Geringes an
Gelde gezahlt, dafür aber ohne Rücksicht auf hohe und niedrige Preise so viel
um Körnern, Kartoffeln, Milch, Butter, Schweinemast geliefert, als die Familie
zum Leben brauchte. Heute bekommen die Leute den ortsüblichen Tagelohn;
ob der zum Leben hinreicht, darum kümmert sich kein Mensch.
Gewiß wird die Selbstsucht immer, auch in Deutschland, die mächtigste
aller Triebfedern bleiben, und im allgemeinen gedeiht ja auch alles um besten,
wenn jeder sich um seine eignen Sachen kümmert, seinen eignen Nutzen fördert
und, sich störender Einmischung enthaltend, die übrigen für sich selber und
Gott für alle sorgen läßt. Und auch das ist richtig, daß edle Absichten oft
genng nnr Vorwande der Selbstsucht sind. Als die Großindustriellen billige
Arbeitskräfte brauchten, wurden sie feurige Liberale, schwärmten für die Be¬
freiung des an die Scholle gebundenen Menschen und setzten die Freizügigkeit
dnrch. Die Gutsbesitzer aber, die so eiues Teils ihrer Arbeiter beraubt worden
sind, fühlen jetzt plötzlich tiefes Mitleid mit den heimatlos gewordenen, und
möchten gern jeden mit einem Gütchen beschenken, wenn nur der Staat oder
sonst jemand das Land dazu hergäbe. Wir lassen uns das bißchen Heuchelei
gern gefallen. Auch diese Heuchelei ist nnr eine der Tugend dargebrachte
Huldigung. Zudem ist sie gar nicht reine Heuchelei, sondern es ist ihr viel
Tilgend beigemischt. Denn es giebt unter den industriellen Liberalen genng,
die die Freiheit aufrichtig lieben, und genng Gutsbesitzer, denen es Herzens¬
sache ist, für Erhaltung oder Wiederherstellung eines seßhaften, christlichen,
sittsamen und glücklichen Tagelöhnerstandes zu sorgen. Jeder pflegt eben die
Tilgenden, die am besten zu seiner Lage passen und die seinem Nutzen am
wenigsten im Wege stehen. Die Selbstsucht ist much in diesem Falle so wenig
ein Übel, wie irgend einer der einzelnen Naturtriebe, die in ihr zusammen¬
fließen; nur hat sie die Schranken zu achten, die ihr dnrch Mitgefühl, Pflicht
und Gewissen gezogen werden. Diese Schranken niedergerissen und die Allein¬
berechtigung der zügellosen Selbstsucht zum volkswirtschaftlichen Dogma gestempelt
zu haben, ist die schlimmste nnter den Verschuldungen der englischen Schule.'
Nicht allein die Auffassung der Arbeit lind die Behandlung des Arbeiters
wurde von dieser Selbstsuchtslehre in unheilvoller Weise beeinflußt, sondern
auch der Begriff der Produktion und diese selbst. Smith erklärt bekanntlich
jede Einmischung des Staates und andrer Obrigkeiten in die Produktion, die
ganz dem freien Spiel der Kräfte, d. h. der selbstsüchtigen Individuen über¬
lassen bleiben müsse, für verderblich. In der Anwendung dieses Grundsatzes
trieben die englischen Fabrikanten die Heuchelei bis zu einem Grade, der Ent¬
schuldigungen, wie die oben angeführten, völlig ausschließt. Wie die Herren
das freie Spiel verstanden, wie sie alle Freiheit sür sich allein nahmen, und
den Arbeitern nicht das kleinste Restchen davon gönnten; wie sie alle zum
Schutze der Arbeiter erlassenen Gesetze aufhoben, ohne die Koalitionsfreiheit zu
gestatten, durch die sich die Arbeiter hätten selbst schützen können, ist u. a. aus
Lujo Vrentmws Buch über die englischen Gewerkvereine (Arbeitergilden der
Gegenwart) bekannt. Nur ein Stück des verzweifelten Kampfes mag hervor¬
gehoben werden. Obwohl 300000 Petitionen für Aufrechterhaltung der
Lehrlingsgesetze (die die Verdrängung der gelernten durch ungelernte Arbeiter
hinderten) eingegangen waren, setzten dennoch die 2000 Fabrikanten im Jahre
1814 die Aufhebung dnrch; die Parlamentskommission erklärte, jene Petitionen
seien „gegen die jetzt allgemein anerkannte,: wahren Grundsätze des Handels."
Brentano sagt nun sehr richtig, nicht die Aufrechterhaltung der Lehrlings¬
paragraphen würde eine unberechtigte Einmischung des Staates gewesen sein,
vielmehr sei die Aufhebung eine solche gewesen. Von Einmischung könne doch
nur da die Rede sein, wo jemand die Angelegenheiten eines andern Wider
dessen Willen ordnet, was allerdings der Fall sei, wenn die Staatsbehörde
außerhalb des Volles und diesem feindlich gegenübersteht. Wo aber der Staat
nichts andres ist als das organisirte Volk, und die Negierung den Willen der
Mehrheit des Volkes erfüllt, da sei es lächerlich, von Einmischung zu sprechen.
„Fürwahr — sagt Brentano —, mit Ekel wendet man sich von dieser mit dem
Scheine der Volksherrschaft sich brüstenden Verfolgung von Klasseninteressen ab,
wenn man in Schmollers trefflicher Geschichte der deutschen Kleingewerbe liest,
wie in Preußen eine Regierung, die keineswegs das Volk zu vertreten vorgab,
durch weise Gesetze den Übergang von der Klein- zur Großindustrie förderte,
ja herbeiführte, zugleich aber der unter dieser Veränderung leidenden nicht
vergaß. Hütte die Gesetzgebung in England aus ähnliche Weise, den Verhält¬
nissen folgend und sie fördernd, ab und zu eingegriffen, so hätte sie dem
Lande die Segnungen der Freiheit der Industrie doch allmählich verschaffen
können, ohne seine Bevölkerung den heftigsten Konvulsionen und unsäglichen
Leiden auszusetzen."
Freilich ist es nicht die schottische Nationalökonomie, sondern die Dampf¬
maschine gewesen, die unsre moderne Produktion desvrganisirt hat; aber auf
die Lehren jener Schule gestützt möchten die sogenannten Manchefterlente uns
noch heute einreden, daß die Zersetzung der Jdealzustand sei und daß sie bei¬
leibe nicht durch eine Neuorganisation rückgängig gemacht werden dürfe. Die
Zersetzung hat zweierlei bewirkt: sie hat die Produktion ihres sittlichen Inhalts
beraubt, und sie hat sie planlos gemacht.
Mit dem für seine Zeit ganz neuen Begriffe des Berufes hat der Apostel
Paulus der Menschheit ein Geschenk gemacht, dessen unendlich reichen Inhalt
nach allen Seiten hin zu würdigen hier nicht der Ort ist. Genug, das mittel¬
alterliche Bürgertum hatte diesen Begriff in Fleisch und Blut aufgenommen;
das Handwerk und der Handel wurden als ein Amt im Dienste des Gemein¬
wesens geübt und die Zunft nicht selten Andacht oder Ampt genannt. Der
neu aufzunehmende Bürger mußte geloben, sein Amt zu der Stadt Nutzen
auszuüben. In den Jnuungsstatuten wird das nicht selten ausgesprochen.
Ani einen Gegenstand zu erwähnen, für den wir Deutschen uns bis auf den
heutigen Tag das feinste Verständnis bewahrt haben: in den Weinordnnngen
wird den Schenkwirten und Wein Händlern gesagt, sie hätten dafür zu sorgen,
daß sowohl der Bürger wie der Handwerker (die Handwerker waren anfänglich
noch nicht Bürger) jederzeit sein Glas guten und reinen Weines finde. Daß
diese Ämter nicht immer treu verwaltet wurden, versteht sich von selbst,
allein die Untreue wurde als solche empfunden und nnter Umständen streng
bestraft. Der Verdienst des Gewerbtreibenden stellte demnach seine Besoldung
für Verwaltung eiues Gemeindeamtes dar. Mit dem äußern Lohne verband
sich der innere Lohn der Befriedigung über das Geleistete und der Standes¬
ehre. Die Befriedigung war natürlich am größten in den Handwerken, die
eine gewisse Kunstfertigkeit erforderten, und sehr viele Handwerker waren ja
wirkliche Künstler.
Das kennt mau heute kaum mehr. Fast niemand arbeitet mehr, um einen
Beruf zu erfüllen (thuts einer, so darf er es nicht merken lassen, sonst wird
er ausgelacht), sondern um Geld zu verdienen. Anhänglichkeit an die Vater¬
stadt, beinahe auch an das Vaterland, an eine bestimmte Beschäftigung, liebe¬
volles Versenken in eine Arbeit gilt als Thorheit. Der Gewerbtreibeudc muß
vor allem Geschäftsmann sein, und der Geschäftsmann hat lediglich zu fragen:
wo, wie, womit verdiene ich in kürzester Frist das meiste Geld? Auf den
jederzeit „rentabelsten" Gegenstand muß er sich wie ein Habicht stürzen; und
es muß ihm völlig gleichgiltig sein, ob er Damenhüte oder Schuhwichse,
Nenaissanceschränke oder Streichhölzer, Knnstdünger oder Futter für ueuigleits-
lüfterue Zeitungsleser „produzirt." Zögere er auch nur einen Augenblick, eine
ihm liebgewordene Arbeit hinzuwerfen, wenn ihm bei einer andern ein paar
Thaler mehr Profit winken, oder Schund zu liefern, wenn Schund „gefragt
ist," so gilt er nicht allein für einen Narren oder wenigstens einen unprak¬
tischen Menschen, sondern unter Umständen auch für einen gewissenlosen Familien¬
vater. Schäffle ist der Ansicht, daß die Gewerbe in vollkommnerer Weise als
früher organisirt werden, und die Gewerbtreibenden nicht mehr auf Geschäfts¬
oder Spekulationsgewinn, sondern auf eine Art Besoldung angewiesen werden
sollten; und er fügt hinzu: „Aus ist es nicht begreiflich, daß die Schichten,
welche schon in der Stellung wissenschaftlicher, kirchlicher, pädagogischer, mili¬
tärischer und staatlicher Berufsarbeit stehen, durch diese Aussicht bis zum
Heulen und Zähneklappern sich aufrege» lassen." (Bau und Leben des sozialen
Körpers, III, !x!7.) Wir möchte» dem staatssozialistischen Gewerbebetrieb nicht
das Wort reden. Aber was hindert uns, jeden für sich, zur christlichen Auf¬
fassung der gewerblichen Arbeit als einer Bernfsübnng im Dienste des Ge¬
meinwohls zurückzukehren und auf das Jagen nach der höchsten Rentabilität
zu verzichten? Unzählige Auswüchse des Erwerbslebens würden dadurch abge¬
schnitten werden, und gelangte die erneute alte Auffassung zur Herrschaft im
Volke, so würden dadurch sehr viele jener Kanäle verschlossen werde», durch
die Fabrikanten von Schundwaren und listige Spekulanten den Arbeitsverdienst
ehrlicher fleißiger Leute in ihre eignen Taschen leiten.
Vor wenigen Jahren noch durfte niemand vom Organisire» der Produktion
sprechen, wen» er nicht entweder als Svzialdemokrnt oder als ein ganz ver¬
kommener reaktionärer Zünftler gebrandmarkt werden wollte. Heikle sind wir
schon el» wenig weiter. Man hält das bisherige Prvduziren frisch drauf los
und ins Blaue hinein, wobei niemand weiß, ob und wo er seine Ware absetzen
wird, ob ihm nicht morgen el» Konkurrent i» Nordamerika oder Indien sein
Brot wegschnappen, ob nicht übermorgen eine neue Erfindung sei» ganzes
Gewerbe vernichten wird, man hält es nicht mehr für eine» idealen Zustand.
Einige Übersicht gewährt den, Geschäftsmanne schon die ge»a»e geographische
Kenntnis aller Länder des Erdkreises und die bequeme Verbindung mit ihnen.
Es kann nicht mehr vorkommen, daß jemand eine Schiffsladung Schlittschuhe
nach Brasilien schickt, was vor zweihundert Jahre» el» Holländer zu thun noch
dumm genug war. Und wenn eine Brauerei ihre Produktion plötzlich ver¬
vierfachen will, so erkundigt man sich, ehe man Aktien zeichnet, wo das mehr
gebraute Bier abgesetzt werden soll. Wer Anno 1872 so vorsichtig gehandelt
hätte, würde als ein hinter seiner Zeit zurückgebliebener Spießbürger über die
Achsel angesehen worden sein. Seit einige» Jahren haben sich ferner industrielle
Trusts, Ringe und Kartelle gebildet zur Regelung der Produktion; sie bestimmen
die Menge Ware, die jeder Teilnehmer zu erzeugen hat, sie beherrschen das
Absatzgebiet, indem sie die außerhalb des Ringes stehenden vernichten, dann,
voll keinem Konkurrenten mehr beschränkt, den Preis mache» und jedem Mit¬
gliede lohnenden Absatz sichern. Wir lassen dahingestellt, ob diese Art von
Organisation die richtige und dem Gemeinwohl förderlichste sei (verkaufen doch
unsre Eisenkartelle ihr Eisen im Auslande billiger als daheim); jedenfalls muß
den ander» billig bleibe», was jene» recht ist, und wenn sich die Handwerker¬
zünfte in ähnlicher Weise verbinden, so kann und darf es die Großindustrie
nicht hindern. Möge» doch alle Kräfte frei spielen! Aber sie müsse» wirklich
frei sei», und das sind sie nicht, so lange nnr die Großindustrielle» und Gro߬
händler sehend, die Kleinen aber aus Unkenntnis des Marktes mit verbundne»
Augen spielen. Daher ist es sehr da»ke»swert, daß die Regierung el» Arbeits-
»achweiseamt einrichten will. Dies wird sich hoffentlich z» eitlen alle gewerbliche»
Angelegenheiten nmfasseiide» Nachrichtenamt ailsmachse», vo» dem die Innungen
alles erfahren könne», was jeder von ihnen zu wissen nützlich ist: den Bedarf
an Meistern, Gehilfen und Lehrlingen jedes Gewerkes an jedem Orte; den
Stand der Nachfrage nach gewissen Waren ans den verschiednen Handelsplätzen,
die besten Bezugsquellen für Rohstoffe, die neuen Erfindungen, den Modewechsel
»ut vieles andre. Es wird sich noch fragen, ob nicht ein dezentrnlisirter
Nachrichtendienst vorteilhafter sei in der Weise, daß den verschiednen Innungen
eine Anzahl verschiedner Stellen bezeichnet werden, an denen sie über verschiedne
Gegenstände oder Länder zuverlässige Auskunft erlangen können; jedenfalls
aber werden wir mit dieser Einrichtung! einer Organisation der Arbeit näher
kommen, die nichts Kommunistisches an sich hat; und damit wird wieder eine
der Fallen geschlossen sein, in denen bisher die Kleinem gefangen wurden zur
Bereicherung der Großen.
