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]]>Zeitschrift
für
Politik, Litteratur und Kunst
H8. Jahrgang
Viertes Vierteljahr
Leipzig
Verlag von Fr. !Vils. Grunow
^389
onntag den 22. September haben in Frankreich die Wahlen statt¬
gefunden, denen die dortigen Parteien und viele von unsern
Zeitungspolitikern erwartungsvoll entgegengesehen hatten. Das
französische Volk sollte sich, wenn man diesen Kreisen glauben
durfte, in einer Weise wie noch nie seit Errichtung der Republik
über seine Stellung zu dieser Staatsform aussprechen, es sollte zunächst „über
die Männer des 16. Mui seinen Wahrspruch fällen," es sollte „seine zukünftigen
Geschicke entscheide!?", und was dergleichen Redensarten mehr waren. Unser
Gedächtnis, das die Erinnerung an wichtigere Wahlschlachten des westlichen
Nachbarvolkes bewahrt, unsre Kenntnis des Volksgeistes überhaupt und unsre
Anschauung vou der gegenwärtigen Stimmung der Massen in Frankreich ge¬
statteten uns keine so weit reichenden Erwartungen von der bevorstehenden Ab¬
stimmung, wir sahen keine entscheidende Schlacht herankommen, weder einen
großen Sieg der herrschenden, noch einen Sieg der nach der Herrschaft be¬
gehrenden Parteien; denn wir schützten beide Gruppen, von denen die eine die
Freunde des Bestehenden, die andre die Gegner zunächst der jetzigen republi¬
kanischen Verfassung, dann die der Republik überhaupt umfaßte, für ungefähr
gleichstark, indem der letztern Seite zwar die Lust des französischen Volks am
Wechsel, verstärkt durch deu Blick auf die geringe Befähigung der herrschenden
Partei, fruchtbar zu regieren, ans deren grobe Mißgriffe und Unterlassungs¬
sünden zugute kam, der andern Seite aber zuvörderst ihre Eigenschaft als
do-lU xosMöirtös, als Inhaberin der Regierungsgewalt und damit der Macht,
die Wahlmaschinerie durch ihre Beamten in ihrem Interesse zu lenken, dann
der neben jener Wechselsucht bestehende, an sich schon nicht seltne und durch
das Gelingen der Ausstellung weiter verbreitete Wunsch, es „löge beim Alten
bleiben, das näher besehen gar nicht so übel sei, nicht wenige Wählerstimmen
zuführen mußten. Die Wahlen vom 22. September haben der hierauf ge¬
gründeten Erwartung entsprochen, sie haben an dem Bisherigen nicht viel ver¬
ändert, sie haben nur gezeigt, daß die Republikaner stärker sind, als ihre Gegner
vermuteten; aber von einem großen Erfolge zu reden ist Thorheit, die der Re¬
publik abgewendete Masse des Volkes zeigte sich ihr wieder etwas günstiger, aber
auch wenn die Stichwahlen dies bestätigen sollten, wird es sich damit ganz
bedeutend bessern müssen, ehe der Freiheitsbaum, um den man jetzt jubelt und
tanzt, als fest gepflanzt angesehen werden darf. Noch heute liegt die Axt, die
ihn abhauen sollte, an seiner Wurzel. Der Boulangerschwindel ist, wie es
scheint, im Absterben begriffen, aber er kann wieder aufleben, er wird auf alle
Fülle Nachfolger in andrer Gestalt finden, und er ist durchaus nicht der ärgste Feind
der Republik. Alle Untugenden des Parlamentarismus werdeu nach Zusammen¬
tritt der neuen Volksvertreter ihr Spiel von neuem beginnen, die Republik
wird fortdauern, und je länger desto besser für den Frieden der Welt, denn
sie wird, wenn nicht Wunder geschehen und überraschende Wiedergeburten erfolgen,
schwach bleiben und auf unsichern Füßen stehen. Endlich aber wird sie doch
fallen, und zwar sobald ein hochbefähigter und willenskrüftiger Geist in ihr
ersteht, an dem es unter den bisherigen Politikern gänzlich mangelte. Wankte
sie doch geraume Zeit vor den Ränken eines Wichts wie Boulanger, der freilich
auch nur Mittelmäßigkeiten vor sich hatte. An diesen Mittelmäßigkeiten, diesen
kleinen Politikern, die nur in Selbstsucht, Parteigezänk und Parteiumtrieben
groß sind, wird die Republik schließlich zu Grunde gehen. Aber noch einmal:
je länger sie sich mit diesen von ihr untrennbaren Eigenschaften auf den Beinen
erhält, desto besser für den Frieden, und deshalb können wir jeden Ausgang
von Krisen gleich dem jetzigen mit Genugthuung begrüßen. Wie die Dinge
jetzt liegen, ist Frankreich in politischer Beziehung ein Kranker, der nicht leben
und nicht sterben kann, und solche Kranke hat die Welt nicht zu fürchten.
Scheu wir uns die Wahlen vom 22. September etwas genauer an. Ihr
Ergebnis ist im ganzen unentschieden. Die Republikaner haben nur vorläufig
die Mehrzahl ihrer Kandidaten durchgesetzt, die Gegner nur vorläufig einen
Teil der ihrigen, worunter sich in Paris Boulanger, den die Regierung un¬
vorsichtig und inkonsequent zur Bewerbung um ein Mandat zuließ, und vier von
seinen Anhängern befinden.*) In vielen Wahlbezirken ist der Kandidat, der die
meisten Stimmen der Wählerschaft erhielt, nicht wirklich gewählt, da ihm die
gesetzlich erforderliche Zahl der Stimmen, d. h. wenigstens eine über die Hälfte
derselben, mangelte, und so wird hier eine Stichwahl notwendig. Solcher
Fälle weist die Wahl sehr viele ans, und dadurch wird das endgiltige Urteil
über ihr Gesamtergebnis hinausgeschoben. Zwei Punkte sind aber schon jetzt
klar. Erstens haben die Wählerschaften sich diesmal sehr zahlreich beteiligt,
und das beweist, daß die Bevölkerung ein lebhafteres Interesse an den Wahlen
gehabt hat als bei frühern Gelegenheiten. Zweitens scheint die Wahlhandlung
trotz der Aufregung, die sie natürlich hervorrief, doch nirgends zu Unruhen
und audern ungehörigen Kundgebungen ernster Art Veranlassung gegeben zu
haben, wozu wir den Franzosen umsomehr Glück wünschen dürfen, da es sonst
gerade keine hervorstechende Eigenschaft derselben, namentlich der Pariser ist,
dergleichen Rechte und Pflichten in Ruhe und Ordnung auszuüben. Ob schlie߬
lich, d. h. nach den Stichwahlen, eine sehr viel größere Zahl der Mandate
den republikanischen Parteien oder denen der Revisionisten gehören wird, ist
einigermaßen fraglich, wenn auch die Opportunisten und ihre nächsten Ver¬
wandten, die übrigen aufrichtigen Anhänger der Republik, mehr Aussichten zu
haben scheinen als die, welche Abänderung der Verfassung, Boulnngers Dik¬
tatur oder die Rückkehr zur Monarchie mit einem Orleans oder einem Na¬
poleon IV. wollen. Aber wenn diesmal eine größere Menge von Wählern
ihre Zettel in den Stimmkasten geworfen hat als früher, und wenn keine er¬
hebliche Ruhestörung dabei zu beklagen gewesen ist, so ist wohl der Schluß
daraus zu ziehen, daß die Freunde der Ordnung, die Ruhigen und Nüchternen,
die, die ihre Parteileidenschast im Zaume zu halten verstehen, kurz die, die
mau bei uns konservativ nennen würde, da sie wenigstens Anlage dazu haben
und es unter Umständen zu werden versprechen, diesmal überwogen haben,
und darunter werden vermutlich nicht wenige gewesen sein, die der Meinung
sind, man solle die Dinge mit einigen durchaus notwendigen Abstellungen und
Zusätzen gehen lassen, wie sie in der letzten Zeit gegangen sind. „Revision,"
das Feldgeschrei der Boulangisten und der Radikalen wie der Monarchisten,
bedeutet am letzten Ende Revolution, und die Parteien, die das Bestehende
umstürzen möchten, haben sich in der Regel nicht durch Liebe zu ruhigem Ver¬
halten bei öffentlichen Handlungen hervorgethan. Doch darf man aus der
Ordnung, die bei den Pariser Wahlen herrschte, auch nicht zu viel Gutes ab¬
leiten. Auch die Maßregeln, die die Negierung zur Verhütung von Unruhen
getroffen hatte, wirkten unzweifelhaft zu dem erfreulichen Verlaufe der Sache
mit, und der Himmel that mit einem zuletzt einfallenden reichlichen Regen ein
Übriges.
Die Stichwahlen werden bis zu Ende der ersten Oktoberwoche vollzogen
sein und volle Gewißheit geschaffen haben. In der Zwischenzeit bietet Frank¬
reich ein lehrreiches, aber etwas düsteres und trauriges Schauspiel dar. Mau
Pflegt zu sage», Frankreich scheine in der zivilisirten Welt die Aufgabe zu haben,
die Probleme der Politik zu lösen, die sich in andern Ländern kaum über den
Gesichtskreis erhoben, geschweige denn sich zur Dringlichkeit entwickelt hätten.
Träfe diese Behauptung zu , so würden wir jetzt an den Erfahrungen unsrer
Nachbarn inne werden, nicht bloß, was für Verirrungen und Mißgriffe in
Demokratien möglich, ja unausbleiblich sind, sondern was in solchen Geniein-
Wesen sich ereignen muß, wenn in ihnen ein „reichlicher Mangel" an großen
politischen Talenten herrscht, und das ist in Frankreich in den meisten Fällen zu
bemerken. Sie dulden nur Mittelmäßigkeiten, da der Neid in ihnen der herr¬
schende Geist ist und die unbeschränkte Freiheit besitzt, jede auftauchende sittliche
oder geistige Größe auf das allgemeine Niveau herunterzureißen und ans
dem Wege zu schaffen — natürlich, wenn die Größe von der Art ist, daß sie
sichs gefallen lassen muß, herabgezogen und beiseite geschoben zu werden. Das
aber war in Frankreich die Regel. Wäre hier ein Wirkicher großer Staats¬
mann aufgetreten, so würde er sich ohne Frage sehr bald mit seiner Begabung
an Weisheit, an Wissen und Willensstärke über allen Neid emporgeschwungen
haben und zu Ansehen und Unabhängigkeit gelangt sein, wobei dann freilich
die Demokratie zu Schein und Form geworden wäre, wie im athenischen Staate,
als nach der Theorie der biedere Demos, in Wirklichkeit aber Perikles regierte.
Wo finden wir aber im heutigen Frankreich einen solchen gebietenden Helden?
Gambetta besaß annähernd einiges Zeug dazu, seit seinem Tode ist niemand
der Art wieder aufgetreten, am wenigsten ein Geist, der, auf sich selbst beruhend,
über den Parteien gestanden und sie auch gegen ihr Interesse und Streben beherrscht
und dem Staatszwecke dienstbar gemacht hätte. Auch von Jules Ferry, ans den
sonst sich vielleicht noch hinweisen ließe, ist dies nicht mit Grund zu behaupten.
So kam es, daß jedes kleine politische Talent abwechselnd, um sich sein Ver¬
bleiben auf der erstreberten Stelle, sein Ansehen und seinen Einfluß für mög¬
lichst lauge Dauer zu sichern, mit andern Parteien liebäugeln mußte, und daß
die große republikanische Partei in ein halbes Dutzend kleine Gruppen zer¬
trümmert ist, die nicht vielmehr als Widerspruch gegen einander, Rüuke und
Gezänk leisten. Alle haben das Gefühl ihrer Schwäche, und die Regierungen,
die sie, heute die eine, morgen die andre, stellen, leiden an derselben Empfindung,
woraus dann gelegentlich plötzlich Akte kleinlicher Tyrannei hervorgehen, die
das Bewußtsein von Stärke zeigen sollen, aber nur wenig imponiren. Wir
erinnern nnr an den Minister Thvvenet, der die ohnedies dem Staate ent¬
fremdete Geistlichkeit durch sein abgeschmacktes Verbot, ans die Wahlen zu
wirken, nur noch mehr der republikanischen Sache abwendig machte. Andrer¬
seits zeigt die Opposition, wenn man die Gegner der Partei Ferrys und
Tirards so nennen darf, ein stetes Schwanken des Übergewichts der in ihr
neben einander hergehenden Parteien. Vor kurzem war die herrschende Idee die
„Bonlange" mit ihrer Verfassungsveräuderung und ihrer Diktatur, dann,
nach der Wahl der Generalräte, traten die monarchischen Parteien mit ihrem
kläglichen Grafen von Paris und ihrem gleichfalls unbedeutenden Viktor Na¬
poleon in den Vordergrund, und jetzt scheint der Stern des „braven Generals",
oder des oononsLioimkurö en l'uns, wie ihn die Höxndlllznö Ij'rMyAiLö nennt,
sich noch mehr dem Horizonte zu nähern und untergehen zu wollen. Aber
keine einzige Gruppe dieser wie der andern Seite ist stark genug, ihre eigne
Politik zu treiben, keine ist unabhängig, jede auf Unterstützung angewiesen, die
durch Zugeständnisse, also durch Abschwächung und Verhüllung ihres eigent¬
lichen Programms zu erkaufen ist.
Es ist nicht schwer, aus diesem wirren und wechselvollen Durcheinander¬
wogen kleiner Parteien und vielfältig verschiedner Bestrebungen und Leiden¬
schaften das Interesse Deutschlands herauszufinden, Sie sind uns alle ungefähr
gleich feindlich gesinnt, aber am wenigsten hätten wir bei einem schließlichen
Triumph der Monarchisten zu gewinnen, am meisten durch den Sieg der
parlamentarischen Republik; deun es ist kaum zu befürchten, daß es dem
Präsidenten Carnot und seinen jetzigen Ministern gelingen werde, die Parteien,
die diese Staatsform wollen, auf die Dauer unter einem Hute zusammen¬
zuhalten, weil das eben der Parlamentarismus mit seiner zersetzenden Natur
und seiner Selbstsucht nicht erlaubt, und daneben würde, auch wenn es gelange,
immer eine monarchische Opposition fortbestehen, mit der sich bei Gelegenheit
auch mißvergnügte Republikaner zum Sturze der Minister verbinden könnten,
die strebsamen Parlamentariern überall und immer zu lange regieren.
Werfen wir noch einen Blick auf das bis jetzt feststehende Wahlergebnis.
Frankreich hat am 22. September 369 Republikanern aller Schattirungen ein
Mandat erteilt, während von den Oppositionsparteien 201 Kandidaten Abge¬
ordnete geworden sind. Beide Heerhaufen haben in der Schlacht viele Tote
auf dem Platze gelassen, d. h. alte Abgeordnete sind nicht wieder gewählt,
sondern durch neue Leute ersetzt worden, sodaß insofern die Kammer der Deputirten
ein etwas andres Gesicht zeigen wird als bisher. Einen schweren Verlust haben
die Republikaner dadurch erlitten, daß Jules Ferry, der sich in seiner Geburts¬
stadt Samt Dio nur ein Mandat beworben hatte, und ebenso der frühere Minister
Gvblet, dieser in Amiens, unterlegen sind. Beide mußten nichtsbedeutenden An¬
hängern Voulnngers das Feld überlassen. Nicht zu beklagen hat die republikanische
Partei die Niederlage von Leuten wie Clvvius Hugues, Camellinat, Vaillant,
Gaukler, Lyon, Allemant nud andrer Jakobiner, die Zeit ihres Lebens nnr dazu
gut gewesen sind, Stecken zwischen die Speichen der Räder des ohnehin schwer-
fülligen und langsam vorwärtskommenden Parlamentswagens zu schieben. Was
Bvulnnger betrifft, so haben die Wahlen eben keinen Beweis dafür geliefert, daß
man berechtigt war, ihn „den Pfeiler der Hoffnung des Volkes" und „den
Mittelpunkt aller Wünsche des Landes" zu nennen. Wenn sein Anhang und
seine geheimen Gönner erwarteten, daß sein Name immer noch geeignet sein
werde, Geister zu beschwören und zwar in Masse, in imponirenden Haufen,
so müssen die Wahlen sie arg enttäuscht haben. Wenn er und sein Programm
ziemlich rasch in die Mode kamen, so scheinen sie, seit er sich selbst verbannt
hat, noch rascher aus der Mode gekommen zu sein. Jedenfalls hat seine
Beliebtheit felbst in der Hauptstadt für jetzt außerordentlich abgenommen. Im
Januar d. I. fielen in Paris für ihn allein eine Viertelmillion Stimmzettel
in die Urne, er schlug feinen republikanischen Nebenbuhler mit mehr als
80000 Stimmen, nur in einem einzigen Arrondissement der Stadt wurde ihm
die Mehrheit nicht zu teil. Jetzt haben für ihn und die Kandidaten seiner
Partei nur etwa 200000 Wähler von Paris gestimmt, und nur in drei
Arrondissements haben die Boulangisteu eine gesetzlich genügende Mehrheit er¬
langt. Sie hatten dreiundvierzig Kandidaten aufgestellt und hofften davon
wenigstens fünfundzwanzig durchzusetzen. Das ist eine arge Abnahme, eine ver¬
drießliche Erfahrung für die bisher so zuversichtlichen Himmelsstürmer. Gewiß
ist freilich, daß die unfreiwillige Abwesenheit des Häuptlings, die gegen ihn vor
dem Senate als Obergerichtshof erhobnen und leidlich bewiesenen Beschuldigungen
und die entschlossene Haltung des Ministeriums zu diesem Ergebnisse beigetragen,
seine Anhänger geschwächt und seine Gegner ermutigt und vermehrt haben; und
wenn die Wahlen sowohl in Paris als in den Departements weit davon ent¬
fernt sind, die Bedeutung eines Plebiszits zu Gunsten des Exgenerals und
Zukunftsdiktators oder auch nur einer dem ähnlichen Kundgebung zu haben, so
dürfen wir doch keineswegs alle Gefahr, die von dieser Seite der Republik
drohte, schou für völlig beseitigt halten. So weit, müssen wir uns sagen, hat
Frankreich sich diesmal gegen das persönliche Element, das Ansehen und die
Macht eines Einzelnen, ausgesprochen, ein Element, das so oft schon in seiner
Geschichte eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Aber Boulnnger ist, wie
der dritte Napoleon, als er noch abenteuernder Prätendent war, ein „Steh-
aufchen," das umgestoßen sich immer wieder aufrichtet. Er hat zunächst genug
Einfluß behalten, um sich den Wählern eines Pariser Kreises, wo die Demo¬
kratie am stärksten vertreten ist, als Kandidat vorstellen zu können und zwar
neben Joffrin, dem rotesten aller roten Demokraten, und er hat ihn geschlagen.
Dieser Erfolg der Bewerbung eines Militärs lieben einem Arbeiter, eines mit
adlichen Rohalisten und Reaktionären verschwornen Kandidaten neben einem
radikalen Freiheits- und Gleichheitshelden ist ein seltsames Zeichen des wankel¬
mütigen und zu allen möglichen Ränken und Streichen zu verwendenden Geistes
der Pariser Noten. Andre Kreise der Art sind aber ganz ähnlich beschaffen,
und es ist daher nicht unmöglich, daß der General sich diesen Umstand einmal
mit Erfolg zu nutze macht. Ihm ist bei seiner rührigen und vollkommen ge¬
sinnungslosen Dreistigkeit überhaupt vieles möglich; und die Republikaner werden,
wie wir sie kennen, dazu beitragen, daß ihm ein Feld für sein Spiel bleibt.
Es ist ihm jetzt nicht geglückt, aber er bleibt eine Kraft im politischen Getriebe
Frankreichs und darf von seinen Gegnern nicht übersehen oder über die Achsel
angesehen werden; fällt er aber einmal weg, so wird der Boulangismus fortleben
als eine stete Warnung für die, die gerade am Staatsruder stehen. Er wird
sie lehren, daß kein Ministerium in Frankreich, ganz abgesehen von den parla¬
mentarischen Gefahren, im Volke dauernd festzuwurzeln, keine politische Ein-
richtung Bestand zu gewinnen vermag gegenüber dem Wunsche des Volkes, sich
in einer imposanten und glänzend auftretenden Persönlichkeit, seinem Abbilde,
gewissermaßen dem Normalfranzmann abgespiegelt zu sehen. Dazu sind keine
großen Eigenschaften, keine militärischen Erfolge, keine politischen Leistungen
nötig; es genügt die Gabe, sich geschickt und dreist vorzudrängen, und beharr¬
liche Anwendung dieser Gabe.
Wir bemerken noch, daß von den Mitgliedern des Kabinets Tirard bis
jetzt vier gewählt sind: sputter, Thvvenet, Nouvier und Falliöres. Uves
Guyot und der energische Constans haben sich der Stichwahl zu unterwerfen,
sind aber fo gut wie sicher, ein Mandat zu erhalten, da neben ihnen sich nnr
Republikaner beworben haben, die zu ihren Gunsten zurückzutreten bereit sind.
s unterliegt keinem Zweifel, daß in der bevorstehenden Neichstags-
sessivn die Frage über Fortbestand oder Nichtfortbestcmd des
Svzialistengesetzes zur Entscheidung kommen wird. Wir sehen
aber in der Art und Weise, wie diese Frage in der Presse be¬
handelt wird, eine Gefahr, welche die Errungenschaften der
Reichstagswahl vom 21. Februar 1887 von neuem in Frage zu stellen droht.
Nachdem die Abstimmung vom 24. Mai 1878 für die nationalliberale
Partei so verhängnisvoll geworden war, hat diese Partei vom 19. Oktober 1878
bis zum 17. Februar 1888 ohne Unterbrechung für die Fortdauer des jetzt
in Geltung bestehenden Svzialistengesetzes gestimmt. Seitdem haben gewichtige
Organe derselben die Losung ausgegeben, es dürfe das Gesetz keinesfalls
verlängert, vielmehr müsse es durch ein Gesetz andern Inhalts, das aber
dann dauernd werden solle, ersetzt werden. Ob dieses mit so großer Bestimmt¬
heit auftretende Verlangen von der ganzen Partei oder nur vou einer Anzahl
einflußreicher Mitglieder gestellt wird, wissen wir nicht. Ebenso haben die
Organe der Partei uns im Unklaren darüber gelassen, wie denn nun eigentlich
das Gesetz gedacht wird, das an die Stelle des bisherigen Gesetzes treten soll.
Die Regierungen sollen nach etwas suchen, was es ersetzen könne. Auf einigen
Seiten scheint man dabei das alte Schlngwort von der „Rückkehr zum gemeinen
Recht" im Sinne zu haben, d. h. man verlangt allgemein formulirte Vor¬
schriften, die dann auch zur Bekämpfung der Sozialdemokratie ausreichen sollen.
Von andrer Seite würde man zwar wider die Beibehaltung eines besonders
gegen die Sozialdemokratie gerichteten Gesetzes (eines sogenannten Spezinlgesetzes)
nichts einzuwenden haben; das Gesetz soll dann aber mildere Bestimmungen
enthalten und mit großem Rechtsbürgschaften umgeben sein. Man will also
unter allen Umständen ein Gesetz, das minder einschneidend, folglich auch minder
wirksam sein, dafür dann aber auch dauernd gemacht werden soll. Die Frage
ist um die: ist ein solches Gesetz möglich, ohne daß die Gefahren der Sozial-
demokratie bedeutend wachsen?
Mit „gemeinrechtlichen" Vorschriften der Sozialdemokratie entgegenzutreten,
hat man ja schon mehrfach versucht. Bereits die Strafgesetznvvelle, die in:
Jahre 1875 dem Reichstage vorgelegt wurde, enthielt folgende wider die
Sozialdemokratie gerichtete Bestimmung: „Wer in einer den öffentlichen Frieden
gefährdenden Weise verschiedne Klassen der Bevölkerung gegen einander
öffentlich aufsetzt, oder wer in gleicher Weise die Institute der Ehe, der
Familie oder des Eigentums öffentlich durch Rede oder Schrift angreift, wird
mit Gefängnis bestraft." Der Vorschlag fand keinen Beifall. Minister Eulen¬
burg der ältere, der ihn vertrat, wurde namentlich von dem Abgeordneten
Bamberger, der im Namen der Nationalliberalen redete, mit dein größten
Hohn überschüttet. Das Haus lehnte den Paragraphen ab.
Als dann im Herbst 1878 das Feuer auf den Nägeln brannte, trat die
Fortschrittspartei, um das in ihren Augen so heillose Sozialisteugesctz abzu¬
wenden, mit dem Vorschlag einer „gemeinrechtlichen" Bestimmung hervor. Bei
der Koinnnsfivnsberatung stellte der Abgeordnete Hänel einen Antrag ans
folgenden Artikel: „Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise
oder wer durch beschimpfende Äußerungen über die religiösen Überzeugungen
andrer, oder über die Einrichtungen der Ehe, der Familie oder des Staates,
oder über die Ordnung des Privateigentums die Angehörigen des Staates zu
feindseligen Parteiungen gegen einander öffentlich auffordert oder aufreizt, wird
mit Geldstrafe bis zu 600 Mark oder mit Gefängnis bis zu einem Jahre
bestraft." Der Antrag wurde in der Kommission mit 13 gegen 8 Stimmen
abgelehnt. Bei der Plenarverhandlung wurde kein Versuch gemacht, ihn zu
erneuern.
Neuerdings hat verlautet, daß in einer preußischen Vorlage beim Bundes¬
rate die zu unterdrückenden Bestrebungen der Sozialdemokratie solgende „ge¬
meinrechtliche" Definition haben erhalten sollen: Bestrebungen, welche die
Grundlage der Staats- und Gesellschaftsordnung, insbesondre Monarchie,
Religion, Ehe und Eigentum gefährden. Säiutliche nationalliberale Blätter
erklärten eine solche Bestimmung für unannehmbar. Die Vorlage ist nicht
über den Bundesrat hinausgekommen.
Nach allen diesen Versuchen sind wir der Ansicht, daß es nicht möglich
sein wird, eine „gemeinrechtliche" Bestimmung so zu formuliren, daß sie einer-
seits der sozialdemokratischen Agitation wirksam entgegenträte, anderseits nicht
zugleich die Gefahr in sich trüge, auch andre Parteien in ihren minder ge¬
fährlichen Bestrebungen zu unterdrücken. Eine Bestimmung zu finden, die
in beiden Beziehungen nichts zu wünschen übrig ließe, ist die Quadratur des
Zirkels.
Gesetzt uun, man überzeugte sich, daß mit „gemeinrechtlichen" Bestim¬
mungen nichts zu machen sei, daß vielmehr nur ein gegen die Sozialdemo-
kratie gerichtetes Spezialgesetz den notwendigen Schutz gewähren könne, so
entsteht die Frage: was will man denn nur an dem bestehenden Gesetze ge¬
ändert haben, um es als bleibendes anzunehmen? Gerade darin herrscht die
größte Unklarheit. Man hat die Agitation begonnen, ohne zu wissen, was
man eigentlich will. Und das ist stets ein Fehler. Es erinnert das an die
wüste Bewegung, die sich in Frankreich unter dem Schlagworte „Revision"
gegen die bestehenden Zustände gebildet hat.
Weiter aber müssen wir dieser Agitation: folgende Fragen gegenüberstellen:
Ist denn mit dem bisherigen Gesetze ein über dessen Zweck hinausgehender
Mißbrauch getrieben worden? Und sind die Gefahren der Sozialdemokratin
die im Jahre 187» mit eiserner Notwendigkeit zu dem Erlaß dieses Gesetzes
führten, seitdem etwa geschwunden oder auch nur geringer geworden?
Kein Aufrichtiger wird diese Fragen mit Ja beantworten können. Dann
aber hat die ganze Agitation gegen das bestehende Gesetz von feiten einer Partei,
die überhaupt die bürgerliche Gesellschaft gegen die Gefahren der Sozialdemo-
krntie schlitzen will, einen reinen doktrinären Charakter.
In dieser Auffassung können Nur uns auch nicht durch Schlagworte be¬
irren lassen, wie sie noch jüngst ein Artikel der National-Zeitung brachte. Die
^ozialdemokratie soll „zur gesetzlichen Ausübung ihrer Bürgerrechte zurück¬
geführt werden." Wir halten das nicht für geboten, fo lange beinahe Gewi߬
heit dafür besteht, daß die Sozialdemokratie die gesetzliche Ausübung ihrer
Bürgerrechte zu nichts anderm benutzen würde, als eine Revolution zum
Umsturz der ganzen gesellschaftlichen Ordnung vorzubereiten. Bon der „Ver¬
söhnung," die durch Aufhebung des Sozialistengesetzes angebahnt werden soll,
halten wir so wenig, daß wir überzeugt siud, die gesamte Sozialdemokratie
würde diese Aufhebung nur mit einem Hohngelächter beantworten. Es ist
auch durchaus unwahr, wenn gesagt wird, das Sozialistcngesetz sei damals,
als es gegeben wurde, nur auf eine kurze Frist berechnet gewesen. Gerade
der Abgeordnete Bamberger, der auch am 16. September 1878 im Namen der
Nationalliberalen, und zwar für das Gesetz, das Wort ergriff, legte dar, daß
von einer Wirksamkeit dieses Gesetzes innerhalb weniger Jahre gar leine Rede
sein könne, und daß nur deswegen eine Befristung desselben geboten sei, weil
mau doch Vollmachten von so außerordentlicher Tragweite nicht für immer
oiuer Negierung in die Hand gebe. Die Befristung des Gesetzes sollte also
nur dazu dienen, dem Reichstage eine Bürgschaft für dessen ordnungsmäßigen
Gebrauch zu gewähren. Darnach ist es fast komisch, wenn uativualliberale
Organe jetzt ihre Partei gewissermaßen entschuldigen, daß sie so lauge Jahre
hindurch für Aufrechthaltung des Gesetzes gestimmt habe. Bei allen Ver¬
ständigen der Partei ist dies im vollen Bewußtsein der andauernden Not¬
wendigkeit geschehen; gerade so, wie im Bewußtsein dieser Notwendigkeit auch
große Teile der Freisinnigen und des Zentrums bei der Abstimmung im
Jahre 1884 für die Verlängerung des Gesetzes gestimmt haben.
Fragen wir nun, wie etwa ein gemildertes gegen die Sozialdemokratie
gerichtetes Spezialgesctz aussehen konnte, so sind die in dieser Beziehung ge¬
machten Vorschläge äußerst dürftig.
Die Kölnische Zeitung, die in diesem Preßfeldzug eine relativ maßvolle
Stellung eingenommen hat, hat kürzlich verkündigt, wie sie sich die neue Spezial-
gesetzgebnng „in allgemeinen Umrissen" etwa denke. An die Stelle der Ver-
waltnngsorgane und der Beschwerdekommissiou sollen die höchste» Gerichts¬
höfe — Reichsgericht, Oberverwaltungsgericht, Oberlandesgericht — treten.
Die strafbaren Bestrebungen und Vergehen sollen eine schärfere, jeden Mi߬
brauch ausschließende Begriffsbestimmung erhalten. Die Ausweisnngs- und
Unterdrücknngsbefngnissc sollen beschnitten, die Verhängung des kleinen Be¬
lagerungszustandes auf Berlin beschränkt werben. ES leuchtet ein, daß auch
diese Vorschläge noch sehr verschwimmend gehalten sind. Am wenigsten können
Nur uns einen praktische» Erfolg von der begehrten „schärfern BegriffSbestnn-
mung" verspreche». ES wird doch immer alles von den Menschen abhängen,
die sie handhabe». An die Stelle der jetzigen Organe die schwerfälligen höchsten
Gerichtshöfe zu setze», halten Nur für keinen glücklichen Gedanken; und vor
allem möchte» wir im Namen dieser Gerichtshöfe selbst eifrige» Widerspruch
dagege» erhebe». Auch ist bei alle» Verweisungen an die Gerichte im Auge
zu behalten, daß bei diesen die öffentliche Verhandlung erst recht Gelegenheit
giebt, agitatorische Reden zu halte» und damit Öl ins Feuer zu gießen. Die
Ausweisungen sind ja stets der schmerzlichste Punkt des Sozialistengesetzes ge¬
wesen. Es fragt sich nur, was daraus wird, wenn die sozialistischen Agitatoren
in die großen Städte, wo sie förmliche Agitativnsnester bildeten, zurückkehren.
Erklärte» die Regierungen, daß sie auch mit geringern Mittel», als den
durch das gegenwärtige Gesetz in ihre Hand gelegten, der sozialdemokratischen
Bewegung Herr bleiben zu können glaubten, daß sie namentlich auf die Aus-
weisuugsbefugnis in den Orten des Belagerungszustandes verzichten könnte», so
würden auch wir das mit Freuden begrüßen. Ihr Urteil würde in dieser Beziehung
für uns maßgebe»d sein. Wie nnn aber, wenn die Regierungen erklärten, daß
sie nicht glaubten, mit geringern Mittel», als de»c» des bestehende» Gesetzes,
auskommen zu können, und deshalb an diesem in allem Wesentlichen festhalten
müßten? Wie wird sich dann namentlich die nationalliberale Partei stellen?
Wird sie glauben, das große Wort, das ihre Organe geführt haben, auslösen
und mit Hilfe der Freisinnigen und deS Zentrums die Regierungen aufs
Trockne setzen zu sollen? DaS ist die Frage.
Die Organe der uationalliberalen Partei spielen hiernach — wir sagen
dies im vollsten Wohlwollen gegen sie — ein gefährliches Spiel. Sie können
ihre Partei in die Lage bringen, entweder die gedachten Porausverküudigungen
verleugnen zu müssen — was der Partei eine Flut von Hohn bei den übrigen
Parteien eintragen würde — oder in einen ernsten Konflikt mit den Regierungen
zu geraten. Die Sachlage ist für die Partei ganz ähnlich, wie die im Mai
1878. Auch damals hatte sie sich in doktrinärer Weisheit verfangen. Die
Folgen davon sind nicht atisgeblieben. Wir würden es im Interesse der Partei
und ganz Deutschlands tief beklagen, wenn jetzt an den Kampf über das
Sozialistengesetz sich ähnliche Folgen knüpfen sollten.
Der Gedanke, das Svzialistengesetz müsse, weil es nun schon so lauge
bestanden habe, wieder abgeschafft werden, ist damit vergleichbar, daß ein Mann,
der einen Leibesschaden erlitten hat und deshalb ein schützendes Band trägt,
auf deu Gedanken käme, er müsse das Band, weil er es doch nun so lange
getragen habe, wieder ablegen. Angenehm zu tragen ist ein solches Band auch
nicht. Wer es aber nuvernnnftigerweise ablegt, dem kann das sehr verderblich
werden.
n unserm letzten Streifzuge haben Nur gesehen, in wie enger
Berührung nud Wechselwirkung der Entwicklungsgang der litte¬
rarischen Kritik mit den philosophischen Strömungen unsers Jahr¬
hunderts in Frankreich steht, wie alle ans einander folgenden
Richtungen des spekulativen Lebens, der Spiritualismus und der
Eklektizismus, der Positivismus nud Materialismus, die Auffassung und Würdi-
gung litterarischer Erzeugnisse unverkennbar bestimmt haben.
Bei der eifrigen Pflege der ästhetischen Kritik im neunzehnten Jahrhundert
ist es um fo auffallender, daß die Franzosen so wenig auf dem Gebiete der
Kunsttheorie gearbeitet und fast garnichts zu dein selbständigen Ausbau dieses
Wichtigen Teiles der Philosophie beigetragen haben. Kant, Schelling, Hegel
gelten ihnen noch immer als die konäg-tsurs 6s l'gLtkwtia.no, ani clspul8 eux
n'Ä xg,s fg.it un p^8.
Es ist notwendig, auf die Eigentümlichkeiten der französischen Philosophie
unsers Jahrhunderts näher einzugehen und die sich daraus ergebenden allge¬
meinen Gesichtspunkte festzustellen, wenn nur das dichterische Schaffen Sully-
Prudhvnunes verstehen wollen.
Kein französischer Denker, außer Lamennais, hat den Versuch gemacht,
alle Zweige der Philosophie im Zusammenhange zu behandeln. Weder die
Sensualisteu, wie Cabanis und Brvussais, noch die Spiritualisteu, wie Cousin
nud Jeosfroy, noch die sozialistischen und theologischen Vertreter sind über
Einzeluntersuchungen hinausgekommen. Die Gesamtheit aller philosophischen
Gesichtspunkte über Gott, Welt und Mensch einheitlich zusammenzufassen, wie
es die Deutschen in ihren „Systeme»" gethan haben, ist bei den Franzosen
eine ungelöste Aufgabe geblieben. Ja selbst den eignen Systemen siud die fran¬
zösischen Philosophen nicht treu geblieben, wie Paul Jnnet in seiner Abhandlung
nachgewiesen hat: l^g plnlosopluv as l^iuvnimi.8 (lisvruz ciss äeux Noucles vom
15. März 1889). Cousin ging vom. deutschen Pantheismus zum spiritualistischen
und kartesianischen Theismus über, Comite von seiner objektiven, rein Uüsseu-
schaftlichen Weltauffassilug zu einer sentimentalen und religiösen Richtung,
Lamennais von einer theologischen zu einer rein philosophische,! Betrachtungs¬
weise. Dieser SystenNvechsel ist eine sehr beachtenswerte Erscheinung, die mich
auf das litterarische Leben unbedingt zurückwirken müszte. Die Gründe dafür
können nur zum Teil in den Einwirkungen des Auslandes oder in der eigen¬
artigen Anlage des Philosophen gesucht werden.
Taine führt die ganze sich überstürzende Entwicklung der französischen
Philosophie, in der sich kein System ganz ausleben konnte, geradezu auf die
geschichtlichen und politischen Ereignisse zurück, die das ganze geistige Leben
Frankreichs mit fieberhafter Gewalt bald nach der, bald nach jener Richtung
fortgerissen habe; der kathvlisirende Spiritualismus der zwanziger Jahre sei
nur eine Folge der das hierarchische Wesen begünstigenden Bvnrbonenherrschaft
gewesen; die nach dein susts luilisn strebende Regierungsform des Juli-König-
tums habe den Eklektizismus großgezogen; durch die auf nüchterner Realpolitik
ruhenden Bestrebungen des zweiten Kaiserreiches sei eine völlige Abneigung
gegen alle abstrakten Spekulationen hervorgerufen und die ganze Geistesrichtung
in eine rein empirische Auffassung, den Positivismus, hineingeleitet worden.
Wenn aber im Kulturleben eines Volkes zwei so gewaltige Mächte wie
die Politik und die Philosophie fortwährend in ihren Grundsätzen, Mitteln
und Zielen hin und herschwanken, dann können wir schlechterdings anch von
der Litteratur nicht verlangen, daß sie in so bewegten Zeitläuften eine ruhige
Entwicklung aufweise. Der litterarische Geschmack ändert sich denn auch that-
sächlich in Frankreich mit jede»: neuen Regime, und was die Schulen und
Gruppen zusammenhielt, das waren im Grunde keine gemeinsamen knnsttheoreti-
schen Prinzipien, sondern lediglich der einheitliche Angriff auf eine veraltete
Geistesrichtung. In dieser rein negativen Haltung, die nur kräftig bleiben
konnte, fo lauge noch etwas anzugreifen war, liegt auch die Erklärung für die
seltsame Erscheinung, daß die Schulen nach dem Siege immer bald auseinander¬
gefallen und ans die verschiedenartigsten Abwege geraten sind. Die Romantik
blieb nur so lauge auf der Höhe ihrer Kraft, wie der Kampf gegen den Psendo-
Klafstzisnuis währte, der Realismus zeigte nur fo lauge ein lebensfrisches
Schaffen, als er gegen die Verirrungen der Romantik zu Felde zog-, von dem
Augenblicke an, wo diese ans dem Sattel geworfen war, schwand auch fein
Einfluß, und nnr durch eine geschickte Wendung zum Naturalismus kann er
gegenwärtig das Feld behaupten.
Schon um das Jahr 1850 scheint die französische Romantik besiegt. Die
Dichter dieser Schule fanden mit ihren nur dem Phantasieleben entsprossenen
Schöpfungen keinen rechten Beifall und zogen sich schmollend vom dichterischen
Schaffen zurück. Lamartine war schon damals ganz zur Politik übergegangen,
The-ophile Gautier opferte feine poetischen Fähigkeiten dem Feuilleton; er nannte
sich selbst vieux riwöur, abrut-i par l'abus as 1a pross; saumte-Beuve lebte
uur in seineu kritischen und litterargeschichtlichen Studien; Viguy und Musset
hatten abgewirtschaftet, nur Victor Hugo verblieb uoch vou der ganzen roman¬
tischen Schule als einsamer Fels inmitten der rollenden Wogen.
Für diesen durch den wissenschaftlichen Aufschwung verursachten Rückschlag
aus dem Überwiegen der Phantasie und Spekulation in die sinnliche Anschauung
und nüchterne Lebensauffassung ist das Jahr 1S5>7 bezeichnend. Damals erschienen
ans dein Theater I^r <in«Z8lion et'MMut von Dumas dem Jüngern, in der Roman¬
litteratur Nculaur0 Lovar^ von Gustave Flaubert, in der lyrischen Poesie I^Sö
ükui'jz co »ni von Charles Baudelaire, in der litterarischen Kritik, ein Jahr
später, die lüssgr-z 6<z eriti^u« se et'lliswirö vou Taine. So verschiedenartig
auch die Gebiete sind, auf denen diese vier Geister den Angriff gegen die Aus¬
läufer der romantischen Schule unternahmen, fo gemeinsam sind doch die Mittel,
mit denen sie ins Feld rückten. In der Form zeigte sich bei ihnen das Be¬
streben nach einer gewissen Kraft, Selbständigkeit und Gediegenheit, im Inhalt
offenbarte sich mit einem Schlage die auffallende Richtung zur unverfälschten
Wiedergabe der Wirklichkeit, die ausschließliche Wahl von Stoffen, die nicht
aus der Einbildungskraft, sondern aus der sinnlichen Anschauung geschöpft waren.
So trat Dumas der Jüngere mit seinen Bühnenstücken den Machwerken eines
Seribe und Bayard entgegen; so hob Flaubert den Roman aus der Sphäre
eines Charles de Bernard und Jules Sandeau, so suchte Baudelaire an Stelle
der abgedroschneu Liebeslyrik andre, selbst brutale Regungen der menschlichen
Seele dichterisch zu verwerten. Das Recht der Form, 1a wMörisusö Im <lo
1» ore'-Allen do la bell«; xlirasö, war nicht nur ftir Flaubert der Leitstern, es
wurde auch für die Lyriker zum Losungswort. Lecvnte de Liste und Theodore
de Baronie' und die sich anschließende Schale der Parnassieus wurden geradezu
Fanatiker der dichterischen Form, Die Sprache der Vorgänger, selbst eines
Lamartine, Musset, Hugo galten ihnen für ungeschickt und nachlässig, die Reime
erschienen ihnen armselig und kraftlos, die Metaphern verworren, die Bilder
zusammenhanglos. „Die Parnassiens, sagt Brunetivre, haben versucht, mit der
romantischen Poetik zu brechen und in allen Dichtungsarten, der lyrischen, der
beschreibenden, der volkstümlichen und der philosophischen, sich so nahe wie
möglich der Wirklichkeit anzuschließen, um die sich die Romantik herzlich wenig
gekümmert und deren Mißachtung sie zum Grundsatz erhoben hatte." Mau hat
daher die Parnassieus auch geradezu Brüder des Naturalismus genannt, wenn
auch mit der Einschränkung, daß es in Wahrheit feindliche Brüder seien. Ihr
Bestreben, die eigne Individualität hinter dem Kunstwerk zurücktreten zu lassen,
I» tllvvris <j«z I'in^in88idil!t(!, wie sie es nennen, war auch Gesetz eines Flaubert
und der Goncourts.
Ans der Schule der Parnassiens ist Sully-Prudhomme, der bedeutendste
der zeitgenössischen Dichter, hervorgegangen; er ist der Begründer der sogenannten
xo6sis soionMizuiö. Was ihn an die Parnassiens knüpft, ist seine heilige Scheu
vor dem Genius der Sprache, die Genauigkeit des Ausdruckes, die Schönheit
des Rhythmus und die Kraft des Reimes. Während aber jene über der ängst¬
lichen Beobachtung des rein Formellen in ihren nüraolW ä'un v-ü» ni6og>i»i8iuv
zu trocknen Sprachvirtuvseu herabsanken und grundsätzlich dem Inhalt keine
hohe Bedeutung beilegten, will Sully-Prndhomme die schönen Gefäße auch mit
großen Gedanken angefüllt wissen, mit Gedanken, wie sie der unerschöpflichen
Quelle des geistigen Lebens fortwährend entspringen. Die tiefsten und mächtigsten
Bewegungen der Menschheit haben heutzutage ihren Grund nicht mehr in den
vorübergehenden Stimmungen der Seele, in dein ewigen Liebesleiden und
tändelnden Gedankenspielen, in der natürlichen Harmlosigkeit und selbstquäleri¬
schen Grübelei, in der unklaren Melancholie des Weltschmerzes und den Aus¬
brüchen aufgeregter Sinnlichkeit — in Motiven, die von den Nachtreter, eines
Lamartine, Müsset, den ^leui-arcl« iindveiles se 168 risurs ckebraillvs bis zum
Überdruß abgeleiert werden —; was die Seele der gegenwärtigen Menschheit
im tiefsten Grunde aufregt, erhebt und demütigt, sind die Werke und Be¬
strebungen des menschlichen Geistes, die gewaltigen Errungenschaften und un¬
seligen Gebrechen der modernen Kultur, die staunenswerten Ergebnisse und
großartigen Gesetze der Wissenschaft, die quälenden Rätsel der Philosophie.
Aus diese» der Dichtkunst scheinbar fernliegenden Gedankeugletschern will Sully-
Prudhomme einen kraftvollen Lebensstrom in die Adern der Poesie leiten.
Es ist eine sehr interessante Erscheinung, daß wir diesen Versuch einer
Annäherung von Poesie und Wissenschaft bereits gegen Ende des vorigen Jahr-
Hunderts in der französischen Litteratur hervortreten sehen. Unter dein mäch¬
tigen Einfluß der Naturwissenschaften schwanden schon damals die alten abge¬
griffenem Stoffe dahin. Schon Voltaire erkannte, daß eine Erneuerung der
Poesie notwendig durch die Einwirkung der Wissenschaften mit ihren weiten
Perspektiven und weltbewegenden Probleme» eintreten müsse. Le Brun und
Fontanes versuchten zuerst die ausgetretnen Pfade zu verlassen und die natur¬
wissenschaftliche Gedankenwelt Büffons für die Poesie zu verwerten. Aber sie
waren sich über ihre Ziele selbst nicht klar und sind anch über bruchstückartige
Versuche nicht lnunnsgekvmmen. Erst bei Andro Chenier offenbart sich diese
Richtung in greifbarer Gestalt. Er sagt in seinem Gedichte 1,'moord.ion:
„Tvricelli, Newton, .^epler und Galilei haben jedem neuen Vergil Schatzkammern
eröffnet; die menschlichen Wissenschaften können die Gebiete ihrer Herrschaft
nicht ausdehnen, ohne auch den Raum der Dichtkunst zu erweitern. Welche
lange Arbeit hat ihr das Weltall erorbert! Vor den Blicken eines Büffon
öffnet die Erde unverschleiert und ungehindert ihren Schoß, ihre Quellen, ihre
Wunder. Welche Fülle von Bildern, von erhabnen Anschauungen hebt sich
aus diesen großartigen Dingen, die unserm Zeitalter aufbewahrt worden sind."
Aber auch Andrö Chüuier hat seine wissenschaftliche Dichtung Ho>2no8 als
Torso hinterlassen; die Revolution machte den Versuchen des unglücklichen
Dichters ein Ende.
Jetzt, nach hundert Jahren, regt sich derselbe Geist; von den Naturalisten
wird, wie wir in der Abhandlung „Zur Ästhetik des Häßliche,:" gesehen haben, uicht
allein der Stoss, sondern angeblich auch die strenge Methode der Physiologie in die
^omandichtung herübergenommen; die Parnassiens und insbesondere Sully-Prud-
homme erwarten ebenfalls durch deu Einfluß der wissenschaftlichen Bestrebungen
eine Wiedergeburt der ganzen französischen Poesie. Es ist klar, daß ein moderner
Dichter das Gebiet der Wissenschaft nicht so behandeln kann, wie es Lnkrez in seinem
Lehrgedicht vo isrum inllur-i gethan hat; denn alles, was der römische Dichter
von der Physik und Physiologie, der Theologie und Ethik zu erzählen weiß,
ist im Grunde doch mir eine andre Art von Poesie. Nur auf der ersten
Stufe kann die Wissenschaft Hand in Hand mit der Dichtung gehen, wie wir
das anch thatsächlich bei den ersten griechischen Philosophen sehen; je mehr sie
sich aber von dem Spiel der Phantasie ablöst und mit festen, selbstgeschaffencii
Begriffen arbeitet, desto weniger wird sie in der poetischen Sprache ein geeignetes
Ausdrucksmittel finden. Für die Entdeckungen und Gesetze eines Laplace und
Cuvier kann auch uur die Sprache eines Laplace und Cuvier die einzig wahre
sein. Es wäre thatsächlich eine Verirrung, wenn ein Dichter die positiven
Ergebnisse der heutigen Wissenschaft so darstellen wollte, wie es Lnkrez seiner
Zeit gethan hat. Für den modernen Dichter kann sie immer nnr als mittel¬
bare Quelle gelten, ans der er Begeisterung für gewaltige Ideen schöpft. Was
ist geeigneter — ruft der Philosoph E. Caro aus, ein eifriger Anhänger der
poe-sis sviLiitillciuo —, die Seele eines Dichters zu bewegen, seine Phantasie
anzufeuern, ihn ans platten und gemeinen Alltäglichkeiten herauszuziehen, als
die verständnisvolle Betrachtung des Weltalls durch die Werke oder Unter¬
weisungen der Gelehrten, als das beständig wachsende Erkennen der Erschei-
nungswelt, das sich in dem Maße erweitert wie unsre BeobnchtungSwerkzeilge
zuverlässiger und feiner werden, wie unsre Erfahrung, durch die Berechnung
unterstützt, die Grenzen des Raumes und des Lebens in die sinnliche An-
schauung verlegt! Jede Entdeckung ist gleichsam eine ungeahnte Offenbarung
der Einheit, die durch die Mannichfaltigkeit und selbst durch deu offenbaren
Widerspruch der Erscheinungen hindurchschimmert. Die Gesetze scheinen uns
die unzerstörbarem Elemente des göttlichen Gewebes der Dinge zu sein. Giebt
es hier nicht einen unerschöpflichen Stoff sur die Poesie?
Es ist richtig, jede wissenschaftliche Hhpvthese, jede philosophische Lehre
steht immer mit einem Fuße auf dein Boden der Dichtung; wer an jene mit
dichterischem Genius tritt, dein wird sich sofort ein unabsehbares Gebiet gro߬
artiger Gedanken erschließen, eine Fülle innerer dramatischer Kämpfe zwischen
liebgewvrdnen Ideen und unbegnemen Wahrheiten, zwischen alten Dogmen und
neuen Weltanschauungen.
Diese Gedanken mußten vorausgeschickt werdeu, um die Stellung zu wür¬
digen, die Sully-Prndhomme in der Entwicklungsgeschichte der französischen
Litteratur einnimmt.
Smith-Prndhomme, seit acht Jahren Mitglied der französischen Akademie,
wurde l3.'Z9 in Paris geboren. Seine Jugendbildung war vielseitig; er be¬
suchte die l«!(zolo pnlytLvllniciuo, studirte Mathematik, machte dann sein Imoczg.-
Inureg-t ist-tres, trat in die l^ovi» alö etroit und widmete sich neben seinen
Rechtsstudien mit aller Kraft der Philosophie. Im Jahre 1805 erschienen
seine ersten Dichtungen LKmoes ot, ?von<Z8, in denen er sofort neue Bahnen
einschlug. Bezeichnend für seine selbständige Richtung, die der Poesie ganz
neue Stoffe zuführen will, sind die Verse:
IÄ hos <:I>!Uns, xour Mu-iiöi'g,
Z>s'or>1)-ils iias ig seisnoo u,nx svvvros boantös,
1'outo I'Iiiktoiro Jima!nun> <z<^ ig. n^er^o vull«ro.
Noch deutlicher tritt dieses Streben nach tieferer philosophischer Lebens-
auffassung in den ^xreuvö» (1866) hervor. Liebe, Zweifel, Träumerei und
Thätigkeit gelten ihm als die vier Bewegnngsrichtungen der menschlichen Seele;
mit überraschender Feinheit und psychologischem. Scharfblick weiß der Dichter
in diesen Sonetten die dunkle Tiefe des innern Lebens zu ergründen. In dem
vierten Teile, wo er die Thätigkeit als erlösende Macht preist, und die Errungen-
schaften deS menschlichen Geistes in dithyrambischein Schwunge feiert, wird er
ganz, wie ihn I^vumitrö nennt, ingvnisur-poötö. Er besingt die Schnelligkeit
des Rades, die Allmacht des Eisens, die Wunder der Grvßwerkstatt, der «mW-
<!« ?oroo odöissimto et trists; er fiihrt uns in die Arbeitsräume des Che-
mikers, er zeigt uns die eisernen Fäden, die unter dem Meere die Wellen ver¬
binden.
Immer deutlicher wird in ihm dus Verlangen, eine großartige Epopöe
der Wissenschaft zu verfassen, seiner Zeit ein zweiter Lnkrez zu werden; er ver¬
senkt sich mit Eifer in das Werk dieses römischen Dichters und übersetzt das
erste Buch aus l)v imturti. r«zruiu. Aber das Jahr 187s)—71 mit seinen furcht¬
baren Szenen, Opfern nud Greuel» reißt ihn aus seinen beschaulichen Gedanken¬
kreisen und treibt ihn gewaltsam zum Pessimismus. Er erkennt die Schwächen
seines Volkes, er hält mit seinen bittern Vorwürfen nicht zurück, und doch
glaubt er an die Zukunft seines Vaterlandes.
Mit Schaudern hab ich stets in deinem Buch gelesen,
Wie unheilvoll dein Ruhm zu jeder Zeit gewesen.
Allein ich Spur in dir der Zukunft mächtges Walten . . .
Von dir hab ich mein Herz, an Schätzen reich, erhalten
lind fühl mich menschlicher, je mehr ich bi» Franzose.
Von allen französischen Dichtern, die der deutsch-frnuzösische Krieg erweckt hat,
ist Sülly-Prudhomme unzweifelhaft der bedeutendste; er hält sich fern von
aller chauvinistischen Prahlerei und weiß der furchtbaren Begebenheiten höhere
Gesichtspunkte abzugewinnen.
Den schwierigsten Problemen völlig gewachsen zeigt sich der Dichter bereits
in der Dichtung l.es <>E8tin8 (1872); hier sticht er den spinozistischen Gedanken
Poetisch darzustellen, daß die Welt weder gut uoch böse sei, daß nur ein sub¬
jektiver Optimismus oder Pessimismus diese Anschauungen in deu „tiefen Akkord
der schwebenden Geschicke" hineintragen könne. Das böse Prinzip will eine
möglichst schlechte Welt schaffen; es'macht das Leben empfänglicher für den
Schmerz, es giebt ihm die marternde Liebe, die qualvolle Sehnsucht uach makel¬
loser Schönheit, nach der ewig fliehenden Wahrheit, nach der unerreichbaren
Freiheit — es giebt ihm das Beste, aber alles unaufhörlich bekämpft durch
das schlechteste. Das gute Prinzip will alles verbessern und erteilt der
Menschheit dieselben Güter wie das böse: Liebe und Eifer zur Wahrheit und
Freiheit, aber das Schlechte dabei unaufhörlich bekämpft dnrch das Gute.
So kommt der Dichter zu denk Schlüsse, daß der Schöpfer alles in der Welt
vernünftig eingerichtet habe:
Wir richten nnr nach uns, nicht nach den wnhrcu Gründen.
Was schadet, ist strafbar, und was uns nützt, gerecht.
Doch du läßt jedes sein deu Zweck im andern finden,
Denn Alles ist Vernunft, nichts ist gut oder schlecht.
Aber Sully-Prndhomme bleibt nicht auf diesem Standpunkte, der sich
auch in der Dichtung 1.0» v-uno-z lonäi-vssv« (1875) ausspricht, stehen; in seiner
folgenden Dichtung I^Ä ^uslios (1878) hat er sich nicht allein den Pessimismus
Schopenhauers, sondert, auch dessen ganze Willensmetaphysik zu eigen gemacht.
Er sagt im Vorwort zu diesem philosophischen Epos: „Ich möchte zeigen, daß
die Gerechtigkeit weder aus dem Wissen allein hervorgehen kann, das die unbe¬
wußten Triebe des Herzens verdächtigt, noch aus dem edelmütigen Nichtwissen,
das sich völlig auf das Herz verläßt, sondern daß die Ausübung der Gerech¬
tigkeit das zarteste Mitleid für den Menschen erfordert, das durch die tiefste
Kenntnis seines innern Wesens erleuchtet wird."
Mit großer Kühnheit im Entwurf und mit staunenswerter Kraft in der
Ausführung hat der Dichter diese moralische Frage zum Gegenstände seiner
Dichtung gemacht. Im ersten Teile, KilönvL -rü oosur betitelt, sucht der Forscher
(1v elisr«zik<zur) die Gerechtigkeit; er findet sie weder in der Vergangenheit noch
in der Gegenwart. Jedes Wesen hat nur einen Zweck: den Willen zum Leben;
es stößt von sich, was ihm das Dasein beschränkt oder zerstört, und sucht zu
ergreifen was es ihm erhält; daher der große Kampf, den eine Gattung fort¬
während mit der andern aussieht. Aber der Forscher sucht weiter, obwohl
ihm seine Begleiterin 1a Voix zuruft: I^a ju8divo est un ori an oosur, er findet
die Gerechtigkeit auch nicht innerhalb einer Gattung und am »venigsten in der
menschlichen. Selbst die Natur täuscht uns und verfolgt, auch wenn wir zu
genießen scheinen, ihren eignen Zweck: die Erhaltung der Gattung. Der Liebes¬
rausch, die Schamhaftigkeit, die Schönheit, alles sind nur Kunstgriffe der Natur,
um unsern „Widerwillen, eine so rauhe Erde zu bevölkern," völlig zu besiegen.
Alle Gedanken, die Schopenhauer in seiner „Metaphysik der Geschlechtsliebe"
ausführt, finden wir hier in poetischem Gewände wieder:
Alsuroui äouv los vivunts! Ist vio est H8sui'6s,
In der ganzen Welt der Erscheinungen findet der Forscher nirgends die
Gerechtigkeit; es giebt auch keine Freiheit, außer in dem ganzen Sein und
Wesen der Menschen, d. h., um mit Kant zu spreche», in seinein intelligiblen
Charakter. Hiermit kommt Sully-Prudhvmme zum zweiten Teil in seiner
Dichtung, zum ^post -ur vocmr. Während der erste, beeinflußt dnrch die
Katastrophe von 1870/71 von einem düstern Pessimismus erfüllt ist, läßt der
Dichter in seiner später geschriebn«» „Berufung an das Herz," wo er endlich
in dem Gefühl der Vermitwvrtlichleit die Gerechtigkeit findet, sein Werk ver¬
söhnend ausklingen:
Und bist du in der Welt mich mir ein leerer Schall,
Du lebst im Menschen selbst, regierst ihn überall.
Seit der Geburt als Trieb für jeden auserlesen,
Bist du, Gerechtigkeit, des Menschen eignes Wesen.
Ein noch stärkeres Streben nach philosophischer Durchdringung großer
Rätsel, eine noch erstaunlichere Fähigkeit, der Poesie wissenschaftliche Ergeb-
nisse dienstbar zu machen, finden wir in seinein jüngst erschienenen Werke I.s
Lonuvur, ?oöuiö (Paris, A. Lemerre, 1888). Sully-Prildhvmme hat diese
Dichtung dein Romanisten Gaston Paris gewidmet, dem geistvollen Förderer
seiner Muse, der im Gegensatz zu jener Gruppe verbohrter französischer Ge¬
lehrten steht, die, wie z. B, Paul Meyer, jeder ästhetischen und philosophischen
Bildung bar, ihre geistlose Buchstabengelehrsantkeit hinter Anmaßung und
Dünkel zu verbergen suchen.
Wie der Dichter in ki,a ^u»t.ioo. die Gerechtigkeit suchte, so will er in I.e
Lmrlnzur ergründen, ob und wo das Gluck zu finden sei; aber er sagt selbst
in der Einleitung, was er entdeckt habe, sei nur ein Traum, ein stiller Wunsch,
den seiue Phantasie nicht mit vollem Einverständnis der Vernunft erhören
könne; er habe die Augen über viele UnWahrscheinlichkeiten und grausame
Ungewißheiten schließen müsse»; er habe seine Begeisterung zuweilen aus der
Philosophie und Wissenschaft geschöpft, denn die großen Entdeckungen erschienen
ihm so weltbewegend, daß man sie nicht ans dem Gebiete der Dichtkunst aus¬
schließen dürfe, solange die kalten Formeln in die dichterische Sprache um¬
gebildet werdeu könnten.
Der Plan des Gedichts ist in großartigen Zügen entworfen. Faustus
ist uach seinem Tode auf einen andern Weltkörper geführt worden; er erwacht
und staunt über die Herrlichkeit der Natur, die ihn umgiebt, über sein eignes
Aussehen, das er im klaren Wasserspiegel erblickt, über seine Wiedererweckung,
die er nicht zu fassen vermag. Ein Grauen faßt ihn bei dein Gedanken, daß
er vielleicht alles nur träume und in Wirklichkeit im düstern Grabe liege. Er
sieht eine Gestalt auf sich zukommen — es ist stelln, seine Geliebte, von der
esu nuf der Erde ein Vorurteil der Menschen getrennt hatte. stelln befreit
ihn aus seiner Erstarrung. Warum, sagt sie, soll uur die düstere und kleine
Erde unter allen Weltkörpern den Vorzug haben, ein Gefäß zu tragen, worin
der Gedanke wohnt, worin der Odem zum Glücke lebt? Das Grab schließt
einen Himmel, um einen andern auf einem bessern Gestirn zu öffne». Befreit
von aller rohen Sinnlichkeit, wollen sie nun mit reinen, idealen Empfindungen
die Wunder des neuen Sternes genießen. Sie durchkosten "mit geläuterten
Sinnetl die Zauberwelt des ungetrübten Wohlgeschmacks und Wohlgeruchs
(8u,VMrs et yg,rkuni8). Die Poesie des Duftes hat wohl niemand' schöner be¬
sungen, als es unser Dichter hier thut. Sie ist ihm „Musik ohne Töne."
„Der Duft ist keusch wie die Scham uuter laugen und weichen Augenwimpern,
oder durchdringend, wie die Glut eines tötlichen Blickes, er ist leicht, wie die
aufkeimende Hoffnung jungfräulicher Freundschaft, oder mächtig, wie die Herr¬
schaft einer verhängnisvollen Liebe; er ist warnt, wie der Mund bei glühenden
Seufzern oder frisch, wie reine und furchtsame Lippen bei ihrem Geständnis;
er ist zart wie die Güte der melancholisch liebenden, aufreizend, wie das
ungezügelte Glutvcrlaugen der Bacchantin, quälend wie die Lumme einer gran-
samen Spötterin, einschmeichelnd wie die Honigworte der schlauen Verführerin".
Jeder Wohlgeruch erweckt andre Empfindungen, andre Gedanken, andre Ideale
in Faustus; inmitten dieser Duftsymphonieen versetzt ihn der Geruch einer
blauen Blume in solche Verzückung, daß er überwältigt in Thränen ausbricht
und ohnmächtig zusammensinkt. Stelle, bringt ihn dnrch einen Labetrunk wieder
zu sich.
Alle idealen Zustände, die der Forscher in ^u, -lustics vergebens auf der
Erde gesucht hat, findet Faustus auf dem neuen Sterne. Kein Wesen lebt
hier auf Kosten eines andern, niemand braucht zu schaden, um zu genieße»,
die Gattungen bekämpfen sich nicht mehr, und das Bedürfnis ist nicht mehr
Schmerz. Aber dumpf und verworren klingen die Stimmen des menschlichen
Elends von der Erde herauf. Doch Faustus und Stell« eilen weiter in das
Reich der Formen und Farben, wo jeder Künstler vor seinem erträumten Ideale
steht, Correggio vor dem glänzenden Morgen, Rubens vor dem flammenden
Mittag, Tizian vor dem purpurnen Abendlicht, Rembrandt vor seinein Hell¬
dunkel, Poussin und Ruisdal vor dem Prächtigen Himmel, den sprühenden
Kaskaden, den herrlichen Laubbildungen. Dann kommen die beiden Verklärten
in das Reich der Harmonie und der Schönheit, sie hören die Nachtigall
schlagen, und in schwärmerischer Stimmung erinnert sich Faustus der irdischen
Liebesstunden. Hier bietet uns der Dichter eine Elegie, die wir zu den
schönsten der ganzen französischen Litteratur rechne». Folgende Stelle ist be¬
sonders bezeichnend:
Gedenkst du noch des Hags, dnrch den wir traurig irrten?
Wir schritten beide einsam und versteckt
Auf einem Pfad, von Flieder ganz bedeckt,
Wo Dämmrnngsfarben mit den Blüten sich verwirrten.Und unsre Herzen schweiften in ein fernes Land,
Wo alles wächst in einer andern Sonne,
Als sich ein goldner Klang voll sicher Wonne
Im Widerhall zu uns erhob vom Waldesrand.Und du berührtest deine Lippen still:
„Die Nachtigall! Ihr klagend Liebeszeichen,"
Dn horchtest bang, dem Engel zu vergleichen,
Der wieder heim zum Paradiese will.Und melancholisch stieg in stiller Feier
Die Nacht hernieder auf den Blütenpark,
Die wie mit leichter Asche zartem Schleier
Der Formen Umrisi uach und nach verbarg.
Allein stelln erscheint plötzlich mit allen Reizen ihrer unsterblichen Schön¬
heit, und berauscht ruht Faustus in ihren Armen, und hört nicht auf die
irdischen Stimmen »»ter sich. Doch bald ergreift ihn eine unbestimmte, dumpfe
Unruhe: 'tout 1'Kouliuv vn wi n'6es.it x-is is-i.tiLkg.it ein qualvoller Trieb,
alles zu wissen und selbst das große Unbekannte zu ergründen. Er durcheilt
im Geiste die Lehren der griechischen Weisen von Thales bis Epikur, aber er
sieht nur ein unfruchtbares Chaos znsammengewürfelter Gedanken. Er wendet
sich zu den Lehren der Kirchenväter; er Prüft die Systeme der neuern Philo¬
sophen Bacon. Descartes. Malebrauche. Spinoza, Leibniz, Berkeley, Hobbes.
Hume, Condillac, Locke, Voltaire, Rousseau, Jacobi, Kant, Fichte, Schelling,
Hegel, und schließt mit Schopenhauer:
Vvlonti'i, t<in salut o'oft 6s tsmlro «.a Qv»ut.
Das sollte das letzte Wort des menschlichen Denkens sein? Unmöglich!
Faustus wendet sich von der Philosophie zu den Forschungen der empirischen
Wissenschaft; er durchfliegt das ganze Gebiet von Hipparch bis Darwin, aber
er findet auch hier keine Antwort ans seine Frage. Nirgends wird ihm eine
Losung des großen Rätsels geboten, überall wird die große Frage, die sein
Glück umschließt, mir verschleiert, verschoben und zurückgedrängt. Die Wi߬
begierde treibt ihn rastlos weiter; dn erscheint ihm Pascal und erklärt, daß
sein Streben vergeblich sei, daß der Mensch das höchste Wesen, Gott, mit dem
Verstände niemals begreifen könne. Des Menschen Geist hat zum Gebiete die
Dinge, die ihn umgeben; hier erkennt er die Ordnung und löst die Verwick¬
lungen; er beschreibt die Wege, die von den Gestirnen durchlaufen werdeu, da
er selbst Kraft und Stoss ist wie sie; aber das unendliche Sein liegt außer¬
halb seiner Grenzen:
Das cinzge Gilt im Weltgetriebe,
Uns näher als der Wahrheit Macht,
Das ist der reiche Schatz der Liebe,
Glaub mir, ich hab es lang bedacht!
So kehrt denn Fnustus, von seinen Zweifeln befreit, zu Stellas Liebe
zurück, und heitere Genien umschweben die Glücklichen. Alber wieder senkt sich
ein Stachel in sein Herz; von der Erde klingen die Kingestimmen der Sklaven
herauf, die nach Gerechtigkeit schreie», der Kranke» und Armen, die um Er¬
lösung stehen; er hört die Seufzer des Prometheus, Sokrates, Christus, die
um der Menschheit willen gelitten haben, und mächtig fühlt er sich mit einem-
male von Menschenliebe ergriffen. Er liebt die Erde um ihrer verwelkenden
Blumen willen, er liebt seine Brüder ans der Erde um ihrer Schmerzen willen.
Wenn wir, sagt er zu Stell», den Schrei ihres maßlosen Elends hören, wenn
wir in ihren Blicken die Angst einer endlosen Verzweiflung sehen, können wir
uns selbst dann noch glücklich fühlen? sollen wir von unserm Wissen, das
ihnen nützlich sein würde, nur einen nufrnchtbnren und eitlen Gebrauch macheu,
uur für uns leben und nichts für sie versuchen? stelln ist bereit, ihren Ge¬
liebten auf die Erde zlirückzubegleiten: auf den Flügeln des Todes, der in der
Gesellte eines bleichen Engels erscheint, steigen sie hinab. Aber Jahrtausende
sind ihnen im Rausche vergangen, ohne daß sie es gespürt haben — die Erde
trägt das Menschengeschlecht nicht mehr. In prächtiger Sprache schildert nun
der Dichter die menschenverlassene Stätte, die Ruhe des Todes über den
Trümmern einer untergegangenen Kultur; der Krieg, die Genußsucht, die
Sinnenlust haben die Menschheit aufgerieben; Faustus kommt mit dem Opfer
seiner Menschenliebe zu spät. Er ist verzweifelt, er fühlt, wie ihn alle Ver-
wünschungen und Seufzer der hilflos dahingesunkneu Brüder treffe», aber
stelln reißt ihn aus seiner Zerknirschung mit dein Gedanken, niederzusteigen,
auf der Erde zu bleiben und ihr ein neues Geschlecht zu schenken, das glück¬
lich werden soll ohne zu kämpfen. Lange genug, sagt sie, hat uns eine frucht¬
lose Liebe berauscht. Ich strebe uach einer zwiefachen Ehre, die mich allein
zum Glück führen kann! Meinem Gatten einen ihm ähnlichen Sohn zu schenken
und einen Himmel ans Erden zu gründen, Engel und Mutter zugleich zu sein!
Steigen wir hinab! — Wir spielen ein furchtbares Spiel! ruft Faustus aus.—
Stellen Raus 1v Hvuons vnsvmdlv! Aber der Todesengel wendet der Erde den
Nücken und trägt die Seligen durch die Bahnen der Sternenwelt, dorthin, wo
das Glück in der Vergötterung besieht, ein, 8im« rvinorÄs L'üvauvuissoiil, un
oxtastss 1v8 volontös. So erreicht denn Fnitstus endlich das Glück, das er
weder in dem geläuterten Sinnenrausch (lo« Jor<zö8s«), noch in der Welt des
Geistes (Ill, l^nsos) gewinnen könnte, durch den erhabnen Aufschwung seiner
Menschenliebe (lo suiMnw I^for).
Das Glück ist der Lohn der Thätigkeit; nicht der egoistische Taumel im
Gefühlsleben, nicht der Fvrschnngsransch in der Geisteswelt führt dahin, sondern
die freie Bethätigung selbsteutsageuder Menschenliebe, des wahren Mitleids,
das jn im tiefsten Grunde ans Erkenntnis der metaphysischen Identität mit
allen andern Wesen beruht. Alle wahre und reine Liebe ist Mitleid, und jede
Liebe, die nicht Mitleid ist, bleibt Selbstsucht.
So konunt Sullh-Prttdhvmnie trotz aller Anstrengitng nicht aus demZanber-
banne heraus, in den ihn Schopenhauers Ethik versetzt hat. Der Dichter hat
seine poetisch-philosophische Untersuchung mit einem staunenswerten Aufwand
von Gedanken durchgeführt, aber er hat gut gethan, das ganze Werk eine
Träumerei zu nennen, in der mau nicht die strenge Lösung großer Probleme
erwarten dürfe; man Hütte ihn: sonst häusig ins Wort fallen und ihn oft an eigne
Widersprüche und offenbare UnWahrscheinlichkeiten erinnern müssen. So aber
lassen wir uns selbst, wie Faustus und stelln, auf deu Flügel» der suprömv
InMLUso traumhaft von einem Zauberbilde zum andern tragen, von einer
poetischen Freude zur andern leiten, von einer geistvollen Betrachtung zur
andern emporheben.
Die französische Kritik hat dem Dichter vorgeworfen, daß die künstlerische
Form und Ausführung nicht immer den großartigen Gedanken entspreche.
Aber man muß bedenken, daß, wer mit Granitblöcken l'und, keine zierlichen
Nipptempel auffiihren kann. Es erfordert eine staunenswerte Formengewand-
heit, die philosophischen Systeme eines Spinoza, Kant oder Hegel, oder die
Theorie eines Darwin in wenigen Versen wiedergeben. Mit welcher sprachlichen
Fertigkeit, die mir wenig an Klarheit zu wünschen übrige läßt, weiß der Dichter
z. B. die Grundgedanken der Kantischen Philosophie auszudrücken: „Ah, du
behauptest deine Sinne über die Natur zu öffnen und das Licht in deinen
Kerker eintreten zu lassen! Ich werde dich das unzerbrechliche Schloß des¬
selben befühlen lassen! Die Welt — das bist du selbst, und Zeit und
Raum find nur dein Auge, durch das die Erscheinung durchgeht. Dn machst
dir selbst deine Sinne, deine Erde, deinen Horizont. Wer giebt dir genaue
Kunde davon? Sprich, und ich werde dich verwirren, wenn du dich in Frieden
wähnst, herrscht der Kampf selbst hinter deiner Stirn. Die Sinne bezeugen,
die Vernunft widerspricht und läugnet immer, was jene behaupten. Das
Weltall ist begrenzt, aber es kann es in Wirklichkeit nicht sein; es hat be¬
ginnen müssen, aber es hat nicht entstehen können. Nichts ist gewiß, als die
Stimme, die befiehlt oder verteidigt! Ein Gott macht dir Freude! Nun
gut, ich gewähre ihn dir, wie man ein Kind mit einem Bilde tröstet."
Es ist kein Wunder, daß ein Dichter wie' Sullh-Prudhomme, der nu die
Leser höhere Forderuuge» stellt als die ganze Reihe viel gefeierter Schrift¬
steller in Frankreich, keine sehr zahlreiche Gemeinde hat, dennoch wird er einst
zu den wenigen Säulen gezählt werden, die in der zweiten Hälfte unsers Jahr¬
hunderts die französische Litteratur vor ihrem völligen Zusammensturz be¬
wahrt bilden.
elche Bedeutung die musikkritische Thätigkeit Robert Schumanns
nicht nur für seine eigne künstlerische Entwicklung, sondern für
die Entwicklung unsrer ganzen musikalische« Zustände gehabt
hat, hat Gustav Jansen in seinem reichhaltigen Buche „Die
Davidsbüudler" (Leipzig, 1883) trefflich nachgewiesen. Das
Buch ist seinerzeit eingehend in den Grenzboten besprochen worden. Schumann
bekämpfte die Flachheit und Philisterhaftigkeit, die namentlich seit BeethovensM
Tode in der musikalischen Produktion herrschte und von einer ebenso stachen
und philisterhaften Kritik begünstigt wurde, die ihre Mittelpunkte in der von
Fink in Leipzig herausgegebnen „Allgemeinen musikalischen Zeitung" nud der
von Rellstab in Berlin redigirten „Iris" hatte. Zur nachhaltigen Führung
des Kampfes hatte er eine eigne musikalische Zeitung gegründet, die „Neue
Leipziger Zeitung für Musik," die seit dein April 1834 erschien. In dieser
kämpfte er anfangs mit Vorliebe unter einer eigentümlichen Maske, unter der¬
selben, nnter der er auch eine Anzahl seiner Jngendkompvsitionen in die Welt
geschickt hat: unter der Maske des „Davidsbnndes." Die Hauptgestalten dieses
Bundes sind Eusebius, Florestan und Raro. In den beiden ersten hatte
Schumann die zwei Hauptseiten seines eignen Wesens, die träumerische und die
stürmische, personifizirt; Narv, der vermittelnd zwischen und über ihnen steht,
ist das Abbild seines verehrten Meisters Friedrich Wieck. Zu diesen dreien trat
aber, teils in Wirklichkeit, teils in seiner Phantasie, eine Menge gleichgesinnter
Freunde in Leipzig und außerhalb Leipzigs unter allerhand romantischen Namen.
In deu erste» Jahrgängen der „Neuen Zeitschrift" ist eine ganze Reihe de;°
geistsprühenden, poesieerfüllten Aufsätze Schumanns unter der phantastische»
Firma des „Davidsbundes" oder einzelner Bündler veröffentlicht. Schumann
hat sie alle später im ersten Baude seiner „Gesammelten Schriften über Musik
und Musiker" (Leipzig, 1854) vereinigt.
Nun war bekannt, das; Schumann, schon ehe er seine eigne Zeitschrift
gründete, mehrfach versucht hatte, an andern Orten sein Herz auszuschütten,
und zwar auch da schon uuter der Ma^ke der „Davidsbündler." Der erste
nachweisbare Aufsatz von ihm, den er auch wieder an die Spitze seiner „Ge¬
sammelten Schriften" gestellt hat, ist die nnter der Überschrift „Ein Werk II"
erschienene wundervolle Besprechung der Chopinschen Variationen über das
Thema ans dem „Don Juan": I^ü. ol d-rrvin !->, in-uro. Sie ist zuerst gedruckt
in der von ihm dann so leidenschaftlich befehdeten „Allgemeinen musikalische»
Zeitung" s1831, 7. Dezember, Ur. 49). Aber Fink hatte ihm einen schlimmen
Streich gespielt; er hatte die Besprechung znsanunengekvppelt mit einer zweiten
aus der Feder eiues ungenannten Verfassers, die die Wirkung der Schumannschen
zum Teil geradezu wieder aufheben mußte, und beide Besprechungen durch
folgende Vorbemerkung eingeleitet, die zugleich eine Vorstellung von Fluth
Schreibweise geben kann. „Wir geben hier einmal über el» Werk zwei Be¬
urteilungen; die erste von einem jungen Manne, einem Zöglinge der neusten
Zeit, der sich genannt hat;") die andere von einem angesehenen und würdigen
Repräsentanten der ältern Schule, der sich nicht genannt hat: allein wir ver¬
sichern, und haben es kaum nötig, von einem durchaus tüchtige», wohlgeübt
und umsichtig kenntnisreiche». Wir meinen, durch diese Zusammenstellung
nicht nur unsre Aufmerksamkeit auf den Verfasser des zu besprechenden Werkes
auf hier ungewöhnliche Weise an den Tag zu legen, sondern auch zugleich, und
ganz besonders, unseren geehrten Lesern zu mancherlei eigenen und höchst nütz¬
lichen Vergleichungen Veranlassung zu bieten, die mit ihrem großen Nutzen
eine Unterhaltung gewähren, die zu viel Anziehendes hat, als daß sie irgend
einem denkenden Musikfreunde anders als höchst willkommen sein könnte. Mit
dein Werke in der Hand wird es Wohl am glücklichsten gelingen." Diese un¬
liebsame Erfahrung verleidete es Schumann, weitere Beitrüge in die Finksche
Zeitschrift zu geben, er suchte zunächst eine Zuflucht in der damals in Leipzig
erscheinenden belletristischen Zeitschrift „Der Komet." Jansen hat in seinem
Buche ein Bruchstück eines lungern Schumannschen Aussatzes aus dem „Kometen"
abdrucken lassen, der geradezu unter der Überschrift „Die Davidsbündler" dort
erschienen ist und uns mitten hinein versetzt in die Ereignisse des Leipziger
Musiklebens im Winter 1833 auf 1834. Aber nur ein Bruchstück, die zweite,
kleinere Hälfte. Das Ganze aufzutreiben war Jansen trotz der vielfältigsten
Versuche uicht gelungen; er scheint auch weitere Nachforschungen darnach für
gänzlich aussichtslos gehalten zu haben, denn er schreibt, von diesem Komcten-
aufsatze sei „leider nur ein Bruchstück erhalten geblieben."
Es ist mir nun kürzlich nach vielen vergebliche» Bemühungen geglückt,
eine längere Reihe ganz vollständiger Bände des „Kometen" aufzutreiben, nicht
in eiuer größern öffentlichen Bibliothek — dort fragt man wohl überall ver.
gebens darnach —, fondern in eiuer ältern Leihbibliothek einer kleinen Stadt,
darunter auch die beiden Jahrgänge, in deuen sich der vermißte Aufsatz Schu¬
manns befindet: 1833 und 1834, und ich freue mich, ihn den Lesern der
Grenzboten nun vollständig mitteilen zu können. Ein paar Bemerkungen über
die ungemein selten gewordene Quelle werden zuvor willkommen sein.
"
Der „Komet erschien unter der Redaktion von Karl Herloßsohn seit
Neujahr 1830 in der Hofbuchdruckerei in Altenburg im Verlag von C. H. F.
Hartmann. Er bestand aus einem Hauptblatt von wöchentlich sechs Nummern:
„Der Komet. Ein Unterhaltungsblatt für die gebildete Lesewelt," und zwei
Beilagen: einer „Zeitung für Reisen und Reisende" und einem „Literaturblatt,"
die wöchentlich nnr einmal erschienen. Aber schon im zweiten Vierteljahre
kam es zu heftigen Zwistigkeiten zwischen Verleger und Herausgeber, infolge
deren sie sich trennten und nun jeder auf eigne Faust die Zeitung fortsetzten.
Hartmann gab vom August 1830 an eine Zeitung heraus: „Unser Planet. Blätter
für Unterhaltung, Literatur, Kunst und Theater," für deren namenlose Re¬
daktion er selbst die Verantwortung übernahm. Herloßsohn setzte den „Ko¬
meten" unter seinem bisherigen Titel fort und gab ihn in Kommission bei
Fr. A. Leo in Leipzig. Beide Zeitschriften wurden übrigens friedlich neben
einander in der Altenburger Hofbuchdruckerei weiter gedruckt. Der „Planet"
erlebte unter wechselnden Verlegern und Herausgebern dreizehn und einen halben
Jahrgang, er erschien bis Ende des Jahres 1843. Der „Komet" überdauerte
ihn noch um fünf Jahre, er erschien bis 1343, ebenfalls unter vielfachem
Wechsel, namentlich auch seiner Titel. Aus dem „Literaturblatt" wurde vom
zweiten Jahrgange an eine „Beilage für Literatur, Kunst, Mode, Resideuz-
lebeu und journalistische Controle." Zu den beiden Beilagen trat von Neu¬
jahr 1834 an noch eine dritte: „Der Dampfwngen. Ein Gratismagazin zur
Unterhaltung und Belehrung," an seine Stelle wieder seit Neujahr 1835:
„Der Luftballon. Ein Blatt für Herz, Geist, Kopf und Magen." Dieser
verwandelte sich zu Neujahr 1837 wieder in den „Leipzig-Dresdner Dampf-
wagen. Ein Blatt der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft," ein Jahr
später in den „Leipzig-Berlin-Dresdner Dampfwagen." In den vierziger
Jahren ist die „Zeitung sür Reisende" weggefallen, das „Literaturblatt" noch
da, um die Stelle des „Dampfwagens" ist das „Teleskop" getreten; dabei wieder¬
holter Wechsel des Verlags, des in Holz geschnittenen Titelkopfes — kein Wunder,
daß bei dieser fortwährenden Veränderung Wohl nur wenige das Blatt regel¬
mäßig fvrtbezogen und sammelten; ein vollständiges Exemplar von 1830 bis
1848 dürfte in Deutschland gegenwärtig nirgends aufzutreiben sein.
Schumanns Aufsatz steht nicht im Hauptblatt, sondern in der „Zeitung
für Reisen und Reisende," und zwar geht er durch die drei Nummern vom
7. und 14. Dezember 1833 und 12. Januar 1834. Er besteht aus zwei
Artikeln, von denen der zweite unvollständig geblieben ist; die versprochene
„Fortsetzung" blieb aus, ein Vierteljahr später, am 3. April 1834, schickte
Schumann die erste Nummer seiner eignen Zeitschrift in die Welt. Ein paar
Bruchstücke aus seinem Kometenaufsatz hat er bald daraus mit unbedeutenden
Veränderungen in seiner Zeitschrift (7. und 11. August 1834) unter der Über¬
schrift „Grobes und Feines" wieder abgedruckt — offenbar aus Stvffmnugel,
an dein die „Neue Zeitschrift" im Anfange manchmal litt —, später auch uuter
die „Aphorismen" im ersten Bande seiner „Gesammelten Schriften" wiederauf¬
genommen. Der erste Artikel ist im „Kometen" mit zahlreichen Druckfehlern
gedruckt, von denen Schumann die „stärksten Verbrecher" im zweiten in einer
launigen Druckfehlerberichtigung verbessert.") In dem nachfolgenden Abdruck
sind selbstverständlich nicht nur diese, sondern auch uoch einige andre offenbare
Fehler berichtigt, auch ist die klägliche Interpunktion verbessert. Das von
Jansen bereits mitgeteilte Bruchstück hier nochmals zu wiederholen, empfahl
sich aus mehreren Gründen: erstens weil der Abdruck bei Jansen weder ganz
getreu, noch ganz vollständig ist, sodann weil manches darin erst im Zusammen-
hange des Ganzen verständlich wird, endlich weil wohl die wenigsten Leser in
der Lage sein werden, Jansens Buch sofort zur Ergänzung herbeizuziehen.
In einer neuen Ausgabe der Schriften Schumanns wird der Aufsatz natürlich
nicht fehlen dürfen. Folgendes ist sein Wortlaut.
Ein Fenster ward über mir hastig zugeworfen, hinter dem ich im Halb¬
schatten einen scharfen, schiefnasigen Schwedenkopf erkannte. Als ich eben aussah,
flog und spielte mir etwas wie feindnftendes Vlätterlaub um die Schläfe: herunter¬
geworfenes Papiergeschnitzel wars. Aber wie angewurzelt las ich zu Hanse auf
einem in stärkeres Papier gewickelten Blatte folgendes:
Unsre italienischen Nächte Wahren fort. Der Himmelsstürmer Florestan ist
seit einiger Zeit stiller denn je und scheint etwas im Sinne zu haben. Eusebius
liest aber neulich ein Paar Worte fallen, die den Alten wieder in ihm weckten.
Jener sagte nämlich nach Lesung einer Jrisnninmer: Er machts aber zu arg. —
Wie? was? Eusebius, fuhr hier Florestan auf, Rellstab machte es zu arg? —
Soll denn diese verdammte deutsche Höflichkeit Jahrhunderte fortdauern? Während
die litterarischen Parteien sich offen gegenüberstehen, und befehden, herrscht in der
Kunstkritik ein Achselzucken, ein Zurückhalten, das weder begriffen, noch genug ge¬
tadelt werden kann. Warum die Talentlosen nicht geradezu zurückweisen? Warum
die Flachen und Halbgesnnden nicht ans den Schranken werfen samt den An¬
maßenden? Warum nicht Warnungstafeln vor Werken, die da aufhören, wo die
Kritik anfängt? Warum, schreiben die Autoren nicht eine eigne Zeitung gegen die
Kritiker und fordern sie auf, grober zu sein gegen die Werke? Hat nur einer
angefangen einzuschlagen und zu dezimiren, so seid ihr außer euch. Ist denn die
Waffe, mit der jener Ehrenfeste angreift, der Spott, der nur verwundet, nicht
tötet, nicht noch gut genug für eine Klasse, die, mit Stumpf und Stiel ausgerottet
werden muß? sind denu überhaupt edlere Tiere nicht leichter zu vertilgen als
gemeine — ich bitte dich, Eusebius! Aber nun wird es einmal Zeit, nufzusteheu
gegen das Schutz- und Trutzbünduis, was die Gemeinheit mit dein Trotze geschloffen
hat, ehe es über uus zusammenwächst und dein Jammer gar kein Ende abzusehen
ist. Aber was meint Ihr, Meister Naro?
Du kennst Naros greifenden Sprachstil, durch deu italienischen Accent noch
fremder gemacht, wie er ordentlich fugenartig Satz an Satz reiht, auseinanderlegt,
Wieder verschränkt, noch enger führt, am Schlusse noch einmal alles zusammenfaßt
und zu fügen scheint: das wollt ich.
Florestan, erwiederte der Meister, Ihr sprecht wahr, obgleich ich Eure Aus¬
drucksweise nicht billige. Ziehe die Maske ab, wo es ans die höchsten Güter und
Fähigkeiten des Geistes ankommt! Ich nehme die einzelnen Hohen ans — sie
wissen vielleicht nicht einmal, daß sie, gemeint sind. Aber welche Zeit! Reizt das
Natürliche noch? ists nicht der Putz, das Verhüllte? Rührt das Große uoch?
muß es nicht prächtig sein? Bleibt nicht das Studium auf halbem Wege stehen,
um gleich nach dem Letzten zu greifen? Giebt sich nicht eine Geheimnisthnerei den
Schein des —. Hier war das Blatt abgerissen; ans der Rückseite stand aber!
Finder! Zu Gutem und Kroßem bist du erkoren! Davidsbüudler sollst du
werden, die Geheimnisse des Bundes der Welt übersetzen, d. i. des Bundes, der
da totschlagen soll die Philister, musikalische und sonstige! Hier weißt du alles —
handle nun! Ordne jedoch keineswegs kleinstädtisch, sondern giebs recht kraus und
verrückt! Meister Rarv, Florestan, Eusebius, Friedrich, Bg., Se., Hf., Knif, Balken-
treter an Se. Georg.
Göttlich! war meine ganze innere Antwort, entzückt, daß ich in fremde Namen
gewickelt meine eignen herrlichen Gedanken glücklich einschmuggeln konnte. Ich
konnte mich kaum enthalten, weiter zu ziehein
38. Sitzung des Davidsbundes. — Schon die Zeitnähe, beider Konzerte bringt
auf Vergleiche, die interessant ausfallen könnten, da beide denselben Mnsiksatz des¬
selben Komponisten, der auch sein Spieler war, gewählt hatten, wäre nicht manchem
Charakter jedes Suchen der Ähnlichkeit oder Uniihnlichkeit zuwider. Selten und
glücklich das jugendliche Talent, an das schon nicht mehr der Maßstab des Alters,
sondern der der Leistung gelegt zu werden braucht, wenn sich auch vielleicht über
die Knospe mehr sagen läßt als über die Blüte, über das Strebende mehr als
über das Vollendete (giebt es überhaupt eines in der Kunst), da jenes noch die
Hoffnung der Zukunft einschließt. Lächerlich aber wäre es, an Virtuosen wie an
Knlkbrenner oder Clara Wieck etwas aussetzen zu Wollen, erstens weil es niemand
glauben würde, zumal in Leipzig, das wohl berühmte Namen berühmter macht,
unberühmte jedoch tiefer eingräbt als Rußland seine Künstler (musikalische sowohl
als demagogische), sodann weil nichts auszusetzen ist, obgleich es Unvernünftige genug
giebt, die von Moscheles etwa fordern, er möge doch merken lassen, daß er auch
Hummelsche, Fieldsche Spielart kenne, oder von Kalibrenner meinen, er leiste aller¬
dings Menschenmögliches, aber es verlange einen einmal nach alter, echter Kost, nach
Hundelöcher, Bachischen Klavierkonzerten u. dergl. E.
Und dann (was aus dem Vorigen folgt) ergreife nur der Mensch etwas recht
und lange, einen einzigen Teil der Kunst oder einen der Wissenschaft selbst bei
Gefahr der Einseitigkeit (diese und Flachheit findet mau selteu beisammen) und bilde,
verarbeite, veredle, Virtuosire diesen einen, so ist er des Sieges gewisser, als der
Unglückliche, der bei vielleicht höherem Genius unter Kolossen uugekmmt zusammen¬
stürzt. R.
Ich mag den Menschen nicht, dessen Lehre mit seinen Werken nicht im Ein¬
klang steht. Bg.
Kein Mensch kann den eignen in seinen Werken treuer kopiren als Kalkbrenner.
So fein, ungezwungen, geistreich, liebenswürdig, wie er sich im Umgang giebt,
zeichnet er auch seine Tonbilder; selbst die Kraftstellen in seinen Kompositionen wie
in seinem Spiele sind kaum mehr als Charitinnen in Helm und Panzer. Dennoch
ist im allgemeinen nicht anzunehmen, daß der Komponist, selbst als berühmter
Virtuose, seine Werke auch am schönsten und interessantesten darstellen müsse,
namentlich die neuesten, zuletzt geschaffenen, die er noch nicht objektiv beherrscht.
So trugen (nach dem Urteil der Kunstkenner) z. V. die Szymanowska das ^.-woll-
Konzert von Hummel, die Belleville die Vravvurvariativuen von Herz, Clara Wieck
das Konzert von Pixis bei weitem bedeutender vor, als man Hummel, Herz, Pixis
zu hören gewohnt war. E.
Denn der Mensch, dem die eigne physische Gestalt entgegensteht, erhält leicht
im andern Herzen die idealische. Wollte ich mich daher auf Vergleiche einlassen,
wie ja schon der Tageblatt-Rezensent das Kalkbrennersche Spiel ernsthaft genug
mit der Julirevolution, seine Triolen aber mit leichter Kavallerie verglich, so würde
mir beim Mann das Meer einfallen, das alle heitere und düstere Gestalten des
Himmels treu zurückspiegelt, beim Mädchen (Clara) die Iris, die über dem ruhigen
Wasserfall ausgespannt auch ruhig in Farben spielt, aber stark zittert, wenn jener
bewegt wird. N-
'
Ich lobe dich, Florestnn, daß du oft statt eines Urteils ein Bild giebst, durch
welches das Verständnis leichter erreicht wird als durch Kimstsprachausdrücke, die
dem Ungebildeteren unverständlich bleiben. Wenn du daher einmal Ma einem
Pixisscheu Klavierkonzert sagtest, es wäre zum Orangenstrauß in Claras Hand ge¬
worden, oder von Moscheles, er teile reiche, orientalische Perlenschnüre aus, oder
von Kalkbreuner, daß Papilionen von den Tasten aufflogen, hoch, hoch ins Blane,
so schätz ich das so sehr, als wenn der andre meint: der sehr präzise Anschlag des
Casus, durch schulgerechte Unabhängigkeit der Handmuskeln von denen des Armes
(es giebt nichts Gräßlicheres als steifes Armabhobeln) hervorgebracht, giebt uns den
eigentlichen Cymbalton, der zu Clementis Zeiten u. f. w. R.
Die Kalkbrennerschen Etüden von ihn, selbst vorgetragen waren Meisterstücke
on Muiawrs (Mignongesichte, durchsichtig bis auf die feinste, verschlungenste Ader).
Das ganze Publikum schien hier ein Schüler, der jedem Laut des Meisters auf¬
merksam und gespannt zuhorcht. E.
Mag das Vorspielen von kürzern, rhapsodischen Sätzen im Konzert nicht ohne
Nachahmer bleiben. (Es gehört weiter nichts als ein berühmter Name dazu. Fi.)
Der Virtuose kann da auf die schnellste Weise seinen Geist in allen Brechungen
spielen lassen. R.
Bei der vierstimmig-einhändigen Fuge, die Ksalkbrenners gar vollkommen spielte,
siel mir der verehrte Thjibauts, der Dichter des Buches „Über Reinheit der Tonkunst"
ein, der mir einmal erzählte, daß in einem Konzert in London, das Cramer ge¬
geben, eine vornehme, kunstverständige Lady sich gegen alle englische Sitte auf die
Zehen gestellt, die Hand des Virtuosen starr angesehen, was natürlich die Nach¬
barinnen zur Seite und im Rücken, nach und nach die ganze Versammlung gleich¬
falls gethan, und endlich Th. ins Ohr, aber mit Ekstase gesagt hätte: Gott! welcher
Triller! Triller! Und noch dazu mit dem vierten und fünften! Das Publikum
(schloß damals Th.) murmelte leise nach: Gott! welcher Triller! Triller! und noch
dazu n. s. w. R.
Doch scheint dies das Publikum zu charakterisiren, das am Virtuosen, wie im
Konzerte überhaupt, auch etwas sehen will. E.
Aber beim Himmel! es wäre ein wahres Glück, wenn in der Künstlerwelt
einmal ein Geschlecht der Bilfinger aufwüchse, das bekanntlich an zwei garstigen
Nberfingcrn litt; dann würden wir zehn Virtuosen weniger und einen Künstler mehr
haben. ^
Warum spielt Clara nicht mehr auswendig wie früher? Nennt es nun ein
Wagstück, dessen Größe gegen den Tadel gehalten, der beim Mißlingen mit Recht
darüber ausgesprochen wird, zu wenig vom Publikum anerkannt ist/ oder Charla-
tanerie, die Kugel« auf Nadelspitzen erhalten will, so wird das doch immer von
großer Kraft des musikalischen Geistes zeugen und findet, eben ans Mangel daran
wenig Nachahmer (die Vorgänger Pcigauini und Romberg ausgenommen). Sagt
ihr aber, es sei weder das eine noch das andre, sondern gar nichts, und sagt ihr
es noch dazu ohne Grund, der fehlen muß, so frage ich: Wozu diesen Svnfflenr-
kasten? warum den Fußblvck an die Sohle, wenn Flügel am Hanpte sind? Wißt
ihr nicht, daß ein noch so frei angeschlagner Akkord von Noten gespielt noch nicht
ein halbmal so frei klingt wie einer ans der Phantasie? O, ich will aus eurer
Seele antwvrteii: Allerdings klebe ich um Hergebrachten, denn ich bin ein Deutscher.
Erstaunen würde ich freilich in etwas, brächte plötzlich die Tänzerin ihre Touren,
der Schauspieler oder Deklamator seine Rollen aus der Tasche, um sicherer zu
tanzen, spielen, dellcimiren; aber ich bin wirklich wie jener Kunstspießbürger, der,
als dem ruhig weiter spielenden Virtuosen die Noten vom Pulte fielen, siegend aus¬
rief: Seht! seht! das ist eine große Kunst! der kanns auswendig! — O Drittel
vom Publikum! man sollte dich in eine Kanone laden, um das zweite der Philister
totzuschießen. Fi.
Die Don Juan-Variationen von Chopin können wohl kaum vollendeter gedacht
werden, als sie Clara spielte, so zart, gewählt und bedeutungsvoll war da das
Kolorit und so zirkelrund das Ganze. Wäre man ein Rezensent, so ließe sich mehr
darüber sagen. Doch darf die lebendige Kraft, mit der sie jedes Stück vom leisen
Zucken der Empfindung an bis zur aufschlagenden Leidenschaft, immer drängend
und steigend, bis zum Schluß ausführt, nicht unerwähnt bleiben. Denn die Summe
alles dessen, was Kalkbrenner spielte, gab kaum mehr als zwei Drittel im Ver¬
hältnis zum Fazit der von. Clara gespielten Stücke, die noch bei weitem schwieriger
in sich waren. E.
(Ich finde, daß Eusebius sehr langweilig schreibt!) Apropos, wer ist denn
das anonyme Schaf, das über die Chopinschen Variationen in einem früheren Jahr¬
gange der „Musikalischen Zeitung" geblökt hat, obgleich sah. in der voranstellenden
Rezension, die Davidsbündler, .ohne zu fragen, mit figuriren ließ, was ihm einen.
Verweis vom Meister zuzog? Ist jenes über die Mazurken, die Etüden, über das
Trio, über das Konzert nicht vor Schreck umgefallen? Fi.
Jsts aber nicht geradezu gemein, ans einem Werk, das als vielversprechend
(Chopin hat. gehalten) von Meistern anerkannt worden ist, kleine Mängel, die man
höchstens am Meister rügen müßte, einzeln, hervorzuheben und gleich großmäulig
hinzuschreiben: Seht! das ist die neue Zeit! Geht denn so ein Kritikhnnd-
werker jemals in das Ganze? Denkt er je daran, daß außer Korrektheit und Stil
des Kunstwerks noch etwas vonnvten ist, wie etwa Lebensdrang, Notwendigkeit, da
zu sein? Bemühe er sich je auf das mögliche spätere Wirken junger Künstler auf¬
merksam zu machen, dieses vorzubereiten und ihre Leistungen mit Wärme zu fördern?
Sezirt. er nicht. Geister wie Leichname, um Galleiistcinsaminlnugen anzulegen,
während er Geist und Phantasie, die ja der Jugend innewohnen, geflissentlich ver¬
hüllet? Hf.
Himmlisch ists zu lesen, mit welcher Salbung der Kopf von. Rezensent schließt.
Nachdem, er sich vorher zwei Seiten lang unbändig gelobt, einen zu großen Griff
als zu groß, ein Paar Durchgnngnoteu (transitum, irrczg'nlnrsm.) als Durchgang¬
noten gerügt hat, meint er: „Nach einer Einleitung, die in der Prinzipalstimme
fünf Folioseiten seinnimmtj (Largo, L-Äur, späterhin ein. wenig bewegter), folgen
das Thema, diesem vier Variationen in. raschem Zeitmaße, eine Variation (Adagio,
N-moll.) und endlich zum Schluß ein ü In, xotnec-u. auf acht Seiten. Ju Bezug,
fährt er ausholend fort, auf die äußere Ausstattung dieses die 27. Lieferung des
Odeon ausmachenden Pciradewerks braucht etwas Lobendes nicht noch gesagt zu
werden. Der Haslingersche Verlag zeichnet sich stets durch deutliche Schrift, guten
Druck und schönes Papier ans. Auffallende Druckfehler, deren Verbesserung nicht
^sogleichj in die Augen fallen (hier hat sich eine. Sprachquinte eingeschlichen), sind dem
Rezensenten, nicht vorgekommen. Doch kauu er nicht für die Orchesterstimmen stehen,
da er das Werkchen mit dem Orchester nicht, gehört hat." Lache, Nezensentenkopf,
über den Schweiß und die Zeit, die mich das Abschreiben kostete. Aber du bist
Wahrlich derselbe, der, wenn er vergatternd hinschreibt: O du einziger Beethoven!
schnell die Parenthese anhangt: (geboren zu Bonn 1770). Fi.
Recht habt Ihr, Florestan! Die Rezension ist Weibergewäsch. Aber grob
hättet Ihr sein sollen, nicht witzig. Erfreulich ist es, daß die verehrte Redaktion
ihr Unrecht der Aufnahme jener Kritik durch eine vortreffliche Rezension des Cho-
Pinschen Trios eingestanden hat. Raro.
Sommernachltranm! träumerisches, sprechendes Bild, das sich über die gemeine
Tonmalerei erhebt, wie etwa ein Sommernachttraum über einen nüchternen, dumpfen
Nachmittagsschlaf — spielen mochte ich mit dir und etwa deinem Dichter die Hand
drücken, aber wenig sprechen als mit den Augen! Wie durften ungeweihte Hiiude
dich beklatschen, dein Bild gleichsam begreifen und dich ungeschickt im Traumen
stören, wie andre im Nachträumen? Ist denn ein höchstes Lob (wie der bitterste
Tadel) etwa auszusprechen? E.
Da ärgere ich mich stets bei eiuer Stelle im Adagio der ^-cknr-Symphonie
(es giebt nnr eine), wo die Melodie in weichen, fast Spohrschen Vorhalten auf-
und niederschwebt, was dem Feind alles Weichlichen und Weibischen bekanntlich ganz
zuwider ist. Ich wette auch, Beethoven schrieb es ironisch hin, schon der bald ein¬
tretenden scharfen Bässe wegen. Da steht nun einer neben mir und stöhnt einmal
über das andre: O du einziger Beethoven! — O es ist schrecklich! Fi.
Verachten der materiellen Mittel entfernt vom Kunstideal. Die Aufgabe ist,
den Stoff so zu vergeistigen, daß alles Materielle darüber vergessen wird. N.
Warum bewegen sich aber manche Charaktere erst selbständig, wenn sie sich um ein
andres Ich gelehnt haben, wie etwa Shakespeare selbst, der bekanntlich alle Themas
zu seinen Trauerspielen ans älteren oder aus Novelle» u. dergl. hernahm? E.
Eusebius spricht wahr. Manche Geister wirken erst, wenn sie sich bedingt fühlen,
frei; umgekehrt würden sie im Unendlichen zerflattern und verschwimmen. R.
Würde ohne Shakespeare dieser klingende Nachttrnnm geboren worden sein,
obgleich Beethoven manche (nur ohne Titel) geschrieben hat (l'->n»!1-Sonate)? Der
Gedanke kann mich traurig machen. Fi.
Über deu Symphoniesatz von S. (vielleicht Schumann?) hab ich schwerlich ein
Urteil. Ist er denn nicht mein ältester Bruder und Doppelgänger, nud wuchs das
Werk nicht nnter meinen Augen auf? Ob die Unruhe im Werke dem Orchester,
das bei der Schwierigkeit des Satzes vielleicht nicht sicher genug spielte, auch noch
nicht die rechten, zartesten Tinten fand, zuzuschreiben, ob das Werk so geboren ist
(das ist meine Meinung), oder ob der Deutsche, der nicht gleich umflutet sein will
vom Allegro, vielleicht eine Einleitung (die Beethoven so schön persistirt in der
^-clnr-, wie die Schlüsse in der i?-eine-Symphonie) vermutet hatte, entscheide ich
nicht. Sehr paßte ich auf die kritisircnde Nachbarschaft. Der liebenswürdige, echt
musikalische Stegmayer meinte, Routine und Vielschreiben würde» halt Sicherheit
und Leichtigkeit in die Instrumentirung bringen, die zu kolorirt sei. Fehlerhaft
aber ists gewiß überhaupt, fiel der geistreich praktische Hofmeister ein, einen ersten
Satz spielen zu lassen, gleichsam den ersten Akt zu geben; da sei noch nichts in der
Entwicklung, sondern erst im Moment des Werdens, der Dichter oft noch nicht aufs
Reine u. dergl. (Ich null nur gestehen, daß die ganze vorige Periode gar nicht
von den Davidsbllndlern ist, sondern von mir selbst, darf aber eine Bemerkung
Raros nicht übergehen:)
Verlangt nicht vom Manne die Schwärmerei des Jünglings, von diesem die
Ruhe jenes; verwerfe es sogar! Zu großer Ernst mißfällt ain Jünglingswerte,
wie umgekehrt ein. tanzender Vierziger.
(Livia Gerhard im Wieckschen Konzert.) Schade wär es und unverantwortlich,
wenn dieses liebliche Talent nicht ruhig genug entwickelt würde. Mit der ätherischen
Stimme muß zarter Verfahren werden als mit der Ausbildung der Hand, und das
Zuviel ist dort ebenso schlimm als das Zuwenig hier. Vielleicht tauschte ich mich
anch; aber mir schien bei sonst vorgeschrittener Bildung die Stimme etwas an
Frische und Glanz verloren zu haben. E.
Kein wahrer Davidsbündler bist du, Eusebius, sondern ein rechter lederner
Philister mit tauben Ohren. Es gab ein Gesetz der Griechen, schöne Statuen
schweigend anzuschauen, nun vollends eine atmende und tönende. Ein rechter
Philister bist du, Eusebius. Fi.
Kritiker sollten sich aber nicht verlieben, obschon es der Franzillakritiker, dem
übrigens (wenn er auch anerkannte Autoritäten zum Schaden*) anreisender Talente
zu oft zitirt) ein warmer, nichts scheuender Sinn fürs Echte zugesprochen werden
muß, neulich selber gethan, indem er von derselben, freilich entzückenden Sängerin
auf derselben Seite sagt: daß sie l., obgleich noch Anfängerin, eine der ersten
Sängerinnen unsrer Zeit zu werden verspräche, daß sie 2. bald als Stern
erster Große am musikalischen Horizont erglänzen würde, daß sie 3. in solcher
Vollendung aufgetreten wäre, daß man sie mit Recht unter die ersten Sängerinnen
zählen könne, daß sie 4., obgleich sechzehn Jahre alt, gewiß eine der ersten
Sängerinnen würde, daß sie 6. eine der ersten Sängerinnen und außer¬
ordentliche Erscheinung sei, sodaß alle hier in Leipzig lebenden Sängerinnen (dies
unterstrichen) als Pygmäen dastünden, daß v. u. f. w. E.
Lasse dich dadurch nicht irre machen, schöner sehn'an! (Sultanssprüche wirken
in der Kunstkritik nichts), und hüte dich, solche Diktci, sind sie nicht im Zusammen¬
hang unterstützt und in Gründen entwickelt, für mehr zu nehmen als für Einfälle,
uicht fiir Resultate tiefen Forschens! Fi.
Verheimliche die Kritik nichts! Allerdings ist alles Kunststreben approximativ,
kein Kunstwerk durchaus unverbesserlich — kein Ton der Stimme, kein Laut der
Sprache, keine Bewegung des Körpers, keine Linie des Malers. Wird dies zu¬
gestanden, mag aber nicht vergessen werden, daß oft Virtuosität in der eiuen Leistung
Impotenz in der andern ersetzt, und daß ein Werk sogar klassisch genannt werden
kann, ist sonst die Manier komplet und eigentümlich. Naro.
Daher thut die Kritik Unrecht, das Fehlen einzelner Eigenschaften, die mau
vom Kunstwerk fordert, tadelnd zu bemerken; doch sei ihr das erlaubt, wenn andre
Geisteskräfte sich in ihm so stark äußern, daß notwendige vermißt werden. So
fehlt dem Gesaug der Grabau gewiß der lyrische Ausflug des Franzilla-Pixisschen;
aber es sind dafür andere Seiten (Reinheit und Wahrheit in Stimme und Ausdruck)
so komplet ausgebildet, daß jeuer gnr uicht vermißt wird. R.
Je gereifter das Urteil, desto einfacher und bescheidner wird es sich aus¬
sprechen. Nur wer durch zehnfach wiederholtes Lernen, durch gewissenhaftes Ver¬
gleichen in lang fortgesetzter Selbstverleugnung den Erscheinungen nachgegangen,
weiß, wie spärlich unser Wissen sich mehrt, wie laugsam unser Urteil sich reinigt,
und wie wir demnach vorsichtig in unsern Ansprüchen sein müssen. „Ohne die
mannichfaltigsten Erfahrungen und Leitkeuntnisse siud wir dem Kunstwerk gegenüber
mit offenen Augen blind" las ich irgendwo. R.
So weit war ich im Kopiren, als ein schwarzgelockter, schöner Bube eintrat
und nur stninnr einen Brief hinreichte. — Wer bist du? — Hinaus fuhr er zur
Thüre. Aber was stand im Brief? Ich wills dir ins Ohr sagen —----
— — — Hgst du gehört?
Das letzte Du war an die schöne Leserin gerichtet. Überhaupt mag sich das
Publikum, dem jetzt alles so bequem und encyklopädisch eingegeben wird, nur Glück
wünschen zur Konfusion, die weniger in den Davidsbnudlern als in ihrer Bundes-
lade (sie besteht aus dein Buche) merklich vorherrscht, wobei, ich einen Flvrestauscheu
Papierschnitzel, nicht übersehen darf, der meint: „Bei Gott, ist denn die Welt eine
Fläche? und sind nicht Alpen darauf und Strome und verschiedene Menschen? und
ist denn Las Leben ein System? und ist es nicht ans einzelnen halbzerrissenen
Blättern zusammengeheftet voll von Kindergekritzel, Jngendköpfen, umgestürzten
Grabesschriften, weißen Zensurlücken des Schicksals? Ich behaupte das letztere.
Ja es dürfte gar nicht ohne Interesse sein, das Leben einmal wirtlich so abzu¬
malen, wie es leibt und lebt, und seinen Roman in Aphorismen zu schreiben, wie
schon ähnlich Platner und Jacobi ganze philosophische Systeme gaben." So un-
künstlerisch der Gedanke zu nennen, so verhehle ich nicht, daß mich Raro getröstet
mit zukünftiger logischer Ordnung, mit gleichschwebender Temperatur der ange¬
schlagenen Tonart, kurz mit Aufklärung über die im einzelnen nicht zu. verkennende
Schreibmnnier eines „unendlich geliebten" deutschen Schriftstellers, mit welcher der
Mensch zufrieden sein Würde.
Dies alles hab ich ans dem Briefe, den mir der schöne italienische Knabe
samt bedeutenden Anlagen überbrachte. Ich hatte mich gewundert, unter keinem
der vorigen Papierschnitzel die Namen des Balkentreters und Friedrichs anzutreffen,
finde aber ausreichenden Grund im folgenden Brief:
Eben hundemüde von einer Fnsireise nach Venedig zurückgekehrt, die ich dahin
in Geschäften des Meisters mit dem tauben Maler Fritz Friedrich machte, bitte ich,
die Kürze zu entschuldigen, da mir (mit Cicero zu reden) Zeit fehlte, den Brief
kürzer zu macheu. Im. Auftrage des Davidsbundes habe, zu melden, daß er nach
genauer eingezogenen Nachrichten wer das kritische Talent Ew. Hochedelgeboren mit
der getroffenen Wahl nur zufrieden sein kann. Aubei folgt mehr Material, woraus
man ersehen möchte, wie sehr es Bestreben des Bundes ist, Licht über seine Ver-
hältmsse. Ihnen wie dem Publikum zu verschaffen.
Im Brief lagen außer der Fortsetzung der kritischen von Knif protokollirten
Notizen (die. ich jedoch nur sehr gewählt mitteilen darf, weil Florestnn oft grob
ausfällt) die Porträts zweier Jungfraueuköpfe, denen, ich keine Namen geben null
als ihre eignen: Zilia, Ginlietta, eines des italienischen Knaben mit der Unter¬
schrift: Hertor. ein Brief ans Venedig von Zilin, einer Naros ein mich mit der
Bitte, über alle Geheimnisse vor der Hand Stillschweigen zu beobachte». Könnte
ich sagen, was ich wüßte, obwohl vieles halb! Dürfte ich reden über Zilia,
Florestan — wie der Bund kein unterirdisches, schleichendes Behmgericht und der
kritische Blumenstaub nur ein leiser Abfall von einem ganzen Künstlerwonneleben,
und wer der Meister ist, den wir alle schon kennen — um: würde mehr erstaunen,
als wenn man bei einem geographischen Professor einschliefe und etwa unter Orangen-
blüten in Italien aufwachte. Einstweilen müssen aber die tausend Millionen ge¬
spannter Menschen mit dem kritischen Teil vorlieb nehmen.
Zu großer Freude entdeckte ich eben die Fortsetzung des abgerissenen Naroschen
Satzes im ersten Artikel, der einem. Briefe an eine ungenannte Person entlehnt zu
sein scheint. Nach Naros Worten: „Giebt sich nicht eine Geheimnisthuerei den Schein
des" geht es fort: Tiefen — nichts Ganzes, nur Zerrissenes — keine Würde, lauter
Leichtsinn.
Sprecht Ihr vom Ganzen, warf hier Florestan ein, der niemanden, wenn er
seiner Meinung war, gern aussprechen ließ, so stimm ich Euch bei, Meister. Anders
aber als die, die immer über Genialitätsfrechheit, Verachtung aller geachteten Formen,
neuromantisches Rolandswüten schreien, finde ich in der neuen Musik eher etwas
Gedrucktes, Schmerzhaftes, Halbwahres, das der alten freilich fremd war. Auch
ich meine das, fuhr Rarv fort, ich bin übrigens kein Anbeter des allzu Antiken;
im Gegenteil laß ich diese antedilnvinnischen, Untersuchungen wohl als historische
Liebhaberei gelten, halte sie aber für wenig einflußreich auf unsere Kunstbildung.
Ihr wißt aber auch, wie nachdrücklich ich Euch zum Studium der Alten ungehalten.
Denn wie der Malermeister seinen Schüler nach Herculanum schickt, nicht daß er
jeden einzelnen Torso zeichne, sondern daß er erstarke an der Haltung und Würde
deS Ganzen, es auf echtem Boden anschaue, genieße, nachbilde, so leitete auch ich
Euch in dein Sinne, nicht daß Ihr über jedes Einzelne jedes Einzelnen in ein ge¬
lehrtes Staunen geraten möchtet, sondern die nun erweiterten Kunstmittel auf ihre
Prinzipien zurückführen und deren besonnene Anwendung auffinden lernet.
Der Meister kam hierauf auf das zu sprechen, was die Gegenwart charakterisire,
auf die Parteien, als — Knif mit Friedrich eintrat aus Venedig zurückkehrend.
Über die allgemeine Freude sag ich nichts. —
47. Sitzung des Davidsbundes. — Schon längst war es mir aufgefallen,
daß in Fields Kompositionen so selten Triller vorkommen, oder nur schwere,
langsame. Es ist so. Field übte ihn tagtäglich mit großem Fleiß in einem
Londoner Jnstrumentenmngazin, als ein stämmiger Geselle sich über das Jnstrument
lehnt und stehend einen so schnellen, runden schlägt, daß jener das Magazin ver¬
läßt mit der Äußerung: Kann der es, brauch ich e.S nicht zu können. — Sollte
aber hierin nicht der tiefere Sinn zu erkennen sein, daß der Mensch sich eigentlich
nnr vor dem beugt, was mechanisch nicht nachzumachen ist? Und könnte das nicht
der Seelenfaden sein, der sich durch eine 47. kritische Sitzung des Davidsbundes
soge? Fi.
Witzliuge ließen sich verlaute«, daß man zur Einweihung des neue» Saales
lieber den Nuroiu l'noodr,; aus der „Heroischen Symphonie," als den griechisch-
schwebenden Jubelchor ans den „Rinnen von Athen" wählen sollen; ja mau konnte
noch stärkere Sachen hören. Meiner Meinung nach sollte man das Versehen nicht
der Direktion zur Last legen, die gewiß das Beste gewünscht und gewollt hat.
Endlich sollten nicht sechshundert Menschen denselben Küchenwitz wiederholen, sonder»
einen neuen machen. Freilich hat Novalis Recht (wollte man nicht das Naffinirte
im Gedanken rügen, da man am Ende gar uoch alle Künste ans einmal zu genießen
verlangte), wenn er sagt: Man sollte Musik nnr in schön dekorirten Sälen hören,
plastische Werke nur uuter Begleitung von Musik anschauen. E.
'>in und für sich wäre deme Verteidigiulg recht gilt, liebenswürdiger Eusebius!
Aber dem Philister die Nnbehaglichke.it im ungewohnten Lokal zu vertreibe», hätte.
man sich nicht so gar anspannender Mittel bedienen, nicht nach dem Jubelchor eine
Jubelouverture. nach dieser nrieder eine Triumphphantnsie von Pixis (ive-iigstens
war sie es für Clara Wieck) setzen, den Jubel einem hvchMlichen Publikum
ordentlich einbläuen sollen. Fi.
Im Inbelchor seid ja ans die psychologische Wahrheit drinnen recht aufmerksam!
Denn wie namentlich bei öffentlichen Festen eine durchwehende Empfänglichkeit, ein
Helles Abspiegeln der Lust im Auge des andern vorher sichtbar sein muß, und wie
den Sturmeskreisen des Jubels erst die Wellenlinien der Freude voranziehen, so
beginnt Beethoven erst mit unschuldigem Flöten und Holmen. Nun Paßt auf, wie
er bei aller Natürlichkeit der Empfindung immer höher geht, wie er von Takt zu
Takt die Massen wachsen läßt, und wie sie sich verschmelzen bis zum letzten, stärksten
Dreiklang. Während in der Jubelouverture ein einziger mehrere Wünsche ausspricht
(den der Preßfreiheit glaube ich in den hohen Violoncells stark zu sehen, schaltete
Florestan ein), vereinigen sich bei Beethoven alle zu einem und demselben. Ich
halte aber den Unterschied für bedeutend. E.
Allzu jahnisch und einseitig wäre es, alles Rossinische in Konzerten zu unter¬
drücken; doch sollte man in der Wahl vorsichtiger sein und einen deutschen Konzert-
eyklus mit einem deutschen Gesang anfangen. Rossini ist der vortrefflichste Deko¬
rationsmaler, aber nehmt ihm die künstliche Beleuchtung und die verführende
Theaterferne, und seht zu, was bleibt! Daß die Grabnu herrlich sang, versteht
sich ohne mich.
Überhaupt wenn ich so von Berücksichtigung des Publikums, vom Tröster und
Retter Rossini und seiner Schule reden höre, so zuckt mirs in allen Fingerspitzen.
Viel zu delikat geht man mit dem Publikum um, das sich ans seineu Geschmack
ordentlich zu steifen anfängt, während es in früherer Zeit bescheiden von ferne zu¬
horchte und glücklich war, etwas anfzuschnappen vom Künstler. lind sag ich das
ohne Grund? Und geht man nicht in den „Fidelio" der Schröder wegen (in
gewissem Sinne mit Recht), und in Oratorien aus Puren, blankem Mitleiden? Ja
erhält nicht der Stenograph Herz vierhundert Thaler für ein Heft erbärmlicher
Variationen, und Marschner für den ganzen „Hans Helling" achthundert? Noch
einmal — es zuckt mir in allen Fingerspitzen. Fi.
Man müßte es ein offenbares Geheimnis nennen, daß der bildsame, tiefsinnige
Deutsche, der, zum Teil in klassischer Zeit erwachsen und erzogen, so leicht und
gern das Echte vom Schein unterscheidet, seine vaterländischen Talente erst aus dem
Auslande kommentirt und besternt herholt, nimmt man nicht an, daß es auch hier
das Theater der Physischen Entfernung ist, welches blendend idealisirt und ihn ver¬
leitet, ausländische Glasperlen für Demanten zu halten. Freilich trägt am Elende
niemand Schuld als alle, Komponisten wie Virtuosen, Verleger wie Käufer, am
meisten aber die, welche den direktesten Einfluß ans die Geschmacksbildung des
Volkes äußern können — Theater und Lehrer. Und hier drängen sich so' viele
trübe Gedanken auf, wie ans der einen Seite der Staat eine Kunst, den höchsten
ebenbürtig, so wenig fördert, auf der andern, wie für die glücklichste Idee oft erst
die Feder gesucht werden muß, die sie aufschreibt, daß man recht gemahnt wird,
der in die Menge einreißenden Flachheit in möglichst vereinter Kraft entgegen¬
zuwirken. E
Hüte dich jedoch, Eusebius, den vom Kunstleben unzertrennlichen Dilettantismus
(im bessern Sinn) z» gering anzuschlagen Denn der Ausspruch „Kein Künstler.
kein Kenner" muß so lauge als Halbwahrheit hingestellt werden, als man nicht
eine Periode nachweist, in der die Kunst ohne jene Wechselwirkung geblüht
habe.'-) R.
Florestan treibt sich seit einiger Zeit in den elendesten Bier- und Weinkellern
Heruni, einen Meßviolinspieler zu hören, der ihn, wie er meint, ordentlich aufge¬
rüttelt und aufgewärmt; denn (fuhr er fort) Violinspieler höre man Wohl, aber
Bioline wenig. Was aber Keckheit der Bogenführung und gesund genialische Auf¬
fassung bis in die kleinsten französischen Airs herab anlange, so suche der Mann
seinesgleichen, der sich beiläufig Großmann nenne und vielmal besser spiele, als er
sich einbilde. Da ihm bei seinen Talenten Anerkennung höchster Kritik nicht fehle»
könne, so ließe schon der Umstand, daß er das herumziehende, poetische Trvnbadour-
leben dem vornehmen Kapellensiechtum vorziehe, das Beste hoffen. In (schloß
Florestan), göttlich denk ich es mir, Davidsbündler, wenn ich so in Wolffs Keller
spielte, und etwa Paganini hereinträte; die miserabelsten Rutscher würde ich im
Anfang auftischen — Paganini horchte kaum hin; das ärgerte mich, und ich brächte
Sachen aus „Don Juan" und langen, schweren Gesang >— dn finge er um zu
stutzen; aber mit dem unschuldigsten Geficht von der Welt, als ob ich den Manu
kaum kännte, würde ich weiter spielen und etwa in eine von ihm gesetzte Caprice
fallen — und da erfaßte mich der Gedanke der Nähe des Großen, und ich würde
anfangen zu weinen, zu lachen, zu brausen, zu beten , alles vergessend und fort¬
gerissen zum Entzücken! Und wenn er dann zu mir träte — und mir die Hand
gäbe!
Zur Erläuterung des Aufsatzes seit schon Jansen einige Beiträge gegeben,
natürlich nur für das Bruchstück, das ihm vorlag. Wir fügen hier noch einige
auch zu dem bisher unbekannten Teile hinzu.
Der „scharfe, schiefnasige Schwedenkopf" in den ersten Zeilen ist niemand
anders als das Haupt des „Davidsbuudes": Narv, Meister Wieck. Man braucht
nur das Bild anzusehen, das früher schon dem Büchlein von A. v. Meichsner:
Friedrich Wieck und seine Töchter (Leipzig, 1875) und neuerdings wieder
dem Buche von Kohut über Friedrich Wieck (Leipzig, 1889) als'Titelbild
beigegeben ist: da haben wir das scharfgeschnittne Gesicht des Alten mit
der auffällig schiefen Nase. Die Anzahl der Büudler scheint nach dem
Druck im „Kometen" nur fünf zu sein, denn Bg. Se. Hf. Knif erscheint dort
nur als eine Person. Offenbar ist aber die Interpunktion falsch, es muß
hinter jedem der abgekürzten Namen ein Komma stehen, denn von Vg. sowohl
wie von Hf. ist je ein besonders unterzeichnetes Blättchen da. Auf wem die
Abkürzungen zu deuten sind, läßt sich freilich nicht mehr sagen. Unter Friedrich
soll, wie Jansen mitteilt, der Maler und Dichter Lyser verborgen sein, unter
Knif, dem „Bnlkentreter an Se. Georg", d. h. der Waisenhauskirche zu Se.
Georg, der Klavierlehrer Julius Knorr. Auffällig ist es, daß die Buchstaben
des Namens Knif in umgekehrter Reihenfolge den Ruinen Fink ergeben; es
handelt sich wohl um einen neckenden Spitznamen, den einer der Büudler
führte. Der „schwarzgelockte, schöne Bube" soll, wie mir A. Dörffel mitteilt,
Wenzel gewesen sein.
Die Klavierspieler und Klavierspielerinnen, die Schumann außer Clara
Wieck erwähut und mit ihr vergleicht, ebenso die Sängerinnen, die er nennt,
hatten sich sämtlich in den letzten Monaten vor Abfassung des Aufsatzes im
Leipziger Gewaudhcmse hören lassen; der ganze Aufsatz ist, wie schon die Über¬
schrift andeutet, voll von Reflexen ans dem Leipziger Musikleben der unmittelbar
vorhergegangen Zeit. Die beideu Konzerte, deren „Zeitnähe" Schumann
hervorhebt, waren das vou Clara Wieck (29. April 1833) und das von Kalk¬
brenner (11. Mai 1833). Das erstgenannte war fast in jeder Beziehung ein
Ereignis im Leipziger Musikleben. Es wurde durch Mendelssohns Ouvertüre
zum „Soimuernnchtstranm" eröffnet, die damit ihre zweite Aufführung erlebte
(die erste hatte wenige Wochen zuvor stattgefunden), dann spielte Clara Wieck
das damals neue ^-moll-Konzert von Kalkbrenner, das der Komponist dann
auch in seinem eignen Konzert brachte, dann „auf Verlangen" die Chopinschen
Variationen, endlich das neueste Werk vou Pixis: !-L8 rrois (AovQöttW, ein
Konzertrondo mit drei obligaten Glöckchen, das wenige Monate später
(8. Oktober 1833) ebenfalls vom Komponisten selbst gespielt wurde in einem
Konzert, worin seine Tochter Franzilla sang und auch Clara Wieck wieder
mitwirkte; zwischen den Chopinschen Variationen und den „Drei Glöckchen"
aber stand die erste Aufführung des ersten Shmphoniesatzes in 6-moll von
Robert Schumann — eines Werkes, das nie gedruckt worden und heute leider
verschollen ist. Fräulein Belleville aus München hatte im Oktober 1830
und im Januar 1831 gespielt. Fräulein Henriette Grabau, später Frau
Bünau, gehörte schon seit 182» zu den Lieblinge» des Gewaudhauspublikinns.
Fräulein Gerhard, später Frau Frege, trat ihr seit dein Sommer 1832 an
die Seite; sie saug zum erstenmale in einer „Musikalischen Akademie" von
Clara Wieck (v. Juli 1832). Nur bei Madame Szymanofska, der „ersten
Pianofortistiu Ihrer Majestäten der Kaiserinnen von Rußland" war Schummm
auf die Erinnerungen und das Urteil älterer Freunde angewiesen, sie war
1823 in Leipzig gewesen; daher schreibt er wohl auch: „nach dem Urteil der
Kunstkenner."*)
Der Hieb gegen das „anonyme Schaf," das die unglückselige Rezension
über Chopins Variationen verbrochen hatte, war nicht der einzige, den Schu¬
mann führte; die Zusaminenkoppelung dieser Rezension mit seiner eignen muß
ihn schwer gewurmt haben. Schon in der Kometennummer vom 18. Dezember
1833 findet sich die boshafte „Aufforderung": „Der Verfasser der zweiten geist¬
reichen Rezension (die erste ist von unserm genialen Schumann) über Chopin,
I,u> ol äM<zrn 1s nrg.no in der Leipziger musikalischen Zeitung mag sich in der
Expedition dieser Zeitschrift melden. Die ehrenvollste Anerkennung seiner
Weisheit und andere interessante Mitteilungen erwarten ihn daselbst." Es
unterliegt Wohl keinem Zweifel, daß Fink selber die Rezension geschrieben hatte;
sicherlich hielten ihn wenigstens Schumann und andre für deu Verfasser, und
er war es wohl auch. Der „Komet" macht sich auch sonst öfter über den
Unsinn lustig, der in der Finkschen Zeitschrift aufgetischt wurde; namentlich
giebt ein sehr hagcbüchener Artikel in der Nummer vom 1. November 1833
deutlich zu verstehen, daß man Fink so ziemlich für alles verantwortlich machte,
was damals in seiner Zeitschrift stand; er schrieb sie sicherlich zum großen
Teil selbst, unterzeichnete aber, um dies zu verhüllen, immer nur einen Teil
seiner Sachen. „Herr Fink — heißt es in dem erwähnten Aufsatz — scheint
seine Firma »Mitgeteilt von G. W. Fink«, »Angezeigt von G. W. Fink« u. s. w.
mit großer Wohlgefälligkeit anzubringen. Uns indessen steht sie leider! noch
nicht oft genug unter den Kritiken, Rezensionen, Berichten, Anzeigen u. s. w.,
sonst wären wir radikal außer Zweifel, wer der Verfasser der zahlreichen
interessanten, gründlichen, tiefsinnigen, Kunst- und Geistesreichtum verratenden,
witzsprudelnde», ausgezeichneten, vortrefflichen, frischen, lebendigen, seelenvollen,
innigen, zierlichen, vielseitigen, vielfältigen, ungekünstelten, kunstschönen, ein¬
fachen, großartigen n. s. w. Aufsätze der genannten Gattungen ist."
Von den beiden freundlichen Kritikern des Schumannschen Shmphonie-
satzes war der eine, Stegmaher, Kapellmeister am Leipziger Theater, der andre,
Hofmeister, der bekannte Musikalienhändler. Der schwärmerische Franzillakritiker,
dessen künstlerische Gesinnung Schumann übrigens bereitwillig anerkennt, war
ein gewisser Gustav Bergen (Pseudonym?), der im „Kometen" im Winter 1833
ans 1834 regelmäßig die Gewandhnuskonzerte besprach, anch den erwähnten
bösen Aufsatz gegen Fink geschrieben hatte. Seine übertriebene Verherrlichung
der sechzehnjähriger Frnnzilla Pixis steht in der Kometennummer vom 18. Ok¬
tober 1833.
Eingeleitet wurde der Konzertwintcr von 1833 auf 1834 durch eine Er¬
neuerung des Gewandhauskonzertsaales, bei der man die vielgepriesenen Öser-
schen Deckengemälde von 1781, die freilich nicht länger zu erhalten gewesen
waren, zugepinselt und die Wände mit einem Anstrich versehen hatte, der im
Eröffnnngskouzert (29. September) das größte Befremden erregte. Bergen
schreibt im „Kometen" (11. Oktober) in seinem ersten Konzertbericht: „Wenn
früher der Saal durch geschmackvolle Einfachheit imponirte, so waren wir nicht
wenig erstaunt, hier in Leipzig, dem Sitze des feingebildeten Geschmacks, diesen
herrlichen Saal auf eine Weise dekorirt zu sehen, welche unmöglich den Beifall
des Publikums erhalten kann und wird, Wenn lün Reicher seinen Marstall
oder seine Küche auf diese Weise dekorirte, so würden wir sagen: Der Mann
hat Geschmack." Und in derselben Nummer steht folgende „Anfrage": „Behufs
einer neu einzurichtenden Küche bittet nur um den Namen des Maurers, der
deu großen Leipziger Konzertsaal angestrichen hat".") Hieraus bezieht sich
Schumanns Bemerkung über den Küchenwitz.
ente ist großer Festtilg im Dorfe: der Tag des Einzugs für den
neuen Pfarrer ist da. Der Vorgänger ist vor mehreren Monaten
versetzt, die Stelle inzwischen von einem Nachbargeistlichell verwaltet
worden. Die Gemeinde, der das Wiederbesetzungsrecht zusteht, hat
einstimmig — wie der neugewählte nicht ohne Stolz seiner Braut
erzählt — den Nachfolger erkoren. Sie wünscht sein baldiges Kommen.
Daher wird die Hochzeit des jungen pfarrherrlichen Paares beschleunigt, und schou
uach wenigen Tagen sa'hre es der neuen Heimat entgegen.
Die Sonne macht ihr freundlichstes Gesicht. Was Wunder, daß heute nicht
nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft im rosigsten Lichte erscheint! An
Pfarrhause, begrüßt der Kirchenvorstand mit einigen herzlichen Worten die Ankömm¬
linge. Unter Leitung des Lehrers zieht die Schuljugend ans und singt ein geist¬
liches Lied. Der Lehrer hält eine kurze Ansprache, die mit warmen Worten er¬
wiedert wird. Abends „läßt es sich das(!) Ortsverein nicht nehmen," auch seinerseits
dnrch ein musikalisches Stündchen seiner Freude über die Neubesetzung der Pfarrei
einen hörbaren Allsdruck zu geben. Dem Pfarrer ist von „wohlmeinender Seite"
zu verstehen gegeben worden, daß man für diese Aufmerksamkeit „Freibier"
erwarte. Dies wird denn auch im Vereinslokale gespendet. Der Pfarrer geht
selbst auf ein Ständchen hin und findet eine sehr zuvorkommende Aufnahme. Ganz
glücklich kehrt er heim, er dünkt sich fast wie im Traume. Hier, das fühlt er schon
jetzt, ist ihm das Los aufs lieblichste gefallen. Er kann die zurückhaltender Äuße¬
rungen seines Amtsvorgängers, die fast wie versteckte Seufzer und Warnungen
lauteten, nicht verstehen. Er sühlt eine Armee — wenn auch uicht in der Faust,
so doch im Herzen. siegesgewiß Null er die sicherlich nur kleine Schar von Wider¬
sachern und Hindernissen seines Wirkens bald beseitigen. Hat er sich doch vorher
während eines kurzen Vikarmts gut mit der frühern Gemeinde verstanden, hat guten
Kirchenbesuch gehabt, freundlichen Verkehr und zuweilen auch ein reelles Zeugnis
für seine Beliebtheit obendrein. Dn sieht ers natürlich schou jetzt klar vor Augen,
daß der ältere Vorgänger doch jedenfalls ein Grillenfänger gewesen und deu Leuten
nicht in der rechten Weise entgegengekommen ist.
Aber schon der nächste Morgen bringt ihm eine kleine Abkühlung, als die
stattliche Zahl von Lidern bekannt wird, die die fröhliche Gesellschaft des letzten
Abends „auf sein Wohl" bezwungen hat. Schweigend zahlt er dem freundlichen
Gastwirte die harten Thaler auf den Tisch. Doch was schadet das schließlich?
Er tröstet sich: „Die Stelle gehört ja zu den bessern im Lande." Und zu Anfange
darf man sich jn nicht lumpen lassen! Trotz alledem bleibt eine unangenehme Er¬
innerung zurück, die von Enttäuschung und Beschämung nicht frei ist.
Doch bringen die nächsten Tage bis zum Sonntage der Einführung »eben der
mancherlei Unruhe im Hause, die das unvermeidliche Zurüsten, Kuchenbäcker, u. s. w.
im Gefolge hat, nnr Gutes. Schmunzelnd erscheint der Metzger mit seiner schwere»
Last Fleisch; schmunzelnd streicht er sein Geld ein und weiß durch seine Dankes¬
worte durchblicken zu lassen, wie die frühere Pfarrersfamilie ihm doch gar zu wenig
zu verdienen gegeben habe. Auch an Lobsprüchen für den Gatten der geschäftigen
jungen Frau Pfarrerin festes dabei nicht. Der junge Pfarrer sei — das hätten
alle Leute sogleich gemerkt — denn doch ein ganz andrer Mann als der alte Herr
von ehedem n. dergl. in. Ähnliches wissen auch die Nachbarinnen zu rühmen, die
im übrigen recht fleißig im Pfarrhause vorsprechen, anch unaufgefordert ihre guten
Ratschläge geben, die Einrichtung der Wohnung und die festlichen Speisen besichtigen
und prüfen. Außerordentlich teilnehmend erkundigen sie sich uoch überdies bei der
offenherzigen jungen Frau »ach allerlei, selbst nach Dingen, die, nach deren Meinung,
sie eigentlich nichts angehen. Dabei berichten sie allerlei Neuigkeiten aus dem Dorfe,
warnen vor diesem und vor jener.
So kommt denn der Sonntag der Einführung. Es erscheint der Dekan, eine
ehrwürdige Greisengestalt, mit seineu zwei Assistenten, zugleich mit ihnen die Kirchen¬
vorstände aus dem Dorfe und den eingepfarrten Ortschaften und die lauge Schar
der Vertreter der Kirchengemeinde. Ein näheres Bekanntwerden mit den geistlichen
Kollegen außer durch die allgemeinsten Höflichkeitsbezeugungen ist vor der Hand
unmöglich. Jn feierlichem Zuge gehts zur Kirche. Die erste Predigt im neuen
Amte wird von dem jungen Seelsorger mit Zagen, aber mit freudigem Bertrauen
ans Gottes Hilfe gehalten, die drei ältern Kollegen reden noch ihm ans langjähriger
Erfahrung heraus zu seinem Herzen. Fast will es scheinen, als ob anch dnrch ihre
wohlgemeinten Worte ein ernsterer Ton der Warnung vor zu großen Erwartungen
klinge. Nach dem Gottesdienste ist allgemeiner Schmaus im Pfarrhause. So will
es die alte Unsitte, statt daß die Gemeinde ihrem, neuen Hirten das Mahl zurichtete,
wie es schöner Brauch anderwärts ist, z. V. im Rheinlande. Heikle fehlt keins
der Mitglieder der zwei Gemeindeorgane von hier und von auswärts, auch sonst
sind »och einige Ortsgenossen geladen, die sich dem jungen Paare beim Einzuge
gefällig erwiesen haben. Auch jetzt ist abermals ein Bekanntwerden mit den drei
Kollegen unmöglich.^ Die bäuerlichen Gäste weichen und wanken nicht, ihre Augen
und Ohren stehen weit offen. Endlich ist auch der Schmaus überstanden. Aber¬
mals — diesmal schon mit etwas weniger Gleichmut — muß eine lange Rechnung
bezahlt werden. Doch auch hier hilft der Humor über die trübere Stimmung
hinweg: „Die Stelle gehört ja zu den bessern im Lande!" Auch giebts wieder
allerlei im Hause und Amte zu ordnen und zu erledigen, sodaß der unwillkürliche
Gedanke, es sei deu Leute« auch wohl mehr ums Essen und Trinken als um den
neue« Pfarrer zu thun gewesen, zurücktritt.
Während der nächsten Tage bildet aber dieses Mahl den Hauptgesprächsstoff
für das ganze Dorf einschließlich der Nachbarschaft. Dem einen ists zu fein her¬
gegangen, der andre ist nicht oft genug genötigt worden, der dritte hat sich die
Zahl der Gläser Wein gemerkt, die die vier Pfarrer getrunken haben. Doch schließlich
heißes auch hier: „Sie torrens ja, denn die Stelle ist gut."
So vergehen wieder Wachen und Monate. Immer bescheidener wird der
Inhalt des vielgeprüften Geldbeutels. Wo bleiben nur die Einnahmen der so gut
dotirter Pfarrei? Endlich, endlich rührt sichs. Es wird ein Geburtsschein bestellt
und prompt bezahlt: eine Mark fünfzehn Pfennige!
Inzwischen ists zum Befremden der jungen Hausfrau den Küchenvorräten
ähnlich ergangen wie dem Kassenbeflande des Herrn Gemahls. Mit unglaublicher
Schnelligkeit schwinden Kaffee, Zucker, Reis u. f. w., die sämtlich in stattlichen Büchsen
im offenen Schranke aufbewahrt werden, dahin, als ob sie sich selbst gegenseitig
aussrttßen. Sollten etwa unberufene Hände an diesen Schätzen teilnehmen? Un¬
willkürlich wird das Gebaren des dienenden Geistes, einer „warm empfohlenen"
Frau ans dem Dorfe, die mit zahlreichen Kindern gesegnet ist, mit Teilnahme be¬
obachtet. Der Erfolg ist, das; der Schlüssel des Schrankes von nun an sich stets
in der Tasche der Hausfrau befindet. Schon in den nächsten Tagen verbreitet sich
im Dorfe das Gerücht, die neue Frau Pfarrerin sei gar zu „spitz." Brühwarm
wird ihr diese interessante Neuigkeit von einer Nachbarin mit der erforderlichen
sittlichen Entrüstung über die böse Welt zugetragen. Doch bleibt die Quelle in
Dunkel gehüllt.
Endlich reißt dem Pfarrer der Faden der Geduld. Halb verlege», fast als
ob er ein Unrecht begehe, befragt er den Kirchenrechner, der in dienstlicher Ange¬
legenheit bei ihm vorspricht, ob wohl Geld in der Kirchenkasse sei. Die Antwort
ist wenig tröstlich. Jetzt, in: Sommer, sei gerade Ebbe, aber einige Wochen nach
der Heuernte werde es wohl wieder besser gehen. Dann könne ja wohl der alte
Herr (der Amtsvorgänger) einen Teil seines Guthabens bekommen; mich wolle der
Nachbarpfarrer für seine längere Vertretung während der Vakanz berücksichtigt sein,
und den Rest des Stelleneinkommens ans der Vakanzzeit habe der Zentralkircheu-
sonds zu fordern. Das werde sich schon mit der Zeit machen, der alte Herr habe
ja die Leute auch nie ums Bezahlen von Güterpacht und Kirchensteuer ge¬
drängt.
So ist denn ein ziemlich trostloser Blick in die Zukunft eröffnet. still¬
schweigend nimmt der junge Inhaber der guten Stelle diesen nicht undentlichen
Bescheid hin und entläßt den Rechner mit denk Bedeuten, daß er doch nach Kräften
die alten Aufstände beitreiben möge. Jetzt verbreitet sich ebenso geheimnisvoll im
Dorfe und in der Umgegend das Gerücht, der neue Pfarrer sei „hungrig." Dieser
selbst aber leiht sich auf den Rat eines erfahrenen ältern Kollegen in der Stille
eme stattliche Summe gegen die landesüblichen Zinsen, tun wenigstens der drückendsten
Verlegenheiten enthoben zu sein. Innerhalb der nächsten Jahre hofft er, falls nicht
anderweitige Hindernisse dazwischen kommen, sie bei möglichster Einschränkung all¬
mählich wieder abtragen zu köunen.
Aber der Schleifstein des Lebens mit seinen mancherlei unliebsamen Erfahrungen
dreht sich rüstig weiter. ^
Die bisher gut besuchte Kirche zeigt jetzt allsonntäglich mehr und mehr leere
Plätze. Den Leuten ist eben die Annehmlichkeit, wieder eiuen eignen Pfarrer in
ihrer Mitte zu haben, nichts Neues mehr. Eine herzliche Bitte von der Kanzel
um bessern Kirchenbesuch wird abends von den durstigen Musikfreunden des Eiuzugs-
tages bewitzelt. Auch der freundliche Wirt lacht mit. Bezieht doch der Pfarrer
seit kurzem sein Bier nicht mehr vou ihm, sondern von seinem Konkurrenten, weil
dieser bessern Stoss und mäßigere Preise hat!
Der Lehrer, tüchtig in seinem Beruf und ernst in der Zucht, hat einen der
bösesten Schulbuben nachdrücklich gezüchtigt. Glühend rot vor Aufregung betritt
die in ihren heiligsten Gefühlen getränkte Mutter des Schlingels das Pfarrhaus
und schreit in den gellendsten Tönen um Gerechtigkeit. Wie eine Furie fordert sie
ihr Recht: Bestrafung, am liebsten sofortige Amtsentsetzung des Schultyrauueu.
Vergebens redet der junge Geistliche in seiner leidigen Eigenschaft als Schul-
vorstandsdirigent des Orts zum Frieden. Seine sanften Worte verhallen ungehört;
seine nachdrückliche Versicherung endlich, daß der Lehrer nur im Rechte sei, er¬
leichtert zwar der Megäre den Abschied, doch nun schreit sie statt des Lehrers
den Namen des Pfarrers in allen Gassen ans.
Ein betrunkner Landstreicher, der als armer Reisender um eine» Zehrpfennig
(Schnapsgeld!) vorspricht, wird abgewiesen. Auch er stimmt in den Lobgesang ein.
Jetzt gilt der Pfarrer für parteiisch und hartherzig. Da war der alte Herr doch
ein ganz andrer Mann! Der hatte ein Herz für alleinstehende arme Witwen und
ließ keinen Notleidenden »„beschenkt vou seiner Thüre gehen!
Auch den anfänglichen guten Freunden ist trotz all ihrer Teilnahme am Er¬
gehen des jungen Paares doch nicht recht zu trauen. Der eine, der sich gelegentlich
zur Zeit des Abendessens im Pfarrhause einzufinden pflegte, hat vou allerlei Herrlich¬
keiten erzählt, die jederzeit dort auf dem Tische stünden. Seine Phantasie ist un¬
ermüdlich, vor den stciuueudeu Zuhörern die Ehre seiner zeitweiligen Bewirtung
durch den Herrn Pfarrer ins rechte Licht zu stellen. Jetzt ists sonnenklar, wo das
viele Geld bleibt. Da braucht man sich freilich nicht mehr zu wundern, daß der
Rechner nie genug Geld herbeischaffen kaun. Dn war der alte Herr doch ganz
anders, viel einfacher. Deshalb habe bei ihm auch immer das Geld gereicht. In
Wirklichkeit hat jedoch der alle Herr infolge seiner mehr als gutmütigen Nachsicht
zuweilen bei aller Einschränkung geradezu Not gelitten. Und vom Rechner hat der
junge Herr bis jetzt uoch keinen Pfennig erhalte».
Ein andrer erstattet gleichfalls mit allerlei Beiwerk der absichtslos dichtenden
Phantasie einem jederzeit dankbaren Publikum den Tagesbericht über alles, was
im Pfarrhause — uoch dazu in seiner Gegenwart und mit ihm selbst — gesprochen
und besprochen werde. Bescheiduerweise unterläßt ers jedoch, beizufügen, wie übel
er dort abgelaufen ist, als er allerlei Dvrftlatsch behufs bessern Aufhorchens der
Gesinnungen des pfnrrherrlicheu Ehepaars anbringen wollte.
Ein dritter hat nicht vergebens ans die Gutmütigkeit des Pfarrers gerechnet.
Er hat in den ersten Wochen bereits den Versuch eiuer Nuleihe gemacht und seineu
Wunsch über Erwarten anstandslos erfüllt gesehen. Jetzt sind bereits Monate über
den von ihm selbst feierlich versprochnen Termin der Rückgabe hinaus verstrichen.
Auffälligerweise hat er nach Empfang des Geldes das Pfarrhaus gänzlich gemieden —
jedenfalls aus überzarteu Rücksichten auf sein Verhältnis als Schuldner. Zufällig
erfährt jedoch inzwischen der welluuerfnhrue Gläubiger, daß der Schuldner im Rufe
eines schlechten Zählers und übel» Hanshalters stehe. Ein paar höfliche Zeilen der
Erinnerung an sein Versprechen sind daher doch wohl am Platze. Der ganze Er¬
folg aber ist eine mehr als grobe Antwort, der Schwergekränkte umgürtet sich mit
dem ganzen Stolze eines Ehrenmannes, der noch niemand um sein Eigentum ge¬
bracht habe. Der Pfarrer legt den Brief schweigend ->.ä Sven. Er ist, wenn auch
die Schuld eine ewige bleibt, wieder um eine Erfahrung reicher geworden.
Endlich, nach etwa dreiviertel Jahren, bringt der Rechner das erste, nunmehr
wirklich dem. jungen Stelleninhaber gehörige Geld. Er ist sich der Trag¬
weite dieses denkwürdigen Ereignisses bewußt. Wie sauer ists doch, Rechner zu sein,
Wie schwer, Geld zu bekommen! Dazu gehört ein Mann von besondern Gaben!
Schließlich zieht er mit Stolz den Beutel und zählt in Silber, Nickel und.Ampfer
ganze dreißig Mark auf den Tisch. Dazu giebt er die beruhigende Versicherung,
daß nunmehr dank seinem regen Eiser schon der größte Teil der Rückstände für
den alten Herrn und den Nachbar eingetrieben sei, der Rest werde wohl bis Ostern
getilgt sein; nachher könne auch der Zeutralkirchenfonds befriedigt werden. Also
eine entzückende Aussicht fiir neues Warten in Geduld! Schließlich ist die Osterzeit
da, wieder fließen einige spärliche Tropfen in die Kasse des jungen Pfarrers, bis
zum fröhlichen Pfingstfeste sind mit Ach und Weh die vorgehenden Gläubiger be¬
friedigt. Jetzt gehört das ganze Einkommen der guten Stelle dein jungen Herrn —
sobald es nämlich einzugehen beliebt. Wieder heißes warten wie im vorigen Jahre
nach langerprobtem Branche, bis die Heuernte vorüber ist. Von da ub wird unser
Pärchen endlich seines Lebens etwas froher durch die Gewißheit, nicht nur die
Pflichten, sondern auch wirklich den Nutzen der ehedem vielgepriesenen guten Stelle
zu haben.
Und das Ergebnis dieses ersten Amtsjahres? Viele Enttäuschungen, viel
Ärger, viel Undank. Daneben nnr der Trost, stets das Gute nach dem Maße des
Könnens und Wissens gewollt zu haben.
Wie schief ist so manches Urteil über das Leben und Verhalten solch eines
Dorfpfarrers! Die meisten von ihnen tragen schwerere Lasten, als der oberflächliche
Augenschein vermuten läßt. Einsam, unverstanden von den derben Bauer», ange¬
feindet von vielen, ungerecht getadelt, verkannt und gescholten, wo er Gutes wirkte
oder wenigstens erstrebte — das ist wohl so ziemlich das allgemeine Los des Land-
geistlichen.
Und dennoch ein gesegnetes Amt, wenn auch vor der großen Menge Augen
verborgen!
ehelich von Balderöd, in geringer Entfernung von dem Städtchen,
liegt ein eigentümlicher, großer See, der neben seinem gewöhn¬
lichen bürgerlichen Namen Baldervdcr See auch hin und wieder
von poetischen Gemütern mit geheimnisvollem Ausdruck der
„Nixensee" oder das „Nymphenbad" genannt wird. Daß man
ihn trotz seiner ziemlich beträchtlichen Ausdehnung nicht sehen kann, ehe man
ganz nahe hinangekvmmen ist, hat seinen Grund darin, daß er sehr tief inmitten
hoher Hügel und großer Wälder liegt, die ihn von allen Seiten umschließen.
Die Bäume drängen sich wie eifersüchtige Liebhaber dicht neben einander und
entziehen das Gewässer sorgfältig den Blicken des Nahenden; und manchen
fremden Wanderer, der nichts von ihm ahnte, durchzuckte es wie ein elektrischer
Schlag, wenn er bei einer plötzlichen Biegung des Waldpfades vom Gipfel des
Königshügels herab auf einmal die weitgestrecktc, sonnenbeschienene Fläche sah,
die sich dort unten zwischen den dunkeln, leise säuselnden Waldmassen aus¬
breitete und wie mit großem, geheimnisvoll blinkendem Auge zu ihm herauf¬
sah. Geborgen vor allen Winden, sanft lächelnd, seiner Schönheit sich wohl-
bewußt, ruht er dort unten in ungestörtem Frieden. Der Wald breitet seine
langen, durstigen Zweige zu ihm herab und senkt seine grünlichen Schatten in
seine Tiefe. Und wie ein mächtiges, schwellendes Blättermeer, Woge aus
Woge von gewölbten Buchenkronen, umgürtet von Birken und dunkel», sausenden
Tannen, erheben sich die Hügel hoch und ernst von seinen Ufern und schließen
allen Erdenlürm aus.
Es hat etwas Sinnbedrückendes, in später Nachmittagsstunde an diesem
See zu stehen, wenn die Schatten länger werden. Kein Laut als das ewige
Rauschen dieses Lanbmeeres dringt ans Ohr. Der einsame Vogel, der mit
seinem Gesang über dem Wasser schwebt, verstummt, als ob ihn der Klang
seiner eignen kleinen Stimme erschreckte inmitten dieses tiefen Schweigens. Es
wird einem zuletzt ganz wunderlich zu Mute in diesem ungeheuern Grabe, wo
nur die segelnden Wolken über unserm Haupte uns mit der lebenden Welt
verbinden, die da draußen liegt. Der dumpfige Geruch von faulendem Holz
legt sich auf unsre Brust, das Herz beginnt zu klopfen, und gleich einem
gefangenen Adler schweift der Blick suchend bald hierhin, bald dahin, über
die unendlichen Waldwvgen, die zu dem blauen Himmel empvrschwellen und
alle Auswege versperren.
Nur an einer Stelle, im Osten, dort, no die Hügel am niedrigsten,
wo die Wälder am wenigsten dicht sind, wird die Einförmigkeit der Landschaft
von einer mächtigen, wilden Kluft unterbrochen, die wie mit verzweifelter Kraft den
Ring sprengt, um sich Luft zu schaffen. Ihre steilen, weißen Wände schimmern
durch das Grün hindurch, das den See von allen Seiten umgiebt. Nähert
man sich ihr aber, so weitet sie sich aus, und man sieht zwischen den jähen,
zerrissenen Felsabhängen hindurch das große, flache, helle Kiistenland meilen¬
weit draußen liegen.
Prachtvolles, saftig grünes Ackerland drangt sich in die Kluft herein bis
hart an den See, der seinerseits einen breiten, wasserreichen Bach quer durch
das Land entsendet. Von der getheerten Pfahlbrücke aus, die ein wenig weiter¬
hin die schilfbewachsenen Ufer des Baches miteinander verbindet, kann man seinen
gewundenen Lauf verfolgen, der an roten Dörfern mit weißgetünchten Kirchen
vorüberführt, durch üppige Felder mit Scharen schwarzgescheckten Viehes und
große, sumpfige Moorwiesen, wo Mädchen mit hellen Kopftüchern Hen machen,
bald verbirgt er sich dein Auge in einem kleinen, dunkelgrünen Hnin, bald
breitet er sich wie zum Ausruhen in kleine flache Seen aus, in denen sich die
Sonne wie in Fensterscheiben spiegelt. Weiterhin, dort, wo die Wiesen dunkler
werden, fangen die großen braunen Moore um. Aber hinter diesen kommen
dann wieder üppige Felder mit winzig kleinen, rot angestrichenen Dörfern
und winzig kleinen, weißen Kirchen, bis schließlich alles mit dem fernen Blau
des Horizonts verschwimmt und ein sonnenbeschienenes Segel oder eine Rauch¬
säule das Meer verrät.
Hinter diesem aber geht die Sonne auf. Ihre ersten, wagerechten Strahlen,
die sich wie ein Fächer über das flache Land entfalten und in tausend Fenster¬
scheiben rötliche Glut entfachen, bahnen sich auch einen Weg bis herein in die
Kluft, um das schlummernde Leben am Strande des Sees zu erwecken, um
mit dem frischen Morgenwinde die schlaftrunkner Wälder aufzurütteln und die
Bogelstimmen aus ihren Nestern zu locke». Die feinen Seidennebel der Nacht,
die, weißen Gespenstern gleich, ihr Spiel über der Fläche des Sees getrieben
haben, rollen sich vor dein brennenden Blick auf und flüchten ängstlich unter
die schattigsten Felsabhänge, wo sie langsam aussteigend verschwinden.
Noch frieren im nassen Grase die Waldblumen, die im Schatten ans deu
Lichtungen zwischen den Büschen um Ufer entlang stehen, aber beim ersten
Sonnenstrahl, der über den Abhang blickt, recken und strecken sie ihre zarten
Stengel und öffnen die fast zu schweren Kelche der goldnen Flut, die über das
Gras hinweg sie überströmt. Über ihren Häuptern beginnt die Spinne im
thaubesprengten Gewebe ihr emsiges Tagewerk. Aus Löchern und Spalten
schlüpft das Gewürm munter und inorgenfrisch hervor; es ist ein Eilen und
Treiben, als wüßten sie alle, daß der Tag an diesem Orte nur kurz ist und
die Nacht schnell wiederkehrt. Denn schon am Nachmittage nähert sich die
Sonne mit Riesenschritten den westlichen Hügeln, dort wo sich diese am höchsten
zum blauen Himmel emporheben. Und kaum ist ihre Scheibe hinter dem dunkeln,
zackigen, tannenbesäumten Rande des Königshügels versunken, so schleichen
auch schon die Schatten ans dem Dickicht hervor und eilen abwärts dem Wasser
zu. Am Ufer scheinen sie plötzlich stille zu stehen, als zögerten sie; aber ehe
man sichs versieht, haben sie über den Grund hinweg den östlichen Rand des
Sees erreicht und klettern da eilig hinauf zu den Baumwipfeln. Und während
sie so steigen und den Höhen das Licht raube», senkt sich tiefe Stille über das
Thal. Noch ehe die letzten sonuenvergvldeten Waldkuppen entschwunden sind,
dämmert es unten schon in allen Winkeln, n»d uuter den zum Wasser herab¬
hängenden Zweigen des Waldkranzes gleitet das Dunkel schnell weiter, während
das große, tagesgeblendcte Auge des Sees sich langsam in einem unergründ¬
lichen Blick erschließt. Da beginnen die Sperber ihren nächtlichen Flug auf
weichen Schwingen. Lautlos wie ein Schatten entschlüpft die Ente dem
dunkelsten Dickicht. Die Wälder hüllen sich in einen bläulichen, gespenstischen
Dunst, und in deu Weißen Nebeln deS Sees beginnen die Fledermäuse ihren
Hexentanz, dahiutaumelnd, indem sie den steifen Schwanz wie einen kleinen
Besenstiel nnter den ausgebreiteten Flügeln vorstrecken. In wildem Fluge
streifen sie über die Wasserfläche dahin und tummeln sich zwischen den wilden
Felsschluchten oder umkreisen much das Haupt des einsamen, unglücklichen
Wandrers, der sich im Dunkel der Nacht auf deu Waldpfaden verirrt hat
und jetzt klopfenden Herzens zwischen den Baumstämmen umhertastet, angstvoll
des Augenblickes harrend, wo die Sichel des Mondes über dem Waldeskamm
hervorlngen wird.
Denn zu dieser Stunde beginnt — so sagt mau — ein wunderbares
Gaukelspiel. Dn erklingt aus der tiefsten Tiefe des Waldes ein kläglicher Ruf:
Zu Hilfe! Zu Hilfe! Hastige Schritte und der Schall kränkender Zweige klingen
vom Füsze des tannenbckleideten Hügels herauf, dort, wo der See seinen ver¬
borgensten Winkel bildet. Ein Boot wird hinausgeschoben, mau vernimmt
deutlich seinen schurrenden Laut und das Plätschern der Nuder im Wasser,
und dann verschwindet alles.
Zu andern Zeiten erklingen in der Ferne Hundegekläff und Jägerhorn.
Und draußen vom See her vernimmt man schwache, klagende Mädchenstimmen,
die von den Wellen ans Ufer getragen werden, Stimmen — so erzählt man
sich —, die aus alten, längst entschwundnen Jahrhunderten herüberklingen, wo
Wegelagerer und Geächtete in diesen Wäldern hausten und' ihre Höhlen unter
den Eichen bauten, wo stolze Herren mit schimmernden Federbüschen und stolze
Damen ans milchweißen Zeltern in prunkenden Auszügen das wilde Getier
zwischen diesen Stämmen jagten, wo sich die schönen Töchter aus den roten
Dörfern in dunkeln Nächten zwischen den Klüften hindurch bis an dies Ge¬
wässer schlichen, um in seiner kühlen Tiefe für immer die Liebkosungen der
adlichen Herren abzuwaschen.
Wenn aber zur Johanniszeit der Vollmond über dem See steht und sein
Silber über den Wald ausgießt, dann lacht es seltsam drinnen unter den
Bäumen. Nach dem Wasser zu wird ein Zweig zur Seite gebogen, ein Kopf
guckt hervor, und in das Mondlicht hinaus schreitet mit vorsichtigem Schritt
ein junges, schönes Weib, völlig nackt (wenigstens behauptet das der Prediger),
ein Johanniswürmchen im dunkeln Haar. Ängstlich beugt sie sich vor, blickt
spähend umher, wendet sich dann plötzlich um und legt den Finger auf ihren
roten Mund. Denn hinter ihr tauchen andre auf, aus den Büsche», von den
Abhängen — vier, acht, zehn —, alle nackt wie sie, Johanniswürmchen im
Haur. Errötend unter ängstlichem Schweigen schleichen sie sich hin zum Silber¬
bade. Zu zweien oder in Gruppen zu vieren und sechsen, das lange,, dunkle
Haar über den glänzenden Rücken herabwallend, gleiten sie zögernd und vor¬
sichtig über den auf dein Grnnde des Sees liegenden Sand dahin; sie schaudern
leicht und lächeln furchtsam dem flüssige» Metall zu, das um ihre Weiße»
Leiber fließt. Plötzlich wirft sich eine mit schlanken Armen über die Fläche.
El» halb erstickter Schrei — und alle tauche» aller die Wellen »»d walze»
sich in der Tiefe. Der Mond, der alte Tngendwüchter, spitzt verdächtig die
Ohren und lauscht, ob er nicht ferne Tritte vernehme. Eifrig späht er umher
in den Wäldern, als fürchte er, daß sich verborgne Feinde der entzückenden
Gruppe nahe», die er mit seine» Strahlen liebkost. Und immer neue Gestatte»
steige» vom Gruiide des Sees a»f, einige mit Schilf in dem langen, blonden
Haar, andre in leichte» Gewändern, aus dem Silbergespiust der Mondstrahlen
und seidenweichem Nachtnebel gewebt. Aber bei dem erste» Hahnenschrei, der
durch die Schlucht dringt, verschwindet das ganze Bild, und der Mond bleibt
einsam zurück mit seinem fahle», verdrießlichen Gesicht.
Einer der merkwürdigsten Pnnkte des Sees ist der sogenannte „Echo-
Winkel." Es ist daS el» langes, tintenschwarzes Gewässer, das hart a» der
Muse i» einen halbverdvrrten Fichtenwald einschneidet, und das seinen Namen
einem eigentümlichen, geheimnisvollen Gemurmel verdankt, das, wie man sagt,
jedem antwortet, der darüber hinrnft.
An dem schmalen, offenen Ende des Gewässers werden die Ufer durch einen
gewöhnlichen Steg verbunden, der auf ein paar grünlich schleimigen Pfählen
ruht, über die sich der Waldweg fortsetzt. Dieser führt, aus dem großen
Walde kommend, ein Stück um Rande des Sees entlang, ehe er in die Schlucht
einbiegt. Und gerade hier, halb im Schatten von vier hohen, schlanken, fast
kahlen Fichten, halb durch dies große Fenster des Thales schauend, liegt die
einzige menschliche Wohnung am See.
Es ist ein langes, braungestrichenes Gebäude, äußerst kümmerlich und zer¬
falle», mit winkligen Fachwerk aus Eichenholz, weißen Fensterrahme», flaschen¬
grünen Fensterscheiben und eine»: alten, schiefgewachsene» Hollunderbusch, der
sich wie eine Tvtenhnnd, die den Greis mitleidig in den Mutterschoß der
Erde herabznziehe» sucht, über dem mit Rasen bedeckte Hanse wölbt. Das ist
der alte Fährkrug.
Seit die Brücke vor einem Jahrzehnt über den Abfluß des Sees gebaut
wurde, hat er seine Bedeutung völlig verloren. Die gelbe Postkutsche, die
Wagen der Küstenbewohner mit ihren niedrigen Rädern, ja selbst die Fuhr¬
leute und Pferdehändler rolle» schnell vorüber, ohne seiner zu achten, höchstens
werfen sie einen mitleidig lächelnde» Blick auf die beiden altmodischen Flaschen
mit Pomeranzen- und Pfeffermünzliqueur, die noch in dein Fenster neben der
Thür stehen.
Diese Thür, niedrig und verfallen wie sie ist, Pflegt denn auch bis tief
in den Tag hinein geschlossen zu sein. Und unter dem vorspringenden Rande
des Daches, unter dem die Schwalben nisten, vermodern die Mauern unge¬
stört, als habe der alte Krüppel endlich begriffen, daß seine Zeit um sei, als
warte er jetzt, in alte Erinnerungen versunken, nur auf seine völlige Auf¬
lösung.
Denn in frühern Zeiten war sein Name in ganz Jütland bekannt. Bon
Sallingland bis Hamburg gab es damals keinen wandernden Handwerks-
burschen, der sich nicht einen ehrlichen Rausch im Balderöder Fährkrug ange¬
trunken und die schmucken Schenkmädchen geküßt hatte.
In jenen Zeiten konnten sich, wenn der Wald fahrbar war, lange Reihen
von Wagen vor der Thür ansammeln, ganze Züge von Fuhrwerken: haus¬
hohe Frachtwagen mit einem Dach aus Segeltuch und einer Theerbütte zwischen
den Rädern, Schlächterkarren, Krümerwagen und gräfliche Kutschen, einer nach
dem andern bis weit in den Wald hinein, während vier Männer ohne Unter¬
brechung die Reisenden mit Prasum und großen Boten über den Bach setzten.
Und drinnen unter der verräucherten, wurmstichigen Eichendecke des Schenk¬
zimmers konnte man sich zu Zeiten kaum durchdrängen vor lammfellbekleideten
Fuhrleuten, in Pelzwerh gehüllten Prvbenreitern, bärtigen herrschaftlichen
Kutschern und Bauern mit silbernen Knöpfen, Spangenschuhen und saueren
Kniehosen.
Auch große Herden fetten Schlachtviehs, die damals südwärts nach Schleswig
getrieben wurden, pflegten sich des Abends um die Mauern des Kruges zu
lagern. Wiehernde Pferdetranspvrte — fünfzehn, zwanzig Tiere in einer Reihe —
weither vom Limfjvrd und aus der Viborger Gegeud, zogen bei Tag und bei
Nacht über den morschen Steg, der damals an dem Echvwinkel vorüber¬
führte.
Am lebhaftesten war es aber im Spätherbst, wenn die großen Märkte in
den Prvvinzstüdten abgehalten wurden. Da konnte sich allmählich ein solches
Lager von Wagen, Leuten und Vieh auf dem nach dem Walde zu gelegnen,
abgeholzten Platz ansammeln, da vernahm man ein so wirres Durcheinander
von blökenden Lümmern, schreienden Kindern und verstimmten Leierkasten, daß
man glauben konnte, man befinde sich hier schon auf dem Marktplatze. Taschen¬
spieler und Bärenführer, die sich zufällig dem Zuge angeschlossen hatten, schlugen
ohne weiteres ihre Zelte unter den Bäumen auf. Und drinnen im Kruge
selber, der buchstäblich bis an den Dachstuhl vollgepfropft war, indem zwischen
den Dachsparren mit Streu und Brettern Nachtlager hergerichtet wurden,
saßen wohlbeleibte deutsche Pferdehändler mit fetten, glänzenden Nacken zu¬
sammen mit ihren kleinen jüdischen Kollegen aus Ungarn und Siebenbürgen,
schreiend und mit der Faust auf deu Tisch schlagend.
Zuweilen, wenn alle diese Leute, die oft tagelang darauf warten mußten,
bis an sie die Reihe kam, an das andre Ufer hinübergesetzt zu werden, allzu
heiße Köpfe bekommen hatten, konnte der Aufenthalt hier ganz gefährlich werden.
Nur ein verletzendes Wort, ein Stoß mit dem Ellenbogen oder auch mir ein
kleiner Scherz mit dem Mädchen eines andern konnte plötzlich das ganze Lager
in Aufruhr versetzen. Und wenn dann der Kampf den Krug selber erreichte,
wurde die Verwirrung unbeschreiblich. Als lauerte« die Leidenschaften in
diesem unbändigen Schwarm nnr auf eine Gelegenheit, loszubrechen, konnte
sich im Handumdrehen ein wahrer Sturm von geballten Fäusten und drohenden
Stocken erheben, der sich mit Schreien und Flüchen bis an die Thür fortsetzte
und Unruhe und Verwirrung unter die sich bäumenden Pferde brachte. Da
flohen die Frauen mit Angstgeschrei und verbargen sich mit den Kindern nnter
den Wagen. Schwere schlüge fielen von den nervigen Fäusten der Juden,
während die gellenden Stimmen und die Knotenstöcke der Deutschen die Luft
durchdrängen.
Um diese Zeit, d. h. vor ungefähr zwanzig Jahren, lebte hier im Lande
ein kleines drolliges Männchen mit rotem, krausem Haar und schwarzen Angen,
das nnter verschiednen Kosenamen, wie der „kleine Teufel" oder der „Band-
judc," mit einem schwarzen, hölzernen Kasten, der an einem Riemen über dein
Rücken hing und einem weißen Stocke von Dorf zu Dorf zog, und der, ohne
still zu stehen, allen, denen er begegnete, freundlich grüßend zurief: „Der
Jakob ist wieder da, ihr guten Leute! Hier ist allerhand Band und Brüsseler
Spitzen für die kleine Liebste, hier ist Schnupftabak für die alte Tante, hier
ist Mandelkleie, Seife und wohlriechendes Wasser! Hier ist alles, was das
Herz begehrt an Brillen, Broschen, Nadeln, Federn, Scheren, Messern —."
Ehe er noch seine Aufzählung beendet hatte, war er schon wieder von dannen.
lind der Bauer, dein Jakob ein alter Bekannter war, ließ seinen Pflug ruhen
und blickte dem Kleinen lächelnd nach, der ans seinen dünnen Beinen am
Grabenrande entlang storchte.
Sobald im Orte verlautete, daß der Jude Jakob gekommen sei, fuhr es
- - so erzählt mau — wie ein Fieber durch das ganze weibliche Geschlecht.
Selbst gesetzte Frauen, die ihr Hans für gewöhnlich in züchtiger Ehrbarkeit
hüteten, ließen Kochlöffel und Säugling fahren, um im Kruge oder in der
Schule oder wo er sonst seine Waaren auszukramen Pflegte, die Ersten zu
sein; ja alte Großmütter sah man an ihrem Stäbe die Straße hinabhumpelu,
eine leere Schnupftabaksdose oder irgend eiuen andern altmodischen silbernen
Gegenstand in der zitternden Hand. „Wo die San ist, da sanuncln sich
die Ferkel!" rief ihnen Jakob mit seiner lustigen Nabenstimme entgegen und
klatschte laut in die langen, sommersprossigen Hände, um den Handel zu
beginnen.
Aber man erzählte sich, daß in dem Juden Jakob mehr als eine Krämer¬
seele wohne. Wenn er so mitten unter all den Frnnenzimmern stand und
seine hastigen Augen über ihre gesunden Glieder und bloßen Hälse gleiten ließ,
oder wenn er mit schmachtender Geberde vor einem kaum erwachsenen kleinen
Mädchen, das sich ihm schüchtern mit einer alten silbernen Spange oder einem
Stückchen Goldtresse näherte, seine spitzen Schultern bis an die Ohren in die
Höhe zog, dann konnte man es seinen feinen, schmalen Lippen und den großen
ausgespannten Nasenlöchern ansehen, daß sein Herz nach etwas anderm als
nach ihren Sechsern verlangte. Wie merkwürdig es auch klingen mag' das
kleine, blasse Männchen sollte den jungen Frauenzimmern, auf die seine Augen
sielen, gar nicht ungefährlich sein. Eingeweihte wollten sogar wissen, daß bis
dahin uoch kein Mädchen, auf das er es ernstlich abgesehen hatte, auf die
Länge dem schwarzen Zauber dieser Blicke habe widerstehen können. Und mehr
als eine bekümmerte Mutter fand ihre Ruhe erst wieder, wenn sie ihn glücklich
über die Grenze wußte.
Jedes Jahr zu Weihnachten und zur Fastnachtszeit kam Jakob auch nach
dem Balderöder Fährkrug. Und da er von Alters her mit dem Krüger Kreil
bekannt war, so richtete er sich gerne so ein, daß er hier sein Nachtquartier
aufschlug.
Nun kam es zu dieser Jahreszeit häufig vor, daß ein mehrtägiger Regen
oder ein Schneefall mit darauffolgenden Thauwetter die Wege völlig ungang¬
bar machte. Sobald deswegen die Kunde von dein ersten Wagen kam, der
im Moraste stecken geblieben war, hörte aller Verkehr von und nach der Küste
gänzlich auf. Und da es oft einen bis zwei Monate währte, ehe der Frost aufs
neue eine sichere Brücke über die Erde legte, so konnte es zeitweise recht einsam
und melancholisch in dem sonst so lebhaften Fährkrng aussehen.
Um diese Zeit pflegte Jakob zu kommen. Schon der Ton seines schnar¬
renden „Guten Tag, guten Tag, ihr lieben Leute!" während er auf der Diele
seinen Kasten vom Rücken gleiten ließ und die Kälte von den Füßen stampfte,
wirkte wie ein belebender Hauch aus der Welt auf das große, leere Gastzimmer,
wo ein paar trinkende Bauern aus der Nachbarschaft, irgend ein Krämer oder
Wollhändler aus der Umgegend zusammen mit den Bewohnern des Kruges
die ganze Gesellschaft ausmachten. Sogar der alte Krüger Kreil, der gewöhnlich
schlafend am Tischende saß, erhob seinen feurigen, sonnengebrännten Zigeuner-
kvpf und blickte mit erwartungsvollen Lächeln auf.
Jakob selber war niemals besser aufgelegt, als wenn er nach einem guten
Gericht Mehlbrei mit gehackten braunen Zwiebeln und einer Kanne süßer
Molken zwischen ihnen um Eichentische saß. Und obwohl er selber niemals
hitzige Getränke anrührte, brachte er einzig und allein durch seine kleine,
muntere Person und seine lustige Krähenstimme eine festliche Stimmung in den
großen, dunkeln Raum, wo nur ein einziges Talglicht einen kümmerlichen Schein
über die versammelten Köpfe verbreitete. Oft saß man bis tief in die Nacht
hinein, um seinen vielen köstlichen Liedern und seinen uuzächligcn spaßhaften
Geschichten zu lauschen, die den Mädchen das Blut in die Wangen trieben,
sodaß sie sich verschämt hinter ihren Spinnrocken versteckten.
Der Krüger hatte eine Tochter. Sie hieß Ellen und war ein großes,
handfestes Mädchen von achtzehn Jahren, mit blattschwarzem Haar und
ein paar scharfen, nußbrauner Augen, mit denen sie sich jegliche Annäherung
vom, Leibe zu halten wußte, zu der ihre schwellenden Formen unter diesen
Verhältnissen Wohl verlocken konnten.
Trotz ihrer Jugend bewegte sie sich wie in einem Harnisch von Mißtrauen
»ud stillem Argwohn, den das Leben nnter diesen Menschen sie anlegen gelehrt
hatte. In ihren dichten, schwarzen Augenbrauen, in ihrem schnellen, aufmerk¬
samen Blick, mit dem sie alle musterte, lag etwas Kaltes, Feindliches, wovor
selbst ihre besten Freunde niemals sicher waren.
Jakob, der sie hatte aufwachsen sehen, redete dagegen väterlich mit ihr.
Ihr gegenüber bewahrte er schlauerweise den Ton des ältern Mannes, der
sie beruhigte, lind sie, die trotz ihrer Größe doch kaum deu Kinderschuhen
entwachsen war, hatte hinter ihrem verschlossenen Wesen wenigstens etwas von
dem offnen, kindlichen Vertrauen für das kleine lächerliche Männchen bewahrt,
in dem sie von jeher alle Weisheit und Erfahrung der Welt vereinigt gesehen
hatte. Sie betrachtete ihn stets mehr als alten, treuen Freund des Hauses,
nicht als zufällig hergereisteu, ja sie konnte sich sogar in trüben, dunkeln
Wintertagen förmlich uach ihm sehnen, der gemütlichen Munterkeit wegen, die
stets in seinem Gefolge war.
Da saß sie dann in ihrer dunkel» Fensterecke und lauschte seinen Scherzen
mit einem stillen, sinnenden Lächeln, während sie fleißig ihr Spinnrad drehte.
Sie genoß ein eignes Wohlbehagen, wie sie so geborgen dasaß und alle diese
bunten Bilder der Welt mit ihrer Thorheit und ihrem Getümmel an ihrer
Seele vorübergleiten ließ. Und wenn er wieder abgereist war, konnte sie sich
Wohl darauf ertappen, daß sie ringsum in den Stuben ein Gefühl unerklärlicher
Leere überkam, oder sie überraschte sich selber bei der Entdeckung, daß sie
stundenlang draußen am See gestanden und sich gegen ihre Gewohnheit
Träumereien hingegeben hatte.
Zuweilen, wenn sie allein waren, rückte er zu ihr hin ans die Bank, wo
sie ihm schweigend, aber willig gestattete, Platz an ihrer Seite zu nehmen.
Er erzählte ihr dann ausführlicher von seinen vielen Reisen in der Heimat
und in fremden Ländern, von den vielen neuen, seltsamen Dingen, die er in
fernen.Gegenden gesehen haben wollte, wo die Sonne über schneebedeckte Berg¬
gipfel und glutrote Weingärten wandert. Er schilderte das Leben des Südens,
das Volksgewühl der großen Städte und die Mönche in ihren einsamen Klöstern.
Und gelegentlich verflocht er in diese Schilderungen verstohlene Reden über das
Glück der Liebe und die heimliche Lust des Lebens, indem er vorsichtig seinen Blick
von ihrem Fuße aufwärts gleiten ließ und sich im stillen freute, wie sie heranreifte.
Endlich, eines Abends, als sie lange so bei einander gesessen hatten, und
das Licht fast herabgebrannt war, nahm er, wie in Gedanken, ihre Hand und
fing an, mit ihren Fingern zu spielen. Sie blickte ein wenig verwundert zu
ihm hinab, legte jedoch kein weiteres Gewicht darauf, sondern lächelte sogar
leise, als er nach einer Weile ihre Hand sinken ließ und sie verlegen, wie um
Verzeihung bittend, ansah. Gleich darauf aber war es ihr, als rückte er ihr
heimlich näher, und als er endlich seinen Arm um ihren Leib schlang und sie
dabei mit einem seltsamen, zitternden Lächeln ansah, da flog eine flüchtige Röte
über ihre Wangen. Sie hätte vor Angst schreien können.
Sie hatte Kräfte wie ein Mann und hätte ihn wie einen Handschuh von
sich schleudern können. Aber was war es, das sich in diesem Augenblick wie
lähmend auf sie legte und sie zwang, sich diesem häßlichen, kleinen Menschen
wie ein willenloses Ding hinzugeben? Jedesmal, wenn sie später in
ihren vielen schlaflosen Nächten und trüben Tagen an diese Stunde zurückdachte,
faßte sie es weniger und weniger. Es war, als hätte sie unter einem Zauber-
bann gelegen. Von dem Augenblick an, wo sie sich von seinein Arme zu ihm
hingezogen fühlte, hatte sie alle Besinnung verlöre». Vou dem, was dann
folgte, wußte sie nichts, gar nichts, so plötzlich und unerwartet war es über
sie gekommen.
Merkwürdigerweise sollte dies Jakobs letzter Besuch im Baldervder Fähr¬
kruge sein. Schon im Spätherbst drang das Gerücht her, daß man ihn in
einem Moor auf Fünen gefunden habe, ausgeplündert mit zerspaltenem Schädel.
Ein Hopfenhändler, der ihn genau gekannt haben wollte und, wie er behauptete,
der Beerdigung beigewohnt hatte, überbrachte die Nachricht. So konnte denn
kein Zweifel an der Richtigkeit der Sache sein. Aber die allgemeine Auf¬
merksamkeit nahm schnell eine andre Richtung, denn an demselben Tage war
Ellen plötzlich spurlos verschwunden.
Sie war zuletzt auf ihrem gewöhnlichen Platz in einer Ecke des Gast¬
zimmers gesehen worden. Bei der Erzählung des Hvpfeuhändlers hatte sie
sich leichenblaß vou ihrem Stuhl erhoben und war, seitdem nicht zu finden
gewesen. Man sandte Boten nach Osten und Westen, man verteilte sich im
Walde und rief. Als die Dämmerung hereinbrach, liefen Scharen mit Laternen
und Stangen um den See herum, aber alles vergebens. Erst spät in der
Nacht fand mau sie auf einem abgeschlossenen Bodenraum, wo sie einem kleinen
wachsgelben Dinge mit rotem Haar und schwarzen Augen daS Leben gegeben
hatte, einem Wesen, dessen Dnsein sie acht Monate hindurch ängstlich vor ihrer
Umgebung verheimlicht hatte. Der alte Vater, der Einzige vielleicht, der Unrat
gemerkt hatte, kam gerade rechtzeitig genug, um dem Kinde bei dem Eintritt
ins Leben seinen Fluch zu schenken.
Das war eine ungewöhnliche Überraschung! Mau kauu wohl behaupten,
daß seit vielen Jahren kein „Fall" dort in der Gegend so viel Aufsehen erregt
hatte wie dieser. Ellen konnte zwischen Himmel und Erde keinen Ort finden,
um ihre Sehnen und ihre Verzweiflung zu verbergen. Noch nach Monaten
hielt man sie nur mit Gewalt davon zurück, sich in den See zu stürzen, um
sich dort dem spöttischen Lächeln und den schadenfrohen Blicken zu entziehen,
die der früher so spröden Jungfer überall begegneten.
Aber nach des Vaters, des alten Krens bald erfolgenden Tode versank
sie in eine Stumpfheit, in einen nachtwandlerischen Zustand, aus dem sie fast
nicht mehr erwachte, und dem sie sich von nun an mich ungestört hingeben
konnte, da gerade um diese Zeit die Brücke über den Bach geburt wurde.
Vorher war auch das Kind in der Dorfkirche getauft worden und hatte deu
Namen Martha erhalten.
(Forsetzung folgt)
Mit Recht ist schon von verschleimen Seite»
darauf aufmerksam gemacht worden, daß die Fremdwörterfrage im Grunde eine
Bildungsfrage sei. Man kann geradezu mit Rücksicht auf den Gebrauch unnötiger
Fremdwörter — um solche handelt sichs ja immer nur — die Deutschen in drei
Bilduugstlasseu einteileni die unterste Klasse braucht die Fremdwörter falsch, die
nllttelste Klasse braucht sie richtig, die oberste Klasse braucht sie — gar nicht. Daneben
giebts natürlich allerhand Misch- und Zwischenklassen, aber die Hauptklassen sind doch
die drei genannten. Der gewöhnliche Mann aus dem Volke weiß in den meisten
Fällen gar nicht, daß er Fremdwörter braucht. Woher sollte ers auch wissen?
In eine fremde Sprache hat er nie hineingeblickt, über seinen Wortschatz macht er
sich keine Gedanken, er versteht entweder ein Wort oder er versteht es nicht — die
Fremdwörter versteht er meistens nicht —, ob die Wörter, die er braucht, deutsche
sind oder einer fremden Sprache angehören, vermag er nicht zu beurteilen. In
Leipzig ist z. B. dem Manu aus dem Volke, dem kleinen Handwerker und Geschäfts¬
mann, dem untern Beamten, dem Kutscher, den, Kellner, dem Packträger das Wort
zurück fast unbekannt. Wenn ers gedruckt liest, versteht ers wohl, aber seinem eignen
Wortschätze gehört es nicht an, er kennt nur das Wort retur (retour), das ist für ihn
deutsch! Er sagt: Ich kriege zehn Feuuche retur — schied emal de Karre
retur — um zehne fahrmer retur — Müller is in heilten Jeschäfte redurjekommeu.
Ebenso wenig braucht er z. B. die Wörter Wohnung und wohnen, gegenüber,
gerade oder dicht, er wohnt nicht dem Bahnhöfe gegenüber oder dicht am Bahn-
Hofe, sondern er loschirt dem Bahnhöfe wiesawieh oder direkt am Bahnhöfe.
Es giebt Dutzende von Fremdwörtern aus dem täglichen Leben, die er ganz richtig
braucht, die aber eben für ihn so gut wie deutsche Wörter sind. Die »leisten aber
braucht er falsch oder halbfalsch: entweder er verdirbt oder verstümmelt ihre
Form, oder er wendet sie in einem Sinne an, den sie nicht haben, oder er ver¬
wechselt zwei mit einander — der Beispiele bedarfs wohl nicht, es giebt fast keine
Posse, in der nicht irgend eine Gestalt aus dein Bolle unter andern, auch durch
ihre falsche Anwendung der Fremdwörter gekennzeichnet würde. Das ist die
unterste Klasse.
Nun die mittlere. Das sind die, die sich soviel Kenntnis fremder Sprachen
^namentlich des Lateinischen und Französischen) angeeignet haben, daß sie von einer
großen Anzahl von Fremdwörtern die Ableitung, die eigentliche Bedeutung kennen,
auf dieses bischen Wissenschaft, wenn sie sich mit den unter ihnen stehenden armen
Schluckern vergleichen, welche Gratifikation und Gravitation verwechseln, un¬
geheurer stolz find, und ihre hohe Bildung nun durch möglichst häufigen Ge¬
brauch von Fremdwörtern an den Tag zu legen suchen. Dieser Klasse gehören
die meisten Kaufleute um, much die meisten Volksschullehrer, die sich durch ihre
Seminnrbildung in der Regel hoch über die Masse emporgehoben fühlen, aber leider
auch ein großer Teil derer, die das Gymnasium und die Universität durchlaufen
oder halb durchlaufe» haben. denen dieser Bildungsgang aber doch nicht zu der
Geistesfreiheit verholfen hat, daß sie die Geschmacklosigkeit und Lächerlichkeit unsers
Fremdwörterunfugcs empfände». Das ist die gefährlichste Klasse, und die aller-
gefährlichsten darunter sind die, die auf dein Katheder sitzen oder hinter der Laden¬
tafel stehen oder vom ZeitungSgewerbe leben. Sie werfen sich in die Brust und
meinen, sie hätten wunder was gesagt, wenn sie vou lokalem Konsum reden
statt vou örtlichen Verbrauch, von drei Faktoren oder drei Momenten
anstatt von ^ dreierlei.
Eine Hauptaufgabe des Sprachvereins ist es nach unsrer Meinung, immer
und immer wieder darauf hinzuweisen, daß es über dieser Stufe uoch eine höhere
giebt, daß es ein Zeichen höchster und vornehmster Bildung ist, wenn man durch
das Erlernen fremder Sprachen zugleich seine Muttersprache so beherrschen gelernt
l>at, daß mau die fremde» Flicken und Lappen entbehren, daß man wirklich deutsch
reden ka»». So ist auch der Goethische Spruch zu verstehen- Der Deutsche ist
gelehrt, wenn, er sein Deutsch versteht.
Die glänzenden Kaisertage in Hannover haben für viele ans
der zahllos zusammeugeströmteu Menge ein ärgerliches Nachspiel gehabt, die Ent¬
deckung, dabei ihrer Geldbörsen, Uhren n. s. w. durch die Kunst der Taschendiebe
beraubt worden zu sein. Allem Anschein nach haben diese unter den freudig er¬
regten und vielfach zu arglosen Leuten eine reiche Ernte gehalten. In der That
ist es ja alles schwer, sich dieser Langfinger und ihrer haarscharfen Werkzeuge in
solchem BolkSgewühle zu erwehren, sodaß diese Zwangssteuer sich als eine, wie es
scheint, unvermeidliche üble Beigabe derartiger Festlichkeiten erweist.
Als vor Jahren in Hnmeln das „Rattenfängerfest" gefeiert wurde, meldete
man komm ich mich nicht sehr täusche!) mittels Drahtes vo» Berli» dorthin: So¬
eben zehn bekannte Taschendiebe vermutlich nach Hameln abgereist!
Erstaunt fragt man: Wenn unsre Sicherheitsbehörde so gut Bescheid weiß,
weshalb läßt sie dann solches Gesindel überhaupt zu solchen Zeiten „abreisen,"
dorthin, wo sein Handwerk einen wirtlich goldnen Boden findet? Oder wenn der
Behörde solche Befugnis noch nicht zusteht, warum giebt mau sie ihr nicht? Etwa
indem man den i> 39 unsers Strafgesetzbuches, wonach dein nnter Polizeinnfsichl
gestellten Diebe der „Aufenthalt an einzelnen bestimmten Orten von der höhern
Landespolizeibehörde untersagt werden kann," so ausdehnt, daß derartigen Ver¬
urteilten auch noch der Aufenthalt an einem bestimmten Orte oder in ihrem
Hanse, wenn auch nur zeitweilig, bei Vermeidung von Strafe und nötigenfalls
Anwendung sofortiger Zwangsmaßregeln auferlegt würde (Konfinirnng oder Ver¬
strickung)? Ähnliches hatte schon t>'28 des Preußischen Strafgesetzbuches. Die
Schwierigkeit der Durchführung einer solchen Maßregel würde nicht ohne Weiteres
gegen die Maßregel selbst sprechen, da sie häufig genug sich recht wirksam er¬
zeigen dürfte.
Unser Strafrecht entbehrt, neben der mittelbar wirkenden Abschreckungsmacht
der Strafandrohung selbst, der unmittelbaren Schutzmaßregeln gegen geplante Ver¬
brechen fast ganz. Man erinnere sich der vielbesprochnen, aber ungelösten Frage,
wie mau die Gesellschaft gegen den Gewohnheitsverbrecher schützen soll: ob nicht
gegen ihn lebenslängliche Einsperrung innerhalb oder außerhalb des Landes (wie
nach dem französischen Gesetze vom Mai 1885) geboten sei.
Im wesentlichen muß bei uus die Polizeiaufsicht und im allgemeinen die
Wachsamkeit der Sicherheilsbehörden aushelfen. Als sonstige Mittel wüßte ich nur
noch das Anzeigegebot nach 139 des Strafgesetzbnches zu nennen, an denjenigen
gerichtet, der „von dem Vorhaben eines Hochverrats, Landesverrats, Mnuzver-
örechens, Mordes, Raubes, Menschenraubes oder eines gemeingefährlichen Ver¬
brechens zu einer Zeit, in welcher die Verhütung des Verbrechens möglich ist,
glaubhafte .Kenntnis erhält"; daneben nnr etwa noch die Befugnis zur Einziehung
solcher Gegenstände, „welche zur Begehung eines vorsätzlichen Verbrechens oder
Vergehens'— bestimmt find" (a. a. O.' K 40, -12). Nicht einmal auf Messerhelden,
denen doch die Ausschließung von öffentlichen Festlichkeiten n. f. w. sehr heilsam
wäre, ist jener § 39 ausgedehnt!
Ein solches Verbot würde ähnliche gute Dienste thun, wie die bekannte, außer¬
ordentlich wirksame Polizeimnßregel, einem Dorfe, worin beim Tanz Raufereien
vorgekommen sind, zunächst auf längere Zeit die Erlaubnis zu öffentlichen Tanzver¬
gnügungen zu versagen. Ein „freisinniges" Herz wird dabei allerdings mit Schaudern
an die Behandlung wilder Völkerschaften denken, deren Dörfer man niederbrennt,
wenn ans ihnen ein heimtückischer Schuß gefallen ist, dessen Urheber nicht entdeckt
werden konnte, wenngleich jenes Beispiel, das ans Selbstzucht der Bevölkerung oder
eine Art von „Selbstverwaltung" in der öffentlichen Ordnung abzielt, nur eine sehr
abgeblaßte, aber allerdings vollkommene Parallele dazu ist.
Vielleicht lassen sich durch diese Gedankcnspiine gelehrtere Herren dazu an¬
regen, es öfter einmal mit solch örtlich „bedingter Verurteilung" zu versuchen.
Zu dein Aufsatz über das Hutabnehmen
in Nummer 35 d. Bl. erlaube ich mir eine Parallele zu der Seile 408 erwähnten
Gndrunslelle aus dem Nibelungenliede mitzuteilen; sie steht in der Lachmannschen
Ausgabe Strophe 2110, in der Simrockschen Übersetzung im 37. Abenteuer.
Rüdiger von Bechlaren hat sich mich langem innerm Kampf entschlossen, mit den
Burgunder zu streiten und geht jetzt mit den seinen „unterm Helme" (2107)
nach dem Saal, wo jene sich befinden. Volker erkennt ans der Stelle, daß neue
Feinde nahem, aber Giselher, der auch sonst als Jüngling dadurch gekennzeichnet
ist, daß er da noch hofft, wo die Erfahrung der andern keine Möglichkeit der
Rettung mehr sieht (z. B. 2059), glaubt, Rüdiger, der Vater seiner Braut, komme
ihnen zu helfen. Da erwidert ihm Volker: „Saht Ihr wohl je zur Sühne so
viele Helden kommen mit anfgebnndnem Helme und die Schwerter in der Hund"?
Darin liegt doch ausgesprochen, daß, wenn Rüdiger eine Aussöhnung der Vur-
gunden mit Etzel beabsichtigte, er nach der Sitte der Zeit ohne Helm und Schwert
hätte erscheinen müssen
Berliner Neudrucke. Erste Serie. Band 3 und 4. Nikolaus Penckers wohlklingende
Puncte und drei Singspiele Christinn Reuters. Herausgegeben von Georg Elliuger.
Musen und Grazien in der Mnrk (Gedichte vou F. W. A. Schmidt). Herausgegeben 'vou
Ludwig Geiger. Berlin, Gebr. Puckel, 1889
Die Fortsetzung des hier bereits angezeigten Unternehmens bringt in „Schmidt
von WerneuchenS" Gedichten eine gewiß vielfach willkommne Gabe. Durch Goethes
bekanntes Gedicht, das mich hier zum Stichwort für ihn dient, zum „Vetter
Michel" der Poesie geworden, ist er für die Gebildeten nicht mehr als ein selt¬
samer Kauz, für die Litleratnrgelehrten, die durch die Urteile der Romantiker be¬
stimmt sind, ein schlechter Versemacher. Die wenigsten wissen, daß kein Geringerer
als Jnkob Grimm für ihn lebhaft Partei gegen diese Urteile ergriffen und ihn
beim deutschen Wörterbuch vielfach benutzt hat. Es hat jedenfalls schlechtere Dichter
in Deutschland gegeben und solche, die sich mehr darauf einbildeten, als der biedere
märkische Landpastor. Seine nur zu flüssigen Äerse, deren meist sehr häuslich und
bürgerlich solide Vorwürfe und nur allzu bekannter sandiger Landschaftshinter¬
grund in einem abenteuerlichem Gegensatz zu ihrem überzeugten Odenschwung und
gesuchten Wortschmuck stehen, entbehren für uus freilich nicht des unfreiwilligen Humors.
Aber ebensowenig eines wenn auch nicht urträftigeu, so doch immerhin innigen
Behagens. Die ganze gesammelte Daseinslust einer eng umfriedeten, aber in ihren:
Kreise sich seelenvergnügt um sich selbst drehenden Existenz ist hier „auf Strophen
abgezogen."
Weniger Gutes läßt sich von der erslnngeführten Erneuerung sagen aus der
Zeit der Hochblüte deutscher Znnfllilteratur und ihrem damals auch poetisch sandigsten
Winkel. Als Belege ehrenfester alter Stadtpoesie der gegenwärtigen Reichshaupt-
stadt haben die Gelegenheitsgedichte des poetisch paukenden Stadtrichters, als Er¬
zeugnisse des Verfassers des „Schelmuffsky" und durch ihre Verwendung am jungen
preußischen Königshofe die drei Singspiele Interesse. ' Wer jedoch für die „Idee"
des Philistertums schwärmt, kann hier geheilt werden.
n diesen Tagen — am 14. Oktober — wird in Washington eine
Versammlung eröffnet werden, die in verschiednen Beziehungen
auch diesseits des Atlantischen Meeres zu denken giebt. Es ist
der Kongreß zur Beratung einer Anzahl gemeinsamer Interessen
und Einrichtungen, zu dem die Negierung der Vereinigten
Staaten die obersten Behörden der übrigen politischen Gemeinwesen Amerikas,
soweit sie unabhängig sind, Vertreter zu schicken eingeladen hat. Die Sache
nimmt sich für die, die ihr fernstehen und sich überhaupt um die Politik der
Aankees in den letzten Jahrzehnten nicht ernstlich bekümmert haben, ziemlich
harmlos aus, etwa wie ein größeres Seitenstück zu den Bestrebungen, die eine
Annäherung der skandinavischen Staaten im Münz-, Zoll- und Rechtswesen
zum Ziele haben. Näher betrachtet und mit frühern Ereignissen verglichen,
gewinnt sie aber weit größere Bedeutung und erscheint als Glied in einer
Kette von Thatsachen, die sich nur der an die Seite stellen läßt, der wir in
der rasch wachsenden Ausdehnung der russischen Macht in Asien begegnen, als
Äußerung eines weltgeschichtlichen Prozesses, der, wenn sich ihm für jetzt
unüberwindliche Schwierigkeiten entgegentaumelt, in nicht zu ferner Zukunft
sein Ziel zu erreiche» und eine Macht in die Welt einzuführen bestimmt zu
sein scheint, der nur die Gesamtheit aller Großmächte Europas die Spitze zu
bieten vermöchte. Es ist der panamerikanische Gedanke, den wir vor uns
haben, der Gedanke, nach dein es offenbare Bestimmung (uniuiköst <Zö8tin/)
ist, daß die Vereinigten Staaten dereinst alle Staaten Amerikas unter ihrer
Fahne vereinigen werden, weshalb sie sich auch amtlich als Huiwä Ztatss ot'
^inörivÄ nicht ol' ^ortu-^iuLriog, bezeichnen. Der Glaube, daß es der Wille
der Vorsehung sei, daß die Union sich allmählich alle Staaten der westlichen
Welt angliedere und deren Kern und Herz bilde, ist in seinen Anfängen schon
ziemlich alten Datums, er äußerte sich bereits, als der nordamerikanische
Staatenbund erst zehn Millionen Bürger umfaßte, schon vor siebzig Jahren,
zwar nur in negativer oder, wenn man will, defensiver Form und diplomatischer
Fassung, aber doch mit hinreichender Deutlichkeit, und zwar in einem Akten¬
stücke, dessen Inhalt und dessen spätere Variationen in Reden, Büchern und
Zeitungen die sogenannte Monroe-Doktrin bilden. Unsre Presse und das ihr
nachsprechende Publikum reden viel von dieser „Lehre," wir zweifeln aber, ob
sie etwas rechtes, ob sie mehr davon wissen, als was mit Benutzung jener
Eselsbrücken davon zu erfahren ist, die in den Konversationslexieis für Redak¬
teure, Leitartikler und Berichterstatter und sonst für „jedermann aus dem
Volke," soweit es wißbegierig ist, bereitstehen, und das ist ausnahmslos ein
recht kärgliches Wissen. So halten wir es nicht für überflüssig, zunächst
einmal ausführlich zu sagen, was es mit der Monroe-Doktrin bei ihrem ersten
öffentlichen Auftreten für eine Bewandtnis hatte.
Es war in der europäischen Restaurationszeit, in den Tagen der heiligen
Allianz. Diese hatte sich mit dein Schwerte der Bourbonen in die Angelegen¬
heiten Spaniens gemischt, wo die Liberalen sich gegen ein thrannisches Königtum
erhoben und ihm eine freisinnige Verfassung und Regierung abgezwungen hatten,
und dort die alte Ordnung wieder hergestellt. Ungefähr zu gleicher Zeit
hatten die amerikanischen Neuspauier das drückende Joch des Mutterlandes
abzuwerfen versucht, nach schweren Kämpfen den Sieg behalten und die Mon¬
archie durch eine Anzahl von Republiken ersetzt, die von der Union im Norden
ohne Verzug anerkannt wurden. Europa zögerte nicht nur damit, sondern
ließ die amerikanischen Politiker anch befürchten, daß wenigstens einige seiner
Mächte es für Recht und Pflicht ansehen könnten, sich auch hier einzumengen
und den politischen Neubildungen ein schleuniges Ende zu machen. Im Hin¬
blick ans diese Gefahr und Not erließ der demokratische Präsident Mvnroe um
2. Dezember 1823 seine siebente Jahresbotschaft an den Senat und das Re¬
präsentantenhaus der Vereinigten Staaten, worin er nach Erörterung innerer
Fragen der Angelegenheit ausführlich gedachte und die Stellung der nord-
amerikanischen Union zu ihr darlegte. Die betreffende Stelle seiner Ansprache
lautet in deutscher Übersetzung:
Bei Beginn der letzten Session wurde berichtet, daß man in Spanien und
Portugal große Anstrengungen mache, die Lage des Volkes dieser Länder zu ver¬
bessern, und daß man dabei mit außerordentlicher Mäßigung zu Werke zu gehen
scheine. Es bedarf kaum der Bemerkung, daß das Ergebnis bis jetzt sehr ver¬
schieden von dem gewesen ist, was damals erwartet wurde. Allezeit haben nur
den Ereignissen in der Gegend der Welt, mit der Nur so viel Verkehr Pflege», und
von der wir unsern Ursprung ableiten j Amerika als Ganzes ist natürlich gemeint,
nicht Spanien und Portugal, wie man ans der unmittelbaren Anknüpfung an das
Vorhergehende schließen lvuutej, als lebhaft teilnehmende und dabei interessirte Zu-
Schauer gegeniiber gestanden. Die Bürger der Vereinigten Staaten hegen die
freundschaftlichsten Gefühle zu Gunsten der Freiheit und Wohlfahrt ihrer Mit¬
menschen auf dieser Seite des Atlantische» Meeres. In den Kriegen der euro¬
päischen Mächte, in den Angelegenheiten, die sich nur auf sie selbst beziehen, haben
Nur niemals irgendwie Partei ergriffen, auch stimmt das nicht zu unserm politischen
Interesse. Lediglich wenn man sich Eingriffe in unsre Rechte erlaubt oder sie
ernstlich bedroht, fühlen wir uns beleidigt oder treffen Vorbereitungen, uns zu ver¬
teidigen. Mit den Bewegungen auf dieser Halbkugel stehen wir notwendigerweise
in unmittelbarer Verbindung, und zwar ans Ursachen, die allen erleuchteten und
»»Parteiischen Beobachtern in die Angen fallen müssen. Das politische System der
Verbündeten Mächte >der heiligen Allianzs ist in dieser Beziehung wesentlich von
dein Amerikas verschieden. Dieser Unterschied geht ans dem hervor, der in den
Regierungen der einen und der andern besteht. Und der Verteidigung unsers
Systems, das mit Verlust so vielen Blutes und Gutes errungen worden und durch
die Weisheit unsrer erleuchtetsten Bürger zur Reife gelangt ist, und unter dem nur
uus beispiellosen Glückes erfreut haben, weiht sich diese ganze Nation. Wir sind
es daher der Aufrichtigkeit und den freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen den
Vereinigten Staaten und jenen Mächten bestehen, schuldig, zu erklären, daß wir
jeden Versuch ihrerseits, ihr System auf irgend welchen Teil dieser Halbkugel aus¬
zudehnen, als Gefährdung unsers Friedens und unsrer Sicherheit betrachten würden.
In die Angelegenheiten der vorhandnen Kolonien oder sonst abhängigen Gebiete
einer europäischen Macht haben nur nicht eingegriffen und werden wir nicht ein¬
greifen. Aber in Bezug ans die Regierungen, die ihre Unabhängigkeit erklärt und
behauptet, und deren Unabhängigkeit wir nach reiflicher Überlegung und nach ge¬
rechten Grundsätzen anerkannt haben, konnten wir irgend welche Einmischung zu
ihrer Unterdrückung oder zur Beeinflussung ihrer Geschicke in irgend einer andern
Weise, die von irgend einer europäischen Macht ausginge, in keinem ander» Lichte
betrachten, als i» dem einer unfreundlichen Kundgebung gegen die Vereinigten
Staaten. In dem Kriege zwischen jenen neuen Regierungen und Spanien erklärten
'wir zu gleicher Zeit mit ihrer Anerkennung unsre Neutralität, und um dieser hielten
wir fest und werdeu wir weiter festhalten, vorausgesetzt, daß keine Veränderung
eintritt, die nach den Urteilen berufner Autoritäten unsrer Regierung eine ent¬
sprechende Veränderung auf Seiten der Vereinigten Staaten zur Folge hat, von
der sich im Interesse ihrer Sicherheit nicht absehen läßt.
Die letzten Ereignisse in Spanien »ut Portugal zeigen, daß Europa uoch
nicht geordnet ist. Für diese wichtige Thatsache läßt sich kein stärkerer Beweis
beibringen, als der, daß die Verbündeten Mächte es ans Grund eines ihnen ge¬
nügenden Prinzips sür Passend erachtet habe», gewaltsam in die innern Angelegen¬
heiten Spaniens einzugreifen. Bis zu welcher Ausdehnung diese Einmischung nach
demselben Prinzip getrieben werden darf, ist eine Frage, bei der alle unabhängigen
Mächte, deren Regierungen sich von den ihren unterscheiden Insofern die einen
republikanisch, die andern monarchisch si»d>, interessirt sind, selbst die entferntesten
und keine mehr als die Vereinigte» Staaten. Unsre Politik in Bezug auf Europa,
die in eine»! frühzeitigen Stadium der .Kriege migenommeu wurde, welche so lange
diesen Teil der Erde aufgeregt haben, bleibt demungeachtet dieselbe, d. h. die der
Nichteinmischung in die innern Verhältnisse irgend eiuer von seinen Mächte», die,
daß wir die Regierung alö luLlo als die rechtmäßige Regierung für uns betrachten,
daß wir durch eine offne, feste und mannhafte Politik freuudschnftliche Beziehungen
zu ihr Pflegen, wobei wir uns den gerechten Ansprüchen jeder Macht fügen, aber
Ungerechtigkeiten gegen uns von keiner dulden. Dagegen liegen die Notstände hin¬
sichtlich der Länder unsers Weltteils wesentlich und augenfällig anders. Es ist
unmöglich, daß die Verbündeten Mächte ihr politisches System auf irgend einen
Teil des einen oder des andern Kontinents jdes südlichen oder des nördlichen von
Amerikas ausdehnen, ohne unsern Frieden und unsre Wohlfahrt zu gefährden, auch
kann niemand glauben, daß unsre südlichen Brüder, sich selbst überlassen, es von
selbst annehmen würden. Es ist also gleich unmöglich, daß wir solche Einmischung
in irgeud welcher Gestalt gleichgiltig mit ansehen würden. Betrachten und ver¬
gleichen wir die Stärke und die Hilfsquelle» Spaniens und jener neuen Regierungen
und die Eutferuug derselben von einander, so liegt es auf der Hand, daß es sie
niemals unterwerfen kann. Doch bleibt es die wahre Politik der Vereinigte»
Staaten, die Parteien sich selbst zu überlassen, jedoch in der Hoffnung, daß andre
Mochte denselben Weg verfolgen.
Das ist die viel erwähnte Monroe-Doktrin in ihren Anfängen. Sie er¬
klärt die Gemeinsamkeit der Interessen der republikanischen Staaten Amerikas
gegenüber den europäischen Monarchie», dein System der heiligen Allianz, sie
verlangt, daß letztere die neuen Regierungen im Süden der westlichen Kontinente
sich selbst überlasse, wie die Negierung der Vereinigten Staaten sich jeder Ein¬
mischung in die innere Politik Europas enthalten habe und ferner zu enthalte»
gedenke, und sie droht, gegenüber jener Einmischung Europas oder vielmehr der
europäischen Mächte außer Spanien in die Verhältnisse der neuspanischen Re¬
publiken nicht gleichgiltig bleiben zu wollen.
Dabei ist man nun in Washington geblieben und auch nicht geblieben.
Die Negierung der Vereinigten Staaten hat es stets vermiede», sich in die
innern Fragen europäischer Länder zu mischen, was ihr freilich, auf gewalt¬
samen Wege versucht, nicht gelungen sein würde, es müßte de»» in Irland
unternommen worden sein. Sie hat sich auch diplomatischer Schritte in dieser
Richtung enthalten, obwohl ihr solche einmal von einer Bewegung in der
öffentlichen Meinung zugemutet wurden. Wir meinen die Zeit nach der Ein¬
mischung der Russen in die ungarischen Wirren und der Niederwerfung des
revolutionären Magyareustaates, wo Kossuth seine Rundreise durch die Union
unternahm (1851) und den Uankees unter dem Beifall eines guten Teils ihrer
Presse und vieler strebsamen Parteiführer über das Thema Intorvsntion lor
Non-inlörvLntion predigte, womit er selbstverständlich in den Kreise» der Ne¬
gierung kein Echo erweckte. Wohl aber hatte sich das Selbstgefühl der Nation
seit Monrves Zeit gehoben, und mit ihm hatte sich eine starke Begehrlichkeit
nach Einfluß auf die amerikanische» Nachbar» und selbst nach deren Landbesitz
entwickelt, die besonders im Süden, in den Staaten der Sklavenhalter, viele
Gemüter ergriffen hatte, da man hier das Gebiet zu erweitern wünschte, wo
Baumwollenban unfreie Arbeit zu erfordern schien und zu lohnen versprach,
weil sich dann neue Staaten der Union angliedern ließet«, deren Senatoren
und Volksvertreter das Gewicht der sklavenhalteuden und freihändlerisch ge¬
sinnten alten vermehrt Hütten. Monroes Gedanke war ans der Defensive in
die Offensive übergegangen. Er hatte nicht ohne Berechtigung Mexiko und
die südamerikanischen Republiken vor der europäischen Reaktion schütze» Wollen,
weil mit diesen der republikanische Bnndesstnat des Nordens für eine nahe
Zukunft bedroht wurde, also mit ihnen zu verteidige» war. Jetzt aber wurden
die „Brüder" im ehemalige» Nenspnnien von ihren Verwandten im Norden
selbst bedroht, und zunächst nahm erst die öffentliche Meinung, denn auch die
Negierung deu mexikanischen Nachbar aufs Korn. So war schon lange vor
1851 der Staat Texas von Mexiko losgerissen und der Union angefügt worden,
und so war 1847 der Eroberungskrieg ausgebrochen, worin die Generale Taylor
und Scott das Heer Mexikos besiegten und bis zur Hauptstadt vordrangen,
und dessen militärischer Erfolg das Gebiet Bruder Jo»alba»s bis a» das
Stille Meer erweiterte und ihm ungeheure Strecken wertvollen Landes ver¬
schaffte, aus denen sich seitdem eine ganze Reihe von Staaten zum Teil von
großer Bedeutung entwickelt hat. Der Appetit wüchse mit dein Essen, und
wenn die Regierung für die nächste Zeit gesättigt war, so gab es Parteien,
die ihre aggressive Politik fortsetzten. Ihre Absichten auf Kanada, deren Träger
vorzüglich das eiugewmiderte irische Element mit seinem Haß gegen England
war, hatten vorläufig nicht viel zu bedeuten und konnten uur später, in der Zeit des
Alabamahandels, ernsthafte Folgen haben. Bedenklicher aber waren die Flibustier¬
züge »ach C»ba, die eine Losreißung dieser Insel, des loro istar, von der
Krone Spanien, wozu die Partei der dortigen Unzufriednen die Hand bot,
zum Ziele hüllen, und noch gefährlicher die Banden von wildeu und dreisten
Abenteurern, die unter William Walkers Führung in Mittelnmerika den Staat
Niearngua eroberten und eine Zeit laug i» ihrer Gewalt behielte». Die Staats¬
behörden beteiligte» sich an diesen Versuchen, dein Baimer Arete Suns »cuc
Sterne hinzuzufügen, nicht; man hatte mit der Verdmmng der mexikanischen
Bente und dann mit dem große» Streit im Innern, der die Pflanzer und
Sklavenhalter des Südens mit ihren freihändlerischen und zentrifugalen Be¬
strebungen den schutzzölluerischeu Fabrikanten, Abolitionisten und Univussreuudeu
des Nordens gegenüberstellte, reichlich zu thun. Aber wenn mau in diesen
Kreisen die Begehrlichkeit, die die Erfolge gegen Mexiko nicht gestillt, sondern
verstärkt hatten, schweigen ließ, so konnte sie zu jeder gelegenem Zeit wieder
zu Thaten führen und die republikanische Großmacht, zu der die Vereinigten
Staaten allmählich geworden waren, weiter »»Schwelle», ihrem panamerikanische»
Endziele um weitere große Schritte sich nähern und schließlich auch der euro¬
päischen Staateilfamilie eine Gefahr werden lassen.
Da brach der große Bürgerkrieg zwischen den-Föderalisten und Uuivuisten
aus. Er schien sich zu einem Existeuzkriege für deu Bundesstaat gestalten zu
wollen, und eine Zeit lang konnte man die Sezession für stark genug ansehen,
sich dauernd zu erhalten. Jetzt war für Europa Gelegenheit gekommen, sich
der Gefahr, zu der sich die Union entwickelt hatte, zu entledigen. Ein rascher
Entschluß, ein Bündnis zwischen den Westmächten gegen den amerikanischen
Niesen wie kurz vorher gegen den russischen, kräftige Unterstützung der Sezessio-
nisten durch eine Armada mit Landungstruppen, und die Union wäre sür immer
zerfallen, und zwar nicht bloß in zwei, sondern über kurz oder lang mindestens
in vier Stücke: die atlantischen und Uankeestaaten, die des Mississippibeckens
bis an Dixons und Masons Line, die am Stillen Meere und die im Süden
dieser Grenze, die allesamt mehr oder minder verschiedne Interessen hatten und
eine Bevölkerung verschiednen Charakters zeigten.
Unfähigkeit, sich rasch zu einem großen Schritte zu entschließen, Über¬
schätzung der Schwierigkeiten, die ihn immerhin als ein gefährliches Wagnis
auffaßte, ließen es nicht zu rechter Zeit zur Intervention kommen, und inzwischen
begann sich die Wagschale des Krieges, in der die lmudesstaatlichen Interessen
und Bestrebungen lagen, schon sichtlich zu neigen, und damit erhob die Monroe-
Doktrin, positiv der Ausdruck des Kraftgefühls der Mnkees, wieder ihr Haupt.
In Mexiko war eingetreten, was Mvnroe in seiner oben angeführten Botschaft
für unmöglich gehalten hatte: man hatte sich im Erzherzog Maximilian einen
Kaiser gegeben, Napoleon der Dritte unterstützte ihn mit einem ansehnlichen
Heere, dem sich englische und spanische Truppen anschlössen. Aber die Ge¬
legenheit war nicht zu der einzig geeigneten Zeit und nicht nur rechten Orte,
d. h, nicht am Potomac oder sonstwo in den Vereinigten Staaten selbst, wahr¬
genommen worden, und so erwies sich die Expedition als eine Halbheit, die
über kurz oder laug mißglücken mußte. England und Spanien zogen sich sehr
bald vor dein nun drohenden <^no8 <ZKo aus Washington zurück, Napoleon
räumte etwas später, nicht ohne Schaden für sein Ansehen, aus gleicher Rück¬
sicht das Feld, und Kaiser Max, dessen Ehrgeiz das Sprichwort: Wer sich in
Gefahr begiebt, kommt darin um, außer Acht gelassen hatte, wurde hingerichtet,
mit demselben Rechte ungefähr, mit dem nun amerikanische Eindringlinge er¬
schossen oder gehenkt hätte, die irgendwo in einem europäischen Staate dem
Volke die Republik zu bringen gewagt hätten. Die Monrve-Doktrin war es,
wenigstens mittelbar, gewesen, die ihn auf deu Sandhaufen geschickt und seinen
dreiköpfigen europäischem Beistand heimgefegt hatte. Sie hatte sich als hin¬
reichend kräftig bewährt, es gab fortan für die nordische Republik keinen
monarchischen Nachbar mehr, an deu sich die Südstaaten, die bei lungern Be¬
stehen oder etwaigem Wiederaufleben der Sezession, dein Charakter der in ihnen
herrschenden Klasse folgend, wahrscheinlich selbst eine Monarchie geworden wären,
Hütten anlehnen tonnen, und nachdem man sich gewehrt und gesichert hatte,
konnte man wieder, wenn auch jetzt nur diplomatisch, die aggressive Seite der
Doktrin hervorkehren und bei Gelegenheit der Welt den Pannmerikanismus,
das Streben mindestens nach der Hegemonie der Vereinigten Staaten über Amerika
fühlen lassen und unter der Hand langsam die Einverleibung der übrigen
Republiken des Weltteils vorbereiten.
Diesem Zwecke soll nun offenbar auch der Kongreß dienen, den die nord-
amerikanische Regierung ans den 14. d. M. nach Washington bereisen hat.^)
Sein Programm sieht, wie schon bemerkt, auf den ersten Blick ziemlich harmlos
aus. Die Punkte, die es der Beratung unterbreitet, sind vorwiegend wirt¬
schaftlicher Natur: sie bestehen in der Einführung eines gemeinsamen Münz-,
Maß- und Gewichtssystems, einheitlicher Regelung des Patentwesens und des
Markenschutzes, einheitlicher Gesetzgebung in Bezug ans die Sicherheit der
Personen und des Eigentums und Bildung eines alle amerikanischen Staate»
von unabhängiger Stellung umschließenden Zollvereins und Herstellung regel¬
mäßiger und häusiger Dampferfahrten zwischen den Häfen der verschiednen
Länder; ferner Einsetzung eines obersten Schiedsgerichts zur Erledigung be¬
stehender nud etwa in Zukunft sich ergebender Meinungsverschiedenheiten wirt¬
schaftlicher Natur, endlich Vereinbarungen mit der Bestimmung, die gemein¬
schaftliche Abwehr von Einmischungen europäischer Mächte in amerikanische
Fragen und Verhältnisse zu erleichtern. Der Gedanke ist augenscheinlich von
Kreisen ausgegangen, als deren Mittelpunkt der Minister des Präsidenten für
das Auswärtige, Blaine, ein hitziger und nach Art seiner irischen Stammes-
genossen mit viel Phantasie begabter Kopf, zu betrachten ist, und wird wahr¬
scheinlich noch weniger gelingen als der in England verfolgte, die in Amerika,
Asien, Afrika und Australien gelegnen Kolonien in der Weise untereinander
und mit dem Mutterlande enger zu verbinden, daß sie mehr als seither ein
Reich bilden. Denn steht dem hier die große Verschiedenheit der Interessen
im Wege, so ist dies dort, wo es wesentlich verschiedne Nationalitäten und
festgegründete Staaten zu vereinigen gilt, noch weit mehr der Fall, und es
läßt sich nicht wohl darauf hinweisen, daß in den nordamerikanischen Staaten
ja bereits sehr verschiedne Nationen, Engländer, Jrländer, Deutsche, Franzosen (in
Lonisiann) und Spanier fest mit einander verbunden sind. Jedenfalls hat die
Ausführung des Planes der Partei Vlaines sehr große Hindernisse vor sich,
die nicht bloß für die Gegenwart bestehen. Amerika ist zunächst keine geo¬
graphische Einheit, es zerfällt in zwei Hälften, einen südlichen und einen
nördlichen .Kontinent, die mir durch eine verhältnismäßig schmale Brücke,
Zentralamerika, zusammenhängen, welche sich durchaus nicht zu einem Handels¬
wege eignet, sich auch nicht dazu machen läßt. Sodann sind die ethnographischen
Verhältnisse in der Südhälfte nach ihrer natürlichen Beschaffenheit wesentlich
anders als in der nördlichen. Hier beherrscht das englische Element fast
gänzlich die übrige Bevölkerung, hier sind weite Strecken bereits dicht bewohnt,
andre füllen sich rasch mit Menschen, und die indianischen Urstümme
sterben zusehends ans. Dort dagegen wohnen Spanier, in Brasilien Poren-
giesen, gemischt mit Indianern in großer Zahl, die sich teils noch im llr-
zustande befinden, teils, namentlich in Mexiko, seßhaft geworden sind und so
weit sich dem Kulturleben eingefügt haben, daß sie im Parteitreiben und im
Staatsdienste eine Rolle spielen, wie denn z. B. der Hauptführer bei der Be¬
kämpfung des Kaisers Maximilian, der spätere Präsident Juarez, von indianischen
Blute war. Der Süden ist endlich fast allenthalben nur an deu Küsten einiger¬
maßen dicht bewohnt, und ungeheure Strecken im Innern bestehen aus llr-
wälderu und menschenleeren Grasebnen, die nur an den großen Strömen und
auch hier nur wenig bekannt sind. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der hier
sich ausbreitenden Staateil, Verhältnisse, um die es sich bei dein Vlainescheu
Kongresse in erster Reihe handeln soll, drängen also keineswegs zu einem An¬
schluß an den Norden, der überdies diesen Anschluß selbstverständlich nicht der
schonen Augen wegen, die ihm an den Südamerikanern gefallen haben konnten,
anch nicht aus allgemeiner Menschenfreundlichkeit, sondern aus selbstsüchtigen
Gründen vorgeschlagen hat, die zunächst darin liegen, daß er als größtes und
stärkstes Mitglied der wirtschaftlichen Genossenschaft die Hauptrolle darin zu
spielen und sie nach Möglichkeit seinen Interessen dienstbar zu macheu hofft,
dann aber in der Absicht bestehen, den wirtschaftlichen Bund der transatlan-
tischen Republiken in Zukunft allmählich in einen politischen zu verwandeln
und in der Zwischenzeit ihn den europäischen Mächten und deren Interesse»
gegenüber zu stellen. Anlaß dazu würde sich z. B. in der Durchstechuug
Mittelamerikas und der damit herbeigeführten Annäherung Europas an die
zukunftsreiche Südsee ergeben.
Nicht sowohl in den etwa zu erwartenden Beschlüssen des jetzt der Er¬
öffnung entgegengehenden Kongresses liegt die Bedeutung und die Gefahr des¬
selben für uns, als darin, daß mit ihm der Grundgedanke verfolgt und viel¬
leicht gefördert werden wird, daß den Vereinigten Staaten vou rechtswegen
el>r ausschlaggebender Einfluß auf beide Hälften Amerikas, eine Art Hegemonie
zuvörderst in wirtschaftlichen, dann auch in politischen Fragen gebühre. Die
Südamerikaner haben eben sehr wenig Ursache, diesen Gedanken anzuerkennen
und ihm Opfer um Selbständigkeit zu bringen. Ihre natürlichen Interessen
weisen sie, wie aus einem Blicke ans ihre Handelsstatistiken erhellt, weit mehr
auf die europäische Aus- und Einfuhr als auf die nordamerikanische hin, und
uach dem. Segen, den ihnen die Union in politischer Hinsicht verheißen könnte,
werden sie schwerlich viel mehr Verlangen tragen als wir. Man hat in dem
Verhalten der Washingtoner Regierung zu dem Panamakanal und zu dem
Niearaguaprvjekt, desgleichen in der Aufdringlichkeit, mit der Hnrlbnt, der
Vertreter dieser Negierung, in dem Streite zwischen Peru und Chile den
Vermittler zu spielen versuchte, eine» genügenden Vorgeschmack von diesem Segen
gehabt. Wir täuschen uns hierin nicht. In der That habe,? mehrere südliche
Republiken ihrer Abneigung, der Einladung uach Washington zu folgen,
Ausdruck gegeben, und die, die kommen, werden schwerlich verfehlen, mehr oder
»linder entschieden zu erklären, daß sie die amerikanischen Ansprüche nicht als
durchaus selbstverständlich nud ohne reifliche und gründliche Prüfung annehmbar
betrachten können. In den meisten siidnmerikanischen Staaten fürchtet man
heutzutage viel weniger die Gegnerschaft europäischer Mächte als die nach dem
vermehrten und verbesserten Monroe gepredigte Begliicknngsthevrie des Bruders
Jonathan oben am Potomac. Besonders ist dies in Mexiko der Fall, wo man
zu erwarten hat, daß auf Grund eines zweideutigen Landkaufvertrags demnächst
an den Staat Unterkalifornien die Reihe kommen wird, von dem Nachbar, der
den Kongreß mit dein Schiedsgerichte vorgeschlagen hat, verschlungen zu werden.
Und in Bnnnos Ayres wird man sich seit 1856 wohl auch nicht anders be¬
sonnen haben, als wie es in der Antwort lag, die dieser Staat um der Spitze
einiger andern auf die Einladung erteilte, zur Vereinbarung des Kontinental¬
vertrags Bevollmächtigte nach Washington zu senden. Sie ging dahin, das
unabhängige Amerika brauche keine Furcht vor Europa zu haben, wohl aber
bedürfe es uoch für unabsehbare Zeit des Zuflusses europäischer Kapitalteil
und Arbeitskräfte geistiger und physischer Art.
ach dem deutschen Bnnkgesetze vom 14. März 1875 hat das der
Reichsbank und den Privatnotenbanken, die sich dein Bankgesetzc
unterworfen haben, erteilte Privileg zunächst ans weitere zehn
Jahre vom 1. Januar 18!)1 ab fortzubestehen, wem, es nicht
bis Ende Dezember 188!) für Ende 1800 gekündigt ist. In K 44
des Bankgesetzes ist den privilegirten Banken zugesichert, daß von Seiten des
Bundesrates eine Kündigung nur eintreten werde zum Zwecke weiterer ein¬
heitlicher Regelung des Notenbankwescns oder wenn eine Notenbank den An¬
ordnungen des Bankgesetzes zuwider gehandelt habe.
Das Herannahen des Kündiguugstcrmius hat begreiflicherweise manche
Meinungsäußerung Hervorgerufe», aber die Frage ist immer recht einseitig und,
wenigstens vor Erscheinen von nasses Aufsatz im Maihefte der Preußischen
Jahrbücher,^) nirgends mit tieferen Erfassen der wichtigen Entscheidungsgründe
behandelt worden. Die Gegner der jetzigen Einrichtung, die Befürworter einer
einzigen Reichsbank ohne Privatkapital, haben dieses System mehr aus einem
dunkeln Instinkt, als mit durchschlagenden Gründen empfohlen, wahrend die
Verfechter des jetzigen Zustandes, insbesondre die Vertreter der überwuchernden
Hvchfiuanz, ihn aus allen Tonarten preisen, Bücher und Gutachten aller Art
zu seinen Gunsten haben schreiben und dabei von seinen Gebrechen nicht ein
ein Sterbenswörtchen haben verlauten lassen.
Unter diesen Umständen ist es wohl angebracht, endlich einmal ganz be¬
stimmt zu begründen, weshalb unsrer Meinung nach der Bundesrat, wenn
er sein Recht wahren und seine Pflicht erfüllen will, ganz und gar nichts
andres thun kann, als die bestehenden Privilegien kundigen und vom 1. Januar
18ö1 ab die Reichsbank als reines Reichsinstitut ohne Privatkapital und ohne
die gefährliche Einmischung der Großfinanz in die Verwaltung einrichten.
Sehen wir uns zunächst um, aus welche» Gründen unsre Privatnoten¬
banken errichtet worden sind, so werden wir kaum irgendwo lediglich unanfecht¬
bare Gründe finden. Nur einige Banken geringern Geschäftsumfnnges und
hervorgegangen aus einem gewissen, der Anerkennung nicht unwerten Lokal¬
patriotismus mögen dabei eine Ausnahme machen. Aber selbst an Orten, wo
solche lokale oder kommunale Schöpfungen geplant und im Entstehen begriffen
waren, wurden diese Vorbereitungen von eigennützigen Gründungen der Gro߬
finanz erdrückt. .
Fast alle Privatnvtenbant'en wurden von den größern Bankhäusern Deutsch¬
lands gegründet, zunächst um an den von ihnen gezeichneten Aktien bald einen
sichern, recht netten Agivgewinn von der großen Menge einzuheimsen, sodann
aber auch, um sich auf viele Jahre hinaus fette Aufsichtsratsstellen zu sichern,
und hauptsächlich, um sich in den so gegründeten Banken willige Werkzeuge
eigner Finanzoperationen und bereiteste Diskonteure größter Wechselbeträge zu
niedrigsten Diskontosätzen zu sichern.
Einflußreiche Personen, die solche Privilegien vermittelte», hatte» bisweilen
auch ihre» Nutzen davon. Sie wurden von den Gründer» mit größer» oder
kleinern Trinkgeldern abgefunden, namentlich in der Form, daß für die Helfer,
ohne daß sie selbst Geld hergaben, angeblich erste Zeichnungen bewirkt und ihnen
»ach Eintritt der Kttrssteigernnge» die Agivgewinne unter dem Vorgebe»
ausgezahlt wurden, die von ihnen gezeichneten Aktien seien mit dem Kursge¬
winne verkauft. Das wurde so geschickt gemacht, daß der Beschenkte die Gabe
oft kaum als Geschenk erkannt haben »lag. Die privilegirten Staaten als
solche aber konnten sich rühmen, durch die Erteilung des Privilegs einen un¬
widerlegbaren Beweis ihrer Souveränität erbracht zu haben! Übrigens sind
unmittelbar vor Erlassung unsers Neichsbanknvtensperrgesetzes von 1870 Kon¬
zessionen in einer Weise verlängert und erweitert werden, daß sie, wenn nach
Erlassung des Gesetzes erteilt, vielleicht nicht dein Wortlaute, aber doch sicher
dem Geiste des Gesetzes widersprochen hätten.
Während die Preußische Bank mit ihrem straffen und unbestechlichen
BcamtenorgcmiSmus bei niedrigen Beamtengehalten die Vorsteher der Zweig¬
anstalten für die Sicherheit der einzelnen Geschäfte in strengster Weise verant¬
wortlich machte und doch dabei Kredit gewährte, wo entsprechende Kredit¬
würdigkeit vorhanden war, namentlich in kritischen Zeiten den Kreis der Kredit¬
nehmer nach Möglichkeit unterstützte und dadurch die Krisen abschwächte,
wurden die Direktoren der Privatnotenbanken mit hohen Gehalten und Gewinn¬
anteilen angestellt, ohne daß sie mit solchen für unentschuldbare Verluste hafteten,
wurde ferner von den meisten in kritischen Zeiten der Kredit dem Publikum
eingeschränkt,") um dagegen den Vettern und Freunden, der im Nnfsichtsrate
sitzenden Hochfinanz, noch mehr als sonst Kredit zu gewähren, sodaß diese Be¬
günstigten solche Zeiten nicht bloß mühe- und verlustlos überstehen, sondern
auch den Verlusten der übrigen Bevölkerung entsprechend Gewinne dabei ein¬
streichen konnten.
Diesen bevorzugten Geschäftsfreunden der Privatnvtenbanken wurden über¬
haupt von Zeit ihrer Gründung an durch die oben geschilderte Diskoutiruug
von Wechseln zu niedrigstem Zinsfuße, zu einem solchen, der oft mehrere Pro¬
zente unter dein offiziell, d. h. für das gemeine übrige Publikum gehandhabten
stand, nach und nach viele Millionen zugewendet, die nicht bloß der Dividende
der Aktionäre abgingen, sondern anch die begünstigten Kreditnehmer beim ganzen
geschäftlichen Wettbewerb in eine bevorzugte Stellung gegenüber allen andern
Mitbewerbern brachten. In der stärksten Weise ist dies vor dem Inkrafttreten
des Bnnkgesetzes vom 14. März 1875 geschehen.. Durch die Niedrigkeit des
ihnen berechneten Diskonts haben die Millionäre ihre Vermögen um fernere
Millionen vergrößert.^) Solche Ungerechtigkeit haben die Privatnotenbanken
in die Welt gesetzt und fast ununterbrochen gepflegt, anstatt nach dem von
selbst sich aufdrängenden obersten Grundsatze zu handeln: daß, wo auf Grund
des staatlich eingeräumten Nvtenprivilegs Kredit gewährt werden kann, dieser
allen Beteiligten gleichmäßig, zu gleichem Zinsfuße einzuräumen sei, daß über¬
haupt alle Einrichtungen der Notenbanken der ganzen ihre Thätigkeit und
Hilfe mit Recht beanspruchenden Bevölkerung gleichmäßig zur Verfügung zu
stellen seien.
Die Neichsbank hat, in den soliden Bahnen der Preußischen Bank sich
fortbewegend, solche Bevorzugungen für unthunlich erklärt und unsers Wissens
vor Jahren beim Bundesrate beantragt, daß er sie den Privntnotenbanken ver¬
biete. Der Bundesrat hat aber leider geglaubt, anßer stände zu sein, nach
dem gegenwärtig geltenden Bankgesetze den Privatnotenbanken solche Be¬
vorzugung ihrer Vettern und Freunde sowie der Großfinanz zu verbieten.
Dadurch ist die Reichsbank geradezu genötigt worden, in Zeiten großen Geld-
überflusfes Wechsel zu einem etwas niedrigern als dem offiziellen Zinsfuße
um offnen Markte anzukaufen, jedoch in einer Weise, daß die Bevorzugung
einzelner Kreditnehmer möglichst ausgeschlossen blieb.
Wir Deutschen sehen mit Verachtung und Entrüstung auf eine» großen
Nachbarstaat herab, wo das Unwesen der Frachtrückvergütnngen (Refaktien)
bei den Eisenbahnen eine trotz aller Gegenanstrengnngen unausrottbare Seite
der weit verbreiteten .Korruption bildet, zum Schade» der Eisenbahnen und
der meisten Verkäufer wie der meisten Abnehmer, namentlich der kleinen Ge¬
schäfttreibenden und zum alleinigen Nutzen der (durchweg aus einem auf¬
dringlichen fremdartigen Vevölkernngsteile hervorgehenden) Grvßspediteure.
Und doch ist das Geschäftsgebaren der Privatnotenbanken derart, daß unsre
geschmähten Nachbarn füglich das Sprichwort vom Splitter und vom Balken
anwenden könnten.
Aber anch in andrer Weise als durch die Ermäßigung des Zinsfußes
bestehen bei den Privatnotenbanken Einrichtungen, durch die die großen Finanz¬
männer, insbesondre die Bankiers, vor dem übrigen Publikum bevorzugt werden.
Die Neichsbank hat, um Handel und Verkehr zu unterstützen, den Giroverkehr
eingeführt und dadurch allerdings diesen Seiten des Geschüftslebens viel ge¬
nützt. Als Teil des Giroverkehrs kam später die völlig spesenfreie Einkassiruug
von Wechseln hinzu. Die Neichsbank besorgte ihren Girokunden am Platze
die Einkassirung ihrer Wechsel, indem sie die nicht eingegangenen innerhalb der
Protestfrist an den Auftraggeber zurückgab. Für diese Geschäftsbesvrgung
wurden zwar nicht unmittelbar Gebühren verlangt, aber der Mindestbetrag,
den der solche Aufträge erteilende Giroknnde jederzeit auf Girokonto unver¬
zinslich zu fordern haben muß, wurde nach dem Umfange dieses Wechsel¬
inka ssv mit bemessen. Natürlich war die Benutzung der Neichsbank als Kassen¬
diener nur fiir die Firmen vorteilhaft, die größere Mengen von Wechseln
gleichzeitig einzuziehen hatten. Dadurch wurde diese Einrichtung von selbst zu
einem Privilegiuni der Bankiers. Sie führte aber anch zu ungeahnten
unsolider Abmachungen der Bankiers unter einander und mit andern Geschäft¬
treibenden, Abmachungen, die entschieden keine Billigung finden können und
einen schlechten Gegensatz zum richtigen Diskontogeschäft bilden. In der Er¬
kenntnis solchen Mißbrauchs hat die Reichsbnnk ihm entgegengewirkt und des¬
halb diesen Geschäftsverkehr durch Belastung der aus Mangel um Zahlung
zurückzugebenden Wechsel mit einer kleinen Gebühr angemessen eingeschränkt,
Sobald die Reichsbank diesen richtigen Schritt gethan hatte, haben Privat-
nvtenbanken einen Giroverkehr eingeführt, bei dem sie die Bnnkierwechsel kosten¬
frei einkassirten, um die Bankiers als ihre bevorzugten Kunden weiter an sich
zu fesseln und den Grundsatz bevorzugender Behandlung gewisser Teile der
Geschäftswelt weiter auszubilden.*)
Man könnte vielleicht sagen, daß diese Mißstände nicht die Aufhebung der
Privatnotenbnnken zur Folge haben müßten, vielmehr zwar eine formelle
Kündigung des Bauknoteuvrivilegs, aber Fortdauer der Privntnotenbanken nach
Verschärfung des Bankgesetzes herbeiführe» sollten, d. h. eine Verschärfung etwa
des Inhalts, daß bei Verlust des Bankprivilegs 1) bei Wechseloiskvntirungen
und bei Lombardirnngen niemand uuter irgend einer Form ein niedrigerer oder
ein höherer als der öffentlich bekannt gegebne Zinsfuß berechnet werden darf;
2) daß keinerlei Einrichtungen getroffen werden dürfen, die ihrer Bestimmung
oder ihrer Natur nach eine Bevorzugung einzelner Kreise der Geschäftswelt
enthalten; und daß 3) (wie bei Post und Eisenbahn), unbeschadet der Bestimmung
eines Miudestsatzes, bei Geschäften, die im Interesse andrer besorgt werden, die
dafür zu berechnende Gebühr stets in gleichmäßig fortschreitendem Verhältnis
zur Höhe der in Frage kommenden Beträge stehen muß.
Diese Vorschriften scheinen uns übrigens so selbstverständliche, dein Noten-
Privileg entsprechende Beschränkungen zu enthalten, daß ein neues Bnnkgesetz sie
anch der Braunschweigischen Bank auferlegen konnte, obwohl sich diese dem
Bankgesetze nicht unterworfen hat.
Die Privatnotenbanken selbst, d. h. die Aktionäre, würden durch die Auf¬
hebung des Banknvtenprivilegs fast nirgends Schaden erleiden, denn die Rente
ist fast allenthalben seit Jahren sehr dürftig gewesen, und der Kurswert der
Aktien entspricht meist dem ^iqnidativnswerte. Deshalb könnte mau nicht sagen,
daß die Aktionäre unter dein ungehörigen Verhalten der von ihnen eingesetzten,
daher aber auch von ihnen zu vertretenden Verwaltungsorgane dann zu leiden
hätten, wenn ihnen wegen dieses Verhaltens das Privileg entzogen würde.
Nebenbei mag hier darauf hingewiesen werden, daß die Privatnotenbaukeu
vielfach Banknoten wieder ausgeben, die verschossen, beschmutzt und geflickt an
sie zurückgekommen waren, sodaß die bei Erlaß des Vankgesetzes gehegte Hoff¬
nung, eine Strafe ans solches Verhalten zu setzen, werde unnötig sein, sich als
zu optimistisch erwiesen hat.
Auch könnte der künstlichen Überflutung des Verkehrs mit Noten der
Privatnotenbanken dadurch etwas begegnet werden, daß ihnen aufgegeben würde,
mehr große, leichter um sie zurückfließende Stücke auszugeben, dies in der
Weise, daß bei Strafe nur eine gewisse geringe Quote ihrer jeweilig im Um¬
laufe befindlichen Noten aus Noten von je 100 Mark oder 200 Mark bestehen
dürfe, also eine gewisse größere Quote der umlaufenden Noten aus Stücken
über 1000 Mark (oder 500 Mary bestehen müsse.
Sprechen alle diese Umstände gegen das Fortbestehen der jetzigen Privat¬
notenbanken, so giebt es anderseits für das Bestehen eines einzigen Reichsinstituts
einige unanfechtbare Gründe.
Bei der hervorragenden Bedeutung des Verhaltens unsrer Notenbanken
für die Regelung des ganzen Geldumlaufs, insbesondre die Sicherung unsrer
Valuta (die Verhinderung zu starker Goldausfnhr), überhaupt für das Verhältnis
unsers vaterländischen Wirtschaftsgebietes zum Weltverkehr und unsrer Nation
als politisches Ganzes gegenüber dem Auslande durch Erhöhung des Zinsfußes
und andre geeignete Mittel muß die Macht zur Ergreifung aller solcher Ma߬
regeln in eine einzige kräftige Hand gelegt werdeu. Bisher hat die Neichsbank,
wenn sie aus solchen wichtigen Gründen den Zinsfuß erhöhte, die Privat¬
notenbanken ersucht, dies in gleicher Weise zu thun. Die Privatnotenbaukeu
haben das dann zwar anscheinend meist gethan; aber manche davon haben ins¬
geheim dein entgegengehandelt, ihren Günstlingen niedrigere Zinsen berechnet,
unbekümmert darum, ob sie dadurch die Goldausfnhr förderten oder sonst das
allgemeine Interesse schädigten. Es ist klar, daß dies unerträgliche Verhältnisse
sind, die umso gefährlicher werden würden, je mehr Staaten die Goldvaluta
einführten, eine Maßregel, die, wie es scheint, mehrseitig geplant wird.
Diese Erwägung führt zu dem Satze, daß ein Wirtschaftsgebiet wie das
deutsche Reich einen einzigen großen Geldbehälter haben muß, dessen Verwal¬
tung den Geldumlauf und damit die davon abhängigen Verhältnisse regelt,
daß also nicht daneben kleinere Nebenbehälter bestehen dürfen, deren Verwaltung
noch widerstreitenden Grundsätzen die wohlthätigen Folgen der richtigen Ver¬
waltung des Hanptbehälters aufhebt.
Ferner ist nicht zu übersehe», daß der dem einzelnen Kreditnehmer von
einer Notenbank auf Grund ihres Notenprivilegs einzuräumende Kredit eine
besondre Begünstigung ist, die ihre bestimmten Grenzen haben muß. Besteht
nun an einem Orte eine Privatnotenbank neben einer Reichsbankstelle, so kann
der dortige Geschäfttreibende bei jeder dieser Stellen einen Kredit genießen, im
ganzen also doppelt so viel, wie den ihm wirklich gebührenden Notenbankkredit.
Das ist eine unstatthafte Übertreibung des Kredits, die nur dadurch beseitigt
werden kann, daß das Nebeneinanderbestehen mehrerer Notenbanken für un-
thunlich erklärt wird. Denn ganz unausführbar erscheint eine Einrichtung,
die dahin ginge, daß, wer bei einer Notenbank Kredit nimmt, sich nicht auch
bei einer andern Notenbank Kredit geben lassen dürfe. Eine solche Einrichtung
wäre schon deshalb undurchführbar, weil bei Wechseldiskontirnngen nicht bloß
die Kreditwürdigkeit und die Höhe des Kredits des unmittelbaren Giranten,
sondern auch der Kredit der Vordermänner in Anschlag zu bringen ist.
Das Fortbestehen der Privatnotenbnnken wäre weiter, wenn es von den
Mittel- und Kleinstaaten angestrebt würde, eine bittere Ungerechtigkeit gegen
Preußen. Über die Notenprivilegien der Privatuotenbnnken hinaus, die früher
in deu 1866 erworbenen Provinzen bestanden, hat Preußen Notenprivilegien
fast gar nicht erteilt oder gelassen, gleichwohl aber hat es — abgesehen von
den Jahresbeträgen, die ihm von der Preußischen Bank schon zu gewähren
waren — seinen Anteil vom Ertrage der Reichsbank dein Reiche überlassen,
obwohl die Neichsbank in den andern Bundesstaaten, wo Privatnotenbanken
fortbestanden, nnr in sehr beschränkter Weise Geschäfte machen und Gewinne
verdienen konnte. Preußen teilt also den von der Neichsbank in Preußen er¬
zielten Ertrag mit den andern, namentlich den Mittelstaaten! Man darf daher
wohl erwarten, daß die letztern nicht länger durch das Fortbestehen der Privat-
nvtenbanken dieses Mißverhältnis werden aufrecht halten Wollen.
Zu allen diesen die Beseitigung der Privatnotenbanken verlangenden
Gründen treten aber nun folgende Erwägungen hinzu, die die Umwandlung
der jetzigen Reichsbank in ein reines Reichsinstitut fordern.
Das Recht, Noten auszugeben, ist zwar nicht ganz und gar, aber, da
Banknoten im Verkehr den Charakter als Geld gewonnen haben, in gewissem
Grade das Recht, Geld zu machen und in Umlauf zu setzen. Ein solches
Recht konnte vor 1866 ein deutscher Mittel- oder Kleinstaat an eine Privat¬
gesellschaft in irgend welchem Umfange abgeben; damals fehlte es an dem
Verständnis für den wahren Begriff der Souveränität, und das war bei deu
damaligen zerfnhruen Verhältnissen erklärlich, tuo der Begriff staatlicher Würde
vielfach verblaßt oder verloren war. Und 1875 mußte den Bniern (die zwar
1871 bei Verteilung der französischen Kriegsentschädigung einen sie sehr be¬
günstigenden Modus erlangten, indem nur zum Teil die militärische Leistung
als Maßstab der Verteilung angenommen wurde, und die sich der neuen
Spiritusbesteuerung, um das hohe Aufbringen des armen Nordostens mit zu
genießen, schleunigst angeschlossen haben, aber sonst mit größter Eifersucht jedes
Titelchen ihrer Reservatrechte, auch der unerträglichsten festhalten) noch eine be¬
sonders bevorzugte Privatnotenbnnk zugestanden werden, während gleichzeitig
Preußen seine Notenbank dem Allgemeinen zum Besten in der Neichsbank auf¬
gehen ließ! Wenn sich aber heute noch solcher Svndergeist breit machte, dann
müßte man mit Ingrimm und Scham sich von diesem Bilde wegwenden. Wir
erachten es deshalb auch hier für ganz unmöglich, daß heute noch ein Einzelstaat
für denkbar hielte, das Reich konnte seine Hoheitsrechte im Bankwesen mit
irgend einem Privatnvtenbänkchen oder einem Einzelstaate irgendwie teilen.
Aber wie das Reich das nicht kann, weil es seiner Würde widerspricht, so kaun
es aus diesem Grunde auch das Nvtenprivileg nicht weiter an eine unter
Reichsverwaltung stehende Anstalt abgeben, zu der das Privatpublikum das
Geld hergiebt, deren Inhaber also dieses Publikum ist und deren Geschäfte
von letzterm irgendwie beeinflußt werden können.
Solche Beeinflussung der Verwaltung der Neichsbank durch ihren Zen¬
tralausschuß und seine Deputirte oder wenigstens die Möglichkeit derartiger Beein¬
flussung und die Möglichkeit, daß die Kunden der Neichsbank, insbesondre
die Vertreter der Großfinanz, durch Einblick in die Geschäfte des Instituts
solche Beeinflussung in einer sie bevorzugenden Weise erfahren, läßt uns die
Fortdauer der jetzigen Neichsbank mit Privatkapital nicht erträglich erscheinen.
Die Leitung der Neichsbank ist nach allgemeiner Ansicht so vorzüglich, so gerecht
und gewissenhaft, so vorsichtig nud doch so entgegenkommend, so umsichtig, daß
es einer solchen bedenklichen Kontrole ebensowenig bedarf wie bei andern Staats¬
und Neichsämteru, z. B. der Post und Telegraphie und den Eisenbahnen.
Es würde genügen, wenn der Reichsbankverwaltnng ein ans verschiednen
Erwerbskreisen, nicht einseitig aus Mitgliedern der Grvßfinnnz, zusammen¬
gesetzter Beirat etwa nach Art der Eisenbahnräte beigegeben würde, der
aber nur fakultativ zu hören wäre und einzelne Kreditbewilliguugen nicht
beeinflussen dürfte. Der für Einhaltung der richtigen Grundsätze in der Bank¬
leitung erforderliche Überblick über alle geschäftlichen Verhältnisse der Nation —
namentlich betreffs der Diskvntobestimmung und der Regelung der Zahlungs¬
bilanz — würde der »bersten Bankleituug auch durch andre Informationen als
die von Zentralausschuß und seinen Deputirten ihr erteilten fortwährend
gewahrt werden können/")
Wenn wir die Offenbarung der Geschäftsgeheimnisse der Reichsbank, so
das Bekanntwerden der Absicht einer Diskonterhöhung als bedenklich hin¬
stellen, so wollen wir die Herren vom Zentralansschnße und seine Deputirten
keineswegs in einen ungerechten Verdacht bringen, als ob sie diese Kenntnis
mißbrauchten. Bekannt ist aber, daß unmittelbar vor der Beschießung von
DiKkontoerhöhnngen bei den Zweiganstalten der Reichsbank bedeutende Summen
zu niedrigem Zinsfuße diskontirt worden sind. Das geschah, wenn Dis¬
konterhöhungen erwartet wurden, und wenn die Finanzwelt durch Bekannt¬
werden des Umstandes, daß die Mitglieder des Zentralausschusses zu einer
Sitzung berufen seien, den Augenblick der Diskontoerhöhung vermuten konnten.
Wir streifen hiermit nnr eine einzelne Art des Mißbrauchs besondrer Geschäfts¬
kenntnisse und überlassen es denen, die mit den Verhältnissen vertraut sind,
sich andre Beispiele zusammenzustellen, wie auch ohne alle Mitwissenschnst der
berufenen Vertrauensmänner deren Stellung zu Mißbräuchen recht wohl führen
kann und wird.
Wenn das Reich die Reichsbank als reines Reichsinstitut einführte, würde
es das erforderliche Kapital zu 3^ Prozent Zinsen oder billiger leicht erhalten.
Das Reich würde also, abgesehen von den Zuweisungen zum Reservefonds
die Summe der Zinsen und Dividenden, die die!!'/« Prozent übersteigen, an Stelle
der jetzigen Bankanteilseigner beziehen. Das würde jährlich mehrere Millionen
Mark ausmachen. Ließe das Reich das Privileg der jetzigen Anteilseigner
weiter bestehen, so würde dieses Belassen ein jährliches Geschenk dieser Summe
an die Anteilseigner einschließen. Wir möchten bezweifeln, daß der Geld-
nberfluß des Reiches groß genug sei, um mit solchen Geschenken an die (meist
der Großfinanz angehörigen) Banknnteilseigner verschwenderisch umzugehen.
Durch Billigkeitsrücksichten ist das Reich umsoweniger gebunden, als das
Privileg der Neichsbank überhaupt nur bis Eude 1890 erteilt ist, und als das
Reich sowie die Einzelstnaten durch das allgemeine Sinken des Zinsfußes nahe¬
gelegte Zinsherabsetzungeu fortdauernd unbedenklich vornehmen, obwohl sie
namentlich den kleinern Kapitalisten in seinem oft kargen Einkommen sehr
beschneiden.
Bekannt ist, daß sich ein sehr großer Teil der Baukanteile im Besitze von
nichtdeutschen befindet. Solche Nichtdentsche können also, wenn sie den im
31 des Bankgesetzes gegebenen Vorschriften betreffs ihres Wohnsitzes ge¬
nügen, den Bankzentralausschnß bilden und sogar Deputirte werden. Daß
solche Möglichkeit mit der öffentlich-rechtlichen Natur der Neichsbank gänzlich
unvereinbar ist, obgleich sie sich auf privatkapitalistischer Grundlage aufbaut,
bedarf Wohl keiner besondern Begründung.
(Schluß folgt)
egen Schluß des Jahres 1887 wurden zwei Berichte in weitern
Kreisen bekannt, die der damalige preußische Justizmiu ihter am
31. Januar 1882 und am 27. Oktober 1887 über die preußische
Justizverwaltung an Seine Majestät den Kaiser und König er¬
stattet hatte. Sie ergaben einen höchst interessanten Überblick über
die Entwicklung der Rechtspflege nach der Organisation von 1879. Zugleich
gelangte ein königliches Handschreiben an die Öffentlichkeit, worin auf Grund
des zuletzt erstatteten Berichtes der König aussprach, daß er mit Freuden ge¬
sehen habe, wie die neue Justizvrgauisatiou sich im Volke einlebe und im großen
und ganzen sich bewähre. Damit erschienen alle damals angeregten Zweifel
über den Wert der neuen Einrichtungen und die darau geknüpften Reform-
bestrebungen vorerst als abgethan. Und vollends verlor man die Sache aus
dem Auge, als kurz darauf der Entwurf des deutscheu Zivilgesetzbuchs erschien
und die ganze Aufmerksamkeit der juristischen Kreise auf sich zog.
Inzwischen ist der hohe Urheber jenes belobenden Erlasses aus dem Leben
geschieden. Auch der Minister, der diesen Erlaß durch seine Darstellung erwirkt
hatte, ist nicht mehr im Dienste. Jene Vorgänge gehören also bereits der
Geschichte an, und wir werden die Ministerialberichte zum Gegenstand einer
unbefangnen Betrachtung machen dürfen.
Die Berichte beschränken sich natürlich auf die preußischen Verhältnisse.
Unsre daran geknüpfte Betrachtung wird aber für die meisten deutschen Länder
passen. Auch in den thatsächlichen Verhältnissen, insbesondre den Zahlenaugaben,
knüpft unsre Betrachtung an die Berichte und deren Zeit an. Seitdem, werden
manche geringe Veränderungen eingetreten sein. Für die Beurteilung des
Ganzen bleiben diese aber ohne Bedeutung.
Der Hauptcharakterzug der Justizorgauisation von 1879, wie sie uns i»
den erstattete» Berichten 'anschaulich vor Augen tritt, lag in dem Bestrebe»,
die Thätigkeit lind die Wirksamkeit des Richters so klein wie möglich zu mache».
Man beschränkte zunächst seine Thätigkeit durch Entziehung einer Anzahl von
Geschäften, für die man bisher wegen ihres engen Zusammenhanges mit der
Rechtsprechung den Richter als das naturgemäß berufene Organ betrachtet hatte.
Auf dein Gebiet der Strafrechtspflege wurde die Strafvollstreckung, die damit
in Verbindung stehende Berichterstattung in Begnadigungssachen, auch die
Gefänguisverwnltuug bei den Landgerichten den Gerichten entzogen und den
Staatsanwälten übertragen. Im Zivilprozeß wurde die Prvzeßlcitung und
die Vollziehnugsiustanz den Gerichten entzogen und für Sache der Parteien
erklärt, denen dafür der Gerichtsvollzieher zur Dienstleistung gestellt wurde.
Selbst der Gerichtsschreiber wurde ueben dein Richter für gewisse Geschäfte zu
einer selbständigen Behörde erhoben. Auch die Kostenverwaltung sollte nicht
mehr den Gerichten verbleiben; sie wurde den Finanzbehvrden übertragen. Der
Richter sollte, soweit möglich, nur noch ein Spruchcmtvmat fein, der, sobald
mau ein Plaidoher hineinwirft, sofort ein Urteil von sich giebt. Das nannte
man: den Richter der Reinheit seines Berufs wiedergeben.
Aber auch soweit man dem Richter seinen Beruf lassen mußte, suchte man
seine Wirksamkeit möglichst zu beschränken. Auf dem. Gebiete der Strafrechtspflege
wurde in allen laudgerichtlicheu Sachen die Berufung abgeschafft und dadurch die
Rechtsverteidiguug in den wichtigsten Fragen auf eine Instanz beschränkt. In
der Zivilrechtspslege erreichte man den gedachten Zweck durch vielfache Er¬
schwerungen des Rechtswegs. Es wurden möglichst große Gerichtsbezirke ge¬
macht und dadurch schon für viele Staatsangehörige das Angeben des Gerichtes
erschwert. Die dritte Instanz erhielt eine weit enger begrenzte Wirksamkeit.
Es wurde in großem Umfange der Anwaltszwang eingeführt. Dem Prozeß
wurden Einrichtungen gegeben, die die Rechtsuchenden mit weit größern Ge
fahren umgaben. Und noch ein weiteres Mittel hatte Justizminister Leonhardt
in dieser Richtung geplant, ein Mittel, das, wenn es zur Ausführung gekommen
wäre, der Justiz völlig zum Verderben gereicht hätte: auch in Zivilsache«
"sollte die Berufung abgeschafft werden. Dieser Plan gelang jedoch nicht. Er
scheiterte an dem gefunden Sinn und dem Wohlwollen der mittelstaatlichen
Minister. Dagegen kam noch nach Schluß der Organisation ein tiefcingreifendes
Mittel für die Erschwerung des Rechtsweges hinzu: die Belastung des Prozesses
mit übermäsugen Kosten.
Wir Wollen die eiuzelue» hier kurz angedeuteten Punkte »och etwas näher
erläutern.
Eine äußere Erschwerung der N'echtsverfolgnng in allen wichtigern Rechts¬
sachen wurde dadurch herbeigeführt, daß man an die Stelle von <i Stadtgerichten,
249 Kreisgerichten, 11 hannöverschen Obergerichtcu und 9 rheinischen Land¬
gerichten (zusammen 305 Gerichtsstellen) nur 91 Landgerichte, an die Stelle
von 27 Appellativusgerichteu nur 13 Oberlandesgcrichte setzte. Für viele Orte,
die bisher das anzugehende Gericht in nächster Nähe gehabt hatten, wurde es
hierdurch in weite Ferne gelegt.
In ganz Preußen, nur mit Ausnahme der Rheinprovinz und Hannovers,
konnten früher die Parteien ihre Prozesse bis zu den höchsten Wcrtsummen in
erster Instanz selbst betreiben, und sie machten in einfachen Sachen, z.B. Wechsel¬
sachen, auch vielfach von dieser Befugnis Gebrauch. Auch das in Bagatell¬
sachen zulässige Rechtsmittel des Rekurses konnte ohne Anwalt eingebracht
werden. Die neuen Gesetze ordneten an, daß in allen landgerichtlichen Sachen
(Sachen über 300 Mark Wert) jede Partei einen Anwalt haben müsse, auch
daß in Bagatellsachen, wenn eine Partei ein Rechtsmittel erheben wolle, dies
nur durch einen Anwalt geschehen könne. Die darin liegende Erschwerung der
RechtSverfvlgung liegt auf der Hand.
Für das Weitere müssen wir zunächst einen Blick auf den französischen
Prozeß werfen. Der französische Prozeß besteht darin, daß das Gericht in
seiner Amtstracht dasitzt, die Anwälte davor hintreten, die Sache mündlich
plädiren, und nnn das Gericht ebenso mündlich seinen Ausspruch giebt. Dieses
ganze Verfahren entspricht dem französischen Bedürfnis nach theatralischen
Schein. Es entspricht aber nicht dem Bedürfnis der Gerechtigkeit. Bei unsern
heutigen verwickelten Verhältnissen ist es in unzähligen Fällei? ganz unmöglich,
ans eine bloße mündliche Darstellung hin sicher und gerecht zu entscheiden.
Und doch ist dieses der Grundgedanke des Systems. Wohl aber gewährt dieses
System dem Juristeustaude bequeme Tage und reiches Einkommen, und des¬
halb wurde es von den Juristen der Länder, wo es bereits bestand, in den
Himmel erhoben. Die Interessen der Rechtsuchenden aber blieben dabei schmäh¬
lich hintangesetzt. Dieses System, nnn hat man sich in Deutschland zum
Muster genommen. War es doch überhaupt bei uns lange Zeit Mode, alles
was französisch war, zu bewundern. Wir wollen die dadurch eingetretenen
Änderungen in ihren Hauptzügen hier schildern.
Im dem frühern Prozeß bestand die Einrichtung, daß Klagen und andre
Anträge gleich eingangs vom Richter geprüft und, wenn er sie ungegründet
fand, zurückgewiesen wurden, ohne daß es zu weitern Verhandlungen kam.
Auch eingelegte Rechtsmittel mußten wenigstens auf die formelle Zulässigkeit
hin geprüft werden. Auf diese Weise wurden den Beteiligten unzählige Prozesse
erspart. Heute läuft jede Klage und jedes Rechtsmittel blindlings in den
Prozeß hinein. Der andre Teil wird geladen, und es wird nun zweiseitig
darüber verhandelt. Die Partei, die früher, wenn ihr Anspruch verfehlt war,
mit geringen Kosten wegkam, hat jetzt stets die Kosten eines ganzen Prozesses
zu tragen.
Friiher leitete der Richter den Prozeß. Er hatte zu prüfe», was von
Verhandlungen nötig sei, um die Sache in der mündlichen Schlußvcrhandlnug
zu einem gedeihlichen Ziele zu führen. Jetzt hat das Gericht mit der Prvzeß-
leitung nichts mehr zu thun. Der Vorsitzende des Gerichts bestimmt nur einen
Termin zur mündlichen Verhandlung. In diesem hat das Gericht zur Ver¬
handlung bereit zu sitzen und, wenn sie erfolgt, seinen Ausspruch abzugeben.
Sonst hat es sich um nichts zu kümmern. Alle Vorverhandlungen nehme»
die Anwälte auf eigne Hand vor. Der Gerichtsvollzieher ist ihr Mittelsmann.
Das ist natürlich für die Richter sehr bequem. Aber auch für die Anwälte
ist es sehr augenehm. Sie haben keine richterlichen Dekrctnren mehr zu ge
wärtigen. Der Richter kann ihnen keine Frist mehr setzen. Sie können Schriften
erstatten, so früh und so spät, so viel und so wenig sie wollen. Sie können
muh, wenn sie beide einig sind, den Verhandlungstermin nicht abhalten und
dos Gericht sitzen lassen. Sie sind vollkommen Herren des Prozesses. Für die
Parteien aber hat sich diese Einrichtung als nichts weniger als heilbringend er¬
wiesen. Es sind ihnen dadurch ganz neue Gefahren erwachsen. Alle Fehler, die der
Anwalt bei der Prvzeßleitnng macht, schneiden der Partei ins Fleisch und werden
ihr unter Umständen verderblich. So namentlich bei der wahrhaft verhängnis¬
vollen Zustellnngsfrage. Früher wurde die Frist eines Rechtsmittels dadurch
gewahrt, daß man die Schrift bei Gericht einreichte. Das war einfach und
sicher. Jetzt muß der betreibende Teil zur Wahrung der Frist seinen Schriftsatz
dem Gegner durch den Gerichtsvollzieher „zustellen" lassen; und dieses Zu-
stellungsweseu ist in so verzwickte Formen gebannt, daß alle Tage neue Streit¬
fragen darüber entstehen, und selbst der sorgfältigste Anwalt sich vor Fehlern
nicht hüten kann. Einen solchen Fehler aller büßt die Partei mit Verlust ihres
Prozesses. Wenn man dieses ganze System unbefangen in seiner Wirksamkeit
betrachtet, so könnte man glauben, daß die Schöpfer desselben voller Bosheit
ge'gen alle Rechtsuchenden gewesen und darauf ausgegangen seien, die Richter
zu kalten und gleichgiltigen Mensche» zu erziehen. Jedenfalls bilden die Ge¬
fahren, mit denen die Bestreitung des Rechtsweges heute umgeben ist, einen
wesentlichen Teil des Aöschrecknngsshstems, das man gegen die Nechts-
verfolgung errichtet hat.^)
Auch die dritte Instanz ist im Vergleich mit der frühern des preußischen
Rechtes verkümmert. An das preußische Obertribunal gingen zwei Rechtsmittel.
Das eine, das „Nichtigkeitsbeschlverde" hieß, war auf Rechtsfragen beschränkt,
konnte aber in allen bei den Appellativnsgerichten entschiednen Sachen (Sachen
über 50 Thlr.) erhoben werde». Das andre Rechtsmittel, das „Revision" hieß,
gestattete völlig freie Beurteilung, war aber an Verschiedenheit der Vor-
erkenntnisse und an eine Beschwerdensnmme voll mehr als 5)00 Thlr. gebunden.
Beim Reichsgericht ist dagegen nur ein der frühern Nichtigkeitsbeschwerde nach¬
gebildetes Rechtsmittel gegeben, das man sonderbarerweise „Revision" genannt
hat. Dieses ist aber an eine Beschwerdensummc von mehr als 1500 Mark
gebunden und überdies noch auf einen bestimmten Kreis von Rechtsfragen
beschränkt. Man sieht hieraus, daß die dritte Instanz im Vergleich mit der
des preußischen Rechtes eine sehr wesentliche Beschränkung erfahren hat. Aber
noch eine ganz andre Beschränkung hat sich in der Wirksamkeit der höchsten
Instanz nach dem neuen Verfahren ausgebildet. Sie besteht darin, daß das
Reichsgericht in den wenigsten Fällen, in denen es die Vorentscheidung mi߬
billigt, selbst die endliche Entscheidung giebt, vielmehr meistens die Sache um
die Vorinstanz zur weiter» Entscheidung zurückschickt. Jeder Sachkundige weiß,
daß dadurch nicht allein die Sache verschleppt, sondern auch durch die Gefahr,
daß die Vvrinstanz doch wieder aus andern Gründen ebenso wie früher ent¬
scheidet, der Wert der höchstinstanzlichen Entscheidung sehr problematisch wird.
Die Beschränkungen, denen man die Thätigkeit der Gerichte unterworfen hat,
haben uun allerdings dahin geführt, daß die Zahl der Richter sowohl als der
Gerichtsbeamten erheblich verringert werden konnte, worauf die Ministerial-
berichte mit Stolz hinweisen. Die Zahl der Richter erster Instanz war 1387
im Vergleich mit 1879 von 3817 auf Zetkin, also um 4,0)Z Prozent, die Zahl
der Richter zweiter Instanz von 43.'! auf 258, also sogar um 34 Prozent
heruntergegangen.")
Noch größere Ersparnisse glaubte man um den Gerichtsbeamten erzielen
zu können. Man verminderte gleich anfangs die Bureau-, lassen- und Nech-
nnngsbeamten von 6864 auf 4475,, die Kanzleibeamten von 729 auf 525, die
llnterbeamten (Gerichtsdiener und Gerichtsvollzieher) von 4761 auf 3973.
Aber diese Minderung hat sich nicht als nachhaltig erwiesen. Sie hing zu¬
sammen mit der bereits erwähnten Trennung der Gerichtskostenverlvaltnng von
den Gerichten. In-dem Bericht von 1882 wurde gesagt, dieses System habe
allerdings in der ersten Zeit Schwierigkeiten bereitet, mich Unzuträglichkeiten
zur Folge gehabt. Jetzt seien diese überwunden, und man dürfe hoffen, daß
die lieue Einrichtung sich allseitig bewähren werde. Der Bericht von 1887
dagegen meldet, eine tiefeinschneidende Änderung habe sich seit dem I.April 1885
durch die Wiedereinrichtung der Gerichtskassen vollzogen. Je länger die neue
Einrichtung !u Übung gewesen, desto unwiderleglicher habe sich gezeigt, daß
diese Neuerung eine von Hans ans verfehlte gewesen sei, und daß man, um
sie nicht zu einem fortwährenden Schaden werden zu lassen, sie notwendig
habe wieder aufgeben müssen. Man sei also zu der altpreußischen Einrichtung
zurückgekehrt. Das sei ein schwerer Schritt gewesen, der aber vollkommen ge¬
lungen sei.
Noch durch eine andre Einrichtung hatte man an Beamtenkräften sparen
zu können geglaubt. Bei den Gerichtsschreibereien sollten keine Hilssbcnmteu
mehr bestellt werden, sondern die Gerichtsschreiber sollten gegen Vergütung die
erforderlichen Hilfskräfte selbst stellen. Auch diese Einrichtung bewährte sich
nicht. Die Gerichtsschreiber nutzten sie zu ihrem Norden ans. Die Schreib¬
arbeit der Privatgehilfeu erwies sich als „ungenügend." lind schliesslich kam
auch nicht einmal eine Ersparnis für die Staatskasse dabei heraus. So meldet
der Bericht von 1887.
Die Rückgängigmachung dieser Neuerungen führte nun dahin, daß mau
auch das Gerichtsbeamtenpersvnnl wieder vermehren mußte. Die Bureau-,
Kassen- und Rechnungsbeamten wurden um 17U7, die Kanzleibeamten um 84,
die Gerichtsdiener um l!5>5, die Gerichtsvollzieher um 72 vermehrt. Allerdings
sind diese Bcamteuklassen auch jetzt noch der Zahl nach geringer als vor der
neuen Organisation.
Der sachliche Wert aller dieser Ersparnisse an Kräften läßt sich aber mir
bemessen, wenn man zugleich die Summe der Leistungen der Justiz in Betracht
zieht. Nun finden Nur, daß sich aus dem Gebiete der Zivilrechtspflege die
Prozesse ganz gewaltig verringert haben. Der Bericht von 1887 stellt ans
acht landrechtlichen Provinzen die Zahlen der anhängig gewordnen Prozesse
und Rechtsmittel zusammen. Darnach ergiebt sich, daß im Vergleich mit dem
?ladre 1878 die anhängig gewordnen Prozesse um 40 Prozent, die Zahlungs¬
befehle um Z7 Prozent, die eingelegten Rechtsmittel sogar um 51 Prozent
zurückgegangen find. Ließe sich annehmen, daß eine gleichmüßige Verminderung
der Prozesse in der ganzen Monarchie stattgefunden habe, so würden im Jahre
1880 etwa 525 800 Prozesse und .'ZU800 Rechtsmittel weniger in Preußen
anhängig geworden sein als im Jahre 1878.
Es ist nun von Interesse, zu berechnen, wie sich zu dieser Verminderung
der Prozesse die Verminderung des Aufwandes an Kräften verhält, die in der
verringerten Zahl der Richter und Gerichtsbeamten zum Ausdruck kommt.
Diese Berechnung vorzunehmen, ist nicht ganz leicht, weil bei allen Gerichten
neben der Zivilrechtspflege noch andre Geschäfte, namentlich die der Straf¬
rechtspflege, vorkommen. Auch sind in der Zuständigkeit der höhern nud
niedern Gerichte erhebliche Berändernngen gegen früher eingetreten. So na¬
mentlich sind die Oberlandesgerichte im Vergleich mit den frühern Appellatious-
gerichteu dadurch wesentlich entlastet, daß die Berufungen gegen die Urteile
der Amtsgerichte, desgleichen alle Beschwerden gegen Verfügungen der Amts-
gerichte jetzt an die Landgerichte gehen, während früher alle Rechtsmittel zweiter
Instanz in Altpreußen an die Appellationsgerichte gingen. Auch ist die
Thätigkeit der Oberlandesgerichte in Strafsachen weit geringer als die der
frühern Appellntionsgcrichte.
Es würde nicht passend sein, wollte ich den Lesern dieser Zeitschrift die
hiernach und mit Hilfe andrer statistischen Nachweise von mir vorgenommenen
Berechnungen (über die ich jedoch jederzeit Auskunft geben könnte) in ihren
Einzelheiten vorführen. Ich beschränke mich daher auf Mitteilung der letzten
Ergebnisse. Meiner Berechnung nach haben sich in erster Instanz die für
Zivilsachen verwendeten Richterkräfte um etwa 17 Prozent, die Zahl der
erledigten Sachen aber um etwa ^4 Prozent verringert, sodaß also die Vor¬
bau treu Kräfte nur etwa vier Fünftel des Frühern leisten. Noch weit größer
ist der Gegensatz in der Beschäftigung der Mitglieder der höhern Instanz.
Während bei den altpreußischen Appellationsgerichten, bei denen man
etwa ein Viertel der Mitglieder für Strafsachen rechnen konnte, die übrig¬
bleibenden drei Viertel (250) jährlich 52896 Appellationen und Rekurse zu
erledigen hatten, sodaß also ans das einzelne Mitglied an 212 Sachen fielen,
kommen auf die in Zivilsacheu beschäftigten Mitglieder der jetzigen Oberlandes-
gcrichte (bei denen man mir etwa ein Zehntel der Mitglieder für Strafsachen
rechne» kann) jährlich nur etwa 40 Sachen. Allerdings waren unter jenen
212 Sachen auch die Rekurse begriffen, die in großer Anzahl ohne weitere
Verhandlung und sehr summarisch erledigt wurden. Auch soll jener Über-
flntilng der höhern Instanz mit geringfügigen Sachen, wie sie bei den
Appellationsgerichten stattfand, keineswegs hier das Wort geredet werden.
Eine solche Anzahl Sachen jährlich zu erledigen, ist für das Mitglied eines
lodern Gerichtes offenbar zu viel. Übrigens hatte man dies mich schon früher
in Preußen erkannt. Bei der Gerichtsorganisation in den neuen Provinzen
(1867) waren Einrichtungen getroffen worden, wonach dort die Appellations¬
gerichte nicht in gleicher Weise überlastet waren. In diesen Provinzen ist auch
die Verminderung in der Zahl der Richter höherer Instanz nicht in gleichem
Maße eingetreten. Sie sind von 105 ans 80 herabgegangen.
Jedenfalls kaun man so viel sagen, daß die durch die neue Organisation
herbeigeführte Verminderung des Nichterpersonals bei weitem überboten wird
durch die Verminderung dessen, was das Nichterpersvnal leistet. Der in jener
Verminderung liegende Vorteil ist also nur scheinbar. Zugleich erklärt sich aber
daraus, weshalb das neue Verfahren viele Richter, namentlich auch bei den
höhern Gerichten, zu Lobrednern hat. Denn es ist durchaus menschlich, daß
man die Dinge darnach beurteilt, wie man sich persönlich bei ihnen befindet.
Wir versuchen nicht eine ähnliche Berechnung auch bezüglich der Gerichts-
becuuteu aufzustellen, da hierfür jedes Material fehlt. Jedenfalls aber würde
man sich täuschen, wen» man aus der Verminderung der Kanzleibeamten den
Schluß zöge, daß heute an Schreibwerk etwas erspart werde. Es ist allge¬
mein anerkannt, daß trotz der .Mündlichkeit" im heutigen Prozeß weit mehr
geschrieben wird als früher. Nur werden die Schreibereien nicht mehr bei
den Gerichten, sondern bei den Anwülteu angefertigt, wo die Parteien sie derer
bezahlen müssen. Die Gerichtsakten aber füllen sich vorzugsweise durch die
unzähligen ebenso widerwärtigen als nutzlosen Urkunden der Gerichtsvollzieher.
Ein Formelkram ohne gleichen.
Das Mißverhältnis zwischen den vorhandnen Kräften und den Leistungen
der Justiz ist aber beim Nichterstande noch gering in Vergleich mit dem Mis-
verhältnis, das sich beim Nnwaltsstande ausgebildet hat. Während die Prozesse
sich wesentlich vermindert haben, ist die Zahl der Anwälte gewaltig in die
Hohe gegangen. Wie wir in den Berichten lesen, gab es im Jahre 1879 in
Preußen 1900 Anwälte. Bereits am 1. November 1881 waren sie bis
ans 1'.»86 gewachsen. Gleichwohl drückt der Bericht von 1882 noch die
Hoffnung aus, daß die Freigebung der Anwaltschaft — seit der Organisation
von 1879 darf jeder Geprüfte Anwalt werden, wo er will — kein übermäßiges
Anwachsen der Anwälte zur Folge haben werde. Diese Hoffnung hat sich als
trügerisch erwiesen. Nach dein neuen Bericht hat sich die Zahl der Anwälte
bis zu Anfang des Jahres 1887 auf 267'», also gegen das Jahr 187!) um
41 Prozent vermehrt. Nun hat ja, wie schon oben bemerkt wurde, die neue
Gesetzgebung die Anwaltsthätigkeit dadurch außerordentlich begünstigt und ver¬
mehrt, daß in allen Sachen über 300 Mark Anwaltszwang eingetreten ist
und daß auch in den geringfügigsten Sachen die Berufung nur durch Anwälte
erhoben werde» kann; ferner daß es keine Zurückweisung ohne Verhandlung
mehr giebt, sondern in jeder Sache, die anhängig gemacht wird, stets zwei An¬
wälte thätig sein müssen. Aber diese ganze Vermehrung der Anwaltsthätigkeit
reicht doch nicht ans, um das Mißverhältnis des Anwachsens der Anwälte
auf der einen und der Verminderung der Prozesse ans der andern Seite ver¬
schwinden zu lassen. Nehmen wir an, daß etwa ein Sechstel der Anwalts¬
thätigkeit ans Strafsachen kommt; so ist mir von Anwälten glaubhaft gesagt
werden. Dann waren zur Bewältigung der Zivilsachen früher 1584 Anwälte
ausreichend. Darnach würden für die um 40 Prozent verminderten Prozesse nach
dem frühern Verfahren !>5>0 Anwälte ausgereicht haben. Statt dessen sind
wenn man auch jetzt von deu vvrhandue» Anwülteu ein Sechstel für
Strafsachen abzieht — 2233 vorhanden. Es ergiebt sich also ein Überschuß
von Anwaltskräften gegen früher von 135> Prozent. Allerdings ist dieser
Überschuß nicht überall gleichmäßig verteilt. Er macht sich vorzugsweise in
den größer» Städten geltend, wogegen es bei den Amtsgerichten an den
kleinern Orten oft an Anwälten fehlt. Wir werden dnrch die Berichte belehrt,
daß die Justizverwaltung bemüht ist, die Seßhaftmachuiig vo» Anwälten an
den Anitsgerichtssitze» dadurch zu befördern, daß sie den dort wohnenden An¬
wälten früher das Notariat verleiht. Das ist gewiß dankbar anzuerkennen.
Aber die Thatsache bleibt doch bestehen, daß es an den kleinen Orten an An¬
wälten mangelt, die größer» dagegen überfüllt sind/') Alle diese Anwälte
verlangen nun von dem Publikum unterhalten zu werden. Vvllbeschäftigte
Anwälte haben bei den hohen Gebühren, die auch dnrch Übereinkommen mit
der Partei noch erhöht werden können, ein sehr reichliches Einkommen. Glaub¬
haft aber ist es, daß es auch Anwälte genug giebt, die wegen unzureichender
Beschäftigung nur ein müßiges Einkommen beziehen.
Diese ganze Betrachtung ergiebt, daß nach der neuen Gerichtsorganisation
die Justiz gegen früher mit einem große» Übermaß von Kräften arbeitet. Es
könnte sich das nur etwa rechtfertigen, wenn die Rechtsprechung selbst dadurch
wesentlich besser geworden wäre. Ans die Frage, ob dies der Fall sei, werden
wir später zurückkommen.
Ein wesentliches Glied der neuen Organisation bildet auch der Gerichts¬
vollzieher. In der Neichsjnstizkvniniissivn bestand seinerzeit zwar wenig Zu¬
neigung für diese Einrichtung, zumal nach den schlimmen Erfahrungen, die
man noch kurz vorher damit in Baiern gemacht hatte. Aber die Entwürfe
waren nun einmal darauf zugeschnitten, und so mußte sie, wie vieles andre,
angenommen werden. Die Zahl der Gerichtsvollzieher in Preußen betrug nach
dem ältern Berichte 1739, nach dem neuern 1811. In dein Berichte von 1882
war gesagt, die Gerichtsvollzieher seien mancherlei Versuchungen aufgehest.
namentlich der Versuchung der Untreue, da ihnen bei ihrer Amtsthätigkeit
vielfach Wertsachen und Geldsummen anvertraut werde» müßte». Bisher
hätten sie diesen Versuchen „nicht ausnahmslos" widerstanden. Doch lasse
sich Besserung hoffen. „In keiner Weise nötigen die bisherigen Erfahrungen
zu dem Zweifel, ob es überhaupt gelingen werde, in diesen Beamten den Geist
strenger Zucht und Rechtschaffenheit zu allgemeiner Geltung zu bringen." Der
Bericht von 1887 erachtet diese ausgesprochen Hoffnung für wesentlich erfüllt;
„wenngleich die Zahl solcher Gerichtsvollzieher, welche sich im Amte Ver¬
fehlungen haben zu Schulden kommen lassen, immerhin noch keine ganz geringe
gewesen ist." Es siud in den Jahren 1886 und 1887 (von den Vorjahren
verlautet nichts) 45 Gerichtsvollzieher in Disziplinaruntersuchllug gezogen, auch
17 vor die Strafgerichte gestellt und verurteilt wurde». Auch hier »ueber
wird der „starken Versuchung," welcher die Gerichtsvollzieher unterliegen, eut-
schnldigelid gedacht. Jedoch unirden ihnen mehr und mehr lobende Zeugnisse
von den (Gerichtsbehörden ausgestellt. Die gleichwohl bestehende „Ungunst der
Institution" habe ihren Hauptgrund in den hohen Gebühren, namentlich den
hohen Reisekosten, die die Gerichtsvollzieher bezogen. Könnte man hierin eine
Erleichterung verschaffen, so würden die Klagen bald verstummen. Eine ander-
weite Regelung stoße aber auf die Schwierigkeit, daß bei eiuer Herabsetzung
der Gebühre» und Reisekosten der Staat die Gerichtsvollzieher entschädigen
müsse. Beliebt würden freilich die Gerichtsvollzieher niemals werden, da sie
zu unliebsame Geschäfte hätten.
Zur Ergänzung dieser Betrachtung dient die Darstellung der Einkommens¬
verhältnisse der Gerichtsvollzieher, wie sie sich in deu Berichten findet. Der
Staat hat ihnen el» Mindesteinkomme» von 1800 Mark gewährleistet. Die
Zahl derer, denen hiernach zugelegt werden muß, beträgt aber nur 345.
Die übrigen beziehen schon an Gebühre» mehr als 1800 Mark und zwar durch
alle Stufe» hinauf bis zu 1«>000 Mark, drei sogar el» Einkommen noch darüber
hinaus. Der Bericht erachtet diese Einkommen für angemessen, weil sie dem
Stande intelligente Kräfte zuführten und den Diensteifer anspornten. So wohl¬
wollend nun auch diese Bemerkung für die Gerichtsvollzieher ist, so verkennt
doch auch der Bericht nicht, daß die Einrichtung von Hans ans eine bedenk¬
liche gewesen sei lind daß sie auch bis jetzt nicht viele Freunde, wohl aber
zahlreiche Gegner sich erworben habe. Ja man glaubt zwischen den Zeilen zu
lesen, daß auch der Herr Justizminister nicht viel Freude darau habe. Was
zunächst die häufige» Bergehuugeu, namentlich die Veruntreuungen der Gerichts¬
vollzieher betrifft, so mögen ja die Versuchungen, denen sie fortwährend aus¬
gesetzt sj>^ subjektiv ihnen zu einiger Entschuldigung gereichen. Objektiv
können sie aber doch mit der Einrichtung nicht versöhnen. Denn der Vor-
wurf, soweit er dadurch vou der Person der Gerichtsvollzieher abgelenkt wird,
richtet sich nun gegen das Gesetz, das Leuten von niederem Bildungsgrade
eine Selbständigkeit verliehen hat, die sie ständig in Versuchung führt. Daß
ein Beamter, der berufen ist, dem Schuldner (der doch nicht immer ein
böswilliger, sondern oft mir ein armer Mensch ist) sein Gut abznpfänden, stets
einer gewissen Unbeliebtheit unterliegen wird, mag wahr sein. Aber es ist
doch noch ein Unterschied, ob ein solcher Beamter im Auftrag des Richters
erscheint und selbst bei der Sache ohne Interesse ist, oder ob ein Beamter sich
einfindet, der „im Auftrag der Partei" handelt und ans dem traurigen Ge¬
schäft der Abpfändnng ein gewinnreiches Gewerbe macht. Wenn dann ein
solcher Beamter in seinem durch den Erwerbstrieb gesteigerten Diensteifer die
Menschen vielleicht noch mehr als nötig, wie man im Volksmnnde sagt,
„klemmt," und dabei noch Gebühren für sich vorweg nimmt in einer Höhe,
die ihm gestattet, weit über die natürlichen Grenzen seines Standes hinaus zu
leben, so kränkt das die Meuscheu bis aufs Blut. Deal wenn wir um auf
das Einkommen der Gerichtsvollzieher einen Blick werfen, so finden wir, daß
nnr etwa ein Drittel derselben — ö!!8 — nicht ganz das geringste richter¬
liche Einkommen (2400 Mark) bezieht, daß dagegen die übrigen zwei Drittel
sich eines Einkommens erfreuen, das durch alle Stufen hindurch mit dem der
Richter Schritt hält und in der höchsten Stufe sogar den Gehalt eines Ober¬
landesgerichtspräsidenten (l0(X>0 Mary noch übersteigt. Daß es wirklich el»
Bedürfnis sei, Menschen von dieser Bildungsklasse mit einem solchen Ein¬
kommen auszustatten, läßt sich doch bezweifeln. Wohl mochten die Unter-
beamten, die früher unter Gerichtsanfsicht die nämlichen Geschäfte zu besorgen
hatten, mitunter zu kärglich besoldet sein, und wenn Veruntreuungen bei
ihnen vorkamen, so konnte ma» Wohl annehmen, daß die Not sie dazu getrieben
habe. Die öftern gleichen Vergehen der Gerichtsvollzieher beweisen aber, daß
Menschen von niedriger Bildungsstufe auch dadurch, daß man sie in Wohl¬
leben stellt, nicht immer vor Schlechtem bewahrt werden. Jedenfalls gehören
die Gerichtsvollzieher — wie anch noch jüngst ein im Reichstag erstatteter
Kvmmissionsbericht aussprach - zu den am wenigsten bewährten Errungen-
schaften des Jahres 187!).
(Schluss folgt)
em Besucher der Marienburg bietet sich jetzt ein merkwürdiges
Bild. In dein südlichen Teile, dem „Hvchschlvß," herrscht ein
^ebeu und Treiben, als sollte die Burg noch einmal von Grund
ans nen gebaut werden. Die vernnstaltenden Umbauten, mit denen
eine spätere Zeit sich an diesem herrlichsten gothischen Profanbau
so arg versündigt hat, werden abgebrochen und überall die ursprünglichen Formen
wieder hergestellt. Noch treten beim Abbrüche der später zugefügten Mauern
die alten, erhabenen Spitzbogen vielfach deutlich hervor. Im Innern, namentlich
in der Schloßkirche, tauchen die alten Freskomalereien, freilich bis zur Un-
kenntlichkeit verwischt, ans der Kalktünche, mit der sie späterer Unverstand über¬
kleidet hat, langsam wieder hervor, an andern Stellen prangen bereits die Farben
in alter Frische. Kurz, die Marienburg gleicht jetzt den: Dornröschen, das
nach jahrhundertelangem Schlaf in Jugendschöuheit wieder erwacht.
Welche Wandlungen haben diese Mauerwerke durchlebt, und »>le bezeichnend
sind ihre Schicksale für den Geist der Jahrhunderte, die hier an dem sinnenden
Beschauer vorüberziehen! Es war zunächst eine Burg, für einen Komthur und
zwölf Ritter bestimmt, die der Landmeister Konrad von Thierberg 1274 hier
an der Nogat zur Beherrschung der wichtigen Wasserstraße anlegte. Das
heutige „Hochschloß," das alle ander» Teile der gewaltigen Burg an Höhe
überragt, ist dieses alte Kvmthnrschlvß. Als dann Siegfried von Fenchtwangen
den Hochmeistersitz des deutscheu Ordens UiO!) von Venedig nach Marienburg
verlegte, genügten die alten Räume nicht mehr, und es wurde nach Norden
zu das „Mittelschloß" angebaut. Beide Hälften sind dnrch einen trocknen Graben
von einander geschieden. Das „Hvchschloß" bildet ein regelmäßiges Rechteck,
das einen Hof von 32 Meter Länge und 27 Meter Breite umschließt. Das
„Mittelschloß" lehnt sich als ein langgestrecktes Viereck an, von dem aber nur
drei Seiten bebaut sind, während der trockne Graben die vierte Seite darstellt.
Im westlichen Flügel des „Mittelschlosses" befinde» sich die für deu Hoch¬
meister bestimmten Prachträume: „Meisters großer nud kleiner Reuter, der
obere Gang, Meisters Stube. Meisters Gemach. Meisters Schlaf- und Hinter-
tammer, Meisters Hansknpelle." Die Krone der ganzen Burg ist „Meisters
großer Reuter." worin er vornehme Personen empfing. Ein einziger Granit-
Pfeiler trägt das wundervolle Sterngewölbe, zehn Fenster geben ihm von drei
Seiten her Licht, seine Hohe ist neun Meter, Länge und Breite vierzehn Meter.
Der Pfeiler mit den Gewölbrippen erscheint wie eine versteinerte Palme, alle
Schwere ist hier wie aufgehoben, man glaubt sich der Erde entrückt. Eine
Perle ist auch der an die Hauskapelle sich anschließende „Kvnventsremler."
^-r ruht auf drei mächtige» in der Mitte stehenden, gleich weit von einander
entfernten Pfeilern, vierzehn Fenster erhellen ihn, seine Maße sind gewaltig:
dreißig Meter beträgt die Länge, sechzehn Meter die Breite, nenn Meter die
Höhe. Hier speisten die Ritter und erholten sich von ihrer Beschäftigung.
Die beiden andern Flügel des „Mittelschlosses" waren für den Großkomthur,
für erkrankte Ritter und Fremde bestimmt. Im „Hochschlvsse" wohnte» die
Ritter, nicht wie Mönche in Einzelzellen, sondern in gemeinsame» hochgewölbten
Räume». Im Nordflügel, nach dein Mittelschlvsse zu. befand sich der „Kapitel¬
saal," wo die Gebietiger des ganzen Ordeuslandes zu gemeinsamen Beratungen,
insbesondre zur Hvchmeisterwnhl, znsanunenkamen. und dicht daneben die Kirche
mit ihre», reichgeschmückten Eingänge, der „goldnen Pforte" und dem riesige»
Marie»bilde n» der Außenseite, das als Wahrzeiche» der Burg weit in die
Lande leuchtete, linker der Kirche lag die Se. Auueukapelle mit der Hoch-
meistergrnft. Um das „Hvchschloß" lief nach dem Hofe zu ein prachtvoller
Kreuzgang, zwei Stockwerke hoch, von dein mau in die einzelnen Räume ge¬
langte, um das „Mittel-" und „Hvchschloß" herum zog sich eine Menge von
Brüten, die der Verteidigung, der Aufbewahrung der Lebensmittel und Ge-
schösse, der Unterbringung des Gesindes u. dergl. dienten und mit Türme» und
Gräben N'ohl vero'ahrt waren; diese nannte man die „Vorburg." Alles war
in Ziegelrohban mit Zinueutürmchen, verzierten Giebelfeldern ausgeführt, im
Innern vielfach mit Ornamenten ans gebranntem und gemeißelten Thon ge¬
schmückt. Sogar eine Fußbodenheizung für kalte Tage fehlte nicht. Eine ge¬
nauere Beschreibung dieser erhabenen Räume würde über den Rahmen dieser
Skizze hinnusgeheu, wir verweisen den ^eher ans ein Büchlein, das jüngst von
sachkundiger Seite veröffentlicht worden ist und eine eingehende Beschreibung
enthält: Marienburg, das Hanpthans des deutschen Ordens. Bon Karl
starck (Danzig, Kafemauu, 188!»). Der christlich-deutsche Sinn, der die
Ritter in ihren guten Tagen beseelte, hatte sich hier im Berein mit hoher
Kultur einen monumentalen Ausdruck geschaffen. Man begreift, welcher Segen
von einem solchen Orden in das heidnische Preußenland ausgehe» mußte, uoch
lange galt namentlich die Regierung des Hochmeisters Winrich von Kuiprvde
(1351 — 1382) als ein goldnes Zeitalter für Preußen.
Doch die Zucht des Ordens verfiel allmählich, die herannahende neue Zeit
strebte nach andern Formen, trotzig erhoben die Städte ihr Haupt, und immer
drohender wurde der alte Erbfeind deutscher Kultur: die Slawen. Schon nach
der unglücklichen Schlacht von Tannenberg 1410 wurde die Marienburg von
dem Polenherzog Jagellv hart belagert, und nnr der Tapferkeit des KvmthnrS
Heinrich von Planen war es zu danken, daß die Burg und mit ihr der Orden
gerettet wurde. Noch zeigt man in „Meisters großem Reuter" über dem
Kamin eine Kugel. Ein Verräter hatte in der belagerten Burg Jagellv ver¬
sprochen, er wolle eine rote Mütze zum Fenster des Reuters Hinanshängen,
wenn Heinrich von Planen sich mit den andern Gebietigern darin aufhalte.
Dann solle man nach der Mütze zielen und würde den einzigen Pfeiler treffe»,
anf dem der Saat ruhe, und der „Reuter" würde über den Verteidigern der
Burg zusammenbrechen. Wirklich wurde die Kugel abgeschossen, sie ging aber
fehl und schlug in die Wand ein. Jagellv, dessen Heer von Krankheiten und
Ungeziefer aufgezehrt wurde, mußte abziehe». Aber schon 1451 entbrannte
ein neuer Krieg mit Polen, >457 fiel die Marienburg in die Hand des Erb¬
feindes. Von 1457 bis 1772 mußte das Haupthaus des Ordens erfahren, was
„polnische Wirtschaft" bedeute.
Ein polnischer Starost richtete sich jetzt mit seinem slawischen (befolge nach
Herzenslust in der Marienburg ein. Auf der „Bvrburg" siedelte sich allerlei
Gesindel, „Schotten" genannt, an und erwarb gegen Abgaben von den polnischen
Herren die Erlaubnis, hier ihre Krnmbnden aufzuschlagen, sodaß die Burg in
eine ganz unwürdige Umgebung kam. Zwischen der Kirche und dem „Mittel-
schlosz" erbauten die Jesuiten ein Kollegium lind nahmen zugleich von der
Kirche und der Se. Annenkapelle Besitz. Um einen Zugang zur Stadt zu
gewinnen, wurde zeitweilig jedermann der Durchgang durch die Kapelle gestattet,
»ut wo die Gebeine der Hochmeister ruhte», wollte sich jetzt der Strom des
gewöhnlichen Verkehrs, An den Winkel, den „Meisters Hauskapelle" mit dem
„Konventsremter" bildet, flickte ein Slarvst einen plumpen Ruban. „Meisters
popelte" wurde in einen Hausflur verwandelt nud ein neuer Aufgang dazu
vom Hofe ans geschaffen. „Meisters (Gemach" und „Meisters kleiner Reuter"
schienen den neuen Bewohnern zu hoch und wurden durch Balkenlage» und
Fachwerkwäude in zwei Stockwerke »»d mehrere niedrige Zimmer geteilt, im
„Gemach" gar die Gewölbe eingeschlagen. Das „Hochschloß" aber erlitt 1644
dnrch Brand eine große Beschädigung, Ein Büchsenmeister wollte am Frvhn-
leichnamsfeste wie gewöhnlich Böllerschüsse von den Zinnen abfeuern, war aber
betrunken und hatte in seinem Zustande die brennende Lunte ans dein Boden
gelassen. So brannte das ganze Dach ab, und sechzig Jahre blieb das Hvchschlvß
ohne Dach, bis August der Starke bei einem Besuche auf der Burg notdürftig
ein solches herstellen ließ. Bezeichnend für die polnische Wirtschaft war auch
dieser königliche Besuch. Während sein Reich von äußern und innern Feinden
zerwühlt war, vergnügte sich August mit seiner Geliebten, der schönen Gräfin
Cosel, drei Monate lang im Jahre 1710 an der Stätte, wo einst die ernsten
Hochmeister gewaltet hatten. Ein Gillet war es, daß „Meisters großer Reuter"
und der „Kvnveutsremter," sowie der nördliche und östliche Flügel des „Mittel-
schlvsses" während dieser Zeit im großen und gauzeu unangetastet geblieben
waren.
Endlich kam für Westpreußen der Tag der Erlösung, bei der ersten polnischen
Teilung fiel auch Marienburg an Friedrich II, von Preußen. Schon am
September 1772 war der „Kvnventsremter" Zeuge der Huldigung, die die
westpreußische,, Landstände den Vertretern des großen Königs darbrachten.
Aber für die Burg war die Zeit der Erlösung aus ihrer Verwünschung noch
>naht gekommen. Auch Friedrich der Große war besangen in den Vorurteilen
seiner Zeit. Nur das Nützliche hatte in der Zopfzeit Geltung, und was nicht
Nutzen schaffte, wurde von den Aufklärern in die Rumpelkammer geworfen.
So wurde es mit des Ordens Haupthause unter preußischer Herrschaft schlimmer
als unter der polnischen Wirtschaft.
In dem „Hvchschlosse" wurde ein Regiment Soldaten einquartiert, der
„Kvnventsremter" in ein Exerzirhans umgewandelt. Doch dies war noch nichts
gegen den Greuel der Verwüstung, der 17L5 an dieser geschichtlich geweihten
Stätte anhob. Jetzt ging man .Meisters großem Reuter" zu Leibe, it», die
herrliche Säule herum wurden Balken gezogen und so der lichte Raum in
zwei Stockwerke zerlegt, aus jedem Stockwerke vier Zimmer gebildet, die Kalk-
steinplntteu an der Scheukbank und den Fenstern abgerissen und zu Kalk ver¬
braucht. Weberfamilien wurden hier vom Staate angesiedelt, und wo einst
die Schwerter der Ritter auf dem. Fußboden geklirrt hatten, klappten nun
Webstuhle. Auch die übrigem Teile der Hochmeisterwvhuuug wurden deu
Webern eingerülliilt. Doch das Unternehmen hatte keinen Fortgang, mehrere
der Weber liefen fort, und so bestimmte man drei Stuben in dem „großen
Reuter" zu einer Armenschule und eine zur Spilinstnbe. Im Jahre 1801
aber erreichte der Wandalismus seinen Gipfelpunkt. Die Besatzung Mnrien-
burgs wurde damals verringert, die zurückbleibende Mannschaft in der Stadt
untergebracht, warum sollte man die gewaltigen Räume der Marieulmrg nutzlos
liegen lassen? So verfiel man ans den Gedanken, die Burg z>l einem Magazin
für Getreide, Mehl und Salz umzugestalten. Alle im Hoch- und Mittelschlvsse
übrig gebliebner Gewölbe wurden jetzt erbarmungslos zerschlagen und in
niedrige Schüttböden umgewandelt. Ja der Oberbaurat Gillh ging mit dem
Plane um, die ganze Burg abzubrechen und aus den Ziegeln ein neues
Magazin zu bauen, einem Plane, der mir an den Kosten scheiterte. Noch heute
liest man über dem im Südflügel des Hvchschlvsses nach der Stadt zu durch¬
brochenen Eingange die denkwürdigen Worte: „Königliches Getreidemagazin."
Kann es ein bezeichnenderes Merkmal für die Zopfzeit geben?
Doch schon schlug die Stunde, in der ein neuer Geist sich Bah» brach.
Max von Schenkendorf war der erste, der in der damals viel gelesenen Zeit¬
schrift „Der Freimütige" 1803 auf das Schimpfliche der Zerstörung der
Mnrienburg hinwies. Dieser Aufsatz öffnete dem Minister von Schroeter und
auch dein Könige die Angen, schon 1804 erschien eine Knbinetsordre, die der
weitern Zerstörung der Burg Einhalt gebot und sogar für ihre Erhaltung
Sorge zu tragen befahl. Die Stürme der folgenden Unglücksjahre hinderten
freilich die Ausführung des königlichen Befehls. 180« bis 1808 hausten die
Franzosen im Schlosse, wobei sie das „Hvchschlvfz" als Kriegsinagazin, das
„Mittelschlvß" vornehmlich als Lazarett) benutzten.
Nach den Befreiungskriege!? aber wurde die Wiederherstellung der Burg
ein Ziel aller „deutsch" Gesinnten. Mit fast überschwünglicher Begeisterung
ging mau an die Arbeit. Oberpräsident von Schon war der erste, der die
Anregung gab. Der König sollte die Erhaltung des Ganzen übernehmen, das
Volk die einzelnen Teile herstellen. Den Weg der Subskription lehnte Schön
ub, jeder, der etwas beitragen wollte, sollte einen bestimmten Teil, einen
Pfeiler, ein Fenster, ein Gemach übernehmen. Die Prinzen des königlichen
Hanfes gingen voran und übernahmen die Herstellung von „Meisters großem
Reuter" lind den Zimmern über dem Schlosse. Adelsfamilien, Städte, Kreise,
die evangelische und die katholische Geistlichkeit Preußens, Logen, Bereine, Ghin-
nasien n. s. w. folgten mit Begeisterung. Der Marienbnrger Prediger Dr. Häbler,
der in der Burg noch am besten Bescheid wußte, half den Ballmeistern die
alten Formen wieder entdecken, Geheimrat Hnrtmann übernahm die Bauleitung,
dem seit 1819 Bauinspektvr Gersdorff zur Seite stand. Lnndrat Hüllmann,
Bürgermeister Hüllmann, Professor Johannes Voigt leisteten wesentliche Dienste.
So erhob sich allmählich die Hvchmeisterwohnnng und der' „Kvnventsremter"
wie die Anßemnnueril des „Mittelschlvsses" in altem Glänze. Schon 1822, als
alles noch im Werden war, besuchte der damalige Kronprinz, der spätere König
Friedrich Wilhelm IV. den Ban und hielt in „Meisters großem Reuter" ein
Festmahl, wobei er den Trinkspruch ausbrachte: „Alles Gute und Würdige
erstehe wie dieser Bau."
Doch uoch blieb das „Hochschloß," sowie zwei Flügel des „Mittclschlosse^"
unverändert, die Begeisterung der Befreiungskriege verrauchte allmählich unter
den folgenden Zeitverhältnissen. Erst unsrer Zeit ist es vorbehalten geblieben,
die Wiederherstellung zu vollenden. Auf Veranlassung der preußischen Regierung
wird seit 1881 an dem „Hochschlosse" gearbeitet. Staatsmittel sind zur Ver¬
fügung gestellt, Lotterien sorgen für weitere Mittel, ein Verein zur Herstellung
und Ausschmückung der Marienburg hat sich gebildet. Unter Bauinspektor
Steiubrechts Leitung schreiten die Arbeiten sicher fort. Schon sind die Außen¬
wände des „Hvchschlvsses" mit ihren Zinnen und Türmen fertig, der Kreuz-
gang im Nordflügel vollendet, der „Kapitelsaal," die Schloßkirche, der Schlvß-
turm der Vollendung nahe. In etwa fünf Jahren hofft Steinbrecht mit der
Arbeit fertig zu sein. So stehe denn bald dieser Bau da als ein Denkmal
von des wicdererstanduen deutschen Reiches Herrlichkeit an seiner Ostmark!
er neuste Roman Ossip Schulung) hat sehr viele Schwächen,
aber auch bemerkenswerte Vorzüge. Da er im ganzen daS Werk
eines ungewöhnlichen Talentes ist, so wollen wir uns bemühen,
ihn mit möglichster Sachlichkeit zu beurteilen. Dabei wollen Nur
von vornherein von unserm persönlichen Mißbehagen, das uns
'^ship Schubin durch ihre internationale Gesellschaft und durch ihr mit Fremd¬
wörtern nud französischen, englischen, italienischen Wendungen gespieltes Deutsch
verursacht, ganz absehen; sie hat übrigens diesmal ihrer Fremdwörtersucht Zügel
angelegt. Wir wolle» uns ans den Boden Ossip Schnbins selbst stellen und
die Thatsache ihrer internationalen Phantasie, ihres von dein Dunst und Duft
^ europäischen Großstädte geschwängerten Realismus ergeben hinnehmen.
„Boris Lensky" gehört zu der seit langer Zeit fast verschollenen Gattung
von Küustlerromaneu, und zwar ist es die tragische Lebensgeschichte eines
Geigenvirtuosen, die uns hier nicht ganz ohne typische Geltung vorgetragen
wird. Den Charakter dieses Helden hat Ossip Schubin mit großer Kraft,
tiefer psychologischer Wahrheit nud poetisch überzeugender Folgerichtigkeit ent¬
wickelt und dargestellt.
Boris Lensky ist eine ursprüngliche Natur in zwiefacher Beziehung. Einmal
ist er ein genialer Künstler, mit leidenschaftlichen: Temperament, mit stets ge¬
spannten Nerven, unfähig, Herr seiner selbst zu werden, jähzornig, explodirend,
und doch wieder gütig in tiefster Seele, von unendlicher Innigkeit des Gefühls,
von grenzenlosem Bedürfnis zu lieben, zu schenken, andre glücklich zu machen,
von bezaubernder Zärtlichkeit und Liebenswürdigkeit in der Hingebung, schöpferisch
in seiner Kunst, musikalisch bis in die letzte Faser seines Nervensystems, ein
richtiges musikalisches Genie, wie mau ihm uur je in der Wirklichkeit begegnen
kann. Zugleich ist er aber auch ein Russe, und zwar ein ganz ursprünglicher
Russe, aus der Tiefe des Volkes durch einen glücklichen Zufall herausgehoben,
armer Leute Kind, also in der Jugend nicht erzogen, ungeznhmt und nngebändigt
in allen seinen Trieben, als Russe schwach im Charakter, als Russe gutmütig,
nicht aus sittlicher Bildung. Daher Künstler und Barbar in einer Person,
ganz und gar unausgeglichen in seinein sprunghafter Wesen. Er hat den
Zauber seiner Persönlichkeit vielfach unglücklich ausgeübt. Die Menschen, hin¬
gerissen von seiner Teufelsgeige, haben ihm jeden kecken Streich verziehen,
zumal die Weiber, junge und alte, gesunde und hysterische, gebildete und un¬
gebildete, hoch und niedriggebvrne haben ihn verwöhnt und ihm alles gestattet.
Er führt das Nomadenleben der Virtuosen, nud wie Don Juan kann er Register
über die zahllosen Herzen führen, die er gebrochen hat. Mit der freigebigsten
Hand streut er überallhin Gold aus, wo man es nur von ihm wünscht. Ein
Phantasiemensch, erträgt er mich uicht die geringste Vorstellung fremden Leides.
Allem uur Phantasie- und Gefühlsmensch, ist er kein wirklicher Philanthrop,
er kau» uicht im fremden Dienste thätig sein, er, der ja nicht einmal seiner
selbst Herr ist, sondern vou seinem Dämon besessen wird; darum trägt sein
Wohlthun keine Zinsen, es wirbt ihm keine Freunde, denn die kann man mir
mit der Hingebung seiner Persönlichkeit fesseln. Ja ganz im Gegenteil, er
bleibt, trotz aller Offenherzigkeit, trotz der niemals verhehlten Gefühle doch
stets ein wirklich einsamer Mensch, nud uur vereinzelt trifft er in seinem langen
Leben aufrichtige Liebe. Er führt ein Doppelleben. Sein Virtuosentum kann
ihn trotz der Lvrberen und endlosen Goldströme schließlich nicht befriedigen.
Er ist tiefer angelegt, und diese tiefern geistigen Bedürfnisse macheu sich mit
zunehmendem Alter um so stärker geltend. Einstweilen, zur Zeit, dn nur ihn
in Paris ans der Sonnenhöhe seiner Laufbahn kennen lernen, betäubt er sich
allabendlich in wenig snlonmäsngeu Orgien mit dem Troß seiner männlichen
»ut weiblichen Verehrer, die sehr häufig auch seine Schmarotzer sind. Zu
verschiednen Tageszeiten ist er ein andrer Mensch: vormittags der geniale
Gefühlsmensch, abends nach dem Konzert der russische Barbar. Aber er will
nun damit ein Ende machen, es ist ihm selbst dieses Dasein zuwider, er will
nur noch einen Streifzug durch Europa machen, sein Vermögen zu ergänzen
und sich dann seinen mit rührender Zärtlichkeit geliebten Kindern Nikolaj und
Mahada (Marie) widmen.
Und damit beginnt die Romanhandlung, deren poetischer Mittelpunkt zwar
der Geiger, ist, deren Helden aber seine Kinder sind. Diese Handlung dient
mich wieder nur dazu/das Schicksal des Virtuosen zu veranschaulichen, die
Folgen seiner ganzen menschlichen Existenz, seiner Natur und seiner Handlungen,
deren Erben seine Kinder werden. Eine große Schwäche des Romanes ist es
aber, daß die eigentliche Romnnhandlung, so umsichtig sie auch motivirt, mit
so viel glänzendem Beiwerk sie auch künstlerisch verhüllt ist, im Grunde roh
n»d widerwärtig ist. Hier zeigt sich die sonst vielfach ihre eignen Wege
wandelnde Erzählerin beeinflußt vom naturalistischen Zeitgeschmack.
Nievlaj und Mahada erleben beide ihren Roman. Nievlaj, der bei der
russischen Gesandtschaft in Paris beschäftigt ist, hat von seinein Vater Boris
nicht viel geerbt, weder die musikalische Begabung noch das wilde Temperament.
Er ist seiner Mutter nachgeraten, einer Iran von fürstlichem Geblüt, er
»lacht den Eindruck des richtigen aristokratischen Diplomaten und unterscheidet
sich dadurch wesentlich von seinem künstlerisch ungebundenen Vater. Nievlaj
verliebt sich in ein sehr bedeutendes, übrigens schon reiferes Mädchen, in die
Österreicherin Nita von Sankjewitsch, die sich in Paris zur Vollendung ihrer
Malerstndieu aufhält. Diese schöne, charaktervolle, willensstarke, kluge Nita
ist der Mittelpunkt für das Leuskysche Geschwisterpaar. Sie verkehren alle
sehr freundschaftlich mit Nita, die stets einen Hauch von Schwermut zur Schau
trägt; als endlich Nievlaj seine lange, stumme Werbung aufgiebt und ihr seine
Liebe erklärt, da entsetzt sich Nita vor Nievlaj Lensky, und in seltsamer Weise
jagt sie ihn schaudernd von sich. Warum? Weil er seinem Vater so ähnlich
sieht, und weil Nita an Boris Lensly eine Erfahrung gemacht hat, die sie für
ihr ganzes späteres Leben pessimistisch gestimmt hat. Als junges Mädchen hat
Nita für den Teufelsgciger, wie ihn die Reklame nennt, geschwärmt. Sie
lernte ihn auch persönlich kennen. Der weit ältere Virtuose verliebte sich in
sie und bei einer zufällig sich darbietenden Gelegenheit versuchte er, ihr Gewalt
anzuthun. Nur ihr Geschrei rettete sie vor seiner Leidenschaft. Und nun ist
es sein eigner Sohn, der n»i sie wirbt, er sieht gerade so ans in der Auf¬
regung wie Boris, und sie kaiin den Abscheu nicht überwinden. Der alte
Künstler muß nur seinem in diesen Dingen hoch über ihm stehenden Sohne
die fchivere Sünde beichten, infolge dessen sich Nieolaj für immer von seinem
Vater trennt. Er laßt sich nach Washington versetzen, um ihn zu meiden.
Nita kommt erst spät dazu, dem schwer unter seinem Schuldbewußtsein leidenden
Boris zu verzeihe»; inzwischen häuft sie glühende Kohlen auf sein Haupt, in¬
dem sie sich Mahadas annimmt.
Mahada, ein prächtiges Mädchen, von entzückender Unschuld und Naivität,
von großer Schönheit, hat von ihrem Vater mehr, als für sie gut ist, geerbt,
außer seinem musikalischen Genie auch noch das verzehrende Feuer der Leiden¬
schaft, der mau nicht widerstehen kann. Ihre völlige Unkenntnis der Welt und
dieses heiße Herz stürzen sie ins Unglück. Sie verliebt sich in den österreichischen
Grafen Bärenburg, eiuen charakterlosen, wenn auch gutmütigen Schwächling,
der sie wohl verführen, aber nicht heiraten kann. Nach seinem Verbrechen ver¬
tauscht er feigerweise Paris mit London und verlobt sich mit einer ebeubttrtigeu
Engländerin. Das Unglück Mahadas ist grenzenlos, sie stürzt sich ins Wasser,
wird gerettet, und Nita bringt es durch ihre tapfern Bemühungen dahin, daß
Graf Bärenburg die von ihm verführte bürgerliche Mahada doch heiratet, freilich
»in bald eine freudlose Ehe mit ihr zu führen, da er dnrch diese unebenbürtige
Ehe zunächst seine Familie gegen sich aufgebracht und feine diplomatische Stellung
verloren hat.
Diese furchtbaren Erlebnisse an und mit seine» Kindern haben Boris
Lenskys gewaltige Lebenskraft und Lust erschüttert. Er ist nicht der alte
Skeptiker mehr, er ist frömmer geworden, die Jugenderinnerungen werden
lebendig in ihm, er will sich im heiligen Rußland ein Nest bauen, er ist auch
setzt leidenschaftlich national gesinnt, die Aristokraten haßt er mehr als je, und
schwer wird der Streit zwischen ihm und dein gräflichen Schwiegersohn ver¬
mieden. Boris ist sogar Mystiker geworden. In seiner tiefen Unbefriedigung
vom Dasein glaubt er an Geister, insbesondre daß seine nie verschmerzte früh
gestorbene Gattin Natalie ans dem Jenseits sich öfter ihm nähere, um ihn zu
lenken, zu warnen; eine himmlische Musik pflegt ihm ihr Erscheinen zu ver¬
künden. Dieses Alter des Virtuosen hat Ossip Schubin wieder mit großem
Geschick geschildert, sie erspart ihrem Helden uicht den letzten Tropfen ans dein
bittern Kelche des Daseins. Da es Mahada bei Bärenburgs leichtsinnigem
Lebenswandel schlecht geht, ist Boris Lensky rasch entschlossen, wieder eine
Konzertreise dnrch Europa zu machen, um mit seiner Zaubergeige Gold zu
schaffen. Aber die paar Jahre seiner Zurückgezogenheit von der Öffentlichkeit
haben genügt, ihn zu einem Halbverschollenen zu macheu; andre Virtuose»
sind aufgetreten und haben das Publikum für sich begeistert. Lensky ist alt,
sein Rücken ist schon merklich gerundet, sein Bogen ist nicht mehr sicher, die
Begeisterung sehlt auch angesichts halbgefüllter Säle. Boris muß die furchtbare
Erfahrung machen, daß man seinen Ruhm überleben kann. In Rom, wo
man ihn in einer Zeitung angegriffen hat, stirbt er nach einem bezaubernden
Schwanengesang im Konzertsaal selbst. Beim letzten Bogenstrich trifft ihn
ein Herzschlag.
Man ficht, der Grundton dieses Romans ist so schwermütig, so pessimistisch
wie fast in allen ihren andern Erzählungen. Sie hat in Dingen der allge¬
meinen Weltanschauung abgeschlossen mit dein skeptischen Urteil: diese Welt
ist ungereimt und unverständlich. Ihre Vortragsweise ist auch erfüllt von
dieser Schwermut. Was sie vor vielen Erzählern auszeichnet, ist der lyrische
Hauch, der ans ihrer Prosa liegt, es ist alles durchempfunden und gefühlt,
was sie schreibt. Sie ist von Hans ans eine musikalische Natur, darum legt
sie so viel Gewicht auf die reiche Stimmung der Erzählung, und man kann
sich dem Reiz ihrer schwermütigen Tonart nicht entziehen. Dazu kommt die
große Sorgfalt, die Ossip Schubin als richtiger Realist aus die Schilderung
der äußern Umgebung ihrer Menschen verwendet. Der Roman führt uus nach
Paris, London, Venedig, Rom; die Bilder dieser Städte atmen alle Lokal-
stimmnng. Mit Nita wird uus ein interessanter Menschenkreis geöffnet, der
der Malerinnen in Paris, junger weiblicher Wesen, die meist ihren eigentlichen
Beruf — zu heiraten verfehlt haben und es darum mit der Kunst versuchen.
Das Maleratelier mit seinein Humor gehört zu den schönsten Teilen des Romans.
Nicht minder glänzend sind die Kapitel, die den Veifterungstaumel schildern,
den Lenskhs Geige hervorruft. So lebhaft wie Ossip Schubin Gemälde schildert,
so lebhaft kann sie von Musikstücken und -Wirkungen berichten. Auch die
Spannweite ihrer Charakteristik muß hervorgehoben werden: eine durch und
dnrch reflektirte Natur wie Boris steht rede» der unverdorbenen Unschuld
Mahadas, und wir müssen an beide Charaktere glauben. Mehrere Episoden-
figureu sind köstlich gelungen. Aber bei all dem Reichtum an Farbe und
musikalischer Stimmung ist Ossip Schubin doch viel zu innerlich für die epische
Kunst, sie spricht viel zu lange im Namen ihrer Helden, und abgesehen von
der Breite, in die sie dadurch gerät, verlieren ihre Gestalten alle Plastik. Wir
haben mehr ein starkes Gefühl als eine klare Anschauung von den Charakteren
der Dichtung. Dies und ihr Kern: die häßlichen Verführnngsgeschichten der
Geschwister Lensky, sind die Schwächen des im übrigen geistvollen Werkes.
it dieser traurigen Begebenheit geriet auch die einst so berühmte
Herberge in traurige Vergessenheit; seit jenem Tage nahm der
ruhige Auflösungsprozeß seinen Anfang, und von Jahr zu Jahr
sank das Haus über seinen Eichenbrücken tiefer zusammen. Ein
Wald von Nesseln wuchs um seine alten Mauern, sodaß sie den
Blicken der Vvrüberfahrenden fast ganz verborgen waren, und drinnen, hinter
der verschlossenen Thür, den flaschengrünen Fensterscheiben, saß Ellen in dem
Dämmerlicht der großen, leeren Stuben, wie lebendig begraben,'
Sie wohnte hier ganz allein mit ihrer kleinen Tochter und saß gewöhnlich
ans dem alten Platz, in der Ecke am Fenster, mit verschleiertem Blick vor sich
hinstarrend, als grübelte sie unausgesetzt über ihr Schicksal nach. Aber wie
unbeachtet und einsam auch die Stunden und Jahre um ihr vorüberflogen, so
waren sie doch nicht spurlos über ihrem Haupte hingegangen. Leute, die ihrer
zufällig ansichtig wurden, stutzten förmlich bei ihrem Anblick, so sehr hatte sie
sich verändert.
Sie hatte unter anderm die Gewohnheit angenommen, erst spät am Tage
aufzustehen, und auch dann konnte sie noch mehrere Stunden halb angekleidet
im Hanse herumschlürfen, in einem, geflickten Unterrock oder gar in ihrem langen,
groben Hemde; ungekämmt hing ihr das Haar über den Rücken herab, und sie
sprach leise vor sich hin, ohne etwas rechtes zu thun. Unter den Renten ließ
sie sich so gut wie garnicht mehr sehen, es konnten oft mehrere Tage vergehen,
ohne daß sie über ihre Thürschwelle kam. Und durch das viele Stubenhocker
war ihr früher schon stark entwickelter Körper fast unförmlich geworden. Das
Gesicht war merkwürdig aufgedunsen, lind die braunen Augen sahen unheimlich
mit schwerem, verschleiertem Blick um sich. Im Dorfe erzählte man sich,
sie trinke.
Im Svmnrer, wenn die schöne llnugegend von Tvllristen und Vergnügungs¬
reisenden überschwemmt wurde, kam es wohl vor, daß der eine oder der andre
>n dem alten Kruge vorsprach, um nach dem Wege zu fragen oder um ein Glas
Milch zu bitten. Zuweilen hielten auch herrschaftliche Wagen am Brunnen,
um die Pferde zu tränken; ja die alten, braungestrichnen Mauern übten wohl
gelegentlich eine gewisse Anziehungskraft auf einen jungen, schwärmerischen
Studenten, ans.
Für gewöhnlich wurde der Ort aber fast ausschließlich 0on fünf bis sechs
alten, gutmütigen Mannsleuten besucht, die im Vvlksmnnde den Namen „der
Schnapsklub" führte», und die sich hier Abend für Abend wie zu einem Schatten¬
gastmahl um den große» Eicheutisch versnnunelteu.
Es waren dies ein paar Krüppel ans dem Armenhause und ein Paar
frühere Holzhauer und Wegcarbeiter, die hier in ernster Stimmung und größter
Eintracht eine Kruke Branntwein auf ihr gemeinsames trauriges Los leerten,
um dann regelmäßig unter allgemeinem, Zank und Streit spät in der Nacht
»ach Hause zu schwanken.
In dieser Gesellschaft hatte Ellen auch allmählich gelernt, ihre Gedanken
<>n betäuben. Eine Zeit lang geschah es nur in aller Heimlichkeit, wenn die
-^rnnkenheit den andern zu Kopfe gestiegen war und ihre Sinne umnebelt hatte.
Aber von Jahr zu Jahr verlor sie mehr und mehr die Macht über sich, und
jetzt geschah es sehr häusig, daß sie schwankend auf ihrem Stuhle zwischen ihnen
saß, mit bleichem Munde und starren Augen.
Inzwischen tummelte sich Martha munter umher und wuchs zu dem
Ebenbilde ihres Vaters heran. Mit vierzehn Jahren war sie schon ein völlig
entwickeltes junges Mädchen, das in denn roten Mieder und den weißen Hemds¬
ärmeln gar frisch und verführerisch aussah, und auf dessen schlanker, fein-
gebanter Gestalt mit dem festen Fuß und dein, geschmeidigen Rücken die Blicke
der jungen Herren, die des Wegs vorüberkamen, gern ruhten.
Wenn man sie in der offnen Thür stehen fah, mit den Schultern an den
Thürpfosten gelehnt, den einen nackten Fuß über den andern gesetzt, die
Augen gen Himmel gerichtet, oder wenn sie an Winterabenden müde ans
ihren, Binsenstuhl in die Ecke gelehnt saß, die zarten Finger um das erhobene
Knie geschlungen und mit müden Lächeln die nickenden Köpfe der schweigsamen
Trinkergesellschaft unter dem trüben, rauchigen Schein der Hängelampe betrach¬
tend, dann war es, als erblickte man in diesen feinen, klugen Zügen, in diesen
wachen, spähenden Augen und der ganzen, kleinen Gestalt mit den angespannten
Nerven Jakobs verklärte Erscheinung.
Die lange, schmale Nase und die großen, ovale» Nasenlöcher, die deu
rosenroten, halb durchsichtigen Knorpel der Scheidewand deutlich erkennen ließen,
die schmale», blassen Lippen, die blonden Brauen, die sich jedesmal, wenn sie
irgend etwas scharf ansah, leicht unter der weißen Fläche der Stirn runzelten,
das Alles hatte sie vom Vater; ebenso die etwas heisere Stimme und das
leichte, verschlagene Lächeln, das ihre Lippen umspielte, wem? sie wie zufällig
mitten in ihrer Fröhlichkeit in Gedanken versank.
Aber ihr Haar war von leichterem Rot, floß glatt und blank über ihre
lllangeäderten Schläfen und verbarg mit zwei schonen Flechten die tiefe Nacken¬
grube. Das Auge war größer, klarer, tiefer. Dem träumenden Waldsee
ähnlich schaute es unter den Braue» und ans dem dunkeln Kranze langer
Wimpern hervor.
Von der Mutter hatte sie nur den ruhigen Blick und den laugen, blendend¬
weißen Hals. Und wie infolge eines Gefühls ihrer innern und äußern Ver¬
schiedenheit hatte sich Martha schon als Kind fern von jeder Vertraulichkeit
mit ihr gehalten, ja mit der kalten Verachtung einer Fremden das Geschöpf
betrachtet, das sich ihre Mutter nannte.
Überhaupt war sie, während sie hernnwnchs, sich selber fast völlig über¬
lassen gewesen. Im Dorfe, dessen Schule sie seit ihrem siebenten Jahre be¬
suchte, hielten sich die wohlhabendern Bauernkinder absichtlich von ihr zurück,
und selbst die gleichgestellten fühlten sich scheu und verlegen dem seltsamen,
fremdartigen Kinde gegenüber, von dem sie so viel abenteuerliches gehört
hatten und dessen Wildheit und sonderbare Einfälle sie deshalb doppelt
ängstigten.
In ihrer Einsamkeit hatte sie dagegen ihre ganze Liebe ans den „Klub"
übertragen. Diese alten, merkwürdigen Burschen, zwischen deren Füßen sie sich
wie ein verzognes Kätzchen getummelt hatte, und unter deren fast väterlicher
Fürsorge sie aufgewachsen war, waren allmählich ihre einzigen und wirklichen
Freunde geworden. In ihrer Gesellschaft fühlte sie sich so recht in ihrem
Elemente. Ihre derbe Sprache, ihre Flüche und Streitigkeiten, ja selbst ihre
Trunkenheit und ihre rohe Erzählungen behagten ihr, wie ein wohlthuendes
Gewürz nach der Langenweile des langen Tages und der nüchternen Salbaderei
des Dvrfschulmeisters. Sobald die Sonne hinter dem westlichen Walde ver¬
sank, sehnte sie den Augenblick herbei, wo der erste Holzschuh auf der Diele
klappte. Und obwohl sie oft den ganzen Abend in dem abscheulichen Ta-
baksqualm und Fnselgeruch husten mußte, fühlte sie sich doch niemals glück¬
licher als in diesem Kreise gutmütiger Alten, deren Freude und Stolz sie
wiederum war.
Da war der dicke Jäger Martl», ein alter Graubart, der jeden Augenblick
eine Prise ans einem großen, ledernen Beutel nahm und wie ein Fuchsbnlg
roch. Da war der taube Anders, der kleine, behende Weber Zacharias, der
wie ein Buch redete, der alte Violinspieler Franz Michelsen und der schwer¬
mütige Steinhauer Sören, der stets, wenn er sich setzte, „Ach du lieber Gott"
sagte, und „Herr Jesus auch", so öfter einen Schluck nahm. Vor allem aber
war der Lars Nyndbh oder Lars Eiuauge, ein alter Seeläuder und ein wahres
Riesenwrack, gebeugt und verwittert. Er war seiner Zeit der berüchtigste Rauf¬
bold der Gegend gewesen und konnte noch jetzt trotz seines hohen Alters, seiner
Krücke und seines verbundnen Auges sehr gefährlich sein, wenn ihm der Sinn
darnach stand.
Namentlich dieser Letzte war allmählich Marthas Herzensfreund und
Berater geworden, ihm vertraute sie ihre kleinen Geheimnisse und Sorgen an,
wenn sie sich am Abend auf seinen Schoß setzte und ihn an seinen starren,
grauen Bartstoppeln zauste. Selbst nachdem sie älter und erwachsener geworden
war, bewahrte sie diesem alten Raufbold, der im Grunde ein herzensgutes,
liebevolles Gemüt hatte, ihr kindliches Vertrauen. Sie gestattete ihm ver-
schiedne kleine Freiheiten und ließ sich ohne Scheu von ihm liebkosen und
küssen. Dafür brachte er ihr dann zuweilen in seiner tiefen Hosentasche,
deren bunten Inhalt sie stets aufs genauste untersuchte, irgend ein Stück
farbiges Band, eine Schnur Glasperlen und ähnliche Schätze mit, denn er
wußte, wie gern sie sich mit dergleichen schmückte.
An dem Tage, wo Martha konfirmirt werden sollte, begleitete sie der
ganze Klub in die Kirche. Es erregte natürlich nicht geringes Aussehen, als
der feierliche Auszug mit Lars Einauge an der Spitze und mit vier geborgten
Zylinderhüten nach dem Chor hinanfinarschirte und unter tiefem Schweigen in
einem der Stühle Platz nahmen. Martha selber trug ein schwarzes Kleid von
fast neuem Stoff. Über ihren Schultern lag ein gestricktes, weißwollnes Tuch,
das vor der Brust zusanmiengeknotet und mit einer Stahlnadel befestigt war.
Ins Haar hatte sie — etwas kokett — eine rote Rosenknospe gesteckt. Als
die Konfirmanden nach der Predigt zusammentraten, heftete sich unwillkürlich
manches Auge auf sie; nicht nur, weil ihr hübscher, blonder Kopf die Mehrzahl
der kleinen^ untersetzten, pausbäckigen, breitnasigen Patenkinder überragte,
zwischen denen sie ihren Platz hatte; im Gegensatz zu allen andern schaute sie
auch mit offnen, glückstrahlenden Augen frei um sich, und in ihrer ganzen,
fünfzehnjährigen Schönheit lag fast etwas Aristokratisches, das selbst in dem
viel zu langen Kleide einen herausfordernden Eindruck machte.
Mitten im Examen erhob sich eine männliche Gestalt in einem der hintern
Stühle und blieb dort, solange die feierliche Handlung währte, unbeweglich
stehn. Als Martha seiner ansichtig wurde, flog eine Wolke über ihr Antlitz,
und während des übrigen Teils des Gottesdienstes blickte sie nicht wieder
hin. Vermutlich war der Vorgang bemerkt worden, denn mehrere Köpfe
wandten sich nach dein Manne um, und ein paar Burschen stießen sich in
die Seite.
Der Aufgestaudue war ein großer, breitschulteriger, ein wenig dicknackiger
Bursche von einigen zwanzig Jahren, der sich mit ein paar kleinen, mißtranischen,
unruhigen Augen umsah, indem er gleichzeitig seinen großen, plumpen Mund
zum Lächeln verzog. Im Dorfe war er unter dem Namen „die Kruke" be-
kannt, sein eigentlicher Name aber war Jesper Andersen Duebvl, und man
hielt ihn allgemein für einen etwas sonderbaren Burschen, ans dem nicht
klug zu werden sei. Gefährlich für seine Umgebung wurde er höchstens, wenn
er betrunken war; gewöhnlich begrub er sich spurlos bei seiner Holzhauerarbeit,
beim Fällen der Bäume, und nur hiu und wieder tauchte er in der Schenke
oder im Kruge auf. Dagegegen kam er häufiger in den Fährkrug am See,
wo er als Verwandter des tauben Anders Zutritt zu dem Kreise der Stamm¬
gäste erhalten hatte. Man nahm allgemein an, daß er vom Klub zu Marthns
Bräutigam ausersehen sei.
Jedesmal, wenn er das Auge über die Versammlung gleiten ließ, trat
etwas Drohendes, Herausforderndes in seinen Blick. Und nach Beendigung
des Gottesdienstes begab er sich auf den Kirchhof hinaus, wo sich die Kon¬
firmanden versammelt hatten, um die Glückwünsche von Freunden und Be¬
kannten in Empfang zu nehmen.
Martha warf einen hastigen, ängstlichen Blick zur Seite, als sie ihn
langsam, mit gesenkter Stirn gleich einem Stier nahen sah. Einen Augenblick
suchte sie sich hinter dem breiten Rücken des Jägers Martin zu verbergen.
Als er aber mitten zwischen ihnen stand, reichte sie ihm. kalt und schweigend
die Hand, und sobald sich Gelegenheit bot, zog sie sich zu einigen Gefährtinnen
zurück, die in frohem Gelächter zwischen den Grabsteinen standen.
Sobald sie in der Kirche seiner ansichtig geworden war, hatte sie die
Angst ergriffen, daß er sie nach Hause begleiten würde. Daher wurde ihr
ganz leicht ums Herz, als sie ihn nach einer Weile Abschied nehmen und den
Weg nach dem Dorf zu einschlagen sah. Auf dem Gipfel des Hügels — sie
bemerkte es wohl — wandte er sich noch einmal um und schaute zu ihr herab.
Aber bald vergaß sie sowohl ihn wie die ganze Szene über dem Empfang, der
in ihrem Heim ihrer wartete.
Dort war der Tisch festlich gedeckt. Ans dem Weißen Tischtuch standen
zwei Leuchter mit Lichtern und in der Mitte eine dampfende Schüssel mit dick-
gekochtem Reis. Schüssel und Leuchter waren mit Blumen verziert, und vor
dem Platz am Ende des Tisches lag ein Neues Testament mit einem goldnen
Kreuz auf dem Einbanddeckel. Martha war so bewegt, daß sie zum erstenmal
seit vielen Jahren-hinging und ihrer Mutter die Hand gab. Überhaupt war
dies ein unvergeßlicher Tag für sie. Alle die alten Freunde waren darüber
einig, daß sie sich prächtig benommen hätte, viel besser sogar als des Predigers
eigne Tochter; und nach dem Essen spielte Franz auf seiner Geige, und dann
las der Weber Zacharias lant ans einem alten Kalender vor. Nach einer
Bowle Punsch wurde die Freude so überschwänglich, daß selbst Lars Einange
auf seiner Krücke wie toll nmherhvpste.
Als aber Martha spät in der Nacht in ihre Kammer kam und schon halb
entkleidet war, siel ihr Auge auf ein kleines Packet uns dem Tische, das sie
bis dahin gar nicht bemerkt hatte. Vorsichtig, fast ängstlich besah sie es von
allen Seiten und wickelte es dann langsam aus. Eine Schicht Papier folgte
der andern, bis endlich ein kleines Etui zum Vorschein kam. Sie öffnete es
hastig und fand darin eine silberne Chlinderuhr, und darau einen Zettel ge¬
heftet, auf dein mit plumper Hand geschrieben stand: Zur Erinnerung an
Jesper Andersen Duebol.
Die Röte stieg ihr langsam in die Wangen, während sie die Uhr vor¬
sichtig in der Hand hin- und herdrehte. Da fiel ihr plötzlich die Szene auf
dem Kirchhof ein, und eine abermalige, noch heftigere Röte ergoß sich über
ihren entblößten Hals. Endlich setzte sie sich auf den Stuhl und versank in
tiefe Gedanken.
Sie hatte ihr fünfzehntes Jahr noch nicht vollendet.
Eines Tages, als sie unten um Ufer des Baches stand, um ihre Füße
zu waschen, kam ein kleines, weißes Voot mit zwei Personen auf sie zuge¬
rudert. Um nicht gesehen zu werden, blickte sie sich schnell zwischen das Schilf
und beobachtete von dort neugierig das merkwürdige Paar, das sich langsam
näherte.
Am hinter,, Ende des Bootes saß eine junge Dame in Hellem Sommer-
gewande mit einem hochroten Sonnenschirm, der wie eine vollerblühte Mohn¬
blume leuchtete. Sie hatte die Wange in die Hemd gestützt und schien in
Gedanken versunken unbeweglich in die Landschaft hiuauszustarreu. Der Herr,
der ihr gegenüber an den Rudern saß, war ein junger, blonder Mann von
'nächtiger Gestalt, aber er wandte Martha den Rücken zu, sodaß sie nnr die
breiten Schultern, die leichtgelockten, blonden Nackeuhanre und den ober,, Teil
eines großen, blonden Bartes sehen konnte. Das Gesicht selber sah sie nicht,
aber es war deutlich zu erkennen, daß seine Augen unverwandt auf der jungen
Dame ruhte,,, und der Blick, mit dem er sie betrachtete, verriet sich auch
durch die vorsichtige, fast liebkosende Weise, wie er die Ruder im Wasser bewegte.
Martha war sich sofort darüber klar, daß es ein Brautpaar sein müßte.
Fast lautlos lenkte der Herr plötzlich das Boot ans Ufer und landete im
Schilf dicht „eben ihr. In demselben Augenblick erwachte die Dame aus ihren
Träumen, und indem sie verwundert um sich blickte, überflog eine leichte Röte
ihre Wangen. Sie lächelte, und erst bei diesem Lächeln erkannte Martha, wie
schön sie war.
Habe ich geschlafen? fragte sie mit wunderbar weicher, klangvoller Stimme.
Dn hast gesteuert! erwiderte er und nickte ihr freundlich zu.
Er zog die Ruder ein und erhob sich. Sie ergriff uoch sitzend die Hand,
die er ihr ritterlich reichte, und als sie neben ihm stand, gab sie ihm beide
Hände und blickte zutraulich zu ihm auf.
Aber in seinem Blick mußte etwas gelegen haben, das sie flehentlich um
mehr bat, denn, nachdem sie sich vorsichtig umgesehen hatte, lehnte sie sich
leise an seine Brust und reichte ihm errötend ihren Mund. Er schlang züchtig
seinen Arm um ihren Leib und küßte sie leise.
Über diese feierliche Liebkosung hätte Mnrtha fast laut ausgelacht. Als
sie aber gleichzeitig deu Blick auffing, mit dem sich die beiden während der
Umarmung gleichsam in einander versenkten — seinen stillen, brennenden, ihren
feuchten und zitternden — und die tiefe Nöte, die beim Kusse beiden in die
Wangen schoß, wurde sie plötzlich ganz verschämt und blickte um sich, als
fürchtete sie, daß jemand die Liebenden belauscht hätte.
Klopfenden Herzens beugte sie sich tiefer hinab in ihr Versteck und beob¬
achtete liegehrlich die ans Land steigenden. Atemlos folgte sie ihnen mit den
Augen auf ihrer stillen Wanderung über die Wiese nach dem Waldpfade zu,
und erst, als sie Arm in Arm im Blätterdickicht verschwanden, erhob sie sich
mit glühenden Wangen langsam aus dem Schilf. Aber mich dann blieb sie
noch eine Weile stehen, wie versteinert, lind starrte unbeweglich nach der Stelle
hin, wo sie verschwunden waren.
Plötzlich vernahm sie männliche Schritte ans der Brücke, Hastig raffte
sie ihre Strümpfe ans und lief ans das Haus zu. Als sie jedoch dort ange¬
kommen in den Schritten den Elefantengang Jespers zu erkennen glaubte,
überfiel sie ein Schreck, daß sie ihm gerade jetzt begegnen sollte. Ohne sich zu
besinnen, machte sie kehrt und lief, so schnell sie konnte, in den Wald hinein.
Als sie hinter einem Busch hervvrlugte, sah sie einen biedern Bauersmann mit
einem Sack über deu Schultern des Weges kommen. Sie lächelte über ihre
Furcht, und langsam und sinnend, hin und wieder eine Blume zu ihren Füßen
pflückend, kehrte sie auf dem Hauptwege zurück. Schon vor dem Hause hörte
sie die Mutter in der Küche, daher schlich sie sich um den Giebel herum,
schlüpfte durch den Vorbau und gelaugte unbemerkt in die leere, unbe¬
wohnte obere Stube, deren Thür sie sorgfältig hinter sich schloß. Dann stellte
sie sich an eines der Fenster, die nach dein See hinaus gingen, und öffnete es
vorsichtig.
Unter dein Waldkrcmze hatte es schon angefangen zu dämmern. Über dem
duukelvivletten Nadelbaumrande des Königsrückens lag das glühende Gold des
Sonnenunterganges, das einen feinen Rosenschimmer auf das Wasser warf.
Alles Vogelleben war verstummt. Nur ein stilles, abendliches Säuseln ging
durch deu Wald und erstarb in der Ferne.
Sie legte wie ermüdet ihre Wange in die Hand und schaute lange hinaus.
Sie ahnte, daß das, was sie zwischen jenen beiden belauscht hatte, das,
was jeues wunderbare Feuer in ihren Blicken entflammt und ihre Lippen
zittern gemacht hatte, daß dies das überirdische Glück der Menschen sein müsse,
die heiligste Lust dieses Lebens ^ die Liebe!
Wie U'nnderbar! Wohl tausendmal hatte sie dieses Wort in den kleinen
roten Nvmanheften gelesen, ohne weiter drüber nachzudenken, ja eigentlich ohne
z» wissen, was es bedeute. Jetzt kam es plötzlich wie ein brennendes Licht
über sie. Jetzt war es ihr, als könnte sie, wenn sie nur das Gesicht
mit den Händen bedeckte und die Angen schlösse, fühlen, was es war: Liebe!
Liebe!
Es entfaltete sich gleichsam ein neues Leben in ihr, wenn sie mir den
Klang des Wortes vor ihrem Ohr vernahm. Es war, als öffnete sich auf
einmal die Welt vor ihren Augen, als wölbte sich der Himmel höher über
ihrem Haupte. Sogar der Wald veränderte sich, wie sie so dastand und über
ihn hinblickte. Die Luft schien sich mit Wvhlklängen zu erfüllen, und die
Winde flüsterte« ihr das wonnige Wort ins Ohr.
Eine wuuderbnre Feierlichkeit senkte sich auf sie herab. Halb unbewußt
hatte sie sich erhoben und lehnte den Kops gegen den Fenstcrpfosten. Die ge¬
falteten Hände ruhten auf der Mauer, und der Blick schaute über den See
hinaus, der gerade sein geheimnisvolles Ange öffnete. So stand sie lange
regungslos da. Der letzte matte Schein am Hummel erstarb. Die Dämmerung
breitete sich über das Wasser aus und hüllte die Wälder in ihren dichten
Schleier. Eine Thräne perlte über ihre Wange herab. Als aber ein Wind¬
hauch dnrch das Fenster strich und ihre schweren Stirnlocken hob, fuhr ein
süßer Schuler dnrch ihren Leib.
Plötzlich fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Mit einem leise» Auf¬
schrei wandte sie sich um. An ihrer Seite stand Lars Eiuauge, auf seine Krücke
gestützt, die Binde um die Stirn geschlungen. und lächelte ihr verschmitzt zu.
Das Feuer der kurzen Thonpfeife, die nnter seiner roten Nase dampfte, erhellte
schwach das struppige Gesicht und den großen, zahnlosen Mund.
Was zum Teufel macht denn die kleine Jungfer hier! rief er aus. Und
wir haben — bei Gott! — beinahe unser eignes, armes Leben eingebüßt, um
»ach ihr zu suchen. Und da steht sie ganz ruhig hier und fängt Grillen!
Was ist denn die Uhr? fragte sie und sah sich verwundert um.
Was die Uhr ist? fragt sie. was die Uhr ist? Ich glaube, hol mich
der Teufel, sie steht da und hängt verliebten Gedanken nach. Was die
Uhr ist, kleine Jungfer? — er kniff die Augen zusammen und lachte in sich
hinein — wer weiß, am Ende hat sie schon geschlagen?
Er brach in ein betäubendes Gelächter aus. Auch Martha lächelte, und
daun gingen sie zusammen hinab ins Zimmer, wo ihr ungewöhnliches Aus¬
bleiben wirklich beinahe Unruhe verursacht hatte. Sie wurde mit einem Sturm,
verwunderter Ausrufe empfangen. Sie erwiderte, sie sei müde gewesen und
im Dunkeln eingeschlafen. Sie rieb sich anch sehr natürlich die Augen und
reckte sich, als wäre sie noch nicht ganz wach. Endlich setzte sie sich auf ihren
Binsenstuhl in die Ecke.
Aber zum erstenmale fühlte sie sich gleichsam fremd in diesem Kreise.
Weder die Jagdgeschichten des Jägers Martin noch die Schriftgelehrten Aus¬
einandersetzungen des Webers Zacharias wollten heute ihre Gedanken fesseln.
Sobald sie sich unbemerkt davon schleichen konnte, huschte sie aus dem Zimmer
hinaus und begab sich in ihre Kammer.
(Fortsetzung folgt)
Zur katholischen Geschichtsmacherei. Aus Autnß des PapstjnlnlänmS
wurden muh vaterländische Kernlieder ins Päpstliche umgeändert, und so wurden
und werden !>n katholischen Balle statt „Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine
Farben?" gesungen: „Ich bin katholisch, kennt ihr meinen Glauben?" statt „Fest
steht und tren die Wucht am Rhein": „Fest steht Se. Petri Fels zu Rom." Dazu
schreibt R. Weitbrecht im siebenten Hefte der „Deutsch-evangelischen Blätter" vom
8. Juli 1389: „Man mag das für eine bloße Geschmacksverirrung halten; wir
glauben, daß auch hierin die Absicht steckt, dem deutschen Katholiken alles Baler>
ländische wegzunehmen und in sein Herz vor allem die Liebe zu einem Bnterlnnde
jenseits der Alpen einzupflanzen. Je vatcrlaudsloser daS katholische Volk wird, je
mehr es der allgemeinen deutschen Bildung entfremdet lvird, umso leichter läßt es
sich zu römischen -jlvecken niißbrauchcu."
Alles wir glauben nicht, daß die oben zitirten Liedervariationen und andre
selbständige Produkte bloß Erzeugnisse des „wundervollen katholischen Liederfrühliugs"
seien, der sogar in Edmund Vehriuger einen neuen Dante hervorgebracht haben soll
(„Die Apostel deS Herrn" heißt BehriugerS Dauteleistuug); diese Bereicherungen der
vaterländischen Poesie, die „wie ein hoher Stern aus dem nmdüsierten Himmel"
derselben nach dem Urteile des „Erzählers vom Main" hervorleuchten sollen, ent>
stammen demselben Wahrheitssinne, dein die katholischen „Forschungen" des „großen
Geschichtsschreibers" Janssen mit seineu falschen Zitaten entstammen; auch haben sie
dieselbe Absicht, wie die „Eichsfeldia," wenn sie als Andenken, an den Sednntag
in ihrer Beilage „Erholungsstunden" 1888 unter der Aufschrift: „Der sonderbare
Heilige" dichtet:
Es dauerte Se. Sedans Ruhm
Kaum leider ein Dezennium;
Denn seit die Einigkeit eutflohu,
Fiel auch der Einigkeitspntron.
Nur noch in Schul- und Kinderstuben
Erbaut er jetzt die deutschen Buben,
Und lebt dort als Staatspensionär
Und wunderlicher Heiliger.
Diese Berhöhunng des Patriotismus, die leider! mitten in deutschen Lunden möglich
ist, gehört zu dein blühenden Geschäftskatholizismus, der in der deutschen Presse
unter dem Titel „Durchdringung des modernen Lebens mit den Prinzipien des
katholische» Glaubens nud der katholischen Sitte" seiue freche Reklame treibt. Er
Handelt in allen Stücken nach dein Rezept Leos XIII., katholische ''Anschauungen auf
alle Weise in dus Lebensblut protestantischer Voller zu bringen. Welche An¬
schauungen in unsern ultramontanen Kreisen über die letzten Jahrzehnte unsrer
vaterländischen Geschichte herrschen und von da ans weiter verbreitet werde», das
sieht mau. am deutlichsten aus unsern katholischen „Volksblättern," die seit 18LK so
massenhaft ans dem ultramontanen GeisteSbodeu aufgeschossen sind. Da schrieb
z. B. als ehemaliger Mitarbeiter des I)r. Sigl der jetzige Redakteur der „West¬
fälischen Volkszeitung," Fußangel, ein geborner Preuße: „Wir haben gewiß nichts
dagegen, wenn Preußen auf ihren König toastiren, aber aufs tiefste, muß es bedauert
werden, daß es gläubige Katholiken giebt, welche heule noch den traurigen Mut
haben, die »Einheit« nud »Stärke« unsers zerrissnen, geschwächten und gedemütigten
deutschen Vaterlandes durch Festtoaste zu feiern. Nein, der Katholik kaun sich nicht
freuen über die »Einheit« und »Stärke« Deutschlands, die ihm durch Preußen ge¬
worden. Der Katholik kann nur trauern und seinen Trost in der Hoffnung finden,
daß die Tage des Preußeutums gezählt siud. Ja, wir siud antinational, wir sind
reichsfeiudlich und werdeu eS bleiben, aber uur, weil wir unser Vaterland (Rom!)
liebe». Wir beklagen, aufs tiefste den Entwicklungsgang Deutschlands seit dein
Jahre >8t>K." Und den Mann solcher Bekenntnisse berief die römisch-katholische
Pürte.ileituug in Bochum in die Redaktion einer größer» Zeitung und versetzte ihn
mit Hilfe der fünfzehn katholischen Vereine Bochums in die Lage, nicht nur bei
Reichs- und LaudtagSwahlen, sondern auch bei soziale» Bewegungen wie dem
westphälischen Kohlenstrike. im ullramvntan-demagogischen Sinne eine Hauptrolle zu
spielen. Hinter der katholischen Parteileitung zu Bochum stehen, wie überall hinter
den katholischen Vereinen, die Priester. Ob es da wohl richtig ist, wenn auf eine
Anfrage, im Briefkasten einer viel gelesenen Dresdener Zeitung, warum doch im
Gegensatz zu der evangelische» Geistlichkeit zum Empfange des Kaisers in Dresden
kein einziger katholischer Geistlicher zugegen gewesen sei, und warum doch im Gegen
Suez zu den sämtlichen Kirchen Dresdens die katholische Hofkirche allein nicht geflaggt
habe? ob es da wohl richtig ist, wen» auf solche Anfragen die Antwort der Redaktion
kommt, „daß mehrere katholische. Geistliche erschienen seien, doch nicht, wie die
evangelische Geistlichkeit, in ^>mtslrncht, sondern im einreihigen Rock mit Stehkragen.
Geflaggt aber habe die katholische. Hofkirche, wie auch daS Schloß, seit unvordenk¬
liche» Zeiten nicht," und dann in der Antwort versichert wird: „Daß die katho¬
lischen Geistlichen, wie alle andern Deutschen, in dein deutscheu Kaiser das von
Gott gesetzte Oberhaupt des deutscheu Reiches lieben und verehren, versteht sich von
selbst." Wollte Gott. eS wäre so! Wir befürchten bei vielen, sehr vielen das
Gegenteil. Kein Papst kann Ghibelline sein. Und was von, Papst gilt, das gilt
anch von seiner Klerisei. Ist der Ghibelline zu groß, als daß der Streit mit ihm
viel Erfolg verspräche, so stellt sich Papst und Klerus ihm befreundet und rückt ihn
möglichst in seine Nähe; glaubt er sich ihm gewachsen, so beginnt der Streit. Aber
so wie so, scheinbar befreundet oder feindlich, bei dem echten Ultramontanen ist von
Wahrheit leine Spur, am allerwenigsten vou geschichtlichem Wahrheitssinn. Das
liegt ein »ni im römischen System. Wer Gelegenheit gehabt hat, das kennen zu
lernen, der findet, daß es so ist, wie. Wiese, dieser unparteiische Mann, in seinen
„Lebenserinnerungen nud Amtserfahrnngeu" bezeugt, wenn er sagt, daß er sich nur
weniger Katholiken erinnere, bei denen die Einwirkungen der römisch-katholischen
Pädagogik ans den WahrheilSsinu nicht zu bemerkn, gewesen wären; die. Folgen des
römischen Systems seien eine unbewußte. Trübung des Wahrheitssinnes bei dem
katholischen Volke. Was beim Volke aber „unbewußte Trübung" ist, das ist bei
den Führern eine sehr bewußte. Ein höchst interessantes Beispiel einer solchen be¬
wußten Trttbnug, zugleich ein Beleg für den klerikalen Grundsatz der GeschichtS-
falschnng dnrch die Bennsprnchnng und Heranziehung eines großen Ghibellinen in
die eigne Nahe wird von Goethe in seiner „Italienischen Reise" unter dein Datum
deS 25. Oktober 178L erzählt. Goethe berichtet da, wie er auf seiner Reise nach
Rom von. Bologna bis nach Perugia mit einem päpstlichen Offizier zusammen, fährt,
den er einen „wahren Repräsentanten vieler seiner Landsleute" nennt. Sie kommen
auch auf den Protestantismus zu sprechen, und da kommen denn bei dem Offizier
mancherlei wunderliche Dinge zu Tage. Hüter anderm erzählt er: „Man hat uns
versichert, daß Friedrich der Große, welcher so viele Siege selbst über die Gläubigen
davongetragen und die Welt mit seinem Ruhm erfüllt, daß er, den jedermann für
einen Ketzer hält, wirklich katholisch sei und vom Papste die Erlaubnis habe, es
zu verheimlichen; denn er kommt, wie man weiß, in keine eurer Kirchen, verrichtet
aber seinen Gottesdienst in einer unterirdischen Kapelle, mit zerknirschtem Herzen,
daß er die heilige Religion nicht öffentlich bekennen darf; denn freilich, wenn er
das thäte, würden ihn seine Preußen, die. ein bestialisches Volk und wütende Ketzer
sind, auf der Stelle totschlagen, wodurch dann der Sache nicht geholfen wäre.
Deswegen hat ihm der heilige Vater jene Erlaubnis gegeben; dafür er denn aber
auch die alleinseligmachende Religion so viel ausbreitet und begünstigt als möglich."
Man sieht, welchen Dank die „alleinseligmachende Religion" dem großen Prenßen-
könig schon seinerzeit dafür gewährte, daß er in seiner hochherzigen Toleranz den
Jesuiten in seinen Landen eine Freistätte gewährte zu einer Zeit, wo alle andern
Staaten Europas sie über die Grenze jagten. Goethe selbst sagt zu diesem höchst
sprechende» Zeugnis von. einer „bewußten Trübung des Wahrheitssinnes" durch deu
Klerus: „Ich ließ das alles gelten und erwiderte nur, da es ein. großes Geheimnis
sei, könnte freilich niemand davon Zeugnis geben. Unsre fernere Unterhaltung war
ungefähr immer von derselben Art, so daß ich mich über die kluge Geistlichkeit
wundern mußte, welche alles abzulehnen und zu entstellen sucht, waS deu dunkeln
Kreis ihrer herkömmlichen Lehre durchbrechen und verwirren konnte."
Goethe behandelte all solchen Humbug mit gutem Humor. Das entsprach auch
deu ZeitverlMtnissen. und der Lage der kirchlichen Dinge, in. unserm Vaterlande,
wo sich damals eine ultramontnne Geistlichkeit nicht fand. Da mochte die. italie¬
nische Klerisei immerhin die Preußen als ein „bestialisches Volk" ihren Gläubigen
darstellen. Heutzutage aber ist auch der köstlichste Humor in diesen Dingen nicht
mehr angebracht. Wenn der Ultramontanismus die Gemüter so vergiftet, daß es
Schriftsteller giebt, wie jene» obengenannten. Genossen Sigls, der zu. schreibe» sich
erdreistete: „Wer als katholischer Rheinländer sich als Preuße aufspielt, handelt
ebenso charaktervoll, wie ein Pole, der sich fiir eine» Russen ausgiebt," so muß
die Strenge des Gesetzes unerbittlich walten. Mit deu Ultramontanen auf gütliche
Weise zum Frieden zu kommen, ist fiir den Staat ein ganz vergebliches Bemühen.
Das zeigt die Geschichte. Es scheint aber, als ob Hegel leider Recht hätte, wenn
er sagt, daß die Geschichte nichts andres sei, als die Lehre von der Unfähigkeit des
Menschen, aus der Vergangenheit zu lernen.
as Oktoberhcft der LiontsiupoiAr/lisvisv brachte eine» Aufsatz über
auswärtige Politik Englands, der in der gesamten europäischen
Presse wiederhallte und wie ein Ereignis behandelt wurde, uicht
weil er besonders viel politische Weisheit und Tugend enthalten
oder irgend welche Gehenunisse enthüllt hätte, sondern weil der
Grieche Utidanos (deutsch: Taugenichts), der ihn unterzeichnet hatte, genauer
besehen ein vielgenannter englischer Parteiführer war, der wiederholt als
Premierminister der Königin Viktoria die Geschäfte leitete, wieder an ihre Spitze
zu gelangen wünscht und seinen Wunsch unter günstigen Umständen erfüllt
sehe» kann — kein Geringerer nämlich als Herr Gladstone, den seine Verehrer
den „großen Alten" nennen, während seine englischen Gegner zwar seine Redner¬
gabe und seine Befähigung als Finanzmann anerkennen, in seiner irischen und
ägyptischen Politik aber nur das Gegenteil von Größe erblicken, und der uns
hier wieder einmal wie vorher schon oft als verbissener Feind der Bismarckschen
Friedenspolitik und als Vertreter einer falsch rechnenden britischen Selbstsucht
entgegentritt.
Mau hatte, wenn man ihm staatsmännischen Sinn zuschrieb, vom eng¬
lischen Standpunkte urteilend einigen Grund, an seiner Verfasserschaft zu
zweifeln. Lord Snlisbury hat eine schwierige Aufgabe vor sich, wenn er das
Staatsschiff zwischen Bündnissen, die zu bedenklichen Verwicklungen führen
können, und der Verpflichtung, den englischen Einfluß für die Erhaltung des
Weltfriedens kräftig wirken zu lassen, hindurchsteuern soll. Als ehemaliger
Ministerpräsident muß der jetzige Führer der liberalen Opposition wissen, daß
der gegenwärtige Siegelbewahrer des Auswärtigen Amtes Kunde von gewissen
Geheimnissen besitzt, die er nicht an die große Glocke hängen darf, und daß
er auch nicht immer die Gründe lant werden lasse» kaun, die ihm bei einer
einzelnen Krisis ein Eingreifen geboten oder verboten haben. Wollte er sich
dies erlauben, so würde er zuweilen auswärtigen Fürsten und Ministern schweren
Anstoß geben oder die Pflicht der Verschwiegenheit verletzen, die er gegen ver¬
antwortliche Berichterstatter einzugehen genötigt gewesen ist. Niemals vielleicht
war diese Pflicht so unbedingte Notwendigkeit für den Leiter der Londoner
Politik als in unsern Tagen. Selbst nach dem Zeugnis der Gegenpartei ist
Salisbury ein trefflicher Verwalter der auswärtigen Angelegenheiten, und er
erfreut sich allgemeinen Vertrauens als vorsichtiger und gewandter Staatsmann.
So war es schwer begreiflich, wie jemand, der wie Gladstone früher selbst sür
die Handhabung der englischen Politik verantwortlich gewesen war, einen
Artikel verfassen und veröffentlichen konnte, der, mittelbar wenigstens, die aus¬
wärtige Politik Scilisburys angriff und verurteilte. Es war durchaus unge¬
hörig und bedauerlich, daß auf diese Weise Fragen der englischen Diplomatie
in die staubige Arena der Parteipolitik hineingeschoben wurden. Allerdings
ist das zuweilen unvermeidlich. Wenn der Führer der Opposition in einem
parlamentarisch regierten Staate Grund zu der Annahme hat, daß die Regierung
im Begriff stehe, das Land in ein gefährliches Abenteuer zu verwickeln, so
hat er die Pflicht, sie vor der öffentlichen Meinung dessen anzuklagen. Aber
in gewöhnlichen Zeiten ist es mindestens unbillig, einen Minister anzugreifen,
der sich nicht verteidigen kann, weil ihm der Mund geschlossen ist, da man ihm
das, womit er sich wehren konnte, im Vertrauen mitgeteilt hat. Die Sache
wird umso widerwärtiger, wenn der Angreifer nichts als unbestimmte Verdachts¬
gründe vorzubringen hat, um sein Vorgehen zu rechtfertigen. Wenn, so sagte
man sich, der „Taugenichts," den wir unter dem fraglichen Artikel stehen sehen,
wirklich Gladstone wäre, so hätte er sich einer thörichten Anklage schuldig ge¬
macht, ähnlich der, die er 1880 vom Stapel ließ, wo er Osterreich als eine
Macht bezeichnete, die nirgends etwas Gutes geleistet habe. Er entschuldigte
sich später wegen dieser Bemerkung, und die klaren Beweise für die Ab¬
geschmacktheit seiner damaligen Behauptungen sind seitdem durch die Beruhigung
und das rasche Aufblühen Bosniens und der Herzegowina vermehrt worden.
Aber kein Zurücknehmen kann die Übeln Wirkungen ungeschehen machen, die
der jetzige Aufsatz über den Dreibnnd und Englands Stellung zu ihm nud
besonders zu Italien für die nächste Zeit hervorgerufen hat. Gladstone will
ihn denn auch nicht geschrieben haben, aber seine Ableugnung steht auf schwachen
Füßen. Der Londoner Berichterstatter der in Liverpool erscheinenden only
?o8t meldete seinem Blatte, es sei ihm aufs bestimmteste und zuverlässigste
versichert worden, daß Gladstone den Artikel verfaßt habe. Der Gegenstand
habe Gladstone schon seit geraumer Zeit beschäftigt, und selbst in der Zeit,
wo das Parlament getagt habe, habe er gegen einen Freund geäußert, er
gedenke darüber zu schreiben, ja er habe den Aufsatz anfangs mit seinem Namen
unterzeichnen wollen lind sich erst später zu dem Pseudonym entschlossen.
Die Dmlzs !^so8 bestätigten diese Mitteilung, indem sie ganz unverhüllt von
„dem Artikel Mr. Glndstvnes" sprachen, und die Welt weiß, daß sie sein Organ
sind. Hat er auch darauf erklärt, sie seien nicht befugt gewesen sima kennt no
^ntüority), ihm den Aufsatz zuzuschreiben, so kann diese doppelsinnige Äußerung,
wenn man will, auch heißen, sie hätten keinen Auftrag dazu gehabt.
Der Urheber des unglückseligen Aufsatzes ist nicht zufrieden mit dem, was
der Unterstaatssekretär Fergusson am 19. August als Vertreter des Ministers
der auswärtigen Angelegenheiten dem Parlament offenbar sagen wollte, als
er die Erklärung abgab, „die Handlungsweise der Regierung Ihrer Majestät
im Fall des Ausbruches eines Krieges werde, wie alle andern Fragen der
Politik, durch die Umstände jener besondern Zeit und die Interessen des Landes
bestimmt sein." „Ja — sagt Herr Gladstone — wie aber, wenn Lord Salis-
burh dem Fürsten Bismarck und andern seine Ansicht ausgedrückt hätte, daß
ein Krieg Frankreichs für die Wiedergewinnung Elsaß-Lvthringes ungerecht sei,
und daß es die Pflicht Englands sein würde, Italien gegen Gefährdung zur
See infolge seines Beitritts zum Dreibunde sicher zu stellen?" Das ist aber
eine mit nichts Thatsächlichen zu begründende, gänzlich in der Luft schwebende
Vermutung, die kaum den Wert einer Möglichkeit hat. Wenn Salisbury irgend
etwas der Art amtlich geäußert hätte, so würde es die zukünftige Politik
Englands binden, und zwar wie ein festes Versprechen von Beistand. Aber
Fergusson hat nur erklärt, Englands Politik würde, wenn ein Krieg ausbrüche,
durch die Zeitumstnnde und die Interessen des Landes bestimmt sein; weiter
nichts. Und wenn man die über die ganze Erdoberflüche sich ausbreitenden
Interessen des britischen Reiches betrachtet, seine Verantwortlichkeiten in Ost¬
asien, seine Beziehungen zu Amerika, seine Besitzungen in Südafrika, seine
Rechte und Pflichten in Australien und andern Kolonien, nicht zu vergessen
Irland und was dort auf dem Spiele steht, so würde ein englischer Minister
für das Auswärtige mindestens sehr unvorsichtig handeln, wenn er öffentlich
eine Erklärung abgäbe oder abgeben ließe, die auch nnr den Schatten einer
Verpflichtung enthielte, Großbritannien werde Italien unter allen Umständen
zur See verteidigen. Er inde damit geradezu die Gegner Italiens ein, sich
gegen solchen Beistand vorzubereiten und zugleich Maßregeln zu treffen, um
England sofort durch Schädigung seiner transatlantischen Interessen für jene
Unterstützung mit Erfolg heimsuchen zu können.
Gladstone hat seinen Artikel in der vcmteinxorÄi'^ Usvisn durch die D-ni^
Usvs, sein Hauptorgan, verteidigt und gelobt. Gegenüber dem Pariser Isinxs,
der in den Auslassungen des Utidanvs „die stolzeste Herausforderung erblickt
hatte, die jemals dem Dreibunde zu teil geworden sei," meinte die aus den
vailz? Nsv8 redende Weisheit: „Wir ziehen es vor, den Aufsatz als die stärkste
Verwahrung aufzufassen, die gegen jeden Versuch, England zum Teilnehmer an
dem Vertrage zu machen, möglich ist. Der Artikel ist in erster Reihe von dem
Wunsche eingegeben, Großbritannien vor allen europäischen Verwicklungen zu
bewahren. Die englische Neutralität schien durch die zweideutigen Erklärungen
Sir Jnmes Fergussvns auf Laboucheres Erkundigungen kompromittirt zu sein.
Es waren andre, ältere Anzeichen von Gefahren ^welcher? fragt manj vor¬
handen. Lord Salisburh hegt eine Art geschichtlicher Freundschaft für eins
der Mitglieder des Dreibundes, Österreich, und shmpathisirt mit dessen Zielen,
^was höchst rühmlich ist, da diese Ziele den Weltfrieden bedeuten^. Zu einem
andern Teilnehmer, Deutschland, hat er' seine Beziehungen in jüngster Zeit so
weit gebessert, daß Fürst Bismarck nie müde zu werden scheint, Gelegenheiten
zu suchen, wo er sich ihm dankbar zeigen kann. Zwar werden alle diese Ge¬
legenheiten in Ostafrika gefunden, wo wir keinerlei Interessen haben, die wir
nicht durch eigne Anstrengung ohne Beihilfe wahrnehmen und fördern könnten,
und es ergiebt sich notwendig die Frage: Was erwartet Fürst Bismarck von
uns anderswo? Er hofft, daß wir etwas für ihn thun, und zwar nichts
Geringeres, als daß wir ihn bei seinein Liebliugsplane thätig unterstützen. Die
deutschen Zeitungen haben offen verkündet, daß der Besuch des Kaisers dazu
beigetragen habe, seine Beziehungen auf einen in jeder Richtung befriedigenden
Fuß zu bringen, und diese Äußerung giebt der Thatsache Nachdruck, daß
Bismarcks Aufmerksamkeiten sich seit der Heimkehr seines Gebieters verdoppelt
haben. Er ist natürlich besorgter als je hinsichtlich der Prämie, die für jene
Artigkeiten zu zahlen sein wird, und diese Besorgnis erklärt Herrn Gladstones
Artikel hinlänglich."
Das ist Faselei eines verdrießlichen, unklaren und befangnen Egoismus,
dem jeder Begriff von Englands wahrem Interesse abgeht, und der sich, wie
Gladstone, bei seiner Vermutung aus Vorurteil und Parteihaß absichtlich gegen
Salisburhs Politik verblendet. Warum gerade diesem eine unvorsichtige Ver¬
pflichtung schuld gegeben wird, ist sonst nicht begreiflich. Der Verfasser des
Artikels in der Ooritc-riixoriir^ livvimv weiß seine verdächtigende Annahme anch
nicht mit einem einzigen thatsächlichen Beweise zu begründen. Dagegen weist
Salisburhs ganze staatsmännische Laufbahn auf das gerade Gegenteil einer
Denkart und Handlungsweise hin, die zu Übereilung und Unüberlegsamteit
hinneigt. Das Memorandum, das er 1877 in Gemeinschaft mit Schnwaloff
verfaßte und das man ihm englischerseits vielfach fast als Verbrechen anrechnete,
war ein ehrlicher Versuch, sich vor ernsten Maßregeln mit Nußland zu ver¬
ständigen, und es wurde damit der Grundstein zu dem Friedenstempel gelegt,
den man im folgenden Jahre in Berlin vollendete. Mit größter Wärme und
Genugthuung begrüßte der Lord 1879 die Kunde vom Abschlüsse des deutsch-
österreichischen Bündnisses mit einem bekannten biblischen Jubelworte. Bei
allen diplomatischen Verhandlungen der letzten Jahre hegte er den festen Wunsch
nach Erhaltung des Friedens und legte eine Denkart an den Tag, die, jedem
Säbelrasseln abgeneigt, sich mit Ruhe auf die Kraft überzeugender Vorstellungen
und Beweise verläßt und versöhnliches Entgegenkommen der Anwendung vou
Gewaltmitteln vorzieht. Daß er Großbritannien zu einer Handlungsweise ohne
Rücksicht auf die Umstände verpflichtet habe, ist, auch als bloße Vermutung
ausgesprochen, eine Beleidigung ohne Grund und Boden, da ihr die gesamte
Haltung Salisburys widerspricht. Viel glaubwürdiger wäre ein solcher Vor¬
wurf bei der unklaren Leidenschaftlichkeit Gladstones, wenn er jetzt erster
Minister der Königin wäre. Diese Leidenschaftlichkeit und seine vvrurteilsvolle
Hinneigung zu den friedensfeindlichen Mächten des Festlandes offenbart sich
auch in seiner jetzigen Anklage. Denn die letztere schließt, unstreitig wenigstens
mittelbar, die Zusage des Führers der liberalen Opposition ein, daß er, wieder
an die Spitze der staatlichen Geschäfte Englands gestellt, seinen Einfluß nach
Möglichkeit anwenden würde, dem Dreibunde Schwierigkeiten in den Weg zu
legen, daß er ein Bündnis zwischen Frankreich und Rußland als etwas Natür¬
liches betrachten, daß er Italien nicht vor einer französischen Flotte schlitzen,
daß er mit Wohlgefallen die russische Herrschaft bis ans Mittelmeer ausgedehnt
und Elsaß-Lothringen wieder mit Frankreich vereinigt sehen würde. Das sind
Gedanken, denen sich jedes Parlamentsmitglied, das sür die Welt nichts zu
bedeuten hat, überlassen darf, ohne dafür verantwortlich zu sein, und die es'
auch öffentlich aussprechen kann, ohne Schaden damit anzurichten. Aber die
schwerste Verantwortlichkeit trifft dafür einen Mann, der eines Tages wieder
am Stantsrnder Englands stehen kann. Gelangte er wieder zur Gewalt,
und würde es ihm dadurch möglich, derartigen Gedanken Folge zu geben, ihre
Verwirklichung durch Handlungen oder auch uur durch Geschehenlassen zu be¬
günstigen, so wäre damit wahrscheinlich ein politischer Dammbrnch ohnegleichen
herbeigeführt, fo wäre das Zeichen zum gewaltigsten Kriege dieses Jahrhunderts
gegeben, zu einem Weltknmpfe, mit dem verglichen die Kriege Napoleons des
Ersten fast zwergenhaft erscheinen würden. Wäre es bei Lord Salisburh wirklich
vorschnell und unvorsichtig gewesen, wenn er den Italienern unbedingt und ohne
Rücksicht auf die möglicherweise dann eingetretenen Umstände Beistand gegen
einen Seenngriff der Franzosen versprochen hätte, so ist es ganz unzweifelhaft
noch weit unvorsichtiger, wenn Gladstone jetzt seine Sympathie für die beiden
Großmächte kund giebt, deren unruhige Begehrlichkeit und Nachsucht die eigent¬
liche und einzige Gefahr für den Frieden unsers Weltteils bilde». Allerdings
ruft er sie nicht geradezu zum Kriege auf, denn das kann er nicht. Er sagt
nur ganz friedsam zu den Russen und Franzosen, seinen alten Lieblingen: Eure
Ansprüche sind gerecht, eure Sache verdient unser Wohlwollen, unsre besten
Wünsche. Italien sollte sich euch dabei nicht in den Weg stellen, und England
hofft, euch als Sieger aus dem Kampfe hervorgehen zu sehen. Aber auch diese
anscheinend friedliche oder, wie die Diplomaten sagen, akademische Erklärung
ist unvorsichtig und gefährlich; denn nicht sowohl was sie sagt, ist gegen den
Frieden, sondern was sie verschweigt.
Nun scheint es allerdings, als ob Utidanvs-Gladstone sich den Dreibund
als eine Herausforderung zum Kriege und nicht als eine Vereinigung zum
Schutze des Friedens vorstelle, was bei seinem bekannten verschwommenen
Denken nicht allzu sehr Wunder nehmen kann. Es bedarf aber durchaus
keines besondern Scharfblicks und uur einer mäßigen Bekanntschaft mit den
Thatsachen, Verhältnissen und Ereignissen der europäischen Politik, nur sich zu
überzeugen, daß weder von Deutschland noch von Österreich-Ungarn noch auch
von Italien etwas für den Weltfrieden zu befürchten steht. Der Grund der
Friedensliebe dieser Staaten ist nicht in einer besondern angebornen Charaktcr-
cmlage und Auffassung der Dinge auf Seiten ihrer Regierungen und Völker zu
suchen, uicht in eiuer ausnahmsweise hohen Tugend und Gewissenhaftigkeit
ihrer Regenten und Parteien oder in einer milden Menschenfreundlichkeit, die
auch dann den Krieg scheut, wenn er notwendig ist, sondern darin, daß sie ihn
nicht uur nicht brauchen, sondern in ihrer gegenwärtigen Lage und voraus¬
sichtlich für die Zukunft alle erdenkliche Ursache haben, ihn zu scheuen- Sie
sind befriedigte und folglich konservative Mächte, die vollauf haben, was sie
bedürfen, und durch einen Krieg nichts gewinnen können, was ihn lohnte.
Das war einmal nicht so. Wir mußten uns kriegerisch mit Österreich aus¬
einandersetzen, weil der Dualismus uns fesselte und schwächte, und weil er
auf friedlichem Wege nicht zu beseitigen war. Wir bedurften im Norden und
im Westen einer bessern Grenze, um Frieden vor begehrlichen Nachbarn zu
haben, und diese Nachbarn gaben uns durch unvernünftige Angriffe das Recht
zur Befriedigung des Bedürfnisses. Aus ähnlichen Gründen mußte Österreich-
Ungarn sich durch Bosnien und die Herzegowina abrunden. Italien mußte
seine Einheit vollenden. Das alles ist jetzt erreicht, vollständig erreicht, und
keins der Glieder des Dreibundes kann billigerweise mehr verlangen, als was
es besitzt, alle können keinen andern Wunsch hegen, mindestens keinen wärmern
und lebhafter» Wunsch, als das Errungene zu bewahren, alle sind auf die
Verteidigung angewiesen. Ein Angriffskrieg ihrerseits ließe wenig Gewinn
hoffen, aber Verlust befürchten, also wünschen sie in aller Aufrichtigkeit die
Erhaltung des Friedens und haben reichliche Beweise dafür geliefert. Frank¬
reich und Rußland dagegen sind mißvergniigte Mächte, weil ihre vermeint¬
lichen Bedürfnisse nicht befriedigt sind. Jenes möchte Elsaß-Lothringen
wiedergewinnet!, weil es die Bedrohung Deutschlands erleichterte, ebenso sein
Ansehen in Europa, richtiger seinen Anspruch auf Vorherrschaft in Europa.
Rußland glaubt sich mit dem, was ihm sein „Befreiungskrieg" auf der Valkau-
halbinsel schließlich eingebracht hat, nicht hinreichend belohnt und mochte es
vervollständigen, d. h. wie im Frieden von San Stefano mittelbar oder wo
möglich unmittelbar an die See, an das Ägeische und mit diesen: an das
Mittelländische Meer gelangen. Beide sind infolge dessen auf Krieg, Störung
des Bestehenden, Umsturz der Verträge bedacht, kurz revolutionäre Mächte,
Daher wirkt alles, was in Gestalt von Verträgen und Bündnissen diese
beiden Großmächte entmutigt und zurückhält, für den Weltfrieden. Der Drei¬
bund führt ihnen zu Gemüte, daß selbst im Falle ihrer Vereinigung zu einem
Gegenbnnde die Verwirklichung ihrer Wünsche kein leichtes Werk sein wird.
Die bloße Möglichkeit, geschweige denn die Wahrscheinlichkeit, daß England es
in seinein Interesse finde, Italien gegen einen französischen Flottenangriff zu
verteidigen, ist schon ein schweres Bedenken, das sich den kriegerischen Absichten
der Franzosen in den Weg stellt, und diese Wnruuug ist handgreiflich, da Lord
Salisbury nicht wohl dulden kann, daß Englands starker Nebenbuhler am
Mittelmeere hier noch stärker wird. Anderseits sind die Ausdrücke von Wohl¬
wollen sür die Friedensfeinde in Frankreich und Rußland, die von einem
Staatsmanne ausgehen, der wieder obcnanfkommen und sich der Leitung des
englischen Einflusses auf die Angelegenheiten des Festlandes bemächtigen kann,
eine unmittelbare Ermutigung jener beiden Mächte, den Frieden zu brechen.
Es heißt in dem Artikel Gladstones, obwohl Deutschland und Österreich
ganz recht gethan hätten, sich zu verbinden, sollte Italien sich von deren
Bündnis fernhalten. Das läßt sich vom Standpunkte eiues Politikers wie Glad-
stone leicht behaupten, wenn er nur auch bewiesen Hütte, daß Italien dann
vor dem französischen Nachbar sicher wäre. Aber welcher Kenner der Geschichte,
der sich auch nur oberflächlich der herkömmlichen französischen Politik in Be¬
treff der italienischen Halbinsel und der unruhigen Begehrlichkeit erinnerte,
womit diese Politik in der jüngsten Zeit am Mittelmeere um sich gegriffen
hat, wollte einem durch kein Bündnis geschützte» Italien eine solche Sicher¬
heit verbürgen? Wir sehen von seinen Interessen in Nordafrika ab. Aber
was könnte die Pariser Regierung verlockenderes vor sich sehen, als eine Art
Wiedergewinnung des bei Metz und Sedan ganz verlornen Kriegsruhmes auf
den Ebnen im Süden der Alpen? Welch eine schöne Probe der Tüchtigkeit
des neuen Heeres! Welch ein verheißungsvolles Vorspiel des größern Kampfes
zwischen Vogesen und Rhein! Ein Vorwand, Italien zu bekriegen und wohl¬
feile Lorbeer» zur Bekränzung der Trikolore zu pflücken, wäre bald gefunden.
Die französische Republik scheute sich 1849 nicht im mindesten, die damalige
römische Schwester anzufallen und deu Papst wieder einzusetzen, die republi¬
kanische Regierung, die jetzt in Paris sitzt, würde nicht in Verlegenheit sein,
einen ähnlichen Anlaß zum Einschreiten jenseits der Alpen zu entdecken. Diese
augenscheinliche Gefahr ist es, die die Italiener genötigt hat, gewaltige
Rüstungen zu Lande und zu Wasser vorzunehmen und, da sie nicht genügten,
sich dem Bündnis der beiden mitteleuropäischen Mächte anzuschließen, von
deuen allein ein uneigennütziger Beistand zu hoffen war. Gladstone ist also
auch in dieser Beziehung ein verblendeter Politiker, ein Parteigänger des Un¬
verstandes und des Unrechts — kurz, wie er sich selbst ironisch bezeichnete, in
Wahrheit ein Utidcmos.
egen die Einrichtung einer reinen Neichsbank haben einige Leute
die Behauptung angeführt, bei einem unglücklichen Kriege mit
dem Auslande würde das Kapital einer solchen Bank leichter der
Beschlagnahme des Feindes unterliegen als das Kapital einer
durch Privatmittel gebildeten Bank. Abgesehen nnn von dein
Zweifel, ob ein siegreicher Feind sich die Mühe nehmen würde, so seine Unter¬
schiede zu machen, müssen wir uns für unfähig bekennen, mit den Verfechtern
solcher Bedenken uns in einen Streit einzulassen, wenigstens soweit diese Be¬
denken von deu heldenmütigen Seelen herrühren, die sich vor überseeischen
Nasenstübern heillos fürchten und dadurch uns schon unheilbare Verluste zu¬
gefügt haben.
Auch deu Grund können wir nicht gelten lassen, daß eine Reichsbnnk mit
Privatkapital nicht so leicht dem Mißbrauch durch die Reichsregierung würde aus¬
gesetzt sein, wie ein reines Reichsinstitut. Bei einem solchen würde allerdings der
35 des Bankgesetzes nicht anwendbar sein, wonach den Geschäften der Reichs¬
bank mit den Finanzverwaltungen des Reiches oder der Einzelstaaten der
Zentralausschuß zustimmen muß. Eine entsprechende gesetzliche Bestimmung,
wonach etwa dem Reichstage ein Mitwirkungsrecht gewahrt würde, müßte
solche Bedenken erledigen. Außerdem halten wir jene Bestimmung in 8 35 des
Bankgesetzes nicht für besonders wertvoll; gegenüber einer in Geldbedrüngnis
befindlichen kräftigen Reichsregierung würde selbst der Zentralausschuß nicht
widerstandsfähig sein. Auch können wir nach allen mit der Negierung des Reiches
und der Einzelstaaten gemachten Erfahrungen bezüglich budget- und sonst ver¬
fassungsmäßig geführter Finanzverwaltung zu ihnen das beste Vertrauen hegen,
sodaß es nicht gerechtfertigt wäre, an lehrmeinungsmäßigem Mißtrauen die Schaf¬
fung eines sonst nützlichen und notwendigen Reichsinstituts scheitern zu lassen.
Haben wir lediglich eine Neichsbank als reines Neichsinstitut, so kann sie
auch zur Beschleunigung der Germanisirung von Elsaß-Lothringen viel bei¬
tragen. Sie wird den Firmen, die in ihrer Buchführung u. s. w. französische
Sprache und französisches Münzsystem anwenden, dieses Versälle» sehr bald
dadurch abgewöhnen können, daß sie nicht bloß mit solchen Frnuzöslingen selbst
keine Geschäfte macht, sondern auch leine Wechsel ankauft, auf denen irgend
welcher Reichsaugehörige unter den frühern Wechselverpflichteten sich der fran¬
zösischen Sprache oder französischer Rechnungsweise bedient hat.*)
Auch könnte die Neichsbank, wenn sie alleinige Notenbank wäre, gar manche
Maßregel zur Ausschließung und Unterdrückung unsolider Geschäftsverhältnisse,
z. B. von Reitwechseln, ergreifen, Maßregeln, die ihr beim Vorhandensein noch
andrer Notenbanken teils wegen deren Wettbewerbes, teils wegen unvollständiger
Übersicht über das Kreditbedürfnis und die Kreditansprüche aller einzelnen
Kreditnehmer nicht oder nicht in ausreichendem Umfange zu Gebote stehen.
Nach dieser Begründung unsrer Ansichten und Anträge gehen wir uun
dazu über, die wesentlichsten Gründe, mit denen wir die jetzigen Einrichtungen
verteidigt gefunden haben, im einzelnen zu widerlegen.
Es ist uns nicht unbekannt, wie auf besondre Anregung manche kauf¬
männische und gewerbliche Vertretungen das Fortbestehen der Privilegien der
Privatnvtenbaukeu eifrigst befürwortet habe». In mit rührender Bescheidenheit
haben diese Herren für die Privatnotenbauken sogar Erweiterungen ihrer
Privilegien beantragt! Aber wie waren die Kommissionen zusammengesetzt, die
solche Anträge stellten? Es waren die Verwaltungsräte und Günstlinge der
Privatnvtenbaukeu selbst, die auf diese Weise in willkürlich zusammengesetzter
Weise die wunderbarsten Beschlüsse faßten. Solche Giltachten haben wahrlich
noch weniger Wert, als eine Masseupetitiou mit unzähligen Unterschriften von
Leuten, die des Inhalts wie der Gründe unkundig sind.
Und was für eine Begründung haben diese Befürworter der Privat¬
notenbanken ihren Anträgen zu geben gewagt? Sie sagen, die Reichsbank sei
zu bureaukratisch, folge mit ihren Entschließungen nicht rasch genug den Verkehrs¬
bedürfnissen, weil diese oft größer seien, als daß sie von den einzelnen Zweig-
anstalten selbständig berücksichtigt werden könnten. Das ist einfach nicht wahr.
Der Kredit, den die Reichsbank gewährt, ist immer so wohl erwogen und sorg¬
fältig geprüft, daß er der Kreditwürdigkeit entspricht. Die einzelnen Zweig¬
anstalten haben auch eine ganz hinreichende Selbständigkeit, um allen be¬
rechtigten Anforderungen zu genügen. Das zeigt sich an all den Orten, wo
Privatuvteubaukeu nicht bestehen. Dahin gehören namentlich die preußische»
Provinzen mit hochentwickelter Industrie. In ihnen hätte sich längst das Be¬
dürfnis von Privatuvteubaukeu neben der Neichsbank herausstellen müssen, wenn
ein solches überhaupt bestünde.
Verschiedne größere Privatnotenbanken unterhalten Filialen an kleinern
Plätzen, wo die Reichsbank keine Stellen hat. Da wird nnn gesagt, wenn
nur eine Reichsbank existire, würden jene Filialen schwer vermißt werden.
Ja wer behauptet denn, daß die Reichsbank dann, wenn sie die einzige Noten¬
bank wäre, an diesen Plätzen keine Filialen einrichten würde? Es sind das
doch Verkehrspunkte, die für das Nebeneinanderbestehen der Filialen von zwei
Notenbanken zu klein sind, und an denen die Reichsbank schon, als sie errichtet
wurde, Filialen von Prioatnoteubauken vorfand. Gewiß würde die Reichsbank,
wenn sie das Monopol der Bauknvtenemissivn hätte, wo nur immer möglich
Filialen errichten, gerade wie die Post durch Errichtung von Postämtern den
weitestgehenden Wünschen des Publikums entspricht.
Die verbrauchten Redensarten von der dein Publikum heilsamen Konkurrenz
zwischen Reichsbank und Privatnoteubanken wird jeder belächeln, der, wenn er
früher noch nicht einsichtig genug gewesen ist, wenigstens nach Verstaatlichung
fast sämtlicher Eisenbahnen einsehen gelernt hat, daß solche dem. Gemeinwohl
dienende Anstalten wie Post, Telegraphie, Eisenbahnen, mit denen die Noten¬
banken ans ganz gleicher Stufe stehen, nur dann völlig richtig und gerecht ver¬
waltet werden können, wenn sie Staats- oder Reichsanstalten sind. In
Schriften zu Gunsten der Privatnoteubanken wird geredet von dem befruchtenden
Einflüsse, den sie auf das Verkehrsleben ausüben n. f. w. Das sind billige
Redensarten, die nach etwas klingen, die aber, wie man bei einigermaßen sorg¬
fältigem Überlegen alsbald findet, in Wirklichkeit alles Sinnes ledig sind und
daher gegen die alleinige Reichsbank keinerlei Grund bringen oder auch uur
andeuten. Daß diese Befruchtung des Verkehrs durch die Privatnoteubanken,
wenn sich überhaupt darunter etwas vorstellen ließe, etwas sehr bedenkliches
wäre, möge man unter anderm daraus ermessen, daß diese Privatnotenbnnten
wiederholt bei längst zu erwartenden Konkursen von Schwiudelfirmen mit teil¬
weise riesigen Summen beteiligt gewesen sind und entsprechende Verluste gehabt
haben. Jeue Verkehrsbefruchtung ist meist die Einführung der oben ver¬
urteilten Einrichtung einzelne Kreditnehmer bevorzugender Zinssätze!
Diese Beleuchtung der ganzen Frage als einer solchen der innern Wirtschafts¬
politik - und zwar als eines Falles, wie die Nation durch übermächtige Kreise
die Großfinanz planmäßig ausgebeutet wird — erinnert nu ein Seitenstück, das
sich in deu letzte» Jahren in einem großen Nachbarstaate abgespielt hat. Wir
meinen die Verlängerung des Privilegs der (fast ausschließlich in Rvthschildscheur
Besitze befindlichen) Kniser-Ferdinands-Nordbahn durch die österreichische Re¬
gierung. Ganz vergleichbar würde es sein, wenn jetzt im deutschen Reiche den
Privatnoteubanken ihre Privilegien gelassen würden. Das ist aber undenkbar,
den» nach unsrer Meinung ist das deutsche Reich, sind seine Staatsmänner
der Plutvkrcitie uoch nicht zinspflichtig.
Wenn wir in diesem Aufsatz einen Teil der Bedenken andeuten, zu denen
das Verhalten unsrer Großfinanz vielleicht noch nicht so sehr wie der andrer
Länder Anlaß bietet, so wollen wir dabei durchaus nicht alle Kräfte, die ihr
angehören, gemeint haben. Es giebt eine Anzahl kapitalstarker, einflußreicher
und mit anstündiger Gesinnung geleiteter, den Geld- und Kapitalverkehr ver¬
mittelnder Kreditbanken und Bankiers, deren Thätigkeit einem wahren Be¬
dürfnis unsers Kulturlebens entspricht. Ihnen wollen wir durchaus nicht zu
nahe treten, gleichwie wir weit davon entfernt sind, die Verstaatlichung dieser
freien Bauten zu verlangen, wie es in neuerer Zeit mehrfach geschehen ist.
Anderseits bedenke man, wie groß in vielen Fällen für die, die Bankgeschäfte
betreiben, die Versuchung ist, zum eignen Vorteil das Interesse der Auftraggeber
zu verletzen, und daß es sich daraus erklärt, weshalb sich anerkanntermaßen in
diesem Geschäftszweige manches als vielfach geltender Brauch eingebürgert hat,
was in andern Geschäftsbetrieben als unzulässig befunden werden würde.
Wenn viele wichtige und durchschlagende der von uns hervorgehobenen
Bedenken gegen das Fortbestehen der Privatnvtenbnnken bisher in den Zeitungen
noch nicht erörtert und wohl auch > maßgebenden Kreisen gar nicht bekannt
geworden sind, so hat dies seinen Grund in der klugen Taktik der Anhänger der
Privatnotenbanken. Wie die deutschfreisinnige und sonstige Oppositionspresfe die
Wahrheiten, die ihrem Allleugnungs- und Verhetzungssystem widersprechen, tot¬
schweigt und dadurch ihren Lesern unterschlägt, so thut es auch die fast ausnahmslos
„deutschfreisinnige" Börse mit ihrem Anhange. Alles, was den Beherrschern der
Börse und der Großfinanz nicht gefällt, darf einfach in den Börsenblättern und
dein größten Teile der übrigen Zeitungen nicht erwähnt werden. Dagegen wird
alles eifrigst ausgeführt, was die so unterschlagncn Wahrheiten scheinbar widerlegt.
Wie würde aber auch das Fortbesteheulassen der jetzigen Privatnoten¬
banken, die ganz auf privatkapitalistischer Grundlage beruhend von einem
Teile der mächtigen Grvßfiuanz als Fangarme nußbraucht werden, der seit
der kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 immer mehr bethätigten
Sozialpolitik widersprechen, wonach'die Staatseinrichtungen gerade den Schwachen
und Minderkräftigen dienen sollen! Unsre Großindustrie ist mit Recht zu be¬
trächtlichen Leistungen im Sinne dieser Grundsätze herangezogen worden. Und
dem entgegen wollte mau unsre Großfinanz weiter bevorzugen, unsre Groß-
finauz, in deren Händen sich ungeheure, lawinenartig anschwellende, für unser
Staatswesen gefährlich groß werdende Einzelvermögen anhäufen, Vermögen, die
den Niesenvermögen der Vanderbilts, Gvnlds, MackahS u. s. w. zum Teil nicht
nachstehen, deren wahre Höhe aber bei der schlauen Bescheidenheit unsrer
fünfzig- bis tausendfachen Millionäre uur vou wenigen richtig erkannt wird!
Ist doch diese Unkenntnis der Grund, daß in den Staaten, wo eS noch an
der Pflicht der Selbsteinschätzuug zu den direkten Staatssteuern gebricht, die
Besitzer jeuer ungeheuer,: Vermögen uur verhältnismäßig geringe Steuern zahlen.
Wie würde ferner das Fortbestehenlassen der Privntnvtenbauken unsrer
Eisenbahnpolitik, der grundsätzlichen Verstaatlichung unsrer Eisenbahnen, wider-
spreche»! Diese hat man im wesentlichen durchgeführt, aber nicht um finanzieller
Vorteile willen, die mich, die Folge der Maßregel gewesen sind, zum Teil wohl
ans Gründen der stärkern Wehrhaftigkeit des Landes, wiewohl die Privat-
eisenbnhnverwaltnngen im letzten großen Kriege ihren Pflichten in anerkennens¬
werter Weise genügt haben, hauptsächlich aber, weil man mit Recht derartige
dem allgemeinen Interesse dienende Einrichtungen der Willkür der Privnt-
verwaltung, die dein Grundsätze gleichmäßiger Behandlung aller Staats¬
angehörigen nie ganz vollständig entsprechen werden und können, nicht mehr
überlassen wollte, und weil man ausschließen wollte, daß einzelne Bahn-
verwaltnngen ans Sonderinteresse eine dem Wohle des ganzen Reiches schädliche
Tarifpolitik treiben könnten.
Es gilt nun noch einen ganz eigenartigen Einwand gegen unsre oben
entwickelten Ansichten abzuthun. Man behauptet, in Bezug auf die bairische
Notenbank bestehe ein bairisches Reservatrecht, das durch die Reichsgesetz-
gebung nicht berührt werden dürfe. Der Einwand ist so unbegründet und
aller Kenntnis unsrer Berfassnng wie des Bankgesetzes baar, daß wir ihn um-
soweniger beachten würden, als er sich zunächst in untergeordneten Zeitungen
von ausgesprochen partiknlaristischer Färbung ans Tageslicht gewagt hat, wenn
nicht ernstere und anständigere Druckschriften ihn abgedruckt hätten, und zwar
ohne den Versuch einer Widerlegung und ohne ein Wort der Mißbilligung.