Wir sahen: durch bessere Verteilung der Bevölkerung über das Laud, die
ein guter und natürlicher Geschmack nicht wenig fördern würde, durch erfolg¬
reiche Kolonisation, durch die Anwendung richtiger nationalökonomischer Begriffe
im Erwerbsleben könnten die meisten der Übel, die wir mit dem Ausdrucke
„soziale Frage" meinen, geheilt werden. Eine solche Heilung würde sehr all¬
mählich und geräuschlos vor sich gehen, würde sehr lange dauern und setzt
die Mitwirkung der Mehrzahl der Volksgenossen voraus. Aber n>er eine andre
Heilung erwartet, eine plötzliche Wunderkur, der kennt weder das Menschenleben
noch die Natur. Der Leibnizische Satz, daß sich alle großartigen Veründernngen
im unendlich kleinen ereignen, gilt für den Gesellschaftskörper so gut wie für
die Sonnen und Planeten und für den Tier- oder Menschenleib. Jedermann
weiß heilte, daß es nicht der Arzt ist, der da heilt, sondern die Natur; daß
der Arzt den Heilungsprozeß nnr leiten und überwachen, vielleicht hie und
da den ersten Anstoß dazu geben kann. Ist in einer Krankheit die Natur¬
heilkraft unsers Leibes zu schwach, oder, um uns modern-U'issenschastlich aus¬
zudrücken, lassen sich unsre guten Mikroben von deu bösen auffressen, weil sie
zu schwach und zu wenig zahlreich sind, nur ihre Geguer zu verdauen, so ists
um uns geschehen, lind überwogen im Körper des deutschen Volkes die
schlechten Elemente, womit Nur nicht die Sozialdemokraten meinen, sondern die
bösartigen, schwachen, kranken, thörichten Menschen aller Stände nud Parteien,
so könnte uns kein Kaiser und kein Papst, kein Diktator und kein Reformator
helfen. An der Lebenskraft des deutscheu Volkes zu zweifeln und seine wirt-
schaftlichen Gebrechen für unheilbar zu halten, das wäre jedoch Thorheit und
Verbrechen. Der Heilungsprozeß wird also eintreten, oder vielmehr er ist schon
eingetreten. Natürlich weisen wir die Beihilfe des Arztes nicht zurück. Wie
wir uus die Mitwirkung von Staat und Kirche denken, soll später einmal
gezeigt werden.
eher das deutsch-englische Abkommen sind uns aus den Kreisen
unsrer politischen Mitarbeiter drei Urteile zugegangen, die sich
gegenseitig ergänzen, insofern sich das eine auf den kolonial-
politischen, das andre auf den reinpolitischen Standpunkt stellt,
das dritte das überraschende Ereignis mit geschichtlichen Be¬
trachtungen begleitet. Im nachfolgenden bringen wir alle drei unverkürzt zum
Abdruck.'
Mit Recht ist von zahlreichen Zeitungsstimmeu hervorgehoben worden,
daß man das deutsch-englische Abkommen weder bloß von dem kolonialpvlitischen,
noch auch ausschließlich von dein allgemein politischen Standpunkte betrachten
dürfe, um zu einem richtigen Urteil über seinen Wert zu gelangen. Gleichwohl
thut Ulan zur Klärung der Sachlage gut, die beiden Gesichtspunkte zunächst zu
sondern und erst das abschließende Gesamturteil auf eine Verbindung der einseitigen
Erwägungen zu stützen. Beurteilen wir den Vertragsschluß lediglich vom kolonial-
politischen Gesichtspunkte, so gilt es zuvor, sich über zwei wichtige Grundsätze,
die als kritische Wertmesser zu dienen haben, klar zu werden. Wir beschränken
uns hier darauf, sie einfach als ausgemachte Wahrheiten hinzustellen. Der
erste Satz ist der, daß wir für unsre auf das festländische Afrika bezüglichen
Kolvnialbestrebungen möglichst ausgedehnte Flächen wünschen müssen, daß es
sehr kurzsichtig ist, zu hageln Wir haben dort schon Kolonien drei- oder vier¬
mal so groß wie Deutschland; verdauen wir diese erst und übersättigen wir
uns nicht den Magen mit neuem Landerwerb! Unsre junge Kolonialpolitik
ist in ausnehmenden Sinne Zukunftspolitik; sie muß in großem Stil angelegt
werden und für eine dauernde, breite Entfaltung unsrer überschüssigen wirt¬
schaftlichen Kräfte entsprechend große Räume eröffnen, oder sie wird ein dürftiges
Stückwerk bleiben. Der andre Grundsatz, den wir ebenfalls in rein „dogma¬
tischer" Form aufstellen, lautet: In absehbarer Zeit hängt das Aufblühen
unsrer meisten Kolonien weit mehr von der sofort einträglichen Ausbeutung
des bestehenden Handels, als von unsern „kultivntorischen" Anlagen ab. Die
letztern brauchen zu ihrer Entwicklung Zeit und können auch der Zahl nach
nur allmählich in lohnender Fülle entstehen. Ihre Entstehung ober hängt ub
von dem Vorhandensein bedeutender Geldmittel für die gesamte administrative
Entwicklung der Kolonie, die ihrer Natur uach keinen unmittelbaren Gewinn
abwerfen kaun, und es ist kaum zu hoffen, daß diese allein schon dnrch Be¬
teiligung des inländischen Kapitals in so reichlicher Menge werden aufgebracht
werden, daß eine Verstärkung aus eignen Einnahmequellen der Kolonie, als
welche vorerst nur Zolleinkünfte in Betracht komme», entbehrt werden könnte.
Wir denken hierbei vornehmlich an unsre wichtigste Kolonie, um Ostafrika.
Noch eine andre Vorfrage müssen Nur stelle» und beantworten, nämlich
die: In welcher Rechtslage traten die beiden Mächte in die Verhandlung ein?
War sie gleich oder verschieden? Unsers Wissens konnte England nur die von
Stanley mit eingebornen Häuptlingen vereinbarten Schutzverträge vorweisen,
die sich auf die von seiner Marschlinie durchzogenen südlichen Umgebungslande
des Albert Nhanza beziehen. Dagegen besaß Deutschland besonders in frühern
Verträgen und Unternehmungen der Deutsch-Ostasrikauischen Gesellschaft wohl-
begründete Rechtsansprüche an weite Gebietsteile im Somalilande; auch konnte
es die hinlänglich verbürgte Thatsache zu einiger Geltung bringen, daß Dr.
Peters auf seiner letzten Expedition am Nordufer des Tana dnrch zahlreiche
Vertrüge den Anschluß nu das deutsche Schutzgebiet vorzubereiten gesucht hat,
während seine gleichartigen Bestrebungen und Erfolge in Uganda allerdings
nur in der Form eines noch unverbürgten Gerüchtes bekannt geworden sind.
Doch glauben wir kaum, daß man überhaupt Wert darauf gelegt hat, diese
beiderseitigen Besitzausprüche gegen einander abzuwägen. Man hat die alten
Grenzen einfach auf der Karte verändert und erweitert, ohne sich im mindesten
um die Meinung der Eingebornen zu kümmern. Im wesentlichen befinden sich
demnach beide Mächte in der gleichen Rechtslage, sodaß wir etwa eine
Halbteilung des fraglichen Gebietes erwarten konnten, wenn anders wir so
unbescheiden sein dürfen, uns mit unsern Vettern jenseits des Kanals auf die
gleiche Stufe zu stellen.
Was ist nun geschehen? Über die weniger wichtigen Grenzbestimmungen
im Togolande können wir rasch und befriedigt hinweggehen. Hier scheint der
Grundsatz der Gleichberechtigung auf deutscher Seite genügend zur Geltung
gebracht worden zu sein.
Ungünstiger liegt die Sache für uns schon hinsichtlich des südwestafri-
kanischeu Schutzgebietes. In frühern Verabredungen mit England war hier
die Ostgrenze nur bis zur Nordwestecke des Betschuaueulaudes gezogen worden,
wogegen der nördliche Teil unsers Schutzgebietes einer östlichen Begrenzung
entbehrte und somit eine noch weitere Ausdehnung ins Innere offen ließ. Jetzt
ist dieser Ausdehnung in dem 21. Längengrad eine feste Schranke gesetzt und
die bisher bestehende Möglichkeit einer Einbeziehung der Umgebnngslande des
Ngamisees endgiltig zu Englands Gunsten uns genommen. Der Schluß des
betreffende Paragraphen 2) enthält übrigens eine geographische Unklarheit,
Er zieht nämlich über den 21, Längengrad hinaus i» dein Laufe des Tschvbi-
flnsses bis zu seiner Vereinigniig mit dein Sambesi eine östlich gerichtete Grenz¬
linie, von der man nicht recht weiß, welche Fläche sie begrenzen soll, da alles
Land südlich davon, -nie eben bemerkt, uns abgesprochen ist, Uber wir erinnern uns,
daß frühere Abmachungen mit Portugal eine nördliche Grenzlinie, die in gerader
Richtung von Antara bis zu deu Kntimafälleu länft, gewährt haben. Daraus
ergiebt sich, daß auch die Neichsregierung damals die mögliche Hinausschiebuug
der Grenze bis zum 25). Längengrade ins Auge gefaßt hat. Nun könnte es
ja deu Anschein gewinnen, als ob uns jener spitz auslaufende, schmale und
winklige Landstreifen zwischen dein genannten Flusse und der deutsch-portugie¬
sischen Grenze zuerkannt worden sei, um eben diese Grenze nicht völlig gegenstands¬
los zu machen. Aber dieser Streifen nimmt sich ans wie der hiuflntterude
Fetzen eines zerrissenen Gewandes, und darum ziehen wir vor, statt an dieses
sonderbare Kvlvuialgebilde lieber an eine Unklarheit des urkundlichen Ausdruckes
zu glauben. Warum in aller Welt aber ist uns nicht die Walfischbai endlich
abgetreten worden, die doch für England nur einen eingebildeten Wert hat?
Zwar ist die Möglichkeit dazu infolge der im ^ 7 beliebten Beringung der end-
giltigen Entscheidung noch immer vorhanden, allein England giebt nicht gern,
was es nicht durchans geben muß, und warum sollte es hier geben müssen?
Nun zu deu bedeutungsvollsten Bestimmungen 1, 4, 5), die über die
Verteilung Ostafrikas entscheiden. In dein Abkommen vom Dezember 1886
war die westliche Grenze unsers Interessengebietes offen gelassen, die nördliche
dagegen bis zum Schnittpunkt des ersten südlichen Breitengrades mit der öst¬
lichen Uferlinie des Viktoria Nhanza gezogen, währeud mit dem Portugiesischen
Nachbar im Süden eine Grenze bis zum Rikuru am Westufer des Nyassasecs
vereinbart war. Es war ein verhängnisvoller und, wie angenommen werden
darf, durchaus vermeidlicher Fehler der deutscheu Diplomatie, jene feste ver¬
tragsmäßige Begrenzung im Westen als Zuknuftsfrage zu vertagen, nicht als
ob dadurch die Gelegenheit für das Dazwischentreten einer fremden Macht offen
gehalten worden wäre, sondern darum, weil nun das durchaus selbstverständliche
Hinaufrücken unsrer Grenze bis zum Tanganika als ein neuer, großer Gewinn
und seine Anerkennung als ein Zugeständnis Englands mit einem gewissen
Schein des Rechts hingestellt werden kaiin, wie es denn mich gegenwärtig ge¬
schieht. In eigentlichen Wettbewerb traten die beiden Vertragsmächte erst an
der Südwest- und Nordwestecke unsrer Kolonie. In Bezug auf die erstere
haben wir völlig mit dein vorlieb genommen, was wir in Wahrheit schon hatten.
Von unserm Grenzpunkt am Nhassa ist eine gerade, mithin die kürzeste Ver¬
bindungslinie bis zum Südvstpuukt des Tanganika gezogen worden, wohl-
gemerkt zum Südostpunkt, da das ganze Südufer des Sees den Engländern
anheimfällt. Viele Kartographen sind voreilig genug gewesen, die Lnudschafteu
zwischen dem Nord>vestteil des NhassaseeS und dein^ K^ongvstaat mit Einschluß
des Bangweolosees als einen unausbleiblichen Zukunstsbesitz Deutschlands an¬
zusehen, und haben ihn demgemäß gleich als thatsächlichen in ihre Karten ein¬
getragen. Sie haben sich verrechnet: nicht ein Stück von diesen gutgemeinten
Landanweisungen haben wir zu „realisiren" vermocht.