In Art. 4 Ziffer 4 der Reichsverfassung ist das Bankwesen ganz all¬
gemein der Reichsgesetzgebung unterstellt. Es ist dort von einem Neservatrecht
Baierns kein Wort gesagt, wie in Ziffer 1, 8 und 10 des Art. 4 wegen der
Heimath- und Niederlasfungsverhältnisfe, des Eisenbahnwesens, des Post- und
Tclegraphenwesens. Aber auch aus dem Bankgesetze vom 14. März 1875
selbst geht hervor, daß die dort in H 47 Abs. Z Baiern eingeräumte gro߬
artige Bevorzugung nur so lauge gelte» soll, als die übrigen Privntnvteu-
baukeu die Konzession fortbehnlten. Dort ist gesagt: „Die bairische Regie¬
rung ist berechtigt, bis zum Höchstbetrage von siebzig Millionen Mark die
Befugnis zur Ausgabe von Banknoten für die in Baiern bestehende Notenbank
zu erweitern oder diese Befugnis einer andern Bank zu erteilen, sofern die
Bank sich den Bestimmungen des H 44 unterwirft." Und H 44 besagt in
Abs. 1 Ur. 7: „Die Bank willigt ein, daß ihre Befugnis zur Ausgabe von
Banknoten zu den in ^ 41 bezeichneten Terminen durch Beschluß der Landes¬
regierung oder des Bundesrates mit einjähriger Kündigungsfrist aufgehoben
werden könne, ohne daß ihr ein Anspruch auf irgend welche Entschädigung
zustünde." Also das Notenemissionsrecht der bäuerischen Notenbank ist, ent¬
sprechend dem allgemeinen Grundsatze in 1 Abs. 1 des Bankgesetzes, nicht fester
und unantastbarer als das der übrigen Privatnvteubauleu und der Neichsbank.
Hierbei »eng übrigens der Verwunderung Ausdruck verliehen werden, daß
in jener Bestimmung in 47 Abs. des Bankgesetzes wieder eine Bevorzugung
Baierns liegt, die wir in ihren Gründen nicht zu fassen vermögen. Nach dein
Bankgesetze wurden 385 Millionen Mark steuerfreie Noten festgestellt. Davon
sollten ans bairische Banken 32 Millionen konunen. Das war verhältnis¬
mäßig schon sehr viel, da Baiern nnr den nennten oder zehnten Teil des
deutsche» Reiches bildet, und da doch in Vaiern nicht bloß dessen Notenbanken,
sondern auch die Geschäftsstellen der Reichsbank dem Verkehr dienen sollten.
Man traut seinen Augen uicht, wenn man solchen Verhältnissen gegenüber jene
Bestimmung in K 47 Abs. 3 des Bankgesetzes liest, man gewinnt daraus wie
ans andern ähnlichen bevorzugenden Sonderstellungen Baierns^) geradezu
die Ansicht, daß die Bniern allein Deutsche erster Klasse, die übrigen Deutschen
aber Neichsangehörige zweiter Klasse seien.
Zu unsrer Befriedigung wird uns mitgeteilt, daß gerade der bairischen Regie¬
rung nahestehende Personen betreffs der bevorstehenden Bankgesetzgebnng den Ver¬
dacht weit von sich weisen, Bniern wolle eine Sonderstellung für sich herausschlagen.
Wenn von manchen Seiten die Frage der Beseitigung des Neichspapier-
geldes und die Verleihung des Rechtes, an Stelle des Reichspapiergeldes
entsprechende kleine Noten auszugeben, an die Reichsbank mit der Frage der
Kündigung der bestehenden Bnnknotenprivilegien verquickt worden ist, so mochten
Nur diese Frage von den jetzigen Erörterungen ausgeschlossen sehen, damit nicht
ein neuer verwirrender Streitfall hereingebracht werde, der leicht in der
Entscheidung der Hauptfrage auf falsche Wege leiten könnte. Wie oft hat im
parlamentarischen Leben die Annahme eines neu aufgetauchten Nebenantrages
die Hauptentscheidung so durchbrechen helfen, daß sie ganz anders ausgefallen
ist, als gut war und als die Mehrheit ursprünglich wollte.
Auch Voransbestimmung der Grundsätze, nach denen von der Bank im
Kriegsfalle zu verfahren sei, halten wir für ein sehr bedenkliches und nicht
ini»der überflüssiges Unternehmen.
Unsers Wissens ist darüber gestritten worden, ob die ganze Frage der
Verlängerung oder Kündigung der Banknvtenprivilegien vor den Reichstag
gebracht werden müsse oder nicht. Nach 41 und 44 des Baukgesetzes könnte
es scheinen, als ob dem Bundesrate das Recht zustehe, die Nvtenprivilegien
allem ohne Befragung des Reichstages zu verlängern oder zu kündigen.
Allein abgesehen von der Entstehungsgeschichte des Bankgesetzes, wonach an¬
gesehene Parlamentarier dem Reichstage das Recht der Mitwirkung zuschreiben,
ist auch Absatz 3 von dz 47 des Bnnkgesetzes unsers Erachtens so zu deuten,
daß der Reichstag zustimmen müßte, wenn der Bundesrat eine Kündigung bis
Ende Dezember 188!) unterlassen und dndnrch die Banknvtenprivilegien um
zehn Jahre verlängern wollte.
Wir glauben unsre oben ausführlich begründete Ansicht, daß allen Noten¬
banken für Ende 1890 ihr Privileg gekündigt werden müsse und daß vom
1. Januar 1891 ab die Reichsbauk als reines Reichsinstitut ohne Privatknpital,
nur mit Neichsmitteln ausgestattet, sowie ohne jede Kontrole der Grvßsiuanz
oder andrer Privatkreise, höchstens unter Zuteilung eines Beirates aus ver-
schiednen Erwerbskreisen, fortbestehen müsse, mit zwingenden Gründen gestützt
zu haben. Die staatliche Ehre und die wirtschaftlichen Interessen der Nation
fordern es gebieterisch. Der Widerstand gegen diese Maßregel stützt sich zum
Teil auf Sonderinteressen, die dem Ganzen schädlich sind, zumTeil auf einen gewissen
Partikularismus, der dem Reiche uicht will zukommen lassen, was des Reiches ist.
Mit diesem Partikularismus möchten Nur zum Schlüsse noch ein Wort sprechen.
Ein Reich, ein wirkliches Reich bilden Nur Deutschen nur dann, wenn
wir in unsern Beziehungen zum Auslande ein einheitliches Ganzes bilden.
Wir müssen also im Kampfe gegen das Ausland unverbrüchlich zusammen-
stehen. Dieser Kampf ist teils ein solcher der Gewalt, der wirkliche Krieg,
teils ein wirtschaftlicher Wettbewerb. Damit wir in letzterm, in dem es
keinen Frieden giebt, nicht unterliege», ist vor alle» Dingen ein einheitlicher
Zolltarif, einheitliches Münz- und Währuugssystem und eine einheitliche Nvteu-
bankverwaltuug nötig. Letztere ist ebenso nötig, wie die vollste Einheit in der Zoll¬
politik, und weniger zu entbehren als manche andre Einrichtung, von der kein guter
Deutscher sich wieder trennen möchte, z. B. das Reichsgericht. Die Verleihung von
Nvtenprivilegien ist eben so schlimm, wie eine Diirchbrechuilg des allgeiireiiieii Zoll¬
tarifs zu Gunsten sei es einzelstaatlicher Selbständigkeit, sei es von Pächtern
der Zölle für einzelne Provinzen, und weit schlimmer als die Gestattung von
Landespapiergeld neben dem Neichspapiergelde sein würde. Dem Bestehen von
Privatnvtenbanlen mit der jedem Einzelnen gewährte!? Berechtigung selbständiger
Diskontpolitik würde es gleichen, wenn wir zwar einen allgemeinen Zolltarif
Hütten, aber jedem Einzelstaate eine beliebige Herabsetzung der einzelnen Zoll¬
sätze für einzelne bevorzugte Personen oder die beliebige Gewährung von Zoll-
rückvergütnngen an Einzelne freistünde. Daß die Aufstellung der Beschränkungen
in t; 44 des Vantgesetzes solche Bedenken nicht erledigt, ist klar, und wir haben
es oben gezeigt. An dem Verhalten gegenüber dieser hochwichtigen Entscheidung
werden wir eine vorzügliche Gelegenheit zur Prüfung des Verständnisses für
die dringendsten Interessen des Reiches, sowie zur Prüfung der wahren und
herzlichen Reichstreue jedes Einzelnen haben, der bei der Entscheidung darüber
mitzuwirken hat. Wir vermögen nicht zu fassen, wie irgend welche Redens¬
arten oder Scheingründe eine abweichende Stimme in anderm Lichte könnten
erscheinen lassen. Darum rufen wir jedem Dentschen bei der Entscheidung
dieser hochN'ichtigen Frage zu: Hio Wwäu«, tuo «Ma!
nsre bisherige Betrachtung betraf die in den Berichten dargestellte
Organisation in ihren äußern Verhältnissen. Wir wenden uns nnn
zu den besondern Abschnitten, die von dem Zivilprozeß handeln.
Nachdem sich bereits der Bericht von 1882 lobend über die
Wirksamkeit der Zivilprozeßordnung ausgesprochen hatte, ergeht
sich der Bericht von l8«7 in neuen Lobeserhebungen über das Verfahren, „dessen
einfache und elastische Formen die sichere, ungehemmte Anwendung des materiellen
Rechtes erleichtern." Allerdings seien auch tadelnde Urteile laut geworden,
die sich namentlich dagegen richteten, daß das Urteil lediglich auf deu Grund
einer mündlichen Verhandlung gesprochen werden solle. Der dagegen erhobene
Vorwurf würde richtig sein, wenn die Gerichte wirklich nur auf Grund münd¬
licher Verhandlung ihr Urteil zu geben hätten. Er widerlege sich aber dadurch,
daß das Urteil zugleich seine Grundlage finde in den gewechselte,! vorbereitenden
Schriftsätzen. „Übe nlsdanu das Gericht seiner Pflicht gemäß eine Kontrole
darüber aus, inwieweit die nuuidlichen Vorträge von dem Inhalte der Schrift¬
sätze abweichen, so besitzt es vollauf die Mittel zu eiuer zuverlässigen Fest¬
stellung und Beurkundung der Ergebnisse der mündlichen Verhandlung."
Nur zweisÜbelstände seien anzuerkennen. Der in die Hände der Parteien
gelegte Selbstbetrieb des Prozesses habe durch häufige Vertagungen und Ver¬
eitelungen der Verhandlungstermine vielfach zu Verschleppung der Prozesse
geführt. Hiergegen habe der Minister bereits am 23. September 1887 einen
Erlaß gerichtet, durch deu er die Gerichte ermahnt habe, streng gegen solche
Verschleppungen vorzugehen. Zunächst sei der Erfolg dieses Erlasses ab¬
zuwarten. Sodann habe das Zustellungsweseu zu berechtigten Ausstellungen
Veranlassung gegeben, und „wenn es dereinst zu einer Revision der Prozeßordnung
komme," so werde namentlich an diesen Punkt bessernde Hand anzulegen sein.
Seitdem nun hat der Herr Justizminister, so lange seine Amtsthätigkeit
dauerte, auf diesem Gebiete nichts weiter gethan, als daß er den gedachten
Erlaß vom 23. September 18«7, gegen den sich eine Flut von Widerspruch
aus Anwaltskreisen erhoben hatte, kurz darauf in einer Weise erläuterte, daß
sich die Anwälte damit zufrieden geben konnten. Ob hiernach der gedachte
Erlaß noch eine wesentliche Wirkung geübt hat, ist nicht näher bekannt geworden.
Wenn es nach der Darstellung des Berichtes so scheint, als ob die
tadelnden Urteile über den Zivilprvzes; uur ganz vereinzelte Ansichten gewesen
seien, so möchten wir dem gegenüber doch den ganzen Verlauf der Sache in
Erinnerung bringe». Bei ihrem Erlaß war die Prozeßordnung so mit Lob¬
preisungen überschüttet worden, daß sie als ein Ideal von Vollkommenheit galt.
Natürlich glaubte nun jeder, er müsse auch seinerseits diese Vollkommenheit
herausfinden. Wer sie nicht fand, wußte doch nicht, ob es nicht bloß an ihm
liege. Niemand hatte einen Überblick, wie es im allgemeinen aussah. So
wurde der Glaube an die Vortrefflichkeit des Werkes lange Zeit künstlich auf¬
recht erhalten. Nur ganz zaghaft regten sich einzelne Stimmen, die dies oder
jenes auszusetzen fanden oder in einem Scherzworte („Revanche für Langen¬
salzn") sich Luft machten. Erst im Jahre 1885 traten Stimmen ans, die auf
Grund gesammelter Erkundigungen über die Bewährung des Gesetzes in weiter»
Kreisen ein umfassenderes Urteil auszusprechen wagen konnten, das nicht günstig
ausfiel. Hätten nnn diese Stimmen etwas ausgesprochen, was den Ansichten
aller Welt zuwider gelaufen wäre, so würden sie sicherlich nicht beachtet,
höchstens verlacht worden sein. In der That aber sprachen sie nur aus, was
Tausende von Juristen längst gefühlt hatten. Nur dadurch gewannen sie eine
Bedeutung, die der Herr Justizminister selbst damit anerkannte, daß er ihrer
in seinem Berichte an den König zu erwähnen sich gedrungen fühlte. Nun
aber trat eine gewisse Wendung ein. Professor Wach in Leipzig, der bedrängten
Unschuld zu Hilfe eilend, erschien auf dem Plane mit einer Schrift, worin er die
Prozeßordnung gegen die Angriffe in Schutz nahm und lebhaft anpries. Nicht
durch das Gewicht ihrer Gründe, sondern durch etwas ganz andres gewann diese
Schrift eine große Bedeutung. Alpha und Omega derselben war die Bezug¬
nahme ans Herrn Minister Dr. Friedberg, der seinen im Jahre 1882 um
deu König erstatteten — damals noch unbekannten — Bericht dem Verfasser zur
Verfügung gestellt hatte. Von diesem war er als Beleg für die Vortrefflichkeit
des Gesetzes benutzt worden. Dadurch wurde aller Welt kundgethan, daß der
Herr Minister sich schon im Jahre 1882 für die Bewährung der Zivilprozeßord-
nungausgesprochen habe und daß er auch jetzt noch diese Ansicht zur Geltung
gebracht haben wolle. Der Minister eines großen Landes ist aber stets eine
solche Autorität, daß viele ihre Ansicht unwillkürlich darnach bilden. Mit
diesem Erfolg Hütte sich Professor Wach wohl genügen lassen können. Er hielt
aber auch die bisherigen Erkundigungen für unbefriedigend und veranstaltete
nun seinerseits noch eine große „Enquete" bei sämtlichen Landgerichten über
eine Anzahl gestellter Fragen. Bei den nahen Beziehungen, in denen nach
seiner vorausgegangenen Schrift Wach zu dein preußischen Justizministerium
stand, hielten viele diese Erhebung für offiziös, was ihren Erfolg sicherte.
Zwar wurde dies wieder zweifelhaft. Es erschien nach einiger Zeit ein Artikel
in der Nationalzeitung, der diese Erhebung mißbilligte und von deren Befolgung
abmahnte, offenbar in der Voraussicht, daß sie mir Übles zu Tage fördern
werde.") Indessen war die Sache einmal in Gang gesetzt; die Berichte wurden
in großer Zahl erstattet, und Wach konnte nicht umhin, sie zu veröffentliche«.
Sicherlich hatte man in den Berichten die Dinge eher günstig als ungünstig darzu¬
stellen gesucht. Auch Wach hatte die Wiedergabe gewiß nicht ungünstig gehalten.
Mit Aufstellungen von handgreiflicher Unrichtigkeit suchte er die Blößen der Sache
zu decken. Auf die schlimmsten Punkte des neuen Verfahrens (das Zustellungs¬
wesen, den amtsgerichtlichen Prozeß, die Ausbildung der Referendare, die
Prozeßkvsteu u. s. w.) war die Erhebung gar nicht gerichtet worden. Und
dennoch — ihr Ergebnis war vernichtend. Nach ihr kann man kaum noch
von einer „Prozeßordnung," sondern nur noch von einer Prozeßunordnung
reden. Unzählige Verlegungen, Aussetzungen und Unterbrechungen der Termine
machen einen geordneten Geschäftshanshalt der Gerichte überaus schwierig. Die
mündliche Verhandlung läuft bei vielen Gerichten mir auf ein Ablesen oder
Ableiern der Schriften hinaus. Das Mnndlichkeitsprinzip, so wie das Gesetz
es aufstellt, durchgeführt, führt zum Unsinn; will man es aber trotz des
Gesetzes abschwächen, so lastet überall die Frage: Wo die Grenze? mit ver¬
hängnisvoller Wucht ans den Personen und auf den Sachen. Die Gerichte
kämpfen mit einer fortgesetzten Not, wie sie unter den Formen dieses Prozesses
dem Interesse der Sachen gerecht werden sollen. So ungefähr klingen die
Leitmotive, über die ein ganzer Schwarm von Landgerichten Chorus singt.
Wie ist nun der Bericht über diese kurz vorher veröffentlichten schwer¬
wiegenden Zeugnisse hinweggekommen? Er schweigt einfach davon.
Auch noch bei einer andern Gelegenheit Hütte der Herr Minister über den
wirklichen Stand der Dinge sich unterrichten können. In den zahlreichen Ent¬
gegnungen, die sein gegen Verschleppungen gerichteter Erlaß vom 23. Sep¬
tember 1887 in der Presse fand, traten die Schäden des bestehenden Proze߬
getriebes, die auch durch keine Reskripte gehoben werden könnten, offen zu Tage.
Als dann der Herr Minister seinen erläuternden Erlaß gegeben und damit die
Anwälte zufriedengestellt hatte, verstummte freilich alles wieder.
Was der Bericht über den Wert der mündlichen Verhandlung sagt, ist
vollkommen richtig, ist aber auch von niemand bestritten worden. Ebenso kann
man ja zugeben, daß die „elastischen Formen" des Verfahrens mitunter der
Gerechtigkeit zu gute kommen, während sie anderseits auch von Richtern und
Anwälten mißbraucht werden können. Alle diese Dinge sind aber gar nicht
in Frage. Die Frage ist vielmehr die: Welche Garantie ist dafür gegeben,
daß das Gericht nicht bloß nuf das, was es mündlich gehört zu haben glaubt,
seine Entscheidung giebt? Daß das Urteil einer Grundlage bedürfe, die es in
höherm Maße sichere, als die bloße mündliche Verhandlung, das erkennt auch
der Bericht mit sehr entschiednen Worten an. Er sagt, wenn eine solche
sichernde Grundlage fehlte, so müsse „so bald wie möglich eine fundamentale
Änderung des Gesetzes in Angriff genommen werden." Der Bericht findet
nun aber diese sichernde Grundlage darin, daß vorher Schriften gewechselt
würden, daß das Gericht die Pflicht habe, nach diesen Schriften die miindliche
Verhandlung zu kvutrvlireu, und daß darnach das Gericht in der Lage sei, die
Ergebnisse der mündlichen Verhandlung sicher festzustellen.
Diese Aufstellung leidet nur an dem Fehler, daß die angenommene sichernde
Grundlage des Urteils jeder Bürgschaft ihres Vorhnudeuseins entbehrt.
Erstens: Nichts verbürgt, daß die Schriften wirklich vorhanden sind, da
es von dem Belieben der Parteien abhängt, ob sie solche erstatten »vollen.
Thatsache ist, daß vielfach ohne Schriften oder mit ganz ungenügenden Schriften
in die Verhandlung hineingegangen wird.
Zweitens: Nirgends im Gesetz ist gesagt, daß es „Pflicht des Gerichtes"
sei, die Schriften zu lesen und darnach die mündliche Verhandlung zu kvutrolireu.
Das Gesetz weist deu Richter nur an, auf Grund der „mündlichen Verhand¬
lung" zu entscheiden. Jetzt zum erstenmale spricht ein amtliches Aktenstück
davon, daß es „Pflicht des Gerichtes" sei, die Schriften zu lesen. Kein Richter
aber verletzt die ihm durch das Gesetz auferlegte Pflicht, wenn er sich um die
Schriften gar nicht kümmert. Thatsache ist, daß bei vielen Gerichten die
Schriften vor der Verhandlung gar nicht gelesen werden, womit das Kvu¬
trvlireu von selbst hinfällig wird.
Drittens: Selbst wenn das Gesetz eine solche Pflicht des Gerichtes aus¬
gesprochen hatte, würde doch dieser Ausspruch so lange haltlos sein, als es
für die Erfüllung der Pflicht an jeder Kontrole fehlt. Diese könnte nur darin
bestehen, daß das Gericht verpflichtet wäre, die Übereinstimmung der mündlichen
Verhandlung mit den Schriften oder Abweichungen derselben von diesen sofort
festzustellen. Das schreibt aber das Gesetz nicht vor. Vielmehr stellt das
Gericht das, was es übereinstimmend oder abweichend von den Schriften gehört
zu haben glaubt, erst nachträglich, uach Tagen, Wochen oder Monaten, hinter
dem Rücken der Parteien dnrch eine in das Urteil aufgenommene Geschichts-
crzählung von dein Prozeß, die man „Thatbestand" nennt, fest. So lauge diese
Einrichtung besteht, bleibt die „Pflicht des Gerichtes," auch wenn man sie als
bestehend annähme, ein leeres Wort.
Viertens: Für die höhern Instanzen, bei denen doch die eigentliche Ent¬
scheidung liegt, gelten als Grundlage des Urteils weder die mündliche Ver¬
handlung noch die Schriften, sondern eben nur jener „Thatbestand," den ein
Richter der Vvrinstanz abgefaßt hat.
Richtig ist nur, daß, wenn genügende Schriften vorhanden sind, mit ihrer
Hilfe die mündliche Verhandlung eine genügende Grundlage für das Urteil ab¬
geben kann. Das hat auch noch niemand bestritten. Aber das Gesetz hat es
ängstlich vermieden, irgend eine Vorkehrung zu treffen, daß dies auch geschehen
.müsse. Es überläßt alles dem gute» Willen der Beteiligten, lind zwar in der Art,
daß schon jeder einzelne Beteiligte den guten Willen aller übrigen lahm legen kauu.
Alle diese Dinge waren schon früher ausführlich dargelegt und besprochen
worden. Und dennoch beharrt der Bericht bei der Annahme, daß die Schriften,
die gar uicht vorhanden zu sein, nicht gelesen zu werden und nicht berücksichtigt
zu werden brauchen, die nach in der obern Instanz neben dem von der Vor-
iustauz festgestellten „Thatbestande" völlig hinfällig werden, das Urteil sichern!
Das Schlimmste von diesen ganzen Einrichtungen ist der in die Hand
des Richters gelegte „Thatbestand." Damit wird deu Parteien selbst der
Prozeß aus der Hand genommen. Nicht sie, sondern das Gericht bestimmt,
was Inhalt des Prozesses sei und worüber entschieden werden soll. Und zwar
bindet der von einem Richter unterer Instanz abgefaßte „Thatbestand" auch
die obern Instanzen. Darin liegt eine Vergewaltigung der Parteirechte
schlimmster Art. Dieser in die Hand des Richters gelegte „Thatbestand"
bildet nicht allein eine Fallgrube des Irrtums, sondern auch eine ständige
Versuchung zur Willkür. Und wenn der Bericht dies leugnet, so leugnet er
etwas, was klar ist wie die Sonne.
Es ist nun die Frage nahe gelegt, ob denn etwa durch das neue Ver¬
fahre» die Entscheidungen der Gerichte materiell besser geworden seien. Ich
glaube nicht, daß jemand, der die Dinge kennt, wen» er aufrichtig sein will,
den Mut haben wird, diese Frage zu bejahen. Wohl mögen in dem frühern
Preußischen Verfahren mitunter die Sachen recht trocken und mechanisch ab¬
gethan worden sein. Aber die heutigen Vorträge der Anwälte sind auch nicht
durchweg vou Geist durchdrungen, und es wird dabei oft genng leeres Stroh
gedroschen. Daß für manche Richter die gerühmte „Elastizität des Verfahrens"
die Möglichkeit gewährt, leichter eine Entscheidung zu finden, mag sein. Ob
aber diese leicht gefundne Entscheidung immer der Gerechtigkeit dient, darüber
würde sich wohl reden lassen. Überhaupt kann ich hier die Bemerkung uicht
unterdrücken, daß die Frage der Wertschätzung der Zivilprozeßordnung nicht
bloß eine Frage der Intelligenz, sondern vor allem auch eine Frage des
Charakters ist. Jedenfalls ist durch den neuen Prozeß eine Unzahl von Formali¬
täten ins Leben gerufen worden, an denen jederzeit das gute Recht scheitern
kann, und wie die Erfahrung lehrt, auch nicht selten wirklich scheitert. Diese
Gefahren allein schon lassen keinen Zweifel, daß die heutige Rechtsprechung im
Vergleich mit der frühern nicht besser, sondern schlechter geworden ist.
Wenn aber wirklich, wie der Bericht annimmt, durch die neuen Formen
die Rechtsprechung so sehr erleichtert wäre, woher kommt es denn, daß, wie
wir oben gesehen haben, heute die Rechtssachen so viel mehr um Kräften in
Auspruch nehmen? Darin liegt doch ein seltsamer Widerspruch. Der über¬
mäßige Kräfteverbrauch hat zunächst seinen Grund in der mangelnden Ordnung
des Ganzem Es ist wahrhaft bedauerlich, wie Richter und Anwälte ihre Zeit
und Kraft vergeuden müssen. Ein weiterer Grund liegt in der Weitschweifig-,
keit der Verhandlungen, die wiederum, wenigstens zum Teil, auf der unge-
nügenden Vorbereitung der Sachen beruht. Die Zeit der Richter aber wird
«och besonders belastet dnrch die Anfertigung des Thatbestandes, die, wenn
anders der Richter sich der damit verbundnen Verantwortlichkeit bewußt ist,
eine äußerst schwierige Arbeit ist. Das alles könnte bei verständigem Ein¬
richtungen, unbeschadet aller Mündlichkeit, anders sein.
Einen seltsamen Beweis für den Wert des neuen Verfahrens tritt der
Bericht noch in folgender Weise an. Er sagt: „Als ein sicherer Beweis dafür,
daß wir in der Zivilprozeßordnung ein wertvolles nationales Gut besitzen,
darf wohl die Thatsache gelten, daß dieses Gesetz der deutschen Prozeßwissen¬
schaft eine überaus fruchtbare Anregung gegeben hat. Unter der Herrschaft
der allgemeinen Gerichtsordnung wurde für deu wissenschaftlichen Ausbau des
Prozeßrechts wenig geleistet, und auch im Gebiete des gemeinen Rechts hatten
sich die wissenschaftlichen Forschungen mit größerer Vorliebe und mit reicherem
Erfolge der Entwicklung des materiellen Rechts als dem des Prozeßrechts zu¬
gewendet. Hierin ist, seitdem die Zivilprozeßordnung in Übung ist, eine be¬
merkenswerte Änderung eingetreten. In allen Teilen Dentschlands ist die
Neigung zu prvzessnaleu Studien in überraschendem Maße erwacht, und die
der Zivilprozeßordnung gewidmete umfangreiche Litteratur weist Arbeiten von
hoher Bedeutung auf, ja es gehört eine Anzahl von Kommentaren vielleicht
zu deu beste,: Erzeugnissen dieses Zweiges der juristischen Litteratur. Zahl¬
reiche Monographien enthalten verdienstvolle Untersuchungen" u. s. w.
Dieser ganzen Anschauung möchte ich die andre gegenüberstellen, daß es
sich mit einer Prozeßordnung ungefähr ebenso verhält wie mit einer Frau.
Die beste ist die, von der mau am wenigsten spricht. Dabei soll das, was in
dem Berichte Wahres enthalten ist, keineswegs verkannt werden. War einmal
die Zivilprozeßordnung gegeben, so war es gewiß dankenswert, daß sich Männer
fanden, die sie nebst dem weitschichtigen dazu gehörenden Material wissenschaftlich
bearbeiteten und dadurch die Anwendung des in seinem ganzen Bau so künst¬
lichen Gesetzes erleichterten. Diesen Dank wollten sich nun gar viele verdienen,
und so entstand eine höchst umfangreiche Prozeßlitteratur, unter der sich auch in
ihrer Art vorzügliche Werke finden. Daß aber die Prozeßordnung einen solchen
ungeheuern wissenschaftlichen Apparat notwendig machte, daß heute in unser»:
Rechtsleben die Prvzeßfragen völlig überwuchern, sodaß alle Präjndizienbücher
zum dritte» Teile damit angefüllt sind, darin kann man doch nur von dem sehr
einseitigen Standpunkte des Juristen ein Glück finden. Wer dagegen in seinem
Juristen sich noch ein Stück Menschentum bewahrt hat, der muß diese Er¬
scheinung tief beklagen. Denn alle diese Prozeßfragen müssen ausgetrngeu
werden auf Gefahr der Parteien, die sie mit schweren Kosten zu büßen haben
und nicht selten darüber ihr gutes Recht verlieren. Läge wirklich in dieser
Entwicklung der Prozeßwissenschaft der Beweis, daß die Prozeßordnung ein
wertvolles nationales Gut sei, dann müßte man auch eine schwere, in nnserm
Volke heimisch gewordne Krankheit, weil sie der ärztlichen Wissenschaft eine
überaus fruchtbare Anregung gegeben, ein wertvolles nationales Gut nennen.
So viel über den außer» Wert dieser modernen Prozeßwissenschaft. Aber
much den innern vermag ich nicht hoch anzuschlagen. Zum größten Teile ist
sie nichts andres als eine klägliche Buchstabenjurisprudeuz, bei der von innerer
Gerechtigkeit kaum noch die Rede ist. Natürlich müssen die Prozeßfragen, wenn
sie einmal auftauchen, in der Praxis durchgekämpft werde». Daß es aber so
viele Juristen giebt, die anscheinend an diesen kläglichen Fragen eine besondre
Freude finden und sich mit einem Eifer darauf werfen, als gelte es hohen
wissenschaftlichen Zielen, das ist meines Erachtens nichts weniger als ein er¬
freuliches Zeichen der Zeit. Es war z. B. schon schlimm genug, daß über die
Frage, ob eine von der Partei selbst (nicht von ihrem Anwalt) dem Gerichts¬
vollzieher aufgetragne Zustellung giltig sei, das Reichsgericht beim Widerspruch
verschiedner Senate in einer Plenarsitzung (von etwa fünfzig ReichsgerichtS-
räten) beraten und entscheide» mußte. Glücklicherweise fiel die Entscheidung so
aus, wie sie auch der einfache Menschenverstand gegeben hätte. War es denn
aber nötig, so wie in den gedruckten Entscheidungen zu lesen ist, über die
Lösung dieses hochwisseuschaftlichen Problems die Welt in einer elf Seiten
laugen Abhandlung zu belehren?
Wen solche Lehren nicht erfreun,
Verdienet nicht ein Mensch zu sein!
möchte ma» da mit Sarastro, wenn auch nur ironisch, anstimme». Man
könnte fürwahr sich versucht fühlen, über dergleichen Dinge zu scherzen, wenn
es nicht so traurig wäre, daß heute in Deutschland von solchen Fragen das
Wohl oder Wehe der Rechtsuchenden abhängt.
Es Wäre ein viel größeres Glück gewesen, wenn wir eine Zivilproze߬
ordnung erhalten hätten, die ebenso anspruchslos und unscheinbar durchs Leben
gegangen wäre wie die frühern. Das deutsche Volk würde sich dabei weit
besser gestanden haben. Nichts aber ist bezeichnender für die Stellung, die der
Herr Minister oder seine Berater zu der ganzen Sachlage einnehmen, als dieses
Lobpreisen der Prozeßordnung wegen der daraus entwickelten Wissenschaft.*)
Die Berichte haben bei ihrer Darstellung offenbar nur die landgerichtlicheu
Sachen vor Auge» gehabt. Es verdienen aber auch die nmtsgerichtlichen Sachen
(bis zu MO Mark Wert) nicht vergessen zu werden, da sie 88 Prozent aller
Prozesse umfassen. In ihnen treten die Fehler des Verfahrens vielleicht noch
stärker hervor als in den landgerichtlichen Sachen.
Das Verfahren bei den Amtsgerichten ist eigentlich darauf berechnet, daß
die Parteien selbst ihren Prozeß führen. Nun ist aber dieses Verfahren zu¬
folge des den Parteien auferlegten „Selbstbetriebes" so mit Formalitäten be¬
lastet, daß der gemeine Mann sich unmöglich hineinfinden kaun. Er riskirt
stets, über eine solche Formalität seinen Prozeß zu verlieren oder sonst Schaden
zu leiden, zumal wenn ihm ein rechtsgewandter Gegner gegenübersteht. Er
wird also förmlich dazu gedrängt, einen Anwalt anzunehmen oder sich einem Winkel¬
advokaten in die Arme zu werfen. Nimmt er aber einen Anwalt an, so entstehen
leicht Kosten, die den Streitgegenstand in mehrfacher Verdoppelung auffressen.
Bei Erlaß der Prozeßordnung nahm man an, daß die Sachen von den
Amtsgerichten in der Regel in einem oder zwei Terminen erledigt würden.
Das geschieht aber nur in den wenigsten Fällen. Die Sachen laufen oft durch
sechs, acht, zehn und mehr Termine hindurch. Stets müssen die Parteien zur
„Verhandlung" erscheinen. Sonst bricht alsbald ein Kvntnmazialnrteil über
sie herein. Von dem aber, was verhandelt wird, kommt nichts in die Akten.
Es wird nur registrirt: „Wurde zur Sache verhandelt." Der ganze Prozeß
schwebt also, mitunter viele Monate hindurch, in der Luft. Beweise werden
gefordert, Zeugen werden vernommen, Eide werden geschworen, und niemand
kann aus den Akten ersehen, was die zu Beweis gestellten, bezeugten und be-
schworner Thatsachen bedeuten. Endlich, wenn der Richter die Sache für
spruchreif hält, schreibt er das, was er aus allen Verhandlungen im Kopfe
behalten oder vielleicht mit Bleistift sich notirt hat, als „Thatbestand" in das
Urteil hinein und giebt darnach seine Entscheidung. So, wenn der Richter
der nämliche bleibt. Wechselt er aber im Laufe des Prozesses, was ja auch
oft vorkommt, so ist alles bisher Verhandelte für den neuen Richter nicht
Vorhanden, und die Verhandlung muß wieder von vorn anfangen. Der ganze
Prozeß ist ein wüstes Getriebe, welches der Willkür des Richters den breitesten
Spielraum gewährt. Und wenn seinerzeit Minister Leonhardt den Ausspruch
that: „Über alle Theorie schreitet das Bedürfnis des Lebens leichten Schrittes
hinweg," so ist in diesem Falle die Theorie in wahrhaft erschreckender Weise
über das Bedürfnis des Lebens leichten Schrittes hinweggeschritten.
Es bleibt nun noch ein Punkt zu besprechen, der vielleicht der schmerz¬
lichste von allen ist. Das sind die hohen Kosten, die man ans den Prozeß
gelegt hat. Hier verteidigt Herr von Friedberg sein eignes Werk, da die
Kvstengesetze seinerzeit im Reichsjustizamt, das unter seiner Leitung stand, an¬
gefertigt worden sind. Beide Berichte besprechen diesen Punkt bei Gelegenheit
der Anführung, daß die Prozesse sich so erheblich vermindert haben. Es wird
zugegeben, daß ein wesentlicher Grund hierfür in den hohen Kosten liege. Das
sei aber auch kein Schaden. Wer eine gerechte Sache habe, werde sich durch
die hohen Kosten nicht vom Prozesse abhalten lassen. Durch sie sei uur die
Zahl der Fälle zurückgegangen, wo bloße Streitsucht, Nachlässigkeit oder böser
Wille der Parteien die Anrufung des Richters oder die Verfolgung des Pro¬
zesses durch die höhern Instanzen veranlaßt Hütten. „Man wird hiernach in
der Verminderung der Prozesse uicht eiuen Fehler, sondern eine dankenswerte
Folge der veränderten Gesetzgebung erblicken müssen." So der Bericht von 1887.
Diese Darlegung ist so auffallend, daß man glauben könnte, sie rühre von
einem der Lebensverhältnisse völlig unkundigen Manne her. Besteht denn
wirklich jener Gegensatz, daß nur Prozesse in Frage kommen, bei denen die
Partei ihres guten Rechtes sich bewußt und deshalb des Erfolges sicher ist,
und anderseits solche Prozesse, die uur aus Streitsucht, Nachlässigkeit oder
bösem Willen geführt werden? Es erinnert die Aufstellung dieses Gegensatzes
an die kindliche Anschauung, die alle Menschen in „gute und böse" einteilt.
In Wahrheit bilden die Fälle dieses Äußersten Gegensatzes nur eine geringe
Minderheit aller Prozesse. In der großen Mehrzahl der Fälle liegt die Sache
ganz anders. Unzähligemale ist jemand von seinem Rechte überzeugt, aber
dieses liegt doch nicht so klar vor, daß nicht der Ausgang des Prozesses
zweifelhaft wäre. Solche Verhältnisse sind die Folge unsers überaus ver¬
wickelten Rechtsverkehrs, deu wir auch nicht verbannen können, weil er mit
der hohen Entwicklung unsers wirtschaftlichen Lebens eng znsanunenhängt. Sie
sind ferner die Folge unsrer unvollkommnen Gesetze, die die Beteiligten oft ohne
ihre Schuld in die zweifelhaftesten Rechtslagen bringen. (Wir empfehlen z. B.
einmal ein Dutzend Prozesse über Stempelfragen einzusehend) Sie sind auch
die Folge davon, daß mitunter auch dem besten Rechte es an der Sicherheit
des Beweises fehlt. Endlich muß aber auch ein Gläubiger, der das beste Recht
hat, sich oft genug fragen, ob denn sein Schuldner Mittel genug habe, die
auf Einklagung verwendeten Kosten zu ersetzen? Will man nun etwa sagen:
Wer solche Zweifel hegt, braucht ja keinen Prozeß zu führen? Daß heißt
nichts andres, als: Es soll nicht mehr Recht, sondern die Macht der Thatsachen
im Staate gelten. Es ist unbestreitbar, daß in allen Fällen dieser Art die
hohen Kosten schwer aus dem Rechte drücken und es vielfach unterdrücke«.
Hierauf und nicht bloß auf der Beseitigung schlechter und frivoler Prozesse
(die übrigens auch heute noch, zumal mit Hilfe des Armenrechts, vielfach ge¬
führt werden) beruht die Berminderuug der Prozesse.
Aber auch wo die Prozesse nicht unterdrückt, sondern geführt werden,
laufen die hohen Kosten oft auf eine große Härte hinaus. Ist es auch all¬
gemein bekannt, daß die Prozeßkvsten jetzt hoch sind, so werden doch noch
immer Unzählige, die einen Prozeß zu führen wagen, getäuscht, in dem die
erwachsenden Kosten jedes vernünftige Maß, das sie erwarten konnten, über¬
schreiten. Und ist denn der Verlust eines Prozesses immer die Folge wirk¬
lichen Unrechts? Gehen nicht viele Prozesse an einem leidigen Zufall zu
Grunde? Hat nicht die Zivilprozeßordnung selbst solche Zufälle zahlreich her¬
aufbeschworen? Wie glaubt man Wohl, daß es einem Manne zu Mute sei,
der seinen Prozeß an einer Zustellungsfrage verliert und dann neben dem Verlust
der Sache selbst auch noch die schweren Kosten dreier Instanzen zu tragen hat?
Die Befriedigung, die der Bericht über die Wirksamkeit der Kostengesetze
ausspricht, ist hiernach sehr unberechtigt. Es steht ihm darin auch die ein¬
mütige Überzeugung von ganz Deutschland gegenüber.
Die einzige relative Rechtfertigung der hohemKosten kann nur etwa darin
gefunden werden, daß Richter und Anwälte doch alle bezahlt sein wollen, der
heutige Prozeß aber weit mehr an Richter- und Urwalds kräften fordert als
der frühere. Trotz der hohen Kostensätze ist wegen der gewaltigen Verminde¬
rung der Prozesse die Einnahme an Gerichtskosten zurückgegangen, und die
Anwälte klagen darüber, daß sie trotz der hohen Gebühren jetzt weniger zu
leben hätten als früher. Das kommt von den verkehrten Einrichtungen, die
man diesem Prozesse gegeben hat. Man beseitige die nutzlosen Auswüchse, die
jetzt an der Kraft der Justiz zehren. Dann wird mau wieder, statt einer
Ausbeutungsanstalt, eine vernünftige Justiz haben, die unser Volk auch be¬
zahlen kann.
Der Bericht hat gleichwohl die Zeit noch nicht für gekommen erachtet,
an die Zivilprozeßordnung bessernde Hand anzulegen. Zur Erläuterung
dient vielleicht ein kleines Bekenntnis, das in dem Berichte selbst sich findet.
Der Herr Minister sagt, die Rückgängigmachung der Kassentrcnuung von den
Gerichten (deren Mißstände der frühere Bericht als bereits überwunden be¬
zeichnet hatte, die aber dann doch nicht aufrecht erhalten werden konnte) sei
für ihn ein schwerer, nur durch die äußerste Notwendigkeit abgedrnngener
Schritt gewesen. Warum aber brauchte es für einen wohlwollenden Staats¬
mann, was doch ohne Zweifel Herr von Friedberg ist, ein schwerer Schritt
zu sein, einen argen Mißstand, der vielen Menschen zur Qual gereichte, aus
der Welt zu schaffen? Ohne Zweifel wurde er ihm nur deshalb schwer, weil
es bei vielen als ein Grundsatz der Staatsweisheit gilt, eine einmal getroffene
Einrichtung, anch wenn sie sich als von Hans ans verfehlt erweist, doch so
lange wie möglich aufrecht zu halten. Vielleicht ist aber doch ein Staatsmann
noch größer, der den Mut hat, sobald es das öffentliche Wohl erheischt, einen
verfehlten Schritt ohne Säumen zurück zu thun.
Schäden des Staatslebens lassen sich mit Krankheiten vergleichen. Es
giebt Krankheiten, die man ohne Gefahr „dilatorisch" behandeln kann. Es
giebt aber auch solche, die, wenn der Arzt nicht zeitig eingreift, unheilbar und
für den Kranken verderblich werden. Ich fürchte, daß der Zustand unsers
Prozesses eine Krankheit dieser Art sei. Es ist traurig, wenn in einem solchen
Falle der berufene Arzt sich und andre über die Schwere des Leidens hinwegtäuscht.
Übrigens könnte man an der Art und Weise, wie mit dieser Zivilproze߬
ordnung das deutsche Volk in seinen heiligsten Interessen getäuscht worden
ist, auch für andre Fälle etwas lernen. Ob es geschehen wird, steht freilich
dahin.
el dem lebhaften Interesse, das man heute einer Schulreform
entgegenbringt, ist es uicht zu verwundern , daß sich allmählich
eine sehr umfangreiche Litteratur über diesen Gegenstand gebildet
hat, und daß man in ihr den allerverschiedensten, manchmal auch
den allerseltsamsten Ansichten begegnet. Gewisse Schlagwörter
werden, besonders wenn sie von großen Männern herrühren, sehr häufig dabei
als unwiderlegbare Wahrheiten hingestellt, als „Axiome," an denen zu rütteln
einfach Vermessenheit wäre. Und doch sollte nur bei der Wichtigkeit des
Gegenstandes so vorsichtig wie nur irgend möglich sein. Man sollte nie einen
Schluß ziehen, ehe man nicht die Vordersätze genau geprüft hat.
Keine Frage in dem Schulstreite bewegt die Gemüter mehr, als die nach
dem Werte der klassischen und der modernen Sprachen. Wollte man alles zu¬
sammenstellen, was über diesen Punkt schon geschrieben worden ist, so käme
eine stattliche Bibliothek heraus, deren Ordnung freilich durchaus nicht so
einfach wäre, als es auf den ersten Blick erscheint. Man könnte nach ver-
schiednen Gesichtspunkten dabei verfahren, unter anderm auch nach dem, ob ein
Verfasser wirklich genügende Kenntnisse besitzt, um über klassische und moderne
Sprachen zugleich ein Urteil zu fällen, oder — und das kommt leider ziemlich
häufig vor — ob nur eine einseitige Kenntnis vorhanden ist, und ob deshalb
seine Ausführungen? bei der Entscheidung der Frage überhaupt in Betracht
kommen können.
Eine sehr verbreitete Ansicht geht dahin, daß die neuern Sprachen im
Verhältnis zum Griechischen und Lateinischen außerordentlich leicht seien, mit
andern Worten, daß ihr Bilduugswert in rein sprachlicher Hinsicht sehr unter¬
geordnet sei. Und nicht allein um Französisch und Englisch denkt man dabei,
nein, auch unsre Muttersprache muß es sich gefallen lassen, ihnen beigesellt zu
werden. Wie konnte nur auch die deutsche Sprache zum Gegenstande der
Reflexion mache» oder an ihr dann und wann ein bißchen Formenlehre und
Syntax studiren! Man hat es ja im Lateinischen gelernt, man braucht ja
nur das eine oder das andre Gesetz auf das Deutsche zu übertragen! Und nun
gar erst Französisch und Englisch! Es ist ja so leicht, in diesen Sprachen zu
„konversiren"! Schlimmsten Falles geht man ein Jahr ins Ausland, dann ist
gar kein Zweifel, daß nur das fremde „Idiom" vollkommen beherrscht. Schwer
kann die Sache im Grunde genommen doch nicht sein. Der Friseur, bei dem
man sich die Haare schneiden läßt, unterhielt sich ja neulich flott mit dem
blauäugigen Sohne Albions, und der Oberkellner, wie man mit eiguen Ohren
gehört hat, beantwortete vortrefflich alle Fragen des Franzosen.
Ich spreche diese Sätze in vollem Ernst ans: viele Leute bilden sich
wirklich ihr Urteil ans solchen Thatsachen. Ihre Zahl ist nicht gering, und
sie finden sich ebenso sehr unter den Gebildeten wie unter den Ungebildeten,
denn leider Gottes ist der Sinn sür Spracherscheinungen und die Fähigkeit, ein
Urteil über Sprachdinge abzugeben, außerordentlich gering. Mit solchen Leuten
ist nicht zu rechten. Sie finden die Beherrschung einer fremden Sprache schon
in den banausischen Redensarten der «Ungewöhnlichsten Umgangssprache, und
sie würden es wahrscheinlich nicht glauben, daß zu dieser ihrer „Beherrschung"
ein Paar hundert Wörter und Redensarten ausreichen.
Viel schlimmer ist aber ein andrer Irrtum.. In einer Gesellschaft, in der
alle Stände vertreten waren, kam neulich die Rede auf die Übersetzungsübungen,
und mehrere konnten berichten, daß sie als Primaner einen großen Teil von
Schillers Dreißigjährigen Kriege ins Lateinische übersetzt hätten Bei der
darauf folgenden Besprechung, die sich um die Zweckmäßigkeit solcher Übungen
drehte, wies ich auf das beneidenswerte Los der klassischen Philologen hin:
kein Cieero und kein Cäsar könne ihren Stil kontrvliren, sie auf Redensarten
aufmerksam machen, die doch nicht ganz den echten oolar l^linn» darstellten.
Ich wurde mit etwas erstaunten Augen angesehen, und die Verwunderung
wurde noch größer, als ich die Behauptung aufstellte, daß für einen neuern
Philologen eine solche Arbeit ein thörichtes Unterfangen sein und ein Deutscher
sich dem Fluche der Lächerlichkeit aussetzen würde, wenn er es wagen wollte,
den Dreißigjährigen Krieg ins Französische oder Englische zu übersetzen, lind
wieder hörte ich die Worte: Aber Französisch und Englisch sind doch so leicht.
Sollte denn das wirklich nicht zu erreichen sein?
Nein, es ist nicht zu erreichen. Nicht zu erreichen für den Lehrer und
noch viel iveniger für den Schüler. Wohl könnte man ein paar Namen nennen,
denen vielleicht der große Wurf gelingen würde, ein paar hochbegabte
Männer der Wissenschaft, die Jahrzehnte lang im Auslande gelebt haben und
zum Teil noch dort leben, aber ich weiß, daß sie am allerersten sich da¬
gegen verwahren würden, wenn man ihnen die Fähigkeit, zwei Sprachen voll¬
kommen zu beherrschen, zuschreiben wollte. Auch auf andre könnte man hin¬
weisen. Es giebt ja eine große Zahl solcher, die mit der fremden Sprache
so vertraut geworden sind, daß sie darüber ihre Muttersprache fast vergesse»
haben, ihr wenigstens in recht bedenklicher Weise Gewalt anthun.
Das ganze Fühlen und Denken eines Volkes prägt sich in seiner Sprache
ans, und dieses ist selbst bei nahe verwandten Völkern, wie den Deutschen und
den Engländern, allzu verschieden, als daß man je hoffen könnte, zur voll-
kommnen Beherrschung der fremden Sprache zu gelangen. Ich sage: zu einer
vollkommnen Beherrschung, denn das ist ja selbstverständlich nicht ausgeschlossen,
daß ich mir eine gewisse Fertigkeit im Sprechen und Schreiben erwerben, einen
Geschäftsbrief z.B. oder eine grammatische Abhandlung u. dergl. tadellos ab¬
fassen kann. Aber an das freie „Komponiren" oder an das ebenso schwere
Übersetzen eines Werkes wie Schillers Dreißigjährigen Krieg sollte man sich
erst wagen, wenn man weiß, Huici villökmt Numeri.
Das wissen aber leider viele nicht. In einigen bemerkenswerten Aufsätzen
der Zeitschrift für ueufrauzösischc Sprache und Litteratur (herausgegeben von
Koschwitz und Körting, Jnhrgaug 1882, Bd. IV) hat PH. Plattuer, vielleicht
der bedeutendste Kenner des neufranzösischen Sprachgebrauches, warnend seine
Stimme erhoben und in einer eingehenden Kritik der französisch geschriebnen
Abhandlungen zweier Jahre jedermann und vor allen den jünger» Philologen
eindringlich zu Gemüte geführt, wie unmöglich es ist, eine fremde Sprache
so wie seine Muttersprache zu handhaben, wie unendlich viele Blößen man sich
dabei geben kann. „Jeder — sagt er — muß sich so viel Französisch an¬
eignen können, um einzusehen, daß er für ein derartiges Wagnis nicht genug
Französisch versteht." Die Mahnung hat einigermaßen gewirkt, aber ganz ist
das Übel nicht verschwunden. In: zehnten Bande der genannten Zeitschrift
unterzieht fünf Jahre später ein sehr verständiger und dabei höchst liebens¬
würdiger Franzose, A. Ahmerie, zwei andre Abhandlungen einer gründlichen
Besprechung xcmr Mriz voir los äg-riAsrs imxqusls iss milvurs s'sxposönt. Und
er selbst gesteht: II ^ ^ xlns als eux g-us <zu«z hö sais ein ^lleirmMö, se pour-
Wirt, Sö n'Mrais pÄ8 is ooruÄAv as publior, MLllmncl, un er^v-in av «sie«
MVörAllre, SMS 1s lair« voir i,myn'g,og.ut, ^ c^list^n'un «^ni lui roA'und un xsu
los 5>.it68.
Doch schrieben nicht Alexander von Humboldt und Friedrich der Große
französisch? Allerdings. Aber sie bestätigen nur die Regel. Da wo die
Korrektur ihres Stiles durch nationale Hand fehlte, find ihre Arbeiten
durchaus nicht tadellos.
Woher nun die wunderbare Ansicht, daß die modernen Sprachen so leicht
seien? Der Grund ist in verschiednen Umständen zu finden. Französisch und
Englisch sind lebende Sprachen, deren sich ein großer Teil von uns bedienen
muß, und das Lebende, das Gegenwärtige flößt uns nicht immer den Respekt
ein, wie die Dinge, die durch einen Zeitraum von zweitausend Jahren von
uns getrennt sind. Auch die Art und Weise, wie die neuern Sprachen noch
häufig betriebe» werdeu, ist geeignet, ihren Wert herabzusetzen. Verhehlen wir
uns das nicht! Auf unsern Ghmnasien spielt das Französische eine unter¬
geordnete Rolle, und die Zeit ist noch nicht ganz vorüber, wo jeder klassische
Philologe für befähigt gehalten wurde, diesen Unterricht zu erteilen. Noch ein
andrer Umstand kommt hinzu. Auf deu Höhen, Schulen beginnt der fremd¬
sprachliche Unterricht meistens mit dem Lateinischen. Eine Reihe grammatischer
Gesichtspunkte und eine ganze Anzahl von Vokabeln sind dem Französisch
anfangenden Quintaner aus dem Lateinischen schon bekannt. Die moderne
Sprache erscheint ihm deshalb natürlich leichter, und wenn nun noch das fran¬
zösische Lehrbuch für alle Arten vou Schulen eingerichtet und so beschaffen ist,
daß es als Quintanerbuch viel weniger Schwierigkeiten darbietet, als das in
Sexta gebrauchte lateinische, dann ist es freilich kein Wunder, daß schon der
Knabe sich sein abfälliges Urteil über die lebende Sprache bildet. Und noch
ein Umstand ist zu berücksichtigen, der, wie ich glaube, die meisten Gebildeten
unwillkürlich beeinflußt. Die neuern Sprachen haben eine Masse formaler
Dinge über Bord geworfen. Die fünf lateinischen Deklinationen, zu deren Ein¬
übung eine geraume Zeit nötig ist, sind auf eine einzige zusantmengeschmolzeu;
die durch Flexion ausgedrückten Kasus sind verschwunden, und auch die Kon¬
jugation hat Einbuße erlitten. Kein Wunder, wenn der Mangel an Dingen,
deren Erlernung uns so viel Mühe gekostet hat, nun die Ansicht hervorruft,
daß das Französische, und gar erst das Englische, eine sehr leichte Sprache
sei. Und doch hätte eine einfache Überlegung bald eines Bessern belehren
können. Sie hätte jedermann sagen müssen, daß diese rein formalen Dinge
von ganz untergeordneter Bedeutung siud, daß der Reichtum an Flexionen wohl
für den Philologen einen Gegenstand interessanter Beobachtung bildet, für die
Schule jedoch eine leicht zu entbehrende, ja sogar eine recht hinderliche Sache
ist, der fast kein andrer Bildungswert innewohnt, als der einer Übung des
Gedächtnisses. „Es liegt sehr wenig daran — sagt Lotze (Mikrokosmus III,
289) — wie viele Kasus und Modi sich erhalten haben: zum Ausdruck aller
denkbaren Beziehungen würden sie doch nicht ausreichen; sie aber bis zur
Deckung der meisten Bedürfnisse zu vermehren, ist an sich kein edleres Prinzip
der Sprachbildnttg, als das andre, zu dem bei steigenden Anforderungen an
Feinheit des Ausdrucks zuletzt doch immer gegriffen wurde, ich meine die
selbständige Bezeichnung der Verhältnisse durch eigne Worte." Und hier ge¬
statte man mir eine kleine Abschweifung von meinem Thema. Ich halte eine
straffe Betreibung der Grammatik in jeder Sprache für unbedingt notwendig,
aber man sehe nur nicht einzig und allein in ihr das wahre Heil und bilde
sich vor allem nicht ein, daß durch eine eingehende Behandlung dieser Seite
wirklich Ersprießliches, was sich nicht durch etwas Besseres ersetzen ließe, er¬
reicht werden könne. Mnu kann getrost behaupten , daß eine allzu ausführ¬
liche Behandlung der Grammatik, besonders wenn sie vom Lesen getrennt wird,
das Eindringen in den Sprachgeist geradezu hindre und wichtigern Sachen den
Boden entziehe. Das Leben der Sprache zeigt sich noch in vielen andern
Dingen, die außerhalb der Grammatik liegen, in dem eigentümlichen Van
und der Verknüpfung der Sätze, in den synonymischen Ausdrücken, in den
idiomatischen Wendungen und noch in vielem andern, was nur durch ein
eifriges Studium an der Hand zusammenhängenden Lesens beobachtet werden
kann. Diese Ansicht wird hentzutnge von dem größten Teile der Philologen
geteilt. Sie ist auch praktisch schon durchgeführt. Man denke nnr an die
Zeit, wo man den großen lateinischen „Zumpt" wälzte — mit den damaligen
Geuusregclu kann man noch heute auch Nichtphilvlogen ein Vergnügen be¬
reiten —, und betrachte dann so viele der heutigen lateinischen Grammatiker
in ihrer handlichen Form und ihrem immer mehr abnehmenden Umfang.
Doch ich höre bereits einen andern Einwurf: Die neuern Sprachen be¬
sitzen kein geeignetes Material zu formaler Bildung. Wie eine solche Be¬
hauptung sich heute noch halten und so viele Nachbeter finden kann, wie
Männer der Wissenschaft mit hochangesehenen Namen sie aussprechen können,
erschien mir lange als ein Rätsel und würde mir auch heute noch als ein
solches erscheine», wenn ich nicht wüßte, daß gerade in Sachen des Unterrichts
die persönliche Erfahrung und der frühere nachlässige Betrieb gewisser Unter¬
richtsfächer Ansichten, oder sagen wir lieber Vorurteile, hat entstehen lassen,
die weder durch die Fortschritte der Wissenschaft, noch dnrch die Verbesserung
der Methode, noch durch den wissenschaftlichen Charakter der jetzigen Lehrbücher
ausgetilgt werden können. Seien wir offen. Viele schließen so: Zu unsrer
Zeit wurde Französisch und Englisch nur nebenbei betrieben, das Übungsbuch
war schlecht und die Methode noch schlechter, folglich ist mit den neuern
Sprachen überhaupt nichts los. Nun wohl! Allen denen, die noch in solche»
Ansichten befangen sind, rate ich, sich heute etwas mehr ans dem Gebiete der
neuern Philologie umzusehen, in eine neuere französische oder englische Gram¬
matik, vielleicht in die von Lückiug und Im. Schmidt einmal ordentlich hinein¬
zublicken, und ich bin der Überzeugung, so werde» finden, daß auch die
modernen Sprachen überreichen Stoff für formale Bildung darbieten, ja den
Lehrer geradezu zwingen, ans der großen Fülle der Erscheinungen nur das
Wichtigste für seine Schüler auszuwählen.
Mit dein, was ich eben ausgesprochen habe, stelle ich mich in einigen
Punkten in öffnen Gegensatz zu den Ansichten, die neuerdings Th. Mommsen
in seinein Briefwechsel mit F. Jonas (Weidmanns Lehrerkalender 1889/1890)
kundgegeben hat. Wenn er von „wirklicher Beherrschung" oder vom „völlige»
Beherrschen" einer fremden Sprache spricht, so ist mir das einfach »»verständlich,
und vollends unbegreiflich, wenn er eine solche Fähigkeit von den Schülern
verlangt. Mag das Lehrer- und Schülermaterial noch so vorzüglich sei», es
ist eben etwas Unmögliches, was man hier verlangt. Der Irrtum kommt
offenbar vom Lateinschreiben her, vom Schreiben in einer toten Sprache,
und von da hat er sich übertragen auf das Gebiet der neuern Sprachen,
auf jenes gefährliche Gebiet, wo ohne weiteres eine Kritik durch Angehörige
der betreffenden Sprache erfolgen kann. Wie diese Kritik bis jetzt ausgefallen
ist, habe ich oben gezeigt. Sie ist außerordentlich lehrreich und veranlaßt
vielleicht auch klassische Philologen, einen Schluß nach Analogie zu ziehen.
Noch ans einige andre Punkte möchte ich hier eingehen. Ich greife zuerst
das „Denken in einer fremden Sprache" heraus. Viele, glaube ich, stellen sich
auch dieses Denken viel zu einfach vor. Wenn wir als Primaner einen latei¬
nischen Aufsatz zu machen hatten, so erhielten wir die sehr verständige An¬
weisung, ihn ja nicht erst deutsch zu entwerfen, sondern gleich lateinisch darauf
los zu schreiben. Diese Vorschrift drückte ungefähr dasselbe aus, wie „lateinisch
denken." Im Grunde genommen hieß es nichts weiter als: Laßt euch ja nicht
auf einen Vergleich mit dem Deutschen oder auf ein Ausgehen vom Deutschen
ein, dieses Deutsch könnte euch veranlassen, eine unlateinische Redensart zu
gebrauchen, indem ihr wörtlich übersetzt; schöpft einzig und allein aus euerm
Vorrat an lateinischen Wörtern und Redensarten und sucht anzubringen, was
euch in Bezug auf Satzbildung und Satzverknüpfnng in Fleisch und Blut über¬
gegangen ist. Eine solche Vorschrift war durchaus zweckmäßig. Ganz freilich
konnte man sie nicht immer befolgen. Zuweilen war man ans einen schönen
deutschen Gedanken versessen, für den eine eieeronianische Redensart zu matt
klang oder nicht Paßte, und dann griff man doch zum deutschen Wörterbuche.
Zu statten kam es einem dabei, wenn man recht viel gelesen und sich auf diese
Weise einen gewissen Schatz von Redensarten und ein gewisses Sprachgefühl
angeeignet hatte. Denn von einem eigentlichen Denken, von einer Verstandes¬
thätigkeit kann ja bei diesem „Denken in einer fremden Sprache" uicht die
Rede sein. Seien wir doch offen: Bei der Erlernung der Muttersprache so¬
wohl, wie bei der einer fremden Sprache, spielt nicht der Verstand, sondern
das Gedächtnis die Hauptrolle, und diese so offenbare Thatsache würde längst
allgemein anerkannt sein, wenn wir uns nicht gewöhnt hätten, immer so gering-
schützig vvni Gedächtnis zu reden. Es war einer der größten Fehler der alten
Schule, eine fremde Sprache rein verstandesmäßig erlernen zu wollen und die
Grammatik in den Mittelpunkt des Unterrichtes zu stellen. Jetzt ist die
Sache anders geworden. Die Grammatik wird nicht vernachlässigt, aber
das Lesen ist die Hauptsache. Und so ist das einzige Mittel, das man angeben
kaun, um in den Geist der Sprache einzudringen, das uralte: Viel lesen, viel
sprechen, so wenig wie möglich an die Muttersprache denken, so wenig wie
möglich vergleichen, denn dieses Vergleichen schadet dem Stil, dem fremden
wie dem deutschen. Doch da komme ich abermals in Widerspruch zu Mommsen:
»Meines Erachtens — sagt er — ist schriftliches Übersetzen aus einer fremden
Sprache bei weitem die zweckmäßigste Form der Bildung des deutschen Stils.
Natürlich muß der Lehrer darauf halten, daß dann Demosthenes so deutsch
redet, wie Reiske ihn reden läßt."
Übersetzungen sind unbedingt nötig, und ebenso unerläßlich ist es, daß der
Lehrer auf gutes Deutsch hält. Aber diese Übungen für die bei weitem zweck¬
müßigste Form der Bildung des deutsches Stils zu halten, kann ich mich um
so weniger entschließen, als ich bis jetzt — gerade das Gegenteil geglaubt habe.
Eine gute deutsche Übersetzung setzt eine vollständige Beherrschung der deutschen
Sprache voraus. Nun ist es eine bekannte Thatsache, daß nie mehr undeutsche
Redensarten und Konstruktionen gebraucht werden, als gerade bei der Über¬
setzung aus einer fremden Sprache. Ausdrücke, die ein Schüler nie und nimmer
in einem deutschen Aufsatze gebrauchen würde, haben für ihn gar nichts Ver¬
fängliches bei der Übersetzung; ja solche Ausdrücke würden nie zur Welt
kommen, wenn ihnen nicht hierzu die fremde Vorlage verhälfe. Wie ist dies
zu erklären? Ich glaube, auf sehr einfache Weise. Wir können unsern Schülern
bis zur Sekunda gar nicht eine solche Beherrschung des Sprachgebrauches zumuten;
selbst bei den Primanern, jungen Leuten von achtzehn bis neunzehn Jahren,
wird sie schwerlich immer vorhanden sein. Wenn aber diese Beherrschung der
fremden Sprache noch nicht vorhanden ist, kann der Lehrer wirklich beim
Übersetzen viel dazu verhelfen? Kann er etwas andres thun, als auf einige
Gesetze des Satzrhythmus aufmerksam machen oder dem Schüler sagen: der
und der Ausdruck ist nicht deutsch? Doch was rede ich von Schülern! Wie
viele gute und gewissenhafte Übersetzer von Werken der alten nud der neuen
Zeit könnte man namhaft machen, denen doch dann und wann ein undeutscher
Ausdruck und eine undeutsche Wendung mit unterläuft"). So sehr ich deshalb
auch eine Übersetzung als eine Kraftprobe und meinetwegen auch als einen
Maßstab der geistigen Reife anerkenne, und so sehr ich es ster eine ernste Pflicht
des Lehrers halte, keinen undeutschen Ausdruck durchzulassen, ebenso sehr möchte
ich davor warnen, gerade in der Übersetzung das zweckmäßigste Mittel zur
Bildung des deutschen Stils zu sehen. Wer könnte überhaupt ein Besseres
empfehlen, als eine eingehende Beschäftigung mit unsern besten deutscheu Schrift¬
stellern?
Und uun komme ich zu einem letzten Punkte. „Meines Erachtens — sagt
Mommsen — ruht alle geistige Erziehung und deren Produkt, die Bildung, auf
der Sprnchkeuntnis, und zwar auf einer solchen, die sich nicht auf die Mutter¬
sprache beschränkt. Wer fremde Sprachen nicht kennt, sagt Goethe, weiß nichts
von der eignen, und er hat Recht, wie gewöhnlich. Daß der Mensch spricht,
macht ihn zum Menschen, daß er zwei Sprachen spricht, zum gebildeten Menschen.
Ans die schönen Kinderzeiten, in denen die Ilias und die Nibelungen entstanden,
und auf exzeptionelle Naturen, wie Shakespeare, paßt dies allerdings nicht,
aber nnr, weil hier für Bildung im heutigen Sinne überhaupt kein Platz ist.
Aber der gebildete Römer sprach auch griechisch, der gebildete Mann im Mittel¬
alter sprach Latein, und wer heutzutage sich nur auf Deutsch ausdrücken kann —
nun, der Rest ist Schweigen."
Eine sehr gewagte Behauptung. Die Griechen sprachen in ihrer Blütezeit
nnr griechisch, also — der Rest ist Schweigen.
Wer heutzutage sich nur auf Deutsch ausdrücken kann, soll deshalb ein
Ungebildeter sein? Nun, dann können wir mehr als die Hälfte aus der Liste
der Gebildeten streichen, und das Prädikat der Bildung nur den Philologen,
Kaufleuten und ein paar andern erteilen. Glaubt Mommsen wirklich, daß die
große Masse unsrer Richter, Ärzte, Baumeister, Militärs u. a. sich noch in
einer andern Sprache als der deutschen nnsdrücken kann? Oder verstehe ich
die Worte falsch? Er will damit doch Wohl nicht sagen: dann und wann
einen griechischen, lateinischen, französischen Satz oder Vers dazwischen werfe»,
sondern: eine ganze Gedankenreihe in der fremden Sprache wiedergeben? Gottlob,
möchte ich ausrufen, daß die Leute das nicht können, denn sonst würde es
schlecht bestellt sein mit unsrer Rechtspflege und Heilkunde, mit unsern Häusern
und unsrer nationalen Sicherheit.
„Ich glaube — sührt Mommsen fort — in diesem Sinn an die allein selig¬
machende fremde Sprache; und es hat dies — für mich — feinen guten Grund
in unsrer innersten Natur. Einen Gedanken in zwei Sprachen ausdrücken (nicht
etwa „übersetzen," sondern zwiefach nach den Gesetzen jeder Sprachen denken)
heißt ihn völlig beherrschen. Der geniale Mensch kommt freilich dabei mit
einer einzigen aus; aber wer nicht genial ist — und für die sind doch die
Schulen einzurichten — spricht regelmäßig in geborgten Denkformen und kann
dem originalen Denken durch das große Wunder der Sprache allein einiger¬
maßen angenähert werden."
Ich will hier keinen Wert legen auf die Worte „geborgte Denkformen,
originales Denken," oder auf „die Gesetze, nach denen man in einer fremden
Sprache denkt." Ob die Wissenschaft der Logik oder die Philologie sie als sehr
glückliche anerkennen wird, bleibe dahingestellt. Ich stelle mir die Sache so vor.
Eine Sprache besteht aus Wörtern. Diese Wörter haben einen Sinn, wir ver¬
binden mit ihnen einen Begriff. Wir haben die Wörter jedoch nicht selbst ge¬
schaffen, sondern wir haben sie als etwas Festes überkommen, und zwar mit
einem bestimmten Inhalte, den wir nicht ohne weiteres verändern können.
So hat der Begriff „Tugend" seinen bestimmten Inhalt, und wir sind nicht
berechtigt, für das Wort Tugend (das Kleid des Begriffes) urplötzlich „Laster"
zu setzen. Die geistige That, die sich in der Bildung der Sprache vollzog,
ist also nicht die unsre, und wenn wir reden, so thun wir dies in Wörtern,
die wir nicht geschaffen haben, oder wie Mommsen sagt - - ich wüßte sonst
nicht, wie ich seine Worte anders deuten sollte —, in geborgten Denkformen.
Doch halt! Ist denn die Sache richtig? Die Sprache liegt allerdings fertig
vor, aber sie ist nicht gleich mein Besitztum. Dies kostbare Gut wird mir nicht
bei der Geburt geschenkt, ich muß es mir erringen, langsam und unaufhörlich,
ich muß mich hineinleben, und glücklich der, der sich rühmen kann, daß er seine
Muttersprache beherrsche. Und nur die andre Frage: Wenn ich eine fremde
Sprache betreibe, spreche ich, denke ich da nicht auch in „geborgten Denkformen"?
Gilt nicht dasselbe, was ich für die Muttersprache anführte, uicht auch für jene?
Doch ich befinde mich Wohl auf einer falschen Fährte. Dem „Denken in ge¬
borgten Denkformen" wird ja das „originale Denken" gegenübergestellt und
gesagt: Einen Gedanken in zwei Sprachen ausdrücken, heißt ihn völlig beherrschen.
Die Worte sind mir freilich wieder nicht ganz klar. Sollen sie bedeuten: Wenn
ich einen Gedanke» in einer fremden Sprache ausdrücke, so werde ich nur erst
recht klar, was die Worte, die Trüger des Gedankens, in der Muttersprache
ausdrücken? Wer fremde Sprachen nicht kennt, sagt ja Goethe, kennt auch seine
eigne nicht! Durch die Vergleichung der beiden Sprachen würde ich dann finden,
daß man ein und denselben Gedanken ganz verschieden ausdrückt, und da ich nun
das Subjekt bin, das den Gedanken zum Ausdruck verhilft, so würde ich mich
daun auf der Stufe des „originalen Denkens" befinden. Schade nur, daß in
jener fremden Sprache auch wieder so viele Denkformen bestehen, und daß ich
immer wieder meine Gedanken in die Wort- und Phrasenformen der maß-
gebenden Schriftsteller gießen muß. Oder soll es überhaupt bloß heißen: Die
Übertragung eines Gedankens hält zum Denken an, stärkt die Denkkraft V So
etwas muß Wohl gemeint sein, denn es soll ja eine gute Übung für nicht¬
geniale Menschen sein.
Ich erkenne selbstverständlich den Wert der Übertragungen und besonders
den Wert an, der in der Betreibung einer fremden Sprache liegt. Vielleicht wird
sich später einmal Gelegenheit finden, diesen Wert so manchen verschwommenen
Ansichten gegenüber etwas genauer festzustellen. Aber in einem Punkte gehöre
ich zu den Ketzern. Ich meine nämlich: Kann ein Schüler bei normalen Geistes-
verhültnissen sich nicht im Deutschen klar ausdrücken oder handhabt er die
Muttersprache ungeschickt, so liegt dies hauptsächlich daran, daß er seine eigne
Sprache noch nicht ordentlich beherrscht, und dann ist es die höchste Zeit, daß
er durch Lesen und durch Anleitung bei deutschen Aufsätzen diesen bedauerlichen
Mangel auszugleichen sucht. Thut er dies gewissenhaft, dann wird er sich dem
„originalen Denken" hierdurch sicherlich eher nähern, als durch Übertragungen
in fremde Sprachen.
Dies find die Punkte, die mir einer nähern Besprechung wert erschienen,
und die, wie ich glaube, rein sachlich von mir erörtert worden sind. Es sind
nicht die einzigen, die einer Klärung bedürfen. In dem großen Streite: Hie
Gymnasium, hie Realgymnasium, hie Einheitsschule! findet man oft Urteile
über wichtige Dinge in einer Weise vorgetragen, als ob gar keine andre Ansicht
daneben denkbar wäre. Es wäre in hohem Grade zu bedauern, wenn ein solches
Verfahren immer mehr um sich griffe, und ich würde es doch für sehr an¬
gebracht halten, wenn zunächst einmal über gewisse allgemeine Gesichtspunkte
eine gründliche und dabei ruhige, leidenschaftslose Erörterung stattfände.
rillparzer berichtet wiederholt, z. B. in seiner Selbstbiographie
bei der Erzählung, wie die Ahnfrau entstand, daß er die Gestalten
seiner Phantasie leibhaftig gesehen und gehört habe, hier ins¬
besondre mit der Wirkung, daß ihn „die Gespensterfurcht seiner
Jugend" wieder überkam. Ebenso bestätigt er wiederholt (z. B.
Band 15, S. 195 der neuesten Ausgabe von Sauer), daß er nur nach starken
Anschauungen gearbeitet habe, wofür als ein Beleg das Titelbild des Mars
Moravicus dienen kann, das ihm bei der so ungewohnt langsam und in Unter¬
brechungen sich vollziehenden Arbeit seinen Ottokar stets wieder von neuem
vergegenwärtigen mußte. Es fehlt aber auch nicht an Zeugnissen und Be¬
kenntnissen, daß er seinen Gestalten den Odem des Lebens dadurch einhauchte,
daß er entweder vom Begriff, wie er sagt, d. h. vom Charakterproblem aus¬
gehend nach einem leibhaftigen Menschen suchte, der der erforderlichen An¬
schauung zum Halt dienen sollte, oder umgekehrt, daß ihn irgend jemand, der nun
demselben Zweck diente, zur dichterischen Ausbeutung veranlaßte. So finden
sich einigemale bei den Personenverzeichnissen der Entwürfe oder in diesen selbst
bei den für das Stück in Aussicht genommenen Namen in Klammern oder
geradezu vorläufig eingesetzt ein Herr Registrator Ka, ein Hofrat......,
oder man sieht doch aus dem Entwurf, daß er von einer Erfahrung die An¬
regung empfangen hatte, die ihn dann weiter führte.
Im allgemeinen wird freilich der, der es unternimmt, aus allen bis jetzt
veröffentlichten Schriften des Dichters selbst und seiner Freunde über ihn zu¬
sammenzustellen, was sich an solchen Andeutungen und Mitteilungen von that¬
sächlichen Beziehungen der Personen seiner Dramen und Erzählungen zu der
Wirklichkeit und Erfahrung findet, schließlich doch keine sehr umfassende
Ausbeute ausweisen können. Wir bedauern das, denn alles, die Litterntur¬
geschichte und die Geschichte des Dichters, das Verständnis seiner Werke und
die Einsicht in die Art seines Schaffens, würden dabei gewinnen, wenn wir mehr
wüßten, wenn von dem übrigen Nachlaß, der noch manches Geheimnis seines
Lebens aufdecken wird, die Siegel bereits gelöst wären — gewiß nur zur
Förderung seines Ruhmes. Denn je größer auf der einen Seite die Abhängig¬
keit von selbst angelegten Fesseln erscheinen würde, umso größer auch die Kraft
seines Gestaltungsvermögens, die von solchen Fesseln nie gehemmt wurde. Wie
weit diese Kraft reichte, dafür besitzen wir an seinem Ottokar ja ein großartiges
Denkmal, wenn hier auch nicht die Gegenwart, sondern die Vergangenheit die
Fesseln bot.
Aber Grillparzer schwieg, und er schwieg aus ganz bestimmten Gründen.
Einmal sagte er, er sei wohl Herr seiner eignen Geheimnisse, aber nicht der
Gehennnisse andrer. Unser sittliches Gefühl' erklärt das für ehrenvoll, aber
unsre Neu gier blickt doch verdrießlich, und umsomehr, als jene Bemerkung
gerade die betrifft, die uns am meisten reizen: die Frauen. Frauen und Liebe
aber füllen nicht nur seine Werke, sondern auch auf der Fahrt seines Lebens
machten sie gar oft das Wetter und bestimmten die Richtung und den Charakter
desselben bis zum untergangdrohenden Sturm. Und das vor allem verraten
seine Werke. Grillparzer war ein Menschenbeobachter und Menschenkenner wie
wenige. Dieselbe Sorgfalt und Genauigkeit, mit der er, wie viele Blätter des
Nachlasses bezeugen, die Charaktere seiner Dramen aus zahllosen Eiuzelzttgen
zusammensetzte, wandte er auch darauf, Menschen, die ihn als Freund oder
Feind fesselten, in ihre Bestandteile zu zerlegen. Über die einen wie die
andern zergrübelte er sich den Kopf, und daraus entsprang neben der An¬
schauung zum andern Teil die Lebenswahrheit und reiche Ausgestaltung seiner
Figuren und die Vorliebe für die Darstellung der schwierigsten Seelenkrisen.
Die Grenzlinie zerfloß zwischen Kunst und Natur, zwischen Phantasie und
Erfahrung; die einen waren ihm nicht minder wirklich wie die andern und der
gleichen ernstesten Beobachtung wert.
Es läßt sich nun nicht behaupten, daß hier den Frauen eine größere
Sorgfalt gewidmet worden sei als den Männern; aber eine geringere anch
nicht, wenn auch die schriftlichen Belege dafür spärlicher sind. Umso reicher
sind dafür die mittelbaren Beweise, die wir aus seinen Dramen gewinnen. Es
giebt wenig Dichter, die ihnen und der Liebe mit ihrer Kunst in dem Maße
gehuldigt hätten, soweit Arbeit und Sorgfalt auf die Ergründung und Dar¬
stellung der geheimnisvollsteu Regungen verwendet eben Huldigung sind. So
gefaßt, hätte Grillparzer wohl den Anspruch ans den Namen eines modernen
Frauenlvb. lind auch hier war es das Leben, war es die Beobachtung fremder
und eigner Liebesleiden und -Freuden, die ihn nicht nur lehrte», was der
Dichter der Liebe wissen muß, sondern ihn auch trieben, das so süß und so
bitter erworbene Wissen der Kunst zu weihen. Das muß so sein, welliger
weil es der Dichter hie und da selbst bestätigt, als vielmehr deshalb, weil da,
wo seiue Werke Liebeskämpfe zum Gegenstände haben, oft jede Zeile und jede
Wendung von einer Naturtreue und die ganzen Gestalten von einer Lebens-
wärme sind, die sie mir von dem Leben selbst erhalten haben können. Dies
führt uns zu dem Gegenstande unsers Aufsatzes selbst. Anlaß zu ihm bot eine
Bemerkung W. Scherers, die von eben jenen Voraussetzungen ausgeht, die
uns bisher beschäftigten. In seinem Aufsatze „Zum Gedächtnis Franz Grill-
parzers" (abgedruckt in der „Österreichischen Wochenschrift für Wissenschaft und
Kunst," Wien, 1872, und wieder in seinem Buche „Vortrage und Aufsätze zur
Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich," Berlin, 1874)
sagt er mit Bezug auf Melitta: „Wir konstruiren unsre Ideale nicht, ohne
daß unser eignes Selbst den Stoss dazu böte. Was wir außer uns bewundern,
das muß in uns wiederklingen." Und so meint er denn, in Melitta hätten
wir unter allen weiblichen Gestalten der Dramen die zu erblicken, in der er
nicht nur künstlerischen Absichten, sondern auch menschlichen Antrieben folgend
sein eignes Ideal von Weiblichkeit hingestellt habe. Sie also würde demnach
im Verein alle jene Vorzüge enthalten, die ihn, wo er ihnen etwa begegnete,
vor allen zu fesseln und jenes höchste Wohlgefallen, das für das andre Ge¬
schlecht in den Mann gelegt ist, wach werden zu lassen vermöchten. Wie er
sich aber dies Ideal dachte, sagt die bekannte Schilderung Sapphvs:
Das liebe Mädchen mit dem stillen Sinn,
Obschon nicht hohen Geists, von mäßgen Gaben
Und unbehilflich für der Künste Übung,
Wnr sie mir doch vor andern lieb und wert
Durch anspruchsloses, fromm bescheidnes Wesen,
Durch jene liebevolle Innigkeit, ,
Die, langsam gleich dem stillen Garteuwürmche»,*)
Das Haus ist und Bewohnerin zugleich.
Stets fertig, bei dem leisesten Geräusche,
Erschreckt sich in sich selbst zurückzuziehen,
Und um sich fühlend mit den weichen Fäden
Nur zaudernd waget, Fremdes zu berühren,
Doch fest sich saugt, wenn es einmal ergriffen,
Und sterbend das Ergriffne uur verläßt.
Nun ist es richtig: die Gestalten der Phantasie können sich nicht ans
andern Bestandteilen zusammensetzen als ans solchen, die sich im dauernden
Vorrat des Geistes finden. Und vollends bei einer geistigen Vertiefung, wie
sie die Schöpfung eines dramatischen Charakters erfordert, kann in diesen nur
überfließen, was in längerer Erfahrung und unter steter Teilnahme auch eines
gemütlichen Interesses eine feste Gestalt gewonnen hat, und wird es umsomehr,
je rascher gearbeitet wird, und die Sappho ist in drei Wochen entstanden.
Aber Grillparzer hat mehrere weibliche Idealgestalten und, so weit ihre Durch¬
arbeitung dies verrät, alle mit derselben liebevollen Wärme und persönlichen
Teilnahme geschaffen. Daß für Melitta diese Teilnahme die innigste und
Persönlichste gewesen sei, dafür fehlt jede unmittelbare Bestätigung; es kann
nur erschlossen werden, und unser Schlußmaterial führt nicht eben dahin. Die
Ideale ferner wechseln wie alle Wünsche; sie wechseln nicht nur mit der
reifenden Erfahrung, sie wechseln sogar nach Stimmungen. Vollends das
Ideal des Weibes, das ein jugendlich glühendes und schwärmendes Gemüt
sich gestaltet, wird unausweichlich anders, wenn der ruhige Verstand mehr
und mehr im Gewoge des Seelenlebens sich zu einer herrschenden Stellung
emporarbeitet. Und nicht nur diesen gesetzmäßigen Entwicklungsgang hat auch
Grillparzer zurückgelegt, sondern er rang sogar nach Vertiefung, nach grübelnder
Versenkung in die Dinge, die seinen Geist umgaben und beschäftigten. Des
sind Zeugnis viele seiner Epigramme, seine Neigung zu Sentenzen, an denen
schon die Jugendwerke nicht arm sind, und in denen wir Schillerschen Einfluß
erblicken, jene langatmigen Ergüsse, hinsichtlich deren er selbst einmal sagt:
„Daß ich bei länger dauernden Arbeiten leicht dem ersten Plane untren werde,
liegt auch mit darin, daß ich Lieblingsthemata und Ansichten in mir herum
trage, die sich mir unbewußt einmischen, wo es uur immer erträglich ist."
Doch das ist ja allbekannt; das Bild, das wir von ihm hegen, ist nichts
weniger als das eines feurigen, ewig jugendlichen Phantasicmenschcu, sondern
viel eher das eines alten Grüblers, der uns manchmal stark an seinen Rudolf II,
erinnert. Wenn wir also trotzdem jene Behauptung Scherers gelten lasse«,
so hat dies doch mit der Einschränkung zu geschehen, daß Melitta die Ver¬
körperung des weiblichen Jugendideals unsers Dichters darstellen mag, und
diese Auffassung schlüge auch einmal bei Scherer durch, da, wo er selbst zum
Dichter werdend über Melitta sagt: „Das ist so zart und süß und keusch
geschildert, wie eine reine Jünglingsphantasie sich schüchtern die Geliebte denken
mag." Was eine solche Annahme rechtfertigt, hat Scherer in dem Abschnitt
„Des Innern stiller Friede" aufs vortrefflichste entwickelt. Wir lenken zur
Bestätigung und Ergänzung die Blicke noch auf folgendes.
Wenn es von Melitta im Verlauf der obigen Chnrakterisiruug hieß,
daß sie
Nur zaudernd waget, Freuides zu berühre»,
Doch fest sich saugt, wenn es einmal ergriffen,
Und sterbend das Ergriffne uur verläßt,
so entspricht das auch dem Wesen Berthas in der Ahnfrau, wie auch umge¬
kehrt Borotnis Worte von ihr:
Ach so warst du schon als Kind,
Trngest immerdar zugleich
Der Beleidgung herben Schmerz
Und das Unrecht des Beleidgers.
Immer gut und immer schuldlos
schienst du stets die Schuldige,
samt der folgenden Antwort von etwas spitzfindiger Naivität:
»ut bin ich nicht wirklich schuldig?
Wenn much nicht als Grund des Zorns,
Ach, doch mis sein Gegenstand
nichts in sich bergen, was nicht durch Melittas Verhalten Snppho gegenüber
als auch ihrem Wesen eigen bethätigt würde. Solche Züge sind aber so gruud-
bestimmend, daß, wo sie gemeinsam sind, eine auch noch weiter gehende innere
Verwandtschaft anzusetzen ist. Und dahin geht unsre Meinung. Melitta hat
ihre Vorgeschichte nicht nur im Leben des Dichters, sondern anch in seinen
Dichtungen. Zum erstenmal taucht ein Wesen ihrer Art auf in dem wahr¬
scheinlich schon 1L10 entstandnen Fragment Alfred der Große in der Person
der Emma. Auch diese ist ein Naturkind, voll Anmut und Unschuld, voll
Liebreiz und ahnungsloser Hingebung, nur daß mehr Lust und Leben in ihren
Adern rinnt. Das Stück blieb unvollendet, aber Emmas Gestalt lebte und
entwickelte sich im Dichter weiter. Der Stoff der Ahnfrau bot keinen Raum
für sie oder ihresgleichen; dennoch umgaukelte sie ihn, und was der Stoff
zuließ, nahm Bertha in sich ans. Dann aber bot der Zufall ihm deu Stoff
der Sappho dar, mit dessen Aufbau der Dichter bekanntlich schon nach wenige»
Stunden fertig war, und so begreifen nur, daß „der Dichter seine persönlichen
Stimmungen in das Seelenleben der Sappho hineintrug," wie Scherer sagt
und, was schon Karoline Pichler bald nach der ersten Aufführung 1818 be¬
merkte, und daß das Drama selbst so überaus rasch und in einem Zuge entstehen
konnte. Von den drei Gestalten desselben lagen ja schon zwei vollständig
fertig in ihm bereit.
Es dürfte bei uns wenig Männer des Alters geben, in welchem Grill¬
parzer das Melitta umfassende Drama schrieb, die von dem Zauber, der diesem
sanften Naturkiude entströmt, nicht bis zu der Empfindung bestrickt würden,
in ihr das geheimste und innigste Sehnen des Herzens verkörpert zu sehen.
So oft ihr Bild aufsteigt, weilt, wie bei Goethes Klärcheu und Gretchen, die
Erinnerung gern bei ihr und schwelgt in den Reizen der Naivität, der Anmut
in Wort und Geberde, die des Dichters selbstverzückte Empfindung über das
holde Mädchen auszugießen verstanden hat. Und doch — Grillparzer ist kein
Phaon. So wenig dieser in Sappho dauerndes Genügen gefunden hätte und
sie in ihm, so wenig Grillparzer in Meinem und natürlich eben sowenig oder
noch weniger in Sappho. Aber eines hätte er doch an dieser tiefer und nach¬
haltiger zu würdigen gewußt: die geistige Bedeutuug, die er, wie Meinem
die Lieblichkeit, ihr selbst verliehen, nicht die besondre als Dichterin, sondern
jene allgemeine, wie sie in allein, was sie spricht und thut, zum Ausdruck
kommt.
Denn Klugheit und Verstand bei Frauen fesselten den Meuscheu Grill¬
parzer viel mehr als es die woher immer stammende Jdealgestalt Melitta,
von der es in vorsichtiger Wendung heißt: „obschon nicht hohen Geistes, von
mäßgeu Geben," zum Ausdruck bringt, und viel mehr, als der Dichter selbst,
damals und wohl auch später, in klarer Selbsterkenntnis es zugestanden hätte.
Doch nein, ein solches Geständnis liegt vor. In dem Gedicht Jugenderinne-
rungen im Grünen ^gedruckt 1835) lesen wir:
Da fand ich sie, die nimmer mir entschwinden.
Sich mir ersetzen wird im Leben nie;
Ich glaubte meine Seligkeit zu finden,
Und mein geheimstes Wesen rief: nur die!Gefühl, das sich in Herzenswärme sonnte,
Verstand, wenn gleich von Güte überragt,
Ans Märchen grenzt, was sie für andre konnte,
An Heilgenschein, was sie sich selbst versagt.
Bei den letzten Zeilen tauchen unwillkürlich Bertha und Melitta vor uns auf;
aber diesmal ist vou einem leibhaftigen Wesen, von einer Jdealgestalt, die ihm
das Leben selbst entgegengeführt hatte, von Kathi Fröhlich die Rede, und
da verrät uns der Verstand, so ausdrücklich betont, daß er wohl überhaupt
uicht fehlen durfte, wo des nun schon gereiftern Mannes sympathisches
Empfinden sich bis zur dauernde» Liebe steigern sollte.
Schon dies eine Zeugnis könnte uns, weil der Lyrik Grillparzers ent¬
nommen, befriedigen. Wir dürfen aber wohl weiter gehen und mit Scherer
den Eindruck verwerten, den wir aus Dramen, aus der Betrachtung einzelner
und Vergleichung mehrerer gewinnen. Und da finden wir denn bald eine
weitere Bestätigung.
Es giebt wohl keinen Dramatiker, bei dem sich so häufig im Munde der
Mitspielenden Abschätzungen der geistigen Begabung dieser und jener andern
Gestalt des Stückes fänden, wie bei Grillparzer, und auch keinen, bei denen
Klugheit oder geringe Begabung und Thorheit in der Charakteristik so stark
herausgehoben und für die Gestaltung der Handlung bis zum Ausgang als
stündig wirkende Hebel so kräftig verwendet würden. Es gehört das zu seineu
hervorstechendsten Eigentümlichkeiten, und daran haben die Frauen nicht nur
den gleichen Anteil wie die Männer, sondern sie werden sogar auffallend be¬
vorzugt. Erstens in der Weise, daß auf eine so tiefe Stufe, wie- sie Galvmir
vertritt, bei ihnen nicht hinabgestiegen wird, sodann dadurch, daß als geistig
hervorragend hingestellte Frauen wiederholt die Heldinnen und Trägerinnen
der Stücke sind. Das wird einzelnen Männern in dem Maße nirgends zu teil,
im Gegenteil, ziehen wir noch den armen Spielmann heran, so haben wir da
geradezu den geistig Armen zum Helden. Sowenig nun sich einerseits die Ab¬
sicht des Dichters verkennen läßt, durch die Geschicke, die diese Heldinnen er¬
leiden, zu betonen, daß jene Überlegenheit nicht in der Sphäre der unbedingt
weiblichen Vorzüge liege, und so wenig sie vor Irrtum, Thorheiten und Ver¬
derben schützt, ja in diese geradezu hineinführt, ebenso sehr nötigt doch auch
jene sichtbare Bevorzugung zu der Annahme, daß geistige Überlegenheit bei
Frauen, wenn er sie mich mit Kopfschütteln betrachtet, doch einen geheimen
Reiz auf ihn ausübte, sich bestündig mit ihr zu beschäftige» und sie geradezu
zum Gegenstande seines Studiums zu machen. Denn für den Schriftsteller
ist jede derartige Arbeit zugleich eine Schule neuer Erkenntnis, für die Kunst
sowohl wie für das Leben. Und so würde denn Wohl folgendes das wahre
Verhältnis sein. Melitta und die ihr mehr oder weniger verwandten Gestalten,
wie Bertha, Emma, Kreusa, Edrita, entzückte,, wohl sein Auge, wenn es ans
ihnen verweilte, und die Phantasie, wenn sie mit ihnen spielte; tiefer und
dauernder aber als Mensch und als Künstler fesselten ihn jene andern Ge¬
stalten: Sappho, Medea, Hero, Libnssa. Und sie treten zugleich aus der
laugen Reihe der Bühnengestalten Grillparzers am stärksten hervor; sie stehen
vor allen vor dein Auge der Erinnerung, wenn Grillparzer als Dramatiker
genannt wird.
Die Stücke, deren Trägerinnen die vier genannten sind, sind aber auch
die, in denen ^- von der Jüdin von Toledo später — Liebe ausschließlich oder
fast ausschließlich den Gegenstand der Behandlung bildet. Gleichmäßig ist die
Frage behandelt, wie kluge Frauen, wenn die Liebe an sie herantritt, an ihren
Klippen scheitern oder ihnen entgehen. So betrat er mit Sappho, die die
Reihe eröffnet, ein Gebiet, das sein dichterisches Vermögen endlich als das ihm
angemessenste erkannte, und auf dem er sich dann erging wie auf sonst keinem.
Welche besondre Verwandtschaft zwischen Hero und Sappho besteht, habe ich
bereits an einem andern Orte (Grillparzerstndien, Wien, 1886) dargelegt.
Aber auch für die andern Stücke liegen solche verwandtschaftliche Beziehungen
vor, deren einige aufzudecken hier noch unternommen werden soll.
Liebe ist das ständige Thema, und durch der Menschenkennerin Sappho
redegewandten Mund verkündet Grillparzer, wie Mann und Frau nach seiner
Meinung naturgemäß lieben:
Nach Fraueuglut mißt Männerliebe nicht.
Wer Liebe kennt und Leben, Manu und Frau.
Gar wechselnd ist des Mannes rascher Sinn,
Dem Leben Unterthan, dem wechselnden.
Frei tritt er in des Daseins offne Bahn,
Vom Morgenrot der Hoffnung rings umflossen,
Mit Mut und Stärke, wie mit Schild und Schwert,
Zum ruhmbekränzten Kampfe ausgerüstet.
Zu eng dünkt ihm des Innern stille Welt,
Nach außen geht sein rastlos wildes Streben;
Und findet er die Lieb, bückt er sich wohl,
Das holde Blümchen von dem Grund zu lesen,
Befiehl es, freut sich sein und stecktS dann kalt
Zu andern Siegeszeichen aus den Helm.
Er kennet nicht die stille, mcichtge Glut,
Die Liebe weckt in eines Weibes Busen;
Wie all ihr Sem, ihr Denken und Begehren
Um diesen eiuzgeu Punkt sich einzig dreht,
Wie alle Wünsche, jungen Bügeln gleich,
Die angstvoll ihrer Mutter Nest umflattern,
Die Liebe, ihre Wiege und ihr Grab
Mit furchtsamer Beklemmung schüchtern hüten,
Das ganze Leben als ein Edelstein
Am Halse hängt der neugebornen Liebe!
Er liebt; allein in seinem weiten Busen
Ist noch für andres Raum: als bloß für Liebe,
Und manches, was dem Weibe Frevel dünkt,
Erlaubt er sich als Scherz nud freie Lust.
Überblickt man die Werke Grillparzers, so nehmen sich diese Verse als eine
bündige Norm aus, nach der in den folgenden Dramen Männer und Frauen
in ihrem Verhalten in der Liebe gewissenhaft behandelt sind. Man überblicke
sie, die Männer: Phaon, Jason, Zawisch, Otto von Meran, Leander, Primislnv,
den König in der Jüdin auf alle paßt jene Darstellung, nur daß sie mehr
oder minder in die Lage kommen, auch jeden einzelnen Zug zu bethätigen.
Und dasselbe gilt für die Frauen, für Emma, Bertha (Ahnfrau), Sappho und
Melitta, Medea, Hero, Libusfa, selbst für Bertha im Ottokar, die durch ihr
Liebesleid zur Närrin wird. Auch unsre vier .Klugen sind darunter, ja sie vor
allen-, und wie mit dieser Liebe ihre Klugheit fertig, d. h. nicht fertig wird,
das ist das besondre und jedesmal anders behandelte Thema.
Sappho ist auf eine sehr hohe geistige Stufe gestellt, ja ihre Dichtergabe
stellt sie auf die höchste. Der Gegensatz erforderte es, der Gegensatz sowohl
zu Phaon wie zu Melitta, zur augenfälligen Begründung ihrer Liebe als eines
Irrtums und ihrer Verschmähung dnrch den, „der ohne Maßstab ist für
ihren Wert," als einer notwendigen. So enthält dasselbe Stück unter der
Gestalteureihe der Dramen zwei Höhepunkte; aber während Melitta in die
Vergangenheit des Dichters weist, weist Sappho in die Zukunft. Gewiß,
Melitta ist ihm ans Herz gewachsen; aber Sappho nicht minder: man lese die
Strafreden des Rhamnes und vergegenwärtige sich die Jammerrolle, die Phaon
im fünften Akte spielt. Dessen Ausspruch, daß „stiller Sinn des Weibes
höchster Schmuck" sei, so schön er ist, erschöpft doch nicht die Ansprüche, die
ein so mächtiger Geist wie Grillparzer an das Weib seiner höchsten Sympathie
zu stellen berechtigt ist lind unwillkürlich wirklich stellt, wenn er auch selbst
eine leidliche Philisterehe mit einer andern hätte führen können. Da stand ihm
Sappho näher.
Schon das nächste Werk ist das Goldne Vließ. So bald reizte es ihn,
wieder eine mit Stärke, Leidenschaft und auch Klugheit ausgestattete und
überdies, wie Sappho in der Dichtkunst, so auch in „geheimen Künsten"
andrer Art erfahrne Frau, die wie Sappho in allen das Gegenstück bildet zu
dem „Kinde" Melitta, der „Kleinen," durch die Wirrnisse einer tragischen
Liebesverkettuug zu führen, sogar in verwandter Lage; denn wie Philon zwischen
Sappho und Melitta steht, so Jason zwischen Medea und Kreusa. Ihre
geistige Überlegenheit war Sapphos Unglück; denn diese konnte bei Phaon wohl
Bewunderung, nicht aber Liebe wecken. Sie hinderte dies geradezu, seine ge¬
sunde, kräftige Natur sträubte sich gegen die Unterordnung unter das Weib
seiner Wahl. Anders hier; aber Medeas Wissen in geheimen Dingen, das sie
vor ihm voraus hatte, erweiterte dnrch das Grauen, das es einflößte, doch die
Kluft der Entfremdung, und umgekehrt steigerte ihre Klugheit infolge der größern
Feinfühligkeit sowohl das Bewußtsein ihres Elends als auch den Haß und
den Rachedurst. Diese Rache ist grausig, unmenschlich; und doch, wie hat der
Dichter sich bemüht und es auch erreicht, sie als die Rache einer aufs höchste
gereizten Barbarin begreiflich erscheinen zu lassen und für die Mörderin das
Mitleid so zu erregen, daß nicht sie, sondern Jason als der Schuldige erscheint,
und wir kalten Sinnes sein Geschick als gerecht hinnehmen.
Zwischen dem Goldner Vließ und dem nächsten dieser Reihe nngehörigeii
Stücke, Des Meeres und der Liebe Wellen, liegen zeitlich zwei andre: Ottokars
(Ruck und Ende und El» treuer Diener seines Herrn. Im ersten sind die
Frauen Episoden, aber auch hier fehlt die oben erwähnte geistige Abschätzung
nicht. Von Bertha sagt im ersten Akt die Königin:
Sie selbst ist kaum so schlimm, nur schwachen Geistes
Und thöricht eitel, das hat sie verführt.
Mit Reichtum, Macht und Hoffnung auf den Thron —
Ja, so weit ging der Übermütgen Stolz —
Verlockten sie das leichtbethörte Kind.-
Hier dient zur Abwechslung einmal der schwache Geist zur Entschuldigung des
Irrens, während sonst gerade die Klugheit, wenn erst Leidenschaft die Besonnen¬
heit verscheucht hat, die Höhe mit begreiflich machen muß, bis zu der sich die
Raserei versteigt. Unter die so gearteten ist ihrer Natur nach anch die Königin
im Treuen Diener einzureihen; denn auch sie gehört zu den Klugen. Sie sagt
von -ich zum Könige:
Ihr nanntet oft mich stolz,
Ein kühnes Weib, vergleichbar einem Manu,
und ergänzend später der König:
Ob heftig zwar, ist sie gerecht und klug,
ähnlich wie Melitta von Scippho:
Deal wenn auch heftig manchmal, rasch und bitter,
Doch gut ist Snvpho, wahrlich, lieb und gut.
Wo aber die Schwäche der Königin, ihre Liebe zum Bruder, ius Spiel kommt,
läßt diese Klugheit sie gänzlich im Stich. Dasselbe Stück bringt anch Erich,
von der es in der üblichen Weise heißt:
Wie tuum nun Leidenschaft für dieses Wesen,
Kaum schön, von schwachem Geist und dürflgen Gabe»,
Halb thöricht und halb stumpf, dich nach sich ziehn?
Wenn diese Worte auch nicht ihrem vollen Gewichte nach zu nehmen, sind, da
die Königin, weil ihre Absicht es erfordert, die Farben stark aufträgt, und über¬
haupt erst die Gefahr offenbart, welche Kräfte in Errp schlummern, so kommt
doch auch in dieser Gestalt wieder die übliche Absicht zum Ausdruck, daß ein
beschränkter, aber seine wenigen Grundsätze fest bewährender Geist sicherer an
allen Klippen der Unsittlichkeit vorbei gelangt als der reich begabte, bewegliche,
in dem die Grundsätze im Gewoge der Deuteleien hin und her schwanken, und
der nie um Einfülle verlegen ist, die für jedes Thun als Rechtfcrtigungsgründe
dienen müssen.
Die liebenswerteste in der Reihe der Klugen nicht nnr, sondern die fesselndste
Frnuengestalt, die Grillpnrzer überhaupt geschaffen hat, ist Hero. Geworden
ist sie es dadurch, daß sie, was Sappho und Melitta ziert, in sich vereinigend,
trotz aller Begabung doch auch ausgestattet ist mit einem schlichten Sinn, der
nicht klügelnd beschönigt, mit einem reichen, echt weiblichen Empfinden, das
thatsächlich „sterbend das Ergriffne nur verläßt," und vor allem durch ihr
rührendes Geschick. Aber dies Geschick ist ganz von ihrem Charakter getragen,
und die Rührung gilt daher beiden. Wie bei Sappho, atmen alle ihre Reden
Überlegenheit, ja Geist, ihrer Klugheit wird uicht nur wiederholt gedacht, sondern
dnrch die Worte des Priesters, die nun wieder für alle gelten könnten:
Der Wahnsinn, der das kluge Weib befällt,
Tode Heftger als der Thorheit wildstes Rasen,
zu der Gewalt, mit der die Liebe sie ergreift, ausdrücklich in ein Wechsel-
Verhältnis gebracht. Für sie ist Sapphvs Schilderung von der Liebe des
Weibes aufs wörtlichste gegeben, ihre Sünde ist der Sieg ihrer wahren Natur
und Natürlichkeit, ihr Tod deren Triumph. Doch ich will nicht wiederholen,
was ich schon an anderm Orte ausgeführt habe, und nur noch auf zwei! Be¬
merkungen Grillparzers hinweisen, die wenigstens einigermaßen ein persönliches
Verhältnis zwischen ihm und seiner Heldin bezeugen. Die eine ist jene be¬
kannte Bemerkung: „Im dritten Akt zu gebrauchen, wie damals Charlotte
(die Tochter der Karoline Pichler), als sie den ganzen Abend wortkarger und
kälter gewesen als sonst, beim Weggehen in der Hausthüre das Licht auf den
Boden setzte und sagte: Ich muß mir die Arme frei machen, um dich zu küssen.
Nicht gerade die Begebenheit soll dort Platz finden, sondern die Gesinnung,
die Gemütsstimmung." Und die andre: „Eine wunderschöne Fran reizte mich,
ihre Gestalt, wenn auch uicht ihr Wesen durch alle diese Wechselfälle durch-
zuführen." Sie also vertrat hier die Stelle jenes Mars Moravicus beim
Ottokar. Wenn aber irgend ein Name geeignet ist, für den Namen Melittas
in jene Behauptung Scherers eingesetzt zu werde», dünn ist es der Heros.
Manches hat Libussa mit dieser und jeuer ihrer Gefährtinnen gemein.
Voraus hat sie, daß sie „von höhern Mächten" abstammt. Wie Melusina zu
Raimund, so war eine „göttergleiche Frau" zu Krokus herabgestiegen, sich ihm
.zu vermählen, und von dieser hat sie, daß sie gleich Medem „gar hoch er¬
fahren ist in geheimer Kunst." Das Priesteramt liebt sie gleich Hero, und
wie Sappho, spendet sie, eine wirkliche Herrschern!, in weiser Übung ihres Amtes
ringsum Glück und Segen. Sapphos Verderben ist, daß ihre neuerwachte Liebes¬
sehnsucht, der ersten Wallung folgend, fehlgreift. Glücklicher ist Libussa. Auch
sie gehört einer andern Sphäre an, aus der sie, dein Zwange der Umstände
und dem Verlangen des Herzens folgend, herabsteigt; aber ihre Neigung führt
sie dem Würdigen zu, der ihr gewachsen ist. Hätte Primislav in dem Kampfe
der besonnenen und die Leidenschaft beherrschenden Klugheit, den sie mit ihm
eingeht, seiner männlichen Würde etwas vergeben, nie hätte er den holden und
hohen Preis errungen. Aber er besteht die Probe, und nun ist ihre Unter¬
werfung so vollständig wie ihr Glück. Freilich von keiner Dauer. Was
Sappho von sich sagt:
Der Menschen und der Überirdschen Los,
Es mischt sich nimmer in denselben Becher.
Von beiden Welten eine mußt du wählen:
Hast dn gewählt, dann ist kein Rückschritt mehr,
das Wird auch ihr Verderben, nur etwas spater. Sie will, im letzten Akt,
den Rückschritt thun, und das kostet ihr das Leben, wie es Kascha verkündet hat:
Wenn du's noch kannst, vom Irdische» umnachtet.
Man wird nach alledem, das sich noch um manche Züge hätte vermehren
lassen, wohl der Auffassung zustimmen, daß die vier Dramen zu einander stehen,
wie etwa auf einem eingehegten Raum vier Bäume, deren Wurzeln und Zweige
sich mehr noch, als hier aufgedeckt worden ist, vielfach mit einander verschlingen.
Daß sie über den Zaun weg auch noch in andre greifen, wird dadurch nicht
gehindert. Zu jenen vieren gesellt sich jedoch noch ein fünfter von eigner
Beschaffenheit, aber doch ihr Genosse: Die Jüdin von Toledo. Auch in diesem
Stück bewegen wir uns in dem durchgesprochenem Gedankenkreise. Nur sind
die Rollen vertauscht. Diesmal ist der Mann der Kluge, der durch eine Liebes¬
wallung in die Irre gerät. Denn auch König Alfonso ist kein Durchschnitts¬
mensch. Ihn preisen die seinen:
Denn so viel Könige noch in Spanien waren.
Bergleicht sich keiner ihm an hohem Sinn. , .
Nicht hoch an Rang und Stand und Würde nur,
Nein, much an Gaben, so daß, schaun wir rückwärts
In unsrer Vorzeit anfgeschlngnes Buch,
Wir seinesgleichen kaum noch einmal finden.
Von Ruhm übersättigt sehnte sich Sappho nach anderen, nach Liebe, Leben,
Doppelleben. Nicht ganz so, aber doch verwandt ist des Königs Verfassung.
Für zärtliches Liebesempfinden und Tändelei hat sein arbeitsreiches, ruheloses
Leben bisher keine Muße geboten. Nun wirfts sich ihm in den Weg, und da
umstrickt ihn der neue Zauber. Er holt, aber zur Unzeit, eine Lebenserfahrung
nach und befriedigt ein Empfiudnugsbedürfnis, daß eben auch einmal befriedigt
sein will. Aber eine Erfahrung wird es wie manche andre auch, weiter nichts;
kein Wendepunkt des Lebens, an dem sich Sein oder Nichtsein entschiede, wie
bei den Frauen. Denn wieder hören wir Sappho:
Und findet er die Lieb, bückt er sich wohl n. s. w.
So wird sei» Wollen wohl eine Zeit lang gelähmt durch den Reiz des Aben¬
teuers; aber als wirkliche Gefahr droht, rafft er sich auf, und nur der Mord,
der an dem unglücklichem Geschöpf vollzogen wird, wirft seine schwarzen Schatten
in die Zukunft, nicht die Liebesverirrung.
Daß zu diesem Ausgang aber unsre Zustimmung erworben werde, dazu
war notwendig, daß durch das Wesen, das die Verirrung veranlaßte, diese
auch wirklich als solche und als nichts andres kenntlich gemacht wurde. Und
das zu erreichen hat sich der Dichter auch redlich bemüht, ja fast zu viel.
Groß ist der Abstand zwischen Sappho und Phaon, aber unendlich größer der
zwischen dein Könige und Nadel. Fast hat es den Anschein, als ob der Dichter,
nachdem er in einer ganzen Reihe von Werken dem weiblichen Geschlechte bis
zur Erschöpfung Huldigung ans Huldigung dargebracht hatte, min auch zum
Ausgleich und wie um der Gerechtigkeit willen das Urbild weiblicher, besonders
geistiger Gebrechlichkeit ihnen gegenüberzustellen das Bedürfnis gehabt Hütte.
Der König schildert sie:
Nimm alle Fehler dieser weiten Erde,
Die Thorheit und die Eitelkeit, die Schwäche,
Die List, den Trotz, Gefallsucht, ja die Habsucht,
Vereine sie, so hast du dieses Weib.
Nur eins vergißt er: sie ist schön; und noch eins: wo es gilt, ihn zu locke»
und aufs neue zu fesseln, da entwickelt sie instinktiv so viel Verschlagenheit und
ist so treffsicher, wie etwa urplötzlich in seiner Weise der „blöde Schlucker"
Leander, der von sich sagt:
Und Liebesgöttin, du, die mich berief.
Den kundlos neuen, lernend zu belehren
Die llnberichtete, was dein Gebot.
Schließlich sei noch einer Vermutung Raum gegeben. Die oben angeführte
Bemerkung Grillparzers: „Eine wunderschölle Frau" n. s. to. soll ans eine Frau
Daffinger gehen. Wenn darnach das Äußere dieser Dame seine Verewigung
in Hero gefunden hat, so läßt die Schilderung, die Grillparzer in dein nennten
Gedichte der Irisim ex pontv (Trennung, Strophe 5 und 6) von ihr ent¬
wirft, vermuten, daß ihre seelische Beschaffenheit allerlei zu der Ausstattung
des Kobolds Nadel habe liefern müssen. Denn die Strophen lauten:
Ein Rätsel warst dn mir, wie man beim Spiele,
Den Nachbar neckend, wohl zusammensucht.
Jetzt los' nud leicht, leichtfertig selbst, wie viele,
Drauf wieder ernst und streng, wie viele nicht.Bald seh ich Hohn durch deine Züge schweifen.
Drauf sie verklärt von warmer Thränen Hauch,
Nun mühsam dich das Leichtste nicht begreifen,
Dann selbst das Tiefste wieder fassen anch.
Pfandrecht und Arbeitslohn. Eine gesetzliche Erweiterung des Pfand¬
rechts nach der Richtung hin befürworten, daß ferner auch der Lohn des einfachen
Arbeiters vor der Hand des Gerichtsvollziehers nicht geschützt wäre, heißt heute,
sich dem Vorwürfe der Grausamkeit aussetzen. Doch dem Sozialpolitiker ziemt
es, in das Urteil der Menge nicht ohne weiteres einzustimmen, sondern das
Mir und Wider auch bei diesem Vorschlage reiflich zu erwiigeu, wenn ihn auch
das Herz vielleicht von vornherein als unbillig und hart verwerfen mochte. Der
Vorschlag zur Erweiterung des Pfandrechts in dein angedeuteten Sinne wurde
kürzlich in Dresden bei den Berntungen des „Verbandes städtischer Hans- und
Grundbesitzer" gemacht. Der Befürworter dieses verschärften Pfandrechts wollte
dadurch die Hauswirte gegen Mietschäden schützen und zugleich die Mieter selbst
vor Nachteil bewahren. Es wurde vorgeschlagen, etwa in Höhe einer Monatsmiete
deu Lohn des Arbeiters psaudpflichtig zu macheu. Da der Arbeiter mit Familie
etwa zu 140—160 Mark jährlich wohnt, so würde es sich um einen Betrag von
12—1I Mark handeln. Was jedoch dem einen recht ist, ist dem andern billig;
eine Änderung der einschlägigen Gesetzgebung ausschließlich zu Gunsten der Ver¬
mieter von Wohnungen wird ganz gewiß nicht geschaffen werden; es könnte sich
also nur um die Frage handeln, ob es sich empfiehlt, ganz allgemein das Pfand¬
recht ans einen genan zu bestimmenden Teil des Arbeitslohnes auszudehnen. Zu¬
gleich wäre zu erwägen, ob eine solche Bestimmung hartherzig und gesetzgeberisch
unweise sein, oder ob damit, wie behauptet wird, den Interessen der ärmeren
Bevölkerung selbst gedient werden würde.
Prüfen wir, wie heute die Verhältnisse liegen. Das Allernotwendigste des
armen Mannes — also unentbehrliche Möbel, Betten, Kleider und Arbeitswerk-
zeug — ist für den Gerichtsvollzieher bekanntlich ein „Rührmichnichtan." Es
stimmt jedoch mit der Wirklichkeit nicht überein, wenn man behauptet, die Mehr¬
zahl der Arbeiterfamilien besitze nichts weiter als das Allernotwendigste im Sinne
des hente geltenden Pfandrechts. Ein gewisser Komfort ist in den letzten Jahren
auch in die Mansarden und Dachräume der bescheidnen Arbeiterwohnung ge-
drungen. Bei einer rechtschaffnen und ehrenhaften Arbeiterfamilie ist die Stube
meist anheimelnd gemacht dnrch ein Sofa, einen Lehnstuhl; an der Wand steht
ein hübsch gearbeiteter zweiter Schrank; die Kommode birgt vielleicht einen kleinen
Schatz überflüssiger Leinen- und andrer Wäsche für den Haushalt — der Stolz
mich der Arbeiterfrau. So bescheiden solche Ausstattung auch ist: von diesen
Gegenständen dürfte ein gewissenhafter Gerichtsvollzieher, neben den hier nicht
genannten Möbeln, wie Betten, Tisch, Stühlen :e., vielleicht nur noch die Kommode
als unentbehrlich betrachten.
Tritt nun der Fall ein, daß man gegen eine solche Familie, die vielleicht
ganz unverschuldet in Bedrängnis geraten ist, das Pfandrecht ausübt, so wird es
in der traulichen Wohnung öde und leer. Die hübschen Sachen, die dem Arbeiter
seine Stube nach Feierabend behaglich machten, wandern in den Auktionssaal.
saurer Schweiß klebt daran, sie haben Hunderte gekostet, die mit fleißiger Hand
verdient werden mußten. Bei der Versteigerung geben den Ausschlag die gewerbs¬
mäßige» Trödler, „Auktionshyäuen," die Nüssen, wie man billig kauft, und sich
gegenseitig nicht überbieten. Um jeden Preis werden Schrank, Sofci, Lehnstuhl
und Wäsche losgeschlagen. Die gepfändete Familie war vielleicht 20 Mark schuldig
und hat für diesen Betrag jetzt den vierfachen Wert dahingehen müssen. Die
geringfügigen finanziellen Ergebnisse derartiger Auktionen sind bekannt.
Die Befürworter einer Erweiterung des Pfandrechtes meinen nun, es sei
humaner, dem Arbeiter etwa bis zu 15 Mark den Lohn ratenweise mit Beschlag
zu belegen, als ihm jene geringe Habe zu nehmen, mit der er über dus
„Allernotwendigste" hinaus seine Wohnung traulich und anheimelnd gemacht hat.
Sie sagen, und mit Recht, das; der Schwerpunkt eines gesunden Familienlebens auch
für den Arbeiter in einem anständigen, wohnlichen Daheim liegt, daß mau daher
dieses vom Gerichtsvollzieher möglichst frei halten müsse.
Auch uns ist die beachtenswerte Thatsache bekannt, daß eine Pfändung durch das
häusliche Leben des Arbeiters oft einen tiefen Riß macht. Es gefällt dem Manne
nicht mehr zwischen seinen kahl gewordnen vier Wänden; häufiger als sonst sucht
er das Wirtshaus auf. Nur in wenigen Fällen werden die gepfändeten Möbel
wieder neu angeschafft. Groß ist im Unglück der Fatalismus des Arbeiters; die
Familie sagt sich, daß eine solche Katastrophe wiederkehren kann. Wozu also
Spuren und wieder kaufen? So behilft man sich denn lieber mit dem erhalten
gebliebner „Allernolivendigsten" im Sinne des Gesetzes. Erfahrene Gerichts¬
vollzieher und Hauswirte wissen, daß eine Pfändung in einer Arbeiterfamilie meist
nnr einmal, das erstemal, mit Erfolg stattfindet. Dem verheirateten Arbeiter
sind ohnehin Nenanschaffnngeu nur durch geregelte Sparsamkeit möglich, diese
wiederum verlangt eine dauernde Einschränkung des Vergnügens, des Biertrinkens
und Zigarrenrauchens. Es muß ein sehr nüchterner, verständig denkender und
vorwärtsstrebender Arbeiter sein, der wirklich diese, Luxusbedürfnisse nach einem
Besuch des Gerichtsvollziehers zu Gunsten neuer Möbelkäufe beschränkt. Der Riß,
den die Auspfändnng der Wohnung durch das häusliche Leben des Arbeiters
macht, bleibt also meistens ein dauernder.
Die Verfechter eines neuen Pfandrechts fügen nun weiter, daß die Gläubiger
sich später wohl ausschließlich an den Lohn des Arbeiters - nach Maßgabe der
zu treffenden beschränkenden gesetzlichen Bestimmungen — halten würden, da dieses
der kürzeste Weg zu ihrer Befriedigung wäre. Damit würde in der spätern Praxis
auch vielleicht daS jetzige planlose und oft sehr eigennützige Kreditgeber an
Arbeiter auf jenen Betrag beschränkt, der am Lohn pfändbar ist. Zugleich aber
auch hätten mit den, Möbelpsändungeu um kleine Beträge die jetzigen Möbel¬
verschleuderungen auf den Auktionen ihr Ende erreicht. Böswillige» Schulden¬
machern, die wohl verdienen, aber kein pfändbares Stück in der Wohnung haben
und sich jetzt hierauf stützen, würde ihr Treiben gelegt sein, und damit das Ansehen
des ehrenhaften Arbeiters gewinnen. Sich in einigen Raten etwa 15 Mark Lohn
abziehen zu lassen, sei jeder thätige Arbeiter, so betonte man, in der Lage, nicht
immer aber dazu, den großen Verlust an Hausrat zu ersetzen, den ihm bei dem
heutigen Pfändungs- >ab Auktionsverfähren eine Zwangsvollstreckung um den
gleichen Betrag verursache.
Man mag an diesen Gedanken manches auszusetzen haben, immerhin scheinen
sie uns wichtig genug, sie dem Urteil unsrer Leser zu unterbreiten.
or längerer Zeit parodirte jemand: „Ein echter Schlveizerkerl
kann keinen Deutschen leiden, doch seine Thaler nimmt er gern,"
und das paßt anch nach der Einführung der Markwährnng, wie
Reisende, Gelehrte, die in das Land berufen worden waren, und
Mißvergnügte, welche Luft der Freiheit atmen wollten, einmütig
bestätigen. Nicht minder bestätigt das ein Aufsatz von Widmcmn in Bern in
einer neuen Wochenschrift. Wir sind weit entfernt davon, die Schuld ausschließ-
lich auf der Schweizer Seite zu suchen. Das Talent, sich unbeliebt zu macheu,
findet sich leider bei unsern Landsleuten sehr häufig, und es fragt sich, was
uns in der Fremde mehr schadet, das dreiste und laute Absprechen der Einen
über alles, was anders ist, als sie es gewohnt sind, oder das bübische Schmähen
der Heimat, das in „Martin Salnnder" gebührend gekennzeichnet ist. Ander¬
seits äußern sich republikanischer Dünkel und engherzigstes Spießbürgertum oft
in eben so aufdringlicher als lächerlicher Weise, und wenn dagegen der Deutsche
heute empfindlicher ist als vor vierzig und fünfzig Jahren, so kann ihm das
uieiuaud verübeln.
Daß wir von fremden Völkern, mit denen wir Götzendienst getrieben, keinen
Dank zu erwarten haben, ist uns von Franzosen und Engländern, Amerikanern
und Schweizern so deutlich gezeigt worden, daß mit Ausnahme der FrMäudler-^
Sekte es jedermann begriffen hat. lind es geschah ja auch keineswegs aus^Be-'
rechnung, wenn vom Teil bis hinab zu Clnurens Mimili, und von Meiners
Briefen bis auf die jährlich in neuen Auflagen erscheinenden Reiseführer unab¬
lässig und in allen Tonarten Schweiz und Schweizertum verherrlicht wurden,
und Gelehrte und Ungelehrte noch standhaft für NvMhelden schwärmten, die
von den Schweizern selbst bereits in das Reich der Sage verwiesen waren.
„Was man dein Menschen nicht alles weismachen kann, besonders wenn man
so ein altes Märchen in Spiritus aufbewahrt. Sie machten sich einmal von
einem Tyrannen los und konnten sich in einem Augenblick frei denken , . , nun
erzählen sie das alte Märchen immer fort, mau hört bis zum Überdruß: sie
hätten sich einmal frei gemacht und wären frei geblieben." So schrieb Goethe
von der ersten Schweizerreise, aber seiue Landsleute haben das alte Märchen
noch lange, lange uicht bis zum Überdruß gehört. Und die Schweizer selbst,
so wenig empfindsam sie im allgemeinen angelegt sind, leiden an einer ähnlichen
Schwäche: sie waren und sind in die Franzosen verliebt, trotz der Vergewaltigung
und Verwüstung vor neunzig Jahren, trotz der Hinschlachtung der Schweizer¬
garde und des Septembergemetzels in Nidwaldeu, trotz des Undankes, mit dem
der Kaiser Napoleon das mutige Eintreten der Schweiz fiir den Prinzen Louis
Napoleon lohnte, und trotzdem daß jeder Schweizer, der seine fünf Sinne be¬
sitzt, erkennt, daß der einzige Nachbar, von dem das Land etwas für seine
Unabhängigkeit und für die Sicherheit seiner Grenzen zu befürchten hätte,
Frankreich, das republikanische wie das monarchische, wäre. Widmauu kaun
uicht leugnen, daß die Vorliebe für Frankreich lange vor dem Sturze deo
aristokratischen Regiments durch die Franzosen bestanden hat, und möchte sie
doch durch die „Befreiung" erklären. Wozu die Mühe? Völker, wie einzelne,
lieben, ohne sich über deu Grund zum Liebe» Rechenschaft abzufordern. Und
er macht den Schweizern wahrlich kein Kompliment, wenn er behauptet, die
älteste Republik in Europa empfinde natürliche Zärtlichkeit für diese jüngere
Schwester!
Er setzt auch aus einander, daß allerlei Keime der Sympathie für Deutsch¬
land vorhanden gewesen und dnrch den „Wohlgemuth-Handel" zerstört worden
seien. Die vornehmsten Geister seien sich des Zusammenhanges mit der deutschen
Kultur und ihrer Verpflichtung gegen diese stets bewußt geblieben, die gewaltige
Kraftentfaltung im Kriege und die Mäßigung nach den Siegen hätten tiefen
Eindruck gemacht, mau sehe in Deutschland die Schutzwehr gegen deu Umsturz
aller Ordnung, man dritte sogar die republikanischen Milizen nach Preußischem
Vorbilde u. dergl. in. Dabei findet mich des Züricher Pöbels Unfug im
Frühjahr 1L71 beschönigende Erwähnung. „Das vermeintliche Siegesfest der
deutschen Kolonie, während die Stadt Zürich angefüllt war mit Verwundete»
und Gefangenen (?) der bei Pontnrliers von den Schweizer Truppen in Empfang
genommenen Bonrbakischen Armee hatte die Bevölkerung erbittert l!). Die
Behörden thaten ihre Pflicht, schützten die Deutschen und stellten die Ruhe
wieder her." Untersuchen wir nicht, wie es um die Pflichterfüllung und den
Schutz bestellt war; aber diese verschämte Billigung der „Erbitterung" im
Munde eines Mannes, der sich unzweifelhaft zu der dem Deutschtum günstig
gestimmten Geistesaristokrntie rechnet, ist höchst bezeichnend. Wie wohl das Urteil
lauten würde, wenn Frankreich siegreich gewesen, die Armee Werders über die
Grenze gedrängt worden wäre, und die deutschen Offiziere sich herausgenommen
hätten, den Züricher Jnnhagel gegen friedlich bankettircnde Franzosen zu Hetzen?
Alles zu vertreten, was in der Angelegenheit des Herrn Wohlgemuth
deutscherseits geschehen ist, ist umso weniger unsre Sache, als wir noch keines¬
wegs den Zusammenhang klar übersehen können. Und wenn die Schweizer
ohne Unterschied der Parteistellung sich gegen den Gedanken fremder Ein¬
mischung in ihre innern Angelegenheiten empören, so verargen wir ihnen das
so wenig, daß wir vielmehr allen Deutschen ein ebenso empfindliches Nationcil-
gefnhl wünschten. Dn aber Widmaun in aller Unbefangenheit die Meinung
ausspricht, die helvetische Republik müsse, was auch geschehen möge, als das
Kräutlein Rührmichnichtan geachtet werden, so ist auch ihm gegenüber zu
wiederholen, daß dem nicht so ist. Er beschwert sich darüber, daß deutsche
Zeitungen „die auf dem Wiener Frieden von den europäische» Mächten garan-
tirte Neutralität der Schweiz als eventuell hinfällig behandelt" haben. Ja,
wieviel steht denn von dem, was die Mächte in Wien beschlossen, heute noch
aufrecht? Weiß der Verfasser nichts von Belgien, Krakau, der Thronbesteigung
eines Vonaparte, der Einigung Italiens, der Auflösung des Deutschen Bundes?
An eins erinnert er sich ausdrücklich, nämlich daran, daß die Schweiz 1848
und 1856 das unter keinem Gesichtspunkt anfechtbare Recht der Krone Preußen
auf Neuenburg mißachtete und nur der Friedensliebe und Großmut des da¬
maligen Trägers jener Krone ihre Straflosigkeit zu danken hatte. Allerdings
stellt er die Sache so dar, als wären nicht die Schweizer Demokraten, sondern
die Neuenburger Aristokraten die Revolutionäre gewesen. Und dus Asplrecht
wird niemand antasten, so lauge dessen Schutz nicht Mördern und Mord¬
brennern gewährt werden soll. Zum Glück beweist die Bundesgewalt klarere
Einsicht und mehr politischen Verstand als ein Teil der öffentlichen Meinung
und von dieser geleitete Unterbehörden.
Wir würden, falls sich der Wind wieder einmal drehen sollte, daraus
keine Zukunftspläne gründen, und eben deshalb erkennen wir auch nichts „Tra¬
gisches" darin, daß die Schweizer sich durch die Nachbarschaft der drei großen
Monarchien bedrückt fühlen und ihre Verstimmung zunächst an uns auslassen.
Bei denjenigen Schweizern, die „Helvetien die Mutter, Germanien die Gro߬
mutter nennen," kann die Verstimmung, sollten anch sie von ihr ergriffen
worden sein, nicht lange Bestand haben, und das ist die Hauptsache.
eun uni>i auch heute nicht mehr rin dein absterbenden Mittel-
alter die Buchdruckerkunst eine schwarze, höllische nennen wird,
so kann man doch nicht leugnen, daß sie gerade dnrch die so
»»endlich wertvolle Erleichterung der Gedankenverbreitnng eines
Einzelnen a»es die Möglichkeit der Mitteilung verbrecherischer
Gedanken wesentlich erleichtert hat. Man sah schon bald nach der Erfindung
der Buchdruckerkunst ein, das; man gegen die Presse, von deren späterer ge¬
waltiger Entwicklung man noch leine Ahnung habe!, konnte, besondrer Schutz¬
mittel bedürfe. Während deshalb schon 1480 Kurfürst Berthold von Mainz
für seine Erzdiözese, dann die Päpste zunächst nur für Deutschland, bald darauf
aber für die janze Christenheit das Verbot erließen, Bücher ohne vorherige
Erlaubnis der Kirchenbehvrde zu drucken, wandte sich in Deutschland auch bald
die weltliche Obrigkeit der Angelegenheit zu. Die Reichsgesetzgebung verlangte
15W bereits Angabe des Samens und des Wohnorts des Druckers, 1548 auch
die des Verfassers, 1529 und 1550 wurde die Zensur der erscheinende» Schriften
angeordnet; Kaiser Rudolf II. setzte IttOL zur Beaufsichtigung der Durchführung
der Reichsgesetze eine Bücherkommissivn zu Frankfurt um Main ein. Die einzelnen
Landesherren wandten jedoch die Reichsgesetze in ihren Ländern verschieden an.
Insbesondre wurde in Braiwenburg-Preußen erst durch Reskript vom 11. Mai
14-54 eine ständige Zensur für theologische Bücher eingeführt, die das Edikt vom
11. Mai 174!) ans alle Bücher ausdehnte und das Zensuredikt vom 19. Dezember
1788 verschärfte. Diese Zensur war zwar sein ausgedacht, aber sie war doch
nicht durchführbar, sie wurde daher während der Aufklürungsveriode in der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts in viele» Ländern aufgehoben, und wenn anch
das Buudespreßgesetz vom 20. September 1819 sie für alle Zeitungen und
für alle Bücher, die über zwanzig Bogen stark waren, für das Gebiet
des deutschen Bundes wieder einführte, so konnte sie doch die Stürme des
Jahres 1848 nicht überdauern, sondern wurde, und damit wohl für immer,
aufgehoben. Infolge der Reaktion gegen die Ausschreitungen des Jahres 1848
wurden dann verschiedenartige Beschränkungen eingeführt, bis die Zuständigkeit
des deutsche» Reiches auch auf die Presse ausgedehnt wurde, worauf die all¬
gemeine Regelung des Preßwesens durch das Gesetz vom 7, Mai 1874 möglich
wurde. Dies will die Strafbarkeit aller durch den Inhalt einer Druckschrift
begangenen strafbaren Handlungen nach deu allgemeinen Strafgesetzen beurteilt
wissen, verlangt aber zur Sicherung der Verfolgung solcher strafbaren Hand¬
lungen die Angabe des Druckers und des Verlegers, für periodische Druckschriften
auch gleichzeitig die Angabe eines Redakteurs, der für deu Inhalt einer Druck¬
schrift verantwortlich ist, und trifft besondre Bestimmungen über die Art und
Weise dieser Haftpflicht. Die Entstehung dieser Haftpflicht und deren Inhalt
hat nun der Verfasser eines vor kurzem erschienenen") Buches in geistvoller Weise
erörtert, und sie soll uns denn auch hier in Anlehnung an dieses Buch beschäftigen.
Ich bemerke jedoch im voraus, daß ich dem Verfasser nicht in allen seinen
Ausführungen beistimme« kann, sondern von seinen nach den Grundsätzen der
reinen Theorie gewiß unanfechtbaren Ansichten doch zu Gunsten der Praxis
mehrfach abweiche.
Unser Preßgesetz führte eine Haftung des Druckers, des Verlegers und des
Verbreiters einer Schrift, sowie des Verantwortlicher Redakteurs einer periodischen
Druckschrift ein. Der Begriff von Drucker, Verleger und Verbreiter ist keinem
Zweifel unterworfen. Wer ist aber der Redakteur? Ich will gleich bemerken,
daß, wenn ich im folgenden von Redakteur spreche, ich stets den einer periodischen
Druckschrift, einer Zeitung insbesondre meine. Der Redakteur ist, streng ge¬
nommen, derjenige, der das Blatt redigirt, d. h. dessen Text druckfertig zusammen¬
stellt, mag er ihn selbst verfaßt oder die Früchte der Geistesthätigkeit andrer
Personen benutzt haben. Daß der verantwortliche Redakteur das Blatt aber
wirklich redigirt habe, verlangt das Reichspreßgesetz nicht, es verlangt nur,
daß sich eine Person als verantwortlicher Redakteur, d. h. als für die Zusammen¬
stellung des Blattes und sonnt für dessen Inhalt verantwortlich auf jeder
Nummer, jedem Stücke oder jedem Hefte der periodischen Druckschrift genannt
habe. Da nicht verlangt wird, daß diese Verantwortlichkeit für sämtliche
Nummern des Blattes im voraus übernommen werde, wie dies ältere Preß-
gesetzgebnngen angeordnet hatten, so kann die Person des Verantwortlicher
Redakteurs mit jeder Nummer des Blattes beliebig wechseln; es können auch
nach ausdrücklicher Bestimmung des Gesetzes mehrere Personen neben einander
als verantwortliche Redakteure genannt werden, doch muß dann ans Form und
Inhalt der Nennung mit Bestimmtheit zu ersehen sein, für welchen Teil des
Blattes jede der genannten Personen die Redaktion übernommen hat. Das
Gesetz sieht es als den thatsächlichen Umständen wohl regelmäßig entsprechend
ni, das; der, der eine solche Verantwortung übernimmt, sich auch wirklich in»
die Znsanunenstelluug der Zeitschrift kümmert, wie der Bürge um die Zahl¬
fähigkeit des Schuldners. Notlveudig ist dies freilich nicht; der Verantwort¬
liche Redakteur haftet, nur weil er genannt ist, er mag die Folgen tragen,
wenn er sich nicht um das kümmert, wofür er verantwortlich ist. In Wahr¬
heit soll aber die Person genannt werden, die wirklich die Haftpflicht über¬
nommen hat, eine fälschliche Angabe ist strafbar, wie es auch mit Strafe
bedroht ist, eine Person als verantwortlichen Redakteur zu nennen, der die
geistige Fähigkeit zur Übernahme einer solchen Verantwortlichkeit gänzlich abgeht.
Dieser Verantwortliche Rednktenr verdankt seinen Ursprung dein französischen
Recht, und zwar dem Gesetz -zur las journoanx vt, 6vri.es xvrioäiauos vom
'18. Juli 1828. Dies Gesetz geht von dein in Frankreich häufigen Fall eins.
daß eine Zeitung von mehreren Personen herausgegeben wird, die dann eine
Haiidelsgesellschaft bilden; von diese» sollen eine oder mehrere als die handels¬
rechtlichen Vertreter der Gesellschaft bezeichnet werden und sich zur Übernahme
dieser Vertretung (g'vrun<z<z) durch ihre Unterschrift bekennen, wovon sie die
Bezeichnung g^ranks ro8xonss.I)1o8 erhalten haben. Diesen Vertretern hat nun
das gedachte Gesetz gleichzeitig die Verpflichtung auferlegt, die Redaktion der
Zeitschrift zu überwachen oder zu leiten (los g'unrnt« responsavlos surveillvrout
vt cliriMrmit, mir vux-mSinss 1a roäaot-ion), sie brauchen also das Blatt nicht
selbst zu redigiren, aber sie haben es zu vertreten Zu diesem Zweck müssen
sie der Polizeibehörde angezeigt werden und von jeder Rnmmer des Blattes
ein Exemplar unterzeichnen, das bei der überwachenden Behörde nieder¬
gelegt wird. Der Zweck dieser Einrichtung war der, jemanden zu haben, der
dafür eiustaud, daß das von ihm vertretene Blatt nicht zu Preßvergehen benutzt
würde, und an den mau sich unter allen Umständen wegen eines durch daS
Blatt begangenen Preßvergeheus halten konnte. Da die staatliche Zensur nicht
mehr zu halten war, so schuf man eine Art Privatzensnr, mau gestaltete, um
einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, das Staatsamt der Zensur gewisser¬
maßen in ein solches der Selbstverwaltung um, wobei mau eine um so größere
Sicherheit hatte, als der neu geschaffene Privatzensvr sür die Versäumnis in
der Ausübung seines Amtes strafrechtlich haftbar war. Es ist nicht zu leugnen,
daß diese Schöpfung des Verantwortlicher Vertreters ein glücklicher Griff war,
und sie fand deshalb überall Nachahmung, namentlich in Deutschland, wo
man, wie wir sahen, schon von Alters her die Angabe des Verfassers (bei einer
Zeitung also des thatsächlichen Redakteurs) verlangte. Zur Aufnahme der
französischen Einrichtung drängte auch die Erfahrung, daß bei den immer
größer werdenden Blättern ein einziger Mann unmöglich mehr den ganzen
Inhalt der Zeitung erfassen konnte, sodaß es nahe lag, einen der Beteiligten
als den zur Überwachung des Inhalts Verpflichteten herauszugreifen. Dies
geschah zunächst in Baden 1831, da»» in Preußen 1843, im Königreich Sachsen
1844, sowie in allen nach 1848 erlassenen Preßgesetzen. Dieser Verantwort¬
liche Redakteur mußte nach einigen Gesetzgebungen im voraus der Behörde
angezeigt und sollte auf dem Blatte genannt werden, nach andern Gesetzgebungen
haftete aber nur der thatsächliche Redakteur, ohne daß er der Behörde angezeigt
zu werden brauchte. Allmählich brach sich jedoch immer mehr der Gedanke Bahn,
daß das letztere das richtige sei; das königlich sächsische Preßgesetz von 1870 ließ
daher die Verpflichtung zur vorgängigen Anzeige des verantwortlichen Redakteurs
bei der Behörde gänzlich fallen, und dies ist auch in das Reichspreßgesetz über-
gegangen, sodaß nach dessen Bestimmungen nur der als verantwortlicher Redakteur
einer periodischen Druckschrift anzusehen ist, dessen Name mit seinem Wissen
und Willen auf dem betreffenden Stück der Schrift genannt ist.
Die Haftpflicht des Verantwortlicher Nednktenrs besteht in folgendem. Er
hat dafür zu sorgen, daß in dem von ihm vertretenen Blatte nicht das Recht, seine
Gedanken mitzuteilen, mißbraucht werde, daß nicht der Gebrauch der Preßfreiheit
in einen Mißbrauch derselben ausarte. Nur hierfür haftet er auf Grund des Pre߬
gesetzes, nicht auch dafür, daß möglicherweise durch deu Inhalt seiner Zeitung
auch andre Gesetzesübertretungen, z. B. die Verletzung des Dienstgeheimnisses,
begangen werden; die Haftbarkeit des Redakteurs auch für solche Gesetzesüber¬
tretungen würde sich nach deu allgemeinen Strafgesetzen richten. Der Redakteur
erscheint nach gesetzlicher Annahme als Thäter bezüglich der in seinein Blatte
verübten Preßvergehen, anch wenn er sie nicht selbst herbeigeführt hat, denn
es ist seine Pflicht, dafür zu sorgen, daß solche Vergehen nicht vorkommen.
Man hat nun diese Haftbarkeit des verantwortlichen Redakteurs verschieden zu
regeln gesucht. Die französische Einrichtung läßt den «in-me rMpoliLablö für
deu Inhalt des von ihm vertretenen Blattes unter allen Umständen haften.
Mag er durch Krankheit oder Abwesenheit verhindert worden sein, das Blatt
vor dein Erscheinen zu lesen, mag er vou dem Inhalt des Blattes ans irgend
einem sonstigen Grunde keine Kenntnis gehabt haben, oder mag er als bloßer
Strohmann vorgeschoben worden sein und ihm jede Fähigkeit, deu strafbaren
Charakter des betreffende» Artikels zu erkennen, abgehen — er haftet doch als
eine Art Sündenbock (bono e,miWu.ir«z). Diese Einrichtung hat den Zweck, der
Verülmng vou Preßvergehen vorzubeugen. Es giebt aber auch eine andre
Einrichtung, die im Gegensatz hierzu nnr Sicherung der Bestrafung begangener
Preßvergehen bezweckt. Schon die alten deutschen Reichsgesetze hatten, wie
wir sahen, bestimmt, daß neben dem Drucker und dein Herausgeber auch der
Verfasser der Schrift zu seiner Bestrafung ermittelt werden sollte. Deshalb
sollten „nicht allein der Verkäufer oder Feilhaber, sondern anch der Käufer
und andre, bei denen solche Bücher u. s. w. befunden, gefänglich angenommen,
gütlich oder, wo es die Notdurft erfordert, peinlich, wo ihm solche Bücher
herkommen, gefragt und dem alsvlang nachgefragt und nachgegangen (werden),
bis der rechte Autor befunden, der alsdann samt denjenigen, so es also um-
getragen, feil gehabt oder sonst ausgegeben, vermöge der Recht und je nach
Gelegenheit und Gestalt der Sachen daran gestraft werden," Dies Perfahren
war ursprünglich ein Zengnisverfahren, worin als Zwangsmittel die Folter
mitwirkte. Die spätern Partikulargesetze dehnten dann die ZeugniSPslicht des
Druckers und des Verlegers dahin aus, daß sie den Verfasser oder ihren nächsten
Vormann nennen sollten, und da man die Tortur nicht mehr anwenden konnte,
die andern gegen widerspenstige Zeugen zugelassenen Zwangsmittel nicht mehr
genügten, so setzte man an deren Stelle die Strafe des verübten Vergehens,
von der sich die genannten Personen durch Angabe eines den inländischen Ge¬
richten erreichbaren Vormannes befreien konnten, und sicherte auf diese Weise
den Anspruch des Staates auf Bestrafung des Schuldigen, Diese Einrichtung
wurde in Frankreich für Schriften provvkatorischcu und unzüchtigen Inhalts
dnrch die Gesetze der Revolution derart angenommen, daß der seinen Normann
nennende Nachmann zwar nicht von aller Strafe frei sein, Wohl aber nnr zu
einer herabgesetzten Strafe verurteilt werden sollte, und wurde später auf alle
Schriften ungenannter Verfasser ausgedehnt. Auch in Belgien hatte unter der
holländischen Herrschaft ein der gleichzeitigen dentschen Partiknlargesetzgebnug
entsprechendes Recht gegolten, aber die maßlose Knebelnng der belgischen Presse
dnrch die Holländer und die Heranziehung jeder irgendwie an einem Preß-
vergehen beteiligt anzusehenden Person zur Bestrafung brachten nach der Revo¬
lution von 18W den Gegenstoß hervor. Es bestimmte daher die belgische
Verfassung von IttZI, daß überhaupt für ein Preßvergehen nur eine einzige
Person haften solle, jeder Nachmaun daher sich dnrch Nennung seines Vor¬
mannes von aller Strafbarkeit befreien könne, wenn er selbst auch noch so
schuldig sei. Dies ist die von vielen als ein Muster von Weisheit gepriesene,
ober nur aus Belgiens geschichtlicher Entwicklung für Belgien selbst zu recht-
fertigende Einrichtung der subjektiven und ausschließliche» preßrechtliche» Haft¬
pflicht, das sogenannte belgische System, das zwar auch in verschiednen deutscheu
Gesetzgebungen, z. B. der badischen, der koburgischen, der weimarischen, aufge¬
nommen wurde, sich aber schließlich zu einem „System bloßer Fahrlässigkeits¬
strafen" abschwächte.
Im preußischen Recht hatte sich eine dritte Einrichtung ausgebildet; man
unterschied, ob der Redakteur nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen als Thäter
oder z. V. wegen dolvser Wiedergabe eines verbrecherischen Artikels als
Gehilfe haftbar sei, oder ob ihn nnr eine Fahrlässigkeit in der Ausübung
seines Redaktionsgeschäfts durch pflichtwidrige Nichtverhütuug der begangenen
Gesetzesübertretung zur Last falle. Dabei hatte die Praxis öfter die Haft¬
barkeit des Redakteurs verneint, wenn im einzelnen Falle der Mangel
jeglicher Schuld festgestellt wurde, indem der Redakteur z. B. von dem nur
einem Eingeweihten erkennbaren strafbaren Inhalt eines Artikels beim besten
Willen keine Kenntnis haben konnte, wenn der Setzer hinter seinem Rücken
den Text in beleidigender Weise abgeändert hatte u. dergl. Diese Einrichtung hatte
sich allmählich in Österreich und dem größten Teile Deutschlands Geltung ver¬
schafft, und es war somit nur natürlich, daß sie zur Grundlage der deutschen
Reichspreßgesetzgebung gewühlt wurde; doch erhielt sie eine weitere, dein bis¬
herigen Recht unbekannte Ausbildung dahin, daß der Redakteur einer periodi¬
schen Druckschrift stets als Thäter bestraft wird, wenn nicht durch besondre
Umstände seine Thäterschaft ausgeschlossen ist. Es wird daher nach den Be¬
stimmungen des Neichsgesetzes bei allen Preßvergehen der periodischen Presse
die Verantwortlichkeit zunächst nach den allgemeinen strafrechtlichen Grundsätzen
beurteilt. Kann aber im einzelnen Falle der Thäter nicht ermittelt werden,
so haftet der Redakteur als Thäter, gleich als ob er der Verfasser wäre,
da der Artikel uur durch die Aufnahme in die Zeitung seiue Verbreitung ge¬
funden hat und in die Öffentlichkeit gelangt ist, insoweit lehnt sich diese Ein¬
richtung an die französische der gurMts rssxonMlllss um. Es wird aber dem
Redakteur gestattet, sich durch den Nachweis besondrer, seine Strafbarkeit aus¬
schließende Umstände von der Strafe zu befreien. Hierin liegt zwar in einem
gewissen Sinne eine Beweisregel, indem der Redakteur im Zweifel als der
Thäter anzusehen ist und deshalb nicht der Staatsanwalt das Fehlen, sondern
der Redakteur das Vorhandensein der besondern Umstände nachzuweisen hat;
allein mit Rücksicht auf den Grundsatz der freien Beweiswürdignng hat der
Richter solche Umstände, wenn sie sich aus der Verhandlung ergeben, von
Amts wegen zu prüfen und bei ihrem Vorhandensein dem Redakteur zu gute
zu rechnen. Nach der feststehenden Praxis des Reichsgerichts müssen dies aber
„außergewöhnliche Umstände" sein, die „auch einen gewissenhaften Redakteur
ohne eignes Verschulden verhindern, im Einzelfall die gebotene Thätigkeit aus¬
zuüben." Hierher sind zu rechnen eine alle Redaktionsthätigkeit ausschließende
Erkrankung des Redakteurs, Abänderung des Textes durch den Setzer, die
Unmöglichkeit, als unbeteiligter Dritter den beleidigenden Inhalt eines Artikels
zu erkennen u. dergl. Ausgeschlossen sind aber alle nicht nnßer dem Willen
des Redakteurs liegenden Hinderungsgründe, z. B. willkürliche Abwälzung eines
Teiles der Redaktion auf andre, nicht als verantwortliche Redakteure genannte
Personen, willkürliche Abwesenheit, leichte Erkrankung n. s. w. Namentlich
soll aber auch den Redakteur uicht der Einwand schützen, daß ihm das Er¬
kenntnisvermögen abgebe, den Inhalt des Artikels zu begreifen, daß er die
Sprache, worin der Artikel geschrieben ist, nicht verstehe; im Gegenteil ist nach
Ansicht des Reichsgerichts für solche Fülle die Haftbarkeit gerade eingeführt.
Neben dieser Haftbarkeit des Redakteurs als Thäter erkennt unser Pre߬
gesetz aber uoch eine zweite Haftbarkeit des Redakteurs und der übrigen bei der
Herausgabe jeder Art von Druckschriften (nicht bloß der periodischen Druckschriften)
beteiligten Personen, des Verlegers, des Druckers und des Verbreiters, wegen
Fahrlässigkeit für den Fall an, daß der Inhalt einer Druckschrift den Thatbestand
einer strafbaren Handlung begründet, ohne daß die genannten Personen als
Thaler haftbar gemacht werden können. Es wird dadurch für den Redakteur
nicht nur eine doppelte Haftbarkeit, fondern eine Ergänzung seiner zuerst ge¬
nannten Haftung als Thäter herbeigeführt, indem man ihn „wegen Vernach¬
lässigung der pflichtmäßigen Sorgfalt in der Überwachung der rechtmäßigen
Haltung seines Blattes, wegen fahrlässiger Verletzung der dem Verantwortlicher
Redakteur als solchem obliegenden rechtlichen Verpflichtungen" zur Verant¬
wortung zieht. Hierin liegt eine den deutschen Rechtsanschauungen entsprechende
Fortbildung des französischen Gerantcnwesens, es wird eine prcßrechtliche
Strafbarkeit für ein besondres preßrechtliches Vergehen aufgestellt. Der Re¬
dakteur darf, um wegen dieser Fahrlässigkeit bestraft zu werden, keine Kenntnis
von der Strafbarkeit des Artikels gehabt, haben, sonst würde er als Thäter
bestraft werden müssen, aber er muß in der Lage gewesen sein, bei gehöriger
Sorgfalt die Gesetzesübertretung verhindern zu können. Verreise er, ohne einen
Vertreter zu bestellen, unterläßt er es, im Fall einer Erkrankung für eine ge¬
eignete Vertretung zu sorgen, nimmt er im Vertrauen ans die Zuverlässigkeit
eines gewissen Korrespondenten dessen Artikel ungelesen auf, fo handelt er fahr¬
lässig und macht sich dadurch strafbar, da er alles dies vermeiden konnte. Er
soll aber in diesem Falle nicht schlechter stehen als der Hauptthäler selbst, und
deshalb kommt ihm die Verjährung, die Antragsfrist u. s. w., die dem Haupt¬
thäler zu gute kommt, gleichfalls zu gute; ja er kann sich durch die Nennung
seines Vormanns, da diesen die größere Schuld trifft, ganz straffrei machen.
In derselben Lage befinden sich Drucker, Verleger und Verbreiter; sie sollen
und können gleichfalls prüfen, was sie zur Verbreitung bringen, und müssen,
wenn sie im Vertrauen auf ihren Vormann fahrlässig handeln, dafür büßen.
Dies ist mit kurzen Worten das jetzt geltende Recht. Es ist nun gewiß
dem Verfasser darin Recht zu geben, daß diese Bestimmungen eine Ausnahme
von deu allgemeinen Rechtsgrundsätzen bilden. Bestreiter aber muß man die
Ansicht des Verfassers, daß diese Bestimmungen „die allgemeinen Prinzipien
des Strafrechts aufs schroffste verletzten," „jeden Juristen zu revoltiren,
ja das Rechtsgefühl schwer zu kränken und den Wert des Preßgesetzes wesentlich
in Frage zu stellen geeignet seien," daß die Praxis aus dem Gesetz irrtümlich
etwas ganz andres gemacht habe, als dies gewollt, „und auf eigne Faust und
unter Hintansetzung der durch die neuere Gesetzgebung errungenen Fortschritte
um beinahe vierzig Jahre in unserm Rechtszustand zurückzuwerfen bestrebt
sei" u. s. w. Es kann dem Verfasser darin zugestimmt werden, daß, wie
dies auch das Reichsgericht anerkannt hat, der Reichstag z. B. die Frage be¬
züglich der Haftung des Redakteurs und der Strafausschließungsgründe „nicht
scharf genug ins Auge gefaßt" habe; trotzdem wird man sagen müssen, daß der
Reichstag im ganzen sehr wohl gewußt hat, was er wollte, und daß auch
die Praxis die Gedanken des Reichspreßgesetzes richtig aufgefaßt habe. Bei
den Verhandlungen über das Gesetz gingen die Ansichten innerhalb des Reichs¬
tags und des Bundesrath weit ans einander, namentlich wurden im Reichstage die
weitestgehenden Forderungen gestellt. Nachdem diese dann von der Mehrheit
abgelehnt waren und eine Einigung zwischen dieser und dein Bundesrat über
die bestehenden Meinungsverschiedenheiten erzielt war, kam das Preßgesetz, wie
so viele andre Gesetze, als ein Komprvmißgesetz zustande. Solche Gesetze be¬
friedigen zunächst eigentlich niemanden, es können auch infolge der Vertretung
der verschiedensten Ansichten leicht einzelne Bestimmungen in ein solches Gesetz
hineinkommen, die scheinbare Widersprüche enthalten und nur aus dem Gesamt¬
inhalt des Gesetzes heraus ihre Erklärung finden; im ganzen aber wird in
solchen Gesetzen das ausgesprochen, was den verschiednen Anschauungen ge¬
meinsam ist. So kann man auch von unserm Preßgesetze sagen, daß es einen
neutralen Grund herstelle, worauf nach Beseitigung der zu weit gehenden
Forderungen der Parteien etwas neues, die verschiednen Ansichten möglichst
vereinigendes aufgebaut wird. Auch zwischen Theorie und Praxis galt es
bei Erlaß des Preßgesetzes Vermittelung zu schaffen, und daß bei diesem
Streit die Bedürfnisse des Lebens denen der Theorie vorgehen mußten, liegt
auf der Hand; die Wissenschaft wird auf der neuen Grundlage eine neue
Theorie aufbauen müssen und sicher aufbauen, wie auch Fürst Bismcirck bei
Beratung der Reichsverfassung dem Einwände, daß der Verfassungsentwurf
keiner der anerkannten staatsrechtlichen Theorien entspreche, mit der Bemerkung
begegnete, dann müsse eben für diese Verfassung eine neue Theorie gebildet
werden.
Es giebt ja eine auch von Loening bekämpfte Richtung, die im Anschluß
an die französische „Erklärung der Menschenrechte" vom 26. Angust 1789 die
Freiheit, seine Gedanken durch Wort, Schrift und Druck ohne jede Beschränkung
mitzuteilen, sür ein menschliches Urrecht ansieht. Diese Ansicht war der Rück¬
schlag gegen die Knebelung der Presse durch die Zensur, aber er ging nach
der andern Seite zu weit; wie niemand ein Recht hat, seine Ansichten über
die Staatseinrichtungen oder seine Mitmenschen mündlich in jeder beliebigen,
auch einer beleidigenden Form auszusprechen, ebenso kann auch niemand dies Recht
für die schriftliche Mitteilung seiner Gedanken in Anspruch nehmen, wenn nicht,
um mich eines landläufigen Ausdrucks zu bedienen, die Preßfreiheit in die
Preßfrechheit ausarten soll. Das Jahr 1848 konnte französisch-revolutionären
Vorbildern nachjagen und in die „Grundrechte des deutschen Volkes" die Be¬
stimmung aufnehmen, daß „die Preßfreiheit unter keinen Umstanden und in keiner
Weise durch vorbeugende Maßregeln beschränkt, suspendirt oder aufgehoben
werden" dürfe; dies ist die Richtung, die in der Presse die sechste Großmacht,
die vierte Staatsgewalt erkennt. Als sich die Wogen von 1848 legten, kam
man aber von solchen Ansichten zurück, zog auch dein Ausdruck der Ge¬
danken durch die Presse wieder Schranken und konnte nicht mehr alter-
kennen, daß der Staat nicht, wie gegenüber allen, so auch gegenüber den
durch die Presse verübten Gesetzesübertretungen vorbeugende Maßregelt: zu
ergreifen berechtigt sei. Robert von Mohl, der gewiß über den Verdacht
reaktionärer Gesinnungen erhaben ist, der in seinem bedeutenden Buch über
die Polizeiwissenschaft die Presse sogar als eine notwendige Kontrole für die
Handlungen der Staatsbeamten erklärt, sagt doch an einer andern Stelle des
genannten Werkes: „Besonders sind die Zeitungen zu beachten. Eine Zeitung
wird schnell geschrieben, überall und zu gleicher Zeit von Gebildeten und Un¬
gebildeten gelesen, die Kürze der Artikel reizt und erleichtert das Verständnis;
derselbe Gedanke oder Entschluß kann durch sie bei Tausenden an einem Tage
erweckt werden, und die Wirkung ist um so sicherer, je mehr die meisten nur
Zeitungen von der eignen staatlichen Partei lesen, somit Widerlegungen, ent¬
gegengesetzte Thatsachen und Schlußfolgerungen andrer Tageblätter wenig oder
gar nicht in Erfahrung bringet?. Außerdem hat eine Zeitung die nicht hoch
genug anzuschlagende Gelegenheit, täglich dieselben Gedanken und Thatsachen
bald unter dieser, bald unter einer andern Form und Anwendung zu wieder¬
holen und diese somit, wenn sie anfänglich auch vielleicht nur geringen Anklang
fanden, zur Gewohnheit und dadurch endlich zur Überzeugung zu machen. Je
weniger verständig und gebildet der Leser ist, desto großer ist der Einfluß der
Zeitungen auf ihn, und da diese Klasse von Lesern überall die zahlreichere ist,
so sind die Tageblätter allerdings eine bedeutende Macht." Nachdem er dann
gezeigt hat, wie nützlich die Zeitungen wirken können, und „daß in einem
Staate, der die Bürger zur Teilnahme an den allgemeinen Geschäften mittelbar
oder unmittelbar braucht, eine unmittelbare Unterrichtung derselben über den
Stand der Dinge, über die gemachten Erfahrungen, über die noch unerfüllten
Wünsche, über das persönliche Verhalten der mit der Besorgung der staatlichen
Aufgaben betrauten unabweisbares Bedürfnis" sei, fährt er fort: „Es ist aber
ebenfalls wahr, daß Zeitungen das sittliche Gefühl ihrer Leser, die staatlichen
Absichten und Wünsche derselben, die Urteile über einzelne Personen und That¬
sachen durchaus verderben und Verkehren können, und in vielen Füllen auch
thatsächlich wirklich verkehren und verderben. Es ist sogar durch vielfachste
Erfahrung nachgewiesen, daß Zeitungen eigens zu solchen Zwecken gegründet
und in diesem Sinne geleitet werden, indem sie auf Beseitigung (nicht Ver¬
besserung) des gesetzlich bestehenden Zustandes hinarbeiten und zu dem Ende
kein Mittel unbenutzt lassen, um die Trüger der verfassungsmäßigen Gewalt
als Feinde des Rechts und des Wohles der Bürger, die Handlungen der¬
selben als ungesetzlich oder unverständig, die thatsächlichen Verhältnisse als
unerträglich und unheilbar schlecht darzustellen. Unleugbar ist somit, daß durch
Zeitungen sowohl die Einzelnen als die Staaten bedeutend gefährdet werden
können, und es ist einleuchtend, daß die Tageblätter ein Bestandteil des täg¬
lichen Lebens geworden sind, welcher, den ältern Zeiten ganz unbekannt, das
Regieren nicht nur zu einer persönlich unangenehmen und undankbaren, sondern
unter Umstanden zu einer kaum lösbaren Aufgabe machen kann." Treffender
können die Gefahren einer ungezügelten Presse nicht geschildert werden, und es
erhellt daraus, daß, wie man bezüglich andrer Gewerbe, deren Betrieb eine
Gefahr für das Gemeinwohl mit sich bringen kann, wie bezüglich der Gast¬
wirtschaft, des Verkehrs mit Sprengstoffen u. dergl., besondre Bestimmungen
getroffen hat, die sich auch nicht immer mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen
vereinbaren lassen, von deren Notwendigkeit aber doch jedermann überzeugt ist,
so auch bezüglich des Preßgewerbes besondre Bestimmungen erforderlich sind,
die auch nicht immer aus den allgemeinen Grundsätze!? des Strafrechts abzu¬
leiten sind; es ist dies doppelt nötig, seitdem die Reichsgewerbeordnuug aus
Angst vor eitler Parteiregierung, die ja bei uns wegen Nichtdurchführung
des parlamentarischen Systems nicht zu befürchten ist, das Preßgewerbe
unter ihren ganz besondern Schutz genommen hat. Namentlich aber sind
solche Bestimmungen bezüglich der Herausgabe periodischer Schriften nötig.
Gedanken zu haben, kann man niemand verwehren, erst durch ihre Verbreitung
vermögen sie gefährlich zu werden; es ist deshalb natürlich, daß man deu,
der die Verbreitung der Gedanken bewirkt, den Redakteur, einer be¬
sondern Verantwortlichkeit in dieser Richtung unterwirft, sei es als
Thäter, wenn nicht ohne seinen Willen durch sein Blatt gesündigt wird,
sei es wegen Fahrlässigkeit, wenn solches zwar ohne seinen Willen, aber
infolge der Vernachlässsgtmg der ihm obliegenden Aufmerksamkeit geschieht.
Man braucht dabei nicht mit Loening an einen Nachklang mittelalterlicher
Haftpflicht für dritte Personen zu denken, die unserm heutigen Strafrecht nicht
mehr entsprechen würde, sondern es bringen dies eben die besondern Verhält¬
nisse der Presse mit sich. Wohin soll es führen, wenn der Redakteur straffrei
alles veröffentlichen kann, während man den namenlosem Verfasser nicht zu
ermitteln imstande ist, oder wenn er für solche Veröffentlichungen, deren
Schaden nicht wieder gut zu machen ist, höchstens mit einer leichten Fahr¬
lässigkeitsstrafe wegkommen kann? Es ist nicht selten, daß Redakteure die
Verantwortung für einen Artikel ihres Blattes abzuwälzen suchen, indem sie
vorgeben, daß sie ihn nicht gelesen hätten u. s. w., ja es ist auch nicht selten,
daß sie einen voraussichtlich bedenklichen Artikel absichtlich nicht lesen, um ohne
Verantwortung zu sein. Nicht jeder Redakteur übernimmt ohne weiteres
die volle Verantwortung für den ganzen Inhalt des Blattes und prüft
alle ihm zugesandten Artikel gründlich !auf die Frage der Aufnahme¬
fähigkeit. Es muß ihnen deshalb durch eine strenge Gesetzgebung die Neigung
zur Aufmerksamkeit gestärkt werden. Mit Recht sagte der königlich sächsische
Generalstaatsanwalt Schwarze, den wir als einen der Haupturheber unsers
Preßgesetzes ansehen dürfen, im Reichstage: „Wenn wir diese Verantwortlich¬
keit nicht anerkennen »vollen, so frage ich schließlich: was hat die ganze Ver-
antwortlichkeit eines Redakteurs zu bedeuten? Und was bietet die Verant¬
wortlichkeit des Redakteurs dem Staate und dein Publikum für eine Garantie,
wenn Sie den Redakteuren gestatten wallen, daß sie jeden Augenblick sagen:
Ich habe den Artikel nicht gelesen, ich war verhindert, es traten Zwischen-
fälle ein, ich bin unschuldig daran, daß er hineingekommen ist. Das heißt
sowohl das Gesetz verhöhnen als auch das Publikum." Man wendet ein,
daß es, wie schon gesagt, bei einem größern Blatte unmöglich sei, daß
der Redakteur vom ganzen Inhalt des Blattes Kenntnis haben könne.
Daraus folgt aber nicht die Notwendigkeit der Befreiung des Redakteurs von
der Haftpflicht, sondern höchstens das Bedürfnis der Bestellung mehrerer
Redakteure für die einzelnen Teile des Blattes, z. V. den politischen Teil, das
Feuilleton u. s. w., wahrend ein Hauptrednkteur die allgemeine Richtung des
Blattes angiebt. Bei kleinern Blättern aber kann ein Redakteur recht wohl
den Inhalt des ganzen Blattes prüfen. Muß er verreisen, so besorge er sich
einen geeigneten Stellvertreter. Soll den Gefahren der Presse wirksam be¬
gegnet werden, so bleibt nichts andres übrig als die Verantwortlichkeit des
Redakteurs, wie sie im Neichspreßgesetz festgestellt ist. Ob unsre Einrichtung
der französischen oder der belgischen entspricht oder ob sie sich als eine neue
darstellt, ist um Ende gleichgiltig, es wird auch ihr die wissenschaftliche Aus¬
bildung nicht fehlen, wie wir das an den weisen Urteilen des Reichsgerichts
sehen, wie es uns auch die hier besprochene Schrift Loenings und die von
ihm ausführlich herangezogene Litteratur über das Preßgesetz zeige».
Wenn ich mich nicht in jeder Richtung mit den Ergebnissen des besprochenen
Werkes einverstanden erklären konnte, so liegt dies eben daran, daß der Ver¬
fasser deu rein wissenschaftlichen Maßstab anlegt, während ich mich auf den
Boden der Praxis stelle. Die Anschauungen der beiden Gebiete können nicht
immer übereinstimmen, allein sie können sich gegenseitig befruchten und zur
gegenseitigen Aufklärung dienen. So ist auch das Studium der Loeningscheu
Schrift nur zu empfehlen: wie man darin die lehrreichsten Mitteilungen über
die Entwicklung der Preßgesetzgebung finden wird, so wird auch jedem, selbst
da, wo er abweichender Ansicht ist, die klare und geistvolle Darstellung Loenings
hohen Genuß bereiten.
cum sorgliche Gemüter schon in den ersten neunziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts allenthalben auf deutschem Boden eine
rastlos thätige geheime Propaganda französischer Revolutionärs
zu verspüren glaubten, so mochten humoristisch gestimmte Freunde
der Revolution sich mitunter von einer „Propaganda wider
Willen" unterhalten, die gleichfalls zum Besten der Revolutionssache, gleichfalls
von Franzosen, aber am hellen Tage und durch den bloßen Eindruck ihrer
Erscheinung und ihres Gebnhrens ans deutschem Boden ausgeübt wurde.
Das Mißfallen und der Anstoß, den diese Franzosen erregten, wirkte in der
öffentlichen Meinung zu Gunsten der Sache, vor deren Siege sie ans ihrer
Heimat entwichen waren. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß hier die
französische Emigration, namentlich der vornehmere Teil derselben, Prinzen,
Edelleute, Prälaten gemeint sind; es sind die, die der neulich von mir in
diesen Blättern erwähnte „Aufruf der freigewordenen Franken an die Deutschen"
nnter den „stolzen Vösewichtern" versteht,' vor deren Unterstützung er die
Deutschen warnt.
Ich habe früher bemerkt, daß in vielen Gebildeten die Parteinahme für
die französische Revolution, trotz aller Übel und Verbrechen, die sie mit sich
führte, durch die Überzeugung befestigt worden sei, daß als der Übel aller¬
größtes doch die Rückkehr der alten Zustände, die von der Niederwerfung der
Revolution zu erwarten sei, augesehen werden müsse. Nichts konnte nun zur
Stärkung dieser Überzeugung kräftiger wirken, als die Art, wie man hier
Franzosen von denjenigen Klassen und Rangordnungen, in denen die Welt die
vorzüglichsten Träger und Nutznießer jener Zustände zu erblicken gewohnt war,
in größerer Menge auf deutschem Boden kennen zu lernen Gelegenheit hatte.
Ans die Entstehung der französischen Emigration näher einzugehen, liegt
nicht in meiner Absicht. Nur insofern diese Emigration und was sich an sie
anknüpfte, zur Bestimmung des deutschen Urteils über die französische Revo¬
lution nud die ihr widerstrebenden Elemente sowie auch über Deutschlands
eigne Zustände mitwirkte, kommt hier der Gegenstand in Frage.
Wiederum trat hierbei, wie bei so vielen Gelegenheiten, die absonderliche
Beschaffenheit des heiligen römischen Reiches deutscher Nation in eine recht
trübselige Beleuchtung. So lange man mit Frankreich und der dortigen im
Namen des Königs ausgeübten Regierung nicht im Kriege war, lief es gegen
die einfachsten völkerrechtlichen Normen, Tausenden von erbittertsten Feinden
der ganzen in Frankreich eingetretenen Entwicklung dicht an den Grenzen von
Frankreich uicht bloß ungestörten Aufenthalt, sondern auch reichliche Freiheit
zu gewähren, eine gewassnete Heimkehr und eine Wiederunterwerfung ihres
Vaterlandes unter die abgeschüttelten Zustände und Einrichtungen vorzubereiten.
Ein Recht Frankreichs, eine derartige Zulassung als eine Feindseligkeit gegell
sich zu betrachten und je nach Umständen mit Feindseligkeiten zu beantworten,
konnte man nicht in Zweifel stellen. Solche deutsche Regierungen, denen nach
ihrer Bedeutung und Stellung ein wirkliches Gefühl eigner politischer Zurech¬
nungsfähigkeit und Verantwortlichkeit beiwohnte, hielten sich denn auch bei der
Aufnahme der in ihren Landen Eingang suchenden Fremdlinge in gewissen
Schranken. Für Kaiser Leopold II. war es schon nach seinem verständigen
und Überlegsamen Wesen gegeben, daß er das Mißbehagen seiner Schwester,
der französischen Königin, ein dem maß- und besinnungsloser Treiben des
Grafen von Artois und ähnlich gefilmter teilte. Auch nach der schwierigen
Beschaffenheit seiner eignen politischen Verhältnisse konnte sich der Kaiser un¬
möglich getrieben fühlen, französischen Prinzen und Edelleuten zuliebe sich
dem französischen Staate gegenüber in ein offenbares Unrecht zu setzen. Was
ferner das damalige Preußen betrifft, so kam, bei der weiten Entfernung seiner
Hnuptprovinzen von Frankreich, nur Cleve und die Grafschaft Mark einiger¬
maßen in Betracht. Mochte nun König Friedrich Wilhelm II. nach seinen
persönlichen Empfindungen den Emigranten näher stehen als Kaiser Leopold II.,
so wurde ihnen doch in jenen Landschaften nichts eingeräumt, was eine grobe
Ungehörigkeit gegen Frankreich in sich geschlossen Hütte.
Anders am mittlern und obern Rhein, in der Welt der schwachen Re¬
gierungen, der kleinen oder schlecht abgerundeten Gebiete. Ganz besonders
geistliche Herren waren es, an denen die Emigration ihre Gönner fand und
mit denen sie ihr Spiel trieb. Politische Eitelkeit, verwandtschaftliche Schwäche
gegen einzelne Mitglieder der Emigration, leidenschaftliche Erbitterung gegen
das revolutionäre Frankreich, das bei seiner angestrebten Neugestaltung mit
kirchlichen und weltlichen Berechtigungen der Nachbarn ziemlich rücksichtslos
umgesprungen war, spielten hier ihre Rolle. Zugleich war aber unter den
Bevölkerungen eben in diesen Gegenden bei der geringen Widerstandsfähigkeit,
in der man sich selbst fühlte, die Furcht vor dem Unwillen des revolutionären
Frankreichs groß und lebendig. Der Kurfürst von Mainz — derselbe, der
einst als Mitglied des deutschen Fürstenbundes und um mancher sonstigen
Regieruugshaudluug willen auch bei den norddeutschen Aufgeklärten Beifall
gefunden hatte —, ferner der Vischvf von Straßburg — deutscher Reichsfürst,
zugleich aber französischer Großer und als solcher persönlich der Emigration
angehörig, wie er ja daheim anch nicht mehr als Bischof galt — thaten sich
hervor durch Hegung von Emigranten in Örtlichkeiten, über die sie verfügten;
vor allen zog aber doch der sächsische Prinz Clemens Wenzeslans, der auf
dein Knrstnhl von Trier saß und in Koblenz residirte, die Aufmerksamkeit auf
sich. Die verschwenderische Gastlichkeit und die grenzenlose Nachsicht, deren
hier die fremden Prinzen und Edelleute genossen, war an und für sich ein
Ärgernis für Tausende vou bedürftigen, gedrückten und beengten deutschen Unter¬
thanen. Die Beschwerden der Landstände über die Gefahren, die man ans
dem angrenzenden Frankreich auf sich ziehe, gingen allmählich in ihrem Aus¬
drucke ganz aus dem Tone gewohnter Unterthänigkeit heraus und verrieten
selbst etwas von dem Wehen jenes Geistes, der die Emigranten ans ihrer
Heimat Heransgetrieben hatte. Dazu nnn jene üppige Zuchtlosigkeit, in der
sichs diese Fremdlinge zur Aufgabe gemacht zu haben schienen, ans deutschem
Boden eine Rechtfertigung der französischen Erhebung, die eine solche Klasse
von Meuscheu von sich gestoßen hatte, zum besten zu geben, jener schnöde
Undank, womit sie alles ihnen erwiesene vergalten, jener empörende llbermnt, den
sie um den Bürgern und Bauern in ihren Zufluchtstätten und gelegentlich selbst
an ihrem fürstlichen Gönner anstießen. Natürlich waren es die anstößigsten,
verwerflichsten Elemente unter den Ausgewanderten, die am grellsten in die
Sinne fielen, und die daher für die Deutschen dem Bilde der Emigration über-
haupt seinen Charakter gaben.
Koblenz, das dortige Treiben der Emigranten, die moralische und Physische
Bersenchnng, die sie um sich her verbreiteten, war in aller Munde. Der
Anblick wirkte wohl wie eine Beize, von der die Augen des deutschen Bürgers¬
mannes übergingen und die Empfindlichkeit für manches, was die französischen
Revolutionärs im Kampfe gegen solche Feinde verübten, einbüßten. Dem
milden, eines schroffen Ausdrucks fast »»fähigen Wieland ist die überfließende
Galle anzuspüren, wenn er ans den Gegellstand zu reden kommt. „Man hat
Mühe — lautet eine seiner Äußerungen die Betrachtungen, die sich beim An¬
blick alles Unfugs, der diesem Leuten auf deutschem Grund und Boden gestattet
wird, aufdrängen, mit zusammengebissenen Zähnen zum Schweigen zu bringen.
Will man etwa auch diesseits des Rheines das ebenso unnötige als gefährliche
Experiment machen, wieviel die deutsche Geduld aushalten kann, bis sie reißt?"
Aber mit der Erinnerung an diese oft geschilderten Ärgernisse ist keineswegs
alles erschöpft; noch viel Umfasseuderes und Folgenreicheres kam hier in Frage.,
So zurückhaltend sich Kaiser Leopold II. den französischen Prinzen und Edel
lenken gegenüber verhielt, so schwer konnte er doch verhüten, daß die vor-
nehmsten unter ihnen — zum Teil schon verwandtschaftlich ihm ganz nahe
stehend — sich an ihn lind den preußischen König hinandrängten und alles
thaten, UM vor der Welt bei ihren eignen, auf Frankreich gerichteten Plänen
der vollsten Zustimmung und Mitwirkung der Monarchen gewiß zu erscheinen.
Ganz offen und in offiziellster Form empfingen diese ausgewanderten Fran¬
zosen in ihrem Anspruch, die rechtmäßige Darstellung des wahren Frankreichs
zu sein, Anerkennung und Förderung von nilsehnlichen außerdeutschen Mächten.
Sardinien, die bourbonischen Höfe in Italien und Spanien ließen es nach
dieser Richtung uicht fehlen; der schwedische Gustav und die russische Katharina
hatten kaum ihrem bittern Kriege durch den Frieden von Werelo (August 1790)
ein Ende gemacht, als sie sich in Freuudschnftserweisungen für die Emigranten
und Zornentladuugen gegen das revolutionäre Frankreich vereinigten. Denke
man sich nun Tausende von ausgewanderten Franzosen an Rhein und Mosel,
sich selbst waffnend und Truppen werbend, mit einem vrgnnisirten Regierungs-
wesen versehen, denke man mit dieser Regierung mehrere große europäische
Mächte durch geregelten diplomatischen Verkehr und offenkundige Feindschaft
gegen das revolutionäre Frankreich verbunden, denke mau, daß diese Emigranten
bei Gelegenheiten wie dem Pillnitzer Kongreß nichts unversucht ließen, um
Leopolds und Friedrich Wilhelms Politik in eine Bahn zu bringen oder
wenigstens in ein Licht zu setzen, wie es zu ihren Wünschen und Absichten
stimmte, so wird mau begreifen, daß das ganze Dasein dieser Emigration un¬
zähligen nur als eine ungeheure völkerrechtswidrige Drohung des monarchisch¬
aristokratischen Europas gegen das freigewordene Frankreich erschien. Wenig
fiel dagegen ins Gewicht, wenn man etwa versuchen wollte, die Emigranten-
hegung als eine berechtigte Vergeltung des Unrechts darzustellen, das einer
Anzahl von westdeutschen Reichsständen bei der Neuorganisation des französische»
Staats- und Kirchenwesens zugefügt worden war; und wenn von revolutions¬
feindlicher Seite die Anfeindungen des monarchischen Europas durch die fran¬
zösische Propaganda als verbrecherisch ausgerufen wurde — was wollten die
schwachen und zweifelhaften Spuren dieser Propaganda auf deutschen Boden
sagen im Vergleich mit den massenhaften, ganz öffentlichen Nnsammlnngen und
Rüstungen französischer Prinzen und Edelleute zu Koblenz und an andern
Orten! Als Frankreich im Sommer l7!)1 bei den Nachbarmüchten mit ernsten
diplomatischen Schritten gegen diese Einigrantenhegnng vorzugehen begann, fand
Georg Förster, es habe damit ganz das rechte Mittel ergriffen, um sich vor
Erschöpfung zu bewahren; denn die Absicht der Mächte, Frankreich in fort¬
währender Unruhe zik erhalten, und die Ungefährlichkeit der Emigranten, sobald
sie um den Mächten keinen Nückenhalt mehr Hütten, liege am Tage. Und als
der Krieg zwischen Frankreich und den luoiinrchischen Mächten ausbrach, übte
auf die Ansicht, die sich über diesen Krieg in Deutschland bildete, jene vorher¬
gegangene Beunruhigung Frankreichs durch die Emigranten einen ganz wesent¬
lichen Einfluß. Obgleich sowohl die Kriegserklärung als die thatsächliche
Eröffnung des Krieges (durch den verunglückten Einbrnchsversnch in Belgien,
April 1792) von Frankreich ausging, betrachtete man doch die Feinde Frank¬
reichs als die Urheber des Krieges. Frankreich habe, so fand man, ebenso
guten Grund und ebenso viel Recht gehabt, wie Friedrich der Große beim Ein¬
tritt in den siebenjährigen Krieg, gegen das ihm zugedachte Verderben sich
dadurch zu verteidigen, daß es seinerseits den Feinden mit dem offnen Angriffe
zuvorkäme.
Daß aber anderseits heftige Widersacher des revolutionären Frankreichs sich
der Emigranten annahmen und den Unwillen, der sie traf, bekämpften, war
natürlich mit alledem nicht ausgeschlossen. Die Wiener Zeitschrift brachte die
Lieblosigkeit, ans die diese ans der Heimat entwichnen Frauzosen in Deutsch¬
land stießen, in Gegensatz zu dem Mitgefühl und der warmen Aufnahme, die
vor hundert Jahren den Landsleuten derselben, den Tausenden von flüchtigen
Hugenotten, in so vielen Gegenden von Deutschland zu teil geworden waren. Für
das Hamburger politische Journal waren die großen und kleinen Begebenheiten
von Koblenz, die Handlungen und Kundgebungen der Grafen von der Pro¬
vence, von Artois und andrer Prinzen, das Leben und Treiben der Dueh,
Marquis und Abbss ein Gegenstand ebenso respektvoller Aufmerksamkeit und
redseliger Berichterstattung, wie die Tagesereignisse irgend eines mounrchischeu
Hofes und Refidenzvrtes. Und für beide Journale bildete diese Emigration
noch insbesondre nnter einem Gesichtspunkt eine willkommene Erscheinung.
Wenn die deutsche Aufklärung bis dahin im ganzen, weltbürgerlich wie
sie war, auf das Recht des einzelnen Staates oder Volkes, in seiner innern
Entwicklung unbehelligt zu bleiben vor den Einmischungen fremder Gewalt,
kein übergroßes Gewicht gelegt hatte, so trat hierin eine Änderung ein ange¬
sichts der französischen Revolution. Daß die Sache der Menschheit der größten
Niederlage entginge, erschien jetzt durchaus abhängig davon, daß die französische
Nation und was in ihr emporkaut, vor jeder Störung und Zerstörung bewahrt
bliebe, die von außen drohte. Ganz wesentlich kam dabei aber auch in Be¬
tracht, daß man jetzt an den Beschlüssen der Nationalversammlung in Frankreich
etwas andres vor sich sah, als etwa Beschlüsse von ständischen Körperschaften
oder sonstigen gesetzgeberischen Autoritäten herkömmlicher Art, daß man viel¬
mehr hier eine wirkliche Vertretung des Volkes und mithin an dem, was sie
gewollt habe, einen Volkswillen vor sich zu haben glaubte, wie ein solcher noch
nie zu einer so unanfechtbaren Erscheinung gekommen sei. Der Gedanke, daß
eine Nation, gleichviel ob das, was in ihr vorging, Lob oder Tadel verdiene,
eilt unveräußerliches Recht habe, ihren innern Zustand nach ihrem Willen,
ohne Einrede des Auslandes, zu gestalten, trat mit außerordentlicher Schnellig¬
keit ni das Bewußtsein weiterer Kreise ein. Die Frage sei nicht, sagt Wie¬
land im Hinblick auf ein mögliches Einschreiten der Mächte in Frankreich, wie
reif, unreif oder überreif die Franzosen für die Freiheit seien, nicht ob ihnen
eine (sogenannte) republikanische oder eine monarchische Regierungsform am zu-
träglichsteu sei, sondern ob das allgemeine Völkerrecht den übrigen europäischen
Staaten das Recht zugestehe, der französischen Nation mit Gewalt eine andre,
wenn auch noch so vollkommne Konstitution aufzudrängen, als die sie selbst
wolle, und nur wer die ersten, hier in Betracht kommenden Grundwahrheiten
ableugne, werde diese Frage mit ja beantworten können.
Und die Gegner? Statt sich allzu lauge mit dem undankbaren Geschäft
aufzuhalten, diese ansprechende und blendende Lehre von der Uuantnstbnrkeit
eines Volkswillens im Prinzip zu bekämpfen, warfen hier gern ihren Haupt-
nachdruck darauf, zu bestreiten, daß in dem besondern Falle, um deu sich alles
drehte, ein Volkswille in Wahrheit vorhanden sei. Die französische Konstitution
sei von einer Fnktivu, in einer Versammlung, die sich durch eigne Willkür die
Vollmacht angemaßt habe, im Namen deS Volkes eine neue Verfassung zu
schaffen, dem Volke aufgedrängt worden. Warum aber das Volk sich gegen
den Zwang dieser Faktion nicht erhebe? Weil ihm der Führer fehle! Eben
mit dem Eintritt der Emigranten in Frankreich könne ihm dieser Führer er¬
scheinen. Und diese Emigration überhaupt, sie war von Wert als ein lebendiger
Gegenbeweis gegen den allgemeinen Willen, auf dem die französische Verfassung
beruhen solle. Welche bedeutenden, vornehmen und achtbaren Elemente der
Nation seien hier in entschiedenstem Widerspruch gegen die Konstitution zu er¬
blicken, wahre Patrioten, sest entschlossen, den Staat zu retten oder sich unter
den Trümmern desselben begraben zu lassen. Das Hamburger politische Journal
that sich etwas zu gute auf den Einfall, seine Berichte über die Emigration
unter einer eigens dazu erfundnen Rubrik „Auswärtiges Frankreich" zu bringen;
dieses auswärtige Frankreich werde, dein großen, gesund gebliebenen Teile der
daheimgebliebenen Franzosen die Hand reichend, das inländische zur Ordnung
bringen.
Eilt besondres Wagstllck unternimmt el» Aufsatz in Aloys Hvfmcuins
Wiener Zeitschrift. Ob die Emigranten und ihre Sinnesgenossen wirklich, wie
die Freunde der Revolution unaufhörlich behaupteten, nur eine Million, gegen¬
über vierundzwnnzig Millionen verträten, läßt er beiseite; ihr Recht aber, auch
als Minderheit in Frankreich einzubrechen, sucht er sogar mit Rousseaus
Prinzipien in Einklang zu bringen. Schon war auch vou andern — einem
Burke, einem Justus Möser — das Recht, durch bloßen Mehrheitsbeschluß
die alte Verfassung einer Nation mit einer neuen zu vertauschen — nach der
Sprache der Zeit: deu alte» Gesellschaftsvertrag aufzulösen und einen ganz
neuen zu schließen — der Einwand erhoben worden, daß ja nur auf Grund
des bisherigen Gesellschaftsvertrages die Nation eine (politische) Nation aus¬
gemacht habe und nach Auflösung desselben, unter der Masse der ver¬
einzelten Individuen, keine bindenden Mehrheitsbeschlüsse gefaßt werden könnten.
So behauptete denn jetzt die Wiener Zeitschrift: Wohl stehe kein rechtliches
Hindernis im Wege, daß der größere Teil einer Nation sich unter einer Kor-
stitution znsammenthue und darin die Unterwerfung der Minderheit nnter die
Mehrheit zum Gesetz erhebe. Ehe das aber geschehen sei, befinde sich die Ge¬
sellschaft, nach dem Dahinfallen der alten Verfassung, im Naturzustände, worin
die Mehrheit die Minderheit nicht binde. Der Minderheit, die von der Kon¬
stitution nichts wissen wolle, sei es daher rechtlich unverwehrt, auszuwandern
und dann als Macht gegen Macht dem Staate, um welchem sie selbst keinen
Anteil habe, den Krieg zu erklären.
Auch den treffendsten theoretischen Erörterungen hätte es freilich schwer
fallen müssen, in der öffentlichen Meinung den Sieg davonzutragen über die
Eindrücke, die das persönliche Betragen der hervorragendsten Teile der Emi¬
gration sowie der Anblick dessen, was ihnen aus deutscher Erde gestattet wurde,
hervorbrachte. Das alte Frankreich, wie es sich in den Unarten und Untugenden
dieser Ausgewanderten darstellte, und das alte deutsche Reich, das in seiner
Schwäche den Tummelplatz für diese Unarten und Untugenden darbot, schienen
hier zusammenwirken und wetteifern zu wollen, um der modernen Welt das
grellste Ärgernis darzubieten. Stieg doch der Unfug auf eine Höhe, daß es
sich schließlich sür manche deutsche Regierungsgewalten nicht mehr um die
Frage, was sie deu Emigranten gestatten wollten, sondern ob man ihnen
noch überhaupt etwas verwehren könne, zu handeln schien. Als Kaiser
Leopold II. gegen Ausgang des Jahres 17!N kraft seiner kaiserlichen Autorität
den lebhaften Vorstellungen, die von Paris einliefen, durch Weisungen an die
Landesherrschafteu Folge gab, und es nun darauf ankam, die Emigranten von
der französischen Grenze zu entfernen, sowie ihre Kriegsvorbereitungen abzustellen,
ließen sich hie und da die Dinge wunderlich an. Mntmaßlich um diese Zeit
hielten die französischen Prinzen in Koblenz den Korsen, von welchem berichtet
wird, daß darin selbst der Gedanke laut geworden sei, sich des Trierschen
Landes, vor allem der Stadt Koblenz und des Ehrcubreitstein noblömsnt zu
bemächtigen und sich als Herren daselbst auszuwerfen. Unabhängig von deu
deutschen Gewalten und ihnen zum Trotze hätte dann dort ein Sammelpunkt
für alle französischen Ausgewanderten und ein Ausgangspunkt für die Unter¬
nehmung gegen Frankreich geschaffen werden sollen. Am Rhein und in Schwaben
mußten die Reichs- und Landesbehörden ein wachsames Ange haben. Truppen
des Nicomte von Mirabeau plünderten in einem württembergischen Amte; der
Herzog des Landes setzte Streitkräfte in Bewegung und wehrte dann auch dem
Corps des Kardinals Rohan (gewesenen Bischofs von Straßburg) den Eintritt
in sein Gebiet. Der Markgraf von Baden hielt scharf darauf, daß durch sein
Land kein gewaffneter Durchzug stattfand. Aber an mehr als einem Orte blieb
Organisation und Rüstung so ziemlich ans dem bisherigen Fuße. Der Fürst
von Hohenlohe-Schillingsfiirst schloß sogar einen Subsidienvertrag mit den
Prinzen und nahm infolge dessen die Mirabeansche Legion mit Waffen, Artillerie
und Munition in sein Ländchen ans. Seine Unterthanen erhoben Widerspruch,
mit der fränkische Reichskreis, dem das Fürstentum angehörte, schritt ein.
Von dem „großmütiger Kurfürsten von Trier" aber, so erzählte man sich, sei
ein „merkwürdiger Brief" an den Kaiser geschrieben wordein S, Durchlaucht
hätte nun in Absicht der Emigranten alles gethan, was Ihnen möglich gewesen,
um dem Verlangen Sr. Knif, Majestät Folge zu leisten; Sie hofften aber,
daß man nun nicht mehr verlangen würde. Sie würden sonst eher der äußersten
Entschlüsse sähig sein, als die Prinzen, die Ihnen als Blutsverwandte so nahe
befreundet und wert wären, und die zu Ihnen gekommen wären, um das Recht
der Gastfreundschaft zu genießen, zu entfernen, u. f. w,
Welche Wirkungen derartige Vorgänge auf jeden denkenden Deutschen üben
mußten, der sich nicht selbst aus irgend einem Grunde ganz mit den Emigranten
eins fühlte, braucht nicht gesagt zu werde». lind auch die kriegerische»
Leistungen, zu denen sich nach Ausbruch des Krieges gegen Frankreich den
Emigranten Gelegenheit bot, änderte nichts an der Stimmung gegen sie und
ihre Beschützer. Zumal bei dem kamen oder selbst unlustigen Verhalten zahl¬
reicher Deutschen zu der ganzen Bekämpfung des revolutionären Frankreichs
war die Kampfgenossenschnft der Emigranten in einem solchen Kriege wenig
geeignet, bei dem deutschen Volke die Übeln Eindrücke auszulöschen, die es in
den vorhergegangenen Jahren von ihnen und der ihnen gewordenen Begünstigung
empfangen hatte.
euige Gelehrte sind von Freunden und Schülern so überschwäng-
lich gepriesen worden, wie der Mitarbeiter Luthers, der Humanist
Philipp Melanchthon. Ju Prosa und Vers feierte ihn sein Jahr¬
hundert, namentlich als Lehrer in Wort und Schrift. Mancher
von den an ihn gerichtete» lateinischen Briefen liest sich wie ein
Paneghrikus, u»d wenn wir uns auch dabei erinnern müssen, daß die Huma¬
nisten mit Weihrauch nicht karg zu sein Pflegten, also von der Begründung
jener Lobsprüche einiges abrechnen müsse», so bleibt doch immer noch genug
davon übrig. Scheurl, der humanistische Jurist, der früher in Wittenberg
»eben ihm gelehrt hatte, schreibt von ihm 151!): „Dn liesest aufs sorgfältigste
Lateinisch, Griechisch und Hebräisch, alles so liebenswürdig, treu und auf-
richtig, als ob dir an einem Tage alle an Gelehrsamkeit gleich werden sollten.
Du reißest sie mit dir fort dnrch wunderbaren Neiz, dnrch deine erstaunliche
Begabung." Der Ungar Wolfgang Schiver ruft 1523 in einem Schreiben an
Rhencmus aus: „Welch ein genialer Mensch und mit welchem göttlichen Herzen
begabt! Man möchte das bekannte Wort des Properz") in folgender Weise
umgewandelt ans ihn anwenden: Leclite, Ronumi 8e.ripte.re-8, eeclite Hraii!
(jul vo8 8tultilioc>.t, nsmxe?dilixxu8 aäv8t." Johannes Maier nennt es das
größte Glück seines Lebens, Melanchthvns Zuhörer sein zu diirfeu, und Heer¬
brand versichert, die dankbaren Schüler Melanchthvns zahlten nach Tausenden,
und alle Katheder und Schulen hallten von seinen Schriften wider. Luther
äußert in den OoUoyuig, über seinen Gefährten: „Hui ?!>i1ipMiri non ÄAvosoit
vrileoopwrem, der muß ein rechter Esel und Bachant sein, den der Dünkel
gebissen hat. (juiü^uiä 8eiirin8 in iritidn8 et in vern iMIo8opllit>., illuä äs-
vsrnn8 Milixpo. Er ist ivohl ein schlechter j schlichter, bloßer j Magister jer
bewarb sich niemals nul den theologischen Doktvrtitell, ist aber ein Doctor
über alle Doctores. Es ist ans Erden keiner, den die Sonne bescheint, der
solche clonk hätte, darumb lasset uns den Manu großachten." In dem Be¬
richt, den die Wittenberger Universität über Melanchthvns Tod erstattete,
wird er als revorsnäus et e.Im'i88inui8 vir, gudem-lor 8welioruiu se all8vi-
vlinaö in imo Ävaclsrnia pravoimn^ et optiiuns, xrireeentor -uz xg.ter n»8ter in
Äötei-lium oolönckn8 av v-trissiwus bezeichnet. Ähnlich urteilten andere Hoch¬
schulen schon bei Lebzeiten des hochverdienten Mannes und bald nach seinem
Tode. Schon in den ans dem Jahre 1545 stammenden Statuten der Uni¬
versität Greifswald wird Melanchthon „unser aller gemeinsamer, mit höchster
Treue und Hochachtung zu verehrender Lehrer" genannt, und bereits in den
ersten fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts scheint die Bezeichnung desselben,
die wir zur Überschrift dieses Aufsatzes gewählt habe», allgemein bekannt ge¬
wesen zu sein, da sonst nicht recht zu begreifen wäre, wie Osiander in seinem
„Bericht und Trvstbrief" von 1551 sagen konnte: „Da soll der Mann ?rg.s-
ooxtor <Z-oriuimig>o et magMtsr veritatis heißen." Dieser Titel ist dann viel
gebraucht worden und wird mit Recht noch jetzt angewendet, obwohl man
dagegen geltend macht, daß Melanchthon nnr der Lehrer deö Protestantischen
Deutschlands gewesen sei. Ehe die katholische Reaktion begann und allmählich
siegte, waren bekanntermaßen weite Striche auch des deutscheu Südens bis
nach Tirol und Steiermark hinab, wo jetzt der Katholizismus fast ausschlie߬
lich herrscht, dem Evangelium gewonnen und eifrig zugethan und standen somit
unter den Wirkungen des geistigen Lebens, das von den Wittenberger Refor¬
matoren in Gestalt von Schülern, die sich zuletzt in Praktikanten, Schullehrer
Odite, N»w-mi «eriiitorvs, uoäito (Zi'lui,Die Verse lauten:
5I?se:lo >l>u<t Mküu8 in>.svitur Iluulv.
und Pfarrer verwandelten, von Büchern, Flug- und Streitschriften, Katechismen,
Briefen und Gutachten ausging. Melanchthons Einfluß erstreckte sich durch
seine zahlreichen Lehrbücher über die bei weitem größere Hülste des deutschen
Reiches, und selbst der Katholizismus wurde davon berührt.
Insofern war es zunächst berechtigt, wenn der Verfasser einer neuen
Schrift über den großen Gehilfen lind Freund Luthers, die vor kurzem als
siebenter Band des Kehrbachschen Sammelwerkes Nonunumtn, L-ermimiav
Z?a>ö<1sK0AioÄ erschienen ist, ihr den Titel Philipp Melanchthon als ?r»e-
oextor (Zi-erinaniau gegeben hat. Es Ivar aber anch deshalb eine treffende
Bezeichnung, weil damit wirklich in Kürze der Inhalt des Buches angegeben ist.
Es soll weder eine Biographie noch eine allseitige Würdigung des Mannes sein,
dem es gilt. Von Melanchthons theologischen und juristischem Leistungen und
Verdiensten ist nur so weit die Rede, als es zum Verständnis seines Wesens und
Thuns als Lehrer erforderlich ist. Dagegen unterscheidet sich der Verfasser,
l>r. Karl Hartfelder, Professor am Gymnasium in Heidelberg, dadurch vor-
teilhaft von früheren Bearbeitern des Gegenstandes, daß er den „Lehrer Deutsch¬
lands" geschichtlich, d. h. im Zusammenhange mit seiner Zeit auffaßt und darstellt.
Arbeiten, wie sie von Planck und Schlvttmann geliefert wurden, haben unzweifel¬
haft ihren Wert, nur trennen sie Melanchthon zu sehr von den Vorgängern,
von denen er lernte, und von den Zeitgenossen, denen er zwar gab, aber anch
entnahm. Ein besondrer Mangel der frühern Bearbeiter ist ihre geringe
Kenntnis der humanistischen Bewegung, weil Melanchthon zunächst dieser und
dann erst der refvrmntorischen angehörte, und endlich war vielen von ihnen
die Geschichte des Schulwesens und vorzüglich der Hochschulen ein verschlossenes
Vues, und doch ist die Bedeutung Melanchthons als Einrichters und Um-
bildners höherer und niederer llnterrichtsaustalten nicht kleiner als die, die er
als Theolog beanspruchen kaun. Es ist ein entschiedenes Verdienst des Ver¬
fassers, diese Lücken auf Grund umfassender und gründlicher Studien mit
geschickter Hand ausgefüllt zu haben.
Sehr anschaulich schildert das erste Kapitel Melanchthons Bildungsgang
und geistige Entwicklung in Breiten, seiner pfälzischen Geburtsstadt, und in
Pforzheim. Das zweite berichtet in gleicher Weise über seine Studienzeit und
seiue Lehrer auf der Heidelberger Hochschule. Das dritte führt uns nach
Tübingen, wo Melanchthon von 1512 bis erst lernend, dann auch lehrend
verweilte, und wo damals die Scholastik in friedlichem Verein mit dein Huma-
nismus herrschte. Das vierte zeichnet ihn in seinen ersten Wittenberger Jahren,
zeigt sein Eintreten in die theologische Laufbahn und die Wandelung seiner
bisherigen Auffassung des Aristoteles. Ein weiterer Abschnitt schildert ihn als
akademischen Lehrer. Daran schließt sich ein Blick auf die Humanisten, die
mit ihm auch in dieser spätern Zeit freundschaftlichem Verkehr pflegte», eine
ebenso ausführliche, als lehrreiche und deshalb besonders dankenswerte
Betrachtung. Der nächste Abschnitt gelangt mit der Darlegung der Ansichten
Melanchthons über das Wesen der einzelnen Wissenschaften zum eigentlichen
Thema des vortrefflichen Werkes, das nun zunächst Melanchthons Leistungen
als Gelehrten würdigt, ihn dann als Stilisten und Dichter zeichnet und darauf
seine pädagogischen Grundbegriffe aufzuzeigen unternimmt. Daran knüpft der
Verfasser ein Kapitel über die Art und Weise, wie er Schule und Lehrerberuf
auffaßte, und hiermit ist der Übergang zu einem Abschnitt gegeben, der sich
darüber verbreitet, wie er sich den Organismus des Schulwesens dachte. Ein
weiteres Kapitel berichtet, wie er diese Gedanken durch Gründung zahlreicher
Unterrichtsanstalten und Umgestaltung schon bestehender verwirklichte. In
einer Schlnßbetrachtnng endlich behandelt das Buch die letzten Jahre Melanch¬
thons, worauf eine Anzahl von Beilagen, uuter andern ein Verzeichnis der
Borlesungen, die er in Tübingen und Wittenberg gehalten hat, eine chrono¬
logische Übersicht über seine Arbeiten, so vollständig, als sie sich herstellen
ließ, und eine Aufzählung der Schriften über ihn folgen. Im folgenden geben
wir das wesentlichste aus den Abschnitten, die vorzugsweise unter unsre Über¬
schrift fallen.
Die Hochschulen wie die Dom- und Klosterschulen des Mittelalters waren
Schöpfungen der katholischen Kirche. Erst spät kam es in dieser Periode zur
Gründung städtischer Unterrichtsanstalten, und die kirchlichen befanden sich bei
Anbruch der neuen Zeit größtenteils in tiefem Verfall. Die Kirche konnte
oder wollte, da sie in gleicher Lage war, nicht abhelfen, und so blieb nichts
übrig, als sich deswegen an die weltlichen Obrigkeiten zu wenden. Das ist
der gemeinsame Standpunkt der deutschen Reformatoren. Melnnchthvn äußert
sich in dieser Beziehung: „Wer Schulen gründet und die Wissenschaften pflegt,
macht sich um sein Volk und die ganze Nachwelt verdienter, als wenn er neue
Gold- und Silberadern so reich wie die in Lydien entdeckte, aus deuen sich
die Schätze des Krösus mehrten. Diese Pflicht hat Gott vornehmlich den
Fürsten auferlegt; denn sie sind die Wächter der menschlichen Gesellschaft....
Für den Viehhirten genügt es, wenn er seine Tiere mit Futter versorgt. Wer
aber über Menschen gebietet, der muß nicht bloß für deren Leiber Sorge tragen,
sondern auch an Gesetz und Zucht deuten." „Der Regent - - sagt er in einer
Rede von 154,^ — hat die Pflicht, dafür zu sorgen, daß die hohen Schulen
Lehrer haben, ausgezeichnet durch Talent, Gelehrsamkeit, Tugend und Weisheit,
nicht nur im Besitz einer nützlichen Lehrweise, sondern auch getren in der
Pflichterfüllung. Solchen Lehrern müssen die Fürsten in ihrem Streben Bei¬
stand leisten und sie auch anständig bezahlen." „Die Schulen sind," sagte er
anderwärts, „notwendig zur Fortpflanzung und Pflege der Wissenschaften, ohne
die wir in ein Cyklopenlebeu versinken würden, und ohne die sich kein Staat
regieren und erhalten läßt. . . . Wer das nicht glaubt, der betrachte doch einmal
die Zustünde bei den Stämmen, die ohne Kultur leben, z. B. bei den Skythen.
Die haben zunächst keine Städte mit Gesetzen, keine Gerichte; denn Recht hat
nur der Starke, der Gewaltthätige. Da giebt es keinen Verkehr mit den
Nachbarn, keinen Wortaustausch. Das einzige Mittel wider den Hunger ist
der Raub; es fehlen alle edlern Triebe der Menschen, die Treue der Ehe¬
gatte», die Liebe zu den Kindern und Verwandten, die Freundschaft." Und
wie der Staat die Schule nicht entbehren kann, so bedarf ihrer anch die
Kirche. Melanchthon versucht dies geschichtlich dnrzuthnn, unter anderm mit
deu alttestamentlichen Prophetenschulen. Mit dem Verfall der Schule, meint
er, tritt auch der Niedergang der Kirche ein, und insbesondre muß dann
das Licht des Evangeliums erlöschen. Es ist ein großer Irrtum, zu glauben,
mau könne Geistliche aus jedem Holze schnitzen. Sie müssen vor allein
die prophetische und apostolische Rede verstehen lernen, und dazu ist
Kenntnis der alten Sprachen, überhaupt sprachliche Bildung, Beschäftigung
mit den alten Schriftstellern und schriftliche Übung erforderlich, ferner
wegen der kirchlichen Streitigkeiten die Kunst der Dialektik, die Kunde der
Geschichte und der Altertümer und viele andre Dinge, die man nnr in der
Schule sich aneignen kann. Äußerungen derart kommen bei Melanchthon hünfig
vor, und bis gegen sein Ende hin wird er nicht müde, Nutzen und Notwendigkeit
der Schule und die Pflicht des Staates zur Errichtung und Erhaltung von
Schulen zu predigen. Dabei hatte er aber mit mancherlei Schwierigkeiten und
Gegnern zu kämpfen: zunächst mit der gemeinen Roheit, die jedem höher»
Streben unzugänglich nud abgewandt ist, sodann mit den sogenannten Prcidi-
kanten, die gegen alles uicht biblische Wissen eiferten, was er thöricht und
gotteslästerlich nennt, endlich mit der starken Not der Zeit, dem Geldmangel,
der sich bei den Fürsten einstellte. Melanchthon verschließt sich der letzt¬
erwähnten Thatsache keineswegs, ist aber trotzdem gegen das „Sparen an diesem
notwendigen Werke," „denn — sagt er — soviel die Schule belanget, müssen
wir bedenken, daß wir Alte alle um der Jugend willen leben. . . . Stadt und
Regiment werden um der Jugend willen fürnehmlich gegeben und erhalten,
und nicht um der Alten willen." Darum preist er auch Städte wie Nürnberg
und Hamburg, wo man besonders bereit zu Geldvpfern für Schulen war; denn
diese sind ihm „der höchste Schmuck für Städte und Staaten." Das ist aber
nicht fo aufzufassen, als ob die Bildung, die sie verleihen, ihm ein Gegenstand
absoluten Wertes, also Selbstzweck wäre. Vielmehr dient sie, wie er immer
wieder betont, einem höhern Ganzen, den in einander greifenden Organismen
von Staat und Kirche, und damit stehen wir, wie Hartfelder scharfblickend
hervorhebt, vor einem charakteristischen Unterschiede des reinen Humanismus,
wie er sich in Italien und England ausbildete, und dem religiösen Humanis-
mus der Deutschen im Reformatiouszeitalter. „Das Ideal ist nicht etwa wie
bei der Erziehung der freien Bürger im Altertum Schulung der Kräfte ohne
Beziehung ans einen bestimmten Beruf, Durcharbeitung der Persönlichkeit,
Befähigung zum Handhaben des geistigen Schwertes und Leitzeugs zu¬
gleich, des Wortes. Die Kirche zunächst, dann der Staat braucht vielmehr
tüchtige Diener, und die soll die Schule ausbilden. Ihre Zöglinge sollen nicht
Männer werden, denen es genügt, ein Mensch zu sein, ein ganzer Mensch,
sondern die auf der Kanzel und in der Kanzlei, in der Schulstube und als
Seelsorger ihre Pflicht mit Sachkenntnis und Gewissenhaftigkeit erfüllen können."
Es konnte nicht ausbleiben, daß Melanchthon die ihm vor den Augen
stehende Schule an seinem Ideale maß und beurteilte, und für ihn als Universitäts¬
lehrer kamen dabei vorzüglich die Hochschulen in Betracht. Sein Urteil darüber
in der Oratio aäsrsuL 1lloiQu.ro. ?lÄv«zirtiuin lautet sehr abfällig. Sie sind
nicht von Päpsten, sondern vom Teufel gegründet, wie Wielif gesagt hat,
„Synagogen des Satans." Sie sind die Orte, „wo die Jünglinge, von Christo
weit entfernt, heidnischen Götzen geschlachtet werden. Das ergiebt sich schon
aus dem, was sie lehren. Nichts Nutzloseres als ihre Philosophie und ihre
Rechtswissenschaft, die der christlichen Lehre vollständig widerspricht. Niemand
soll für unterrichtet gelten, der nicht einen guten Teil seines Lebens an diese
alberne Philosophie verloren hat. Niemand soll ein öffentliches Amt bekleiden
können, der nicht ein Rechtsgelehrter, d. h. ein Zungendrescher und Windbeutel
ist. Was man kanonisches Recht nennt, ist nur die Tyrannei Roms. . . . Die
Theologie der Universitäten ist nichts als thörichte Verherrlichung von Nichtig¬
keiten, zusammcngeschustert (<zvQ8u.eg.s) aus der aristotelischen Philosophie und
dem abgeschmackten Rechte, das man als kanonisches bezeichnet, ein Wald von
Meinungen, die mit Christo nichts zu schaffen haben." Und mit der Lehre
stimmen die Sitten der Lernenden überein. „Die gegenwärtige Hochschule ist
ein Sumpf aller Laster, worin die Jugend durch die Nachsicht der Magister
in Üppigkeit und Sinnenlust untergeht. ..." Ebenso bedenklich sind die Gründe,
nach denen die Fakultät gewählt wird: den einen führen äußerer Glanz und
Ehrsucht zur Jurisprudenz, den andern treibt der Hunger zur Theologie.
Nirgends findet man mehr Gehässigkeit, nirgends sonst herrscht so unersättliche
Habgier, so viel Hochmut, Geschwollenheit und Aufgeblasenheit Ovariti»,, suxvr-
(ziliuw, trnnor «ze> tÄstus). Solche Schulen würden die Türken nicht ertragen;
wir aber dulden sie, weil sie eine Erfindung des Papstes, d. h. des Teufels
sind" u. s. w. Wir staunen über diese heftigen Ausdrücke und diese unbedingte
Verdammung der damaligen Hochschulen, zumal da der, der so hart urteilt,
sich den größten Teil seiner Bildung aus solchen erworben hat. Sie werden
aber begreiflich, wenn man sich ihren geschichtlichen Zusammenhang vergegen¬
wärtigt. Diese Äußerungen wurden 1521 gethan, wo Melanchthon sich in
vollständiger geistiger Abhängigkeit von Luther befand, der in seiner Schrift
„An den christlichen Adel deutscher Nation" ganz ähnliche Gedanken aus¬
spricht, und dessen unbedingte Verwerfung der mittelalterlichen Hochschulen eine
Phase in seinem Kampfe mit Rom ist. Er sah in ihnen die Hochburgen des
römischen Geistes in Deutschlands und so drang er auf ihre gründliche Um¬
gestaltung, Indes hat Melanchthon auch nach dem Verrauschen des ersten
Sturmes und Dranges der Reformation seine Überzeugung von der Not-
wendigkeit einer Neubildung der Universitäten festgehalten. Daß die scholastische
Philosophie und Theologie kein geeignetes Bildungsmittel sei und durch
biblische Theologie, Lektüre der Klassiker und Studium des Urtextes der heiligen
Schrift ersetzt werden müsse, blieb eine seiner Grundanschauungen, nur machte
er sie nicht mehr so grob und ungestüm geltend.
Wie sollte sich nnn nach Melanchthons grundsätzlichen Anschauungen über
Schulen nud Lehrer die neue Schule gestalten und gliedern? Für die Volks¬
schule, die unterste Stufe, haben wir keinen Plan von ihm. Der Humanist
sah im Latein die eigentliche Sprache des Unterrichts und der Bildung, und
so war ihm das erste Glied seines Organismus die dreiklassige Lateinschule,
die er im letzten Kapitel des „Unterrichts der Visitatvreu an die Pfarrherren
im Kurfürstentum Sachsen" (1528) zeichnet. In die unterste Klasse (Melanch¬
thon sagt „Haufen") werden die Anfänger verteilt, die man im Lesen und
Schreiben sowie in den einfachsten Regeln der lateinischen Grammatik unter¬
weise. Als Fibel dient „Der Kinder Handbüchlein" mit dem Alphabet, den
Geboten, dem Vaterunser und dem Glauben; die Anfangsgründe des Lateinischen
werden aus dem Donat und der Seutenzensammlung des Cato gelernt, womit
begonnen wird, sobald die Fibel eingeprägt ist. Haben die Schüler des ersten
Haufens ihr Ziel erreicht, so werden sie in den zweiten aufgenommen, wo
Musik (Gesang), Grammatik (hier die Hauptsache) und Religion gelehrt werden.
Man beginnt hier zur Befestigung der grammatischen Kenntnisse mit einer
Auslegung der Fabeln des Äfvp, die Wort für Wort mit Deklination und
Konjugation erklärt werden, was am nächsten Morgen von den Kindern wieder¬
holt wird. Haben sie auch die Regeln der Konstruktion sich angeeignet, so
läßt man sie fleißig konstruiren. Äsvp vertritt also die Stelle einer Chresto¬
mathie, eines Hilfsbuchs für die Grammatik, deren Deklinationen und Kon¬
jugationen an seinen lehrreichen Fabeln praktisch eingeübt werden. Nach der
Vesper soll hierauf die ?g,so!o1uKig, des Mosellanus, eine Sammlung von Ge¬
sprächen über verschiedne Gegenstände, meist des Unterrichts, erklärt werden.
Dann folgt eine Auswahl ans den OollocMg. des Erasmus. Nach dem Äsvp
wird der Lustspieldichter Terenz, auch wohl ein Stück von Plautus, „das rein
ist," gelesen, immer zum Zweck grammatischer Unterweisung. So geht es
die ganze Woche fort, außer am Mittwoch oder Sonnabend, wo Neligions-
stunde ist. Der Unterricht wird hier zunächst so betrieben, daß die Schüler
jeder der Reihe nach das Vaterunser, den Glauben und die zehn Gebote auf¬
sagen müssen. Ist das geschehen, so „soll sie der Schulmeister einfältig und
recht auslegen und deu Kindern die Stücke einbilden, die not sind, recht zu
leben, als Gottesfurcht, Glaube» und gute Werke." Daneben sollen die Knaben
eine Anzahl „leichte und klare" Psalmen auswendig lerne», und an demselben
Tage soll auch das Evangelium Matthäi und „wo die Knaben gewachsen
sind," die Briefe an den Timotheus oder die erste Epistel des Johannes oder
die Sprüche Salomonis (natürlich alles in lateinischen Texte) „Ural»lag>t,ivv
expvniret werden." Nach genügender Einübung der Grammatik soll aus den
geschicktesten Schillern der dritte Hause gebildet werden. Hier wird die Musik
täglich eine Stunde mit den beiden untern Klassen fortgetrieben, die gram¬
matische Kenntnis befestigt und durch Etymologie und Syntax erweitert und
dann zur Metrik übergegangen, die nicht nur zum Bersemachen befähigt, sondern
anch ihren Wortschatz mehrt und sie beredt macht. Als Schriftsteller, die zu
erklären seien, werden Vergil, Ovid (Metamorphosen) und Cieero (I)v »t'denn«
und die I?xist.ulÄL g,ä kamilmro-z) genannt. Jede Woche ist eine schriftliche
lateinische Arbeit in Gestalt eines Briefes oder einiger Verse anzufertigen. Ist
die Grammatik gehörig eingeübt, so werden die Knaben in die Dialektik und
Rhetorik eingeführt; außerdem müssen sie aligeleitet werden, lateinisch zu
sprechen, und der Schulmeister soll uach Möglichkeit nur in dieser Sprache
mit ihnen verkehren. Ähnlich diesem Schulplane ist der von Melanchthon und
Luther gemeinsam für das Städtchen Herzberg aufgestellte vom Jahre 15>'Z8.
Von den meisten Gegenständen unsrer heutigen Lehrpläne, z. B. von Mathe¬
matik, Geschichte, Geographie und Naturwissenschaften, ist weder hier noch dort
die Rede. Fremde Sprachen außer der lateinischen waren ausdrücklich, Übung
in der deutschen stillschweigend ausgeschlossen. Übrigens war die Melanch-
thonsche Schulordnung dieser Stufe keine ganz eigne Schöpfung des Refor¬
mators. Schon die meisten vorreformatorischen Lateinschulen zerfielen in drei
Klassen, und ebenso war der Lehrstoff bei ihnen sehr ähnlich dem der neuen
Schule. Dennoch unterschied sie sich wesentlich von jenen. Zunächst ist bei
ihr der .Kirchen- und Chorgesang, der viel Zeit wegnahm, bedeutend einge¬
schränkt und zu einigen Singstunden lind sonntäglicher Mitwirkung beim Gottes¬
dienste verkürzt. Dann verbannt Melanchthon nach leninistischer Überliefe¬
rung die nnttelalterliche Schulgrammatik, den Alexander de Villa Din, und
behält nur den Donat bei. Dafür schreibt er zur Förderung des Lateiulerneus
zwei typische Lehrlmcher des deutscheu Humanismus, die l'-uzclologig. des
Mosellanus und die Lolloqum des Erasmus vor. So ist seine Schulordnung
ein Kompromiß zwischen alter und neuer Methode. Dabei lehnte er aber alle
Übertreibung der Humanisten ab, die, um zu zeigen, was sie könnten, in der
Lateinschule auch Griechisch, ja Hebräisch lehren wollten, und war überhaupt
gegen alle Überbürdung.
Eine höhere Unterrichtsanstalt, die ein Bindeglied zwischen der gewöhn¬
lichen dreiklassigen Trivialschule und der Universität sein sollte, ist die „obere
Schule," die unter der Leitung Melanchthons zu Se. Ägidien in Nürnberg
neben den dortigen vier Lateinschulen gegründet wurde und die Schüler der
letztern, Ivenn sie sichere Kenntnis der lateinischen Grammatik erreicht hatten,
aufnehmen und weiter bilden sollte. Die Lehrgegenstände waren hier nnter
vier „Professores" verteilt, deren erster die Elemente der Dialektik nach der
Erasmischen Schrift Du ÄuMui uopm vörboruiu ut ruruin lehrte, lind „damit
es den Zuhörern nicht an Beispielen für die ^roh mangle," mit der Klasse die
eine oder die andre Rede Cieeros las. Hatten die Schüler Fortschritte gemacht,
so schritt er mit ihnen zur Beschäftigung mit den Schriften Quinetilians.
Zugleich leitete er an bestimmten Tagen Übungen im Disputiren, „damit die
Knaben in der Dialektik zuhause werden, Argumentn sammeln und deren Fehler¬
haftigkeit erkennen lernen." Ein zweiter Professor erklärte die lateinischen
Dichter, ein dritter trug Mathematik vor, und ein vierter lehrte die griechische
Sprache. Endlich hatte Melanchthon auch Cieeros Schrift Du (Mutis, deren
Erklärung sich bei seinen Vorschriften immer zu einer Art Vorlesung über
Ethik erweiterte, und Livius oder einen andern römischen Geschichtschreiber, an
denen die Schüler die mündliche oder schriftliche Nachbildung üben konnten, in
seinen Lektionsplan aufgenommen. Weil er aber der Ansicht war, daß alle aus
diese Wissenschaften verwendete Mühe vergeblich sei, wenn nicht eine beständige
Übung des Stiles hinzutrete, so ordnete er an, daß jede Woche eine schriftliche
Arbeit zu liefern sei, und zwar abwechselnd in Prosa oder in Versen. Die
Leitung dieser Übung wies er dein Professor zu, der die Erklärung der Dichter¬
werke übernommen hatte. Wie es scheint, hatte man für den Fall, daß diese
höhere Unterrichtsanstalt gedieh, die Absicht, an ihr auch noch zwei andre
Lehrstühle, einen für die Ausbildung von Rechtskundigen und einen für die
von Ärzten, zu errichten. Melanchthon hat nur die Grundzüge dieses Schul-
plnnes verfaßt; die Ausführung derselben konnte er seinem Freunde, dem
Humanisten Camerarius, überlassen, der sür eine der Professuren der Anstalt
gewonnen wurde. Die Ordnung für die „obere Schule" in Nürnberg ist ver¬
wandt mit einem aus dem Jahre 1525 stammenden Plane zur Gründung einer
Schule in Eisleben, der vielleicht von Melanchthon selbst herrührte, jedenfalls
aber von ihm durchgesehen und gutgeheißen worden ist. Diese Schule sollte
nur drei Klassen haben, da hier nicht auf so viele Zöglinge zu rechnen war
wie in Nürnberg, damals der größten und reichsten Stadt Deutschlands.
Aber aus der dritten oder obersten Klasse sollte eine Selekta der bessern Schüler
gebildet, und diese sollten dann fast in denselben Fächern unterrichtet werden
wie die der Schule des Camernrins, Das Griechische sollte hier nach dem
Lehrbuche des Okolampadius erlernt werden, und zur Lektüre werden von
Schriftwerken dieser Sprache einige Gespräche Lucians, von Dichtern Hesiod
und Homer empfohlen. Cieeros Buch von den Pflichten fehlt auch hier nicht,
ebensowenig die Beschäftigung mit römischen Geschichtschreibern, von denen
Livius und Sallust genannt werden, und die Einführung in das Studium der
Mnthenmtik. In dieser Lehrplan ist noch reicher als der Nürnberger, indem
er den Unterricht im Hebräischen und im totus orbis ^rtiuin vorschreibt oder
vielmehr zuläßt. Denn es wird mich hier vor Überbürdung gewarnt und
empfohlen, auf das Alter Rücksicht zu nehme« (sehn S8t InibLnäg, astiitis rxckio)
und erst nach gründlicher EinPrägung des Lateinischen an die höhern Studien
zu gehen. Beide Pläne sind Erzeugnisse eines humanistischen Idealismus, wie
namentlich die Aufnahme des Griechischen zeigt. Wir werden an das Ideal
erinnert, das Vertreter der Renaissance in Italien ausstellte«, wenn wir
Melanchthon dabei die Absicht kundgeben hören, „für gereiftere Jünglinge,
welche die Grammatik !d. h. die lateinische! vollständig innehaben, einen Unter¬
richt in der Redekunst der Alten und überhaupt in den freien Künsten und
Wissenschaften zu eröffnen." Zwar bereiteten diese höhern Schulen auch besser
für das Studiuni auf der Universität vor als die gewöhnlichen Trivial- oder
Lateinschulen, aber der dort erworbene Bildimgsschatz, die lÄoP,vnd,in, im
weitern Sinne, war nach der Ansicht der Humanisten etwas so Herrliches,
daß seine Erwerbung sich auch bei denen reichlich lohnte, die später nicht noch
eine Universität bezogen. Die Nürnberger Akademie, wie wir die „obere
Schule" jetzt nennen dürfen, war übrigens die Verwirklichung eines Vorschlags,
den Jakob Wimpfeling 1501, also mehr als anderthalb Jahrzehnte vor dem
Beginn der Reformation, dem Straßburger Rate ohne Erfolg unterbreitet hatte.
Dieser hat in seiner (ZörmMig, einen Abschnitt von der Einrichtung eiues
Gymnasiums für die in den Anfangsgründen des Schreibens unterrichteten
Knaben, worin er fragt: „Wäre es nicht besser, eure Söhne, die zu frühzeitig
aus der Kinderschule >d. h. Trivialschule! genommen werden, wenn sie kaum
die ersten Buchstaben lesen tourner, noch fünf oder mindestens drei Jahre zur
Erlernung der freien Künste auf ein Gymnasium zu schicken, das sich auch in
eurer Stadt gründen ließe? . . . Auf dieser Schule würde man nnr die Schriften
der Redner, der Sittenlehrer und der Geschichtschreiber lesen, die man nicht
allein sür den geistlichen, sondern auch, und zwar noch weit mehr, für den
bürgerlichen, den ritterlichen und den ratsherrlichen Stand als nützlich erachten
wird." Man sieht, es mangelte hier das Griechische, mit dem Wimpfeling selbst
nicht vertraut war, sonst aber siel sein Vorschlag fast gänzlich mit dein spätern
Nürnberger Plane zusammen. Die Ausführung des letztern wollte aber nicht
recht gelingen, obwohl der Rat mit der Schule ein Alumneum verband. Ein
Gutachten des Senators Baumgartner giebt als hauptsächlichsten Grund dasür
an, daß in den stürmischen Zeiten nicht viel Sinn für das Studiren vor¬
handen sei, weil die fetten Pfründen und Sinekuren, die früher für viele das
Ziel gewesen waren, von der Reformation beseitigt worden seien. Hartfelder
indes sieht die Hauptgründe davon, daß die Schöpfung nicht zur Blüte kam,
in andern Umständen. „Zu alleu Zeiten — sagt er — waren die Eltern, die
ihren Kindern eine echt wissenschaftliche Ausbildung ohne jeden praktischen
Nebenzweck gebe» wollen, sehr wenig zahlreich. Die Nürnberger Patrizier
hielten es für nützlicher, ihre Söhne nach Absvlvirung der Trivialschulen ins
Ausland zu schicken, als sie unter der Leitung von Cnmerarius und Hessus
in der griechischen Sprache und im Anfertigen lateinischer Berse unterrichten
zu lassen. . . . Die »obere Schule« Nürnbergs konnte ferner keine akade¬
mischen Grade, keine Titel verleihen, während die bescheidenste Artistenfakultät
im damaligen Deutschland noch das Recht hatte, Baccalaurei und Magistri
der freien Künste zu kreiren, ein Umstand, der umsomehr ins Gewicht fällt,
als es in dieser Zeit keine Staatsexamina gab." Auch der tüchtigste Schüler
der Nürnberger Akademie mußte also noch eine Universität beziehen, wenn ihn
ein akademischer Titel zieren sollte; alles aber, was man in Nürnberg lernen
konnte, wurde auch von den artistischen Fakultäten der Hochschulen gelehrt,
und so zogen es vermutlich viele Nürnberger vor, mit Umgehung jener reinen
GeisteSgymnastik sofort aus der gewöhnlichen Lateinschule auf die Universität
zu gehen. Endlich wurde es für die Nürnberger Schule verhängnisvoll, daß
mau sie anderwärts nicht nachahmte. Die „sunderlike Schote," mit der dies
in Braunschweig geplant wurde, kam nicht zustande.
enden es bekannt geworden ist, daß Bischer in seinein Roman
„Auch Einer" Züge seiner eignen Persönlichkeit dem originellen
Helden des Romans verliehen hat — und dies geschah gleich
nach dem Erscheinen des prächtigen Buches —, waren viele, die
ihn nicht persönlich gekannt haben, geneigt, den Albert Einhar
mit seinein Schöpfer ganz zu identifiziren. Und der liebevolle Aufsatz, deu
Gottfried Keller zu Bischers achtzigstem Geburtstage veröffentlichte, konnte
diese Meinung nnr befestigen. Albert Einhard ist mit seinem mitleidsvollen
Herzen, mit seinem in dem „obern Stockwerk" des Denkens mehr als in
dem „untern" des irdischen Alltagslebens heimischen Geiste gewiß ein Ehrent
manu. Aber derselbe Einhard ist auch ein humoristisches Original, ein drolliger
Kauz mit seiner unbeholfnen Kurzsichtigkeit, mit seinem Jähzorn, mit seinen
Wutanfällen, und unser Respekt vor ihm wird von dem Lächeln über seine
etwas täppische Gelehrteuart sehr beeinträchtigt. Den größten Prosaiker unsrer-
Zeit, den Begründer unsrer Ästhetik sich als ein „Original" vorstellen zu müssen,
konnte aber kaum erfreulich sein. Daß uns nun dieses mehr tragisch-rührende
als ehrfurchtgebietende Bild Wischers durch ein andres, würdigeres, mit liebe¬
vollster Sorgfalt und mit vertrauenerweckender Wahrhaftigkeit aus genauer
Kenntnis des wirklichen Bischer entworfenes Bild ersetzt wird, verdanken wir
den Vischer-Erinnerungen von Ilse Frapan.'^) Dies heben wir zunächst
als ein unzweifelhaftes Verdienst ihres liebenswürdigen Buches hervor. Wenn
es anch sonst nichts als diese Belehrung erteilte, so wäre seine Veröffentlichung,
die von manchen Seiten mit Tadel aufgenommen worden ist, durchaus gerecht¬
fertigt. Ilse Frapan hat Bischer erst in seinen letzten Lebensjahren, 1883,
kennen gelernt. Bon Hamburg aus war sie lernbegierig nach Stuttgart ge¬
pilgert, nachdem ein aufmunternder Brief Bischers und sein Roman sie in
Begeisterung für ihn versetzt hatten. Er selbst war es dann, der sie in die
Stuttgarter Gesellschaftskreise einführte, und sie hatte bis zu seinem achtzigsten
Geburtstage (30. Juni 1886) viel Gelegenheit, ihn im Hörsanl, im eignen
Heim und in Gesellschaft zu hören, zu sehen und zu sprechen. Sie machte
sich fleißig Notizen, schrieb alles auf, was ihr von seinen Gesprächen und
Äußerungen im Gedächtnis blieb, vertiefte sich, wie man anerkennen muß, mit
Erfolg in seine Lehre und in seine Dichtungen, horchte auch auf das, was
andre Menschen seines Kreises von ihm zu erzählen wußten, kam sogar mit
seiner Familie in nähere Berührung, und aus diesem reichen Stoff entstand
ihr Buch. Dies Buch soll weder der in Aussicht gestellte» ausführlichen
Lebensbeschreibung Wischers von Richard Weltrich, noch der Ausgabe von
Vischers Briefen, die sein Sohn plant, den Weg verstellen; es soll nur einst¬
weilen, bis jene schwer herzustellenden Werke erschienen sein werden, dem Kreise
von Verehrern Bischers, der wohl das ganze deutsche Volk umsaßt, das Bild
seiner Persönlichkeit vermitteln. Und das ist ein dankenswertes Unternehmen.
Denn Friedrich Theodor Bischer gehört zu jenen höchst seltenen litterarischen
Charakteren, in denen sich der Mensch völlig mit dem Schriftsteller deckt. Seine
Schriften sind Teile seines Lebens, wie bei allen richtigen Künstlernaturen,
und seine volle Persönlichkeit kommt anch in kleinen, zufälligen Äußerungen
seiner Seele zum Ausdruck. Er ist eine jener großen Naturen, die von allen
Seiten gleich zugänglich sind, da er sich immer, ohne es unmittelbar zu be¬
absichtige», als solche ganz gab. Darum der Wert der Anekdote für die
Kenntnis seines Charakters, darum unser lebhaftes Interesse für sein ganzes
Privatleben. Bischer ist einer der wahrhaft großen Typen unsers Volkes, und
er wird es noch mehr werden, je mehr die Wissenschaft sein Bild im Geiste
ausgestalten wird. Eigentlich ist seine Schriftstellerei bei seinen Lebzeiten zu
sehr auf den Kreis der Gelehrten, der Fachmänner, der Höhergelnldeten be¬
schränkt geblieben; Bischer setzt zu viel voraus, um auch weitern Schichten leicht
zugänglich zu Seitn Als Dahingeschiedener jedoch wird er zu neuem Leben
erstehen und der Nation persönlich so vertraut werden, wie nur jemals ihre
größten Männer. Man sagt oft, die beste Probe für den Wert einer Philo¬
sophie biete die Betrachtung des Lebens ihres Schöpfers. Denn zunächst an
sich selbst müßte ja der Denker den Wert seiner Weltanschauung erfahren habe».
Wer z.B. die Lebensgeschichte Arthur Schopenhauers kennt, mit dem sich Bischer
in „Auch Einer" so eindringlich auseinandersetzt, der wird wenig Bertrauen
zu seiner Lebenslehre gewinnen; dies ist allerdings ein Urteil vom praktisch-
endämvnistischen Standpunkte, der zwar nicht genügt, wissenschaftliche Leistungen
zu beurteilen, der aber gleichwohl seine gute Berechtigung hat. Am Ende soll
uns jn unser ganzes wissenschaftliches Denken lind Trachten zu einer würdigen
und befriedigenden Lebensführung verhelfen. Schopenhauer ist kein solcher
Führer fürs Leben, kein Mann, der jemals vorbildlich werden kann; Bischer
ist es in vollem Maße. Das lehren uns die Erinnerungen von Ilse Frapan,
und deswegen ist uns ihr parteiisch angegriffenes Buch lieb geworden.
Ilse Frapan hatte sich Bischer i» der Ferne groß und stark wie einen
Bismarck vorgestellt, er hatte aber eine kleine Figur, war schmächtig und edel
gestaltet, mit einem durchgeistigteil Gesicht und mit einer mächtigen Denker-
stirn, und doch war er nichts weniger als ein scheuer Stubengelehrter. Schon
in seiner Jugend pflegte er körperliche.Künste, Fechten, Schießen, Reiten, Turme»,
er war ein kühner Bergsteiger, und bis ins hohe Alter bewahrte er sich die
Kraft, zehllstnndige Tagesmärsche zu macheu. Auch persönlicher Mut zeichnete
ihn aus, auf seinen zahlreichen einsamen Wanderungen durch Italien hatte er
vielfach Gelegenheit, ihn zu bewähren, wobei sich seine Klugheit heiter mit der
Tapferkeit paarte.
Eine hübsche Geschichte erzählt ihm die Berfasserin nach. „Ein andermal
kam ich spät abends in Neapel um, »ahn zwei Pactträger und wanderte von
Hotel zu Hotel, ohne irgendwo ein Zimmer frei zu finden. Die Träger
brummten schon, denn es war nach Mitternacht. Zuletzt erhielt ich in einem
Gasthof uoch ein schlechtes Logis, fünf Stock hoch; der müde Hausknecht, der
es mir gezeigt hatte, verschwand sogleich wieder, in dem ganzen Hause regte
sich nichts mehr. Ich gab den Trägern, hohen, kräftige» Burschen, mit denen
ich mich da oben ganz allein befand, einen entsprechenden Lohn, da sie so lange
mit mir hatten laufen müssen. Da schleudert der eine Kerl das aufgezählte
Geld gerade so vom Tisch und ruft, das sei zu wenig, und beide stellen sich in
drohender Haltung vor mich hin. Hätte ich nur im geringsten Furcht gezeigt,
wer weiß, was geschehen wäre; ich thue also, als ob ich furchtbar wütend
würde, rolle die Augen, beiße die Zähne auf einander und fange so an zu
zittern, daß ich den Tisch umwerfe, dann thue ich einen Satz auf die .Kerle zu.
Da hätten Sie sehen sollen, wie sie zurückwichen, sich nach dem Gelde bückten,
Entschuldigungen stammelten und sogleich hinaus und die Treppe hinuuter-
liefeu." Und Ilse Frapan fügt hinzu: „Dies gelegentliche Auftrete» als Ber¬
serker war ihm selber höchst vergnüglich, und wie lustig war es, ihn sich in
solchen Abenteuern zu deuteln ,. . Wenn er seinen Einhard sterben läßt im
Kampf mit einem rohen Tierqnäler, so war das ein Geschick, das ihn selbst
leicht hätte treffen können. Zumal in Italien, wo es mit der Mißhandlung
der Zug- und Reittiere so unverbesserlich arg ist, hat er ein paarmal einen
Betturiu, der auf Ermahnungen nicht hörte, mit Faustschlägen trat'dire. Es
wurde selbst zum Messer gegriffen, doch rettete ihn sein Mut, vor dein sich
der rohe Feigling beugte. Bischer war ebeu ein durch und durch streitbarer
Mann; wo Worte nicht fruchteten, da trat er mit seiner tapfern Hand ein."
Von Wischers Liebe zu den Tieren weiß die Verfasserin unzählige Ge¬
schichten zu erzählen. Er bekundete sie von Jugend auf. In seiner Studir-
stuöe waren zwei Katzen und ein Hund stets um ihn; er ließ sich von den
Tieren alles gefallen; das eine junge Kätzchen durfte ihm auf den Rücken
springen, wenn er auf der Leiter seines Büchergestells emporstieg. Ein echt
Vischerscher Spaß wird im folgenden erzählt. „Dies nahe vertrauliche Zu¬
sammensein mit den Hallstieren (es waren gewöhnlich auch ein Paar Katzen
da, und A'cmthos hatte oft Besuch von Nachbarshnnden) gab dem »bücher¬
reichen Orte« etwas Anheimelndes, Belebtes, Heiteres, Natürliches. Es war
wie eine sogleich sichtbare Verkündigung, daß hier Pedanterie und steife Würde
nicht gedeihen könnten, schnell aus der Fassung kommen müßten. Denn
wenn auch der Rattenfänger nach wvhlgezogener Hundeart durchaus Ordre
parirte, so hatte er doch allerlei Launen, wollte bald hinaus zur Rike, bald
wieder kratzte er draußen, um Einlaß bettelnd, oder er verlangte, ins Schlaf¬
zimmer gelassen zu werden, um dort — an der Bettstatt sich den Pelz zu
reiben! Wenn man seine Tiere lieb hat, läßt man sie nicht umsonst winseln.
Bischer stand gelassen ans und Verbannte sie keiner solchen Kindernngeduld
wegen aus seiner Nähe. Er kannte all ihre Einfälle und spürte ihnen mit
phantasievvllem Humor nach. So lachte er einmal hell auf, als der Hund
im Nebenzimmer ingrimmig bellte. »Da sehen Sie — rief er — jetzt hat er
sich wieder an der Bettstatt kratzen wollen, aber wie das so geht, ist von dein
Reiben das Jucken ärger geworden. Jetzt bellt er den Dämon an, der da in
der Bettstatt steckt, so macht ers allemal!«" Dieser Xanthos mit seinem fröh¬
lichen Bellen und Springen war Wischers unzertrennlicher Begleiter, auch wenn
der Herr Besuche machte. In Stuttgart unterschied man die beiden Pro¬
fessoren Bischer und Fischer durch die Hiuzufüguiig: mit oder ohne Hund.
Auch von der Leutseligkeit dieses Tierfreundes weiß Ilse Frapan nicht
minder bezeichnende Geschichten zu erzählen. Seiner alten Wirtschafterin, die
für den großen bescheidne» Mann natürlich durchs Feuer ging, leistete Bischer
täglich eine Welle Gesellschaft, damit sie sich in der Einsamkeit bei ihm nicht
zu sehr langweilte. Im Wirtshause setzte er sich abends, wenn er keinen seiner
alten Herren traf, oft an den Tisch der Studenten und machte Scherze mit ihnen.
Kaum wies er je einen Besuch ab; mitten von der Arbeit stand er auf, ihn
zu empfangen. Briefschulden nahm er sehr gewissenhaft, so sauer es ihm oft
ankam, alle dichterischen Zusendungen zu beurteilen. Wenn er tadeln oder
ablehnen mußte, so hüllte er sein Urteil in die mildesten Worte. Für Frnueu
hatte er die größte Artigkeit bereit. Er verfehlte keinen der bestimmten Kaffee¬
abende bei den alten Freundinnen, Pfarrerin Hartlaub, Witwe Märklin n. s. w.,
weil er wußte, wie viel Freude er ihnen machte. Dabei war er unerschöpflich
in Erzählungen aus seinem langen, erfahrungsreicher Leben, von seinen
Freunden Mörike, Strauß, Auerbach, vou seinen Wanderungen durch Griechen¬
land, Italien, Deutschland, von seinen Beobachtungen des Volkslebens an allen
Orten. Bischer hatte die seltne Gabe, sich mit dem Boll unmittelbar ver¬
ständigen zu können. „Die Bauern der Dörfer, in denen er Geistlicher ge¬
wesen, die Wirtsleute, bei denen er abgestiegen war, die Leute, die für ihn
gearbeitet hatten, alle erinnerten sich gern an ihn, wußten von ihm zu erzählen.
Seine Schwägerin sagte mir mit Recht: »Großen Anteil an diesem Eindruck
hatte seiue sympathische Stimme, denn für diese haben die Menschen oft viel
mehr Empfindung als für die Worte«. Als in den siebziger Jahren Krawall
in Stuttgart war, fand Bischer, als er zum Nachtessen in sein Wirtshaus
»Zur Schule« gehen wollte, die Straßen von einer Linie Soldaten gesperrt.
Keine Möglichkeit, in die Quergasse zu gelange«, sie hielte» die Bajonette vor.
Da trat er auf einen der wackern Burschen zu und sagte- »Wisset Sie, jetzt
hab' i de ganze Tag «.'schafft, jetzt muß i an ebbes z'esse hau ^ lasse Sie
mi durch, daß i in mein' Kneip komm.« Der Soldat sah ihm ins Gesicht:
»Ja, besah wieder ebbes anders,« erwiederte er kopfnickend, und Bischer konnte
ungehindert durchgehe,?." Diese seine gute Laune nahm Bischer auch aufs
Katheder mit. „Als er in Tübingen Kolleg las, nahmen sich auf den hintersten
Bänken einige junge Leute die Freiheit zu rauchen. »Meine Herren — rief
er — ich mache Ihnen hier keinen blauen Dunst vor, ich ersuche Sie, mir
aber auch keinen vorzumachen.«" Nichts war ihm widerwärtiger als Senti¬
mentalität. Er war streug gegen alles, was bloße Schwärmerei, Gefühls-
schwelgerei genannt werden kann. So sagte er einmal in einer Vorlesung:
„Gefühl hat keinen Paß! zu den? Gefühl sagt man mit Recht: weise dich durch
Thaten aus als das, was du zu sein behauptest — nicht durch die enthusi¬
astische That, die beweist nichts, aber durch lauge Geduldsproben, durch Ent¬
sagung, durch Aufopferung. Mit seinem Hymnus auf das - Gefühl, das alles
ist« wird FausteGretchens Mörder."
Von Bischer auf dem Katheder berichtet Ilse Frapan mit wahrer Be-
geisterung. Im höchsten Maße besaß er die Kunst zu sprechen, dichterische
Stellen vorzulesen, so zu lesen, daß er weder zu Schauspielern noch zu dekla-
miren brauchte, um den Text zur vollen Wirkung zu bringen. Schon im
Frankfurter Parlanrent sagte man von seiner Kunst zu sprechen, er sei ein
„Zauberer." Fürs Kolleg bereitete er sich stets gewissenhaft stundenlang vor,
machte sich mit allen neuen Erscheinungen bekannt und war immer nen, wem?
sich auch der Cyklus seiner Vorträge nach sechs bis acht Semestern wieder¬
holte Er sprach ganz frei, ließ sich vom Augenblick bestimmen, war wirklich
schöpferisch während seiner Rede und darum von mächtiger Wirkung. Tages¬
ereignisse streifte er auch in seinen Vorlesungen, und wenn etwas Wichtiges ge¬
schehen war, war seine Zuhörerschaft schon im voraus neugierig darauf, wie er
zu dem Ereignis Stellung nehmen würde. Seine Vorlesungen am Stuttgarter
Polytechnikum waren demnach ein wahres Fest für eine große Gemeinde. In
vollen Hnufeu strömten Studenten und alte Herren, junge und alte Frauen
in deu geräumigen Hörsaal, so daß er die Menge kaum zu fassen vermochte.
Trotz der dicht vor seinem Katheder sitzenden Damen, begann er seine Rede
immer nur mit der Ansprache: „Meine Herren!" was aber die Frauen, wie
Ilse Frapan versichert, keineswegs verletzte; die Ansprache sagte ja, daß er
keinen schöngeistig-populären Vortrag, sondern ernst zu sprechen vorhabe. Er
»ahn auch sonst keine Rücksicht auf das gemischte Publikum seines Hörsaals,
sondern setzte immer nur begabte Studenten auf den Bänken voraus. So z.V.
„wenn er bei der Untersuchung der Frage »Wer ist ein Dichter?« anfing:
»Es hat einmal eine alte Perrücke gegeben, die poetische Werke nur immer
auf ihren moralischen Nutzen hin betrachtet und geschätzt hat. Diese alte
Perrücke ist längst lächerlich geworden, und wenn man nnr den Namen nennt,
Gottsched.... (allgemeines Gelächter). Ja, meine Herren, und sollte mau
es glauben, daß dieser soviel belachte alte Herr noch heute höchst lebendig ist?
Daß er seinen Puder über unzählige Köpfe ausgeschüttet hat, die alle noch
heutzutage ein Kunstwerk darauf hin umsehen: was kann man daraus lernen?
(Es war merkwürdig, wie schnell das Lachen verstummte, als er das sagte.)
Ich aber sage Ihnen: Wenn mau sich belehren will, so nehme mau ein Lehr¬
buch in die Hund, und wenn man sich bessern will, so soll mau in eine
Predigt gehen, oder wenn man es nicht mag, zu einem Menschen, auf dessen
Charakter man großes Vertrauen setzt, nud soll sich von dem raten lassen.
Aber wenn mau vor einem Kunstwerk steht, so soll man nur rein schauen.
Und wenn Sie mich nun fragen: »Was ist deun reine Anschauung?« so sage
ich Ihnen: »Reine Anschauung ist reine Anschauung, und damit Punktum.«
Er hat, fährt die Erzählerin fort, nachher denn doch diesen Begriff weiter definirt,
aber das »Punktum« hatte ja auch seine volle Richtigkeit, denn wer die Gabe
der »reinen Anschauung« nicht besitzt, dem wird keine Definition etwas helfen."
So feinsinnig und treffend diese Anmerkung ist, so vorzüglich ist die ganze
Charakteristik, die Ilse Frapan von Bischer im Hörsaal liefert; wir können hier
aber doch nur darauf verweisen. Ihre Erinnerungen überschütten uns mit
einer Menge höchst interessanter Einzelheiten; so erfahren wir z. B., wie und
wann Vischer zum erstenmale unter der Maske des biedern Schartenmaher seinen
Sang ertönen ließ, wie sein Verhältnis zu Strauß schließlich war, wie tief
Vischer Mörike liebte, mit welcher Begeisterung er von Italien, zumal von
Venedig sprach, wie er sich über die oberflächliche Kritik der Zeitungen beim
Erscheinen seines „Faust. Dritter Teil" ärgerte, und noch tausend andre Dinge.
Einige Mitteilungen wollen wir schließlich noch hervorheben.
Der demokratische Republikaner vou Anno der Vischer war, hatte
sich doch ganz mit der Entwicklung der deutschen Politik versöhnt, er war sogar
streng reichstreu geworden. „Die »Frankfurter Zeitung« taugt nicht, sagte er
einmal, sie rüttelt am Reich." „Darum waren ihm die alten Römer so ehr¬
würdig und großartig, weil sie den Staat geschaffen hatten, die strenge Staats¬
idee; »Aufgehen des Einzelnen im allgemeinen, das ist ja Religion.« Gelegentlich
der Partien im Faust über die »Roten« sagte mir Vischer einmal- »Es ist ein
Unglück für uns, daß wir in Deutschland keine reine, d. h. unbescholtene Oppo¬
sition haben. Aus Richters Munde ist noch nie irgend ein hohes, schwung¬
volles, bedeutendes Wort über den Staat und Staatsbürgerpflicht hervor¬
gegangen.« Dann sprach er über die Heiligkeit und Ewigkeit des Staates und
kam so auf die Staatsform: »In, sagte er, Monarchie muß sein, es geht
schwerlich anders, aber weils doch nun ein Muß ist, dünn auch ganz ohne
Sentimentalität für die Person, die an der Spitze steht.«" Vischers idealster
Traum war eine politische Vereinigung aller germanischen Völker vom Nordkap
bis zu deu Alpen. Die Russen haßte er so wie ein Grieche die Perser; er
hielt sie noch für schlimmere Barbaren. „In Rußland ist ja der Beamtenstand
verfault, und das ist das ärgste." „Oft war er unzufrieden, daß Fraukreich
nicht vergesse»? wollte; und daß auch wir Deutschen dadurch immer wieder zu
feindseliger Gesinnung gegen unsre westlichen Nachbarn gereizt würden. »Ich
möchte einen Aufsatz schreiben,« sagte er nicht lange vor seinem Tode, »Die Ver¬
nunft in der Weltgeschichte,« und möchte aus Leibeskräften darauf hinweisen,
daß Frankreich und Deutschland als die zwei bedeutendsten Kulturnationen
Europas sich vielmehr verbinden sollten, statt sich zu bekriegen, und zwar ver¬
binden gegen Rußland, gegen die Barbaren!«"
Natürlich weiß die Erzählerin viele höchst interessante Urteile Vischers
über einzelne moderne Dichter, über Keller, C. F. Meyer, Hebbel (Tagebücher),
Mörike, Paul Heyse u. a. in. zu verzeichnen. Als „Auch Einer" erschien,
bezeichnete die unglückliche Rezensentin der Nativnalzeitung, Bertha Glogau,
den Roman abgeschmackterweise als ein Pasquill auf Gottfried Keller. Sie
konnte dein größten Verehrer des Züricher Meisters keinen größern Schmerz
bereiten als dnrch diesen läppischen Vorwurf. Vischers Urteil über einen unsrer
begabtesten jüngern Dichter, über Haus Hoffmann, ist besonders wertvoll:
„Hans Hoffmann, den ich noch nicht kannte, erzählt die Verfasserin, enrpfahk
er mir sehr, besonders den schauerlich-großartigen »Hexenprediger«; »Im Lande
der Phäaken« gefiel ihm auch. Doch hatte er seine Bedenken. »Ob diese
tragischen Ausgänge geradezu gefordert sind durch die Charaktere, darüber ließe
sich sehr streiten.«" Die Härte in den tragischen Novellen Hoffmanns hat er
also auch mißbilligt.
Doch genug der Proben und Auszüge. Sie sollen dem hübschen Buche
der begeisterten und kunstbegabten Verehrerin Vischers nur Leser und gerechte
Anerkennung schaffen, aber auch unsre im Eingange aufgestellte Behauptung
bestätige», daß Bischer Persönlich uns nach seinem irdischen Tode erst recht
derer geworden sei.
Während unser Aufsatz in Ur. 41 und 42 der „Greuz-
bote»" in die Welt hinausgeht, sehen Nur die Koalition, das Kartell der Manchester-
»uiuner, der Großfinanz und der Partitularisleu eifrig an der Arbeit, daß die
Entscheidung der Bankfrage durch unsre Reichsgesetzgebung verpfuscht werde. In
die Spalten der besten, nativualgesiuutesteu Zeitungen werden Kuckuckseier hinein¬
gelegt. Da wird gesagt, süddeutsche Patrioten mit warmen Herzen für das Reich
wollten von ihren Einrichtungen nicht lassen. Aber Gründe, warum dieser Parti-
iülarismnS gerechtfertigt sei, vermag kein Mensch beizubringen. Wahrscheinlich
rühren diese Wehklagen vou den Schlaumeiern der Großfinanz her. lind was
das Reich, wenn es die jetzige Reichsbmll mit Privatkapital beließe, vom Ge¬
winn außer seinen jetzige» Bezügen erhalten soll, beruht zumeist auf einer
Mißachtung der Bestimmungen in t? 24 und 41 des Bankgesetzes, wonach dem
Reiche vlmehi» die Hälfte von den Rücklage» (dem Reservefonds) zukommt. So¬
weit aber die unklaren Borschläge doch dem Reiche etwas gewähren »vollen, ist
das Gebotene el» Linsengericht. Also: Reichsregierung und Reichstag, haltet die
Auge» a»f!
Das Schul¬
wesen Sachsens erfreut sich eines sehr guten Rufes im Inlande wie im Aus¬
lande; die Organisation scheint glücklich, die Dotation im allgemeinen ausgiebig
zu sein. In Bezug auf die Gehalte trifft aber die Auunhme besonders günstiger
Verhältnisse mir bedingt zu, nämlich bezüglich der Volksschule und der Hochschule.
Bei der Hochschule erfolgt die Feststellung des Gehaltes je uach der wisseuschnft-
lichen Bedeutiuig der Person, die gewonnen tverde» soll, n»o ist demgemäß sehr
dehnbar. Bei der Volksschule, wo kleinste und größte Leistungen einander uiiher
liegen, bestehe» natürlich feste Sätze, und diese sind, soviel wir wissen, höher als
irgendwo in Deutschland, entsprechend dem Wohlstande des Landes, das mehr bieten
kann als andre, und wohl much gern mehr bietet, um deu Lehrer nicht ungünstig
abstechen zu lassen. Die Lehrer an deu höhern Schulen aber, die nach Vorbildung
und Thätigkeit eine mittlere Stellung einnehmen und einnehmen sollen, sind nicht
so befriedigend gestellt.
Die jetzt bestehende Ordnung der Gehaltsverhältnisse der Volksschullehrer ist
unter wiederholter Anregung des Landtages entstanden. Die Gehalte der juristisch
gebildeten Staatsbeamten verdanken ihre jetzige Hohe einem rasch erzielten Einver¬
ständnis der maßgebenden Kreise. Ihre Pensionsverhältnisse wurden im Jahre
1876 nen geordnet. Diese Neuordnung kommt allen Zivilstaatsdienern, d. h. außer
den Juristen, auch den Expedienten u. s. w., zu gute. Man hat damals im Land¬
tage nicht das Bedürfnis nach einer gleichzeitigen entsprechenden Aufbesserung der
Gehalte der akademisch gebildeten Lehrer an den höhern Schulen empfunden, und
auch von der Regierung ist damals eine derartige Ausgleichung nicht in Borschlag
gebracht worden. So kommt es, daß das Prinzip der Alterszulagen bisher ans
die Volksschule beschränkt geblieben und erst ganz neuerdings in den höhern Schulen
Dresdens und Leipzigs angewendet worden ist (unbeschadet der sonstigen Gleichheit
der dortigen Gehaltssätze mit denen an den staatlichen Lehranstalten), und daß ferner
die Staatsdiener (im Sinne des sächsischen Zivilstaatsdienergesetzes) in ihren hohen
Gehaltssätzen, die z. B. die preußischen wesentlich übertreffen, einen gewissen Ersatz
für den Mangel der in Preußen bestehenden Wohnungsentschädigung sehen können,
während sich die Gehalte der sächsischen Gymnasiallehrer trotz des Mangels eben
dieses Wvhnnngszuschnsses im Durchschnitt nicht sehr hoch über das preußische
Fixnm erheben.
Es wird den Uneingeweihten vielleicht überraschen, wenn er hört, wie groß
der Abstand zwischen den Gehalten des Richterstandes und der akademisch gebildeten
Lehrerschaft in Sachsen ist. Von den 367 ständigen Richtern und Stantsanwälten
(ungerechnet die GerichtSdirektvren) bezogen in den Jahren l 384/85 125 einen
GeHall von 5400 Mark und darüber (51 einen Gehalt von 6000 bis 7500 Mary;
einen Gehalt von 5400 Mark muß der sächsische Richter unter allen Umständen
erreichen. Bei den 240 ständigen Lehrern an den Gymnasien und Realgymnasien
königlicher Kollatnr finden wir Ostern 1889 den Gehaltssatz von 5400 Mark, der
überhaupt (immer mit Ausnahme der Direktoren) der höchste erreichbare ist, nur
zwölfmal vertreten. Die Ständigkeit tritt zur Zeit bei den Oberlehrern keineswegs
früher ein als gegen das dreißigste Lebensjahr, sodaß der jetzt in eine ständige
Stelle einrückende Lehrer nahezu vierzig Jahre all wird, ehe er much nur in die
Klasse von 3000 Mark aufsteigen kaun.
Doppelt drücken diese Verhältnisse ans die Oberlehrer der großer» Städte,
die vielfach die größere Schülerzahl, also auch die größere Arbeit haben und dabei
doch zugleich weit größere Ausgaben, vor allen Dingen für Wohnung, bestreiten
müssen. Berlin bietet — mit Dresden in der Servisklasse ^ stehend*) — den
Oberlehrern und, seit 1836, auch den ordentlichen Lehrern eines Gymnasiums
oder Realgymnasiums 300 Mark Wvhnungsznschuß*); in den Städten erster
Servisklcisse — zu denen in Sachsen Leipzig, Chemnitz, Zwickau zu rechnen sein
würden — haben die betreffenden Zuschüsse eine Höhe von 660 Mark. Der sächsische
Gymnasiallehrer, der nicht zufällig über Privatvermögen verfügt — und das sind
doch die wenigsten —, ist deshalb in ungesundein Maße ans Nebenerwerb ange¬
wiesen, ja es ist sogar einmal geschehen, daß eine Deputation der zweiten Kammer
in ihrem Bericht ihn achselzuckend auf Pensionäre und Privatunterricht vertröstet
hat, als ob derartiger Nebenerwerb für jeden zu haben und für alle durchführbar
wäre, und als ob nicht der Staat grundsätzlich die Kraft seiner Lehrer ganz für
den unmittelbaren nud mittelbaren Dienst an der Schule begehrte, als ob er nicht
besonders die Muße der akademisch gebildeten nnter ihnen für wissenschaftliche
Weiterbildung verwendet wünschte, die der Lehrer einer höhern Schulanstalt in der
That nicht entbehren kann, wenn er seine Stellung ausfüllen will.
Eine gesetzliche Regelung der Pensionsverhältnisse hat ja stattgefunden, aber es
ist nur das Gesetz über die Emeritiruug der Volksschullehrer vom Jahre 1370
zwei Jahre uach seinem Erscheinen ans die akademisch gebildete Lehrerschaft der
höhern Schulen ausgedehnt worden; begreiflicherweise beruht dieses auf ganz andern
thatsächlichen Grundlagen, als sie bei den Oberlehrern der Gymnasien und Real¬
gymnasien zutreffen. Der Volksschullehrer beendet seine Vorbereitungszeit mit dem
zwanzigsten Jahre, der Gymnasiallehrer mit dem vierundzwanzigsten und, wenn er
als Freiwilliger gedient hat, mit dem fünfundzwanzigsten Jahre. Die Aufwendungen
für Vorbildung und Unterhalt sind gar nicht zu vergleichen. Die feste Anstellung
erfolgt bei dem Gymnasiallehrer heutzutage erst gegen das dreißigste Jahr hin, und
von dn wird seine für die Pension in Betracht kommende Dienstzeit gerechnet, bei
dein Volksschullehrer läuft diese nach den gesetzlichen Vorschriften im allerungünstigsten
Falle vom fttichindzwanzigsteu Lebensjahre. Der höchste Pensionssatz von achtzig
Prozent, der unes fünfundvierzig Dieustjahren eintritt, trifft den Gymnasiallehrer
meist uicht mehr unter den Lebenden.
Da inzwischen (im Jahre 1876) das oben erwähnte Gesetz über die Pensivns-
verhältnisse der Zivilflaatsdiener erlassen worden ist, so ist im Kreise der akademisch
gebildeten Lehrerschaft Sachsens der Wunsch immer lebhafter geworden, einen ihren
Bedürfnissen entsprechenden Pensionssatz durch Angliederung an die ..Staatsdiener''
zu erstreben, sei es, daß man sie geradezu zu solchen erklärt, sei es, daß man
sie wenigstens ähnlich wie diese behandelt. Das erstere wäre das erwünschtere,
mich natürlichere, weil damit zugleich die gesellschaftliche Stellung der Oberlehrer,
die gegenwärtig nicht eben fest ausgeprägt erscheint, eine Klärung erführe, eine
Klärung in demselben Sinne, wie man sie in Preußen bereits hat eintreten lassen,
und wie man sie wohl niemals grundsätzlich als unbillig empfunden hat, auch in
Sachsen uicht, wo wenigstens ein Teil der vorerwähnten Deputation des Landtages
der Meinung Ausdruck gab, daß „den geistigen Pflegern der Zukunft, den Lehrern
der künftige,: Träger der allgemeinen Bildung, die Gleichstellung mit verwandten
Benmteutreisen nicht vorzuenthalten" sei.
Auf jeden Fall würde die Anwendung des Pensionsgesetzes der Staatsdiener
(un Sinne des sächsischen Stantsdienergesetzes) auf die akademisch gebildete Lehrer-
Schuft des Landes diese in die Lage bringen, die höchste Pension von achtzig Pro¬
zent sich bereits nach vierzig Jahren verdient zu haben, und ihr anch schon vom
siebzehnten Dienstjahre an einen höhern Satz zuweisen, als es das Pensionsgcsetz
für die Volksschullehrer thut. Auch würden die, die einjährig gedient haben, in¬
sofern nicht hinter den gleichalterigen Genossen zurückbleiben, als dann dieses Jahr
des Militärdienstes wenigstens bei der Berechnung der Peusionshöhe mitgezählt
werden würde.
Die Abgliedernng von den in ganz andern Lebens-, Bildungs- und Alters¬
verhältnissen befindlichen Nollsschnllehrern in der Regelung ihrer Pensionen kann
für die Gymnasiallehrer bei dieser Verschiedenheit unmöglich lauge auf sich warten lassen.
Für die Befreiung derselben ans ihrem engen Gehaltsverhältnis lassen sich
drei Wege denken. Der erste, die Gewährung von Wohnnngszuschuß nach
preußischem Muster, hat so lange wenig Aussicht, als die übrigen sächsischen Be¬
amten eines solchen entbehren; man hat diese Form der Gehaltsvermehrung in
Sachsen noch bei keiner Beamtengattuug versucht. Der zweite wäre die entsprechende
Erhöhung der Gehalte selbst über das in verschiedenen andern Bundesstaaten ge¬
bräuchliche Maß, eben in Anbetracht der mangelnden Wohnuugseutschädigungen;
dieses Auskunftsmittel entspräche dein Verfahren, das man bei den juristischen Be¬
amten eingeschlagen hat. Der dritte Weg wäre der in Baiern befolgte und in
Sachsen bei den VolkSschnllehrern und den städtischen Gymnasiallehrern Dresdens
und Leipzigs bereits in Anwendung gekommene, nämlich der der Einführung von
Altersznlageu.
In Baiern steigt der Gehalt der Professoren (d. h. der Oberlehrer nach
preußischem Ausdruck) von 3360 Mark durch zwei fünfjährige Altersznlagen um
je 360 Mark und dann durch weitere um je 180 Mark, sodnß der Gehalt nach
vierzig Dienstjahren S160 Mark, nach fünfzig Dicustjahren SS20 Mark beträgt;
der Gehalt der Studienlehrer (d. h. der ordentlichen Lehrer nach Preußischem Aus¬
druck) vou 2280 Mark durch eine vier- bis fünfjährige Alterszulage um 360 Mark
und dann gleichfalls durch eine solche von 130 Mark, sodnß der Gehalt nach
vierzig Dieustjnhreu 1080 Mark, uach fünfzig Dienstjnhren 4440 Mark beträgt.
Eine höchste Grenze ist in Baiern der Theorie nach nicht vorhanden.
Von dem gegenwärtigen Leiter des sächsischen Schulwesens dürfen die Gym¬
nasiallehrer Sachsens wohl eine entschiedne Besserung in der hier angeregten Be-
ziehuttg hoffen. DaS Prinzip der AlterSzulagen erscheint ja dem Ministerium,
nach einer Verordnung an die Schnlkommissionen der Realschulen aus dem
Dezember 1881 zu schließen, als ein ansprechendes. Auch in Landtagskreisen ist
nach uus gewordnen Mitteilungen die Bereitwilligkeit zur Berücksichtigung der
eigentümlichen Verhältnisse des Gymnasiallehrerstandes nicht mehr zu bezweifeln.
Die günstige Finanzlage des Staates würde sie als sehr wohl ausführbar er¬
scheinen lassen.
Möchten diese Hoffnungen nicht trügerisch sein! Nicht nur das Interesse
der unmittelbar beteiligten, kommt dabei in Frage, sondern auch das Gedeihen des
höhern Unterrichts überhaupt, also ein allgemeines Interesse. Denn wer hat
schließlich den Schaden davon, wenn sich ein beträchtlicher Teil der höhern Lehrer¬
schaft des Landes unter materiellem Druck dauernd im Zustande des Unbehagens
und der Unzufriedenheit befindet?
In manchen preußischen Provinzen sind die
Verwaltungsbehörden seit Jahrzehnten darauf bedacht, den Wirtshanstanz nach
Möglichkeit einzuschränken. So z. B. dürfen die ländlichen Gastwirte nur einmal
im Monat Tanzmusik veranstalten, und fällt In den Monat ein Vereinsfest, ein
Patriotisches Fest oder eine andre außerordentliche Festlichkeit mit Tanz, so wird
sie als jene einmalige erlaubte Tanzlustbarkeit in Rechnung gebracht und eine zweite
nicht bewilligt. Selbst die Kirmes macht keine Ausnahme: auch im Kirmesmonat
ist nur einmal Tanzmusik gestattet. Schon vor mehr als zwanzig Jahren wurde,
verordnet, daß alle Kirmessen des Kreises in einem Monat abgehalten werden sollten,
und einzelne Behörden haben sogar versucht, sie in eine Woche zusammenzudrängen.
In den städtischen Wirtschaften dagegen darf an allen Sonntagen des Jahres mit
Ausnahme des Oster- und Pfiugstsouutages getanzt werden. Mau darf bezweifeln,
ob das an sich löbliche Streben, die Vergnügungssucht einzuschränken, an der rich¬
tigen Stelle in Wirksamkeit tritt.
Die Landleute, Bauer und Bäuerin, Knecht und Magd samt dem herrschaft¬
lichen Gesinde, arbeiten sieben Monate des Jahres von früh vier Uhr bis abends
acht Uhr fast ununterbrochen, sodnß sie einschlafen, sobald sie ihre Abendsuppe verzehrt
haben. Dafür ist ihnen dann Sonntags eine Erholung zu gönnen, die der Vor¬
nehme gar nicht braucht, weil er sich täglich beim „Diner," in der Abendgesellschaft,
im Theater n. s. w. erholt. Der Bauer und die Bäuerin sind nun, am Sonntag
schon zufrieden, wenn sie früh ihr bißchen Kirchenschlaf haben (den man namentlich
der Bäuerin nicht verargen darf, weil sie sich mit Besorgung des Viehes halb tot
gerackert hat, ehe sie in die Kirche geht), nachmittags aber er beim Glase Brannt¬
wein und sie beim Schinesen Kaffee sitzen können. ' Junges Volk jedoch, das sich
mit einem Sitzvergnügen begütigte, wollen wir uns beileibe nicht wünschen! Denn
Bursche» und Mädel, die nicht das Bedürfnis fühlen, zu jauchzen und zu hopsen,
denen es nicht in allen Gliedern kribbelt, juckt und zuckt, sobald sie einmal nichts zu
arbeiten haben, die sind so wenig gesund, wie ein Kalb oder Füllen, das den ganzen,
^.ag regungslos daliegt. Lustigkeit ist die naturnotwendige Äußerung der Gesund¬
heit und Jugendkraft,' und wo die Äußerung fehlt, da fehlt die Sache. Nun ist
es gewiß eine merkwürdige Einrichtung, daß eine natürliche Lebensäußerung bloß
aller vier Wochen einmal gestattet sein soll. Aber, wird man einwenden, muß es
denn gerade Wirtshaustanz'sein? Nun, die gymnastischen Spiele der Griechen oder
die spanische Tertulicn zwanglose, allabendliche Zusammenkunft der Nachbarn im
Garten oder Hofraum, wo die Alten plaudern, die Jungen tanzen, und wo nichts
getrunken wird als Wasser, oder der altdeutsche Ringelreige« um die Dorflinde
wäre mir auch lieber, und eine allmähliche Umgestaltung der Volkssitte nach dieser
Richtung hin ist gewiß nicht unmöglich. Allein vorläufig stehen der eingewurzelte
Geschmack, der „rnhestllreude Lärm"-Pnrngraph, der Umstand, daß die Knechte und
Mägde nicht mehr als Familienmitglieder behandelt werden, noch für lange im
Wege. Dazu unser Klima! Als die deutschen Jünglinge noch nackt ihren Schwerter¬
tanz aufführten und nackt sich im Schnee wälzten, da freilich hatten ein paar Regen¬
tropfen nichts zu bedeuten. Heute würden sie dem Dorfstntzer seine gestärkte«
Manschette» und der Kuhmagd ihren ont 60 ?nrl8 verderben. Die "moderne
Geselligkeit ist nun einmal in die Kneipe gebannt, ausgenommen die der wenigen
Glücklichen, die ihren eignen „Salon" haben. Es ist 'wahr, der ländliche Tanz¬
boden mutet Svuutngs abends um elf Uhr nicht sehr ästhetisch an und eignet sich
vielleicht mich nicht zur Tugendschule für junge Mädchen. Aber wie bei Geheimrath
kann es dort eben weder aussehen noch riechen, und ob die Unterhaltung angeheiterter
Knechte unmoralischer ist als manche vornehme Lektüre, das mag dahingestellt bleiben;
in der größern Aufrichtigkeit wenigstens liegt das Unmoralische gewiß nicht.
Mit dieser Fürsprache für die tanzlustige Dorfjugend soll natürlich nicht etwa
das cäsarische „Brot und Spiele" empfohlen werden oder gar das Rezept Metternichs:
den Geist des Volkes im Phäalentum zu ersäufen. Sondern ich denke nur an ein
Sprüchlein mis der Zeit, da msrr^ viel MA-Jana puritanisch N'urbe: ^11 porte auel
ne> xls,/ nmKsL ^g.oll clM do^:
Der Michel ist ein trüber Wicht,
Weils ihm an jedem Spaß gebricht.
Mit einem solchen trüben Wicht geschieht von drei Dingen eins. Entweder er wird
ein schlapper Mensch, der uns weder auf dem Schlachtfelde noch im gewerblichen
Wettkampf Lorbeeren holt. Oder die an der natürlichen Äußerung verhinderten
Lebenskräfte wühlen und bohren inwendig und machen ans dem harmlosen Burschen
einen giftigen Fanatiker oder einen verbissenen Verschwörer. Daß alle zurück¬
gedrängte Spannkraft sich in nützlichem Schaffen entladen sollte, ist nicht zu erwarten,
denn der Durchschnittsmensch ist weder ein Held noch ein Heiliger. Shakespeares
Cäsar null fette Leute um sich sehen; jede verständige Regierung aber wird sich
ein fröhliches Volk wünschen, daS ist ein zufriedenes, glückliches und gesundes Volk.
Außerdem: je seltener die natürliche Lustigkeit der Jugend und des Volkes Gelegen¬
heit hat, sich in allerlei Äußerungen zu üben, desto täppischer und gröber fällt es
aus, wenn sie es einmal wagen darf. Hie und da machen sich die gewaltsam
zurückgedrängten Lebensgeister Wohl auch in einem viehischen Verbrechen Luft.
Die Zusammendrängung der Menschen und die Verwicklung der Verhältnisse
bringen ja Einschränkungen aller Art mit sich, in der Stadt noch mehr als auf
dem Lande. Schon Goethe bedauerte die arme» Kleinen Weimars, die sich bei
ihren Spiele» vor der Polizei fürchteten, und beklagte es, daß kein Bursche mehr
mit der Peitsche knalle» dürfe (Gespräch mit Eckermaun am 12. März 1828).
Wenn ich früh um ein halb sechs Uhr einen Bäckerjungen dnrch die Straße pfeifen
hören könnte, so würde ich mich dreimal freuen. Erstens, weil zur frischen Morgen¬
luft ein frischer Pfiff gar trefflich paßt und die muntere Arbeitsstimmung erhöht.
Zweitens, weil ich denken müßte: Wackerer Bursche, der die Müdigkeit der durch¬
wachten und durchschwitzten Nacht sich wegpfeift! Möge ihn die Plage seines Be¬
rufes niemals zum Hypochonder mache»! Drittens, weil ich ja dann nicht mehr
taub wäre. Aber die Hvnoratiore» im Städtchen denken anders. Sie sind alle
mit einander nervös. Die Fliege an der Wand ärgert sie, wie viel mehr ein fünf
Schuh langer Junge, der pfeift oder springt. Auch haben sie alle viel Nachtarbeit
im Verein und im Klub und wollen im Morgenschlaf nicht gestört sein. Und so
entladet sich denu zuerst ein polizeiliches Donnerwetter über den frevlen Honvratioren-
nervenpeiniger und dann noch ein publizistisches im Klatschblättchen des Ortes. In
der Zeit meiner Kinderjahre pflegten Lehrjungen und Schüler des Abends Arm in
Arm singend durchs Städtchen zu ziehen. Ich erinnere mich noch, wie ich einmal
schon im Bett lag und die Mutter mir sagte: Hör doch, was für ein schönes Lied
die singen! Als Gymnasiast bin ich mit »'einen Kameraden zwar nicht »lehr durchs
Städtchen, aber im Freie» stundenlangj singend, mitunter auch brüllend umher¬
gezogen. Heute würde die ganze Polizei der Schlag rühren, wenn einmal Gesang
in den Straßen ertönte. Aber auch im Freien hört man keinen. Trifft man
einmal Gymnasiasten außerhalb der Stadt, was nicht oft vorkommt, so schreiten
sie — natürlich in Glacehandschuhen — als gesetzte junge Herren neben einander
her, im Flüstertöne sich unterhaltend. Als vor ein paar Jahren der Kultusminister
öftere Schülerspazicrgäuge angeordnet hatte, machte die Masse, in der der Einzelne
sich bewegte, und die Erlaubnis des Lehrers wieder Mut, und ans dem Hcim-
marsch sang die lustige Bande aus vollem Halse. Aber diese Spnziergäuge haben
aufgehört, und so ists denn wieder still geworden.
Was insbesondre die Kirmes betrifft, so greift deren Beschränkung sehr tief
ins Volksleben ein. Nach der siebeumonntlichen Sommerkampagne ist eine gründ¬
liche Ruhe das Natürlichste von der Welt. Und da die Pferde 'ebenfalls frei sind,
so will man sich gegenseitig besuchen, mit Vettern und Freunden, die ans andern
Dörfern wohnen, die Erlebnisse und Erfahrungen des Jahres besprechen und des
Erntesegens sich freuen. Jede Hausfrau empfängt aber Gäste dann am liebsten,
wenn fie gerüstet ist, und in keiner Zeit des Jahres ist sie es besser als bei der
Kirmes: da werden Kuchen gebacken, da wird das beste Schwein geschlachtet und
frische Wurst gemacht, da ist die Kammer voll Obst, da liegen die gerupften Enten
und Gänse und der gespickte Hase fertig für die Bratpfanne da, und den jungen
Leuten kaun man ein Tanzvergnügen im Kretscham bieten. Die Alten gehen gern
selbst auf ein Stündchen mit hin, denn beim Tanze sieht mau rin besten, welche
Paare äußerlich zusammen passen, und der Bauer ist stolz, wenn „Seine" sich
einmal hemmschwenken läßt und dabei sich recht stattlich nnsnimmt. Müssen aber
alle Dörfer ihre Kirmes in demselben Monat oder gar in derselben Woche feiern,
dann wird diese Besnchsrnnde zerrissen; zum Teil unterbleiben die Besuche, zum
Teil fallen sie in Zeiten mangelhafter Zurüstung, wodurch Wirken wie Gästen das
Vergnügen verdorben wird. Vor allen? aber thun mir die alten Tagelöhnerweibcr
leid. Diese pflegten ehedem zur Kirmes alle Bauern in den benachbarten Dörfern
heimzusuchen, bei denen fie jemals im Leben gearbeitet hatten, dazu ihre zahlreichen
Bettern, denn irgendwie sind sie mit jedem Hofe vervettert, auf tems was zu
holen giebt. Und das war ihre Winterversorgnug. Acht Wochen fraßen sie sich
herum, acht Wochen lebten sie von dem, was sie in Säcken und Sacktüchern zu-
sammengeschleppt hatten, und acht Wochen lagen sie im Bett oder auf der Ofen¬
bank, bloß mit Verdauung beschäftigt; denn sie haben alle ausgezeichnete Magen
(daß sie Brettnägel verdauen, hat mir eine fünfundsiebzigjährige Mutter selbst ver¬
sichert), und so können sie denn auf Vorrat essen. Nach Ablauf vou zwölf Wochen
ist der böse Winter vorüber, und sie gehen wieder Hans, Hof und Kinder hüten,
während die Bäuerin ans dein Felde oder in der Küche beschäftigt ist. Diese Art
Altersversorgung entspricht nnr wenig jenem Ideal eines allumfassenden Gefüges
strenger Stechte und Pflichten, das uns Ronald Keßler in seinen schönen Abhand¬
lungen entwickelt hat; aber dafür ist sie ttnßerst gemütlich; und ich muß gestehen,
bei der Aussicht auf eine starre Rechtsordnung, aus der alle Gemütlichkeit ver¬
bannt wäre, könnten mich Selbstmordgedanken begleichen, von denen ich sonst gerade
nicht geplagt werde.
Die Polizei sorge für Ordnung, verhüte Unfälle und verfolge den Verbrecher,
aber — sagt Goethe in dem oben erwähnten Gespräch — sie störe das Vergnügen
nicht oder, wollen Nur lieber sagen, störe es so wenig, als die schwierigen Ver¬
hältnisse unsrer Zeit es nur irgend gestatten.
Frühere Erzähler behalfen sich, wenn sie Gespräche
berichteten, mit dem alltäglichen Wortvorrat! sagte, sprach, entgegnete, bemerkte
er u. f. w., wenn sie es nicht vorzogen, sich und dem Leser solche Wendungen
gänzlich zu ersparen, wozu allerdings besondre Kunst der Charakterzeichnung und
der Führung von Rede und Gegenrede erforderlich war. Die Modernsteil dagegen
schwelgen förmlich in ebenso ungewöhnlichen als sprachlich unzulässigen Umschreibungen
jener Ausdrücke. Es mag Zufall sein, daß wir dieser Eigentümlichkeit gerade bei
hochgevorneu Romanschriftstellern begegnen, so bei einem Baron Roberts, der
„nnßerm Vernehmen nach" zu den besten Erzählern der Gegenwart gehören soll,
und bei einer Gräfin Schwerin; allein es wäre auch denkbar, daß diese ihre bevor¬
zugte Stellung durch das Vermeiden schlicht bürgerlicher Wendungen glauben wahren
zu müssen. Ans einigen wenigen Druckspalten merkten wir, einmal aufmerksam ge¬
worden, an: „Gertrud, ich bitte Sie, wehrte Jda ab." — „Darf man wissen?
wandte sich Klaus an sie." — „O, sehr viel unüberlegtes, schnitt Jda jede
weitere Antwort ab." Außerdem wird erklärt, bestimmt, bestätigt, ge¬
haucht, geflüstert, einigemal sogar etwas gesagt, anch gleitet ein Wort über
die Lippen.
Man wird den Wunsch, mehr aus diesem Born zu schöpfen, begreiflich finden.
Zum Glück waren noch mehrere Nummern desselben Blattes zur Hand, die reiche
Ausbeute gewährten. „Ja Herzchen, zögerte Fran von Meerstedt." — „Ein
Gerücht, beruhigte der Rat." — „Sagen Sie es, drängte sie." Und so
weiter „entschuldigte der Fremde," bestürmte Jda," ,,tröstete der Rat,"
„neckte Klaus," „klagte Frau v. M.," „schmollte Jda," „brummte der
Major," „brauste Jda auf," „knurrte Herr v. L.," „verwies sie Ibn,"
„gab er zu," „entschuldigte sich Gertrud," „begütigte Jda," „lächelte er,"
„stellte sie vor," „scherzte, tadelte, leitete die Unterhaltung ein, be-
harrte, bewunderte, warf hinein, versuchte zu scherzen, schmeichelte"
bald dieser, bald jene.
Wenn das Leutnant Rieeant lesen könnte, würde er seinen bekannten Aus¬
spruch so verbessern: „Was ist die deutsch Sprat für ein reich Sprat, für ein
bequem Sprat!"
Eine mit Recht geschätzte Schriftstellerin, Frau v. Ebner-
Eschenbach, eröffnet in einer neu gegründeten Wochenschrift eine Reihe von „Apho¬
rismen" mit folgendem Satze: „Die Vornehmen — ethymologisch (es!) diejenigen, die
vor allen andern nehmen, und merkwürdigerweise zugleich die Bezeichnung für Adelige,
das heißt: Edle." Das ist, wie man zu sagen Pflegt, geistreich, aber gänzlich
falsch, wie die Verfasserin gefunden haben würde, hätte sie das erste beste Wörter¬
buch der deutschen Sprache zu Rate gezogen, anstatt „Ethymologie" auf eigne Hand
zu treibe». Wir berühren dies nicht, um zu kritteln, sondern um die Leicht¬
herzigkeit darzuthun, womit in Deutschland auch vornehme Schriftsteller — zu
denen Nur Frau v. Ebner ohne Rücksicht auf ihren Adelstitel meinen rechnen zu
dürfen — in sprachlichen Dingen vorgehen. Wenn bei der nächsten Volkszählung
erhoben würde, wie viele schriftstellerisch thätige Deutsche ein Wörterbuch ihrer
Muttersprache besitzen und benutzen, so käme wahrscheinlich eine lächerlich kleine
Ziffer heraus. Wozu auch? Die Sprache glauben sie ja zu kennen, und in Zweifcls-
fällen entscheiden sie nach Gutdünken. In einer alten Berliner Posse sang eine
Köchin, die uicht sagen sollte: „Ick liebe dir":
Wie, wenn ick lieb', es heeßen muß
Zu fragen erst den Heinsius,
Wär' uni die Liebe schade.
„Wie, wenn ich schreib', es heißen muß, zu fragen erst . . . wär' um die Zeit
schade," denkt leider oft uicht uur der fingerfertige „Tagesskribent."
In Ur. 27 der Grenzboten brachten wir
eine Kritik desFiirst-Bismarck-Gedeiikbuches von Horst Kohl, die mich eines Briefes
von Viktor Hugo ein Bismarck gedachte und starke Zweifel an der Echtheit dieses
Briefes äußerte. Aus Weimar wird uns nun geschrieben: ,,Dies er Brief, den Kohl
aus einer französischen Zeitung ins Deutsche übersetzt zu haben scheint, ist deutschen
Ursprungs und ist zuerst bei Gelegenheit von Bismarcks siebzigsten Gebnrtstng in
der Weimarischen Zeitung erschienen. Die Weimarische Zeitung aber hatte ihn
der — Bierzeitung einer lustigen Gesellschaft entlehnt! Nach dem Abdruck in vielen
deutschen und französischen Zeitungen zu urteilen, scheint die Welt gründlich diipirt
worden zu sein. Die Parodie ist ja mich ganz gelungen."
Die Bergpredigt. Roman aus der Gegenwart von Max Kretzer. Zwei Bände. Dresden
und Leipzig, E. Piersons Verlag, 1890
Ein theologischer Roman oder besser ein Thevlogenroman. Die Gattung ist
in katholischen Ländern schon vertreten! Ferdinand Fabre hat sie in Frankreich ge¬
schaffen, die Wienerin Emil Marriot hat anch Klerikernovellen geschrieben, gewiß
ohne den Vorgänger Fabre zu kennen, dein sie an Wissenschaft natürlich nicht gleich¬
kommt. Auch Jordan hat in seinen „Sebalds" Theologen, und zwar protestantische,
wie jetzt Kretzer, zu Melden gewählt, aber uicht als Realist, sondern nur um auf
diesem Wege fein optimistisch-umterialistisches Glaubensbekenntnis bequemer zugänglich
zu macheu. Mit Jordan gemein hat Kretzer nur den scharfen Gegensatz gegen die
Orthodoxen, gegen die Kreuzzeitungspartei, die die Religion gepachtet zu haben
glaubt, sie von den Wechselbeziehungen zur Wissenschaft ausgeschlossen wissen will und
rücksichtslos, auch sehr wenig wählerisch in der Wahl ihrer Mittel ist. Aber Kretzer
begnügt sich, zum Unterschiede von den Abhandlungen in Jordans Romanen, mit
kürzen, geschickt in die Handlung verwebten Darstellungen seines Christentums, das
alle positiven Glaubenssätze über Bord wirft und sich mit der Verherrlichung,
Durcharbeitung und Verbreitung des ausschließlich ethischen Gehaltes der Religion
der Liebe begnügt. Wie Leo Tolstoi, an den seine Formel- „Widerstrebe nicht
dem Übel" sehr lebhaft erinnert, hofft Kretzer von der Verwirklichung seiner christ¬
lichen Lehre auch eine leichtere Losung der sozialen Frage. Soviel von dem Gehalt
der Kretzerscheu „Bergpredigt."
Ästhetisch betrachtet hat sie mehr Schwächen als Vorzüge. Sie ist ein Tendenz¬
roman, gerichtet gegen Stöcker. der doch wohl im Hofprediger Bock konterfeit sein
soll, und gegen die'„innere Mission" Berlins, deren Wert Kretzer zwar grundsätzlich
nicht gering schätzt, deren Vertreter und Agitatoren er aber als Tartüffes hinstellt.
Die Tendenz wollen wir, nach den letzten politischen Ereignissen, gewiß nicht tadeln,
aber sie entschädigt uns nicht für die poetische Schwäche der Nomnuhaudluug; denn
am Ende ist doch eine Romanform duzn da, um etwas künstlerisch Bedeutsames
zu bieten. Für den Satiriker und Sittenschildcrer ist der leidenschaftliche Partei¬
mann Stiicker jedenfalls ein wertvoller Stoff, nnr soll der Dichter sich seinerseits
der Wirklichkeit gewachsen zeigen. Stärker, der mit dämonischer Energie von einer
Volksversammlung zur untern eilt, mit außerordentlicher Rednergabe die Menschen
aufzurütteln versteht, mit aller Welt anbindet, in tausend Formen thätig ist, vor
keinem Mittel des Kampfes in der Politik zurücksehend, ist doch, ästhetisch genommen,
ein viel großartigerer Mann als KretzerS Hofprediger Bock, der sehr ungeschickt
und roh gegen den Idealthcvlogeu Konrad Baldus Intriguen spinnt und sich dabei
blamirt. Die im Genrehaften heimische Kunst Kretzers hat für solche Erscheinungen
keine ausreichende künstlerische Fähigkeit. Darum fehlt auch seiner „Bergpredigt"
die richtige Wucht und Große des Satirikers. Rein als Dichtung Wirkt sie durch
die sehr häßliche Intrigue, um die es sich dreht, nichts Weniger als erfreulich.
Obwohl sich Kretzer schon vielfach vom Naturalismus losgesagt hat, muß er doch
noch einige Schritte vorwärts machen, um ganz auf der Hohe einer Aufgabe zu
stehen, wie sie diese „Bergpredigt" stellt. Indes, so lange es sich nur um das
treu uach dein Leben gezeichnete Genrebild handelt, ist er auch hier glücklich. Einige
Typen des Pnstoreutums hat er sehr hübsch gezeichnet. Zunächst die Gestalt des
tapfern, humoristischem urwüchsigen, grundehrlichen und gescheiten Lnndpnstors Bläsel,
der sich durch keinen Oberhofprediger, durch kein Konsistorium einschüchtern läßt,
ein fest in sich selbst ruhender Charakter, der sich sogar ins eigne Fleisch schneidet,
sein eignes Kind streng verurteilt, wenn es seinem redlichen Sinne znwiderhandelt.
Bei solch einem Manne geht den Menschen das Herz ans. Ein entgegengesetzter
Typus ist der Bruder des Helden, Konrad, ein Handwerker des Pastorenbernfs,
ohne wahre innere Religion. Wie ein Beamter, erfüllt er trocken, nur aufs Ein¬
kommen bedacht, seine Berufspflichten, über die tiefen Fragen der theologischen
Wissenschaft zerbricht er sich nicht den Kopf, wenn er nur sein gutes Essen hat; dabei
steht er uuter dem Pantoffel seiner Wirtschafterin. Poetisch bedeutend ist die Figur
des alte» Baldus, der von dein Buche seines freier gesinnten und wahrhaft be¬
geisterten Sohnes Konrad, der „Bergpredigt," am Ende seines Lebens in schwere
Zweifel gestürzt wird. Als er sich vor Angen hält, wie wenig seine Thätigkeit,
als Pastor die um ihn heranwachsende Menschheit eigentlich gebessert hat, verzweifelt
er an sich. Aber er stirbt im Glauben an das Christentum seines Sohnes. Daß
Kretzer auch das niedere Volk Berlins zutreffend, wenn auch wenig erquicklich, wie
es in Wahrheit ist, zu schildern versteht und zahlreiche humoristische Lichter an¬
bringen kann, versteht sich von selbst. Im ganzen wieder eine Dichtung, die nur
gemischte Empfindungen hervorruft.
eraume Zeit ist der Wunsch, das? es Friede bleiben möge, so
allgemein und so lebhaft er auch in den Nationen ist, die im Drei¬
bünde vereinigt sind, zusammengehalten mit den Beobachtungen
in andern Kreisen, mit denen zu rechnen war, wenig mehr als
ein frommer Wunsch gewesen, und mehr als einmal schien eS,
als ob bei seiner Erwägung die Gründe, die seine Erfüllung hoffen ließen,
leichter wogen als die Zweifel und Befürchtungen. Jetzt, wo das Jahr sich
dein Ende zuneigt, Null es scheinen, als ob sich die ^age der Dinge bedeutend
gebessert hätte und als ob unser Wunsch nach Erhaltung des Friedens be¬
rechtigt wäre, sich nicht bloß in Hoffnung, sondern in Zuversicht zu verwandeln,
und zwar nicht bloß für den Angenblick, sondern für längere Dauer. Das
liest sich zunächst aus der Thronrede heraus, mit der in voriger Woche der
deutsche Reichstag eröffnet worden ist. Kein Geringerer als unser Kaiser giebt
uns diese Bersichernng, wenn er ausdrücklich sagt, daß die befrenndeten Mon¬
archen nnter sich einig seien, den Frieden nach Kräften zu wahren, daß das
Vertrauen ans die ehrliche Friedensliebe Deutschlands befestigt sei, und daß er
sich für berechtigt halte, zu glauben, der Frieden werde auch im nächsten Jahre
fortdauern. Zwar ist mir von den Monarchen die Rede, und die Befestigung
des Vertrauens auf die Friedensliebe Deutschlands geht offenbar mir ans den
Besuch des Zaren, auch beschränkt sich die Thronrede mit ihrer Berechtigung
zu dem Glauben an Erhaltung des Friedens ans das nächste Jahr. Aber
wenn die Monarchen mit Einschluß des Zaren den Friede wolle», so wird
die Republik im Westen ihn nicht zu brechen wagen, und jedes Jahr, das
seiner Dauer hinzutritt, muß weitere Dauer wo nicht verbürgen, doch mit
größerer Zuversicht erwarten lassen.
Von dem lange verzögerten, endlich doch erfolgten Gegenbesuche des Zaren
i» Berlin wurde nicht viel erwartet. Gleichwohl scheint es, als sei es dabei
zu einer gewissen Verständigung gekommen. Was insbesondre die Unterredung
unsers Reichskanzlers mit dein Kaiser Alexander betrifft, so ist darüber aller¬
dings nichts Bestimmtes in die Öffentlichkeit gedrungen, aber ein Teil dessen,
was darüber berichtet wurde, verdient als wahrscheinlich augesehen zu werden.
Dahin gehört zunächst die Mitteilung, daß der Zar dem Fürsten Vismarck seinen
Dank für sein Auftrete,, gegen die Anarchisten in der Schweiz ausgesprochen und
dabei bemerkt habe, diese Frage verbinde überhaupt alle Monarchien, und der
Fürst könne ihm dazu vo» großem Nutzen sein. Diese Äußerungen erinnern
an ähnliche, die in den ersten Jahren nach 1870, als der Kommuneanfstand
die Welt erschreckte und die Internationale in Deutschland, Österreich und
Nußland zu gemeinsamen Gegenmaßregeln aufforderte, zu denen von Berlin
aus angeregt wurde, von Seiten des Vaters des Zaren ergingen und seine
lebhafte Anerkennung der Solidarität der Monarchien gegenüber den anarchi-
schen Parteien bekundeten. Ferner dürfte dahin die Nachricht gehören, daß der
Zar dem Fürsten die Meldung der deutscheu Blätter von dem Berichte Obru-
tschews als auf Mißverständnis beruhend bezeichnet habe. Ganz naturgemäß
sei es doch, daß der Chef des Genernlstabes der russischen Armee sie und das
Reich so stark als nnr möglich zu machen strebe, und wenn er darüber all¬
jährlich seinem Kaiser Bericht erstatte, so sei dies in Deutschland gleichfalls
Gebrauch. Glaubwürdig ist sodann, daß die Frage der Rüstungen nicht weiter
zur Sprache gekommen und daß Erklärungen über die Stellung Deutschlands
zu Österreich-Ungar» vom Zaren uicht verlangt und vom Fürsten nicht gegeben
worden seien. Ob man zu einem Einvernehmen bezüglich derjenigen besondern
internationale,, Fragen gelangt ist, die den Keim zu Zerwürfnissen des Drei¬
bundes mi Rußland einschließen könnten, d. h. zu einem Abkommen über die
Angelegenheiten, die die Zukunft der Balkanstaateu betreffen, ist nicht bekannt.
Da diese Dinge aber für die Erhaltung des Friedens von größter Bedeutung
sind, so ist anzunehmen, daß über sie verhandelt worden ist, und daß die Be¬
sprechung zu dem befriedigenden Ergebnis geführt hat, das die Thronrede
andeutet. Aller Wahrscheinlichkeit »ach kam der Kaiser Alexander mit der
Besorgnis uach Berlin, die leitenden Politiker des Dreibundes könnten eine
ihnen günstig vorkommende Gelegenheit ergreifen, Rußland im Südosten vor
die Kriegsfrage zu stellen, oder Deutschland könnte im Hinblick ans gewisse
militärische Aussichten einen Krieg mit Frankreich vom Zaune brechen und
Rußland nötigen, sich über die Teilnahme an einem solchen zu entscheiden.
War dies in der That der Fall, so ist zu vermuten, daß es in beiden Be¬
ziehungen gelungen ist, dein Zaren seinen Argwohn zu benehmen, und das
wird in Bezug auf die Balkanfragen dadurch geschehen sein, daß Fürst Vis¬
marck sich im Sinne der Erklärungen geäußert hat, die er in seiner Rede vom
6. Februar 1888 vor dein Reichstage abgab, und die im wesentlichen darauf
hinausliefen, die deutsche Politik stehe diesen Fragen und namentlich der bul¬
garischen objektiv gegenüber. Und das ist heute wie zur Zeit jener großen
Rede die Wahrheit, was auch die Blätter fabeln, die jetzt wie damals das
Interesse der bulgarischen Machthaber vertreten. Eins dieser Organe behauptete
vor kurzem, schon deshalb, weil alle realpvlitischen Auffassungen mit der Ver¬
änderung der Dinge wechselten, könnte nicht die Rede davon sein, daß der
deutsche Reichskanzler gegenwärtig über Bulgarien noch so denke wie vor
anderthalb Jahren. Nun wird zwar der Reichskanzler ohne Zweifel immer
bereit gewesen sein, seiue Ansichten im Hinblick auf die Entwicklung der Dinge
zu ändern, nur unterläßt das Blatt, uus zu sagen, wie er auf diesem Wege
dahin hätte gelangen müssen, sich für den Prinzen von Koburg und das Re¬
giment seiner Herren Minister zu begeistern und sich irgendwie der Meinung
zu nähern, es sei gestattet oder geboten, einem selbständigen Leben der Bul¬
garen gegen das vertragsmäßige Recht und die wohlerworbenen Ansprüche
Rußlands Vorschub zu leisten. '
Wie dem allen auch sei, gewiß scheint bis auf weiteres, daß die Reife
des Zaren nach Berlin zu einer Besserung des bisherigen Verhältnisses zwischen
Deutschland und Rußland geführt hat. Sie hat bei uus die Überzeugung be¬
festigt, daß der Zar für seine Person den Frieden liebt und will, und daß er
verstündiger Vorstellung zugänglich ist. Sie hat seine Besorgnisse verscheucht
oder doch gemindert, sein Vertrauen auf den guten Willen des Lenkers der
deutschen Politik gestärkt, und sie wird nicht verfehlen, auch auf die Parteien
zu wirken, die in Rußland neben dem Träger der Krone Politik zu machen
streben und bisher andern Anschauungen huldigten als er. Welche andern Er¬
gebnisse die Begegnung der beiden Kaiser auch haben mag, hier kann sie vor
der Hand nur ein erfreuliches haben: sie muß schlechterdings dazu beitragen,
dem Haß einflußreicher russischer Kreise gegen Deutschland, der, in den letzten
Jahren fortdauernd gestiegen, vor kurzem fast unlenkbar, ja fast unaufhaltsam
geworden zu Schein schien, wieder zu beschwichtigen und unter seine Dämme zu
bannen. Es giebt eine öffentliche Meinung in Rußland, aber noch ist der
Zar ihr gegenüber eine Macht und ein Beispiel und Muster. Vermag er aber
einmal die wieder gestiegne Flut nicht mehr zu bündigen, wie sein Vater nud
Vorgänger auf dem Throne dies vor dem letzten Türkenkriege nicht mehr ver¬
mochte — nun denn in Gottes Namen, so werden wir und unsre Freunde im
Dreibunde dafür sorgen müssen und zu sorgen wissen, daß die Bäume nicht
in deu Himmel wachsen. Für jetzt und die nächste Zeit ist solche unliebsame
Pflicht nicht zu befürchten. Freuen wir uns dessen, aber hüten wir uns, über
den Friedenshoffnnngen die Hände in den Schoß zu legen und die Angen vor
der Möglichkeit zu schließen, daß wir uus mit ihnen tänscyen.
Wir knüpfen hieran noch eine andre Betrachtung. Die Balkaufrage ist und
bleibt die wichtigste für die Freunde des Friedens, aber lediglich deshalb kümmert
sie uns Deutsche, Unmittelbar geht sie gleich der ganzen orientalischen Frage,
deren vornehmstes Glied sie seit 1378 ist, außer der Pforte und Rußland nur
Österreich und England an. In Betreff Rußlands können Mir hier nur wünschen,
daß es sich unter Festhaltung seiner im Berliner Frieden begründeten Ansprüche
auf Einfluß der Beunruhigung Bulgariens durch Sendlinge fernerhin enthalte
wohlgemerkt, nur wünschen, und zwar im Interesse Rußlands selbst, weil solche
Aufwiegelung sich als nutzloses Bemühen erwiesen hat. Mit Österreich sind
wir verbündet, aber nnr zur Verteidigung gegen einen Angriff, nicht zur Mit¬
wirkung bei Eingriffen, sei es diplomatischer oder sei es militärischer Natur,
über seine Grenzen hinaus, an die übrigens gegenwärtig in Wien nicht gedacht
wird. Sonst sind wir in Bezug auf die serbischen und bulgarischen Angelegen¬
heiten und ebenso hinsichtlich andrer Gebiete der orientalischen Frage bei nichts
interessirt und zu nichts verpflichtet, als bei dein und zu dem, was uns infolge
unsrer Beteiligung am Berliner Vertrage obliegt und wozu uns der Wunsch,
den Frieden im allgemeinen gewahrt zu sehen, berechtigt und verpflichtet. Ganz
und gar fern liegt uns eine Rolle, wie sie Frankreich vor dem Jahre 1870
und 1870 selbst, zuletzt in der Frage der Besetzung des spanische» Thrones,
gespielt hat. Serbien und Bulgarien mögen innerhalb der Grenzen der Berliner
Abmachungen thun, was ihnen gut und nützlich dünkt,, und es ist uns gleich-
giltig, ob dort die Dynastie des schwarzen Georg oder die Familie Obreno-
witsch auf dem Königsthron sitzt oder ob der Fürst Alexander oder Ferdinand
heißt, wenn er nur seine Pflicht und Schuldigkeit gegen Europa, d. h. gegen
dessen Vertreter, die Großmächte, und deren in Berlin vertragsmäßig nns-
gesprvchnen Willen thut. Wenn durch die Revolution von Philippvpel, die
Vereinigung Bulgariens mit Ostrumelien und durch Nichteinholuug der Be¬
stätigung der Wahl des Kvbnrgers in Sofia, zu der die Großmächte ihre
Einwilligung zu erteilen hatten, dagegen verstoßen worden ist, so haben wir
das als Rechtsbruch stillschweigend gemißbilligt, und weder ein Großbulgaricn
noch ein Fürst Ferdinand an seiner Spitze existirt für uns; aber zu irgend
welchem Einschreiten dagegen konnten wir uns nicht berufen finden.
So viel über unsre Stellung zu deu Fragen, die zunächst zu einem Kriege
führen könnten. Englische Blätter wollten wissen, daß in diplomatischen Kreisen
Petersburgs vom Ausbruch eines solchen im nächsten Frühjahr die Rede ge¬
wesen sei, und wollte» dieses Gerücht für glaubwürdig schou deshalb ansehen,
weil der bewaffnete Friede die Nationen Europas »»erträglich belaste. Wir
Deutschen fühlen diese Unerträglichkeit nicht, geben aber die Schwere der Last
zu, so sehr sie mich durch die Überzeugung erleichtert wird, daß der Heeres¬
dienst für die Ratio» eine Schul»»g zu höchst wertvollen Tugenden sei. Andre
Völker aber mögen ja anders empfinden. Die Friedensstärke der Heere ist jetzt
allenthalben wohl das Doppelte ihrer Kriegsstärke vor fünfzig Jahren, und
die bloße Unterhaltung voll Festungen, Artillerieparks. Zeughäusern, Kuvalleric-
ställen und Panzerschiffen verschlingt ungeheure Summen, se^och mehr aber
ist der Verlust zu beklagen, den der Volkswohlstand dadurch erleidet, daß der
Exerzierplatz und das Manöverfeld viele Hunderttausende vo» Armen der
Arbeit lind dem Verdienst auf dem Acker und in der Werkstatt entziehen, was
an so schwerer gefühlt wird, als wir in einer Zeit leben, deren Gedanken
mehr denn je auf fleißiges Erwerben gerichtet sind. Die Heere wachse» mit
jedem Jahre und mit ihnen die Anleihen und Schulden. Werden sie bei schon
stark verschuldeten und schwer besteuerten Staate» wie Frankreich und Rußland
wenig oder auch nur uoch lauge wachsen können? Werden solche Staaten sich
nicht bald gezwungen glauben, dein mit Erschöpfung drohenden Zustande mit
einem Kriege, dessen Ausgang im ungünstigsten Falle nicht viel mehr kosten
kann als der jetzige bis an die Zähne gewassnete Friede, während ein Sieg
die ungeheure Rüstung zu lohnen oder doch zu verzinsen verspricht, ein
schleuniges Ende zu machen? Sodann ist in Betracht zu ziehen, daß in Ru߬
land wie in Frankreich ein Grund oder wenigstens ein Vorwand zum Streite
mit den Waffen vorhanden, gleichsam gar geworden und immer zur Hand
ist. Der Zar würde, wenn er kampflustig wäre, vor sich die Überlieferung
aus den Tagen seiner Vorfahren mit deren Eroberungen auf dein Wege uach
Stambul sehen und hinter sich den Deutschenhaß weiter russischer Kreise, die
abergläubische Einbildung seiner byzantinischen höhern und niedern Pvpenschast,
sie seien berufen, den westlichen „Heiden" das wahre Christentum aufzunötigen,
den ähnlichen Aberglauben der Slawophilen, die Weltherrschaft gehöre dein
Volte im Osten, und den Ehrgeiz seiner Generale. In Frankreich dürstet das
Volk, soweit es in politischen Dingen laut wird, nach Rache für Sedan, nach
Wiedergewinn der Verlornen Provinzen und nach Zurückeroberung der alten
Stellung in Europa. Das sind Gründe der Beunruhigung, die sich auch dem
uicht scharfblickender Beobachter aufdrängen. Indes ist nicht so leicht zu sehen,
ob die darin liegende Gefahr im Laufe dieses Jahres gewachsen ist. In Frank¬
reich spricht manches für das Gegenteil. Boulanger trat in den Bordergrund
infolge der Meinung, daß er der keckste Draufgeher der französischen Armee
sei, und daß er sich, wenn der Tag der Abrechnung mit Deutschland anbreche
und es notwendig erscheine, die Soldaten mit Zuversicht auf raschen Sieg zu
erfüllen, als glänzende Persönlichkeit dazu empfehlen werde, sie als ein zweiter
Vonaparte zu begeistern. In Paris wie in der Provinz dachten viele, daß
er, während andre das parlamentarische Geschäft betrieben und über Politik
nur windige Reden hielten, die Armee für das große Kampfspiel vorbereiten,
rüsten und einüben solle. Diese Voulangerlegende war nnr unter Franzosen,
dem Volke des Scheins, möglich, sie gründete sich ans wenig Thatsachen und
viel Pose und Phrase, aber sie bildete sich und wirkte, sie trug sehr viel
zu den ersten Wahlerfolgen des Generals bei, und wären seine spätern Be-
Werbungen »in ein Mandat ebenso günstig für ihn ausgefallen und er irgendwie
dann ans Unter gelangt, so N'urbe uns ohne Zweifel der Krieg mit Frankreich
nur einen großen Schritt näher gerückt sein. Ist das in der That so, dann hat
die jetzt vollständig entschiedne Niederlage Boulangers und seiner Anhängerschaft
die Bedeutung eines großen Rückschrittes zum Frieden. Allerdings verbürgt sie
seine Erhaltung nicht mit Sicherheit, aber wenn Frankreich nach Krieg mit uns
brannte und sich darnach sehnte, eine kecke Herausforderung dazu nach Berlin
ergehen zu sehen, so wäre doch der leichteste und kürzeste Weg zur Erfüllung
dieses Begehrens Unterstützung der Wahl des abenteuernden Soldaten gewesen.
Statt dessen hat das allgemeine Stimmrecht eine Anzahl gemäßigter Republi¬
kaner in das Pariser Abgeordnetenhaus gesendet, die beinahe die Hälfte des¬
selben ausmacht. An der Spitze des Staates aber steht Carnot, der, statt
wie sein Bater „Siege zu organisiren," sich begnügt und glücklich fühlt, bei
einem großen friedlichen Wettbewerbe des internationalen Gewerbfleißes den
Vorsitz zu führen. Sind wir nicht völlig auf falscher Fährte, so bedeuten die
letzte» Wahlergebnisse, daß Frankreich jetzt nichts weniger als begierig nach
Abenteuern und verliebt in Abenteurer ist und auf die nächsten fünf Jahre,
zufrieden mit Befestigung seiner Republik, davon nbseheu wird, unbesonnen den
Frieden zu stören.
So bleibt nun noch Rußland übrig, Rußland, abgesehen von dem Be¬
suche des Zaren in Berlin. Es will als der Anwalt und Beschützer der
Christen unter dem Halbmonde angesehen sein. Aber diese klagen jetzt nnr
auf einer Insel und in einer asiatischen Provinz des Reiches der Pforte, auf
Kreta und in Armenien, und diese Klagen scheinen überdies wenig begründet
zu sein. Macedonien und der schmale Küstenstrich, der in Europa noch dem
Sultan gehört, sind vollkommen ruhig. Der Anwalt hat also kaum Anlaß
zur Thätigkeit. Hinter frühern Kriegen mit den Türken stand die Teilnahme
des russischen Christentums für die bedrückten „Brüder," die jetzt gänzlich
mangelt, da niemand mehr Druck empfindet. Auch die militärische Lage hat
sich geändert. 1854 überschritten die Russen den Pruth, 1877 die Donau,
und sofort begann der Kampf mit den Türken. Jetzt hätte ein russisches
Angriffsheer einen langen Weg zu Lande zurückzulegen, ehe es anf den Gegner
träfe, und zwar führte er durch das Gebiet zweifelhafter Bundesgenossen und
wahrscheinlicher Gegner, und man hätte dabei Österreich in der Flanke. Daher
muß ein Krieg Rußlands mit der Türkei, der die Einnahme Konstantinopels
bezweckt, mit der Belagerung dieser Stadt beginnen. Hier aber würde dem
Zaren seine militärische Überlegenheit nicht zu statten kommen; denn Stambul
kann zur See verteidigt werden, und dabei würde dem Sultan der Beistand
Englands und wohl auch einer oder der andern festländischen Seemächte kumm
fehlen. Zweifelsohne würde ein Krieg Rußlands mit der Türkei, der die Ein¬
verleibung Armeniens zum Gegenstand hätte und damit zufrieden wäre, möglich
sein; aber bedarf der Zar, der über so viele Hunderttausende von Quadrat-
Meilen gebietet, wirklich so dringend noch ein paar tausend, daß es ihm das
Schwert in die Hand druckte? Der Pauslawismus war 1877 eine Macht und
könnte bei einem Kriege mit Österreich wieder eine Macht sein, Aber Alexander
der Dritte ist nicht Alexander der Zweite, sondern ein fester, willensstarker
Herr, der einen phantastischen Krieg scheut und weiß, was eine Niederlage
für die innern Angelegenheiten seines Reiches zu bedeuten hätte, und der sich
vermutlich auch klar darüber ist, daß selbst ein Sieg diesen Angelegenheiten
keinen Segen bringen würde. Brachten doch die russischen Offiziere 1814 ans
dem Westen die Keime zu den spätern demokratischen Verschwörungen und zu
dem heutigen Nihilismus mit nach Hause. Wir gelangen also auch ans diesem
Wege mit ziemlicher Sicherheit zu der Annahme, daß der Himmel sich auf¬
gehellt hat, und daß wir für das nächste Frühjahr wenigstens keinen Krieg
zu befürchten haben, der Friede vielmehr gesichert erscheint — es müßte sich
denn etwas ereignen, was sich gar nicht ahnen und folglich auch nicht in die
Rechnung setzen läßt.
le Hoffnung, daß die Neuwahlen zum böhmischen Landtag und
der Zusammentritt desselben am 10. Oktober den Ausgangspunkt
zu eiuer Verständigung der beiden Nationalitäten des Königreiches
bilden würden, hat sich nicht erfüllt. Das Exekutivkomitee der
deutschen Landtagsabgeordneten hat sich schon am 15. September,
nachdem vorher durch den „verfassungstreuen" Fürsten Schönlmrg Ausgleichs¬
verhandlungen angeregt worden waren, dahin entschieden, diese zurückzuweisen,
wenn nicht vor Beginn derselben von der Regierung eine Erklärung darüber
abgegeben werde, welche Stellung sie zu der Frage der Königskrönuug einnehme.
Die Regierung hat sich dazu nicht veranlaßt gesehen, da vou ihrer Seite diese
6'ruge nicht aufgeworfen worden, sie darüber auch höchst wahrscheinlich noch
gar nicht schlüssig geworden war, was nach der eigentümlichen Beschaffenheit
dieser Frage und in Anbetracht der Abneigung der Negierung gegen staats¬
rechtliche Erörterungen nicht überraschen kann. Infolge dessen unterblieben die
ni Aussicht genommenen Komnnssionsberatnngeu von Vertrauensmännern beider
Parteien, und die am 6. Oktober in Prag versammelten dentschböhmischen
Landtagsabgeordneten erklärten in einer einstimmig gefaßten Resolution, sie
seien nicht in der Lage, sich um den Sitzungen des Landtags zu beteiligen, da
die bei Gelegenheit des Auftrittes der Deutschen aus dein böhmischen Landtage
am 22, Dezember 1886 aufgestellte Bedingung für den Wiedereintritt nicht
erfüllt worden sei, indem man ihnen noch keine Bürgschaften für die Erfüllung
ihrer Forderungen geboten habe.
Worin diese Bürgschaften bestehen sollen und wer sie zu leiste» hätte,
wurde bei. dieser Gelegenheit nicht ausgesprochen, es ist auch ziemlich einleuchtend,
daß sie erst den Gegenstand jener Beratungen hätten abgeben müssen, die ein¬
zuleiten sich Fürst Schönburg oder richtiger Graf Taasfe, durch den die Aktion
des Fürsten veranlaßt worden war, vergeblich bemüht hatte. Herr von Pierer,
gegenwärtig der staatsmnnnische Führer der Deutschböhmen, berührte zwar in
seiner Rede in der Abgevrdnetenversammlnng die Forderung nach nationaler Ab¬
grenzung der Gerichtsbezirke und Errichtung eines deutschen Senates beim böh¬
mischen Oberlandesgericht, legte aber doch das SchwergeU'icht auf die staatsrechtlichen
Verhältnisse, die durch die Krönung des Kaisers als König von Böhmen eine
0vu der geltenden Verfassung abweichende Gestaltung erfahre« müßten. Er
meinte, daß durch die Ernennung des Grafen Franz von Thun, der im ab¬
gelaufenen Landtage für die Krönung eingetreten ist, die Negierung zum min¬
desten ebenfalls eine Neigung für sie verrate, daß die Deutschen daher das
Recht und die Pflicht hätten, sich über die Bedeutung zu unterrichten, die die
Regierung diesem staatsrechtlichen Akte beilege.
Somit ist die böhmische Köuigskrönung zum Mittelpunkte des Kampfes
zwischen Deutschen und Tschechen in Böhmen gemacht worden, und es dürfte
daher Wohl angezeigt sein, diese Angelegenheit hinsichtlich ihrer geschichtlichen
Etttwicklung und ihres gegenwärtigen Standes einer Untersuchung zu unterziehen.
Die Krönung war in Böhmen, wie in allen übrigen Monarchien, ein
feierlicher, zugleich politischer und religiöser Akt, durch deu die Übertragung
der verfassungsmäßig begründeten Regierungsgewalt ans den durch Wahl oder
Erbrecht berufenen nach vorausgegangener Feststellung der Bedingungen, an
die die Ausübung der Regierungsgewalt in dem betreffenden Lande geknüpft
war, öffentlich ausgesprochen wurde. Huldigung und Krönungseid bildeten
natürlich auch hier einen notwendigen Bestandteil des Vorganges, durch deu
die Beziehungen zwischen dem Fürsten und den übrigen Rechtsinhabern zum
Ausdrucke kamen. Das böhmische Königtum ist eine deutsche Gründung. Wra-
dislaw II. erhielt zum erstenmal 1086 in Mainz vom Kaiser Heinrich IV. eine
Königskrone als persönliche Auszeichnung, auch Wladislaw I. wurde in dieser
Weise 1158 von Friedrich Barbarossa geehrt, nachdem sich das Verhältnis
Böhmens zum deutschen Reich als das der Lehensnbhängigkeit ausgebildet hatte.
Der deutsche König, der sich dnrch die Gewalt des Schwertes das Necht er¬
worben hatte, die böhmischen Herzöge ein- und abzusetzen, konnte sie anch durch
Verleihung der Königswürde belohnen. Der Przemyslide Ottokar I. ließ sich
»ach einander von dem Staufer Philipp und dein Welsen Otto krönen und
erreichte endlich von Friedrich II. den großen Freiheitsbrief vom 20. September
1212, durch den Böhmen zum Königreiche erhoben und der Königstitel den
böhmischen Fürsten auch für die Zukunft verliehen wurde. Die Stellung Böhmens
»um Reiche war eine von den Reichsländern verschiedne, die Verpflichtung
des Königs beschränkte sich auf die Teilnahme am Römerzuge mit 120 Mann,
die kurfürstlichen Rechte wurden nur bei der Wahlhandlung ausgeübt; bei der
Verfassung der Wnhlkapitnlativn, in der Kaiser und Reichsstände die Grenzen
ihrer Befugnisse zogen, war Böhmen nicht mit thätig; erst 1708 nach Ein-
setzung der neunten (hannoverschen) Kur wurde dem Kaiser als Inhaber der
böhmischen Knrwürde das Stimmrecht auf Reichs- und DePntationStagen eim
geräumt.
Was die Beziehungen des Hanfes Habsburg zu den böhmische» Ständen
betrifft, so spielte die Frage, ob Böhmen ein Wahl- oder ein Erdreich sei, im
sechzehnten und in den ersten Jahrzehnten des siebzehnten Jahrhunderts ans allen
Krönnngslandtagen eine hervorragende Rolle; thatsächlich war die Wahl Friedrichs
von der Pfalz (1619) die letzte, und durch die von Ferdinand II. am 10. Mai
1b27 erlassene „vernewerte" Landesordnung wurde das Erbrecht der Dynastie
unwiderruflich festgestellt. Da diese Landesordnung von den böhmischen Stauden
ohne Widerspruch angenommen und das Königreich bis 1848 auf Grund der¬
selben verwaltet wurde, so bildet sie den Inbegriff des bis zum Beginne der
konstitutionellen Ära geltenden böhmischen Stantsrechtes; nach deu in ihr ent¬
haltenen Bestimmungen wurde die Krönung an sämtlichen Regenten, mit Aus¬
nahme Josefs I. und Josefs II., zuletzt um Kaiser Ferdinand, als König von
Böhmen Ferdinand V., am 7. September 1836 vollzogen. Es wird demnach
kaum bestritten werdeu können, daß eine jetzt vorzunehmende Krönung an diese
Bestimmungen und an eine mehr als zweihnndertjährige Gewohnheit den An¬
schluß zu suchen haben .wird.
Von Wichtigkeit ist dabei zunächst die Teilnahme der Vertreter von Mähren
und Schlesien. Auf sie beschränkt sich seit dem fünfzehnten Jahrhundert der
staatsrechtliche Zusammenhang dieser Länder mit dem Königreiche Böhmen,
dessen Lehen sie unter den Pzremysliden und Luxemburgern waren. Die Ver¬
waltung war seit Ladislaus Postnmus und Mathias Corvinus vollständig
getrennt, und die Stände der Markgrafschaft Mähren haben ihre Selbständig¬
keit eifersüchtig zu wahren gesucht. Kaiser Leopold II. mußte ihnen dnrch Hof¬
dekret vom 1. Juli 1791 die Versicherung geben, daß „die Erscheinung der
mährisch-schlesischen Deputirten bei der böhmischen Krönung zur Huldigung in
Prag weder der Independenz dieser Stände von der böhmischen, noch ihren
Gerechtsamen nachteilig sei," bevor sie sich zur Entsendung der Krönungs-
deputntivn entschlossen. Selbst vom Standpunkte des böhmischen Staatsrechtes
aus kann von einer innern Verbindung der drei Länder gar nicht die Rede
sein, sie standen thatsächlich in keinem andern Verhältnis als in dem der
Personalunion, durch das überhaupt alle Länder der österreichisch-ungarischen
Monarchie mit einander verbunden sind. Die gemeinsame Huldigung kann als
nichts weiter als eine Erinnerung um die einstige Zusammengehörigkeit betrachtet
werden, politische Folgen hat sie nicht gehabt. Es ist vollkomne» unrichtig,
wenn mau behauptet, die Anerkennung des böhmischen Staatsrechtes müsse zur
Aufrichtung eines geschlossenen böhmisch - mährisch - schlesischen Staatswesens
führen, worin die Tschechen von ihrem zahlenmäßigen Übergewicht über die
Deutschen unbeschränkten Gebrauch machen könnten. Ein solches StantSwesen
hat es, solange Habsburger die Krone des heiligen Wenzel tragen, nie gegeben;
man müßte nach Einrichtungen greifen, die seit einem halben Jahrtausend außer
Kraft getreten sind, wenn man das von fanatischen Tschechen mit Vorliebe
berufene „Reich der Weuzelskroue" wieder herstellen wollte.
Wenn die Deutschen in Österreich die einstige Zugehörigkeit der deutscheu
und böhmische» Erbländer zum römischen Reiche deutscher Nation und zum
deutscheu Bunde zum Ausgangspunkte der Forderung macheu, daß dieselbe»
Länder zum neuen deutschen Reich in eine pragmatisch feststehende Beziehung
gebracht werden sollen, so hat dies staatsrechtliche Kraft, denn es wird damit
nnr die Wiederherstellung einer bis zum Jahre 18L6 lebendigen und ver¬
fassungsmäßigen Verbindung verlangt. Dieselben Tschechen, die durch jede
Erwähnung dieses Staatsrechtes der deutschen Länder Österreichs in den Zu¬
stand krankhafter Aufregung versetzt werden, mögen beurteilen, was die Zu-
sammengehörigkeit der Länder der Weuzelskroue dagegen zu bedeuten hat!
Die Huldigung der böhmischen Stände, an der sich, wie soeben dnrgethan
worden ist, Gesandtschaften des mährische» und der schlesischen Landtage be¬
teiligten, fand i» einem außerordentlichen, zu diesem Zweck einberufene»
Huldigungslandtage statt. Der Eid, der dabei geleistet wurde, lautete: „Wir
gesamte Staude des Königreiches Böhmen, Markgraftnins Mähren und Herzog¬
tums Schlesien >vor dem Hubertusburger Frieden „der schlesischen Herzog¬
tümer"^ schwören Gott dem Allmächtige!! und Euch dem allerdurchlauchtigsteu
Kaiser von Österreich als König von Böhmen, Markgrafen von Mähren, Herzog
i» Schlesien und unser»! Erbherrn, Eurer Majestät, wie auch den aus Ihrem
königlichen Geblüte und Stamme »ach der bestimmten Sueeesstviisvrduiiug
nachfolgenden Erbe» und Könige» vo» Böhme» getreu, gehorsam und gewärtig,
auch nie wissentlich in dem Rate oder der Znsammenkniift z» sein, wo wider
Eurer Majestät Person, Ehre, Würde, Recht oder Stand etwas vorgenommen
wird, noch darein willigen, oder es verhehle» i» was immer für Wege, solider»
Eurer Majestät, Deroselbe» Erben, nachkommenden Könige» Ehre, Nutzen und
Frommen betrachten und befördern, und wen» wir vernehme», daß etwas wider
Eure Majestät vorgenommen oder gehandelt würde, dem sollen und »volle»
wir getreulich entgegen sein, und Eure Majestät ohne Verzug warnen, und
sonst alles das thun, was gehorsamen, getreue,? Unterthanen gegen ihren Erb¬
herrn gebührt."
Dieser Text, der zuerst in tschechischer, darauf in deutscher Sprache vor¬
gelesen wurde, laßt deutlich erkennen, daß er unmittelbar nach einer Rebellion
abgefaßt wurde. Die Besorgnis vor der Wiederholung derselben scheint dabei
maßgebend gewesen zu sein.
Die Erwiderung auf die Huldigung gab der König in dein sogenannten
„ständischen" Kröuuugseide, der auf die dem Erzbischof von Prag als Kou-
sekratvr erteilten Versicherungen religiösen Charakters folgte. Er lautete: „Wir
schwören Gott dem Allmächtigen einen Eid, daß Wir die katholische Religion
festhalten, die Gerechtigkeit für jedermann verwalten und die Stände bei den
ihnen von Ihren Majestäten und Liebden bestätigten Privilegien handhaben,
anch von dem Königreiche nichts veräußern, sondern dieses vielmehr nach unserm
Vermögen vermehren und erweitern, und alles das, was zum Nutzen desselben
gereicht, vorkehren wollen. So wahr als Uns Gott helfe!" Es wird jeder¬
mann einleuchten, daß diese Formel für die gegenwärtigen Verhältnisse aus
dein Grunde nicht taugt, weil die Privilegien der böhmischen Stände, nämlich
der Geistlichkeit, des Herreilstandes, des Ritterstandes und der königlichen Städte
seit 1849 außer Kraft gesetzt und in der Landesordnung vom 26. Februar 1L61
durch die Rechte der Abgeordneten des Großgrundbesitzes, der Handelskammern,
der Stadt- und Landgemeinde» ersetzt worden sind. Es ist aber auch klar,
daß die Anpassung des Kröunugseides an die neue Verfassung keine besondre
Schwierigkeit ergeben wird. Der König wird beschwören, daß er die (namentlich
aufzuführenden) Diplome, Patente und Gesetze, auf denen die Verfassung des
Königreiches Böhmen und dessen Verhältnis zu den übrigen Kviügreichcn und
Ländern beruht, aufrecht halten und die daraus hervorgehenden Rechte der
Gesamtbevölkerung, wie der einzelnen Wahlkörper schützen wolle. Ähnliche
Eide könnten in jedem Kronlande geleistet werden, wenn es die gesetzlichen Ver¬
treter verlangen, ohne daß die Verfassung der „im Reichsrnte vertretenen König¬
reiche und- Länder" irgendwie berührt oder verletzt werden müßte. Ebenso
würde die Ersetzung der Landesoffiziere, die in der ständischen Zeit bei der
Krönung beschäftigt waren, durch die gegenwärtigen Vorstünde der wichtigsten
Landesämter, Verwaltuugs-, Gerichts- und Finanzbehörden leicht durchzuführen,
endlich auch das Zeremoniell selbst zu vereinfachen sein, ohne daß an dem Wesen
der Krönung etwas geändert würde. Nicht eine staatsrechtliche Sonderstellung,
sondern nur eine staatsrechtlich begründete Auszeichnung wurde dem König¬
reiche Böhmen gewährt, wenn der Kaiser von Österreich den durch vielhundert-
mhrigen Brauch dem Lande wert gewordnen Akt der Krönung von neuem
vollziehen ließe. Den Vergleich mit der Fronleichuamsprozessivii, den Herr
von Pierer gebraucht hat, wollen wir uns gern gefallen lassen, denn er übt
die komische Wirkung nicht aus, die sich der geistreiche Redner davon erwartet
hat. Die katholische Kirche hält an der Fronleichnamsprozession nicht Spaßes
halber sest, sie weiß sehr genau, welche Zwecke sie damit verbindet, und der
Staat thut ganz gut daran, an dieser Einrichtung, die ihm nicht schadet, auf
die jedoch ein einflußreicher Teil der Bevölkerung großen Wert legt, nicht zu
rütteln, ja ihr sogar eine gewisse Achtung zu bezeugen. Wenn man erwarten
kann, daß die Tscheche» durch das Zugeständnis der Krönung ausgleichs¬
freundlich gestimmt würden, daß sie darin ein schützenswertes Entgegenkommen
der Deutschen erblicken würden, so ist gar nicht abzusehen, was die Deutschen
hindern sollte, darauf einzugehen. Ihre nationale Stellung wird dadurch in
keiner Weise gefährdet, der zu krönende König macht keinen Unterschied der
Nationalität nnter den Bewohnern des Königreiches, er leistet seinen Eid den
Deutschen so gilt wie den Tschechen. Kaiser Franz Josef wird von dem Zu¬
sammenhange seiner Staaten und von dem Charakter des Reiches keine andern
Begriffe bekommen, wenn er einige Stunden hindurch die Krone des heiligen
Wenzel ans seinem Haupte getragen hat, er wird die Bedeutung des Aktes so
richtig beurteilen, wie Maria Theresia, die in einem Schreiben um den Hof-
kanzler Philipp Kinskh die Bemerkung machte: „Der Landtag in Prag ist von
keiner solchen Jmpvrtanz als in Ungarn," und ihm in Aussicht stellte, sie
werde bei der Krönung „grandig" sein. Sie hat sogar von der böhmischen
Krone behauptet, daß sie einem „Narrenhäubel" gleiche, aber dies hinderte sie
nicht, sich dem gewiß nicht besonders ergnicklicheu Zeremoniell willig zu unter¬
ziehen.
Es sind offenbar mehr liberale Antipathien, als ernste nationale Be¬
denken, die die Deutschböhmen zu unnachgiebigen Gegnern der Krönung machen.
Sie hängen noch immer dem Glauben an, die liberalen Gesetze der sechziger
Jahre seien das Palladium ihrer Freiheit und Unabhängigkeit, während sie
doch in den letzten zehn Jahren reichliche Erfahrungen über die Deutbarkeit
und Dehnbarkeit liberaler Institutionen machen konnten. Trotzdem fürchten
sie jede dem liberalen Katechismus nicht entsprechende Neuerung, selbst dann,
wenn sie sich dadurch in nationaler Hinsicht besser stellen konnten. Dies würde
ohne Zweifel geschehen, wenn sich die Dentschen gegen die Kvnigskrönung nicht
kurzer Hand ablehnend verhielten. Etwas guter Wille und Nachsicht gegen
gewisse geschichtlich-politische Schwächen würde die Feudalen und Alttschechen
zu Zugeständnisse» in der Sprachenfrage veranlassen. Es ist freilich voraus¬
zusehen, daß eine Lnndtagsverhandlung über die Krönung mich die Berfasfuugs-
frage in Anregung bringen, daß dabei die Fnndamentalartikel wieder hervor¬
gezogen werden, kurz, daß von den extremen nationalen unter den Tschechen
der Versuch gemacht werden würde, ein neues höhnisches Staatsrecht aufzu-
zimmern, durch das der zukünftige Wenzelsstaat den Ländern der Stefauskrvne
gleichgestellt werden sollte.
Darauf dürften Negierung und Dynastie so wenig einzugehen geneigt sein
wie die deutsche Bevölkerung von Böhmen und den übrigen ehemaligen Neichs-
und Bundesländern, Mau braucht kein slawisches Staatsgebilde erstehen zu
lassen, wenn mau auch teilweise für eine Umgestaltung der österreichischen Ver¬
fassung im föderativem Sinne aus rein deutschnationalen Gründen Sympathien
hat. Bei vollster Wahrung ihrer eignen nationalen Ansprüche können die
Deutschen in Österreich ihren slawischen Staatsgenossen manchen Lieblingswunsch
erfüllen und sie dadurch nur um so fester an Österreich und durch dieses — was
die Hauptsache ist ..... an das deutsche Reich ketten. Durch die Krönung des
Kaisers als König von Böhmen werden die Tendenzen der Panslawisten nicht
gefördert werden, wohl aber ist alle Aussicht vorhanden, daß sie die Gelegen¬
heit zur Annäherung jener Elemente bietet, die die durch das deutsch-öster¬
reichische Bündnis geschaffenen Verhältnisse einer gesunden und für beide Teile
nützlichen Ausgestaltung fähig halten und Österreich geeignet machen wollen,
seinen Verpflichtungen als treuer Bundesgenosse unter Zustimmung aller seiner
Völker vollständig zu entsprechen. So lange die Deutschen in Österreich ihre
nationalen Forderungen mit liberalen Bestrebungen verknüpfen, wird diese
Annäherung nicht stattfinden, nur von einer aufrichtig konservativ-deutsch-
nationalen Partei ist die Lösung jener innern Spannung im Reiche der Habs¬
burger zu erwarten, die auf ihre auswärtige Politik, welche doch deu Wünschen
der Deutschen im vollsten Maße entsprechen muß, gewiß nicht fördernd zu
wirken vermag.
er eines unsrer schönen deutschen Waldgebirge bereist, fühlt sich
wohl, zumal wenn er nicht zum erstenmale dort verweilt, ge¬
legentlich veranlaßt, einem lockenden Waldpfade zu folgen und
von der Heerstraße oder den gewöhnlichen Wegen der Ausflügler
weit abzubiegen. Dann bleibt es meist nicht aus, daß er sich
größern Anstrengungen unterziehen, sich vielleicht mühevoll dnrch Dickicht
hindnrchschlagen muß. Läßt er sich aber dadurch nicht schrecken, so glückt es
ihm wohl, nicht nur reinste, schärfste Bergluft fern von allem Staube zu atmen
und sich an der frischesten unverfälschten Natur zu erquicken, sondern anch hie
und da einen iiberrascheuden weite» und schönen Ausblick zu gewinnen.
So wird e6 »ianchem geh», der die Mühe nicht scheut, ein im vorigen
Jahr erschienenes philosophisches Werk durchzuarbeiten, das von dem Ver¬
fasser, Dr. R. Döring, „Philosophische Güterlehre, Untersuchungen über
die Möglichkeit der Glückseligkeit und die wahre Triebfeder des sittlichen
Handelns" genannt wurden ist (Berlin, R. Gaertner, 1888).
Philosophische Werke erfreuen sich in unserm realistischen Zeitalter nicht
oft einer Beachtung in weiter» Kreisen. Immerhin hat der Erfolg Schopen¬
hauers und Hartmmins »»d selbst andrer Philosophen wie Fischer, Wunde,
Paulsen gezeigt, wie tief im deutschen Bolle das Bedürfnis begründet ist, die
Welt denkend zu erfassen. Und nun tritt ein Schriftsteller auf, der sich dar-
zuthun bemüht, daß mit der Negation aller Güter und der Glückseligkeit durch
deu modernen Pessimismus das Grundproblem für eine ganz neue Phase der
Philosophie gesteckt sei und es von der Lösung dieses Problems abhängen
werde, ob unsre Gesittung als eine lebensvolle und zukuuftreiche wird angesehen
werden können, der ein wahres höchstes Gut nachweisen und damit die wahre
Ethik als Theorie der auf die wahre Glückseligkeit gerichteten Lebensführung
geben zu können glaubt.
Leicht hat er es seinen Lesern nicht gemacht; nicht etwa weil Form, und Aus¬
druck des Werkes schwerfällig wären: im Gegenteil, er hat mit bestem. Erfolg nach
Lesbarkeit gestrebt und fremde Terminologien bis auf eine, auch mehrfach in
glücklicher Weise überflüssige Fremdwörter vermieden. Aber er biegt weit von der
Heerstraße und den betretenen Wegen der philosophischen Untersuchung ab, bahnt
sich mit großer Mühe neue Pfade und führt in einen ganz umfassenden Kreis neuer
Gedanken ein, die mit überraschender Folgerichtigkeit unter einander verbunden
sind. Er setzt dazu ein sehr lebendiges und wahres Interesse für die höchsten
Fragen der Menschheit voraus, bietet aber auch vielfach ganz überraschende
Gesichtspunkte, indem er mit Scharfblick auf manche psychologische Vorgänge,
namentlich Selbsttäuschungen aller Art, aufmerksam macht, einsichtiges Ver¬
ständnis für alles Streben anf theoretischem und praktischem Gebiete bekundet
und zur Erläuterung seiner Gedanken manche treffende Aussprüche aus dein
reichen Schatze seiner Belesenheit anführt.
Was aber dem Werke vor allem Beachtung sichert, ist, daß es so energisch
an die letzte große Bewegung der deutscheu Philosophie anknüpft, die pessi¬
mistischen Systeme, und diese, die wahrlich Unheil genug angerichtet haben,
eingehend und mit gutem Erfolg widerlegt und durch einen zwar entschiednen
aber edeln Eudümonismus zu ersetzen sucht. Das ist eine befreiende That,
darin liegt eine vielleicht epochemachende Bedeutung des Werkes.
Der Verfasser tritt i» eine mächtige neuere Bewegung ein. Mit Recht
beruft er sich auf Ansichten von Männern wie Zeller, der Glückseligkeit, d. h.
den Zustand, in dein alle Interessen eines lebenden Wesens befriedigt werden,
für den letzten Zweck, das Streben darnach als den Beweggrund aller unsrer
Thätigkeit bezeichnet, auf Sigwart und Horvüez und führt später, freilich zum
Teil ablehnend, E. Pfleiderer an. Und für die hohe Bedeutung der Gefühle
der Lust und Unlust hätte er fast alle neuern bedeutenden ethischen Werke an¬
führen könne», z. B. Wunde: „Der Mensch handelt nicht das einemal nach
unmittelbarem Gefühl, ein andermal nach Reflexion, sondern immer nach Ge¬
fühlen" (Ethik S. 437), Paulsen: „Gäbe es Gefühle der Befriedigung und des
Unbehagens, der Lust und des Schmerzes überhaupt nicht, dann gäbe es auch
keine Wertunterschiede, dann würden gut und schlecht sinnlose Wörter sein,
oder vielmehr sie würden in der menschlichen Sprache überhaupt nicht vor¬
kommen" (Syst. d. Ees. S. 200) u. a. in. Auch die wachsende Anerkennung der
ältern und neuern englischen Eudämonisten und Utilitarier läßt eine Wendung
in der Philosophie erkennen, und der Verfasser hat daher Recht, wenn er es
für zeitgemäß hält, diejenige Frage, eingehend zu untersuchen, welche die
griechische Philosophie am tiefsten erregt hat, die Frage nach dem höchste«
Gut, die ja auch in der christlichen Philosophie insofern eine Fortsetzung findet,
als das vom Christentum aufgestellte Glückseligkeitsideal die Philosophie bis
zur pessimistischen Leugnung desselben bestimmt.
Somit steht die Güterlehre im Vordergründe. Aber „jede Güterlehre,
die ein einheitliches höchstes Gut aufstellt, ermöglicht damit eine Ethik als
Theorie einer Lebensführung, die auf Realisirung der Glückseligkeit durch
Realisirung dieses höchsten Gutes gerichtet ist, sowie natürlich auch die ent¬
sprechende Praxis dieser Lebensführung." Und wie sehr man anch von des
Verfassers System abweichen mag, so wird man doch zugeben müssen, daß
Eudämonismus und energisch sittlicher Geist kaum je in so innige Verbindung
gesetzt worden siud. Epiknreismns und Stoizismus sind hier so nahe wie
möglich gebracht und vereinigen sich mit einem tiefen religiösen Verständnis,
das, so frei auch des Verfassers Standpunkt ist, die Philosophie selbst wieder
zu einer Art Religion macht und die tiefen Erregungen des christlichen Gemüts,
Wiedergeburt aus einem Zustande natürlicher sündlicher Entfremdung vom
höchsten Bilde menschlicher Vollkommenheit und Befriedigung, eine Versöhnung
mit dem Ideal, die zugleich Erlösung vom natürlichen Zustande ist, eine das
ganze Seelenleben in die betrachtende Erhebung zum Ideal zusammenfassende
Erbauung und Gebetsrichtnng, die den Vollgenuß der Befriedigung aus dem
höchsten Gut, Trost in Leid und Unbill und Kraft zur Verwirklichung des
Guten im einzelnen gewährt, für die wahre philosophische Erkenntnis in An¬
spruch, nimmt. Somit wird denn auch jener Militarismus, der als Ziel des
Strebens das größtmögliche Wohlsein der größtmögliche» Zahl bezeichnet
(Bentham, Will), damit aber auf der Stufe der Güterschützung des populäre»
Bewußtseins stehen bleibt, weit überflogen, ja auch das Mitgefühl (man denke
an Humes Sympathie!) soll nur als aufgehobenes aber immerhin verstärkendes
natürliches Moment in ein höheres ethisches oder Wertstreben eingehen.
So viel im allgemeinen, Nun zu einer kurzen Andeutung des Haupt¬
inhalts des Buches.
Ein Gut ist etwas, das Wert hat. Damit beginnt der Verfasser, indem
er uns sofort mitten in die,Sache einführt. Der eigentliche Grund, daß einem
Objekt Wert beigemessen wird, beruht auf der Erregung des Gefühls durch
dasselbe. Ein Gut ist ein Objekt, das Lust, ein Übel ein Objekt, das Unlust
erregt. Die Lust an sich ist für daS Individuum der letzte Wert, das eigent¬
liche Gut an sich, die Unlust der letzte Unwert, das eigentliche Übel an sich.
Die Güterlehre soll nun nicht nur allgemein giltige Bestimmungen hinsichtlich
der einzelne» Wertobjekte aufstellen, sondern anch die Frage beantworten, ob
Glückseligkeit als unzweifelhaftes Überwiegen der Lust über die Unlust möglich
sei, und in welchem Maße, und zerfällt somit in zwei Hauptteile, eine elemen¬
tare Güterlehre und eine zusammenfassende Güterlehre, anch Glückseligkeitslehre
genannt. Richtig aufgefaßt, ist sie, da sie die notwendige Voraussetzung der
praktischen Wissenschaften ist und die theoretische Erkenntnis der gesamten
Welteinrichtung zur Voraussetzung hat, das verbindende Band zwischen den
beiden dadurch gegebenen Gruppen, sonach auch übergeordnete Fundamental-
wissenschaft, Wissenschaft der Wissenschaften. Nachdem sich in ihr früher der
Dogmatismus mannichfach geltend gemacht hat, mit dem Pessimismus aber
ein ernstlich kritischer Geist in sie eingedrungen ist, muß sie nun rein kritisch
zu Werke gehen.
In der Elementarlehre wird nun zunächst aus dein Zeugnis der innern
unbefangenen Erfahrung die innere Möglichkeit der Güter erwiesen gegen
Schopenhauer, nach welchem der Primat in der Seele dem Willen zu¬
kommt und stets entweder die Unlust des Begehrens oder die der Langenweile
am Werk ist, jede im Entstehen begriffene Lust zu vernichten, sodaß auch im
Fall der adäquaten Befriedigung des Wunsches nnr ein Nullpunkt der
wahren Befriedigung herauskommt. Es wird nun folgerichtig dargethan, daß
nicht der Wille den Primat in der Seele hat und daß, wie anch aus den
durch das Gefäßsystem vermittelten körperlichen Wirkungen der Gefühle hervor¬
geht — die motorischen Nerven kommen dabei wohl zu kurz —, die Lust nicht
ein sekundäres Produkt aus vorhergehender Unlust ist, sondern ihr als gleich¬
berechtigter selbständiger Gegensatz gegenübersteht.
Die Möglichkeit der Lust und Unlust beruht nun für uns ans unsern Be¬
dürfnissen. Bedürfnisse heißen nämlich die Erfordernisse der menschliche» Natur,
sofern sie imstande sind, sich im Bewußtsein, soweit ihnen Genüge geschieht,
als Lust, soweit nicht, als Unlust zu reflektiren. Denn nicht unmittelbar
tritt das Bedürfnis ins Bewußtsein, sondern nur, soweit ihm Befriedigung
zu teil wird, als Lust, soweit nicht, als Unlust. Das Bedürfnis ist der
innere Nealgrnnd deS Gefühls, das Gefühl der Erkenntnisgrnnd des Be¬
dürfnisses.
Es sind also vor allein diese Bedürfnisse und die Möglichkeit der Ge¬
fühle, die sie bieten, zu ermitteln. Es genügt aber nicht, die sich einer ober¬
flächlichen Betrachtung darbietenden Güter oder Arten der Lust aufzugreifen
und ihnen ein entsprechendes Bedürfnis gegenilberzustellen, z. B. ein Besitz-,
Ehr-, Liebes-, Schönheitsbedürfnis; denn die dann hervortretenden Arten von
Lust sind vielmehr Lustkomplexe und weisen auf eine Mehrheit verschieden¬
artiger Bedürfnisse hiu. Es müssen vielmehr die Grnndbedürfnisse ermittelt
werden.
In der sorgfältigen Untersuchung und Beschreibung derselben wie in der
möglichst genauen Feststellung der durch sie erregten Lust besteht nun ein
Hauptverdienst der Arbeit Dörings. Der Verfasser geht dabei uicht auf
schematische Gliederung aus, die ihm nahe genug lag, scheut auch nicht einen
Sprung bei der Teilung, sondern ist mit der rücksichtslosen Energie des Wahr¬
heitsforschers bemüht, den thatsächlichen Stand der Dinge zu erkennen.
Hiernach erhält er folgende Gruudbedürfnisse:
1. Das Ansdrncksbedllrfnis, dessen Schilderung zum Teil höchst anziehend
ist. 2. und 3. Die materialen und formalen oder Fnnktionsbedürfnisse des
körperlichen Organismus. 4. bis <>. Die materialen und formalen oder Be¬
schäftigungsbedürfnisse der Seele. Da sich aber die erstern nicht ans das
Gefühl beziehe» können, das als Folge und Symptom jeder Art von Be¬
dürfnisbefriedigung außerhalb jeder Bedürfuisfrage steht, und dn auch das Be¬
gehren oder Streben erst infolge aktueller Unlust an nicht befriedigten Bedürf¬
nissen als Mittel zur Verbesserung des unbefriedigten Zustandes auftritt> so
kann es keine gesonderte» materialen Bedürfnisse für die Grundfunktion des
Gefühls und des Begehrens geben, und es bleiben als materiale seelische Be¬
dürfnisse nur Vorstellungsbedürfnisse übrig, die sich entweder auf den Wert
der Welteinrichtung für uns (4.) oder auf unsre Selbstschützung beziehen (5.).
Dazu treten ferner 7. Bedürfnisse hinsichtlich der Verändernngsphascn und
Entwicklungsstadien unsrer Organisation und 8. hinsichtlich des AufHörens
unsers Daseins, und allen genannten stehen 9. die Bedürfnisse hinsichtlich der
Zustände der übrigen fühlenden Wesen gegenüber.
Man kann sich diese Einteilung sachlich bis ans einen Punkt gefallen lassen.
Freilich läßt sich das Ausdrncksbedürfnis teils auf ein seelisches Funktions¬
bedürfnis, teils ans Vorstellnngsbedürfnisse zurückführen, sofern man am Aus¬
druck „gleichsam einen verstärkenden Resonanzboden" für die innern Zustände
findet, und die Veränderungsphasen und Entwicklungsstadien unsrer Organisation
samt dem Tod gehören doch gewiß auch zur Welteinrichtung und werden vom
Verfasser auch um andern Stellen dahin gerechnet. Aber man kann nicht zu¬
geben, daß es für unser Fühlen und Streben keine materialen Bedürfnisse
gebe. Im Gegenteil, dies bedarf wirklicher Dinge und Wesen, durch die es
teils erhalten, gehoben und gefördert wird, teils Widerstand, Begrenzung und
Richtung findet, sodaß sich das Fühlen und Streben des Einzelnen zum Fühlen
und Streben mit oder wider andre erweitert, nicht bloß um dieser willen,
wie des Verfassers neuntes Bedürfnis ergiebt, und mir mittelbar um des eiguen
Selbst willen, sondern ganz unmittelbar um des eignen Selbst willen.
Davon ist auch der Verfasser, wie sich später ergiebt, im Grunde durchdrungen,
aber daß er in diesem Zusammenhange davon absieht, trägt viel zu Isolirung
des Einzelnen und seiner Güter bei, die jedem Eudämonismus so gefährlich wird.
Übrigens wird man sich durch ganze Reihen von feinen Beobachtungen
des Verfassers über die Bedürfnisse der menschlichen Natur aufs lebhafteste
angeregt fühlen, z. B. seine Darstellung des Beschäftigungsbedürfuisses, das die
wunderlichsten Blüten treibt, vor allem seine Bemerkungen über direkte und
indirekte Reflexselbstschätzung, die hübsche Analyse der Elternliebe, über das
künstliche Genußbedürfnis der Gaumenlust und der Geschlechtslust u. a. Im
ganzen ist das mit wenigen Einschränkungen als richtig anzuerkennende, teils hier
teils später begründete Ergebnis, daß sich bei dem Ausdrucksbedürfnis und
sämtlichen Funktionsbedürfnisseu, ferner auch bei deu materialen Körperbcdürf-
uissen mehr Lust, bei deu andern mehr Unlust entwickelt, bei dem Mitgefühl
beides nach Maßgabe des eignen Gefühls.
Die Untersuchung wendet sich dann der äußern Möglichkeit der Güter zu
und zieht hierher anch mit Recht die Organisation des Menschen, sofern sie
für Verwirklichung der Güter erschwerende oder erleichternde Umstände mit
sich bringt.
Da ergiebt sich nun die eigentümliche, sehr zu beherzigende Thatsache, daß
es bei einem Teil der Grundbedürfnisse an einer festen Grenze für ihre Ve-.
friedigung fehlt. Zum Teil macht sich dabei das unendliche Wesen des mensch¬
lichen Geistes geltend, der immer nach Höheren strebt und sich nie genug thun
kann. Jedes Streben aber ist von einer doppelten Unlust begleitet, teils wegen
des unmittelbar erforderlichen seelischen Kraftaufwandes, teils wegen der das
ganze Streben begleitenden Spannung und Unrnhe. Es ergiebt sich ferner,
daß viele primäre Unlust vorhanden ist, aus der sich dann erst sekundäre Lust
oder Unlust entwickelt. Die Unlust sucht man um zum Teil zu beseitigen durch
Leichtsinn, der sich die volle Würdigung der eignen Lage erspart und leichten
Fußes über den Anlaß zur intellektuellen Unlust hinwegschreitet, gleich dem
Syrer in Rückerts Parabel, der den Drachen Tod im Brnnnengrunde, das
oben drohende Kamelshaupt Lebensnot und die seinen Halt am Strauche unter¬
wühlenden Mäuse übersieht, um sich dem verlockenden Sinnengenüsse hinzu¬
geben, zum Teil durch Illusionen, in deren Zeichnung der Verfasser eine
besonders glückliche Feder führt, zum Teil durch Resignation, die wenigstens
lustvoller ist als Anstürmen wider das Schicksal, namentlich aber durch das
eigentliche Abhilfestreben, ein primäres Streben, das immer durch primäre
Unlust erregt wird. Es äußert sich zunächst als primärer Trieb, der mehr
sekundäre Übel, denn als Begehren, das mehr sekundäre Güter schafft. Erst
der feste Wille, als das nnter wertvergleichender Vernunft stehende Streben
nach Handlungen, die objektiven Wert haben, das in seinen Konsequenzen den
fühlenden Wesen »Förderliche, Heilsame, das sittlich Gute bezwecken, erhebt sich
zu einem höhern Standpunkt.
Im zweiten Teil, in der< Glückseligkeitslehre, weist der Verfasser gegen die
überspannten Ansichten Hartmanns nach, daß allerdings von einer überwiegenden
Lust im menschlichen Leben die Rede sein kann. Zwar eine vollkommene Selig¬
keit, wie sie sich die ^christliche Anschauung großenteils denkt, ein^völlig unlnst-
freicr Zustand im Jenseits erscheint nicht möglich. Aber schon die christliche
Hoffnung erzeugt eine universelle Freudigkeit, die der . wahre und natürliche
Ausdruck unzweifelhafter Lust als Wirkung von Überzeugungen ist, denen solche
Wirkung mit Notwendigkeit entspringen muß. Und auch ans dem Standpunkte
des populären Bewußtseins ergiebt sich die Möglichkeit überwiegender Lust als
innere und äußere: Leichtsinn, Illusionen, Müßigkeit, Genügsamkeit und Gunst
des Schicksals erzeugen ein nicht geringes Maß glücklicher Stimmungen.
Namentlich die Beobachtung mancher einfachen Menschen, die nie über ein
geringes Maß der Auffassung von Welt und Menschen hinauskommen, beweist
dies unwiderleglich.
In viel höherm Maße aber wird eine gewisse Glückseligkeit erreicht, wenn
man, wie Pluto, Aristoteles, die Stoiker und Epikurecr ein gewisses Gut als
höchstes betrachtet, dem sich alle unterordnen müssen. Und in höchstem Maße
soll als solches alles andre übertreffende Gut das Bewußtsein des wahren
Eigenwertes erscheinen, da gegenüber dem Bedürfnisse der Selbstschätzung alle
übrigen Güter nur als Zustandsgüter anzusehen sind, und da, wenn jenes
Bedürfnis nicht illusorisch, sondern wahrhaft real befriedigt wird, ein unein¬
geschränktes Zustandekommen der Stärke und Dauer der darauf beruhenden
Lust verbürgt ist. Es kann aber das Bedürfnis des Eigenwertes nur durch
Streben befriedigt werden, zumal da auch das formale Bedürfnis der Bethätigung
unsers Strebens und unsre Schicksalslage dahin drängt. Es setzt ferner voraus,
daß der objektive Wert, den wir erreichen müssen, wenn wir uns selbst sollen
schätzen können, durch Streben nach dem Wohlsein von Wesen, die gleichen
Bedürfnisstand mit uns haben, zustande komme. Indem sich nun diesem Wert¬
streben alles andre Streben zur Willenseinheit unterordnen läßt, ergeben sich
die drei direkten Kardinaltugenden der Gerechtigkeit, der Güte und der
Berufstreue, die beiden indirekten der Besonnenheit und der Beständigkeit, dazu
die alle übrigen Tugenden regelnde Weisheit. Der wahre Wert aber kommt
allein der Richtung des Strebens zu, da es von äußern Erfolgen nicht ab¬
hängen darf. So gefaßt aber, vermag sich dies Streben gegen alle innern
Zustände als beherrschendes durchzusetzen, wenn es den natürlichen Zustand
des Menschen als solchen nach den: Vorbilde der christlichen Religion und der
Mystiker, aber mit überlegterer sittlicher Kraft, überwindet und zu einer Wieder¬
geburt in dem Streben nach dem Ideal führt; denn es giebt nichts absolut
Wertvolles als den guten Willen.
Die Aufgabe, um die es sich sonach handelt, erscheint dem Verfasser als
eine konservative, gesellschafterhaltende. Nicht durch Negation, Zerbröckeluiig
und Schwächung der alten Kulturgrundlagen kann sie gelöst werden, wie die
falsche Aufklärung meinte, sondern nur durch Legung eines neuen, haltbaren
Untergrundes. Den zu solcher Arbeit berufenen ziemt nicht polterndes Schelten,
Anstürmen, Niederreißen, sondern schonender Respekt vor deu durch ihren tief-
sinnigen Inhalt und durch die Jahrhunderte ihrer Wirksamkeit ehrwürdigen
bisherigen Palladien der Gesellschaft in prinzipiellen Streben nach Formu-
lirung des Neuen, aber auch der furchtlose Freimut der eignen Überzeugung.
Daß der Verfasser die erhaltenden Mächte vollauf zu würdigen weiß, zeigt n. n.
feine treffliche Besprechung der Bedeutung des christlichen, vor allem des
deutschen Staates.
So geistvoll aber des Verfassers Betrachtungen sind, so erheben sich doch
auch, abgesehen von den schon oben erwähnten, gewichtige Bedenken dagegen.
Von untergeordneter Bedeutung ist es, daß er sich die Gelegenheit ent¬
gehen läßt, sein System in einzelnen Punkten noch vollkommner auszugestalten.
Dahin gehört, wenn er erklärt, das Ausdrucksbedürfnis und das seelische
Funktivnsbedürfnis des Strebens könnten sich unmittelbar nur in einem
Streben äußern, und erst sekundär entstünden Lust oder Unlust. Deun
abgesehen vou den Reflexbewegungen, die nicht dem Bewußtsein ange¬
hören, aber dein Streben, zunächst dem Triebe, alsbald einen ganzen Apparat
körperlicher Vorgänge zur Verfügung stellen, wird auch in diesem Falle als
erste Quelle des Strebens ein Gefühl des Behagens oder Unbehagens anzu-
sehen sein, das erst seinerseits die dein Bewußtsein angehörigen Bestrebungen
veranlaßt. Nur weil diese Vorgänge so innerlicher Natur sind und sich oft
kaum merklich vom Gemeingefühl ablösen, mag es scheinen, als ob hier dem
Streben kein Gefühl voranginge. Ebenso war der Verfasser wohl schwerlich
genötigt, zu erklären, daß Genuß eine Lust ohne vorhergehendes Bedürfnis sei,
ans der sich erst nachher ein Geunßbedürfnis entwickle. Denn wenn es auch
wahr ist, daß z. B. die Gaumenlust nicht durch das Grundbedürfnis der
Sättigung erzeugt wird, fo weist doch der Geschmackssinn, der ja nicht in un¬
trennbarer Verbindung mit dein Sättigungsbedürfnis steht, aber von dem Ver¬
fasser namentlich hinsichtlich der höchst widerwärtigen Empfindungen, denen er
ausgesetzt ist, nicht hinlänglich gewürdigt wird, nicht weniger als andre Sinne
auf ein Bedürfnis der Natur hin.
Schlimmer ist, daß den Verfasser seine Theorie um einem entscheidenden
Punkte im Stich läßt. Erkenntnisgrund jedes Bedürfnisses soll eine Lust sein.
Wo ist nun diese Lust bei dem Bedürfnis der Selbstschätzung, dem Bewußtsein
des Eigenwertes? In dem sich selbst schätzenden nicht, denn eS handelt sich
hier zunächst nicht mehr um subjektiven Wert, sondern um Wert des Subjekts
selbst, der also ein objektiver, nicht ans seiner Bedeutung für das Individuum
selbst, sondern auf einer Bedeutung des Individuums selbst für etwas außer
ihm befindliches Allgemeines ist, nämlich für untre fühlende Wesen. Erst aus
dein Bewußtsein dieses objektiven Wertes entwickelt sich dann auch subjektiver
Wert. Es kann also zunächst symptomatische Lust, die uns unsern Wert
verrät, mir in den andern fühlende» Wesen vorhanden sein. Aber von deren
Schätzung sollen wir uns ja, wie der Verfasser so beredt ausführt, nicht ab¬
hängig machen, und auch unser Mitgefühl mit fremder Lust und Unlust ist
nur ein unsicherer Leitstern. Der Verfasser befindet sich demnach hier in Ver¬
legenheit, räumt ein, daß es rätselhaft sei, wie das Bedürfnis des Bewußtseins
des Eigenwerts entspringe, und sagt: „Wir kommen hier nicht über die un¬
mittelbare Thatsache eines Bedürfnisses des Eigenwertes hinaus; dasselbe
bildet einen thatsächlichen Charakterzug der menschlichen Natur, der tief im
unbewußten Geistesleben wurzelt, gleichsam ein naturgeschichtliches Faktums!)
im höhern Sinne." Damit ist aber an Stelle des Grundprinzips ein Dogma
getreten, das, ohne erklärt zu werden, Anerkennung fordert. Der Eudämonismus
ist durch den Begriff des objektiven Wertes durchbrochen.
Doch uicht dagegen ist etwas einzuwenden, daß der Verfasser die Hand¬
lungen fast durchweg von Gefühlen als Triebfedern ausgehen läßt: er könnte
dies vielmehr in noch umfassenderen Maße thun, wie ja die neuere Philosophie
dazu ganz besonders neigt.
Wenn aber auch Gefühle immer und überall die Triebfedern der Hand¬
lungen sind, so sind sie darum doch nicht deren einzige Ursachen. Wenn eine
Uhr auch fortwährend durch eine Triebfeder in Bewegung gesetzt wird, so ist
doch diese nicht die alleinige Ursache, daß der Mechanismus in Bewegung ist,
sondern daneben der gesamte von der zwecksetzenden Thätigkeit des Uhrmachers
geschaffene Van. Hinter jeder einzelnen Handlung steht doch mehr oder weniger
als treibende Macht die ganze Persönlichkeit. Nun ist diese zwar unter steter
Mitwirkung von Lust und Unlust herangebildet, sie hat keinen bewußten Augen¬
blick erlebt, wo ihre Richtung nicht dnrch Gefühle mitbestimmt worden wäre.
Aber sie tritt zunächst fast unbewußt mit einer Fülle von Anlagen in die Welt
ein. Während der Erziehung werden ihre Gefühle großenteils von außen her
unter Mitwirkung von mehr oder weniger Zwang erzeugt, und es pflegt ja
beim Erzogenwerden nicht ohne manche abgenötigte Unlust abzugehen. Nach
Vollendung der Erziehung hat dann der Einzelne gelernt, sich Zwecke zu setzen
und sich für die Zukunft durch Wahl eines Berufs oder sonstwie Zwangslagen
zu schaffen, die von dem entscheidendsten Einfluß auf sein Streben sind. Die
Frage der Lebensführung, die Ethik, ist also zum Teil von der Eigenlust der
Einzelnen unabhängig. Die für das sittliche Leben vorhandnen, nicht aus eignen
Gefühlen entstandnen Daten müssen bei der sittlichen Lebensführung mit ver¬
arbeitet und zweckmäßig verwertet werden. Und dafür sind Lust und Unlust
oft trügerische Leitsterne, da sie nur Erkenntnisgründe der Bedürfnisse, Symptome
und gleich allen Symptomen unzuverlässig sind, wie ja der Verfasser selbst
mehrfach scharfsinnig entwickelt. Dagegen dürfen sie nicht als Realgründe des
Handelns zum leitenden Prinzip gemacht werden.
Und darum ist schließlich jedes Prinzip des Eudämonismus, selbst das
feinstgesponnene wie das des Verfassers, so gefährlich, weil es unvermerkt die
Lust und Unlust, einen ErkenntuiSgruud, zum leitenden Nealgrnnd des Strebens
macht. Denn der von einem bewußten Wesen beharrlich verfolgte Zweck wird
zu einem mächtigen Realgründe. Hauptzweck aber der ethischen Bestrebungen
der einzelnen Menschen soll sein, für die Erfordernisse der menschlichen Natur,
die letzten Realgründe der Gefühle und des Strebens, innerhalb der Verhältnisse,
in denen die menschliche Natur steht, also allerdings für ihren zum Teil dnrch
nüchterne, gefühlsleere Erwägungen zu ermittelnder objektiven Wert nach Kräften
zu sorgen, und zwar, je höher diese Erfordernisse gerichtet sind, um so mehr, also
sür die geistigen mehr als für die leiblichen, für die sittlichen mehr als für die
geistigen. Dabei sollen denn die Gefühle als Triebfedern aller Handlungen
gebührend berücksichtigt werden, und darum ist auch des Verfassers Ansicht
als in vieler Hinsicht sehr wertvoll anzusehen. Aber höher als Lust und
Unlust stehen die Interessen, die aus dem steten Zusammenwirken von Lust und
Unlust einerseits und von zwecksetzender Thätigkeit anderseits entstehenden, von
der Gemeinschaft der Menschen zu regelnden wertbestimmenden Zugkräfte des
Lebens. Die Interessen der menschlichen Gemeinschaft aber bestehen darin, daß
ihr Leben überall möglichst gefördert und reich entwickelt und mit dein Leben
der Menschheit in möglichste Übereinstimmung gebracht werde, und jedes einzelne
Leben soll objektiven Wert dadurch erhalten, daß es die Interessen der mensch¬
lichen Gemeinschaft auch zu den seinigen macht. Wie dies geschehen soll, hat
die Ethik anzugeben, die die Handlungen nach ihren gesamten beabsichtigten
oder thatsächlich eingetretenen Wirkungen beurteilen lehrt und dabei der Güter¬
lehre eine gebührende Stelle einräumt.
Der Verfasser verspricht sich von. dem richtig geleiteten Bewußtsein des
wahren Eigenwertes das höchste Maß erreichbarer Glückseligkeit. Er führt
dafür auch beherzigenswerte Zeugnisse an, z. B. einen Ausspruch der durch
sittliche Führung ausgezeichneten Tongainsulaner: „Nach einer guten That
haben wir ein schönes herrliches Gefühl, darum handeln wir gut," und die
Worte I. Grimms: „So lauge ich Atem ziehe, werde ich froh sein, gethan zu
haben, was ich that," ferner die gewiß zum Nachdenken sehr anregende That¬
sache, daß es für den sibirische,: Zwangsarbeiter die schrecklichste Strafe ist,
die ihn zur Verzweiflung bringt, wenn er zu völlig zweckloser Arbeit, z. B.
Erde von einer Stelle weg und dann wieder an dieselbe Stelle zu schaffen ge-
zwungeu wird. Der Verfasser strebt somit »ach ähnlichem wie Fichte mit seiner
Religion des freudigen Rechtthuns nud der reinen Zufriedenheit mit sich selbst
und kaun sich unzweifelhaft darauf berufen, daß kein Leben für wahrhaft wert¬
voll erachtet wird, das nicht mit dein Bewußtsein eignen Wertes, mit dem
Gefühl, deu angewiesenen Platz auszufüllen und ein nützliches Glied in der
Kette der Menschheit zu sein, verbunden ist. Aber daß dies Gefühl deshalb
das höchste Gut sei, ist doch zu bestreikn. Denn der Mensch findet nun einmal
ebenso wie sich selbst auch die Welt und die andern Menschen vor, findet auch
seine Lebenslage ganz an die der andern Menschen geknüpft, erhält von Ge¬
meinschaften mancherlei Art die mächtigsten Antriebe, und wenn er nicht selbstlos
sein kann und soll, so wird doch seine Selbstbefriedigung umso größer sein, je
mehr sie ihm. nicht als Hauptzweck seines Lebens vorschwebt, sondern sich aus
dem Bewußtsein, mitten in der Menschheit zu stehen und mit ihr zu fühlen und
zu streben, von selbst ergiebt, je mehr er sein Selbst zu einem Teile des Mensch¬
heitslebens erweitert fühlt. Und darum wird doch die hingebende, mitfühlende,
beglückende Liebe jedenfalls wohl für einen Teil der Menschheit, die Frauen,
als Kern und Stern des Lebens und höchstes Gut erscheinen, aus dem sich
in einigermaßen normaler Lage von selbst das edelste Lustgefühl, jeuer tiefe
Friede ergiebt, der Friede in Gott.
Nur augedeutet sei endlich, daß an dem höchsten Gute doch womöglich
auch schon der werdende Mensch teilnehmen soll. Nun kann schon das Kind
und in steigendem Maße das Jugendalter an der Liebe und an gewissem edeln
Gefühlen und Bestrebungen teilnehmen, nicht aber an dem Bewußtsein des
Eigenwertes und der Selbstschützung. Vielmehr möchte man diese möglichst
spät entwickelt sehen.
In seinen ethischen Anschauungen, soweit sie das wirkliche Handeln
und die dazu erforderliche Gesinnung betreffen, steht der Verfasser auch dem/
was hier entwickelt ist, nicht fern, da er als objektiven Wert des Einzelnen
ungefähr dasselbe fordert, nur daß er diesen dem Bewußtsein des Eigenwertes
unterordnet. Dankbar sei zugleich anerkannt, daß er auch dadurch, wie hiermit
aus eigner Erfahrung versichert wird, in gewisser Richtung eine sehr bedeutende
kräftigende sittliche Wirkung erzielt. Auch darum muß seinem gedankenreichen
Werke die gebührende Beachtuug gewünscht werden.
le Anstalten des Melanchthonschen Schillplanes finden ihren
Abschluß in der Universität, deren Umgestaltung nach den Grund¬
sätzen der Reformation den Mitarbeiter Luthers viel beschäftigt
hat. Ihre Einrichtung erfolgte, wie Hartfelder in seiner Schrift
nachweist, „gänzlich unter dem religiösen Gesichtspunkte," sie dient
„Gott zu Lobe, der Erbreiteruug ^Verbreitung^ seines heiligem Evcmgelii und
göttlichen Worts, auch zur Erweiterung aller ehrlichen und guten Künste," sie
ist „die Stätte, wo die wichtigsten jd. h. die theologische»! Streitfragen erläutert
und entschieden werden." Sie sollte in vier Fakultäten zerfallen, unter denen
die theologische als „Fortsetzung der nlttestamcntlicheu Priester-, Leviten- und
Prophetenschulen" deu erste» Rang einnehmen soll. Sie hatte in Wittenberg
vier „Legenden," Unter denen der Pfarrer der Stadt ist und an deren Spitze
ein Dekan steht. Der erste Legent war der Exeget des Neuen Testaments; er
hatte nach einander den Römer-, den Galaterbrief und das Jvhannisevangelium
zu erklären. Der zweite las über Schriften des Alten Testaments, und zwar
zuerst über die Genesis, dann über die Psalmen und zuletzt über Jesaias, ab
und zu auch über die Augustiuische Schrift «piriw «ze littst, „um den
rechten Verstand Äo Zrg,t>in in ?Aula> zu erhalten." Die Aufgabe des dritten
war die Auslegung der übrigen Paulinischen Briefe, auch der des Petrus und
des Johannes. Der vierte Legeut sollte zweimal wöchentlich das Matthäus-
evaugelium oder das Deuteronomium oder auch einen der kleinen Propheten
auslegen. Besondre systematische und historische Vorlesungen gab es nicht.
„Jedes exegetische Kollegium war zugleich ein systematisches, indem man in
der Einleitung oder gelegentlichen Exkursen die Hauptlehren der zu erklärenden
Schrift nach looi ordnete und zusammenfaßte. So wurde bei Melanchthon die
Erklärung des Nömerbriess regelmäßig zu einer protestantischen Dogmatik und
Ethik, die Interpretation eines Evangeliums zu einem Leben Jesu. Die Kirchen-
geschichte aber verband man noch mit der Prvsangeschichte."
Die zweite Fakultät, die juristische, hatte gleichfalls vier Legenden, die
jeder wöchentlich viermal zu lesen hatten, und zwar der erste, je nach seinem
Gutdünken, in äigosto vvtori, Intortmto oder äiAösto novo, der zweite in
Döervt^MnZ, der dritte in Loclios und der letzte die Institutionen. Dieser
sollte sich zugleich als Armenadvokat, die drei andern als Beisitzer beim Hof-
gericht gebrauchen lassen. Die medizinische Fakultät in Wittenberg hatte an¬
fänglich nur einen, dann zwei, von 1536 an drei ordentliche Professoren; der
erste las über „die nützlichsten Bücher des Hippokrates und Galenus," der
zweite über Rhazes und Avicenna, der dritte über „anatomische Bücher."
Am meisten verändert wurde durch Melcmchthons Umbildung der mittel¬
alterlichen Universität die Fakultät der Artisten oder Philosophen, die er als
„Ursprung und Stamm der andern" bezeichnet. Sie hatte zehn „Lektoren,"
die ein Kollegium bildeten, und unter die von 1546 an die Vorlesungen in
folgender Weise verteilt waren. Von den beiden ersten las der eine über
Dialektik und Rhetorik, der andre über Physik und das zweite Buch des Plinius,
von den beiden. Mathematikern der eine über die Elemente, Arithmetik und die
Sphäre des Johannes de Sacro Bufeo, der andre über Euklid, I'usorioci,
?lMvwiuiu und über ?to1öwaei magnam. vonstruotioveM. Die beiden Lektoren
für die lateinische Sprache hatten die wichtigsten römischen Dichter und die Haupt¬
schriften Cieeros auszulegen und sich daneben zu befleißigen, gute lateinische
Prosa und Verse zu schreiben. Siebenter Lektor war der „Pädagog," dem es
oblag, die lateinische Grammatik zu repetiren und den Terenz, einige Stücke
des Plautus und andre der jugendlichen Fassungskraft angemessene Schriften
auszulegen, „aus denen man lateinisch sprechen lernen kann." Der achte Lektor
war der Physikus, der die Physik des Aristoteles und den Dioskorides zu
erklären hatte, auch die Botanik vertrat. Der neunte las hebräische Grammatik
und daneben die Genesis, den Psalter, die Sprüche Salomonis, Jesaias, Jonas
und Daniel. Der zehnte endlich war der Gräcist, der zunächst über griechische
Grammatik zu lesen, dann Homer, Hesiod, Sophokles, Euripides, Theokrit.
einige Demosthenische Reden und einen griechischen Geschichtschreiber zu erklären
hatte. Zuweilen sollte er auch einen Paulinischen Brief vornehmen; zugleich
aber sollte er die Ethik des Aristoteles Wort für Wort erläutern und dabei
„sorgfältig die Arten der Lehre auseinander halten," d. h. das Gesetz Gottes
und das Evangelium und die Vorschriften der Philosophen über bürgerliche
Sitten. Die wissenschaftliche Befähigung genügte nicht zur Aufnahme unter
die Lehrer dieser Fakultät, es bedürfte auch einer gewissen theologischen, d. h.
der Anerkennung des Daseins Gottes und des Glaubens an Jesus Christus,
den Sohn Gottes, wogegen der Lehre vom rechtfertigenden Glauben nicht
Erwähnung geschieht, sodaß auch ein gläubiger Katholik Mitglied der Fakultät
werden konnte, wenn auch nur der Theorie nach. Die Legenden sollten die
Philosophie so vortragen, daß sie die Lehre des Evangeliums nicht verderben,
noch durch Fürwitz oder Leichtfertigkeit Meinungen erzeugen, die gegen Gott
sind, „wie an den hohen Schulen andrer Völker," wobei namentlich vor
Epitüreismus gewarnt wird. „Sollte sich aber einer widerspenstig erweisen,
so sollte ihn der Dekan dem Rektor anzeigen und dieser dafür Sorge tragen,
daß nach geschehener Untersuchung die Bestrafung erfolgte."
Die Organisation der neuen Universität ist vielfach und wesentlich ver¬
schieden von der der alten. Bei der theologischen Fakultät tritt an die Stelle
der Scholastik, vor der das eigentliche Bibelstudium nur eine Nebenrolle hatte,
die Exegese; das übliche Lehrbuch des ausgehenden Mittelalters, die Lontentms
des Petrus Lombardus, wurde abgeschafft, und der Sententinrius erhielt den
Auftrag, über Psalmen und Propheten zu lesen; endlich fand von den Kirchen-
Vätern einzig Augustinus Aufnahme in den Lektionskatalog. Die juristischen
und medizinischen Fächer wurden fast garnicht umgestaltet; dagegen erlitt die
Artistenfakultät eine fast vollständige Neubildung. Da werden neben den Bor¬
lesungen über Latein, die auch im Studienplane von 1507 nicht gefehlt
hatten, Griechisch und Hebräisch dargeboten, sodaß man, um in drei Sprachen
bewandert zu werden, nicht mehr nach Italien zu gehen brauchte. Früher
hatten zehn Lehrer Philosophie gelesen und zwar in parallelen Vorträgen nach
Thomas von Aauino und nach statistischer Weise. Davon ist jetzt nicht mehr
die Rede. Dialektik, Rhetorik, Ethik und Physik wurden ganz humanistisch
aufgefaßt und vorgetragen. Wie die Theologie vorzüglich zur Bibelnnslegung,
so waren diese Wissenschaften zur Erläuterung der klassischen Schriftsteller und
Dichter geworden. Wie in der ersten Fakultät die Theologie Luthers die Lehre
der mittelalterlichen Kirche verdrängte, so ersetzte in der letzten der Humanismus
mit seiner sprachlichen Bildung die Scholastik mit ihrer logischen. Ein besonders
charakteristisches Zeichen humanistischen Geistes war die Errichtung zweier
Lehrstühle für die Mathematik. Eine Neuerung von größter Bedeutung ist
endlich die rsguln liäöi, die nicht bloß für die theologische, sondern auch für
die philosophische Fakultät galt. Sie sah wie eine Fessel des wissenschaftlichen
Geistes aus, diese Verpflichtung auf die ökumenischen Shmbvle und das Augs¬
burgische Bekenntnis, und so fand schon Osiander mit seinen Angriffen auf sie
viele Anhänger. Aber im ganzen hatte die Einrichtung ihren guten Sinn.
Sie war notwendig wegen der Fanatiker, die statt der christlichen Lehre ihre
eigne Phantasie predigten, wegen der Wiedertäufer und ähnlicher Schwärmer
z- B. Campanus, Servet nud Schweukfeld, wegen des Bestandes der Kirche
und wegen des einheitlichen Studiums ein der Universität. Die Schüler der
Artistenfakultät, der vorbereitende Kursus für die drei obern, rückten größten¬
teils später in dit! theologische und juristische ein, nud es war selbstverständlich,
zu verhüten, daß die Vorbereitung dem Hauptstudium widersprach und schadete.
Sollten die theologischen Legenden Diener der evangelischen Kirche, die juristische!?
solche des evangelischen Staates heranbilden, so mußten auch die Vorlesungen
der philosophischen Fakultät so eingerichtet sein, daß dadurch mindestens keine
feindselige Stimmung gegen die Evangelischen entstand. Übrigens tötete die
theologische Fessel den freien v'issenschaftlichen Trieb im, allgemeinen nicht;
die Geschichte lehrt vielmehr, daß gerade die protestantischen Hochschulen
Deutschlands die freieste wissenschaftliche Entwicklung ermöglicht haben, sie
glänzen durch Namen wie Kant, Fichte, Schelling, Schleiermacher und Bauer,
während die fast ebenso zahlreichen katholischen Hochschulen deutscher Zunge,
denen die reZultr liäsi erspart blieb, kaum einen Mann von gleichem Werte
auszuweisen haben.
Zu den Vorlesungen traten die Disputationen, von deren Nutzen Melauch-
thcm eine sehr hohe Meinung hatte und die vormals bei allen Fakultäten
üblich waren, ihre Hauptstätte aber in der philosophischen hatten, wo jeder
zweite Sonnabend dafür bestimmt war, während an dem andern Deklamationen
stattfanden. Neben der wissenschaftlichen Zucht sollte die Universität aber auch
eine sittliche ausüben. Deshalb gab es zunächst für den Lebenswandel der
Professoren strenge Vorschriften. In den Statuten für die Artistenfakultät
von 1546 werden die Professoren ermahnt, kein Ärgernis zu geben, sondern
den Studenten durch Reinheit, Keuschheit und friedfertiges Verhalten als Vor¬
bild zu diene», „eingedenk der Gemeinschaft, in der sie sich befinden, nicht
unter Cyklopen oder Centauren, noch in einer platonischen Akademie, sondern
'in der Kirche Gottes, wo der einige Gott und sein Sohn Jesus Christus
zugegen sind und der heilige Geist in die Herzen vieler Jünglinge ausgegasten
ist." Fehlt aber einer gegen die Gesetze der Sittlichkeit, so soll der Dekan,
der über sie die Oberaufsicht führt, ihn dem Rektor anzeigen, und wird der
Betreffende schuldig befunden, so verliert er Amt und Gehalt. Auch die
Schüler Stande» unter strenger Zucht; denn das Lernen soll anch zu edler
Menschlichkeit erziehen. Die Hochschule hat ihre eigne Obrigkeit mit Straf¬
befugnis. Bestraft werden von ihr alle Vergehen gegen die bürgerlichen Ge¬
setze, dann aber auch Zauberei und Mißbrauch des göttlichen Namens in
gewöhnlicher Rede, ja mit.Kärzer und nötigenfalls mit Relegation Nichtbesuch
der Predigt und des Gottesdienstes. Ferner ist bei Strase verboten die Er¬
regung von Tumulten, das Eindringen in Häuser, die Verwüstung von Gärten,
die Herausforderung zum Kampfe und das Schleudern von Bleikugeln. Ein
ferneres Verbot wendet sich gegen die Unzucht, wobei eine Kleidung empfohlen
wird, „die die Körperteile bedeckt, welche nach dem Willen Gottes verborgen
sein sollen." Eben dahin gehört das Verhalten bei Hochzeiten; streng bestraft
wird jeder, der dabei roh lärmt oder sich beim Tanz unanständig aufführt.
Relegation trifft die Verfasser und Verbreiter von Schuuihschrifteu. Untersagt
sind Maskeraden lind das Tragen von Waffen, „Schwertern, Messern, Thsäcken,
Hessen, Bleikugeln, Wnrfkreuzen, Barten, Flegeln, Hämmern und Büchsen."
Im Winter sollen die Studenten die Schenken um nenn, im Sommer um
zehn verlassen. Der Tag soll von ihnen mit Bibellesen und Gebet begonnen
und geschloffen werden, ebenso ist vor und nach Tische zu beten. „Stürzt
mau sich auf die Speisen ohne Anstand und ohne Äebet wie die Schweine, so
fehlt bei einer solchen Mahlzeit Gott, und es geht dabei oft ans wie bei dem
Gelage der Centauren und Lapithen." Allerdings setzen diese Vorschriften
größtenteils voraus, daß die Studenten nicht vereinzelt in der Stadt, sondern
in Bursen, Alumnaten, Kontnbernien und Kollegienhäusern unter Aufsicht
wohnten, und so wurden solche Anstalten zu gemeinsamem Leben an den meisten
evangelischen Universitäten angestrebt und vielfach auch geschaffen, wozu auch
die Armut der meisten Studenten aufforderte.
Zum Schlüsse schildern wir nach unsrer Quelle Melanchthon als Gründer
und Umbildner einzelner Hochschulen anßer Wittenberg. Nachdem Ulrich von
Württemberg sein Herzogtum wieder erlaugt hatte, ging er sofort an die Evcm-
gelisirung desselben und damit an die Reorganisation der bisher katholischen
Universität Tübingen durch zwei Kommissare. Die letztern begegneten bei vielen
dortigen Professoren hartnäckigem Widerstand, und der Herzog dachte damit am
besten fertig zu werden, wenn er Melanchthon zur Rückkehr in sein früheres
Heimatsland und zur Leitung des Werkes aufforderte. Dieser konnte sich aber
nicht so leicht zur Trennung von Wittenberg entschließen und blieb dort, nachdem
er die Entscheidung dem Kurfürsten anheimgestellt und dieser sein Verbleiben
gewünscht hatte. Wenige Wochen spater erging eine zweite Aufforderung aus'
Württemberg an ihn, in der er gebeten wurde, wenigstens zu der Disputation
zu erscheinen, worin der Kommissar Ambrosius Blarrer die katholischen Pro¬
fessoren von der Notwendigkeit der Neugestaltung überzeugen sollte. Der Bitte
des Herzogs schlössen sich auch die katholischen Gegner desselben an, „die hohe
Schule, die Äbte und Prälaten des ganzen Landes," „weil Melanchthon nicht
bissig und neidisch, sondern sittig, freundlich und friedsam sei." Auch daraus
wurde aber nichts, doch schickte Melanchthon seinen Freund Camerarius, der
dann von Nürnberg nach Tübingen übersiedelte und bei der Umwandlung der
Universität eine wichtige Rolle spielte. Nochmals vom Herzog eingeladen,
kam Melanchthon zwei Jahre später im September 1536 selbst, verkehrte mit
Camerarius und Ulrich und sorgte durch allerlei Ratschläge und namentlich
dadurch, daß er die Berufung des Gräcisten Mieyllus und des berühmten
Johannes Brenz veranlaßte, für das weitere Gedeihen der aus ihrem Verfall
wieder aufblühenden Hochschule. Später besuchte ihn Camerarius in deren
Angelegenheiten in Wittenberg, sodnß sein Einfluß auch ferner auf sie wirkte.
Die 1506 von Joachim dem Ersten in Frankfurt a. d. Oder gegründete
Universität bekämpfte anfänglich die Lehre Luthers. Als aber Joachim der
Zweite zur Regierung gelangte, der ihr geneigt war und sie in seinein Lande
einzuführen vorhatte, dachte er an eine Reform der Hochschule, die allerdings
sehr notthat, und berief zu diesem Zwecke 1537 Melanchthon zu Beratungen
über die Gewinnung tüchtiger Lehrer und über eine neue Unterrichtsmethode.
Im nächsten Jahre schon wurde Sabinus, der Schwiegersohn Melanchthvns, nach
Frankfurt berufen, und später folgten ihm andre Schüler Melanchthvns, z.V.
der Schotte Alesitts. Auch als Sabinus seine Stelle in Frankfurt mit einer
Professur in Königsberg vertauscht hatte, wurde der Wittenberger Humanist und
Reformator noch wiederholt vom Kurfürsten in wichtigen Fragen um seine Meinung
angegangen, und als der Schmalkaldische Krieg ihn von der sächsischen Universität
vertrieben hatte, bot ihm Joachim nicht nur eine Professur, sondern auch
„mehr Befehl" an seiner Hochschule an. Der bescheidne Mann aber lehnte
die verlockende einflußreiche, leitende Stellung, die damit gemeint war, ab und
kehrte nach Wittenberg zurück, obwohl es dort übel aussah und er vorläufig
dort kein festes Einkommen zu erwarte» hatte.
Leipzig, die älteste Universität des jetzigen deutschen Reiches, gehörte im
ersten Viertel des sechzehnten Jahrhunderts zum Gebiete des Herzogs Georg
von Sachsen, eines Gönners der Wissenschaften nud der Gelehrten, der mit
Erasmus in regem freundschaftlichem Verkehr stand und 1519 eine Reform
seiner Hochschule im Geiste des Humanismus veranlaßte, aber den weitern
Schritt von diesem zur Reformation, wahrscheinlich auch von Erasmus abge¬
halten, nicht mitmachte. Bald standen sich Leipzig und Wittenberg wie zwei
feindliche Lager erbittert bis ius Maßlose gegenüber, und der Herzog, ein per¬
sönlicher Gegner Luthers, schürte nach Kräften. Da starb Georg 15l>9, und
sein Bruder und Nachfolger Heinrich nahm sofort die Reformation des Landes
in die Hand, und zu der damit betrauten Kommission gehörte auch Melanch-
thon, der bei dieser Gelegenheit ein Gutachten über die Reorganisation der
Universität ausarbeitete. Die Aufgabe bestand hier zuvörderst in der Beseitigung
einer starken katholischen Partei, und zwar war hier mit der theologischen
Fnknltät zu beginnen. Wer hier die „unrechte Lahr" nicht abthun wollte, dem
sollte das Predigen, Disputiren und Lesen verboten sein, und wollten sie nicht
schweigen, so waren sie „Wegzugebieten." Wenn sie still sein wollten, sollten
sie bei ihrer Versorgung und Kollegintur bleiben. Für die Neubesetzung von
Stellen wurden d'er Licentiat Amsdvrf, der Doktor Heß in Breslnu, auch Alexander
Alesitts und für das Hebräische Ziegler empfohlen. Die Gehalte der Lehrer
sollten aufgebessert, auch sollte für theologische Stipendien gesorgt werdeu.
Mit der juristischem und medizinischen Fakultät ist das Gutachten zufrieden,
auch „mit den Artisten ist jetzund nicht viel Änderung vorzunehmen." 1540
verfaßte Melanchthon ein zweites Gutachten, sodaß das erste nur teilweise aus¬
geführt worden zu sein scheint; jedenfalls wär von deu drei vorgeschlagnen
Theologen damals nur Ziegler als Lehrer thätig. In diesem Gutachten wird
für die juristische und medizinische Fakultät uur Erhöhung der Gehalte ver¬
langt. Mit den beiden theologischen Professoren Ziegler und Schnbelius ist
es sehr zufrieden, doch erklärt es einen dritten Theologen und die Einführung
von Disputationen für notwendig. Auch einige Lehrer der Artistenfakultät
finden seineu Beifall. Doch wäre, meint Melanchthon, für den Ruf der Schule
ein berühmter Gelehrter dienlich, der das ganze philosophische Studium leiten
könnte. Als hierzu geeignet tverden Camerarills in Tübingen, Miehllus und
Sturni in Straßburg empfohlen. Die Professur der Mathematik soll mit
Borner besetzt werden. Sodann wird eine feste Ordnung der regelmäßigen
Vorlesungen in dieser Fakultät für erforderlich erklärt, für welche acht Profes¬
soren ausreichen sollten. Ein schönes Bild malt sich Melanchthon für die
Zukunft aus, wenn die beiden Nachbaruniversitäten Wittenberg und Leipzig
neben einander blühen und die wahre Lehre stützen und fördern werden. Nachdem
Camerarius übergesiedelt war, kam Melanchthon häufig nach Leipzig, bald zur
Prüfung von Stipendiaten, bald zu Promotionen eingeladen, much lieferte er
Gutachten bei Streitigkeiten der Theologen und empfahl Kandidaten bei der
Wiederbcsetznng erledigter Professuren. Die Universität aber hob sich mit seiner
Beihilfe rasch: 153!) waren nur 123 neue Studenten hinzugekommen, 1540
erfolgten schon 2«»4 Immatrikulationen, im Jahre 1544 394, im nächsten 413.
Zu den Hochschulen, die durch Melanchthon und seine Schiller nach tiefem
Verfall wieder emporgehoben wurden, gehört Rostock. Die Universität war
hier auch infolge von Eingriffen des Rates der Stadt dein Untergange nahe,
und die Mehrzahl der Studenten hatte sich verlaufen, als Arnold Burenins,
ein Zögling des kraövöxwr 6erni.s.mio, hier seine Vorlesungen begann, nach
den Grundsätzen seines Lehrers den Unterricht um gestaltete und mit großer
Strenge der eingerissenen Zuchtlosigkeit zunächst im Lollög'inen, ^.quiluo ein
Ende »lachte. Andre Schiller Melanchthvns folgten als Professoren, Nnrisaber,
Heßhusius, Caselius und Chyträus, und als mit dem Aufkommen der strenger»
lutherischen Richtung u»ter deu Rostocker Theologen der Einfluß Melauchthons
in deren Fakultät aufhörte, dauerte er in der philosophischen fort, unter andern
wurde sein Lehrbuch der Physik hier eingeführt.
Unter den süddeutschen Hochschulen stand Melanchthon Heidelberg, die
Universität seiner pfälzischen Heimat, besonders nahe. Sie holte öfter seinen
Rat ein, ihre Artistenfakultät beschenkte ihn, als er 1524 seine betagte Mutter
im nahen Vretteu besuchte, mit einem silberne» Becher, und als der .Kurfürst
Friedrich der Zweite zu eiuer Reform der yeruntergekonunenen Anstalt schritt,
bat er den sächsische» Kurfürsten, ihm Melanchthon für diesen Zweck auf einige
Zeit, zu überlassen. Die Bitte wurde abgelehnt, aber als Friedrichs Nachfolger
Ottheinrich die Reformation in seinem Lande einführte und den Plan einer
Umgestaltung der Universität thatkräftig wieder aufnahm, so lieh ihm Melanch¬
thon dabei seinen Beistand. Zwar folgte er der 1556 an ihn ergaugnen Be¬
rufung nach Heidelberg nicht, sondern verblieb in seinem sächsische» „Schedler,"
wo er sich „wie der mi den Kaukasus geschmiedete Prometheus" vorkam. Aber
als er sich im Herbste l557 um dem Religivnsgespräch in Worms beteiligte
und er vom Kurfürsten Ottheinrich eingeladen wurde, »ach Heidelberg herüber¬
zukommen und bei der Abfassung der neuen Statute» für die Universität mit¬
zuwirken, eine Einladung, der sich die letztere in einem höchst schmeichelhafte»
Schreiben anschloß, erschien er um 22. Oktober in der Stadt und verweilte
hier bis zum, 31., um an den Beratungen über die Umgestaltung der Uni¬
versität teilzunehmen. Später übte er durch seine Schüler, die er mit Erfolg
zu Professoren empfohlen hatte, den größten Einfluß ans die reformirte Anstalt
aus. Solche Schüler waren Mnyllns, der Philolog Xhlander, der Ethiker
Strigel und Melanchthous Bruderssohn Sigismund. Bald zeigte sich auch
an der wachsenden Zahl der Studenten, daß der ?rs,<z(;vxtm- ^ern-Ms«; nicht
vergebens in Heidelberg gewesen war: während sie 1555 nur 38 betragen
hatte, war sie bereits zwei Jahre später auf 114 und 1560 auf 143 gestiegen.
Die Reformation hat nicht bloß alte Hochschulen in ihrem nud im huma¬
nistischen Geiste umgewandelt, sondern auch neue gegründet, und zwar zuerst
die in Marburg, die Lieblingsschöpfung Philipps des Großmütigen. Philipp
machte 1524 zufällig Bekanntschaft mit Melanchthon, als er ihm bei der Rück¬
kehr von Breiten nach Wittenberg bei Frankfurt auf der Landstraße begegnete,
und ließ sich von ihm beim Scheiden versprechen, ihm die Hauptsätze der
evangelische!? Lehre in einer Denkschrift zusammenzustellen. Dies geschah, und
bald darauf erfolgte die Reformirung des hessischen Landes und die Gründung
einer evangelischen Universität, die 1527 mit elf Professoren, worunter drei
theologische, ein juristischer, ein medizinischer und sechs philosophische waren,
ins Leben trat. Das eigentliche Statut erging erst im August 1529. Aus
Briefen Melanchthons läßt sich nicht darthun, daß er großen Einfluß aus die
Gründung und Gestaltung dieser Hochschule ausgeübt hätte, wohl aber sprechen
Thatsachen dafür, daß er von der Sache unterrichtet gewesen ist und ans sie
durch Empfehlung von Schülern und Freunden eingewirkt hat. Die erste
Marburger Lektivnsvrdnung gleicht im wesentlichen der Wittenberger von 1536,
die ersten Lehrer der neuen Hochschule Ware» fast alle Wittenberger, die ersten
Rektoren, Ferrarius und Crato, Schüler und Freunde Melanchthous, und
1536 unterstützte er die Wahl des Dichterkönigs Evbanus Hessus zum Professor
in Marburg.
Ganz uuter der Einwirkung Melanchthous entstand die Universität Königs¬
berg. Markgraf Albrecht von Preußen wandte sich frühzeitig dem. neuen Lichte
zu, stand in lebhaftem Briefwechsel mit seineu Hauptträgern in Wittenberg und ließ
Unterthanen dort studiren. 1540 aber beriet er sich mit Brismanu und Poliander,
Freunden Melanchthons, und mit andern Gelehrten über die Errichtung einer
eignen Hochschule, und zwei Jahre nachher wurde damit begonnen; 1544 wurde
sie feierlich eingeweiht. Ihre Einrichtung folgte in allein wesentlichen dem Witten¬
berger Muster. Als Dozenten werden die Doktoren Sabinus (der Schwieger¬
sohn Melanchthons und von diesem und Camerarius empfohlen), Napagelanus
nud Jonas und die Magister Isländer, Hoppe, Rimmich und Adam aufgezählt.
Sie waren großenteils in Wittenberg und besonders von Melanchthon geschult,
der über die Gründung der Universität mit Albrecht zahlreiche Briefe gewechselt
hatte, und dessen Einfluß fortdauerte, bis die Osiandrischeu Streitigkeiten ihm
ein Ende machten. Endlich war Melanchthon auch bei der Gründung der
Hochschule in Jena thätig, namentlich durch Vorschläge zur Besetzung der zu
errichtenden Lehrstühle, ja er war eine Zeit lang bereit, selbst einen davon zu
besteigen. Zwar wurde ihm das bald leid, aber die Eröffnung der Universität
im März 1548 fand nnter Melanchthous Auspizien und mit lateinischen
Reden seiner Freunde und Schüler Seigel und Strigel statt. Es ist also
falsch, wenn man meint, der Plan zur Errichtung der neuen Hochschule sei
ans dem Gegensatze zur Richtung Melanchthons hervorgegangen, vielmehr
wollte man anfangs diese Richtung hier hegen und pflegen und bot alles auf,
deren Urheber zu gewinnen. Erst die spätere Zeit erzeugte den scharfen Gegen¬
satz, der Jena zum Hauptlager der Feinde Melanchthons machte.
Blicken wir zurück, so sehen wir den Freund und Mitarbeiter Luthers in
hvchbedentsamer Thätigkeit auf dem Gebiete der deutscheu Schule. Der Süd¬
westen, die Mitte und der Norden Deutschlands verlangen von ihm Rat, er¬
bitten sich bei ihm Lehrer, die er ausgebildet hat, gestalten ihre Unterrichts¬
anstalten, hohe und niedere, nach seinen Vorschlägen um und gründen nach
seinen Grundsätzen neue. Vom Neckar bis zur Weichsel lehren seine Anhänger
in seinem Geiste und nach seiner Weise. Er ist der I^ÄgczePwr (Z^rnmumL,
weil er dein protestantischen Deutschland zahllose treffliche Lehrer erzogen und
geschult hat, er ist es durch den unermeßlich umfangreichen Briefwechsel, den
er in Sachen des Schulwesen? führte, und der für seinen Einfluß und für die
einzige Stellung zeugt, die er namentlich zu dem gelehrten Unterricht als
Humanist wie als Vertreter des evangelischen Geistes einnahm - eine Stellung,
die nur auf dem Vertrauen zu seiner Person beruhte, und die er einerseits
durch hohe wissenschaftliche Bildung und praktischen Sinn, anderseits durch die
sittlichen Tugenden der Gewissenhaftigkeit, der Uneigennützigkeit und der Be¬
scheidenheit rechtfertigte; er ist es endlich dadurch, daß er dem neuen Unter-
richtswesen seine Lehrbücher verfaßte. Melanchthons Kompendien der griechischen
und der lateinischen Grammatik, der Rhetorik und Dialektik, der Physik, Psycho¬
logie. Ethik und Dogmatik dienten bis in das achtzehnte Jahrhundert hinein
dein Unterricht ans den Gymnasien und Universitäten als Grundlage. Er war
kein Mann wie Luther, er war ein weicher, mehr weiblich angelegter Charakter,
aber eine treffliche Ergänzung Luthers und ein großer Segen für das Werk
der Reformation, an das er sich allein sicher niemals gewagt hätte, das er
aber, als es begonnen war, mit seinen Gaben wesentlich unterstützt und ver¬
edelt hat.
wei Bilder möchte ich nur als „Pendants" — man verzeihe
das harte Wort, „Pendants" nannte man früher zwei Bilder,
die inhaltlich zusanummgehörten, und bellte ist ja das erste Er¬
fordernis eines Bildes, keinen Inhalt zu haben. Doppelte
Sünde! Denn als „Pendants" schuf und verwertete man kleine
Bilder, und wer begnügte sich heute noch mit einer kleinen Leinwand? —
also zwei Bilder möchte ich mir zusammenhängen mit der Unterschrift: Einst
und Jetzt. Das eine befindet sich in der Galerie des Grafen von Schack und
ist von Leopold Bode, glücklich verschollenen Namens, wie der Künstler an¬
merkt, das andere, augenblicklich ans der Jahresausstellnng in München, von
Louis Jimenez in Paris. Der Jung-Münchener Künstler horcht auf bei dem
Namen der allerheiligsten, kunstgralhütenden Stadt. Bodes Bild: Ans ein¬
samem Waldespfade wandelt eine anmutige weibliche Gestalt, Wemnt zuckt um
ihre» jugendlichen Mund, sie hat vor kurzem ach! den jungen Gatten be¬
graben. Aber da fällt ihr Blick auf das Kind in ihren Armen, und durch
alle Wehmut lächelt sie selig: Für meinen Schmerz giebt es einen kräftigen
Balsam. Mein Dasein hat noch einen köstlichen Wert, dir habe ich das Leben
gegeben, mir verdankst dn es, wenn du herangewachsen in dieser reichen, schönen
Gvtteswelt ringen und dir ein Glück erkämpfen kannst! Auch das Bild des
Jung-Parisers zeigt eine junge Mutter mit ihrem Sällgling am Wnldesrande,
aber ihr Gesicht steht in traurigem Gegensatz zu ihrem Lebensalter, Elend,
Sorge und schwere Arbeit haben frühe Furchen darein gegraben, mit Schmerz
betrachtet sie den kleinen Erdenbürger. O daß ich dich zu deinem Elend ge¬
boren habe, seufzt sie, denn die Welt ist voller Not und Sorge, wie wirst
du gleich mir in blutigem Schweiße arbeiten müssen und doch oft darben! O
Jammer und Fluch dieser Erde, entsetzliches Los, Mensch zu sein!