Kaum anders ist es im Norden. Hier hat mau die bisherige in nord¬
westlicher Richtung verlaufende Grenzlinie in stumpfem Winkel eingeknickt, um
sie quer über den Viktoriasee bis zur Grenze des Kongostaats parallel dem
Breitengrade weiterzuleiten. Wir können auch diesen Zuwachs nicht als ein
Opfer unsers Nebenbuhlers ansehe», da es gänzlich ausgeschlossen war, daß
er mich ans diesen letzten Bruchteil unsers nördlichen Hinterlandes seine Hand
hätte legen können. Damit sind alle Hoffnungen ans den Erwerb von Uganda,
Nnhvro und das obere Nilgebiet zerronnen, Hoffnungen, die wir, so hochfliegend
sie auch waren, immerhin nach der Verzichtleistung Äghptens mit der ruhmreichen
Thätigkeit unsers Landsmannes Emin Pascha und den jüngsten Errungen¬
schaften von Dr. Peters in Uganda stützen konnten. In Nord und Süd ist
England der lachende Erbe.
Dazu kommt ein thatsächlicher Verlust, der jeden Kolvnialfreuud
schmerzlich überraschen mußte. Witnland, das seit Jahren bereits unter
deutscher Schutzhoheit gestanden hat und kürzlich noch von dem deutscheu
Generalkonsul an Ort und Stelle in einem feierlichen Staatsakt in dieser
Eigenschaft anerkannt worden ist, hat seinen Herrn wechseln müssen. Waruni
das? Angeblich weil es von dem südlichen Schutzgebiete durch das englische
Zwischenstück abgetrennt und schon deshalb nicht lebensfähig ist. Auch werde
ihm durch den in Vorbereitung befindlichen Schiedsspruch aller Voraussicht
nach der letzte zwischen Marta und Palla gelegene Hafenplatz entzogen werden.
Wien ist das Mündungsgebiet des vom Kenia herabkommenden Tuna. Dr. Peters
hat, wie wir nochmals betonen, am Nordufer desselben durch eine Reihe von
Verträgen die Besitzergreifung des Hinterlandes vorbereitet; ja die Neichs-
regiernng selbst hat erst vor kurzem die Nordgrenze des Witnlaudes weiter
vorgeschoben. Außerdem hat die ostafrilunische Gesellschaft, wie wir ebenfalls
wiederholen, durch mehrere Verträge, Flaggenhissnngen und Stationsgründungen
vollwertige Besitzansprüche auf weite Strecken des anstoßenden Somalilandes
erworben. Leutnant Günther und Dr. Jühlke haben wie vormals Claus
v. d. Decken für die Anbahnung deutscher Interessen opferfreudig ihr
junges Leben gelassen, Jühlke in der noch tags vor seiner Ermordung ge¬
äußerten Hoffnung, daß das Opfer seines Lebens Deutschland vielleicht um so
sicherer zur Besitznahme des entwicklungsfähigen Landes bewegen werde. Neuer¬
dings noch ist von Berlin ans durch die Expedition des Negierungsbaliineisters
Hoffmann ein abermaliger Versuch gemacht worden, festern Fuß dort zu fassen
und der Besitzergreifung wenigstens eines Teiles nachdrücklicher vorzuarbeiten.
Warum griff man nicht zu, warum ließ man ohne zwingenden Grund die
Italiener herein, und warum giebt man nun, um vollends das Kind mit dem
Bade auszuschütten, allzu klein- oder allzu großmütig das Ganze als freie
Liebesgabe in die ohnehin schon so überreichlich beladene Schale der Eng¬
länder? Was werden unsre Landsleute in Wien dazu sagen, die ihr Kapital
gläubig in die junge Kolonie gesteckt haben? Und was die Deutsch-Ostafri¬
kanische Gesellschaft, die vor wenig Wochen erst die bisherige Witugesellschaft
in sich hat aufgehen lassen?
Überblicken wir nun das Gewinnkontv der Engländer. Man kennzeichnet
es am richtigsten, wenn man es als grenzenlos bezeichnet. Sie erhalten kurz
gesagt den ganzen Nest des unverteilten Afrika. Im glücklichsten Fall können
wir uns vielleicht später von Kamerun aus uoch einen Anteil am Sudan
sichern. In der Hauptsache aber haben unsre Kvlonialerwerbuugen mit dem
vorliegenden Abkommen ihren unwiederbringlichen Abschluß gefunden, während
sich den Engländern gerade umgekehrt die großartigsten Aussichten auf neue
Erwerbungen eröffnen. Und was diesen Aussichten eine ganz besondre Be¬
deutung verleiht, ist der Umstand, daß sie in gnr nicht ferner Zeit zu einem Zu¬
sammenwachsen fast aller englischen Kvlonialgebiete zu einem einheitlichen Niesen¬
reiche führen wird, das von der Nilmündung bis zum Kaplande hinabreicht.
Im Süden ist ihm schon jetzt ein Mittelstreifen vom Oranjefluß bis zum Tan-
ganika gewiß, wie breit er auch ausfallen möge. Das kleine Portugal vermag
dem ungestümen Vordringen keinen erfolgreichen Widerstand entgegenzusetzen;
selbst das tapfere Transvaallaud wird über kurz oder laug diesen Rieseuplünen
erliegen, kaum zwar durch die Gewalt englischer Waffen, wohl aber durch das
friedliche und ungleich gefährlichere Mittel einer beständig zunehmenden eng¬
lischen Einwanderung. Im Norden des Viktoriasees wird dem absterbenden
Mahdismus zum Trotz der Einfluß der Briten, den obendrein ihre ägyptische
Machtstellung begünstigt, nilabwärts siegreich vordringen, und auf der andern
Seite giebt ihnen Uganda den Schlüssel zu den weiten und wichtigen Ländern
des westlichen Sudan. Nur eine Lücke scheint in diesem „System" zu klaffen;
aber wie unschädlich haben sie diese zu machen gewußt! Artikel d bestimmt,
daß die Wasserstraße des Tanganika wie auch die Landverbindungen zwischen
diesem See und der nunmehrigen Nordwestgrenze unsers Schutzgebietes ab¬
gabenfrei sein soll. Beiläufig: auch diese Bestimmung ist zu allgemein, zu
dehnbar gehalten; in Zukunft können doch in der That Abgaben in diesem
Bezirk unsrer Kolonie erhoben werden; welches sind dann die genauern Grenzen
des zollfreien Gebiets? Und wir dürfen zwar nicht übersehen, daß die ent¬
sprechende Vergünstigung in Bezug auf die zwischen dem Nyasfcisee und dem
Kongostaat eingekeilten englischen Gebietsteile auch uns zugestanden ist; wie
viel wichtiger aber ist sie für die Engländer! Wir haben breiten Anschluß an
den Kongostaat und können jene Länder zum bloßen Zweck des Durchfuhrhandels
sehr gut entbehren. Für sie entscheidet aber die freie Durchfuhr durch unsre
nordwestlichen Landschaften über die binuenlnndische Verbindung ihrer nördlichen
und südlicheu Besitzungen. Wenn in halbamtlichen Auslassungen diese Abgaben¬
freiheit als eine aus der Kongoakte herzuleitende Verbindlichkeit dargestellt wird,
so führt das insofern irre, als Auflagen zur Deckung von Ausgaben, die die Ver¬
kehrsentwicklung erheischt, ausdrücklich darin vorbehalten werden. Geradezu ver¬
blüffend wirkt die Naivität einzelner Zeitungen, wie der „Berliner Politischen Nach¬
richten," wenn sie ganz offen Deutschland zu dem Verdienst beglückwünschen, diese
weitausgreifenden Pläne einer das ganze Afrika vom Kap bis zum Mittelmeer be¬
herrschenden englischen Machtstellung erst ermöglicht zu haben. Wir haben den
Schaden; warum uns selber noch verspotten? Es besteht fortan die ernste Ge¬
fahr, daß der seitherige Warenhandel unsers Schutzgebietes, der sich auf etwa
15 Millionen Mark belaufen mag, großenteils ans den billigen Wasserstraßen
in englisches Gebiet abgeleitet wird und damit zugleich unsern Küstenzöllen,
die wir, wie schon bemerkt, für einen baldigen innern Ausbau unsrer Kolonie
schwerlich entbehren können, der empfindlichste Abbruch geschieht. Wir wären
dann lediglich auf die landwirtschaftliche Ausbeute angewiesen, deren langsamere
Einträglichkeit wir gleichfalls schon augedeutet habe«. Allerdings müßten zuvor
erst die Wasserstraßen durch Überlandwege verbunden und die erforderlichen
Fahrmittel hergestellt werden. Aber der vielbewährte englische Unternehmungs¬
geist wird nicht lange auf sich warten lassen. Schon lesen wir in glaub¬
würdigen Berichten, daß in wenigen Monaten ein englischer Dampfer den
Viktoriasee durchkreuzen wird, daß zwei eigens für den Schire eingerichtete
Kanonenboote auf der Fahrt nach ihrem Bestimmungsorte begriffen sind, daß
die nötigen Bahnverbindungen bald werden angelegt werden.
Aber noch nicht genug damit: auch die vielumwvrbene Insel Sansibar
wird abgetreten. Denn so dürfen wir wohl die deutsche Zustimmung zu dem
englischen „Protektorat" bezeichnen. Der Sultan hat sein Geschick nicht mehr
in der Hand und verdient es auch kaum; ebensowenig scheint Frankreich trotz
seiner Garantieerklärung vom Jahre 1862 Einspruch erheben zu wollen. Da¬
gegen hätte sich England, wie die Dinge liegen, niemals über den Kopf Deutsch¬
lands hinweg in den Besitz der köstlichen Beute setzen können. Sansibar ist
bisher der Sammelpunkt des gesamten ostafrikanischen Handels gewesen, wie
auch sein beherrschender Geld- und Kreditplatz, von dem die meisten und be¬
deutendsten arabischen Händler im Innern, besonders in unserm Interessengebiet,
abhängen. Die Insel ist an sich wertvoll durch den Reichtum ihrer Erzeugnisse,
sie zählt 100000 Bewohner, sie liegt nicht vor dem britischen, sondern unmittel¬
bar vor dem deutscheu Schutzgebiete, dessen wirtschaftlichen und Verwaltungs-
mittelpnnkt sie bis zum heutigen Tage noch bildet. Die deutsche Regierung
hat uns mit diesem Verzicht, allerdings in etwas rauher Weise, ihren Wunsch
zu erkennen gegeben, daß wir unsre Kolonie von ihr selbst aus verwalten und
entwickeln möchten. Schade nur, das; ein dnrch Jahrzehnte eingelcbter Verkehr
sich nicht so rasch verschiebt, daß auch nicht neue Städte so leicht in halb¬
wildem Lande emporwachsen. Jeder weitere Aufschluß über die Bedeutung
der Insel, den wir uns in diesem Zusammenhange versagen müssen, würde
ihren Wert noch in andern Richtungen und in immer erhöhtem Maße auf¬
weisen. Es ist natürlich hier wie überhaupt bei dem ganzen Verteilungs¬
geschäft unmöglich, auch nur mit annähernd richtigen Ziffern die gegebenen
und empfangenen Werte zu berechnen. Nur ein Gesamtnrteil ist möglich, und
dieses kann nach dem Gesagten nicht anders lauten, als daß wir, wenn wir
die Sache rein kolonialpvlitisch ansehen, uns einfach aufgeopfert haben, um
unsre Mitbewerber unermeßlich zu bereichern.
Aber suchen wir anch der .Kehrseite gerecht zu werden. Helgoland ist
unser. Die 'Imrvs sagt wohl mit Recht, daß das kleine Felseneiland für
England keinen, für Deutschland aber einen Gefühlswert habe. Es ist ein
stammverwandtes Völkchen, das dort in eigenartigen Verhältnissen sein weder
ärmliches noch reichliches Dasein führt, und ein Gewinn an deutscher Lands¬
mannschaft in einem Bereich, der auch in geographischer Beziehung von Gottes
und Rechts wegen zu unserm Vaterlande gehört, thut in der That nnserm
Nationalgefühle wohl. Die Begeisterung aber, in der viele Zeitungen, vielleicht
um sich über unsre Verluste zu beruhigen oder hinwegzutäuschen, jetzt diesen
„nationalpvlitischcn" Erfolg verherrlichen, vermögen wir beim besten Willen
nicht nachznempfinden. Es giebt auch in den Ostseeprovinzen und anderswo
reindeutsche Städte und Dörfer, und gleichwohl schmerzt es unsern Patriotismus
nicht, sie nicht Glieder unsers Reiches nennen zu dürfen. Das überaus
freudige Echo in allen gutgesinnten Kreisen der Bevölkerung, das die „norddeutsche
Allgemeine Zeitung" erwartet, dürfte in Wahrheit doch in recht gedämpfter Stärke
erklingen. Die strategische Bedeutung Helgolands wagen wir nicht zu schätzen,
doch soll sie keineswegs hoch sein. Dürfen wir denn aber Helgoland bei der
noch ausstehenden Zustimmung des Parlaments überhaupt schon als unser
Besitztum betrachten? Die englischen Blätter fangen schon an, über die den
englischen Nntionalstolz kränkende Zumutung zu lärmen. Doch mag das ja
Blendwerk sein, um die englischen Zugeständnisse in bengalischer Beleuchtung
zu zeigen und unsre eignen uns mundgerechter zu machen.
England lohnt uns aber auch mit diplomatischen Diensten. Es verspricht, mit
allem Ernst auf seinen nunmehrigen Schützling, den Sultan von Sansibar,
dahin einwirken zu wollen, daß er den .Küstenstrich, der gegenwärtig nur pcicht-
und zeitweise in Besitz der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft ist, mit allen
Rechten gegen eine billige Abfindung dem deutschen Reiche eigentümlich über¬
trage. Wir zweifeln nicht, daß diese Fürsprache die Erfüllung unsers Wunsches
befördern wird, sind aber doch anderseits so kühn, zu glauben, daß sie anch
ohnedies nur eine Frage der Zeit gewesen wäre.