In der Galerie Schack hängt noch ein andres kleines Bild, der Name
des Malers hat keinen glänzenden Nachruhm hinterlassen. Ein Minnesänger
zieht mit seinem Knappe» durch das Laud, seine Schimmel ist mit Blumen
bekränzt, der Sänger schlägt jubelnd die Laute. Schwärmender Thor! ruft
der moderne Künstler, welch andres Bild das von Guignard in Paris auf
der Ausstellung: Einschiffung einer Viehherde! Das kam: man beobachten,
jeder hat es gesehen und kann beurteilen, wie herrlich das Licht auf den breiten
Rücken der lebensgroßen Tiere genullt ist.
Moritz von Schwind hatte sich lange Jahre darnach gesehnt, die Rückkehr
des Grafen von Gleichen aus dem heiligen Lande in einem großen: Bilde
darzustellen, beileibe aber nicht lebensgroß, denn der Gegenstand ist nnr eine
Sage, die sich am schönsten anhört erzählt am traulichen Herdfeuer. Doch
der Erzähler wird an den Hauptstellen die Stimme kräftig erheben, denn der
Inhalt ist dramatisch, und es handelt sich um große Gefühle, deshalb werden
anch in der bildlichen Darstellung mindestens halblebensgroße Figuren am
Platze sein. Als Graf Schack den Künstler kennen lernte, gab er ihm den
Auftrag zu dem Bilde. Die Geburtssage Karls des Großen hat Bode in
einem dreiteilige!: Gemälde von gleich großen Verhältnissen dargestellt. Ans
vielen kleinen Bildchen erzählt Schwind in der Galerie Schack von einsamen
Waldknpellen, vor denen ein Mädchen nur von: scheuen Reh belauscht betet,
vou der köstlichen Morgenfrühe, die dein im traulichen Zimmer erwachenden
durchs Fenster entgegenglänzt, von der murmelnden Quelle mit den schönen
Nixen darin, entdeckt vom verirrten Jäger, vom Spukgeist Rübezahl, vom
Vater Rhein, der auf dem Wasser schwimmt, vom unheimlichen Rauschen in
deu Erlen bei nächtlicher Stunde, von: gespenstigen Wallen der Nebel ans
feuchten Wiesen, verkörpert in der Goethischen Ballade vom Erlkönig. Nen-
reuther hat den Traum der Rezia aus Oberon gemalt. Was Märchen!
Was Träume! Was sollen sie uns, die Nur im Getriebe der großen
Städte leben, die wir durch die stillen Waldschluchten und die nächtlichen
Sümpfe dahinsausen in den: keuchenden Dampfzugc? Der rauschende Wald¬
bach wird eingefangen in geradlinigen Kanälen und in die Stadt geführt,
da knien die Weiber daran und waschen die schmutzige Wäsche. Das Wäldchen
bei der Stadt, sonst die Freude von Jung und Alt, wird ausgerodet, und
rußige Fabrikgebäude erheben sich an seiner Stelle, da pocht nicht mehr der
Specht an die Bäume, da hallt das betäubende Lärmen der Dampfhammer,
da klappert das Räderwerk der Maschinen.
Der Künstler soll ja nur noch ein Organ haben: das Auge, und da
wird er am besten darstellen, was jeder täglich vor Augen hat. Wie selten
kommt der viel beschäftigte Städter — er muß ja arbeiten, Reichtum und
Stellung erjagen — einmal aufs Land oder in den Wald hinaus! Die
Frauen und Kinder schickt er auf einige Ferienwochen in eine möglichst nahe
Sommerfrische, der Herr des Hauses selbst hat natürlich keine Zeit mit ihnen
zu gehen, er besucht sie des Sonntags und in der Woche einmal nachmittags.
Hat nicht Goethe gesagt: Greift nnr hinein ins volle Menschenleben, und
wo ihrs packt, da ists interessant? An den idealen, romantischen Stoffen hat
sich die Welt früher gesättigt, wir greifen fröhlich hinein ins Alltägliche, ruft
der Künstler ans. Leider vergißt er aber, daß das Menschenleben nicht an
sich interessant ist, sondern es erst durch die Auffassung wird. Ein junger
Bauer mit der Sense auf dein Rücken und eine Dirne mit dem Milchgefäß
gehen auf der Wiese an einander vorüber und betrachten einander von fern.
Das wird uns doch erst interessant, wenn wir irgend welche novellistische Be¬
ziehungen zwischen den beiden herausmerken, aber sorgfältig l)at Hans Otte
ans seinem Bilde eine Andeutung derselben vermieden. Frauen ans der Düne
sitzend oder stehend sind uns langweilig, wenn wir nicht sehen, daß sie z. B.
die Rückkehr ihrer Männer vom Fischfang erwarten. In, die Maler, die so
natürlich sein sollen, schlagen der Natur geradezu ins Gesicht; es ist nicht
wahr, daß badende Jungen weiter nichts thun, als in das grelle Sonnenlicht
blinzeln. Wo ihrer ein Dutzend beisammen sind, wie auf dem Bilde von Otto
Sindig, dn treiben sie allerlei Scherz und Kurzweil mit einander. Schafe auf
dein Heimwege, lebensgroß dargestellt, zu weiter nichts benutzt, als hell-
leuchtende weiße wollige Flocken auf dem grünen Grund der Wiese zu geben
— wie kann der Maler verlangen, daß wir solch ein Bild mit Teilnahme
betrachten? Schlimmer noch! Das alles sind ja Gegenstände, bei denen in¬
haltlich uicht viel oder gar nichts aufzugeben ist; aber wen wird eS nicht ver¬
stimmen, wenn ein Maler an einem Mädchen, das zur ersten Kommunion geht,
mir das schimmern des Lichtes auf dem Weißen Schleier darstellt und außer¬
dem weiter nichts giebt als ein dummes, befangenes Gesicht? Wenn Lieber-
mann nur das Tanzen des Sonnenlichts auf den Köpfen einer im Walde ver¬
sammelten Menge geben will, warum läßt er sich diese dann zu einer Predigt
zusammenstunden?
Dasselbe Bestreben, möglichst äußerlich zu sein, macht sich in der Land¬
schaft geltend. Sehr fein in einer gewissen Beziehung sind die Landschaften
von Balsas und Schönleber beobachtet, aber die Maler wollen darin nichts
weiter vorführen, als die vorübergehende Wettererscheinung. Die Landschaften
beim Grafen Schack zeigen alle, daß der Maler darin gelebt hat, daß der
Felsensteg, das Häuschen im Walde, der spiegelnde See ihm persönlich ver¬
traut sind. Dürfte ein Dichter es unternehmen, in einem Gedichte Landschaft
ohne Beziehung ans den Menschen zu schildern? Man denke an Goethes
Gedicht „Auf dem See." Wäre das überhaupt noch etwas ohne die persönliche
Verbindung mit dem Dichter, der den See befährt? Das Jnteressanteste ist
immer der Mensch und die Beziehung zu ihm in andern Dingen, warum also
gerade ihn ausscheiden? Hochgebirge und Meer hört man oft mit einander
vergleichen und die Frage aufwerfen, was man höher schätze. Die meisten
werden sich zu Gunsten des Gebirges aussprechen. In ihrer äußern Erscheinung
sind beide reich, das Meer mit seiner wechselnden Farbe und seinen ewig be-
wegtcu Lichtern, das Gebirge durch die vor dem Wandernden wechselnde Grup-
pirung von Baiun und Fels. Aber das Meer ist eine lebentötende Fläche,
es bietet dein Menschen keine Stelle zum wohnen, er gleitet nnr drüber hin,
»in andre Küsten zu betreten. Im Gebirge blüht ein reiches Menschenleben,
das sich in mancher Beziehung sogar üppiger entfaltet als das ländliche Leben
ans der Ebene. Der Gebirgsbauer hat leichte Arbeit, dn er nur Viehzucht treibt,
es bleibt ihm Muße, die Dichtkunst in Schnadahüpfln, die Musik im Zither¬
spiel und Gesang, den Schuhplattltanz auszubilden, die Anwohner der See
müssen in harter Arbeit unter steter Lebensgefahr ihr kärgliches Brot dem
Meere im Fischfang abgewinnen, sie haben keine Muße für das Unartige
des Lebens.
Wislieeuus stellt auf einem Bilde bei Schack die Phantasie dar, von den
Träumen getragen. Die heutige Malerei will von Phantasie nichts wissen,
daher keine Nvvellenstoffe mehr wie bei Schack auf den anziehenden Bildchen
von Karl Spitzweg. In der Gasse einer altdeutschen Stadt nimmt ein Jüng¬
ling Abschied von einen, Mädchen, die Postkutsche wartet, ihn zu entführen.
Der im Dachstübchen nach hinten wohnende alte Junggeselle erspäht seine
Nachbarin beim Schein der Lampe nähend, ihm kommen Gedanken, daß er es
anders hätte haben können. Leute haben einen Vvrberg der Alpen erstiegen,
von der Ebne ist nnr wenig dargestellt, aber die Leute blicken nach der Richtung
hinaus, wo sie liegt, und erwecken in dem Beschauer so die Vorstellung der
weiten Aussicht besser, als wenn diese dargestellt wäre. Schon das ist nach
Ansicht der Neuern verkehrt, sie wollen die Einbildungskraft nicht einmal zur
körperlichen Fortsetzung des Bildes anregen, was doch noch immer ein Sehen,
wenn auch ein geistiges ist, wie viel weniger einen der andern Sinne reizen,
z. B. das Gehör. In vielen Bildern bei Schack findet sich mi unmittelbares
musikalisches Element. Eine Zigeunerfamilie ist ans weiter Ebne zum Abend
um ein Feuer versammelt, der Mann spielt die Geige, und im Geiste hört der
Beschauer die Töne über die dämmernde Heide ziehen. Karl Werner zeigt bei
Schack eine verfallne Kirche. Regenwasser steht darin, eine Schlange kriecht
über den Boden, ein zerfetzter Lehnsessel steht neben der halben eingestürzten
Kanzel, alles gemahnt an das Leben, das einst in diesen Räumen geherrscht
hat, und spricht wehmütig von seinem Erlöschen. Ein moderner Künstler würde
nur das Äußere des Verfalles darstellen, lind doch wird jedem, der einen
solchen Raum in Wirklichkeit betritt, sogleich die Erinnerung des frühern Lebens
erwachen, wie niemand eine Leiche sieht, ohne an den lebenden Meuschen zurück¬
zudenken.
Und ist denn in einen, Nvvellenstoff etwas außer dem Bereiche der Malerei
liegendes? Ich denke, nein, wenn er richtig gewählt wird. Man sieht aus
dem Bilde von Vautier „Auf dem Stnndesamte" die Befnugeuheit der jungen
Brune, mit des Schreibens ungewohnter Hand ihren Na,neu zu eine», so
wichtigen Zwecke in das Buch einzutragen, das der Standesbeamte mit ge¬
schäftiger Miene ihr vorlegt, mau sieht die Gedanken der Alten darüber auf
ihren Gesichtern ausgeprägt, man sieht, daß die Mädchen sich über den Vor¬
gang etwas zuraunen, nud versteht, was sie meinen, man sieht den jungen
Burschen sie lächelnd betrachte» und wünschen, auch bald so weit zu sein, und
eine von diesen da wäre ihm gerade recht. Wem ist damit gedient, wenn man
einen Gegenstand so genau wie möglich abmalt? Sich mit dem Ruhm be¬
gnügen, ihn staunenswert getreu wiedergegeben zu haben, ist wahrlich klein
gedacht. Die geistige, nicht die mechanische Arbeit ist an einem Bilde das
wahrhaft Künstlerische. Die Form ist nur für den Inhalt da, und ihn in ein
möglichst geistreiches oder schönes Gewand zu kleiden, ist ihre Aufgabe. Der
Künstler soll gleichzeitig ein Dichter sein. Wohl kann man auch mit der Form
und nicht nur mit dem geistigen Gehalt dichten. Dichtung der Form ist die Kom¬
position in den bildenden Künsten. Aber das vergesse man nie, die Naturformen
müssen die Grundlage bilden, die muß mau schön oder geistreich zusammenstellen,
nicht neue, widernatürliche Formen aufsuchen; dabei kommt man zu solchen Ab¬
surditäten wie Böcklin, der auf diese Weise vielen die Freude an seinem großen
Talent beschneidet.
(Schluß folgt)
Junge Liebe
Aus dem Dänische» übersetzt von Mathilde Mann
(Fortsetzung)
le Kanuner lag im entgegengesetzten Ende des Hauses und war ein
kleinerer, länglicher Raum mit einem Fenster nach der Schlucht
hinaus und einer alten Giebelthür, die in früheren Zeiten als
Eingang für die Fahrleute benutzt worden, aber jetzt durch
jeine Eiseustange verschlossen war. Neben dieser Thür stand das
Bett; den übrigen Hausrat bildeten ein Tisch und ein dreibeiniger Stuhl. Die
Wände waren von rohem Lehnt ebenso wie der Fußboden, in dessen Fläche
die Feuchtigkeit und langjähriger Gebrauch große Vertiefungen gebildet hatten;
aber dessenungeachtet sah es hier — im Gegensatz zu dem übrigen Teile des
Hauses — ganz sauber und ordentlich, ja beinahe gemütlich ans.
Mnrtha schob den Riegel vor die Thür, durch die sie gekommen war,
schloß sorgfältig die Fensterladen und zündete das Licht an, das auf dem Tische
stand. Dann trat sie aus Bett und zog eiuen Kasten mit verschiednen Ge-
riimpel darunter hervor. Auf dem Boden des Kastens entdeckte sie lächelnd
ein Päckchen roter Hefte, deren Umschlag sie erst umständlich mit ihrer Schürze
vom Stande befreite, worauf sie sich an den Tisch setzte und — langsam und
nachdrücklich — darin zu blättern anfing. Endlich fesselte sie eine Stelle; sie
strich das Haar aus der Stirn, rückte das Licht dicht an sich heran, und noch
lauge, unchdem sie die Alten hatte über die Diele taumeln hören, saß sie bei
dein herabgebrannten Talglichte eifrig vertieft in „Die geheimnisvolle Thür
oder Ritter Roberts Liebesabenteuer."
Seit jenem Tage lebte Martha eigentlich nicht mehr in dein alten Fähr¬
kruge zu Balderöd.
Der eine zitternde Blick zweier Liebenden, die plötzliche Offenbarung einer
neuen, übersinnlichen Welt des Glückes hatten ihr auf einmal die Flügelthüren
geöffnet zu jenen goldnen, unbekannten Landen, zu der strahlenden Fata Morgana
des Menschenlebens, in die sie sich jetzt mit allen ihren Gedanken vertiefte.
Ihr Sehnen erhielt von neuem ein andres Ziel. Mit der feurigen Phan¬
tasie der erwachenden Leidenschaft versenkte sie ihre Seele in diese wundervolle
Welt voller Seligkeit und Liebesglück und gab sich einem Traumleben hin, das
ihre Tage ausfüllte und dessen Wiederschein in ihrem Lächeln lag und aus
der geheimnisvollen Tiefe ihrer Augen blickte.
Wenn sie in den Wald ging und dort gerade die dunkelsten Wege auf¬
suchte, die sich im Dickicht verloren, gleich schuf sie sich das Bild eines ritter¬
lichen Burschen, der neben ihr den Pfad entlang schritt. Ein Blatt, das ihre
Wange streifte, ward zum Kuß, der sie erzittern machte. Ein Zweig, der ihren
Rock festhielt, war eine freche Hand, die nach ihr haschte. Knackte aber ein
Zweig in ihrer Nähe, so konnte sie ein solcher Schreck befallen, daß sie sich
allen Ernstes unter den Büschen verbarg.
Wenn sie dagegen zu Hause in ihrer Kammer am Fenster saß und durch
die Kluft auf das Küstenland schaute, so faud sie stets irgend einen kleinen
Punkt, auf den sich alle ihre Träume mit Vorliebe richteten; und immer war
ein gewisses Etwas dabei mit einem großen, blonden Bart und einem feinen,
roten, zartküssenden Munde. Da lag ein kleines, weißes Haus am Fuße eines
rundlichen, mit wilden Rosen bewachsenen Hügels. Im Volksmunde hieß es
das „Mühlenhaus." Dorthin träumte sie sich besonders gern unter Goldregen
und Rosen, bald in stillen Mondnächten, bald in warmen Sommerabenden mit
Lerchenschlag und Blumenduft. Und wenn dann der letzte Schimmer über der
Erde verschwand und die goldnen Wolke» des Sonnenunterganges sich über
die Wälder lagerten, so zauberten diese ihrem Blick ein ganzes Liebesparndies
vor, einen Garten der Liebe mit schattigen Gängen und süß duftenden Hainen,
in die sie sich in Gedanken mit ihrem Geliebten verlor.
Wenn sie aber dann von diesen seligen Wanderungen ihren Blick wieder
der Erde zuwandte und sich in der dumpfen, räucherigen Stube umschaute, in
deren Staub und Fuselgestank ihre Tage verrinnen sollten, dann verfinsterten
sich ihre Züge. War es denn nicht alles vergebens? Waren es nicht Gaukel¬
bilder und eitle Träume? Konnte ihr dies Wunderland jemals seine Thore
erschließen, konnte sie auch nur ein einzigesmcil jenes überirdische Glück kosten?
Es ging ihr wie ein Stich durchs Herz, wenn sie aus ihren seligen Träumen
von zärtlichen Liebkosungen, von liebevollen Worten und weichem Händedruck
erwachend sich mitten unter den trunkner Reden, den schmutzigen Flüchen und
den starren, stierenden Angen der Mutter befand.
Eine heimliche Angst überkam sie, sobald es ihr klar wurde, was Jespers
häufige Besuche und sein merkwürdiges Benehmen bezweckten. Er kam in der
letzten Zeit beinahe täglich, und dann saß er zwischen den andern, die Hände
unter dem Tische, das Kinn ans die Tischplatte gestützt und blickte sie fast
unverwandt mit einem Lächeln an, das ihr das Blut erstarren machte. Zu¬
weilen, besonders wenn er getrunken hatte, setzte er sich hin und beunruhigte
sie mit seiner plumpen Faust. Und ihr Entsetzen verringerte sich nicht, als
sie gewahr wurde, daß nicht er allem sich auf diese Weise bei ihr einschmeicheln
wollte, sondern daß sie alle, selbst Lars Einange, mit dahinter steckten und im
geheimen seinen Plan unterstützten.
Mit Zagen und Verminderung fragte sie sich einmal über das andre, ob
dies wirklich das Los sein könne, das ihr beschieden sei? Ob dies wirklich
das sei, was ihr Glück sein solle?
Dann schwur sie sich selber im stillen zu, daß dies nicht der Fall sein
sollte. Eher wollte sie sich vou wilden Pferden zerreißen lassen, wollte sich
ins Meer stürzen! Aber in den vielen schweren, trübseligen Stunden, die jetzt
über sie hereinbrachen, fragte sie sich dann wieder selber, welche andre Hoff¬
nung es wohl für ein armes Mädchen wie sie gebe, welches andre und bessere
Schicksal sie wohl erwarten könne, und ob sie nicht unwiderruflich und auf
ewig zu einem dunkeln, freudlosen Leben verurteilt sei. Es geschah ja nur im
Märchen, daß Ritter Robert an die Thür der armen Hirtin pochte. Und
selbst wenn es geschah — wie war es nicht Webers Jörgine ergangen, die
sich im verflossenen Jahr erhängte! oder der armen Ane-Mette, mit der sie
selber eingesegnet worden war! oder — und sie schauderte — ihrer eignen
Mutter!
Zuweilen empfand sie eine seltsame Aufregung bei dein Gedanken, daß sie
das Kind einer solchen Verbindung war, die Frucht eines kurzen, glückliche»
Beisammenseins, vielleicht in einem Walde, vielleicht unter dem nächtlichen
Sternenhimmel. Oft gewahrte es ihr auch eine eigenartige Befriedigung, sich
mit der feinste» Sonde ihrer Gedanken in ihre eigne Herkunft zu vertiefen;
mit unwiderstehlicher Macht trieb es sie, den geheimnisvollen Schleier zu
lüften, der über ihrem Ursprünge lag. Aber wenn sie nur an ihre Mutter
dachte, an die schlaffen Züge und die erstorbenen Augen, schauderte sie entsetzt
zusammen. Es war ihr, als könne sie ihr trostloses Schicksal, ihr hoffnungs¬
loses Urteil in diesem Blicke lesen, der in seiner stummen Starrheit erzählte,
daß es für das Glück nur einen Preis giebt: das Leben.
In dem Winter, wo Martha ihr sechzehntes Jahr vollendet hatte, ver¬
sank sie in tiefe Melancholie. Ihre alten, treuen Freunde, die sie schon lauge
mit bedenklichem Kopfschütteln beobachtet und sich vergebens nach dem Grunde
ihres veränderten Wesens gefragt hatten, wurde» schließlich von wirklicher
Angst erfaßt. Sie war vielleicht jetzt mehr denn je ihr gemeinsamer Aug¬
apfel, ihre einzige Freude und Hoffnung. Sie steckten ihre alten Köpfe zu¬
sammen, um ausfindig zu machen, was in aller Welt ihr kleines Herz be-
drücken könnte.
Aber Lars Einauge, der pfiffiger war als die andern, und Wohl
bewandert in den Zufällen des Lebeus, hatte mit seinem einen Auge mehr
gesehen, als die andern mit all ihren Angen, und eines Tages im Vorfrüh¬
ling, als in Wald und Feld alles um die Wette jauchzte und jubelte, glaubte
er, daß die passende Gelegenheit gekommen sei, ein ernstes Wort mit ihr
zu reden.
Es war eines Nachmittags zur Dämmerstunde, sie saß draußen vor der
offenen Thür auf den Fliesen und merkte es nicht, daß er über den Kies
dahergeschritten kam. Sie saß bleich zwischen hellgrünen Blättern und
den blauen Anemonen und erhob die Augen uicht von dem Saum des kleinen,
grünen Rockes, der in ihrem Schoß ruhte. Erst als Lars sie fast berührte,
blickte sie auf. Sie reichte ihm freundlich die Hand und versuchte mit ihrem
alten, freundlichen Lächeln zu lachen, aber es gelang ihr nicht. Und als er
ihr in die Augen blicken wollte, wandte sie sich ab, denn sie hatte geweint.
Er schüttelte traurig seine grauen Locken, schaute sie mit seinem zusammen¬
gekniffenen Ange an und setzte sich dann still neben sie auf die Treppenstufen.
Lcmgscun und sinnend stopfte er seine kurze Pfeife. Aber selbst als sie schon
brannte, saß er noch lange da und sah hinüber zu den großen, weißlichroteu
Wolke», die ihre schweren Massen über den fernen Waldessaum wälzten.
Seufzend dachte er zurück an die Zeiten, wo sie ihm noch wie ein junges
Zicklein entgegengespruugen war, sobald sie seinen humpelndem Schritt über der
Brücke vernahm; wie sie dan» gefällig seine Krücke ergriffen und in die Ecke
gestellt, sich auf seiue Kniee gesetzt und den Schweiß von seiner alten, gefurchten
Stirn getrocknet hatte. Er erinnerte sich der vielen fröhlichen Stunden, die
sie vertraulich mit einander verschwatzt hatten, ihres schelmischen Lächelns,
wenn sie ihn am Barte gezupft, ihres muntern Lachens, wenn sie ihm eine
Rolle Kautabak gestohlen oder seine Nasenlöcher voll Schnupftabak gestopft
hatte. Und Mieder schüttelte er seinen alten, runzlige» Kopf und seufzte tief
auf durch das schnarchende Pfeifenrohr.
Was hast du ihm geantwortet, Martha? fragte er endlich, ohne sie an¬
zusehen oder seine Stellung zu verändern.
Wein? erwiderte sie, ebenfalls ohne aufzublicken.
Ihm — Jesper.
Ach so!
Hat er nicht um dich angehalten?
Freilich hat er das gethan!
Nun, nud was sagst du denn dazu?
Da sie aber nichts darauf erwiderte, nahm er die Pfeife ans seinem
Munde, fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen und wandte sich dem»
zu ihr.
Hör eiumnl, mein Herz, begann er eindringlich. Es kann, weis; Gott,
nicht so fort gehen, daß du den Kopf so hängen läßt. Was ist dir denn nur
zugestoßen? Ist dir denn die gute Laune ganz abhanden gekommen? Oder —
sollte es da drinnen mit dem Uhrwerk uicht ganz seine Nichtigkeit haben? Ist
etwa irgend eine kleine Feder gesprungen? — Er beugte sich liebevoll zu ihr hinab
und schaute ihr ins Antlitz. — Hast dn nicht Beklemmungen, mein Kind? Etwa
einen Druck vor der Herzgrube? und tritt dir uicht das Wasser in die Augen?
Laß dir darum wirklich keine grauen Haare wachsen, mein Schatz! Soll
ich dir sagen, was das ist? — er senkte liebevoll die Stimme — daS ist Liebe!
nicht wahr? Das ist, hol mich der Teufel! nichts andre? als die Liebe! Ich
bin auch einmal jung gewesen, ich weiß recht gut damit Bescheid. Die Liebe
kommt im Frühling ebenso sicher wie der Staar und der Storch, deswegen
braucht dir aber nicht bange zu sein. Das ist der Segen des lieben Gottes,
mein Kind, wie unser alter Küster sagte. Das soll nun einmal so sein, sagte
er, und darum muß man es geduldig hinnehmen. Aber sag mir doch,
Martha, was hast du im Gründe gegen Jesper? Ist er nicht ein Prächtiger
Kerl, klar und fest vom Kopf bis zum Fuß und ein so tüchtiger Arbeiter, mie
sich ihn ein Mädchen nur wünschen kann? Was hat es da zu sagen, wenn er
vielleicht einmal einen über den Durst trinkt, oder wenn ihn: die Faust ein
bißchen lockrer sitzt, als gut ist? Dn meines Lebens Herr! Darauf kommt
es doch wirklich nicht an; wir haben alle unsre Fehler. Wodurch bin ich
denn selber zum Krüppel geworden? Und doch kann ich vor Gott und allen
Menschen behaupten, daß meine alte Lene, Gott hab sie selig, dankbar in ihr
Grab gestiegen ist. Ach was, sagte sie manch liebes mal, wenns Herz nur frisch
ist! Und dann — das giebt sich alles, wenn ihr erst bei einander seid. Die
Liebe zieht besser als sechs Pferde, sagt ein altes Sprichwort; und Jesper
ist ja wie toll hinter dir her gewesen schon als Junge, der wird besser als
mancher andre, wenn er nnr richtig gezogen wird. Niemand weiß, wie bald
wir auf dem Kirchhof liegen, und da wäre es doch gut, dich versorgt zu wissen,
lind so ein Kerl wie Jesper, Martha, der kommt dir nicht jeden Tag vor die
Thür gelaufen, das kannst du mir glauben. Wenn du also meinen Rat be¬
folgen willst — und ich habe in meinem laugen Leben genug von der Welt
gesehen und verstehe mich auf dergleichen —, so bedenke dich recht, ehe du eine
andre Antwort giebst als „Ja" und „Gott sei Dank!" Das ist meine Ansicht
von der Sache!
Damit steckte er den Zeigefinger in den Pfeifenkopf und sog den Dampf
in zwei, drei kräftigen Zügen auf.
Mnrtha hatte ein Paarmal zu ihm aufgeblickt und die innige Teilnahme
gesehen, die ihm aus allen Zügen leuchtete. Sie lächelte wehmütig. War sie
nicht anch selber müde? Hatte der Alte nicht im Grunde Recht? Verheiraten
mußte sie sich ja doch einmal, und was kam es da auf den Namen an? Hans
Peter — Jens Peter — Kersten - - Jesper — welcher Unterschied war denn
da schließlich? Und war es überhaupt der Mühe wert, um deswillen, der ihr
vielleicht um wenigsten gleichgiltig war, Umstände zu machen?
Sie Kumte einen kleinen Müllergesellen,, der ihr eines Tages bei der Kirche
seine Liebe erklärt hatte, und dem sie sich vielleicht lieber hingegeben Hütte.
Aber ihr graute bei dem Gedanken an all den Lärm und Unfrieden, den sie
dadurch veranlaßt hätte, bei dem Gedanken an Jespers Wut und an die be¬
trübten Mienen und die Enttäuschung ihrer alten Freunde. Sie kam sich
selber so überflüssig vor bei der gauzeu Sache, all das Gerede war ihr so
widerwärtig, daß sie schließlich gar nicht mehr daran denken mochte.
Eines Abends, als sie zufällig zusammen ans der Stadt nach Hanse
gingen, gab sie Jesper ihr Jawort.
Aber von diesem Tage an schlugen die dunkeln Wogen des Trübsinns
über ihrem Haupte zusammen. Eine tote, kalte, steinerne Ruhe kam über
sie. Es war, als wäre sie mit einem Schlage erwachsen, entschlossen und
verständig geworden, wie der, der fühlt, daß die Zeit der Kinderschuhe
vorbei ist und nun der lange, ununterbrochene Lebensweg abgesteckt vor seinen
Angen liegt.
Und wenn sie einsam an ihrem Fenster saß, erzählte auch ihr Blick, daß
sie alles aufgegeben, alles vergessen hatte, daß sie sich still und ohne Murren
in ihr Schicksal ergab.
Nur die Mutter mied sie. Sie spräche» kaum mehr mit einander. Wie
ein paar Schatten glitten sie in der grnbesähnlicheu Dämmerung der großen
Räume mit fremdem Blick an einander vorüber.
Aber bei der Gabe der Schwermut, die Gedanken zu beschäftigen, fühlte
sie nicht, wie die Stunden über ihrem Haupte dahinglitten. Während der
lange» Tage, an denen ihre Thür kaum geöffnet wurde, konnte sie ganz still
mit ihrer Näharbeit ans ihrem Stuhle sitzen und nur dem ewigen Brausen
des Waldes lauschen, das ihre Ohren nicht verließ.
Am Abend kam dann der Klub. Und dann war es ihr ein wehmütiger
Trost, die Gesichter der alten Freunde von Zufriedenheit und Freude strahlen
zu sehen. Sie lies; sich auch ruhig die Wange küssen, nahm sogar zu Zeiten
ohne Widerwillen zwischen ihnen Platz, ganz wie in alten Tagen, und ging
ihnen mit Krug und Becher zur Hand wie eine tüchtige kleine Hausfrau.
Aber hin und wieder, wenn die Trunkenheit stieg und der Streit allge¬
mein wurde, glitt sie unbemerkt aus dem Zimmer, setzte sich auf die Fliesen,
bedeckte ihr Antlitz mit der Schürze und weinte bitterlich.
(Fortsetzung folgt)
Zur religiösen Erziehung der Kinder aus Mischehen hat der evan¬
gelische Bund fast einstimmig folgende Anträge seines engern Vorstandes ange¬
nommen:
1. Die Vorschrift der ^ 1509 und 1658 des Entwurfs eines bürgerliche»
Gesetzbuches, wonach die Bestimmung, in welchem religiösen Bekenntnisse die Kinder
zu erziehen sind, den einzelnen Landesgesetzen überlassen bleibt, erscheint unberechtigt
und dem Wohle unsrer Kirche unzuträglich; es liegt vielmehr im kirchlichen Inter¬
esse, daß auch die Frage der religiösen Erziehung für ganz Deutschland einheitlich
geregelt werde. Ebenso widerstreitet es dem Wohle der Kirche, daß mich dem
bezeichneten Entwurf das bürgerliche Gesetzbuch die Bestimmung, daß bei Bestellung
der Vormünder auf das religiöse Bekenntnis des Mündels Rücksicht zu nehmen ist,
nicht enthalten soll.
2. Mit Rücksicht hierauf wird der Zentrnlvvrstaud beauftragt, beim Neichs-
kauzleramt (Reichsjustiznmt) dahin zu wirken, daß in den Entwurf des bürgerlichen
Gesetzbuches aufgenommen werde:
1a. an Stelle der §8 1K09 und 1058 folgende Bestimmung: „1. In welcher
Religion (oder Konfession) die Kinder erzogen werden sollen, bestimmt unbeschränkt
bis zum vollendete» vierzehnte» Lebensjahre derselben, wo ihnen die Wahl der
Religion oder Konfession freisteht, bei eheliche» und legitimirten Kindern der Vater,
bei unehelichen Kinder», sie mögen vom Vater anerkannt sein oder nicht, die Mutter,
bei Findlingen aber diejenige Person oder Anstalt, die das Erziehungsrecht ausübt.
2. Ist von dem erziehuttgSberechligteu Vater oder der erziehuugsberechtigteu unehe¬
lichen Mutter bis zur Beendigung ihres Erziehungsrechtes eine Bestimmung über
die religiöse Erziehung der Kinder nicht getroffen, so folgen die ehelichen und
legitiinirten Kinder der Religion oder Konfession des Voters, die unehelichen Kinder
der Religion oder Konfession der Mutter. Doch wird dabei ein erst in der letzten
Krankheit vor dem Tode des Erziehungsberechtigten erfolgter Religions- oder Kon¬
fessionswechsel nicht berücksichtigt. Auch ist eine erst in dieser Krankheit getroffene
ausdrückliche Bestimmung über die religiöse Erziehung der Kinder ohne rechtliche
Wirksamkeit, wenn eine von der bisherigen Religion oder Konfession des Erziehnngs-
berechtiglen abweichende Religion oder Konfession gewählt wurde. 3. Verträge
über die religiöse Erziehung der Kinder sind rechtlich unverbindlich. 4. Die Be¬
stimmung, das; ein Kind in einer andern Religion oder .Konfession, als es
bisher erzöge» ist, erzogen werden soll, ist in gerichtlicher oder notarieller
Form zu treffe». 5. Doch ist es als eine rechtsverbindliche Bestimmung des
Erziehungsberechtigten anzusehen, wenn letzterer das volle letzte Jahr vor seinem
Tode das Kind in einer andern Religion oder Konfession als der seinigen hat
erziehen lassen. Liegen in einem solchen Falle nicht besondre Umstände vor, ans
denen klar erhellt, daß dieser Erziehnngswille nur auf das betreffende eine Kind
hat beschränkt werden sollen, so sind auch die übrigen Kinder des Erziehungs¬
berechtigten in derselben Religion oder Konfession zu erziehen. Die im ersten Satz
von Ur. 5 bestimmte Ausnahme tritt nicht ein, wenn nach den Verhältnissen des
Wohnortes des Erziehungsberechtigteil anzunehmen ist, daß der letztere durch be¬
sondre Umstände (Mangel eines Geistlichen oder einer Schule seiner Religion oder
Konfession) dazu bestimmt ist, den Religionsunterricht in einer andern Religion oder
Konfession als der seinigen erteilen zu lassen. ki. Liegt keine schriftliche Bestim-
mung des erziehungsberechtigten Vaters vor, so steht bei Kindern, die das sechste
Lebensjahr noch nicht überschritten haben, der Mutter das Recht der Bestimmung
der religiösen Erziehung zu, wenn das Erziehungsrecht ans sie übergegangen ist;
doch kann sie dies Recht nnr mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts, die
nach Anhörung der nächsten väterlichen Verwandten und des Waiseurals und nnr
ans besonders erheblichen Gründen erteilt werden darf, ausüben. Den Paten
und nächsten Verwandten der Kinder steht gegen den Beschluß des Vvrmundschafts-
gerichts das Recht der Beschwerde zu. 7. Übergnngsbestimmnngeu zu treffen, bleibt
den Laudesgesetzgebuugeu vorbehalten."
'
Ib. in 8 1638der Zusatz: „Bei der Auswahl des Vormundes ist auf das
religiöse Bekenntnis des Mündels Rücksicht zu nehmen."
3. daß ferner H 1ö6 des deutschen Strafgesetzbuchs durch den Zusatz ergänzt
werde: „Alle Verleitung zum Religions- oder Konfessivnsüberlritt durch Ver¬
sprechungen äußerer Vorteile, durch Drohungen oder Zwang wird mit einer Geld¬
strafe nicht uiiter 150 Mark oder entsprechender Gefängnisstrafe bestraft. Ebenso
wird die in gleicher Weise erfolgte Verleitung zu einer Bestimmung der religiösen
Erziehung von Kindern bestraft. Auch der Versuch ist strafbar. Erfolgt die Ver¬
leitung durch einen Geistlichen oder Kirchendiener, so tritt eine Gefängnisstrafe von
mindestens einem Monat ein."
Es ist dem evangelischen Bunde gewiß darin beizustimmen, daß die Frage der
religiösen Kindererziehung im bürgerlichen Gesetzbuch für das ganze Reichsgebiet ihre
Lösung finden muß und nicht den einzelnen Landesgesetzgebuiigen überlassen werden darf.
Ob aber die vorgeschlagnen Bestimmungen zweckmäßig sind, erscheint doch zweifel¬
haft. Sicherlich ist eine Bestimmung zu treffen, die den häßlichen Handel um die
Seele« der Kinder aus Mischehen zu beseitigen geeignet ist; die Eisenacher Vor¬
schläge erzielen dies aber nicht, da sie den Schwerpunkt der gauzeu Frage, das
Recht des Baders oder der Mutter, die Religion, in ivelchcr ihre Kinder erzogen werden
sollen, zu bestimme», unangetastet läßt. Die Vorschrift, daß Verträge über die religiöse
Erziehung der Kinder rechtsnuverbiudlich sein sollen, ist wertlos, da der, der seine
Kinder in einem andern als seinem eignen Glauben erziehen lässt, meist hierzu
durch Umstände bewogen wird, die weit schwerer wiegen als irgend ein Bertrag,
und da er ja doch kraft seines Erziehuugsrechts jeden Augenblick von der ursprüng-
lichen Wahl des Glaubensbekenntnisses zurückzutreten das Recht hat. Die übrigen
Vorschläge sind zwar fein verklausulirt, aber sie geben zu vielerlei Zweifeln und
Streitigkeiten Anlaß, die namentlich die Frage nach den Umständen, ans denen geschlossen
werden soll, ob der Bnler nur ein Kind oder alle seine Kiuder in einer bestimmten
Religion habe erziehen lassen wollen, ungelöst lassen. Mau scheint diese Mängel auch
empfunden zu haben und glaubt deshalb deu Strafrichter zu Hilferufen zu sollen. Die
Zusahbestimmung zum § 166 des Strafgesetzbuchs dürfte aber ganz illusorisch bleibe»,
da wohl kein propagandistisch gesinnter Geistlicher so plump sein wird, offenkundig mit
Versprechungen oder Drohungen zum Religionswechsel oder zur Erziehung der Kinder
in einem andern Glaubensbekenntnis als dem der Erziehuugsberechtigteu zu verleiten. Er
erteilt den seiner Seelsorge unterworfenen Personen oder solchen, die zu ihm kommen,
um Rat zu erhalte«, Rat, »lag auch schließlich die Befolgung des Rats Vermögens-
vorteile nach sich ziehen; solche», Rat z» erteile», kann man aber keinem Geistlichen
verbieten. Will man ernstlich deu Streit um die religiöse Erziehung der Kinder
beseitigen, so giebt es nur ein Mittel, allerdings ein Mittel, das vielen nicht ge¬
fällt, weil es den Verzicht uns etwas „Freiheit" verlangt, nämlich die Freiheit des
Vaters und der Mutter, das Glaubensbekenntnis ihrer Kinder zu bestimme». Die
Abneigung gegen die Beschränkung dieses Bestimmungsrechts macht den Eindruck,
als wenn man eS zwar den Gliedern einer andern Religionsgemeinschaft verbieten
möchte, überzugreifen, sich selbst aber die? Recht gern vorbehalten möchte. Es muß
ein für allemal bestimmt werde», daß die eheliche» Kiuder in der Religion ihres
Vaters, uneheliche in der der Mitter, Findlinge in der ihres Erziehers oder ihrer
Erziehungsanstalt erzogen werden, und daß die Kinder selbst, nicht wie die hier
besprochenen Beschlüsse wolle», schon mit dem vollendeten Vierzehnten Lebensjahre,
sondern erst wenn sie sechzehn oder achtzehn Jahre alt geworden siud, eine andre
mis die angestammte Religion wählen dürfen; mit vierzehn Jahren sind sie gerade
im kritischsten Alter wegen der Konfirmation, sie müsse», ehe sie sich über ihre
Religion entscheide» können, erst reifer und selbständiger geworden sein. Will man
das hier vorgeschlagene Mittel, das allen Parteien Ruhe gebietet, nicht, dann
wundere mau, sich nicht, wenn trotz aller SichernngSvorschriften der Seelenschacher
weiter getrieben wird. Daß bei der Bestellung eiues Bormundes möglichst auf die
Religion der Mündel geachtet werden soll, ist zwar zutreffend, gehört ober uicht
in das bürgerliche Gesetzbuch, souderu in die Vormundschaflsordnuugeu, wie z. B.
die preußische Bormundschnftsordnuug vom S. Juli 1875 im H 1 Absatz 2 eine
solche Bestimmung enthält.
Diese Schrift vereinigt zwei Gelegenheitsarbeiten, einen dein Haupttitel ent¬
sprechende» Vortrag, den der Verfasser unter der Bezeichnung „Von der natürlichen
Sanktion für recht und sittlich" in der Wiener Juristischen Gesellschaft gehalten
hat, und als Anhang eine Rezension der Schrift des Sprachforschers Miklvsich über
„Subjektlose Sätze." Sie will gleichwohl „Früchte von jahrelangem nachdenke« bieten,"
und der Verfasser bekennt, daß „unter allein, was er bisher veröffentlicht, seine
Erörterungen wohl das gereifteste Erzeugnis bieten." Sie gehören zum Gedanken¬
kreise einer deskriptiven Psychologie," die er, „wie er nunmehr zu hoffen wogt, in
nicht ferner Zeit seinem ganzen Umfange nach der Öffentlichkeit erschließen kann."
Wir geben diese Einführungsworte nicht ohne Absicht in ihrer Fassung wieder,
denn sie sind bezeichnend für den nicht immer geschmackvollen Ton, der sonderbarer¬
weise gerade in den vielversprechenden umständlichen Iuhaltsbezeichuuugen und den
oft heftig-polemische» Anmerkungen des Buches herrscht. Nicht geschmackvoll wolle»
wir ihn ebeu »ur »enim, weil er i» starkem Mißverhältnis steht zu dem, was
der Verfasser vorläufig bringt. Es entspricht wenigstens nicht diesen tönenden An-
kündigungen. Das beliebte Gelehrtenspiel, die praktische Vernunft aus der Welt
zu schaffen und nicht bloß durch die theoretische Vernunft, sondern durch dus, was
man in der Zeit der Geistesvermögeneinteilung Verstand oder Urteilskraft nannte,
dnrch eine je »ach der Anlage verschieden große, gegenwärtig natürlich „entwickelte"
Klugheitslehre zu ersetzen, das muß schärfer, umständlicher und ohne bloße Be¬
schränkung auf den logischen Apparat durchgeführt werden, um der Idee des Ver¬
fassers von der Bedeutung dieses Unternehmens zu entsprechen. Der kategorische
Imperativ ist, schon ehe er „erfunden" war i.ewig denkwürdige That eines weisen
und guten Mannes, auch wenn sie, wie alles, verbesserungsfähig ist) zu allen Zeiten
eine „unbrauchbare Fiktion" genannt worden und hat gleichwohl kräftig fortgewirkt.
Sonst stünden wir allezeit in jenen Zuständen, die der Verfasser nun unter Darwins
Gevatterschaft „vorethische Zeiten" nennt, da das Kind nnter der Ronssenuschen
Bennmsuug „Naturzustand" gegenwärtig clous aus der Mode gekommen ist. Der
Name ist durchaus nicht glücklicher zur Bezeichnung eines vorauszusetzenden vor¬
staatlichen Zustandes. Die Ausführungen sowohl als die Polemik des Verfassers
leiden bei aller gelehrte» Dialektik an dem Mangel, daß doch niemals das zum
Ausdruck kommt, was der Verfasser im Kerne meint.
Die der gleichen Richtung ungehörige Schrift des Verfassers „Platons Sym¬
posion ein Programm der Akademie" ist an dieser Stelle bereits erörtert worden.
Die ans einer schönen Grundbemerknng entstandene Liebliugsmeinnng von dem in
Platons Kmnpofitionsweise verborgenen tiefsinnigen Schema wird nun mich am
Euthydem uachgeiviesen, schon an sich ein verdienstliches Unternehmen, da eine
Zusammenstellung dieser beiden Dialoge noch nicht durchgeführt wurde. Gelegentlich
ist ja auch die Echtheit des Euthhdem bezweifelt worden, wogegen solch eine for¬
male Parallele mich ins Gewicht fällt. Die schöne Begeisterung Sybels für Platon
hilft gelegentlich über die leise ThranniS hinweg, die seine Anschauung auf sein
Verständnis des Philosophen auszuüben beginnt. Wir meinen, sie wird mitunter
gar zu sehr ins Einzelne verfolgt und zu stark mit moderner wissenschaftlicher Aus¬
drucksweise verbrämt. Wer wird aus x«>c7lo <7<,)u.^>v sjZÄv der Diotima „Natur-
studium" Heranslesen und in ihren x«^« ^.«L>^^«i7« Mathematik, finden wollen,
wenn auch nur als schematisirende Andeutung? Ein einheitlicher hvdegetischer Gang
ist der sokratischen Methode bei Pluton gewiß entsprechend und vielleicht nicht ohne
Beziehung zu seiner „Wissenschaftslehre" überhaupt. Aber mau muß sich dabei doch
erinnern, was Sybel selbst aufs Titelblatt setzt, ^s/va ^«^)To^o^v xc,>^>-
Tonol.vo L?v«t, d. h. der ernste, methodische Philosoph ist zugleich gelegentlich der
grösste Schalt.
Wir haben die Leser mit der tiefsinnigsten aller Fragen unsers fragwürdigen
Zeitalters, die fich „Baeonfrage" nennt, verschonen zu müssen geglaubt, da wir vor¬
aussetzen, daß sie mehr und Besseres zu thun haben, als die Teilnehmer am
Shakespearenamenstreit. Wir sind daher anch dem Buche des Grafen Vitzthum,
gegen das sich vorliegende Arbeit vornehmlich richtet, als es uns vorlag, lieber mit
stummer als mit lauter Verwunderung vorbeigegangen. Der Zeitnngswald, der
ans Wind angewiesen ist, hat ja bei des Amerikaners Donellh Barnnmiade (von
dein tiefsinnigen Krhptogramm in, der Ausgabe von Shakespeares Dramen) sein
Pflichtgemäßes Papiernes Rauschen angehoben, und somit kennt man Wohl auch das
Wesentliche, um ums es sich hier handelt. Niemand, der sich gegen den Wind
kritisch verhalt, hat daran geglaubt, und die nötige Abkühlung ist wohl auch bei
den andern nicht lauge ausgeblieben. Aus Donellhs Kryptogramm laßt sich alles
und ebenso gut das Gegenteil beweisen, daß nämlich Shakespeare sich darin gerade
als Verfasser seiner Werke bestätigt. Wir wollen, die Schrift daher nur darum
erwähnen, weil wir sie empfehlen können, als gute, populäre Zusammenstellung der
dem Forscher übcrbekannten Belege für Shakespeares Verfasserschaft, sogar mit
deutscher Übersetzung der einzelnen Stellen ans der bezüglichen englischen Litteratur.
Solche Auffrischung des Gedächtnisses thut von Zeit zu Zeit gut, und seit der
letzte» ähnlichen Arbeit von E. Engel ist schon wieder geraume Zeit verstrichen.
Die vielen, zerstreuten Erinnernngsklänge, die das hundertjährige Andenken an
Schillers Autrittsv orlesuug in Jena anregte, sind in dieser vom xsuius loci ge¬
weihten Schrift zu einer Gesamtharmonie vereinigt. Schillers heldenhafte Per¬
sönlichkeit, die an dem Orte deu letzten schweren Kampf mit dem poesielosen Leben
kämpfte, wird darin auf dem möglichst getreuen lokalen Hintergründe dargestellt,
für dessen Erforschung die Pietät des Herausgebers eifrig thätig war. Auszüge
a»ö den betrunken Briefwechseln mit Körner, Goethe, Lotte und Neinwcilds, von
Ncitgliedern des Seminars gesammelt und geordnet, vervollständigen das Bild des
damaligen Kreises des Dichters, Urkunden und Aktenstücke »wer Schillers akade¬
mische Thätigkeit bilden den Schluss,
Der Verfasser seht in diesen drei zierlichen Bändchen die hier schon wiederholt
berücksichtigte Sammlung seiner kleinern, namentlich Goethe betreffenden Schriften
fort, die bisher die Rede» „Über die Freiheit" und „Iphigenie" gebracht hat.
Die eingehende historisch-psychologische Interpretation des Shakespearischen Welt¬
bildes der rücksichtslosen Herrschsucht reiht sich dem erstgenannten Neudruck der
Schrift „Über den Witz" würdig an. Der Vortrag über die Erklärungsarten des
Faust ist neuern Datums (vor zwei Jahren in der MnseumSgesellschaft zu Karls¬
ruhe gehalten) und nur der damals gerade aufgefundnen „Nrhaudschrift" halber
zurückgehalten werden. Hat dieser „Urfaust" nnn anch nicht den höchsten Erwar¬
tungen entsprochen, die sich an ihn knüpften, so ist er doch überaus wertvoll,
namentlich als ästhetisches Dokument zur Beleuchtung des NeifnngsprozesseS dichter¬
ischen Schaffens, doppelt wertvoll bei Goethe, dessen reifes Alter mau gar zu gern
zu Gunsten seiner „titanischen Jugend" herabdrückt. Die Prosahhpolhese ist durch
diesen Fund anch für die Gläubigen zerstört worden, die eignen Angaben des
Dichters über die Geschichte seines Lebenswerkes wurden nicht widerlegt, ja vielfach
bestätigt. Auf diese zuverlässige Urkunde stützt nnn bereits Fischer zum Teil seine
Ausführungen, die auf der einen Seite die. Dentnngssncht, ans der andern die Ent-
lehnungSsucht der Erklärer ablehnen und ans Hervorhebung deS rein persönlichen
und menschlichen Elements in der Dichtung hinauslaufen. Der in allem mensch¬
lichen Wissen und Thun hernmgeworfene Dichter ist (nach der bekannten Stelle aus
Dichtung und Wahrheit) selber Faust, der Anfangsmonolog der einzig mögliche Nr-
scmst. Ihm treten Gretchen und der ältere (noch nicht zum absolutem „Teufel"
gewordne) „Mephisto" als Urbestandleile zur Seile. Die Gründe der zur Welt¬
wirklichkeit gewordenen Macht der doch so kurz gefaßten. Liebestragödie „Faust und
Goethe" werden im einzelnen, dargelegt. Heben wir noch an der ältern, ans
Jenenser ästhetischen Vorlesungen hervorgegangn«» Schrift „Über den Witz" neben
der treffenden philosophischen Entwicklung (der Witz wird ans die Wirksamkeit, des
Selbstbewußtseins znriickgefiihrt) noch die reiche Einstreuung von „Witzen" hervor,
die durchaus nicht nach trocknen Belegen, schmecken, so haben wir neben dem innern
anch noch einen äußern Grund namhaft gemacht, sich die hier gebotenen Gaben nicht
entgehen zu lassen.
le folgende Betrachtung erscheint uns eilf notwendige Ergänzung
der Prüfung, der wir in voriger Woche die Friedeusfrnge unter¬
zogen, eine Frage, die, wenigstens in den Erörterungen der
Tagespresse, in jeder Woche ein andres Gesicht zeigt, oft auch
zu gleicher Stunde von dein einen so, von dem andern so be¬
antwortet wird und dort wie hier anscheinend mit gleich guten Gründen,
während doch immer mehr oder minder darauf das Sprichwort Anwendung
findet, daß der Wunsch der Vater des Gedankens, der Hoffnung oder der
Beunruhigung ist. Wir denken dabei vor allem an die bekannte That¬
sache, daß ein großer Teil der Presse ein Interesse daran hat, kriegerische
Wendungen willkommen zu heißen und Kriegsgerichte als begründet zu be¬
handeln, entweder weil die Zeitungen vom Interessanten, sensationellen, Un¬
gewöhnlichen leben und nichts allgemeiner interessirt als der Krieg, oder weil
die betreffende» Blätter im Besitze und Dienste von Spekulanten stehen, die
auf den Geldmärkten durch Fallen der Papiere große Gewinne in ihre Kassen
fließen sehen, weshalb ihre Organe sich von Zeit zu Zeit bemühen müssen,
die Lage der Dinge möglichst dunkel zu machen, politische Erscheinungen harm¬
loser Art als gefährlich und bedrohlich darzustellen und wirklich bedenkliche zu
übertreiben. Duzn kommt dann die Presse der Parteien, die durch einen Krieg
ihre Bestrebungen gefordert zu finden hoffen, in Deutschland z. B. die sozia¬
listische, die von einem großen Wirrsal Wasser auf ihre Mühle erwartet, und
die deutschfreisinnige, die es nicht ungern sehen würde, wenn die Friedenspolitik
des Reichskanzlers endlich scheiterte, in England die der Gladstouinner, die
einen Zusammenstoß mit dem Festlande mit Wohlgefallen begrüßen würde, da
er sich als Beweis für die Unfähigkeit des jetzigen Leiters der britischen ans-
wärtigen Politik, der wie Fürst Vismarck vor allein die Erhaltung des Friedens
im Auge hat, verwerten ließe. Man ist im Hinblick hierauf geradezu versucht,
es ungefähr mit dem alten venetianischen Ambassadore in London zu halten,
der gegen das Ende der Regierung Elisabeths seinen Auftraggebern berichtete:
„Es laufen eine Menge von Gerüchten am Hofe um, bald soll die Königin
tot sein, bald uoch am Leben. Ich für meinen Teil glaube weder das eine
noch das andre." Diese Gesandten waren, wie uns Ranke gezeigt hat, außer¬
ordentlich gescheite Kopfe, aber hier wäre der Unglaube, wenn wir uns ihn
hinsichtlich der alle Tage auftauchende» widerspruchsvollen Gerüchte von der
orientalischen Pandorabüchse aneigne» wollten, zwar recht bequem, aber doch
nicht recht am Orte. Ohne Zweifel giebt es gegenwärtig einige Punkte, über
die man beunruhigt sein kann, und einer derselben ist Kreta. Zu bedauern
ist, daß wir dort keinen unparteiischen und unabhängigen Beobachter und Bericht¬
erstatter haben, der uns Auskunft geben könnte, wie es jetzt in Wahrheit dort
steht und zugeht, und ob die Geschichten, die in Athen von dort erzählt und
zu uns befördert werden,' wenigstens einigen Anspruch ans Wahrheit haben,
und so müssen wir uns mit Vermutungen begnügen, die von Erfahrungen
abgeleitet siud, und die wir in folgende Sätze zusammenfassen: Wenn türkische
Truppen eine aufgeflackerte Rebellion zu unterdrücken haben, so pflegen sie sie
nicht mit Rosenwasser auszugießen, sondern machen ihr mit rauher und derb
zugreifender Hemd ein Ende, ja es giebt Beispiele, daß sie brutal dabei zu
Werke gingen; anderseits aber ist es noch häusiger vorgekommen, daß, wenn
bei solchen Gelegenheiten keine Greuel wie die Gladstonischen atroollic;« begangen
wurden, in Athen Leute vorhanden waren, die, wenn es für Griechenland
zweckdienlich erschien, solche zu erfinden und zu vertreiben verstanden. Es wird
daher klug sein, weder die Behauptungen noch die Ableugnungen, die uus von
der jetzt wieder in den Vordergrund getretenen und doch wie ein ferner Gegen¬
stand nebelhaften Insel zukomme», für unbedingte Wahrheit zu betrachten.
Aber bis man den Oberbefehlshaber der Türken anf Kreta mit klaren und
unanfechtbaren Beweisen überführt hat, daß er dort ein blutiges Schreckens¬
regiment eingeführt habe, wird man billigerweise daran zweifeln dürfen, und
zwar billigerweise umsomehr, als Schakir Pascha sich bisher des Rufes eines
humane» und taktvolle» Politikers erfreute. Natürlich würde es athenischen
Staatsmännern vortrefflich ins Geschüft passen, wenn die öffentliche Meinung
in Europa in Aufregung und Empörung versetzt würde und alle Welt eine
Einmischung Griechenlands billigte, die mit einer Einverleibung Kretas in
das Königreich endigte. Trikupis jedoch, der griechische Premier, ist nicht
leichtsinnig genng, einen derartigen Schritt zu wagen, ohne ganz bestimmte
Beweise dafür beibringen zu können, daß die Fortdauer der türkischem Herrschaft
vom Volke durchaus nicht mehr zu ertragen sei. Jetzt aber könnte er nur
erklären, was nur schon wissen, d. h. daß die sehr weitgehende Autonomie,
die der Sultan diesem Volke gewährt hat, es nicht befriedigt, sondern nur die
Begierde geweckt hat, vollständig unabhängig zu werden, was übrigens nnr
von den christlichen, nicht von den muhammedanischen Kretern gilt, obwohl
anch diese griechisch sprechen. Ein solches Verlangen ist überall die Folge
örtlicher Autonomie bei Provinzen, denen sie verliehen wird. Rumänien und
Serbien begannen mit lokaler Selbstregierung und endigten mit gänzlicher
Unabhängigkeit. Bulgarien ist ans dem Wege dahin. Ein autonomes Groß-
herzogtnm Posen würde nach Losreißung vou der preußischen Monarchie streben,
und Irland wäre vermutlich schon dabei, sich in eine unabhängig neben Eng¬
land bestehende Republik zu verwandeln, wenn Gladstone es mit seinem Uorno
ü.ni(j hätte beglücken dürfen.
Wir kommen nur zu eiuer entgegengesetzten Reihe von Gerüchten und
Behauptungen — entgegengesetzt, weil sie, wenn überhaupt ernsthaft gemeint,
mit ihrem Inhalte zu deu Maßregeln gehören würden, die der Erhaltung des
Friedens dienen sollen. Sie knüpfen sich an die Reise unsers Kaisers in den
levantinischen Gewässern, an seinen Besuch in Athen und seinen Abstecher nach
der Snltanstadt am Goldner Horn und laufen ans nichts Geringeres hinaus
als darauf, daß der Kaiser dabei die Absicht verfolgt habe, die Pforte zum
Beitritt zum Dreibünde zu bewegen, nach andrer weisen Thebaner Meinung
auch deu Basileus der Hellenen. Das letztere dem Glauben des Publikums
zuzumuten, ist geradezu eine UnHöflichkeit, denn anch der Unwissendste und
Leichtgläubigste muß sich erinnern, daß die Türken und die Griechen als natür¬
liche Geguer unter keinerlei Umständen Bundesgenossen werden können. Aber
auch die andre angebliche Absicht zerfällt bei einiger Überlegung so sehr in
nichts, daß es kaum der Mühe verlohnte, sie als unglaublich zu erweisen,
wenn sie nicht wochenlang in der gesamten europäischen Presse immer wieder¬
gekehrt wäre, und wenn wir nicht annehmen dürften, daß die betreffenden Be¬
richte in den vielen Kreise,?, die ohne eignes Urteil sich dein ihrer Leibzeitung
anzuschließen Pflegen, vollen Glauben gefunden hätten oder doch als sehr
wahrscheinlich vorgekommen wären. Zunächst spricht doch Wohl gegen eine
solche Absicht, daß mau sie nicht an die große Glocke gehängt haben, d. h. daß
man sie nicht dnrch einen großen, die Augen aller Welt ans sich lenkenden
Zug des Kaisers verfolgt haben würde. Das wäre nicht notwendig und nichts
weniger als klug gewesen. Dann aber spricht zunächst folgendes fehr entschieden
gegen die Sache. Wollte die Pforte dem dreiköpfigen Friedensbunde beitreten,
so würde die gesamte Streitkraft der drei Großmächte als mittelbare Bürg¬
schaft für die Unverletzlichst des Gebietes des Sultans in Asien sowohl als
in Europa wirken; denn obwohl die einzelnen Bedingungen, unter denen der
Bund zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn und später mit Italien ab¬
geschlossen worden ist, und die Pflichten, die er seinen Gliedern gegen einander
auferlegt, noch hente nicht an die Öffentlichkeit gedrungen sind, ist es doch
ziemlich klar, ja selbstverständlich, das; sie gegenseitige Verteidigung der Grenzen
der verbündeten Staaten, wie sie dermalen die Karte Europas ausweist, ein¬
schließen, sodaß weder das deutsche Reich noch Österreich-Ungarn noch auch
Italien irgendwelche» Gebietsverlust erleiden kann, so lange sie zusammenhalten
und erfolgreich mit einander dem Gegner die Spitze bieten. Ist es aber nach
^'age der Dinge glaublich, daß sie dem ottomanische» Reiche als Vierten im
Bunde ähnliche Bürgschafte» oder gar gleiche darbieten können? Die asiatischen
Grenzen des Gebiets, über das der Padischa herrscht, stoßen an die des russi-
schen, liegen aber weit außerhalb des Bereiches der Kanonen und Panzerschiffe
des Dreibundes, des bekannten pommerschen Grenadiers, des steirischen Jägers,
des ungarischen Husaren und der Bersaglieri des Königs Umberto. Ohne
Zweifel könnte anderseits der Bundesgenosse mit dem Fez den gemeinsamen
Gegner bis zu einem gewissen Grade schädigen, festhalten und beschäftigen, also
von der Entwicklung aller seiner Kräfte gegen Deutschland und Osterreich ab¬
lenken, aber er würde das praktisch mehr oder minder vereinzelt, vo» de»
Verbündeten getrennt zu versuchen haben und mit der höchsten Gefahr für sich
selbst. Es wäre die Fabel von dem Bündnisse des Zwerges und des Niese».
Diese waren Sieger über ihre gemeinschaftlichen Feinde, aber nur der Riese
trug Ehre davon, während sein kleiner Waffenbruder in dem glorreichen Kampfe
znerst ein Bein, da»» einen Arm und schließlich auch ein Auge einbüßte. Die
Türkei ist, verglichen mit de» Mächte» deS Dreibundes, militärisch el» Klein¬
staat, und wenn jene wahrscheinlich siegen würden, so könnte sie leicht als
Krüppel ans dem Kriege hervorgehen. Sie könnte Armenien verlieren, das
vo» mißvergnügteil Christen bewohnt ist und Rußlands Soldaten als Be¬
freier von kurdischer Mißhandlung und , vsmanischer Mißwirtschaft be¬
grüßen würde. Was die europäischen Besitzungen des Sultans betrifft,
die 1878 so zusammengeschrumpft sind, oder die die Mächte damals,
»in eine» Ausdruck Veaeonsfields zu brauchen, so konsolidirt haben, so haben
sie, abgesehen von der Hauptstadt mit den» Bosporus und den Dardanellen,
für die Pforte nur noch geringes, jedenfalls weit weniger Interesse als früher.
Das Vordringe» der Griechen gegen Salvnik, vorläufig noch frommer Wunsch
und Thema vo» panhellenischen Zeituugspredigten, berührt die Staatsmänner
vo» Stambul nicht so sehr als die Annahme, ihre Kollegen i» Wien und Pest
betrachteten es als ihr zukünftiges Trieft nur ägeische» Meere. Deshalb hätte
jede Verpflichtung der Diplomatie des Dreibundes, die europäische Türkei vor
weitern Gebietsverlnsten zu schützen, mir müßigen Wert, während die Be¬
sitzungen des Sultans in Asien außerhalb der Sphäre seines militärische»
Wirkungskreises liegen würden. Die drei Verbündete» wäre» folglich nicht
wohl imstande, dein Großherr» die einzige Bürgschaft zu geben, die ihn ver¬
anlassen könnte, sich von der Politik zu entfernen, die er seit dein Frieden
von 1878 befolgt hat »»d die in strengster Neutralität und passiver Wachsam-
den bestand. Er und seine Ratgeber köiinen i» der nächsten Zukunft keinen
Grund finden, der sie bewegen könnte, sich durch Beitritt zu einem gegen Ruß-
land abgeschlossenen Vertrage deu Zorn der einzigen Macht zuzuziehen, die ihr
in Wirklichkeit zu schadeii vermag und der sie eine Kriegsentschädigung schulden,
die sie niemals in Geld abtragen können, also, wenn um die Zahlung gedrängt
würde, mir mit Abtretung vou Gebiet — etwa Erzerum »ut seiner Um¬
gebung — ausgleichen können. Kein Zweifel, der jetzige Zar ist ein Mann
vou friedlicher Gesinnung, der Ruhe halten wird, so lange es ihm irgend
möglich ist, d, h, so lauge er die Macht behält, dem Drängen der pan-
slawislischen Parteien zu widerstehen. Er hat die Niederlage der Hoffnungen
dieser Parteien in Billgaren sicher mitempfunden, aber es vorsichtig unter¬
lassen, deshalb daS Schwert zu ziehen. Er sieht es nnter den Serben wie
in einem Hexenkessel brodeln und bleibt bei seiner Enthaltsamkeit. Die Re¬
publikaner in Paris bemühen sich muss angelegentlichste, ihm bei jeder Gelegen¬
heit zu huldigen, zu schmeicheln und ihn ihrer Liebe zu versichern, aber
nur jene Parteien erwidern diese wenig würdevollen, oft jüdisch zudringlichen
Anträge mit Wohlgefallen; er selbst bleibt kalt und starr. Er hat in der
letzten Zeit Frieden und Freundschaft mit dein alten Herrn im Vatikan ge¬
schlossen und er läßt sich durch den Dreibund, wiederholt überzeugt, daß dieser
durchaus nichts andres als Erhaltung des Friedens bezweckt lind betreibt, nicht
zur Ungeduld hinreißen. Immer jedoch steht hinter ihm, wie ein dunkles
Wettergewölk, ein überreiztes, begehrliches nationales Gefühl, das, wie es selbst
herausfordernd auftritt, für die geringste Herausforderung von andrer Seite
äußerst empfindlich ist, und dieses Gefühl würde sofort aufflammen und seine
Schranke» durchbrechen, wenn die Türkei sich zu einem offenen Schritt ent¬
schließen wollte, wie er in einem Eintritt in die Reihe der drei Zentralinächte
gegeben wäre. Das nichtamtliche, aber trotzdem einflußreiche Rußland würde
einen solchen Entschluß als einen Schlag ins Gesicht empfinden, und wir er¬
innern uns, wie es 1L77 den Zar Alexander II. zwang, gegen seinen Wunsch
und Willen dein Sultan den Krieg zu erklären. Wäre das jetzt vielleicht nicht
so leicht, so wäre es doch jedenfalls sehr möglich. Alle diese Betrachtungen
wird der Sultan angestellt haben, und nach allem, was wir vou ihm kennen,
ist er ein vorsichtiger Politiker, dem Wagnisse durchaus fernliegen. Unsre Frage
beantwortet sich infolge dessen kurz und bündig dahin: Der deutsche Kaiser hat
nicht daran denken können, die Türkei zum Anschluß an den Dreibund aufzu¬
fordern, und der Sultan würde, wenn dies geschehen wäre, die Aufforderung,
die übrigeus keinesfalls bei dem Besuche in Stambul stattgefunden haben könnte,
ablehnend beantwortet haben.
Die Sache steht, wenn wir sie uus noch etwas weiter klar machen,
folgendermaßen. Jede Ausdehnung des Dreibundes auf die Türkei würde
dessen Eharakter ganz wesentlich verändern, d. h. ihn ans einer Vereiuiguiig
zur Erhalticng des europäischen Friedens in eine Verbindung verwandeln, die
den Nusbruch eines Krieges wahrscheinlicher »nichte. Das Kleeblatt Deutsch¬
land, Österreich und Italien wirkt als Oliveublatt, es bannt feindselige Gelüste,
weil die drei Staaten, die es bilden, befriedigte politische (Gemeinschaften sind;
die österreichisch-ungarischen Slawen und die Jrredenta Italiens lärmen zwar
gelegentlich recht laut, habe»? aber für die große Politik keine Bedeutung als
die, die ihnen ihre überspannten Volksredner und ihre querköpfigen Zeitungs¬
schreiber beimessen. Die Fürsten, lind Völker jener Länder sind zufrieden mit
dem, was sie sind, haben und gelten, und sehen nnr Feinde neben sich, die
sich vor einem Angriff auf sie Hüten werden, so lange sie vereinigt bleiben,
indem, ein solcher Angriff, wie dieser Tage selbst ein französischer Soldat
öffentlich zugestand, sehr wahrscheinlich mit einer furchtbaren Niederlage der
Friedensbrecher enden würde. Wollte mau die Türkei in diese» Zauberkreis
der Verteidigung gegen böse Geister hineinziehen, so hieße das, diese Geister in
übergroßem Selbstvertrauen herbeirufen. Die Türkei würde allerlei Un-
willkvmmnes mitbringen: die Ansprüche Bulgariens ans volle Unabhängigkeit
und ans Einverleibung Makedoniens, die Bestrebungen der Pauserben, die
griechische Großmannssucht mit ihrer voreiligen Begier u. dergl, in. Fürst
Bismarck, der Schöpfer des Dreibnndes, denkt sicherlich nicht an eine solche
Umbildung seines verheißungsvoller Kindes, und sein Kaiser steht ihr un¬
zweifelhaft ganz ebenso sern. Er hat neulich in Berlin an der Seite des
Zaren auf die tapfer» Soldaten, die Plewna stürmten, getrunken, was gewiß
nicht wie eine Andeutung des Wunsches klang, sich mit dem Gegner dieser
Kriegsleute zu verbünden. Er ist dann nach Athen zum Besuche des Königs
von Griechenland gegangen, einem Staate, der nnr gewinnen kann, wenn die
benachbarte Pforte verliert. Der nächste Anlaß hierzu war eine Familienfeier,
eine Hochzeit ans seinem Hanse, der sich auch keine andre Bedeutung beilegen
läßt als die eiuer Vermählung zweier Fürsteitkinder. „Und als er die Schwester
dem Gatten gefreit," begab er sich nach dem nicht mehr fernen Konstantinopel —
ein Abstecher, den nur nnr als Teil eines Tvuristenprvgramms auffassen dürfen,
wenn wir ihn natürlich deuten wollen. Kaiser Wilhelm hat das Bedürfnis,
wie Odysseus vieler Menschen Städte und Länder zu sehen, und, einmal in
Athen, wünschte er auch die nnn so nahe liegende schönste dieser Städte zu
besuchen. Er fuhr nach dem Bosporus zu keinem andern Zwecke als zu dem,
der ihn uach den Lofoten führte. Jngendfrisch, von unruhigem Temperament,
wanderlustig, hat er im Reisen innerhalb eines Jahres mehr geleistet als seine
Vorfahren in Jahrzehnten. Warum in aller Welt sollte er sich nicht auch
das Vergnügen gewähren, die Prachtstube am Goldner Horn seinen Tvnristen-
erinnernngen einzuverleiben? War es doch daneben fast ein Gebot der Höflich¬
keit, von Athen ans dem Sultan einen Besuch abzustatten.
Der Name Athens veranlaßt uns, noch ein paar Worte über Griechen-
land hinzuzufügen. Griechenland hat sich früher mancherlei Thorheiten zu
schulden kommen lassen und arge Enttäuschungen erlebt. Heutzutage ist es
besser geworden, nud es läßt sich nicht verkennen, das; auch die Aussichten des
kleinen Königreiches in die Zukunft einigermaßen Heller geworden sind. Vor
allem haben die Leiter seiner Politik, wie es scheint, gelernt, den Umständen
sich mehr anzupassen, sich zu gedulden und immer das Nächstliegende auch zunächst
ins Auge zu fassen. Der König hat als verständiger und behutsamer Charakter
niemals zu den Intrigue« schwärmerischer oder selbstsüchtiger Politiker hin¬
geneigt, die ans kriegerische Wagnisse hindrängten und damit nur den ohnehin
dürftigen Staatsschatz mit Erschöpfung bedrohten. Er hat mehr auf die Billig¬
keit Europas als auf den Erfolg der griechischen Waffen bei einem. Einbruch
in dus türkische Nachbarland gerechnet und sich damit nicht getäuscht, sondern
ist ein Mehrer des Reiches auf friedlichem Wege geworden. Seine wenig be¬
neidenswerte Stellung gegenüber einem argen Demagvgentum hat sich von
Jahr zu Jahr erträglicher gestaltet. Die Hilfsquellen des Landes sind viel¬
fach erschlossen worden, und die Finanzen befinden sich auf gutem Wege.
Fürstliche Heiraten haben nicht mehr die Bedeutung von ehedem, immerhin
aber noch Wert für das betreffende Land, und Griechenland ist seit der Ver¬
mählung, zu der Kaiser Wilhelm erschien, durch solche Verbindungen zu drei
Großmächte», Rußland, England und Deutschland, in nahe Beziehung getreten.
Es hat, wenn es ferner verständige und bescheidene Politik treibt, keine Übeln
Aussichten in die Ferne, wo sich schließlich das Geschick deS ottomanischen
Reiches erfüllen wird.
le Veröffentlichungen des 1^72 gegründeten Vereins für Sozial¬
politik haben bisher stets eine gute Aufnahme gefunden. Wenn
es aber der Verein bis zu Anfang der achtziger Jahre als seine
wesentlichste Aufgabe betrachtete, in seinen Versammlungen und
Schriften die zur Zeit seiner Gründung in Parlament nud Presse
verbreitetsten, auf den abstrakten naturrechtlicyen Schulen der Phhsivkraten und
des Smithianismns beruhenden manchesterlichen Doktrinen der absoluten wirt¬
schaftlichen Freiheit des Einzelnen rückhaltlos zu bekämpfen und diesem Zwecke
seine ganze Kraft zu widmen, so konnte er, seitdem die Theorie des Mum-
Kurv ihre Verurteilung von dem deutsche» Volke und der deutschen Reichs¬
regierung erhalten hatte, sich allgemeinen sozialen Problemen, die besonders
brennend geworden sind, zuwenden.
Die neueste Veröffentlichung des Vereins enthält eine Schilderung der
Litteratur, der heutigen Zustände und der Entstehung der deutschen Haus-
industrie, einer geluerblichen IlnternehmuugSfvrni, die erst seit kurzer Zeit die
Wnuschenswerte Berücksichtigung in Theorie und Praxis gefunden hat, von
Professor Dr, Wilhelm Stieda (Leipzig, Duncker nud Humblot, 18.W). Die
Wahl dieses Verfassers muß von vornherein als eine glückliche bezeichnet werden.
Stieda ist derjenige deutsche Theoretiker, der sich mit dieser Unternehmnngsfvrm
am eingehendsten und liebevollsten beschäftigt und schon mehrfach bedeutende
Arbeiten darüber veröffentlicht hat. Seine Darstellung darf als mustergiltig
bezeichnet werdeu. Stieda behandelt deu Stoff auf Grund des vorhandnen
gedruckten Materials, indem er es sichtet, ordnet, iritisirt. Der Wunsch nach
einem vollständigern Erfassen der gegenwärtigen hansindnstriellen Erscheinungen
liegt nahe, da selbst die Berufszähluug von t»82, die das entschiedne Verdienst
hat, zum erstenmale eine statistische Erhebung über die deutsche Hausindustrie
geliefert zu haben, nicht als erschöpfend betrachtet werden kann, zum Teil auch
veraltet ist. Der Verein für Sozialpolitik hat es in die Hand genommen, neue
Ermittlungen über die deutsche Hausindustrie anzustellen und weiteres Material
zu sammeln, um dann die wichtige Frage entscheiden zu können, ob eine
Besserung der unzweifelhaft in der Hausindustrie vorhandnen Mißstände ans
dem Wege der Gesetzgebung oder besser ans dem der Selbsthilfe zu hoffen sei.
Die Bezirke Berlin, Breslau, Leipzig, Dresden, Bremen, Lothringen, der
württembergische Schwarzwaldkreis, Reus; ältere und jüngere Linie, Erfurt,
Schwarzburg-Rudolstadt und SchU'arzbnrg-Sondershausen, Schaumburg-Lippe
sind noch gar nicht hinsichtlich ihrer hausindustriellen Verhältnisse beschrieben
worden, hier sind wir allein auf die Neichsstatistik angewiesen. Für diese Ge¬
biete werden die Ermittlungen des Vereins für Sozialpolitik eine hervorragende
Bedeutung erlangen. Ihrer Veröffentlichung, die dem genannten ersten Baude
alsbald folgen soll, darf man daher mit Spannung entgegensehen.
Wenn auch die deutsche Hausindustrie erst in neuester Zeit die Beachtung
gefunden hat, die ihrer Bedeutung für das nationale Wirtschaftsleben entspricht,
so haben sich doch Männer wie Moritz Mohl, O. Schwarz, David Born,
Schmoller, Karl Marx, Max Wirth, Engel/A. Held, Röscher, Lcxis, Schön-
berg n. a. schon seit dem Jahre 1328 theoretisch mit ihr beschäftigt und ihre
Abweichungen von Handwerk und Fnbrikthätigkeit mit mehr oder weniger
Klarheit dargestellt. Als charakteristische Eigentümlichkeiten der Hnusiudnstrie
hat man festgestellt Massenproduktion, Arbeit im Hanse, abhängige Lage von,
Großkapital, Absatz außerhalb des Produktivnsortes durch Vertrieb im Großen
ans Rechnung eines Kaufmanns oder Fabrikanten. Vom Handwerk unter-
scheidet sich die Hausindustrie'durch die Art des Absatzes, sofern das Hand¬
werk Kundenarbeit liefert, von der Fabrik dnrch den Ort der Beschäftigung
des Arbeiters. Nicht eigentümlich ist der Hausindustrie der Maugel oder die
geringe Benutzung vou Maschinen, wie man früher öfters annahm, da z. B.
die sächsische Hausstickereiiudustrie ohne die Stickmaschinc gar nicht gedacht
werden kann. Auch gehört es nicht zu ihren Kennzeichen, daß sie Landes¬
produkte verwertet, so naheliegend das anch für eine gedeihliche Entwicklung
der gewerblichen Hausindustrie erscheinen mag. Nach Alexander Zieglers
Geschichte des Meerschaums (zweite Auflage, Dresden, 1883), die besonders
die Ruhlaer Industrie berücksichtigt, muß für die thüringische Tabakspfeifen¬
hausindustrie der Meerschaum aus Kleinasien, der Bernstein von der Ostsee,
Weichselrohr aus Baden bei Wien, Messingblech ans Augsburg oder Kassel,
Harz aus Ostindien, Cedernholz von dem Libanon, Bruhereholz aus den
Pyrenäen, Birken- und Buchsbaumholz aus Schweden bezogen werden, und
dennoch blüht diese thüringische Hausindustrie.
Älter als die Studien der genannten Theoretiker sind die Schriften der¬
jenigen Männer, die Professor Stieda als Praktiker bezeichnet, weil sie teils
ihre eigne Beobachtung des Lebens an Ort und Stelle, teils die durch Verkehr
mit Ortskundigen gewonnenen Eindrücke darstellen. An solchen Schriften
herrscht unzweifelhaft noch großer Mangel; für einige Gegenden Deutschlands
sind die hansindustriellen Verhältnisse noch gar nicht, für andre nnr in un-
genügender Weise gewürdigt. Hoffentlich werden die Veröffentlichungen des
Vereins für Sozialpolitik den Anlaß geben zu einer größern Thätigkeit auf
diesem Gebiet Geeignete Persönlichkeiten, die in dem liebevollen Versenken in
die heimischen hansindustriellcn Zustände eine würdige Aufgabe finden könnten,
fehlen heutzutage nicht mehr, wie uns einzelne höchst wertvolle Schilderungen
von Praktikern ans der neuesten Zeit beweisen. Bahnbrechend nennt z. B.
Stieda mit Recht das zweibändige Werk von Alphons Thum Die Industrie
am Niederrhein und ihre Arbeiter (Leipzig, 1879), das eine Schilderung
der Tuchindustrie im Aachener Bezirk, der linksrheinischen Seiden- und
Saininetiudustrie, der Baumwolleniudustrie in Gladbach und Nhehdt, der
Solinger und Remscheider Metnllwaarenindnstrie und der Textilindustrie in
Elberfeld und Barmer enthält. Gleiches Lob verdienen die 1882 bis 1888
erschienenen Schilderungen der Holz- und Spielivaareuindustrie, der Schiefer¬
griffel- und -tafelindustrie und der Glasindustrie im Kreise Sonneberg, der
Meerschaumindustrie in Ruhla, der Holzschnitzerei und Korkindustrie im
Eisenacher Oberlande, der Korbflechterei im Kobnrgischen, der Phosphor-
zsmdhölzchenindnstrie in Neustadt am Nennsteig, der Töpferei in Bürget und
der Korbwaarenindustrie in Oberfranken, kurz eines Teiles der Thüringer Haus-
industrie, die or. Emanuel Sax veröffentlicht, auch die Schrift des Dr. Schnnpper-
Arndt: Fünf Dorfgemeinden auf dem hohen Taurus (Leipzig, 1883), die
ausführlich die Nagelschmiederei, Filetstrickerei, Drahtwareufabrikatioti und
Verfertigung von Friedhofskränzen aus Perle» in den einsamen Taunusdörfern
Oberreifenberg, Niederreifeiiberg, Seelenberg, Schnitte» >tut Arnvlsheim be¬
handelt. Mögen sich noch mehr derartige verständnisvolle Beobachter finden,
insbesondre für Berlin, Schlesien, das Königreich Sachsen und Elsaß-Loth¬
ringen; die Interessen der Volkswirtschaftslehre und der Industrie würden
durch sie in gleichem Maße gefördert werden.
Was die geographische Verbreitung der Hausindustrie betrifft, so zeigt
schon die Reichsstatistik von 1882, daß ihr Gebiet großenteils zusammenhängt.
Stieda bezeichnet als den Hauptherd der Hausindustrie in Deutschland ein
Gebiet, das sich vom Glatzer Gebirgskessel aus längs der böhmischen Grenze
bis zum Fichtelgebirge und von da nach Norden bis zum Eichsfelde erstreckt.
Ferner finden sich bedeutende hausindustrielle Gebiete an der Westgrenze des
Reichs (so der Düsseldorfer und Aachener Bezirk), in Lothringen und Unter¬
elsaß, sowie in Württemberg (der Schwarzwaldkreis). Vereinzelt erscheinen als
hausindustriell wichtige Orte Bremen (Tabakfabrikation) und Berlin (Kon¬
fektion). In allen diesen Gebieten hebt Stieda mit Recht eine große Dichtig¬
keit der Bevölkerung und Zersplitterung des Grundeigentums hervor.
Die Hausindustrie kann die Konkurrenz mit der Fabrikthätigkeit auf die
Dauer uicht ertragen, weil sie an Teilung und Vereinigung der Arbeit hinter
ihr zurücksteht, unter sonst gleichen Verhältnissen. Sie ist nnr da konkurrenz¬
fähig und daher einer längern Dauer sicher, wo keine größern Maschinen
technisch erforderlich sind, denn diese kann sie bei zersplitterten Kapital und
daneben fortdauernder Verbesserungen der Maschinentechnik nicht anschaffen, und
wo durch keine weitere Arbeitsteilung die Produktionskosten verringert werden
können. Einen wesentlichen Einfluß auf eine gedeihliche Entwicklung der Haus¬
industrie weist Stieda dem Umstände zu, ob bei der Arbeit Frauenhand Ver¬
wendung finden kann, ferner soll große Transpvrtfähigkeit der Erzeugnisse, die
Möglichkeit, sie bequem von den Produktivusstätteu zum Verleger und ans
dessen Händen zu den Konsumenten gelangen zu lassen, auch künstlerischer Sinn
sie befördern. Von der kunstgewerblichen Hausindustrie wird man sogar sage»
können, daß sie eiuer Atisdehnung in Zukunft sicher sein kann, wenn sie die
entsprechende staatliche Fürsorge erhält, dein: im Kunstgewerbe dürfte wie das
Handwerk so auch die Hausindustrie der Fabrikthätigkeit überlegen sein. Umso
weniger ist zu verstehen, wenn Stieda gestützt auf einen Aufsatz der Kölnische»
Zeitung vom 15. Juni 188!! i» der Knustschleifindustrie der Achate und untrer
Halbedelsteine im Fürstentum Birkenfeld, z. B. zu Jdar, eine abwärtsgehende
Industrie zu erkennen glnnbt, weil infolge veränderten Modegeschmacks die
Schleifmühlen stehe» bliebe». Es sind im Fürstentum Birkenfeld zeitweise
Stockungen der dortigen Schleifindustrie eingetreten, weil der Hauptabsatzplal.
seiner Erzeugnisse, Amerika, seit ungefähr derselbe!, Zeit selbst anfängt, Halb-
edelsteiue zu schleift» und die Mode dort zeitweise andre Wege einschlägt als
in der Heimat, So hat die Birkenselder Industrie eine Konkurrenz erhalten,
die sie häufiger als früher zwingt, Neuheiten auf den Markt zu bringen, ein
Umstand, den jede Hausindustrie schwer verträgt; von einem Steheulassen der
Schleifmühlen kann aber deshalb keine Rede sein.
Nach der absoluten Zahl der Hausindustrielle» nennt Stieda als die elf
wichtigsten Gelverbearten, die mehr als 10000 Hausindnstrielle aufweiseiu
1. die Seidenweberei und Sannnetverfertigung, 2. die Baumwollenweberei,
die Näherei, 4. die Leinenweberei, 5, die Strumpfwaarenfabrikation, 6. die
Schneiderei, 7. die Wvllenweberei, 8. die Weberei gemischter Waaren, 9. die
Schuhmacherei, 10. die Pvsamentenfabrikativn, 11. die Zeug-, Sensen- und
Messerschmicdcrci und die Verfertigung eiserner Kurzwaaren. Die Zahl sämt¬
licher Hansindnstriellen im deutschen Reiche wird man zur Zeit rund auf
eine halbe Million Personen angeben können.
Interessant sind die Ermittlungen Stiedas über den Familienstand der
Hausindustriellen. Bon allen Arbeitern und Gehilfen in der Industrie sind
59 Prozent ledig, 38,6 Prozent verheiratet, 2,4 Prozent verwitwet; uuter den
Hallsindustriellen dagegen finden sich 40 Prozent Ledige, 47 Prozent Ver¬
heiratete und 13 Prozent Verwitwete. Die Hausindustrie beschäftigt also mehr
Verheiratete lind Verwitwete als andre Gewerbe. Sehr bemerkenswert ist, daß
l>el den Witwen sogar die absolute Zahl größer ist. Uuter 339644 Haus-
industriellen giebt es 34927 Witwen; unter 4096243 Arbeitern und Gehilfen
nur 33 636. Stieda erklärt diese bedeutsame Erscheinung damit, daß die
Witwe, die wegen uumündiger Kinder oder durch höheres Alter ans Haus ge¬
bunden ist, manche Freistunde findet, in der sie sich gewerblich im Hanse be¬
schäftigen kann, während sie die regelmäßige Arbeitszeit in der Fabrik und die
strengere Beschäftigung dort mit nur wenigen Pausen nicht einzuhalten vermag.
Also schon um der Witwen willen, denen die Hausindustrie besonders zusagt,
wird man sich einer gesunden Fortdauer derselben freuen.
Den Hauptwert der Schrift Stiedas wird mau darin erkennen müssen,
daß er die allverbreitete Meinung, daß die Hausindustrie besondre soziale Vor¬
züge vor der Fabrikthätigkeit und auch vor dem Handwerk habe, energisch
bekämpft. Das geträumte Ideal dieser Arbeit in der Familie, wo der Vater
für die Erziehung der Kinder, die Mutter für den Haushalt sorgt, die Arbeits¬
zeit nicht von dem Willen eines Dritten abhängt, die Art der Arbeit die Ge¬
sundheit uicht schädigen soll, ist mehr in der Phantasie als in der Wirklichkeit
vorhanden. Stieda nennt sogar die Lage der Hausindustriellen eine mehrfach
elendere als die der Fabrikarbeiter. Vor allem steht fest dnrch die Berichte
der Praktiker und der Fabrikinspektoren, soweit die letztem hausindustrielle
Verhältnisse ins Auge fassen, daß die Arbeitskräfte der Kinder von den Eltern
in gesundheitsschädlicher Weise ausgenutzt werde». Eine übermäßige Verweu-
dung der zarten Kindeskräfte wird die Gesetzgebung hier auch in Zukunft
weniger hindern können, als bei der Fabrikthätigkeit, weil die Familie ihrem
Einwirke» natürlich weniger offen steht als ein Fabriklokal. Entschieden
schlechter sind die Wohnungsverhältnisse der Hausindustriellen als die der
Fabrikarbeiter, besonders ärmlich und schmutzig in, einzelnen Teilen von
Thüringen, Schmalkalden und im Taurus. Eine Besserung dieser Verhält¬
nisse ist in der Hausindustrie auch schwerer zu erreichen, weil der arme Häusler
deu an ihn etwa gesetzlich zu stellenden Anforderungen nicht in dem Maße folgen
kann, wie der bemittelte Fabrikherr. Alle Beobachter stimmen ferner darin
überein, das; die Ernährung der Hausindustrielleu besonders kärglich und un¬
zureichend ist und fast ausschließlich in Kartoffeln besteht. Der Meininger
Volksmund sagt eine traurige Wahrheit mit seinem: Kartoffeln in der Früh,
zu Mittag in der Bruh, des Abends mitsamt dein Kleid — Kartoffeln
in Ewigkeit! So zeigen denn auch die militärischen Aushebungen einen
schlechten Gesundheitszustand der Hausindustriellen als Folge aller dieser
Umstünde.
Während »tan früher geneigt war, anzunehmen, daß die Möglichkeit der
Zeiteinteilung nach Belieben und damit verbunden überhaupt eine mäßige,
Gesundheit und Familienleben nicht schädigende Arbeitszeit zu deu Vorzüge»
der Hausindustrie zu rechnen sei, ist heute gerade die Arbeitszeit ein wunder
Piittkt der Hausindustrieverhältnisse. Um sich bei der hvchgesteigerteu
Konkurrenz und den damit verbundnen Lohnverringernngen ein einigermaßen
erträgliches Leben zu schaffe«, wird die Leistungsfähigkeit aufs äußerste ange¬
spannt, die Ruhezeit ans das geringste Maß beschnitten. Der thüringische
Tafelmacher arbeitet achtzehn Stunden, der Pfeifenverfertiger in Ruhla fünf¬
zehn bis sechzehn Stunden, und von der armen Filetstrickerin in den hohen
Taunusdörfern sagt Schnapper-Arndt, daß sie von sechs Uhr »ivrge»s bis
mindestens zehn Uhr abends an der Arbeit sitze, bald an dem kleinen Fenster,
bald bei der Petroleumlampe, unablässig mit dein Fadenschlingen beschäftigt.
Welche Nachteile diese übermäßige Arbeitszeit für das physische, geistige und
sittliche Leben der Familien mit sich führt, bedarf keiner Schilderung. Wie
für den Fabrikarbeiter wird mau auch für die Hansindnstnellen zehn Stunden
als längste Arbeitszeit ansehen müssen, wenn es auch allerdings bei dergleichen
Forderungen wesentlich ans die Art der Arbeit und die Körperbeschaffenheit des
Arbeiters ankommt.
Für die ganz kärglichen Lohnverhältnisse, die weit uuter dem stehen, was
der Fabrikarbeiter durchschnittlich verdient, bringt Stieda ein reichhaltiges und
zuverlässiges Material bei. Leider kommt häufig noch hinzu, daß zwischen
Arbeiter und Arbeitgeber sich eine unredliche Klasse von Faktoren, Werk¬
meistern n. s. w- einschiebt, sodaß das unmittelbare Interesse des Arbeitsherrn
an dem Wohl und Wehe des einzelnen Arbeiters völlig aufhört. Es klingt
in»in glaublich, wird aber durch auderlveite Erscheinungen unterstützt, daß, wie
Thu» mitteilt, in der Aachener Tnchindustrie bis ans den heutigen Tag die
Anwendung falschen Maßes eine Art ist, dein Arbeiter deu verdienten Lohn
z» verkürzen. In der koburgischen Korbwaareuindustrie wird der zu verarbeitende
Stoff zu einen: Preisaufschlag von fünf bis fünfzig Prozent vom Verleger dem
Arbeiter übergeben. Ein entsetzliches Elend offenbaren die über die Lohnver¬
hältnisse handelnden Abschnitte unsers Buches. Unwillkürlich denkt anch der
Nichtsozialisl bei solchen Zuständen an Lnssalles ehernes Lvhngesetz. In der
Hausindustrie scheint der Arbeitslohn thatsächlich ein ans den notwendigen
Lebensunterhalt, der gerade zur Lebeusfristuug und Fortpflanzung genügt,
herabgedrückt zu sein. Ja man muß es mit Stiedn unbegreiflich finden, wie
einzelne Arbeiterzweige bei ihren niedrigen Löhnen noch bestehen' können. Auch
das Trucksystem spielt in der Hausindustrie noch eine bedeutende Rolle. Dies
hängt allerdings mit der Praxis der Gerichte zusammen, insofern diese für die
Hausindustrie die Anwendung der ^ 115, 119, 146, Ziffer 1 der Neichs-
gewerbevrdnung häufig ablehnten, da sie in manchen Arten von Hausindustriellcn
nicht Lohnarbeiter, sondern selbständige Gewerbetreibende erkennen zu, müssen
glaubten. Seitdem aber das Reichsgericht, das gerade für die strafrechtliche
Praxis eine einflußreiche Macht geworden ist, im entgegengesetzte» Sinne ent¬
schieden hat, wird auch in der Hausindustrie der Unfug der Naturallöhnnng
bald aufhören.
Einen besondern Vorteil der Hausarbeit glaubte man bisher in ihrer regel¬
mäßigen Verbindung mit der Landwirtschaft zu sehen, und dieser Vorteil vor
der Fabrikarbeit ist auch nicht zu verkenne». Eine regelmäßige Bewegung in
der freie» Natur gehört zu den besten Mittel», de» Körper gesund und den
Geist auf deu richtige» Bahnen zu erhalten. Leider weist Stieda fast überall
ein Zurückgehen dieser Verbindung von Landwirtschaft und Hausindustrie nach,
kaum noch der fünfte Teil sämtlicher Hausiudustriellen betreibt zugleich auch
Landwirtschaft. Bei dem gegenseitigen Unterbieten im Lohn infolge der hoch¬
entwickelten Konkurrenz kann dies auch kein Wunder nehme», de»» unbestreitbar
ist Rvschers Ausspruch (III, S. 543): Wer abwechselnd webt und den Acker
bebaut, der wird schwerlich dieselbe Virtuosität erreichen, als wenn er sich einem
dieser Geschäfte allein widmete. Notgedrungen stellen daher die Hausarbeiter
die Landwirtschaft ein.
Günstiges läßt sich über de» sittlichen Zustand der Hausindustriellen
sagen, der größere Familienzusammenhang verfehlt seinen guten Einfluß
nicht. Die Kinder stehen länger unter der Aufsicht der Eltern, die
Mädchen insbesondre länger unter dein Schutze der Familie, i» der sie auch
ihre Arbeitszeit zubringe». Gerade die Verschiedenheit, vo» Arbeitsort und
Wohnung birgt für die Sittlichkeit der in de» Fabriken beschäftigte» Mädchen
die größten Gefahre».
Dennoch scheint es nach dem Gesagten zweifelhaft, ol> die Hausindustrie
für die sozialen Verhältnisse der Arbeiter als die günstigere Betriebsform er¬
scheint »ut eines besondern Schutzes würdig ist. Über die Reformen wird man
sich erst ein Urteil nach dem Erscheinen der Berichte des Vereins für Sozial¬
politik bilden können. Vorläufig kann man nur das eingehende Studium des
Buches von Professor Stieda muss wärmste empfehlen.
chopenhaner, der die Geschichte nicht eigentlich als Wissenschaft
gelten lassen will, rechnet ihr doch zum unschätzbaren Verdienst
an, daß sie den Nationen das Bewußtsein ihrer Vergangenheit
bilde und mitteile. Ans ihrem Munde erfahren sie erst, woher
sie kommen, und mit dieser Kenntnis ausgerüstet, können sie
besser prüfen und ahnen, wohin sie gehen. Der einzelne Mensch trägt seine
eigne Geschichte unmittelbar in seinem Gedächtnis, wie sehr er sie auch durch
Nachdenken bereichern, vertiefen und für seinen weitern Lebensgang nutzbarer
machen kann. In die Geschichte seines Volkes dagegen vermag er eben nur
von anßen her einzudringen. Aber jeder, der ein bewußter Teil des Ganzen
werden will, muß sie kennen und wird mich begehren sie zu keimen. Dem¬
selben Zwecke, dem Volke in seinen breitesten Schichten ein lebendigeres Be¬
wußtsein seines innerlichen und zeitlichen Zusammenhangs mitzuteilen, wollen
bei uns wie überall die Nativnalfeste dienen. Sie bezeichnen die Wiederkehr
eines Tages, der für sein Gesamtlebett besonders bedeutungsvoll geworden
ist. Der Inhalt dieser Bedeutung kann so mannichfach sein, als es große
beherrschende Lebensinteressen eines Volkes giebt. Noch heute lodern an
manchen Orten unsers Vaterlandes in der Nacht des 31. Oktobers die Freuden-
fetler auf zum weithin sichtbaren Zeichen, daß an diesem Tage einst der
entscheidende Anfang gemacht wurde, unwürdig gewordene hundertjährige Fesseln
einer entstellten Glaubensform zu zerbrechen. Neben dem religiösen ist das
wichtigste Interesse eines Volkes, zumal eines vorgeschrittenen, der Staat.
Wenn sich nach Gottes Ordnung die weite Menschheit in kleinere, selbst¬
ständige Einheiten, in Nationen, gliedern und wesentlich dadurch als Ganzes
fortschreiten soll, daß eben diese Glieder sich vervollkommnen, so ist der Staat
ivieder die unentbehrlichste Bedingung dieser nationale» Entwicklung. Er
schirmt sie mit seinem Schwerte nach außen und richtet mit seinen Gesetzen die
festen Dämme auf, die den Strom des sozialen Lebens mit seinen tausendfachen
Verzweigungen in vorgeschriebenen und darum gefahrlosen Bette dahinleiteu
soll, und hat nun in unsern Tagen noch die erhabene Aufgabe in Angriff
genommen, dnrch heilsame Einrichtungen des Zwanges das praktische Christen¬
tum in großem Maße zu verwirklichen. Nur dank der schützenden und för¬
dernden Thätigkeit des Staates können die zahllosen Einzelwesen ungefährdet
der Befriedigung ihrer hundertfach sich durchkreuzenden niedern Bedürfnisse
nachgehen, und nur im Wirken für das Ganze wiederum können sie zugleich
die edlern Ansprüche ihrer geistigen Natur erfüllen. Nun wird das gesunde
Leben eines Staates hauptsächlich von zwei Gefahren bedroht: die eine kommt
ihm von außen und erwächst aus dem Neid und Interessengegensatz der
Nachbarstaaten, die andre liegt in der Kurzsichtigkeit und dein Eigennutz der
Staatsbürger selbst und ihrer kleinern Gemeinschaften, die sich dem Interesse
des Ganzen entgegensetzen. Jener ersten Gefahr sollte unser engeres Vaterland
im Anfange des Jahrhunderts völlig erliegen, aber nur um durch eine sitt¬
liche und politische Wiedergeburt ohne gleichen zu neuem und kräftigerem Leben
zu erstehen. Diese glückliche Lösung der damals gestellten Daseinsfrage dauernd
im Gedächtnis der Mit- und Nachwelt zu erhalten, dazu war die jährliche
Gedenkfeier der Leipziger Schlacht bestimmt. Noch schwerer hat die andre
Gefahr, die selbstmörderische Neigung zu innerer Zerklüftung, auf unserm Volke
gelastet, ja man kann fügen^ sie hat es auf seinem ganzen zweitausendjährigen
Wege unablässig begleitet, bis zu dem glorreichen Tage, den einigermaßen zu
würdigen die vorliegenden Blätter bestimmt sind. Denn das ist doch der eigentliche
Sinn desselben, daß die deutschen Stämme nach langer und bitter Entzweiung
wieder ein einig Volk von Brüdern wurden, um sich fürderhin in keiner Not und
Gefahr zu trennen. Mit glücklichem Takt hat der geschichtliche Sinn des Volkes
gerade diesen Tag herausgefunden zur Feier gerade dieses Ergebnisses. Nicht
die papiernen Staatsverträge im Herbste 1870, auch nicht die Kaiserprokla-
mation im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles haben das deutsche Reich
in Wahrheit aufgerichtet, eS war innerlich fertig, als die deutschen Heerscharen
aus alleu Gauen des weiten Vaterlandes, aus Nord und Süd in Schlacht
und Sieg zusammenstanden gegen den räuberischen Feind, der gerade ans ihre
Entzweiung gehofft und seine weltverderblichen Pläne gebaut hatte. Was ver¬
bindet denn Menschen und Völker? Ein gemeinsames Handeln für ein gemein¬
sames edles Ziel, so, daß je hingebender dieses Handeln ist, um so enger auch
der Zusammenschluß wird. Welches Handeln aber wäre hingebender als das,
das auch die Schrecken des Todes verachtet! Die deutschen Krieger, die opfer¬
freudig ihr Leben für das Ganze einsetzten, mußten eben dadurch — das können
Nur alle nachempfinden — durchdrungen werden von dem Gefühl einer
dauernden und innigen Gemeinschaft, die in der staatsrechtlichen Schöpfung
des Reiches nur noch zu ihrem äußerlichen Ausdruck und Abschluß gebracht
zu werden brauchte und ahne sonderliche Schwierigkeiten gebracht wurde.
Allem das rechte Verständnis dieses Tages und des Grundes, warum er
als Nationalfest fort und fort gefeiert werden soll, gewinnen wir noch nicht
durch diese einfache und leichte Betrachtung. Giebt er einer großen Entwick¬
lung einen gewissen Abschluß, so müssen wir eben diese selbst, wir müssen seine
Vorgeschichte kennen. Die genauere Auskunft hole man sich aus einem in die
Tiefe dringendem Studium der Geschichte, für das patriotische Bediirfnis genügt
es, die Hauptstatioueu und Richtungen des weiten Weges zu überblicken. Auf
einige sollen die nachfolgenden Ausführungen hindeuten.
Wollen wir die Ausbildung unsers Einheitsstaates hinsichtlich ihrer
Schwierigkeit würdigen, so unterstützt uns darin ein Vergleich mit den ent¬
sprechenden Bildungen andrer Kulturvölker. Und da sehen wir denu, daß es
nur noch zwei große« Völkern der Geschichte ebenso schwer geworden ist, sich
einheitlich zusammenzuschließen, den Griechen und später den Italienern. Die
alten Römer hatten schon um die Mitte des dritte» Jahrhrhnnderts v. Chr.
alle italischen Völkerschaften um sich gesammelt, die Franzosen und Engländer,
die etwa gleichzeitig mit uns die Arbeit ihres politischen Znfannneuschlusfes
begannen, haben schon am Ende des Mittelalters bleibende und durchschlagende
Erfolge in dieser Richtung zu verzeichnen. Wie kommt es, daß wir so weit
dahinten blieben? Die Frage drängt sich umsomehr auf, als wir schon eimual
einen immerhin erfolgreichen Anlauf zu staatlicher Einheit genommen hatten.
Es gehört eben zu unsrer Eigenart, daß wir als Volk gleichsam ein zwiefaches
Leben haben, daß wir, wie Treitschke sagt, so alt sind und so jung zugleich. Kein
Volk der Geschichte hat eine solche doppelte Höhe seines Lebensweges aufzuweisen.
England und Frankreich ebenso wie Rußland zeigen vergleichsweise im großen
und ganzen eine regelmäßig aufsteigende Entwicklnngsbahn. Deutschland dagegen
hat schon geblüht in den Tagen der Ottonen und Staufer, um dann - aus
dem Gesichtspunkt seiner Einheit betrachtet — plötzlich und für ein halbes
Jahrtausend einem schweren Siechtum zu verfallen, das in den Zeiten des
dreißigjährigen Krieges beinahe in politische Vernichtung anstieß Nun ist ihm
»ach langsamer Erholung in unsern Tagen eine Auferstehung, eine neue Blüte
gegönnt. Wie erklärt sich dieser seltsam gewundne, wechselvolle Gaug?
Als unsre Vorfahren den deutschen Boden betraten, zerfielen sie in eine
große Anzahl kleinerer und größerer Stämme, die in Sprache, Sinn und Sitte
aufs nächste verwandt, doch jedes nachhaltige» politischen Zusammenhanges
entbehrten. Gleichwohl kosten sie die großartige Aufgabe, vor die sie die Vor¬
sehung stellte, nämlich die alte Welt in ihren staatlichen Formen zu zertrümmern
und in ihrem Kulturleben gänzlich umzugestalten, eine Umwälzn »g, der die
Weltgeschichte keine gleiche an räumlicher Ausdehnung und innerer Bedeutung
zur Seite zu stellen hat. So morsch und altersschwach das Nömertum war,
so reich waren sie an jugendlicher straft. Ein großer Monarch stand dann
unter ihnen auf und suchte mit erstaunlichem Erfolg die christlichen Völker des
Abendlandes unter sein Szepter zu sammeln. Wohl war das Weltreich der
Römer unter den wuchtigen Schlägen der Germanen zusammengebrochen, aber
der Gedanke des Weltreiches selbst wirkte verführerisch nach in dem Gemüte
der Sieger und erfaßte mit aller Energie den herrschgewaltigen Mann, der
sich am ersten Tage des neunten Jahrhunderts in der Peterskirche mit der
Kaiserkrone schmückte. Naturgemäß zersetzte sich bald nach seinem Hingang seine
kosmopolitische Schöpfung entsprechend der Nationalität in zwei neue Staaten,
Frankreich und Deutschland, aber dem letztern verblieb allen geographischen
Bedingungen zum Trotz nach kurzer Trennung das von Karl eingefügte ur¬
sprünglich germanische Nordstück Italiens, das später erweitert dein Hauptkörper
bald seine besten Lebenssäfte entziehen sollte.
Inzwischen war über das westliche Europa eine neue Weltreligion empor¬
gestiegen. In Rom, der Metropole der alten Welt, saß nun der Stellvertreter
Gottes ans Erden mit dein immer kühner und erfolgreicher betonten Anspruch,
das Haupt der Christenheit nicht bloß in geistlichen, sondern auch in weltlichen
Dingen zu sein. Beides floß in einander, und in diesen: Mangel eiuer klaren
Scheidung weltlicher und geistlicher Befugnis lag die wesentliche Ursache des
unheilvollen Kampfes, der zwischen ihren Trägern entbrennen mußte, wenn sie
sich auf demselben Herrschaftsgebiete mit widerstrebenden Ansprüchen begegneten.
Wenn aber jede Staatsform schließlich abhängig ist von dem Mehrheitswillen
der Bürger, so mußte dieser Dualismus zwischen dem theatralischen Papsttum
und dem halbtheokratischen Kaisertum mit der Niederlage des letztern endigen.
Sie war gegeben mit der allgemeinen naiven Gläubigkeit der mittelalterlichen
Menschen, die die Wonnen des Himmels ebenso leidenschaftlich erhofften wie
sie vor den Schrecken der Holle erbebten, und anderseits mit den eigentümlich
katholischen Vorstellungen von den Mitteln, welche die Aneignung dieses Seelen¬
heiles betreffen. Der Weg dahin sührt unausweichlich und ausschließlich durch
die Kirche: nnr an der Hand der Priester kann ihn der Suchende finden.
Deren von Gott bestelltes Oberhaupt aber ist der Papst. Von dem Grade
der Hingebung an diese Glaubenssätze giebt den besten Begriff die ungeheure
Thatsache der Kreuzzüge. Man erwäge, was es sagen wollte, daß die Kirche
imstande war, alle christlichen Völker des Abendlandes unter die Waffen zu rufen
und immer wieder in den fernen und weiten Abgrund undurchführbarer Er¬
oberungen hineinzutreiben, wenigstens anfänglich nur kirchlichen Zwecken zuliebe.
Vieles kam hinzu, um die Stellung des Kaisertums weiter zu schwächen. So
war es ein begreiflicher, aber verhängnisvoller Grundsatz, deu wie überhaupt
die Gesamtrichtung seiner Politik Karl der Große seinen Nachfolgern an der
Kaiserkrone vererbte, daß diese nur verliehen werden könne in Rom. Schon
aus diesem Grunde konnte Italien von deu deutschen Kmiigen nicht aufgegeben
werden, so lange sie zugleich Träger der abenteuerliche» „imperialistischen Idee"
blieben. Dagegen lehnte sich aber mehr und mehr das erstarkende Nntional-
gefühl der romanisirten Bevölkerung ans, deren Interesse auch hierin mit dem
päpstlichen zusammentraf. Und auf welche Machtmittel Sachen sich dem gegen¬
über unsre Kaiser und Könige angewiesen! Sie verfügten weder über zuverlässige
Heerführer noch über zuverlässige Beamte. Der Staatsgedanke war und blieb
im Mittelalter nnr sehr oberflächlich. So ist es ein weiterer bezeichnender Grund-
zug seiner politischen Ordnung, daß alle wichtigern Diener des Staates für
ihre Thätigkeit in Krieg und Frieden nicht nur mit Landbesitz, sondern zugleich
mit Hoheitsrechten gelohnt wurde», eine Einrichtung, die der urdeutschen Neigung
zur Eigenwilligkeit und llnbvtmäßigkeit nnr zu sehr eutgegenkaiu. Um die Sache
noch schlimmer zu macheu, behaupteten die fürstlichen Vasallen das gemein¬
schädliche Recht, deu König zu wählen und damit ihn von vornherein in seiner
freien Bewegung zu behindern. Namentlich im dreizehnten Jahrhundert traten
zu diesen besondern Mächten geistlicher und weltlicher Art noch neue hinzu in
den Städten, die in plötzlicher Fülle die deutschen Grue bedeckten. So kam
eine kräftige Einheit des politischen Lebens niemals ans und konnte es auch
schon aus dein Grunde nicht, weil keine genügende Gemeinschaft wirtschaftlicher
Interessen dazu nötigte, wie sich das unter anderm in dein Mangel jedweder
Reichssteuer überzeugend ausdrückt. Auch nach dieser Seite bildeten die einzelnen
Teilgebiete, die Fürstentümer und Stifter, die Ritterschaften und Städte im
großen und ganzen abgeschlossene Gruppen für sich. Und wenn der König
früher an den von ihn: eingesetzten zahlreichen geistlichen Würdenträgern einen
leidlich starken und sichern Rückhalt gegen die weltlichen gehabt hatte, die
mittels der mehr und mehr beanspruchten und geduldeten Erblichkeit ihrer Lehen
ihrem ohnehin lockern Unterthanenverhültnis fast gänzlich entschlüpften, so ge¬
lang es schon Gregor VII. und seinen nächsten Nachfolgern, durch Verkürzung
des königlichen Jnvestiturrechts auch diese Stütze dem Gegner zu eignem
Gebrauche zu entwinde«. Bei diesem Sachverhalt muß es uns doppelt Wunder
nehmen, daß es großen Herrschern und Herrschergeschlechtern, so den Ottonen,
den Saliern und Staufern, Jahrhunderte hindurch gelungen ist, den Mangel
an nationalen Bindemitteln dnrch den Schwung und die Macht ihrer Persön¬
lichkeiten einigermaßen zu ersetzen und die Nation mit Hingebung an gemein¬
same große Aufgaben und so zugleich mit dem Bewußtsein zu erfüllen, daß
ihr die erste Stelle in der Welt gehöre und gebühre. Dieses Hochgefühl spricht
uns noch heute unmittelbar an in den erhaltenen Kunstschöpfungen jener Zeiten,
in den hehren Erzeugnissen der Baukunst nicht minder als in den edeln Her-
vorbringungen der Poesie.
Aber dem romantischen Rausch folgte eine ebenso plötzliche wie gründliche
Ernüchterung. Italien ward aufgegeben, und insofern gewann die ausgeprägt
internationale Eigenart des Kaisertums eine etwas nationalere Färbung; aber
dafür verlor es daheim fast alle Kraft nud Haltung und erwies sich immer
unfähiger, der heillose» moralischen Verwilderung des Adels und der Geistlich¬
keit sowie der zunehmenden körperschaftlichen und kleinstaatlichen Zersetzung des
Reiches entgegenzuwirken. Die Sisvphusanstrengungen des Kaisers nud der
Stände am Eude des Mittelalters, wieder zu größerer Einheit durchzudringen,
hatten in der Einsetzung des Ncichskmnmergerichts und andern wesentlich stän¬
dischen Einrichtungen uur durstige Ergebnisse und kamen vollends nicht uns
vor den neuen großen Hindernissen, die Luther mit seiner Reformation, deren
Notwendigkeit und Heilsamkeit ans höherm Standpunkt gesehen keinem Zweifel
unterliegt, der einheitsstaatlichen Entwicklung unsers Volkes in den Weg legte.
Freilich uicht so sehr Luther selbst, als viel mehr sei» kaiserlicher Gegenspieler
Karl V. Man hat es oft gesagt und sehr wohl glaubhaft gemacht, daß ein
deutscher Herrscher, der der Reformation aufrichtig beigetreten wäre, in dieser
großen Angelegenheit die ganze Ratio» hätte mitreißen nud daraus ähnlich
den Nachbarstaaten zugleich neue und wesentliche Mittel ihrer politischen
Einigung hätte schöpfen können. Statt dessen brach über sie der hundertjährige
Jammer der wildesten Religions- und Bürgerkriege herein, der ihre Kraft auf
allen Lebensgebieteu, in Sprache und Sitte, in wirtschaftlicher und geistiger
Thätigkeit fast erschöpfte. Noch schlimmer war ein andrer Verlust. An allen
Gliedern zerschlagen, dem Hohn und der Mißhandlung des lauernden Aus¬
landes preisgegeben, mußte sie notwendig auch an jener Selbstachtung die
schwerste Einbuße leiden, die immer ein sicheres Kennzeichen gesunder und
blühender Nationen gewesen ist. Sie begnügte sich nicht, von spärlichen Aus¬
nahmefällen abgesehen, die rohen Übergriffe besonders unsrer westlichen Nach¬
barn mit ohnmächtiger Geduld hinzunehmen, ihre kläglichste Zeit war gekommen,
wo sie sich zu ehren meinte, wenn sie mit knechtischer Bewunderung in Politik
und Litteratur wie im täglichen Leben die Sitten und mehr noch die Unsitten
ihrer Dränger nachahmte. Aber ein Rest von gesunder Kraft und gesundem
Selbstgefühl war ihr geblieben. Mußte sie auch ihre Geschichte fast von
vorn anfangen, so wuchsen ihr im weitern Kampf doch neue Schwingen. Es
ist bekannt, welchen Beitrag der brandenburgische Staat zur Rettung des Ganzen
geliefert hat. Wenn der Begriff des Reiches mit 5 dem Schluß des dreißig¬
jährigen Krieges so gut wie allen Inhalt verloren hatte, so war wenigstens
in den Kleinstaaten allmählich verwirklicht worden, was jenem fehlte, ein
straffes monarchisches Regiment, das gestützt-auf stehende nud zuverlässige
Truppen die ständischen Ansprüche mit durchgreifender Rücksichtslosigkeit dem
dynastischen oder in bessern Beispielen dem allgemeinen Interesse opferte. Allen
voran der junge Preußenstaat, den der große Kurfürst zur deutschen nud der
große König zur europäischen Großmacht erhob. Wir können- nun sagen: es
entbrennt innerhalb des Reiches ein ähnlicher Kampf, wie der, der es im
Mittelalter entzweite; hieß es damals: Hie Wels, hie Waldung, hie Papst,
hie Kaiser, so galt es jetzt, den Dualismus zwischen dem aufstrebenden Preußen¬
staat, dem immer bewußten? Vorkämpfer der nationalen Zukunft, und dem ab¬
sterbenden kosmopolitischen Kaisertum zu lösen. In diese Entwicklung schob
sich daS furchtbare Zwischenspiel der napoleonischen Kriege, die unser Vater¬
land noch einmal wie zur Zeit des dreißigjährigen Krieges an den Rand des
Unterganges stellten. Aber so zahllos und schmerzlich die Wunden waren, die
der gewaltige Korse ihm beibrachte, in der Hand der gnädigen Vorsehung ward
er im letzten Grunde ihm nur ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse
will und stets das Gute schafft. Hatten schon unsre Denker und Dichter im
achtzehnte?? Jahrhundert durch unvergleichliche Großthaten des Geistes der
schwergeprüften Nation neues Selbstvertrauen? und Gemeingefühl eingeflößt, so
bedürfte?? doch beide Eigenschaften noch durchaus der Verstärkung und Er¬
gänzung auf politischem Gebiete; und dazu hat Napoleon unfreiwillig in außer¬
ordentlichen? Maße beigetragen, sowohl unmittelbar d??res die Vereinfachung
der farbenbunten deutsche?? Läuderkarte als besonders mittelbar durch deu heiligen
Zorn und Schmerz, den sein unerträgliches Tyraunenjoch ii? aller Herzen ent¬
flammte und der da???? furchtbar ausbrechend sich in gemeinsamen Siegesjubel
verkehrte. Wein im dreißigjährigen Kriege das Nationalgefühl unsers Volkes
fast erlosch, so brach es jetzt in dein weitaus größern Teile desselben mit
stürmisch gesteigerter Kraft hervor, gepflegt durch die Weisheit großer Staats¬
männer nud durch den hinreißenden Patriotismus seiner geistigen Führer.
Kenuzeichuet dieser Unterschied den bedeutenden Fortschritt, den es in Ansehung
seiner moralischen, wirtschaftlichen nud auch politischen Gemeinschaft seit andert¬
halb Jahrhunderten bereits gemacht hatte, so lernte der Einzelne doch eigentlich
jetzt erst sein Vaterland recht kennen und lieben, wo er Gefahr lief, es zu ver¬
lieren. Wenn er jetzt darnach strebte, sich fortzubilden und zu veredeln,
so that er es nicht bloß um seiner selbst willen, sondern um zugleich als
Bürger dein Staate besser zu dienen. Der Sturz der Fremdherrschaft und
eine tiefgehende sittliche Selbsterneuerung wäre?? die herrlichen Früchte dieser
sturmvollen Jahre.
Um so unbefriedigender waren ihre politischen Ergebnisse. Hatte das
alte heilige römische Reich deutscher Nation unter den Gewaltstreichen Napoleons
sei?? unseliges, aber wohlverdientes Ende gefunden, so ward jetzt an die leer¬
gewordene Stelle eine Verfassung gesetzt, die nicht weniger schlecht war als
die frühere und besonders dein Zwiespalt zwischen den beiden Großstaaten
Österreich und Preußen von neuem Thür und Thor öffnete. Dazu kam vieler¬
orts?? Unzufriedenheit der Unterthanen über die vorenthaltenen freier?? Ver¬
fassungsformen, die von den meisten Regierungen wieder mit verschärften ab¬
solutistischen Maßregeln beantwortet wurden. Etwas versöhnen mit diesen
unerquicklichen Jahrzehnten die staunenswerten Fortschritte unsers Wissenschaft-
liehen und wirtschaftlichen Lebens. Sonst überall nur Verstimmung und Ver¬
wirrung, dazu neue straflose Übergriffe des Auslandes. Die Schuld tragen in
höherem Grade die Regierenden als die Regierten. Fürst Metternich spielt hier
seine unsaubere Rolle. Aber anderseits regt es sich auch überall von neuen Kräften
und Trieben: es ist eine bange, ungeduldige Zeit des Suchens und der Vor¬
bereitung, aber eine Zeit, die sich auch rubin- und segensreich erfüllen sollte.
Zunächst ward auch in Preußen der bei ihrer ausreichenden Reife berechtigte
Wunsch der Bevölkerung nach Mitarbeit an der Gestaltung ihrer Geschicke in maß«
voller, aber um so ersprießlicherer Weise verwirklicht. Und dann endlich wurde nach
langem Umhertasten der Regierungen und des Volkes unter der zweckbewnßten
Führung des greisen Hohenzollernfürsten und seines großen Beraters auch die
eigentliche Schicksalsfrage in bejahendem Sinne gelöst, die seit sechs Jahrhunderten
unsre Geschichte bewegt hatte: auf deu Schlachtfeldern von Königgrätz und Sedan
erstand das neue Reich, ein Reich, das nach allen Seiten unsern gegenwärtigen
Bedürfnissen genug thut, ein Reich, das vor allem auf starken nationalen Grund¬
lagen beruhend weder belastet ist mit dem widerhaarigen Italien noch dein
vielsprachigen Österreich noch dem Übergewicht klerikaler Nebenbuhlerschaft.
Was alles muß nicht heute der Staat im Unterschied von den einfachern
Verhältnissen und Ansprüchen des Mittelalters seinen Bürgern leisten! Er
soll sie mit der höchsten Wahrscheinlichkeit des Erfolges schützen gegen innere
und äußere Feinde: es geschieht bei uns dnrch das schlagfertigste und zuver¬
lässigste Heer, das die Geschichte kennt und das im Gegensatz zu den Lehns¬
milizen des alten Reiches nichts andres ist als das Volk selbst in Waffen,
einheitlich ^geführt von einer kraftvollen Monarchie. Er soll einheitliche zweck¬
mäßige und zugleich volkstümliche Rechtsformen schaffen, die uns eingreifende
Reformen teils gewährt haben teils noch gewähren. Er soll dem unendlich
vervielfachten praktischen Schaffen der Nation ein einheitliches und fruchtbares
Gebiet eröffnen, was mit Erfolg durch eine bis auf den Zollverein zurück¬
reichende umfassende wirtschaftliche Gesetzgebung geschehen ist. Und wenn es
als rühmlichste Kraftprobe des jungen Reiches gelten darf, daß hier zum ersten¬
male den wirtschaftlich notleidenden Klaffen in entscheidender Weise von Staats¬
wegen durch die Mittel der besser gestellten nufgehvlfeu wird, so hat es sich
jenseits der Weltmeere in eignen Kolonien völlig neue Thätigkeitsfelder er¬
schlossen, sich und den Eingebornen zu künftigem Heile. Genug, wie viel auch
jetzt noch zu thun und zu wünschen bleiben mag — wenn wir unsern Blick
nicht durch das alte deutsche Erbübel der Parteileideuschaft trüben lassen und
auf das Ganze gerichtet halten, so dürfen und müssen wir, das Einst und Jetzt
vergleichend, mit patriotischer Freude bekennen: es ist zum zweitenmale Frühling
geworden in deutschen Landen. Daß er dauere und sich noch voller entfalte,
dazu gehört vieles, vor allem mich die nie stillstehende sittliche Arbeit eines
jeden an sich selbst. Aber im Zusammenhang dieser Darstellung drängt sich
ein andres Erfordernis hervor, das ist der Fortbestand unsers Kaisertums in
seiner jetzigen Machtfülle. Eine erbliche und hvchberechtigte Zentralgewalt,
mit der sich gleichwohl unsre geschichtlich gewordenen bundesstaatlichen wie
parlamentarischen Verfassungsformen in ihrer gegenwärtigen politischen Werk¬
form verträget?, das ist das Thema, das unsre leidensreiche Geschichte am
eindringlichsten predigt und dessen Wahrheit wir durch die Folgen des Gegen¬
teils nur zu deutlich bestätigt finden, wenn wir zu unsern Nachbarn jenseits
des Rheines hinüberblicken. Alles Große, was wir im Staatsleben erreicht
haben, verdanken wir denn auch in erster Linie der Monarchie, und alles Gute,
was wir noch hoffen, können wir nur mit ihrer Hilfe erreichen, so den Schutz
unsrer von zwei Seiten bedrohten Grenzen?, Frieden und Fortschritt im Innern.
Wohl uus, daß die Monarchie der Hohenzollern so festgewurzelt ist in der
Liebe des Vaterlandes und zugleich getragen wird von den Sympathien der
meisten Völker. Wenn die Rundfahrt unsers jungen Kaisers zu zahlreichen
europäischen Fürstenhöfen ein erhebendes Anzeichen der neuen deutschen Macht
war, so bekundete sie anderseits für jeden, der da sehen wollte, das hehre Ziel
der deutschen Politik, die Sicherung des Weltfriedens und der Weltkultur. In
der That bezeigen uns denn auch, wie wir dnrch unsre Siege, unser Maßhalten
und friedlich tüchtiges Schaffen ein volles, leider vielfach noch nicht geübtes
Recht zu nationaler Selbstachtung wiedergewonnen haben, die Völker und
Staaten des Erdballes eine aufrichtige Achtung — oder Furcht, die letztere
jedoch nur die „revanche"- oder eroberungslnstigcn Friedensstörer.
Ich kann diese rasche Betrachtung nicht treffender und schöner schließen
als mit dem an König Wilhelm gerichteten Festgruß Emanuel Geibels, jenes
edeln Sängers, der so sehnsüchtig wie nur irgend einer der zeitgenössischen
Dichter den deutscheu Einheitstramn mittrüumte und sie alle durch die prophe¬
tische Sicherheit seines politischen Urteils übertraf:
Im engen Bett schlich unser Leben
Versiegend wie der Bach im Sand,
Da hast dn uns, was not, gegeben:
Den Glauben an ein Vaterland.
Das schöne Recht, uns selbst zu achten.
Das uns des Auslands Hohn verschlang,
Hast du im Donner deiner Schlachten
Uns heimgekauft, o habe Dank!Nun weht von Türmen, flaggt von Masten
Das deutsche Zeichen nllgeehrt;
Von ihm geschirmt nun bringt die Lasten
Der Schiffer froh zum Heimatsherd.
Nun mag am harmlos riistgen Werke
Der Kunstfleiß schaffen unverzagt,
Denn Friedensbürgschaft ist die Stinte,
Daran kein Feind zu rühren wagt!
eit einiger Zeit läßt M) für Karl Philipp Moritz, den man
früher mir ans Goethes Leben oder allenfalls noch als Ver¬
fasser der „Götterlehre der Griechen und Römer" kannte, eine
erhöhte Teilnahme wahrnehmen. Es ist schwer zu sagen, auf
welchem Gebiete dieser vielseitige Schriftsteller sein Hauptverdienst
hat, Seine Pläne, eine neue Theorie der schönen Künste und Wissenschaften,
ein großes psychologisches Werk, eine mustergiltige Zeitschrift zu schaffen, find
alle'bedeutsam, und besonders zahlreich sind seine grammatischen Arbeiten,
sodaß Klischnig sagt: „Am meisten verdankt ihm die Ausbildung unsrer Mutter¬
sprache."'-) Wenn um im folgenden nichts von alledem hervorgehoben, sondern
Moritz als Romanschriftsteller gewürdigt werden soll, so braucht man trotzdem
nicht zu besorgen, daß damit etwas Nebensächliches und Unbedeutendes heraus¬
gegriffen werde. Vielmehr haben wir es hier mit denjenigen Werken Moritzens
zu thun, die am eigenartigsten und anziehendsten sind.
Gleich der erste und wichtigste seiner Romane, sein „Anton Reiser," ist
freilich keine eigentliche Dichtung, sondern eine versteckte Selbstbiographie, ja
sogar eine sehr wahrheitsgetreue und geschichtlich zuverlässige Selbstbiographie,
die sich bloß Roman nennt, ohne in der Erzählung der einzelnen Ereignisse
irgendwie von der Wirklichkeit abzuweichen. Aber wie z. B. Goethes „Dich¬
tung und Wahrheit" zeigt, sind die Grenzen zwischen freiem Schaffen der
Phantasie und geschichtlichem Berichterstatter nicht immer fest, und überhaupt
gehört „Anton Reiser" zu denjenigen Schriften, die mehr als einer Rubrik
zufallen können. Als Kunstwerk ist dieser „psychologische Roman" schon wegen
seiner klassischen Darstellung zu betrachten. Sein Schöpfer zeigt sich hier als
sprachgewaltigen Meister im Erzählen. Und ist nicht Moritzens Leben an und
für sich romanhaft? Ist nicht der Held dieses Memoiren Werkes ein förmlicher
Rvmanheld, als solcher noch in der Charakteristik, die Klischnig von dem
Dahingeschiednen giebt, erkennbar? Daß Moritz aber soviel Selbstbiographisches
bringt — und zwar nicht bloß im „Anton Reiser" — kann nur willkommen
geheißen werden. Denn Moritz ist eben als Mensch, als Charakter am
wichtigsten. Selbst wenn alle seine Studien veraltet wären, würde seine feurige
und phantasievolle Art, zu leben und zu streben, die Blicke auf sich ziehen.
Verwandt mit dem „Anton Reiser" sind die Hartluopfiaden. „Andreas
Hartknopf, eine Allegorie" (Berlin, 1786) zeichnet einen ähnlichen Philvsophirer,
wie es Moritz selbst war. Auf mäßigem Raum schildert das Buch die Rück¬
kehr des Helden nach seinein Geburtsorte Gellenhausen, wo er seinen menschen¬
freundlichen Vetter Knapp, einen Gastwirt, und seinen ehemaligen Lehrer, einen
emeritirten Rektor, antrifft. Es wendet sich dabei gegen das Treiben einiger
„Weltresvrmatoren und Kosmopoliten," die das „philanthropinische Unwesen"
nach Gellenhausen verpflanzen, und verliert sich schließlich in Jugenderinne-
rungen und Betrachtungen über Resignation als höchste Lebensweisheit.
„Andreas Hartknvpfs Predigerjahre" (Berlin, 1790) sind als Fortsetzung jener
„Allegorie" anzusehen. Hier werden die Erlebnisse Hnrtknvpfs in Ribbeckenau,
seine Wirksamkeit als Prediger, sein Umgang mit Freund und Feind, seine
Vermählung und sein häuslicher Kummer, der zur Scheidung und zum Wegzug
führt, erzählt.
Die „Fragmente aus dein Tagebuche eines Geistersehers" (Berlin, 1787)
machen den Eindruck des Planlosen nud sind auch — dnrch Moritzens „Flucht"
nach Italien — zu zeitig abgebrochen worden, als daß man viel davon sagen
könnte. „Bloß ein Vehikel, um gewisse Ideen leichter nnter die Leute zu
bringen," nennt .Aischnig das Schriftchen.
Eine besondre Stellung nimmt die „Neue Ceeilin" (Berlin, 1794) ein.
Es ist der Anfang einer in Rom spielenden Erzählung von dem tragischen
Liebesverhältnis zwischen einem adlichen Jüngling und einem bürgerlichen
Mädchen. Des Jünglings stolzer Vater widersetzt sich: Mario und Cecilia
werden getrennt. Er kommt ins Staatsgefängnis; sie wirft sich vergebens
dem Papst zu Füßen, um die Rettung des Geliebten zu erlangen. Sie giebt
sich schließlich selbst den Tod, vergiftet sich, und Marios Laufbahn ist wieder
frei. Dies alles ist aber nur Entwurf. Was Moritz fertig gebracht hat, ehe
ihn der Tod abrief, find zehn Briefe — in diese Form goß er nämlich sein
letztes Werk —, größtenteils Briefe der Liebenden ein ihre Vertrauten, und erst
im sechsten Brief beginnt die eigentliche Handlung, die übrigens breit angelegt
erscheint. In diesen „letzten Blättern" des Vielgewanderten herrscht jene klare,
schöne Einfachheit, wie sie Goethe um dieselbe Zeit Pflegte und lehrte.
Schließlich hat Moritz auch einige Romane aus dem Englischen übersetzt
und herausgegeben, von denen „Anna Se. Joch" (Berlin, 1792) und „Vaneenza
oder die Gefahren der Leichtgläubigkeit" (Berlin, 1793) kurz erwähnt sein
mögen. Es sind keine Werke von Bedeutung. Die Szenen haben wenig Be¬
sondres, nud der rhetorische Stil, der dabei herrscht, wird breitspurig. Die
Verfasserin der „Vaneenza" schwelgt besonders in poetischen Bilder» uno Gleich¬
nissen. Manches, wie die Schilderung des patriarchalischen Lebens ans der
einsamen Burg, erinnert an Rousseau. In der Vorrede zum erstgenannte»
Werke stehen die bezeichnenden Worte, in unserm Zeitalter „herrsche mehr
Schwäche als Laster, mehr Feinheit als wahre Tugend." Auch folgenden
Satz — einen Ausspruch der Heldin desselben Buches — wird mau bemerkens¬
wert finden: „Die Liebe kann so gut besiegt werden als irgend eine andre
Leidenschaft; und kein Irrtum hat mehr Unglück angestiftet als der Wahn,
daß sie unwiderstehlich sei."
Suchen wir die Bedeutung der Moritzschen Erzählungen ins rechte Licht
zu setzen, so müssen wir zunächst gestehen, daß die formelle Seite zu wünschen
übrig läßt. Schon daß alle Erzählungen fragmentarisch sind, muß ihrer
Wirkung Abbruch thun. Aber die Komposition überhaupt ist vernachlässigt,
und namentlich „Hartknopf" macht nach dieser Hinsicht einen nnkünstlerischen
Eindruck. Alles erscheint hier rasch hingeworfen. Gegen Ende hin wird die
lose Erzählung immer dürftiger und bewegt sich in'bloßen Andeutungen, sodaß
man statt wirklicher Schilderung nur eine Skizze des Gegenstandes vor sich
zu haben meint. Die Kapitelüberschriften sind in den „Predigerjahren" das
eigentlich Leitende. Auf sie wird Bezug genommen, als gälte es Bilder zu
erläutern. Vollends auffallend sind Abschnitte wie die „Sinfonie," die dem
Prediger während des Gehens ertönt.
Kein Wunder, daß die Kritiken, die „Hartknopf" gefunden hat, nicht
immer warm sind. Klischnig z. B. berichtet, daß dies „fast das einzige von
Reihers Werken sei, das er anfing, ohne einen festen Plan dazu zu haben,"
erwähnt dann den satirischen Nebenzweck der „Allegorie" und meint: vöwrü.
kund, on'im vraLtörsÄMö nilril. Ja er sügt hinzu: „Ich muß uoch auführen,
daß ungefähr in der Mitte des Buches bei Reisern der Gedanke entstand, dar¬
auf hinzuarbeiten, daß er viel zu sagen scheinen möchte, wo er im Grunde
nichts sagte; und diesen Zweck hat er erreicht, wie mehrere Gedichte nu den
Versasser des Andreas Hartknopf beweisen." Wenn dies richtig ist, so erklärt
es sich nur daraus, daß Moritz das wahre Interesse an seiner Schöpfung
verloren battre. Die Mannichfaltigkeit und der häufige Wechsel seiner Nei¬
gungen sind ja bekannt.
Und doch ist dieser „Hartkuopf" — dem nicht einmal der Verfassername mit
auf den Weg gegeben wurde — ein bedeutsames Denkmal unsrer Litteratur.
Ihn zieren dieselben Vorzüge, die Hettner am „Anton Reiser" rühmt: herz¬
liche, liebevolle Schilderung deutschen Kleinlebens und vor allem Tiefe und
Reichtum der psychologischen Beobachtung. Reiser und Hartkuopf gehören
hier durchaus zusammen. Nur daß jener uicht als Mann, sondern als Knabe
und Jüngling erscheint und sonnt die Darlegung seiner innern Erlebnisse von
vornherein einen besondern pädagogischen Wert erhält. «
In der Art, wie Moritz Jugendeindrücke beschreibt und analhsirt, wird er
stets anziehen. Kein andrer Schriftsteller dürfte dieses Gebiet mit größerer
Liebe betreten, keiner es mit feineren Verständnis behandelt haben. Wie treffend
wird die „Süßigkeit des Unrechtleidens," die Seelenlähmung bei entehrenden
Anschuldigungen, der Zustand der Beschämung, das Gefühl, lächerlich zu er-
scheinen, und vieles ähnliche geschildert! Reiche Phantasie ist Antons Haupt-
gabc. Schon als Kind stellt er sich vor, daß das Leben ein bloßes Träumen
sein könne. Die Wirklichkeit kommt ihm kahl und armselig vor. Die Schule
bietet ihm mehr als das Elternhaus. Aber Äußerlichkeiten und Zufälligkeiten
führen den armen und doch zugleich eiteln Ghmnasiasten in einen Abgrund
von Leiden. Das glänzende Elend der Freitische, die demütigende Empfindung,
der Letzte zu sein, das trostlose Zusammenleben mit den Mitschülern, alles das
vergißt Reiser nur, indem, er sich dem Opiumrausch eiuer exzentrischen Lesewut,
der Wonne des einsamen Studireus dahiugiebt, und ergreifend ist es, wie ans
diesem Sonderleben immer wieder das heiße Verlangen nach Mitteilung und
der Ehrgeiz, auf die Außenwelt zu wirken, hervorbricht. Diesen Mitteilungs¬
trieb zeigt auch Hartknvpf, der wie Anton einen ungewöhnlichen Lebensweg
wandert und verständnisvolle Zuneigung in einem. Maße erwartet, wie er sie
doch nicht finden kann.
Man kann Moritz den Vater derjenigen Rvmanlitterntur nennen, die durch
Jean Paul um die Wende des Jahrhunderts zur vollen Ausbildung gebracht
und durch die stattliche Reihe seiner Werke erfolgreich vertreten wurde. Alle
künstlich metrische Form - hatte Herder über Jean Paul geurteilt — sei
wertlos im Vergleich mit seiner lebendigen Welt, seinein fühlenden Herzen,
seinem immer schaffenden Genius. Dasselbe gilt von Moritz als Erzähler.
Es ist bezeichnend, daß auch ein persönliches Band Jean Paul und Moritz
vereinigte. Letzterer lernte ein Jahr vor seinem Tode die „Unsichtbare Loge"
kennen. Er begeisterte sich für den Verfasser und bestimmte seinen Schwager
Matzdorff, das Werk in Verlag zu nehmen. „Der Wuz' Geschichte verfaßt
hat, ist nicht sterblich" schrieb er am. 17. Juli 1792. Und in der That
konnte sich damals wohl niemand für das, was in Jean Paul lag, mehr inter-
essiren als Moritz. stilistische Eigentümlichkeiten des „Hartknopf" bereiten
gleichsam auf den jüngern Genius vor, der daS ausbauen sollte, was der ältere
nur nebenbei und unvollständig geschaffen hatte. Man beachte z. B. die ver¬
zückten Reflexionen, die langen Apostrophen, bei denen die Handlung zu zer¬
fließen droht. Die ganze Szenerie der „Predigerjahrc" mutet jcanpaulisch
an. Und vollends jene köstlichen Stellen voll echten, tiefen Humors, wo Hart-
kuopfs Unfall bei der Antrittspredigt — er rennt gegen einen Taubeuflügel
an, sodaß der heilige Geist herunterfällt — und das verunglückte Halleluja
der Jubelpredigt geschildert wird!
Moritz hat mehr als eine Gestalt gezeichnet, bei der jeder, der den Schöpfer
nicht kennt, auf Jean Paul raten würde. Da ist der Essigbrauer ans dein
dritten Teil des „Anton Reiser." Da sind überhaupt die Handwerkertyen,
vom philosophischen Schuster in Hannover bis zum Grvbschmied Kerstmg in
Ribbeckeuau — jene Typen, die von den gelehrten Rezensenten einst so un¬
gnädig angesehen wurden. Überall zeigt sich ein warmer Sinn für das Volks¬
tümliche, ein Sinn für die rührenden Züge und eigentümlichen Lichtblicke im
Leben der niedern Stände. Von selbst führt dies zu jenein idyllischen Klein¬
malen, wie es — im Anschluß an Jean Paul — in unsern Tagen Gottfried
Keller besonders glücklich ausübt. Stellen wie der Abschied von Hartknopf
im zweiten Kapitel der „Predigerjahre" oder die ^-indem-ete ""f den lahmen,
einäugigen Pudel im fünften Abschnitt der „Allegorie" müssen vor hundert
Jahren einen sehr originellen Eindruck gemacht haben. Ans der andern Seite
neigt Moritz, indem er sich zu den Kreisen der Armen und Gedruckten herab¬
läßt, zum schwermütigen und Düstern. In der Kennzeichnung des Doktor
Sauer, die bereits in der ersten Hartkuopfgeschichte vorkommt und dann in den
vierten Teil des „Anton Reiser" herübergenommen wurde, steckt der ganze
Pessimistische Ernst, der gerade heute, wo mau Zola oder Dostojewskis liest,
so zeitgemäß erscheint. Aber es ist auch ein erhebendes Schauspiel, wie Moritz
und seine Nachfolger aus dem Stand und der Art der Erniedrigten und Unter¬
drückten die höchsten Bethätigungen des geistigen Lebens und Strebens empor¬
wachsen lassen. In diesem Sinne gab Moritz auch die Selbstbiographie Salomon
Maimvns heraus (Berlin, 17!)2), indem er im Vorbericht bemerkt: „Diese
Lebensbeschreibung wird für einen jeden anziehend sein, dem eS nicht gleich-
giltig ist, wie die Denkkraft auch unter den drückendsten Umständen sich in
einem menschlichen Geiste entwickeln kann, lind wie der echte Trieb nach Wissen¬
schaft sich durch Hindernisse nicht abschrecken läßt, die unübersteiglich scheinen!"
Und weiterhin: „Es ist gewiß merkwürdig, wie das geistige Bedürfnis bis zu
dem Grade steigen kann, daß Not und Mangel und das äußerste Elend, welches
der Körper erdulden kann, erträglich wird, wenn nur jenes Bedürfnis nicht
unbefriedigt bleibt. Dergleichen Beispiele aber sind lehrreich und wichtig, nicht
nur wegen der besondern Schicksale eines einzigen Menschen, sondern weil sie
die Würde der menschlichen Natur ans Licht stellen und der sich emporarbei¬
tenden Vernunft ein Zutrauen zu ihrer Kraft einflößen."
Wie hierbei unser Schriftsteller in seiner selbständigen philosophischen
Schreibart von der heutigen,, Belletristik äußerlich absticht, mag ein kurzes
Beispiel veranschaulichen. Es ist die Rede von dem Verhältnis Hartknopfs
zu dem alten, ehrwürdigen Herrn v. G..., der noch Hartknopfs Vater ge¬
kannt und jetzt den Sohn zum Prediger nach Ribbeckenan berufen hat. Da
heißt es:
Nichts konnte sich wohl mehr entgegengesetzt scheinen uls die Meinungen
Hnrtknvpfs und des Herrn v. G. . .
Der Herr v. <Ä. . . war für das Leichte, Auflodernde, Himmelanstrebende.
Harttnopf für das Schwere, sich Niedersinkende, in sich selbst Ruhende.
Der Herr v. G . . . liebte die Pyramidalform.
Hartknopf den Kubus.
Und doch trafen beide immer in gewissen Punkten zusammen.
Dann war es, als ob sie sich über einem Abgrunde die Hände reichten.
Was Moritzen vor neuern Erzählern, auch vor Jean Paul, aus¬
zeichnet und ihn als hohem Typus erscheinen läßt, ist feine größere Ur¬
sprünglichkeit und Frische, sein Reichtum an wertvollen, eigenartigen Ideen.
Das war es anch, was Goethen an ihn fesselte: die gesunde Wärme und der
schone Enthusiasmus, mit dem er dachte und fühlte, die hochentwickelte Dichter¬
phantasie, mit der er allen Erscheinungen gcgenübertrat. Die bloßen Belle¬
tristen, im Sinne des neunzehnten Jahrhunders, stehen tiefer. Sie Pflegen
nicht zugleich solide, schöpferische Denker und Forscher zu sein. Was aber
Moritz in dieser Eigenschaft leisten konnte, weiß jeder, der die vortreffliche Ein¬
leitung zu seiner „Götterlehre der Griechen und Römer" gelesen hat.
Bei Werken wie „Anton Reiser" markirt man nicht bloß die vvrwärts-
weisende Bedeutung, sondern bewundert auch den Wert solcher Bücher als ge¬
schichtlicher Denkmäler. Man darf dabei „Anton Reiser" mit den vortrefflichen
Selbstbiographien zweier Zeitgenossen vergleichen: mit Ifflands „Theatralischer
Laufbahn" und Jung-Stillings Lebensgeschichte. Auch über Stillings Er¬
zählung, namentlich über feiner Jugendgerichte, ruht ein großer, wahrhaft
poetischer Reiz. Sie läßt uns einen tiefen Blick in das stille deutsche Volks¬
leben thun und enthält Züge der rührendsten Innigkeit. Besonders ergänzen
sich Reiser und Stilling, indem sie die merkwürdige religiöse Bewegung, die
damals neben und außer der Orthodoxie herrschte, veranschaulichen. Ifflands
Bildungsgeschichte ist einfach gehalten, fesselt aber immer wieder — abgesehen
von ihrem theatergeschichtlichen Interesse — durch die herzliche Wärme und
durch den zarten Idealismus, mit dem uns hier die Geschicke eines durch Talent
wie dnrch Charaktertüchtigkeit und gesunden Sinn gleich ausgezeichneten Mannes
vorgeführt werden.
Auch als kulturgeschichtliche Gemälde stehen die Moritzschen Erzählungen
auf einer besondern Höhe. Besonders „Anton Reiser" bietet ein deutliches und
vollständiges Bild der Sturm- und Drangzeit, und da diese ganze Periode den
Stempel des Rousseauschen Geistes trägt, so ist man versucht, Moritzens
klassisches Buch als Seitenstück zu den vonkössioris des berühmten Genfers zu
betrachten. Allerdings in kleinerm Maßstabe; insofern Moritzens Wirksamkeit
nicht mit Rousseaus weltbewegender Rolle verglichen werden kann. Aber wie
z. B. Salzmanns „Konrad Kiefer" an den limits erinnert und gewissermaßen
dieses klassische Werk des Franzosen in die engere Sphäre einer gewöhnlichen
deutschen Häuslichkeit überträgt, so reiht sich die Lebensgeschichte des arm-
gebornen, ruhelosen deutschen Litteraten an die stolzen Memoiren des vielver-
kannten Jean Jacques, der ebenso klein angefangen, ebenso unstet gelebt
und — ebenso grausam uuter den Leiden der Einbildungskraft gelitten hat.
Der Ruf nach Rückkehr zur unverdorbenen Natur lenkte in jener denk¬
würdigen Zeit die Aufmerksamkeit auf manches, was vorher keine sonderliche
Schätzung gefunden hatte. Man entdeckte von neuem die Reize des Landlebens.
Man erfreute sich an den tüchtigen Sitten und an der gesunden Lebensweise
der Dorfbewohner. Das Patriarchalische in der „Neuen Heloise" klingt nament¬
lich in Mercks Schriften wieder an, lind jeder kennt ja die Vorliebe Werthers
für das Ländliche, die sich oft bis zum erhabensten Natursinn steigert. So
gewinnt denn mich Reiser der Umgegend von Hannover viel ab. Er entflieht
dem städtischen Getriebe, führt an einem schonen Fleckchen sein Stillleben oder
schweift, in Gedanken verloren, rastlos von Flur zu Flur. Moritz ist ein
ähnlicher leidenschaftlicher Fußwandrer gewesen wie Seume. Seine frugalen,
aber dabei romantischen Gewohnheiten werden nicht bloß im „Anton Reiser,"
sondern z. B. auch in den „Reisen eiues Deutschen in England" l Berlin, 1783)
viel erwähnt. Es paßt dazu, wenn er in Berlin als Junggeselle ein entlegenes
Gartenhäuschen bewohnt und allmorgentlich nach seinem geliebten Stralau
Pilgert.
Ein weiteres Merkmal der Sturm- und Drangzeit ist der gefühlsmäßige
Ausdruck, zu dein die „Genies" überall griffen. „Nicht kritisches Erfassen und
Erkennen: Austaunen, Genießen, Verstummen — Andacht, Gebet, Liturgie"—
das war ihre Art. Auch Reiser und Hartknvpf sind solche Gefühlsmenschen.
Aber sie vermeiden dabei viele Ausschreitungen, zu denen Fettergeister wie
Hamann, Lavater, Kaufmann u. a. verleiten konnten. Es ist wahr, sie neigen
zur Mystik. Moritz war ja unter lauter pietistischen Eindrücken ausgewachsen
und hatte diese mit der größten Empfänglichkeit auf sich wirken lassen. Die
frommen Vorbilder jedoch, auf die er zur Zeit seiner jugendlichen Seelenkämpfe
verehrungsvoll hinschaute, lehrten im Grnnde genommen eine persönliche Un-
gebundenheit, eine Entfesselung des Individuums, wie sie alle Stürmer und
Dränger, wenn auch auf verschiednen Wegen, erstrebten. In reifern Jahren
huldigte Moritz in maßvoller Weise dem Freimaurertum, dessen Symbole er
vielfach schätzte. Für das Predigertnm hegte er stets Sympathie. In Deutsch¬
land teilte man überhaupt die Abneigung der Aufklärer gegen die Priester
nicht sehr, sondern sorgte dasür, daß der modisch gewordene Krieg gegen die
kirchlichen Rückständigkeiten nicht zu Angriffen gegen die Religion selbst führte.
Man schwärmte für eine freie, rein menschliche Stellung des Predigers; wie
z. B. Herder den theologischen Beruf ergriff, weil er immer mehr einsah, „daß
sich nach unsrer Lage der bürgerlichen Verfassung von der Kanzel aus am
besten Kultur und Menschenverstand unter den ehrwürdigen Teil der Menschen
bringen läßt, den wir Volk nennen,"") Bei Reiser ist es namentlich anziehend,
wie seine kindlich überschwängliche Verehrung der Pastoren und ihres Berufes
gelegentlich durch eine neue Leidenschaft, nämlich für das Schanspielwesen,
verdunkelt zu werden droht, sodaß der Jüngling zwischen dem Predigerideal
und dem Schauspielerideal schwankt.
Während der jugendliche Goethe, der waffeugeübte Klinger und mancher
.^rnftapostel jener Tage ans Körperschönheit und würdige äußere Erscheinung
hielten, bleiben derartige Dinge bei deu Moritzscheu Helden unberücksichtigt und
unerwähnt. Der kränkliche Abenteurer, dessen Phhsivgnvinie nichts Anziehendes
hatte, konnte hierin kein Schüler der Griechen werden. Man kann aber, wenn
Reiser gelegentlich in gänzlicher Verkommenheit umherstreift und sich dabei
wünscht, ein gewöhnlicher Arbeiter zu sein, wiederum an Rousseau denken, der
bei der Beschreibung, wie er zu Lhon im Freien lampirt habe, in seligen
Erinnerungen aufgeht, und der, wenn er seinen simpeln Kopistendienst versah,
innerlich zufrieden und glücklich war. Und wie Rousseau bei der Wahl seiner
Lebensgefährtin zum Proletariat hinabstieg, so hatte Moritz eine Zeit lang den
merkwürdigen Gedanken, in den Waisenhäusern nach einem jungen Mädchen
suchen zu lassen, das er zu seinem Ideal, zur Dankbarkeit und Liebe, erziehen
wollte. Mit solcher Hinneigung zur untern Schicht der Gesellschaft — einer
Hinneigung, die bei Rousseau zu einem umfassenden sozialen Programm führte —
vertrug sich viel Ehrgeiz und viel Streben nach aufwärts. Schon in Hamanns
Werken „schmeckte alles nach Eitelkeit," und seine Jünger fühlten sich als Über¬
menschen. Welchem Genie haftete schließlich nicht „Eitelkeit, Ichsucht" u. dergl.
an? Moritz war sicherlich nicht der Anspruchsvollste. Aber sein Drang, sich
zu zeigen und zu glänzen, war groß. Deshalb trieb es ihn in der Jngend
unwiderstehlich zur Bühne. Die Schilderung, wie die Theatermanie sich des
zurückgesetzten Primaners bemächtigt, ist der Höhepunkt im „Anton Reiser,"
und man wird, auch wenn man vorher Goethes „Wilhelm Meister" hat auf
sich wirken lassen, die Darlegung Moritzens unvergleichlich treffend finden.
Statt als Mime geehrt zu werden, fand unser Held Schriststellerlorberen und
brauchte diesen Tausch uicht einmal zu beklagen. Er lebte in einem Jahrhundert,
wo das litterarische Getriebe aller Augen auf sich zog und wo übrigens nicht
bloß Effekthascher und Modevirtuosen, sondern anch selbständige ernste Männer,
die zu keiner Koterie gehörten, Leser fanden.
Noch sei auf die Verehrung hingewiesen, die im Zeitalter des Sturmes
und Dranges gewissen Littera'turgrößen der Vergangenheit gezollt wurde.
Hartknopf und Reiser helfen vor allem den damaligen Shatespearelültus be-
zeugen, der eine in dein ergreifenden Gespräch unter dein Galgen von Gellen-
hansen, der andre hauptsächlich im dritten Teil der Erzählung, wo sein Hin¬
gang mit Philipp Reiser dargestellt wird. Auch Uonngs „Nachtgedanken"
finde» eine nachdrückliche Erwähnung. Die Schauspiele, die Reiser besuchte,
hatten meist furchtbare und gräßliche Gegenstände. Auf dem Gebiete der
poetischen Erzählung war u. a. Diderot mit seiner Geschichte I^s clsnx -uniu
<!>-! Uomvonnö zu Gunsten eines modernen Realismus aufgetreten. Neben
den neuzeitlichen Vorbildern wurden aber stets die Alten bewundert. Die
Würdigung Homers ist ein Hnuptverdienst jeuer Tage, und durch die Liebe
zum griechisch-römischen Altertum wurde Moritz schließlich für das Humanitäts¬
ideal gewonnen, das dein goldnen Zeitalter unsrer Litteratur eigentümlich
ist; wobei er übrigens, wie Goethe, Heinse und andre Zeitgenossen, mit
der Liebe zur Dichtkunst ein nicht minder starkes Interesse für die plastische
Kunst verband.
Eine Hauptrolle in Moritzens Bildungsgang spielten „Werthers Leiden."
Dieses Buch mußte auf den empfänglichen Jüngling, dem es bald nach seinem
Erscheinen in die Hände siel, ähnlich wirken, als läse er sein eignes Leben.
Denn wenn auch die Haupthandlung, die Entwicklung des Liebesverhältnisses,
den in solchen Dingen unerfahrenen Schüler kalt ließ, so war doch Werther,
dessen Inneres ja nach allen Richtungen hin dargestellt wird, ganz der Charakter
wie der junge Moritz selbst. Hier wie dort edle Schwärmerei, überquellendes
Gefühl, düstere Schivermut. Zwei ausgeprägte Idealisten, die dem praktischen
Leben abgewendet sind. Was Wunder, wenn Reiser in vielen Äußerlichkeiten
Werthern kopirt, wenn er und Iffland beispielsweise, von Lebensüberdruß
übermannt, ein frevles Pistolenspiel wagen, um ihr Dasein so zu enden, wie
es im Roman vorgezeichnet war! Diese Berührungspunkte und namentlich die
Empfindung der Gleichheit, die Reiser dem. Romanhelden gegenüber habe»
mußte, hat schon Erich Schmidt in seinem Buche „Nichardson, Rousseau,
Goethe") gebührend hervorgehoben. Auch in reifern Jahren kehrte Moritz
immer wieder zu der Lieblingsgestalt seiner Jugend zurück, und wenig fehlte,
se' hatte er ihr eine besondre Schrift gewidmet und das, was ihm so vertraut
war, zum Ausgangspunkte philosophischer und ästhetischer Erörterungen gemacht,
^vn Anton Reiser aber kann man behaupten, daß er Werthers bester Genosse
geblieben ist. Der große Unglückliche hat im Laufe der Zeit ein weiteres
Gefolge nach sich gezogen. Grillparzers armer Spielmann und Gottfried
Kellers grüner Heinrich sind solche Leidensgefährte,,. Aber niemand hat
Moritzen in jener Polhphonie des Seelenlebens übertroffen, die das Haupt¬
merkmal seines Genius ist und den Halbvergessenen noch immer „zeitgemäß"
erscheinen läßt.
Wenn man sich unsern Erzähler als einen widerspruchsvollen, unbestän¬
digen, immer des Wechsels bedürftige» Mann vorstellt, dessen Gedanken fort¬
während ins Melancholische fallen und dessen Schilderungen voll von Schmerzen
und Thränen sind, so ist dieses Bild doch nicht genügend. Es ist von hohem
Wert, zu wissen, daß auch der Verfasser des „Anton Reiser" und des „Hart¬
knopf" schließlich zu der harmonischen Geisteshaltung gelangte, die immer und
überall als das wahrhaft Schone und Weise gelten muß. Eine Gesinnung
ohne Bitterkeit gegen Welt und Leben, eine milde Vetrnchtungsart, eine be¬
friedigte Stimmung, das waren die Errungenschaften, deren sich Moritz, wenn
auch erst am Ende seiner Laufbahn, erfreuen durfte. Schon immer hatte sein
überaus wohlgearteter Stil die geistige Gesundheit angedeutet, die in ihm,
sobald die außer» Umstände günstiger wurden und die quälenden Eindrücke
der Jugend sich verwischte», Platz greifen konnte. „Moritz ward — so rühmte
man bei seinem Tode — durch Gefühl zu Kenntnissen geleitet. Dieses ein¬
fache Gefühl blieb, trotz der Zunahme seiner .Kenntnisse, nnvertünstelt. Er gab
seinem Ausdruck jene Älarheit, um derentwillen er so gern von denen gelesen
wird, die überall Verständlichkeit suchen,"") Auch der Inhalt seiner Schriften
klärte sich, soweit dies bei feinern ungleichen nud meist eiligen Arbeiten ersicht¬
lich ist, mehr und mehr ab; und in den letzten Monaten, die dem Frühver-
storbenen vergönnt waren, konnte er die erreichte Vollendung im praktischen
Leben selbst bethätigen.
Die „Neue Ceeilia" ist die Erzählung, in der sich dieser harmonische Geist
zum erstenmal ganz entfalten sollte. Wir können leider, da das Bruchstück so
gering ist, diesen bemerkenswerten Umstand im Werke selbst nicht handgreiflich
machen, dürfen uns aber ans die Worte des Herausgebers verlassen, der in
der Einleitung zu diesen „letzten.Blättern" schön und glaubwürdig schildert,
welch erquickenden, heitern Lebensabend Moritz genoß. Ihm ward — heißt
es da — das beneidenswürdige Los zu teil, „Zufriedenheit empfangend und
wiedergebend, von den weichen Händen einer liebenden Gattin gepflegt, mit der
Welt und mit sich selbst versöhnt, sanft und liebegesegnet, in den Schlaf der
ungestörten Ruhe zu sinken,"
Einen Ersatz für das, was Moritz als Romanschriftsteller voraussichtlich
noch geleistet hätte, wem: ihm einige weitere Jahre beschieden gewesen wären,
bieten die „Launen und Phantasien" (Berlin, 1796), eine Sammlung vermischter
Reden, Gedichte und Aufsätze, die Klischnig als neue vermehrte Auflage der
„Großen Loge" herausgab, und worin viele Stücke aus Moritzens letzter Zeit
enthalten sind. Hier findet man neben feinen knnsttheoretischen Kleinig¬
keiten — philosophische Betrachtungen und Stimmungsbilder trefflichster Art.
Namentlich gilt dies von folgenden Abschnitten: „Amme," „Der Trost des
Zweiflers," „Die letzte Freistndt des Weisen," „Das Edelste in der Natur,"
„Das menschliche Elend," „Rede über die Vereinfachung der menschlichen Kennt¬
nisse." „Sind nicht die Gedanken des Menschen, womit er die Ordnung und
Harmonie in der ganzen Nntnr bemerkt, das Edelste in der ganzen Natur!""')
Dieser Ausruf kennzeichnet den letzten Moritz.
Wenn es ein allgemeiner Satz ist, daß zwischen dem Charakter eines be¬
deutenden Menschen und seinen Geistesschvpfungen ein Zusammenhang herrscht,
und daß wir nicht die Werke lieben können, während uns der Lebende selbst
abstößt, so kann dies in hervorragender Weise ans Moritz angewendet werden.
Wie schon erwähnt, dürfte an Moritzen das eigenste persönliche Wesen im
allgemeinen mehr interessiren als irgend ein objektiv gehaltenes Produkt seiner
Feder. Wie bedeutsam ist es da, daß unser Held nicht bloß im Denken, sondern
auch im Thun den Standpunkt der Ungebundenheit überwand, daß er eine
glückliche Entwicklung durchmachte, die ihn von exzentrischen Eigentümlichkeiten
befreite und zu einem reifen Geiste stempelte! Und wie erfreulich ist hierbei
das Urteil des kundigen Wilibald Nlexis, Moritz sei „mehr als der kapriziöse
Sonderling, zu dem ihn seine nächsten Umgebungen in Berlin machen wollten,"
gewesen!°"°) Alexis ergänzt dadurch das schlichte Zeugnis, das Klischnig dem
dahingeschiednen Freunde giebt: „Er war bei vielen Launen, Sonderbarkeiten
und Gebrechen ein wahrhaft guter Mensch."
lust und Jetzt! Wann war denn das Einst, das nur dem Jetzt
entgegengestellt haben? Es ist wohl schon lange her, denn die
Kluft ist ja eine wahrhaft ungeheure. Graf Schack hat seine
Bildergalerie, aus der wir die Beispiele genommen haben, in
den sechziger Jahren zusammengebracht. Nicht möglich! Und
doch wahr. Seit dem großen französisch-deutschen Kriege, freilich nicht nur
im Zusammenhange mit ihm allein, ist ein vollständig neuer Geist aufgekommen.
In einem Stnrmlause wie der Siegeszug dnrch Frankreich hat man das Be¬
stehende über den Haufen geworfen. Früher galt es als erster Grundsatz, ans
den Errungenschaften der Väter weiter zu bauen. „Wir wollen nicht mehr
am alten Karren weiter ziehen — Schalles ans dem Munde der Jungen —,
wir fühlen Kraft in uns, einen neuen für unsre Zwecke zu bauen." Wer
möchte ihnen da nicht ein kräftiges Hurrnh zujubeln? Wir brauchen nur das
Bild von Szymanowski auf der Ausstellung zu betrachten, um zu fühlen, das;
die Welt verjüngt ist. Da lacht eine Pierette so lebensfrisch, so daseinsdnrstig,
so weltfrendig aus dem Bilde heraus, daß uns das Herz aufgeht. Das ist
lebendigste Gegenwart. Dagegen erblassen freilich die Träume und Märchen
der alten Zeit, dagegen scheine!? die früher» philisterhaft in Schlafrock und
Pantoffeln zu gehen. Das frühere Sichversenken in Träume und in die Ver¬
gangenheit hatte seinen guten Grund. Das Leben bot zu wenig, die geistes¬
öden Jahre der Reaktion hatten alle frischen Keime getötet. Nur die Phantasie
durfte sich frei ergehen. Daß das Leichentuch uur einen Schlummernden deckte,
daß dieser Schlaf eine so gewaltige Kraft zeitigte, ahnte niemand. Sie ist
überraschend hervorgebrochen, und darum freuen wir uns an der köstlichen
Gegenwart. Der neue Besen kehrt nun aber auch gründlich. Alles wird
hinausgeworfen. Alles Alte wird mit Mißtrauen betrachtet. Nur fo läßt sich
die Abneigung der modernen Künstler gegen alte Kunst erklären. Sie Verfahren
nach dem Grundsatze der Opposition: Ich kenne die Absichten der Negierung
nicht, aber ich mißbillige sie. Neu, neu sein! Das ist der Schlachtruf. Wer
malte je das Licht so wie wir? Auf, werfen wir uns auf die Darstellung des
Lichtes! Wer neues bringt, wird für ein Talent, für ein Genie erklärt. Aber
welche Absonderlichkeiten dabei zum Vorschein kommen, davon hat sich die ganze
Welt, denn innerhalb der Grenzen der Zivilisation wird es wohl überall Hin-
gedrungen sein, durch das Ansstellungsplakat überzeugt. So hat die heutige
Kunst etwas vom archaischen Charakter, es ist das Suchen nach einer neuen
Form. Porträts in Lebensgröße in einer grünen Snuee — das deutsche Wort
Tunke bezeichnets noch schärfer — hat doch noch niemand gemalt. Abbe und
Kalkreuth setzen ihre Porträts auf grüne Wiesen mit so hohem Horizont, daß
er fast mit dem obern Rande des Bildes zusammenfällt. Und welches Grün!
Das ist kein Krantgrün mehr, es ist nur noch Arsenik. Und welch ein Ge¬
danke, das Porträt, vom Sonnenschein geblendet, mit den Augen blinzeln zu
lassen! Abgeschmackte Behauptung, daß ein Porträt einen Menschen nicht in
einem vorübergehenden Zustande darstellen dürfe! So blinzelt uns denn der
von Kalkreuth gemalte kleine Graf zu Eulenburg auf seinem braunen Pony
in der grünen Sauce an und verzerrt sein Gesichtchen, daß mau ihn sicher
nicht wiedererkennen würde, wenn man ihm im Schatten begegnete. Bei dem
lebensgroßen Damenporträt wird das Gesicht unnötig dnrch den Strohhut
beschattet und erscheint gegen das helle Stroh um so dunkler, sodaß die
Pvrträtzüge nicht ordentlich zur Geltung kvmnren. Dieselben Künstler aber
haben eine Breite lind Sicherheit des malerischen Vvrtrnges, die an die besten
alten Meister gemahnt. Die Technik ist groß. Sie zeugt von der großen
Atmosphäre, in der wir leben. So ist denn auch eine Frucht gereift, die man
in jeder Beziehung anerkennen muß. Das erste große Historienbild ist da,
sichtbar unter dem Einfluß der großen Spanier der vorigen Ausstellung ent¬
standen — das beweist die ganze Auffassung, die gesamte Haltung des Bildes:
Die Flagellanten von Karl Marr. Ein junger Künstler, bisher fast unbekannt,
tritt plötzlich mit dieser Niesenlcinwand auf. Es ist kein bedeutender geschicht¬
licher Angenblick gegeben, sondern eine von den Geißelprozessionen des Mittel¬
alters, die zur Abwendung von Pest und Not durch die Straßen der Städte
zogen. Das Gemälde wirkt trotz stellenweise zu starkem Hervortreten des
Einzelgenres historisch und monumental. Mochten ihm andre folgen! Die
Historienmalerei gehört dem Realismus an, und trotz alles Naturalismus steckt
von dein doch noch eine kräftige Ader in der Gegenwart. Der Idealismus
über ist gänzlich verloren gegangen. Die neue Pinakothek bewahrt von Löfftz
ein vortrefflich gemaltes Bild, eine Pietn. Es ist aber nur darum von
bedeutender Wirkung, weil der Maler seinen eigentlichen Gegenstand völlig außer
Acht gelassen und nur den Leichnam eines am Kreuze gewaltsam gestorbenen
Mannes gegeben hat. Nun hat Löfftz das Unglück gehabt, eine Bestellung
auf ein Altarbild für den Freisinger Dom zu bekommen. Das hat er geglaubt
möglichst ideal halten zu müssen, und so ist denn ein leeres, ja weichlich süßes
Riesengemälde entstanden, bei dein die ideale Zeichnung und die naturalistische
Farbe in einem höchst mißtönenden Gegensatz stehen. Die andern Bilder
religiösen Inhalts sind flau und lassen kalt, mit Ausnahme des ungläubigen
Thomas von Gebhardt, sie sind umso uninteressanter, da kein religiöses
Gemälde eines Pleinairisten zum Widerspruch reizt, wie auf der vorige«
Ausstellung. Eben bei den religiösen Bildern des Borjahres trat das Mi߬
verhältnis zwischen Vorwurf und Auffassung am grellsten hervor. Es ist aber
schon so weit gekommen, daß Titel und Auffassung auch bei andern Bildern
nur in losem Zusammenhange stehen, so bei den Gemälden des Belgiers
de Haas. Ochsen und Kühe nehmen fast die ganze Fläche ein, und nur in
schmalem Hintergründe wird der „Windstoß" und das „heranziehende Gewitter,"
»ach deuen die Bilder benannt sind, angedeutet, das Vieh bekümmert sich nicht
darum, sondern frißt ruhig sein Gras. Das sonst vortreffliche Bild des leider
zu früh verstorbenen Favrettv heißt „Susanna." Die traite Dirne daraus
läßt sich aber die Liebkosungen der beiden Alten, sehr »»gleich ihrer Namens¬
vetterin, recht gern gefallen.
Postkutsche und Eisenbahn! Das Reisen war „einst" sehr beschwerlich
und derer. „Jetzt" rollt man leicht und verhältnismäßig billig durch die
Länder dahin. Die größere Seßhaftigkeit, die Langsamkeit der Nachrichten-
Verbindung nötigte die Menschen früher zu größerer Ruhe; der Künstler konnte
seine Ideale langsam ausreifen lassen, und das gehört zum künstlerischen
Schaffen, Darum werden heute fast nur noch Skizzen gemalt. Man kommt
nicht dazu, seine Studien zu verwerten, zu Kunstwerken zusammenzustellen.
Die Einführung der Jahresausstellungen ist ein Unglück für die Kunst, Wohl
wird dem Künstler dadurch ein Markt geboten zum leichtern Absatz seiner
Arbeit, aber das ist eine gefährliche, verlockende Gelegenheit, Immer schneller
wird er mit seinen Bildern fertig sein, immer weniger wird er sie durchführen,
durchdenken. Schon ist die Komposition vollständig über Bord geworfen, und
bloße Studie» werden als Bilder gebracht, Darum auch der stetige Rückgang
in der Ausübung und Beachtung der Plastik, Diese leidet das Skizzenhafte
viel weniger, ein plastisches Kunstwerk muß viel mehr abgewogen werden, sonst
fällt selbst dem ungeübten Blick auf, das; hier nichts Fertiges vorliegt. Freilich
ist in dieser Ausstellung der Plastik ein Raum geschaffen wie früher nie: ihre
Werke sind in einer schönen Gartenanlage aufgestellt. Aber wie wenig schon
beachtet sie die Künstlerschaft! Die Prümiirnng zeigt deutlich, daß man nur
notgedrungen und da ohne viel Besinne», um die lästige Arbeit so bald als
möglich los zu sein, einige Preise gegeben hat. Wie wäre es sonst möglich,
daß der „sliegenfangende Teufel" vou Nngust Sommer in Rom keinen Preis
bekommen hat, ein Werk, das sich den besten der kleinen antiken Bronzen im
Museum zu Neapel, die dem Künstler zum Studium (wohlverstanden nicht
zur Nachahmung) gedient haben, an die Seite stellen kaun, daß desselben
Künstlers vortreffliche lebensgroße Brunnenfigur des Sklaven mit dem ge¬
stohlenen Weinschlauch auf der vorigen Ausstellung nicht als Brunnenfigur,
Wasser speiend eingerichtet war, und auf diese Weise ihr eigentlicher, hübscher
Gedanke verloren ging? Der tapfere Künstler, der die Fahne der echten Kunst
in Not und Sorge hoch gehalten hat, ist grau geworden, ehe er es zu einer
eiuigermnßeu sichern Lebensstellung gebracht hat. Leute mit so hohen Idealen
bringen es spät zur Anerkennung, Aufgabe der Künstlerschaft wäre es, ihnen
dabei zu helfen. Doch der Wahlspruch ist ja gegenwärtig Formlosigkeit, und
der hat tief Wurzel geschlagen. Richard Wagner hat in der Musik die Form
fast gänzlich aufgelöst, nachdem sie andre schon durchbrochen hatten, viele
Schauspieler, und unter ihnen die talentvollsten, wollen heute keine Verse mehr
spreche». Welch unverantwortliche Gewaltthat ist es, die Verse eines Dichters
zu zerreiße» und sie wie Prosa vorzutragen! Vollständiges Verkennen der
Kunst ist die Forderung vou Ibsen, daß ein draiuatischer Dichter keine Mono¬
loge mehr schreiben dürfe, weil sie in Wirklichkeit nicht vorkämen. Nicht einmal
die Behauptung über die Natürlichkeit ist richtig, wie so viele derartige der
modernen Künstler und ihrer Nachfolger, Wer hätte nicht schon einmal ein
Selbstgespräch gehalten und eine Sache nach allen Seiten in sich überlegt?
Der berühmte Monolog des Wallenstein: „Wars möglich, konnt ich nicht mehr,
Wie ich wollte?" ist er nicht ganz natürlich, nur daß der Herzog ihn in
Wirklichkeit nicht in Versen und nicht in so geordneten Gedanken sprechen
wurde? Dafür ist die Kunst eben Kunst und uicht Natur, sie kann und
muß sich noch ganz andre Dinge erlauben. Der Künstler soll ein Priester
sein, aber wehe! er ist weit davon entfernt. Wie konnte Ibsen, wenn er
von der Hohe seines Berufes durchdrungen wäre, mit so ungeordneten
und unklaren Ideen vor das Publikum treten? Eine gewisse äußere Wahr¬
heit nimmt für sie ein. Der Dnrchschnittstheaterbcsucher und einzelne
fähige aber unzufriedne Köpfe merken nicht, daß er die bestehenden Zu¬
stände als Karikaturen zeichnet, das wäre um Platze in Lustspielen, die
dem Zuschauer gewisse Untugenden im Extrem vorführen und ihn dadurch
zur Vermeidung anregen wollen, Ibsen aber läßt seine Helden ganz ernst¬
haft dagegen kämpfen. So steht er in dieser Beziehung nicht viel über
dem Verfasser des berüchtigten Buches: „Konventionelle Lügen der Kultur-
menschheit."
Ein Zweig der bildenden Kunst kann niemals ganz auf Abwege geraten,
es ist die Bildniskunst. Ihre Ziele liegen zu klar vorgesteckt. Sie muß sich
immer um die vorhandne Persönlichkeit halten, deshalb kann sie nicht leicht
zu verschwommen idealistisch werden. Anderseits wird sie nicht leicht ganz
außer Acht lassen, Kunstwerke zu geben, weil das Erfordernis, mehr als Photo¬
graphie zu fein, zu klar vor Augen liegt. Freilich kann sie die dargestellten
Personen leicht zu äußerlich fassen, und das ist der Fehler der meisten Bild¬
nisse auf der Ausstellung.
Wie verhält sich das Publikum zu der herrschenden Kunstrichtung?
Einen würdig aussehenden ältern Herrn hörte ich vor dem Bilde von Exter,
das ein blau gekleidetes Mädchen auf dein grünen Grase eines Friedhofes
sitzend xlsin -ur darstellt, spöttisch ausrufen: „Ah, das ist nicht prämiirt?"
Dieselbe Ansicht zeigt sich beim Ankauf der Bilder. Sehr, sehr wenige xlein
zur-Bilder sind angekauft, und auch da nur solche kleinen Formats, die man
noch eher ertragen kann. Der Geschmack der Käufer wendet sich durchaus
den Künstlern zu, die in der alten Weise fortarbeiten. Den Käufer reizt noch
immer der Inhalt des Bildes, er will nicht eine große Leinwand haben, die
nur für den einen Sinn, das Auge, berechnet ist; außerdem stört ihn der helle
Fleck auf der Wand seines Zimmers. Diese Abneigung gegen xlLin iür ist so
stark, daß er mit geringern Talenten vorlieb nimmt, denn das ist wahr, die
bedeutendem von den Jüngern haben die Pleinairisten auf ihrer Seite. Sie
haben die führende Richtung und die andern, an Zahl ihnen überlegen, laufen
als zweite Qualität nebenher. Daß etwas Jugendliches und Kräftiges in der
Richtung liegt, haben wir betont, und auch das zeugt dafür, ja man könnte
es einen Heldenmut nennen, daß sie sich so wenig um die Verkäuflich den ihrer
Bilder kümmern, es ist eine Begeisterung, die einer bessern Sache würdig
Wäre, Dadurch beherrschen sie das Feld in München (immer nur von den
Jüngern gesprochen) auch so vollkommen, daß niemand gegen sie aufkommen
kann. Die ältern, anerkannten Meister freilich wandeln beharrlich ihre Bahn.
Auch die andern deutschen .Kunststätten bleiben in ihren frühern Gleisen, am
meisten wohl Düsseldorf. Einer der bedeutendsten altberühmten Künstler
Düsseldorfs, Eduard von Gebhardt, hat das einzige wahrhaft religiöse Bild
geschickt; dieser Heiland mit seinen Aposteln ist so wahr und echt, wie sie nur
ein ticfglünbiges Gemüt empfinden und ein in wirklichen Kunstformen schaffender
Pinsel darstellen kann. Wie sehr die Münchner .Künstler den Geschmack des
Publikums kennen, zeigt, das; sie zur Lotterie mir Bilder der ältern Richtung
angekauft haben. Dafür habe» sie sich bei der Prümiirung schadlos gehalten.
Wie sehr werden sie in Gesprächen unter sich den Geschmack des Publikums
verachten! Jeder tiefer denkende wird ihnen darin gewiß beistimmen, daß
die große Mehrheit in höhern Dingen sehr selten Recht hat, aber ein Körnchen
Wahrheit wird auch in dieser Ansicht stets sein, ja es kommt vor, daß dieses
Körnchen den einzig lebensfähigen Keim der Wahrheit enthält, die Aufgabe
der begabten Minderheit wäre es, ihn auszubilden. Ein solcher Fall liegt
hier vor.
Lernt nicht mehr bei den Franzosen, lernt zunächst an der Natur, das;
sie Unrecht haben, denn die Natur ist sehr selten xlvin -iir, Ihr habt Recht,
die Franzosen sind bedeutende Künstler, sie haben eine bewundernswerte Technik,
außerdem haben sie den Vorzug der Ursprilnglichkeit vor euch voraus, sie haben
diese Art der Malerei erfunden, sie begegnen keinem nennenswerten Widerspruch
in ihrem Lande, darum ist es ihnen gelungen, sie so einheitlich auszubilden,
als ein so geschlossenes Ganzes hinzustellen, und deshalb wirkt sie bei ihnen
so groß. Ihr aber werdet doch nur Nachahmer bleiben, man wird euch das
nachgeahmte immer anfühlen. Seht die Mimischen Künstler des sechzehnten
Jahrhunderts! Sie verließen die ihnen angestammte Weise zu malen und
wandten sich Italien zu, suchten so genan wie möglich in die Fußstapfen der
großen Italiener zu treten. Das Abgeleitete ihrer Kunst fühlt man aus deu
ersten Blick, kein einziger von ihnen hat etwas bleibendes geschaffen. Die
Jakobskirche in Antwerpen ist voll von ihren Werken, in einer Seitenkapelle
hängt ein kleiner Madonnenkopf von Guido Nein. In Italien stellt man
diesen Künstler nicht allzu hoch, dort aber wirkt das Köpfchen wahrhaft er¬
lösend, es ist etwas unmittelbares gegenüber dem nachgeahmten. Lernt von
den modernen Italienern bei der nationalen Richtung bleiben! Brancacciv
malt durchaus nicht vleäir s.ir und giebt gerade deshalb das Sonnenlicht viel
besser wieder als ihr und eure französischen Muster. Die Italiener haben das
Prinzip der Farbe, das einzig malerische, nicht aufgegeben. Wohl zeigen auch
sie deu Einfluß der Franzosen in vielen Dingen, die sich nicht verteidigen
lassen, aber der Hauptsache nach sind sie unberührt geblieben. Sie überziehen
die Farben ihrer Bilder nicht mit einem weißlichen Schleier wie Lipps auf
seinen Darstellungen aus Verona, darum ist ihr Licht und ihre Farbe wahr,
eures nicht. Zerreißt diesen Schleier, d. h. nehmt euch die plein air-Brille ab, und
ihr werdet erkennen, wie sehr ihr in Manier befangen wart. Vor allem aber
erinnert euch, daß die Kunst nicht bloße Nachahmung der Natur ist, daß der
Künstler die Natur in sich aufnehmen und von seinem Wesen durchdrungen
wieder aus sich heraus gebären muß, daß das Kunstwerk vervollkommnete
Natur ist.
esper hatte also sein beharrlich erstrebtes Ziel erreicht: er war
Marthas Verlobter geworden. Aber er war es noch nicht
lange, als er auch schon bemerkte, daß er dadurch eigentlich
nicht viel weiter gekommen war. Natürlich wurden ihm gewisse
Freiheiten zugestanden, die Verlobte einander niemals gut ver¬
weigern können, aber immer betrachtete sie ihn mit derselben kühlen Ruhe,
derselben unbeweglichen Gleichgiltigkeit, als Ware er eine fremde Person, die
sie im übrigen nichts weiter anginge. Wenn er im Zimmer zwischen den
andern saß, so blickte sie über seinen Kopf hinweg, als wäre er gar uicht da.
Er mochte kommen oder gehen, so schien das keinen Gedanken in ihrem Kopfe
zu verändern.
Oft fragte er sich selber, ob vielleicht etwas dahinterstecke, ob ihm viel¬
leicht ein andrer den Rang streitig mache. Mißtrauisch beobachtete er jeden
ihrer Schritte. Er überraschte sie zu jeder Tageszeit, und dann konnte er da¬
sitzen und ihr in die Augen starren, als wollte er ihr mit aller Gewalt ein
Geheimnis entreißen. Er fühlte, daß er den, der sie ihm etwa abspenstig
machen würde, kalten Blutes umbringen könnte. Und selbst wenn er nichts
Verdächtiges vorfand, konnte ihn bei dein bloßen Anblick ihrer Ruhe eine so
rasende Eifersucht, el» so bitterer Haß überkommen, daß er ihm mehr als
einmal und auf verschiedene Weise in Worten und Handlungen Ausdruck gab.
Im Dorfe erzählte mau sich, daß der Förster sich über seine plötzliche
Nachlässigkeit und sein zügelloses Wesen beklagt habe; das Hütte so überhand
genommen, daß der Förster mit dem Gedanken umginge, ihn zu entlassen.
Jesper sollte sich oft tagelang herumtreiben, ohne sich bei der Arbeit sehen zu
lassen; und wirklich traf mau thu jetzt öfter als je im Dorfkruge, wo er die
Anwesenden mit bösem, herausforderndem Lächeln anstarrte. Und wenn er hier
niemand traf, mit dem er Handel anfangen konnte, so taumelte er durch die
Straßen, verfolgt von einem Schwarm lärmender Binder, und landete dann
schließlich regelmäßig draußen im Fährkrnge.
Aber jedesmal, wenn er sich in einen: solchen Zustande blicken ließ, ver¬
ließ Martha das Zimmer und verschloß sich in ihrer Kammer. Darm wurde
er wie rasend, stellte sich vor die Thür, schlug gegen die Thür und überhäufte
seine Braut mit den rohesten Schimpfworten und Flüchen, bis es der Mutter
endlich gelang, ihn zu entfernen. Wenn er dann wieder nüchtern geworden
war, bereute er, was er gethan hatte. Aber Martha begegnete seinem beschämte»,
verlegner Blick mit einer so eisigen Kälte, einer so gleichgiltigen Verächtlichkeit,
daß ihm das Bl»t wieder in die Wangen schoß. Einmal hatte er sogar Hand
um sie legen wollen, sodaß Lars Einauge und die andern dazwischen treten mußten.
So verging ein Sommer und ein Winter, und Martha war siebzehn Jahre
alt geworden.
Da meinte Jesper, daß es Zeit sei, dein Spiel ein Ende zu machen.
Entweder war sie seine Braut, oder er mußte sich uach eiuer andern umsehen.
Er hatte auch selber ein Gefühl, daß er, wenn dies noch lange so fortginge,
zu Grunde gehen würde unter dem spöttischen Lachen und den heimlichen An¬
spielungen, von denen er sich überall umgeben glaubte. Eines Tages hatte ihn
einer der Holzarbeiter gerade heraus gefragt, ob er seine Braut schon einmal
geküßt habe. Der Scherz hatte dem Burschen eine blutige Nase und einen
zerbrochnen kleinen Finger eingetragen; aber bei derselben Gelegenheit beschloß
Jesper, einen entscheidenden Schritt zu thun.
Er hatte zufällig gehört, daß der Besitzer des „Mühlcnhauses" dies zu
verkaufen beabsichtige; und da er gelegentlich einmal erfahren hatte — wodurch,
wußte er selber nicht —, daß Martha stets eine besondre Vorliebe für den Ort
gezeigt hatte, so beschloß er, sich sein mütterliches Erbe auszahlen zu lassen
und das Haus zu kaufen. Dann wollte er zum Förster gehen und um vier¬
zehn Tage Urlaub bitten, um das Haus in Stand zu setzen. Und wenn dies
geschehen wäre, wollte er zu Martha sagen: Jetzt kannst du sehen, was ich zu
bieten habe, nun verlange ich aber auch eine bestimmte Antwort. Wenn sie
nur erst zusammen wären, dachte er im Stillen, so würde sie sich schon ändern,
und alles könnte noch einmal gut werden.
Die einzige, der er sich anvertraute, war Marthas Mutter, Krug-Ellen,
wie sie noch genannt wurde. Aber mit der ging es offenbar stark bergab.
Sie hörte seinen Auseinandersetzungen mit unruhigem, verstörtem Blicke zu,
der Jesper zu der Überzeugung brachte, daß sie betrunken sei. Und als er
fort war, erhob sie sich mit ungewöhnlicher Hast, sah mehrmals aus dem
Fenster und spähte ängstlich nach allen Seiten.
Der Grund dazu war folgender. Eines Tages, als sie im Torfschauer
stand, sah sie plötzlich Martha eiligen Schrittes mit glühenden Wangen ans
dem Walde kommen und sich oft und verstohlen umsehen, als. erwartete sie,
daß ihr jemand folge. Dies hatte Elters Verdacht erregt. Am folgenden
Tagen beobachtete sie die Tochter aufmerksam, und sie glaubte wirklich, etwas
Zerstreutes, Unruhiges an ihr zu spüren. Jeder Schritt auf ihrem Wege
schien sie zu beunruhigen, wenn sie aber in Gedanken versunken war, umspielte
ihren Mund ein eigentümliches Lächeln, ihre Wangen bekamen Farbe, und in
ihren Augen lag ein Glanz, den Ellen voller Schrecken zu kennen glaubte.
Auch hatte sie mit auffallendem Eifer angefangen, Reisig und Tannenäpfel im
Walde zu suchen, ging aber stets mit glattgekämmtem Haar und in Strümpfen
hinaus.
Eines Tages endlich fand die Mutter ein buntseidenes Taschentuch in
ihrem Schubfach, und als sie sie vorsichtig fragte, woher sie das habe, ant¬
wortete sie nicht, sondern verließ trällernd das Zimmer.
Eine entsetzliche Angst überkam Ellen. Die Sorge um das Schicksal dieses
Kindes, das einzige, menschliche Gefühl, das ihr noch geblieben war, erwachte
verstärkt in ihrer Brust. Eine schwache Erinnerung an den furchtbaren Jammer
ihrer eignen Jugend zog gespensterhaft durch ihre halb erloschene Seele, und
sie erbebte vor Schreck. Was ist mir geschehen? war die Frage, die sie siel,
wieder und wieder stellte. Sie suchte sich durch Blicke und Mienen Aufklärung
zu verschaffen, sie bewachte, soweit sie es vermochte, jeden Schritt Mnrthas;
IN mitten in der Nacht konnte sie sich vom Bett erheben und hinausschleichen,
um an ihrer Kammerthür zu lauschen.
Aber drinnen war alles still. Und wenn sie vorsichtig die Thür öffnete,
so fand sie das Kind in ungestörtem, tiefem Schlafe, mit einem ruhigen lächeln
um den Mund, als umschwebte» sie selige Träume.
Einige Tage nach Jespers Besuch bei der Krug-Elle» stand Martha vor
einem kleinen Spiegel, der am Fensterpsvsten in der Gaststube hing, und flocht
ihr langes Haar. Sie war im Hemd und nur mit einem roten Unterrock be¬
kleidet. Ihr Hals und ihre Arme waren bloß. Wenn ihr seliger Vater sie
in diesem Augenblicke hätte sehen können, würde er sich gefreut habe», wie sie
heranreifte.
Es war Helles Johanniswetter, und die Sonne stand schon hoch am
Himmel; ihre breiten Strahlen tanzten über den Fußboden, und Martha zog
sich, um nicht gesehen zu werden, jedesmal zurück, wenn sie Schritte oder
Wagengerassel auf der Brücke vernahm.
Aber sie wurde oft gestört, denn an diesem Tage wurde großer Jahrmarkt
in dem Thal zwischen den Hügeln hinter dem Walde abgehalten, und ein
Wagen unes dem andern mit geputzten Leuten ans allen Dörfern des ganzen
Küstenstriches rollte vorüber. Wenn der Wind herüberstand, vernahm man
auch hin und wieder einzelne Klänge von Musik.
In dem Nebenzimmer, zu dem die Thür nnr angelehnt stand, kramte die
Mutter umher. Mit dieser ging offenbar etwas ganz Ungewöhnliches vor.
Fortwährend ließ sich ein wirres Lärmen und Rasseln vernehmen. Bald ließ
sie eine Schere, bald eine ganze Schublade zu Boden fallen, und ihr halb¬
lautes Selbstgespräch wurde jeden Augenblick durch ein angestrengtes Stöhnen
und Pusten unterbrochen, als wäre sie im Begriff, in ihrem eignen Fett zu ersticken.
Nach vielen sorgfältigen Erwägungen hatte nämlich der Kind beschlossen,
wo möglich noch auf seine alten Tage aus dem Jahrmarkt Kapital zu schlagen.
Eigentlich war es der alte Violinspieler Franz, der mit seiner jahrelangen Er¬
fahrung sie mit der Aussicht auf einen glänzenden Verdienst dazu bewogen
hatte. Nachdem sie aber die Sache einen ganzen Monat lang Abend für Abend
genau und nach alleil Seiten hin erwogen hatten, waren sie endlich zu dem
Entschluß gekommen, ihr Glück zu versuchen, und hatten die Rollen folgender¬
maßen unter sich verteilt. Die des Violinspielers war von vornherein gegeben.
Lars Einange und Anders Kaagmand dagegen sollten gemeinsam eine Damen-
schankel übernehmen, Zacharias und Martin ein kleines Bierzelt, während dem
schwermütigen Steinhauer Sören, auf dessen Verstand man sich nicht ganz ver¬
lassen konnte, eine Kiste mit Zigarren zum Verkauf überlassen wurde. Ellen
hatte man mit großer Mühe überredet, einen Verkauf von Kaneelstangen und
Weizenbrod einzurichten, und jetzt war sie schon seit drei Stunden damit be¬
schäftigt, die letzte Hand an ihre Vorbereitungen zu legen.
Endlich trat sie aus dem Zimmer. Sie war sehr geputzt. Ein alter
viel zu kleiner Hut mit dunkelroten Wollblumen und lavendelblnuem Band saß
schief auf dem graumelirten Haar; einen dünnen, geblümten Schawl hatte sie
mit der verkehrten Seite nach außen umgebunden. Eine große Stahlucidel war
unter dem Kinn eingeklemmt, und die unförmlichen Füße waren in Hellgrane
Zeugstiefel geschnürt.
Auf der Schwelle blieb sie eine Weile stehen und sah mit leerem, ver¬
zagten Blick um sich. Als sie jedoch Martha gewahrte, trat sie, indem
sie sich mit der Hand auf das Fensterbrett stützte, einen Schritt ins Zimmer
und betrachtete sie aufmerksam. Es war, als arbeitete sich in diesem kranken
Hirn langsam ein Gedanke durch, während sie die Tochter so dastehe»
sah mit glühenden Wangen und mit unruhigem Eifer ihr Haar flechtend.
Es kam auch allmählich el» Ausdruck von wirklicher Angst in ihr Gesicht
und ein schwaches Lebe» in ihre Auge», während sie Martha »»verwandt
anstarrte.
Willst du nicht mit zum Fest? fragte sie endlich.
Beim Klang ihrer Stimme wandte Martha sich um und betrachtete sie
mit halb erstaunten, halb gleichgiltigem Blick.
Nein, antwortete sie kurz und drehte sich wieder nach dem Spiegel um.
Darauf wurde es eine Weile still. Ellen trat abermals einige Schritte
vor und legte die Hand auf einen Stnhlriicken, ihr Ange aber hing unbeweglich
an dem des Kindes.
Vielleicht kommt Jesper und holt dich? fragte sie darauf, und ihre Stimme
zitterte leise.
Ha ha ha! Jesper! Das wollt'ich meinen ! Nein, die Umstände macht er
sich wohl nicht! Es sind übrigens, glaube ich, acht Tage her, seit wir ihn
zuletzt gesehen haben, also ist er wohl auf Reisen gegangen. Wenn er sich
nur allein zurechtfindet, der Arme! War es nicht Sören, der ihn neulich in
einem Graben getroffen hat? Am Ende liegt er noch dort!
Ellen setzte sich schwerfällig auf einen Stuhl. Das — das ist nicht
wahr! stammelte sie eifrig. Sören ist ein Esel, der nicht weiß, was er sieht.
Du solltest nicht so über Jesper reden, Martha. Er ist doch dein Bräutigam.
Vielleicht macht er sich auch mehr aus dir, als du denkst. Und wenn er in den
letzten Tagen nicht hier gewesen ist, so kann das ganz andre Gründe haben,
als du glaubst. Ich sage nur, daß du wohl auf andre Gedanken kommen
wirst, wenn du einsiehst, wie viel besser er ist, als du meinst. Und darum,
Martha, solltest dn auch nicht —
Martha wandte sich jetzt völlig um und blickte die Mutter mit wachsendem
Staunen an. Dies war die längste Rede, die sie seit vielen Jahren aus ihrem
Munde vernommen hatte.
Nun, sagte sie endlich, du läßt es dir ja auf einmal ordentlich sauer
werden, ihn herauszustreichen. Hast du neulich nicht selbst gesehen, daß er mir
mit geballter Faust drohte, oder daß er die Fensterscheibe zu meiner Kammer
einschlug? Wenn das seine Liebe zu mir ist, dann will ich am liebsten nichts
davon wissen.
Du weißt es recht gut, Martha, daß du ihn selber so wütend machst.
Wenn du nur wolltest —
Unsinn! wenn er mich nur in Ruhe lassen wollte, würde ich ihm auch
keinen Schaden thun. Ich habe ihn nicht gebeten, mich zu nehmen, und
wenn er meiner überdrüssig ist, so kann er mich ja laufen lassen!
Sie schleuderte heftig die fertige Flechte über die Schulter, wie um das
Gespräch zum Abschluß zu bringen.
Aber um erhob sich die Mutter langsam und mit ungewöhnlicher
Sicherheit von ihrem. Stuhl und trat dicht vor sie hin. Mit raschem Griff
umfaßte sie ihre Hand, sodaß sie zitterte und blickte ihr fest in die Augen.
Wem bist dn neulich im Walde begegnet?
Martha erbleichte. Sie wollte sich losreißen. Das geht niemand etwas
an — Laß mich los!
Aber die Mutter gab nicht nach.
Martha! Nimm dich in Acht! Nimm dich in Acht! Ich rate es dir! Hast
du dir ein Unglück angethan? Was in aller Welt hast dn vor?
Laß meine Hand los! rief sie. ^aß meine Hand los! Oder, bei Gott!
ich schlage dich ins Gesicht!
Entsetzt über die plötzliche Leidenschaft im Blick der Tochter taumelte
Ellen zurück. Abwehrend hielt sie die Hand vor sich hin wie in einem letzten,
verzweifelten Flehen. Als aber Martha hinauslief und die Thür lant hinter
sich zuschlug, sank sie schwer und stöhnend auf einen Stuhl.