Unmöglich kann die deutsche Regierung, wenn anders sie nicht allen
Glauben an unsre koloniale Zukunft verloren hat, diese Landabtretung und
dieses Versprechen Englands als gleichwertige Gegenleistungen aufgefaßt haben.
Als letzter Erklärungsgrund bleibt mir die Erhaltung und Stärkung der
Friedensaussichten durch die erneute und befestigte Freundschaft mit dem see¬
mächtigen Inselstaat. In der That drohten die kolonialen Eifersüchteleien die
thatsächliche Bundesgenossenschaft der beiden Großmächte in allem, was mit
der weltbewegenden Frage des nächsten europäischen Krieges zusanimeuhängt,
einigermaßen zu gefährden, und die heißblütigen Franzosen wiegten sich schon
in neuen Hoffnungen, wie sie sich denn jetzt über das Ausgleichswerk laut
oder insgeheim entrüsten und ärgern. Warum aber, fragen wir mit gebührender
Bescheidenheit, mußten wir die Zeche so teuer bezahlen? Haben uns die Eng¬
länder weniger nötig, als wir sie? Wir lassen das unentschieden; etwas andres
aber müssen wir aussprechen. In England steht das Volk in allen kolonialen
Angelegenheiten einmütig hinter der Negierung. Wir haben es eben erlebt,
wie dort während der entscheidmigsvollen Verhandlungen gegen das koloniale
Vordringen Deutschlands geeifert worden ist, namentlich von dem Manne, der
nnr mit vielen Vorbehalten den Ruhm verdient, mit dem die freigebige Mitwelt
ihn geschmückt hat, von Stanley; in England versteht man sich dank einer
jahrhundertelangen Erfahrung darauf, auch Zuknnftswerte zu berechnen und
zu würdigen; in England hat man fast ausnahmslos so viel nationalen Anstand,
die todesmutigen Vorkämpfer des kolonialen Gedankens nicht mit wüsten
Schmühreden und elenden Verdächtigungen zu verfolgen; kurz, in England ist
dem Staatsmanne gewährt, was Bismarck für seine kolonialen Absichten nicht
entbehren zu können glaubte, der zuverlässige Rückhalt an einer verständnis-
vollen öffentlichen Meinung. Von dein deutschen Gegenbilde dürfen wir wohl
schweigen.
Nun aber den Blick mutig empor! Wir haben kaum etwas Wesentliches
gewonnen und jedenfalls in Afrika viel verloren; aber dafür haben wir unsern
Besitz sicher und sturmfest unter Dach und Fach gebracht. An uns ist es nun,
daraus zu machen, was daraus zu machen ist, und das ist auch nach allen Ab¬
zügen noch unendlich viel. Wir haben der „Freundschaft Englands" ein vielleicht
unvermeidliches Opfer gebracht und — wir wollens wünschen und hoffen —
damit vielleicht die Bürgschaft gewonnen, daß diese Freundschaft auch einmal
dauern werde. Unsre Friedenspolitik hat sich aller Welt aufs neue offenbart
und die Verantwortlichkeit unsrer unruhigen Nachbarn in West und Ost erhöht,
wenn unsre hehre Aufgabe scheitern sollte.
Das deutsch-englische Abkommen geht von dein Grundsätze aus, daß
uns die „Freundschaft Englands" nicht verloren gehen dürfe.
Freundschaften von Nationen sind, wie jedermann weiß, mir in Schul¬
büchern vorhanden. „Freundschaft" zwischen Nationen heißt entweder: Du
kannst mich nicht entbehren, oder: Ich mag dich nicht entbehren.
Hat England das Recht, zu uns zu sagen: Du knunst mich nicht entbehren,
und ich bitte mir aus, daß du dies im Sinne behältst, wenn sich irgendwie
nud irgendwo dazu eine Gelegenheit bietet? Mit andern Worten: Zwingt
uns England zu dieser „Freundschaft", oder suchen wir die Hand unsers wackern
Stammesbruders jenseits des Kanals?
Im erstern Falle wäre es ganz nutzlos, irgend welche Betrachtungen in
einer Zeitschrift darüber anzustellen. Hat England direkt oder indirekt erklärt:
Es geht auf Kosten eines Krieges mit euch, wenn ihr nicht klein beigebt, so
ist es Sache unsrer Diplomaten die Angelegenheit so zu erledigen, daß wir mit
leidlichem Aufputz wieder aus dem Handel herauskommen. Indeß, wäre dein
in Wirklichkeit so, so dürfte doch wohl das deutsche Volk mit Recht verlangen,
darüber aufgeklärt zu werde»; mau sollte dann rund heraus bekennen: Wir
müssen klein beigeben, wir können gar nicht anders, die Sachlage ist einmal
so unglücklich, England hat es in der Hand, uns zu demütigen — und Helgo¬
land für Ostafrika ist eine Demütigung! —, weil wir in der Patsche sitzen,
und England es dnrch seine geschickte und energische Politik fertig bringt, daß
es thun und lassen kann, was es uns gegenüber thun und lassen will! Das
deutsche Volk wußte dann wenigstens — ein schwacher Trost zwar! —, woran
es ist; seine instinktive Abneigung gegen dieses rvmerhaft selbstsüchtige, aber
„zielbewußte" Jnselvolk, das unser bischen ideales Aufflackern »ach 1870 auf
Schritt und Tritt mit Tonnen ätzenden Lvschungsmaterials begießt, würde
dann aus dem heuchlerischen, lügenhaften Zustande herausgerissen werden, in
den sie sich mit Unwillen schickt; diese natürliche Abneigung würde sich in
aufrichtiger Natürlichkeit weigern, die Hand zu streicheln, die es rechts und
links ohrfeigt, wo es nnr angeht.
Aber diese Sachlage dürfte überhaupt nicht zutreffen. Es ist nicht gut
denkbar, daß England unsrer Diplomatie (soweit sie noch existirt) bei dein
Vertrag über Ostafrika das Messer an die Kehle gesetzt haben sollte, aus
vielen Gründen nicht, die schon deshalb nicht aufgeführt zu werden brauchen,
weil eine Betrachtung darüber vollkommen nutzlos wäre; denn nicht wir, die
wir als außenstehende Bürger dem Getriebe unsrer innern und außer» Politik
mit nüchternem Auge und als Zuschauer gegenüberstehen, wären berufen oder
imstande, Kombinationen zu schaffen, die einen derartigen Schritt ins Leere ,
verlaufen lassen würden; das ist Sache unsrer künftigen Diplomatie oder in
Ermanglung derselben unsers neuen Reichskanzlers.
Also bleibt nur das zweite übrig: Wir suchen die Freundschaft Englands
und, fügen wir nach den jüngste» Erfahrungen hinzu, wir suchen sie
Ä tout, prix.
Ist dem so, so fragt es sich, was denn eigentlich, kühl betrachtet (d. h.
so, wie uns die Herren Engländer zu betrachten gewohnt sind) bei einer solchen
Freundschaft für uns herauskommt.
Es gilt da, drei Fälle zu unterscheide»: Erstens kann England mit uns
ein Bündnis schließen; ferner kann es neutral bleibe«; und schließlich kann es
sich gegen uns wenden. Hierbei ist es gleichgiltig, sich gegenwärtig zu halten,
daß England seine Wahl des Standpunktes lediglich nach seinem Interesse
wählen wird. Für uus bleibt die Frage zu beantworten: Was hat unser
Land davon, ob der eine oder der andre dieser Fälle eintritt?
Erstens: England schließt mit uns ein Schutz- und Trutzbündnis: Germania
am Arme John Bulls. Dies wäre der Fall, mit dem uns am meisten gedient wäre,
der günstige Fall zur oxeslleinzs. Sehen wir daher zunächst ganz davon ab, ob
England zu einem solchen Bündnis überhaupt fähig ist, um zu erwägen, welche
Vorteile wir dann in diesem günstigsten Falle zu erwarten hätten?
Nehmen wir einen europäischen Krieg für die nächste Zeit, d. h. so lange
das Geschenk Sansibars und Ugandas anhält, als unvermeidlich an — denn
bei Wechseln auf spätere Zeit muß stets England gewinnen, nicht wir, es wäre
also nicht mehr der günstigste Fall —, so würde es sich fragen: Welche
Hilfe würde England uns bei einem solchen Kriege, der über unser Sein oder
Nichtsein entscheiden wird, leisten (immer vorausgesetzt, daß es dazu aus vollem
Herzen bereit und — imstande wäre)?
Das englische Landheer dürfen wir hierbei wohl unberücksichtigt lassen.
Ganz abgesehen von den Elementen, aus denen es sich zusammensetzt, und dein
Mangel an tüchtiger Ausbildung und Mannszucht, ist seine Zahl so beschränkt,
daß es bei einem europäischen Kriege nicht ins Gewicht fallen würde. Also
die englische Flotte! Auch von deren innerm Werte sehen wir ab, obgleich es
Kenner geben soll, die namentlich in Bezug auf die Organisation so ziemlich
alles vermissen, was bei einer schlagfertigen Flotte vorausgesetzt wird. Da
aber unsre Schlachten auf dem Laude ausgefochten werden, so kann die ganze
englische Hilfe immer nur eiuen Bruchteil der Unterstützung ausmachen. Diese
kann nun erstens darin bestehen, daß die englische Flotte unsern Handel mit
unter ihren Schutz nimmt; zweitens darin, daß sie einer feindlichen Flotte das
Gleichgewicht hält, wo wir allein es nicht können; drittens darin, daß sie einen
uns feindlich gesinnten Staat hindert, gegen uns einzutreten.
Über den ersten Punkt brauchen wir nur wenige Worte zu verlieren.
Der kommende Krieg wird für uns zweifelsohne ein Kampf um sein oder
Nichtsein werden. Siegen wir, fo werden wir uns für jeden Schaden Genug¬
thuung zu verschaffe!! wissen; wenigstens wird England uns auch bei einem
plötzlichen Umschlag seiner Gefühle zu Gunsten des Besiegten, wie ihn die
neuere Geschichte ja zu verzeichnen Gelegenheit gehabt hat, nicht daran hindern
können. Fallen wir, so ist es ganz gleichgiltig, ob England besonders eifrig
in der Verfolgung französischer oder russischer Kreuzer war, die unsern Handel
schädigten; wir sinken dann aller Voraussicht nach endgiltig, und keine Hilfe
Englands wird uns — selbst wenn England gewohnt wäre, großmütig zu sei»,
wo es gewinnen kann — davor bewahren.
Wichtiger wäre der zweite Punkt, daß die englische Flotte einer feindlichen
die Stirn böte. Wird Frankreich verhindert, seine vortrefflichen Marinetruppen
auf dein Lande gegen uns zu verwerten, so ist das zweifellos sehr angenehm
für uns, obgleich es zu irgend einer Entscheidung auch nichts beitragen würde.
Im übrigen sind unsre Küsten, wie es den Anschein hat, geschützt, und einer
Landung von einer den Verhältnissen nach gewiß uicht sehr großen Anzahl
feindlicher Truppen würde ohne große Schwierigkeiten unsrerseits zu begegnen
sein; dazu bedarf es keiner Engländer.
So bleibt Punkt drei: Rußland oder Frankreich zu hindern, uns anzu¬
greifen. Da fragt es sich denn, welches Maß von Furcht John Bull dem
einen oder andern dieser Völker einflößt? Sie ist, unsrer Erfahrung nach,
nicht groß. Die Bestätigung hiervon wird jeder, der mit russischen und fran¬
zösischen Verhältnissen vertraut ist, geben köunen. Ehe England aber dahin
kommt, die für Rußland oder Frankreich besonders wunden Punkte zu erreichen,
sind bei uns längst die Würfel gefallen. Angenommen aber auch, England
besetzte Konstantinopel oder Algier oder gar Südfrankreich, würde das Ru߬
land oder Frankreich von einem erfolgreichen Kampfe gegen uus abhalten?
Sicherlich nicht. Wir würden diesen Kampf allein auf dem Lande auszufechten
habe», vielleicht dabei zu Grunde gehen — und England? Durch unsre
Freundschaft würde es Konstantinopel, Algier u. s. w. erlangen und mit unsern
Feinden das Weitere besprechen. Eine Diversion Englands ans Frankreich
oder Rußland wird keinen dieser Staaten weder einzeln noch gemeinsam von
einem Kriege gegen uus abhalten. Es würden immer nur Nebenpunkte sein,
die hier in Betracht kämen, und die jeder von beiden wenigstens für den
Augenblick fallen lassen könnte, um seine ganze .Kraft — wie es auch wohl
notwendig sein würde — auf uns und unsre Verbündeten zu wenden. Daß
sich hierbei eine für England ganz vorzügliche Trübung der Wasser ergeben
würde, in denen der sportliebende Brite die wundervollsten Fische zu fangen
Gelegenheit hätte, das wäre nur eine Wiederholung des schon hundertmal
geschehenen. Was bleibt also in diesem allergünstigsten Falle von der Freundschaft
oder Allianz Englands für uns übrig?