Hier saß sie noch, als der Weber Zacharias und der alte Violinspieler
- beide in bester Stimmung und festlichen Gewändern — kamen, um sie ab¬
zuholen. Erst weigerte sie sich aufs bestimmteste, mitzugehen, ja sie wollte
sich uicht einmal vom Stuhl erheben, obwohl die beiden Alten sie unter den
Arm faßten; auch redete sie so merkwürdiges, verwirrtes Zeug, daß die beiden
ganz besorgt über ihren Verstand wurden. Und als sie endlich mit ihnen von
dannen wankte, indem sie sich schwer auf den Regenschirm stützte und das
zierlich gefaltete Taschentuch krampfhaft vor den Leib hielt, flüsterten die beiden
Freunde hinter ihre,» Nücken einander mit bedenklicher Miene zu, daß der
— dabei sahen sie sich verständnisvoll an — im. Grunde sehr früh am
Tage genommen sei.
Martha blickte vorsichtig durch die Thür, nud als sie sah, daß sie
allein war, ging sie dnrch die Stuben und schloß sorgfältig die Hintere Küchen¬
thür und ein Fenster im Schlafzimmer der Mutter, dann kleidete sie sich
schnell um.
Aus der Schublade der großen Kommode nahm sie ein Helles, frisch¬
geplättetes Sommerkleid, reine Wäsche, Strümpfe, ein Sammetband mit einer
Bernsteinperle und ein paar andre Kleinigkeiten und trug alles auf den Stuhl
neben dein Spiegel. Ihr Antlitz war noch finster. Aber bald nahm das
Ankleiden sie darart in Anspruch, daß sie die Mutter wie ihre eigne Erregung
vergaß. Ein eigenartiger, fast schwärmerischer Glanz leuchtete wieder aus ihren
Augen. Und ohne es selber zu. wissen, summte sie hin und wieder ein Lied
vor sich hin, während sie ihr Haar im Nacken aussteckte, die Strumpfbänder
befestigte nud die Schuhe zuschnürte. Mit besondrer Sorgfalt strich sie die
schweren, krausen Stirnlocken über die Schläfen und hinter das Ohr. Hier
versuchte sie auch eine Rosenknospe nuzubriugen, aber sie warf sie wieder weg.
Dn fiel ihr plötzlich ein, daß sie in der Schublade zwischen dem andern Zeug
ein Paar Ohrringe gesehen hatte, ein Paar kleine silberne Knöpfe. Sie holte
sie schnell hervor und probirte sie an, indem sie einen Schritt vom Spiegel
zurücktrat; dann nickte sie zufrieden.
Plötzlich errötete sie. Sie entsann sich, daß es ein Lied ihres Vaters
war, das sie eben vor sich hingesummt hatte, vielleicht hatte er es in
eben diesem Zimmer gesungen, vielleicht während die Mutter — Ohne
eigentlich zu wissen, weshalb, schauderte sie leicht bei dem Gedanken, daß
ihr die Melodie gerade jetzt ans die Zunge gekommen war. Aber nach
einer Weile, als sie ihr Kleid angezogen hatte, sang sie wieder mit leiser
Stimme, während sie sich vor dem Spiegel umdrehte und an ihrem Rücken
hinabsah.
Endlich war sie fertig. Sie trug die Waschkumme hinaus und räumte
im Zimmer auf. Aber plötzlich stand sie mitten in der Stube still und preßte
ihre Hände vors Gesicht, wie um sich zu sammeln.
Ja, was war denn eigentlich geschehen? Nun, wenig genug. Als sie
neulich im Walde war, hörte sie plötzlich eine Stimme in ihrer Nähe laut
singen. Hastig verbarg sie sich unter einem Busch, aber gleich darauf ward
ein Zweig zur Seite gebogen, und ein junger, blonder Mann mit einer
Studentenmütze stand neben ihr. Sie sprang auf und wollte fortlaufen; aber
er sah so gut und rechtschaffen aus und bat sie so eindringlich, sich nicht zu
fürchten, daß sie blieb. Sie gingen mit einander bis an den Rand des Waldes,
wo er ihr freundlich die Hand zum Abschied reichte, ja sogar seine Mütze ab¬
nahm, sodaß sie ganz verschämt eine Blume fallen ließ, die sie zwischen den
Lippen hielt. Zwei Tage später, als sie, ohne an etwas zu deuten, über die
Wiese ging, war er wieder neben ihr. Sie hätte beinahe vor Schrecken ge¬
schrieen. Diesmal endete ihre Begegnung damit, daß sie zusammen Wasserrosen
um Ufer des Flusses pflückten; nud weil sie keine Schürze umhatte, in der
sie die Blumen Hütte nach Hanse tragen können, gab er ihr ein seidnes Taschen¬
tuch und bat sie, es zur Erinnerung an ihn zu behalten. Aber schon am
nächsten Tage sah sie ihn auf dem Wege vorübergehen. Und jedesmal, wenn
sie von nun an den Wald betrat, traf es sich wunderbar, daß sie einander
stets auf irgend eine Weise begegneten. Dann gingen sie regelmäßig ein Stück
Weges zusammen, zuweilen saßen sie auch im Grase oder pflückten Erdbeeren;
am Waldessaum aber gab er ihr regelmäßig die Hand und lüftete höflich die
Mütze. Das war alles, was geschehen war.
Und nun hatte er gesagt, daß er heute kommen würde — vielleicht um
Abschied zu nehmen.
Sie setzte sich auf die Bank und nahm ihr Nähzeug zur Hand. Aber sie
warf es gleich wieder hin und stützte den Kopf in die Hände. So saß sie
lange unbeweglich da. Rings um sie her war es still geworden.
Plötzlich erhob sie sich und begann in heftiger Erregung im Zimmer ans
und ab zu gehen. Sollte er etwa gar nicht kommen? War er vielleicht schon
abgereist? Als sie endlich seinen Schritt ans der Diele vernahm, blieb sie stehen
und hielt die Hand vor die Augen; ein leichter Schwindel überfiel sie.
(Fortsetzung folgt)
Noch ein Wort für die Sprachreinigung. Sehr richtig sagt der Aufsatz
in Ur. 40 der Grenzboten, daß es sich bei den Bestrebungen des Sprachvereins
nur um die Ausmerzung der unnötigen fremden Sprachbrocken handele. Das ist
der Kern der ganzen Bewegung, der von der Mehrzahl der Menschen und, was
das schlimmste ist, von denen, die am erfolgreichsten dafür eintreten und wirken
könnten, entweder nicht verstanden oder, wenn dies der Fall ist, nicht gewürdigt
wird. Die Leiter und Schreiber der Tageblätter sind gemeint, die sich den in
dem betreffenden Artikel der Grenzboten bezeichneten, denen, die gar nicht wissen,
daß sie ein Fremdwort gebrauchen, würdig an die Seite stelle», Tag für Tag den
nrteils- und verstandesloseu Leuten die Wörter, die sie meiden sollen, vor Algen
führen, und sie so in ihrer Gedankenlosigkeit und Thorheit unterstützen, statt das
Gegenteil anzustreben mit unermüdlicher Festigkeit. Doch da heißt es stets: „Das
geht nicht so schnell, was sich so eingelebt hat, kann nur nach und nach wieder
schwinde«," und was dergleichen Reden mehr sind, um die eigne Bequemlichkeit
und Gedankenarmut zu bemänteln. Ist es denn aber wirklich eine Unerreichbarkeit
für den Besitzer einer Zeitung, es den Berichterstattern zur Pflicht zu machen, ihre
Aufsätze von französischen Brocken zu säubern? Erfordert es denn so gar viel
Geistesarbeit und Zeit, sich in dem Augenblick, wo das fremde Wort geschrieben
werden soll, zu sagen: du hast ja dafür ein gutes deutsches! Und wäre es schließlich
denn etwas so Undurchführbares, wenn die Blätter an ihrer Spitze die Einsender
ermunterten, in ihren Anzeigen deutsch zu reden, endlich den Chiffres und Dötails,
den Etagen und Parterres u. s. W. den Laufpaß zu geben? Unbegreiflich ist es,
wie Kritiker z. B., unberührt von allen Ermahnungen und trotz ihrer eignen Zu¬
stimmungen zu den Zielen der Neinigungsbewegung, sich von ihren Premiören und
TournüeS u. s. w. nicht losmachen können; eitel, wie ein junges Mädchen sich
hundertmal mit dem neuen Hut im Spiegel besieht, gefallen sich die Herren in
dem widerwärtigsten Prahlen mit völlig unnötigen französischen Bezeichnungen, und
oft hört man den Aufsätzen förmlich das Wohlbehagen an, womit der Verfasser in
den fremden Ausdrücken schwelgt. Nur sehr wenige Zeitungen und, was besonders
beklagenswert ist, nur sehr wenige deutsche Schriftsteller, die doch so unendlich viel
hier vermöge», fasse» die Sache unsrer Muttersprache mit dem Ernst und der Würde
ans, die sie beansprucht; denn abgesehen von der Gedaukeuträgheit, der die Unmasse
französischer Sprachsetzen ihren fortgesetzten Gebrauch verdankt, hat dieser Gebrauch
auch noch eine tiefbeschämende Seite, dn der Deutsche so ganz und gar vergibt,
daß er mit den Sprachstücken einer Nation prahlt, die in ihrer Mehrzahl nichts
als Begeiferung, Drohung und Hohn für ihn hat. Liest man eine Erznhlnng,
deren erster Teil in bürgerlichen Verhältnissen vor sich geht, so genügen: Gemach,
Lehnstuhl, Mittagsmahl,'Halsband n. s. w. vollauf zum Verständnis. Das Hort
aber sofort auf, wenn sich das Bild im zweiten Teil etwa in ein Grafenschloß
verwandelt; wo bleibt da unsre liebe Muttersprache! Sie genügt nicht mehr,
und lwnÄnir, Kmtouil, <W>«»', cMini' u. f. w. treten an die Stelle der guten
deutschen, so verständlichen Benennungen. Und warum? Nun, weil, wie der
Deicksche meint und klar kundgiebt, jene feiner find! Und so zu denken, zu hageln
die eigne Sprache ist zu plump, zu unfein, dessen schämt sich der Deutsche nicht!
Nicht die flüchtige Anwendung eines Fremdwortes, oder der Gebrauch eines solchen
da, wo eben nur die fremde Bezeichnung Sinn und Bedeutung deS Gegenstandes
klar und kurz deckt, das alles nicht, aber dieser angedeutete Wahn - das ist das
Beschauende und Unwürdige an der ganzen Sache. Viel, sehr viel könnte hier
ernster Wille im Bunde mit Druckerschwärze wirken, aber auch in der Familie,
von Vater und Mutter könnte und müßte viel mehr zur Abstellung des Unfugs
geschehe». In der Familie des Schreibers dieser Zeilen wird unter milder, aber
ernster Beobachtung von feiten der Eltern kein unnötiges Fremdwort gesprochen
oder geschrieben, und es geht, geht zur Freude aller Beteiligten ganz prächtig, und
die Kinder, die nun in der Schule auf ihre Mitschüler nach Kräften einwirken,
sind überglücklich bei den Früchten ihrer Lehren, nutzbringend und unterhaltend zu¬
gleich verbringe» wir in dieser Absicht manche traute Abendstunde. Ist es denn
aber mich nicht beschämend, zu denken, daß die ersten Worte, die die Mutter dem
Kinde schon in der Wiege einhaucht, fremde, zum größten Teil französische sind,
oder doch in ihrer Ungestalt sein sollen: „Sag' adjee", sagt die Mutter zu dem
kleinen strampelnden Würmchen schon, das darin lallen kann! Geschieht eine solche
Aufforderung in Bezug auf mich, so stehe ich gar nicht a», in Gegenwart der
Herren Eltern höflich zu sagen: Nein, mein Kindchen, mußt nicht adjee sagen, das
ist ja Unsinn, mußt „Lebwohl" oder „Mit Gott" oder „Gott befohlen" sagen!
Ein kleiner Denkzettel, der schon oft genützt hat und für ähnliche Fälle allen
empfohlen sei, denen es Ernst ist um die Beseitigung des Narrenkleides unsrer
Sprache. Nicht Eitelkeit lenkt des Schreibers Feder/ wenn er wünscht, eine Familie,
in der das leere und elende: „Na, adjee", die ganze Herzlichkeit des Abschiedes
ausmacht, könnte einmal Zeuge sei», wenn unsre Kinder sich verabschieden, konnte
hören, wenn das 11 jährige Töchterchen zur Mutter ungeheuchelt und in trauter
Kindlichkeit: „Behüt' dich Gott, liebe Mutter" sagt, und der 9jährige Junge sein:
»^eb' schön wohl, Vater" uns zuruft, — ich glaube, die Leute mit ihren: nichts¬
sagenden, häßlichen Adjee (oder Hcidjee!) würden erst einen Begriff von der Be¬
deutung eines Grußes, eines oft so schwer »liegenden Abschiedsgrußes bekommen.
Wäre das erst einmal erreicht, wäre die offenbare Wertlosigkeit der unnötigen
Fremdwörter bei solchen Anlässen zum Bewußtsein gelangt, nun, daun wäre zu
hoffen, daß sich der Deutsche bald all der Thorheiten wie: 5. Stück Mark 2,
xor Dutzend Mark 20; oder wie einst in eine,» Dresdener Blatt zu lesen war:
IM Stück u, Mark 1,00, und all der „wiesawie", „retur", „loschiren" u. s. w.
recht von Herzen schämte!
„Von uralten Zeiten her sind uns Betrachtungen über die Entstehung deS
Lebens bekannt, ob dieses einen unmateriellen Ursprung habe oder aus verschiednen
Zusammensetzungen der Materie entspringe. Und diese Betrachtungen dauern bis
heute fort, sodaß kein Ende derselben abzusehen ist, namentlich aus dem Grunde,
weil der Zweck aller Betrachtungen aus den Augen gelassen worden ist, und man
das Leben ohne Beziehung zu seinem Zwecke erforscht; und unter dem Worte
„Leben" versteht man nicht mehr das Leben selbst, sondern das, woraus es entsteht,
oder das was ihm eigen zu sein Pflegt." Das dürfte man als den Text Heraus¬
schälen, über den sich die Predigten dieses Buches verbreiten. Aber es ist doch
kein gewöhnliches Erbauungsbuch. Die seltsame Vvranssetzungslosigkeit, das un¬
gelenke Selbstvertrauen in der Behandlung der höchsten Probleme, gerade das ist
es, Was an ihm fesselt und rührt. Das „Testament Johnnnis" ist oft genng auf¬
gegriffen worden. Wem fiele nicht Lessings herrliches Gespräch ein! Aber der
Verfasser glaubt, daß er es zum erstenmal aufschlage, um damit die Leiden unsrer
Zeit zu heilen. Und das ist das eigentliche Geheimnis des litterarischen Erfolges.
Was aber noch schwerer wiegt, der Verfasser glaubt überdies an seinen Glauben;
nicht aus Profession, nicht aus Parteirücksichten, sondern ans schlichter, ehrlicher
Gläubigkeit. Und das ist wichtiger als der litterarische Erfolg, das ist ein ge¬
schichtliches Phänomen. In diesem Sinne lese man das Buch und lasse das auf
sich wirken, was darin als „Leben" in seinem Kerne hingestellt worden ist. Das
läßt sich begrifflich schwer fassen, und der Verfasser ist weit entfernt, in diesem
Betracht seine Ankündigung zu erfüllen. Aber es ist viel besser so, es ist wiederum
sein Vorzug. Philosophaster und Reformer haben wir genug, sie siud so weise
und immer „ganz neu" in ihren Ansichten. Dieser hier bewegt sich, ein uugelehrtes,
unbeholfenes Kind, unter „Pharisäern und Schriftgelehrten," und was er vorbringt,
ist gar nicht nen. Und doch klingt es so neu, während jene „Neuheiten" nachgerade so
trivial und abgestanden klingen. Denn in dieser Welt des Hasses giebt es zu allen
Zeiten nur eine neue Lehre, die Lehre von der Menschenliebe und von jener andern
Liebe, die nach einem ebenfalls gar nicht neuem Worte ,,stärker ist denn der Tod."
Es ist ganz gut, daß man anfängt, statt der sich schwerfällig dahinwälzenden
ästhetischen Kompendien handliche methodische Zusammenstellungen des Schicksals
der ästhetischen Begriffe und Ausdrücke anzufertigen. Es wäre nicht bloß in dieser
Wissenschaft wünschenswert. Die vorliegende fleißige Schrift wäre noch nutzbringender,
wenn sie kürzer wäre und sich mehr auf ihr Thema beschränkte. Der Verfasser
läßt sich schriftstellerisch gehen, liebt persönlichen und sachlichen Ein- und Ausfällen
zu folgen und stört dadurch die Wirkung der Methode, der er bei seiner Unter¬
suchung gefolgt ist. Auch manches überflüssige Bekannte hätte hier wegbleiben
können, z. B. die Angabe der Lebenszeit bekannter Philosophen.
is in der Sitzung des deutschen Reichstages vom 30. Oktober Herr
von Vennigsen äußerte, die Deutschen im Auslande seien stolz
ans ihr Vaterland, rief Herr Richter dazwischen: „Von außen
sieht sich das Hübsch an!" Und als er am folgenden Tage zum
Worte kam, warf er die Frage auf: „Warum sollen die im Aus¬
lande lebenden Deutschen dafür besonders kompetent sein? Sie tragen zu den
Lasten uicht bei, sie leiden nicht nnter den beschränkenden Maßnahmen der innern
Politik. Sie haben nur den Eindruck, daß das Ansehen Deutschlands im
Auslande gestiegen ist." Darauf erlaubt sich ein im Auslande wohnender
Deutscher einige Worte zu erwidern.
Vor allen Dingen glaube Herr Richter ja nicht, daß alles, was in unsrer
Heimat vorgeht, sich von außen hübsch ansehe. Am wenigsten gewinnt sein
und seiner politischen Freunde Treiben durch die Entfernung. Im Gegenteil,
dann und wann ergötzt uns wohl der Anblick, wie der Führer der „Freisinnigen"
(oder heißen sie vielleicht schon wieder anders? es ist schwer, in solchen Dingen
„auf dem Laufenden" zu bleiben) den Takt erbärmlich schön schlägt, und die
Herren Rickert und Bamberger sich quälen ihm beizustehen. Aber viel häufiger
ergreift uns doch Schamgefühl, wenn wir sehen müssen, daß Männer, die die
Ehre genießen, Vertreter des deutscheu Volkes zu heißen, es gar nicht vertragen
können, daß „das Ansehen Deutschlands im Auslande steigt," es vielmehr für
ihre Aufgabe halten, ihr Vaterland zu schmähen und verächtlich zu machen, wo
sie nur köunen. Wir sind empört bis ins Innerste, wenn gerade solche Männer,
so oft die deutschen Interessen sich mit fremden kreuzen, stets die Anwälte der
Fremden spielen, Deutschland verdächtigen, in ihren Anschuldigungen diejenigen
noch zu überbieten suchen, die sich dnrch deutschen Unternehmungsgeist und
deutsche» Fleiß bedroht fühlen. Wir finde» keinen parlamentarischen Ausdruck
für eine Sprache, wie sie eben jetzt Herr Richter gegen Wißmann für passend
gehalten hat. Unsers Erachtens hätte die Welt an einem Rochefort über¬
genug, und vor allem könnte Deutschland ein zweites Exemplar vor« dieser
Sorte entbehren.
Und wen» Herr Richter fragt, warum gerade wir in diese» Frage» be¬
sonders kompetent sein sollten, so diene ihm zur Antwort: Weil in der Fremde
das Baterlandsgefühl (wenn es überhaupt noch vorhanden ist!) lebhafter nud
kräftiger wird, nicht etwa, wie er von seinem idealistischen Standpunkt aus
urteilt, durch den günstige» Umstand, daß wir nicht nötig haben, unsrer
Steuerpflicht in Deutschland nachzukommen (die meisten von uns entrichten
höhere Steuern in ihren Wohnsitzen), sondern infolge der täglichen Gelegenheit,
zu vergleichen, vorgefaßten Meinungen, nationaler Abneigung und falschen
Borstellungen berichtigend entgegenzutrete». Wir erkennen, daß Übelstände,
die uns zu Hause »»erträglich vorkamen, und die wir für Eigentümlichkeiten
> des Vaterlandes hielten, überall, oft viel drückender, vorhanden sind, und daß
andre Völker so manchen Vorzug, den Nur als selbstverständlich genossen,
schmerzlich entbehren. Wir beobachten das politische Leben und Treiben in
andern Ländern ohne die Brille einer Partei, ohne von eignem oder fremdem
politischen Ehrgeiz geleitet zu werde». Und das Ergebnis der Beobachtungen
ist, daß der Deutsche heute nicht mehr genötigt ist, sich zu wünschen, was die
andern haben. Denn wir statte» anch gern der alten Heimat Besuche ab,
frischen die Eindrücke auf und sehen und hören, wie sich dort alles gestaltet
hat. Nicht alles, wie mau es wünschen möchte, über so gut und besser als
anderswo.
Die Herren, die nicht bitter und hart genug über ihr Land aburteilen
können, thäte» wohl, auch öfter zu reisen, nicht bloß in ihre Wahlkreise, um
mit Gesinnungsgenossen Ansichten auszutauschen, wobei kein Teil gewinnen
oder verlieren kann, weil jeder zurückempfängt, was er giebt; auch nicht bloß
z» Versammlungen von Gesinnungsgenossen ii» Auslande, wie Herr Bebel.
Sie würden dann bestätigt finden, daß überall der größte Mund mit dein
kleinsten politischen Verstände gepaart zu sein Pflegt, daß aber auch überall
der ruhige Bürger seine» Überdruß a» solchem Wesen zu erkennen giebt.
Möchten sie sich doch deu großen Mr. Gladstone, den ssusx locjrmx, in der
Nähe ansehen; und die italienischen Windbeutel, die nach Trieft schreien, ans
das sie kein Recht haben, anstatt nach dem ihnen von Gottes und Rechts
wegen z»kommenden Landstriche, den ihnen der dritte Napoleon in schmäh¬
lichem Schacher abgenommen hat; und die Ungarn, die, wie es scheint, näch¬
stens verlangen werden, daß ihr König, sobald er den Boden ihres Landes
betritt, sich auch in Gedanken nur noch der ungarischen Sprache bediene; und
die andern interesMte» Nationalitäten Österreichs, die der dentschen Freiheit
die russische Knute vorziehen u. s, w. Vielleicht würden sie in den verschiednen
Spiegeln sich selbst so sehen, wie sie uns erscheinen. Auf jeden Fall hätten
sie Gelegenheit, zu bemerken, welche Elemente den Anhang der Helden der
Opposition bilden: bornirte Doktrinäre, die noch immer nicht begriffen haben,
das heute vom Übel sein kann, was gestern nützlich war, für der Sünden
schwerste halten, sich belehren zu lassen, und daher am ingrimmigsten den hassen,
der frühere Irrtümer eingesteht, heiße er Crispi, Tisza, Bennigsen oder wie
sonst, Spießbürger, die über die „beschränkenden Maßnahmen der innern
Politik" brummen (in Italien gehört z, V. zu den unerträglichen „Maßnahmen,"
daß Straßen und Plätze nicht verunreinigt werden sollen, und zu den bedrohten
unveräußerlichen Rechten das, die Singvögel auszurotten und durch Wegfangen
der Fischbrut das Meer zu entvölkern!), endlich alle jenen Armen am Geiste,
die sich durch das Wort Freiheit berauschen lassen und jedem Charlatan zu¬
jubeln, der behauptet, ein Universalmittel gegen die „Lasten" zu besitzen.
Überall klagen heute die Catos in der Presse und aus der Tribüne, daß die
Unabhängigkeit schwinde, die Völker ihre Fürsten und Staatsmänner anbeteten.
Aber daß, wenn wirklich in solchen Klagen ein Korn Wahrheit sein sollte, die
Catos selber die Hauptschuld trifft, wollen sie nicht einsehen. Die verbissene
Rechthaberei und das persönliche Gezänk in den Kanunern und in den Blättern
widert endlich jeden an, umso mehr, als fast überall die Regierenden den
ernsten Willen zeigen, zu helfen und zu bessern, wo es not thut, und da, wo
sie fehlgreifen, die Kritiker auch keinen andern Rat wissen, als Theorien, die
sich in der Praxis als ohnmächtig erwiesen haben.
Das kann sich natürlich nicht auf die neue Staats- und Gesellschafts¬
ordnung beziehen, die die Sozialdemokraten nächstens einzuführen gedenken, denn
deren Wesen wird ja eben so sorgfältig geheim gehalten, wie der eigentliche
Inhalt der Freimaurerei. Ihre Programmreden ähneln den Deklamationen
Catilinas in einem deutschen Trauerspiel, der stets von „dein Gedanken, der
sein eigen ist," spricht, den Gedanken aber vorsichtig für sich behält. Alle
„intelligenten" Arbeiter, versichert Herr Liebknecht, seien Sozialdemokraten.
Ob wirklich Intelligenz dazu gehört, sich zu dem Glaubenssätze zu bekennen,
daß alles anders werden müsse? „Es muß alles verrungenirt werden," sagten
die Ahnen der Berliner Sozialdemokraten. Und nnn Herr Bebel, der ja wohl
der zukünftige Präfekt für Deutschland in der Weltrepublik ist, die keine
Nationalitäten keimt! Das Bemühen dieses Mannes, sich zu bilden, kann nicht
verkannt werden, leider hat er-noch nicht logisch denken lernen. „Die Völker
haben kein Gefallen an den Rüstungen," lind ohne Zweifel wurden Franzosen,
Tschechen, Balkanslawen, Russen es lieber sehen, wenn ihnen gutwillig aus¬
geliefert würde, wonach ihnen der Gaumen steht! „1L7V wurde in allen
Proklamationen betont, daß Dentschland nur mit den französischen Heeren
Krieg führe"; offenbar waren es harmlose unbewaffnete Bürger, die uns bei
Orleans, Se. Quentin, Belfort u. s, w, gegenüberstanden, und gewiß gehört eine
große Verworfenheit dazu, in Deutschland „geflissentlich" die Meinung zu ver¬
breiten, daß Frankreich nur auf eine günstige Gelegenheit zum Kriege warte.
Es ist ja richtig, daß von dem letzten Journalisten bis zu den ersten Ministern
jedermann eine Sprache führt, die ans solche Absicht hinzudeuten scheint, allein
derartige Scherze darf man doch ebenso wenig ernst nehmen wie die furcht¬
baren Rüstungen!
Wer doch auch so glücklich wäre, zum „Volke" zu gehören, d. h. zu den
Wühlern, die mit Stolz Staatsmänner wie Richter und Bebel ihre Vertreter
nennen dürfen!
nsre in Ur. 26 der Grenzboten veröffentlichte Abhandlung „Ost¬
preußen und die Getreidezölle" hat die verschiedenartigste Be¬
urteilung gefunden und, wie bei der Objektivität unsrer Darstellung
zu erwarten war, kaum einer Partei genügt. Der geführte Be¬
weis, daß die geforderte Aufhebung des Identitätsnachweises ein
Truggebilde ist, dessen Verwirklichung unmöglich erscheint, befriedigt weder die
Agrarier noch die Freihandelsleute der Seestädte, und unsre Vorschläge zur
Beseitigung der unbestrittenen Notlage der ostdeutschen Landwirtschaft haben
ebenfalls Anfeindungen erlitten. Auf eine Ermäßigung des Roggenzolles wollen
die Agrarier, auf eine Erhöhung des Weizenzolles alle übrigen Parteien nicht
eingehen. Die Sozialdemokraten fordern Abschaffung aller Getreide- und
Nahrungsmittclzölle, und in dem jetzt lagerten Reichstage sind die lebhaftesten
Verhandlungen betreffs der Kornzölle zu erwarten. Der Staatssekretär des
Reichsschatzamts, Herr von Maltznhn-Gültz, hat bereits bei der ersten Beratung
des Etats erklärt, daß die Kornzölle im laufenden Etatsjahre die hohe Summe
von siebzig bis achtzig Millionen Mark einbringen würden, und nicht bloß die
ReichstngSabgeordncten, sondern alle Politiker sind von der volkswirtschaftlichen
und finanziellen Bedeutung gerade dieser Zölle jetzt noch mehr als früher über¬
zeugt. Das finanzielle Ergebnis wird die Erwartungen des Herrn von Maltznhn
im laufenden Etatsjahre noch bedeutend übertreffen, da er die völlige Miß-
ernte großer Gebiete der östlichen Provinzen noch nicht kennt und gegenwärtig
noch nicht kennen kann. Wäre insbesondre in Ost- und Westpreußen die
Kartoffelernte nicht so ungewöhnlich günstig ausgefallen, wie sie es in Wirk¬
lichkeit ist, dann wäre, wie in Galizien, in großen Teilen der genannten beiden
Provinzen ein Notstand zu erwarten, zu dessen Beseitigung Staatshilfe ein¬
treten müßte. Die Provinzen werden nicht uur kein Getreide ausführen,
sondern — erst im nächsten Frühjahre wird Mangel und Not hervor¬
treten — bedeutende Getreidemassen einführen, und da sich auch die übrigen
östlichen Provinzen in ähnlicher Lage befinden, so wird sich die Einfuhr nicht,
wie Freiherr von Maltzahn annimmt, in den nächsten Monaten verringern,
sondern sie wird sich erhöhen und der Ertrag der Kornzölle sich einer Gesamt¬
summe von hundert Millionen Mark nähern. Allein an Roggen beträgt nach
einer uns vorliegenden Nachweisung die monatliche Einfuhr über eine Million
Zentner, und wir glauben nicht fehl zu greifen, wenn wir die im Etatsjahre
zu erwartende Roggeneinfuhr auf 15 Millionen Zentner oder 7^ Millionen
Doppelzentner (Kilogramm) mit einem Zolle von 5 x 7^ gleich 37^ Mil¬
lionen Mark anschlagen. Trotz dieser riesigen Einfuhr bleibt der Preis des
Roggens hoch, verhältnismäßig höher als der Preis des Weizens. Denn in
den an der Ostsee gelegenen Handelsstädten werden gegenwärtig für je 1000
Kilogramm Weizen 175, für Roggen 160 Mark bezahlt, während das richtige
Verhältnis 175 und 150 Mark betragen dürfte. Diese Erscheinung beruht
darauf, daß der in den östlichen Provinzen erzeugte Roggen zur Ernährung
der eignen Bevölkerung kaum ausreicht, und daß dort Roggen mehr als Weizen
begehrt wird. Die östlichen Provinzen haben stets Überfluß an Weizen, aber
oft Mangel an Roggen. Im Westen, namentlich in den Handelsstädten Köln
und Mannheim, gestalten sich die Preisverhältnisse anders, stets zu Gunsten
des Weizens, wie denn gegenwärtig dort sür Weizen 193, für Roggen 16!>
Mark bezahlt werden, weil dort ein größerer Begehr nach Weizen ist. Durch
die Zollgesetzgebung muß dafür gesorgt werden, daß der stets und alljährlich
vorhandne Weizenüberschuß des deutschen Ostens nach dem Westen geschafft
wird. Über die Erhöhung des Weizeuzvlles allem würde wiederum nur dem
Westen, nicht dem Osten helfen. Nur die gleichzeitige Ermäßigung der Eisen-
bahngetreidetarife würde den Osten in den Stand setzen, seinen Weizeu-
überschnß nach dem Westen zu schaffen und dort den Wettbewerb des fremd¬
ländischen Weizens zu überwinden. Wird ferner erwogen, daß Roggen das
Nahrungsmittel der arbeitenden und armen Bevölkerung, Weizen aber vor¬
herrschend das Nahrungsmittel der wohlhabenden Klassen ist, so dürfte unser
Vorschlag, den Roggeuzoll um fünfzig Pfennige für den Doppelzentner zu er¬
mäßigen und den Weizenzoll um zwei Mark zu erhöhen, wohl gerechtfertigt
erscheinen. Man erhebe auch nicht den Einwand, daß der Noggenban mit
gleichen Kosten wie der Weizenball verbunden sei. Der preußische Finanz-
minister kann und wird beweisen, daß in allen Provinzen Preußens bei der
Grundsteuerveranlagung der Roggenbvden sehr niedrig, bis zu dreißig Pfennigen
für den Morgen, der Weizenbodcn sehr hoch, bis zu 1500 Pfennigen für den
Morgen Reinertrag veranlagt, der Nvggenbvden daher mit sehr niedriger, der
Weizeubvden mit sehr hoher Grundsteuer und mit allen an die Grundsteuer
sich anschließenden Abgaben belastet ist. Diesen Thatsachen gegenüber erachten
Nur die gleiche Berzvlluug des Weizens und des Roggens mit fünf Mark für
deu Dvppelzeutuer für ungerechtfertigt. Auch den Einwand möchten wir be¬
seitigen, daß wir Plusmacherei treiben, d. h. die Staatsfinanzen erhöhen
wollten. Unsre bisherigen wahrheitsgetreuer Darlegungen dürften uns vor
diesem Vorwürfe schützen. Bei Verwirklichung unsers Vorschlages würde der
mutmaßliche Ausfall im Rvggenzvll im laufenden Etatsjahre auf 50 Pfennige ><
Millionen, also 3-^ Millionen Mark, der mutmaßliche Mehrertrag im
Weizenzoll im laufenden Etatsjahre Wohl auf 2 Mark x 3 Millionen,
also 6 Millionen Mark aufschlagen sein. Die Erhöhung des Weizenzvlles
wird aber die Einfuhr ausländischen Weizens bedeutend in der Zukunft be¬
schränken und dann der nach unserm Borschlage zu erwartende Mehrgewinn
an Weizenzvll dem Verlust an Rvggenzoll gleichkommen. Unser Borschlag
empfiehlt sich aber mich dadurch, daß durch die Erhöhung des Weizenzolles
dem Westen Deutschlands geholfen wird. Auch die Landwirtschaft des deutschen
Westens und Südens leidet unter deu gegenwärtig bestehenden niedrigen Ge¬
treidepreisen noch immer, und diese Reichsteile würden durch Erhöhung des
Weizenzvlles wesentlich gewinnen.
Auch der zweite, schon in der frühern Abhandlung gemachte Borschlag,
die Eisenbahngetreidetarife zu ermäßigen, hat mehrfachen Widerspruch hervor¬
gerufen. Man fürchtet insbesondre die Überschwemmung des Westens und
Südens mit ostdeutschem Getreide. Diese Befürchtung trifft in keiner Weise
zu. Der jetzige Getreidetarif beträgt, wie in der frühern Abhandlung nach¬
gewiesen worden ist, bei dem Transport von Königsberg nach Köln nahezu
die Summe des jetzigen Weizen- und Nvggenzolls, nämlich fünf Mark für den
Doppelzentner, wodurch jeder Transport unmöglich gemacht wird. Es ist
innen glaublich und eS wird von uns auch nicht gefordert, daß der Tarif
mehr als um die Hälfte verringert werde. Die Hälfte würde 2,50 Mark für
den Doppelzentner, sür zehn Doppelzentner oder tausend Kilogramm also 25 Mark
betragen. Nun kosten gegenwärtig in Königsberg tausend Kilogramm Weizen
175, Roggen 160 Mark, in Köln dagegen 193 und 163 Mark. Der Königs¬
berger Weizen würde daher bei der zu erwartenden äußerstell Tarifermäßigung
in Köln 175 25 200, der Roggen sogar 160 -I- 25 1L!> Mark kosten,
beide Getreidearten in Köln also viel mehr als das dortige Getreide. Daß
der teure ostdeutsche Roggen jemals auf der Bahn nach dem Westen transportirt
werde, ist gar nicht zu erwarte«. Auch bei dem gegenwärtig im Westen
herrschenden niedrigen Weizenpreise N'iirde Weizen von Königsberg nach Köln
auf der Eisenbahn nicht transportirt werden können. Wenn dieser Preis in
Köln durch Erhöhung des Weizenzvlles auf 210 oder uoch höher stiege,
dann wäre der Transport möglich, und dann wäre dem Osten und Westen
gleichmäßig geholfen. Mit einer Getreideüberschwemnmng des Westens ist dem
Osten, so klug ist man hier, nicht gedient; mau will hier nur, das; das ostdeutsche
Getreide das ausländische Getreide ans dem Westen verdrängt und daß der Westen,
wie man seine Judustrieerzeugnisse im Osten annimmt, auch die Landesprodukte
des Ostens annimmt, hier und dort aber hohe Preise gezahlt werden. Für die
Tariffrage ist anderseits immer und immer hervorzuheben, daß der Transport
auf dem Wasserwege und zwar sowohl auf der See mis auf Flüssen und
Kanälen stets billiger als der Eisenbahntransport ist und bleiben wird, wenn
mich die Bahntarife noch so sehr ermäßigt werden. Wer die Einfuhrlisten von
Hamburg, Köln und Regensburg studirt, wird überrascht werden von der
Masse des dort zu Wasser eingeführten ausländischen Getreides, wogegen die Ein¬
fuhr auf dem trocknen Wege entsprechend klein ist. Ebenso zeigen die Kaunllisteu
von Vromberg, Eberswalde und Brandenburg, welche kolossalen Getreidemasscn
von Osten nach dem mittlern Deutschland, bis nach Sachsen hinein, bewegt
werden. Alle diese großen Getreidetrauspvrte werden auch nach Einführung
niedrigster Eiseubahutarife uicht auf den Eisenbahnen, sondern ans den Wasser¬
wegen stattfinden, und nur das Getreide wird und kann den Bahntransport
wählen, das in größerer Entfernung von der Sceküste und in gleichmäßig
großer Entfernung von schiffbaren Flüssen und Kanälen erzeugt wird. In deu
östlichen Provinzen giebt es derartige Gebiete in geringen Flüchen, denn es
handelt sich dabei nur um die östlichen und südlichen Kreise Ostpreußens, um
einzelne Teile der Provinz Posen und um Oberschlesien, solange die bereits
beabsichtigte Kanalisirung der obern Oder noch uicht ausgeführt ist. Diese
verhältnismäßig geringfügige!, Landesteile werden auch bei günstigster Ernte
eine Überschwemmung des Westens mit ihrem Getreide nicht herbeizuführe»
"»stände sein; die Überschwenuuungsfurcht stellt sich nach allen Richtungen hin
als unbegründet heraus. Man verzeihe aber, wenn Nur an diese Erörterungen
einen Vorwurf gegen die Körperschaften knüpfen, denen der Osten die Zurück¬
weisung aller, auch der dringendsten, Anträge auf Ermäßigung der Eiseubahu¬
tarife zu danken hat, wir meinen die Bezirks- und Landeseisenbahnrüte. Der
Eisenbnhnrat des Direktionsbezirks Bromberg hat in seiner letzten Sitzung vom
27. Juni d. I. die wiederholten Anträge ans Tarifermäsngungen für Getreide
abgelehnt, der Laudeseisenbahnrat hat in seinen letzten Sitzungen vom 7. und
8. Dezember v. J. ganz gleiche ablehnende Beschlüsse gefaßt und wird in seiner
nächsten Dezembersitznng jedenfalls gleiche Beschlüsse fassen. Ein nudreS, den,
Osten günstigeres Verhalten ist bei diesen aus Interessenten bestehenden Körper¬
schaften nicht zu erwarten. Schon in dem Bezirkseisenbahnrate zu Bromberg
bilden die landwirtschaftlichen Abgeordneten die Minderzahl, die Mehrzahl besteht
aus Industriellen und Kaufleuten, insbesondre aus Kaufleuten der Seestädte,
die das Interesse haben, die Getreidepreise herabzudrücken lind vor allein den
Transport nach den Seestädten zu lenken, den Transport nach dem Westen
aber zu erschweren und möglichst zu verhindern. Im Laudeseisenbahnrate wird
die der ostdeutschen Landwirtschaft günstige Minderheit noch weiter verringert,
denn zu ihren Gegnern, den Kaufleuten und Industriellen, gesellen sich anch
die Abgeordneten der westdeutschen Landwirte, die die Konkurrenz des Ostens
fürchten. Soweit die Verhandlungen des Landeseisenbahnrates bekannt ge¬
worden sind, muß jeder nach näherer Erwägung die Gedanken zurückweisen,
die in dieser aus hochgebildeten Personen bestehenden Körperschaft gegen die
Ermäßigung der Getreidetarife vorgebracht werden. Man fürchtet die Über¬
schwemmung des Westens mit dem ostdeutschen Getreide, aber eine genaue
Berechnung, wie sich die Getreidepreise im Osten und Westen verhalten und
wie sich die Transportkosten bei einer Tnrifermäßiguug gestalten werden, wird
nicht aufgestellt. Man fürchtet, daß insbesondre die großen östlichen Mühlen
den Westen mit ihren Mühlenfabrikaten tiberschütten und die westlichen kleinen
Mühlen erdrücken werden. Außer den Bromberger Mühlen, die ihre Fabrikate
zu Wasser jetzt befördern und künftig befördern werden, sind im Osten große
für den Westen gefährliche Mühlen kaum vorhanden. Wenn aber die Mühlen-
industrie des Westens wirklich einen Schutz verlangt, so bestimme mau doch
die billigern Eisenbahntarife nur für das Getreide und schließe die Mühlen-
sabrikate davon aus. Man fürchtet endlich, daß bei Tarifermäßigungen auch
ausländisches Getreide auf inländischen Bahnen befördert werden und dann sicher
die befürchtete Überschwemmung herbeiführen werde. Aber man schließe doch das
ausländische Getreide von dem billigen Eisenbahntransport aus und verlange
Ursprungsatteste. Mit gutem Willen lassen sich alle diese Atigelegenheiten
leicht ordnen. Die Bestimmung der Eiscnbnhntarife ist, was wir anch an
dieser Stelle hervorheben müssen, eine nicht bloß volkswirtschaftlich, sondern
auch finanziell und politisch wichtige Angelegenheit, und gerade darum war die
Verstaatlichung der Eisenbahnen eine Großthat des deutschen Reichskanzlers, die
aber nur dann völlig segensreich wirken kann, wenn die Eisenbahntarife den
berechtigten Interessen aller Landesteile entsprechen. Die berechtigten Interessen
Ostdeutschlands sind oben dargestellt, wir halten die Zurückweisung der wieder¬
holt bei deu Eisenbahnräten ans Tariferinäßlgung gestellten Anträge für un¬
begründet und glauben und hoffen, daß es Mittel geben wird und muß, das
notwendigste Nahrungsmittel, das Getreide, im ganzen deutschen Reiche eisen¬
bahntransportfähig zu machen, was es jetzt nicht ist. Zunächst erscheint aber die
Erhöhung des Weizenzolles notwendig, eine Forderung, der alle politischen
Parteien zustimmen müssen, da sie alle die wohlhabenden Klassen höher be¬
steuern wollen, und der Weizen das Nahrungsmittel dieser Klassen bildet. Eine
Reichseinkommensteuer ist eine Utopie gerade so wie die Aufhebung des
Identitätsnachweises und, wie diese, unmöglich. Wenn unserm Vorschlage nicht
beigetreten wird, so bleibt die wohlhabende Bevölkerung des Reiches auch bei
den Getreidezöllen wie bei allen indirekte» Steuern bevorzugt, die Reichen essen
billigeres Brot als die Armen.
s ist etwa ein Jahr her, daß allgemein bekannt wurde, daß die
französische Heeresleitung ein neues Geschoßtreibmittel an Stelle
des alten ehrwürdigen Schießpulvers nicht nur gruudsntzlich
angenommen, sondern auch eine ganze Kriegsausrüstung davon
schon in den Zeughäusern aufgespeichert habe. Die merkwürdige
Geheimthuerei mit dem neuen Pulver, die so weit ging, daß sogar von allen
großer» Versuchen betreffs der Gebranchsfähigkeit desselben Abstand genommen
wurde, wurde von den französischen Blättern mit der Besorgnis erklärt, die
große Erfindung an die Deutschen zu verraten oder ihnen Aufklärung über
die voraussichtlichen Folgen der neuen Erscheinung zu geben. Im auffallendem
Widerspruch damit berichteten dieselben Zeitungen uns aber auch über die
Eigenschaften des xouclrs L, das den Anfangsbuchstaben des Namens Bou-
langer trägt, obgleich es von dem Ingenieur Vieille erfunden ist. So sagte
l'^vein.' uMtgirv: Nie (1s nouvslls xouÄre) us äouuv pu'uns ers8 lüxöro
vsPsur, dlormtro invisiblo a una al8tkuuz«z un. por g'rlrnäö, et lo vririt, et<z 8»
ävtoimtimr sse vgglvmönt aMMi. Aus dieser Erklärung zog man nun
allgemein den Schluß, das neue Pulver sei annähernd rauch- und knallfrei,
und man kann sagen, daß daraufhin durch die ganze Welt, nicht nur durch
den militärischen Teil derselben, eine Bewegung ging. Das Volksleben hängt
in dem eisernen Zeitalter der allgemeinen Wehrpflicht zu sehr mit allen mili¬
tärischen Einrichtungen zusammen, als daß es unberührt bleiben sollte, wenn
diese eine stärkere Umwälzung erfahren. Daher konnten sich nur wenige Tages¬
blätter von der Erörterung der Folgen der Einführung des rauchfreien Pulvers
ausschließen. Allgemein beurteilte man sie für sehr einflußreich und hielt sie
für um so furchtbarer, als genaueres über die wirklich vorhandenen Eigen¬
schaften des neuen Pulvers eigentlich nicht zu erfahren war; die UnHeimlich¬
keit, das heinitückische Wesen, die in Zukunft dem männermordenden Kampfe
eigen sein sollten, spielten eine große Rolle in allen Betrachtungen. Man
wird auch nicht in Abrede stellen können, daß diese Eigenschaften dem Kriege
zugefallen wären, wen» das Pulver künftighin thatsächlich ohne Rauch und
ohne Knall arbeitete. Da brachten die genauern Nachrichten von der Zu¬
sammensetzung des Vieilleschen Pulvers in Verbindung mit den bei Gelegen¬
heit der diesjährigen Kaisermanöver angestellten Versuchen unsers rauchfreien
Pulvers, durch die wir die Franzosen, wie l'^vonir erbost meint, in prak¬
tischer Erfahrung um mindestens ein Jahr geschlagen haben, größere Klarheit.
Sie war gleichbedeutend mit einer wahren Erleichterung der geängstigten
Gemüter.
Zunächst behielten die Gelehrten doch Recht mit ihrer Vehauptuug, daß
der Schuß der Feuerwnsfe immer knallen würde: das neue Pulver knallt bei
uns und in Frankreich gerade so wie das alte. Bekanntlich entsteht der Knall
nicht etwa dnrch die plötzliche Ausdehnung der Pulvergase, sondern durch das
gewaltsame Eintreten der atmosphärischen Luft in den luftleeren Raum im Rohre
hinter dein fortgeschleuderten Geschoß. Es ist deshalb nicht abzusehen, wie
er durch eine besondre Zusanuuensetzuug des Pulvers beseitigt werden könnte.
Diese bekannte Thatsache hatte man über den Prahlereien der Franzosen völlig
vergessen.
Die Raucherscheiuung des neuen Pulvers ist nun allerdings sehr gering;
sie ist so schwach, daß sie geradezu als nicht vorhanden anzusehen sein wird.
Dieser Umstand muß Veränderungen in der Kriegführung hervorrufen, sie
werden aber nicht annähernd so groß sein, als bei gleichzeitiger Knall- und
Rauchfreiheit.
Die UnHeimlichkeit, die man für die bevorstehenden Kämpfe prophezeite,
wird sich uicht einstellen. Wo die Büchsen munter knallen, ist nicht viel Raum
für sie. Im übrigen haben wir in der taktischen Kriegführung auch bisher
niemals auf den Rauch spekulirt, dazu ist er el» viel zu flüchtiges Ding. Jeder
stärkere Windstoß hätte alle hierhin zielenden Berechnungen leicht über deu
Haufen werfen können. Die Truppe ließ im Gegenteil den Pulverdnmpf theo¬
retisch ganz unbeachtet, obgleich er sich ihr in der Praxis oft genug deutlich
bemerkbar machte; sie kann also auch uicht so übermäßig durch seinen Wegfall
beeinflußt werden. Selbst wenn man aber in dieser Beziehung andrer Ansicht
ist, wird man doch zugeben müssen, daß die einzelnen Folgen der Rauchfreiheit
an sich nicht allzu schwer wiegen. Gehen wir sie einmal kurz durch.
Der Dampf des Schusses füllt in Zukunft weg. Also, werden die in die
Geheimnisse der Schießkunst eingeweihten sagen, kann man von nun an besser
zielen, die Wirkung des Schusses genauer beobachten, sich darnach korrigiren,
endlich besser schießen als früher. Zugestanden. Der Jäger, der auf der
Hühnerjagd eine „Doublette" macheu will oder bei der Treibjad in dichten:
Bestand ans enger Schneise steht, wird durch das rauchfreie Pulver große
Vorteile haben. Eben solche» Gewinn muß man dem militärischen Schützen
bei den Friedensübungen zugestehen. Im Kriege aber liegt die Sache etwas
anders. Da war und ist der Rauch nur ein Nebenumstand unter allen denen,
die das mangelhafte Schießen veranlassen. Viel wichtiger als er ist beispiels¬
weise ans den nahen wirksame» Schußentfernungen die Aufregung der Leute,
auf den weitern die Unsicherheit der Ziele. Beides ist durch die Nauchfreiheit
nicht beseitigt, im Gegenteil.
Die Unruhe der Mannschaften, hervorgerufen durch die schrecklichen Ein¬
drücke der blutigen Vernichtungsarbeit des Todes in ihrer Nähe, durch die
Anstrengungen und vieles andre wird iufobze des fehlenden Pulverdampfes eher
wachsen als abnehmen. Die Unsicherheit der Ziele muß in Zukunft auf Grund
der fehlenden Nauchziele ein weiterer, Wohl zu beachtender Einfluß der
Rauchfreiheit ^ zunehmen. Bisher gab die Dampferscheinnng des Schusses
stets wenigstens die Gegend an, wo der Gegner zu suchen sei: das fällt weg,
und jeder Sachverständige weiß, wie schwer eS ist, Schlitzen, die sich ge¬
schickt benehmen, in einigermaßen günstigem Gelände uns Entfernungen über
l!X> Meter mich nur zu entdecken, geschweige denn ein ordentliches Ziel bei
ihnen herauszufinden. Noch krasser tritt der böse Einfluß des mangelnden
Nauchziels bei dem Feuer der Artillerie zu Tage. Gerade sie, deren Eigen¬
tümlichkeit eine geregelte Feuerleitung fast immer ermöglicht, würde, nicht
mehr durch de» eignen Rauch an der Beobachtung gehindert, die großartigste
Wirkung erzielen können, wenn nicht der Mangel eines Nauchziels auf den
großen Artillerieentfernnngen die Erkennung des Zieles so ungemein erschwerte.
So sehen wir also, wie ein Vorteil der Ranchfreiheit, der des bessern
Schießens, durch einen ihn begleitenden Nachteil, den Wegfall des Nauchziels,
beinahe ausgeglichen wird. Dabei liegt es uns aber fern, bestreiten zu wollen,
daß unter gewissen Umständen die Nauchfreiheit von größtem Nutzen sein kann.
Man stelle sich eine wohlanSgewählte Stellung mit günstigem Vorgelände vor,
wo es dem Feinde nicht möglich ist, seine Linien und Batterien zu verbergen.
Da giebt das rauchfreie Pulver dem Inhaber der Stellung allerdings das
Mittel, jede feindliche Annäherung schlechterdings zu verhindern, denn die
Feuerpausen, die früher durch den sich vor einer derartigen Stellung lagernden
Rauch oft erzwungen wurden und die der Angreifer benutzte, um vorwärts
Boden zu gewinnen, sind in Zukunft nicht mehr notwendig.
Auf Grund der letzterwähnten Überlegung ist die Ansicht entstanden, daß
die Verteidigung durch das rauchfreie Pulver dein Angriff bis zur Unmöglich¬
keit der Durchführung desselben überlegen geworden sei. Wenn dies richtig
wäre, so dürfte kein verständiger Mensch künftig mehr an den Augriff denken,
und da Krieg führen angreifen heißt — Verteidigung ist nur Krieg dulden —,
so würde es keine Kriege mehr geben, Nur wären in der goldnen Zeit des
ewigen Friedens angelangt. Jeder wird wohl zugeben, daß nur so weit noch
nicht sind. Ja wir gehen noch weiter, indem wir behanptein die Verteidigung
hat durch das rauchfreie Pulver keinen großen Gewinn; der Beweis dafür ist
einfach der, daß infolge der neuen kleinkalibrigen Waffen der Angriff unmittelbar
gegen die Front der Verteidigungsstellung schon jetzt aussichtslos war, und
daß es einen Steigerungsgrad von aussichtslos nicht giebt. Aber auch noch andre,
triftigere Gründe stehen uus zur Seite. Erstens hat mit der Unangreifbarkeit
der Verteidigung der Angriff insofern gewonnen, als es ihm leichter ist, ohne
Besorgnis vor Gegenstößen des Verteidigers gegen seine schwächern Stellen,
dort, wo er nur hinhaltend fechten will, seine ganze Kraft auf die schwachen
Punkte der Verteidigung, seien sie in Front bedecktes Gelände vor der
Stellung u. s. w. —, seien sie in der Flanke, zu richten und so Erfolge durch
die Übermacht oder durch die Gunst des Geländes oder durch Überraschung
an einer Stelle davonzutragen. Das genügt dann, denn man darf nie ver¬
gessen, daß die Verteidigung mir siegreich ist, wenn sie überall die Oberhand
gewinnt, daß der Angriff dagegen siegt, sobald er an einer einzigen Stelle
durchdringt. Sodann muß der Angreifer oft Gelegenheit haben, seine vorzüg¬
liche Waffe besser auszunutzen, als der Verteidiger, da die festen Stellungen
des letztern häufig eher zu erkennen sein werden, als die im Gelände ver¬
schwimmenden Linien des erster».
Eine ganz ähnliche Wechselwirkung wie bei dein Wegfall des Rauchs in
seinen Eigenschaften als Beeinträchtiger der Schußwirkung und als Nanchziel
finden wir bei dem zukünftigen Verschwinden der Dampfmnsken und Dampf¬
linien. Wir sind wohl dem Leser zunächst eine Erklärung dieser technischen
Ausdrücke schuldig. Man bezeichnet in der militärischen Sprache den Rauch
als Maske, wenn er die Bewegungen der Truppen hinter seinem Schleier
verbirgt, und versteht unter Dampflinien die Rancherscheinung bei fechtenden
Abteilungen, die deren Aufstellung bezeichnen. Natürlich wird mau auch hier
auf den ersten Blick meine», der Wegfall des Dampfes müsse uur Vorteile
bringen. Wir werden aber gleich sehen, daß das nicht der Fall ist. Erledigen
wir zunächst die Dampfmasken. Ihr Schutz mag früher bedeutend gewesen
sein, in der jüngsten Vergangenheit war er es infolge der gestreckten Flugbahnen
der neuesten Gewehre nicht mehr. Im Frieden sieht man Wohl Verschiebungen
der Truppen unmittelbar hinter der ersten Linie stattfinden, im Kriege würden
sich diese einfach von selbst verbieten, denn der Rauch beschränkt zwar das
Ange des Gegners, hält aber seine Geschosse nicht ans. Die Reiterei war
eigentlich die einzige Waffe, die ans den Dampfmasken bis in die letzte Zeit
herein noch wirkliche Vorteile zu ziehen hoffte. Sie glaubte sie zu Über¬
raschungen, die ja eine Vorbedingung für ihr wirkungsvolles Eingreifen in
das Gefecht sind, ausnutzen zu können, und man wird zugeben, daß sie durch
ihren Wegfall schwer geschädigt wird. Die Möglichkeit der Schlachtenthätigkeit
der Kavallerie erleidet wiederum Einbuße. Vielleicht werdeu manche meinen:
desto besser, da»» wird sie sich noch eifriger ihrem eigentlichen Gebiet, dem
Aufklärungsdienst, zuwenden. Ja, wenn der sich nur nicht auch gegen das
rauchfreie Pulver schwieriger gestaltete! Es ist eine ganz andre Sache ans
einem Patrouillenritt, wenn man plötzlich beschossen wird, sofort an der Rauch-
erscheinnng zu merken, wo der Feind steht, als die Kugel pfeifen zu hören,
ohne genau zu wissen, woher sie kommt. Das ermutigt nicht gerade zu be¬
sonders keckem Vorgehen, und anderseits erschwert der Mangel der Nauch-
erscheinnng beim Gegner die Beurteilung desselben, macht Meldungen über
ihn viel schwieriger.
Wenden wir uns nnn zu den Dmnpflinien. Wie klar und deutlich, wird
der Laie sagen, muß ein Gefechtsfeld vor dem Beobachter liegen, dessen Über¬
sichtlichkeit durch leine Nauchansammlungen gestört wird. Und gewiß, die
Felder, auf denen die Kämpfe sich in Zukunft abspielen werden, werden über¬
sichtlicher sein, aber keineswegs die Gefechtsfelder. Bisher hatte die höhere
Führung für ihre Beobachtungen an den Dampflinien den hauptsächlichsten
Anhalt. Die dünnen Dampfwolken des Gewehrfeners, die dichteren Massen
des Geschützrauches bezeichneten, vom Standpunkte der höhern Führer aus
gesehen, ziemlich genau nicht nur die Lage bei den eignen Truppen, sondern
auch beim Feinde. Es war nicht schwer, zu erkennen, wie weit sich in der
Breite das Gefecht erstreckte, und oft sogar möglich, festzustellen, wo feindliche
Verstärkungen eingriffen, wo solche auf der eignen Seite nötig wurden. Alles
das wird künftig nicht mehr sichtbar sein, und dieser Verlust kann durch
die Klarheit, womit das Auge des Feldherrn über das Feld der Schlacht
streifen wird, nicht ersetzt werden. Die hierdurch hervorgerufene Gefahr der
Leitungslosigkeit der Kämpfe lag ja bei den voraussichtlichen Riesenschlachteu
der Zukunft schon ohne die Rauchfreiheit vor. Gefechtsfrvnten, in denen fünf
bis acht Armeekorps in erster Linie fechten, die also sehr Wohl bis zwanzig
Kilometer Ausdehnung haben dürften, wären anch mit den besten Ferngläsern
und mit deutlicher Rancherscheinung des Feuers von einem Pnnkte aus nicht
»lehr zu beobachten. Aber die Gefahr ist jetzt einschneidender geworden, weil
selbst einzelne wichtige Vorgänge auf den Schlachtfeldern nicht mehr genan mit
dem Auge verfolgt werden können, und weil das Hilfsange der hohen Führer,
der Aufklärungsdienst, selten ergiebig sein dürfte.
Irgend welcher aus der Rauchfreiheit entspringende Gewinn für die höhere
Führung steht den geschilderten Nachteilen nicht gegenüber. Denn was man
auch vom Durchsehen bis ins Innerste des Gegners und mit ähnlichen Schlag-
Wörtern sagen möge, es steht fest, daß die hohe Führung im Gefecht häufig gar nichts
selbst erblicken wird. Damit hört ihre Wirksamkeit dort zum großen Teile auf.
An ihre Stelle muß die Selbständigkeit und Selbstthätigkeit der niedern Führer
treten. Gott Lob, daß diese in unsrer Armee von jeher zur Initiative erzogen
worden, daß ihnen der Grundsatz frischen Handelns ohne viel Fragen und Be-
denken unauslöschlich eingeprägt ist. Aber nicht allein die Thätigkeit der höhern
Führung im Gefecht ist beeinträchtigt, auch die vor dein Gefecht, die sich auf die
Bereitstellung der Streitkräfte zur Entscheidung bezieht. Je weniger von Gegner
bekannt ist, je weniger mau von seinen Maßnahmen gehört hat, desto schwie¬
riger ist sie, und vom Feinde wird vor dein Gefecht in Zukunft weniger als
früher zu erfahren sein, weil der Anfklnrnngsdienst mühevoller und trotzdem
unergiebiger geworden ist. Selbstverständlich muß die höhere Führung trotzdem
die Gefechtsleitung in der Hand behalten. Ausgiebige Zurückstellung von
Reserven wird dazu das beste Mittel sein, damit sie dort eingesetzt werden
können, wo es dem Führer nötig scheint, dem Gefecht Nachdruck zu geben.
Das klingt ganz einleuchtend. Aber woran soll man erkennen, wann die
richtige Zeit gekommen ist, wo der günstigste Ort zur Verwendung der Reserven
sich befindet? Hier liegt noch eine große Schwierigkeit. Bevbachtnngsoffiziere in
Fesselluftschiffen mögen unter günstigen Verhältnissen auch im Bewegungskrieg
Vorteilhaftes leisten, vorläufig würde man sich jedoch noch nicht auf sie verlassen
können. Dafür sind auf alle bedeutenden Punkte des Gefechtsfeldes besondre
Organe der höhern Führung zu entsenden, aufs genaueste vertraut mit den
Absichten der letztern und ausgerüstet mit allem Nötigen, um die Verbindung
mit der höhern Stelle stets aufrecht zu erhalten. Sollten besonders ausge¬
wählte Offiziere zu diesem Zweck nicht genügen, was wahrscheinlich ist, so muß
die Technik des Verkehrswesens Abhilfe schaffen, sie findet hier ein weites Feld
für ihre Erfindungsgabe. Am Ende aber wird man sich darauf verlassen
müssen, daß das gottbegnadete Führergenie der Zukunft den Ausweg aus
diesem Labyrinth der Schwierigkeiten finden werde.
Einfacher als für die höhere Führung sind die Vorschläge zur Abwehr
und zur Ausnutzung der Folgen des ranchfreien Pulvers für die Truppe.
Vergegenwärtigen wir uns zuerst noch einmal, was wir in dieser Beziehung
für die einzelne Waffengattung festgestellt haben. Infanterie und Artillerie
werden eigentlich wenig durch die Rauchfreiheit beeinflußt. Die Vor- und
Nachteile sind für diese Truppen derart, daß sie sich im allgemeinen gegenseitig
aufheben. Wir wollen damit nicht bestreiten, daß unter gewissen günstigen
Umständen die wirkliche Ausnutzung der Feuerwaffen erst jetzt bei der Rauch¬
freiheit möglich sein wird. Wir glauben aber nicht an das häufige Eintreten
solcher günstige» Umstände, sondern meinen vielmehr, daß sie nur ganz ver¬
einzelte Ausnahmen bilden werden.
Die Kavallerie hat schwerer nnter dem neuen Pulver zu leiden als die
beiden andern Truppengattungen; ihr Hauptvorzug, die Überraschung, wird ihr
zum Teil genommen. Sie muß diesen Verlust einzubringen suchen, und das
wirksamste Mittel dazu besteht darin, sich auf dem Schlachtfelde vor dem Augen¬
blicke des Eingreifens möglichst unsichtbar zu machen. Da dies nun nicht auf
die Weise angeht, die von französischen Fachzeitschriften ernsthaft besprochen
Wurde, nämlich durch Vorhalten von Schilden oder — mer^clidNe allow — Er¬
zeugung künstlicher Rauchwolken, so bleibt mir die sorgsamste Ausbeutung der
Geländevorteile zur Erreichung dieses Zweckes übrig, die übrigens auch den
beiden andern Truppengattungen nicht warm genug ans Herz gelegt werden
kann. Das Benehmen unsrer Truppen im Kampfe muß künftig dem der
Indianer ähnlich werden. Je mehr sie so fechten lernen, umso mehr werden
sie in der Lage sein, die Vorteile der Rauchfreiheit ohne ihre Nachteile zu ge¬
nießen. Daß Infanterie und Artillerie sich hierbei durch Geländcbearbeitung
helfen, wo sie irgend denkbar ist, ist natürlich. Indes glauben wir deshalb
nicht an sehr viel ausgedehntere Anwendung der Feldbefestigungen, als bisher
auf Grund der neuern Waffenverbesserungeu für notwendig erachtet wurde,
weil bei ihnen die Zweischneidigkeit des Einflusses der Rauchfreiheit wieder zur
Geltung kommt. Wenn nämlich diese Befestigungen nicht ganz vorzüglich aus¬
geführt werden, so schaden sie dein glücklichen Inhaber weit mehr dadurch, daß
sie seine Stellung dem Feinde infolge ihrer leichten Erkennbarkeit verraten,
als daß sie ihm durch ihre» Schlitz nützten. Der Angreifer, der den auf dem
gewachsenen Boden eingenisteten Verteidiger vielleicht kaum erkennen könnte,
findet in der Crete eines nufgeworfeuen Deckungswalles häufig ein ausgezeich¬
netes Ziel!
Aber nicht allein durch die eben besprochene Ausnutzung des Geländes,
auch durch entsprechende Art der Bekleidung muß das Verschwinden unsrer
Truppen im Gelände erleichtert werden. Die deutsche Armee besitzt gegen¬
wärtig viel zu auffallende Bekleidungs- und Ansrüstnugsstücke. Einen roten
Husaren sieht man als Glühwiirmchen ans zwei Kilometer im Gelände herum¬
streichen, die glänzenden Beschläge der Kopfbedeckungen blitzen im Sonnen¬
schein auf noch größere Entfernungen hin. Da ist Abhilfe nötig.
Ferner wird in Bezug auf den Aufklärn ngsdienst die Reiterei ihre Mann¬
schaften noch tüchtiger durchzubilden haben als bisher, mehr und verstärkte
Erkundigungstrupps (Patrouillen) aussenden und sie mit den schärfsten Fern¬
gläsern ausrüsten müssen. Die Hauptsache wird aber sein, daß sie ihren Leuten
die nötige moralische Widerstandskraft gegen die Folgen der Ranchfreihcit, die
wir besprochen haben, verleiht, lind dies führt uns schließlich zu einer Folge
des rauchfreien Pulvers, die wir bisher nur gestreift haben, obgleich sie von
vielen für die wichtigste gehalten wird. Wir »reinen den moralischen Einfluß.
Die Ansichten darüber gehen vollständig auseinander, eine Entscheidung aber
lst ohne die Erfahrung des Ernstkampfes unmöglich. Sicher dürfte soviel sein,
daß es nicht leicht sein wird, die Leute an dem Anblick der in Zukunft viel
deutlicher sichtbar werdenden furchtbaren Szenen der Schlacht zu gewöhnen,
aber ebenso sicher, daß bei dem Einzelnen dnrch die Rauchfreiheit das Bewußt¬
sein der Zusammengehörigkeit mit dein Ganzen gefördert wird. Jedenfalls
steht fest, daß die Zuknnftskämpfe sowohl hinsichtlich des Gebrauchs der kom-
plizirten Waffen, als auch des Eindrucks der riesigen Verluste zu ihrer glück¬
liche!: Durchführung Truppen von vorzüglicher Beschaffenheit verlangen.
Wir sind also auf dem richtigen Wege, wenn wir nicht uur die Zahl
unsrer Streitkräfte, sondern auch die Beschaffenheit derselbe» zu heben bestrebt
sind. Nur gute Truppen werden Großes vollbringen, mittelmäßige oder gar
mangelhafte werden niemals den erforderlichen moralischen Halt haben, mögen
sie auch noch so zahlreich sein.
In: übrigen behält beim rauchfreien Pulver das alte Sprichwort Recht:
Es wird nichts fo heiß gegessen, wie es gekocht wird.
harakterbilder, von Freunden der Originale dargeboten, pflegen
einerseits einem günstigen Vorurteil, anderseits aber anch einem
gewissen Bedenken zu begegnen, zumal wenn der Gegenstand des
Gemäldes nicht mehr unter den Lebenden weilt. Der Maler
hat, sagen uur uns, als Freund diesen seinen Gegenstand häufiger,
länger und aus größerer Nähe beobachten können als andre, aber er hat ihn mit
den Angen des Freundes, also mehr oder minder befangen gesehen oder mit
der rücksichtsvollen Hand eines solchen dargestellt, wobei nur oder doch vor¬
züglich die erfreulichem Züge zur Geltung kommen. Mit solchen Gedanken
lasen wir die Anzeige der kleinen Schrift, die in diesen Tagen unter dem Titel
Der Kronprinz und die deutsche Kaiserkrone. Erinnerungsblätter von
Gustav Freytag (Leipzig, Verlag von S. Hirzel) erschienen ist. Aber wir
fanden uns in verschiedner Hinsicht beim Durchlesen der Schrift selbst euttüuscht;
namentlich unsre zweite Voraussetzung traf nicht zu, der Verfasser hat viel¬
mehr auch solche Züge im Charakter des verewigten fürstlichen Herrn wiederge¬
geben, die ein andrer befreundeter Beobachter wohl als bedenklich weggelassen
hätte. Weit davon entfernt, ihm das zu verübeln, danken wir ihm vielmehr
für die Überwindung, die es ihm ohne Zweifel gekostet haben wird, nach Mög¬
lichkeit die volle Wahrheit zu berichten. Er hat damit für die Geschichte ge¬
arbeitet und ihr ein Bild geliefert, das ausnahmsweise, obwohl von Freundes¬
hand ausgeführt, ja gerade deshalb, besondern Wert besitzt. In der Freude
darüber fragen wir auch nicht nach den Gründen, die ihn veranlaßt haben
könnten, der Wahrheit in so auffälliger Weise die Ehre zu geben, und begnügen
uns mit der etwas pathetischen Versicherung des Verfassers, daß er „nicht im¬
stande sei, vor der höchsten Erdenhoheit sein Urteil gefangen zu geben," und
daß er glaube, „daß den Gebietern unsers Staates besser gedeihen muß, über
solche zu herrschen, welche sich eine selbständige Auffassung bewahren, als über
die, welche Nacken und Meinung gefügig beugen." Andernfalls hätte sich wohl
eine Erklärung in ähnlichen erstaunlichen Erscheinungen der jüngsten Zeit suchen
lassen, z, B. in den Broschüren „Mitregenten und fremde Hände in Deutsch¬
land" und „Auch ein Programm ans den 9!» Tagen," mit deren Verfasser
Freytag gleichermaßen befreundet und gesinnungsverwandt ist. Aber gleichviel,
man muß nicht zu viel wissen wollen, und man darf Vergangnes vergessen, wenn
die Gegenwart erfreut. In dieser angenehmen Stimmung rechten wir auch darüber
nicht mit dem Verfasser unsrer Flugschrift, daß er ihr, wohl nur, um ihr eine
etwas ansehnlichere Seitenzahl zu verschaffen, als Anhang einige alte, schon abge¬
druckte Aufsätze, die teils wenig, teils gar nicht unter deu Titel passen und
überhaupt von geringer Bedeutung sind, und ein ebenfalls schon gedrucktes
Gedicht beigegeben hat, das keinen Anspruch darauf hatte, wieder ausgegraben
und aufgehoben zu werden.
Was über das Hauptthema, die Stellung des Kronprinzen zur Kaiser¬
frage, nach Erinnerungen ans den Tagen mitgeteilt wird, wo Freytag seinen
fürstlichen Freund von der Grenze bis nach Reims begleitete, ist zwar unvoll¬
ständig, aber neu und zum Teil sehr wichtig, insofern als es mehr Licht und
ein ganz verschiednes Licht ans die Beweggründe wirft, nach denen der Kron¬
prinz sich für die deutsche Kaiserkrone begeisterte, als Dr. Gesfkcn, ein andrer
Freund des verewigten Herrn und Freytags, mit seiner berüchtigten Veröffent¬
lichung über dieses Interesse zu verbreiten suchte. Im Folgenden geben nur
eine Zusammenstellung des hauptsächlichsten aus jenen Mitteilungen, wobei wir
uns bisweilen etwas zwischen den Zeilen zu lesen erlauben werden, unser
Ergebnis aber Wohl für uns behalten dürfen, da wir sicher sind, daß unsre
Leser dasselbe thun und ähnliches gewahren werden.
Am 11. August machte das Hauptquartier, mit dem Freytag in den Krieg
gezogen war, in dein Vogesendorfe Petersbach einen Rasttag, und der Kron¬
prinz hatte mit Freytag hier vor seinem Quartier eine Unterredung, wobei er
zunächst von einer Denkschrift für deu Bundeskanzler sprach, in der er diesem aus¬
einandergesetzt hatte, was ihm als nach Beendigung des Krieges für Deutschland
wünschenswert erscheine, und die er Freytag einige Tage zuvor zu lesen gegeben
hatte. Dann begann er: „Und was soll mit Deutschland werden, welche
Stellung soll der König von Preußen nach dem Kriege erhalten?" Der Ge¬
fragte antwortete: „Wenn es ein Friede wird, wie wir ihn jetzt hoffen dürfen,
so ist die Mainlinie kein Hindernis mehr, die Süddeutschen können unter ähn-
lichen Bedingungen une die Staate» des Nordhundes in den Bund treten, und
wir dürfen hoffen, daß sie dies selbst wollen, wenn auch nicht sämtlich so warm
wie Baden," Das fand der Kronprinz selbstverständlich, aber er fragte wieder:
„Und was soll der König von Preußen werden?" Freytag erwiederte: „Kriegs'
l>err des neuen Bundes, Braucht man dafür einen Name», so wird dieser sich
wohl finden. Im Notfalle kann man ja eine uralte volkstümliche Bezeichnung
zu neuer Ehre erheben und den königlichen Titeln die Worte Herzog von
Deutschland beizufügen. Die Preuße» begehren für ihren König keinen neuen
Name», nur die Macht." Da aber brach der Kronprinz stark heraus, und sein
Ange leuchtete. „Nein, rief er ans, er muß Kaiser werden!" „Betroffen sah
ich ans den Herrn, erzählt der Verfasser weiter; er hatte seine» Generalsmaiitel
so umgelegt, daß er wie el» Köiiigsmaiitel seine hohe Gestalt umschloß, »ut
»in de» Hals die goldne Kette des Hohenzollernordens geschlungen, die er doch
sonst in der Ruhe des Lagers nicht zu tragen Pflegte, und schritt gehoben
(wir würden das, wen» wirs i»s Englische zu übertragen hätten, mit ^irntioll
wiedergeben) ans dem Dorfanger dahin." Tableau, bei dem wir begreifen
würden, daß „der Hörer diesen Ausdruck warmen Begehren? bei de»? künftigen
Könige von Preußen ohne Begeisterung vernahm," auch wenn er das nicht
mit geschichtlichen und politischen Gründen motivirte. „Den Einwarf, daß die
süddeutsche» Könige schwerlich »lit solcher Einrichtung zufrieden sein würden,
beantwortete der Herr mit der Annahme, daß bereits die Macht vorhanden sei,
Widerstrebende zu nötige». Die naheliegende» Bedenke» hiergegen hörte er
geduldig n»; dann wurde er selbst beredt und sprach von der Bedeutung und
hohen Würde des deutscheu .Kaisertums; daß die Kaiserwürde zuletzt ein Wert
»»d Ausehe» gering geworden sei, räumte er ein, »aber das soll jetzt anders
werde»,« Er gab bereitwillig zu, daß die Wiederbelebung des Kaisertums
etwas weit besseres schaffen müsse, als i» früher» Jahrhunderten bestanden
habe, konnte aber nicht dem Gedanken entsagen >seinem Hauptgedanke» »»d
ersten und letzten Beweggrund bei der Sache, wie man sieht>, daß der Kv»ig
vo» Preußen als Kaiser vo» Deutschland Erbe der alten tausendjährigen
Würden »ut Ehren sei» werde," Dies und ähnliches wurde lauge verhandelt,
nicht alles zum erstenmale; denn schon während des Reichstags von 1867
hatte der Kronprinz einer Auseinandersetzung Freytags, i» der er seiner bürger¬
lichen Auffassung des fürstlichen Berufs Worte gegeben hatte, dadurch ein Ende
gemacht, daß er lebhaft herausgebrochen war: „Hören Sie an. Als ich während
der französische» Ausstellung mit mei»e>» Vater in Paris war, sandte Kaiser
Napoleon die Anfrage: Da der Kaiser von Rußland seinen Besuch angekündigt
habe, so wünsche er von dem Könige zu erfahren, wie dieser es mit den Rang-
-Verhältnissen der hohen Gäste gehalten haben wolle, er, Napoleon, werde alles
nach dem Wunsche des Königs einrichten. Da antwortete mei» Vater: »Dein
Kaiser gebührt immer der Vorrang.« — »Das soll aber kein Hohenzollern
sagen, und das darf für keinen Hohenzollern gelten,« schloß er heftig. Diese
Worte, schließt Freitag seine Mitteilung, gestatteten, tief in sei» Gemüt zu
sehen, er war erfüllt von dem fürstlichen Stolze, der das Höchste für sich be¬
gehrt, und die höchste fürstliche Stellung war für ihn die unter der Kaiser¬
krone, So tief war diese Forderung in seinem Wesen begründet und so eng
verbunden mit seiner Auffassung von fürstlicher Hoheit, daß alles weitere Ein¬
reden nichtig sein mußte." So verhalt sichs auch in Petersbach, Wenn er
dort und später an die Kaiserkrone dachte, so stand ihm dabei Erhöhung des
Glanzes seines Hauses und sein eignes Zukunftsbild vor Auge», aber nicht
oder doch nur sehr entfernt die Einheit Deutschlands und seiner Lebensinter-
essen, die diese Krone für uns in sich birgt und versinnbildlicht; wenigstens
enthalten die Berichte Freytags nichts, was von solcher patriotischen Auffassung
der Angelegenheit erzählte oder mit einiger Sicherheit darauf schließen ließe.
Daraus Folgerungen zu ziehen, überlassen wir unsern Lesern; es lassen sich
viele und darunter sehr wichtige daraus gewinnen.
Aus den Bemerkungen, die der Verfasser aus späterer Erfahrung hinzu¬
fügt, hebe» wir zunächst folgende hervor. Das Gemüt des Kronprinzen war
„weich und warm, menschenfreundlich und opferbereit, und wo er vertraute,
gab er mehr von seinem Wesen als wohl el» andrer Fürst. Aber untilgbar
haftete in seiner Seele die herkömmliche fürstliche Anfsnssuug von Rang und
Stand; wo er Veranlassung hatte, sich an seine eignen Ansprüche zu erinnern,
war er hochfahrender als andre seiner Standesgenossen, und wo er nicht
gemütlich stark angezogen wurde oder durch volkstümliches Gewähren wirken
wollte, betrachtete er die Menschen unwillkürlich nach deu Abstufungen, welche
die Monarchie auch denen zuleiten mochte, die nicht im Dienste stehen.
Er scherzte gern über die feinen Unterschiede und Bedeutungen der preußischen
Orden und Bänder, ihm selbst aber wäre es als eine ernste Sache erschienen,
den unfertigen Schwanenvrden, der durchaus nicht gelingen will, und ähnliches
einzurichten, was die Stufenleiter aller, die unter dem Regenten stehen, ver¬
längert. Einzelheiten der Zeremoniells, Einrichtung von Festlichkeiten, bei
denen der Fürst sich als Mittelpunkt Prächtig darstellt, waren für ihn von
Wichtigkeit, sein Banner und am Ende des Jahres 1870 die Erfindungen
Stillfrieds, eigne Krone und neue Wappen für ihn und die Kronprinzessin,
wären ihm ernste Angelegenheit." Der Kronprinz hatte in der oben erwähnten
Denkschrift für den Bundeskanzler „sich enthalten, etwas von dem zu erwähnen,
was für ihn das Wichtigste war." Erst am 20. August, wo er in das große
Hauptquartier nach^Nancy gefahren war, hat er davon gesprochen Sulche zum
Kanzler, der sich gar nicht in Nancy befand^, und in Reims sagte er, „daß
Graf Bismarck den Gedanken zu wohlwollender Erwägung aufgenommen habe."
Freytag meint, daß der letztere „als Preuße gerade keine Begeisterung für solche
Prächtige Zugabe zu wirklicher Macht gehabt haben wird, und daß er als
Staatsmann für unzweckmäßig gehalten hat, sich die Freiheit des Entschlusses
durch irgend eine Verpflichtung zu beschränken, daß er aber den Herzenswunsch
des Thronfolgers jder inzwischen, wie unsre Leser wissen, eine wesentlich andre
Gestalt angenommen hattej allmählich aufnahm und in seiner Weise möglich
und durchführbar machte." „Jedenfalls sagt Freytag war er es, der
dem Gedanken, soweit er ihm zweckmäßig erschien, zum Leben verholfen hat.
Der Kronprinz aber bewahrte die Auffassung, daß die neue Kaiserwürde nur
dann die rechte Weihe erhalte, wenn sie als Fortsetzung jener alten römisch¬
kaiserlichen Majestät betrachtet werde, und er war eS, welcher bei der
Eröffnung des ersten deutschen Reichstags 1871, zum Erstaunen der Abge¬
ordneten, den uralten Stuhl der Sachsenkaiser in die moderne Eröffnungs¬
feier hineinschob."
Von dem Verhältnis des Kronprinzen zu seiner Gemahlin berichtet Freytag
wiederholt. Wir geben nur folgendes wieder. „Seine Hingabe und Unter¬
ordnung s!j unter die geliebte Frau war eine völlige. Sie war die Herrin
seiner Jngend, die Vertraute aller seiner Gednukeu, seine Ratgeberin, überall,
wo sie Rat zu geben geneigt war. Anlage der Gärten, Schmuck der Wohnung,
Erziehung der Kinder, das Urteil über Menschen und Ereignisse j!j, alles richtete
er nach ihrer Persönlichkeit. Durch glückliche Jahre hatte sie mit Eifer und
zuweilen mit Geduld dahin gearbeitet, in der Seele des Gemahls die Interessen
großzuziehen, die ihr am Herzen lagen, und er empfand, was in ihm lebendig
geworden war, als ihr Werk. Ihm war, als hätte er erst durch sie sehen,
fühlen, das Wahre erkennen, das Schöne genießen gelernt. Es war leicht zu
verstehen, daß solche Herrschaft einer Frau dein Manne, dem künftigen Regenten
von Preußen Schwierigkeiten und Kämpfe zu bereiten drohte, größere vielleicht
der Frau selbst, welche da führte und hob, wo es dem Weibe Bedürfnis ist
geleitet zu werden."
Über den Kronprinzen in der Zeit nach 1871 schreibt Freytag u. a.
folgendes: „Nach seiner Erscheinung die glänzendste Heldengestalt, welche je
unter einem deutschen Helme geschritten ist, in der Auffassung des Volles
^natürlich des Volksteiles, der für Freytag das Volk bedeutet, der liberalen
Parteij ein erprobter, fester Mann, nach jeder Richtung berufen, Nachfolger
seines bejahrten Vaters zu werden, ein aufsteigender Stern für viele patrio¬
tische Wünsche und Hoffnungen ^z. B. für die der Patrioten Virchow, Richter
und Kompagniej, denen die Gegenwart völlige Erfüllung nicht bieten wollte,
kaum war ein schöneres und mehr glückverheißendes Dasein zu denken, als das
seine nach allgemeiner Meinung war. Aber nie sind durch das Geschick
irdischer Hoffnungen in gleich schmerzvoller Weise als eitel erwiesen worden.
Für die Nation waren die siebzehn Friedensjahre, in welchen Kaiser Wilhelm
uns noch erhalten blieb, eine Zeit des friedlichen Gedeihens, für den neuen
Staat, im ganzen betrachtet, eine glückliche Periode des allmählichen Eiulebens
in' die Seelen und Gewohnheiten der Deutschen. Das Wesen des alten
Kaisers, U'einher die Macht liebte, aber, wo es sich um Ernstes handelte, den
Schein gering achtete, der durchaus nicht bereitwillig die Kaiserkrone auf sein
Haupt genommen hatte, der von den angebornen Rechten der deutschen Fürsten
hoch dachte und dieselben, wo er irgend konnte, sorgfältig zu berücksichtigen
bestrebt war, dieses ruhige, maßvolle Wesen eines bejahrten Herrn, der schon
durch sein Alter vielen der Anspruchsvollen Ehrfurcht einflößte, war wie von
der Vorsehung zuerteilt, um dem deutscheu Landesherrn den Übergang in das
neue Wesen möglichst schmerzlos zu machen, Auch im Volke standen die
Parteien unter dem Zauber dieser greisen Gestalt, die immer ehrwürdiger
wurde, zuletzt wie ein Wunder erschien und berechtigte wie unberechtigte An¬
sprüche allein durch ihre Dauer auf die Zukunft verwies. Aber der ihm am
Nächsten stand in Ehren und in der Zuneigung des Volkes, verlebte diese Zeit
der Einrichtung eines neuen Lebens, die Feststellung des Kaiserreichs, das
gerade er so heiß ersehnt hatte, zur Seite stehend, in thatlosem Hnrreu. Er
fühlte die Leere, eine gewisse Ermüdung trat ein, Verstimmung überkam ihm,
welche immer großer wurde. Daß die Einwirkung dieser Zeit den Kronprinzen
so sehr niederdrückte, lag zum großen Teil in seiner Natur, die durchaus nicht
aktiv war. Wäre er mit rüstiger Thatkraft ausgestattet gewesen, so würde er
trotz mancher Hindernisse eine Beteiligung an der Staatsregierung auf allen
Gebieten durchgesetzt haben, welche dem Vater nicht vorzugsweise am Herzen
lagen. Doch er besaß zwar den Fleiß und die Pflichttreue der Hohenzollern
in der Erfüllung einer gestellten Aufgabe, aber nicht die Unternehmungslust
und Schaffensfreude, und auf den wichtigsten Gebieten der Verwaltung wohl
auch nicht das Geschick zu befehlen, wie etwas werden sollte. Was der Kaiser
nach dem Jahre 1870 that, um ihm eine bestimmte Thätigkeit zuzuleiten, das
reichte nicht aus. Der Kronprinz erhielt die Inspektion über die süddeutschen
Armeekorps und übte durch sein Erscheinen in der That eine sehr wohlthätige
Einwirkung aus, aber diese Thätigkeit war doch nicht viel andres als fürst¬
liche Repräsentation. Er wurde zum Protektor der Museen, der Knnstangelegen-
heiten ernannt, was ihm wohl mehr nach dem Herzen war. Er wurde nach
dem Beispiel seiner Gemahlin auch ein warmer Beförderer des Kunsthandwerks,
^ hat in diesen Richtungen und bei zahlreichen gelegentlichen Ehrenvorsitzen
durch seine warme Beistimmung und zuweilen durch seiue Einwirkung auf die
Regierung allerlei Förderliches gethan, aber solche Thätigkeit auf Seitenpfaden
war zuletzt für einen großen Fürsten nnr Zeitvertreib und Spiel. Noch einmal
hob sich seine Kraft, als er im Jahre 1878 nach der Verwundung des Kaisers
Mr Stellvertretung berufen wurde. Die gehäufte Arbeit, die Verantwortung,
das hohe Amt gaben ihm eine Zeit lang Spannung und seinem Geiste neue
Schwingen, zur Freude und Überraschung seiner Umgebung. Aber mit dieser
Verantwortlicher Thätigkeit entwich wieder der Lebensmut. Er gab sich mit
Vorliebe trüben Gedanken und pessimistischen Stimmungen hin, er trug sich
zuweilen mit der Idee, im Fall eines Thronwechsels dem Throne zu entsagen
und dem Sohne die Regierung zu überlassein Sogar die Zureden der Kron¬
prinzessin vermochten diesen Trübsinn nicht auf die Dauer zu bannen. Er
kümmerte sich noch in seiner Weise um Staatsangelegenheiten, er sah zuweilen
zu vertraulichem Gespräche Mitglieder der freisinnigen Partei und sprach dann
wohl seine Unzufriedenheit mit den Maßnahmen der Negierung ans, aber die
Zunahme der Ermattung in feinem Wesen wurde solchen, die ihn in seiner
Jugend gekannt hatten, zu bitterm Leide bemerkbar. Er begann an Geist und
Leib zu altern, und schon lange bevor die furchtbare Krankheit um ihm zu
Tage kam, durfte mau trauernd sagen, daß sein Lebensmut nicht mehr der
eines Mannes war, welcher demnächst für seine Nation die Kaiserkrone tragen
sollte. Solchem Schicksal gegenüber ist es, sagt Freytag, vermessen, zu streiten,
wie er als Herrscher geworden wäre. Die auf ihn hofften, wollten an ihm
sehen, was sie am meisten begehrten, und die besorgt sein Wesen abschätzten,
vermochten nicht zu beurteilen, was das Amt nud die Herrschaft in einem ge
Sünden Herrn an Kräften und Neigungen entwickelt hätte. Er war ein warmer
Protestant, in allen religiösen Fragen von einziger Duldsamkeit, und zu seinen
stärksten Abneigungen gehörte die gegen engherzige Pfaffen, In der Staats¬
verwaltung widerstrebten ihm Pvlizeiwirtschaft und Bevormundung, deu Ge¬
meinden wünschte er ausgedehntes Selbstregimeut, jeder ehrlichen Thätigkeit
die freieste Bewegung. Das aber waren bei ihm Stimmungen, denen die
Kenntnis der Zustände im Volke nicht ganz entsprach, und es wäre ihm schwer
geworden, seinen Willen gegenüber gewandten Einwürfen aufrecht zu erhalten.
Denn er war kein Geschäftsmann, sein Urteil war in großen Angelegenheiten
nicht . geprüft, nud auch um er einmal lebhaft wollte, war er in der Aus¬
führung abhängig und unsicher. Nach dieser Richtung war er mehr gemacht,
geleitet zu werden als andre zu führen."
Andre, die Gelegenheit gehabt haben, dem Kronprinzen im Leben näher
zu treten, werden diesen Urteilen nur beipflichten können; aber es war ein
Verdienst, sie öffentlich auszusprechen.
,i der Geschichte des deutschen Theaters bildet Jmmcrmaims
Leitung des Düsseldorfer Stadtheaters in den Jahren t8!)2 bis
18,^7 ein tragisches Kapitel, Zum erstenmale wurde dort von
einem Nichtschauspieler und Nichtgeschäftsmann, ohne Unter¬
stützung eiues über Reichtümer und Macht gebietenden Fürsten,
bloß mit Hilfe einer als Aktiengesellschaft sich vereinigenden Anzahl von
Theaterfreunden der Versuch gemacht, eine Bühne mit hohen künstlerischen
Zielen zu gründen und zu erhalten, und dieser Versuch scheiterte. Aber nicht
so, daß er ein für allemal von ähnlichen Unternehmungen abgeschreckt hätte.
Denn seither sind sie öfter gewagt worden, und mit wirklichem Erfolg. Das
ist es, was Immermanns Unternehmen wirklich tragisch erscheinen läßt. Ging
sein Theater anch unter, so siegte doch seine Idee; nu andern Orten und einige
Zeit nachher erstand sie wieder, und keinesfalls ist Immermanns Mühe und
Arbeit vergeblich gewesen. Aber wie bei allen tragischen Erscheinungen die
Meinungen über Schuld oder Unschuld des Helden auseinandergehen, so sind
auch die Urteile über Immermanns Theaterleitnng bis in unsre Zeit sehr ver¬
schieden gewesen. In den Kreisen der Schauspieler und Theaterpraktiker ist
Immermann als Theaterleiter einer zähen Überlieferung zufolge in Verruf.
Die Theaterleute vom Handwerk urteilen so,, wie viele ihresgleichen schon zu
des Dichters Lebzeiten gesprochen säbeln sie spotten über die „gelehrte Bühne"
des Düsseldorfer Intendanten; sie werfen ihm vor, er hätte das Theater nur
zu Experimenten mit bühneunnfähigen Dramen benutzt; die große Kunst, auf
die sich die Praktiker so viel einbilden, eS dem Publikum recht zu machen,
hätte Immermann nicht verstanden, Und auch von den Geheimnissen der
Schauspielkunst nichts! Otto Devrient, der Geschichtschreiber deS deutschen
Schauspiels, der mit dem Dichter selbst in Briefwechsel stand, hat alle Vor¬
würfe des Theatervvlkes gegen Immermann in seinem großen Werke zusammen¬
gefaßt und gleichsam dvgmatisirt. Ein andrer, mehr lokaler Schriftsteller der
Rheingegend, Friedrich Roher, hat ebenfalls die Jminermaunsche Theaterleitung
im Lichte der Schauspielerüberlieferung geschildert, und sehr viel andre, seinem
Charakter ungünstige Gerüchte haben sich in Biographien Grabbes (der als
Theaterrezensent eine Zeit lang in Düsseldorf wirkte) und an verschiednen
andern Orten fortgeschleppt. Die Lebensbeschreibung Immermanns, die seine
Witive durch Gustav von Putlitz l87«> herausgebe» ließ, erzählt zwar in aus¬
führlicher Weise von der dramaturgischen Wirksamkeit des charnkter- und geist¬
vollen Schöpfers des „Obcrhofs," aber ohne sich mit den fremden Urteilen
über sein Theater kritisch auseinanderzusetzen. Da aber der gesamte und sehr
reichhaltige Nachlaß des Dichters noch vollständig erhalten ist (bei seiner
Tochter, der Geheimrütin Geffcken), so war es ein lodeus- und dankenswertes
Unternehmen Richard Fellners, die Geschichte von Immermanns Thätigkeit als
Dramaturg zu schreiben, die Urteile über sie zu prüfen und den wahren Wert
des Düsseldorfer Stadttheaters zu ermitteln. Dies ist der Zweck seines leider
clous umfangreichen Buches! Geschichte einer deutschen Musterbühne.
Karl Immermanns Leitung des Stadttheaters zu Düsseldorf (Stutt¬
gart, Cotta, 1888).
Schon der Titel verrät die apologetische Tendenz Felluers, und auf die
Gefahr hin, mit der bei deu Theaterleuten beliebten Formel „Davon versteht
der Laie nichts" abgetrumpft zu werden, gestehen wir von vornherein, daß wir
uns im großen und ganzen mit der Auffassung Fellners von dem hohen
Wert und der einsichtigen Wirksamkeit Immermanns als Dramaturgen einver¬
standen erklären. Als Immermann seine dramaturgische Arbeit begann, stand
es um das deutsche Schausvielweseu uicht gut. Goethe hatte schon längst die
Leitung des Weimarer Theaters aus der Hand gegeben, Jffland lebte nicht
mehr, Schröder hatte ebenfalls keine Nachfolge gefunden, nur in Wien hatte
Schreyvogel das Burgtheater gefördert, aber er mußte einem adlichen Inten¬
danten weichen, der nichts verstand. Die Herrschaft Naupachs hatte ein leeres,
auf Stelzen eiuherschreiteudes Pathos eingebürgert, und die Schauspieler hatten
verlernt, gut und charakteristisch zu sprechen. Zwei große Schulen, die
Schrödersche und die Gvethische, hatten in dieser Zeit noch, Spuren hinter¬
lassen, fortgebildet worden ist keine. Die wichtigste Pflicht einer guten Bühne,
ein Wohl eingeübtes Zusammenspiel, wurde kaum noch unter des vortrefflichen
Schreyvogel Leitung im Vnrgtheater zu Wien beobachtet. Statt dessen aber
machten sich die Virtuosen breit, die einzelnen Talente, die sich mit ihrem Spiel
auf Kosten des Ganzen hervvrdrängten, die Absichten der Dichter ihrem per¬
sönlichen Belieben hintanstellten und alles eher als den poetischen Gehalt der
großen Dichtungen zur Darstellung brachten. Der Schauspielerstnud war auch
uicht geordnet genug. Nur die wenigen Hofbühnen stellten die Mitglieder auf
Dauer an, an den Prvvinzialbühnen wurden sie meist auf eine Spielzeit ange¬
stellt, sodaß sich selten ein gutes Zusammenspiel bilden konnte. Die Rechts¬
verhältnisse zwischen Schauspieler und Direktor waren noch so wenig geordnet,
daß jedes Mitglied, wenn es ihm gerade gefiel, im wichtigsten Augenblick durch¬
gehen konnte, ohne es mit den andern Theaterdirektorcn zu verderben. Und
das schlimmste war, daß an der Spitze der führenden Hofbühnen Intendanten
standen, die gar nichts vom dramaturgischen Beruf besaßen, sondern bloß durch
ihre höfische Würde zu dem Posten bestimmt wurden. Die Erkenntnis, daß
der Intendant Fachkenntnisse besitzen müsse, war damals den maßgebenden
Hofkreisen noch nicht aufgegangen. Das Theater wurde nur als Vergnügnngs-
anstalt betrachtet. Aber auch das Publikum, zumal der kleinen Städte, war
noch nicht gebildet genug und ließ sich von denselben Brettern, ans denen
heute z. B. der „Don Juan" gespielt wurde, morgen läppische Bauchredner-
küuste bieten. Dieses Deutschland der langen Friedenszeit nach den heldenhaften
Befreiungskriegen war noch sehr philiströs, wohl auch arm, und die Reichen
hatten kein genügendes Interesse am Theater. Die mittelmäßigste Lustspiel¬
ware fand mehr Teilnahme als alle klassische Tragödie. Auch war die un¬
umgängliche Trennung von Oper und Schauspiel noch nicht überall vollzogen;
dieselbe Bühne wurde heute für das Drama, morgen für das Ballet
benutzt. Das Beispiel, das Kaiser Josef II. in Wien mit der strengen Trennung
der beiden Formen gegeben hatte, als er das k. k. Hof- und Nationaltheater
1776 gründete, hatte keine Nachahmung gefunden. Und mit den Ausstattuugs-
künsten der Oper konnte das Schauspiel nicht den Kampf aufnehmen, es litt
darunter.
Alle diese Übelstände hatte der Landgerichtsrat Immermann auf seinen in
der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre jährlich von Düsseldorf aus durch
Deutschland unternommenen Ferienreisen schmerzlich kennen gelernt. Denn
seine dichterische Seele hing mit aller ihrer tiefen Leidenschaft am Schauspiele.
Von Jugend auf hatte er dem Theater seine Neigung gewidmet. Als Drama¬
tiker hatte er sich zuerst einen in ganz Deutschland berühmten Namen geschaffen,
als Dichter des „Trauerspiels in Tirol," des „Kaiser Friedrich," der „Alexis"-
Trilogie. Aber wegen der ängstlichen politischen Verhältnisse konnte er auf
den Bühnen nicht festen Fuß fassen, obgleich seine Hofer-Tragödie die Feuer¬
probe der Aufführung glücklich bestanden hatte. Sein „Alexis" wurde vom
Grafen Nedern, dem Intendanten des Berliner Hofschauspiels, trotz anfänglichen
Entgegenkommens nicht aufgeführt, einzig aus Rücksicht auf deu Petersburger
Hof, dem diese Tragödie allerdings keine Schmeicheleien sagte. Erst in seinem
eignen Theater vermochte Immermann endlich seine eignen Werke teilweise zur
Geltung zu bringen. Nur allmählich und kaum mit bewußter Absicht geriet
er in die Bahn, die ihn schließlich zu einem Intendanten machte. Um dieselbe
Zeit nämlich, wo Immermann in der Nheinstadt lebte, nahm sie von andrer
Seite einen unvergeßlichen Aufschwung. Erstens durch den in ihre Mauern
verlegten Hof des kunstliebenden.^Prinzen Friedrich von Preußen, der die in
den Franzosenkriegen gewonnene Rheinprovinz an das alte Königreich enger zu
fesseln berufen war, sodann aber durch die neubelebte Kunstakademie, an deren
Spitze Schadow gestellt worden war und die sich rasch mit hervorragenden
Talenten wie Lessing, Schirmer, Sohn, Bendemann u. a. füllte, denen
dann wieder viele Schüler zuströmten. Diese Akademie mit ihrer lebens-
freudigen, fiir alle künstlerischen Unternehmungen begeisternngssähigeu Jngend
gab bald der Stadt ihr Gepräge, Dazu kamen noch, vom glücklichen Zufall
gelenkt, hervorragende Männer der Litteratur und Wissenschaft, wie Schmause
und Üchtrih, nach Düsseldorf, es entwickelte sich ein lebhaftes geselliges Treiben
von Dilettautentheateru, Maskeufesten, Vorleseabenden, und Immermann, von
Haus aus zwar zur Einsamkeit geneigt, wurde mit in diese geistreiche Gesell¬
schaft hineingezogen, um bald die erste Geige in ihr zu spielen. Nach Art
Tiecks, den er als Dramaturgen sehr verehrte und öfters in Dresden besucht
hatte, las er öfter hervorragende Dichtungen vor einem großen Kreise von
Zuhörern vor; in den Dilettanteutheatern spielte er selbst so gut mit, daß er
scherzhaft sagen konnte, zur Not könnte er sein Brot als Schauspieler ver¬
dienen. Unzufrieden mit den Leistungen des ärmlichen Theaters, das bestand,
versuchteer, von seineu Freunden unterstützt, endlich selbst „Mustervvrstellungen"
zu veranstalten, nachdem er von der Truppe einmal eingeladen worden war,
die Einstndiruug seines „Hofer" zu leiten. So wurde er die Seele jeuer
prächtigen Gesellschaft, mit deren hervorragendsten Mitgliedern ihn schon lange
warme Freundschaft verband, und so entstand allmählich der Plan, das
Düsseldorfer Theater ganz in die Hand zu nehmen und ihm durch reichere
Mittel und sorgfältigere Pflege einen künstlerischen Aufschwung zu geben.
Sein Amt am Landesgericht versah Immermann zwar stets mit großer Ge¬
wissenhaftigkeit und Einsicht; er hat manche juristische Abhandlung in wissen¬
schaftlichen Zeitschriften veröffentlicht. Aber seiue Neigung galt doch nur der
Kunst, dem Drama, Er hatte die Beaintenlaufbnhn nur von der Not gedrängt
betreten, und die Hoffnung, sich ausschließlich seinem natürlichen Künstlerberufe
widmen zu können, wurde für ihn eine leidenschaftlich ergriffene Wendung des
Lebens. Seine gesellschaftliche Stellung wurde überdies in Düsseldorf auch
durch sein von aller Welt nachsichtig beurteiltes Verhältnis zu der geistvollen
Gräfin Elise von Li'chow-Ahlefeld gefördert. Diese um acht Jahre ältere Frau
hatte sich 1821 in Münster in den damals dort als Auditeur des Garnisons-
gerichts bestellten jungen Dichter Immermann leidenschaftlich verliebt, hatte sich
dann von ihrem großmütiger Gatten, dem Grafen Lützow, scheiden lassen und
war dem Geliebten 1825 nach Düsseldorf nachgezogen, wo sie bis 1839 mit
ihm lebte, anfänglich sehr zurückgezogen, bald aber als der glänzende Mittel-
Punkt seines Kreises,
So war der Boden vorbereitet, auf dem sich Immermanns Theater er¬
heben sollte. Aber die Hauptsache war er selbst, sein Geist gab dem jedenfalls
kühnen Unternehmen, ohne staatliche oder höfische Unterstützung eine Mnster-
bühne zu schaffen, das Gepräge. Der wesentliche Unterschied von allen
andern Theaterleitungen war der: Immermann hatte nicht bloß den außer¬
ordentlich gebildeten litterarischen Geschmack, er war nicht bloß mit der drama¬
tischen Produktion seiner Zeit unzufrieden, er hatte nicht bloß Ursache, über
den Verfall der Schauspielkunst zu klagen, sondern was mehr als alles das
wiegt: er stand über dem Publikum, er stellte sich zur Aufgabe, dieses wetter¬
wendische Volk zum Genuß hoher Kunst zu erziehen, er war nicht gewillt, mit
dein Strome zu schwimmen, es sollte nicht bloß für die Füllung der Kassen
um jeden Preis gespielt werden, und sein Theater war doch von der Teilnahme
dieses seines nun einmal nicht anders gebildeten Publikums abhängig, um
bestehen zu können. Wie sich nun Immermann zum Publikum stellte, wie er
zwischen den beiden Forderungen des Ideals und der Wirklichkeit sich während
der fünf Jahre seiner Theaterleitung mit täglich wechselnden Stimmungen,
bald fluchend, bald fröhlich und zufrieden hindurcharbeitet, das ist Wohl das
merkwürdigste Schauspiel in der ganzen Geschichte derselben. Denn diese Auf¬
gabe wurde ihm schwerer als irgend einem spätern berühmt gewordenen Bühnen¬
leiter gemacht. Zwar lebte in Düsseldorf eine begeisterungsfähige Künstler¬
jugend, doch sie konnte nicht die täglichen Gäste für ein Theater liefern. Die
Stadt selbst war aber zu klein, um ein ausreichendes Stammpublikum empfäng¬
licher und urteilsfähiger Menschen zu stellen. So war denn Immermann fort
und fort gezwungen, mit dem herrschenden Geschmack für AnsstattnngSwerke,
für triviale, hausbackene Lustspiele, für Opern, die ihm gründlich gleichgiltig
waren, zu palliren. Er mußte die Presse zu Hilfe nehmen, um durch gute
Rezensionen der Vorstellungen, durch die den geplanten Neuaufführungen voraus¬
geschickten litterarischen Abhandlungen über klassische Werke die Aufmerksamkeit
und Achtung von vornherein zu bestimmen; ja sogar Rezensionen seiner Vor-
stellungen selbst zu schreibe» nahm er keinen Anstand, und Freund Grnbbe,
der nach Mendelssohns Abgang als Bettelmann von Detmold nach Düsseldorf
herübergekommen war, stellte sich voller Begeisterung als Kritiker in Immer-
manns Dienst. Alle diese Handlungen waren ebenso loyal als gerechtfertigt;
es hats mancher Theaterleiter nachher ebenso gemacht, und alle Staatsmänner
machen es jetzt gerade so. Nicht absichtslos erinnern wir an die stantsmännische
Thätigkeit, denn in der That liefert die Arbeit eines Theaterdirektors das
Abbild einer solchen im kleinen. Als Immermann 1832 endlich das auf eine
Aktiengesellschaft gegründete Stadttheater in selbständige Leitung übernahm,
offenbarte sich, wieviel Arbeitskraft und wieviel tüchtiger politischer Sinn in
diesem deutschen Dichter steckte. Von seinem Amt am Landesgericht nahm er
auf ein Jahr Urlaub, um sich nun Tag und Nacht den Theatergeschäften zu
widmen. Von da ab schien es, als ob er sich vervielfältigt hätte. Er selbst
prüfte und mietete die Schauspieler und Schauspielerinnen, er entwarf die
Theaterordnung, die Programme, die für das Publikum bestimmten Aufsätze.
Er selbst studirte den Schauspielern in vielfachen Lese-, sprech-, Zimmer-,
Theater-, Kostüm- und Dekorationsproben die aufzuführenden Stücke ein, und
die Arbeit dabei war um so größer, als Immermann von Grund aus das
künstlerische Spiel vorbereiten mußte. Er mußte seine Schauspieler erst zum
guten Sprechen erziehen, und dies setzte wieder das volle Verständnis des
darzustellenden Dramas und seines Dichters voraus. Er mußte also zuvörderst
in einem Vortrage seinen Künstlern das Werk erklären, beleuchten, analysiren —
Muster dramaturgischer Kritik, die Fellner mit Recht vollständig abgedruckt hat.
Bei Shakespeare, Calderon, ja auch bei Schiller und seinen eignen Werken
hatte er die Aufgabe, die Dramen für die Bühne einzurichten, umzuarbeiten,
ihr anzupassen. Ämter, die heutzutage an jedem größern Theater verschiednen
Personen zufallen, füllte er alle selbst aus. Auch die Kasfenführung, den
Verkehr mit dem Verwaltungsrat der Aktiengesellschaft hatte er zu besorgen.
Die meiste Sorgfalt verwendete Immermann auf das gute Zusammenspiel seiner
Truppe. Da sein Unternehmen sparsam mit dem Gelde umgehen mußte, so
war ihm manche erste Kraft zu teuer; er mußte junge, begabte, aber billigere
Künstler sich erst erziehen. Das verringerte nicht die Arbeit, aber es war
ihm gerade recht, da die ersten Kräfte nur zu oft aus dem Zusammenspiel
herauszutreten strebten, was er ganz vermeiden wollte. Das Ideal der Schau¬
spielkunst lag ihm in der Mitte der beiden großen Traditionen Goethes und
Schröters. Goethe legte das Hauptgewicht auf die kunstvolle, gehobene,
poetische Sprechweise, das mimische Spiel sollte gerade nur auf die notwendige
Begleitung der Rede beschränkt bleiben; Schröder war realistischer, ihm stand
die körperliche Beweglichkeit des Schauspielers in erster Reihe. Beide Schulen
waren im Verfall: die akademische war ins Deklamiren geraten, die realistische
ins übertriebene Nachahmen der Wirklichkeit. Für Immermann war es aber
Grundgesetz, das Spiel dem künstlerischen Charakter der Dichtung anzupassen.
In allererster Linie stand ihm die aus dem reinsten Verständnis der dichterischen
Absicht getroffene Wahl des Grundtons in der szenischen Darstellung. Calderon
mußte anders als Shakespeare gespielt werden: dort mußte die Rede poetischer,
hier die Mimik und Bewegung realistischer behandelt werden. Die Vorwürfe,
die Devrient gegen Immermann erhebt, indem er seine Pflege der Sprechkunst
tadelt, weist Fellner als durchaus ungerechtfertigt und auf Mißverständnis
Jmmermannschcr Äußerungen beruhend zurück. Er weist auch zutreffend nach,
daß Laube, der angesehenste Dramaturg und Begründer des Burgtheaterruhmes,
keine andern Grundsätze als die Immermanns gehabt hat. Laube ist in der
That diesem Vorgänger weitaus gerechter als alle seine andern Beurteiler
geworden. Und für den unbefangnen Leser werden alle dramaturgischen Ver¬
ordnungen Immermanns, die uns Fellner mitteilt, wie etwas selbstverständliches,
gegenwärtig allgemein übliches und anerkanntes erscheinen, sodaß es wirklich
zu verwundern ist, warum dem Dichter noch immer der böse Ruf des „ge¬
lehrten" Theaterdirektors im Gegensatz zum „praktischen" anhängt. Nur mit
der unglücklichen Formel, die Fellner für Immermanns dramaturgische Grund¬
sätze gefunden hat, können wir uns nicht befreunden. „Ein geläuterter Natu¬
ralismus tritt uns auf seiner Bühne entgegen," sagt Fellner. So darf man
Jnrmermanns Ideal von Schauspielkunst nicht fasse», locum man selbst erst
nachdrücklich den Ausgang deö Dichters von Weimar betont, wenn man ans
den entscheidenden Eindruck hingewiesen hat, den das in Halle von dem Studenten
Immermann (1819) mit angesehene Spiel Wolffs in unverlöschlicher Begeisterung
hinterlassen hatte, wenn man ferner weiß, daß Immermann stets den wesent¬
lichen Gegensatz zur Natur in der Kunst hervorgehoben hat, so in dem „Blick
ins Tirol," wo er von einem Besuch des Pradler Vnuerntheaters anmutig
erzählt und darauf hinweist, daß die naturalistischen Schauspielerinnen auf
ihrer Bühne einen eignen Tanzschritt gingen, um sich nur ja von der prosaischen
Alltäglichkeit in eine künstlerische Sphäre zu erheben. Wenn man eine Formel
für Immermanns dramatnrgisches Ideal schaffen will, muß man umgekehrt
hageln er war ein realistischer Idealist, auf den Idealismus muß man den
Nachdruck legen. Er ließ sich gern die Mitwirkung seiner lieben Maler zur
Schaffung prächtiger Dekorationsstücke gefallen, die nun auch den Calderonschen
Werken („Der standhafte Prinz" und „Der wunderthätige Magus") zu gute
kamen. Aber er dachte vom Werte der Ausstattung gerade so wie Laube:
sie durfte sich nicht selbst breitmachen, die Aufmerksamkeit der Zuschauer sollte
nicht vom Spiel, vou der Rede und von der Handlung abgelenkt werden;
trug er sich doch mit der Absicht, die alte Shakespearesche Bühne herzustellen,
„Romeo und Julia" wurde sogar ans einer ganz eigens hergestellten, der Bühne
Shakespeares ähnlich gemachten Szene vorgeführt. Immermann war wesentlich
ein Idealist, und als solcher ist er zu Lebzeiten angegriffen worden, um aber
für die Dauer Recht zu behalten.
Weil wir gerade bei einem Widerspruch gegen Fellners Darstellung stehen,
»vollen wir gleich noch einen andern Fehler, der uns die Freude an dem bei
aller Jugendlichkeit des Tones und aller Breite der Darstellung doch tüchtigen
Buche beinahe verdorben hat, zur Sprache bringen, nämlich die leidenschaft¬
liche Art, wie Fellner Felix Mendelssohn-Bartholdh behandelt. Der Sach¬
verhalt ist der. Als die Gesellschaft deS Düsseldorfer Stadttheaters gegründet
wurde, geschah dies hauptsächlich, weil man auf die Mitwirkung zwei so
migewöhnlicher Männer wie Immermann und Mendelssohn rechnete. Beiden
war die künstlerische Leitung der Anstalt anvertraut, Immermann das
Schauspiel, Mendelssohn die Oper. Obgleich er damals kaum fünfund¬
zwanzig Jahre zählte, war er doch schon als Dirigent der rheinischen Musikfeste,
als Komponist und Virtuose berühmt und angesehen genug, um die Stellung
des Musikdirektors mit Würde einzunehmen. Immermann hatte ihn persönlich,
wie alle die ihn kannten, ins Herz geschlossen, sie standen auf dem Duzfuße,
und der Dichter war sehr glücklich über Mendelssohns Entschluß, mitzuwirken.
Es dauerte aber nicht lange, so ging das schöne Verhältnis in die Brüche.
Mendelssohn hatte sich nämlich seine Thätigkeit anders gedacht, als sie ihm
von Immermann zugemutet wurde. In einem Briefe ans Düsseldorf
l23. November 1834) an seine Schwester Rcbckkn in Berlin giebt Felix aus¬
führlich Nachricht darüber- „Gleich als ich wieder herkam >von einer Reise
durch einen Teil von Deutschland, um Säuger und Sängerinnen für das
Stadttheater zu Suchens, wehte mich die Jnteudauteuluft an. Im Statut steht:
Die Intendanz besteht aus einem Intendanten und einem Musikdirektor. Der
Intendant sJmmermann^ wollte nun, ich sollte Musikiutendant sein, er Schau-
spielinteudant, und nun sollten nur sehen, wer dem andern den Rang abliefe,
darüber gab es gleich Skandal. Ich wollte nichts als dirigiren und ein-
studiren, und das war Immermann nicht genug. Wir wechselten verzweifelt
grobe Briefe sdie jetzt Felluer alle mitteilt^, in denen ich meinen Stil sehr
zusammennehmen mußte, um keine Spitze unerwidert zu lassen, und meinen
unabhängigen Grund und Boden zu behaupten, aber ich glaube, ich habe Herrn
Heyse sseinem Lehrers Ehre gemacht. Wir verständigten uns darauf und
zankten uns gleich wieder, weil ich nach Aachen reisen sollte, um eine Sängerin
dort zu prüfen und zu engagiren, und weil ich dos nicht wollte. Darauf
mußte ich das Orchester engagiren, d. h. für jedes Mitglied zwei Kontrakte
ausfertigen, mich über einen Thaler Monatsgage vorher bis aufs Blut streiten;
dann gingen sie weg, dann kamen sie wieder und unterschrieben doch; dann
wollten sie wieder nicht am zweiten Pult sitzen, dann kam die Tante eines
ganz erbärmlichen Musikers, den ich nicht engagiren konnte, und die Frau mit
zwei unmündigen Kindern eines andern Erbärmlichen, um ein gutes Wort beim
Herrn Direktor einzulegen, dann ließ ich drei Kerls Probe spielen, die geigten
so unter aller Würde, daß ich keinen von ihnen annehmen konnte; dann waren
sie demütig und gingen still und betrübt fort und hatten ihr Brot verloren,
dann kam die Frau noch einmal wieder und weinte; unter dreißig Leuten war
kein einziger, der kurz sagte: »Ich bin zufrieden« und seine Kontrakte unter¬
schrieb; alle andern handelten und mäkelten erst eine Stunde, bis sie mir
glaubten, daß ich nrix lixe hätte; mir fiel Vaters Spruch »Fordern und Bieten
machen den Kauf« den ganzen Tag ein, aber es waren vier Tage, die jämmer¬
lichsten, die ich erlebt habe. Am vierten kam Klingemann des Morgens und
sah das Wesen und entsetzte sich. Inzwischen studirte Rietz Morgen und
Abend den »Templer« ein; der Chor betrank sich, und ich mußte mit Autorität
reden; dann rebellirten sie gegen den Regisseur, und ich mußte sie anschreien
wie ein Hausknecht; dann wurden die Beutler heiser, und ich bekam Angst sür
sie (eine mir neue Art von Angst, eine der ekligsten); dann führte ich Cheru-
binis Requiem in der Kirche auf; zugleich kam das erste Konzert, kurz, ich
faßte meinen Entschluß: drei Wochen nach Wiedereröffnung des Theaters
meinen Jntendantenthrvn zu verlassen, den ich dann auch Gott sei Dank aus¬
geführt habe. Die übrigen Details schenke ich dir, du wirst genug Theater
haben. Seit ich aus der Geschichte bin, ist mir, als wäre ich ein Hecht,
der wieder ins Wasser kommt; die Vormittage gehören wieder mir; Abends
kann ich wieder zu Hause sitzen und lese»; das Orntorün» wird mir immer
mehr zu Dank; ein paar neue Lieder habe ich auch gemacht; im Singverein
geht es hübsch, wir führen bald die Jahreszeiten mit ganzem Orchester auf;
nächstens will ich sechs Präludien und Fugen ^ herausgeben, wovon du erst
zwei kennst; das ist so ein Leben, wie ich es führen kann, aber das Jnten-
dantenleben nicht."
Diesen für die Beurteilung Mendelssohns im vorliegenden Falle sehr
wichtigen Brief haben nur mit Absicht angeführt, denn aus ihm wird klar,
daß sich der große Komponist in berechtigter Notwehr von der Mitarbeiter¬
schaft am Jmmermannschen Theater lossagte, obgleich er sich der Gesellschaft
gegenüber mit seinem Versprechen gebunden hatte. Das Versprechen war eben
voreilig, unvorsichtig, und man kann dem jungen Komponisten wegen des Ab-
falles keine schwere Anklage ans den Hals laden, denn Mendelssohn konnte
nicht alles so klar voraussehen, er mußte seine, vom Dichter so gänzlich ver-
schiedne Natur und deren Untauglichkeit zum Direktionsberuf praktisch erproben,
an sich selbst erleben, um einzusehen, daß hier sein ganzer und einziger Lebens¬
beruf, gute Musik zu schassen, gefährdet war. Jedenfalls war es wichtiger,
daß sich Mendelssohn seiner Kunst widmen konnte, als daß er länger beim
Theater geblieben wäre, wo er in unangenehmen Geschäften Laune und Arbeits¬
lust vielleicht sür Jahre hinaus verloren hätte. In diesem Sinne muß der
gerechte Geschichtschreiber den Streit zwischen beiden Männern auffassen; so
hat es auch Putlitz gethan. Fellner aber, der überhaupt starke Worte liebt,
findet Mendelssohns Betragen „uuqualifizirbar" und schließt seine Darstellung
des Konflikts mit Worten, die Immermann in sehr verdrossener Laune ans-
sprnch: „Mendelssohn hat sich wie ein Schuft gegen mich benommen." Das
geht doch über die Grenze der Gerechtigkeit hinaus. Fellner ist voller Ge¬
hässigkeit gegen Mendelssohn, wohl deswegen, weil er sich zu Richard Wagner
bekennt. Er hat aber übersehen, daß er die Menschen mit verschiedenen Maßen
mißt. Mendelssohn macht er den Prozeß, weil er sein Versprechen gebrochen
hat; Immermann aber, der ein noch weit zwingenderes Versprechen gegeben
hatte, sucht Fellner so gut eS geht, zu rechtfertigen. Er teilt nämlich indis¬
kret mit: „Die Gräfin Ahlefeldt hatte vor der Übersiedlung jvon Münsters
nach Düsseldorf dem Dichter das Wort abverlangt, sich niemals anderweitig
zu vermählen. Es wurde ihm vielfach zum Vorwurf gemacht, daß er das
gebrochen habe. Nach seinen Selbstbekenntnissen erscheint er jedoch als völlig
gerechtfertigt. Ein Ehrenwort, welches auf ebenso unsittlicher wie unsinniger
Grundlage beruht, kaun keinem Vernünftigen bindend erscheinen." Die
Logik des letzten Satzes, die einem Jesuiten Ehre machen würde, wollen wir
weiter nicht kritisiren, wir wollen uns mit der Thatsache begnügen, daß
Immermann ein weitaus wichtigeres Ehrenwort gegeben hatte, von dessen Ein¬
haltung das Glück einer mit ihm mehr als fünfzehn Jahre zusammenlebenden
bedeutenden Frau abhing, und Immermanns Existenz weder künstlerisch noch
sonstwie in dem Maße gefährdet war, wie es bei Mendelssohn der Fall war,
lind dennoch weiß es Fellner nachsichtig zu beurteilen. Besser gethan hätte er
freilich diese Privatsache so wie Putlitz zu verschweige». Jedenfalls muß man
Gerechtigkeit nach allen Seiten üben und nicht nach dem Vorgang Richard
Wagners Mendelssohn angreifen, weil man den Trumpf ausspielen will, daß
sich in beiden Männern „nntionale"^Gegensätze verkörpert hätten, daß Immer¬
mann das deutsche Rechtsgefühl vertrete, Mendelssohn nicht. Wenn irgend
etwas diese Auslegung widerlegt, so ist es die von Fellner absichtlich ver¬
schwiegne Thatsache (denn er muß sie ja kennen, da er die Briefe Mendels¬
sohns anführt), daß Mendelssohns eigner Vater seine Handlungsweise in der
Theatersache getadelt hat.
Wie weit sich Fellner den Blick hat trüben lassen, beweist nachfolgende
Bemerkung, Immermann verzeichnet im Diarium vom 13. Februar 1835:
„Ich habe das Resultat der Einnahmen und Ausgaben des Schauspiels und
der Oper bis zum letzten Januar extrcchiren lassen; darnach hat das Schauspiel
über 6000 Thaler, die Oper etwas über 4000 Thaler eingebracht. Dagegen
hat das Schauspiel circa 1!»00 Thaler weniger als seine Einnahme, die Oper
circa 480 Thaler mehr als ihre Einnahme gekostet." Natürlich! Denn das
Schauspiel hatte weniger Dekorativns- und Gagenkosten, wurde auch häusiger
gespielt als die Oper. Das sieht aber Fellner nicht, sondern macht dazu die
Bemerkung: „Demnach ist der Ausspruch F. Mendelssohns: »Die Opern sind
alle ganz voll, die Schauspiele aber nicht, sodaß den Aktionären zuweilen ein
bischen bang wird« eine wirkliche Entstellung der Thatsachen." Warum denn?
Welches Interesse hätte denn Mendelssohn gehabt, so kleinlich zu. lügen?
Fellners Haß kennt keine Grenzen. Nur daraus läßt sich auch die ganz
unglaubliche Wendung erklären: „Als nach dem Bruche mit Mendelssohn die
Zweideutigkeit ^so! als ob die gewechselten Briefe nicht klar gewesen wären!j
abgethan hinter Immermann lag ^was nicht zutreffend ist, denn Jmmerman
hat noch jahrelang später dein Komponisten gezürntj, hoffte dieser, daß Grabbe
die Lücke ausfüllen würde." Was? Grabbe, der sich um Almosen bettelnd
an Immermann wandte und dankbar Rollenabschriften übernahm, sollte die
Lücke, Mendelssohns hinterlassen, ausfüllen? An solchen Phrasen mangelt
es dem Buche Felluers auch sonst nicht. Es ist eine fleißige Arbeit, mit
Begeisterung für Immermann geschrieben, vielfach verdienstlich, aber ebenso
oft unkritisch. Es wird z. B. niemand mehr die von Fellner so bewunderte
Zusanunenstreichung vou Schillers Wallenstein-Trilogie auf ein fünfaktiges,
nur einen Abend füllendes Stück gutheißen, mau wird bei aller Hoch¬
achtung Immermanns seine romantischen Neigungen (zu Calderon, Tieck) nicht
mehr nachahmen u. dergl, in.; wohl aber wird man seine kritischen Studien,
die Fellner abdrückt, gern nachlesen, um sich anregen zu lassen.
Doch damit sind mir schon in das Gebiet jener Einzelheiten geraten, das
wir hier uicht betreten wollten. Zum Schlüsse daher uur noch die Bemerkung,
daß Immermanns Theater nach vielen schonen Erfolgen der sogenannten
Mustervorstellnngen am 31. März 1837 mit der Aufführung der Halmschen
„Griseldis" ehrenvoll geschlossen wurde.
le Türkei liegt nicht mehr sür das Abendland hinten, weit, wie
zu Goethes Zeit, und wenn jetzt die Völker dort auf einander
schlagen, so wird dem deutschen Bürger bange um den Frieden.
Zwar haftet den Vorgängen und Zuständen häufig etwas von
der komischen Oper an; aber ob einem Könige, der zu Schiff
gegangen ist, höflich angezeigt wird, man werde ihn in seinem Lande nicht
wieder landen lassen, oder ob ein Hospodar im Bette seine Abdankung freiwillig
unterzeichnen muß, oder ob eine Armee ihren Fürsten zur Abreise zwingt und
ihn nach einigen Tagen unter allgemeinem Jubel wieder einholt, oder ob seinem
Nachfolger die Gelder ausgehen, mit denen er ans die Treue seiner Unterthanen
abonniren soll, oder ob ein Land das Glück genießt, gleichzeitig zwei Könige,
eine widerspenstige Königin und eine Regentschaft zu besitzen: zum herzlichen
Lachen bringt uns das alles nicht, weil wir dabei das Gefühl haben, daß
Kinder in der Nähe einer Pulvertonne mit Zündhölzchen spielen. Mit den
Ereignissen, die sich jetzt in wenige Jahre zusammendrängen, würde eine weniger
rasch lebende Zeit ebenso viele Jahrzehnte ausgekommen sein, und bei Namen,
die gestern auf jedermanns Lippen waren, reibt man sich heute schon die Stirn,
um sich den Zusammenhang zwischen Namen, Personen und Ereignissen ins
Gedächtnis zu rufen.
Der — vorläufig — letzte russisch-türkische Krieg, die Beteiligung Serbiens
an ihm, der Berliner Kongreß, wie fern ist uns das alles schon gerückt!
Tscholak-Antitsch, Ranko Alimpitsch, Horvatovitsch, alle diese schwer auszu¬
sprechenden Namen waren uns einmal durch das Zeitungslesen geläufig ge¬
worden; jetzt wissen wir kaun, noch mit dem Namen Tschernajew eine Vvr-
Stellung zu verbinden, weil sein Träger sich nicht ausschließlich dnrch sein
negatives Heldentum gegen die Türken bekannt gemacht hat. Alle diese frag¬
würdigen Gestalten werden durch die Erinnerungen eines preußischen Offiziers
heraufbeschworen: Elf Jahre Balkan (Breslau, Kerns Verlag). Der Verfasser
hat unmittelbar nach einander bei Serben, Türken, Rumelioten und Bulgaren
Dienste genommen — man sieht, der deutsche Landsknecht stirbt nicht aus! —
und dadurch Gelegenheit zu genauern Einblicken in das Wesen der verschiednen
Volksstämme und die militärischen Einrichtungen der Balkanstaaten erhalten,
ist manchen hervorragenden Personen näher getreten, seine Aufzeichnungen
machen den Eindruck unparteiischer Wahrheitsliebe und liefern daher gewiß
„zur Beurteilung der jüngsten Vergangenheit, zum Verständnis der Gegenwart"
und zu Schlußfolgerungen für die Zukunft, Beiträge. Daß sie ursprünglich
nur sür kleinere Kreise bestimmt gewesen seien, steht teilweise im Widerspruch
mit der gelegentlichen Thätigkeit des Verfassers als Kriegskorrespondcnt, auch
glnnben wir den eine» oder andern Abschnitt schon früher gelesen zu haben.
Anderseits macht freilich die Gleichgiltigkeit gegen Jahres- nud Tageszahlen
häufig den Eindruck, als ob die Erinnerungen im engern Kreise und ohne
Unterlage eines Tagebuches vorgetragen würden.
Der Verfasser kam 1876 in Belgrad an und wurde, wie er wiederholt
rühmend erwähnt, überall mit großer Liebenswürdigkeit aufgenommen. Er
erkennt aber auch bald, daß es um die Wehrkraft der Serben übel bestellt ist.
Die Landleute schelten auf den höchst überflüssigen Krieg gegen die Türken,
über die sich niemand im Lande zu beklagen habe, und auf die rohen russischen
Brüder. Ans dem Wege zum Heere wird die enge Straße durch Proviant-,
Muuitivns- und Marketenderwagen mit elenden Pferden und dnrch „schäbiges
Volk in zerlumpten Uniformen" und in Bauerntracht versperrt. Niemand
bemüht sich, Ordnung in die Massen zu bringen. Auch die Reiterei hat
schlechte, schlecht gesattelte und gezäumte Pferde, die Leute tragen ihre langen
Gewehre nach Belieben, hinten oder vorn, aufrecht oder quer, den Kolben oben
oder unten. Der Armeekvmmaudant Tscholak-Autitsch selbst erklärt die Miliz¬
truppen für unzuverlässig, das Wehrshstem für unglücklich, und ist überzeugt,
daß Serbien Ursache haben werde, den Krieg zu bereuen, falls nicht die Russen
es retteten. Zum Glück hatten vorläufig die Türken so wenig Lust, von ihrer
Übermacht Gebrauch zu machen, daß ein österreichischer Offizier das Bild
brauchte: „Ein Krieg zwischen zwei Porzellanhunden auf dem Fensterbrett."
Übrigens bewies der Major Jlitsch, dessen der Verfasser mit großer Wärme
gedenkt, was ein tüchtiger Offizier mit den ungeübten und erbärmlich bewaffnetem
Soldaten auszuüben vermochte, und die russischen Helfer kommen im Grunde
noch schlechter weg als ihre Schützlinge.
So läßt der Verfasser einen serbischen Oberstleutnant sagen, im Stäbe
Tschernajews fanden sich nicht drei anständige Menschen, und unter diesen
nicht zwei brauchbare Soldaten; nur weggejagte oder unbrauchbare Offiziere,
Schwindler oder wenigstens Leute, deren es sich gern entledigen wolle, habe
Rußland nach Serbien geschickt. Diese Schilderung ergänzt der Verfasser später
aus eigner Erfahrung, Die russischen Brüder, berichtet er, hätten sich im
allgemeinen'durch Trunksucht, Spielwnt, maßlose Roheit und Ungerechtigkeit
hervorgethan und seien bald von den serbischen Offizieren und Soldaten mehr
gehaßt worden als die Türke». Der Oberkommandirende General Novvselvv
sei nie ans seinem in sicherer Ferne erbauten Blockhause zum Vorschein ge¬
kommen, desto häufiger sein Adjutant, eine hübsche, ihrem Manne dnvon-
gelmifeue Frau, die sich aus Begeisterung der serbischen Sache gewidmet und
sich später als verurteilte Nihilistin in Sibirien erschossen haben soll, nachdem
ihr von ihren Wächtern Gewalt angethan worden war.
Eine Geschichte, die der Verfasser miterlebt zu haben versichert, läßt einen
erschreckenden Blick in das Russentum thun. Der Versuch, sich der Javvrhöhen
durch Überrumpelung zu bemächtigen, war durch Schuld der Führer gänzlich
mißlungen, die russischem Offiziere aber schoben die Schuld auf die Mannschaften,
und einer von ihnen wettete mit einem andern um hundert Flaschen Champagner
für die Offiziere und zehn Faß Branntwein für die Soldaten, daß er mit
seinein Bataillon allein vollbringen werde, was den achtzehn serbischen Batail¬
lonen nicht möglich gewesen war. Er unternahm wirklich das tolle Wagstück,
verlor dabei zweihundert Mann und wurde selbst verwundet zurückgebracht,
natürlich ohne etwas ausgerichtet zu haben. Was ferner von dem Treiben
der russischen Offiziere, die sich während des Waffenstillstandes in Belgrad
aufhielten, berichtet wird, macht es begreiflich, daß sie sich nicht nur den Haß,
sondern auch die Verachtung der Serben zugezogen hatten. Der Verfasser
nennt ausdrücklich als Ausnahme deu Major Grafen Tiesenhauseu, der später
in Bulgarien gedient hat, und den Rittmeister Kosminski, der „mit gutem
Grunde" seinen Obersten vor der Front geohrfeigt hatte, deshalb ans der
russischen Armee entlassen worden war und sich im Sommer 1877, als ein
Fußfall vor dein Zaren ihm nur eine unwirsche Autwort eintrug, vor dessen
Augen erstach.
Dein Schicksal, in die russische Armee eingereiht zu werden, entging der
Verfasser nebst drei andern „Prussaks," weil sie, anstatt an einem Abschieds¬
gelage mit Wodka ans Wassergläsern teilzunehmen, zu einem Balle nach Semlin
gefahren waren, angelockt von der kameradschaftlichen Liebenswürdigkeit der
österreichischen Offiziere und der Schönheit der Ungarinnen. „Nach einer
huldvoller Abschiedsaudienz bei dem Fürsten Milan und seiner damals noch
jugendlich-anmutigen Gemahlin" machte er sich auf den Weg nach Konstantinopel,
um nun gegen die russischen Brüder zu kämpfen. Der Aublick der Stadt ent¬
sprach seinen Erwartungen nicht. So ist es schon vielen ergangen, dort wie
an andern Punkten, die so oft mit Begeisterung geschildert worden sind. Der
Grund liegt wohl diirin, daß die Schilderungen entweder nicht unmittelbar
nach dem ersten Eindruck niedergeschrieben sind, oder die Verfasser sich zwangen,
mit den Augen ihrer Vorgänger zu sehen. Auch die Schönheit Konstantinopels
gehört zu denen, an die man sich gewöhnen, mit denen mau vertraut werdeu
muß. Daher kann einem, der ehrlich eingesteht, enttäuscht worden zu sein, kein
Vorwurf gemacht werden. Aber das Urteil, „der Anblick lasse an Nüchtern¬
heit wenig zu wünschen übrig," und die Begründung: „Das ganze Bild zeigt
zu viel Menschenwerk, um schön zu sein," haben doch nur das Verdienst der
Originalität!
In die ägyptische Armee einzutreten wurde ihm von allen Seiten wider¬
raten, und so schloß er sich dem Prinzen Hasscin als Kriegskorrespondent an.
Kriegerische Ereignisse erlebte er jedoch nicht mehr, lernte aber dafür den Wert
der polnischen Freiheitshelden, die die Türken retten wollten, und die traurigen
türkischen Finanzverhältnisse ziemlich gennn kennen. Als man zur Linderung
des Elends Armenküchen einrichtete und Brot verteilen ließ, „konnte man Paschas
mit einem Brot unter dem Arme zufrieden über die Straße gehen sehen."
In Ostrumelien, wohin sich der Verfasser zunächst begab, fand er wieder
die Russen als Herren vor. Den Generalgouvemeur Aleko Pascha nimmt er
gegen verschiedne Vorwürfe in Schutz, insbesondre sollen die ihm nachgesagten
Eigenschaften des Geizes und der Habsucht thatsächlich nur bei seiner Frau
(aus der zu Anfang dieses Jahres vielgenannten levantiner Familie Valtazzi)
zu finden gewesen sein. Immerhin geht auch aus dieser Schilderung hervor,
daß Aleko, ein Stubengelehrter, schwerfällig und indolent und seiner schwierigen
Aufgabe uicht im mindesten gewachsen war. Wie hübsch ist gleich der Ein¬
gang! „Der Generalgouvemeur, die Direktoren der Verwaltungszweige, die
Offiziere, die Bürger und die Bauern und die orthodoxe Geistlichkeit — alle
waren Puppen in der Hand des Fürsten Tzeretelev ^des russischen General¬
konsuls^ und seines militärischen Attaches, des Generalstabshauptmanns Eck,
eines freundliche», verlogenen Herrn." Auch der Nachfolger des genannten
Fürsten, Kammerjunker Jswvlski, wird als höchst gewandter Diplomat be¬
zeichnet und ausdrücklich versichert: „Hütte die russische Regierung über mehrere
derartige Vertreter verfügt, so würde sie voraussichtlich ihren Einfluß in beiden
Bulgarien nicht so bald untergraben, sondern im Gegenteil immer fester auf¬
gebaut haben. Die Bulgaren vertrauten sich so gern und so willenlos der
russischen Führung an, daß es geradezu ein Kunststück genannt werden muß,
aus dem sanften, unschuldigen Lämmlein einen so störrischen Bock gemacht zu
haben, wie es der russischen Diplomatie in der kurzen Zeit zwischen 1878 und
1885 gelang." Aber nicht genug, daß so viele Offiziere das Äußerste an
Roheit und Gewaltthätigkeit leisteten und es an Taugenichtsen jeder Art dort
wimmelte, so entpuppten sich, wie der Verfasser versichert, nicht selten diejenigen,
die eine wohlthuende Ausnahme zu macheu schienen, als Betrüger, Diebe oder
gor, wie der Kommandeur der ostrumelischen Pio»iertv»>pag»le, Hauptmami
Iisatis, als Haupt einer Räuberbande. Er erschoß sich, als er sich als Mörder
der Frau Skobelew, der Mutter des jungen Generals dieses Namens, entdeckt
glaubte. Die Koffer und Handtaschen der Dame waren erbrochen gesunde»
worden, in den Taschen des Mörders und Selbstmörders fand man aber nur
drei Rubel i ein Leutnant der turkestanischen Artillerie hatte nämlich die
Gendarmen aus der Mühle, wo Usatis sich umgebracht hatte, fortgeschickt!
Bald darauf nahm er seinen Abschied. Dem gegenüber klingt es noch sehr
mild, wenn bereits 1881 ein Abgeordneter in einer Sitzung des Landtags zu
Philippopel die Ohnmacht des Fürstentums darauf zurückführte, daß die russi¬
schen Offiziere die bulgarischen verachteten, die bulgarischen aber allen Grund
hätten, die russischen Führer zu verachten.
Diese Äußerung bezog sich auf die vergeblichem Bemtthuugeu, deu Pvmaken
den Herrn zu zeigen. Wer die Pvmaken sind, dürfte nur wenigen Zeitungs-
lesern noch in Erinnerung sein, wir wenigstens bekennen, daß wir es gänzlich
vergessen hatte», bis wir hier wieder lernten, daß so jene im siebzehnten Jahr¬
hundert zum Islam übergetretenen Bulgaren genannt werden, die dem Berliner
Bertrage, durch den sie Ostrumelien zugeteilt worden waren, zuerst passiven,
dann aber sehr aktiven Widerstand entgegensetzten. Sie verdankten dem Religions¬
wechsel ihrer Boreltern eine bevorzugte Stellung, „zahlten keine Steuern, hatten
eigne Polizei, eigne Gerichtsbarkeit ohne geschriebene Gesetze und als Haupt
einen unter den Großen ihrer Dörfer gewählten Bey"; im Kriegsfalle stellten
sie freiwillig eine durch Tapferkeit ausgezeichnete Schar, und im Frieden
brandschatzten sie gern ihre christlichen Stammesbrüder. Wie sie den leiseste»
Versuch einer türkischen Behörde, ihre Unabhängigkeit anzutasten, zurückwiese»,
zeigt eine von unserm Verfasser erzählte Episode'aus dem Jahre 1845. In
den Jahren 1876 bis 1878 wüteten muhammedanische und christliche Bulgaren
gegen einander, die Russen waren nicht imstande, die Pvmaken in ihren Fclsen-
burgen des Rhvdopegebirges zu bezwingen, noch weniger konnte dies den
Rumelioten gelingen, und die Pvmakenfrage wurde endlich auf der Konstanti-
»opeler Konferenz ans die natürlichste Weise gelöst, d. h. durch Rückgabe des
Gebietes an die Türkei.
Die Vereinigung der beiden Bulgarien brachte den Verfasser in die Dienste
des Fürsten Alexander. Er — wie fast alle, die dem ersten Fürsten von
Bulgarien nähergetreten sind — ist entschieden von ihm eingenommen. Er
nimmt ihn gegen die russischen Anschuldigungen in Schutz und erkennt nnr
als richtig an, daß seine Bemühungen, Bulgarien auf eigue Füße zu stellen,
die Absichten Nußlnuds durchkreuzten. Die Einheitsbewegung, auch die Au-
schlußneigungen in Macedonien seien von den Russen lebhaft begünstigt worden,
weil sie hoffte», der Batteuberger werde dabei über Bord gehe». Schon die
Anwesenheit des Militärattaches i» Philippvpel, des Obersten Tschitschagov,
bei den Reisen und Trnppeubesichtigungen Alexanders in Ostrumelien müsse
hierfür zeugen. Der Feldzug gegen Serbien, die Anzettelungen der Russen
und Russeufreuude, der Pulses vom September 1880 — alles das ist noch
zu frisch in Erinnerung, als daß die Aufzeichnungen des preußischen Offiziers
über diese Zeit größeres Interesse in Anspruch nehmen könnten. Über einen
Punkt hofften wir hier Aufklärung zu erhalten, nämlich wie das unbegreifliche
Telegramm des Battenbergers an den Zaren, durch das er sich selbst Ver¬
bannte, zustande gekommen ist. Ob er in eine russische Falle geraten oder
verblendet gewesen ist? Doch der Verfasser druckt Wohl das verhängnisvolle
Telegramm nebst der Antwort ab und notirt dazu: „Abdankung des Fürsten —
tiefe Niedergeschlagenheit in der Armee und in dem Lande — Abreise des
Fürsten, der Fürst entschwindet den Blicken der Bulgarei: bei Widdin — die
Flagge halbmast kehrt die fürstliche Jacht zurück" — den Zusammenhang kennt
offenbar auch er nicht.
och zwei Stunden später saß Martha auf der Bank uuter
einem der Fettster, das nach dem Wege am See hinaus führte,
und durch dessen grüne Scheiben sich das goldrote Abendlicht
über ihren Nacken und ihre Schultern ergoß. Sie schien
ganz versunken in ihre Beschäftigung, sie rührte sich nicht,
blickte nicht um sich, sondern säumte fleißig an dem kleinen, grünen Rock, der
in ihrem Schoße ruhte und der mit einer Nadel an ihrem Knie befestigt war.
Eine jungfräuliche Röte vermischte sich mit dem Schimmer des Sonnen-
untergangs auf ihrer Wange. Sie hatte das Haupt auf die Brust geneigt,
die sich hinter dem leichten Sommerkleide hob und senkte, und mit rastloser
Unruhe liefen die zarten Finger über den Saum, trotz des leichten Nebels, der
vor ihren Augen zitterte. Denn auf dein Binsenstuhl vor ihr saß ein blonder
junger Murr und betrachtete sie unverwandt mit ein paar großen, binnen,
verliebten Augen.
Sie wußten wohl kaum selber, wie lauge sie so einander gegenüber ge¬
sessen hatten, ohne zu sprechen. Unbeweglich wie eine Marmorstatue ließ er
die Arme auf seinem Schoße ruhe», während er die Mütze mit beiden Händen
zwischen seinen Knieen hielt und mit den Augen jedem Stiche folgte, als hinge
sein eignes Schicksal an dem Faden. Das Geräusch ihrer Nadel und ihr
hastiger Atem wnreu das einzige, das man vernahm. Nur in langen Zwischen-
rüumen kam ein Marktwagen polternd draußen auf dem Wege vorüber und machte
das Haus erzittern; dann erhob der junge Mann einen Augenblick deu Kopf
zu den klirrenden Fensterscheiben, senkte thu aber unwillkürlich wieder, noch ehe
sich das Rasseln im Walde verloren hatte.
Er war sehr jung, kaum zwanzig Jahre alt, schlank, zart wie ein junges
Mädchen und fein gebaut wie ein Vogel, dabei hatte er den langen Hals und
die schmalen abfallenden Schultern, die das Kennzeichen des Jünglingsalters
sind. Unter dem Kinn trat der Adamsapfel wie ein kleiner Höcker hervor.
Die ganze Erscheinung aber schien gleichsam in der großen, kräftigen Nase zu
gipfeln, die der ganzen Persönlichkeit Ausdruck gab. Auf ihrem scharfen Rücken
saß ein blanker Klemmer, über dessen scharf geschliffenen Gläsern sich die blonden
Brauen wölbten.
Die Art, wie er wegen des niedrigen Sitzes des Binsenstnhles seine langen
Beine krümmte, machte vielleicht einen etwas komischen Eindruck. Aber der
Blick, mit dem er Martha betrachtete — so hingerissen, so voll heimlicher
Zärtlichkeit, so ganz verloren im Anschauen —, die verborgene, furchtsame
Leidenschaft, die in seinen Augen glühte und seine Wangen mit einer sust
kindlichen Röte färbte, verlieh feiner Erscheinung eine eigentümliche, rührende
Schönheit.
Hin und wieder ließ er die Finger durch sein Haar gleiten. Dann kam
plötzlich ein gespannter, unruhiger Ausdruck in sein Gesicht; seine Lippen be¬
wegten sich fieberhaft, und er rückte energisch den Klemmer zurecht, als wolle
er sich mit Gewalt ans seinen Träumereien reißen.
Mnrthas Ahnungen waren eingetroffen. Nachdem er Tag und Nacht mit
dem Zauber gekämpft hatte, in den ihre junge Schönheit ihn allmählich ge¬
bannt hatte, faßte er endlich eines Tages einen entscheidenden Entschluß. Indem
er sich selber zu einer ruhigen Auffassung ihres Verhältnisses zwang, konnte
er es sich nicht verhehlen, wozu es aller Wahrscheinlichkeit nach über kurz
oder laug sichren würde. Aber dieser Gedanke machte ihn plötzlich schwindeln.
Jetzt, wo er sich dem Ziele so nahe sah, verließ ihn der Mut. Er fühlte,
daß er doch nicht imstande sei, daß er es nicht wage, diese Schuld auf sich
zu laden, es war ihm unmöglich, ein Menschenleben zu vernichten, diese
Waldtaube zu rupfen, die er gleichsam in seineu Händen beben fühlte. Er
schämte sich bei dem Gedanken ein das, was er erstrebt hatte, und sein bis
dahin unbeflecktes Gewissen erhob seine warnende Stimme.
Sein Beschluß war gefaßt. Er wollte sich losreißen, er wollte von
dannen, wollte diese hervorsprudelnde Leidenschaft, die ihn zu über¬
wältigen drohte, siegreich bekämpfen. Im Kruge stund sein Koffer schon
gepackt, in der Schnellpost war für den nächsten Tag ein Platz für ihn be¬
stellt. Und jetzt war er gekommen, um Martha Lebewohl zu sagen, um sie
noch einmal zu sehen, ihr Dank für die glücklichen Stunden zuzuflüstern, die sie
ihm geschenkt hatte. Aber noch hatte er das entscheidende Wort nicht über
die Lippen bringen können.
Sobald er den Fuß über die Schwelle gesetzt und ihre schlanke Gestalt
erblickt habe, hatte ihn eine heftige Bewegung durchströmt. Jedesmal, wenn
er später hatte reden wollen, war ihm zu Mute gewesen, als steckte ihm etwas
in der Kehle. Und nun saß er bereits zwei Stunden hier und fühlte mit
Entsetzen, wie alles in seinem Innern stürmte und bebte.
Aber wie bezaubernd war sie auch, wie sie so da saß, leicht über ihre
Hände gebeugt! Das milde Licht des Sonnenuntergangs fiel immer goldiger
auf ihren Weißen Nacken, die kleinen, krausen Haare, die zwischen dem feinen
Flaum des Halses wüchse,?, in Fetter tauchend. Ihre Wange strahlte von
Glück. Die Nadel zitterte leicht zwischen ihren biegsamen Fingern, lind unter
dem hellen, halbdurchsichtigen Stoff wogte der Vusen, als wollte er ihn zu
einem Schlummer auf seinen weißen Kissen einladen.
Er gelobte sich im stillen, ihr Bild, sowie er es jetzt vor sich sah, in der
Erinnerung mit sich fortzunehmen. Er fühlte, daß es sein Trost und seine
Belohnung sein würde, wenn er dies Bild, ohne zu erröten, sich wieder ver¬
gegenwärtigen könnte. Wenn er nun bald wieder zwischen seinen Büchern
sitzen würde, sollte die Erinnerung an sie und an das kurze, glückliche Zu¬
sammenleben mit ihr seine heimliche Freude sein. Zug für Zug wollte er sie
in trüben Stunden vor seine Phantasie zaubern, um sich noch in der Erinne¬
rung an ihrer Schönheit zu erfreuen, an dem Schimmer, der über dieser
weichen Wange lag, an dem Glanz dieses blonden Haares lind den Gluten
dieser dunkeln Augen, deren rätselhafte Tiefe gleich bei der ersten Begegnung
einen solchen Zauber auf ihn ausgeübt hatte.
Bei der ersten Begegnung! Er dachte daran, als läge sie viele Jahre
zurück. Und doch waren kaum vierzehn Tage verflossen, seit er als freier,
fröhlicher Wandersmann, das Ränzel auf dem Rücken, mit seinem lustigen
Gesang die Vögel auf seinem Marsch durch deu Wald erschreckt hatte, ohne
zu ahnen, daß hinter dem kleinen, blühenden Strauch, den er vor sich am
Wege erblickte, das weibliche Wesen versteckt tag, das zum erstenmale die Dä¬
monen in seiner Brust erwecken sollte. Er schauderte noch, als er an deu
Augenblick zurückdachte, wo er mitten in der stillen Einsamkeit des großen,
finstern Waldes plötzlich ein paar nackte weibliche Füße erblickte, die halb im
Grase versteckt waren, und dann ein verblichenes Kleid und langes, blondes,
in schweren Flechten aufgebnndnes Haar; und endlich diese großen, wunder¬
baren Augen, die unter dem erhobenen Arm erschreckt mit flehendem, zitterndem
Blick zu ihm aufschauten.
Wie war ihm das Blut in dem Augenblicke in die Wangen geströmt!
Wie hatte ihm das Herz im Leibe geklopft! Und doch ahnte er damals nicht,
welcher Wahnsinn und welche Lust, welche stürmische Unruhe lind welches ruhelose
schnell diese Begegnung zur Folge haben würde, wieviel schlaflose Nächte,
wieviel qualvolle Stunden aus diesem einen, scheuen Blick entstehen sollten.
Martha! sagte er endlich.
Sie fuhr zusammen bei dem Klang seiner Stimme; die klang so leise, so
herzlich, sprach gleichsam heraus aus der Stille rings um sie her und schmolz
mit ihr zusammen. Aber es lag ein Klang von Verzweiflung, von Hilflosig¬
keit in der Stimme, den er nicht niederkämpfen konnte.
Woran dachten Sie eben, Martha?
Als ihre ganze Antwort darin bestand, lächelnd den Kopf noch tiefer über
die Hand zu beugen, fügte er nach einer Weile hinzu: Warum sind Sie so
schweigsam? Warum so ernsthaft?
Ich bin nicht ernsthaft, antwortete sie und lächelte wieder.
Aber stets gedankenvoll, wie? Weshalb sind Sie das?
Ja, das wird Wohl daher kommen, daß ich nicht viel Grund habe, lustig
zu sein!
Das habe ich von Ihnen nicht zu hören erwartet, Martha. Aber das
meinen Sie auch nicht — das können Sie nicht im Ernste meinen!
Sie lauschte eine Weile, als wartete sie auf eine Fortsetzung. Endlich
fragte sie leise: Warum denn nicht?
Weil — wer könnte Ihnen wohl Kummer bereiten? Wenn man so hübsch
ist und solche Augen hat, dann pflegt man nicht unglücklich zu sein. Ich
glaube eher, daß alle jungen Burschen des Dorfes Sie verliebt umschwärmen —
thun sie es etwa nicht? Und es wäre auch wirklich kein Wunder. Ich ver¬
stehe es nur zu gut, daß sie gern alle eine so liebe, kleine Frau haben möchten,
die ihren Mann vor Verliebtheit um Sinn und Verstand bringen könnte!
Ach, das meinen Sie ja gar nicht, sagte sie errötend, aber ihre Augen
senkten sich, als übersiele sie eine leise Ohnmacht.
Das meine ich nicht, Martha? — Er schüttelte den Kopf mit einer Art
von schmerzlicher Lustigkeit. Ach, nur viel zu sehr! viel zu sehr! Wissen
Sie, woran ich oft denken muß?
Nein, sagte sie, als sie merkte, daß er auf eine Autwort wartete.
Haben Sie nie von Nixen gehört, die in Mondscheinnächten von einer
Elfe unter einem Klettenblatt geboren werden? Nixen mit langem, gvld-
blondem Haar — genau so wie das Ihre! — und Augen, als blickte mau in
einen dunkeln Wald? Haben Sie nie von denen gehört?
Er saß wieder da, die Arme auf die Kniee gestützt und beugte sich zu
ihr hinüber, Sie antwortete nicht, sondern lachte nur.
Wisse» Sie, was ich nur von den Nixen habe erzählen lassen? Sie be¬
kommen als Patengescheuk ein Zaubermittel, eine geheimnisvolle Hexensalbe,
die aus dem Flügelstaube eines Schmetterlings, Körnchen von dem Gest, mit
dem das Moorweib brant, und der Thräne einer sechzehnjähriger Jungfrau
bereitet wird. Sie bekommen die Salbe in einer ganz kleinen Kruke, in einem
Eichelbecher; und wenn sie den Schritt des Wanderers im Walde vernehmen,
stellen sie sich auf die Lauer, und im Handumdrehen ist er wie verwandelt.
Sagen Sie nur, hatten Sie eine solche kleine Kruke damals bei sich, als wir
einander zuerst begegneten?
Sie lachte wieder.
Es war mir, als fühlte ich einen unsichtbaren Finger über meine Augen¬
lider streichen. Sie sind sicher eine kleine Hexe, Martha. Wohnen Sie nicht
eigentlich draußen zwischen den Irrlichtern? Dort sitzt ein kleiner Schelm in
Ihren Augen, sieh, da ist er wieder! Martha, Martha! Wie konnten Sie es
nur übers Herz bringen? Ich hatte Ihnen doch nichts zu Leide ge¬
than — wie?
Ach — das hat wohl keine Not, sagte sie lachend. Dann strich sie eine
kleine Locke hinters Ohr und schöpfte dabei leise Atem.
Meinen Sie nicht? Was würden Sie denn gesagt haben, wenn ich Sie
entführt hätte — weit fort von hier? Es ist sehr gefährlich für schöne, junge
Mädchen, allein in den Wald zu gehen. War Ihnen denn gar nicht bange?
Wenn ich Sie nun z. B. geküßt hätte?
Dann hätte ich Sie geschlagen, sagte sie lachend.
Aber wenn ich es jetzt thäte?
Es ging ein leichtes Beben durch ihre Glieder. Auch seine Wangen
glühten, und er schaute sie unverwandt an.
Was würden Sie sagen, wenn ich Sie um einen Kuß bäte, Martha?
Würden Sie böse werden? Es soll nur eiuer sein — zur Erinnerung an Sie
und an den Wald hier und an den See und an die Tage unsers Zusammen¬
seins. Ich werde sicher oft an das alles denken, wenn ich fort bin; wir haben
eine so schöne Zeit mit einander verlebt, nicht wahr? Und um möchte ich
gern, daß — ja wissen Sie — ich — ich bin gekommen, um Ihnen Lebewohl
zu sagen, Martha!
Wollen Sie fort? fragte sie und blickte ihn plötzlich voll in die Augen.
Als er ihre Bewegung gewahrte, wurden seine Augen hinter den Gläsern
feucht. Er nickte stumm und senkte den Kopf.
Ach so, sagte sie kaum hörbar.
Es währte eine Weile, ehe der junge Murr seiner Stimme wieder mächtig
war; trotzdem war er scheinbar ruhig und gefaßt. Er dankte, ihr für die
flüchtige, aber so angenehme Bekanntschaft und gab in wohlgesetzter Rede
seinem Bedauern Ausdruck, daß er gezwungen sei, ein Zusammensein abzu¬
brechen, das ihn, so viel Freude gewährt habe. Schließlich bat er sie, seiner
freundlich zu gedenken.
Aber Martha hörte nur die Hälfte von dem, was er sagte. Sie war
sehr bleich geworden und saß mit halbgeschlossenen Augen da, über ihr Näh¬
zeug gebeugt wie in einer Betäubung. Nur einzelne, abgerissene Worte drangen
mit eigentümlicher Klarheit in ihr Bewußtsein und zauberten wechselnde Bilder
vor ihre Seele. Sie wunderte sich selber, daß sie nicht umfiel, es war ihr,
als schwebte sie. Als sie aber das Meer nennen hörte, lag es auch sogleich
vor ihr, groß und blank, wie um einem ganz frühen Sommermorgen in
ihrer Kindheit, als die langen, flachen Wellen sich langsam über den Sand
des Strandes hinschoben gleich blanken Scheiben aus Gold und Perlmutter.
Als sie merkte, daß er sich vom Stuhle erhob, legte sie ihr Nähzeug auf
die Bank und stand ebenfalls auf. Und als sie sah, daß er ihr die Hand
reichte, gab sie ihm. mechanisch die ihre, senkte aber den Blick mit Gewalt zu
Boden.
Also leben Sie wohl, Martha! Und lassen Sie sichs gut gehen! hörte
sie ihn sagen. Aber es klang wie aus weiter Ferne.
Danke! erwiederte sie.
Ich wünsche Ihnen viel Glück und alles Gute! Lassen Sie sichs recht,
recht gut gehen!
Danke!
Und wenn Sie einmal eine glückliche Frau werden mit eignem Hause,
oder vielleicht gar mit eignem Bauerhof, wenn Sie Ihr eignes Heim haben
und Ihren Mann und alles — wollen Sie dann —
Plötzlich zog Martha ihre Hand aus der seinen und wandte sich hastig
uni, den Arm vor die Augen haltend. Und als sie eine Weile so gestanden
hatte, schwankte sie auf den großen, hölzernen Koffer zu und warf sich darüber
hin, während ihr zarter Leib mit der heftigen Bewegung in ihrem Innern
kämpfte. Man vernahm kein Schluchzen, aber es verrann eine ganze Minute
in schmerzlichem Schweigen.
Der junge Mann hatte anfangs verwundert die Augenbrauen in die
Höhe gezogen. Allmählich aber starrte er sie immer unruhiger und ratloser
durch seinen Klemmer an. Zwei dunkelrote Flecke kamen und schwanden blitz¬
schnell auf seinen bleichen Wangen, und die Finger der linken Hand umschlossen
krampfhaft die Stahlkette an der Weste. Endlich durchfuhr es ihn wie ein
stummer Schrei; er warf die Mütze auf den Stuhl, umschlang sie mit beiden
Armen und führte sie zu der Bank, wo sie beide niedersanken.
Martha! flüsterte er. Wir wolle» uns nicht trennen! Ich reise nicht!
Ich kann nicht von dir lassen! Ich will hier bleiben. Ich liebe dich! Ich
habe dich seit dem ersten Tage geliebt. Du kannst nicht fassen, wie teuer du
mir gewesen bist. Jedesmal, wenn ich an dich dachte, war ich wie von Sinnen.
Ich habe nicht schlafen können — ich — Und du hast mich auch lieb, uicht
wahr? Hast du mich nicht lieb, Martha? Ich habe es dir ja angesehen!
Nicht wahr, du liebst mich! Ach, sag es mir doch!
Durch diese plötzliche Umarmung, diesen heftigen Ausbruch der so lange
zurückgehaltenen Leidenschaft des jungen Mannes, kam Martha schnell zur Be¬
sinnung. Eine ängstliche Blässe überfiel ihre Wangen, und ihre Glieder zitterten
vom Scheitel bis zur Sohle. Da sie keine Kraft hatte, sich von seiner Um¬
armung zu befreien, wandte sie sich ab und barg ihr Antlitz in den Händen,
als wollte sie mit Gewalt Herz und Ohr vor dem Strome von Zärtlichkeit,
von Liebkosungen, von gestammelten Geständnissen und sündigen Bitten ver¬
schließen, mit denen er sie unaufhaltsam überschwemmte.
Halten Sie ein! Halten Sie ein! stöhnte sie atemlos und beugte sich ganz
zusammen über ihr pochendes Herz. Wie in einem Wirbel lief ihr das
Schicksal der Mutter, das Schicksal Anne-Melech und Jörgineus furchtbares
Los durch den Kopf. Und doch war es eine Minute höchsten Glückes, als er
endlich vor ihr auf die Kniee sank, bleich, verwirrt, ihre Hand mit Küssen
bedeckend, die zärtlichsten Namen stammelnd.
Plötzlich hob sie den Kopf und griff voller Angst nach seinem Arm.
Se! kommt da uicht jemand? — Auch er erhob sich hastig und lauschte. In
weiter Ferne erklangen wirklich Schritte.
Das ist die Mutter! sagte sie. Sie darf Sie nicht sehen! Sie müssen
gehen! flehte sie und streckte die gefalteten Hände aus.
Er gehorchte sofort. Vorher jedoch ergriff er ihre Hände und zog sie
noch einmal leidenschaftlich an sich. Als sie seinem Blick begegnete, färbte ihr
tiefe Scham aufs neue Hals und Wangen, und als fie abermals einen
brennenden Kuß auf ihrer Wange fühlte, sank sie ihm willenlos an die Brust.
Bist du mein? flüsterte er.
Ja!
Und willst dn heute abend, wenn es dunkel wird, bei der großen
Eiche sein?
Sie blickte ihn mit einem kurzen, eigentümlichen Blick an und entwand
sich langsam seinem Arm; dann ging sie an den großen Koffer und legte aber¬
mals Kopf und Hände auf die Kante desselben. Ein brennende Röte bedeckte
ihre Wangen. Er folgte ihr nicht.
Wirst du kommen, Martha? flehte er. Wirst dn kommen?
Ja! — Es kam heiser, fast lautlos heraus. Wenn ich an den Stamm
klopfe — hörst du?
Ja — geh nur! geh!
Ich kann mich darauf verlassen?
Ja!
Danke, Martha — danke! Er griff hastig nach seiner Mütze, warf ihr
einen Kuß zu und eilte hinaus. —
Die Schritte, die näher gekommen waren, hielten gerade in demselben
Augenblick auf der Brücke inne, als der junge Mann dnrch die Außenthür
schlüpfte. Gleich darauf wurden sie wieder vernehmbar, und jetzt klapperten
sie auf der Diele. Vorsichtig drückte eine Hand auf die Klinke, und die Thür
ward geöffnet.
Martha, die sich in Erregung über eine Stuhllehne geworfen hatte, erhob
sich schwankend und strich das Haar mit der Hand aus den Augen. Als sie
sich aber umwandte, stieß sie einen Schrei ans — Jespers große Gestalt stand
an der Thür und starrte sie an.
Er war festlich angethan mit rotem Halstuch lind breitkrnmpigem Hute,
sah aber unheimlich bleich aus. Sie fuhr zusammen, als sie seinem Blick
begegnete, der sie mißtrauisch durchbohrte. Aber plötzlich, wie ein Blitz, ver¬
wandelte sich der Ausdruck in ihrem Gesicht. Ein unaussprechlicher Wider¬
wille , eine grenzenlose Verachtung für diesen Menschen erwachte in diesem
Augenblick in ihrer Seele und schlug ihr wie Flammen aus den Augen; und
obgleich sie sich uur mit Mühe aufrecht hielt, richtete sie sich mit Aufbietung
aller Kräfte empor und ging kühl an ihm vorüber durchs Zimmer. Ruhig
setzte sie sich auf ihren gewöhnlichen Platz ans Fenster und nahm ihre Näh¬
arbeit zur Hand.
Ich glaubte, es sei die Mutter, sagte sie nur.
Er war an der Thür stehen geblieben und ließ die Angen hastig und
prüfend durchs Zimmer gleiten. Endlich fielen sie auf ein Präsentirbrett
mit einer Flasche und zwei zur Hälfte geleerten Gläsern, das ans dein
Tische stand.
Ich komme wohl etwas ungelegen, sagte er und sah sie mit seinein hä߬
lichen Lächeln an. Du hattest, wenn ich nicht irre, Besuch?
Es war ein Herr hier, der ein Glas Pfeffermünze verlangte, sagte sie
gleichgiltig.
Hin! Er näherte sich langsam und beugte sich schließlich über den Präsen-
tirteller. Trank er etwa aus zwei Glasern?
Er lud mich ein, ein Glas mit ihm zu trinken.
Sieh sieh! Und was liegt denn hier? Weiß Gott, ein blankes Zwei-
trvueiistück! Er wandte den Kopf nach ihr um, seine Hände, seine blauen
Lippen, sein ganzer starker Körper zitterte — du hast ihn gut bezahlen lassen!
Martha hatte den Blick erhoben, senkte ihn aber wieder und errötete
leicht.
Davon wußte ich gar nichts! übrigens gab er, was er wollte.
Er sah sie giftig an. — Er erhielt wohl auch, was er wollte — halt dein
Lügenmaul!
Es schwirrte förmlich im Zimmer, und Martha erbleichte. Mit einem
gräulichen Fluche schleuderte er seinen Hut in eine Ecke und warf sich selber
auf einen Stuhl.
Nach eiuer Weile lachte er wieder gellend auf. Wie schade, daß ich euch
gerade stören mußte! Ihr wart wohl sehr vergnügt mit einander? Und
meiner Treu, Ohrringe hast du auch bekommen? Dn wirst ja ganz Mords¬
mäßig sein, Marthn? Ein richtiges Zierpüppchen, wie? Und das Taschentuch
neulich, von reiner Seide natürlich, das war wohl mich von dem kleinen An¬
beter, der vorhin durch die Hinterthür schlüpfte, als ich kam?
Von dir war es jedenfalls nicht.
Das war, weiß Gott, eine recht männliche Erscheinung! ein herrlicher
Fang, meiner Treu ! Ha ha ha! Er sah wahrhaftig ans, als hätte ihn einer
ausgespieen! Aber einerlei! Wenn er glaubt, daß er jedem auf der Nase
herumtanzen kann, weil er ein bischen weiß und rot aussieht und ein paar
Schillinge mehr in der Tasche hat als audere, dann soll er bald sehen, daß
er sich geirrt hat, verstehst du mich! — Er schlug mit der Faust auf den Tisch,
daß alle Gläser tanzten.
Dn hast deinen Rausch, mit dein d» dich in der letzten Zeit herum¬
getrieben hast, wohl noch nicht ausgeschlafen, sagte Martha endlich leise, aber
mit zornbebcnder Stimme. Übrigens habe ich es dir oft genug gesagt, daß
ich dich nicht gebeten habe, mich zu nehmen. Dn weißt doch gewiß selber,
daß ich am liebsten nichts mit dir zu thun haben will; und wenn dir die Sache
nicht mehr paßt, so kannst du ja gehen.
Das kaun ich much, Martha, und das will ich auch, erwiederte er nach
einer Weile laugsam und bedächtig. Seine Stimme klang plötzlich gebrochen
und traurig, er sah sie lange mit kummervollem Blicke an. Aber ich finde,
du solltest die Sache nicht so leicht nehmen, Martha. Laß es mit uns nur
aufhellt, es hat ja doch niemals Art gehabt, denn du hast dir vou vornherein
nichts aus mir gemacht, du hast immer hoch hinausgewollt, Martha! Aber
glaube mir, es nimmt ein Eude mit Schrecken! Hast du dich wirklich vergafft
in den kleinen Heuspriuger, weil er dir schön thut, so ist es natürlich für dich
am schlimmsten. Wenn du aber glaubst, daß ich mich herumgetrieben habe
— jetzt ist es freilich einerlei, wo ich gewesen bin, denn zwischen uns ist es ans,
und deshalb kommt es nicht darauf an — aber das will ich dir nur sage»,
wer dir das erzählt hat, ist ein Lügner und Ehrabschneider! Hast dn mich
verstanden?
Martha erwiederte nichts. Sie hatte ihr Nähzeug auf die Bank gelegt
und sich nach dem Fenster umgewandt. Das Kinn auf ihre Hand und den
Ellenbogen auf das Fensterbret stützend, blickte sie z» den letzten, scheidenden
Sonnenstrahlen über den Wipfeln des Waldes h nüber.
Es ist nur jammerschade, begann Jespcr wieder nach einer Weile in noch
leiseren, schwermütigerem Töne, indem er mit feuchten Augen um sich blickte,
es ist nur jammerschade, daß ich es uicht ein bischen früher gewußt habe.
Dann hätte ich es mir sparen können, das Mühlenhans zu kaufen.
Das Mühlenhaus? wiederholte Martha und wandte den Kopf halb nach
ihm herum. Hast du das Mühlenhaus gekauft? fragte sie nochmals, als er
schwieg.
Ich hatte gehört, daß dir es so gern hättest. Und da es gerade zu kaufen
war, dachte ich, daß ich dir den Willen wohl thun könnte, selbst ans die Ge¬
fahr hin, daß der Kauf ein etwas größres Loch in den Beutel reißen würde,
als gerade vernünftig ist. Es liegt ja auch hübsch und hat einen Garten und
ein stated. Und dann dachte ich, daß es wohl gehen würde, wenn ich es
ein bischen aufputzte und anmalte. Und jetzt habe ich gerade einen neuen Fu߬
boden im Erdgeschoß legen lassen, und nach dem Wege hinaus sind drei Fach
neue Fenster eingesetzt. Fein ist das Ganze freilich nicht, das weiß ich selber,
obwohl ich gethan habe, was in meinen Kräften stand. Aber es ist ja jetzt
doch alles einerlei, denn uun habe ich keine Verwendung mehr dafür.
Nach diesen Worten wurde es still im Zimmer, Martha hatte sich ihm
allmählich völlig zugewandt. Jetzt senkte sie deu Kopf und sah lange mit
zusammengebissnen Lippen auf ihre rechte Hand herab, die krampfhaft die
Kante der Bank umschloß.
Jesper, begann sie endlich, ohne die Augen zu erheben, mit heisrer, klang¬
loser Stimme, weshalb bist dn nur einmal so? ,
Weil ich nicht anders bin, antwortete er und blickte sie wieder fest an.
lind so, wie ich jetzt bin, so hast dn mir damals, an dem Abend, als wir
zusammen aus der Stadt kamen, dein Jawort gegeben. Aber warum bist du
nicht mehr so, wie du früher gewesen bist?
Warum bist dn immer so unbändig, Jesper?
Ach, du weißt sehr wohl, daß ich es nicht so schlimm meine. Aber du
selber machst mich rasend. Wenn du so gegen mich gewesen wärest, wie andre
Verlobte mit einander sind, so wäre ich auch wohl so geworden, wie ich hätte
werden sollen. Aber hast du mir auch nur ein einziges gutes Wort gegeben?
Wenn ich kam, wußtest du kaum, ob du mich überhaupt kennen oder mir die
Hand geben solltest; du betrachtetest mich, als sei ich ein Schaf oder ein Hund.
Glaubst du denn, daß aus einem solchen Verkehr etwas andres als Schlimmes
kommen kann? Und wie kannst du wissen, wie ich bin oder wie ich werde,
wenn du niemals mit mir reden, wenn du mich uicht anhören willst? das
möchte ich dich fragen. Und was glaubst du denn, was man im Dorfe dar¬
über redet? Es ist noch gar nicht lange her, als mich dieses Lästermaul, der
Lanritz, fragte, ob ich dich eigentlich schon einmal geküßt hätte. Daß mich
so etwas erbost, kannst dn dir doch denken. Und wenn ich dann so einem
Kerl seinen wohlverdienten Lohn gebe, dann stellst dn dich unklug an und
verschließest dich in deiner Kammer. Deswegen sage ich: wenn man auf die
Art und Weise verlobt sein soll, dann ist es besser, man bleibt aus einander.
Er stützte die Wange in die Hand und starrte schwermütig vor sich hin.
Jetzt erhob sich Martha langsam von der Bank, trat leise an ihn hinan
und legte ihre Hand auf seine Schulter.
Jesper, wollen wir wieder gute Freunde sei»?
Ach, zwischen uns beiden nützt das nichts mehr. Wir passen doch nicht
zusammen. Daran laßt sich jetzt nichts mehr ändern.
Ja, erwiderte sie und schlang den gauzeu Urin um seine Schulter, ohne
ihn dabei anzusehen. Wenn du jetzt nur willst, dann soll alles besser werden.
Bon heute an wird alles wieder gut.
Ist es auch wirklich dein Ernst, Mnrtha? und glaubst du, daß du es
durchführen kannst? den» sonst wollen wir lieber jetzt gleich der Sache ein Ende
machen.
Nein, du kannst dich auf mich verlassen. Von heute an soll alles anders
werden.
Er erhob sich langsam und sah sie zögernd an.
Aber er, der Kleine —- ich meine — ist da nicht — hat er nicht —?
Nein, sagte sie und errötete.
Willst du mir einen Kuß drauf geben?
Ja.
Aber einen richtigen Kuß?
Ja.
Durch ihren ganzen Körper ging ein leises Beben, als seine harten Hände
ihr Handgelenk umschlossen, als sie die dicken Lippen sah, die er ihr hinhielt.
Aber mit einer Kraftanstrengung raffte sie sich zusammen und reichte ihm
ihren Mund.
(Fortsetzung folgt)
er Besuch, den der voraussichtliche Erbe des Thrones von Gro߬
britannien vor kurzem dem Schutzlande der Engländer am Nil
abstattete, ist in Paris sehr übel genommen worden und hat der
dortigen Presse wieder einmal Veranlassung zu heftigen Kund-
gebungen ihres Verdrusses über die Stellung gegeben, die sich
England dort mit kluger und entschlossener Benutzung der Umstände verschafft
und trotz wiederholter amtlicher Einwände und Mahnungen von französischer
Seite beharrlich festgehalten hat. Die Sache geht auch nus nahe an, da Eng¬
land hier gleich uns Deutschen und unsern Genossen im Dreibnnde eine be¬
friedigte und Erhaltung des Bestehenden erstrebende Macht ist, Frankreich da¬
gegen hier wie uns gegenüber Verlornes beklagt und wieder zu gewinnen sucht,
und so möchten Nur die Frage, in der die jetzige Erregung der Franzosen über
die üghptische Reise des Prin^in von Wales nur ein Glied bildet, etwas aus¬
führlicher besprechen.
Als der britische Thronfolger in Kairo einzog, glänzte die dortige fran¬
zösische Kolonie mit Einschluß ihrer amtliche,? Spitzen dnrch ihre Abwesenheit.
Das war gegen das Herkommen und konnte bei Angehörigen eines Volkes, das
lange in dem Rufe gestanden hat, besonders höflich zu sein, umsomehr auf¬
fallen, als es auf den ersten Blick nicht recht zu begreifen war. Denn die
britische Politik ist nicht gewohnt, Mitglieder ihres Herrscherhauses mit Ver¬
mittlung ihrer geheimen Absichten und Geschäfte zu beauftrage», und so er¬
schien auch der Prinz von Wales hier nicht in politischer Sendung. Näher
besehen aber wird nus das Fehlen der Franzosen beim Empfange desselben
verständlicher; sie blieben, während andre Fremde erschienen, davon weg, um
ihren Groll über die jüngste englische Politik in Ägypten überhaupt und deren
Erfolge kundzugeben, und dazu hatten sie allerdings reichlich Grund und Ur¬
sache. Es mußte bei der öffentlichen Meinung in Frankreich schon lange
bittere Gefühle erwecken, wenn sie erfuhr, daß England sich in einem Lande
festgesetzt und bei dessen Bevölkerung durch gute Verwaltung empfohlen hatte,
das man sich in Frankreich seit Jahrzehnten halt, als eignen Besitz anzusehen
gewohnt hatte. Seine Entwicklung ans unnatürlicher Armut zu Fülle und
Wohlstand schreitet stetig sort, es blüht auf, seine Hilfsquellen sind erschlossen
und fließen reichlich, aber nicht zum Korteile der Franzosen. Zwar ist das
Begehren darnach nicht leicht zu verstehen; denn wenn es erfüllt würde, wenn
Ägypten wie Tunesien unter ausschließlichen französischen Einfluß gelangte oder
gar wie Algerien in französischen Besitz überginge, so würden die Franzosen
nicht zu kolonisiren verstehen. Die Gabe ist ihnen eben nicht zu teil geworden,
wie alle überseeischen Länder, die sie sich angeeignet haben, mehr oder minder
deutlich beweisen. Auch würden sie kaum imstande sein, es gegen eine starke
Seemacht auf die Dauer zu behaupten, namentlich wenn diese mit einer oder
mehreren Landmächten ersten Ranges verbündet aufträte. Frankreich hat in
den genannten beiden Landschaften schon mehr vom afrikanischen Gebiete, als
es verdauen kann. Sein Handel mit Ägypten ist verhältnismäßig unbeträcht¬
lich. Dennoch klammert es sich an alte Überlieferungen ans der Zeit, wo die
Beherrscher des untern Nillandes ganz unter französischem Einflüsse standen
und fast unbedingt den Ratschlägen folgten, die ihnen von Paris zugingen.
Diese Erinnerungen beginnen mit der Ära des ersten Napoleon, dessen Zug
nach dem Lande der Pyramiden ein Teil seines großartigen Planes war,
den Engländern im Osten einen vernichtenden Schlag beizubringen und so die
Niederlage zu rächen, die kurz vorher die französische ostindische Kompagnie
mit ihrem Plane erlitten hatte, in Indien ein großes Reich zu gründen. So
lebte die erbliche Nebenbuhlerschaft der beiden Völker, die bald auf dem euro¬
päischen Festlande, bald in Nordamerika, bald auf der indischen Halbinsel mit
einander gekämpft hatten, jetzt am Nil wieder auf, und Frankreich schien bereits
den Sieg behalten zu sollen, als Nelson durch seinen Erfolg bei Abukir den
Hoffnungen der Franzosen gründlich ein Ende bereitete. Diese flammten in
andrer Gestalt unter Mehemed Ali wieder ans, dessen Politik in der zweiten
Hälfte seiner Herrschaft vo» Paris hergeleitet wurde, und der auch der fran¬
zösischen Kultur sein Land öffnete, französische Offiziere und Ingenieure be¬
schäftigte und französische Einrichtungen einführte, was von seinen Nachfolgern,
namentlich Ismail Pascha, fortgesetzt wurde. Noch mehr aber erhoben sich
diese Hoffnungen, als Ferdinand von Lesfeps in Übereinstimmung und mit Unter¬
stützung des vorletzten Khedive den Suezkanal erbaute, und noch später, als die
republikanischen Staatsweisen in Paris die sogenannte Doppelkontrole erfanden.
Aber wieder endigten die Erwartungen, die man an diese Unternehmungen und
Einrichtungen geknüpft hatte, mit schweren Enttäuschungen: der Kanal wurde
zur großen Wasserstraße nicht für den französischen, sondern für den britische»
Handel, und die zweifache Kontrole mußte der alleinigen englischen Oberaufsicht
Platz macheu. Gleich unglücklich war die französische Politik mit denen, die
unter den Ägyptern für sie thätig waren. Der rebellische Vasall der Pforte,
Mehemed Ali, wurde auf seinein Siegeslaufe gegen den Sultan Mahumed von
den Großmächten aufgehalten und zurückgewiesen und die Empörung Arabi
Paschas durch ein englisches Heer mit Zustimmung Europas niedergeworfen.
Die einzige wirksame Gegenmaßregel, die Frankreich seitdem wagte, war seine
Weigerung, eine finanzielle Abänderung der Dinge zu erlauben, die den ägyp¬
tischen Steuerzahler» ungefähr zwanzig Millionen Mark das Jahr in den
Taschen gelassen haben würde — ein Verfahren, das einem großen Staate
nicht gerade schön zu Gesichte stand, und das sich nur mit dem Erfahrungs-
sätze erklären läßt, daß Nationen, die keine Politik großen Stils mehr treiben
können, häufig der Meinung sind, sich durch kleinliche Äußerungen des Grolles
und persönlicher Ungefälligkeit und UnHöflichkeit dafür schadlos halten zu dürfen,
womit sie aber dem Gegner nur kleine Steine in den Weg werfen und mehr
dein eignen Ansehen Abbruch thun.
Nun kann man der Ansicht sein, daß England, indem es aus dem Streite
mit Frankreich um die Beeinflussung Ägyptens siegreich hervorgegangen sei,
diesen Erfolg allein seiner überlegnen Staatsklugheit zu verdanken habe. Aber
dies ist bei genauerer Betrachtung der Ereignisse unbegründet oder wenigstens
sehr einzuschränken. Jeder ruhige Beobachter des Ganges der Dinge wird
vielmehr gewahr werden, daß jener Erfolg der britischen Politik am Nil zum
guten Teile trotz mancher Jrrgünge und Mißgriffe erreicht worden ist. Der
Suezkanal hat sich als ein gewaltiges Förderungsmittel des englischen Handels
und des gesamten Verkehrs Großbritanniens mit seinen Kolonien in Indien
und Australien erwiesen. Aber zuerst leistete England diesem französischen
Unternehmen aus alleu Kräften jeden möglichen Widerstand, indem Lord
Palmerston, der überhaupt als Staatsmann sehr überschätzt worden ist, und
die hervorragendsten englischen Sachverstandigen im Baufach und in Sachen
des Verkehrs, verblendet durch internationale Eifersucht, den Plan und Ge¬
danken der künstliche» Wasserstraße zwischen dem Mittelländischen und dem
Roten Meere für unausführbar erklärten und so die Beteiligung der englischen
Geldleute an der Aufbringung der Kosten verhinderten. Das hieß sehr unbe¬
sonnen urteilen, und gerade durch diese vorschnelle Abwendung von der Vor¬
bereitung des vielversprechenden Unternehmens und dessen eifrige und hart¬
näckige Anfeindung gelang es, die Franzosen dafür zu begeistern. Hätten sich
die Engländer bloß gleichgiltig dazu verhalte», hätten sie sich nur lau dafür
interessirt oder hätten sie es auch lebhast willkommen geheißen und kräftig zu
unterstützen Miene gemacht, so Hütte man in Frankreich wahrscheinlich kein
Herz dafür gehabt. Wie es dagegen in Wirklichkeit stand, wendete sich Lesseps
MI seine Landsleute und zeigte ihnen, daß England mit seiner herkömmlichen
selbstsüchtigen Schlauheit herausgefunden habe, wie der Kanal ein Schlag gegen
seinen Handel und seine Herrschaft im Osten der alten Welt werden müsse; es
bekämpft ihn, rief er ihnen zu, mit allen Mitteln, mit seiner Diplomatie und
seiner Presse, wollen da die Franzosen thatenlos zuschauen und gestatten, daß
der Urheber des Planes, der Fürsprecher und Vorkämpfer des französischen
Interesses unterliegt? Die Ansprache that ihre volle Wirkung: Hunderttausende
von kleinen Kapitalisten entsprachen ihr und schütteten ihre Ersparnisse in die Kasse
des klugen Ingenieurs und Wirtschaftspolitikers. Hätte England mehr Weitblick
besessen und ein Unternehmen, das seinen Verkehr mit dem Osten sehr wesentlich zu
erleichtern versprach, freudig begrüßt, so wäre in Frankreich vermutlich uicht der
zwanzigste Teil jener Geldsumme gezeichnet worden, die Lesfepssich damals zufließen
sah. So haben denn die thörichten Meinungen und Handlungen der Engländer
in dieser Angelegenheit, deren glücklicher Ausgang dem Staate Ägypten doppelten
Wert gegeben hat, mehr für Englands Interesse gethan als alle Klugheit für
sie vermocht hätte. Frankreich hat den Kanal, ohne es zu wollen, für Eng¬
land gebaut, und dieses hat sich das später in doppelter Weise zu nutze zu
machen verstanden. Er ist jetzt und schon seit Jahren in jeder Beziehung vor
allen Dingen ein britischer Handelsweg und eine Verkürzung der Entfernung
zwischen der westlichen und der östlichen Hälfte des britischen Weltreichs. Die
englische Schiffahrt bezahlt drei Viertel der Abgaben, die für die Durchfahrt
erhoben werde,?, und wenn die Aktien, die Lord Beaconsfield dem Khedive
Ismail abgekauft hat, Zinsen tragen, so wird England mehr als den dritten
Teil dessen einstreichen, was der jährliche Gesamtertrag des Kanals sein wird.
Das ist jedoch nicht das Verdienst britischer Staatskunst oder Folge von
Zaubermitteln, mit denen sie Unklugheiten in Triumphe zu verwandeln vermocht
hätte, sondern diese Staatskunst ist, wenn wir von Beaeonsfields klugem Kaufe
absehen, gewissermaßen in den Erfolg hineingetaumelt. Der Zauber liegt in
andern Kreisen. Die englischen Kaufleute, Fabrikanten, Schiffseigner und See¬
leute sind es, die mit geschickter und rühriger Benutzung der Mittel und Wege,
die dem Lande von der Natur zur Verfügung gestellt waren, den Handel des¬
selben so mächtig gemacht haben, daß jede neue Wasserstraße, jeder neue Hafen,
jedes neu erschlossene überseeische Land in der Regel nach wenigen Jahren die
Bedeutung eines Zuwachses an wirtschaftlichem Überwiegen für England be¬
deutet. Ein andres Beispiel dafür neben Ägypten ist Tonkin. Es ist von
den Franzosen erobert worden, aber die Engländer machen dort trotz der ihnen
feindlichen Tarife bei weitem mehr Geschäfte als seine Herren, denen das Land
fast so viel kostet, als es ihnen einträgt. Der Franzose hat zwar mehr Ge¬
schmack in der Industrie als der Engländer, er versteht sich aufs Vergnügen,
auf die Schaustellung, much auf den Erwerb von Land durch Waffengewalt,
aber er weiß seine Erwerbungen jenseits der Meere nicht recht zu regieren
und auszubauen, den Handelsverkehr in entfernten Gegenden nicht frucht¬
bringend zu gestalten, kurz, uicht zu kolonisiren. Gegenwärtig leidet Tonkin
an den Nachteilen eines Streites zwischen der dortigen Zivilgewalt und der
obersten Militärbehörde, die sich ihr unterordnen soll, aber sich dagegen sträubt,
und sein Handel wird behindert durch Beamtenscherereien und ein Netzwerk
unpraktischer Vorschriften. Es giebt dort wenig französische Ansiedler, nicht
bloß wegen des ungesunden Klimas, sondern auch und mehr noch, weil der
junge Franzose eine Stelle in Paris mit dreitausend Franken jährlich einer
überseeischen vorzuziehen Pflegt, die ihm in wenigen Jahren das zehnfache ein¬
zubringen verspricht, aber freilich eine Art Selbstverbannung bedeutet. Wenn
die Engländer vortreffliche Kolonisatoren sind, so liegt das nicht so sehr darin,
daß sie mehr Verstand besitzen als die Franzosen, sondern in ihrer großen?
Befähigung, ein Leben in der Einsamkeit, ohne Vergnügungen, ohne die Reize
geselligen Verkehrs, voll Mühe, Entsagung und Gefahr zu ertragen, wobei sie
sich mehr auf sich selbst zu verlassen haben als auf Fürsorge und Anleitung
der Behörden. Hätten sich die Engländer von dem Leben in Pakt Malt,
Piceadilly und Regentstreet so sehr angezogen gefühlt wie die Franzosen von
dem auf den Boulevards von Paris und andern ihrer Hauptstädte, so würden
sie nicht im Westen den Grund zu einem großen republikanischen Bundesstaate
gelegt haben, nicht im Osten ein riesenhaftes Kaisertum besitzen und uicht in
Australien blühende Kolonien haben, und so würde ihnen auch ihr jetziger Ein¬
fluß in Ägypten nur insofern nützen, als er ihnen für Kriegsfülle gestattet,
die Hand auf den Kanal zu legen, den die Franzosen in erster Reihe für sie
geschaffen haben.
Der Prinz von Wales hatte bei seiner Reise nach Kairo keinerlei politische
Zwecke vor Augen. Aber seine dortige Anwesenheit erinnerte in Paris wieder
einmal lebhafter an die Veränderung, die sich seit dem Aufstände Arabis in
Ägypten vollzogen hat — sieben fette und immer fetter werdende Jahre nach
ebenso vielen dürren 1875—1882. Englische Verwaltungsbeamte im Dienste
des Khedive Tewfik, die Offiziere der englischen Besatzung und des englischen
Militärs, welche die umgebildete Armee Ägyptens befehligen, empfingen die
königliche Hoheit aus London. Die hervorragendsten unter den Persönlich¬
keiten, die von der Feierlichkeit fern blieben, waren der französische Konsul
und Mukhtar Pascha, der Vertreter des Sultaus. Auf sie lenkte die Erinnerung
der Welt auch die große Umgestaltung zurück, die Ägypten 1832 zu seinem
Heil erfahren hat. Die Dvppelkontrole, die in jenem Jahre plötzlich erlosch,
war ein ebenso verwickeltes als kostspieliges Stück politischer Maschinerie, die
zur Grundlage den Gedanken der Gleichberechtigung Frankreichs und Englands
in der Anssciugung der Ägypter hatte. Auf verschiednen Posten, wo am besten
ein Beamter diese Arbeit verrichtet hätte, wie eine Kuh am besten von einer
Person gemolken wird, waren zwei neben einander, jeder mit derselben Geltung
und Befugnis, der eine immer ein Franzose, der andre ein Engländer, ange¬
stellt — eine Methode, die von der obersten Stufe bis zur untersten hinab
ging. Als Arabi sich unangenehm zu macheu anfing, vereinigten sich die
beiden Mächte zum letztenmale zum Einspruch in Gestalt einer Note. Als
dem Trotz geboten wurde, trat Frankreich davor zurück und ließ es sich gefallen.
Wäre in Paris Gambetta noch als Ministerpräsident am Ruder gewesen, so
hätte man wahrscheinlich hier mehr Entschlossenheit an den Tag gelegt, aber
dessen Nachfolger Freycinet war ein Politiker, dein es an Thatkraft und Mut
mangelte. Er lehnte es mit einem ängstlichen Blicke nach der Ostgrenze ab,
sich an der von England in Vorschlag gebrachten Flottentundgebnng gegen
Alexandrien zu beteiligen, und schlug dem Abgeordnetenhause die Absendung
eines französischen Korps zur Bewachung des Suezkcmals vor. Dies wurde zurück¬
gewiesen, und darauf dankte der Minister ab, und Frankreich befolgte von jetzt
an während der Krisis am Nil eine Politik vollständiger Unthätigkeit, während
alle seine Shmpathien im Lager Arabis waren und es dein Khedive den Unter¬
gang wünschte. Wäre der Feldzug der Engländer gegen Arabi mißglückt,
so hätte es in den Zug der Ereignisse eintreten und den siegreichen Meuterer
zu seinem Werkzeuge und Willensvollstrecker machen, also das Spiel von 1839
wiederholen können, wo es Mehemed Ali seiue Gunst zugewendet und ihn
benutzt hatte. Dieser Plan mußte aufgegeben werden, als Arabi rasch erdrückt
worden war. Seit dieser Zeit hat England, weil es Ruhe und Ordnung
wiederhergestellt hatte, billigerweise in Kairo die erste Rolle gespielt und fast
ausschließlich Einfluß geübt, ja thatsächlich verwaltet und regiert; Frankreich
dagegen hat, weil es die Verantwortlichkeit für solches Eingreifen von der
Hand gewiesen hatte, sich mit einer höchst untergeordneten Stellung begnügen
müssen. England hat dann höchst segensreich gewirkt und sich Verdienste um
das Land erworben, die ihre Frucht getragen haben und weitere und schönere Früchte
verheißen. Unter der Leitung und dem Schutze der Briten ist den Fellahin eine
gerechte und menschliche Behandlung zuteil geworden. Es giebt jetzt, was früher
unerhört war, unparteiische und unbestechliche Richter, eine gute Polizei, die Peitsche
aus Nilpferdhaut, die früher bei der geringste» Übertretung gegen das Landvolk
angewendet wurde und auch die Eintreibung der Steuern erleichtern mußte,
ist abgeschafft, man hat die Abgaben vermindert und nach festen Regeln ge¬
ordnet, die Befugnis, das niedere Volk nach Willkür zum Arbeiten für den
Staat zu zwingen, ist beseitigt, und dem Bauer sind die Ertrügnisse seiner
Arbeit sicher gestellt. Der Kredit des Staates hat sich fortwährend gehoben.
Das alles ist ausschließlich das Werk der englischen Schutzherren und Ver¬
walter. Frankreich und die Türkei konnten sich daran beteiligen wie 1882 an
der Niederwerfung der Militärrevolution, aber sie zogen es vor, der Gefahr
auszuweichen und der Nefvrmarbeit zuzusehen. Da sie das Feld nicht bestellt
haben, so ernten sie jetzt auch nicht, was es trägt. England ist am Nil allein,
zum Vorteile der Ägypter, zur Sicherstellung seines Verbindungsweges nach
Indien und mit der Zustimmung Europas. Die Franzosen haben mehrmals
an das Versprechen der britischen Regierung erinnert, Ägypten zu geeigneter
Zeit zu räumen, die Pforte teilt diesen Wunsch, und das theoretische Recht
steht allerdings hinter beiden und läßt sich mit der Versicherung, Englands
Verwaltung habe dem Lande zum Segen gereicht, nicht ohne weiteres abweisen.
Aber nicht die Theorie giebt in der Politik den Ausschlag, sondern die Praxis,
nur der Satz Lsiiti posLnImiws hat hier Bedeutung. England hat schon Wege»
des Suezknnals das höchste Interesse, die Erfüllung seiner Zusage möglichst
lange hinauszuschieben, und es wird die Frage der „Thunlichkeit," über die
es in erster Reihe zu entscheiden berufen ist, noch lange verneinen können, weil
die Ruhe und Sicherheit Ägyptens voraussichtlich noch lange vom obern Nil
her gefährdet sein wird. Es hat am untern Nil festen Fuß gefaßt und wird
sicherlich nicht eher abziehen, als bis ein Stärkerer es dazu nötigt; der Drei¬
bund aber hat nicht das geringste Interesse, Frankreich zu diesem Stärkern
werden zu sehen. Frankreich wird sich daher weiter gedulden müssen. Es hat
früher als Fürsprecher in Rechtsfragen, die eigentlich Fragen seines eignen
Ansehens und Bedürfnisses waren, eine Rolle gespielt. Aber diese Rolle ist
bis auf weiteres vorüber, die Zeiten haben sich geändert, lind auch anderwärts
als in Ägypten werden die Dinge ohne den leitenden Beistand Frankreichs
fortgeführt und entschieden. Wenn es unvermeidlich war, daß es einen wesent¬
lichen Teil seiner Aufmerksamkeit den ägyptischen Angelegenheiten zuwendete,
so ist es doch arg, daß die Franzosen klagen und schelten, weil England seine
Stellung am Nil noch nicht zu räumen Miene macht, wo doch sie selber das Haupt¬
hindernis für die Herstellung von Verhältnissen bilden, die die Räumung recht¬
fertigen und erlauben könnten. Sie sollten doch nicht so verblendet sein, sich
dem Wahne zu überlassen, die übrige Welt könne die klare Thatsache über¬
sehen, daß sie nicht sowohl das Recht der Pforte, nicht die Unabhängigkeit
Ägyptens unter deren Oberherrlichkeit wollen, als vielmehr ihren ausschlie߬
lichen Einfluß, ihre Obmacht dort an Stelle der britischen zur Geltung zu
bringen beabsichtigen. Ohne Zweifel ist man in den neusten auswärtigen
Ämtern Europas überzeugt, daß, wenn Ägypten in französische Hände geriete,
es weniger vorteilhaft für andre Mächte und weit unbequemer und lästiger
werden würde, als es jetzt sich erweist. Während sich der deutsche Einfluß
am Hofe des Sultans mehr und mehr geltend macht und der Dreibund sich
dadurch stärkt, unterliegt es sehr ernsthaften Bedenken, ob nicht eine energischere
Einmischung Frankreichs in Ägypten schleunig zu sehr unerwünschten Ver¬
wicklungen führen und den Frieden stören würde, dessen Erhaltung der Bund
vor allem bezweckt. Schließlich sind die Franzosen am Nil gegen früher doch
eigentlich gar nicht übel daran und könnten sich, wenn sie es nur glauben
wollten, Glück wünschen, daß ihre materiellen Interessen in Ägypten, z. B. die
gute Verzinsung ihrer ägyptischen Papiere, ohne Wagnis und Kosten ihrerseits
von den Engländern so trefflich besorgt werden.
Ju seiner letzten Guildhallrede hat der leitende Minister Großbritanniens
den Franzosen auf ihre Beschwerden geantwortet. Nachdem er die Wohlthaten
der englischen Einmischung: Wiederherstellung des Friedens, Erhaltung der
Ordnung, Beseitigung der verderbten Gerichtspflege, Besserung der Finanzen
und Ermäßigung der Steuer» aufgezählt und auf die durch Emin Paschas
Besiegung gesteigerte Gefahr vom Mahdismus des Sudan hingewiesen hatte,
erklärte er: „Wir haben es unternommen, Ägypten zu stütze», bis es imstande
ist, sich selbst gegen jeden heimischen und auswärtigen Feind aufrecht zu er¬
halten." Die Notwendigkeit solcher Stützung wird verstärkt durch die Befürch¬
tung, daß ein schließlicher Sieg der religiösen Schwärmer und der Sklaven¬
händler am obern Nil in den Gebieten am untern Stromlaufe die von England
seit Jahrzehnten und neuerdings auch von uns mit diesem gemeinsam bekämpfte
Sklaverei in erschreckendem Maße ausbreiten würde. Frankreich begünstigt den
Handel mit Menschenfleisch, indem es seine Flagge Schiffen mit Negerladungen
leiht und sich der Durchsuchung solcher Schiffe widersetzt. Diesen Handel in
Jnnernfrika zu unterdrücken, ist vorläufig unmöglich. Aber die Ausfuhr über
die Grenze des Sudan läßt sich sehr wohl verhindern, wenn Ägypten von
Gegnern des schändlichen Geschäfts beaufsichtigt und verwaltet wird, und so
ist das Verbleiben der Engländer am Nil auch aus diesem Grunde zu wünschen.
as Jubiläum der Taaffischen Ära — es war im August zehn
Jahre, daß Graf Tcmffe von der Krone zur Leitung der innern
Angelegenheiten Cisleithanicus berufen worden ist — hat Anlaß
zu einer Reihe von Flugschriften über die innere Lage Österreichs
und insbesondre über die der Deutschen gegeben. Wir greifen
einige davon heraus, von denen jede eine andre politische Richtung bezeichnet.
Ju die österreichischen Parteiverhnltnisfe der Gegenwart, die den Reichsdeutschen
immer noch verworren und schwer verstündlich erscheinen, führen sie besser ein,
als es eine allgemeine Schilderung vermochte. Vieles freilich wird nach wie
vor dunkel bleiben, und auch neue Befürchtungen über die Zukunft der
Deutschen in Österreich, ja über die Zukunft der Monarchie selber drängen
sich dein Leser dieser Flugschriften auf, dazwischen leuchten aber doch auch
wieder neue Hoffnungen auf: nicht Auflösung und Zerstörung, höchstens Um¬
bildung und Neugestaltung wird der ruhig erwägende zuletzt für die kommenden
Jahre erwarten.
Die erste von diesen Schriften — sie erschien bereits einige Monate vor
dem Jubiläum — trägt den Titel: Neue Bahnen (Wien, Karl Konegen).
Der Verfasser geht von der Frage aus: Welchen Erfolg hat die zehnjährige
Oppositionspvlitik der deutschen Partei zu verzeichnen? Nur den einen will
er ihr zugestehen: verhindert zu haben, daß Österreich heute schon ganz in
föderalistisch-klerikalen Bahnen wandelt, es sei ihr wesentliches Verdienst, „wenn
Staatseinheit, Staatssprache, Altösterreichertum noch deutlich erkennbar bestehen,
wenn die alten Traditionen Österreichs noch nicht überwundene Begriffe sind."
Aber eben nur zu hemmen, nicht aufzuhalten hat die deutsche Opposition den
Gegner vermocht, dies sei ihr einziger, also ein sehr bescheidner, sehr zweifel¬
hafter Erfolg. Wie dies nun enden soll, fragt der Verfasser: „Will die deutsche
Opposition der heldenhaften Schar des Leonidas gleich bis zum letzten Augen¬
blicke den aussichtslosen Kampf kämpfen und verendend den Triumph ihrer
Gegner noch sehen?" Aber es könnte ja ein Umschwung eintreten, die deutsche
Partei wieder ans Staatsruder gelangen! Dies bestreitet der Verfasser ent¬
schieden, nur ein von der Partei selbst unabhängiger Zufall vermöchte es.
Der Grund davon liege in der bereits in den ersten siebziger Jahren leise, im
Jahre 1879 entschieden und endgiltig veränderten Stellung der auswärtigen
Politik des Kaiserstaates, die wieder durch die allgemeinen Weltverhältnisse
bedingt wurde. „Es ist eine bittere Wahrheit — ruft er aus —, aber wir
Deutschen dürfen uns vor ihr nicht verschließen: mit dem Augenblick, da
Österreich-Ungarn seine neue Orientpvlitik entfaltete, mußte es auf deu Charakter
eines rein deutschen Staates verzichten." Denn ein rein deutsch regierter
Staat, worin viele Millionen unzufriedner Slawen wohnen, könne nicht in
den slawischen Ländern der Balkanhalbinsel mit Rußland um politischen Einfluß
kämpfen. Nur dann sei dieser Wettbewerb mit einiger Aussicht auf Erfolg
zu führen, „wenn die slawischen Stämme Österreichs der Notwendigkeit ent-
hoben werden, in Rußland ihre» natürlichen und berufenen Hort zu erblicken."
Das Bündnis mit Deutschland, so führt der Verfasser unsrer Flugschrift
weiter aus, erfordere durchaus uicht, wie man im deutschen Lager so oft meine,
eine deutsche Parteiregierung. Denn dieses Bündnis habe eine österreichische
Politik zur Voraussetzung, die jeden Gedanken an eine Wiedergewinnung der
Stellung, die Österreich vor 1866 einnahm, ausschließe. Deutschland brauche
zum Bundesgenossen ein Österreich, das seine Zukunft im Osten suche und
auf den Westen und Norden verzichte. Es habe kein Interesse, daß dieses
Österreich vorherrschend deutsch sei, es solle nur nicht preußenfeindlich und
rnssensrenndlich sei». Indem die Versöhnungsaktion des Grafen Taaffc die
Slawen Österreichs zu befriedigen suche, ziehe sie diese von Rußland ab und
lehre sie Preußen-Deutschland, das ihrer ncitivnalen Entwicklung kein Hemmnis
bereite, schätzen. Genug, die äußere Lage verlange es, daß in Österreich nicht
mehr gegen und nicht mehr ohne die Slawen regiert werde, auch Deutschland
habe ein Interesse darau.
Wenn aber jeuer Zufall, von dem der Verfasser spricht, wirklich einträte,
würde dies nicht anders werden; auch ein deutsches Ministerium könnte die
slawenfreundlichen Bahnen der Ära Tcmffe nicht verlassen; alles, was durch ein
solches erreichbar wäre, sei die Erhaltung des 8wtus quo. An die nationalen
Errungenschaften der Tschechen heute zu rühren, wäre die Revolution.
Man wird einwenden, daß schon viel gewonnen wäre, wenn der fort¬
schreitenden Tschechisiruug Böhmens und Mährens Einhalt gethan werden
könnte. Aber diese Tschechisiruug, von der die deutschen Blätter so viel
schreiben, die deutschen Abgeordneten so viel reden, wird vom Verfasser bestritten;
die deutschen Bezirke Böhmens und Mährens tschechisiren zu wollen, nennt er einen
wahnsinnigen Gedanken. Nun, wenn dem so ist, so könnte doch eine deutsche
Regierung die administrative Teilung der national gemischten Länder durch¬
führen und damit die Quelle des unerträglichen Haders verstopfen. Daß dies
ein Ausweg zum nationalen Frieden wäre, giebt der Verfasser zu, aber — sagt
er geheimnisvoll abwehrend — „ein vollständiger Bruch mit der Verwaltung
auf Grund der historisch-politischen Einheiten, Gliederung der erstem nach
politisch selbständigen, national abgegrenzten Einheiten, muß zur Stunde außer
jeder Diskussion bleiben." Wir staunen. Zur Stunde? Allerdings. Aber
es handelt sich ja jetzt darum, zu erwägen, was ein deutsches Parteiministerium
für die Deutschen zu thun vermöchte.
Lassen wir aber anch diesen Einwand. Denn das ist ja wahr, ein
deutsches Parteiministerinm wird in absehbarer Zukunft nicht kommen. Wozu
also darüber streiten, was es würde thun können, und was nicht.
Der Verfasser kommt zu dem Schluß: Es ist keine Aussicht, daß der
negative Erfolg der deutscheu Opposition sich je in einen positiven verwandle,
aber sehr möglich, daß auch in Zukunft der negative fehlen wird. Überaus
trostlos! Der Verfasser giebt dies zu, nennt er sich doch selber einen Deutschen
und giebt seiner deutschen Gestnuung wiederholt entschieden Ausdruck. Aber
ohne Hoffnung ist er nicht, er kann nicht daran glauben, daß die Deutschen
Österreichs nie wieder einen „ihrer Zahl, ihrer Stellung und ihrer Verdienste
um den Staat entsprechenden Anteil an der Gesetzgebung und Regierung" er¬
halten sollen. Sie dürfens nur nicht so forttreiben wie bisher, sie müssen
ihre politische Haltung ändern. Unsre Spannung steigt aufs höchste. Was
sollen die Deutschen thun? Bevor unser Verfasser hierauf Antwort giebt,
entwirft er eine treffende Schilderung vou den: österreichischen Parlament und
der Stellung, die die Deutschen darin einnehmen.
Streng genommen ist nämlich der Reichsrat, wie er sich in Wien ver¬
sammelt, gar kein Parlament, sondern „ein Nationalitätenkongreß in parlamen¬
tarischen Formen." Es sind große und kleine nationale Parteien da, aber
alle enthalten die verschiedenartigsten Elemente in sich vereinigt: Konservative,
Liberale, Schutzzöllner, Freihändler, Agrarier, Mauchestermünner, Antisemiten -
sie alle stimmen in wichtigen Dingen gemeinsam gegen eine ebenso bunte Schar
nationaler Gegner. Die Regierung weiß das, und es ist ihr keineswegs er¬
freulich, aber sie vermag nichts dagegen, sie fügt sich den Thatsachen. Die
Linke aber — die nicht etwa wie in andern Parlamenten nur Liberale, Demo¬
kraten, Radikale umsaßt, sondern eben die Deutschen, mit einziger Ausnahme
der Klerikalen — verschließt sich dagegen, thut so, als wenn wirklich ein
Parlament dawäre, wie etwa in England, und verlegt sich ans einen parla¬
mentarischen Kampf, der natürlich aussichtslos ist. Und selbst Angegeben, daß
es den Deutschen einmal gelange, die Majorität des Hauses gegen die Regierung
zu vereinen, der Sturz des Ministeriums würde keineswegs die Folge sein.
„Gras Taaffe ist kein parlamentarischer Minister, er hat diesen Ehrgeiz nie
gehabt." Seine Stellung ruht vor allem auf dem Vertrauen der Krone. Das
ist wirklich so, und wir sind weit entfernt, darin an und für sich ein Unglück
zu sehen. Im Gegenteil: Eigenart und Überlieferung der österreichischen Reichs-
hälfte verlangen gerade eine solche Regierung, und nur unverbesserliche Doktrinäre
werden bei uns eine parlamentarische Parteiregierung eingerichtet wissen wollen.
Das Unglück der Deutschen liegt nur darin, daß die Krone eben aus Gründen
auswärtiger Politik das slawensreundliche System angenommen hat.
Was bleibt nun also den Deutschen, so schließt der Verfasser, als ein
Kompromiß mit diesem System? Sie mögen endlich einmal aufhören, in dem
„Zentralabrechnungsamt" am Burgring ein Parlament zu sehen, sie mögen
den Gedanken aufgeben, das Ministerium parlamentarisch zu stürzen. Mit der
Mehrheit können sie nicht Pallirer, wohl aber mit der Regierung, mit dieser
müssen sie sich abfinden, ihr Ziel muß sein, „eine angemessene Vertretung in
der Regierung j^eine Regierung des Taaffischen Systems ist gemeint^ zu er¬
halten." Dann werden die Deutschen auch den extremen Forderungen und
Bestrebungen der nationalen sowie denen der Klerikalen — denen unser Verfasser
besonders feind ist — wirksam entgegentreten können. Vor nichts aber werden
die Deutschen in dieser Flugschrift eindringlicher gewarnt, als vor einer den
österreichischen Staatsgedanken zunächst ganz beiseite setzenden rücksichtslos
nationalen Politik, wie sie wohl hie und da gefordert wird. Denn diese
müßte unter den gegenwärtigen Verhältnissen zu einem gänzlichen Verzicht auf
die Teilnahme an der Gesetzgebung, zum Austritt aus dem Reichsrate führen,
was „zwar unzweifelhaft den nationalen Gedanken in den geschlossenen deutschen
Bezirken außerordentlich kräftigen, dagegen alle deutschen Minoritäten, nament¬
lich in Böhmen und Mähren, rettungslos dem slawischen Moloch opfern" würde.
Die Zugeständnisse, die um der Verfasser der „Neuen Bahnen" der
Regierung gemacht wissen Null, deutet er nur flüchtig an. Es bedürfe dabei,
meint er, „keines Verrath an angestammte« Grundsätzen und Überzeugungen,
sondern nur eiuer veränderten Taktik." In rein nntivnalen Fragen soll die
Linke ihren bisherigen Standpunkt wahren, sonst aber von Fall zu Fall, wie
in der Wehrgesetzdebatte, ohne jede Voreingenommenheit gegen das Ministerium
abstimmen und wo es nur irgendwie mit ihrer nationalen Überzeugung ver¬
einbar ist, die Regierung unterstützen. Den Einwand, das, diese Regierung
der deutschen Partei sür dieses Entgegenkommen wenig Dank wissen werde, bringt
der Verfasser selber vor, entgegnet aber: „Wir müssen den Grafen Taaffe, d. h.
die Regierung, zur Liebe einfach zwingen." Die Rechte werde dann freilich
ängstlicher als bisher bestrebt sein, der Regierung keine Zwangslage zu schaffen,
und auch die Negierung werde auf ihrer Hut sein. Einmal aber, dessen könne
man versichert sein, werde der Augenblick doch kommen, wo die Regierung
die angebotene Hilfe in Anspruch nehmen werde. Wie sich der Umschwung zu
Gunsten der Deutschen ändern werde, das wisse niemand, in einer Wiederkehr
der vortanffischen Zeit werde er nicht bestehen, aber eine entsprechende Ver¬
tretung der deutscheu Partei im Kabinet dürfe man dann hoffen, und dies
wäre — mit dem Zustande der letzten zehn Jahre verglichen — unstreitig ein
großer Gewinn. Der Verfasser schließt: „Als gute Österreicher wollen wir
den innern Frieden; als Deutsche wünschen wir, daß unser Stamm den ihm
gebührenden Anteil an der Regierung erhalte. Diese beiden Rücksichten lassen
eine kluge Kompromißpolitik rätlich erscheinen, wobei wir nicht an das augen¬
blickliche Kabinet Taaffe, sondern an die permanenten Gewalten unsers Staates,
welche um dem innern Frieden mehr interessirt sind als jede auf parlamentarische
Parteien gestützte Regierung,") uns wenden."
Ncnvsterreich von Otto Hornung (Zürich, Verlngsmagaziu, 18W) ist
eine Erwiderung auf die Ratschläge der „Neuen Bahnen." Diese Flugschrift
geht gleichfalls von einem Deutschen aus, ist aber in viel schärferem Tone
gehalten und Null — um es gleich zu sagen — von einer Kvmpromißpvlitik
gar nichts wissen, im Gegenteil, sie besteht ass der schärfste» Gegnerschaft zur
Regierung. Ju manchen Punkten stimmt sie aber doch mit den „Neuen Bahnen"
überein. Hier wie dort spricht sich eine starke Abneigung gegen die Klerikalen und
den historischen Adel aus, und auch die Auffassung des österreichischen Parlamen¬
tarismus ist in beiden Schriften dieselbe. Der Verfasser von „Neuösterreich" ist
auch überzeugt, daß das seit 1879 herrschende slaweufreundliche System mit der
veränderten Richtung unsrer auswärtigen Politik zusammenhänge. Zunächst aber
unterzieht er diese neue Richtung selbst einer strengen .Kritik, sie wird seiner
Meinung nach ihr Ziel nicht erreichen und Österreich so wenig Segen bringen,
wie der Versuch, die italienische und deutsche Einheit in ihrer Entwicklung
aufzuhalten. Denn zwischen Rußland und den Balkanstaaten bestehe schon seit
lange eine nationale Wahlverwandtschaft, die Österreich, das sich bei diesen
Volksstämmen niemals irgendwelcher Sympathien erfreute, nicht werde über¬
winden können. Nicht in dem .Kaiser in Wien, sondern in dem Zaren erblickten
die Montenegriner und Serben, die Bulgaren und selbst, die Rumänen ihr
natürliches Oberhaupt. Und so vermag denn der Verfasser auch die Opposition
der Deutschen gegen die Eroberung südslawischer Gebietsteile nicht so hart zu
verurteilen, wie das gewöhnlich zu geschehen pflegt: es war ein taktischer Fehler,
dies giebt er zu, aber er hört darin doch vor allein „einen patriotischen Auf¬
schrei der Besorgnis um die Zukunft des gemeinsamen Baterlandes." Hier¬
gegen ist zu bemerken, daß weder die österreichisch-ungarische Regierung uoch die
Flugschrift „Neue Bahnen" um eine Erwerbung jeuer slawischen Balkanstaaten
denkt. Es handelt sich nur darum, Rußland von ihnen fernzuhalten. Der
Schreiber dieser Zeilen hat vor Jahren in Paris Bulgaren und Rumänen
dieses Thema besprechen hören: „Wir wollen weder russisch noch österreichisch
sein ^ sagte ein Bulgare -- sondern selbständig; können wir dies nicht er-
reichen, dann ist uus allerdings Rußland noch lieber als Österreich, das uns
zu germmiisireu versuchen würde." Eine sehr bezeichnende Äußerung! Soll
nun Österreich-Ungarn ganz und gar als Großmacht abdanken, die Hände in
den Schoß legen und ruhig zusehen, wie unten weit in der Türkei die Völker
auf einander schlagen? Nein, seine Stellung und seine Geschichte legen ihm
Verpflichtungen auf, die es übernehmen muß, wenn auch bedeutende innere
Schwierigkeiten daraus erwachsen.
Sehr unmutig äußert sich der Versasser von „Neuösterreich" über die
Einflüsterungen „auswärtiger Politiker," die Österreich-Ungarn auf die „neuen
Bahnen" drängen. Es ist leicht zu verstehen, welche Politiker er da meint;
gleich darauf drückt er sich aber selber ganz deutlich aus: es sei von Deutsch¬
land unedel und unklug zugleich, wenn es bloß um größerer Sicherheit willen
Millionen von Deutschen dem Slawismns opfere. „Deutschland — ruft er
aus — betreibt heute die gleiche Politik wie die Franzosenkönige der Refor-
mationszeit. Diese schickten auch Heere den deutschen Protestanten zu Hilfe
und bereiteten zu Hause den eignen Hugenotten Bartholomäusnächte. Deutsch¬
land macht es heute ähnlich. Im eignen Lande kauft es die Slawen aus,
im Bundesstaat protegirt es die Verschlingung deutscher Stammesgenossen
durch dieselben Slawen."
Wie man sieht, geht der Verfasser bei diesem Vorwurf von der Annahme
aus, das neue System in Österreich bestehe nicht nur in einer Begünstigung
der'Slawen, sondern geradezu in einer Unterdrückung der Deutschen, an Stelle
des deutsch-zentralistischen Staates soll nicht ein pvlyglvttes Reich von gleich¬
berechtigten Nationalitäten, sondern ein durchaus slawisches treten, wo die
Deutschen keine Rechte haben. Das hat der Verfasser der „Neuen Bahnen"
nicht gesagt und nicht sagen wollen, Hornung oder wer sich unter diesen?
Namen verbirgt — glaubt es annehmen zu dürfen, ja nicht ganz ehrlich —
stellt er sich an, als hatte er dies in den „Neuen Bahnen," die er als ein
halbofsiziöses Machwerk hinstellt, erst recht bestätigt gefunden, er zitirt dabei
sogar falsch is. 8, 1Z). Der Gedanke ist schließlich keineswegs neu: schon oft
haben Redner und Parteiblätter vom äußersten Flügel dein Grafen Taaffe
diesen geheimen Slawisiruugsplau zugeschrieben. Neu aber ist, wenn hier nach¬
zuweisen versucht wird, daß das Ministerium Taasfe das slawische Neuöster¬
reich in seinem „altösterreichischen Stantsmhmeu" erhalten wolle, mit ander»
Worten, daß er so gut Zentralist sei wie Schmerling, nur daß er die Slawen
an Stelle der Deutschen gesetzt Nüssen wolle. Außerdem schiebt er dem Minister
auch starke Renktivnsgelüste unter und gegen diese eifert er — wir können es
nicht anders sagen — mit banalen Redensarten. „Die Reaktion, ruft er
bombastisch aus, ist die gerechte Strafe, welche ein Volk trifft, das seinen eignen
Wert vergißt, sie ist das Fegefeuer, in welchem ein entartendes Volk Zeit
findet, über das Verlorne Paradies der Freiheit nachzudenken," und „die Reaktion
ist das vom Himmel fallende Feuer, welches unter seiner Lava das Kulturwerk
einer geschichtlich großen Zeit begräbt." Höchst merkwürdig, jn unbegreiflich
an einem Deutschen ist es, wenn Hornung Teilnahme für die vorjährigen
Budapester Straßenanfstäude — bekanntlich von der chauvinistischen, durch und
durch deutschfeindlichen Opposition geschürt — an den Tag legt und in diesen
bedauerlichen Ausschreitungen einen Beweis dafür sieht, „daß das ungarische
Volk sich besser auf den Schutz seiner Freiheit verstehe."
Aber lassen wir diese Abschweifung und verweilen wir bei Hornungs Auf¬
fassung der Taaffischen Politik. Darnach wäre ihr Inhalt: Slawisirung Öster¬
reichs mit Erhaltung des zentralistischen Gefüges — ein riesenhaftes Unter¬
nehmen, das nur im Kopfe eines sehr genialen und sehr energischen Staatsmannes
ersonnen werden konnte. Allsgeführt kann es von dem, der es ersonnen hat,
unmöglich werden, es bedarf nicht der Jahre, nicht der Jahrzehnte, es bedarf
eines Jahrhunderts zu seiner Vollendung. Es hieße so viel als in der öster¬
reichischen Geschichte eine neue Periode begiunen, das Jahr 1879 wäre alsdann
von größerer Tragweite als 1804 oder 180ö, es könnte nur mit 1282 ver-
glichen werden.
Der Verfasser von „Neuösterreich" führt freilich in einem nächsten
Kapitel ans, daß dieser ungeheure Plan nicht durchzuführen sei. Was Graf
Tanfse nicht sieht, sieht er. Die Austroslawen von heute, sagt er, sind keine
Kroaten von 1848; die waren blinde Werkzeuge der Regierung. Diese Austro¬
slawen sind von der großen nationalen Bewegung des Jahrhunderts erfaßt
und werden sich mit der Rolle, die früher den Deutschen im Kaiserstnate zuge¬
fallen war, nimmermehr bescheiden, die Polen, die Tschechen, die Slawen — sie
wollen kein Großösterreich, much wenn es slawisch ist, sie wollen ihre selbständigen
nationalen Königreiche und Länder. Ja wenn noch die Alttschechen wirklich
die Mehrheit des tschechischen Volkes darstellten! Aber dies ist nicht der Fall,
der wahre Ausdruck des tschechischen Volkswillens ist die jnngtschcchische Be¬
wegung. Ebenso wenig Anklang aber wie die zentmlistische Tendenz der
Taaffischen Politik finde die konservative oder reaktionäre. „Die Slawen
Österreichs, sagt Hornung und denkt damit ein großes Lob auszusprechen, sind
auch nicht mehr das harmlose Volkstum vormärzlicher Zeit, als welches sie
die Negierung nimmt. Auch in dieses Element ist der moderne Zeitgeist ein¬
gedrungen und wirkt in demselben (demselben?) nach seiner Art. Auch im öster¬
reichischen Slawentum ist ein mächtiger National- und Freiheitstrieb erwacht,
der nach Befriedigung drängt."
Ein zweiter Rechnungsfehler des Taaffischen Systems liegt nach der
Meinung des Verfassers in der Geringschätzung des Widerstandes, den eine sehr
bedeutende politische Macht, die Ungarn, ihm unstreitig entgegensetzen werden,
wenn es einmal deutlich hervortritt. Endlich nennt er doch auch die
Deutschen; auch diese, giebt er zu, haben noch ein Gewicht in die Wagschale
zu werfen, wenn er anch an einer andern Stelle meint, ihre Lage sei heute
beinahe schon ebenso schlimm wie die der Deutschen in den russischen Ostsee¬
ländern. Nur dann aber wird der Widerstand der Deutschen von Erfolg be¬
gleitet sein, wenn sie ihre bisherige Parlamentarische Taktik aufgebe», also ganz
dasselbe, was der Verfasser der „Neuen Bahnen" sagt. Aber der Schluß ist
anders: nicht einen Kompromiß mit der Regierung — wie wäre ein solcher
mit einer Regierung, wie Hornung sie schildert, möglich! —, sondern im Gegen¬
teil, eine ganz rücksichtslos nationale Politik, Austritt aus dem Neichsrat, kurz
jedes verzweifelte Mittel — vielleicht auch die Revolution, liest man zwischen
den Zeilen — rät er an. Seine Kritik der bisherigen Haltung der deutschen
Partei ist dieselbe wie in den „Neuen Bahnen," nur schärfer und härter. Und
während sich jene mehr gegen die radikalen Elemente unter den Deutschen
wendet, sind es hier die konservativen Gruppen — Großgrundbesitz lind Gro߬
kapitaldie am abfälligsten beurteilt werden. Am besten kommt unter den
gemäßigten Parteiführern noch Pierer weg, aber auch dieser wird eines schweren
Irrtums geziehen: er hoffe noch, er glaube immer noch, die Regierung werde
eines schonen Tages vor den Deutschen tapitulireu, und die vortaaffische Ära
werde wiederkehren. Die Genossen Pleuers, namentlich die ältern, seien alle
noch von einem „josephinischen Staatsidenlismus" erfüllt und geradezu un¬
fähig, nationale Politik zu treiben. Darum hinweg mit ihnen! Das deutsche
Volk in Österreich wähle vor allem neue Männer. Hornung denkt dabei nicht
a» die „unverfälschten" Deutschen und Antisemiten, an die Fiegl, Vergani »ud
alle die Apostel des abgethanen Schmierer, Aber wie er mit Recht meint,
daß die antisemitische Bewegung nicht ohne jede sittliche Grundlage sei, so
warnt er anch davor, dem Judentum in dieser neuen Vertretung einen be¬
deutenden Einfluß zu gestatten, da „die Pflicht der Erhaltung eigner Stammes¬
art mitten unter gewaltigen arischen Volksmassen das semitische Element viel¬
fach in unvermeidliche Kollisionen mit den Bestrebungen und Interessen des
Deutschtums bringen müsse." Sind einmal diese neuen Abgeordneten gewählt,
dann, wie gesagt, Kampf bis aufs Messer, ohne Rücksicht auf deu Staat, ohne
Rücksicht auf die Religion — Hornung giebt zu überlegen, ob nicht ein Massen¬
übergang des deutsch-böhmischen Volkes zur evangelischen oder altkatholischen
Kirche zu veranstalte» wäre! Was wird aber der Ausgang dieses Kampfes
sein? Hornung sagt es nicht, aber er giebt es zu verstehen: lieber den Zerfall
Österreichs will er, als das Österreich der „Neuen Bahnen."
Fassen wir kurz vergleichend zusammen: beide Flugschriften sehen von der
Regierung die altösterreichischen Überlieferungen aufgegeben, beide finden, daß
die deutsche Partei dieser Veränderung nicht Rechnung getragen hat. Die
eine aber meint, daß die Deutschen sich mit dem neuen System abfinden könnten,
denn es schließe mir gewisse Zugeständnisse an die Slawen ein, keineswegs
aber eine Slawisirung des Staates; die andre sieht gerade darin den Kern
und das letzte Ziel der gegenwärtigen Kronpolitik, darum kann sie nur einen
bis zum Äußersten gehenden Widerstand raten, es handle sich nur Sein oder
Nichtsein. An Widersprüchen und Übertreibungen leiden beide, die letztere aber
in viel höherm Maße. Die „Neuen Bahnen" sind das Werk eines witzigen
Kopfes, keineswegs eines Offiziösen oder Jnspirirten, anch keines Partei¬
mannes, aber eines Deutschen, der zugleich österreichischer Patriot ist; „Nen-
österreich" stammt aus dein nationalen Lager, wohl aus Nordböhmen, und
druckt wirklich die Ansicht einer nicht unbedeutenden Gruppe von Deutschen
aus. Sollen wir sagen, was unserm Gefühle nach den Bedürfnissen der Gegen¬
wart mehr entspricht und die Lage der Dinge nüchterner auffaßt, fo müssen
wir die „Neuen Bahnen" nennen. Europa ist zu sehr voll Gärung, als daß
wir Ratschlägen folgen möchten, die einen großen Staat in seiner Mitte, der
schließlich doch unser Staat, der Staat unsrer Väter, der Staat unsers ange¬
stammten Kaiserhauses ist, aufs tiefste erschüttern und sein Bestehen aufs Spiel
setzen würden. Auch Deutschland konnte einem solchen Versuch keine Teilnahme
entgegenbringen. Und es wird zuletzt doch auch an den nötigen Elemente»
fehle,;: Staatsbewußtsein, Loyalität, Religion sind doch nicht wie Kleider, die
man nach Gutdünken ablegen kann. Unmöglich können wir auch die Gefahren,
die das Deutschtum bedrohen, so furchtbar finden, wie der Verfasser von „Neu¬
österreich" es will. Zustimmen können wir ihm nur in dem, was er über die
antisemitische Bewegung und den Einfluß des Judentums auf die deutsche
Partei sagt.
Die dritte Flugschrift, die wir hier nennen wollen, stammt — was
Hornmig von den „Neuen Bahnen" mit Unrecht vermutet — wirklich ans
einer offiziösen Feder; sie ist betitelt: „Gra f Taafse 1879—1889. Eine inner¬
politische Studie aus Österreich" (Leipzig, Otto Wigand). Ware es wahr,
was der Verfasser von „Nenösterreich" über die letzten Ziele der gegenwärtigen
Regierung sagt, dann wäre diese Schrift eine ungeheure Heuchelei, wie nur
Maechiavelli sie einem Staatsmann raten konnte. Denn von einer Vorein¬
genommenheit gegen die Deutschen ist darin keine Spur. Es wird daran
erinnert, daß Graf Taaffe im Februar 1879 die Mission übernommen hatte,
aus der damaligen Mehrheit des Reichsrath ein Ministerium zu bilden, daß
er aber die Persönlichkeiten hierzu nicht habe finden können. Von dem Prozeß,
der sich dann vollzog, sei es äußerst schwer, eine richtige Vorstellung zu geben.
Durch ein Gleichnis wird es versucht. „In dem dualistischen System der
alten Perser kämpft das gute Prinzip gegen das böse Prinzip, das Licht gegen
die Finsternis. Die Söhne des Lichtes wären aller Vorteile beraubt, wenn
die Söhne der Finsternis sich plötzlich bekehre» wollten. Im Monismus, dem
System der Gegenwart, ist dies wirklich der Fall; die Welt wird als Einheit
betrachtet. Dasselbe that Graf Taaffe; auf parlamentarischem Boden trat der
Monismus in Kraft. Das Element des Lichtes, die verfassungstreue Partei,
hatte die Privilegien ihrer Stellung in dem Augenblicke verloren, wo es keine
Gegner der Verfassung mehr gab. Nicht umsonst hatte Graf Taaffe darauf
hingewiesen, daß das Prädikat »verfassungstren« nicht mehr als Parteimittel
benutzt werden könne. Diejenigen, welche bisher die Gegner der Verfassung
waren, sahen sich zur Majorität erhoben, und die Anhänger der Verfassung
fanden auf dem von ihnen verteidigten Terrain sich aller Macht beraubt. Die
Verteidigung der Verfassung ist nunmehr hauptsächlich dem Staat und
seiner Negierung übertragen. Graf Taaffe wiederum gleicht den Feldherren,
welche die Armee erst schaffen mußten, zu deren Kommando sie der Staat er¬
mächtigte. Er organisirte eine neue Partei und ermöglichte das Voll-
parlamcnt, indem er die Tschechen veranlaßte, sich auf den Boden der Ver¬
fassung zu begeben."
Also die Erhaltung, ja die Befestigung der Verfassung wird als der
erste Programmpunkt des Ministeriums Taaffe bezeichnet. Daß die Deut-
schen dabei nicht mitwirken wollten, wird wiederholt bedauert, aber es wird
auch anerkannt, daß sie in wichtigen Fragen - so in den Wehrgesetz¬
debatten — aus ihrer Weigerung herausgetreten sind und die Regierung unter¬
stützt haben.
Die Zurückdrängung des deutschen Elementes — oder besser seines poli¬
tischen Einflusses — leugnet dieser Anwalt des Taafsischen Systemes nicht,
aber er meint, diese sei unvermeidlich gewesen, sobald freiheitliche Institutionen
dawaren. Die Opposition wollte vor allein die Frage beantworten, was denn
die aus ihrer Mitte hervorgegangen»! Regierungen gethan haben, um das
Machtgebiet der deutschen Sprache zu schlitzen. Die Stremayrische Sprachen¬
verordnung könne doch unmöglich alle Befestigungen mit einem Schlage zer¬
stört haben. „Es bedürfte einer genauen statistischen Untersuchung um fest¬
zustellen, ob das Machtgebiet der deutsche» Sprache größere Verluste erlitten
hat unter den frühern Ministerien oder unter dem Ministerium Tcmffe. Von
größter Wichtigkeit ist jedoch der Umstand, daß unter dein Ministerium Taafse
nur ein Prozeß sich fortsetzte, der längst im Gange war."
Wir gehen hier nicht auf eine Kritik dieser Ausführungen ein, es kommt
uns hier nur darauf an, einige von den in Österreich vorhnndnen politischen
Richtungen zu kennzeichnen. Hier vernehmen wir, wie die Negierung selbst
die Dinge ansieht oder angesehen wissen will. Es widerspricht durchaus
dem, was der Verfasser von „Nenösterreich" darüber sagt. Wenn wir nun
auch zugeben, daß das Ministerium! nicht alle seine Absichten in die Welt
hinausschreien wird, so mögen wir doch auch nicht denken, daß sie sich
für das Gegenteil von dein ausgeben wolle, was sie wirklich ist. Sie
stünde dann einzig da unter allen Regierungen in Europa. Soviel dürfen
wir aus dieser offiziösen Kundgebung doch entnehmen, daß sie nicht auf,
Slawisirung Österreichs, auf eine Vernichtung des deutschen Elementes
ausgeht.
Es erübrigt noch der Nachweis, daß wir es hier wirklich mit einer
offiziösen Kundgebung zu thun haben. Der Ton des Ganzen ist apolv-
getisch, die Verdienste des Ministeriums Taafse auf dein Gebiete des Finanz-
und Verkehrswesens sowie der sozialen Gesetzgebung werden hoch gerühmt und
nicht mir von Erfolgen gesprochen, die Graf Taaffe als Staatsmann zu ver¬
zeichnen habe, sondern auch von seinen „Reformen im Geiste reiner Menschliche
teil (Sonntagsruhe) die für ausgedehnte Bevölkerungsklassen dauernd wohl¬
thätig sich erweisen." Er habe sich in den Dienst einer großen Sache gestellt,
sodciß ihm die Sympathien aller gesichert seien, die an dein österreichische»
Gedanken festhalten, und wie bisher, werde ihm fortan seine Mission die Kraft
verleihen, der Zeit und ihre» Ereignissen mutig und selbstvertrauend ins Ange
zu schauen.
Wir können uns zum Schluß nicht enthalten, noch ein Wort über die
Form der drei Flugschriften zu sagen. Um kurz zu sein, sie geben alle ein
trauriges Zeugnis, wie sehr die politische Schriftstellerei in unsrer Zeit und
besonders in Österreich darniederliegt. Ganz abgesehen davon, daß sie von
Fremdwörtern wimmeln, ergehen sie sich alle — am meisten aber „Neu¬
österreich" — in höchst geschraubten Wendungen und erlauben sich geradezu
Unrichtigkeiten. Von Beredsamkeit ist in keiner einzigen auch nur ein schwacher
Hauch; die eine ist farblos, die andre bombastisch-geschwätzig, die dritte
.....- noch die beste — vvrnehmthuerisch und salbungsvoll. Die großen Vor-
bilder dieser litterarischen Gattung — Görres für die Oppositionellen, Gentz
für die Regierungsmänner, Ranke in der historisch-politischen Zeitschrift für
die Vermittelnden — scheinen ganz vergessen zu sein! Es ist kein Vergnügen,
diese drei Schriften durchzulesen: ein unerquicklicher Stoff aufs unerquicklichste
behandelt.
er Fortschritt der medizinischen Wissenschaft in neuerer Zeit ist
in vielen Veziehuugeu auch der Rechtsprechung zu gute gekommen.
So bedeutet es in Fragen der Zurechnungsfähigkeit einen
Fortschritt und erleichtert das Urteil im besondern Falle unge¬
mein, daß um die Stelle des Begriffs der Geistesstörung der der
Geisteskrankheit getreten ist. Allerdings ist anch noch Geisteskrankheit ein
vieldeutiger Begriff, etwa so, wie wenn man von Leberkrankheit oder Darm¬
krankheit an sich sprechen wollte, aber doch nur so weit, als er wie jeder
Sammelname die verschiednen möglichen Geisteskrankheiten umfaßt. Es ist auch
zuzugeben, daß die Geisteskrankheiten noch lange nicht so gut bekannt und von
einander abgegrenzt sind, wie die der genannten beiden Körperorgane. Dennoch
ist für den einigermaßen erfahrenen und durchgebildete!: Fachmann die Geistes¬
krankheit ein so bestimmt mich außen hin abgegrenztes Gebiet, daß ein Zweifel,
ob sie in einem bestimmten Falle anzunehmen sei oder nicht, nur selten vor¬
kommen wird; und dies verdanken wir wesentlich jener Veränderung des Stand¬
punktes der Wissenschaft, die damit beginnen mußte, an ein bestimmtes Organ
des Geistes zu glaube», das, wie jedes andre, selbständig erkranken könne.
Wir glauben nicht fehl zu gehen, wenn wir in dem Wortlaut des 51.
Paragraphen des deutschen Strafgesetzbuches den Ausdruck dieses veränderten
Standpunktes der Wissenschaft erblicken. Der Paragraph lautet: „Eine straf¬
bare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung
der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter
Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbe¬
stimmung ausgeschlossen war." Die krankhafte Störung der Geistesthätigkeit
soll augenscheinlich Geisteskrankheit bedeuten. Die Fassung des Paragraphen
hat denn auch niemals den geringsten Zweifel daran aufkommen lassen, daß
die Geisteskranken als unzurechnungsfähig betrachtet werden müssen.
Anders verhält es sich dagegen mit den Defektzuständen auf geistigem
Gebiet, mögen sie nun angeboren oder erworben sein. Hier findet die An¬
wendung des Gesetzes wesentliche, in der Sache begründete Schwierigkeiten.
Ist ein Mann, der ein Vellt verloren hat oder dem von Geburt an ein
Glied, ein Sinnesorgan fehlt, ohne daß sonst seine Gesundheit Schaden gelitten
hat, krank zu nennen oder nicht? Darüber kann man verschiedner Meinung sein.
Dieselbe Schwierigkeit bietet sich der Beurteilung im Falle geistiger Mängel,
wo also nicht eine krankhafte Störung der Geistesthätigkeit im eigentlichen
Sinne des Wortes vorliegt, sondern eine Verminderung, ein Maugel, mit einem
Wort: bei deu nach medizinischem Sprachgebrauche schwachsinnigen. So viel
sagt uns freilich der gesunde Menschenverstand, daß nach der Absicht des Ge¬
setzgebers die hohen' und höchsten Grade des Schwachsinns ohne Zweifel als
Zustünde krankhafter Störung der Geistesthütigkeit betrachtet werden sollen.
Wenn auch nicht die Krankheit nach ärztlichem Begriffe, so ist doch das von
der Regel abweichende in diesen Fällen schon für jeden Laien augenfällig.
Wie aber steht es mit den geringeren Graden von Schwachsinn, die ohne scharfe
Grenzen in die landläufigen Begriffe der Thorheit und der handgreifliche»
Dummheit übergehen? In medizinischem Sinne ist es nicht zweifelhaft, daß
auch der anerkannte Dummkopf zu deu Schwachsinnigen gehört, und jedenfalls
ist eine Grenze, die die geringern Grade des ärztlich so bezeichneten Schwach
sinus von der Dummheit scheidet, auf keine Weise aufzufinden. Soll nun,
wenn man den Schwachsinn an sich als Zustand krankhafter Störung der
Geistesthätigkeit betrachtet, jeder anerkanntermaßen Dumme bei Verbrechen straf¬
frei ausgehen? Daß das Gesetz unmöglich diesen Sinn haben könne, liegt auf
der Hand, ebenso wie auch der Wortlaut des 51. Paragraphen nur sehr ge¬
zwungen so gedentet werden könnte. Es ist eben unbestreitbar, daß hier eine
Art von Lücke im Gesetz besteht, und daß es notwendig sein wird, hohe Grade
des Schwachsinns und niedrige Grade davon im Sinne des Gesetzes zu unter¬
scheiden. Diese Unterscheidung selbst aber wird nach gesetzlicher Vorschrift
ebensowohl Aufgabe des Richters als des ärztlichen Sachverständigen sein;
sie zu erleichtern und zu zeigen, wie sie gelöst werden kann, ohne daß man
den schwankenden Boden von Rechtsanschauungen einer ungewissen Zukunft
betritt, sind die folgenden Zeilen bestimmt.
Die Schwierigkeit, die hier vorliegt, ist schon zur Zeit der Entstehung
des deutschen Strafgesetzbuches der hohen medizinischen Instanz nicht entgangen,
die an der endgiltigen Fassung des Paragraphen beteiligt war. In den Mo¬
tiven zu dem Gesetzentwurfe, die dem Reichstage seiner Zeit vorgelegt wurden,
befand sich (Anlage 3, S. 23) auch ein Gutachten der tgi. preußischen wissen¬
schaftlichen Deputation für das Medizinalwesen. Dort heißt es: „Was die
mangelhafte geistige Entwicklung betrifft, so truü sie mir dann die Zurechnungs¬
fähigkeit ganz ausschließen, wenn sie aus einer krankhaften Störung zu erklären
ist. Beruht sie dagegen auf mangelhafter Erziehung, auf Vernachlässigung und
Verwilderung, so kann sie höchstens eine geminderte Zurechnung motivire».
Deal das Unterscheidungsvermögen zwischen Gutem und Bösem und die
Willensfreiheit werden dadurch nicht völlig aufgehoben," Für die Handhabung
des Gesetzes ist diese Motivirung, wie allseitig anerkannt wurden ist, nicht ver¬
bindlich, Sie ist aber auch in sich vollständig unhaltbar. In juristischem
Sinne dürfte es nicht darauf ankommen, wenn die mangelhafte geistige Ent
Wicklung einem hohen Defektznstande entspricht, aus welchen Ursachen sie ent-
standen sein mag. Es kommt nur darauf an, ob ein so großer Maugel vor-
Handen ist oder nicht. Überdies ist dabei von dem Begriffe der geminderten
Zurechnungsfühigkeit Gebrauch gemacht', den das Gesetz nicht kennt, und den
man damals absichtlich nicht in das Gesetz eingefügt hat. Der Schlußsatz
aber ist wohl überhaupt uur Phrase. In medizinischem Sinne stellt diese
Motivirung eine nicht weniger unhaltbare Unterscheidung aus, die sich leider
dnrch das hohe Ansehen der Stelle, von der sie ausgegangen ist, allgemeinere
Geltung verschafft und dadurch schou manches Unheil angerichtet hat. Statt
nämlich die allein dem Rechtsgefühl entsprechende Unterscheidung von Schwach¬
sinn hohen und Schwachsinn geringen Grades zu machen, wird hier der
Schwachsinn infolge krankhafter Störung und der Schwachsinn ohne dieses
Merkmal unterschieden. Wissenschaftlich mag eine solche Unterscheidung gerecht¬
fertigt sein, denn die Erfahrung lehrt, daß ein Teil der von Geburt an schwach¬
sinnigen auch mit andern Gebrechen behaftet ist, die auf eine krankhafte Gehirn¬
entwicklung hinweisen. So sind viele auch gelähmt, mit Unregelmäßigkeit der
Sinne behaftet, epileptisch, oder sie zeigen Abweichungen des Schädelskeletts,
oder sonstige Mißbildungen und „Degenerationszeichen." Wenn die genannten
Fälle immer zugleich die besonders hohen Grade des Schwachsinns aus¬
machten, dann wären solche objektiv auffindbare Merkmale gewiß von schwer¬
wiegender Bedeutung, Aber leider ist dies nicht der Fall, sondern diese Be¬
gleiterscheinungen, die die „krankhafte Störung" im Sinne der wissenschaftlichen
Deputation begründe» würden, sind ebenso oft den Fällen eines geringen als
denen eines hohen Grades von Schwachsinn eigen. Deshalb ist die an die
Hand gegebene Norm juristisch schlechterdings unbrauchbar, und es bleibt die
Schwierigkeit bestehn, eine unserm Rechtsgefühl entsprechende Grenze nach dem
Grade des Schwachsinus festzusetzen.
Die Mehrzahl meiner Fachgenvsseii kann es nicht genng beklagen, daß
ihnen dieser Schwierigkeit gegenüber ein Ausweg verschlossen wird, den sie
für besonders glücklich und geeignet halten, nämlich die Möglichkeit, sich für
eine Verminderung der Znrechnungssühigkeit auszusprechen. Wie schon ange¬
deutet, erkennt das geltende Recht diesen Begriff nicht an und stellt Richter
und Sachverständige mir vor die Wahl: zurechnungsfähig oder nicht- Wir
kommen darauf noch zurück, betonen aber schon hier, daß wir gerade diese
schärft Scheidung für die notwendige Folge des Rechtsprinzips halten müssen.
Es ist dann in neuester Zeit versucht worden, unter Anpassung an die bestehenden
gesetzlichen Bestimmungen demselben Prinzip der verminderten Zurechnungs¬
fähigkeit dadurch Eingang zu verschaffen, daß man für Zuerkennung mildernder
Umstände in einschlägigen Fällen platirt hat, da aber diese im Gesetze nicht
durchweg vorgesehen sind, die allgemeine Zulassung mildernder Umstände bei
allen Verbrechen befürwortet hat. Von meinem Standpunkt aus kann ich in
alledem keine Hilfe erblicken. Richter und Sachverständige werden sich der ganz
bestimmten Grenzbeftimmnng, ob Schwachsinn hohen Grades oder niedern Grades
im Sinne des Gesetzes vorliegt, nicht entziehen dürfen, zumal da ihnen, wie
ich zeigen werde, Hilfsmittel, die für die meisten Fälle ausreichen, schon durch
das geltende Recht in die Hand gegeben werden.
Vorher noch eine kurze Abschweifung. Bei allein Respekt vor dem historisch
gewordene!?, zumal dem Ergebnis einer vielhundertjährigen Kulturarbeit, wie
es sich im römischen Recht verkörpert, wird es doch gestattet sein, unser heutiges
Recht auch von einem weniger voreingenommeuen, mehr naturwissenschaftlichen
Standpunkt aus zu betrachten. Durchdringen doch die Naturwissenschaft
und ihre praktischen Errungenschaften unser modernes Leben in einem nie
geahnten Maße, sodaß einer der berufensten Vertreter dieser Wissenschaft unser
Zeitalter als das nnturwisfeuschaftliche Jahrhundert feiern zu müssen geglaubt
hat. Gerade das Recht aber mit seinen vielfachen Berührungen mit Sitte und
Volksgebrauch wird durch das Zeitalter beeinflußt. Wir sprechen von einem
Rechte, das weder römisch noch deutsch ist, noch modernes napoleonisches
Recht, auch nicht jenes absolute Recht, das sich immer verflüchtigt, sobald es
in die Praxis übergeführt werden soll, sondern von demjenigen Rechtsbewußt-
sein, das jedes Zeitalter für sich in Anspruch nehmen muß. Und so erscheint
es uur selbstverständlich, daß unsre Zeit, so wie sie ist, mit dein festgefügten
Staate, mit der Gleichheit der Einzelwesen vor dem Gesetz, mit dem weitge-
getriebenen Maße persönlicher Freiheit und dementsprechend gesteigerten
Bedürfnis nach fester Gesellschaftsordnung ihr eignes von dem aller ander»
Zeiten verschiednes Rechtsgefühl erzeugt. Geht man diesem auf den Grund,
so erkennt man Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit als seine Grundlagen.
An die Stelle von recht und unrecht tritt sozial und antisozial. Was
darf nicht geschehen, fragt in diesem Sinne das Strafrecht, damit die Gesell¬
schaft und der Einzelne vor der Willkür gesellschaftsfeindlicher Elemente geschlitzt
bleibe? Was alles darf und wie soll es geschehen, fragt das Zivilrecht, damit
jedes Mitglied der Gesellschaft ihrer Vorteile möglichst teilhaftig werde? Und
so wird die Zurechnungsfähigkeit ein Zweckmäßigkeitsbegriff, indem er einer¬
seits den Geisteszustand feststellt, der als Vorbedingung erachtet wird, um die
Vorteile der Gesellschaft zu genießen, anderseits jenen Zustand, wo der Einzelne
die Gebundenheit durch die Gesellschaft in Form der Strafe anerkennen muß.
Augenscheinlich erfordert die Gesellschaftsordnung, daß in beiden Fällen der
gleiche Maßstab angelegt werde, oder wenigstens, wer in die vollen Rechte ein¬
tritt, auch die vollen Pflichten auf sich nehme.*) Mit andern Worten, wessen
Geisteszustand derart ist, daß er bevormundet werden oder bleiben, in der
Freiheit seiner Handlungen also beschränkt werden muß, der darf auch dem
Strafrecht nicht verfallen, das nur die freien Handlungen treffen will. Wer
eines Vormundes nicht bedarf, muß dem Strafrecht unterworfen sein. Eine
verminderte Zurechnungsfähigkeit ist von diesem Standpunkt aus nicht denkbar;
sie würde nur dann in Geltung treten können, wenn mehr als eine Gesellschaft
in Frage käme, d. h. gegenüber bestimmten, an sich ja möglichen Strafmitteln,
wie Verbannung und Deportation. Ein weiteres Eingehen auf diese Gesichts¬
punkte und namentlich die nähere Untersuchung darüber, wie weit der über¬
wiegende Staatsgedanke im römischen Recht dazu führen mußte, daß für die
Zurechnungsfähigkeit auf zivilrechtlichen und strafrechtlichen Gebiete thatsäch¬
lich ein verschiedner Maßstab angelegt worden ist, kann hier füglich unter¬
bleiben. Es genügt den Leser, darauf vorbereitet zu haben, daß die Zurech'
nungsfähigkeitsfrage auch ganz anders lauten könnte, als sie im 5)1. Paragraphen
des deutschen Strafgesetzbuches gefaßt ist; sie könnte nämlich lauten: „Gehört
der Mensch, der ein bestimmtes Verbrechen begangen hat, in die Gesellschaft
oder nicht? Ist es nicht vielleicht nach dem Maße seiner geistigen Begabung
sein gutes Recht, bestraft zu werden?"
Wenden wir uns aber der besondern uns obliegenden Aufgabe zu, zwischen
Schwachsinn hohen Grades und niedern Grades zu unterscheiden, so wird es
nun der Leser verstehen, wenn wir vorschlagen, als Schwachsinn hohen Grades
den zu betrachten, der nicht gesellschaftsfähig ist, als Schwachsinn niedern
Grades den, der noch innerhalb der Gesellschaft bestehen kann. Natürlich giebt
es anch hier Gegensätze. Die beiden äußersten Grenzen werden einerseits durch
solche Schwachsinnige dargestellt, bei denen die Anstaltsversvrgung in Jdioten-
anstalten n. dergl. in. erforderlich ist, anderseits von solchen, die es trotz anerkannter
Beschränktheit bis zu einem selbständigen bürgerlichen Dasein gebracht haben.
Dazwischen besteht eine Stufenleiter der verschiedensten Grade. Liegt denn
aber hier uicht dieselbe Schwierigkeit vor, wird man fragen, eine Grenzlinie
ziehen zu müssen, die in der Natur nicht vorhanden ist und nicht vorhanden
sein kann? Darauf kann man antworten: Für die Gesellschaftsfähigkeit giebt
es bereits eine Regel, die äußerst glücklich gefaßt ist und sich durchaus
bewährt hat, wenn sie auch bisher mir auf zivilrechtlichen Gebiet Anwendung
gefunden hat.
Es ist die in. Landrecht enthaltene Bestimmung über die Entmündigung
oder sogenannte Blödsiunigkeitserkläruug. Blödsinnig im Sinne des Gesetzes
ist nach Paragraph 27 des Allgemeinen Landrechts derjenige, welcher unfähig
ist, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen. Diese Erklärung ist die Bor¬
bedingung der gerichtlichen Entmündigung, sonnt derjenigen Maßregel, die das
Recht, frei und auf eigne Verantwortung innerhalb der Gesellschaft zu
handeln, aufhebt oder einschränkt. Richter und Sachverständige brauchen sich also
nur die Frage vorzulegen, ob der. Schwachsinn dem Blödsinn im Sinne des
Gesetzes gleichkommt, um sich darüber klar zu werden, ob ein bestimmter, im
Gesetz schon als solcher anerkannter höherer Grad desselben vorhanden ist, oder
ob er unter dieser gesetzlichen Feststellung bleibt. Daß die Anwendung dieser
dein Zivilrecht entnommenen Bestimmung ans das Strafrecht unbedenklich ist,
geht auch ans folgender Erwägung hervor. Auch unser deutsches Strafgesetzbuch
handelt von gewissen Fällen zweifelhafter ^ilrechnnngsfähigteit. Die gesetzliche
Annahme, das; die Zurechnungsfähigkeit zweifelhaft sei, wird aber nur für
Personen jugendlichen Alters, und zwar zwischen vollendetem siebenten und
vollendetem achtzehnten Jahre, und für Taubstumme aufgestellt. Diese sollen
nach Paragraph 56 und 58 des deutschen Strafgesetzbuches freigesprochen
werden, wenn sie bei Begehung der That die zur Erkenntnis ihrer Strafbar¬
keit erforderliche Einsicht nicht besessen habe». Nach Ansicht hervorragender Strnf-
rechtslehrer ist aber der Besitz der erforderlichen Einsicht, wenn auch hier
nur auf bestimmte Klassen von Personen angewendet, ganz allgemein eine
Voraussetzung der Schuld, es wird also auch den Schwachsinnigen gegenüber
anwendbar sein. Kein Arzt aber wird bezweifeln, daß demjenigen Schwach¬
sinnigen, der ganz allgemein unfähig ist, die Folgen seiner Handlungen zu
überlegen, auch die Einsicht nicht zugesprochen werden kann, die zur Erkenntnis
der Strafbarkeit einer Handlung erforderlich ist. Es entspricht also, wie ich
dargethan zu haben glaube, durchaus dem geltenden Rechte, »nenn der ärztliche
Sachverständige zur Unterscheidung von Schwachsinn hohen und niedern Grades
die zivilrechtliche Definition des Blödsinns zur Richtschnur nimmt und sich in
jedem Falle die Frage vorlegt- Ist hier die Entmündigung gerechtfertigt
oder nicht?
Die vorstehenden Erwägungen haben mir in einer Reihe von schwierigen
Fällen zu einem richtigen Urteil verholfen. So in folgendem Falle. Ein
junger Bursche im Beginn der zwanziger Jahre erstach ohne bekannten — auch
später nicht ermittelten — Beweggrund auf der Straße einen Mann, dem er
augenscheinlich aufgelauert hatte. Seine Aussagen waren vielfach lügenhaft.
Er war ganz zweifellos schwachsinnig, hatte einen schiefen Schädel und andre
sogenannte Degenerationszeichen. Ans der Schule und in der Lehre war er
zurückgeblieben und hatte unter seinen Genossen als beschränkt gegolten, er
hatte aber als Arbeiter sein Brot verdienen und noch seine Mutter unterstützen
könne». Bis zur Begehung der That hatte er ohne Austand in der mersch-
lichen Gesellschaft gelebt, und nie our ein Bedenken an seiner bürgerlichen
Selbständigkeit laut geworden; erst die That selbst erweckte Zweifel an seiner
Zurechnungsfähigkeit. Ich beschränkte mich darauf, den Schwachsinn als einen
solchen, der nachweislich in der Gesellschaft noch geduldet werden müsse, zu
bestimmen und überließ im übrigen das Urteil dem Gerichtshöfe, worauf die
Verurteilung erfolgte. Ein andrer Sachverständiger hatte sich wegen des
Schwachsinns für Unzurechnungsfähigkeit ausgesprochen. Auch ich würde heute
mein Urteil bestimmter abgeben, denn erst nachträglich ist mir klar geworden,
daß er auf keine Weise hätte entmündigt werden können und deshalb, wenn
auch schwachsinnig, doch nur den geringern Graden des Schwachsinns zu¬
zurechnen war.
In einem andern Falle sollte ein junger Manu, der seinen Vater bedroht
hatte, festgenommen werden und leistete dabei thätlichen Widerstand. Es stellte
sich heraus, daß er el» sogenannter Verlorner Sohn war, der, innerhalb einer
anständigen Familie aufgewachsen, trotz Belehrung und Beispiel niemals etwas
getaugt hatte und schließlich seiner Streiche wegen nach Amerika geschickt worden
war, wo er ein wüstes Vagabundenleben geführt hatte, ohne jemals etwas
werden zu können. Aus seinem ganzen Lebenslaufe ließ sich mit Klarheit der
Nachweis führen, daß er nie imstande gewesen war, die Folgen seiner Hand¬
lungen zu überlegen. Wenn es mir in diesem Falle auch nicht gelang, den
Richter von meiner Ansicht zu überzeugen, so hat doch das spätere Verhalten
des Gefangnen mein Urteil über jeden Zweifel erhoben.
Wie das letzte Beispiel beweist, lasse ich die oben ausgesprochenen Er¬
wägungen auch für den sogenannten „moralisch Schwachsinnigen" gelten. Dem
moralischen Schwachsinn oder der nor-U inWiiitv gegenüber befindet sich der
Richter in einer besonders schwierigen Lage, weil ja das Strafrecht gerade
die Bestimmung hat, auf moralische Mängel angewandt zu werden. Wenn
aber die Erfahrung lehrt, daß ein Mangel auf vorwiegend moralischem Gebiete
angeboren vorkommt, ein Mangel, der sich darin äußert, daß der Mensch trotz
aller aufgewandten Mühe, trotz besten Beispiels nicht zu Anstand und Ge¬
sittung erzogen werden, also die für die Gesellschaft erforderlichen Eigenschaften
nicht erwerben kann, so wird sich unser naturwissenschaftliches Jahrhundert auf
die Dauer der Wahrheit nicht verschließen können, daß dies eine besondre Art
des Schwachsinns ist, woran der Betroffene ebenso unschuldig ist wie sonst bei
angebornen Schwachsinn. Den entehrenden Strafen gegenüber, denen solche
Menschen ausgesetzt sind, und durch die auch die Ehrenstellung der Angehörigen
und Eltern angetastet wird, entspricht es unserm Rechtsgefühl, in solchen Fällen
auf Unzurechnungsfähigkeit zu erkennen; wird doch durch die entehrende Strafe
jedes Familienglied mit betroffen. Es dürfte ein Vorzug unsers Stand¬
punktes sein, daß sich auch in diesen Fällen jene von uns gezogene Grenzlinie
bewährt. Es wird sich nämlich herausstellen, daß mich hier nur die ge-
le kommen die beiden zusammen? Darwin, den jedes Kind
kennt, der die Naturwissenschaft und die Geschichte beherrscht, die
Moral, die schöne Litteratur, die Sozial- und sonstige Politik
beeinflußt, und Nuckle, der nie populär war, und dessen „Ge¬
schichte der Zivilisation in England," obwohl ihre deutsche Über¬
setzung 1881 die sechste Auflage erlebt hat, auch in den Kreisen der Gebildeten
selten erwähnt wird? Weil sie zu einander gehören, als Vertreter zweier ein¬
ander ergänzenden Lebeusnnsichten, Ihre Gedankenkreise lagen zu weit aus
einander, als daß sich ein lebhafter Verkehr zwischen ihnen hätte entspinnen
sollen. (Die kürzere Lebenszeit Vuckles, 24. November 1822 bis 29. Mai 1862,
wird von der lungern Darwins, 12. Februar 180» bis 19. April 1882, um¬
klammert.) In dem Werke „Leben und Briefe von Charles Darwin" wird
folgende Anekdote über eine persönliche Begegnung beider in Gesellschaft be¬
richtet. Buckle sprach ohne Unterbrechung, und der bescheidne Darwin ging
schließlich fort, ohne ein einzigesmal zu Worte gekommen zu sein. Als er
hinaus war, sagte Buckle: „Mr. Darwins Bücher sind viel besser als seine
Unterhaltung." Bei dieser Gelegenheit wird auch die allen reichen Leute» sehr
zu empfehlende Art mitgeteilt, wie Buckle Stoff sammelte. Er kaufte alle
Bücher, die er benutzte, und entwarf beim Lesen ein Verzeichnis der wichtigsten
Stellen. Da machte denn später die Ausrüstung seiner Schriften mit Belegen
wenig Mühe. In demselben Werke kommen drei Urteile Darwins über Buckle
vor. In seiner Selbstbiographie schreibt er: „Meiner Meinung nach war das
Buch ^die Geschichte der Zivilisation^ interessant, auch habe ich es zweimal ge¬
lesen; ich bezweifle aber, daß seine Verallgemeinerungen irgend welchen Wert
haben." Und in einem Briefe an Hooker 1858: „Der große Buckle hat mir
nicht sehr imponirt. Ich lese jetzt sein Buch, das, wie mir scheint, mit viel
Sophistik, wunderbar geschickt und originell und mit staunenerregenden Kennt¬
nissen geschrieben ist." Dagegen 1862 (Adressat unbekannt): „Haben Sie
Buckles zweiten Band gelesen? Er hat mich in hohem Grade interessirt. Ich
kümmere mich nicht weiter darum, ob seine Ansichten richtig oder falsch sind,
doch scheinen sie mir Wahres zu enthalten, und meinem Geschmack nach ist er
der beste Schriftsteller, der je in englischer Sprache geschrieben hat."
Wir geben zunächst einen kurzen Abriß von Buckles Gedankengang. Wenn
wir nur vereinzelt hie und da eine Bemerkung einschieben, so darf daraus
nicht geschlossen werden, daß wir mit allem übrigen vollkommen einverstanden
wären.
Entstehung und Fortschritt der Zivilisation hängt einerseits vom Einfluß
der Natur, anderseits von der Beschaffenheit des Geistes ab. In ersterer Be¬
ziehung fällt zunächst der Unterschied zwischen den asiatischen und den euro¬
päischen Kulturstaaten ans. Jene liegen im allgemeinen südlicher, daher er¬
zeugt ihr Boden mehr Nahrung, während zugleich die Bewohner weniger
brauchen. Daher die Neigung zu stärkerer Volksvermehrung und niedrigen
Arbeitslöhnen. Da nun der Ertrag des Bodens und der Arbeit in drei Teile
zerfällt: Grundrente, Unternehmergewinn und Arbeitslohn, so müssen die ersten
beiden Teile in dem Maße anschwellen, als der dritte sinkt. So beansprucht
z. B. in Indien der Grundherr vom Pächter die volle Hälfte der Ernte und
darüber. Das Ergebnis ist die Spaltung des Volkes in eine proletarische
Arbeiterbevölkerung und einen Stand der Reichen, die immer reicher werden.
Da ferner der Reichtum Macht verleiht, so hat die Armut der Volksmasse
deren Ausschließung von allen politischen Rechte» zur Folge; sie versinkt in
sklavische Abhängigkeit und entsprechende Dummheit.
Ein andrer Nachteil des südlichen Klimas, der in geringerem Grade auch
die südlichen Länder Europas trifft, besteht in der Beförderung der Phantasie
auf Kosten des Verstandes. In dieser Richtung ist nicht bloß der über¬
wältigende und überwuchernde Reichtum um Erzeugnissen wirksam. Es kommt
drzu, daß Erdbeben, feuerspeiende Berge, wilde und giftige Tiere, verpestete
Ausdünstungen den Menschen häufiger als im Norden mit Todesgefahr be¬
drohen. Daher mehr Furcht vor dem Tode, mehr Gedanken ans Jenseits,
die eine nie versiegende Quelle abergläubischer Einbildungen sind. „Fassen wir
dies alles zusammen, so können wir sagen, daß in den außereuropäischen Kultur¬
ländern die ganze Natur verschworen war, die Macht der Phantasie zu er¬
höhen und die des Verstandes zu schwächen," während in Europa „die Natur¬
erscheinungen im ganzen dahin zielen, die Phantasie zu beschränken, den Verstand
hingegen kühn zu macheu und den Menschen mit Vertrauen auf seine eignen
Hilfsmittel zu erfüllen. Welche Bedeutung für die geistige Entwicklung der
Inder und der Griechen noch überdies die verschiedne Größe der beiderseitigen
Länder hatte, braucht kaum hervorgehoben zu werden. Der Grieche fühlte sich
sehr bald als Herr seines Ländchens, von dem er jeden Winkel kannte, dessen
Flüßchen und Berge seinen Reisen und sonstigen Unternehmungen keine unüber-
steiglichen Hindernisse bereiteten. Der Inder versank mit seiner hilflosen Klein¬
heit ins Nichts vor seinem ungeheuern Lande, dessen Entfernungen er nicht
zu durchmessen, dessen Berge er nicht zu übersteigen, dessen Ströme er nicht
zu bändigen vermochte."
So richtete die Natur in Asien dnrch ungleiche Verteilung des Reichtums
und ungleiche Verteilung der geistigen Thätigkeit doppeltes Unheil an. In
Asien ward der Mensch der Natur, in Europa die Natur dem Menschen unter¬
than, und dieser große Unterschied bildet die Grundlage der Philosophie
der Geschichte. „Die gebildeten Nationen verdanken in ihrem gegenwärtigen
Zustande jenen ursprünglichen Naturzuständen verhältnismäßig wenig, die in
allen außereuropäischen Kulturländern eine so grenzenlose Macht ausübten.
So wurde hier der Zug des Handels durch die Flüsse und die natürlichen
Häfen bestimmt. In Europa hingegen entscheidet des Menschen Geschick und
Kraft. Sonst waren die reichsten Länder dort, wo die Natur am gütigsten
ist; heute sind sie da, wo der Mensch am thätigsten ist. In unserm Welt-
alter wissen wir die Kargheit der Natur zu ersetzen. Haben wir keine Flüsse,
so bauen wir Kanäle; haben wir keine natürlichen Häfen, so legen wir künst¬
liche an. Und so auffallend ist diese Neigung, die Macht der Natur zu brechen,
daß sie sich sogar in der Verteilung des Volkes zeigt. Denn im zivilisirten
Europa überholt die Bevölkerung der Städte überall die des Landes, und es
leuchtet ein, je mehr sich die Menschen in großen Städten ansammeln, desto
mehr werden sie den Stoff ihres Denkens von ihrer eignen Thätigkeit her¬
nehmen und desto weniger werden sie sich um die Naturerscheinungen, diese
ergiebige Quelle des Aberglaubens, kümmern."
So wird denn der Fortschritt der Zivilisation in Europa dadurch herbeigeführt,
daß der Einfluß der Natur sich stetig vermindert und der des Geistes sich ebenso
stetig erhöht. Die Kräfte der Natur bleiben dieselben, sind keiner Steigerung
fähig, die Hilfsquellen des menschlichen Geistes dagegen werden immer reicher.
Muß demnach die Zivilisation an den Triumphen des Geistes über die Natur
gemessen werden, so leuchtet ein, daß die Gesetze des Geistes für den Fort¬
schritt der Menschheit wichtiger sind als die der Natur. So löst sich die Auf¬
findung der Gesetze einer europäischen Geschichte in die Auffindung der Gesetze
des Geistes auf. Um um diese Gesetze zu erforschen, beginnt Buckle mit einer
Prüfung der „Metaphysik," wie in England die Psychologie genannt wird,
und gelangt zu dem Ergebnis, daß beide Hauptschüler derselben, die sensua-
listische wie die idealistische, gleich unfähig und unfruchtbar seien, wobei jedoch
zu beachten ist, daß er die deutsche Philosophie nur sehr oberflächlich kennt.
Die „MetaPhysiker," meint er, hätten das Studium des Geistes in eine Ver¬
wirrung gestürzt, der uur die gleich komme, worin die Religion durch das
Studium der Theologie gestürzt worden sei. „Mit Ausnahme einiger Gesetze
über Jdeenassvziation und etwa der neuern Theorie über das Sehen und
Tasten" sei alles übrige wertloser Plunder. Nicht in sich selber, im eignen
Selbstbewußtsein, müsse der Forscher die Gesetze des Geistes aufsuchen, sondern
im Verhalten und Thun der Menschheit. (Genau so sind bei uns Herbart
und in neuerer Zeit die Mvralstatistiker verfahren. Hier gleich eine kleine Probe
davon, Wie wenig Buckle bei seiner Vielleserei seinen ungeheuern Stoff innerlich
zu bewältigen vermochte. Der metaphysischen Methode ähnlich, meint er, ist
die, nach der die Physiologen das Gesetz des Verhältnisses der männlichen
und der weiblichen Geburten zu einander gesucht haben; sie konnten es nicht
finden, erst die Statistik hat es gefunden durch Überschau über das Ganze, in
dem sich das Gesetz der großen Zahl geltend macht. Was die Physiologen
suchten, war aber doch nicht das Gesetz! Dieses brauchte niemand zu suchen,
denn jedermann steht es vor seiner Nase liegen. Sondern sie untersuchten, wie
die Natur es anfängt, trotz aller Ungleichheit in den einzelnen Familien, doch
im großen und ganzen das Zahlengleichgewicht zwischen beiden Geschlechtern
aufrecht zu erhalten; und diese Vorkehrungen der Natur können, wenn über¬
haupt, nur auf physiologischen Wege gefunden werden.)
Beim Blick auf das Ganze bemerken wir nun zunächst, daß sich das
geistige Leben aus dem sittlichen und intellektuellen zusammensetzt. Zu¬
nächst meint Buckle hier die nüßverständliche Deutung des Wortes Fortschritt
abzuweisen, als ob die Menschennatur selbst fortschreite, die Gesamtheit seiner
sittlichen und intellektuellen Kräfte und Anlagen sich vermehre, steigere oder
sonstwie vervollkommne. Die Möglichkeit eiuer solchen Vervollkommnung kann
freilich nicht in Abrede gestellt, aber daß sie wirklich vorgekommen sei, nicht
nachgewiesen werden. Weder erscheint der heutige Kulturmensch mit mehr
Verstand, Gedächtnis u. s. w. ausgerüstet als der des Altertums, noch stehen
die heutigen Negerkinder an Begabung hinter den europäischen in auffälliger
Weise zurück. Der Fortschritt liegt demnach nicht in der Erhöhung oder
sonstigen Vervollkommnung unsrer natürlichen Anlagen, sondern in der Ver¬
besserung der Umstände, unter denen die geistigen Fähigkeiten gleich nach der
Geburt in Wirksamkeit treten. Die häufige Ausicht von der Vererbung ge¬
steigerter Fähigkeiten wird durch die Erfahrung so wenig bestätigt wie die von
der Vererbung der Laster und Tugenden; die Kinder schlagen im guten wie
im bösen ebenso oft aus der Art wie in die Art. Weit weniger durch erblich
überkommene Eigenschaften wird das Denken, Empfinden und Handeln des
Einzelnen bestimmt, als durch die sittlichen Grundsätze und die Meinungen der
Zeit und Umgebung, in der jeder lebt; die sich darüber erheben oder dahinter
zurückbleiben, bilden die Ausnahmen. Die Masse lebt schläfrig in der
herrschenden Meinung dahin. Diese Meinung aber, der Zeitgeist, ändert sich
fortwährend. Was heute als Unsinn verspottet oder als Ketzerei verfolgt wird,
gilt morgen als ausgemachte Wahrheit, um übermorgen wieder einer neuen
Meinung zu weichen.
Diese immerwährende Veränderung kann um offenbar nicht durch ein Un¬
veränderliches bewirkt werden. Also liegt der Grund der Veränderung nicht
in den sittlichen Gefühlen, denn die sind im ganzen unveränderlich. „Andern
Gutes thun, zu ihrem Beste« unsre eignen Wünsche opfern, unsern Nächsten
lieben wie uns selbst, unsern Feinden verzeihen, unsre Leidenschaften im Zaume
halten, unsre Eltern ehren, dies und dergleichen mehr sind die Hauptsätze der
Moral. Sie sind Jahrtausenden bekannt, und nicht ein Titelchen haben die
Predigten, Homilien und Bibelerklärungen der Moralisten und Theologen
ihnen hinzuzufügen vermocht." Dagegen ist die Wissenschaft im höchsten Grade
veränderlich; von ihr allein also können jene Veränderungen herrühren, die den
Fortschritt ausmachen.
Und hier finden wir auch etwas, was wirklich vererbt werden kann. Gute
Thaten können nicht vererbt werden, jeder muß die seinigen selber ausführen;
die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung hingegen werden in Formeln
gebracht und so von einem Geschlecht auf das andre überliefert, Daher wirken
die guten wie die schlechten Handlungen nur vorübergehend und bringen in
dem jeweiligen Zustande des Menschengeschlechts keine bemerkbare Veränderung
hervor; nur die Erkenntnis wirkt mächtig aufs Ganze. Nicht böser Wille,
sondern mangelhafte Erkenntnis war es, was das meiste und größte Unheil
über die Welt gebracht hat. Die große Mehrheit derer, die religiöse Ver¬
folgungen angestiftet haben, sind Menschen von reiner Absicht und tadelloser
Sittlichkeit gewesen. Bekanntlich waren gerade die besten nnter den römischen
Kaisern die eifrigsten Christenverfolger, während Lumpen wie Heliogabcil sich
an die Religion ihrer Unterthanen gar nicht kümmerten. Wer sest überzeugt
ist, daß er sich im Besitze des allein wahren Glaubens befinde und daß jeder
Andersgläubige ewigen Qualen verfalle, der hält sich natürlich für verpflichtet,
seine Mitmenschen um jeden Preis und selbst mit den grausamsten Strafen
vor dem noch grausamem jenseitigen Schicksal zu retten. Je aufrichtiger ein
solcher Mensch es meint, je feuriger er seine Mitmenschen liebt, desto eifriger
wird er verfolgen; nur durch Verminderung seines Seeleneifers oder feiner
Aufrichtigkeit, also seiner Tugend, oder durch Aufklärung könne» nur dem Übel
Einhalt thun. Die Leute der spanischen Inquisition waren keine Heuchler,
sondern Schwärmer. Heuchler siud gewöhnlich zu weich, um grausam zu sein.
Zwei entschiedne Feinde der Inquisition, Llvrente nud Townsend, geben den
Inquisitoren das Zeugnis, daß sie meist nicht allein ehrenwerte, sondern auch
menschenfreundliche Männer gewesen seien, daß sie sich durch unbestechliche Recht¬
schaffenheit ausgezeichnet und ihre verkehrten Gesetze mit der größten Gewissen¬
haftigkeit angewandt haben. Religiöse Verfolgung ist eben das größte aller
Übel, weil sie nicht allein Tausende einem grausamen Tode überliefert, sondern
eine noch weit größere Zahl zu lebenslänglicher Heuchelei zwingt, sodaß Betrug
tägliche Notdurft und die Geistesverfassung des ganzen Volkes verderbt wird.
Das zweitgrößte Übel ist der Krieg, und auch für dessen Verminderung hat
die Moral gar nichts gethan. In dem Maße dagegen, als die geistigen Schätze
einer Nation anwachsen, vermindert sich ihre Neigung zum Kriege. Bei den
Wilden gilt nur der Mann, der mindestens einen Feind getötet hat. Mit
zunehmender Kultur hört das Volk auf, kriegerisch zu sein; die Kriegführung
wird einem besondern Stande übertragen, und je höher die Kultur steigt,
desto tiefer sinkt die Wertschätzung dieses Standes. In dem hochzivilisirten
England läßt der Vater den tüchtigsten seiner Söhne in bürgerliche Berufs-
arten eintreten und steckt nur den Taugenichts unter die Soldaten. In dem
barbarischen Nußland dagegen geht der letzte Fähnrich im Range dem ange¬
sehensten Bürger vor. Und doch sind die Russen nicht unsittlicher als die
Engländer; eher umgekehrt. Nicht im Herzen liegt der Fehler, sondern im
Kopfe. Der Fortschritt der Wissenschaft hat nicht bloß, indem er dem Leben
einen neuen, reichen Inhalt gab, die Neigung zum Kriege vermindert, sondern
noch auf andre Weise. Eine Zeit lang war auch der Handel kriegerisch, indem,
das Merkantilsystem die Staatslenker zu dem Irrtum verführte, mau müsse
den Wohlstand der andern Völker durch Gewaltthaten schädigen, um den des
eignen Staates zu fördern. Nachdem bessere Einsicht diesen Irrtum zerstört
hat, ist das Handelsinteresse eine Hauptschutzwehr des Friedens geworden.
Sodann hat das erleichterte Reisen den Nationalhaß beseitigt. Alle die bis¬
herigen Vorstellungen, die ehemals Engländer und Franzosen gegenseitig von
einander hegten, sind geschwunden — nebenbei gesagt, ein Beweis dafür, daß
das Gute in der Welt überwiegt; wäre das Gegenteil der Fall, so würden
die Völker durch genauere gegenseitige Bekanntschaft nicht eine bessere, sondern
eine schlechtere Meinung von einander bekommen.
Demnach hängen die Veränderungen im Zustande eines Kulturvolkes
von drei Dingen ab: von dem Umfange des Wissens seiner hervorragenden
Männer, von den Gegenständen, die den Inhalt dieses Wissens bilden, und
von den: Grade, in dem das Wissen der Gebildeten in der Masse Verbrei¬
tung findet.
Da demzufolge der Zustand der Völker von dem Schatze ihres Wissens
abhängt, so fällt die Geschichte der Zivilisation der Hauptsache nach mit der
des Erkenntnisfortschritts zusammen. Für eine solche fehlen aber (d. h. fehlten
in England, als Buckle schrieb) alle Vorarbeiten. Denn unglücklicherweise haben
die Geschichtschreiber bisher lauter unnützes Zeug berichtet, „am allercmsführ-
lichsten das allerunnützeste, die Kriegsgeschichten." Deshalb sieht sich Buckle
genötigt von seinem ursprünglichen, die ganze Zivilisation umfassenden Plane ab¬
zugehen und sich auf die Geschichte der Zivilisation seines Vaterlandes zu be¬
schränken. Dies eignet sich auch vorzugsweise zum Gegenstande dieser Unter¬
suchung, weil hier die Zivilisation sich freier als irgendwo anders aus dem
Volke heraus entwickelt hat; frei in doppelter Beziehung: frei von ausländischem
Einfluß und von Bevormundung durch die Regierung. Damit aber daneben
auch die entgegengesetzte Art der Entwicklung, die durch unnatürliche Einflüsse
gehemmte und gestörte, zur Anschauung komme, will er auch die Geschichte der
französischen Zivilisation darstellen.
„Neben den Franzosen und Engländern kommt keine Nation weiter in
Betracht; die Deutschen werden noch mehr bevormundet als die Franzosen."
Da mußte er ja nun eigentlich die deutsche Entwicklung als Typus dessen,
was nicht sein soll, darstellen! Aber es ist ein wenig Heuchelei dabei im
Spiele; er will nicht geradezu eingestehen, daß er von Deutschland weniger
weiß als von Frankreich und selbst von Spanien. Dem kleinen Zerrbilde
deutscher Zustände, das er bei dieser Gelegenheit hinwirft, liegen neben ein¬
gebildeten natürlich auch einige echte Züge zu Grunde. Vor der Mitte des
vorigen Jahrhunderts hatten die Deutschen keine Litteratur gehabt, erst durch
den Anstoß eine bekommen, der von Friedrichs des Großen Franzosen ausging;
seitdem sei dann Berlin das Hauptquartier deutscher Wissenschaft geworden.
„Der deutsche Geist, durch den französischen zu plötzlicher Entfaltung angeregt,
hat sich unregelmäßig entwickelt und in eine Thätigkeit gestürzt, die größer ist,
als die durchschnittliche Zivilisation des Landes es erfordert." Die Folge
davon sei eine tiefe Kluft zwischen den höchsten und den niedrigsten Geistern.
Die deutsche Philosophie stehe an der Spitze der zivilisirten Welt. „Das
deutsche Volk hingegen wird mehr von Vorurteilen und Aberglauben beherrscht
und ist ungeachtet aller Sorge, die seine Regierungen für seine Erziehung auf¬
wenden, unwissender und unfähiger, sich selbst zu regieren, als die Einwohner
von Frankreich und England. Seine großen Schriftsteller schreiben nicht für
ihr Land, sondern für einander."
Unter den Mächten um, die auf den Erkenutnisfvrtschritt einwirken, sind
als höchst wichtige zu nenne» die Religion, die Litteratur und die Regierungen.
Bleibe jedes Volk sich selbst überlassen, so würden eines jeden Religion, Litteratur
lind Regierung nicht die Ursachen, sondern Wirkungen seiner Zivilisation sein.
Die häufige Umkehrung des natürlichen Verhältnisses stiftet große Verwirrung.
Die Reformation des sechzehnten Jahrhunderts z. B. war ein notwendiges
Ergebnis des Zivilisationsfvrtschritts, der das Bedürfnis einer weniger aber¬
gläubischen und weniger unbequemen Religion erzeugte. Wären nun die
Völker sich selbst überlassen geblieben, so würden jetzt alle nnfgeklärten und
duldsamer Nationen protestantisch, alle zurückgebliebenen, abergläubische« und
unduldsamen katholisch sein. Allein unglücklicherweise haben sich die Regierungen,
„die sich immer in Dinge mischen, die sie nichts angehen," berufen gefühlt, die
religiösen Interessen ihrer Unterthanen in ihren Schutz zu nehmen, und so
hing denn die Wahl der Religion nicht vom Volke selbst und seinem Bildungs¬
standpunkte ab. So ist es gekommen, daß die aufgeklärten und duldsamer
Frauzosen Katholiken bleiben mußte», während die Schotten und die Schweden,
die in Aberglauben und Unduldsamkeit mit den Spaniern wetteifern, Prote¬
stanten geworden sind. Die Franzosen haben nun eine Religion, die für sie
zu schlecht, und die Schotten eine, die für sie zu gut ist, die ihnen auch gar
nichts nützt.
Ähnlich verhält es sich mit der Litteratur, deren Nutzen weit weniger von
ihrem Inhalt abhängt — überliefert sie doch das Abgeschmackteste so gewissenhaft
wie die wertvollsten Kenntnisse — als von dem Geiste, in dem sie studirt
wird. Wäre im siebenten und achten Jahrhundert das Alphabet verloren ge¬
gangen, und hätten die Leute ihre mit Wundergeschichten angefüllten Heiligen¬
legenden nicht mehr lesen können, so würde später der Fortschritt in Enropn
schneller von statten gegangen sein. Und auch heute noch findet man Männer
genug, deren Gelehrsamkeit nur ihrer Unwissenheit dient, und die desto dümmer
werden, je mehr sie lesen (je gelehrter, desto verkehrter; xiü niveo, xiü oorrotto).
Keine von außen eingeführte Litteratur kann einem Volke etwas nützen, wenn
sie es nicht vorbereitet findet. Ebensowenig ist der Fortschritt den Regierungen
zu verdanken. Ihre Leistung beschränkt sich nach Buckles Ansicht im allgemeinen
darauf, daß sie durch verkehrte Maßregeln den Fortschritt aufhalten, und die
englische ist in dieser unheilvollen Thätigkeit sogar vom Parlament unterstützt
worden. Deu heutigen Regierungen und Parlamenten allerdings kann das
Lob gespendet werden, daß sie hie und da etwas Gutes und Vernünftiges
thun, indem sie nämlich die von ihren Vorgängern erlassenen Gesetze abschaffen.
Heilsame Gedanken Pflegen zuerst in den Köpfen großer Denker aufzusteigen.
Werden sie ausgesprochen, so werden ihre Urheber und Anhänger verfolgt.
Allmählich brechen sie sich Bahn, und erst nachdem sie die Macht der öffent¬
lichen Meinung für sich gewonnen haben, überwältigen sie den Widerstand des
Parlaments und zu allerletzt den der Regierung.
Wie uach diesem Programm die Dinge verlaufen sind, wird nnn an der
Geschichte Englands und Frankreichs gezeigt. Unter allen englischen Staats¬
männern wird dein hvchliberalen Burke (1730—1797) der Ruhm höchster
Weisheit zugesprochen, besonders wegen eines Grundsatzes, den er einmal fol¬
gendermaßen aussprach: „Es wäre schrecklich, wenn es irgend eine Gewalt im
Staate gäbe, die imstande wäre, dem einstimmigen Wunsche des Volkes oder
anch nur den Wünschen einer großen Mehrheit desselben Widerstand zu leisten.
Das Volk kann sich in der Wahl seines Zweckes täuschen. Aber ich kann mir
keine Wahl vorstellen, die so schädlich zu wirken vermöchte, wie eine Macht,
die stark genng wäre, sich dieser Wahl zu widersetzen." Auch habe Burke zuerst
die große Wahrheit in ihrer ganzen Tragweite erkannt, daß in der Gesetzgebung
nicht die Wahrheit, sondern die Zwecknüißigkeit zu entscheiden habe. (Mit
„Wahrheit" ist hier wohl das an sich vernünftige gemeint.) Die Franzosen
wurden länger als die Engländer von der Priesterschaft in ihrem Fortschritt
aufgehalten, schlugen aber schließlich denselben Weg des wissenschaftlichen Fort¬
schrittes und der religiösen Duldung ein wie jene. Buckle fragt, wie es ge¬
kommen sei, daß sie trotzdem „Sklaven an Leib und Seele, auf einen Zustand
noch stolz waren, deu der geringste Engländer als unerträgliche Knechtschaft
von sich gestoßen hätte"; woraus sich als unvermeidliche Folge ergab, daß sich
unumgänglich notwendige Änderungen bei ihnen nuf keinem andern Wege als
auf dem des gewaltsamen Umsturzes vollziehen konnten. Er antwortet, daran
sei die ewige Bevormundung schuld gewesen. „Die ganze Staatsverwaltung
geht von der Boraussetzung aus, daß kein Mensch sein eignes Interesse kenne.
Selbst bei seineu gewöhnlichsten Belustigungen wird das Volk aufs sorgfältigste
bewacht. Damit die Leute einander nicht aus Unbesonnenheit irgend ein Leid
zufügen, werden sie mit jenen Vorsichtsmaßregeln gehütet, mit denen ein ängst¬
licher Vater seine kleine» Kinder zu umgeben pflegt. Auf ihren Jahrmärkten,
in ihren Theatern und Kvnzertsäleu werden stets Soldaten aufgestellt, die auf¬
passen müssen, daß kein Schaden angerichtet werde, kein Gedränge entstehe und
keiner der Anwesenden mit seinem Nachbar in Streit gerate. Selbst die Er¬
ziehung der .Kinder wird unter die Aufsicht des Staates gestellt, anstatt nach
der Einsicht der Eltern und Lehrer geleitet zu werden. Und mit solcher Folge¬
richtigkeit wird dieser Bevormundungsplan durchgeführt, daß die Franzosen im
Mannesalter sich so wenig selbst überlassen leben wie in der Kindheit. Des¬
halb ist dieses von Aberglauben freieste Volk unfähig, sich selbst zu regieren."
(Freiherr von Nordeuflycht schildert in seinem Buche „Die französische Revo¬
lution von 1789" ebenfalls diese allgemeine Bemutterung der Franzosen des
anoisn rögime durch die Bureaukratie, meint aber, weder die Bürger noch die
Bauern Hütten sich schlecht dabei gestanden; den englischen Urteilen über diese
Verhältnisse dürfe mau nicht trauen.)
Im Eingänge des zweiten Bandes faßt Buckle das Ergebnis des ersten
folgendermaßen zusammen. Der Fortschritt des Menschengeschlechts beruht auf
dem Erfolge, womit die Gesetze der Erscheinungen erforscht, und auf dein Um¬
fange, bis zu dem die .Kenntnis dieser Gesetze verbreitet wird. Ehe die For¬
schung beginne>l kann, muß der Zweifel entstehen, der zuerst die Forschung
fördert und dann von ihr gefördert wird. Durch die Forschung erhält die
Erkenntnis, nicht die Sittlichkeit, stetigen Zuwachs. Der Hauptfeind des Bil¬
dungsfortschrittes ist der bevormundende Geist in Kirche und Staat.
Den Hauptinhalt des zweiten Bandes bildet ein Überblick der spanischen
und der schottischen Geschichte. In Spanien fallen die verheerenden Wirkungen
des bevormundenden Geistes umsomehr auf, als der Charakter des Volkes von
allen Kennern gerühmt wird. Den Schotten schadete ihre Bigotterie weniger,
weil die Unfähigkeit der Regierung das Volk zwang, seine bürgerlichen An¬
gelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, und es vor dem „Nationallnster"
der Loyalität bewahrte.
ringern Grade, die bis jetzt in der Gesellschaft haltbar waren, dem Gesetze
verfallen.
Jene beiden Beispiele zeigen uns zugleich, daß wir mit unserm Stand¬
punkte, dessen Anwendbarkeit wir dargethan zu haben glauben, auch den An¬
forderungen der Zweckmäßigkeit gerecht werden. Nach meiner irrenärztlichen
Erfahrung wäre es nicht möglich gewesen, den Schwachsinnigen, der einen
Mord begangen hatte, dauernd im Irrenhause eingesperrt zu halten. Im
Rahmen der Anstalt hätte er sich voraussichtlich gut geführt und sich so wenig
gemeingefährlich gezeigt, daß er binnen Jahresfrist entlassen worden wäre, weil
Schwachsinnige viel höhern Grades, die folglich auch viel gemeingefährlicher
sind, einen größern Anspruch auf den vorhandenen Platz gehabt hätten. Man
muß sich nur darüber klar sein, daß auch die beste Jrrenpflegc es niemals
so weit bringe« kann, daß alle Schwachsinnigen in Anstalten gehalten werden
können. Denn ein bedeutender Bruchteil der Bevölkerung müßte dann in die
Anstalten wandern. Daß der Thäter nicht in die Gesellschaft gehörte, war
augenscheinlich, es war deshalb gewiß zweckmäßig, daß er auf andre Weise
unschädlich gemacht wurde. Im zweiten Falle, wo ein Widerstand gegen die
Staatsgewalt vorlag, bot die leicht ausführbare Entmündigung das Mittel,
den Sohn wieder unter die väterliche Gewalt zu stellen. Soweit es nötig
war, war die Familie willens und in der Lage, für eine Anstaltsbehandlnng
des Verbrechers zu sorgen.
Ich will zum Schluß meine Ausführungen in wenigen kurzen Sätzen zu¬
sammenfassen. 1. Mit Rücksicht auf 8 51 des Deutschen Strafgesetzbuches ist
es nötig, zwischen Schwachsinn hohen Grades und niedern Grades zu unter¬
scheiden. Nur der Schwachsinn hohen Grades kann im Sinne des Z 51 von
Schuld befreien. 2. Schwachsinn hohen Grades wird jedesmal dann anzu¬
nehmen sein, wenn die gesetzliche Entmündigung nach 27 des Allgemeinen
Landrechts möglich ist. 3. Die innere Berechtigung dieser Unterscheidung be¬
ruht daraus, daß dem, der die Folgen seiner Handlungen zu überlegen außer
stände ist, damit vou selbst auch die zur Erkenntnis der Strafbarkeit einer
Handlung erforderliche Einsicht abgesprochen werden muß. Letztere aber ist
die allgemeine Vorbedingung jeder Verschuldung.
artha hatte ihren Entschluß gefaßt, und von dein Augenblick an
war eine wunderbare Ruhe über sie gekommen. Jesper war
noch eine Stunde lang bei ihr geblieben, und sie hatten ruhig
und vernünftig über die Vorbereitungen zur Hochzeit gesprochen,
über die Einrichtung des Mühlenhauses, über das Ausgebot, das
beim Prediger bestellt werden müsse, und über mancherlei andres.
Noch draußen in der Thür hatte Martha aufs neue gelobt, das; sie sich
ändern und ihm treu bleiben wolle, ebenso wie er seinerseits das feierliche
Versprechen gegeben hatte, wieder fleißig und ordentlich zu werden, sodaß sie
glücklich mit einander leben könnten. Als sie aber die Hausthür geschlossen
hatte und in ihre Kammer kam, sank sie vor einem Stuhl in leisem Schluchzen
nieder.
Das also war das Ende vom Liede! Dahin sollte es schließlich doch
mit ihr kommen!
Sie wußte, daß es so am besten war; daß sie wie dnrch ein Wunder vor
dem verhängnisvollen Schritt, vor dein sie sich stets so gefürchtet hatte, be¬
wahrt worden war. Und doch konnte sie ihre Thränen nicht zurückhalten.
All das geheime Sehnen, alle Träume ihrer Jugend mußte sie ausweinen;
sie fühlte, daß dies der letzte Stachel war, der letzte Kampf, der ihr jetzt bevor¬
stand. Wenn erst die Nacht vergangen war und sie ihn fort von hier wußte,
würde ihr Herz für immer den Frieden finden, nach dein jetzt ihr einziges
Sehnen stand.
Aber diese endlos lange Nacht!
Sie wußte, er würde kommen und sie rufe», er würde draußen stehen
und auf sie warten, spähend, ihrem Schritte lauschend, ungeduldig, sehnsuchts¬
voll! Aber sie fühlte, daß sie jetzt stark war, daß nichts mehr sie in ihrem
Entschlüsse wankend machen würde. Ruhig und ohne Klage sollte der nächste
Tag sie finden, wenn nur erst diese lange Finsternis überstanden, diese letzte
Qual von ihr genommen war.
Sie erhob sich langsam und fing an, sich auszukleiden. Unsichern Schrittes
schwankte sie in dem länglichen, dunkeln Raume hin und her, zog die Decke
von ihrem Bett und legte ihr Zeug zurecht. Eine furchtbare Mattigkeit kam
über ihre Glieder; die Füße wurden ihr schwer, und der Kopf schmerzte sie.
Schließlich sank sie auf die Bettkante nieder und preßte ihr Kleid gegen die
Anger. Da siel ihr ein, das; sie schon seit langer Zeit kein Abendgebet ge¬
sprochen hatte, lind sie fing an zu beten.
Aber mitten im Gebet sah sie wieder den feinen, blonden Kopf vor sich,
der in ihrem Schoße geruht hatte. Es war ihr, als fühlte sie noch immer
diese weiche, zitternde Hand, diese brennenden Lippen. Jedes Wort, das er
geredet hatte, summte ihr noch mit zärtlichem, flehendem Klang in den Ohren,
und schließlich "weinte sie vor Schmerzen. Ihr ganzes Leben seit jenem ver-
hällgnisvollen Tage, wo sie im Schilf Zeuge der Liebkosungen jeuer beiden
Liebenden geworden war, zog wieder an ihrer Seele vorüber. Jede Sehnsucht,
die sie empfunden, jeden Traum, der sie im Schlafe besucht hatte, durchlebte
sie in diesem Augenblick aufs neue. Und sie fragte sich selber, weshalb denn
alles so gekommen sei, welchen Zweck das Ganze eigentlich haben könne, da
das Ende ja doch so ausfallen sollte. Noch einmal sah sie das strahlende
Paradies ihrer Jugend vor sich, diesen duftenden Garten der Liebe, in den sie
sich so oft mit ihren Gedanken vertieft hatte, aber nicht mehr wie eine leere
Gaukelwelt, die ihr krankhafte, eitle Träume vorgezaubert hatten. Sie war
ihr gleichsam lebendig nahe gerückt. Es war ihr, als stünde sie vor der
Schwelle dieses Paradieses, als fühlte sie, wie die Seligkeit der Liebe sich durch
die geöffneten Thüren über sie ergösse.
Wenn sie es jetzt wagte? Nur dies einemal? Niemand — so sagte sie
sich — würde es ja erfahren. Wenn er abgereist wäre, würde es im Dunkel
der Nacht begraben sein. Sie selber würde sich dessen nur wie eines schönen
Traumes, eines flüchtigen Gesichts erinnern. Aber es sollte das große, teure
Geheimnis ihres Lebens werden, das sie mit sich ins Grab nehmen wollte —
nur noch einmal wollte sie ihn sehen! Nur seine Hand fassen und ihm den
letzten Abschiedsknß geben! Nur dies eine Glück, und sie wollte auf alles
andre verzichten! Wie treu und gut wollte sie dann dafür werden! Sie wollte
nie klagen, niemals die geringste Veranlassung zur Unzufriedenheit geben.
Sie griff sich ins Haar. Was für Gedanken waren das!
Aber in demselben Augenblicke ertönten vom Walde her drei dumpfe,
leichte Schläge.
Sie sank langsam zurück ins Bett, bedeckte die Auge» mit beiden Händen
und blieb regungslos liegen.
Nach Verlauf von wenigen Atinuten wiederholte sich das Geräusch. Ein
Zittern ging durch ihren halb entkleideten Körper, aber sie rührte sich nicht.
Ein bleicher Mondstrahl siel durchs Fenster über ihr Bett und glitt an
ihrem aufgelösten Haar herab, sodaß er ihre weiße Gestalt wie ein goldner
Strom umfloß. Die Finger lagen unbeweglich über dem totenbleichen Gesicht,
und sie atmete kaum. Nur ihr Herz schlug heftig.
Viermal wiederholte sich das Pochen, und jedesmal wurde es stärker,
gleichsam ungeduldiger, während das Mondlicht sich leise über den Bettpfosten
und hinab auf den Fußboden schlich. Dann wurde alles wieder still, laut¬
los still.
Sie richtete sich von ihrem Lager empor lind atmete tief auf.
Vorbei!
Die Hände fielen ihr schlaff herab, das Gesicht verzog sich schmerzlich, sie
sank wieder zurück in die Kissen.
Da hörte sie es drinnen in der Gaststube ans Fenster klopfen. Sie fuhr
zusammen. War er das? Es klopfte abermals. Ohne Zögern schlug sie
einen Shawl um die Schultern und lief in das nebenanliegende Zimmer. Da
draußen stand er und flüsterte ihr zu, daß sie doch kommen möge.
Um Gottes willen! rief sie, indem sie vorsichtig das ^ Zimmer öffnete.
Gehen Sie doch! Gehen Sie doch! Es könnte jemand kommen und Sie
sehen. Ja doch, ja, ich komme schon! Gehen Sie nur zurück in den Wald,
dann komme ich.
Sie lief in ihre Kammer und zog ihr Kleid an. Hastig band sie ein
kleines Tuch um den Hals und schlug den Shawl über den Kopf. Sie
fühlte, daß sie verloren war. Geräuschlos hob sie die eiserne Stange in die
Höhe, die die Giebelthür verschloß, und schlich von hinten um das Hans herum
in den Wald.
Es war früh am Morgen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber
weithin, draußen im Osten, erglühte das Meer. Über das weite, flache Küsten¬
land trieben kleine Nebelfetzen, die hie und da um vereinzelt stehenden Büschen
und Dorne» hängen blieben, wie Fäden von den weißen Gewändern der Nacht¬
gespenster. Alles Menschliche aber schlief.
Zwischen den svmmergrünen Flächen der Felder und der dunkelblauen
Himmelsknppel, unter der winzig kleine, leichte, farbige Wolken gleich losge¬
rissenen Rosenblättern dahinschwebten, stiegen und sanken die morgenfroheu
Lerchen in tausendstimmigem Halleluja. In den Gärten der Bauern saßen die
Elstern und putzten ihre Federn, und aus dem Walde hernns kamen die Krähen
in großen Scharen mit schwerfälligem Flügelschlag, überall, wo sie sich blicken
ließen, mit ihrer groben Stimme Geh weg, Geh weg ! rufend, und ließen sich
in dem frisch gefurchten Acker nieder — es war fast ein ohrenzerreißender Lärm.
Plötzlich wurde alles still. Wie tausend dunkle Punkte sanken die Lerchen
blitzschnell durch die Luft und verschwanden in den Feldern. Die Elstern
hüpften vorsichtig ans die innersten Zweige und streckten die Hälse vor, indem
sie die Köpfe drehten. Drei Hühner aus dem Dorfe, die sich verirrt hatte»,
liefen eilig über den Weg und setzten sich dicht neben einander auf einen
Düngerhaufen, ja selbst die dummen Krähen drückten sich reihenweise in die
Furchen des Brachfeldes und schielten ängstlich mit dem einen Auge in die
Höhe. ^
Über das Dorf hinweg segelte ein Geier. An den breiten Schwingen hoch
oben hängend, schwebte er ruhig und langsam durch die Luft mit einem
zögernden Spähen, das seinen frühstückshnngrigeu Blick ahnen ließ. In vier
großen Kreisen schwang er sich dem Walde zu. Endlich breitete er die Flügel
zu ein paar kurzen, kräftigen schlugen aus und verschwand über den Wipfeln.
Aus dem Grase erklang ein leises Zwitschern, dann das heisere Krächzen
einer Krähe, und bald erfüllte wieder ein vielstimmiger Jnbelchor die
ganze Luft.
Die Szene war vom Saume des Waldes her vou einer seltsamen Gestalt
beobachtet worden, die dort, halb wie ein Nachtwandler, halb wie eine Leiche,
stand, die Hand auf einen Zaun gestützt, einen Shawl über .Kopf und Schultern
geworfen, den leeren Blick zum Himmel gerichtet, dorthin, wo eben der Geier
seine Kreise gezogen hatte.
Es war Martha.
Langsam, Schritt für Schritt, als wollte sie sich selber nicht aus ihrem
innern Schlummer wecken, schlich sie sich den Wald entlang zwischen der Hecke
und der Wiese hin bis an den Puukt, wo sich diese in die Kluft hineinschob.
Von Zeit zu Zeit sah sie mit scheuen, hastigem Blick um sich und ver¬
schwand dann durch dieselbe Thür, die sie am Abend unverriegelt ge¬
lassen hatte.
Als sie ins Zimmer gekommen war, ließ sie den Shawl fallen und sah
sich wie verwundert um. Dann öffnete sie hastig das Fenster und schöpfte
tief Atem. Zwischen den Rändern der Schlucht ruhte das tauschimmernde
Küstenland in rosenrotem Schimmer vor ihren Augen. Gleich einem flim¬
mernden Flor lagen die Spinnengewebe über der Wiese. Und draußen, hinter
dem Meere, ging die Souue auf.
Groß, königlich, in ruhiger Majestät stieg der mächtige Feuerball über dem
wolkenlosen Rande des Himmels empor, sein goldiges Licht über das ganze,
flache Land verbreitend, das jetzt nach und nach erwachte. Aus den kleinen,
längs des Moores gelegenen Hütten stiegen schon dünne, blaue Rauchsäule»
in die stille Luft auf. Hier öffnete sich eine Thür, dort blinkte eine Sense in
der Sonne. Und draußen auf den Kleefeldern begannen sich die Kühe be¬
merkbar zu machen, sobald sich das erste, Milchmädchen, munter singend und
die Milcheimer an einem Holz über den Schultern tragend, ans dem Wege
blicken ließ.
Martha hatte sich an die Wand gelehnt und blickte mit einem eigentüm¬
lichen, halb geistesabwesenden Lächeln ans dies erwachende, morgenfrische Lebe».
Aber allmählich sank sie, überwältigt von Müdigkeit, zusammen.
schwankend wie im Rausch ging sie an ihr Bette und warf sich darauf,
ohne sich zu entkleiden. Und nachdem sie die Hände über der Stirn gefaltet
und die Augen geschlossen hatte, lag sie unbeweglich da — halb wachend,
halb in Träumen.
War es denn nun wirklich geschehen? War das Ganze nicht ein Traum,
eine leere Einbildung? Es schien ihr ganz unmöglich, daß es wirklich geschehen
sein sollte. Wieder und wieder ließ sie die Ereignisse der Nacht an ihrem
Geiste vorüberziehen, sie konnte sie Schritt für Schritt verfolgen, konnte sich
jedes Wort, jedes Gefühl, jede Seligkeit zurückrufen. Aber jedesmal, wenn
sie damit zu Ende war, sträubte sie sich daran zu glnnben, daß sich dies alles
wirklich mit ihr zugetragen habe, daß es nicht eine ganz fremde Person ge¬
wesen sei, der es widerfahren war. Zuweilen verlor sie den Faden ganz
und versank dann in einen leichten Schlummer. Aber sobald sie wieder er¬
wachte, begann sie abermals in Gedanken dieselbe Wanderung! durch den Wald
hindurch, am See entlang, im Mondschein, zwischen Tannen, und abermals
glitt dies eigentümlich verstörte Lächeln über ihr Gesicht.
Und er? Wo war er denn jetzt? Sie lag lange grübelnd da und konnte
die Gedanken nicht auf ihn sammeln. Plötzlich richtete sie sich im Bette ans
und schaute wild um sich. Abgereist? Aber das war ja ganz unmöglich.
Nach allem, was vorgefallen war! Und doch: sah sie nicht am deutlichsten
vor allem ihre eigne Gestalt vor ihm in dem feuchten Grase auf den Knieen
liegen, flehend, weinend, ihn beschwörend, daß er sie doch nicht verlassen möge?
Und sah sie ihn nicht bleich und bebend im Morgenlichte dastehen, wie ein
Schulknabe vor seinen eignen Thaten zitternd? lind hatte er sie nicht schließlich
mit Gewalt vou sich gestoßen und sie trotz ihres Flehens mitten im Walde
verlassen?
Sie fuhr ans dein Bett auf. Und einem solchen Lumpen hatte sie sich
wirklich hingegeben? Einem solchen elenden Burschen zuliebe hatte sie sich ins
Unglück gestürzt, hatte sie ihr Leben verspielt, ihren Frieden und ihr Glück auf
ewig vernichtet?
Unsinn! Es war ja nicht möglich, es konnte ja uicht möglich sein! Er
mußte ganz bestimmt zurückkehren. Wenn er nur erst zur Besinnung gekommen
war, mußte er bedenken, was er gethan hatte, er konnte sie nicht verlassen.
Sie war plötzlich felsenfest davon überzeugt, daß er sie nicht aufgeben könne.
Sie streckte ihre schönen schlanken Arme über dem Kopfe ans, gleichsam in
siegesstolzer sicherten, daß sie ihn wieder umfangen, ihn wieder ein ihr Herz
drücken, ihn wieder ihr Eigen nennen würde, Sie lachte plötzlich ganz laut
über ihre eigne Furcht, und ein unendlicher Jubel erfüllte ihre Brust. Er
kommt! er kommt! klang es in ihr; und wie von namenlosem Glück überwältigt,
sank sie auf ihr Lager zurück.
Wie hatte sie nur jemals daran zweifeln können? fragte sie sich nach
einer Weile selber, indem sie ihren Blick mit seligem Lächeln durch das Zimmer
gleiten ließ. Wie war sie nur auf solche Gedanken gekommen? Du lieber
Gott! Wenn er heute Morgen auch ein wenig sonderbar gewesen war, so war
das doch zu verzeihen. War sie selber nicht so verwirrt gewesen, daß sie kaum
wußte, was sie that? Und fühlte sie nicht schon jetzt ihr Herz so süß pochen?
Brannte ihr nicht das Blut in den Adern vor lauter Sehnsucht, ihn nur
wiederzusehen?
In demselben Augenblicke hörte sie einen Wagen draußen auf dein Wege
schwer vorüberrasseln. Sie lauschte, und wie ein Pfeil flog ihr ein Gedanke
durch den Kopf. Hier auf diesem We,ge kam ja auch die Schnellpost. Von
diesem Fenster aus oder noch besser hinter einem Vnsch im Walde mußte sie
sehen können, wer in der Post saß. Es war ja schon Heller Tag, da mußte
sie bald vorüberkommen. Wie, wenn sie sich am Wege aufstellte, sodaß sie nicht
gesehen werden konnte, und ruhig wartete, bis der Postwagen vorüberkam?
Unsinn! Was für Thorheiten waren das nur! Warum wollte sie sich
mit so unnötigen Befürchtungen quälen? Ach, und du lieber Gott, wie sah
sie nur aus! Und das ganze Zimmer! War sie denn völlig von Sinnen!
Wenn die Mutter hereingekommen wäre und sie in diesem Zustande gesehen
hätte! Die Giebelthnr war ja nicht einmal wieder verriegelt! Hatte sie denn
ihren Verstand verloren?
Mit atemloser Hast begann sie ringsumher aufzuräumen und jegliche
Spur der nächtlichen Begebenheit zu vertilgen. Darauf kleidete sie sich sorg¬
fältig um, zog ihren täglichen Anzug an, warf ihre beschmutzten Schuhe weit
unter ihr Bett und ordnete ihr Haar. Plötzlich siel ihr ein, daß sie gewiß
am Abend vergessen habe, das Fenster im Gastzimmer, durch das sie mit ihm
gesprochen hatte, zu schließen. Sie beruhigte sich aber damit, daß es der Wind
dann sicher zugeschlagen haben würde, und setzte sich auf einen Stuhl, um zu
überlegen, wie sie sich am besten zu verhalten habe, damit auch in Zukunft
alles herrlich geschehen und nichts ihr Glück stören könne.
Sie überlegte, ob sie ihm nicht auf irgeud eine Weise gleich Nachricht
geben könnte. Ihr Herz sagte ihr freilich, daß er sie am Abend zu derselben
Zeit und an demselben Ort aufsuchen wurde, an dem sie einander gestern ihr
Stelldichein gegeben hatten; aber sie hielt es sür unmöglich, so lange auf ein
Wiedersehen zu warten. Außerdem würden ja alle die Alten heute herkommen,
und ehe die wieder gegangen Ware», konnte sie sich unmöglich fortschleichen.
Und dann, vor allen Dingen, durfte er um des Himmels willen nicht klopfen!
Sie sagte es sich selber, daß sie mit der äußersten Vorsicht vorgehen müsse.
Sie wußte, daß man sie von allen Ecken und Enden beobachtete, und daß
die geringste Unregelmäßigkeit Verdacht erregen würde.
Mieder rasselte ein Wagen vorüber, und sie fuhr von ihrem Stuhl aus.
Mit unruhigen Schritten fing sie an, im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei
sie sich öfter nach dem Kopfe griff und die Hände gegen die Schläfen preßte.
Sie fühlte, daß sie diese Ungewißheit nicht würde ertragen können, daß es ihr
unmöglich sei, diesen Tag zu Ende zu leben, ohne sich Klarheit zu verschaffen.
Einen plötzlichen Entschluß fassend, band sie ihre Waldschürze um, spähte zum
Fenster hinaus und schlich sich dann aus dem Zimmer. Aber noch auf der
Schwelle blieb sie stehen und ließ einen musternden Blick dnrch die Kammer
gleiten; und da sie das Gefühl hatte, als wäre sie bleich, rieb sie sich einen
Augenblick beide Backen hart mit den Händen. Dann wartete sie, bis alles
um sie her still geworden war, und schlich über die Diele ins Freie.
Gleich draußen ans der steinernen Treppe durchfuhr es sie wie ein Stich:
sie meinte ganz bestimmt die Gestalt der Mutter drinnen hinter demselben
Fenster zu entdecke», das sie am Abend geöffnet hatte.- Aber mit Aufbietung
aller Kräfte raffte sie sich auf und schritt laugsam, gleichgiltig eine Melodie
vor sich hersummend, vorüber, ja sie stand sogar »litten ans dem Wege still
und blickte unbefangen zu dem Wolken hinauf, als wollte sie sich über das
Wetter vergewissern. Sobald sie in den Wald gekommen war, begann sie
wieder zu eilen. Da gewahrte sie plötzlich um einer Biegung des Weges Lars
Einauge, der ihr in einiger Entfernung mit Stock und Krücke entgegen kam.
Sie stieß einen Fluch ans und wollte ins Gebüsch verschwinden, aber Lars
hatte sie schon gesehen und winkte ihr mit dein Stocke.
(Fortsetzung folgt)
Nochmals die Laqe der Lehrer um den höhern Schulen Sachsens.
Die „Leipziger Zeitung" vom 13. November enthält einen länger» Aufsatz über ein
neuerdings in der Presse viel erörtertes Themen „Die Lage der Lehrer an den
höhern Lehranstalten in Sachsen." Der Aufsatz ist in den beteiligten Kreisen
sehr bemerkt worden, den Zweck freilich der „Klärung und Beruhigung," zu dein
er vorgiel't geschrieben zu sein, wird er schwerlich erfüllen. Der Verfasser kennt,
wie es scheint, die wirkliche Sachlage und die herrschenden Stimmungen zu wenig.
Den Text der ausführlich begründeten Petition, die, fast von sämtlichen ständigen
Lehrern der Gymnasien und Realgymnasien königlicher Kollntur unter Führung ihrer
Rektoren unterzeichnet, schon seit längerer Zeit bei dein Kultusministerium einge¬
reicht worden ist, scheint er gar nicht eingesehen zu haben. Er knüpft lediglich
an hie und da erschienene Zeitungsartikel um und macht den Versuch, die Lehrer
davon zu überzeugen, daß ihre Lage befriedigend sei, daß sie keine Ursache hätten, in
einem wesentlichen Stücke unzufrieden zu sein. Leider steht diese optimistische Dar¬
stellung mit der Wirklichkeit nicht im Einklang; sie hat denn auch an den Stellen,
auf die sie berechnet war, sehr geteilte Empfindungen hervorgerufen.
Drei verschiedne Punkte werden in der „Leipziger Zeitung" besprochen. Völlig
und bedingungslos ablehnend äußert sich der Verfasser über die Frage der Gehalts¬
aufbesserung, Um eine solche ist ja nun von den Gymnasiallehrern nicht ausdrücklich
angehalten worden, immerhin aber ist auch in der dem Ministerium vorliegenden
Petition ganz unzweideutig auf die bedenkliche Lage vieler von den jüngern Mit¬
gliedern der Lehrerschaft hingewiesen worden. Es ist sicherlich kein normaler Zu¬
stand, wenn der nach dein Normalbesoldungsetnt von 1886 angestellte Gymnasial¬
lehrer fast bis zum vierzigsten Lebensjahre warten muß, ehe er in die Gehaltsklasse
von 3000 Mark einrücken kann. Wenn dieses Verhältnis auch weiterhin bestehen
bleibt, so muß daraus ein wirklicher Notstand werden, der ans der einen Seite die
Ehelosigkeit fördert, auf der andern für viele ein lähmendes Ringen mit materiellen
Schwierigkeiten bedeutet. Auch die Thatsache ist beachtenswert.'daß mehr als die
Hälfte der staatlichen Gymnasiallehrer den 1386 aufgestellten Dnrchschuittsgehalt
von 3460 Mark noch nicht erreicht.") Es hätte nahe gelegen, angesichts der
neuerdings in erhöhtem Maße eingetretenen Teueruugsverhnltnisse, die mich von
der Regierung zugegeben worden sind, wenigstens den geringer besoldeten Mit¬
gliedern der höhern Lehrerschaft einiges Entgegenkommen zu zeigen. Doch liegt
bis jetzt noch kein Anzeichen dafür vor, daß eine solche Absicht an maßgebender
Stelle bestehe. Denn der Wegfall der Pensionskostenbeiträge kommt gerade sür die
untern Gehaltsklnssen doch zu wenig in Betracht. Für die uichtstudierten Unter-
beamten, die einen Gehalt bis zur Höhe von, 3000 Mark beziehen, sind allerdings
in dem veröffentlichten Staatshaushalt Beihilfen vorgeschlagen, auch auf eine Er¬
höhung des Mindestgehalts der Bolksschullehrer soll hingewirkt werden, für die
mit einem Gehalte bis zu 3000 Mark ausgestatteten, ständigen Lehrer der höhern
Lehranstalten aber — und das ist weit mehr als der dritte Teil — scheint zu¬
nächst noch nichts geschehen zu sollen. Doch dürfte wenigstens im Landtage darauf
hingewiesen werden, daß diese Klasse von Beamten von der Steigerung der Arbeits¬
löhne und Warenpreise nicht, minder schwer betroffen wird als andre .Klassen, und
daß es daher nur el» Akt der Gerechtigkeit sein würde, wenn man auch den jüngern
Teil der höhern Lehrerschaft besonders in den großen Städten in angemessener
Weise berücksichtigte.
Wenn gegen den Schluß des betreffenden Abschnittes mit Bezug auf den Ver¬
gleich zwischen den Gehalten der Gymnasiallehrer und denen der Richter und
juristische» Hilfsarbeiter darauf hingewiesen wird, daß die Schätzung der Arbeits-
werte für alle Beamtengattnngen nie absolut ausgleichend sein könne, so lvird das
auch von der höhern Lehrerschaft ohne weiteres Angegeben werden. Man findet
mir, daß der Abstand zwischen ihren Gehalten nud deuen der Juristen so breit ist,
wie er durch die Verhältnisse keineswegs gerechtfertigt erscheint. Die angeblichen
Gründe, die dafür ins Feld geführt werden, sind weit davon entfernt, stichhaltig
zu sein, und sind in den Kreisen der höhern Lehrerschaft geradezu mit Bedauern
gelesen worden, wie namentlich die abermalige, schon oft zurückgewiesene Hindeutung
ans Privatstunden und Pensionäre! Welche andern Staatsbeamten verweist man
ausdrücklich zur Beschaffung eines auskömmlichen Lebensunterhalts auf Nebenerwerb?
Wenn ferner gesagt wird, das; der Jurist fast vier Jahre lang umsonst im Vor-
bereitungsdieustc arbeiten müsse, so ist das nicht genan. Schon im dritten Jahre
tritt in Sachsen eine „remnnerntvrische" Besoldung ein, unter Umständen bereits
im zweiten.
Sodann die Schnlgeldbefreiuug! Natürlich kommt diese nnr einem verhältnis¬
mäßig kleinen Teile der Lehrerschaft zu gute. Den» ein Teil der Lehrer, jetzt be¬
trächtlicher als man vielleicht denkt, ist überhaupt unverheiratet; ein andrer Teil
ist zwar verheiratet, hat aber keine Kinder; ein weiterer Teil der Verheirateten
ist lediglich mit Töchtern gesegnet; von denen endlich, die Sohne haben, können
manche aus irgeud welchem Grnnde gerade die Anstalt, an der sie selbst unter-
richten, für ihre Söhne nicht benutzen. Und nur für die Anstalt, an der der Vater
unterrichtet, gilt die Schnlgeldbefreiuug. Daraus folgt, daß die Schnlgeldbefreinng
für die Gesamtheit gar nicht in Anrechnung zu bringen ist. Auch die Ferien werden
leider angeführt, um die Angemessenheit einer geringern Besoldung des Ghmnasial-
lehrerstandes zu beweisen. Auch dies mit Unrecht. Denn erstens sind die Ferien
der Schüler wegen eingeführt, nud sodann bilden sie. ein für den Staatssäckel nnr
erwünschtes Gegengewicht gegen die physischen Strapazen und Beschwerden des
Lehramtes. Ärzte wissen, in welchem Maße gerade Lehrer von den Krankheiten
der Atmungs- und Sprachorgane, anch von Nervenkrankheiten heimgesucht werden.
Man denke sich die Ferienzeit der Lehrer ans den einen Monat der Juristen be¬
schränkt: die wahrscheinliche Folge würde ein rasches Steigen vorzeitiger Dienst¬
untauglichkeit und damit ein unausbleibliches Anschwelle» des Peusiousbudgets sein.
Daß endlich bei dem Lehrer der höher» Schulen die geistige Anstrengung »ut Ver¬
antwortung in der Regel nicht in dem Maße wüchse wie bei den Juristen, ist eine
völlig unerwiesene Behauptung. Auch die Lehrer der höhern Schulen haben an
mannichfachen geistigen Aufgaben zu arbeiten, und sicher werden diese an Schwierig¬
keit mit den steigenden Jahren nicht geringer. Freilich sind das Aufgaben andrer
Art als die, die den Juristen beschäftigen, daß sie aber eine geringere geistige An¬
strengung voraussetzten, ist ein Irrtum. Endlich die sittliche Verantwortung lastet
auch auf deu höhern Lehrern schwer genug. Bon den Fällen ganz zu schweigen,
wo auch sie kraft ihres Amtes auf das Lebensschicksal der ihnen anvertrauten Zög¬
linge in ganz unmittelbarer Weise bestimmend eingreifen müssen, ist der stille Ein¬
fluß, den sie auf die Charakterbildung und Geistesentwicklung der heranwachsenden
Jugend und damit auf die Zukunft des ganzen Staatslebens ausüben, zwar nicht
mit Händen zu greifen und abzuwägen, darum aber doch nicht weniger groß, und
jeder rechte Lehrer fühlt, je älter er wird, umsomehr die Schwere dieser Verant¬
wortung.
Was die andern Wünsche der staatlichen Gymnasiallehrer anlangt, die um
gesetzliche Verleihung der Staatsdienereigenschaft und um stnatsdienergleiche Pension,
so ist der Verfasser des Artikels der „Leipziger Zeitung" ihnen gegenüber offenbar
in Verlegenheit gewesen. Denn da er stichhaltige Gegengründe gegen diese Wünsche
nicht zu finden vermag, so ergeht er sich auf allerlei Seiteupsadeu, in Betrach¬
tungen, die die Hauptsache durchaus verfehlen. So versucht er, dem Leser einzu¬
reden, daß die Verleihung der Staatsdienereigenschaft an die staatlichen Gymnasial¬
lehrer nur eine rein formale Bedeutung habe und darum unnötig sei, übersieht
aber, von andern Punkten zu schweigen, deu wichtigen Umstand, daß der Staats¬
diener eine wesentlich höhere PmsimisMc, hat als der Gymnasiallehrer. So
lange dies der Fall ist, muß es als ein Irrtum bezeichnet werden, wenn man diese
Frage als eine rein formale hinzustellen beliebt.
Einen wirklich durchschlagenden Grund gegen die Verleihung der Staatsdiener¬
eigenschaft all die staatlichen Gymnasiallehrer sucht man in der „Leipziger Zeitung"
vergebens. Ausdrücklich wird darin anerkannt, daß die Stellung der höher» Lehrer
in vielfacher Beziehung eine der Stellung der Staatsdiener so ähnliche sei, daß
sich eine völlige Gleichstellung dieser beiden Beamtengnttnngen nahe lege und wohl
auch ohne große praktische Schwierigkeiten durchführbar sein würde; nur darum sei
ein Eingehen auf den Wunsch der staatlichen Gymnasiallehrer nicht gerechtfertigt,
weil dann zwei verschiedne Gruppen von höheren Lehrern geschaffen werde» würden,
eine Minderheit von staatlichen Lehrer» und eine Mehrheit von Lehrern an städ¬
tischen oder Stiftuugsaustalten. Mau traut seinen Augen kumm, wenn man liest,
daß dies ein entscheidender Gegengrund gegen das Verlangen der staatlichen Gym¬
nasiallehrer sein soll! Ist nicht eine solche Scheidung in der Natur der Sache
selbst begründet? Ist sie nicht auf deu verschiedensten Gebieten in Sachsen selbst
schon vorhanden? Sind nicht etwa z. B. Juristen von gleicher Befähigung
teils im Staatsdienste, teils im Genieindedienst beschäftigt, sodaß sie je nach¬
dem entweder die Eigenschaft von Staatsbeamten oder von Gemeindebeamten
haben? Das ist ja nur ein selbstverständliches Verhältnis, das auch nicht mit
einem Scheine von Berechtigung gegen den Anspruch der Gymnasiallehrer geltend
gemacht werden kann.
Alles in einem Nebenpunkte ist die Darlegung der „Leipziger Zeitung" un¬
zutreffend. Denn es entspricht nicht ganz der Wirklichkeit, wenn gesagt wird, daß
die Zahl der hoher» Lehrer an den nichtstaatlichen Gymnasien, Realgymnasien,
Realschulen und Seminaren »'eil größer sei als die Zahl der höhern Lehrer an
den entsprechenden Staatsanstalten. Der Zifferuutcrschied beträgt thatsächlich nicht
viel mehr als fünfzig. An den staatlichen Gymnasien, Realgymnasien und Semi¬
naren befinden sich ungefähr 450 Lehrer und an den nichtstaatlichen Gymnasien,
Realanstalten und Seminaren etwas über 500 Lehrer. Nimmt man aber
noch die Lehrer der technischen Staatsanstalten zu Chemnitz, die bekanntlich von
Anfang an Staatsdiener gewesen sind, hinzu, so würde man dann zwei ungefähr
gleich große Gruppen von Lehrern haben. Die technischen Lehrer in Chemnitz
stehen zwar unter dem Ministerium des Innern, indessen kann dies für den vor¬
liegenden Fall natürlich keinen wesentlichen Unterschied ausmachen.
Für die sachliche Entscheidung der Frage kommt das Zifferverhältnis selbst¬
verständlich gar nicht in Betracht. Giebt es doch so manche Gruppe von Staats-
dienern, die' nach ihrer Zahlenstärke den Vergleich mit den Lehrern an den staat¬
lichen Gymnasien und Realgymnasien mich nicht entfernt aushalten können. Ma߬
gebend allein ist hier das Dienstverhältnis, und dieses giebt den Petenten einen
durchaus begründete,, Rechtsanspruch auf Verleihung der Staatsdienereigen¬
schaft. Das'Zivilstaatsdienergesetz vom 7. März 1835 lautet so klar zu Gunsten
der staatlichen Gymnasiallehrer, daß ihr Auspruch auf die Dauer unniöglich zurück-
gewiesen werden kann. Freilich unterläßt es die „Leipziger Zeitung" sich über die
rechtliche Seite der Frage auszulasten. Diese ist aber doch schließlich allein ent¬
scheidend.
Nicht minder hinfällig ist die Art und Weise, wie der Anspruch der Gym¬
nasiallehrer auf höhere Pension in der „Leipziger Zeitung" behandelt wird. Von
einem wirklichen Eingehen auf das von den Petenten vorgebrachte Material ist
auch hier keine Rede. Statt dessen werden andre Dinge besprochen, die nur nebenher
in Frage kommen. So ist es ja eine Thatsache, das; nach der bisherigen Gesetz¬
gebung die Hinterlassenen des Gymnasiallehrers zwei Monate lang nach dem Sterbe¬
monat die Einkünfte der Stelle als Gnadengenuß haben, während den Hinterlassenen
des Staatsdieners dieser Gnadengenuß uur einen Monat hindurch vergönnt ist.
Indessen ist dieser Vorzug der Stellung des Gymnasiallehrers doch zu wenig
bedeutsam und zu vorübergehend, als daß er gegenüber dem dauernd bestehenden
ungünstigern Pensionssatze wesentlich ins Gewicht fallen könnte. Wenn ferner die
Wohlthat des Pensivnsgesetzes von 1872 in besondrer Weise gerühmt wird, so soll
dieses in seiner Bedeutung gewiß nicht geschmälert werden. Doch haben natürlich
nur die nichtstaatlichen Lehrer Grund, dem Staate dafür dankbar zu sein. Denn
ihnen Pension zu zahlen war der Staat in keiner Weise verpflichtet. Die
Pensionsstelluug der staatliche» Lehrer war schon vor Erlaß jenes Gesetzes
keineswegs rechtlos, denn auf sie, als auf Staatsdiener im Sinne des Zivilstaats-
dienergesetzes von 1836, war einfach der Pensionsfuß der Staatsdiener an¬
wendbar. Gegen diese Auffassung dürfte sich ein rechtlicher Einwand wohl nicht
erheben lassen.
Sehr einseitig ist ferner der in der „Leipziger Zeitung" gegebene Vergleich
zwischen der in Sachsen geltenden Pension der Gymnasiallehrer und der von andern
deutschen Staaten angenommenen. Es wird da, und zwar nicht eben überzeugend,
zu beweise« versucht, daß die höhern Pensionssätze der kleinen thüringischen Nachbar¬
staaten streng genommen nicht in Betracht kommen könnten. Als ob nicht dem
Königreiche Sachsen ganz andre Mittel zur Verfügung stünden als jenen kleinen
Ländchen! Daß aber die Gymnasiallehrerpensivn auch in den größern deutschen
Bundesstaaten, z. B. Baden, Württemberg, Braunschweig, Hessen und namentlich
in Baiern, viel günstiger ist als im Königreich Sachsen, wird in der „Leipziger
Zeitung" verschwiegen, weil es natürlich unbequem ist, zugeben zu müssen, daß
Sachsen in dieser Hinsicht im Reiche untenan steht. Auch der Vergleich mit der
preußischen Gyinnasiallehrerpension leitet mindestens irre. Denn es wird da hervor¬
gehoben, daß diese ans den Anfangs- und Endstufen ungünstiger sei als die in Sachsen
bestehende. Natürlich wird das niemand leugnen, der Vollständigkeit halber mußte
jedoch hinzugefügt werden, daß gerade die Anfangs- und Endstufen Praktisch so gut
wie gar nicht in Frage kommen, denn Pensionirungen mit erfüllten zehnten Dienst¬
jahre kommen bekanntlich ebenso selten vor, als solche mit erfüllten vierundvierzigsten
Dienstjahre. Die Petition macht mit Recht darauf aufmerksam, daß in den neunzehn
Jahren seit 187V die überwiegende Mehrzahl der Gymnasialpensionäre zwischen
den: dreißigsten und vierzigsten Dienstjahre in den Ruhestand getreten ist, und auf
diesen Stufen sind die Preußischen Pensionssätze unzweifelhaft günstiger als die
sächsischen. Ohne Frage endlich ist Sachsen, wie die ,,Leipziger Zeitung" bemerkt,
liberaler als Preußen insofern, als es auch die Pensionen der städtischen Lehrer
auf die Staatskasse übernommen hat. Weshalb aber gerade die höhern Lehrer
der königlichen Anstalten dem Staate dafür besonders dankbar sein sollen, ist nicht
recht einzusehen.
Aus alledem ergiebt sich, was unbefangne Leser sofort bemerkt haben werden,
daß der Versuch des Aufsatzes der ,.Leipziger Zeitung," die Berechtigung der von
den staatlichen Gymnasiallehrern gehegten Wünsche anzufechten, als durchaus ge¬
scheitert betrachtet werden muß. Wenn die Entscheidung lediglich nach der Güte
der Gründe erfolgt, so kann sie nicht zweifelhaft sein.
Das humanistische Gymnasium und die Petition um durchgreifende Schulreform.
Von Oskar Jäger. Wiesbaden, Kuuzes Nachf., 1889. — Humanismus und Schulzweck.
Entgegnung ans die Schrift des Professors Paulsen: Das Realgymnasium und die humanistische
Bildung. Von Fr. Pietzker. Braunschweig, sulle, 1389.
Zwei Streitschriften, beide sieghaft, wie mich dünkt. Pietzker, ein jüngerer
Streiter, liefert seinem berühmten Gegner zum mindesten einen scharfen Gang.
Es ist die leidenschaftliche Sprache eines Mannes, der um Höchstes ficht und genan
weiß, was er will. Jäger, der Nestor unsrer Gymnasialphilvlogen, der es längst
gewohnt ist, daß seine Worte, auch wenn er leise spricht, weithin vernommen
werden, wirft ohne viel Aufhebens, mit der heitern Sicherheit des sieggewohnten
Alters, seine freilich nicht minderwertigen Gegner in den Sand. Heftig, zu heftig
vielleicht, wenn man noch um die Möglichkeit einer Verständigung glaubt, wird er
nur gegen Pnulsen, den er einmal den Janssen der Geschichte des gelehrten Unter¬
richts nennt. Prehern zu vernichten, ging nicht mehr an. Das hat er durch seine
beispiellos seichte Schrift über Naturforschung und Schule bereits selber besorgt. Jäger
hat sich denn auch damit begnügt, ihn einigemal selber sprechen zu lassen. Ähnlich
steht es mit den „Realschulmännern" und einer gewissen Art von Neusprachlern.
Jägers Gedanken sind nicht von heut und gestern. Sie sind tief und reif
und von entzückender Süße, wenn er einmal vom Eigensten giebt. Aber, wenn
man alles Zufällige, durch die Polemik Gebotene abstreift, so hätte das meiste
genan so auch vor zwanzig Jahren gesagt werden können. Inzwischen ist denn
doch im deutschen Geistesleben allerlei geschehen. Victors Schrift Yumrsczue
t-Mäizin, dem Tone nach ist sie freilich nicht viel mehr als ein „rüdes Gepolter,"
aber sinnlos ist sie nicht. Und völlig unrecht wäre es, die tiefgehende Umwälzung
in der wissenschaftlichen Auffassung der Sprache nach diesen und ähnlichen knrz-
därmigen Agitationsschriften zu beurteilen. Die Praxis hat denn auch vielfach
schon begonnen, mit dem alten grammatischen Schlendrian zu brechen, und ohne
Einfluß auf die äußere Gestaltung des Gymnasiallehrplanes wird dies schwerlich
bleiben.
Sehr richtig ist, was Jäger vom lateinischen Aufsatz sagt. Die Beibehaltung ist
ihm keine Kabinetsfrage; dieser Position eine entscheidende Bedeutuug beizumessen,
ist ihm ein schwerer taktischer Fehler bei der Verteidigung unsrer Festung. Der
lateinische Aufsatz „kann sehr fruchtbar behandelt werden, und dem Lehrer, der sich
das getrauen darf, sollte man nicht wehren; daß er mit Notwendigkeit zum Phrasen-
machen verführe, ist nicht wahr, richtig ist'nur, daß die Gefahr eines solchen Ab¬
weges vorhanden ist." Ähnliches wurde vor einigen Monaten an dieser Stelle
gegen Cauer auszuführen versucht.
Von dem, was sich auf dein Gebiete des mathematischen und naturwissen¬
schaftlichen Unterrichts seit einigen Jahren regt, giebt Pietzker eine ansprechende
und lehrreiche Probe. Pietzkers Polemik, namentlich gegen seine philosophischen
Kollegen, steht nicht immer auf der Hohe. Was er positiv ausführt, hat inzwischen
der, an den es gerichtet war, als eine dankenswerte Ergänzung seiner eignen Aus¬
führung bezeichnet. Kurz gesagt gilt es, eine tiefere Durchgeistigung namentlich
des physikalischen Unterrichts, ganz im Sinne derer, die in neuerer Zeit von. den
humanistischen Aufgaben auch dieses Unterrichts spräche».
Jäger wäre gewiß der letzte, solchen Regungen ans dem Gebiete der Sprach-
und der Naturwissenschaft feindselig oder auch nur gleichgiltig gegeniiberzutreten.
Er fleht ihnen vielmehr schon jetzt innerlich, in seinem ganzen geiht- und freiheit¬
atmenden Wesen nahe genug. Näher auf sie einzugehen, mag Jäger deshalb ver¬
schmäht haben, weil er den Zusammenhang all dieser Dinge mit der an unserm
Schulwesen se' heftig und zeitweise so erfolgreich geübten Kritik vielleicht unterschätzt.
Abkehr von einer uuvcrantworlich abergläubischen Grammatik, wie sie jahrhunderte¬
lang an dein Mark auch unsrer Muttersprache gezehrt hat, das ist einer und viel¬
leicht der wichtigste der treibenden Gedanken in der Hornemmmischen Einheits¬
bewegung, die Jäger (nach berühmtem Muster! Schrader) mit den phantastischen
Einheilsschulprojekten der 23 000 kurzer Hand zusammenzuwerfen scheint.
Ein Wort endlich von der sozialen Seite der Sache: der gewerbtreibende
Bürgerstand fühlt sich und heischt und erheischt Rücksicht. Dies und andres, minder
ernst zu nehmendes und von Jäger mit glücklicher Laune gegeißeltes bildet den
Nährboden für die Mehrzahl der unkrautartig aufschießenden Reformprojekte. Hier
gilt es jedoch wachsam sein und sich über den Ernst der Lage und die Notwendig¬
keit einer Fortentwicklung keiner Täuschung hingeben.
Jäger weiß so viel als einer von der „Kraft des Organischen, sich zu erneuen
und zu ergänzen." Sein ganzes Leben und Wirken schützt ihn vor dem Verdacht
eines unfreien Verhältnisses gegenüber dem Bestehenden, also anch vor dem Ver¬
dachte der Gyninasialorthvdoxie. Das Wesen des Gymnasiums läßt sich nicht leicht
einfacher und schöner fassen, nicht wirksamer verteidigen, als er es hier gethan hat.
Dein Wesen der Reformbestrebungen ist er nicht überall gerecht geworden, und
damit auch nicht einmal den vielleicht unklaren, aber doch nicht ganz grundlosen
Erwägungen, die so viel ehrenwerte Männer mögen geleitet haben, als sie die
großwvrtige und absichtlich nichtssagende Petition unterschrieben. Daß wir unsre
Gymnasien demnächst einbüßen sollten oder, was dasselbe wäre, mehr und mehr zu
philologischen Fachschulen sollten werden sehen, glaube ich uicht, und gewiß wird
mancher der Unterzeichner, wenn er es bis dahin gedacht hatte, jetzt nach Jägers
trefflichen Erörterungen andern Sinnes werden. Aber daß unsre gesamte Schul-
verfasfung mit ihrer vielen. Truggelahrtheit, unter andern« auch in, Abiturienten¬
examen, unsrer schulpolitischen Weisheit letzter Schluß sei, das ist ja anch Jägers
Meinung nicht.
cum der Kulturhistoriker das gesellschaftliche Leben eines bestimmten
Zeitraumes schildern will, so sucht er vor allen Dingen aus der
verwirrenden Mannigfaltigkeit der Erscheinungen besondre Ge¬
stalten herauszuheben, in denen sich die Eigentümlichkeiten der
ganzen Zeitrichtung zu einem Gesamtbilde vereinigt haben. Ein
solcher Typus ist für das Ende des vorigen Jahrhunderts die vielsagende
Werthergestalt, für die Zeit der Befreiungskriege der freiwillige Jäger, für
die dreißiger Jahre unsers Jahrhunderts der romantisch angehauchte Burschen¬
schafter und für die fünfziger Jahre in gewisser Hinsicht der alte Korpsstudent;
und hätte man keine audern Quellen, aus denen man diese gesellschaftlichen
Vorbilder entlehnen könnte, als die schöngeistige Litteratur der betreffenden
Jahrzehnte, so würden sie vollständig ausreichen, unsre Behauptung zu be¬
kräftigen. Die Werthergestalt, der freiwillige Jäger, der junge Burschenschafter
und der alte Korpsstudent, sie alle sind echt deutsche Typen, in denen sich
das geistige und sittliche Leben früherer Tage mit allen Hoffnungen und Be¬
strebungen, mit allen Lichtseiten und Verirrungen unverkennbar abgespiegelt hat.
Hat die Gegenwart eine ühuliche Gestalt hervorgebracht? Finden wir
eine Erscheinung, in der sich die charakteristischen Züge unsrer Zeit verkörpert
haben? Ein französischer Litterarhistoriker glaubt in dem „Privatdozenten"
die Figur entdeckt zu haben, die für das gegenwärtige Deutschland von typischer
Bedeutung sei; und wenn man in deu Universitätsberichten die stattliche Zahl
junger Gelehrten sieht, wenn mau sich ihren unzweifelhaften Einfluß auf die
Wissenschaft und Litteratur vergegenwärtigt, fo kann man wohl die Ansicht
des Franzosen erklärlich finden, aber für richtig wird sie niemand halten.
Mit demselben Rechte könnte man die Gegenwart das Zeitalter des jungen
Juristen nennen, denn nach den neuesten statistischen Angaben zählt man in
Preußen nicht weniger als 4800 Assessoren und Referendare, ja man spricht
sogar schon von einem „Asfesforismns" in der Gesellschaft.
Der für einen Zeitabschnitt bezeichnende Typus muß in allen Berufs-
arten zu finden sein, und da liegt denn in unsrer, von militärischem Geiste
durchwehten Zeit der Gedanke nicht sehr fern, den Reserve- oder Lnndwehr-
ofsizier als die charakteristische Gestalt unsrer Tage zu bezeichnen. Dieser Ge¬
danke drängt sich noch mehr ans, wenn man in der Rang- und Quartierliste
der tgi. preußischen Armee für 188!» ungefähr 12 000 Offiziere des Beurlnub-
teustaudes zählt, wenn man sieht, welcher Wert auf diese militärische Auszeich¬
nung im bürgerlichen Leben gelegt wird, wie vom Reichskanzler herunter bis
zum jüngsten Beamten die Nebenstellung als Offizier bei jeder Gelegenheit be¬
tont zu werden Pflegt.
Thatsächlich hat man anch schon versucht, gewisse Strömungen unsrer
Zeit in der Politik und Gesellschaft mit dieser Erscheinung in Verbindung zu
bringen. Selbst in der Litteratur sängt „der Reserveoffizier" an, eine Rolle
zu spielen; es ist sogar kürzlich in den Grenzboten von einem Schriftsteller
gesagt worden: „Der Charakter, den er naiv und doch künstlerisch bewußt in
seinen Gedichten zur Anschauung bringt, ist so typisch modern, wie nur möglich-
es ist der norddeutsche Edelmann und Reserveoffizier unsrer Tage." Was
mit dieser Charakteristik gemeint ist, liegt auf der Hand. Man glaubt in dein
Dichter ein gewisses Maß militärischer Tilgenden und patriotischer Züge zu
erkennen, die ihn vor andern Schriftstellern auszeichnen.
Aber diese wohlmeinende Auffassung von dem Begriff „Reserveoffizier"
scheint gegenwärtig nicht die herrschende zu sein; jn es ist geradezu auffallend,
mit welcher Freude sich gewisse freisinnige Blätter darin gefallen, auf den
„Sonunerlentnant" mit allen erdenklichen Waffen loszuschlagen. Seitdem ihnen
das Handwerk gelegt ist, ihren Groll über den Militarismus in Ausfällen
gegen die aktiven Offiziere Luft zu macheu, richten sie ihre gehässigen Angriffe
in allen Tonarten gegen den Reserveoffizier und finden damit nicht allein beim
großen Publikum, sondern leider auch bei Berufssoldaten offnen oder versteckten
Beifall, mindestens keine Abwehr oder Widerlegung. Giebt es doch sogar
militärische Schriften, die den Reserveoffizier als dunkeln Hintergrund benutzen,
um die vorteilhaften Eigenschaften des aktiven Offiziers in eine günstigere Be¬
leuchtung zu rücken. Man denke nur an die vielgenannte Broschüre „Ein
Sommernachtstraum," worin der Verfasser, ein älterer Infanterist, gegen das
„Massendrückebergertnm" auf dem Schlachtfelde eifert und für seine Darstellung
als Beispiele persönlicher Feigheit einen Einjährig-Freiwilligen und einen
Reserveoffizier nimmt! Soll man sich da noch wundern, wenn die ganze
militärfeindliche Presse in dem Reserveoffizier geradezu das fratzenhafte Zerr¬
bild eines nach ihrer Ansicht überschätzten und verhätschelten Heerwesens zu
erkennen glnnbt und sich berechtigt fühlt, nuf diese militärisch-bürgerliche
Zwittergestalt ihre giftigen Pfeile zu richten. Sie verstehen unter „Reserveoffizier"
einen Menschen, der alle Schattenseiten des modernen Offiziertnms angenommen
hat, ohne sie durch militärische Vorzüge auszugleichen z sie gehen so weit, daß
sie alle vermeintlichen Schäden und Gebrechen in unserm Beamtentum auf den
verderblichen Einfluß des Reserveoffiziers zurückführen. Das ungesunde Streber¬
tum, die selbstgefällige Schneidigkeit, „eilfertiges Kvminandireu, geschniegelte
Modesucht, verwegne Selbstherrlichkeit, protzige Selbstüberschätzung und brutale
Starrköpfigkeit" — Charnkterzüge, die man an unsern jungen Beamten wahr¬
zunehmen glaubt, sie alle sollen von dem Reserveoffizier in die bürgerliche
Gesellschaft hinübergeschleppt worden sein und dort zum Entsetze» aller ver¬
ständigen Staatsbürger gepflegt werden. So heißt es an einer Stelle:
„Vollends wird man da nuf die Thorheit mit Fingern deuten müssen, wo sie
gefährlich wird. Das aber droht die „Schuldigkeit" bei den Beamten zu
werden. Hier finden wir die ausgebildetsten Exemplare der schneidigen. Sie
entstehen gemeiniglich durch den Reserveoffizier." Daß diese im Laude der all¬
gemeinen Wehrpflicht notwendige Einrichtung nicht nur eine hohe militärische
Bedeutung hat, sondern auch von unberechenbarem Vorteil für unser nationales
und gesellschaftliches Leben ist, übersehen oder verkennen jene Patrioten vollständig.
Unsere Zeit trägt den Stempel des Spezialistentums, aber auch der Ein¬
seitigkeit; Arbeitsfelder, von denen man früher keine Ahnung hatte, entstehen,
erweitern und teilen sich. Man denke an die naturwissenschaftlichen, die medi¬
zinischen, die philologisch-historischen Sondergebiete; man denke an die weiten
Verzweigungen der Landwirtschaft, der Berwaltungsfächer, der kaufmännischen
und industriellen Thätigkeit. Immer mehr schwinden die Berührungspunkte
unter den einzelnem Ständen, immer mehr sondern sich die scharf umschlossenen
Verufsklassen von einander ab. Sie bilden keine gemeinsamen Interessen, sie
verstehen einander nicht mehr. Jeder lebt in den enggezogenen Grenzen seines
Gewerbes und sucht hier zum eignen Schaden unter wachsender Nerständnis-
lvsigkeit für andre Bestrebungen seinen gesellschaftlichen Verkehr.
Eine solche immer unerträglicher werdende Kastenwirtschaft trägt aber nicht
dazu bei, den frischen Lebenszug, den gemeinsamen Geist, die Allgemeinbildung,
oder mit einem Worte eine gesunde fortschreitende Kultur in unsrer Nation
zu erhalten und zu kräftigem Wir behaupten, daß die militärische Einrichtung
der Reserveoffiziere, durch die Männer aller gebildeten Stunde zu einander
geführt und in hohen gemeinsamen Bestrebungen eng an einander geknüpft
werden, heutzutage fast die einzige Einrichtung sei, die jeuer verhängnisvollen
^Zersplitterung'unsrer Gesellschaft in lauter Einzelgewerbe und Parteigruppen
einen kräftigen Damm entgegenstellt.
Nirgends findet man eine so vielgestaltige, aus allen möglichen Ständen
zusammengesetzte Vereinigung wie im Reserve- und Landwehrkorps. Und
glaubt man denn, daß es z. B. dem Juristen oder Philologen zum Schaden
gereiche, wenn ihn der kameradschaftliche Verkehr mit einem Landwirt, einem
Baumeister oder einem Kaufmann zusammenführt? wenn er außer der Gerichts¬
oder Schulstube auch die Interessen, Bedürfnisse und Bestrebungen andrer
Berufskreise kennen lernt? Es giebt eine Schulbehörde, die für ihren Bezirk
mit Vorliebe Reserve- und Landwehrvffiziere anstellt; handelt sie unrichtig
oder gar ungerecht? Gewiß nicht, vielleicht hat sie erkannt, daß der militärische
Dienst für einen Lehrer in jeder Beziehung von vorteilhaften Folgen ist, daß,
dadurch wenigstens in einer Art dein wachsenden einseitigen Fachgelehrteu-
thnm, dein Krebsschaden unsrer höhern Schulen, entgegengearbeitet wird, dnrch
das unsre Lehrer statt zu vielseitig gebildeten Männern zu kurzatmigen Manege¬
reitern erzogen werden, die außerhalb ihrer gewohnten Reitbahn vom Pferde
fallen. Ja wir glauben nicht zu viel zu sagen, wenn wir behaupten, der
Lehrerstand z.B. habe lediglich durch die Thatsache, daß gegenwärtig eine
auffallend große Zahl seiner Mitglieder dem Offizierstande angehört, eine ganz
andre Stellung gewonnen, als ihm vor dreißig Jahren thatsächlich eingeräumt
wurde. Und das bezieht sich mehr oder weniger auch auf alle andern Stände,
aus denen sich das Offizierkorps der Reserve und Landwehr rekrutirt.
Ist diese Hebung, Annäherung nud Vereinigung der gebildeten Klassen
kein Gewinn für unser nationales Leben? Den Ausländern füllt nu unsern
jungen Gelehrten und Beamten das frische, freudige Wesen auf, das kaltblütige,
entschlossene Handeln, die sichere Ruhe im Verkehr. Nicht mit Unrecht hat
man diese vorteilhafte Wandlung militärischen Einflüssen zugeschrieben.
Um so unverständlicher sind die vielfachen Angriffe der freisinnigen Presse
gegen den Reserveoffizier. Geradezu beleidigend ist es, wenn es in einer viel¬
gelesenen Provinzialzeitung heißt: „Schneidigkeit ist nicht nur die Haupttugend
des Reserveleutnants oder Büttels, sondern auch des Menschenfressers (es ist
von den kannibalischen Völkern auf dem Bismarckarchipel die Rede). Ja,
wer weiß, wozu diese schneidigen und hochbegabten Menschenfresser es noch
bringen können, seitdem sie in den Unterthauenverband des Beamte»- nud
Offizierparadieses eingetreten sind."
Was soll man zu solchen ebenso boshaften wie lächerlichen Angriffen sagen?
Aber diese fortwährenden, selbst in den kleinsten Winkelblättern fortgesetzten
Schmähungen des Reserveleutnants haben auch eine ernsthafte Seite. Sie
gehen gewöhnlich von Leuten aus, die dnrch irgendwelche Umstände während
ihrer einjährig-freiwilligen Dienstzeit, durch persönliche Untüchtigkeit oder un¬
günstige äußere Verhältnisse, in ihrer militärischen Laufbahn Schiffbruch gelitten
haben. Mit leicht begreiflicher Anwandlung des Neides schauen sie auf ihre
begünstigten frühern Kameraden, die als Offiziere laut ihres Patents „alle mit
dieser Charge verbundenen Prärogative und Gerechtsame genießen" und bei
jeder Kontrolversammlung ihre unmittelbaren Borgesetzten werden können. So
sprechen sie denn ihr Mißvergnügen überall aus und suchen das Ansehen der
Offiziere des Beurlaubtenstandes soviel wie möglich herunterzuziehen, um
wenigstens in der bürgerlichen Gesellschaft einen Unterschied nicht aufkommen
zu lassen.
Dieses zügellose Treiben in gewissen Blattern ist um so gefährlicher, als
dadurch im Volke die Achtung und das Vertrauen untergraben wird, das die
eingezogenen Mannschaften nicht allein im Kriegsfalle, sondern bei jeder mili¬
tärischen Übung den Reserve- und Landwehrvffizieren entgegenzubringen haben.
Wenn in der letzten Zeit Klagen über mangelhafte Leistungen einberufener
Offiziere laut geworden sind, so darf man nicht vergessen, das; gerade die
letzten Jahre eine Fülle von dienstlichen Neuerungen gebracht haben, die selbst
der Berufsoffizier nnr mit Anspannung aller Kräfte hat verarbeiten können.
Es giebt unter den Reserveoffiziere» — und jeder billig deutende Kvmpngnie-
chef wird das rückhaltlos anerkennen — sehr viele, die ihren militärischen Dienst
während der Übnngszeit mit derselben Tüchtigkeit und oft mit größer», Eifer
verrichten, als mancher junge Berufsoffizier.
Zum Soldaten und vor allem zum Offizier muß mau von Natur geschaffen
sein. Der langjährige Drill, den der Berufssoldat voraus hat, kam, wohl
wertvolle praktische Fertigkeiten geben; aber die hohen Eigenschaften, die den
Offizier thatsächlich ausmachen: Scharfblick, Willenskraft, Entschlossenheit, Aus¬
dauer und Ehrgefühl, sind doch im Grunde lediglich angeerbte Charakterzüge,
die nur schwer auf dem Kasernenhofe und noch weniger auf der Schulbank
anerzogen werden können — sie müssen angeboren sein.
Die alte Scharnhorstsche Vorschrift über die Wahlen zum Offizier, in der
es heißt: „Einen Anspruch auf Offizierstellen sollen von nnn an in Friedens-
zeiten nur Kenntnisse und Bildung gewähren," hat beim Militär nach und
uach zu einer maßlosen Überschätzung unsrer modernen Schulweisheit und
Schulbildung geführt. Wer Gelegenheit gehabt hat, die Neigungen und Stim¬
mungen unter den jüngern Berufsoffizieren kennen zu lernen, von denen fast
alle eine höhere Schule durchgemacht haben, der wird sich alles Ernstes die
Frage vorlegen müssen, ob es denn vom militärischen Standpunkte wirklich
notwendig sei, von ihnen die Abitnrientenprüfnug zu verlangen, ob unsre
Sckondeleutuauts nicht schon zu viel tote Bücherweisheit besitzen, die ihnen
den ruhigen, klaren Blick trübt und in ihrem praktischen Beruf thatsächlich
mehr schadet als nützt. Denn diese sogenannte Bildung führt ans der einen
Seite leicht zu einen: gewissen geistigen Hochmut, der sich zu höherer Arbeit
berufen glaubt als zum Elementarunterricht der Rekruten, und hat auf der
andern Seite oft einen gründlichen Widerwillen vor jeder Beschäftigung mit
Büchern, vor jeder ernsthaften geistigen Arbeit zur Folge. Scharnhorst hat
unter „Kenntnissen und Bildung" zu seiner Zeit etwas ganz andres verstanden,
als man heutzutage anzunehmen gewohnt ist.
Zu einer ähnlichen Nberschätznng der modernen Schul- und Gelehrten-
bildung ist man mich bei der Beförderung der Einjährig-FreNvilligen gelangt;
es Uürd dabei nicht nach einheitlichen Grundsätzen Verfahren; oft rucken nnr
studirte Anwärter in höhere Stellen. Das Regiment sollte sich bei den Be¬
förderungen bis zum Vizefeldwebel niemals durch den Stand und Beruf des
Freiwilligen bestimmen lassen, sondern lediglich seine militärische Tüchtigkeit
dabei berücksichtigen; ans diese Weise könnte dem Heere mancher tüchtige
Unteroffizier gewonnen werden, der sonst verloren geht und sicher in das militär¬
feindliche Lager übertritt. Die französische Regierung hat neuerdings das Recht,
einjährig-freinüllig zu dienen, ans die Studenten der freien Wissenschaften und
die Besucher gewisser höheren Lehranstalten beschränkt; für »us würde eine
solche Maßregel nicht allein in volkswirtschaftlicher, sondern auch in militärischer
Hinsicht unberechenbare Nachteile haben.
Mau hat den Vorschlag gemacht, daß der Reserveoffizier von dem aktiven
Truppenteil gewählt werde, worin der Betreffende gedient und geübt hat;
für diesen Vorschlag würde manches, namentlich die richtige militärische
Schätzung der Fähigkeiten, sprechen. Allein der gewählte Offizier soll kame¬
radschaftlich und gesellschaftlich vor allem im Reserve- und Landwehrkvrps
leben; man überlasse daher, wie es bisher geschehen ist, dem Bezirls-
kommandeur und den Offizieren des Benrlanbtenstandes die Wahl des vor¬
geschlagenen Bewerbers. Die Stellung des Bezirkskvmmnndenrs, der unter
seineu Offizieren den richtigen Korpsgeist erhalten und dafür sorgen soll, daß
ihre militärische Weiterbildung nicht ins Stocken gerät, ist äußerst schwierig.
Aber wenn er bei diesen wichtigen Aufgaben von den aktiven Kameraden und
den hohen Behörden unterstützt wird, so kann seine Thätigkeit nicht nnr in
militärischer, sondern anch in gesellschaftlicher und nationaler Beziehung segens¬
reich werden.
Das Ansehen des Reserve- und Landwehrkorps ist aufs engste mit dem
Ansehen des ganzen Offizierstandes verknüpft; wer jenes angreift, fügt anch
diesem Schaden zu. Mit vollem Recht sagt ein französischer Offizier, der eine
gute Kenntnis unsers Heerwesens besitzt, in seinem Buche: „Der Preußische
Offizier, seine Stellung in der Nation": „Der Offizier nimmt, kurz gesagt,
eine vollständige Ausnahmestellung ein, die ihn nicht allein vom Staate,
sondern von jedem seiner Mitglieder geschaffen wird. Zu dieser Stellung haben
die Offiziere der Reserve und Landwehr nicht am wenigsten mit beigetragen."
le Bestrebungen der internationalen Philanthropie haben kürzlich
von einer Seite Unterstützung gefunden, von der wohl nur wenige
sie erwartet haben: die „norddeutsche Allgemeine Zeitung" hat
sich sehr beifällig über den Vorschlag der bedingten Verurteilung
ausgesprochen. Vielleicht stellt der Aufsatz nnr die Äußerung
eines beliebigen Privatmanns vor, dein die neue Einrichtung gefällt; vielleicht
aber stammt er auch aus Kreisen, die auf die Gestaltung unsers Strafrechts
Einfluß haben, und diese Möglichkeit wird eS rechtfertigen, wenn wir an dieser
Stelle nochmals auf die bedingte Verurteilung zurückkommen.^)
Wir gestehen, daß wir dem Vorschlag ganz und gar keinen Geschmack ab¬
gewinnen können, er scheint uns den schwerste!? formellen und materiellen Be¬
denken zu unterliegen: formellen Bedenken, sofern er gegen die Logik des Rechts
verstößt; materiellen, sofern dieser Verstoß nicht, wie es ja in andern Fällen
zuweilen geschieht, durch überwiegende Rücksichten der Zweckmäßigkeit entschuldigt
oder gerechtfertigt wird.
Der Inhalt des Vorschlages ist bekannt: er geht im wesentlichen dahin,
daß dem Richter die Befugnis eingeräumt werden soll, gegen den Gesetzes¬
übertreter eine Strafe in der Art zu verhängen, daß sie nur dann vollzogen
wird, wenn der Thäter sich innerhalb einer gewissen Frist eine abermalige Ver¬
letzung des Gesetzes zu schulden kommen läßt.
Betrachten wir die Sache zunächst unter dem Gesichtspunkte der juristischen
Logik. Wer etwas unter einer Bedingung zu wollen erklärt, der erklärt damit,
daß er unter der entgegengesetzten Bedingung das Gegenteil Null. Nach dem
Vorschlage der internationalen kriminalistischen Vereinigung soll der Richter dein
Verbrecher""') sagen: „Ich verurteile dich, wen» du in? Laufe der nächsten drei
Jahre wieder ein Verbrechen begehst." Mit ander» Worten: „Wenn du im
Laufe dieser Zeit kein Verbrechen begehst, so — verurteile ich dich nicht." Allein
ans „NichtVerurteilung" lautet kein Richterspruch, die Straflosigkeit wird ver¬
kündigt entweder durch den Nusspruch: „Der Angeklagte wird freigesprochen,"
oder durch deu Ausspruch: „Der Angeklagte wird begnadigt." (Unsre Straf¬
prozeßordnung kennt neben dem Urteil auf Freisprechung und dein „Urteil auf
Verurteilung" (!) auch noch ein Urteil „auf Einstellung des Verfahrens," nämlich
in Fällen, wo es an dein erforderlichen Strafautrag fehlt; das ist in Wirklich¬
keit auch eine Freisprechung, der man nur mit Rücksicht auf die sogenannte
Rechtskraft des Urteils diesen Namen nicht giebt; die bedingte Verurteilung
läßt sich nicht unter diesen Begriff bringen, denn eine „Wiederaufnahme des
Verfahrens" findet in keinem Falle statt: verwirkt der Thäter die Bedingung
der „Nichtvcrurteiluug," so wird die bedingt erkannte Strafe vollzogen — ob»e
neues Verfahren über die alte That.) Was ist nun der Sinn der bedingten
Verurteilung? Wird unter der entgegengesetzten Bedingung der Verbrecher
freigesprochen oder begnadigt? „Der Angeklagte wird, weil er rechtswidrig
seinen Nachbar am Körper verletzt hat, unter der Bedingung, daß er in den
nächsten drei Jahren niemand am Körper verletzt, voll der Allklage der Körper¬
verletzung freigesprochen" — das ist ein so großartiger Unsinn, daß darüber kein
weiteres Wort zu verlieren ist. „Der Angeklagte wird im Fall seines Wohl-
verhaltens begnadigt" ^- das hat einen Sinn, d. h. das ist kein Verstoß gegen
die Logik, aber der Satz bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Auf¬
hebung eines bisher nicht bloß in Deutschland, sondern in allen zivilisirten
Staaten anerkannten Grundsatzes, nämlich des staatsrechtlichen Satzes, daß das
Begnadigungsrecht nur dem Staatsoberhaupte zusteht. „Die Gnade fließet
aus vom Throne, das Recht ist ein gemeines Gut" sagt Uhland, und dieses
Dichterwort, meinen wir, soll Wahrheit bleiben, denn wir vermögen die Zweck-
mäßigkeitsgründe nicht anzuerkennen, die für die Durchbrechung jenes staats¬
rechtlichen Grundsatzes ins Feld geführt werden.
Wir stellen rede» das Wort des Deutschen ein Wort des großen britischen
Dichters:
Die Art der Gnade weiß ton keinem Zwang,
Sie träufelt, wie des Himmels milder Regen,
Zur Erde uuter ihr; zwiefach gesegnet:
Sie segnet den, der giebt, nud den, der nimmt.
Der Vorschlag unsrer iuteruativunlen Philanthropen läßt, so scheint es,
dieses Wort gelten, denn er „weiß von keinem Zwang"; der Richter kann die
bedingte Verurteilung aussprechen, aber er muß es nicht, der Vorschlag stellt
es, wir wollen nicht sagen in heilt Belieben, aber in sein Ermessen, ob er
von der ihm erteilte» Befugnis Gebrauch machen will oder nicht. Wird aber
auch diese „Art der Gliade" de» vo» Porzia verheißene» „zwiefache» Segen"
bringen? Wir meinen: nicht zwiefachen Segen, sondern zwiefachen Fluch wird sie
bringen, sie schadet, wo nicht dein Empfänger der Gnade, so doch dem Staate,
und sie schadet noch mehr dem Geber, dem Richter.
Sie schadet nnter Umständen dem Empfänger der Gnade selbst: zunächst
ist er natürlich voll Vergnügen über die bedingte Verurteilung oder Begnadigung,
er wird sich Wohl auch vornehmen, er wolle sich — drei Jahre lang — wohl
Verhalten; sind die drei Jahre verflossen, dann kann er es ja wieder darauf
ankommen lassen, ein mäßiges Verbrechen zu begehen, vielleicht oder hoffentlich
wird der Richter dann wieder fo menschenfreundlich sein, ihn „bedingt" zu
verurteilen. Und selbst während der drei Jahre wird der Nutzen der neuen
Einrichtung für ihn ein mäßiger sein; die meisten Vergehen werden nicht mit
Vorbedacht, sondern unter dem Einfluß der Leidenschaft verübt, und wer im
Zorn einem andern einen Schlag zu versetzen im Begriff ist, der wird nicht
erst lange überlegen, ob er sich nicht durch den Schlag der Rechtswohlthat
der bedingten Begnadigung verlustig mache.
Diese Art der Gnade schadet jedenfalls dem Staat; lassen wir noch einmal
Porzia reden. Vassanio stellt an den Gerichtshof von Venedig das Verlangen:
Beugt einmal das Gesetz nach euerm Ansehn:
Thut kleines Unrecht um ein großes Recht.
Und was antwortet Porzia?
Es darf nicht sein; kein Ausehn in Venedig
Vermag ein giltiges Gesetz zu ändern.
Es würde als ein Borgang angeführt.
Und mancher Fehltritt nach demselben Beispiel
l^riss' um sich in dem Staat: es kann nicht sein.
Es ist nicht anders: der Vorschlag mutet dem Richter zu, oder vielmehr
er gestattet ihm, „kleines Unrecht um ein großes Recht zu thun," das Gesetz
uicht anzuwenden um der Gerechtigkeit willen. Der Richter ist der Wächter
des Rechtes, des positiven Rechtes, des Gesetzes, er soll das Gesetz im Geiste
der Gerechtigkeit anwenden; allein wenn er einmal der Meinung ist, daß die
Gerechtigkeit mit dem Gesetze nicht zusammenstimme, dann ist es uicht seine
Sache, das Gesetz der Gerechtigkeit zu opfern und dieser zuliebe ein kleines
Unrecht zu begehen. Die Beiwörter „klein" und „groß" sind am Platze neben
den Hauptwörtern „Nutzen" und „Schaden"; der Regent, der um der Spitze
der Verwaltung des Staates steht, mag und muß prüfen, ob der Nutzen, der
dein Staat daraus erwächst, wenn die Idee der Gerechtigkeit triumphirt, im
einzelnen Falle größer sei als der Schaden, den das Abweichen vom Gesetz
stiftet. Aber übel angebracht sind jene Beiwörter beim Recht und Unrecht,
für den Richter sollen die Begriffe „groß" und „klein" uicht vorhanden sein,
durch ein kleines Unrecht, das er begeht, verletzt er seinen Richtereid gerade
so wie durch ein großes. Läßt er einmal ein Verbrechen ungestraft, so wird
es „als ein Vorgang angeführt," und hundert andre Verbrecher meinen da¬
durch auch ein Recht ans bedingte Verurteilung, d. i. auf Straflosigkeit erlangt
zu haben.
Zum Schaden nicht bloß, sondern zum Fluch wird die neue Art der
Gnade für deu Richter. „Der Richter kaun den Verbrecher bedingt verurteilen."
In dem einen Wörtchen „kaun" liegt die Verurteilung des neuen Vorschlages;
im Katechismus des Verwaltungsbeamten, aber nicht in dem des Richters ist
Raum für dieses Wörtchen „kann." Der Verwaltungsbeamte kann gar nicht
anders, als nach Rücksichten der Zweckmäßigkeit, d. i. mehr oder weniger nach
Willkür handeln; für den Richter giebt es keine Rücksichten der Zweckmäßigkeit,
er kann und darf nicht so oder so entscheiden, sondern er soll und muß urteilen,
wie es das Gesetz verlangt. Willkür ist mit dem Amte des Richters völlig
unvereinbar, und der Richter, dem das Gesetz nach Willkür zu entscheide»
gestattet, büßt in den Angen des Volkes das Kostbarste ein: das Vertrauen
auf seine Unparteilichkeit.
Aber verweist denn, wird man einwenden, die Gesetzgebung den Richter
nicht jetzt schon in wichtigen Punkten auf sein Ermessen, z. B. bei der freien
Beweiswürdigung und bei der Bemessung der Strafe innerhalb des gesetzlichen
Rahmens? Und stellt nicht sogar die Entscheidung über die Zulassung „mil¬
dernder Umstände" jetzt schon eine Art von Begnadigungsrecht dar, das dein
Richter eingeräumt ist?
Aus den zweiten Teil dieses Einwandes wissen wir in der That nichts
zu erwidern, als daß wir auch schon hierin eine Verirrung der Gesetzgebung
erblicken; wir wollen damit denen, die die Ausnahme der mildernden Umstände
in das Strafgesetzbuch durchgesetzt haben, keinen Vorwurf machen, jedenfalls
keinen großer», als den Urhebern des Entwurfes des Gesetzes, der keine mil¬
dernden Umstände kannte. Man braucht kein Freund des Humanitätsdusels
zu sein und kaun doch sagen, daß die Strafandrohungen des Gesetzes, wenn
man die „mildernden Umstände" herausnähme, vielfach geradezu barbarisch
wären. Die Vertreter des Entwurfes wollten aber seiner Zeit diese Strafen
nicht preisgeben, und so kam der unglückliche Kompromiß auf die mildernden
Umstände zu stände; anstatt daß man z. B. verständig und kurz gesagt hätte:
„Der erschwerte Diebstahl wird mit Zuchthaus, in leichtern Füllen mit Ge¬
fängnis bestraft," sagt mau: „der erschwerte Diebstahl wird mit Zuchthaus
bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe ein."
Die Männer des grünen Tisches haben ihr Prinzip gerettet, der Richter aber
kann nicht bloß gerade so, wie im Fall der verständigen Fassung des Gesetzes,
in wirklich leichten Fällen auf Gefängnis erkennen, sondern er kauu auch ohne
Pflicht- oder wenigstens ohne Gesetzesverletzung in schweren Fällen eine Be¬
gnadigung eintreten lassen ans Gründen, die von Rechts wegen sein Urteil
nicht beeinflussen sollte»; eine schwere Widersetzung gegen die Staatsgewalt
wird nicht hinterher dadurch zu einer leichten, daß der Widerstandleistende auf
der Anklagebank heulend sein Verschulden gesteht, es muß ihn von Rechts
wegen die Strafe der schweren Widersetzung treffen, wenn auch wegen seiner
Reue etwas milder bemessen, als wenn er hartnäckig und frech leugnet; jetzt
aber ist es keineswegs unerhört, daß ein Vorsitzender dein Angeklagten ver¬
blümt oder unverblümt zu verstehen giebt, daß die Zubilligung mildernder
Umstände davon abhänge, ob er die That gestehe und zwar so gestehe, wie
es der Vorsitzende haben will, ob er also diesem sein Geschäft erleichtere oder
erschwere. Das ist eine Korruption der Rechtspflege, und wenn eine solche um
einem Punkte besteht, so liegt darin wahrlich kein Grund, sie auch an einem
zweiten Punkt zuzulassen.
Anders verhält es sich mit der freien Veweiswürdigung und der Straf-
bemessnng; zwar oarauf wollen und dürfen wir kein Gewicht legen, daß der
Richter auch hier nicht nach Willkür, sondern nach wohlerwogenen Grlludeu
entscheiden soll, denn die internationalen Philanthropen würden uns auf diesen
Einwand mit Recht antworten, auch die bedingte Verurteilung solle der Richter
tiur nach reiflicher Erwägung aller Umstände nussprecheu. Ihre Berufung
anf diese Einrichtungen trifft aus einem andern Grunde nicht zu; die freie
Beweiswürdigung und die relative Freiheit der Strafbemessuug sind notwendige
Übel, d. h. sie sind Übel eben wegen der damit verbundnen Gefahr der Willkür,
aber sie sind notwendig, weil man sie nur gegen größere Übel eintauschen
könnte; bei der formellen Beweistheorie kommen noch schlimmere Ergebnisse zu
Tage als bei der freie» BeweiSwürdignng, und für die verschiednen Stufen
eines Verbrechens auch nur annähernd die richtige Strafe anzudrohen, liegt
außerhalb der vernünftigen Möglichkeit. Die bedingte Verurteilung dagegen
ist zwar, wie wir nachgewiesen zu haben glauben, auch ein Übel und zwar
ein recht großes, aber sie ist in keiner Weise notwendig oder auch nur nützlich.
Auch ist immer noch ein himmelweiter Unterschied zwischen dem Fall, daß
dem Richter die Wahl gelassen wird, ob er gegen den Angeklagten auf acht
Tage oder auf acht Wochen oder auf acht Monate Gefängnis erkennen will,
und dem Fall, daß ihm die Wahl gelassen wird, ob er den Schuldigen strafen
oder straflos lassen will. Die strenge oder die milde Strafe verhängt er je
uach der Gestaltung des Vergehens, insbesondre nach der Schwere der objek¬
tiven Rechtsverletzung; die bedingte Verurteilung oder Begnadigung ist von
rein subjektiven Erwägungen abhängig. Wenn der Richter heute den An¬
geklagten A bedingt begnadigt, weil er glaubt, daß der Angeklagte die ihm
zur Last gelegte Körperverletzung in hohem Affekt verübt habe, und daß schon
das über ihm hängende Damoklesschwert der bedingten Strafe ihn von einem
Niickfall abhalten werde, und wenn er morgen den wegen gleichen Ver¬
gehens angeklagten B unbedingt verurteilt, weil er bei ihm einen geringern
Grad von Affekt annimmt und dieses gute Zntrnnen nicht hat, so wissen wir
nicht, ob er mit seiner Entscheidung das Nichtige getroffen hat; soviel wissen
wir aber gewiß, daß der Angeklagte B ihn der Parteilichkeit beschuldigen wird,
und wer will ihm beweisen, daß er im Fall bedingter Begnadigung sich nicht
auch die vorgeschriebene Zeit über straflos gehalten hätte? Der Vorwurf der
Parteilichkeit wird noch viel lauter erschallen, wenn man nach dem Vorschlag
unsrer Philanthropen mit der bedingten Verurteilung noch die Erfindung der
Friedensbürgschaft verbindet, die der Richter auch wieder verlangen kann, aber
nicht verlangen muß. Es wird nicht nu Richtern und Justizverwaltungen
fehlen, die diese schone Erfindung auch finanziell auszubeuten versuchen, und
das Ergebnis wird in den Angen des Volkes eine neue Anwendung des Satzes
sein: die kleinen Diebe hängt man, die großen läßt man laufen, d. h. die
Armen werden unbedingt, die Reichen nur bedingt verurteilt.
Wir wiederholen: die bedingte Verurteilung ist bedingte Begnadigung und
als solche, vom Richter geübt, ein Eingriff in das Recht des Regenten, ein
Eingriff, der sich am Staat und am Richter rächt. Der Richter soll der
Wächter des Gesetzes, der Regent soll die Verkörperung der Gerechtigkeit sein,
und ein Teil der Gerechtigkeit ist die Gnade:
Sie ist ein Attribut der Gottheit selbst,
Und irdsche Macht kommt göttlicher am nächsten,
Wenn Gnade bei dem Recht steht.
Die Gnade, anch wenn sie von keinem Zwange weiß, ist darum uicht Willkür,
sie soll es jedenfalls nicht sein. In Italien heißt der Justizminister „Minister
der Gerechtigkeit und der Gnade." schön ist damit sein Beruf und seine
Verantwortlichkeit bezeichnet; nicht dadurch erfüllt er seineu Berief, daß er
seiner oder seines Herrn Abneigung, Blut zu scheu, nachgiebt und jeden
Meuchelmörder der Gnade des Regenten empfiehlt, auch nicht dadurch, daß
er bei freudigen Ereignissen im Regentenhause die Thore der Gefängnisse und
Zuchthäuser öffnet, sondern dadurch, daß er eingreift, wo im Großen oder
im Kleinen das Gesetz, das geschriebne Recht mit der Idee der Gerechtigkeit,
Mit dem göttlichen Recht in Widerspruch gerät.
In jedem, auch dem verkehrtesten Vorschlage, wenn er nicht von einem
Verrückten ausgeht, liegt ein gesunder Kern; so anch in dem Vorschlage der
bedingten Verurteilung, den ja hochangesehene Männer befürworte«!. Der
gesunde Kern ist der Gedanke, daß es im Interesse der Gerechtigkeit keineswegs
immer nötig sei, eine erkannte Strafe zu vollstrecken; in vielen Fällen ist der
Thäter durch die sonstigen Folgen seiner That schon schwer gestraft, und hier
ist der vernünftig geübten Gnade ein weites Feld geöffnet, namentlich da, wo
die gesetzwidrige That nicht das Recht eines Einzelnen verletzt hat. Freilich
eine bedingte Begnadigung stünde dem Regenten übel an: „Ein König sagt
nicht, wie gemeine Menschen, verlegen zu"; und viel mehr eilf ein Verlcgen-
heitsbehelf ist die bedingte richterliche Verurteilung oder Begnadigung nicht.
Wo der Fall für sich nicht zur Begnadigung geeignet ist, da soll die Strafe
vollstreckt werden; wo aber Begnadigung angezeigt ist, da soll sich der Segen
der Gnade unverklausulirt ergießen. Zeigt sich der Begnadigte durch sein
späteres Verhalten, dnrch Verülmug neuer Vergehen der Gnade unwürdig, so
ist ja der Rahmen der im Gesetz angedrohten Strafen weit genug, um ihm
seine Undankbarkeit eindringlich zum Bewußtsein zu bringen.
cis Jahr 1848, das in weiten Kreisen so gewaltige Erwartungen,
so übertriebene Hoffnungen erregt hatte, hat für die politische
Gesamtentwicklung Deutschlands thatsächliche, dauernde Folgen
überhaupt nicht gehabt. Ans den damals vielfach so begeistert
gepriesenen angeblichen Völkerfrühling folgte kein Sommer und
kein Herbst, die eine reife Frucht gezeitigt hätten. Die ganze Bewegung jener
Zeit, die anfänglich so mächtig zu sein schien, verlief schließlich im Sande und
würde gänzlich dem Fluche der Lächerlichkeit verfallen sei», wenn sie nicht so
viel Blutvergießen und Greuelthaten in ihrem Gefolge gehabt hätte. Die
heillose Verwirrung und Zerfahrenheit aber, die damals bei so vielen Männern
zu Tage trat, welche nicht bloß sich selbst für große Politiker, für erleuchtete
Staatsmänner hielten, sondern auch von der großen Masse ihrer Zeitgenossen
dafür gehalten wurden, dauerte noch lange fort und spukte noch viele Jahre
in unzähligen Köpfen. Ja selbst heutzutage trifft man hin und wieder noch
Männer, die in ihrer politischen Entwicklung nicht über das Jahr 1848 hinaus¬
gekommen sind, und die noch immer in den „Grundrechten" und der sogenannte«
Reichsverfassung der Paulskirche das einzige Heil und die einzige Rettung für
unser sonst unwiderruflich der schwärzesten Reaktion verfallenes Vaterland sehen.
Mit solchen Leuten ist natürlich nicht zu rechten; sie müssen eben allmählich
aussterben. Für den Geschichtsforscher jedoch, der unbefangen, ohne Leiden-
schaft und Vorurteil jenen Zeitraum des tollen Stiirmelis und Drängens be¬
trachtet, ist jene ganze Bewegung nnr ein warnendes Beispiel, das nicht oft
und nicht eindringlich genug dem deutschen Volke vor Angen gehalten, werden
kann, um es vor den Abwegen und Irrwegen zu bewahren, auf die die so¬
genannten Volksmänner es immer wieder drängen möchten.
In manchen Einzelstaaten hat jenes Jahr aber doch dauernde Wirkungen
hervorgerufen. Für die politische Entwicklung Preußens ist die Bewegung
jener Zeit insofern wichtig geworden, als sie unzweifelhaft dazu beigetragen
hat, die Einführung der preußischen Verfassung zu beschleunigen. Preußen,
d. h. nicht der Gesamtstaat als solcher, sondern die einzelnen Landesteile und
Gebiete, die diesen Staat oder, wie man damals auch wohl sagte, die könig¬
lichen Staaten bildeten, hatten früher ständische Verfassungen gehabt. Die
Zusammensetzung der Stände in den einzelnen Provinzen aber, wie es früher
hieß, im Königreiche Preußen, in der Markgrafschaft Brandenburg, deu einzelnen
Herzogtümern, Fürstentümern, Grafschaften, Herrschaften u. s. w., war ebenso
verschiedenartig, wie die ihnen zustehenden Rechte. Diese letztern wurden immer
mehr und mehr eingeschränkt durch die unbegrenzte Gewalt der.Krone. Schon
der Große Kurfürst regierte völlig unumschränkt; wie er etwaigen Widerstand
zu brechen wußte, das zeigt sein Verfahren gegen den Oberste» von Kalkstein
und den Schvppenmeister Rhode von Königsberg. Bekannt ist der Ausspruch
Friedrich Wilhelms I. den ostpreußischen Stünden („deu Herren Junkers")
gegenüber, daß er „die svuvvrainvtv als den roelmr <I0 bronüö stabiliren" wolle,
auf dem der Staat ruhen solle. Hiernach handelte er, und mehr noch nach
ihm sein großer Sohn. Schließlich bestand die einzige Obliegenheit der Stände
mir noch darin, daß sie bei einem Thronwechsel dem neuen Herrscher die Lehens-
hnldignng leisten mußten, so zum letztenmale 1840, als Friedrich Wilhelm IV.
zur Negierung kam. Thatsächlich war also vor Erlaß der Verfassung der
König der alleinige und völlig unbeschränkte Träger und Inhaber der gesamten
Staatsgewalt.
Als nach dem grausigen Sturze Preußens in den Jahren 1806 und 1807
und nach dem kläglichen Frieden zu Tilsit die Wiedergeburt des Staates vor¬
bereitet wurde, da versuchte man mich, die Provinzialstände entweder wieder
herzustellen oder neu einzuführen. Einen dauernden Erfolg hatten aber diese
Bestrebungen nicht. In jenen Zeiten der schweren Not wurde auch schon eine
Gesamtvertretung des Volkes in Aussicht gestellt. Namentlich in einem Edikt
vom 27. Oktober 1810 sagt König Friedrich Wilhelm III. zum Schluß: „Wir
behalten uns vor, der Nation eine zweckmäßig eingerichtete Repräsentation
sowohl in deu Provinzen als für das Ganze zu geben, deren Rat wir gern
benutzen, und in der Wir Unsern getreuen Unterthanen die Überzeilgniig fort¬
während geben werden, daß der Zustand des Staates und der Finanzen sich
bessere, und daß die Opfer, welche zu dem Ende gebracht werden, nicht ver-
geblich sind." Wiederholt wird dieses Versprechen in einer königlichen Ver¬
ordnung vom 22. Bull Z8l5, wo es heißt: „Um der preußischen Nation ein
Pfand unseres Vertrauens zu gebe», und damit der Nachkommenschaft die
Grundsätze, nach welchen Unsere Vorfahren und Wir selbst die Regierung
Unseres Reiches geführt haben, treu überliefert und vermittelst einer schriftlichen
Urkunde als Verfassung des preußische» Reiches dauerhaft bewahrt werde»,
bestimmen Wir: ^ 1. Es soll eine Repräsentation des Volkes gebildet
werden" n. s. w. In t? 4 derselbe» Verordnung erstreckt sich die Wirksamkeit
der Lnudesrepräseutauten auf „die Beratung über alle Gegenstände der Gesetz¬
gebung, welche die persönlichen und Eigentumsrechte der Staatsbürger mit
Einschluß der Besteuerung betreffen." Von einer beschließenden und ent¬
scheidenden Mitwirkung der Volksvertretung bei der Gesetzgebung ist noch keine
Rede. Erst in einer Verordnung vom 17. Januar 1820 findet sich die folgende
Bestimmung: „Sollte der Staat künftighi» zu seiner Erhaltung in die Nvt-
we»digkeit kommen, zur Aufnahme eiues neuen Darlehens zu schreiten, so kam?
solches mir mit Zuziehung und unter Mitgarantie der künftigen reichsständischen
Versammlung geschehen."
Die Bestimmungen der deutschen Bundesakte und der Wiener Schlußakte,
aus denen man eine Verpflichtung der preußischen sowie aller andern deutschen
Regierungen zur Einführung einer Volksvertretung hat ableiten wollen, sind
so allgemein gehalten, daß sie bei Beurteilung dieser Frage eigentlich gar nicht
ins Gewicht fallen können. Der Art. 13 der deutschen Bundesakte lautet:
„In alleu Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden."
Art. 55 der Wiener Schlußakte lautet: „Den souveränen Fürsten der Bundes¬
staaten bleibt überlassen, diese innere Buudesangelegenheit mit Berücksichtigung
sowohl der früherhin gesetzlich bestandenen ständischen Rechte als der gegen¬
wärtig obwaltenden Verhältnisse zu ordnen." Art. 57: „Da der deutsche Bund,
mit Ausnahme der freien Städte, aus souveränen Fürsten besteht, so muß
dem hierdurch gegebenen Grundbegriffe zufolge die gesamte Staatsgewalt in
dem Oberhaupte des Staates vereinigt bleiben, und der Souverän kann dnrch
eine landständische Verfassung nur in der Atisübung bestimmter Rechte an die
Mitwirkung der Stände gebunden sein." Art. 58: „Die im Bunde vereinten
souveränen Fürsten dürfen durch keine landständische Verfassung in der Er¬
füllung ihrer bundesmäßigeu Verpflichtungen gehindert oder beschränkt werden."
Bei der Abfassung dieser Urkunden, die den deutschen Bund begründeten, lag
die Entscheidung wesentlich bei der österreichischen Negierung. bei Metternich;
der war aber nicht sehr für Volksrechte und Vvlksfreiheiteu, und von einer
Mitwirkung der Volksvertretung bei der Regierung wollte er gar nichts wissen.
Sein Grundsatz war ja: 'I'eine xour to xsuplo, rivn M- lui!
So lange Friedrich Wilhelm III. regierte, wurde eine Nationalvertretnng
in Preußen nicht eingeführt. Die Provinzialstände dagegen, so wie sie heute
noch bestehen, wurden durch eine Reihe von Gesetzen aus den Jahren 1823
und 1824 ins Leben gerufen. Erst unter Friedrich Wilhelm IV. führte die
Notwendigkeit, eine Staatsanleihe aufzunehmen, hauptsächlich zur Erbauung
der Ostbahn, zur Einberufung eines „Vereinigte» Landtages" am 3. Februar
1847. Eine Anleihe war ja nach der oben angeführten Verordnung von 1820
ausdrücklich an die Mitgarautie der landständischen Versammlung gebunden.
Dieser Vereinigte Landtag bestand aus zwei Knrieu, der Herreukurie oder dem
Stande der Fürsten, Grafen und Herren, mit achtzig Stimmen, und aus der
Kurie der drei Staude, zu der die Ritterschaft 281, die Städte 182 und die
Landgemeinden 124 Abgeordnete stellten. Bald nach ihrem Zusammentritt
erbat diese Versammlung eine Vermehrung ihrer Rechte, wurde jedoch ab¬
schlägig beschieden, lehnte dann die Anleihe für die Ostbahn ab und wurde am
26. Juni 1847 geschlossen. Bei seiner zweiten Tagung, die vom 17. Januar
bis zum 6. März 1848 dauerte, wurde dem Vereinigten Landtage die ge¬
wünschte „Periodizität" gewährt; doch war dieses Zugeständnis zwecklos: er
wurde niemals wieder berufen. Am 18. März 1848 erschien eine königliche
Proklamation, worin verlangt wird, daß Deutschland aus einem Staatenbunde
in einen Vnndcsstciat verwandelt werde, und in der es dann weiter heißt:
„Wir erkennen an, daß dies eine Reorganisation der Bundesverfassung voraus¬
setzt, welche uur im Verein der Fürsten mit dem Volke ausgeführt werden
kann. Wir erkennen an, daß eine solche Bundcsrepräsentation eine konstitutionelle
Verfassung aller deutschen Länder notwendig erheische." Trotz dieser Verheißung
brach noch an demselben Tage in Berlin der Aufstand aus, und nach blutigem
Kampfe wurden die siegreichen Truppen aus der Hauptstadt entfernt, während
eine kurze, aber kräftige Anstrengung unzweifelhaft genügt haben würde, die
Aufständischen, unter denen sich nicht wenig hergelaufenes Gesindel befand,
vollends zu Boden zu schlagen.
Am 6. April 1848 wurde» durch königliche Verordnung die Grundlagen
der künftigen Verfassung veröffentlicht, am 8. April desselben Jahres das Wahl¬
gesetz für die zu berufende Nationalversammlung, die (nach ZI dieses Gesetzes)
„die künftige Stnatsverfasfung durch Vereinbarung mit der Krone feststellen" sollte.
Diese Versammlung, die am 22. Mai 1848 in Berlin zusammentrat, zeigte den
demokratisch-revolutionären Charakter jeuer aufgeregten Zeit. Die Mehrheit,
in der die Linke unter Führung Waldecks ausschlaggebend war, stellte sich
sofort auf den Boden der Volkssouveränität, die doch in Preußen nieder jemals
gegolten, noch anch nnr einen Augenblick thatsächlich bestanden hatte. Sogar
die sogenannte Rechte forderte die gemeinschaftliche Ausübung der Souveränität
durch Krone und Voll. Der von der Regierung vorgelegte Verfassungsentwurf
wurde beiseite geschoben, und eine Kommission von vierundzwanzig Mitgliedern
unter dem Vorsitze Wnldecks arbeitete einen neuen Berfassuugsentwnrf ans.
Die Verhandlungen darüber waren sehr schleppend; die Versammlung in Verum
folgte in dieser Beziehung ihrem großen Muster in der Paulskirche zu Frankfurt.
In der Zeit vom 12. bis zum 23. Oktober hatte das Plenum mir über den
Eingang und die vier ersten Artikel des Entwurfs beraten. Obgleich die Er¬
örterungen, die mich und uach immer mehr durch lärmende und aufrührerische
Volksmassen beeinflnht wurden, stürmisch genug waren, kam man nicht weiter.
Das Ministerium Brandenburg-Manteuffel beschloß, diesem unerträglichen Zu¬
stand ein Ende zu machen. Am 9. November wurde durch königliche Bot¬
schaft die Nationalversammlung nach Brandenburg verlegt und bis zum
22. November vertagt. Die große Mehrheit bestritt der Krone das Recht
hierzu und beschloß, der Votschaft keine Folge zu leisten. Doch nun änderte
sich plötzlich das Bild. Am 10. November rückte der alte Wrangel mit
Truppen in Berlin ein, ohne Widerstand zu finden; dem Soldatenspielen der
Vürgerwehr wurde durch Entwaffnung ein Ende gemacht, der Belagerungs¬
zustand über die Hauptstadt verhängt, und bald darauf das Forttagen der Ver¬
sammlung mit Gewalt verhindert. Diese hatte jedoch noch am 15. November
beschlossen: „Das Ministerium Brandenburg ist nicht berechtigt, über die
Staatsgelder zu verfügen und die Steuern zu erheben."
Am 5. Dezember 1848 erfolgte durch königliche Verordnung die Auf¬
lösung der Nationalversammlung, und nnter demselben Datum erschien in der
Gesetzsammlung die Verfassungsurkunde als Gesetz. Mau nennt diese Ver¬
fassung gewöhnlich die „oktrvhirte," weil sie nicht mit der Volksvertretung
vereinbart war. Der in der Neuzeit oft gebrauchte Ausdruck „oktrvhireu"
wird aber sehr vielfach falsch verstanden und falsch angewandt. In diesen:
Falle ist die Bezeichnung sicherlich so unpassend wie möglich. Das Wort
kommt her von dein allerdings höchst unklassischen, aber im mittelalter-
lichen Latein gebräuchlichen Verbum muztorin-o und bedeutet als Anktor
oder kraft der Auktorität etwas gewähren, bewilligen oder verleihen. Eine
Vereinbarung über die Verfassung mit der Nationalversammlung war uicht zu
erzielen gewesen, weil diese den Standpunkt einnahm, „als ob das ganze
Stnatsrecht ans der Barrikade beruhe," wie sich Bismarck in einer Rede vom
22. März 184!» sehr treffend ausdrückte. Anders als auf Grund der Macht¬
vollkommenheit des Königs, der unbestritten alleiniger Inhaber der ganzen
Staatsgewalt war, war die Einführung einer Verfassung gar nicht möglich.
Daher war schließlich jedes bis dahin in Preußen erlassene Staatsgesetz
„oktrohirt," und man könnte z. B. mit demselben Rechte behaupten, daß das
ganze preußische Landrecht, das bis ans den heutigen Tag in dem größern
Teile des Staates gilt, auch „oktrohirt" worden sei.
Diese Verfassung vom 5. Dezember 1848 ist aber nicht die, die jetzt in
Preußen zu Rechte besteht. Sie sollte, wie in der Einleitung ausdrücklich
betont ist, nur eine vorläufige sein, und „ihre Revision im ordentlichen Wege
der Gesetzgebung" war von vornherein vorbehalten. Die damals berufene
Versammlung bezeichnet man daher auch wohl als die „Nevisionskammern."
Diese Revision war erst bis zum !N. Januar ZttliO beendet, und an diesem
Tage wurde die vom Könige vollzogene Verfassungsurkunde in ordnungsmäßiger
Weise als Staatsgrundgesetz des Königreichs Preußen veröffentlicht. Am
6. Februar desselbigen Jahres leistete der König im Rittersaale des Residenz-
schlosses zu Berlin in Gegenwart beider Kammern den Eid auf die Nerfassnng,
deren Rechtsbeständigkeit und Verbindlichkeit für jeden Preußischen Staatsbürger
somit über jeden Zweifel erhaben ist.
Es war notwendig, diese kurze Übersicht darüber, wie eigentlich die
preußische Verfassung zu stände gekommen ist, zu geben; denn ohne darüber
einigermaßen unterrichtet zu sein, kann sich niemand über die einschlägigen
Fragen ein klares Urteil bilden. Jene Thatsachen aber, die den Eintritt
Preußens in die Reihe der institutionellen Staaten herbeigeführt haben, sind
in weiten Kreisen verhältnismäßig wenig bekannt, anch in Kreisen, die sonst
Wohl Anspruch auf politische Bildung machen dürfen. In Schulen wird so
etwas nicht gelehrt, und die Anzahl derer, die damals schon als gereiftere
Männer jene Vorgänge miterlebt haben, ist allmählich sehr gering geworden.
Bei den wenigen aber, die die Sturm- und Drangperiode von damals mit¬
erlebt haben, ist die Erinnerung daran vielfach geschwunden, oder doch wenigstens
stark verblaßt und unklar geworden. Dagegen würde eS den Rahmen dieser
Arbeit überschreiten, auf den Inhalt der Verfassung näher einzugehen; ihre
wesentlichen Bestimmungen müssen als bekannt vorausgesetzt werden, und uur
diejenigen können einer genauern Besprechung unterzogen werden, die bei dem
Verfassungsstreite, der seiner Zeit die Gemüter so ungeheuer erhitzt hat, eine
hervorragende Rolle spielten.
Von den hochgespannter, geradezu überschwänglichen Hoffnungen, die der
Liberalismus an die Einführung einer Verfassung geknüpft hatte, verwirklichte
sich zunächst nicht eine einzige. Weder in Bezug auf die innern, noch auf die
äußern Verhältnisse Preußens trat eine Änderung ein, die man als eine Besse¬
rung, als einen wirklichen Fortschritt hätte bezeichnen können. Die folgenden
Jahre bis zum Beginne der sogenannten neuen Ära bezeichnet man Wohl als
die Reaktionszeit in Preußen. Mit dem Worte Reaktion, einem der beliebtesten
Schlagworte de Liberalen, mögen sie sich nun bellte Demokraten, Fortschrittler
oder Freisinnige nennen, ist auch seit geraumer Zeit viel Unfug getrieben
worden, und es geschieht das noch heute. Jedenfalls kann man wohl dreist
behaupten, daß die meisten Bierbankpolitiker, die stets mit dem Worte Reaktion
um sich werfen, auf die Frage, was sie sich denn eigentlich darunter denken,
nnr eine höchst mangelhafte Antwort geben würden. Die damalige Zeit jedoch
verdient einigermaßen diese Bezeichnung, wenn auch nicht in dem Sinne, als
ob damals in den maßgebenden, d. h. den regierenden Kreisen, Leute vorhanden
gewesen wären, die ernsthaft daran gedacht hätten, die Verfassung wieder auf-
zuHeben und den alte» Absolutismus wiederherzustellen. Aber manche Ma߬
regeln des Ministeriums Manteuffel kauu mau reaktionär nennen, ohne im
geringsten von dem, Mas man jetzt Freisini? nennt, angekränkelt zu sein. Ich
rechne dahin nicht die Bildung einer ersten Kammer, des Herrenhauses, durch
Verordnung vom 12. Oktober 1854, wohl aber die Begünstigung der evan¬
gelischen Orthodoxie, die Gestaltung unzähliger ultramontaner Übergriffe, die
Aufhebung der Gemeinde- und Kreisvrganisation März 1850, die Ein-
führung der Schulregulative lind besonders die Wiederherstellung eines pri-
vilegirten Gerichtsstandes und der gutsherrlichen Polizeigewalt. Das am
27. September 1855 gewählte Abgeordnetenhaus nannte man wegen seiner
Gefügigkeit gegen die Negierung spottweise die Landratskammer. In der Haupt¬
sache freilich beweist diese ganze sogenannte Reaktion nur unwiderleglich, daß
die große Masse des Volkes, hoch und niedrig, der demokratischen Treibereien
und Hetzereien herzlich müde war, daß sie vor der Revolution und ihren ver¬
meintlichen Segnungen Ekel empfand, daß sie Ruhe, Frieden und Sicherheit
haben wollte, und daß sie glaubte, daß diese Güter doch besser durch die Re-
gierung gewahrt seien, als durch die redewütigen „Vvlksführer." Nach außen,
in deutschen sowohl wie in europäischen Fragen, nahm Preußen eine geradezu
klägliche Stellung ein. Einiges Nähere darüber findet der Leser in meinem
Buche „Vom alten. zum neuen Reich." Hier ist uicht der Ort, jene unerträg¬
lichen Deiuntiguugeu Preußens nochmals eingehender zu besprechen. Sie be¬
weisen aber schlagend, daß die Stellung unsers Staates wesentlich, ja fast
allein abhängt von seinem Monarchen und dessen Regierung, und daß
Kammerreden und Beschlüsse in dieser Beziehung herzlich wenig Bedeutung
haben.