Zieht man nun noch in Betracht, 1. daß ans ein treues Bündnis Eng¬
lands schon deshalb nicht zu bauen ist, weil erfahrungsmäßig ein Ministerium
stets mehr oder weniger alles das umstößt, was das vorhergehende in Bezug
auf die auswärtige Politik geschaffen hat, vor allen Dingen dann, wenn die
Verpflichtung anfängt unbequem und nnprofitabel zu werden; 2. daß es
Allianzen und Allianzen giebt, nämlich solche, in denen man, durch die Sachlage
mehr oder weniger gedrängt, mit Leib und Seele bei der Hand ist, und solche,
wo dieses Interesse vergeht, platonische Allianzen, die aufhören, wenn sie un¬
bequem werden, der Vnndesbruder zu mächtig wird oder — am Boden liegt;
Z. endlich, daß englische Allianzen, so lange sich die Geschichte mit ihnen hat
befassen müssen, stets uur höchst sekundäre Bedeutung für die gehabt haben,
die darauf — eingegangen sind, so dürfte in diesem unsern „günstigsten Falle"
die Schlußfolgerung nicht ungerechtfertigt sein: Im besten Falle ist ans der
Freundschaft Englands für uns so gut wie nichts zu gewinnen.
Aber auch dies gewiß recht mäßige Ergebnis wird noch bescheidner da¬
durch, daß wir in Betracht ziehe» müssen, daß uns die Opfer, die wir dieser
Freundschaft immerfort bringen und eben in bitterm Maße wieder gebracht
haben, uur auf kurze Frist nutzen; wir zahlen an einen Wucherer und müssen
unsre Opfer verdoppeln, verdreifachen, verzehnfachen, wenn der Ausbruch des
drohenden Weltkrieges sich in die Länge ziehen sollte. Ein Einfältiger, der
in unsre Kolonien noch einen Pfennig stecken würde! Oder sollte es naive
Menschen geben, die eine Politik auf die Gefühle der „Dankbarkeit" andrer
Nationen bauen? Noch dazu bei einem Handelsvolke x,«i7 Z^ox^v?
Also Opfer um Opfer in endloser Reihe um eiues im Grunde fast wert¬
losen Verlüindeten willen — im günstigsten Falle!
Und nun zu der Frage: England neutral, wohlwollend oder mißwollend.
Hier kauu ja kaum mehr von einem Vorteil für uus die Rede sein, sondern
da wird es Zeit zu fragen: Wie kaun (und wird gegebenenfalls!) England uns
schaden? Wenn wir sehen, was uus bei der ungeheuersten „Freundschaft"
von ihm aufgespielt wird, so muß uns allerdings die Furcht überkommen bei
dem Gedanken, was es im Ernst als Feind sein konnte. Wir sehen: das
Bild wendet sich. Eine Eigenschaft, die, ohne Phrase, kaum für unsre Nation
charakteristisch sein dürfte, die Furcht tritt auf die Bühne: sollte sie eine aus-
schlaggebende Rolle bei unserm deutsch-englischen „Abkommen" gespielt haben?
Auch dies ist undenkbar. Denn was kann uns England in übelwollender
Neutralität (vgl. 1870!) oder als offner Gegner schaden? Es kann unsern
ganzen Handel brach legen. Gewiß, und das würde ein unendlicher Verlust
sein. Aber falls es zum entscheidenden Vvlkersturme kommt, wird dann
unser Handel nicht ohnehin brach liegen? Müssen dann nicht auch diese wich¬
tigen Interessen vor den letzten und höchsten — unsrer Daseinsmöglichkeit —
zurücktreten? Und werden Nur uns schließlich nicht, sollte uus der allmächtige
Gott noch einmal den Sieg bescheren wolle», auch an England schadlos halten
können, dadurch, daß die Politik unsrer dann zu Boden geworfenen Gegner
mit leichter Mühe in uns abgewandte Bahnen geleitet wird? Und andern¬
falls: gehen wir zu Grunde, wird unser armes Land von neuem — und Gott
sei's geklagt, wiederum durch unsre eigne Schuld und Jämmerlichkeit — der
Kriegsschauplatz Europas, sinken wir endgiltig von unsrer kaum erklommenen
Höhe herab, was will es dann besagen, ob England die letzten Paar Koloniechen,
deren Preis uns ja selbst bei der größten Freundschaft nichts ist, in Feind¬
schaft nur als willkommene Beute an sich nimmt und unsern kaum erblühten
Handel wieder in seine Interessen zwingt? Ob Freund oder Feind: England
ist einer treuen Bundesgenossenschaft weder würdig noch wert. Würdig nicht,
weil es seine Politik auf Prinzipien aufbaut, die ihren Grund in dem merkan¬
tilsten Erwerbssinn haben; wert uicht, weil wir selbst im günstigsten Falle nur
die Zahler der Zeche sein würden.
So bleibt nur noch die sentimentale Seite der Sache. Wir gehen hier¬
auf nicht ein; denn gute und echte Vaterlandsliebe ist wie rechte Politik
nüchtern wie das tägliche Brod, das wir essen. Das Gefühl führt da irre,
und in unsern Augen ist es kein schönes Spiel, was mit dem deutschen Volke
getrieben wird, wenn man ihm Helgoland mundgerecht machen will. Auch ist
es uns wohlbekannt und muß den ernstgesinnten Mann, der sein Vaterland
über alles liebt, mit tiefstem Schmerze und großer Beschämung erfüllen, daß
unser Volk in charakterloser Hohlheit aus dem französischen Fahrwasser des
achtzehnten Jahrhunderts nunmehr glücklich in das cmglomaue des neunzehnten
geraten ist; daß unsre höchsten Klassen sich rühmen, bei allem Patriotismus,
doch möglichst englisch zu erscheinen, englisch sich zu kleiden, englische Ein¬
richtungen nachzumachen, ja mit den eignen Kindern und Geschwistern eng¬
lisch zu sprechen, englisch zu korrespvndiren; englische Rücksichtslosigkeit und
Rüpelhaftigkeit olle zu finden (den eignen Landsleuten gegenüber!), kurz: in
Anschauung und Sitte diesmal nicht den „Erbfeind" — ihn nur noch in der
Kunst — sondern den Briten nachzuüffeu, und es ist möglich, daß die Anglo-
mcmie bei dem Abkommen ihre Hand im Spiele gehabt hat. Aber es wäre
verschwendete Zeit, darauf einzugehen. Daß wir uns auf jener stolzen nationalen
Höhe, auf die wir uns mit Blut und Eisen hinaufgekämpft hatten, nicht lange
halteir würden, mußte jedem klar sein, der seine „deutsche Geschichte" kennt;
nur schmerzt es bitterlich, 1870/71 in Jugendfrische erlebt zu haben und
— so bald ein neues Olmütz darauf folgen zu sehen.
Das deutsche Reich hat, wie uns versichert wird, durch sein opfervolles
Abkommen über Ostafrika die „zuverlässige Freundschaft" Englands erkauft.
Wir aber forschen in einer zweihundertjährigen Vergangenheit vergeblich nach
greifbaren Beweisen solcher „Freundschaft." Deutsche und Engländer haben
oft genug neben einander und fast niemals gegen einander gefochten, doch niemals
hat England, wenn es die Früchte gemeinschaftlicher Siege zu ernten galt, etwas
andres zu Rate gezogen, als fein mit kaltblütigster Selbstsucht erwogenes Interesse,
und unbedenklich hat es den Bundesgenossen im Stiche gelassen, sobald ihm
seine Beute gesichert war oder sein Vorteil es erheischte. Es schloß den Frieden
von Nhswhk 1697, ohne sich um die Wiedergewinnung Straßburgs irgendwie
zu kümmern, und als seit 1714 Hannover mit England unter demselben
Herrscherhause vereinigt war, da hat die welfisch-englische Politik mehr als ein
Jahrhundert hindurch auf die deutschen Verhältnisse fast immer eiuen uu-
gttnstigen Einfluß geübt. Das deutsche Hannover war ein Werkzeug Englands
geworden, und umgekehrt wurde die deutsche Politik desselben oft genug von
welfischen Gesichtspunkten bestimmt. Friedrich Wilhelm I. hoffte vergeblich,
an England eine Stütze für die Durchführung seiner gerechten Ansprüche auf
Jülich-Berg zu finden, Österreich mußte 1731 die Anerkennung seiner prag¬
matischen Sanktion mit der Auflösung der ostindisch-belgischen Handelsgesellschaft
in Ostende erkaufe», die der englische Handelsneid verlangte, und, obwohl dann
England-Hannover während des österreichischen Erbfolgekrieges mit den Waffen
für Maria Theresias Recht eintrat, nicht dies Eingreifen hat damals den Be¬
stand der Habsburgischen Monarchie gerettet, sondern die entschlossene Erhebung
Ungarns und die kluge Zurückhaltung Friedrichs des Großen. Als dieser dann
im Vegiuu des siebenjährigen Krieges sein Vüuduis mit England schloß, da
versagte England doch vertragswidrig die Sendung eiuer Flotte in die Ostsee,
die die russischen Augriffe auf Pommern unmöglich gemacht und die Festsetzung
der Russe» in Ostpreußen wenigstens erschwert hätte; es stellte endlich
nach W. Pitts Rücktritt 1761 die Zahlung der Hilfsgelder el» und brachte
dadurch Friedrich II. dem Untergange nahe, jn es trieb unter der Hand dessen
Feinde zu verstärkten Anstrengungen, um den König zum Friede» zu zwingen,
für sich selbst aber trug es aus dem Kriege Kanada davon und die Begründung
seines indischen Kolonialreiches ans einem Boden, der bisher die glänzendsten
Aussichten für Frankreich eröffnet hatte. Die Folge war eine tiefe Entfremdung
zwischen Preußen und England; es war zum Teil ein Akt der Vergeltung,
wenn Friedrich der Große als der erste europäische Fürst schon um 10. Sep¬
tember 1785 einen Frenndschafts- und Handelsvertrag mit derjenigen nord-
amerikanischen Republik abschloß, die soeben erst ihre Unabhängigkeit dem eng¬
lischen Mutterlande abgerungen hatte. Erst Friedrich Wilhelm II. suchte 1788
wieder eine Anlehnung an England gegenüber der österreichisch-russischen Er¬
oberungspolitik in Osteuropa, doch eine» wirksamen Beistand empfing er von
dorther keineswegs.
Und welches Gepräge rücksichtsloser Selbstsucht tragt die englische Politik
in den ersten Koalitivnskriegen gegen Frankreich! Der aussichtsreiche Zug
von Belgien gegen Paris im Jahre 1793 wurde dadurch verhindert, daß Eng¬
land auf der Eroberung von Dünkirchen für sich selber bestand; im nächsten
Jahre drängte es dann sein Sonderinteresse an der Behauptung Belgiens so
in den Vordergrund, daß Preußen, damals wieder durch Hilfsgelder England
verpflichtet, am Oberrhein den Krieg nur verteidigungsweise führen konnte,
und dennoch vermochte England die Franzosen an der Eroberung Belgiens
und Hollands nicht zu verhindern, sobald sich Österreich hier zurückzog. Es
wirkte dann wesentlich mit bei der Begründung der zweiten Koalition im Jahre
1799, weil die Franzosen mit der Eroberung Maltas und Ägyptens die eng¬
lische Herrschaft im Mittelmeer und in Ostindien bedrohte», und verdarb dann
doch den Erfolg des glänzenden oberitalienischen Feldzuges Suworows im
Jahre 1799 durch die Forderung an Österreich, den besten Teil seines Heeres
nach dem Niederrhein zu entsenden, um einen englischen Angriff auf Holland
zu unterstützen und den Russen Suworow von den Küsten des Mittelmeers
zu entfernen, weil Kaiser Paul I. selber an die Erwerbung Maltas dachte.
Die Sprengung der Koalition war das Ergebnis, und der Friede von Lüne-
ville 1801, also auch der Verlust des linken Rheümfers, war die Folge; Eng¬
land aber hatte sich inzwischen Ceylons, des Vorgebirges der guten Hoffnung,
Maltas und andrer Besitzungen bemächtigt und gab dann auch die nicht heraus,
die es im Frieden von Amiens 1802 zurückzugeben versprochen hatte, sodaß
der Krieg mit Frankreich abermals ausbrach. Als das geschehen war, that
England doch im Jahre 1803 gar nichts, um Hannover vor der französischen
Besitzergreifung zu schützen, dies Land, dessen tapfere Sohne ihm seine besten
Soldaten stellten und einen guten Teil jenes strahlenden Waffcnruhmes er¬
fochten haben, den dann die Briten unbefangen für sich in Anspruch nahmen;
wohl aber trieb die englische Politik Rußland und Österreich 1805 zu einer
dritten Koalition und vermochte dann doch selbst durch Nelsons Seesieg bei
Trafalgar nicht das geringste dazu beizutragen, um die kläglichsten Nieder¬
lagen und die schwersten Verluste von seinen Verbündeten abzuwenden. Aber
die französische Kriegsflotte war vernichtet, und die Alleinherrschaft Englands
auf dem Meere begründet. Und als dann die haltlose preußische Politik sich
1806 von Napoleon zur Besetzung Hannovers drängen und damit in einen
Gegensatz zu England hineintreiben ließ, da benutzte dies England, um in
einem rücksichtslosen Kaperkriege die blühende preußische Handelsschiffahrt fast
gänzlich zu vernichten. Nach dem Zusammenbruche des preußischen Staates
1806—1807, als sich 1809 Österreich erhob und die norddeutschen Patrioten
ebenfalls zu der Erhebung drängten, auf die alles seit Jahren vor allem in
Preußen zugeschnitten und vorbereitet war, da hätte England durch die Landung
einer ansehnlichen Streitmacht an der deutschen Nordseeküste dieser Erhebung
einen festen Rückhalt bieten, auf diese Weise den zaubernden König von Preußen
mit sich fortreißen und damit den Krieg gegen Napoleon entscheiden können.
Statt dessen unternahm es eine schließlich völlig vergebliche Landung in Holland,
Preußen blieb ruhig, Österreich unterlag und schloß sich eng an Frankreich
an; die Knechtschaft Europas wurde durch Englands Mitschuld um mehrere
Jahre verlängert. Wie haben dann 1813 die preußischen Staatsmänner und
Generale feilschen und markten müssen um jeden Pfennig englischer Hilfsgelder,
und wie teuer mußte schließlich Preußen diese kärgliche Unterstützung bezahlen!
Es gab im welfisch-englischen Interesse das treue Ostfriesland und damit seine
feste Stellung an der Nordsee auf fünfzig Jahre preis, und es mußte daun
noch erleben, daß sich England am 3. Januar 1815 mit Osterreich und Frank¬
reich verbündete, um den russisch-preußischen Plänen in Sachsen und Polen
entgegenzutreten. Und das Ergebnis? Hier der „deutsche Bund," die kläg¬
lichste Verfassung, die jemals einem großen siegreichen Volke auferlegt worden
ist, und die Zerteilung Preußens in zwei getrennte Gebietsmassen, zwischen
die sich das vergrößerte, eifersüchtige Hannover schob, ein Pfahl im Fleische
des preußischen Staates, dort die Sicherung der alles überragenden See- und
Kolonialherrschaft Englands!
Auch die allmähliche Erhebung Deutschlands unter Preußens Führung
hat stets mit dem Übelwollen Englands zu kämpfen gehabt. Der mühseligen
Begründung des Zollvereins warf Englands Handelsueid, wo es möglich war,
Hemmnisse in den Weg, es stellte sich 1848/49 und weiterhin in der schleswig¬
holsteinischen Frage dem deutschen Interesse mit offener Feindseligkeit gegen¬
über, ja Lord Palmerston wagte die schwarzrotgoldne Kriegsslagge, als sie sich
auf der Nordsee zeigte, als eine „Seeräuberflagge" zu bezeichnen. Im Krim¬
kriege wollte die englische Politik nach dem Beispiele früherer Borgänge
Preußen in den Krieg gegen Rußland hineintreiben, dessen Hauptlast damit
sofort auf die Schultern Preußens gefallen wäre, und es soll dem König
Friedrich Wilhelm IV. unvergessen bleiben, daß er, hierin von Vismarck, seinem
Bundestagsgesandter in Frankfurt, bestärkt, dem entschieden widerstrebt hat.
Wie die englische Presse 1863 und 1864 während des dänischen Krieges gegen
Deutschland tobte, wie das englische Unterhaus die Kunde von der angeblichen
Niederlage des österreichisch-preußischen Geschwaders bei Helgoland am 9. Mai
1864 mit lauten Cheers begrüßte, wie die parteiische Neutralität Englands
im Jahre 1870 die Franzosen begünstigt hat, das alles ist noch in frischer
Erinnerung.
Wenn wir diese lauge Reihe von Thatsachen vorführen, so wollen wir
damit keineswegs ein Sündenregister der britischen Politik aufstellen. Aber
zweierlei geht daraus unwiderleglich hervor. England hat in seinem Verhältnis
zu Deutschland niemals eine andre Richtschnur verfolgt, als die des eignen,
mit nüchternster Überlegung festgehaltenen scheinbaren oder wirklichen Vorteils,
der durchaus uicht immer mit dem Deutschlands zusammenfiel, und feine
Hilfe hat auch da, wo und soweit sie geleistet wurde, weder Niederlage noch
Sieg in einem festländischen Kriege jemals entschieden, während die Siege
seiner festländischen Bundesgenossenschaft England fast immer die größten Vor¬
teile, den Löwenanteil an der Beute, in den Schoß geworfen haben. An
diesem Verhältnis hat keine englische Regierung jemals etwas geändert, denn
dieses Verhältnis ist in der insularen Lage Englands und in dem Charakter
seines Volkes tief begründet, es wird sich auch niemals etwas daran ändern. Von
einer „zuverlässigen" Freundschaft Englands und Deutschlands ist also nie die
Rede gewesen und wird niemals die Rede sein, Stammesverwandtschaft oder
persönliche Versicherungen und Beziehungen ändern daran gar nichts. Das
muß offen ausgesprochen werden. Die Engländer sollen darüber klar werden,
daß wir Deutschen das wissen. Unsre Reichsregierung muß durch schwer¬
wiegende Gründe der gesamten europäischen Lage, die sich der öffentlichen
Kenntnis noch entziehen, bestimmt worden sein, dein englischen Standpunkt in
der ostafrikanischen Frage so weit entgegenzukommen, wie sie es jetzt und wie
sie es schon früher gethan hat. Denn sagen wir es gerade heraus: dies Ab¬
kommen gilt in weiten Kreisen patriotischer Männer durchaus nicht sür einen
Sieg der deutschen Interessen. Helgoland mag für uus nicht nur aus „senti¬
mentalen" Gründen, wie die Engländer sagen, sondern auch aus militärischen
Rücksichten wertvoll sein, tilgt doch dieser Erwerb einen letzten Rest der Fremd¬
herrschaft von alter deutscher Erde und die Erinnerung an eine Zeit des
Niederganges, aber wir haben für diese kleine Felseninsel, diesen „Sperling in
der Hand," wahrhaftig keine „Taube auf dem Dache" preisgegeben. Witu-
land und die Svmaliküste hatten wir längst in der Hand, und wir fürchten,
daß die freie Handelsstraße, die den Engländern im Seengebiet bewilligt
worden ist, nicht minder unklare und streitige Verhältnisse schaffen wird, als
die sind, die jetzt durch die Erwerbung der sansibarischen Festlandsküste aus
der Welt geschafft werden sollen, und wir sehen in dein englischen Protektorat
über Sansibar eine Gefahr für die ganze Zukunft unsers ostafrikanischen Fest¬
landes. Denn darüber können und dürfen wir uns nicht täuschen: wenn
Deutschland auf eine „zuverlässige" politische Freundschaft Englands nicht
rechnen darf, so besteht auf wirtschaftlichem Gebiete zwischen uns und den
Engländern offene Gegnerschaft, denn wir sind die einzigen Mitbewerber im
Kampfe um die Handelsherrschaft, die sie wirklich fürchten. Daß wir uns in
Afrika überhaupt festgesetzt haben, ist ein unbestrittener und glänzender Triumph
der Bismarckschen Staatskunst; daß wir dort auf möglichst gutes Einvernehmen
mit England angewiesen sind, wird niemand in Abrede stellen; aber daß Eng¬
land uns nur soweit und nur so lange nachgiebt, als es unbedingt muß, und
daß es jetzt wie immer kaltblütig unsre europäische Lage abschätzt, das steht
nicht minder fest. Darauf müssen wir Deutschen uns einrichten, mit derselben
kaltblütigen Überlegung wie die Engländer, ohne Haß, aber auch ohne jede
falsche Vertrauensseligkeit.
Der Reichskanzler hat dem Abgeordneten Enge» Richter
Gelegenheit verschafft, sich wieder einmal in voller Breite vor die bedrohte Parla¬
mentarische Freiheit zu stellen. Damit hat sich Herr v, Caprivi unleugbar ein
Verdienst erworben— um Herrn Richter. Denn da dieser dem altgewohnten
Tagewerk, das Reich vom Tyrannen Bismarck zu befreien, nicht mehr obliegen
kann, auch anderweitig gekränkt worden ist, müßte man um seine Gesundheit besorgt
sein, wenn ihm nicht dann und wann eine kleine Aufmunterung zukäme. Er zeigte
sich denn auch ganz als der Alte! er wahrte das Recht der Abgeordneten, zu
interpelliren, das gesetzlich gewährleistet ist und von niemand angefochten war; er
verbreitete sich über die Nützlichkeit dieses Rechtes, die von niemand bestritten wurde.
Nur der Wunsch war ausgesprochen worden, die Herren möchten, bevor sie sich in
auswärtige Angelegenheiten mischen, den Kanzler von der Absicht unterrichten. So
Ist es herkömmlich, in allen Ländern, die die parlamentarischen — hin hin! sagen
Nur Backsischjahre hinter sich haben. Nur Volksvertreter, die lieber die Inter¬
essen fremder Volker als die des eignen vertreten, und solche giebt es ja leider in
manchen Ländern, setzen sich über jene Regel des parlamentarischen Auslandes hinweg.
Wäre in Deutschland die Parlamcntsschnle nicht 1849 geschlossen worden, so
hätten Nur ebenfalls schon ein Schwnbenalter in dem Fach erreicht und wohl gewisse
Fuchsansichlen und Fnchsmaniereu abgestreift. Es ist billig, diesen Umstand zu be¬
rücksichtigen. Gleichwohl giebt es einen deutschen Reichstag, selbst ohne Hinzu-
rechnnng des norddeutschen und des Zollparlaments, schon so lange, daß die Er¬
örterung von Fragen des Komments eigentlich nicht mehr nötig sein sollte.
Interpellationen wie die des unverdient in Vergessenheit geratenen Abgeordneten
Piepmayer, der die übliche Formel! „Ist dem Herrn Minister dieser Vorfall be¬
kannt, und was denkt er zu thun u. f. w.?" mit der drnstischeu Schilderung ein¬
leitete, wie der Nachtwächter in Tripstrille einen Angeheiterten nicht mit der einem
freien Manne und UrWähler zukommenden Ehrerbietung behandelt habe, kommen
allerdings kaum mehr vor, doch danken wir das wahrscheinlich nur der weisen
Bestimmung, daß Interpellationen eine größere Anzahl Unterschriften haben müssen.
Denn nicht nur die Beneidenswerter, die sich jugendliche Unerfnhrenheit und Bor-
schnellheit im Urteil bis in das Greisenalter bewahrt haben, halten es heute noch
für des Volksvertreters erste Pflicht, die Männer der Regierung zu ärgern und in
Verlegenheit zu bringen, auch ein Nachwuchs bekennt sich stolz zu diesen Grund¬
sätzen von 1848. Und immer ist die auswärtige Politik das Feld, ans dem sich
der Dilettantismus am liebsten tummelt. Das erklärt sich leicht. Um über alles
Reden zu halten, ob man nun etwas davon versteht oder nicht, dazu gehört eine
Virtuosität, die sich nnr wenige anzueignen vermögen; in Sachen der Verwaltung,
der Gerichlspflege, des Unterrichts, der Landwirtschaft n. f. w. kann man sich gar
zu leicht Blößen gebe«, die von Sachverständigen rücksichtslos ausgebeutet zu werden
pflegen; aber in der äußern Politik ist bekanntlich fast jeder Zeitungsleser Fach¬
mann. Wir würden sagen: jeder ohne Ausnahme, wenn es nicht Minister des
Auswärtigen gäbe. Denen wird in der Regel durch vieljährige Studien und
praktische Beschäftigung in ihrem Fache und durch die Kenntnis der diplomatischen
Beziehungen jene frische, fröhliche Unbefangenheit geraubt, mit der die Herren Piep¬
mayer an die Besprechung der verwinkeltsten Fragen gehen, um sie spielend zu lösen.
Da die gelehrten Herren, die vor fünfundzwanzig Jahren dem Dilettanten
Bismarck in so uneigennütziger Weise Unterricht in den Anfangsgründen der aus-
wärtigen Politik erteilten, sich in ihren Bemühungen mich dadurch nicht irre machen
ließen, daß er recht zum Trotz gegen ihre Lehrsätze von Erfolg zu Erfolg schritt,
ist es ja begreiflich, wenn sie doppelt beflissen sind, seinein Nachfolger, der sich
nach eigner Erklärung in seinen Wirkungskreis erst einarbeiten muß, dabei hilfreich
an die Hand zu gehen. Es wäre doch zu schmerzlich, wenn er sich dnrch das böse
Beispiel verlocken ließe, den gesunden Menschenverstand hoher anzuschlagen, als die
freisinnige Doktrin. Und, sagt Piepmaher im Vollgefühl seiner Würde, wenn jede
Zeitung das Recht hat, die Beziehungen Deutschlands zu den andern Mächten zu
untersuchen und deu Minister zu beraten, so muß uns wohl dasselbe zustehen, ja
wir sind verpflichtet, darüber z» wachen, daß dem Reiche kein Schade geschieht.
Dagegen wäre nur einzuwenden, daß Zeitungsartikel, für die keine Negierung ver¬
antwortlich gemacht werden kann, trotzdem mitunter Verstimmung hervorrufen, und
daß parlamentarischen Verhandlungen ein etwas größeres Gewicht beigelegt wird.
Das versteht sich von selbst, erklärt unser Mann. Die Geheimniskrämerei
muß ein Ende nehmen, alles öffentlich verhandelt werden, es darf mir geschehen,
was die Volksvertretung weiß und gebilligt hat. Wenn das überall Gesetz wäre,
so gäbe es keine Schwierigkeiten, keine Mißverständnisse nud MißHelligkeiten, keine
Kriege mehr, denn die Volker wollen ja nichts andres, als in Frieden und Ein¬
tracht neben und mit einander leben. Die gute Seele!
Mau kann sich sein Ideal leicht ausmalen. Der Minister legt einen Gesnndt-
schaftsbericht vor, demzufolge hie und da Zettelnngen gegen Deutschland stattfinden.
Die Redner prüfen und beleuchten deu Bericht von allen Seiten und gehen denn
zur Tagesordnung über, „in Erwägung," daß der Gesandte höchst wahrscheinlich
das Opfer einer Mystifikation geworden sei, da so schwarze Pläne keinem Staate
zuzutrauen seien und, falls sie wirklich bestanden hätten, sie durch die Veröffent¬
lichung bereits unschädlich gemacht wären. Oder die Regierung teilt geheime Ver¬
handlungen politischer oder wirtschaftlicher Natur mit einem andern Staate mit,
die Forderungen, die von deutscher Seite gestellt wurden, und die Zugeständnisse,
zu denen man sich äußerstenfalls herbeilassen würde. Natürlich erklären freisinnige
Biedermänner ein derartiges Feilschen und Markten sür durchaus unwürdig eines
großen Reiches; Vertrauen erwecke wieder Vertrauen, man müsse sofort das letzte
Wort sprechen, und zwar noch viel mehr bewilligen, als beabsichtigt sei, um die
gute Meinung der Fremden zu gewinnen, die es natürlich reizen werde, wenn auf
ihre Kohle» den Deutschen Vorteile zugewendet würden.
Diese Schilderung wird nicht übertrieben genannt werden können angesichts
der Verhandlungen über den Paßzwang in den Reichslanden. Wenn die Elsässer
darüber klagen, ist ihnen das nicht zu verargen, aber sicherlich vermochten sie viel
zur Beseitigung der Ursachen der Ausnahmemaßregel beizutragen. Sie wissen, daß
die Regierung lange Zeit nur zu geneigt war, einzig Güte und Milde walten zu
lassen, und welche Früchte dieses System getragen hat. Es ist schlimm, daß
Elsässer diesseits und jenseits der Grenzen nach zwanzig Jahren noch immer nicht
an die Dauer der Verbindung des Landes mit dem Reiche glauben wollen, noch
immer mit dein Franzoseutum liebäugeln und die Frnuzoscn in ihren kindischen
Einbildungen bestärke»; es ist schlimm, aber daß darunter Unschuldige mit den
Schuldigen zu leiden haben, läßt sich nicht ändern. Aber wie thöricht vollends,
wenn „Altdeutsche" in das Lied mit einstimmen! Noch hat unsers Wissens kein
einziger Staatsmann in Frankreich gewagt, den Frankfurter Frieden als zu Recht
bestehend offen anzuerkennen. Schmeicheln sie nicht dem Aberglauben ihrer Lands-
leute, daß Frankreich von Deutschland überfallen, vergewaltigt, beraubt worden sei,
so drücken sie sich doch mit gewundenen, zweideutigen Redensarten um die Wahr¬
heit. Und sogar der vorsichtige Carnot hat sich nicht gescheut, Angehörige des
deutschen Reiches oder Leute, die sich dafür ausgaben, für ihre Anhänglichkeit an
Frankreich zu beloben. In Italien hütet man sich sorglich, von den vor dreißig
Jahren geopferten Gebieten zu sprechen, und trotzdem, wie würde ein französischer
Tepntirter behandelt werden, der sich Herausnehmen wollte, von den Zollplackereien
an der italienischen Grenze in einem Tone zu sprechen, wie er i» jenem Fall im
deutschen Reichstage angeschlagen worden ist!
Die Herren, die nicht begreifen wollen, daß bei der Besprechung der aus¬
wärtigen Beziehungen Rücksichten zu nehmen sind, werden es sich eben gefallen
lassen müssen, ans vorwitzige Fragen gar keine Antwort zu erhalten. Und ans
diese Art werden sie die Bedeutung des Parlaments merklich erhöhen. Es ist
die Art des onorevolö-Imdriam, der Herren Magyaren, die bei dem fortwährenden
„Sichzurerdeneigeu vor dem Herrn Gouverneur" (nicht „zu Pferde," sondern zu
Turin) ihr bißchen Verstand verloren haben, und ähnlicher Kirchenlichter. Unzweifel¬
haft betrachten es die Freisinnigen als eine Ehre, mit diesen verglichen zu werden.
Wenn ihnen darnach der Gaumen steht!
ist unsers Wissens noch nicht ge¬
schrieben worden, und es würde doch, wie nicht nur empfindsame Kammermädchen
und Friseurgehilfeu bezeugen werde», einem wirklichen Bedürfnis entgegenkommen.
An Schriftstellern, die den Beruf für eine solche Arbeit hätten, ist jn kein Mangel,
sie laufen in allen — Zeitungen herum. Eher würde die Wahl zwischen so vielen
Kräften schwierig sein. Vielleicht wäre es am besten, eine Gesellschaft, gewisser¬
maßen eine freie Akademie für diesen Zweck ins Leben zu rufen, damit wir gleich
ein klassisches Werk erhielten, einen gründlichen Ratgeber für alle Fälle des Lebens
und für alle Arten des blühenden Stils. Und zu diesem Zwecke würde sichs
empfehlen, über besonders hervorragende Leistungen und deren Schöpfer Buch zu
führen, damit kein Berufener Übergängen werden konnte. Wie schade wäre es z. B,,
wenn der Anfmerksamkeit des strebsamen Verlegers, der, wie wir hoffen, unsern
Gedanken aufnehmen wird, der Verfasser eines kurzen Aufsatzes über den Roman-
dichter Heinrich König entginge. Am liebsten möchten wir den Aufsatz unverkürzt
zum Abdruck bringen, müßten jedoch fürchten, mit den Gesetzen zum Schutze des
Autorrechtes in Berührung zu kommen. Auch werden einige Proben geniigen, um
unsre Begeisterung verständlich zu machen; Randbemerkungen dazu siud im allge¬
meinen überflüssig, abgesehen davon, daß die Druckerei in Verlegenheit kommen
könnte, wenn wir sie nötigen wollten, alle Stellen, die einen Anspruch darauf hätten,
mit einem ! zu begleiten. „Aber das warme Mitgefühl, das man Königs ver¬
schlungenen Verhältnissen entgegenbrachte, war ein tieferes, ein nachdrücklicheres . . .
hier tönt der Flügelschlag der im Morgenrot dämmernden modernen Zeit, deren
Übergewicht mit den 1343er Vorgängen endgiltig besiegelt ist." — „Wie die¬
jenigen ... ist auch er bestrebt, den Kern seines Wesens mit einer Schale zu
umkleiden, die mit den veränderten Bedingungen des Weltlaufs rechnet." Der
rechnenden Schale würde Polonius sicher seinen Beifall nicht versagt haben.
„. . . bis der Widerstreit zwischen der amtlichen Stellung und dem Wunsche uach
Beteilung (so!) an den jungen freiheitlichen Vorstoßen zum Ausbruch kam." —
„Der Stil ist stetig übervoll an individuellen Lichtern, im ganzen durchgebildet
und rund, stellenweise freilich geistreichelild. Das Einströmen seitens (!) einer scharfen
Witzader macht sich nicht bloß da und dort geltend." Scharfe Ader — wie oben.
„Alles dies sind nicht wehelos geborne Kinder der Göttin Phantasie, indem König durch
schlingpslnnzenartig eingewvbencs subjektives Material die Durchführung erschwerte" ?e.
Fränkel heißt dieser ausgezeichnete Schriftsteller.
Wie oft hat mau seit Fr. A. Wolf schon versucht, in>s den Überarbeitungcnt und
Nachdichtuugen der homerischen Epen den Kern des Liedes vom Zorne des Achilleus
und der Heimkehr des Odhsseus herauszuschälen! Bei der Summe von Arbeit, die
an diese Forschungen gewendet worden ist, bleibt nur zu bedauern, daß fast jeder
Gelehrte zu andern Ergebnissen gelangt als sein Vorgänger. Auch der Verfasser
des vorliegenden Buches, der mit ästhetischen Erwägungen eine Urilicis zurccht-
schneidet, giebt sich wohl vorschnellen. Hoffnungen hin, wenn er glaubt, „die ur-
sprüugliche Ilias aus dem Schütte der Überlieferung hervorgezogen zu haben."
Zwar behauptet er: „Höchst überraschend ergab sich die Beobachtung, daß überall,
wo die Fäden der Dichtung abrissen, wo fremde, willkürliche Motive (!) auf¬
traten und die ursprüngliche Komposition (!) zersprengten, auch der sprachliche Aus¬
druck sich als ein fremdartiger, entlehnter, mechanisch (!) gebrauchter erwies." Aber
der Beweis hierfür läßt sich schwerlich „überall" führen! Mit welcher Willkür
vielfach vorgegangen wird, zeige ein sprachliches und ein sachliches Beispiel.
Auch beim Tode des Patroklos mag das Gedicht Einschiebungen erlitten
haben. Der Verfasser kaun sogar die Verse angeben: „Daß die Stelle 793 bis
804 unecht ist, sagt allein der Versanfang 822: »Klirrend stürzt er zu Boden,«
was stets vom Falle gerüsteter Helden gebraucht wird; nach den obigen Versen
793 bis 804 ist der (!) Patroklos schon seiner Wehr beraubt." Nun heißt aber
das Wort, das wir bei Homer lesen, garnicht „klirren," sondern „dumpf dröhnen,"
was offenbar auch vou einem nngerüsteten Mann, der in schwerem Falle zu Boden
schlägt, gesagt werden kaun, und so lesen wir es wirklich auch in der Odhssee bei
der Ermordung der Freier, die doch gewiß nicht im Harnisch beim Weine saßen!
''
Zu der Schilderung, daß Teutroh „jedesmal, wenn er gestoßen hat, hinter Aias
Schild seine Zuflucht nimmt," wird bemerkt: „Eine mehr als drollige Vorstellung!"
Das „gestoßen" ist wohl nur ein Druckfehler für „geschossen." Was aber die
Sache selbst anlangt, so schützt sich Tenkros im Gedichte genau so, wie Hunderte
von Bogenschützen auf griechischen Vasenbildern und auf äghptischen und asshrischeu
Reliefs einen Schwerbewaffneten neben sich haben, dem zunächst, bevor es zum Nahkampfe
kommt, lediglich die Aufgabe zufällt, seinen schildlosen Genossen mit dem eignen Schilde
zu decken. Die Verbindung eines Bogenschützen und eines Schwerbewaffneten war
also im neunten und achten vorchristlichen Jahrhundert etwas ganz Gewöhnliches. Sieht
etwa der Verfasser auch in diesen geschichtlichen Darstellungen, zu denen allerdings
ein „ästhetischer Kommentar" nicht möglich ist, eine mehr als drollige Vorstellung?
"
Am häufigsten rufen die „ästhetischen Erwägungen des Verfassers den Wider¬
spruch hervor. Es ist wohl überhaupt unstatthaft, mit unsern heutigen Empfin-
dungen und Anschauungen ein mehr als zwei Jahrtausende altes Gedicht meistern
zu wollen. Erfreulicher, als der zweite Teil des Buches, ist der erste, der die
Menschen der „ursprünglichen" Ilias in ihrem Verhältnis zur Schöpfung, zu deu
Göttern und zu deu Mitmenschen bespricht.
"
, „Unerfindlich ist, was ans dein Umschlage der stopf des praxitelischen Hermes soll.
Eine Lebensgeschichte Walthers von der Bogelweide, die liber die gelehrten
Kreise der Geriuanisten hinailsgedruugen wäre, ist trotz Uhland, Lachnlann, Scherer,
Wilmanns und wie alle die um die Wnltherforschulig verdieuteic Gelehrten heißen,
noch nicht geschrieben worden; mit andern Worten: Walther von der Vogelweide
gehört zu den vielen mehr genannten als bekannten Geistesgrößen, die in der Schule
gelehrt, dann aber kaum mehr gelesen werde». Es ist Thatsache, daß trotz all der
großartigen Arbeit der Germanistik der heutige Gebildete nur sehr mittelbar von
ihren Ergebnissen berührt wird. Nur Gustav Freytag hat mit seinen „Bildern
aus der deutscheu Vergangenheit" wirklich einen unmittelbare« Verkehr zwischen der
germanistischen Wissenschaft und den, Publikum hergestellt. Offenbar war in diese
Lücke einzutreten der Zweck der obengenannten Schrift des trefflichen Grazer Ger¬
manisten Schönbach, der sich anch in andern Schriften als ein liber die engen
Schulgrenzen hiuausblickeuder Gelehrter bekundet hat. Und die vielen, die gerade
in der letzten Zeit, wo das Denkmal Walthers in Bozen enthüllt worden ist, so
viel von der Schönheit seiner Gedichte gehört und gelesen haben, ohne sich in
zuverlässiger Weise liber ihn unterrichten zu Wurm, werden Schönbnch dankbar
sein für sein ebenso gediegnes als geistvolles Büchlein.
Die Aufgabe, Charakter und Wert eines lyrischen Dichters darzustellen, ist
wohl eilte der schwierigsten sür den Literarhistoriker, umso schwieriger heutzutage,
wo der Sinn für Lyrik ganz und gar eingeschlafen zu sein scheint. In einem,
dünnen Bändchen guter lyrischer Gedichte liegt mehr Geist, Gemüt, wahres Er¬
lebnis, Reichtum und Mannichfaltigkeit alt Zuständen und Stimmungen beisammen,
als in einer Bibliothek von Romanen, die alle über einen Leisten geschlagen sind.
Dem kühlen Leser den Wert eines lyrischen Gedichtes auseinanderzusetzen, ist meist
viel schwieriger, als ihn für eine hübsche epische Erfindung zu erwärmen. Es
bedarf da des ästhetischen Anschauungsunterrichtes, denn das Gerede nützt gar
nichts, wenn mau nicht die Sache klar und durchsichtig vor Augen hat.
Schönbach war sich gewiß dieser obersten Schwierigkeit seiner Aufgabe bewußt,
und wie er sie lehrreich und fesselnd gelöst hat, verdient die wärmste Anerkennung.
Natürlich stellt er im Geiste der modernen Geschichtsbetrachtimgen Walther mitten
in seiner Zeit dar. Die Charakteristik von Minnesangs Frühling, von Reinmar dem
Alten soll uns einführen in den Geist und Zustand der Lyrik, die Walther vor¬
fand, als er schaffend in die Welt und Dichtung eintrat. Wir sehen Walthers
Selbständigkeit wachsen; in der Mitte des Buches stellt ihn Schönbnch als Gast
Hermanns von Thüringen auf der Wartburg im Verkehr mit dem nach seinen»
Urteil größten Dichter des deutschen Mittelnlters, Wolfram von Eschenbach, dar,
von dem Walther tiefgehende Anregung empfing, dann folgt die Charakteristik seiner
Wandlung vom klassisch-höfischen Ton zum volkstümlicheren, worin er dann von
Reinhard von Nenenthnl realistisch übertrumpft wurde. Dies alles geschieht durch
fortlnnfende Anführung und Zergliederung der Gedichte Walthers. Zudem wir
— soweit es möglich ist — Zeit und Gelegenheit des Entstehens der Lieder kennen
lernen, lesen wir sie (freilich ins Hochdeutsche übertragen), mit wirklichem Verständnis.
Das will illis als die wertvollste Eigentümlichkeit von Schönbachs Buch erscheinen.
Seine Auffassung Walthers weicht vielfach von der herkömmlichen ab. Gleich
im Beginn erklärt er, daß nach all den vorhandnen Urkunden Tirol wohl am
wenigsten Anspruch auf die Heimat Walthers habe. Deswegen, will er aber. den
Tirolern keineswegs ihre Freude verderben, er meint auch, daß das Walther-
Denkmal nirgends besser stehen könne als in Bozen, an der Straße nach Italien,
an der Grenzscheide zweier Sprachstämme. Aber er muß sich doch gegen die mit
viel Lärm'verbreitete Meinung wenden, Walther sei ein Tiroler gewesen. „Nicht
ein einziger Aufenthalt Walthers in Tirol ist nachgewiesen. Sollte er, umschweifeud
wie er die Welt durchfuhr, niemals das Bedürfnis empfunden haben, in die Berge
seiner schönen und damals auch reichen Heimat zurückzukehren, und sollte er uns
das nirgends angedeutet haben?" Niederösterreich erscheint ihm viel wahrscheinlicher
als Heimat Walthers.
Originell ist Schönbachs Psychologische Charakteristik Walthers ans Grund seiner
Sprüche und Gedichte, die sich hütet, ein nebelhaftes Idealbild eines deutschen
Minnesängers zu entwerfen, die auch die Schwäche» des von seinem Berufe lebenden
fahrenden Säugers, sein Schwanken zwischen den politischen Parteien, seine leiden¬
schaftliche Einseitigkeit im Kampfe, seine Befriedigung, wenn er rechten Lohn für
politisch-poetische Parteinahme erhält, mit Nachdruck hervorhebt. Denn in Schön¬
bachs Augen war Walther ein sanguinischer Mensch, leicht erregbar, mit starkem
Selbstgefühl, der eifersüchtig über seine Würde wachte und sich nichts vergeben
mochte. Er auch war ein strebender, der sich nur allmählich läuterte, spät Herr
seiner Leidenschaften wurde. Die Art, wie Schönbach diese Charakterzüge Walthers
aus seiner gnomischen Dichtung erschließt, ist methodisch lehrreich und tiefsinnig. Zu den
glänzendsten Teilen des Buches rechnen wir die Darstellung der Politischen Zustände,
in die Walther mit seinem Worte eingriff; namentlich lehrreich ist die Darstellung
des Verhältnisses von Kaiser und Papst. Die Bannsprüche von Rom wirkten nur
dann, wenn die Politischen Interessen der einzelnen Reichsfürsten mit dein Willen
des Papstes zusammengingen, sonst waren sie ein Schlag ins Wasser. Daher ver¬
einigte sich die echte und katholische Religiosität Walthers ganz Wohl mit seiner
Papftfeindschaft, und nichts ist verfehlter, als das Hineintragen des modernen
Liberalismus in den mittelalterlichen Dichter. Um diese möglichst reine Auffassung
des Mittelalters, wo die Religion alle Lebensadern durchdrang und z. B. unter
andern: eine Freizügigkeit ermöglichte, die sich das Zeitalter der Eisenbahnen kaum
träumen läßt, ist es Schünbach am allermeisten zu thun.
Schönbachs Buch eröffnet eine Reihe von Biographien: „Führende Geister,"
die in demselben Verlage, von Anton Bettelheim herausgegeben, erscheinen
sollen. Wilbrandt, Erich Schmidt, Alois Brandt, Richard Weltrich sollen die
folgenden Bände liefern.
Dieses Buch eröffnet die Reihe der „Gesammelten Werke," die Karl Frenzel
nach mehr als dreißigjähriger litterarischer Thätigkeit herauszugeben im Begriffe
steht. Es enthält Aufsätze sehr verschiednen Inhalts; zuerst Charakterbilder von
Gutzkow, Auerbach, Meißner, Fanny Lewald, Ernst Dohm, Bernhard Wolff (dem
Begründer des Wolffschen Telegraphenbüreans), denen allen Frenzel im Leben nahe
gestanden hat, und über die er daher mit der Sicherheit persönlicher Erfahrung
sprechen kaun. Das sind die „Erinnerungen." Dann folgen Studien über die
Aufgaben der Geschichtschreibung, über den Begriff des Modernen in der Kunst,
über den Geist der Mttrchenpoesie, über den Naturalismus; endlich Kritiken und
Studien zur religiöse» Bewegung in unsrer Zeit: über den Atheismus (veranlaßt
durch das Buch von Eduard Duboc „Das Leben ohne Gott"), über David Strauß,
über das Urchristentum, über den Untergang des griechischen und römischen Heiden¬
tums. Das sind die litterarischen und religiösen Strömungen.
Man sieht, es wird hier eine bunte Menge von Stoffen behandelt; der Zweck
des Buches ist, die vielseitige Persönlichkeit des Verfassers nach allen Rich¬
tungen, in denen er sich litterarisch bethätigt hat, zur Anschauung zu bringen.
Darum wird es auch von dem Bruchstück einer - Selbstbiographie eingeleitet: „Wie
ich in die Litteratur kam."
Die maßgebenden Anregungen für sei« Leben erhielt Frenzel von sehr ver-
schiednen Seiten. Er betont es, daß allen Männern, die das Jahr 1848 als
Jünglinge nuterlebt haben, ein idealer Sinn, Begeisterung für Freiheit, glaubens-
freudigcr Schwung und Pathos im Gegensatze zur folgenden Zeit des Pessimismus
unverlierbar eingeprägt wurde; er betrachtet sich selbst als Achtundvierziger. Das
ist sein Charakter. Sein wissenschaftlicher Geist erhielt durch Ranke, den er hörte,
nachdem er sich einmal für den wissenschaftlichen Beruf entschlossen hatte, die
wichtigste Schulung. Und für die schöne Litteratur ist ihm sein früher Verkehr mit
Gutzkow, der ihn in die Litteratur eingeführt hatte, .und zu dem er auch jetzt mit
Treue hält, ohne ihn deshalb zu überschätzen, von richtunggebendem Einfluß geworden.
In religiösen Fragen ist Frenzel, bei allem Haß gegen Fanatiker, gegen Un¬
duldsamkeit, konservativ. Seine Polemik gegen David Strauß (Der alte und der
neue Glaube) und Eduard Duboc ist deshalb so interessant, weil er nicht als
Dogmatiker, sondern als liberaler Gemütsmensch die Proselytenmacher des Atheis¬
mus ebenso entschieden von sich weist, wie die irgendeiner Kirche. Religiöse
Überzeugung ist ihm etwas so tief Persönliches, daß er sich von keinem andern
was dreinreden lassen will. Er weist mit Recht darauf hin, daß solche Bücher,
wie sie Strauß und Duboc geschrieben haben, nur eine ganz kleine Zahl von
Menschen angehen und nichts weniger als volkstümlich sein können, und diese
kleine Zahl, die Muße und Bildung genug hat, sich eine eigne religiöse Überzeugung
zu bilden, bedarf solcher Bücher nicht. - Das Volk aber kann die Religion schlechter¬
dings nicht entbehren; die Bemühungen des achtzehnten und auch des neunzehnten
Jahrhunderts, das Christentum zu zersetzen, haben genan das Gegenteil bewirkt,
die Kirchen sind nur stärker geworden. Frenzel erklärt sich demnach recht im Gegen¬
satze zu Strauß ausdrücklich für einen Christen: den Glauben an die Unsterblichkeit
der Seele und an einen Gott kann er sich nicht nehmen lassen- Nur betont er,
auch im Gegensatze zu Strauß, daß man den Begriff des Christentums nicht ab¬
strakt bilde« dürfe, fondern seine geschichtliche Entwicklung und Verwirklichung wohl
beachten müsse. In diesen: Sinne ist der philosophische Atheist, der sich vom Dogma
lossagt, doch Christ, weil er ein Bürger der Gegenwart ist, die in allen ihren
Einrichtuuge« und sittlichen Gesetzen und Forderungen ein Werk des Christentums ist.
So wie aber Frenzel die geschichtliche Denkart maßgebend für sein religiöses
Bekenntnis hat werden lassen, so ist sie es auch in allen andern Grundverhältnissen
für ihn geworden. Er ist kein Philosophischer Geist im engern Sinne, darum auch
kein Doktrinär, kein Idealist, sondern ein Realist, nicht ohne einige Verschwommenheit,
nicht ohne einige Schwächlichkeit, wie sie notwendig eine Folge dieser objektiv
historischen Art, die Welt zu betrachte», ist. Es ist ihr z. B. nichts so sehr ent¬
gegengesetzt als die Carlylesche Heldenverehrung, denn alle Geschichte wird in ihr
nur durch den Erfolg der Ideen in der Menge bewirkt; sie weist mit verstärktem
Nachdruck auf die Stützen und Hilfen und Voraussetzungen und Zufälle hin, die
das einzelne Genie begleitet haben. Nicht für die Idee an sich vermag sie. sich zu
erwärmen, sondern mir für die aus ihr entstandenen Thatsachen, die allein so
mächtig find, daß sie den Gang der Dinge beherrschen. Ans dieser Betrachtungs¬
weise, die die Verhältnisse über die Charaktere stellt, entsteht die moderne Kultur-
geschichte, und es ist nur logisch, daß sich Freuzel für diese Wissenschaft am leb¬
haftesten interessirt. Sein Buch enthält einzelne sehr schöne Stücke kulturgeschichtlicher
Art. Diese zeichnen sich — obwohl sie ihr Material ans zweiter Hand haben —
durch die Weite und Höhe des Standpunktes und Gesichtskreises aus, durch den
Reichtum von Analogien zwischen zeitlich weit entfernten weltgeschichtlichen Vor¬
gängen und durch die geistreiche Darstellung, besonders der Abschnitt- „Aufgaben,
der Geschichtschreibung."
Die geschichtliche Betrachtungsweise erzeugt die versöhnliche Milde im Urteil
über zeitgenössische Vorgänge- „altes schon dagewesen"; aber — für unser Gefühl —
benimmt sie dem Verfasser als Kritiker die packende Energie, in der Darstellung
seiner Ideen. Man lese nnr seine gegen den Naturalismus gerichteten Kapitel.
Sie bemühen sich so ausführlich, dessen Entstehung als eine geschichtliche Not¬
wendigkeit begreiflich zu macheu, daß die andre Hälfte, die die naturalistischen
Dichtungen vom Staudpunkte des ästhetischen Genusses verurteilt, dagegen sehr
abfällt. Gewiß sind viele feine Bemerkungen in dieser geschichtlichen Erklärung
enthalten, aber «och viel wichtiger wäre die kräftige Darstellung dessen, was sein
soll. In diesem Sinne ist Frenzels Kritik nicht fördernd und anregend genug.
Mau behält deu Eindruck der Feinheit, aber anch der Weichheit von seinem Buche.
Sich dem geschichtlich gegebenen ganz ergebenst anzuschließen, ist nicht die Art der
starken Naturen, es ist vielmehr ein Verzichtleisten auf die Ausbildung eigner
Ideale. Das ist aber die notwendige Folge der wissenschaftlichen Methode, die
Frenzel zur seinigen gemacht hat. Sie ist streng genommen nicht produktiv.
Am meisten erfreuen die liebevoll ausgeführten Charakterbilder, die das erste
Drittel des starken Bandes füllen. Selten wird mau da auf Urteile stoßen, denen
mau nicht zustimmen könnte. Unwahr Null uns das herbe Urteil über Otto Ludwig
is. 115) erscheinen. „Für das große Publikum gehört er jetzt schon zu deu fast
völlig vergessenen. . . auf keiner Bühne vermochten sich die »Makkabäer« auch nur
als Treibhauspflanze dauernd zu erhalten" n. dergl. in. Das ist fast wie durch
die Brille persönlicher Abneigung gesehen. Die „Makkabäer" erlebten im letzten
Jahre des Wiener Burgthcaters eine gewaltige Auferstehung.
Auch ist zu bedauern, daß Frenzel die einzelnen Aufsätze uicht vor ihrem
Abdruck in Buchform einer sorgsameren Durchsicht unterzogen hat; er hätte bei Meißner
doch der Wahrheit gemäß erwähnen müssen, daß er durch Selbstmord endete, was
er zu der Zeit, wo er den Nekrolog schrieb, noch nicht wissen konnte; der Streit
mit Hedrich durfte jetzt mich nicht mehr Übergängen werden. Ebenso hätte er bei
Auerbach ergänzen können, daß sich seine Vermutung über dessen drnmatnrgisch-
kritischeu Nachlaß bestätigt hat, und daß dieser auch früher oder später erscheinen
wird. Auch stilistisch die Feile anzusetzen, wäre stellenweise nicht unnötig gewesen,
denn seine „Gesammelten Werke" giebt man nicht für den Tag heraus, und da ist
Jur Beachtung
Mit dem nächsten Beste beginnt diese Zeitschrift das F. Vierteljahr ihres 4g. Jahr¬
ganges. Sie ist durch alle Buchhandlungen und vostanstaltcn des In- und Auslandes zu
beziehen, preis für das Vierteljahr g Mark, wir bitten um schleunige Erneuerung
des Abonnements.
Leipzig, im Juni Mo Die Verlagshandlung