Als der Prinz von Preußen, der nachmals Kaiser und König Wilhelm
der Siegreiche hieß, im Jahre 1858 endgiltig für seinen unheilbar erkrankten
Brilder die Regentschaft übernommen hatte, berief er das Ministerium! der
neuen Ära, dessen Vorsitzender der Fürst Karl Anton von Hoheuzvlleru-
Sigmariugeu war. In einer Ansprache um dieses Ministerium vom 8. No¬
vember d. I. kündigte der Prinzregent an, daß er eine gründliche Umgestal¬
tung des preußischen Heerwesens durchzuführen beabsichtige. Im Jahre 1859
wurden zu Gunsten des in Italien hart bedrängten Österreich sechs Armee¬
korps mobil gemacht, kamen jedoch uicht mehr zu thätiger Verwendung, da
der Kaiser von Österreich sich durch Napoleon zu dem übereilten Friedensschlusse
von Villafmuca hatte bereden lassen. Bei dieser Mobilmachung trat eine
Reihe von Mängeln, Unzuträglichkeiten und Übelstünden zu Tage, die es für
jeden Fachmann unwiderleglich bewiesen, daß eine Reorganisation der Kriegs-
verfassung unbedingt erforderlich war. Für die Mobilmachung gegen Frank¬
reich waren von den, Abgeordnetenhause sieben Millionen Thaler bewilligt
worden, von denen nur ein geringer Teil gebraucht war. Was übrig blieb,
gewährte die ersten Mittel zur Reorganisation. Am 5. Dezember 185!) über¬
nahm Albrecht von Roon das Kriegsministerium. Sein Name wird ewig mit
der Umgestaltung unsers Kriegswesens aufs engste verknüpft bleiben. Am
12. Januar 1860 eröffnete der Prinzregent den Landtag mit einer Thronrede,
worin er die Notwendigkeit einer Reform der Heeresverfasfung ausführlich
begründete, und die Beseitigung der bei der Mobilmachung tiefempfundenen
Übelstände für seine Pflicht und sein Recht erklärte. Am Schlüsse heißt es
dann: „Es ist nicht die Absicht, mit dem Vermächtnisse einer großen Zeit zu
brechen. Die preußische Armee wird auch in Zukunft das preußische Volk in
Waffen sein. Es ist die Aufgabe, innerhalb der durch die Finanzkräfte des
Landes gezogenen Grenzen die überkommene Heeresverfasfung durch Verjüngung
ihrer Formell mit neuer Lebenskraft zu erfüllen. Gewähren Sie einer reiflichst
erwogenen, die bürgerlichen wie die militärischen Gesamtinteressen gleichmäßig
umfassenden Vorlage Ihre vorurteilsfreie Prüfung und Beistimmung. Sie wird
nach alleu Seiten hin Zeugnis geben von dem Vertrauen des Landes in meine
redlichen Absichten. Der Vertretung des Landes ist eine Maßregel von solcher
Bedeutung für den Schlitz und den Schirm, für die Größe und die Macht
des Vaterlandes noch nicht vorgelegt worden. Es gilt, die Geschicke des Vater¬
landes gegen die Wechselfälle der Zukunft sicher zu stellen."
Am 10. Februar 1860 wurde das neue Wehrgesetz dein Landtage vor¬
gelegt. Die Dienstzeit bei der Fahne wurde von zwei Jahren auf drei erhöht,
die in der Reserve auf sieben Jahre, während die in der Landwehr herabgesetzt
wurde; die unnatürliche Verbindung eines Linien- und eines Laudwehrregimentes
zu einer Brigade wurde aufgehoben. Bei weitem das wichtigste aber war die
bedeutende Vermehrung der stehenden Truppenkörper; 117 Bataillone, darunter
4 neue Gardeinfanterieregiinenter und 32 neue Linieniilfanterieregimenter, die
die Nummern 41—72 erhielten, wurden gebildet. Die Mittel hierzu sollte
eine neue Grundsteuer liefern. Damit war aber das Herrenhaus uicht ein¬
verstanden, und daran scheiterte schließlich das Zustandekommen des Gesetzes.
Daher stellte am 5. Mui die Regierung den Antrag, „zur Aufrechterhaltung
und Vervollständigung derjenigen Maßnahmen, welche für die fernere Kriegs¬
bereitschaft und erhöhte Streitbarkeit des Heeres erforderlich und auf den bis¬
herigen gesetzlichen Grundlagen thunlich sind, anßer den im gewöhnlichen Budget
bewilligten Mitteln für die Zeit vom 1. Mai bis zum 30. Juni 1861 neun
Millionen Thaler zu bewilligen," und zwar als ein Vertrauensvotum für die
Negierung. Dieser Antrag wurde am 15. Mai mit 315 gegen 2 Stimmen
angenommen. Hierin lag eigentlich schon der Keim zu dem Verfassnngsstreite,
dein sogenannten Konflikte; mau kann in diesem Falle das Fremdwort, das
sich so eingebürgert hat, nicht ganz vermeiden. Das Abgeordnetenhaus hatte
zwar die Vermehrung des Heeres uicht abgelehnt, hatte aber die Mittel dazu
nur als „Extravrdinarilnil" auf eine bestimmte Zeit bewilligt, konnte sie also
nach Ablauf derselben anch wieder zurückziehen. Die neuen Truppenkörper
waren aber endgiltig aufgestellt, und die Negierung war keineswegs geneigt,
sie etwa nach Jahresfrist wieder aufzulösen. Dieses Verhältnis war mmatürlich
und auf die Lauge der Zeit nicht haltbar; es konnte schließlich nur üble Folgen
haben. Zunächst freilich wurde das gute Einvernehmen nicht gestört. In der
Thronrede, mit der am 23. Mai der Landtag geschlossen wurde, dankte der
Prinzregeut für deu außerordentlichen Militärkredit, der einstimmig bewilligt
worden sei, und sprach dann die Hoffnung aus, „daß die Notwendigkeit
der Heeresreform endlich richtig gewürdigt und die Losung der zurückgestellten
Frage, deren Erledigung als ein unerläßliches Bedürfnis anerkannt sei, in
kürzester Frist gelingen werde."
Am 2. Januar 1861 bestieg Wilhelm I. den Thron, nachdem der Tod
den langen Leiden seines schwer heimgesuchten Bruders ein Ende gemacht
hatte. Am 14. Juni eröffnete er seinen ersten Landtag als König mit einer
Thronrede, in der wieder ein besondrer Nachdruck auf die Notwendigkeit der
Verstärkung des Heeres gelegt wurde, bei der jedoch die möglichste Sparsamkeit
angewandt werden sollte. Diesesmal schien es fast, als ob das Abgeordnetenhaus
der Regierung ein größeres Entgegenkommen zeigen wollte. Denn in der Adresse,
mit der die Thronrede beantwortet wurde, wird auch die deutsche Frage berührt.
Ju dem vorgeschlagenen Entwürfe, der schließlich auch angenommen wurde,
lautet die Hauptstelle: „Daß dann jnämlich bei einer Einigung Dentschlandss
Preußen die ihm durch seine Geschichte und seiue Machtverhältnisse gebührende
Stellung eingeräumt werde, ist eine Forderung, welche in dem unzertrennlichen
Interesse Deutschlands wie Preußens ihre Begründung findet." Der Abgeordnete
Stavenhagen hatte folgende Fassung vorgeschlagen: „Wir fühlen uns gedrungen,
unsre Überzeugung offen anzusprechen, daß eine Umgestaltung der Heeres¬
verfassung nur dann vollständig ihren Zweck erreichen kann, wenn die oberste
Führung des deutschen Heeres in Eurer Majestät königliche Hand gelegt wird.
Daß dann Preußen die ihm durch seine Geschichte nud seine Machtverhältnisse
gebührende Stellung an der Spitze des deutscheu Bundesstaates eingeräumt
werde, ist eine Forderung, welche in dem unzertrennlichen Interesse Deutsch¬
lands und Preußens ihre Begründung findet." Das war ein vollständiges
Politisches Programm in der deutschen Frage, ein Programm, dem jeder gute
Patriot ohne weiteres zustimmen konnte, aber auch ein Programm, das weder
Österreich noch die meisten Vnndesstanten jemals angenommen Hütten, ohne
daß die Verständigkeit desselben ihnen durch die ullwm, ratio rvM unwider-
leglich deutlich gemacht worden, d. h. ohne daß sie durch die unwiderstehliche
Gewalt der Waffe» dazu gezwungen worden wären. Die Entgegennahme einer
solchen Adresse durch die Regierung mußte ganz unzweifelhaft einen Bruch
Preußens mit Österreich und dem Bunde herbeiführen und konnte leicht der
lusus Kokil, werden, den man 1806 ziemlich schwierig auffinden mußte. Der
Mimstcr von Schleinitz trat daher sehr entschieden dagegen ans, hauptsächlich
aus dem Grunde, „weil dieser Antrag über den derartigen Standpunkt der
Regierung weit Hinansgreife."
Wenn man nüchtern und hausbacken nach Thatsachen urteilt und sich
nicht durch die Phrase beeinflussen läßt, so hätte man denken sollen, daß eine
Partei, die der Krone eine solche Adresse unterbreiten wollte, sich auch darüber
hätte klar sein müssen, daß zur Durchführung einer solchen Politik Preußen
nicht mir genullt, sondern auch in der Lage hätte sein müsse», den letzten
wehrfähigen Mann, das letzte Roß und den letztem Thaler dranzusetzen. Als
aber die Kommission deS Abgeordnetenhauses über die Militärvvrlage Bericht
erstattete, kam es ganz anders. Die Regierung hatte als Gesamtmehrbednrf für den
Militäretat rund 8 550 000 Thaler verlangt, darunter 8 150 000 Thaler für die
Reorganisation. Die Kommission beantragte, im Ordinarinm 075 000 Thaler
durch oben abgerundet) und im Extravrdinarinm 825 WO Thaler, zusammen
etwa Millionen, zu streichen. Hierdurch war eigentlich der Bruch zwischen
Regierung und Volksvertretung vollzogen, und der „Konflikt" offenkundig
geworden. Noch einmal wurde jedoch der Riß verkleistert und verklebt. Am
/'>1. Mai wurde mit einer Mehrheit von unreif Stimmen, darunter die der sieben
Minister, die damals noch gewählt worden, ein Antrag Kühnes angenommen,
wonach der Regierung überlassen wurde, von den gestrichenen Summen
750 000 Thaler wieder einzustellen und ans die verschiedenen Positionen zu
verteilen. Die Kosten für die Reorganisation wurden wiederum nur als
Extraordinarinm bewilligt. Noch an demselben Tage wurde der Landtag
geschlossen. Der Streitfall war zum zweitenmale verschleppt worden. Denn
die Reorganisation war durchgeführt und bestand, sie sollte und mußte dauernd
und endgiltig bestehen; darüber herrschten im Abgeordnetenhause ebenso wenige
Zweifel wie in den Negiernugskreisen.
Nur einige Tage darauf erblickte die sogenannte Fortschrittspartei, die sich
nach und nach aus einer Vereinigung von Abgeordneten, genannt „Jung-Litauen,"
gebildet hatte, förmlich und urkundlich das Licht der Welt. Es war das kein
bloßer Zufall; denn Fortschrittspartei und Konflikt sind unlöslich mit einander
verbunden, nicht bloß geschichtlich, sondern anch grundsätzlich. Dem Konflikte
verdankt sie ihre Entstehung, ans der anwachsenden Heftigkeit desselben beruhte
ihre Blütezeit, bei dein Erlöschen desselben, d. h. den: wirklichen, das nicht
herbeigeführt wurde durch die Erteilung der Indemnität, sondern dnrch die
Errichtung des neuen Reiches, verschwand sie fast bis zur Unauffindbarkeit;
so oft Aussicht vorhanden ist, einen neuen Konflikt herbeizuführen, tritt sie
wieder lebhafter in die Erscheinung, und sollte es den vereinigten Neichs-
uörglern gelingen, dieses Ziel zu erreichen, das sie so eifrig erstreben, fo können
wir vielleicht noch einmal den Jammerznstand erleben, worin die innere Politik
Preußens sich in den Jahren 1861—litt befunden hat. Hava Doris beim -n-ort-re!
Am 9. Juni 1861 erließ die „deutsche Fortschrittspartei in Preußen"
ein Programm, worin sie der Welt anzeigte, daß sie glücklich geboren sei; es
ist jenes Programm, woran die Partei angeblich unverändert und ohne Wanken
festgehalten hat, 1861^1889, achtundzwanzig Jahre laug, und zwar achtund¬
zwanzig Jahre, in denen die ganze übrige Welt unendlich Vieles und unendlich
Großes erfahren und gelernt hat. Der Inhalt dieses Programms darf daher
als bekannt vorausgesetzt werden; er ist übrigens derartig, daß, abgesehen von
wenigen Schlagwörtern, wie „Trennung des Staates von der Kirche," „zwei¬
jährige Dienstzeit" u. s, w., mich jeder Patriot dieses Schriftstück ohne viele
Bedenken hätte unterschreiben können. , Das ist aber erfahrungsmäßig bei den
meisten Parteiprogrammen der Fall; trenn man nur ihren Wortlaut betrachtet,
so können meist die Anhänger der verschiedensten Parteien sich darauf einige».
Aber es kommt darauf an, wie ein Programm ausgelegt, und besonders wie
es ausgeführt wird. (Jo-ze, 1» ton «im Me I» musicius, sagen die Franzosen.
Gewissermaßen eine Ergänzung zu jeuer ersten Veröffentlichung bildete der
Aufruf des Zentralwahlkvmitees der Fortschrittspartei, der am 29. September
desselben Jahres erschien. In diesem wird zwar eutschiedner gegen die
„absolutistisch-aristokratische Partei, die sich die konservative nennt" Stellung
genommen, gegen die „die große liberale Mehrheit des Landes einig zusammen¬
stehen" werde. Die Bezeichnung „Fortschritt" mied man damals in Wahl¬
aufrufen möglichst, ebenso wie heutzutage die Erben dieser Partei in solchen
Schriftstücken den Nnsdrnck „Freisinn" nur höchst ungern anwenden. -Aus
der Haltung des Schriftstückes konnte man jedoch sonst keinerlei Schluß ziehen
auf die Haltung, die die neue Partei einnehmen, auf die politische Thätigkeit,
die sie entfalten würde, eine Thätigkeit, die achtnndzwnnzig Jahre lang zur
Genüge und unwiderleglich für jeden, der fehen kaun und Null, gezeigt
hat, daß die Partei hervorgegangen ist ans „dem Geiste, der stets verneint."
Sonst freilich hat sie damals von dem Mephistopheles, den uns Goethe vor¬
führt, durchaus nichts an sich gehabt; namentlich bildete sie niemals
Einen Teil der Kraft,
Die stets das Böse will, und stets das Gute schasst.
Daß sie Böses gewollt hätten, wenigstens mit Bewußtsein, wolle» wir
den einseitigen, verrannteil Doktrinären, für die nur ihre Theorien, nicht aber
die großen Lehren der Geschichte vorhanden waren, und denen daher jegliches
richtige Urteil über weltbewegende Fragen völlig abging, alles hier nicht nach¬
sagen'. Daß die Partei aber jemals etwas Gutes für Preuße» oder für
Deutschland geschafft» habe, das werde» selbst ihre eifrigsten Allhänger nicht
behaupten wollen; nach ihrer Meinung hat das freilich nnr die gegenüber¬
stehende feindliche Macht, die „Reaktion", verhindert. spottweise hat man
Wohl gesagt, der einzige wirkliche Nutzen, den der „Fortschritt" seinem Vater-
lande gebracht habe, habe darin bestanden, das; er dnrch seine maßlosen und
wüsten Schreiereien und Hetzereien im Auslande, und besonders in Österreich
und den größer» deutschen Vundesstaateu den Glauben hervorgerufen habe,
daß der Staat des Großen Kurfürsten und des Großen Königs, der Staat
der Befreiungskriege dnrch den „.Konflikt" wirklich gelähmt und machtlos sei.
Die Feinde des alten Preußens bildeten sich eil?, daß hinter diesem laut
Prasseluden Strohfeuer doch much eine wirkliche Kraft stecken müsse, und dieser
Irrtum sollte ihnen verhängnisvoll werden.
(Fortsetzung folgt)
prachliche Dummheiten - so würden von tausend Menschen
jetzt neunhnndertneunundneunzig dafür schreiben, und da hätten
wir gleich eine, eine der schlimmsten und dümmsten. Während
man sich ans der einen Seite nicht schellt, die fürchterlichsten
Wortungeheuer zu bilden, wie Inangriffnahme, Inbetrieb¬
setzung, Außerachtlassung, Zurdispvsitionsstelluug, geht mau auf der
andern Seite so guten, tadellosen Zusammensetzungen aus dem Wege, wie Nechts-
v e r h ältnis, Staatsvc r in vgen, Kriegsereignisse, Fa es unterri es t,
G ewe r b e s es u l e n, Bergbauinteresseu, G e s a u g s v o r t r ä g e, Frauen es o r,
F i g n renschm >l et, Winterlands es äst, A b e u dbeleu es t un g, N a es tge -
speuster, Farbenstimmnng, Regentage, Gartenanlagen, Studenten-
nufführung, und schwatzt statt dessen von rechtlichem Verhältnis, staat¬
lichem Vermögen, kriegerischen Ereignissen, sachlichen Unterricht, gewerb¬
lichen Schulen, bergbaulichen Interessen, gefänglichen Vorträgen, weiblichem
Chor, figürlichen Schmuck, winterlicher Landschaft, abendlicher Be-
leuchtung, nächtlichen Gespenstern, farblicher Stimmung, regnerischen Tagen,
gärtnerischen Anlagen und studentischen Aufführungen! Überall drängen
sich diese grelllichen Adjektivn ein, auch da, wo man früher den Genetiv eines
Substantivs oder eine Präposition mit dein Substantiv oder — ein ganz
einfaches Wort gesetzt hätte; man redet von prinzlichen und kcvnprinzlichen
Kindern, behördlicher Genehmigung, gedanklicher Großartigkeit, gegnerischen
Vorschlägen, zeichnerischen Mitteln, stecherischer Technik, neusprachlichem
Unterricht, gemischtchörigcn Quartetten, stimmlicher Begabung, textlichem
Inhalt, baulicher Umgestaltung, während man früher Kinder des Kron¬
prinzen, Genehmigung der Behörden, Großartigkeit der Gedanken, Vor¬
schläge des Gegners, Mittel der Zeichnung, Technik des Stechers,
Unterricht in den neuern Sprachen, Quartett sür gemischten Chor,
Stimme, Text, Umbau sagte. Auch die Fremdwörter werden schon in diese
Strömung mit hineingezogen und statt zusammengesetzter Wörter Adjektivs mit
fremden Endungen gebraucht; schon heißt es nicht mehr Religionsunterricht,
Kulturfortschritt, Alpenflora, Solo- Chor- und Orchesterkräfte,
sondern religiöser Unterricht, kultureller Fortschritt (scheußlich!), alpine
Flora, solistische, choristische und orchestrale Kräfte. Wie lange wirds
noch dauern, so reden wir nicht mehr von Sommer- und Winterhosen,
Alpenhütten und Negententugendeu, sondern von sommerlichen und
winterlichen Hosen, alpinen Hütten nud regentischen Tugenden!
Was soll die Neuerung? Soll sie der Kürze dienen? Einige der ange¬
führten Beispiele scheinen dafür zu sprechen. Aber die größte Anzahl spricht
doch dagegen, man könnte viel eher meinen, sie solle den Ausdruck ver¬
breitern. In der That kreuzen sich diese beiden Neigungen in unsrer heu¬
tigem Schriftsprache in der wunderlichsten Weise. Auf der einen Seite schrickt
mau vor den ärgsten Sprachfehlern, ja Sprachroheiten nicht zurück, nur um
kurz wegzukommen, auf der andern zerrt man den naheliegenden einfachen Aus¬
druck in geschmackloser Weise breit, nur um recht wichtig und gravitätisch ein-
herzutrotten. Mau fragt wohl vergebens nach einem vernünftigen Grunde,
durch den sich die plötzlich erwachte Vorliebe für alle möglichen und unmög¬
lichen Adjektivbildungeu erklären ließe: es ist eben eine Modedummheit, wie
es deren jetzt so viele in unsrer Schriftsprache giebt. Wenn so etwas einmal
in der Luft liegt, so steckt es heute hier und morgen dn an; ob das neuge¬
schaffene nötig, richtig, schön sei, darnach fragt niemand, Wenns nur neu ist!
Um der Neuheit willen schlägt man sogar gelegentlich gerade den entgegen¬
gesetzten Weg ein. Hätte man bisher Silberhochzeit gesagt, so kaun man
sicher sein, daß sich über kurz oder lang Narren finden würden, die von nun
an silberne Hochzeit sagten; da es aber bis jetzt silberne Hochzeit geheißen
hat, so finden sich natürlich uun Narren, die gerade deshalb jetzt von Silber¬
hochzeit schwatzen.
Die Adjectiva auf --lich bezeichnen eine Ähnlichkeit; -—lich ist dasselbe
wie Leiche, es bedeutet den Leib, die Gestalt, die Art. Königlich ist, was
die Gestalt, die Art oder das Wesen eines Königs hat. Will man das mit
den kronprinzlichen Kindern sagen? Gewiß nicht. Man meint doch die Kinder
des Kronprinzen selber nud uicht bloß krvupriuzenartige Kinder. Die Adjek¬
tiv« auf —isch haben vielfach einen schlimmen Sinn; man denke an weibisch
»eben weiblich, kindisch neben kindlich, herrisch neben herrlich, abgöttisch
»eben göttli es, sklavis es, b ü b i sah, diebis es, bnhlerisch, mörderis es, v e r -
brechcrisch. Hat an» denn alles Gefühl hierfür verloren, daß man gärt¬
nerisch, zeichnerisch, stecherisch bildet? Und denkt man gar nicht daran,
daß studentische Aufführung in Wahrheit etwas ganz andres bedeutet als
eine von Studenten veranstaltete Theatervorstellung, nämlich studentisches Be¬
tragen, und zwar im schlimmen Sinne? Und umgekehrt: fühlt man gar nicht, daß
bei der silbernen und der goldnen Hochzeit das silbern und golden nur
ein schönes Gleichnis ist, wie beim silbernen und beim goldnen Zeitalter?
und daß dieses schöne Gleichnis durch Silberhochzeit sofort zerstört und die
Vorstellung in plniuper Weise auf — das Silber gelenkt wird, das das Jubel¬
paar in ' Gestalt von Bechern, Tafelaufsätzen und dergleichen als Geschenk
erwartet? Oder wollen wir vielleicht in Zukunft auch vom Gvldzeitalter
reden? Und endlich: hat man denn gar kein Ohr für den häßlichen Klang
vieler, ja der der meisten dieser neugeschaffenen Adjectiva?
Hie und da glaubt man wohl einen triftigen Grund für die Neubildung
zu entdecken. Der Chvrdirettvr oder der Rezensent, der zuerst von einem Terzett
für weibliche Stimmen anstatt von einem Terzett für Frauenstimmen ge¬
sprochen hat, hatte sich gewiß überlegt, daß unter den Sängerinnen auch junge
Mädchen sein könnten. Und der Ratsgärtner, der seiner Behörde zuerst einen
Plan zu gärtnerischen Anlagen am Theater vorlegte, hatte sich gesagt, daß
ein eigentlicher Garten, d. h. eine von einem Zaun oder Geländer umschlossene
Anpflanzung, nicht geschaffen werden solle. Aber bedeutet denn Frau, wo
es sich um die bloße Gegenüberstellung der Geschlechter handelt, nicht auch das
Mädchen mit? Kann sich ein junges Mädchen beleidigt fühlen, wenn mau
es einladet, einen Frauenchvr mitzusingen?^) Und können denn nicht Garten¬
anlagen auch Anlagen sein, wie sie in einem Garten sind? müssen sie immer
in einem Garten sein? Gärtnerische Anlage würde ich einem Jungen
wünschen, der Lust hätte, Gärtner zu werden, wiewohl mirs auch dann noch
lieber wäre, wenn er Anlage zum Gärtner hätte. Nein, diese Begrün¬
dungen sind ganz hinfällig. Wenn die große Masse gedankenlos an der Sprache
ändert, so werden schon Dummheiten genug fertig; wenn sie aber gar anfängt,
mit Nachdenken und ans Gründen zu ändern, dann wirds womöglich noch
schlimmer. Denn dazu sehlt der großen Masse in der Regel eins vollständig:
Kenntnis der Sprache lind ihrer Gesetze.
Es, ist traurig, zu sehe», wie in unserm heutigen Schriftdeutsch die Un¬
sicherheit, die Fehlerhaftigkeit und die Geschmacklosigkeit im Zunehmen begriffen
sind. Es vergeht kein Monat, ja fast keine Woche, wo nicht neue Verstöße
auftauchten, die man früher nie gelesen zu haben sich erinnert. Kaum aber
sind sie da, so greifen sie riesenschnell um sich, niemand fragt nach ihrer Be¬
rechtigung, niemand bekämpft sie, in kurzem haben sie sich festgesetzt, und das
Richtige und Gute ist wie verschüttet lind begraben. Auch solche, die den Fehler,
wenn er sich zum erstenmale hervorwagt, peinlich empfinden, denen es fast weh¬
thut, wenn sie ihn zum erstenmale lesen, werden, wenn sie ihn öfter hören und
sehen, in ihrem Sprachgefühl erschüttert, werden unsicher und allmählich stumpf
dagegen. Unbegreiflich ist es, daß man diese Beobachtung selbst an gescheiten,
ja geistvollen Leuten machen muß, noch unbegreiflicher, daß man sie machen
muß an hochbejahrten Leuten, von denen man glauben sollte, daß ihr Sprach¬
gebrauch einen fest abgeschlossenen Kreis darstelle, in den so leicht keine schlimme
Neuerung Eingang finden könne. Als das dumme Wort selbstredend auf¬
kam (für selbstverständlich), brauchte es einmal in der Unterhaltung mit mir
ein Mann nahe den Siebzigern. Ich sprach ihm bescheiden meine Verwunderung
darüber aus. Was erwiderte er? Er wisse gar nicht, daß er das Wort ge¬
braucht habe! Wenn einem vor dreißig Jahren ein Ausdruck hätte wollen in die
Feder laufen, wie die stattgefundene Versammlung, die Feder hätte sich
dagegen gesträubt, auch beim eiligsten Schreiben, man wäre rot geworden,
hätte sich einen Augenblick besonnen und dann geschrieben, wie es einzig richtig
ist: die einberufene Versammlung, die veranstaltete Versammlung, die
abgehaltene Versammlung, kurz ein wirkliches Passiv, wie es das xartieixinm
vonjnnewm erfordert. Heute ist alle Scham dahin. Die Zeitungen wimmeln
von stattgefundenen Bersaimnlungen, Beratungen, Verhandlungen, Abstim¬
mungen, und Professoren und „erste" Schriftsteller Schreibens schamlos nach.
Noch keine fünf Jahre ist es her, daß ich in einer Konzertanzeige einer der vor¬
nehmsten deutschen Konzertgesellschafteu zum erstenmale den gemeinen Schnitzer
las: Am Donnerstag, den 21. Oktober, während man bis dahin richtig gesagt
hatte: Donnerstag, den 21. Oktober. Heute schreiben bereits alle Zeitungen
so. Man sollte denken, für jeden, der nicht in völligen Sprachstumpfsinn ver¬
sunken ist, müßte eine solche Zusammenschweißuug von Accusativ und Dativ
wie ein Schlag ins Gesicht sein. Bewahre, mau hält das jetzt offenbar für
eine besondre Feinheit, das Richtige ist vollständig vergessen und verloren.
Ich gehe eine Wette mit ein. Man nehme aus dem Schaufenster einer
Buchhandlung ein beliebiges neu erschienenes, in deutscher Prosa geschriebenes
Buch, gleichviel, welches Inhalts, gleichviel, von wem verfaßt, von einem Nni-
versttätsprvfessor, einem Schulmann, einen: unsrer „führenden" Schriftsteller,
unen Juristen, einem Baumeister, einem Musiker, einem, Techniker, einem Fa¬
brikanten, einem Blaustrumpf; mau schlage mirs auf, wo man will, und
setze den Finger hinein: in einem Umkreise von zehn Zentimetern um die Finger¬
spitze mache ich mich anheischig mindestens einen gruben Schnitzer und eine ganze
Anzahl von Geschmacklosigkeiten nachzuweisen, und Märe es auch nur das ewige
kanzlisten- und reportermäßige derselbe, dieselbe, dasselbe (für er, sie,
es) und das ewige Schulknaben- und schulexerzitieuhafte welcher, welche,
welches (für der, die, das). Wer sich noch Gefühl für Richtigkeit, Reinheit
und natürliche Schönheit der Sprache bewahrt hat, ist kaum noch imstande, in
einen: neu erschienenen Buche ein paar Seiten hinter einander ohne Verdruß
zu lesen. Ich bekomme im Laufe einer Woche Hunderte von neuen Büchern
zu Gesicht: wie oft siud gleich die Titelblätter grammatisch falsch, die Titel¬
blätter, auf deren Abfassung doch sicherlich eine gewisse Sorgfalt verwendet
wird! Ach, und wenn man nun erst aufschlägt und zu lesen anfängt: wohin
man blickt, Fehler, Unbehvlfenheiten, Breite, Schwulst, Modewörter und Mode¬
phrasen, Tintendeutsch, papierner Stil, Kanzleistil, Zeitungsstil. Zeitungsstil —
das ist es! Zeitungsdentsch ist unser gesamtes heutiges Schriftdeutsch. Das deutsche
Volk schreibt nur noch Zeitungsdeutsch. Der Professor schreibt es — er weis;
es gar nicht; der Rvmanschriftsteller schreibt es — er weiß es ebenso wenig;
der Parlamentarier, der Wanderredner, der Vereinsvvrsitzende — sie alle sprechen
es und haben keine Ahnung davon. Oder haben sie eine? Sprechen sie
vielleicht für die Zeitung? Sprechen sie so, wie sie, wenn sie gesprochen haben,
sich gedruckt zu sehen wünschen? Die Zeitnngssprnche mit all ihren Fehler»,
Lüderlichkeiteu und Geschmacklosigkeiten ist unaufhaltsam, namentlich seit den
sechziger Jahren, in unser Schriftdeutsch eingedrungen. Ein Wunder ist es
nicht. Der größte Teil der Menschen liest ja nichts andres mehr als Zeitungen.
Ein Buch, vollends ein älteres Buch, aus der Zeit, wo gutes, ja wo das beste
Deutsch geschrieben wurde, aus der Zeit etwa von 1780 bis 1830, nehmen
die wenigsten noch in die Hand. Thun sie es ja, so merken sie den Unterschied
gar nicht, den himmelweiter Unterschied! Und doch hat der elendeste Noman-
fabrikant ans dein Ende des vorigen und dem Anfange dieses Jahrhunderts
besseres Deutsch geschrieben, als alle unsre gefeierten Tagesgrößen. Auch auf
dein lumpigsten Journalartikel aus dem Jahre 1810 oder 1820 liegt noch ein
Abglanz von der Sprache unsrer großen klassischen Periode. Für einen Menschen
mit feinerem Sprachgefühl ist es eine Wonne, in Büchern und Zeitschriften ans
jener Zeit zu blättern, eine Qual, von dort ans zu heutigen Büchern und Zeit¬
schriften z ur untz u kehre u.
Schreiben ist eine Kunst, aber leider ist es die Kunst, die — wenigstens
heutzutage — niemand lernen zu brauchen, die jeder mit auf die Welt zu
bringe,: glaubt. Eine dunkle Ahnung davon, daß Schreiben eine Kunst sei,
hat freilich jeder, auch der Ungebildetste. Der kleine Handwerker oder Ge¬
schäftsmann, der sich zurechtsetzt, nur eine Anzeige für die Zeitung zu drechselu,
das Dienstmädchen, das die Vorbereitungen zu einem Liebesbriefe trifft, sie
fühlen, daß sie sich dabei zusammennehmen müssen, daß sie vor einer gewissen
Aufgabe stehen, die eigentlich nicht ihre Sache sei. Wallte man sie fragen,
worin sie diese ungewöhnliche Aufgabe erblickten, so würden sie vielleicht ant¬
worten, daß man „doch nicht so schreiben könne, wie man spricht." Jeder
hat denn auch gewiß den redlichen Willen, seine Sache so gut und schön als
möglich zu machen. Denn das ist klar: absichtlich schreibt niemand falsch oder
häßlich, absichtlich giebt sich niemand Blößen, jeder macht eS so gut, wie er
kaun; aber so, wie ers gemacht hat, halt ers dann auch für gut und tadel¬
los. Mit diesem guten Willen ist es aber eben nicht gethan. Seine Mutter¬
sprache richtig und schön zu brauchen, dazu bedarf es einer gar nicht unbe¬
trächtliche« Menge von Kenntnissen. Aber nicht nur daß die allerwenigsten
hente diese Kenntnisse haben, die meisten wissen gar nicht, daß diese Kenntnisse
nötig sind, und wie viel ihnen davon fehlt. Wenn in einer Gesellschaft von
zehn Personen die Aufgabe gestellt würde, mit dem Bleistift ein Bild zu
zeichne», ein ganz einfaches Bild (etwa wie ein paar Jungen uns der Straße
sich balge», oder wie zwei um Tische sitzen und sich bei einer Flasche Wein
unterhalten, oder etwas noch einfacheres: ein Pferd, einen Hund, einen Baum,
eine Rose), so würden die meisten Anwesenden sicherlich sofort ihre Unfähigkeit
eingestehe»: Zeichnen habe ich nicht gelernt, würden sie alle sagen. Wenn aber
die ganze Gesellschaft Scherzes halber doch ein und denselben Gegenstaud oder
Vorgang n»fs Papier brächte, »»d die Zeichnnngett dann von Hand zu Hand
gingen, so würde immer einer den andern auslachen, denn alle können be¬
urteilen: so sieht ein Hund, ein Pferd nicht ans, so sehen noch viel weniger
ein paar Meuscheu aus, die am Tische sitzen und sich unterhalten; sie Nüssen
alle recht gut, daß man, um so etwas zeichnen zu können, etwas ganz be¬
stimmtes gelernt haben muß, was sie alle mit einander nicht gelernt haben.
Wenn dagegen in derselben Gesellschaft die Aufgabe gestellt würde, über irgend
ein einfaches Thema (etwa über ein Theaterstück, das sie alle am Abend zuvor
gesehen haben, oder über die Frage: Wie schützt man sich vor Erkältung?)
ans einer Quartseite seine Gedanken niederzuschreiben, so würde gewiß nicht ein
einziger darunter sein, der das nicht sehr gut und schön leisten zu können
glaubte. Daß das eben so gut gelernt werden muß wie einen Hund zu
zeichnen, daß es an sich nicht schwerer und — nicht leichter ist als jenes, und
daß sie es höchst wahrscheinlich alle mit einander eben so wenig gelernt
haben wie einen Hund zu zeichnen, dessen sind sich die guten Leute nicht be¬
wußt. Wem, dann die beschriebenen Quartblätter herumgingen und einer den
andern beurteilte, so würden sie alle gegenseitig ihre kleinen Aufsätze wahr-
scheinlich ganz wundervoll finden. Jeder würde vielleicht in den Aufsätzen der
andern einige Stellen bemerke», die er anders schreiben würde, es würde zu
einem lebhaften Meinungsaustausch, vielleicht zu heftigem Streit kommen —
denn das Interesse an der Sprache und ihren Erscheinungen ist in alleu Kreisen
ebenso lebendig wie anderes Kunstinteresse auch - ^ aber belehren, überzeugen
würde keiner den andern, denn meist ist einer so unwissend wie der andre.
Da wendet man sich dann — der Fall ist gnr nicht selten — an die Redaktion
des Ortsblüttchens, die muß es ja wissen, und die schlichtet denn mich vom.
Dreifuße herab den Streit in ihrem „Briefkasten." Aber wie! — Daß zu den
zehnen, die da beisammen saßen, ein elfter kommen könnte, der ihre zehn
Quartseitcn genau so stümperhaft und lächerlich fände, wie sie selbst unter
einander die gezeichneten Hunde und Pferde gefunden hatten, das kommt ihnen
nicht in den Sinn; Reden und Schreiben, zum Kuckuck! das haben sie doch alle
gelernt.
Aber auch Leute, die täglich von Berufs wegen mit der Feder zu thun
haben, haben oft keine Ahnung davon, was sie selbst und andre für Pfuscher
sind. Einige unsrer beliebtesten Modeschriftsteller der letzten zwei Jahrzehnte
hätten schon wegen der Sprachmißhaudluug, die sie sich fort und fort zu schulden
kommen lassen, nicht zu der Stellung gelangen dürfen, die sie einnehmen. Aber
wo liest man jemals in Kritiken eine Bemerkung über die Darstellungsweise,
die Sprache eines Schriftstellers? Auch das war früher anders. Wer Journale
aus dem Ende des vorigen und noch ans den ersten fünfzig Jahren unsers
Jahrhunderts kennt, wird Nüssen, daß damals in den Kritiken meist anch die
Sprache eines Buches beurteilt, daß besonders gelungene oder besonders fehler¬
hafte Stellen herausgehoben wurden. Obwohl damals im allgemeinen besser
geschrieben wurde als heute, es viel mehr Leute gab als heute, die richtig und
schon schreibe» konnten, wurde doch viel strenger über der Sprache gewacht,
es gab auch viel mehr Leute, die es beurteilen konnten, ob ein Buch gut ge¬
schrieben war oder nicht. Heute liest man auch bei dem schlechtesten, ich meine
dem schlechtest geschriebenen Buche höchst selten einmal ein Wort über die Dar¬
stellung. Alle Welt begnügt sich mit dem Inhalt. Ganz natürlich; der Re¬
zensent kann meist selber nicht beurteilen, wie schlecht das Buch geschrieben ist.
Gar nicht selten ist es mir sogar begegnet, daß in Vücherbesprcchuugen einzelne
Stellen als Proben besonders schöner Darstellung abgedruckt waren, die für
mich gerade ausreichte«, die Bücher uicht zu lesen. Spricht wirklich einmal
ein sprachkundiger Rezensent offen einen Tadel ans, was geschieht dann? Der
Verfasser des Buches schreit über Pedanterie, Schulmeister«, erklärt Verstöße
gegen die grammatische Regel und den guten Geschmack, die ihm nachgewiesen
werden, als seine stilistische „Eigenart" — so heißes jetzt fein für Eigentüm¬
lichkeit —, die er sich nicht antasten und verkümmern lasse. Daß es eine sehr
deutliche, gar uicht zu verkennende Grenzlinie giebt ebenso zwischen Ordnungs-
uud Schönheitssinn und Pedanterie wie zwischen Lüderlichkeit und künstlerischer
Freiheit, davon will man nichts hören. Schnlknabenschnitzer und — stilistische
„Eigenart"! Alle diese Sprachstümperei aber findet sich um bergehoch anf-
gehcinft in unsrer Zeitungssprache. Zum Zeitungsgewerbe drängt sich ja alles,
was anderwärts Schiffbruch gelitten hat. Noch nie in meinem Leben habe ich
gehört, daß ein deutscher Junge auf die Frage: Was willst du werden? ge¬
antwortet hätte: Ich will Zeitungsschreiber werden. Ein Judeujunge vielleicht.
Jedenfalls ist in keinem Gewerbe der Welt das Stümpertnm so in der Mehr¬
heit wie im Zeitungsgewerbe. Verpfuschten Studenten aller Fakultäten, fort¬
gejagten nichtsnutzigen Gymnasiasten, grünen Burschen, die nichts, gar nichts
gelernt haben, am wenigsten eine Zeile anständiges Deutsch schreiben — wo
begegnet man ihnen später wieder? Bei einer Zeitung. Ach, und erst in der
kleinen Ortspresse, die der Drucker und Verleger selber zusammenstöppelt, in
der unendlich verzweigten kleinen Fachpresse, die von Handwerkern und Gewerb-
treibenden mit kümmerlicher Volksschulbilduug geschrieben und redigirt wird —
was wird dort für ein Deutsch verbrochen! Und dazu nun das Elend, daß
gerade die verbreiterte Tagespresse zum großen Teile von Leuten geschrieben
wird, die einem fremden Volksstamm angehören, die entweder selbst oder deren
Väter wenigstens das Deutsche nicht als ihre Muttersprache erlernt habe»,
denen also, so flink sie sich auch, wie in alles, in die Anfangsgründe der deutschen
Grammatik hineingefnnden haben, doch das echte deutsche Sprachgefühl abgeht
und die infolge dessen fortwährend mit demAnsdrnck danebentappen, zwei Redens¬
arten verquicken, die Sprache mit falschen Analogiebildungen überschwemmen;
dazu das weitere Elend, daß ein großer Teil unsrer Zeitungsnachrichten nichts
als schlechte Übersetzungen aus ausländischen Zeitungen sind, voll denkfaul
aus den fremden Sprachen herübergenvinmener undeutscher Wendungen, endlich
daß ein großer Teil des Textes unsrer Zeitungen einfach mit Schere und
Kleister aus der österreichischen Tagespresse herübergenommen ist, unverändert
lind mit all jenen Greueln, die man als „Austriazismen" bezeichnet (mau denke
an beiläufig ^bailaifigj statt ungefähr, obzwar statt obgleich, neuer¬
dings statt von neuem, nur mehr statt uur noch, im vorhinein statt
von vornherein, benötigen statt bedürfen, um den entsetzlichen Gebrauch
von jeuer statt der vor einem Genetiv, an das entsetzliche kausale nachdem,
die entsetzliche Umschreibung des OonMicUvus Imxortöoti in Wunsch- und Be-
dingnngssätzen durch würde u. ahnt.) — da hat man die Bestandteile und Zu¬
thaten, aus denen sich die deutsche Zcitnngssprache, jetzt die größte Macht — der
Zeitungsschreiber würde fügen: der „mächtigste Faktor"! — auf dem Gebiete
unsrer Sprache überhaupt, zusammensetzt.
Was zur Bekämpfung dieses traurigen Zustandes geschieht, ist herzlich
wenig. Unsre Witzblätter haben eine besondre Rubrik eingerichtet, worin sie
grobe Sprachverstöße aus neuen Büchern, aus der Tagespresse, aus Bekannt¬
machungen von Behörden und Geschäftsleuten an den Pranger stellen. Das
ist gewiß sehr löblich. Aber was für ein winziger Bruchteil wird damit
getroffen! Und dann: es sind gewöhnlich Sätze, die einen unbeabsichtigten
komischen Sinn ergeben, die da herausgegriffen werden, oder vereinzelt vor-
kommende ganz aparte Dummheiten, die niemand so leicht nachahmen wird.
Aber wer stellt die zahllosen Schnitzer an den Pranger, die gar nicht komisch
wirken, sondern nur ärgerlich, die zahllosen Abgeschmacktheiten, die alle Welt
jetzt für schon hält?
Vor einigen Jahren hat sich in Deutschland ein „Allgemeiner deutscher
Sprachverein" gebildet, der sich die Reinigung unsrer Sprache von entbehr¬
lichen Fremdwörtern zur Aufgabe gestellt hat, bereits Tausende von Mit¬
gliedern zählt und seine eigne Zeitschrift herausgiebt. Als die Gründung
dieses Vereins angeregt wurde, machten verschiedene Leute darauf aufmerksam,
daß, so wünschenswert es auch sei, einen Verein mit einem solchen Ziel ins
Leben zu rufen, doch eine andre Aufgabe mindestens ebenso dringend, ja
vielleicht noch dringender sei: die Aufgabe, der immer mehr zunehmenden
grammatischen und stilistischen Verwilderung unsrer Sprache zu steuern. Ob
ein Ladendiener lieber prinzipiell und momentan sagt statt grundsätzlich
und augenblicklich, ein Professor lieber Publikation, Argumentation,
Kontroverse, Resultat, Analogie, identisch, irrelevant, pvlemi-
siren sagt statt Veröffentlichung, Beweisführung, Streitfrage, Er¬
gebnis, Ähnlichkeit, übereinstimmend, unwesentlich, bekämpfen,
darauf kommt nicht gar so viel um, denn das entstellt nnr das Kleid
unsrer Sprache, nicht ihren Leib. Wirft man die fremden Wörter aus dem
Satze hinaus und setzt dafür die deutschen ein, so kann der Satz im übrigen
meist unverändert bleiben. Viel schlimmer sind z. B. die undeutschen Nach¬
ahmungen syntaktischer Erscheinungen aus fremden Sprachen. Welche
Fortschritte hat infolge der niederträchtige» Franzosennachäsferei der Genetiv-
schwnnd in unsrer Sprache schon gemacht! Die Anfänge des Mißbranches
liegen freilich weiter zurück (man denke an Ausdrücke wie Universität
Leipzig, Zirkus Renz, Villa Rolle, Cnfv Bauer), aber einen ge¬
radezu beängstigenden Umfang hat er doch erst in neuester Zeit angenommen.
Wie selten hört man noch einen vernünftigen Genetiv, wie Zinggs Hotel,
Schneiders Nachfolger! Alle Welt plärrt jetzt, die Franzosen nachäffend
(c,Kovc>ig,t, Kuelmrä und ähnliches), vom Antrag Richter, vom Fall Hume,
vom Hotel Hauffe, von der Direktion Stägemann, vom SnalBlüth-
ner, vom Konzert Arthur Friedheim, von der Bibliothek Julius
Krone u. s. w. Sogar die Bauern reden schon nicht mehr von der Zwen-
tauer Mühle, sondern von der Mühle Zwenkau. In Leipzig verschenkt
man Gose Nickau — was ist Nickau? Ist es der Ort, wo dieser edle Trank
gebraut wird? Oder heißt der Brauer so? Deutsche Buchhandlungen und
Knnstanstalten schämen sich nicht, auf ihre Verlagswerke solchen Unsinn zu
setzen, wie Richard Eckstein Nachfolger, Ferdinand Ohlmann Ver¬
lagsbuchhandlung, Kunst- und Lichtdrnclanstalt Stengel und Mar¬
tert, und ähnliches. Solche Fremdwendnngen sind viel schlimmer als alle
Fremdwörter, denn sie zerstören geradezu den Organismus unsrer Sprache.
Der Begründer des Sprachvereins sah sich denn auch genötigt, dem mehr¬
seitiger Drängen nachzugeben und die Aufgabe des Vereins in dem angedeuteten
Sinne zu erweitern. Daß er aber doch kein rechtes Verständnis hatte für das, was
die andern eigentlich wollten, zeigt die verschwommene und nichtssagende Fassung,
in der die Wünsche der andern nachträglich in die Satzungen des Vereins
hineingebracht wurden. Die Bestimmungen über den Zweck des Vereins lauten
wörtlich folgendermaßen: „Der Zweck des Allgemeinen deutschen Sprach¬
vereins besteht darin: g.) die Reinigung der deutschen Sprache von unnötigen
fremden Bestandteilen zu fördern; d) die Erhaltung und Wiederherstellung
des echten Geistes und eigentümlichen Wesens der deutschen Sprache zu pflegen."
Erhaltung und (!) Wiederherstellung des echten Geistes (!) und (!) eigentüm¬
lichen Wesens (!) der deutscheu Sprache — damit soll der Kampf gegen die
grammatische Verwilderung unsrer Sprache bezeichnet sein! Wer von der
Notwendigkeit dieses Kampfes eine Ahnung hat, der drückt sich deutlicher aus.
Thatsächlich hat sich denn auch die Thätigkeit des Sprachvereins und seiner
Zeitschrift bisher fast nur auf die Reinigung der Sprache von Fremdwörtern
erstreckt, so einseitig, daß es kein Wunder ist, wenn matt gelegentlich Leute
trifft, die der Meinung sind, es gebe in Deutschland einen Verein, der
sich die erhabene Aufgabe gestellt habe, aus der deutschen Speisekarte die
französischen Wörter zu verdrängen, insbesondre endlich einen geeigneten Aus¬
druck für das Wort Sauce zu finden; etwas andres haben sie, als Ferner¬
stehende, von dem Verein nie gehört. Was der Verein für die „Erhaltung
und (!) Wiederherstellung des echten Geistes" unsrer Sprache bisher gethan
hat, ist wenig und wird auch wenig bleiben, solange die jetzige Leitung besteht.
Das zeigen am deutlichsten die zahlreichen von der Leitung selbst ausgehende»
Schriftstücke, die zwar fremdwörterfrei, dabei aber mit allen Zierraten des
Kanzleideutsch versehen sind und deshalb z. B. in dem Zweigverein, dem ich
anzugehören die Ehre habe, stets eine gewisse Heiterkeit erregen. Nein, auch
vom Sprachverein und von seiner Zeitschrift ist für das, was mir hier am
Herzen liegt, zunächst wenig zu erwarten.
(Fortsetzung folgt)
erüchte, die sich zuerst in Handelskrisen verbreiteten, haben sich
jetzt als Wahrheit erwiesen. In Rio Janeiro ist eine Revolution
ausgebrochen, und das Kaisertum Brasilien steht im Begriff, sich
in eine Republik zu verwandeln. Die Umwälzung begann Freitag
den 15. November mit einem Militäranfstaud und einem Angriff
auf den Marineminister und entwickelte sich dann rasch in ein Zusammenbrechen
der bestehenden Staatseinrichtungen, wie wir es in den letzten Jahrzehnten
wiederholt in slldamerikanischen Ländern vor sich gehen sahen. Die gesamte
Garnison der Hauptstadt schloß sich der Meuterei ihrer Kameraden an, das
Ministerium dankte ab, um einer provisorischen Regierung Platz zu macheu,
die nichts Eiligeres zu thun hatte, als zunächst den Staatsrat hinwegzuschaffen
und ihm dann die Monarchie folgen zu lassen. Der Kaiser wurde sür abgesetzt
erklärt, sollte indeß „mit der äußersten Rücksicht behandelt werden" — eine
schon deshalb selbstverständliche Sache, weil Dom Pedro der Zweite und voraus-
sichtlich Letzte in seinen weiten Gebieten kaum einen persönlichen Feind hat.
Er, der sich beim Ausbruche der Empörung in der nahen Svmmerresideuz
Petropolis befand, leistete keinen Widerstand, sondern fügte sich der Gewalt der
Umstände und schiffte sich zwei Tage später nach Europa ein. So ist bald
wieder Ruhe und Ordnung eingetreten, und es scheint bis auf weiteres dabei
bleiben zu sollen, da berichtet wird, daß der neuen Negierung aus deu Pro¬
vinzen Zustimmungen zu ihrem Thun und Zusagen von Unterstützung zugegangen
sind, auch aus der Provinz Bahia, die anfänglich zweifelhaft erschien. Es
fragt sich jetzt nur, ob die Politiker, die so plötzlich aus Nuder gelangt sind,
sich ihrer Aufgabe gewachsen zeigen und ebensoviel Befähigung als Charakter,
ebensoviel Müßigung und Selbstlosigkeit als Entschlossenheit an den Tag legen
werdeu, und das ist für uns Draußenstehende schwer zu sagen, da wir über
ihre bisherigen Leistungen nicht viel wissen. Doch befindet sich unter
ihnen die gewöhnliche Anzahl von Offizieren, Advokaten und Zeitungs¬
schreibern, die das große amerikanische Festland im Norden nicht minder wie
im Süden zu allen Zeiten für solche Gelegenheiten vorrätig hielt und auf die
politische Bühne treten ließ lauter hvchsiunige Patrioten reinsten Wassers,
allezeit bereit, die schwierigsten Pflichten nuf sich zu nehmen, und fest von
ihrer Fähigkeit überzeugt, ohne viel Vorbereitung und Erfahrung mit gutem
Erfolg sich der Leitung des Heerwesens, der Finanzen oder der auswärtigen
Angelegenheiten des Landes zu unterziehen, dem zu dienen ihr alleiniger Ehr¬
geiz ist.
Die Revolution muß selbst eine» großen Teil der Bewohner vou Rio
Janeiro überrascht haben; denn die dortigen Zeitungen berichteten noch vom
15. Oktober über „patriotische" Kundgebungen, die an diesem Tage bei
der Feier eines dreifachen Festes in der Herrscherfamilie, des Geburtstags der
Kaiserin, der silbernen Hochzeit des kronprinzlichen Paares und des Geburts¬
tages des Sohnes desselben, stattfanden, indem den hohen Herrschaften von
der Kaufmannschaft und verschiednen andern Kreisen Adressen, Fackelzüge
und sonstige Huldigungen dargebracht wurden. Noch mehr aber ist ohne
Zweifel das europäische Publikum von den Ereignissen überrascht worden.
Doch haben Kenner der neuesten Geschichte Brasiliens und der dadurch ent-
standnen Stimmung eines Teils der Bevölkerung dieses Reichs die Wahrschein¬
lichkeit einer Revolution wohl längst erkannt, wenn sie auch vermuteten, sie
werde erst nach dem Ableben des Kaisers Dom Pedro zur Thatsache werden,
dem seine tadellosen Eigenschaften und sein vielfach nützliches Wirken eine
Beliebtheit verschafft hatten, die auch der Dhunstie bis zu einem gewissen
Maße zu gute gekommen zu sein schien. Diese Annahmen haben sich als irrig
erwiesen, weil man dabei die Kraft des militärischen Strebertums unterschätzte,
das die vorhandne Mißstimmung über die Aufhebung der Sklaverei im
Reiche für seine Zwecke ausbeutete und damit Eile hatte. Dieses Strebertum,
ein wichtiger, aber schwer zu berechnender Faktor in der Politik aller mittel-
nnd südamerikanischen Staaten, beschleunigte augenscheinlich den Gang der
Krisis, während anderseits die Natur des Kaisers, seine Denkart, seine Lieb¬
lingsinteressen die Gefahr, der er zuletzt erlag, wo nicht schufen, doch wesentlich
verstärkten. Er war mehr ein Mann des Nachdenkens als des Handelns, ein
lnldnngsdurstiger Gelehrter und ein Menschenfreund, ein Staatsmann aber erst in
zweiter Linie und gar kein Soldat, dem Kriege und seinen Werkzeugen vielmehr >
abgeneigt, sodaß er mit seinen Truppen möglichst wenig verkehrte, möglichst wenig
für sie that nud dadurch die Offiziere allmählich sich entfremdete und der Ver¬
führung zugänglich machte, die in Gestalt ehrgeiziger Generale an sie hinan¬
trat. Hätte er bei der Schwäche der brasilianischen Armee auch nur auf
tnnsend treue, entschlossene und wohlgeübte Soldaten zählen können, so wäre
schon der erste Versuch der Meuterer ohne Zweifel rasch vereitelt worden, man
hätte ein Dutzend der schuldigster Verschwörer ans den Sandhaufen geschickt
und erschossen, und die Sache hätte hingereicht, dem Kaiser bis zu seinem Lebens¬
ende den Thron zu sichern. Pedro der Zweite aber hatte keine treuen Sol¬
daten, und er war nicht der Mann kräftigen Vorgehens gegen Aufrührer, er
war nach seiner Natur und Gewohnheit nur imstande, als anerkannter Herrscher,
als verfassungsmäßiger Monarch zu regieren. Die letzten Ursachen, die seinen
Sturz veranlaßten, sind uns nicht alle bekannt, aber die eine von ihnen
ist vollkommen klar. Es ist die weitverbreitete Unzufriedenheit der brasili¬
anischen Landwirte über die Schwierigkeiten, auf welche die Lösung der Arbeiter¬
frage gestoßen war. Brasilien hat viele Jahre in Blüte gestanden, als Neger¬
sklaven zum Betrieb seiner Pflanzungen verwendet wurden, die sich in dem
tropischen Lande am besten dazu eigneten, und selbst als die Sklaverei, bald
nach dem Kriege mit Paraguay, gesetzlich ausgehoben wurde, traten verderbliche
Folgen der Änderung nicht umittelbar zu tage, da die Befreiung der Schwarzen
eine allmähliche war, d. h. durch das Stadium des Lehrlingsverhältuisses,
halber Unabhängigkeit, hindurch gehen sollte. Wäre diese Zwischenzeit eine
kurze gewesen, so würden sich die Schwierigkeiten der Sache sogleich gezeigt
bilden, aber die Lehrlingsperiode war auf einundzwanzig Jahre bemessen, was,
wie man meinte, reichlich zur Ordnung des Verhältnisses genügte, das künftig
zwischen dem Grundbesitzer und seinen ländlichen Arbeitern bestehen sollte.
Diese Ordnung war jedoch im vorigen Jahre noch weit davon entfernt, her¬
gestellt zu sein, und die Pflanzer hatten allen Grund, in schweren Befürchtungen
dem Ablaufe der Verpflichtungen der schwarzen Lehrlinge entgegenzublicken, der
nach vier Jahren eintreten sollte. Arbeit, sagte man sich, wird dann schwer
und nur mit weit größern Kosten zu beschaffen sein als gegenwärtig. Das
aber wird bei dem jetzigen Stande der Dinge auf den Märkten der Welt den
Plantagenbau unvorteilhaft machen. Hat doch schon der Niedergang der Preise
vieler von den Haupterzeugnissen Brasiliens, z. B. des Kaffees, des Zuckers
und der Baumwolle, die Mehrzahl der Pflanzer verarmen lassen. Die Stimmung,
die sich daraus entwickelt hatte, war natürlich nicht geeignet, Begeisterung für
das Bestehende zu erwecken, und wenn es zu viel behaupten hieße, zu sagen,
die brasilianischen Großgrundbesitzer wären reif für die Revolution gewesen,
so wird man doch nicht zu weit gehen, wenn man annimmt, daß sie nicht
geneigt waren, sich irgendwie anzustrengen, um eine solche mißlingen zu macheu.
Es war daher eine verhängnisvolle Übereilung, wem? man die Sklaverei schon
am 13. Mai vorigen Jahres für aufgehoben erklärte. Fügen wir hinzu, daß
die Staatsschuld und die Steuerlast in den letzten Jahren erheblich gestiegen
sind, und daß der gewaltige materielle Aufschwung, den die Nachbarrepnbliken
Uruguay und Argentinien in der jüngsten Zeit genommen haben, als unbe¬
merkte, aber sehr wirksame republikanische Propaganda sich geltend machen
mußte, so sehen wir mehr als genügende Gründe zu der Unzufriedenheit vor
uns, aus der sich erfolgreiche Revolutionen zu entwickeln Pflegen. Schließlich
ist noch ein Umstand zu beachten: der Mangel des Segens, den alte Dynastien
für die konservative Sache haben. Es gab, als die Empörung ausbrach, kaum
irgendwo in Brasilien eine tiefgehende Anhänglichkeit an das regierende Haus.
Die Pflanze der Loyalität hatte eben noch nicht Zeit gehabt, zu kräftigem
Wachstum zu gelangen, da die Herrscherfamilie der Braganza erst ungefähr siebzig
Jahre den Thron innehatte. Der Staat Brasilien ist erst unter Napoleon I. ent¬
standen. Als dessen Heer Portugal überschwemmte, verlegte der König
Johann der Sechste seinen Sitz nach der Kolonie Brasilien und machte sie zu
einem Teile des portugiesischen Staates. Nach Beendigung der Wirren auf
der pyrenäischen Halbinsel kehrte er 1821 nach Lissabon zurück, indem er die
Regentschaft in seinen amerikanischen Besitzungen seinein Sohne Dom Pedro über¬
trug, der dann, als die dortige Nationalversammlung die Trennung Brasiliens von
Portugal ausgesprochen hatte, 1822 als Kaiser Dom Pedro der Erste den Thron
bestieg. Da er nach der Verfassung nicht zugleich die Krone von Portugal tragen
konnte, so übertrug er diese beim Ableben seines Vaters 1826 seiner Tochter Maria
da Gloria und blieb in Brasilien; doch dankte er hier infolge von Reibungen mit
der Landesvertretung am 7. April 18Z1 zu Gunsten seines damals siebenjährigen
Sohnes ab. Dieser wurde 1840 für volljährig erklärt, worauf er als Pedro
der Zweite die Regierung in Person übernahm und sich am 18. Juni 184t
krönen ließ. Er hat keine Kinder männlichen Geschlechts, und so war seine
Tochter Jsabella bisher Erbin des Thrones, die mit dem Grafen von En,
einem orleaniftischen Prinzen, vermählt ist und während der Reisen ihres Vaters
in Europa und während dessen bekannter langwieriger Krankheit als Regentin
Gelegenheit hatte, sich am öffentlichen Leben zu bethätigen, aber niemals beliebt
war, weil sie indem Rufe stand, es mit der klerikalen Partei zu halten. Diese war
es vorzüglich, welche die vorzeitige Aufhebung der Sklaverei im Mai 1888, wo
sie wieder einmal ihren Vater in der Regierung vertrat, betrieb und durchsetzte.
Die Ratgeber der Krone waren nicht im Unklaren darüber, daß man damit
einen sehr bedenklichen Schritt that, und ein Minister erklärte der Regentin
freimütig, die unbedingte Durchführung dieser vom Standpunkte menschenfreund¬
licher Theorie betrachtet zwar fehr ruhmwürdige, aber tief in die Interessen
weiter Kreise einschneidende Maßregel könne zu einer Gefahr für den Staat
und das Kaiserhaus werden. Die Prinzessin aber scheint ihn nicht begriffen zu
haben, und das ist nicht verwunderlich, da in beiden Häusern der Cortes, im
Senat und in der Abgeordnetenkammer, die Mehrheit der Beschleunigung des
Vefreiungswerkes geneigt war. Dieses erfolgte denn auch, aber nicht lauge
währte es, so zeigte es sich, daß mau damit einen groben Mißgriff gethan und
Tausende bisher wohlhabender Landwirte um einen erheblichen Teil ihres Be¬
sitzes gebracht hatte, beiläufig ganz dieselbe Folge der plötzlichen Abschaffung
der Sklaverei, die England vor Jahren in Jamaika, und dice die Regie¬
rung der nordamerikanischen Union während des Krieges mit den Südstaaten
versuchte. Ein Antrag, den Pflanzern eine Entschädigung zu bewilligen, wurde
von beiden Kammern der Landesvertretung zurückgewiesen, ja nicht einmal in
Beratung genommen. Dennoch schien es eine Zeitlang nicht zu einer größern
Erschütterung komme!, zu sollen. Aber sehr bald wurde man mit Schrecken
gewahr, wie die Schwarzen künftig ihre Freiheit zu benutzen gedachten. Nach¬
dem die Ernte eingebracht war, zogen die freigelassenen Sklaven in Scharen
ans den Pflanzungen ab und ergaben sich, so lange sie Geld hatten, in den
Städten oder draußen als Landstreicher dem Nichtsthun, um dann wieder zu
arbeiten, bis der notdürftigste Lebensunterhalt für eine kurze Zeit Verdient war.
Die große Mehrzahl der ehemalige!! Sklavenbesitzer sah infolge dieser Tage-
dieberei den wirtschaftlichen Untergang vor sich. Sie erblickten in der Kron¬
prinzessin Jsabella und in deren Gemahl, den sie für den geistigen Urheber
der Maßregel anzusehen Ursache hatten, die Persönlichkeiten, denen sie ihr Un¬
glück zu danken hatten, und es lag nahe, daß sie davon zu der Vorstellung
gelangten, die Monarchie sei für ihren Schaden verantwortlich zu machen. Ihre
Unzufriedenheit näherte sie der republikanischen Partei, die bisher nnr in einigen
Städten und zwar besonders unter Angehörigen der gelehrten Stände, Stu¬
denten, Magistern und Zeitungsschreibern Anhänger gezählt, aber geringen Einfluß
gehabt hatte. Die Republikaner benutzten den Verdruß der Pflanzer über ihre
Notlage und deren Haß gegen die Urheber derselben vielfach mit größtem Eifer
und entsprechenden! Erfolge und brachten eine Wühlerei in Gang, wie sie das Land
bis dahin noch nicht erlebt hatte. Wanderprediger zogen im Lande herum,
empfahlen die Republik und gründeten Vereine zu deren Vorbereitung, die zahlreiche
Neitritte fanden. Gleichermaßen und mit ähnlichem Erfolge wurde die städtische
Bevölkerung bearbeitet. Besonders viel Zulauf wurde der Partei in den Pro¬
vinzen Rio Janeiro, Minas Geraes und San Paulo zu teil. Doch waren die Repu¬
blikaner bis gegen das Ende des vorigen Jahres noch keineswegs in der Überzahl,
und anderseits hatten die Monarchisten aus frei gewordenen Farbigen eine gu^rclci.
nugru gebildet, die zum Schutze desThroueS bestimmt war und die wiederholt gewalt¬
thätig gegen die Feinde desselben auftrat, dadurch aber, sowie durch ihre Begün-
stigung vonseiten des Ministeriums nur noch mehr böses Blut machte und die
Aussichten der von ihr verfolgten Partei verstärkte. Am W. Dezember 1888
wollte der Doktor silva Jardnn, der dieser angehörte, im Theater von Rio
Janeiro einen Vortrag halten, aber die schwarze Garde verhinderte ihn daran,
indem sie die Versammlung überfiel und verjagte, wobei mehrere Verwundungen
von Mitgliedern vorkamen und der Saal verwüstet wurde. Ähnlich erging
es eineiu andern Wühler für die republikanischen Zwecke. Nun machten die
Führer der Republikaner großen Lärm, klagten, die Regierung verletze ihre
Pflicht, sie in ihrer persönliche» Freiheit z» schützen, und beriefen eine Massen¬
versammlung, die Maßregeln zum Selbstschutze beraten sollte. Diese wurde
jedoch von der Behörde verboten. Darüber geriet dann die gesammte Tages-
presse der Hauptstadt in Jener und nahm sich mit Ausnahme des .Icmrng,! 6v
(ZoMmorvio der republikanischen Sache an. Mau gründete neue Blätter zur
Förderung dieser Bewegung und gewann schon bestehende dafür. Die Stil-
deuten der Fakultäten, sogar die Zöglinge des Kadettenhauses erklärten in
schwülstigen und hochtrabenden Adressen ihre Mißbilligung des Verfahrens der
Behörde. Die Propaganda schwoll so an Zahl und Selbstgefühl zusehends,
und die Leiter hielten am 30. April d. I. in Sav Paulo einen all¬
gemeinen Kongreß ab, der von jeder Provinz des Reiches mit fünf Abgeord¬
neten beschickt wurde, und auf dem man den Beschluß faßte, die Partei neu zu
organisiren und den Herausgeber des Blattes in Rio Janeiro, Quin-
tino Vveayuva, der jetzt im Ministerium der neuen Regierung die auswärtigen
Angelegenheiten besorgt, an die Spitze der Partei zu stellen. Bald nachher
veröffentlichte dieser ein langes, phrasenrciches Manifest und die Zustimmung
des frühern Führers der Partei zu den darin niedergelegten Grundsätzen, auch
machte er bekannt, daß er einen Vvllstreckuugsausschuß gebildet habe. Seit
deu ersten Maitagen, besonders seit dem Beginn der Krisis im vorletzten
Ministerium, nahm die Bewegung einen noch leidenschaftlichem Charakter an,
und die drei großen Blätter der Hauptstadt, namentlich das Dmrio schürten
sie mit allein Eifer und größter Unverschämtheit. So machte die genannte
Zeitung u. a. zu der beabsichtigten Reise des Grafen von En, des Gemahls
der zukünftigen Kaiserin, der die Nvrdprvvinzen besuchen sollte, die freche Be¬
merkung, er werde damit zu spät kommen und nichts ausrichten, weil die Dy¬
nastie diese und andre Teile des Reiches bereits für immer verloren habe. Kurz
vorher hatte dasselbe Blatt seinen Lesern auseinandergesetzt, daß der Zusammen¬
sturz der Monarchie unvermeidlich geworden sei. In der 6^vtg, aber stand
um dieselbe Zeit die Ankündigung, noch im Laufe des Jahres werde in
Brasilien die Republik ausgerufen werden, und man könne zum ersten Präsi¬
denten derselben deu Staatsrat Saraiva empfehlen. Auch an die Mitglieder
des kaiserlichen Hauses, vorzüglich an den Grafen von En, traten die Ver¬
schwörer mit dreisten Kundgebungen ihrer Gesinnungen und Hoffnungen heran.
Als er als Protektor des Klubs der Volunwrios 6-r ?u,tria einer Versamm¬
lung desselben beigewohnt hatte, um dessen neuen Vorstand in sein Amt ein¬
zuführen, und bei seiner Entfernung deu Vorsaal durchschritt, wurde er mit dem
vielstimmigen Rufe: „Es lebe die Republik!" empfangen. Dabei ist zu be¬
merken, daß der Graf die Stellung eines Oberbefehlshabers der brasilianischen
Armee bekleidet, und daß die Versammlung großenteils aus aktiven und ver¬
abschiedeten Offizieren dieses Heeres bestand. Als er die Reise nach den Nord-
Provinzen antrat, die zunächst von Teilnahme an deren Heimsuchung durch
Dürre und Teuerung, dann aber allerdings auch von politischen Absichten
eingegeben war, stellte die Presse die letztern in den unwürdigsten Ausdrücken als
Persönliches Räukespiel dar, und die Führer der Republikaner gaben ihm einen
voll ihren Wanderprcdigern mit, der etwaigen Huldigungen durch seine Brand¬
reden entgegenwirken sollte. Im vorigen Sommer war die republikanische
Propaganda schon so weit gekommen, daß liberale Mitglieder des Abgeordneten-
Hauses sich offen zu ihrer Sache bekannten, und daß ein bisheriger Konservativer
eine längere Rede mit dein Rufe schloß: „Nieder-mit der Monarchie! Es lebe
die Republik!" „Zur Vernhiguug ängstlicher Gemüter — sagt die „Köl¬
nische Zeitung," deren Bericht über die Propaganda wir hier auszugsweise
mitteilen - die daran erinnerten, daß sie als Abgeordnete dem Kaiser und der
gegenwärtigen Dynastie Treue geschworen hätten, nahm man endlich im vorigen
Monat ein Gesetz an. wonach jeder Deputirte, der vor den Mitgliedern des
Bureaus erklärt, daß dieser Eid seinein Glauben und seinen politischen An¬
sichten zuwiderlaufe, von der Ableistung desselben zu entbinden sei."
Die Republikaner hatten viel erreicht, sie waren eine mächtige Partei ge¬
worden, sie konnten sich dicht vor ihrem Ziele glauben, und es steht fest, daß
sie schon vor vier Monaten in Paris die neuen grün und gelben Fahnen für
die brasilianische Republik bestellten, die sie auszurufen vorhatten. Dennoch
waren sie für sich allein noch keine solche Macht, die im Ernste zu fürchten
war, mehr lant und dreist als entschlossen, geschickte Wühler, aber keine Kämpfer.
Sie würden noch lange gebraucht haben, um so weit zu gelangen, daß sie der
Negierung den Handschuh hinwerfen konnten, wenn diese nicht den Kopf ver¬
loren hätte, und wenn nicht die bewaffnete Macht des Landes auf die Seite
der Verschwörer getreten wäre. Das scheint schon vor einiger Zeit im Werke
gewesen zu sein; denn General da Fonseca ist ein alter Verschwörer, der es
schon einmal mit einem Pronumiamento versuchte, aber damit kein Glück hatte
und nach der fernen Provinz Matto Grosso verbannt wurde. Vermutlich hat
er bald nach seiner Rückkehr von da, die Unzufriedenheit der Soldaten mit der
geringen Gunst, die ihnen der Kaiser erwies, und mit der niedrigen Rolle, die
das Heer spielte, benutzend, eine neue Meuterei angezettelt und sich zugleich
mit deu Führern der Republikaner in Verbindung gesetzt, die von da an größeres
Vertrauen auf den schließlichen Sieg um deu Tag legten. Er gab ihnen die
Stärke, deren sie trotz ihrer Zahl ermangelten, er wird sich wahrscheinlich ihrer
nur für eigne Zwecke bedient haben, und er wird, wenn es zur endgiltigen
Teilung der Beute kommt, den Löwenanteil beanspruchen. Advokaten, Litte¬
raten und Professoren gründen erfahruugsmüßig keine Staaten von Dauer,
wohl aber haben im Norden wie im Süden Amerikas wiederholt Generale recht
brauchbare Präsidenten von Republiken abgegeben. Wir erwarten als Schluß
der Revolution in Brasilien eine Militärdiktatur, worauf auch die Thatsache
hinweist, daß man zu Gouverneuren der neunzehn Provinzen des Laudes, die
sich nnn in ebenso viele Republiken unter einer Zentralbehörde nach dem
Muster der in Washington bestehenden verwandeln sollen, ausschließlich Offi¬
ziere ernannt worden sind.
Was die schließliche Wirkung der brasilischen Revolution auf Europa sein
wird, ist abzuwarten. Das deutsche Interesse berührt sie nicht; denn ein paar
Vörseujuden, die in brasilischen Papieren Geschäfte machen, kommen nicht in
Betracht, und wer brasilischen Kaffee mag, wird ihn zu den Preisen trinken, die der
Markt bestimmt, gleichviel, ob er sich kaiserlichen oder republikanischen Kaffee
nennen läßt. Ein größeres Interesse könnten nur die vielen im selten der
neuen Republik angesiedelten Deutschen einflößen; aber sie haben das Vater¬
land hinter sich gelassen und eine neue Heimat gewühlt, und möge» nun sehen,
wie sie mit ihr zurecht kommen, nachdem sie ein andres Geficht aufgesetzt hat.
Wichtiger ist das Interesse, das England um einer gedeihlichen Entwicklung
der Republik Brasilien hat. Die Form des Staates kann ihm dabei so gleich-
giltig wie uus sein, wenn nur der Staatskredit und die vertragsmäßigen Ver¬
pflichtungen bei der Sache keinen Schaden leiden. Von den brasilischen Papieren
befinden sich etwa sür 800 Millionen Mark in den Händen von Engländern,
und die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern sind sehr ausgedehnt.
Nach den neuesten Nachrichten ist in dieser Hinsicht nichts zu befürchten. Die
republikanische Regierung wird aber wohlthun, ihren beruhigenden Erklärungen
in dieser Richtung bald die folgen zu lassen, daß sie die freundschaftlichen
Beziehungen der kaiserlichen zu allen fremden Staaten aufrecht zu erhalten
entschlossen ist. Ihre einzige Pflicht wird nach Befestigung der neuen Staats¬
einrichtung in Janeiro in der möglichst raschen Erschließung der Hilfsquellen
des Landes liegen. Ob bei der dünnen weißen Bevölkerung des Landes die
Befreiung der Schwarzen von der Arbeit, die sie mißbrauchen, sich mit
dieser Aufgabe vertragen wird, ist sehr die Frage. Keine Frage aber ist es,
daß Brasilien mit energischer Arbeit sich zu großartiger Blüte entwickeln läßt,
und das weiße Arbeiter sich aus Gründen, die vorzüglich im Klima liegen
und folglich nicht zu beseitigen sind, niemals in genügender Zahl finden
werden. Weit eher ist auf Zuströmen fremden Kapitals zu rechnen, und es
dürfte möglich sein, mit dessen Hilfe die der tropischen Landwirtschaft nötige
Menschenkraft wenigstens zum großen Teil durch Maschinen zu ersetzen. Wir
schließen mit guten Wünschen für das verwandelte Land, selbstverständlich nicht
weil, sondern trotzdem daß es eine Republik geworden ist — mit guten
Wünschen, aber vorläufig nur mit mäßigen und bedingten Hoffnungen.
arthas Herz klopfte heftig. Sie mußte daran denken, daß Lars
der erste Mensch war, den: sie, seit das Entsetzliche geschehen war,
begegnete; und sie fragte sich selber, ob er ihr möglicherweise
etwas ansehen könnte? Je mehr sie sich einander näherten, desto
größer ward ihre Angst, daß irgend eine Veränderung mit ihrem
Äußern vorgegangen sei, und daß er diese gleich entdecken würde. Sie war
nahe daran, ihrem alten Freunde mit einem lauten Aufschrei zu entfliehen, als
er vor ihr stehen blieb.
Sieh sieh! rief er aus. Trifft man die Jungfer hier im Grünen?
Ja, erwiederte sie lächelnd und suchte mit den Augen das welke Laub
uuter deu Bäumen. Ich wollte Reisig für die Mutter sammeln.
Das ist doch des Teufels! Hast du uach dem, was vorgefallen ist, noch
Gedanken für so etwas, mein Kind?
Und weshalb denn nicht?
Ach ich glaubte, weiß Gott, du wärest schon bei dem Wickelzeug. Das
kaun man nicht früh genug in Ordnung bringen, wenn man erst Ja und Amen
gesagt hat.
Sie schaute ihn starr an und erbleichte.
Was willst du damit sagen?
Ha ha ha! Sie will mich an der Nase herumführen! Nein, mein Kind,
Lars Einauge ist auch uicht von gestern. Er war zufällig heute Morgen so
glücklich, ihrem Herzeussesver zu begegnen, der glänzte wie ein ucugevrägter
Groschen und kramte die ganze Neuigkeit aus. Nun denn, Glück auf, in
Gottes Namen! Und einen Jungen, ehe das Jahr herum ist, wie unser alter
Küster in Kyndbh sagte.
Sie atmete erleichtert auf und blickte dann wieder nieder.
Ja, Jesper wünscht, daß wir jetzt heiraten. Er hat das Mühleuhaus
gekauft.
In, zum Teufel auch! Wir haben gestern niederträchtiges Pech mit
unserm Geschäft gehabt.
Was ist euch denn begegnet? fragte sie lächelnd weiter. Sie merkte erst
jetzt, daß Lars schon einen über den Durst getrunken hatte.
Hast du denn nicht davon gehört? Hast du denn heute noch nicht mit
deiner Mutter gesprochen?
Nein.
Na, es ist ja auch wahr, sie ahnt ja selber uoch nichts davon. Sie
hatte eine ganz verdammte Hast, uach Hause zu kommen.
So? fragte Martha und sah ihn wieder aufmerksam an. Was ist denn
geschehen?
Herr Gott! Wir haben Sören verloren!
Was sagst du?
Ja, siehst du, mein Kind, es ging ganz prächtig mit der Schaukel und
mit den Kcmeelstangeu. Als wir uns aber nach Sören umsehen wollten, der
ja das Geschüft mit den Zigarren übernommen hatte, so denke dir nur, wir
hatten ihn verloren! Natürlich hatte er sich betrunken, denn den Kasten fanden
wir mitten auf dem Wege, aber er war vollständig leer, und er selber hat
sich gewiß unter einen Busch schlafen gelegt!
Hast du ihn denn noch nicht gefunden?
Nein, das weiß der liebe Himmel, ich konnte nichts im Walde finden als
einen blassen Jungen, der am Wege saß und aus einer kleinen Pfeife sog.
Da saß einer am Wege? fragte Martha plötzlich gespannt. Wer mag
das wohl gewesen sein?
Ich glaube, es war einer von deu Studenten, die sich hier herumtreiben.
Ein glückseliges Lächeln glitt über Marthcis Antlitz.
Er wollte mit der Post fort, fügte Lars hinzu.
Mit der Post? — sie griff unwillkürlich nach seinem Arme. Bist dn
dessen auch sicher?
Weiß Gott, ich bin dessen sicher! Ich sah ihn ja nachher selber hinein¬
kriechen. Aber was fehlt dir denn? Du bist ja auf einmal kreideweiß ge¬
worden, mein Kind?
Sie war wirklich nahe daran, umzusinken. Sie hatte die eine Hand über
die Augen gelegt und biß sich krampfhaft in die Lippen, während sie sich einen
Augenblick auf seinen Arm stützte.
Mir — mir ist nicht ganz wohl. Ich habe diese Nacht schlecht ge¬
schlafen. — Ich glaube, ich will lieber nach Hause gehen.
Herr meines Lebens! Kind, du wirst uns doch jetzt nicht krank
werden?
Nein nein — es hat nichts zu sagen. Es ist nur — laß uns nur jetzt
ucich Hause gehen! ^
Sie gingen ein paar Schritte, indem sich Martha krampfhaft um seinem
Arme hielt. Sobald sie aber wieder einigermaßen zur Besinnung gekommen
war, ließ sie ihn mit einem kurzen: Ich muß eilen! los und lief in ihre
Kammer. Dort stürzte sie sich über ihr Bett, rang die Hände und brach in
ein heftiges, krampfhaftes, lautloses Weinen aus.
Am Abend versammelte sich der Klub wieder wie gewöhnlich um den
eichenen Tisch im Gastzimmer. Man war jedoch in ungewöhnlich festlicher,
aufgeräumter Stimmung.
Natürlich hatte das beklagenswerte Unglück mit dem schwermütigen Sören
— der übrigens im Laufe des Tages wieder herbeigeschafft worden war,
wenn auch in ziemlich jämmerlichem Zustand und namentlich ohne einen
Heller in der Tasche für das ihm so vertrauensvoll übertragene Gut — natür¬
lich hatte dies Unglück die stolzen Erwartungen, die sie auf die Geschäfte des
gestrigen Tages gesetzt hatten, bitter zu Schanden gemacht. Dafür kam nun
aber die unerwartete und deshalb doppelt erfreuliche Nachricht von Jespers
und Marthas nahe bevorstehender Verbindung, die Verwirklichung ihrer gemein¬
samen liebsten Wünsche und Hoffnungen, und verscheuchte gleichsam wie durch
ein Zauberwort alle Wolken von dem gewitterschweren Himmel.
Im Laufe des Abends wurde mit Ernst und Eifer alles erwogen, was
dieses frohe, bedeutungsvolle Ereignis betraf. Namentlich einigte man sich
sofort dahin, daß sie alle — Martha an der Spitze — gleich am nächsten
Morgen eine gemeinsame Besichtigung des Mühlenhauses vornehmen wollten.
Von dort sollte dann Jesper mit Lars Einciuge und dem Weber Zacharias
zum Prediger gehen und das Aufgebot bestellen, worauf man sich hier im
Kruge versammeln wollte, um bei einer guten Mahlzeit und einer Punschbowle
den Tag auf eine der Veranlassung würdige Weise zu beschließen.
Vor allen war aber Jesper im siebenten Himmel. Bis dahin hatte sich
ihm das Leben nicht von der rosigsten Seite gezeigt. Als Sohn übelberüch¬
tigter Eltern, mit der Schande eines versoffenen Vaters und einer diebischen
Mutter behaftet, von seinen Gleichgestellten eines gewissen linkischer Mi߬
trauens wegen, das das Leben draußen in der Einsamkeit bei ihm erzeugt
hatte, verachtet und verspottet, mußte er schon frühe die Bitterkeit der Welt
kennen lernen, und so hatte sich bei ihm jener unglückliche streitsüchtige Cha¬
rakter entwickelt, den er vielleicht selber mehr als irgend ein andrer fürchtete.
Jetzt aber schien es, als ob dys Bewußtsein, endlich und alles Ernstes
den Schatz zu besitzen, nach dem er so standhaft und nnter so harten Prüfungen
gestrebt hatte, ihn zu einem neuen, bessern Menschen macheu, als ob dieser erste
Sonnenstrahl, der auf seinen Lebensweg siel, alles Harte und Feindliche ans
seiner Seele wegschmelzeu wollte.
Er war ganz erhitzt von seiner Arbeit gekommen, und den ganzen Abend
wich er nicht von Marthas Seite, sondern saß neben ihr auf der Bank und
streichelte vorsichtig — beinahe ängstlich — ihre feine, weiße, weiche Hand mit
seiner großen, groben, treuen Holzhauerfaust,
Martha war bald, nachdem sich alle versammelt hatten, hereingekommen.
Aber sie hatte sich, sobald sie die Glückwünsche der alten Freunde in Empfang
genommen hatte, in die Ecke gesetzt, wo der tiefste Schatten war, und seitdem
hatte sie sich nicht wieder erhoben. Sie war noch sehr bleich, und es lag
etwas unheimliches in der scheuen und dabei spähenden Art und Weise, mit
der sie hin und wieder ihre dunkeln Augen durchs Zimmer gleiten ließ,
ebenso wie in dem ängstlichen, plötzlichen Zittern, das sie befiel, als Jesper
sich neben sie setzte und ihre Hand in die seine nahm.
Die alten Freunde aber jubelten. In ihrem übertriebenen Entzücken sahen
sie in dieser stummen Verschlossenheit nur die Verlegenheit, die so natürlich
und so hübsch für ein junges, unschuldiges Mädchen ist, das vor einem so
wichtigen, entscheidenden Schritte steht; und namentlich Jesper sand hierin
einen neuen, erfreulichen Beweis, daß sie endlich angefangen habe, die Sache
mit dem nötigen Ernst und Anstand zu betrachten.
Martha selber wußte zeitweise gar nicht, was eigentlich mit ihr vorging
oder wo sie war — so sauste und brauste es noch in ihrem Kopfe.
Sie hatte den Tag auf ihrer Kanuner verbracht, hatte sich zwischen
dumpfer Gefilhllosigkeit und bitterer Verzweiflung hin und hergeworfen.
Es hatte Augenblicke gegeben, wo sie wirklich sür ihren Verstand fürchtete,
und wieder andre, wo ein grenzenloser Haß, eine wilde Naserei gegen
den Elenden, der sie sür ewige Zeiten gebrandmarkt hatte, sie erfaßte,
so daß sie ein Gefühl hatte, als könnte sie nicht leben, ohne Rache zu
nehmen.
Noch als sie ihre Hand ans die Thürklinke gelegt hatte, um in die Schenk¬
stube zu treten, hatte sie sich kühl und ruhig gefragt, ob es nicht doch das
Beste sei, der gauzen Sache ein Ende zu machen und sich in den See zu
stürzen. Und als ihr gleich in der Thür Jespers glückseliger Blick begegnete,
mußte sie sich einen Allgenblick gegen den Pfosten lehnen, um nicht umzusinken.
Am verächtlichsten erschien ihr die Art lind Weise, wie der Falsche sich
in den Wald geschlichen und von dort die Ankunft der Post erwartet hatte,
um nicht hier am Hause vorüberfahren zu müssen. Jedesmal, wenn sie daran
dachte, ballte sie unwillkürlich die Hände und biß sich in die Lippen. Diese
wohlüberlegte List, diese schlaue Berechnung schien ihr mehr als alles andre
seine feige Gemeinheit zu offenbaren. Und nun, da sie hier wieder zwischen
ihren alten, treuen Freunden saß, die nie etwas andres als ihr Bestes gewollt
hatten, die gern ihr Leben für sie hingegeben hätten, nun begriff sie
Plötzlich nicht, wie sie je so verblendet hatte sein können, wie es ihr nur einen
Augenblick hatte in den Sinn kommen können, sich einem solchen Menschen
hinzugeben, den sie kaum dein Namen nach kannte.
Inzwischen rückte Jesper, wahrend die Alten sich mehr und mehr in ihre
Reden vertieften und der genossene Punsch allmählich ihre Sinne heuchelte,
immer uciher zu ihr hinan; schließlich schlang er seinen Arm um ihren Leib
und sah ihr mit höchster Verliebtheit in die Augen.
Hätte er geahnt, wie sich ihr Herz krcnnpfte, wie ihre Nerven bebten,
als er sie in glückseligen Rausch an sich zog und ihr von seinen Zukunfts-
träumen erzählte! Noch nie zuvor hatte sie es so wie jetzt empfunden, was
wahre, aufrichtige Liebe ist, nie hatte sie es so wie in diesem Augenblick ver¬
standen, wie viel tausendmal mehr eine solche Liebe wert ist als alle schönen
Worte, alle süßen Liebesschwüre! Unwillkürlich preßte sie seine große, plumpe,
schwielige Hand fester, während sich ihre. Lippen wie in einem rein körperlichen
Schmerz verzogen.
Sie verfluchte den Tag, wo sie im Schilf zum erstenmal ihr Herz von
den Liebkosungen der beiden Liebenden hatte bethören lassen. Sie verfluchte
ihr Leben und ihre thörichten, eitlen Träumereien, die ihre Sinne verwirrt
und ihre Angen umnebelt hatten, bis es zu spät war. Aber mit fast über¬
menschlicher Selbstüberwindung zwang sie ein Lächeln auf ihre Lippen, als
sich Jesper jetzt zu ihr herabbeugte. Und als er ihren Kopf an seine Schulter
preßte, blickte sie sogar mit einem zärtlichen, wenn auch kummervollen Blicke
zu ihm auf.
In demselben Augenblick fuhr ihr der Gedanke durch den Kopf: Wie, wenn
du ihm jetzt alles offenbartest? Wenn du ihn jetzt mit dir in deine Kammer
nahmest, dich ihm zu Füßen wurscht und seine Vergebung erflehtest?
Aber sie fühlte sofort, daß ihr das unmöglich sein würde. Sobald sie
ihm nur ins Auge sah, sobald sie nur das siegesstolze Glück in seinem Hände-
druck einPfand, verscheuchte sie den Gedanken mit Entsetzen. Es gab keine
Rettung für sie — ihr Leben war verspielt. Sie hatte sich selber in den
Schmutz geworfen, und niemand, niemand konnte ihr zurückgeben, was sie ver¬
loren hatte. Und doch empfand sie gerade jetzt eine so grenzenlose Lust zu
leben, ein neues, redliches Leben zu beginnen, worin sie das wieder gut machen
könnte, was sie durch ihre Thorheit gesündigt hatte, mit andern das Glück zu
teilen, das sie erst jetzt schätzen gelernt hatte. Mit einem Überrest ihrer alten
Träumerei versuchte sie, wie sie so da saß, den Kopf gegen seine Schulter
gelehnt, in Gedanken ein friedliches, thätiges Zusammenleben in Liebe und
Treue aufzubauen, und mit brechendem Herzen verstand sie eigentlich erst jetzt
recht, was sie verscherzt hatte.
Aber war denn wirklich alles so unwiederbringlich verloren? Konnte sie
es nicht vergessen? Konnte sie es nicht wie einen Traum, wie ein Gesicht von
sich stoßen? Was war es denn im Grunde weiter? Was war denn schließ-
lich geschehen? Wenn nnr Jesper nichts erfuhr und er keine Enttäuschung
erlitt. Und dann: gehörte ihm dafür nicht jede Faser ihres Herzens jetzt zehn¬
fach mehr denn früher? Wie sollte ihr Leben nicht von jetzt an —
Sie sank langsam in seinen Arm, überwältigt von Ermattung und Lebens¬
überdruß. Endlich fielen ihr die Angen zu, und sie schlief an seiner Brust
ein. Er schlang seinen Arm schützend um sie, und mäuschenstill bewachte er ihren
Schlummer, während sich ein seliges Entzücken in seinen Zügen wiederspiegelte.
(Schluß folgt)
Nochmals die Reserveoffiziere. Dem Aufsatz „Unsre Reserveoffiziere"
an der Spitze dieses Heftes würden wir keine Aufnahme gewährt haben, wenn Nur
nicht die darin ausgesprochnen Ansichten teilten. Dennoch scheinen uns von den
Vorwürfen, die man dem Reserveoffiziertum von gewisser Seite macht, einige nicht
ganz der Begründung zu entbehren, der Verfasser macht auch eigentlich nirgends
den Versuch, sie zu widerlegen.
Daß unsre männliche Jugend im Laufe der letzten zwanzig Jahre nicht an
Schüchternheit zugenommen hat, ist eine Beobachtung, Wer die unter reifen Männern
wohl nur eine Stimme ist. Wir waren unsrer Zeit als Zwanzigjährige stillere
und bescheidnere Leute, die heutigen Zwanzigjährigen sind keine und anspruchsvoll
geworden, sie betrachten vielfach als ihr Recht, was sie nur als Vergünstigung zu
betrachte» hätten, sie lieben es, zu kommnndireu, wo sie zu bitten hätten. Aber
das ist das schlimmste uicht. Die heutige Jugend ist — Gott sei Dank! muß mau
ja sagen — unter gänzlich andern politischen Zuständen aufgewachsen als wir
unsrer Zeit, sie haben fertig vorgefunden, was wir erträumten und ersehnten; da
ist es uicht zu verwundern, wenn sie ein höheres Selbstgefühl besitzt, als wir es
als junge Leute hatten, und höchstens zu schelten, daß dieses Selbstgefühl sich ge¬
legentlich um unrechten Orte zeigt, gelegentlich in Dreistigkeit oder Frechheit übergeht.
Schlimmer ist etwas andres, was unsrer männlichen Jugend sehr häßlich zu
Gesicht und zu ihrem gesteigerten Selbstgefühl eigentlich im Widerspruch steht: die
immer mehr zunehmende Ziererei und Schniepelei in ihren Umgangsformen. Be¬
sonders beklagenswert ist es, daß diese Ziererei gerade in den Kreisen am ärgsten
geworden ist, die man für die verständigsten und aufgeklärtesten halten, und in
denen man in dieser Beziehung die schlichteste Natürlichkeit erwarten sollte: in den
Kreisen der akademischen Jugend. Die Grenzboten haben schon einmal (vor
fünf oder sechs Jahren) in einem Aufsatze: „Die Herren Studierenden" auf diesen
Mißstand eindringlich aufmerksam gemacht, leider völlig erfolglos. Der Mißstand
hat seitdem nur Fortschritte gemacht. Für reife Männer, die vor zwanzig und
dreißig Jahren studiert haben, giebt es kaum etwas Lächerlicheres, als mit ansehen
zu müssen, wie die jungen Leute jetzt auf der Straße vor einander (!) ehrerbietige
Verbeugungen machen und das Haupt entblößen. Kommt es ja zu einer Begrüßung
mit der Hand, so geschieht es in der Weise, daß die Hände in Brusthöhe und
Brnstnnhe zimperlich in einander gehakt werden. Noch lächerlicher gehts am Biertische
zu. Wenn da eine Verbindung beim Frühschoppen sitzt, und es gesellt sich einer von
einer andern Verbindung zu ihnen, so schnellt die ganze Gesellschaft vom Stuhl
empor, bleibt minutenlang ehrfurchtsvoll stehen, als ob der Bevollmächtigte eines
auswärtigen Souveräns angekommen wäre, und erst wenn er feierlich Platz ge¬
nommen hat, lassen sie sich anch wieder nieder. Dann „gestatten sie sich," ihm ein
Stück vorzukommen, indem sie mit der linken Hand die Mütze abnehmen und den
Arm wegweiserartig hiunusstreckeu, mit der rechten das Glas nicht am Henkel — das
ist veraltet! —, sondern um Deckel anfassen, und dann „gestattet sich" wieder der
also gefeierte, in derselben Weise nachzukommen. Und so geht die „Gestatterei"
herüber und hinüber. Und fünf Minuten später sitzen dieselben ehrwürdigen Herren
da und — trödeln! Auch die Sprachziererei macht immer größere Fortschritte.
Es gilt nnter den jungen Leuten jetzt sür fein, beim Reden die Zähne nicht mehr
aus einander zu machen, die Lippen möglichst wenig zu bewegen, ein bißchen dnrch
die Nase zu reden und alle Vokale mehr oder weniger auf den Vokal ä abzu¬
stimmen. Ein ordentliches In! bekommt man schon lange nicht mehr zu hören,
es heißt nnr noch Ja! Offenbar haben die jungen Leute gar keine Ahnung davon,
wie lächerlich sie sich mit solcher Ziererei in den Augen reifer Männer macheu.
Wüßten sie es, so müßten sie ja schleunigst auf Abhilfe denken, denn nichts kann
ihnen doch unangenehmer sei», als — sich lächerlich zu machen.
Auf Umfrage, die nur in den verschiedensten geselligen Kreisen gehalten haben,
ist uns einstimmig versichert worden, daß diese Schuiepelei in den akademischen
Kreisen, die von dort aus übrigens bereits in die Gymnasialkreise gedrungen ist,
eine Folge des Referveoffiziertums sei. Eine andre Quelle ist ja auch in der That
kaum ersichtlich. Das kaun mau aber doch uicht gerade zu deu wünschenswerte»
Folgen des Referveoffiziertums zählen.
Die Reformation in der Mark Brandenburg. Von Julius Heidemnuu. Berlin,
Weidmaunsche Buchhandlung, 1889
Diese Schrift war mit dazu bestimmt, die am 1. November 1889, also nach
350 Jahren gefeierte Erinnerung um die Einführung der Reformation in der Mark
Brandenburg in weiten Kreisen verständlicher zu machen. Sie ist anch ganz für
diesen Zweck geeignet. Im besten Sinne populär hat sie durch deu längst be¬
kannten Verfasser auch die Bürgschaft gründlicher Forschung für sich. Von Ver¬
sehen ist uns nur ein etwas störendes vorgekommen, wo für polnisch das Wort
politisch gedruckt ist (Seite 16).
Am anziehendsten ist nicht eigentlich der Übertritt Joachims II. selbst 1539
zu Spandau, sondern die eigentümliche naturwüchsige Verbreitung des lutherischen
Glaubens in der Mark, ohne Mitwirkung, ja nnter Gegenwirkung der Fürsten und
Autoritäten, dazu auf einem Boden, der von dem absurdesten Aberglauben zu
leiden hatte und erst nach langer Arbeit auf eine Höhe der Kultur gelangte, die
der süddeutschen ebenbürtig war. Die Neigung Joachims II., die lutherische Lehre
mit Aufrechthaltung der bischöfliche». Verfassung und katholische« Zeremonien, zum
Landesbekenntnis zu machen, macht seinem politischen Verstände alle Ehre; glück¬
licherweise widerstanden ihm die katholischen Vertreter so energisch, daß er seine
Mischungspläne aufgab.
in 43. Hefte der Grenzboten (24. Oktober 1889) hat Otto
Gerland die Frage über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des
Redakteurs im Anschluß an mein kürzlich hierüber erschienenes
Buch zum Gegenstande der Erörterung gemacht. Obwohl sich
der Verfasser dabei in wohlwollender und anerkennender Weise
über meine Arbeit geäußert hat, sehe ich mich doch zu einigen Worten der
Entgegnung genötigt, nicht um die zwischen mir und dem Verfasser zu Tage
getretenen juristischen Meinungsverschiedenheiten zum Austrag zu bringen, wozu
hier kaum der Ort sein dürfte, sondern weil die Art der Darstellung wie der
Polemik des Verfassers solche Leser, die mein Buch nicht ans Grund eignen
Studiums kennen, notwendig zu eiuer irrigen Auffassung von dessen Inhalt
und Tendenz führen muß. Der Verfasser eines Buches, dessen wissenschaftliche
Ergebnisse von einem Dritten weiter verbreitet werden, darf wohl den Anspruch
erheben, daß diese Wiedergabe richtig und vollständig geschehe.
Zwar bemerkt Gerland im voraus, daß er nicht allen meinen Ausführungen
beistimmen könne, sondern von meinen Ansichten mehrfach abweiche. Das ist
natürlich sein gutes Recht. Allein mir scheint, daß er dann den Leser darüber
hätte aufklären müssen, wie weit er meinen Darlegungen gefolgt und in welchen
Punkten er davon abgewichen ist; er hätte, nachdem er einmal das Vorhanden¬
sein von Meinungsverschiedenheiten ausgesprochen hatte, auch deutlich an¬
geben müssen, worin diese bestehen. Statt dessen giebt er im ersten Teile seines
Aufsatzes eine zusammenhängende Darstellung des geltenden Rechts und seiner
Geschichte, die nicht nur nicht erkennen läßt, was davon mir lind was ihm
angehört, sondern die dadurch, daß sie an wichtigen Punkten meine Auffassung
stillschweigend durch eine andre ersetzt, die Hauptergebnisse meines Buches
geradezu unterdrückt. Im zweiten Teil aber bekämpft er einige meiner
Äußerungen in einer Weise, die erst recht geeignet ist, den eigentlichen Kern
unsrer Meinungsverschiedenheit zu verdunkeln.
Was Gerland über den Begriff des verantwortlichen Redakteurs, über
dessen Geschichte sowie über die Geschichte seiner Haftpflicht mitteilt, beruht durch¬
weg ans einer, wenn auch nicht immer genauen Wiedergabe meiner Untersuchungen.
Dagegen stehen die Angaben des Verfassers über deu Inhalt dieser Haftpflicht,
über die Art und Weise der Strafbnrkcit des verantwortlichen Redakteurs nach
dem heute geltenden Preßrecht, also über das, was gerade den Hauptgegenstand
meiner Arbeit ausmachte, im allerschärfsten Gegensatz zu dieser. Der Verfasser
vertritt hier gerade die Ansicht, die ich als unrichtig bekämpft, die ich aus dem
Zusammenhange des Reichspreßgesetzes selbst, aus seiner Geschichte wie aus
der geschichtlichen Entwicklung der ganzen modernen Preßgesetzgebnng in aus¬
führlichster Weise als unhaltbar und unmöglich nachzuweisen versucht habe,
ohne von dem allen auch nur ein Wort zu erwähnen lind ohne auf meine
Gegengründe im geringsten einzugehen, geschweige denn daß er eine selbständige
Begründung seiner Ansicht unternommen hätte. Von dem Hauptinhalte meines
Buches, von den Ergebnissen, ans deren Gewinnung alle darin enthaltenen
Einzeluntersuchungen abzielen, erführe also der Leser überhaupt nichts. Wohl
aber wird er hierdurch zu der Meinung verleitet, daß bezüglich der Haftung
des verantwortlichen Redakteurs nach heutigem Preßrecht ein Zweifel nicht be¬
stehe, und daß die Ansicht des Verfassers, um deren Bekämpfung willen ich
jenes Buch geschrieben habe, auch meine Ansicht sei.
Ich muß, um dem Leser verständlich zu werden, auf den Inhalt dieser
Meinungsverschiedenheit etwas näher eingehen.
Nach der bisherigen, vom Reichsgericht und nun auch von Gerland ver¬
tretene» Ansicht hat der verantwortliche Redakteur einer periodischen Druckschrift
für die darin enthaltenen strafbaren Äußerungen - abgesehen von wenigen
Ausnahmefällen — stets mit der vollen Strafe des verübten Verbrechens wie
ein Thäter zu haften, gleichviel ob er dieses Verbrechen selbst begangen, d. h.
die Veröffentlichung der strafbaren Äußerung selbst ans eignem Willen bewirkt
hat, ob er also wirklich der Thäter^ist oder nicht; ja gleichviel sogar, ob er
von dieser Veröffentlichung in seinen: Blatte auch nur etwas gewußt hat oder
nicht. Denn, sagt man, wenn er eine solche strafbare Veröffentlichung auch
nicht selbst bewirkt oder nichts davon gewußt hat, so wäre es doch seine Pflicht
als Redakteur gewesen, sich darum zu kümmern und die Veröffentlichung zu
verhindern; er ist dann eben strafbar wegen Verletzung dieser seiner Redakteur-
Pflicht, und zwar ebenso, als wen» er wirklicher Thäter wäre. Die volle
Strafe des verübten Verbrechens trifft den verantwortlichen Redakteur also
entweder, weil er das Verbrechen felbst begangen, oder weil er fahrlässiger-
weise seine Redakteurpflicht verletzt hat. Nur dann, wenn ihm ohne jedes
eigne Verschulden, aus Gründen, die ganz anßer seinem Willen lagen, die Er¬
füllung seiner Nedakteurpflicht unmöglich war, soll er von dieser Haftbarkeit
für die volle Strafe des Verbrechens frei bleiben. Hiernach wäre also beispiels¬
weise ein Redakteur, der eine kleine Erholungsreise unternommen hatte und in
dessen Blatt nun während seiner Abwesenheit ohne sein Wissen ein Staats¬
geheimnis veröffentlicht worden ist, nach Strafgesetzbuch 8 92 Ur. 1 wegen
Landesverrats mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren zu bestrafen. Sein
Fehler bestünde allein darin, daß er trotz seiner Abwesenheit das Blatt als
Redakteur gezeichnet hatte, statt für die Bestellung eines Vertreters Sorge zu
tragen; diesen Fehler aber hätte er mit mindestens zwei Jahren Zuchthaus zu
büßen. Gleiches Schicksal hätte hiernach im vergangnen Jahre auch den ver¬
antwortlichen Redakteur der „Deutschen Rundschau" treffen müssen, wenn das
Reichsgericht in der Veröffentlichung des Tagebuchs Kaiser Friedrichs eine
strafbare Handlung erblickt hätte, ohne Rücksicht darauf, ob er sich des straf¬
baren Charakters der Veröffentlichung bewußt war oder nicht.
Im Gegensatz zu dieser Auffassung der strafrechtlichen Haftung des ver¬
antwortlichen Redakteurs habe ich nun in meinem angeführten Buche mit ein¬
gehender Begründung die Meinung vertreten, daß nach unserm heute geltenden
Reichspreßgesetz zwei ganz verschiedne^ und auf verschiednen Grundlagen be¬
ruhende Haftungen des verantwortlichen Redakteurs zu unterscheiden seien:
eine nach allgemeinem Strafrecht und eine besondre preßrechtliche.
Der Redakteur haftet einmal nach den allgemeine-? Grundsätzen des Straf¬
rechts, wenn und sofern die in seinem Blatte enthaltene strafbare Äußerung
in Wahrheit von ihm selbst herrührt, von ihm selbst wissentlich und willentlich
veröffentlicht worden ist. Er haftet hier mit der vollen gesetzlichen Strase
desjenigen Verbrechens, das.durch die betreffende Äußerung verübt worden ist,
und zwar als Thäter, eben weil er dieses Verbrechen selbst als solcher verübt
hat, gerade so wie jeder andre, der das gleiche gethan hat. Daß er dies aber
gethan habe, müßte ihm an sich in jedem Einzelfalle erst bewiesen werden.
Allein ein solcher Nachweis begegnet in der Praxis überaus großen Schwierig¬
keiten, und es besteht daher die Gefahr, daß verbrecherische Redakteure nur
allzu leicht infolge dieser Belveisschlvierigteiten der verdienten Strafe entgehen.
Daher hat das Gesetz diese Beweisschwierigkeiten durch eine besondre Be¬
stimmung zu heben gesucht, wonach zur Verurteilung des verantwortlichen
Redakteurs als eines Thäters zwar der positive Nachweis seiner Thäterschaft
nicht erforderlich sein, wohl aber diese Verurteilung dnrch den Gegenbeweis
seiner Nichtthäterschaft ausgeschlossen werde» soll. Das Gesetz hat mit andern
Worten eine Beweisregel, eine sogenannte Präsumtion oder Vermutung für die
Thäterschaft des Verantwortlicher Redakteurs aufgestellt, die jedoch durch den
Gegenbeweis jederzeit widerlegt werden kann. Ausgehend von der regelmäßigen
Art des Zustandekommens einer Zeitung nimmt das Gesetz an, daß gewöhnlich
der ganze Inhalt der Zeitung von dem Redakteur selbst herrühre oder doch
von diesen: mit Wissen und Willen zur Veröffentlichung gebracht sei, und das
Gesetz schreibt daher diese Annahme auch dem Richter vor. Allein nicht unbe¬
dingt. Der Gesetzgeber war sich sehr wohl bewußt, daß diese allgemeine An¬
nahme im Einzelfall sich leicht als unzutreffend erweist, daß es Fälle genug
giebt, wo die Voraussetzungen für die Thäterschaft des Redakteurs thatsächlich
fehlen, wo also die Annahme der Thäterschaft ungerecht wäre, und dem hat
er eben durch Offenlassen des Gegenbeweises Rechnung getragen. Dieser Gegen¬
beweis kann mit allen Mitteln geführt werden; er kann geführt werden durch
Berufung auf alle Umstände des Einzelfalls, aus denen sich ergiebt, daß der
verantwortliche Redakteur Thäter des Verbrechens in Wahrheit nicht ist.
Insbesondre kann er dahin geführt werden, daß der Redakteur, sei es von der
Veröffentlichung, sei es von dem Inhalte, sei es von dem strafbaren Charakter
der in seinem Blatt abgedruckten Äußerung nichts gewußt hat, gleichviel,
aus welchem Grunde er dies nicht gewußt hat, ob mit oder ohne Fahrlässig¬
keit, ob mit oder ohne Verletzung seiner Redakteurpflicht. Gelingt dieser Gegen¬
beweis, so ist der Redakteur vou der strafrechtlichen Haftung als Thäter frei;
denn dann steht eben fest, daß er nicht Thäter des betreffenden Verbrechens
ist, es nicht verübt hat. Gelingt aber der Gegenbeweis nicht, so steht nun¬
mehr auf Grund jener allgemeinen Annahme sowie auf Grund des weitern
Umstandes, daß diese Annahme auch durch die besondern Verhältnisse des Einzel¬
falls nicht hat erschüttert werden können, die Thäterschaft des verantwortlichen
Redakteurs fest, und er ist mit der gesetzlichen Strafe zu belegen. Er ist
damit zu belegen, nicht weil er Redakteur ist und etwa seine Redakteurpflicht
verletzt hat — um diese handelt es sich hierbei überhaupt nicht —, sondern weil
er Thäter des verübten Verbrechens ist. Er steht auch hier dem Strafgesetze
gegenüber wie jeder andre, es finden aus ihn wie auf jeden andern die allge¬
meinen strafrechtlichen Grundsätze Anwendung. Nur in der Beweisgrnndlage,
auf der die Feststellung seiner Thäterschaft beruht, unterscheidet sich diese Haft¬
barkeit des verantwortlichen Redakteurs von der andrer Personen.
Vorstehendes ist, wie ich nachgewiesen zu haben glaube, der Sinn der
hauptsächlich in Frage kommenden Bestimmung in H 20 Abs. 2 unsers Pre߬
gesetzes: „Der verantwortliche Redakteur ist als Thäter zu bestrafen, wenn
nicht durch besondre Umstände jd. h. durch die Umstände des EinzelfallesI
die Annahme seiner Thäterschaft ausgeschlossen wird."
Neben dieser allgemein strafrechtlichen Haftung des verantwortlichen Re¬
dakteurs kennt unser Preßgesetz aber noch eine besondre preßrechtliche, die nicht auf
der Verübung eiuer allgemein strafbaren Handlung durch die Presse, sondern
auf der Verletzung der besondern Rechtspflichten des verantwortlichen Redak¬
teurs beruht. Diese besondre Haftung, von der sich übrigens der Redakteur
(und zwar, wie ich dnrgethan zu haben glaube, inkonsequenter- und zweck¬
widrigerweise) durch den Nachweis des Verfassers oder Einsenders des straf¬
baren Artikels wieder frei machen kann, tritt dann ein, wenn der Redakteur
nicht Thäter oder Teilnehmer des in seinem Blatte verübten Verbrechens ist
(wenn also insbesondre bezüglich seiner Thäterschaft der oben erwähnte Gegen¬
beweis erbracht ist), wenn er aber die ihm obliegende, pflichtmäßige Sorgfalt
in der Überwachung des Inhalts seines Blattes nicht angewandt hat, und in¬
folge davon die strafbare Veröffentlichung zum Abdruck gekommen ist. Er wird
hier bestraft, nicht weil er das in seinem Blatt enthaltene Verbrechen selbst
begangen oder daran teilgenommen hätte, sondern weil er fahrlässigerweise und
entgegen seiner Redakteurpslicht dieses Verbrechen von einem andern in seinem
Blatte hat begehen lassen, mit andern Worten, weil er diese VerÜbung Von¬
seiten eines andern fahrlässiger- und rechtswidrigerweise nicht verhindert hat.
Denn die Nedakteurpflicht besteht eben gerade darin, den Inhalt des Blattes
zu überwachen und rechtswidrige Publikationen darin zu verhüten. Dazu ist
der Redakteur da, dazu wird er dem Staate genannt, und darauf ebeu bezieht
sich seine Verantwortlichkeit, deshalb heißt er „verantwortlich."
Wie nun das in solcher fahrlässigen Nichterfüllung der Redakteurpflichten
liegende Unrecht wesentlich verschieden ist von dem durch die strafbare Ver-
öffentlichung selbst begangenen vorsätzlichen Verbrechen (also z. B. von dem
dadurch verübten Landesverrat, Aufforderung zum Hochverrat, Gotteslästerung,
Beleidigung u. s. w.), so ist auch auf jenes eine von der Strafe des letztern
ganz verschiedne und zwar der Regel nach viel geringere Strafe gesetzt, eine
sogenannte Fahrlässigkeitsstrafe, die je nach der Beschaffenheit des Einzclfalls
und nach näherer Bestimmung des Richters entweder in Geldstrafe bis zu
tausend Mark oder in Haft bis zu sechs Wochen oder in Festungshaft oder
Gefängnis bis zu einem Jahre bestehen kann.
Niemals daher wird es nach dieser Auffassung vorkommen können, daß
ein Redakteur, der etwa sahrlüsstgerweise auf Reisen gegangen ist, ohne sür
Bestellung eines andern verantwortlichen Redakteurs Sorge getragen zu haben,
oder der die sorgfältige Prüfung der in sein Blatt aufgenommenen Artikel
unterlassen hat, wegen eines darin begangenen Landesverrats ins Zuchthaus
gesteckt wird. Wohl aber würde auch nach dieser Ansicht der Redakteur, der
die Prüfung unterlassen hat, weil er wußte, daß in den eingegangenen Bei¬
trägen eine landesverräterische Mitteilung oder eine hochverräterische Aufforde¬
rung enthalten ist, die er nicht hinden wollte, als Teilnehmer (Gehilfe) am
Landes- oder Hochverrat zu betrachten und demgemäß zu bestrafen sein.
Man sieht also, daß der Unterschied zwischen meiner und der von Ger-
trud vertretenen Ansicht im wesentlichen darauf hinausläuft, daß Gerland zwei
Arten strafrechtlicher Haftung, die von uns nach Grund und Inhalt scharf
gesondert werden, zu einer einzigen verbinden will. Eine solche Bermengung
der Haftbarkeit wegen vorsätzlicher Begehung eines Verbrechens durch die Presse
mit der wegen fahrlässiger Verletzung der Nedakteurpslicht gehört dem fran¬
zösischen Rechte an. Das deutsche Rechtsgefühl aber hatte dieser gleichen Be¬
handlung wesentlich verschiedner Fälle einen immer schärfern Widerspruch ent¬
gegengesetzt; seit dem preußischen Preßgesetz von 1851 war sie allmählich fast
ganz aus der deutschen Gesetzgebung verschwunden und durch die oben be¬
sprochene Sonderung ersetzt worden. Es ist mir unbegreiflich, wie Gerland
einerseits auf Grund meiner Forschungen zugeben kann, das preußische
System bilde die Grundlage der Reichspreßgesetzgebuug, und doch gleich
darauf behaupten, dieses System habe hier eine weitere, dem bisherigen Recht
unbekannte Ausbildung erhalten, die sich an die französische Haftung der
g«zrMts rtZ8ponLg.vlkL anlehne. Das ist ein vollkommener Widerspruch.
Auch Gerland führt nun freilich an, daß unser Preßgesetz noch eine zweite
Haftbarkeit des Redakteurs anerkenne- wegen Vernachlässigung der Pflicht-
mäßigen Sorgfalt in der Überwachung der rechtmäßigen Haltung seines Blattes;
und er findet hierin mit mir „eine den deutschen Rechtsanschauungen ent¬
sprechende Fortbildung des französischen Geranteilwesens." Allein abgesehen
von dem auch hierin zu Tage tretenden Widerspruch, daß von den beiden
Haftungen des Reichspreßgesetzes die eine eine Anlehnung an die französische
Geranteuhaftung, die andre eine Fortbildung derselben darstellen soll, svdnß
also ein und derselbe Rechtsgebäude in ein und demselben Gesetz in doppelter,
sich widersprechender Gestalt zum Ausdruck gekommen wäre, abgesehen hiervon
bleibt sür diese zweite Fahrlässigkeitshaftuug bei der von Gerlaud vertretenen
Auffassung der Thäterhaftung ein eignes Anwendungsgebiet nicht mehr übrig.
Trifft den Redakteur die volle Thäterstrafe auch dann, wenn er nicht Thäter
ist, und kann er von dieser Strafbarkeit mir durch „außergewöhnliche Um¬
stände" befreit werden, „die auch einen gewissenhaften Redakteur ohne eignes
Verschulden verhindern, im Einzelfall die gebotene Thätigkeit auszuüben," so
giebt es überhaupt keine Fülle, wo die zweite Haftbarkeit wegen fahrlässiger
Verletzung der Redakteurpflicht platzgreifen könnte. Alle Fülle, die um sich
unter diese zu ziehen wären, würden bereits nnter die Thäterhaftung fallen,
und wo diese ausgeschlossen wäre (bei gänzlich unverschuldeter Nichtausübung
der Redakteurthätigkeit), da wäre es auch die Fahrlässigkeitshaftnng. Das
ergiebt sich denn auch auf den ersten Blick aus den von Gerland für die
eine und für die andre Art der Haftung angeführten Beispielen: es besteht
zwischen beiden kein Unterschied, zum Teil fallen sie geradezu zusammen.
Die Bestimmungen des Gesetzes über die Fahrlässigkeitshaftnng wären so¬
nach gegenstandslos und könnten gar nicht zur Anwendung gebracht werden;
in Wahrheit bestünde also »ach unserm Recht doch nur eine Haftung
des verantwortlichen Redakteurs, die Thäterhaftuug. Zu diesem meines Tr¬
achtens gesetzwidrigen Ergebnis führt die von Gerland vertretene Auffassung,
und eben deshalb habe ich oben die Verschmelzung zweier verschiednen Arten von
Haftbarkeit zu einer einzigen als das charakteristische Merkmal derselben bezeichnet.
Nach der Darlegung des jetzt geltende!, Rechts wendet sich Gerland im
zweiten Teile seines Aufsatzes zu einer Beurteilung des theoretischen und
praktischen Wertes dieser Bestimmungen, und hierbei erst kommt er dazu, sich
gegen einzelne meiner Äußerungen und Ansichten zu wenden. Allein auch die
Art und Weise, wie dies geschieht, muß bei dem meines Buches unkundigen
Leser schiefe Vorstellungen über die Bedeutung jener Äußerungen und Ansichten
erwecken, Gerland sagt: „Es ist nun gewiß dem Verfasser darin Recht zu
geben, daß diese Bestimmungen eine Ausnahme von den allgemeinen Rechts¬
grundsätzen bilden, Bestreiter aber muß man die Ansicht des Verfassers, daß
diese Bestimmungen »die allgemeinen Prinzipien des Strafrechts aufs schroffste
verletzen, jeden Juristen zu revoltiren, ja das Rechtsgefühl schwer zu kranken
und den Wert des Preßgesetzes wesentlich in Frage zu stellen« geeignet seien."
Weiterhin heißt es: „Man braucht dabei nicht mit Loening an einen Nachklang
mittelalterlicher Haftpflicht für dritte Personen zu denken, die unserm heutigen
Strafrecht nicht mehr entsprechen würde, sondern es bringen dies eben die be¬
sondern Verhältnisse der Presse mit sich," Und gegen den Schluß: „Soll
den Gefahren der Presse wirksam begegnet werden, so bleibt nichts andres
übrig als die Verantwortlichkeit des Redakteurs, wie sie im Reichspreßgesetz
festgestellt ist."
Solche Bemerkungen, wie alles, was der Verfasser sonst noch zur Recht¬
fertigung unsers Gesetzes vorbringt, erwecken notwendig den Anschein, als ob
ich in meinem Buche den Inhalt des bestehenden Rechts, ohne die Bedürfnisse
des praktischen Lebens zu berücksichtigen, von einem einseitig theoretischen
Standpunkt aus bekämpft hätte, als ob die von mir angeführten Äußerungen
gegen die wissenschaftliche Berechtigung des geltenden Rechts gerichtet seien,
und als ob letzteres gegen solche Angriffe einer Verteidigung vom praktischen
Standpunkt aus bedürfe. Es wird mit andern Worten hierdurch der Schein
erweckt, als ob unsre Meinungsverschiedenheit sich lediglich auf dem Gebiete
der Kritik und der Wertschätzung des geltenden Rechts bewege. Und dies
umsomehr, als der Verfasser zu Beginn wie zum Schlüsse seines Aufsatzes
den Grund unsrer Meinungsverschiedenheit darin findet, daß ich den rein
wissenschaftlichen Maßstab anlegte, während er sich aus den Boden der Praxis
stelle, daß er von meinen „nach den Grundsätzen der reinen Theorie gewiß
unanfechtbaren Ansichten doch zu Gunsten der Praxis mehrfach abweiche."
Einen solchen Gegensatz zwischen theoretischen, und praktischem Standpunkt
giebt es nur, wenn es sich um die Kritik eiues Gesetzes oder um Vorschlüge
«>v ik!>>! im'önäa, uicht aber wenn es sich um die Feststellung des Inhalts
eines bestehenden Gesetzes, um die Darlegung geltenden Rechts handelt. Hier
fragt es sich nur: Worin besteht dieser Inhalt, was ist wirklich Rechtens?
Hier arbeitet die Theorie lediglich für die Praxis, und die Praxis muß die
Ergebnisse der Theorie anerkennen, sofern sie sie für richtig, d. h. mit dem
Inhalt des Gesetzes übereinstimmend findet, weil sie eben an den wahren Inhalt
des Gesetzes ohne jede andre Rücksicht gebunden ist. Nur solche Aufstellungen
der Theorie, die dieser Übereinstimmung mit dem Gesetze entbehren, sind von
der Praxis zu verwerfen; sie sind dann aber auch theoretisch wertlos. Was ä<z
lkgv liitÄ theoretisch richtig ist, muß es auch praktisch sein; eine zwiefache
Wahrheit, eine für die Theorie und eine für die Praxis, ist hier ein Unding.
Deu Gegenstand meiner Untersuchungen hat nun aber allein das geltende
Recht und sein Inhalt gebildet; eine Kritik ist an ihm nur auf Grund seiner
eignen Prinzipien und Einrichtungen geübt; die Bedürfnisse der Praxis sind
insoweit herangezogen, als der Gesetzgeber selbst darauf Rücksicht genommen
hat. Hieraus folgt schon, daß die oben daraus angeführten Äußerungen nicht
gegen das Gesetz selbst gerichtet sein können. In der That wird denn auch
nicht von diesem behauptet, daß es einen Nachklang mittelalterlicher Haftpflicht
für dritte Personen enthalte, sondern vielmehr von dem französischen, in
Deutschland endlich überwundenen System der unterschiedslosen und für alle
Fälle gleichen Gerantenhaftung. Nicht dem Reichspreßgesetz wird der Vorwurf
einer schroffen Verletzung der allgemeinen Grundsätze des Strafrechts, einer
Kränkung des Rechtsgefühls und einer Entwertung der Reichsgesetzgebung ge¬
macht, sondern der Handhabung dieses Gesetzes durch das Reichsgericht, die
einerseits auf Unklarheit über die dem Gesetz zu Grunde liegenden rechtlichen
Gedanken beruht, anderseits zu jenen in der That unerträglichen Folgen
führt, die wir oben angedeutet haben. Gegen diese das Gesetz entstellende
Praxis des Reichsgerichts, die in der That bestrebt ist, „uns unter Hintan¬
setzung der durch die neuere Gesetzgebung errungenen Fortschritte um beinahe
vierzig Jahre in unserm Rechtszustande zurückzuwerfen," richtet sich die Spitze
meines Buches, gegen diese ist es geschrieben, nicht gegen das Neichsgesetz.
Den wahren Inhalt und die wahren Gedanken dieses Gesetzes einer immer
weiter um sich greifenden Verdunkelung gegenüber durch eingehende historische
und dogmatische Begründung fest- und sicherzustellen, darauf ging mein Bestreben.
Eine Widerlegung meiner Ansichten über das Reichspreßgesetz kann daher
auch nur aus diesem selbst, nicht aber, wie Gerland es versucht hat, durch
allgemeine Betrachtungen über die Verhältnisse der Presse und die Bedürfnisse
der Praxis ihr gegenüber erbracht werden. Wenn aber dabei zugleich anerkannt
wird, daß meine Ansichten „nach den Grundsätzen der reinen Theorie gewiß
unanfechtbar" seien, so scheint mir damit nach dem Obigen auch die Notwendig¬
keit ihrer Befolgung durch die Praxis bis auf weiteres gegeben zu sein.
le feierliche Krönung König Wilhelms I., die um 18. Oktober,
ein dem Tage, wo achtundvierzig Jahre zuvor in dem blutigen
Völkerringen bei Leipzig die Entscheidung gefallen war, dem
Tage, wo dreißig Jahre zuvor der einzige Sohn des Königs¬
paares, der nunmehr auch schon verewigte Kaiser Friedrich,
geboren war, zu Königsberg in Preußen vollzogen wurde, bezeichnete
gewissermaßen einen Ruhepunkt in dem politischen Meinungsstreite, der immer
heftiger wurde. Doch dauerte die angenehme Stille nicht lange. Am 6. De¬
zember fanden die Neuwahlen zum Abgeordnetenhaus statt; die Fortschritts¬
partei errang einen bedeutenden Erfolg, der groß genug war, daß es über¬
flüssig erscheinen konnte, ihn noch in übertriebener Weise aufzubauschen, wie
das von der Parteipresse geschah. Daß die ganzen Anschauungen der Mehr¬
heit des Abgeordnetenhauses auf den Lehren beruhten, die die Demokraten des
Jahres 1848 als alleinseligmachend aufgestellt und verkündigt hatten, daß
überhaupt die ganze Bewegung dieser Zeit an die des Umwälzungsjahres an¬
knüpfte und in ihr wurzelte, trat nach und nach immer deutlicher zu Tage.
Dies wurde bewiesen nicht bloß durch das wühlerische Vorgehen bei den Wahlen,
nicht bloß durch das Auftreten der Negierung gegenüber, sondern namentlich
auch durch den Umstand, daß eine Reihe von Männern wieder auf dem poli¬
tischen Schauplatze erschien, die unter den Volksführcrn jener Zeit eine hervor¬
stechende Rolle gespielt hatten. So war namentlich Waldeck wieder gewählt
worden, der frühere Führer der Linken in der preußischen Nationalversammlung;
es Scharte sich auch sofort eine Partei um ihn, die sich nach seinem Namen
nannte.
Am 14. Januar 1862 eröffnete der König in Person deu Landtag durch
eine Thronrede, die so versöhnlich und entgegenkommend wie nur irgend möglich
gehalten war. Daß die Heeresreorgauisntiou aufrecht erhalten wurde, war
selbstverständlich. Wie der Landtag sich dem gegenüber stellen wollte, bewies
sofort die Präsidentenwahl: erster Borsitzende wurde der Abgeordnete Grabow,
und seine Stellvertreter wurden Behrend und von Bockum-Dolffs, alle drei
Anhänger des unbedingten Widerstandes. In die Kommission zur Prüfung
des Militäretats und der Militärvorlage wurden gewühlt sieben Mitglieder
der Fraktion Waldeck, sieben der Fraktion Bockum-Dvlffs, fünf der Fraktion
Grabow, eins der Fraktion Reichensperger, also neunzehn geschworne Gegner
der Regierung unter zwanzig Mitgliedern. Daß mit diesem Hause eine Ver¬
einbarung nicht herbeizuführen war, konnte jeder wissen, ohne gerade ein Seher
zu sein.
Die Verhandlungen schleppten sich hin bis in den Anfang des Monats
März, ohne daß etwas geschehen wäre, was sür die Gegenwart ein Interesse
haben könnte. Da führte unerwartet ein Antrag, der eigentlich gar keine so
weittragende Bedeutung hatte, den plötzlichen Schluß des Landtages herbei.
Es war gewissermaßen der Tropfen, der den bis an den Rand gefüllten Becher
zum Überlaufen brachte. Am 6. März stellten der Abgeordnete Hcigens und
31 Genossen deu Antrag: „Das Haus wolle beschließen, daß 1. der Stnats-
haushaltsetat in seinen Titeln durch Aufnahme der wesentlichen Einnahme- und
Ausgabepositionen aus deu demselben zu Grunde liegenden Verwaltungsetats
mehr zu spezialisiren, 2. diese Spezialisirung schou für 1862 zu bewirken sei."
Der Finanzminister von Patow trat dem Antrage zwar entschieden entgegen,
aber nicht gerade grundsätzlich, bezweifelte, daß die Maßregel sofort durchführbar
sei, verwies auf die folgenden Jahre, erklärte jedoch zum Schlüsse: „Es fragt
sich nur, ob nach Annahme der Vorschläge es noch möglich ist, zu regieren
und die Verantwortung für die Leitung der Geschäfte zu übernehmen, ob darin
nicht ein Eingriff in die Exekutive liegt." Der Antrag Hagens wurde mit
171 gegen 143 Stimmen angenommen. Am folgenden Tage, am 7. März, ver¬
langte der Minister von der Heydt die Suspension der Sitzungen des Hauses
auf einige Tage „wegen wichtiger Beratungen des Staatsministeriums." Am
8. reichte das Ministerium seine Entlassung ein, der König verwarf sie am 9.,
und am 11. erfolgte die Auflösung des Hauses. Die vou dem Minister von
der Heydt verlesene Botschaft schloß mit den Worten: „Das Ministerium ist
von der Überzeugung durchdrungen, daß nur ein einträchtiges und vertrauens¬
volles Zusammenwirken der Vertretung des Landes mit der Regierung des
.Königs dem Interesse der Monarchie entspricht. Indem es im vollen Bewußt¬
sein seiner Verantwortlichkeit und nach wiederholten Erwägungen sich zu der
Annahme berechtigt hält, daß die Vorgänge in der Sitzung vom 6. d. M.
den Beweis geliefert haben, daß diese Bedingung zur Zeit nicht zutrifft, hat
das Staatsministerium Sr. Majestät zunächst nur raten können, von dem im
Art. 51 der Verfassungsurkunde vorgesehenen Rechte der Krone Gebrauch zu
machen." Art. 51 der preußischen Verfassung lautet: „Der König beruft die
Kammern und schließt ihre Sitzungen. Er kann sie entweder beide zugleich
oder auch nur eine auflösen. Es müssen aber in einem solchen Falle innerhalb
eines Zeitraums von sechzig Tagen nach der Auflösung die Wähler und
innerhalb eines Zeitraums von neunzig Tagen nach der Auflösung die Kammern
versammelt werden." Der Konflikt war somit offenkundig und handgreiflich
geworden; von einem Verkleistern konnte nicht mehr die Rede sein. Aus dem
kleinen Riß war ein klaffender Spalt geworden.
Die Wahlbewegung begann sofort mit einer seit 1848 nicht wieder da¬
gewesenen Heftigkeit. Erlasse der Regierung und der einzelnen Minister, Auf¬
rufe der einzelnen Parteien, namentlich der Fortschrittspartei vom 14. und
ZI. Mürz, Erklärungen, Resolutionen, Adressen aller möglichen, natürlich
meistens völlig unberufenen Körperschaften u. f. w., das alles nahm kein Ende.
Der Ton dieser Schriftstücke war durchweg scharf; sie sind jedoch ausnahms¬
los zu langatmig, als daß hier auf ihren Inhalt näher eingegangen werden
könnte. Inzwischen waren am 18. März die Minister von Auerswald, von
Pntow, Graf Schwerin, von Bernuth, Graf Pückler entlassen worden. Der
bisherige Handelsminister von der Heydt wurde Finanzminister; nen traten ein:
Graf Jtzenplitz, von Muster (bisher Oberkvusistorialrat), Graf Lippe (bisher
Oberstaatsanwalt) und vou Jagow. Am 28. April wurden die Wahlmänner,
am 6. Mai die Abgeordneten in ganz Preußen gewählt. Die Niederlage der
Parteien, die entschlossen waren, die Regierung zu unterstützen, war so voll¬
ständig wie nur möglich. Die wenigen Anhänger des Ministeriums wurden
fast allgemein uur noch als Feudale und Reaktionäre bezeichnet; „Aristokraten"
nud „Junker" wäre zu gut für sie gewesen.
Am 19. Mai wurde der neue Landtag eröffnet, nicht durch den König
in Person, sondern dnrch den Präsidenten des Staatsministeriums. Die
Thronrede war wieder in dem allerversöhulichsten Tone gehalten; sie schloß
mit den Worten: „Die Negierung wird diesen Grundsätzen ^die der König bei
Übernahme der Regentschaft ausgesprochen hatte^ gemäß wie die Rechte der
Krone so auch die Rechte der Landesvertretung gewissenhaft wahren; sie giebt
sich aber auch der Hoffnung hin, daß Sie, meine Herren, ihr bei den zur Auf¬
rechterhaltung der Ehre und Würde Preußens, sowie zur Förderung aller
Zweige friedlicher Thätigkeit nötigen Maßregeln patriotische Unterstützung nicht
versagen." Diese schönen Worte, so redlich und aufrichtig sie auch waren, ver¬
hallten fast ungehört in dem Sturme der entfesselten Parteileideuschaft und
Parteiwut.
Die erste Antwort, die das Abgeordnetenhaus gab, bestand darin, daß
mit 276 von 288 Stimmen Grnbvw zum Präsidenten erwählt wurde; Vize-
präsidenteu wurden wieder Behrend und von Bockum-Dvlffs. Unter den Er¬
örterungen der ersten Wochen nahm die dreitägige Adreßdebatte einen breiten
Raum ein. Die Adresse, der ein Entwurf Twestens zu Grunde lag. lautete
recht hübsch und strömte über von Versicherungen der Loyalität. Wenn mau
aber folgende Stellen liest: „Die mehrfach gemachte Unterstellung, als ob ein
großer Teil der Volksvertretung und mit ihr der preußischen Wähler sich feind¬
licher Eingriffe in die Rechte der Krone schuldig machen könnte, verkennt den
tief monarchischen Grundzug der Nation, in welchem das Königtum seine starken
Wurzeln treibt. Ew. Majestät bitten wir unterthänigst, keinen Unterschied
finden zu wollen zwischen der begeisterten Liebe, welche das Land Ew. Majestät
jederzeit entgegengetragen(!) hat, und zwischen einem Ergebnis der Wahlen,
welches unzweifelhaft gegen einzelne Anschauungen und Maßregeln der könig¬
lichen Staatsregierung gerichtet war. Weit entfernt, in eine Prärogative
der Krone einzugreifen, glauben wir, diese Krone nur zu stützen und zu stärken,
indem wir Ew. Majestät in tiefster Ehrfurcht die Überzeugung aussprechen,
daß keine Regierung, welche in diesen Punkten den Bedürfnissen der Nation
widerstrebt, die untrennbaren Interessen der Krone und des Landes zu fördern
imstande sein würde," so wird man doch sehr lebhaft an den bekannten Satz
der praktischen Rechtskunde erinnert: 8i tevisti, luz^s.! nur mit dem Unter¬
schiede, daß hier von vornherein etwas abgeleugnet wird, das man sest ent¬
schlossen war zu thun und jahrelang gethan hat. Die Hauptsache, die Militär¬
frage, ist in der Adresse mit keinem Worte berührt.
Am 7. Juli erteilte der König folgende Antwort: „Ich habe die mir
soeben ausgedrückten Versicherungen der Treue und loyalen Ergebenheit gern
entgegengenommen. Indem ich wiederholt ausspreche, daß ich unverändert auf
dem Boden der beschworner Verfassung stehe, sowie auf dem meines Programms
vom November 1858, und daß ich mich hierbei in voller Übereinstimmung mit
meinem Ministerium befinde, knüpfe ich hieran die feste Erwartung, Ihre aus¬
gesprochenen Gesinnungen durch die That bewährt zu sehen, und da Sie einen
Satz meines Programms von 1858 herausgehoben haben, so wollen Sie sich
dasselbe Zeile für Zeile einprägen; dann werden Sie meine Gesinnungen recht
erkennen." Eine Wirkung hatten diese höchst beherzigenswerten Worte nicht.
Endlos lang schleppten sich die Verhandlungen die ganzen Sommermonate
hindurch hin, unterbrochen von mancherlei Zwischenfällen. Einige nebensächliche
Gegenstünde wurden auch erledigt; was die Hauptsache betraf, die Wehrhaft-
machung des Staates, und zwar zu Wasser wie zu Lande, so kam man auch
nicht um eines Fußes Breite weiter. Das Entgegenkommen der Regierung
wurde nicht erwidert; alle ihre Zugestündnisse, die wirklich bis an die äußerste
Grenze des Möglichen gingen, d. h. wenn der Grundpfeiler und das Bollwerk
des Landes nicht angegriffen werden sollte, nämlich das Kriegsheer, wurden
als ungenügend befunden und schroff zurückgewiesen. Die Debatte über den
Militärctat begann im Abgeordnetenhause erst am 11. September und nahm
sieben volle Tage in Anspruch. Dazwischen wurden fortwährend Sitzungen
der Budgetkommission abgehalten. Erst am achten Tage, am 23. September,
kam es zur Schluszabstimmung. Obgleich der Minister dringend davor warnte,
nicht Umstände herbeizuführen, „unter denen etwas geschehen müsse, was nicht
ausdrücklich in der Verfassung geschrieben sei," stimmten für die Regierungs¬
vorlage nur 11 Mitglieder („Feudale" natürlich!), dagegen 308. Die gesamten
Kosten der Reorganisation wurden im Ordinarium gestrichen und in das Extra-
ordinarium verwiesen („erhöhte Kriegsbereitschaft" lautete die schöne Redensart,
die man dafür erfunden hatte), und um keinen Menschen in Zweifel darüber
zu lassen, was man auf dieser „Seite des Hauses" unter erhöhter Kriegsbereit¬
schaft verstand, wurde dann die gesamte Summe im Extraordinarium einfach
gestrichen. Mit diesem Beschlusse war, wie man im gewöhnlichen Leben zu
sagen Pflegt, dem Fasse der Boden aufgeschlagen. Aus dem klaffenden Riß
war jetzt ein gähnender Schlund geworden.
Was dachte sich wohl das Abgeordnetenhaus eigentlich bei diesem Be¬
schlusse? Glaubte die Mehrheit wirklich, daß die Regierung sich dem fügen
und das nun ausführen würde, was die notwendige Folge davon war? Die
preußische Geschichte kennt nur einen Fall von einer wesentlichen Verminderung
des Heeres. Das war damals, als ein übermütiger und übermächtiger Sieger
und Eroberer seinen Fuß auf den Nacken des bis dahin freien Preußenvolkes
gesetzt hatte, es war bei dein schmachvollen Frieden zu Tilsit, dem sich das
zertretene Land fügen mußte. Jedem Vaterlandsfreunde blutete damals das
Herz, und es blutete lange, schwere Jahre, bis das fließende Herzblut der
Feinde die Wunden heilte. Und wenn wir jetzt, wo unsre Nation auf der
Höhe der Macht und des Ruhmes steht, an Tilsit denken oder davon lesen,
dann ballt sich unwillkürlich die Faust, und jeder, der ein Deutscher ist, denkt:
„Lieber soll alles, was im Vaterlande Wehr und Waffen tragen kann, auf
dem Schlachtfelde bluten, als daß eine solche Schmach noch einmal über uns
kommt!" Und zu einer ähnlichen Maßregel wollte eine sogenannte preußische
Volksvertretung die Regierung des eignen Landes zwingen! Auch der ver-
blendetste und verrannteste Parteifanatiker konnte unmöglich glauben, daß König
Wilhelm das jemals zugeben würde, ja mehr noch, daß die Durchführung einer
solchen Maßregel überhaupt möglich wäre. Es sollte z. B. fast der halbe
Bestand der Infanterie entlassen, aufgelöst werden, jenes Fußvolkes, das bald
darauf in drei blutigen Kriegen im Sturme mit „Gewehr rechts!" siegreich alle
Feinde des Vaterlandes zu Boden warf. Eher wären unsre Ströme rückwärts
geflossen! Wollte denn die Mehrheit des Hanfes auch wirklich und ernstlich,
daß ihr Beschluß durchgeführt wurde? Auch diese Frage muß verneint werden.
Denn unter den Männern, die damals gegen die Regierung stimmten, waren
doch recht viele, die nicht beabsichtigten, ihr Land ungerüstet oder doch wenigstens
höchst mangelhaft gerüstet seinen Feinden preiszugeben. Es gab, wie der Ver¬
lauf der Geschichte nachher unwiderleglich bewiesen hat, unter ihnen doch recht
viele, in deren Herzen die Parteiieidenschaft den alten, braven Preußensinn
zwar für den Augenblick überwuchert, aber keineswegs erstickt hatte. Vielen
kam wohl auch schon damals in stiller Stunde einmal der Gedanke: „Wenn
die Männer, die Preußen groß gemacht haben, die Fürsten und Feldherren,
Die Helden, so einst uns geführet,
herabschauten aus himmlischen Höhen ans das erbarmenswürdige Schauspiel,
wie die eignen Söhne des Vaterlandes förmlich mit Wollust in seinen Ein¬
geweiden wühlten, so müßten wir doch vergehen vor Scham." Preußen wehrlos
machen — Preußen ehrlos machen, das wollten die meisten entschieden nicht.
Aber sie faßten jenen Beschluß einfach, um den Konflikt zu verschärfen, zu ver¬
tiefen und dauernd zu machen. Sie wollten eben den Konflikt um seiner selbst
willen; denn durch den Konflikt glaubten sie nach und nach den König und
die Negierung zwingen zu können, den wahren Parlamentarismus, d. h.
die unbedingte Pnrlamentsherrschaft, herzustellen. Die Herren hatten gut ge¬
lernt in der französischen Schule: Opposition gegen jede Regierung, bis das
jeweilige Ministerium gestürzt war, und bis die Opposition selbst die Macht
in den Händen hatte, um allerdings nach längerer oder kürzerer Zeit von
einer uoch fortgeschritteneren Opposition dasselbe Schicksal zu erleiden. In
Frankreich ging man dann freilich noch einen Schritt weiter: waren ver-
schiedne Ministerien nach und nach gefallen, so stürzte man von Zeit zu Zeit
der Abwechslung wegen die Dynastie. Bis zu dieser Höhe war man in
Preußen noch nicht gediehen; das hätten sogar die entschiedensten Republi¬
kaner aus der 48er Zeit nicht zugestanden. Aber Parlamentsherrschaft um
jeden Preis wollte man; darum Konflikt um jeden Preis. War der echte
Parlamentarismus erst da, dann kam alles übrige, was zu wünschen war, von
selbst nach. Natürlich bestritt der „Fortschritt" aufs lebhafteste und mit dem
sogenannten Brusttöne der Überzeugung, der den Herren bekanntlich so gut
steht, daß er jemals nach Machterweiterung für den Landtag gestrebt habe;
natürlich bestreitet er das bis auf den heutigen Tag. Das thut aber nichts,
die Sache ist doch einmal so. Wenn dem Beschlusse vom 2Z. September 1862
dieses uneingestaudene Streben nicht zu Grunde lag, so lag einfach gar keine
Vernunft darin; er war dann völlig zwecklos und sinnlos, ja geradezu widersinnig.
Die Fortschrittspartei, die ganz in den demokratischen Anschauungen von
1848 wurzelte und daher, eingestandener- oder uneingestandenermaßen, auf dem
Standpunkte der unbedingten Volkssouveränität stand, war rasch genug fertig
mit der Antwort: Ist eine Einigung der drei Faktoren der Gesetzgebung nicht
zu erzielen, so muß nicht nur das Herrenhaus, sondern so muß auch der König
einfach nachgeben und sich dem Willen des Unterhauses fügen. So unumwunden,
oder sagen wir geradezu: so grob drückte sie das nicht aus. Denn gegen die
Person des Königs hegte der Fortschritt von jeher und hegt er noch heute
die unbedingteste Hochachtung, in Worten natürlich. Eine Person hat nnn
aber eignes Urteil, freien Willen, selbständige Entschließungen u. s. w., und
gerade bei den Männern des Hauses Hohenzollern sind diese Weseuseigen-
tümlichkeiten in besonders hervorragender Weise ausgeprägt. Nun wäre es
doch ganz entschieden,, um nicht mehr zu sagen, unhöflich, den eignen Willen
dem des, Königs entgegenzusetzen oder ihn gar darüber zu stelle». Diese
„UnHöflichkeit" läßt sich nun auf sehr einfache Weise vermeiden, wenn man
den Ausdruck „König" vermeidet und dafür stets sagt „die Krone." Zwar
entspricht das in keiner Weise der preußischen Verfassung; denn abgesehen von
Zusammensetzungen wie Krvnfideikommiß und Kroudsyudici findet sich der
Ausdruck „die Krone" in der Verfassungsurkunde nur ein einzigesmal, nämlich
in Art. 53: „Die Krone ist erblich" u. s. w., und daß das Wort hier etwas
andres bedeutet, als was die „entschieden Liberalen" darunter verstanden wissen
wollen, liegt auf der Hand. Aber das thut nichts; der kleine Kunstgriff thut
noch immer seine vorzüglichen Dienste. Die Krone ist schließlich eine Abstraktion,
etwas, das man nicht fassen und greifen kann; sie schwebt hoch über uns,
„weit in nebelgrauer Ferne"; was im Staate vorgeht, wie regiert wird, darum
braucht „die Krone" sich nicht zu kümmern. „Der König," von dem Titel 3
der Verfassung handelt und den fast jeder Artikel dieses Titels nur so be¬
zeichnet, bleibt ganz aus dem Spiele. Wer merkt das gerade? Die wenigsten
Leute kennen die Verfassung, und von den wenigen, die sie etwa gelesen haben,
achten doch nicht viele auf solche Kleinigkeiten. „Der König" kann natürlich
nicht nachgebe», aber „die Krone" entläßt die Regierung, die den Willen der
Mehrheit des Abgeordnetenhauses nicht vollziehen will, beruft ein neues
Ministerium aus eben dieser Mehrheit, und Einigkeit, Friede und Freude ist
wiederhergestellt. Dieses Verfahren beobachtet man ja ungefähr seit zweihundert
Jahren in England; warum nicht auch in Preußen? In der Verfassung steht
zwar kein Buchstabe davon; aber in diesem Falle braucht man darauf ja kein
besondres Gewicht zu legen, oder man könnte zu Art. 62 etwa folgenden
Zusatz machen: „Ist zwischen den drei Faktoren der Gesetzgebung keine Einigung
zu erzielen, so gilt unbedingt der Wille der Mehrheit des Abgeordnetenhauses."
Dann ist die Lücke in der Verfassung ausgefüllt, der alleinseligmachende Par¬
lamentarismus ist hergestellt, d. h. die Parteiwirtschaft oder Diktatur einer
zufällig zusammengewürfelten Mehrheit, und wie leicht könnte man dann einmal
so einen kleinen, netten Konvent 5 Iki. 1793 zu stände bringen!
Das entgegengesetzte Auskunftsmittel würde sein, daß in dem gedachten
Falle die unbeschränkte Macht des Königs, wie sie vor Erlaß der Verfassung
in Preußen zu Rechte bestand, wieder einträte; zu diesem Zwecke müßte die
Verfassung ganz oder teilweise auf kürzere oder längere Zeit aufgehoben werden.
Das hat aber, seit Preußen ein Verfassungsstant ist, weder ein Herrscher, noch
ein Ministerium, noch eine nennenswert große Partei jemals gewollt. Wer
das Gegenteil behauptet, der redet entweder in den Tag hinein oder sagt be¬
wußterweise die Unwahrheit. Läßt sich also auch so der Streit nicht beilegen,
so ist es ganz unvermeidlich, daß nach und nach aus der Rechtsfrage eine
Machtfrage wird. Aus einer ähnlichen Äußerung Bismarcks in der Konflikts¬
zeit drehte man ja bekanntlich heraus, der Ministerpräsident habe geäußert:
„Macht geht vor Recht." Was aber daraus entsteht, wenn derartige Macht¬
fragen bis ans die äußerste Spitze getrieben werden, das zeigt wieder das
konstitutionelle Musterland, England. Der „Konflikt" zwischen Karl 1. und
dem langen Parlament führte zu einem greuelvollen Bürgerkriege, der jahre¬
lang Englands Fluren mit Blut und Brand erfüllte, bis schließlich Cromwells
IrouMös den Streit mit ihren schweren Pallaschen entschieden, nicht zu Gunsten
der sogenannten Freiheit, d. h. der Parlamentsherrschaft, sondern eines schranken¬
losen Militärdespotismus, einer nackten Säbelherrschaft. Der Gedanke freilich,
in dein alten königlichen Preußen, wo fast jeder wehrfähige Mann zu
der Fahne mit dem schwarzen Adler geschworen hat, ein Parlamentsheer auf
die Beine zu bringen, muß doch auch dem verranntesten Demokraten zu thöricht
erschienen sein. Ebenso scheint auch in jener Zeit, die wahrlich viel von
politischer Tollheit an das Licht förderte, auch uicht ein verbissener Partei¬
mann ernstlich daran gedacht zu haben, den Willensstärken und willensfesten
König Wilhelm etwa durch Barrikaden in seiner Hauptstadt einzuschüchtern,
wie das bei seinem Bruder leider für kurze Zeit gelungen war. Auch war
man weit davon entfernt, etwa durch Aufforderung zur Steuerverweigerung
die Regierung zur Anwendung von Gewaltmaßregeln herauszufordern. Kurz,
ein ruhig denkender, klarer politischer Kopf konnte sich schon damals sagen:
Das einzige, was diesen Verfassungsstreit ebenso wie alle parlamentarischen
Konflikte beenden kann, ist ein Kompromiß, d. h. eine Einigung, bei der beide
Parteien etwas nachgeben, und die beiden Parteien zur Ehre gereicht. Dazu
bot auch die Regierung des Königs immer von neuem die Hand; aber noch
vier Jahre sollte es dauern, ehe die blinde Parteileidenschaft es zuließ, diese
Hand zu ergreifen.
An demselben 23. September, wo das Abgeordnetenhaus den eben be¬
sprochenen Beschluß gefaßt hatte, unterzeichnete Seine Majestät die Kabinets-
ordre, durch die der bisherige preußische Botschafter am Pariser Hofe, Herr
Otto von Bismarck-Schönhausen, zum Ministerpräsidenten, vorläufig ohne
Portefeuille, ernannt wurde. Am folgenden Tage übernahm dieser die Leitung
der Staatsgeschüfte.
Es ist eine in weiten Kreisen verbreitete und von der Fortschrittspartei
geflissentlich gehegte Meinung, daß Bismarck der Urheber des ganze» Konflikts
gewesen sei. Der liberale, d. h. freisinnige oder demokratische Bildungsphilister,
der abends an seinem Stammtische als politische Autorität gilt, hat darüber
folgende Ansicht, die von allen seinen Gesinnungsgenossen geteilt wird: Als
der böse Bismarck, dieses rücksichtslose Werkzeug eiuer finstern, schwarzen Re¬
aktion, an die Spitze der Regierung trat, wollte er sofort dem preußischen
Volke das bißchen Freiheit, das so mühsam errungen war, wieder nehmen, die
ganze Verfassung mindestens „sistiren" und in rückschrittlichen Sinne „revi-
diren," oder am liebsten gleich ganz aufheben. Es ist eine ganz auffallende
Erscheinung, wie gering uicht nur unter den Anhängern, sondern selbst auch
unter den Führern der demokratischen Parteien, die Anzahl der Männer ist,
die auch nur einigermaßen eingehende Kenntnis der neuern und neuesten Ge¬
schichte haben. Aber eigentlich haben sie Recht: sie suhlen, daß ihre Partei
keine schlimmere und gefährlichere Feindin hat, als diese Wissenschaft. Wer
die Geschichte kennt und so viel Verstand hat, daß er aus ihr lernen, d. h.
selbständig Schlüsse ziehen und sich Urteile bilden kann, der kann kein Anhänger
der Fortschrittspartei sein. Würde erst einmal die Kenntnis der wirklichen
geschichtlichen Vorgänge Allgemeingut der Nation, dann wäre es mit dieser
Partei ans, rein aus. Aber das erleben Nur nicht. Die wenigen Fortschrittler
oder Freisinnigen aber, die es besser wissen, hüten sich wohl, jenes Tendenz-
märcheu über den schlimmen Bismarck der Konfliktszeit zu zerstören. Die
eben angeführte Ansicht paßt zu gut in ihren Kram. Die gegebene Dar¬
stellung der Thatsachen — und an den Thatsache» ist uicht zu rühren und zu
rütteln - beweist aufs schlagendste, wie völlig unrichtig jene Anschauung ist.
Als Bismarck die Leitung der Regierung im Namen seines .Königs übernahm,
fand er den Konflikt in allerbester Form vor, so scharf ausgeprägt wie nur
irgend denkbar, so heftig und leidenschaftlich, wie es nur irgend möglich war,
so lange die streitenden Mächte im Staatsleben noch nicht, wie etwa zu den
Zeiten des langen Parlaments in England, zu den Waffen gegriffen hatten,
um ihren vermeintlichen Rechtsstandpunkt zu wahren. Mau darf sogar, wenn
auch nicht voraussetzen, so doch wenigstens für möglich halten, daß er Mittel
und Wege gefunden hätte, den ganzen häßlichen Verfassungsstreit zu vermeiden,
wenn er zwei Jahre früher am Ruder gewesen wäre. Daß er in diesem Sinne
gewirkt haben würde, geht unzweifelhaft hervor aus einer Äußerung, die er
am 19. November 18ki3 dem damaligen Abgeordneten und frühern Minister
von Bernuth gegenüber that: „Wenn irgend jemand die Verpflichtung hat,
uns zu unterstützen bei Lösung desjenigen Knotens, den jene Herren mit mehr
Leichtigkeit als Geschick schürzten, so glaube ich, sind es die Mitglieder der
vorigen Regierung." Als er aber den Streit, der der Regierung mutwillig
aufgedrängt war, einmal vorfand, da hat er ihn geführt wie ein Mann, ein
ganzer Mann, ein Deutscher und ein Preuße. Wie ein germanischer Recke der
alten Zeit stand er vor dem Throne, bereit, mit seinem Schilde oder auch mit
seinem Leibe jeden Streich aufzufangen, den die Feinde gegen den Herrn und
König führten, dem er Mannentreue geschworen hatte bis in den Tod. Und
als dann die Zeit gekommen war, mit Ehren den Gegnern die Hand zum
Frieden zu bieten, da riet er sofort seinem Könige und Gebieter, dessen ehr¬
würdiges Haupt eben mit neuem, unvergänglichen Lorbeer umkränzt war, diesen
Schritt zu thun. Begonnen hat Bismarck den Konflikt nicht, aber ruhmreich
und siegreich zu Ende geführt hat er ihn. Das ist und das bleibt die
Wahrheit.
Ehe der weitere Verlauf der Ereignisse geschildert werden kann, ist es
notwendig, einige Worte über die Rechtsfrage und die Rechtslage einzufügen.
Die Artikel der preußischen Verfassung, die bei Beurteilung des ganzen Streites
in Frage kommen, lauten: Art. 99. Alle Einnahmen und Ausgaben des
Staates müssen für jedes Jahr im voraus veranschlagt und auf den Staats¬
haushaltsetat gebracht werden. Letzterer wird jährlich durch ein Gesetz festgestellt.
Art. 62. Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und
durch zwei Kammern ausgeübt. Die Übereinstimmung des Königs und beider
Kammern ist zu jedem Gesetze erforderlich. Fiuanzgesetzentwürfe und Staats¬
haushaltsetats werden zuerst der zweiten Kammer vorgelegt; letztere werde»
von der ersten Kammer im ganzen angenommen oder abgelehnt. Die andern
Artikel, die man damals Wohl herangezogen hat, sind nebensächlich und treffen
den Kernpunkt der Sache nicht, z. B. Art. 100: Steuern und Abgaben für
die Staatskasse dürfen nur, soweit sie in den Staatshaushaltsetat aufgenommen
oder durch besondre Gesetze angeordnet sind, erhoben werden; oder Art. 104,
Abs. 1: Zu Etatsüberschreitllngeu ist die nachträgliche Genehmigung der
Kammern erforderlich. Der Schwerpunkt der ganzen Frage liegt offenbar in
der Bestimmung: Die Übereinstimmung des Königs und beider Kammern ist
zu jedem Gesetze erforderlich. Wird diese Einigung stets erzielt, so arbeitet
die Staatsmaschine glatt und ohne Anstoß, und das politische Leben geht seinen
regelmäßigen, gesetzlichen Gang. Ist aber eine solche nicht herbeizuführen, was
soll dann geschehen? Die Verfassung hat hierauf keine Antwort; in ihr findet
sich auch nicht die Spur einer Bestimmung, nach der in einem solchen Falle
verfahren werden könnte. Das ist die sogenannte Lücke in der Verfassung;
trotz alles Hohnes und Spottes, den mau damals über die „Lückenthevrie"
ausgegossen hat, ist sie thatsächlich vorhanden, und nach der ganzen Entwick¬
lung des preußischen Staats- und Verfassungsrechts ist es überhaupt unmöglich,
diese Lücke auszufüllen.
Am 29. September 1862 wurden die Sitzungen des Abgeordnetenhauses
wieder eröffnet, und zwar mit der Erklärung des Ministerpräsidenten, daß die
Regierung das Budget für 1863 zurückziehe; die wichtigsten Sätze der Be¬
gründung lauteten: „Nachdem das hohe Haus alle in der Reorganisation des
Heeres beruhenden Ausgaben aus dem Etat für 1862 abzusetzen beschlossen
hat, muß die Königl. Regierung annehmen, daß dieselben Beschlüsse sich be¬
züglich des Etats für 1863 unverändert wiederholen werden, wenn er gegen¬
wärtig zur Beratung gelangt. Nach den bisherigen Verhandlungen ist eine
Verständigung ohne Gesetzesvvrlage nicht möglich. Auf den Antrag des Staats¬
ministeriums hat mich der König ermächtigt, den Etat für 1863 zurückzuziehen.
Damit ist der Grundsatz von einer rechtzeitigen Vorlegung des Etats nicht
aufgegeben, sondern die Regierung hält es gegenwärtig für ihre Pflicht, die
Hindernisse einer Verständigung nicht höher anschwellen zu lassen. Die Re¬
gierung wird daher in der nächsten Session den Etat für 1863 mit einem
die Lebensbedingungen der Reorganisation aufrecht erhaltenden Gesetzentwurfe
vorlegen, und ebenso den Etat für 1864." Dagegen beschloß am folgenden
Tage die Budgetkommission aus Antrag des Herrn von Forkenbeck: 1. „die
Stnatsregieruug aufzufordern, den Etat für 1863 dem Abgeordnetenhause zur
verfassungsmäßigen Beschlußfassung so schleunig vorzulegen, daß die Feststellung
noch vor dem Beginne des Jahres 1863 erfolgen könne, und erklärte es
2. für verfassungswidrig, „wenn die Staatsregierung über eine Ausgabe ver¬
füge, welche durch das Abgeordnetenhaus abgelehnt worden sei."
Jene Kvinmissionssitzung war vielleicht eine der am stärksten besuchten, die
die parlamentarische Geschichte Preußens kennt; mehr als sechzig Abgeordnete
wohnten den Beratungen bei. Damals fiel eine Reihe von Äußerungen des
Ministerpräsidenten, die seit jener Zeit als „geflügelte Worte" mehr oder
weniger Gemeinant der weitesten Kreise unsres Volkes geworden sind, z. B.:
„Der Konflikt wird zu tragisch aufgefaßt. Eine Verfassnngskrisis ist keine
Schande, sondern eine Ehre. Wir sind vielleicht zu gebildet, um eine Ver¬
fassung zu ertragen; wir sind zu kritisch. Die öffentliche Meinung wechselt;
die Presse ist nicht die öffentliche Meinung; man weiß wie die Presse entsteht.
Es giebt zu viele katilinaristische Existenzen, die ein Interesse an Umwälzungen
haben. Die Abgeordneten haben die Aufgabe, die Stimmung zu leiten, über
ihr zu stehen. Wir haben zu heißes Blut, wir haben die Vorliebe, eine zu
große Rüstung für unsern schmalen Leib zu tragen; nur sollten wir sie auch
nützen. Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine
Macht. Preußen muß seiue Kraft zusammenhalten auf den günstigen Augen¬
blick, der schon einmal verpaßt ist; Preußens Grenzen sind zu einem gesunden
Staatskörper nicht günstig. Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werde»
die großen Fragen der Zeit entschieden —- das ist der Fehler von 1848 und
^849 gewesen — sondern durch Eisen und Blut." Diese Aussprüche des
großen Mannes, der damals noch so ungeheuerlich verknuut wurde, machten
gewaltiges Aufsehen und wurden vom Liberalismus nicht uur !u Preußen,
sondern auch im übrigen Deutschland aufs heftigste augegriffen, trotz oder
vielleicht gerade wegen ihrer in die Augen springenden Richtigkeit. Namentlich
das letzte Wort, die „Blut- und Eisenpolitik," erregte einen waren Sturm von
Aufregung und Entrüstung. In dem Ministerpräsidenten war ein zweiter
Udelin, eine neue Gottesgeißel erstanden; Dschingiskan und Tamerlan waren
diesem Manne gegenüber sanfte und humane Herren gewesen, und der schnod¬
drige Berliner Witz verstieg sich zu dem billigen Kalauer, der damals aber
für einen Goldfnnd galt: „Der Bismarck wird schon Hausen."
(Fortsetzung sol.u)
außer Herder und Hegel kein Deutscher den Versuch einer nach
großem Plane angelegten Geschichtsphilosophie unternommen hatte,
mußte bei der Neigung der Deutschen zu der genannten Wissen-
lind bei ihrer Bereitwilligkeit für die Aufnahme englischer
Geisteserzeugnisse Brettes Werk eigentlich gleich nach seinem Er¬
scheinen (1858—1861) bei uns Schule machen, zumal da er der Geschichts¬
philosoph des Individualismus ist, und dieser gerade damals obenauf war.
Aber eben dieser Charakter seines Werkes bildete ein Hindernis für den durch¬
schlagenden Erfolg; denn während der Individualismus in Gesetzgebung und
Verkehr seine höchsten Triumphe feierte, gingen in Volksversammlung und Presse
die Wogendes Sozinlismus bereits sehr hoch. Schon aus diesem Grunde
darf man sich nicht wundern, daß Darwins „Entstehung der Arten," die fast
gleichzeitig mit Brettes erstem Bande erschien, diesen in den Hintergrund
drängte. Ohne Frage nämlich war es nicht das naturwissenschaftlich Wert¬
volle in Darwins Büchern, der darin niedergelegte Schatz beobachteter That¬
sachen, was ihm sofort ein Heer von begeisterten Anhängern und entrüsteten
Gegnern erweckte, sondern ihre Brauchbarkeit für gewisse philosophische Systeme.
Deren Anhänger waren überzeugt, daß durch diese neue Entwicklungstheorie
der Glaube an Gott und an den unsterblichen Menschengeist auf wissenschaft¬
lichem Wege für immer beseitigt sei. Philvsophirende Naturforscher der ange¬
deuteten Richtung widmeten ihr Leben dem Apvstvlat der neuen Offenbarung
und verbreiteten sie durch Wort und Schrift so erfolgreich, daß Darwin sich zu
seiner großen Freude sehr bald in Deutschland allgemein anerkannt sah, während
in seinem Vaterlande die Gegner noch lange das Feld behaupteten. Den
Anfang machte Häckel mit seinem Vortrage über die Entwicklungstheorie, den
er am 19. September 1863 in der ersten allgemeinen Sitzung der 38. Ver¬
sammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Stettin hielt.
Hätte sich auch irgend jemand in ähnlicher Weise für Buckle begeistert,
so würde er doch schon darum den Darwinianern gegenüber im Nachteile ge¬
blieben sein, weil naturwissenschaftliche Lehren viel leichter volkstümlich werden
als irgend ein Zweig der Geisteswissenschaften. Wo Blumen, Steine, Tiere
und Knochen oder Abbildungen solcher vorgezeigt werden, wo es blitzt und
knallt, wo sich das Auge an schönem Farbenspiel ergetzt oder über seltsame
Gebilde erstaunt, da sind die Kinder und ist das Volk am liebsten dabei, und
das Volk in diesem Sinne reicht sehr hoch hinaus. Auch glaubt jeder sofort
bis auf den Grund zu verstehen, was ihm an Naturkörpern, Zeichnungen oder
künstlichen Vorrichtungen „demonstrirt" wird. Zudem war Darwin so glücklich
gewesen, eine Reihe packender, leicht verständlicher Schlagwörter zu finden, deren
Anwendbarkeit nicht allein weit über ihren ursprünglichen Geltungsbereich
hinausging, sondern die schlechthin alles in der Welt zu erklären, alle Wesen
und Erscheinungen des Natur- und Menschenlebens zu schönster Einheit zu
verknüpfen schienen. Mit Anpassung und Vererbung, Zuchtwahl oder Über¬
leben des Passendsten, mit dem Kampf ums Dasein Hantiren seitdem nicht bloß
der Botaniker und der Zoologe, sondern auch der Geschäftsmann, der Politiker,
der Vvlkswirtschaftslehrer, der Geschichtsphilosoph, der Philister in der Kneipe
und der Witzblattschreiber. Man hatte mit einem Schlage eine Geschichts-
philosophie gewonnen, die jede andre überflüssig macht, weil sie schlechthin
alles, nicht bloß die Menschenwelt, sondern die ganze Welt umfaßt. Dem be¬
scheidnen, ja bis zur Ängstlichkeit vorsichtigen und gewissenhaften Darwin lag
nichts ferner als eine Kompetenzüberschreituug. Lehnte doch der Verfasser des
Werkes über die Befruchtung der Orchideen durch Insekten nud des andern
über Kreuz- und Selbstbefruchtung im Pflanzenreich die Bezeichnung eines
Botanikers von sich ab. „Ich sehe, schreibt er im August 187L an Asa Gray.
wir sind beide zu korrespondirenden Mitgliedern des Instituts sovil Frankreich!
gewählt worden. Es ist eigentlich ein guter Witz, daß ich in die botanische
Sektion gewählt worden bin. Ich weiß allenfalls, daß die Gänseblümchen zu
den Kompositen und die Erbsen zu den Leguminosen gehören, aber weit darüber
hinaus reichen meine botanischen Kenntnisse nicht." Und manchmal drängt ihn
die Fruchtbarkeit seiner Hypothese so hart an die Grenze seiner Wissenschaft,
daß man die Selbstbeherrschung bewundern muß, mit der er jeder Versuchung
einer Grenzüberschreitnug widerstand. Zum Beispiel an folgender Stelle: „Die
Theorie der natürlichen Zuchtwahl beruht auf der Annahme, daß jede neue
Varietät und zuletzt jede neue Art dadurch gebildet wird, daß sie irgend einen
Vorteil vor den konkurrirenden Arten voraus habe, infolge dessen die weniger
begünstigten Arten fast unvermeidlich erlöschen. Bei unsern Kulturerzen griffen
verhält es sich ja ganz ebenso. Ist eine neue, unbedeutend vervollkommnete
Varietät gebildet worden, so verdrängt sie zunächst die minder vollkommnen
Varietäten in der unmittelbaren Umgebung. Wird sie dann noch erheblich mehr
verbessert, so breitet sie sich auch in die Ferne aus und verdrängt dort die
andern Nassen, wie unsre kurzhörnigen Rinder gethan haben" (Über die Ent¬
stehung der Arten, S. 406). Wie nahe lag hier die Bemerkung, daß es sich
nicht bloß mit den Kultnrerzettgnisseu der Landwirtschaft, sondern auch mit
denen der Industrie so verhalte. Bei Buckle finden sich keine Schlagwörter
von solcher Verständlichkeit und Tragweite; und was sich etwa dazu eignete,
wie der Gedanke von der Schädlichkeit aller Regierungen, würde doch auch
schon vor Erlaß des Sozialistengesetzes etwaigen Aposteln gewisse Verlegen¬
heiten bereitet haben. Die Darwinianer hingegen befinden sich in der glück¬
lichen Lage, die Auffassung aller menschlichen Verhältnisse in durchgreifender
Weise beeinflussen zu können, ohne diese Verhältnisse auch uur mit einem Worte
zu nennen.
Namentlich darum fühlten sich alle philosophischen Köpfe lebhaft ange¬
zogen, weil der Begriff der Entwicklung, der seit Hegel als mystisch verschleierte
Idee die Gemüter bewegt hatte, nun Plötzlich die Klarheit einer geometrischen
Figur zu gewinnen und das Geheimnis der Welt zu enthüllen schien. Wenn
es bei der Entstehung der Weltkörper und ihrer lebendigen Bewohner nicht
anders zugegangen ist wie bei der Entwicklung des Hühnchens im El, die wir
in der Brutmaschine mit unseru Augen verfolgen können, dann ist ja das große
Rätsel gelöst und alles, was wunderbar erschien, natürlich erklärt! Den Ein¬
Wurf, daß ebeu diese Verwandlung des Eies in ein Hühnchen das Wunder der
Wunder sei, und daß wir durch die Zurückführung der Weltwerdung auf diesen
zwar vor unsern Augen sich vollziehenden, aber darum nicht minder unbegreif¬
lichen Vorgang dem Geheimnis des Lebens keinen Schritt näher rücken, diesen
EinWurf ließ mau nicht gelten, seitdem Häckel die „Perigenesis der Plastidule"
erfunden und in einem schonen Bilde: rote Kugeln mit schwarzen Flecken ver¬
anschaulicht hatte. Die Plastidule, so lehrt Häckel, diese Moleküle der orga¬
nischen Körper, sind mit „unbewußten Gedächtnis" begabt. Dieses unbewußte
Gedächtnis befähigt das Tvchterplaftidul, die charakteristische Molekularbewegung
des Mutterplastiduls fortzusetzen, während sie zugleich durch äußere Einflüsse
einigermaßen verändert wird. So geht jene Vererbung und Anpassung, deren
Endergebnis uns in den großen Gestatte» der Tiere und Pflanzen sichtbar
wird, in der unsichtbaren Welt der Moleküle vor sich. Daß etwas dergleichen
vorgehen müsse, hatte man allerdings von den Zeiten der alten Alpinisten her
schon immer geahnt, nud Leibniz sprach deu Lehrsatz aus, daß alle Veränderungen
der Welt sich im unendlich Kleinen vollziehen. Aber jetzt erst wurde es klar,
wie es dabei eigentlich zugeht.
Nun gab es freilich Leute, die sich unter einem unbewußten Gedächtnis
schlechterdings nichts zu denken vermochte», denen es unbegreiflich schien, wie
ein Atomhüufchen plötzlich Gedächtnis bekommen soll, wenn es ein Plastidul
bildet, während es ohne Gedächtnis bleibt, so lange es sich in einer unorga¬
nischen Verbindung befindet; und sie meinten, an Stelle des einen allumfassenden
Wunders: der Existenz Gottes seien hier ebenso viele Villionen Wunder ge¬
treten, als Atomhäufchen mit unbewußten Gedächtnis und der Kraft, ihres¬
gleichen zu zeugen, in der Welt entstehen. Allein diese Leute wurden als
Schwachköpfe von der Gelehrtenrepublik ausgeschlossen, und ihre Proteste ver¬
hallten in dem allgemeinen Begeisternngsjubel.
Das Wort vom Kampf ums Dasein gewann seine zündende Kraft erst
^866 und 187l>. Das ungeheure Völkerringen auf den Schlachtfeldern und
das gleichzeitige Ringen der Einzelnen und Klassen im Konkurrenzkampfe, der
durch deu Krach von 187.'! einen vorläufigen dramatischen Abschluß erhielt,
schienen zu beweisen, daß jenes Wort den Kern des Lebens treffe und das
Gesetz des Weltlanfs aufdecke. Mit gleicher Begeisterung wandten sich dieser
Auffassung die Guten wie die Schlechten zu. Letztere in dem Sinne, der in
Frankreich die schöne Wortbildung struMlekorlllönr verschuldet hat und vor
einigen Wochen von Alphonse Daudet auf die Bühne des Gymnasetheaters
gebracht wordeu ist. Nicht als ob die durchschnittlichen struMlklorlllsurs solche
Tröpfe waren wie Lebiez und Barro, die einiger lumpigen tausend Franks
wegen den vielbesprochenen Raubmord an einer Milchfrau begangen und dem
französischen Novellisten die Idee feines Dramas eingegeben haben. Meistens
läßt die r68psowdilit/ dieser Herren nichts zu wünschen übrig. Wir bedienen
uns dieses Wortes, weil in England zuerst der Begriff einer bürgerlichen Acht¬
barkeit gebildet worden ist, die sich von der Wertschätzung sowohl des sittlichen
Charakters wie der Leistungen unterscheidet. Diese Herren sind vielmehr weiter
nichts als beharrlich und vielleicht mitunter ein wenig rücksichtslos in der Ver¬
folgung ihrer Ziele; dagegen fehlt es ihnen keineswegs an einem Gewissen und
an zartem Mitgefühl, das sich beim Gedanken um das Schicksal besiegter Kon¬
kurrenten regt. Welche Beruhigung nun, ja welche Erhebung, zu wissen, daß
sse, der Pflicht gehorchend, nur das große Gesetz der Natur erfüllen! Weil
sie als die Stärkern oben bleiben, darum dürfen, darum müssen sie sich sür
die Bessern halten. Neu an dieser Auffassung ist übrigens nnr ihr Pharisäismus.
An sich ist sie so alt wie der Kampf ums Dasein selbst, wie die menschliche
Gesellschaft. „Seht euch doch das Treiben der Menschen an! Alle Großen
send nur durch Trug oder Gewalt zu ihren, Reichtum und ihrer Macht ge¬
fugt; nachdem sie ihr Ziel erreicht haben, schmücken sie ihr rohes Verfahren
und dem schönen Namen des rechtmäßigen Erwerbs. Und wer zu dumm ist,
^ zu machen wie sie, deu unterdrücken sie. Die Treuen bleiben zeitlebens
Sklaven, und die Ehrlichen bleiben immer arm. Nur treulose Kühnheit befreit
aus der Knechtschaft, nur Raub und Betrug ans den Fesseln der Armut.
Denn Gott und die Natur haben die Lebensgüter dem Wettbewerb übergeben -
Wer zugreift, der hat seinen Teil." So läßt Macchiavelli bei Erzählung des
Florentiner Pöbclanfstandes von 1378 einen Volksredner sprechen.
Die Edeln hingegen verstanden das Wort umgekehrt: nur weil wir die
Bessern sind, erweisen wir uns als die Stärkern! Mit Entzücken sahen sie
nun endlich einmal die angebliche Erfahrung vom gewöhnlichen Unterliegen
der Tinten in diesem irdischen Jammerthale durch Theorie und Praxis gleich-
zeitig widerlegt und den Sieg des und der Guten zum Naturgesetz erhoben.
War es ja doch die strenge sittliche Zucht und die treffliche Schule, in der
Preußens Könige sich selbst und ihr Volk erzogen hatten, was Preußen zur
Stellung der angesehensten Macht Europas emporgehoben hatte! Und so ward
es denn aller Welt klar, wie unzertrennlich das sittlich Gute mit Leibeskraft
und Geistesmacht verbunden sei. Und trefflich fügte sich in diesen Gedanken¬
gang das nun allüberall ertönende Losungswort: Eingliederung und Unter¬
ordnung des Einzelnen in und unter das große Ganze! „Wehe denjenigen
Medusen des Siphonophorenstocks sSiphonophoren nennt man eine Art von
Pslanzentieren, deren für weitgehende Arbeitsteilung eingerichtete Glieder so
verschieden von einander und so verhältnismäßig selbständig sind, daß man sie
allenfalls für Individuen halten kannj, wehe also denjenigen Medusen, die in
verblendeten Egoismus sich von ihrer Gemeinde losreißen und auf eigne Hand
ein freies Leben führen wollen! Unfähig, alle die einzelnen Arbeiten zu leisten,
die zu ihrer Selbsterhaltung notwendig sind und die sie von ihren verschiednen
Mitbürgern geleistet erhalten, gehen sie, getrennt von letztern, rasch zu Grunde."
Wenn Häckel so predigte, dann lauschte mit gleicher Andacht der Büreaukrat
wie der Sozinldemokrat. Und wurde gar erst die aufopfernde Bürgertugend
der Ameisen, Bienen und sich zu Tode brütenden Hennen geschildert, dann
schämten sich alle selbstsüchtigen Freunde eines idyllischen Privatlebens die
Augen heraus. Und lief es nicht schließlich auf dasselbe hinaus, wenn die
Moralstatistiker und Sozialethiker, deren Forschungsergebnisse Alexander von
Oettingen in seinein großen klassischen Werke zusammenfaßte, den Nachweis
führten, daß die Tugenden wie die Laster und Verbrechen nicht sowohl Er¬
zeugnisse der damit behafteten oder sie verübenden als vielmehr der Gesell¬
schaft seien?
Dazu kam, daß Darwin, während er ohne Absicht und Verschulden zum
Reformator der Wissenschaft und des Lebens ward, doch zugleich auch ein
wirkliches Bedürfnis seiner Fachgenossen befriedigte. Die Ergebnisse der
Paläontologie, der vergleichenden Anatomie, der Physiologie hatten in Wechsel¬
wirkung mit den Erfahrungen der Gärtner und Viehzüchter längst auf den
Weg hingewiesen, den Buffon, Lamarck, Goethe nur andeuteten, Darwin aber
mit Entschiedenheit einschlug; er sunt den richtigen Ausdruck für Ideen, die
längst in der Luft lagen. Dagegen widersprach Buckles Auffassung dem Ge¬
dankengange, in den seine Fachgenossen, die Historiker, durch vielseitiges und
tiefes Quellenstudium hineingeführt worden waren, in sehr wesentlichen Stücken.
Zunächst war er reiner Verstandesmensch. Es fehlte ihm jede Spur von Sinn
für Poesie, die ihm nnr Reimgeklingel ist. Er begreift nicht, daß die Einzelnen
wie die Völker, so lange sie Kinder sind, in Bildern denken müssen, und be¬
klagt als Unglück und Entartung, was nur gesunde, glückliche Natur ist. Wie
in vielem andern, so steht er auch in der Mythenerklärung noch auf dem über-
wundenen unhistorischen Standpunkte des Rationalismus der Anfklcirungszeit.
Die Göttersagen deutet er euhemeristisch als greuliche Verhunzung wirk¬
licher Geschichte. Da es in Griechenland „viele Räuber und Vagabunden"
gegeben habe, die alle Herakles hießen, so seien auf diesen einen Namen alle
im Volksmunde umlaufenden Groß- und Unthaten gehäuft worden; und was
dergleichen erbauliche Erklärungsversuche mehr sind.
Wie schon erwähnt, war er der Ansicht, es wäre besser gewesen, wenn
im siebenten Jahrhundert die Kenntnis der Buchstaben ganz verloren gegangen
wäre, anstatt daß sie nur dazu benutzt wurde, allerlei dummes Zeug zu ver¬
breiten. Allein so wenig sich ein Mensch an seinem eignen Schopf aus dem
Sumpfe herausziehen kaun, so wenig, scheint es nach der geschichtlichen Erfah¬
rung, vermag sich ein Naturvolk, solange es auf eigne Kraft beschränkt bleibt,
aus seiner Unwissenheit herauszuarbeiten, man müßte ihm denn jene Jahr¬
millionen zur Verfügung stellen, mit denen die Darwinianer so freigebig sind.
Die erste Hilfe nun, die den Naturkindern von außen dargereicht zu werden
Pflegt, besteht darin, daß man sie lesen und schreiben lehrt. Mit der Ver¬
breitung dieser Künste durchs ganze Volk hin ging es vor Erfindung der
Buchdruckerkunst sehr laugsam. Während der jahrhundertelangen Periode dieser
allmählichen Verbreitung mußten notwendigerweise im Volke abergläubische
Vorstellungen herrschen und konnte das Wissen der wenigen Gebildeten nur
langsam fortschreiten, denn rascher Fortschritt hat zahlreiche Mitarbeiter,
Arbeitsteilung, reiche Hilfsmittel, rasche Verbreitung und vielfache Vergleichung
der Ergebnisse zur Voraussetzung. Zudem blieb die Forschung lange Zeit auf
einen Erdenwinkel beschränkt, und selbst wenn die Gelehrten nicht so unmäßig
^ick Zeit auf Theologie und spekulative Philosophie verwendet hätten, würde
Amerika nicht viel vor dem fünfzehnten Jahrhundert und das kopernilunische
System kaum vor Kopernikus entdeckt worden sein, denn es kann nicht alles
auf einmal geschehen, sondern eins kommt hinter dein andern: die Urbarmachung
des Bodens vor dem Gewerbe, das Gewerbe vor Kunst und Wissenschaft. Wie
hätte der Verlust der Buchstabenkenntuis diesen Gang der Dinge beschleunigen
sollen? Die schriftlose Zeit wäre für den Kulturfortschritt einfach verloren ge¬
wesen, und jene Gleichzeitigkeit von Schrifttum und Aberglauben, die der
englische Kulturhistoriker so sehr beklagt, würde uur einige hundert Jahre später
eingetreten sein.
Sodann unterschätzt Buckle die geschichtliche Litteratur des Mittelalters,
lveil er sie nicht kennt. Seine Urteile stützen sich auf einige englische Chronisten,
Franzosen Froissart und Commes und — man sollte es kaum für möglich
halten — die unter dem Namen der Chronik des Turpin bekannte Sagen-
sammlung, die er alles Ernstes für ein Geschichtswerk angesehen zu haben
scheint. Hätte er auch nur Einhards Leben Karls des Großen oder Widukinds
Sachsengeschichte gelesen, so würde er sich überzeugt haben, daß schon im neunten
und zehnten Jahrhundert ganz nüchtern und verständig beobachtet und ge¬
schrieben wurde. Aber von allen den Geschichtswerken, Gesetzen und Urkunden,
die in den neunnndzwnnzig Folianten Mnratoris und den damals schon auf
zwanzig sich belaufenden der AouniusutÄ von Pertz stehen, hat er, wie es scheint,
nichts zu Gesicht bekommen. Trägheit im Lesen und Sammeln kann ihm
freilich niemand zum Vorwurf machen; im Gegenteil verdienen seine Belesenheit
und seine Arbeitskraft Bewunderung. Aber er ist mit vierzig Jahren gestorben,
und zwanzig Jahre Arbeit reichen eben uicht hin, die Grundlage für ein solches
Riesenwerk zu beschaffen. Erst nach beinahe sechzigjährigen Quellenstudium
faßte Ranke den Gedanken seiner Universalgeschichte, die seiner ausgesprochenen
Abneigung gegen Geschichtsphilosophie zum Trotz beinahe eine solche geworden
ist. Das wissenschaftliche Vergehen Buckles besteht darin, daß er die Geschicht¬
schreibung einer tausendjährigen Periode nach einigen dürftigen Proben be¬
urteilte, und daß er diese Proben nicht einmal unbefangen würdigte. Die
englischen Chroniken, die er gelesen hat, enthalten doch nicht lauter unnützes
und abgeschmacktes Zeug, wenn es auch natürlich an solchem nicht darin fehlt.
Auch erscheint ihm manches als Aberglaube, was gar keiner ist. So behauptet
er z. B., wenn die Chronisten über eine Schlacht berichteten, dann führten sie
gewöhnlich die Niederlage des besiegten Teiles uicht ans ihre wirklichen Ursachen,
wie geringe Zahl oder schlechte Bewaffnung oder Feigheit der Truppen, sondern
auf den Willen Gottes zurück. Aber die Leute wußten damals gerade so gut
wie heute, daß ein großer Haufe mehr als ein kleiner und Tapferkeit mehr
als Feigheit vermag. Nur glaubten sie zugleich wahrzunehmen, daß der End¬
erfolg bei allen Unternehmungen uicht lediglich vou den Handelnden, sondern
teilweise vou allerlei Nebenumständen abhänge, nud in diesen von den
Handelnden unabhängigen Einwirkungen sahen sie Veranstaltungen Gottes.
Dieser Glaube besteht noch heute und hat in dem berühmten Kaiserwort
„Welche Wendung durch Gottes Fügung!" seinen klassischen Ausdruck gefunden.
Und im Grunde genommen teilt auch die gesamte moderne Wissenschaft, die
Bucklesche wie die Darwinsche Richtung nicht ausgeschlossen, diesen Glauben.
Denn geradeso wie die Scholastiker nimmt sie über den <Z-iU8!is SLeunclas, den
nächsten Ursachen, eine os.us!i xrium, eine Grundursache an, die die Thätigkeit
jener regelt und auf ein bestimmtes Ziel hinlenkt. Der Unterschied ist nur,
daß sie diese Grundursache nicht als einen persönlichen Geist, sondern als ein
anders, niemand weiß anzugeben wie beschaffenes Wesen darstellt. Allerdings
fehlten dabei die Menschen des Mittelalters in mehrfacher Beziehung. So oft
Naturkräfte ins Spiel kamen, hegten sie von der Beschaffenheit und Verkettung
der Ursachen zweiter Ordnung falsche Vorstellungen. Außerdem waren sie
geneigt, die Kette dieser Ursachen für weit kürzer zu halten, als sie in Wirklich¬
keit ist, und die Endursache viel zu oft und zu unmittelbar eingreifen zu lassen.
Endlich begegnete es ihnen zuweilen auch, daß sie in abergläubischer Furcht
oder andächtiger Verzückung Dinge hörten und sahen, die nicht vorhanden
waren, und daß begabte Männer, Frauen und Jungfrauen in der zeitweiligen
Aufhebung der Schwerkraft und im Verkehr und Geistern bedeutenderes leisteten
als der Knabe von Nesau und unsre Spiritisten. Aber der Brauchbarkeit alter
Chroniken schaden solche leicht ablösbare Zuthaten weniger als der unsrer
heutigen Geschichtswerke ihre „Pragmatik." Denn was eine Wundergeschichte
ist, sieht man auf der Stelle und macht einfach einen Strich dnrch; aber in
einem kunstreichen Charakterbilde moderner Geschichtschreibung zu entscheiden,
wie viel davon der Wirklichkeit und wie viel der tendenziösen Kunst des Ver¬
fassers angehört, das ist ein schwieriges Stuck Arbeit. Wer sich mit mittel¬
alterlicher Geschichte beschäftigt, der dankt Gott dafür, daß die Chronisten keine
Theorien beweisen und keine Kunstwerke liefern, sondern sich ans die trockene
und treuherzige Aufzählung der Thatsachen beschränken. Freilich thevretisircn
auch sie manchmal und beweisen entweder die Schlechtigkeit der durch Sünden
verderbten Welt und die Nachwirkung des Sündenfalls, oder die göttlichen
Rechte des Papstes oder "des Kaisers oder die Lehre von den zwei Schwertern;
allein das thun sie nicht durch künstliche und schlaue GriWirung der That¬
sachen, sondern in besondern mehr oder weniger langweiligen Abhandlungen,
die i»an als nicht zur Sache gehörig einfach überschlägt. So sind auch die
damaligen Staatsschrifteu von unübertrefflicher Deutlichkeit. Wenn Kaiser,
Papst und sonstige Potentaten sich gegenseitig Drache, Schlange, Räuber und
Mörder schimpfen, so weiß man ganz genau, wie viel es geschlagen hat,
während man seit der Zeit, wo die Sprache als eine Kunst zum Verbergen
der Gedanken gehandhabt wird, nach dem Lesen einer diplomatischen Note regel¬
mäßig weniger weiß als vorher. Wenn demnach Buckle jener Zeit vorwirft,
nicht einmal ein Macchinvelli habe sich zu einer alle Erscheinungen organisch
verbindenden Ansicht erheben können, so ist das zwar richtig, aber für den
Geschichtsforscher das Gegenteil von einem Unglück.
Da ferner die Bildung doch erst verbreitet werden muß, ehe sie allgemein
vorhanden sein kann, in rohen Zeiten aber die Bildungsmittel nur den Vor¬
nehmsten zugänglich sind, so ist nicht abzusehen, wie Bildungsfortschritt möglich
gewesen wäre ohne die von Buckle so sehr beklagte Bevormundung. Es ist
laicht einzusehen, daß diese über einen gewissen Grad und eine gewisse Zeit¬
grenze hinaus mehr schadet als nützt; allein wo die Grenze liegt, darüber
vermögen sich die Beteiligten 'immer nur schwer zu einigen. Ans dem Festlande
wenigstens pflegen gerade die politischen Parteigenossen Buckles für weitgehenden
Schulzwang und sonstige Bevormundung des Volkes zu schwärmen und sind
daher namentlich bei den Landleuten wenig beliebt, die ihr eignes Interesse
besser zu verstehen glauben als ihre städtischen Vormünder, und demgemäß
liberalen Regierungen mit derselben Begründung Opposition machen, wie das
liberale Gelehrten- und Bürgertum deu konservativen.
Seine Abneigung gegen Bevormundung verleitet Buckle zu dem Paradoxon:
chlechte Monarchen seien guten und schwache, unfähige Regierungen den starken
und erfolgreichen vorzuziehen, weil die erstern das Volk zwängen, seine Ange¬
legenheiten selbst in die Hand zu nehmen, während es den letztern gegenüber
leicht aus Liebe und Ehrfurcht vertrauensvoll auf seine Selbständigkeit Verzicht
leiste. Weit milder drückt Gustav Freytag in seinen „Erinnerungsblättern"
einen ähnlichen Gedanken aus, wenn er sagt, die treue deutsche Nation verziehe
unablässig ihre Gebieter, am meisten die, die sie am meisten liebe. Gegen Buckles
Theorie wäre u. a. einzuwenden, daß ein tüchtiges Volk sich gewöhnlich auch eine
tüchtige Negierung schaffen wird, und daß unsre festländischen Staaten unter
schwachen Regierungen Gefahr laufen, ihre Selbständigkeit zu verlieren, während
das Inselreich bisher einen feindlichen Einfall kaum zu fürchten hatte. Jeden¬
falls war die glorreiche Regierungszeit Wilhelms I. uicht die geeignete Zeit
zur Verbreitung derartiger Grundsätze in Deutschland; und wenn Buckle sehen
könnte, welcher Wertschätzung sich heute der von ihm verachtete Soldatenstand
sogar in England erfreut, so würde er sich verwundert fragen: Wer von uns
beiden schreitet nun eigentlich zurück: ich oder die Zivilisation?
«s- ! «TAWlM.«^
^WWM'
M)om sind denn aber eigentlich unsre Schulen da, vor allem
unsre höhern Schulen? Wird denn an ihnen nicht oder nicht
mehr gut und richtig deutsch schreiben gelehrt? Wozu bedarf
es überhaupt eines Sprachvereins, wenn die Schule ihre
Schuldigkeit thut? — Damit komme ich zu einem etwas heikeln
Punkte. Die Wahrheit ist: Nein, im allgemeinen wird es nicht gelehrt. Ich will
uicht von der Volksschule reden. Ihre Aufgabe ist es uicht, Schriftsteller zu
bilden, ihre Schüler zu einem kunstmäßigen Gebrauch der Sprache zu erziehen.
Wenn der Handwerker, der die Volksschule besucht hat, eiuen leidlichen Ge¬
schäftsbrief schreiben, eine Rechnung richtig ausstellen kann, so hat er genug
gelernt. Außerdem sollte es die Volksschule freilich dahin bringen, daß die
Jungen ein Fremdwort von einem deutschen Worte zu unterscheiden wissen,
daß sie sich mit Fremdwörtern möglichst in Acht nehmen lernen, sie vermeiden,
wo sie nur irgeud können, und daß sie alle Prahlerei mit Fremdwörtern als
das erkennen lernen, was sie ist: nicht als Bildung, sondern als Mangel an
Bildung. Dazu gehörte freilich, daß auf den Seminaren der junge Lehrer¬
nachwuchs zunächst selbst vor dem Irrwahn bewahrt würde, daß es das Zeichen
„höherer" Bildung sei, möglichst viel Fremdwörter anzuwenden. Dann würde
es auch in den Handels- und Gewerbekreisen, wo dieser Irrwahn noch all¬
gemein verbreitet ist, allmählich besser werden, man würde nicht mehr auf
Firmenschildern, an Schaufenstern und in Geschäftsanzeigen so haarsträubenden
Unsinn zu lesen bekommen wie jetzt (Confektion eleganter Herrenmvden (!),
Germanischer Fischkvnsum (!), Qualitätszigarren, Winterüberzieher hoch¬
feinsten Genres (!) u. ahnt.) Wie steht es aber mit dem deutschen Unterricht
auf den höhern Schulen, auf den Gymnasien und Realschulen?
Als ich vor 2Z Jahren als junger, neubackener Gymnasiallehrer unter
antrat — ich bin ja auch einmal Schulmeister gewesen, und liebe Freunde be¬
haupten sogar, ich wäre es noch jetzt und würde es immer bleiben —, war
einer der ersten Ratschläge, die nur mein Amtsvorgänger in der Sextn
in einer Prvbestuude gab: „Treibe nur ja keine deutsche Grammatik, lang¬
weile die Jungen nicht damit, das Deutsche lernen sie am Lateinischen mit!"
Ich war erst etwas erstaunt über diesen guten Rat, dachte aber dann an meine
eigne Gymnasiastenzeit zurück und erinnerte mich, daß in der That auch ich
w meiner achtjährigen Gymnasiallaufbahn (1854 —1862) niemals mit Unter¬
richt in deutscher Grammatik behelligt worden war. Und so versuchte ichs
denn auch zunächst in der mir empfohlenen Weise. Ich sah aber bald, daß
damit nicht auszukommen war. Eine Menge der einfachsten Dinge wußten
die Jungen eben nicht; sie ihnen beiläufig im lateinischen Unterricht beizu¬
bringen war gar keine Gelegenheit. Es blieb mir also doch nichts weiter
übrig, obwohl das „Regulativ" nichts derart vorschrieb, als gelegentlich in aller
Form ein Stündchen deutsche Grammatik mit den Jungen zu treiben. So viel
ich weiß, bestehen nun aber in dieser Beziehung noch heute dieselben Zustände.
Einen ordentlichen, zusammenhängenden Unterricht in der deutschen Grammatik
^ Formenlehre wie Satzlehre — giebt es auf unsern höhern Schulen
nirgends, weder auf den untern noch auf den obern Stufen. Das ganze
bißchen deutsche Grammatik, das getrieben wird, beschränkt sich auf die ver¬
einzelten Bemerkungen, die gelegentlich beim Lesen und Erklären eines Ge¬
dichtes, eines Schauspiels oder eines Prosastückes oder bei der Rückgabe der durch¬
gesehenen deutsche» Aufsätze den Jungen hingeworfen werden. Das ist aber doch
verschwindend wenig. Es müßte viel, viel mehr gute deutsche Prosa gelesen
werden, teils in der Schule selbst, teils zu Hause, und was zu Hause gelesen
worden ist, müßte der Lehrer gerade auch auf Spracherscheinungen hin sorgfältig
kontrolliren. Ein halbes Jahr lang die Jungen mit der Erklärung deutscher
Vaterlandslieder oder Klopstockischer Oden langweilen, ein halbes Jahr an
einem Drama herumknaupeln, das die Jungen halb auswendig wissen und schon
so und so oft im Theater gesehen haben, ein halbes Jahr sie in sämtliche
Liebschaften Goethes einweihen und ihnen bei jeder Strophe zeigen, ob sie sich
auf Gretchen oder Käthchen, Friederike Öser oder Friederike Brion, Lotte oder
Lili, die Stein oder die Vulpius bezieht — kann man das deutschen Unter¬
richt nennen? Aber auch geschrieben müßte viel mehr werdem Ein sekundärer
oder Primaner schreibt jährlich sechs deutsche Aufsätze. Was kann dabei gelernt
werden? Anstatt daß man die Zeit vergeudet mit der jämmerlichen Phraseu-
drechselei der „freien" lateinischen Arbeiten, mit der syntaktischen Spintisirerei
der griechischen Persa und Extemporalien, müßte aller vierzehn Tage ein
deutscher Aufsatz geschrieben werden, nicht von dreißig bis vierzig, aber von
sechs bis acht Seiten. Die Themata müßten so bunt als möglich gestellt, in
alle Lebensgebiete müßte dabei hineingefahren werden, damit jeder so oft als
möglich Gelegenheit Hütte, sich ub.r Dinge nuszusprecheu, die ihm nahe liegen
und wirklich vertraut sind. Auch die verschiedensten Darstclluugsformen müßten
berücksichtigt werde», nicht immer nur die der Abhandlung oder der Erzählung.
Schon in den untern Klassen herrscht nicht genug Mannichfaltigkeit. Wie viele
Gedichte müssen da die Jungen „in Prosa verwandeln," wie oft müssen sie
ihren „schönsten Ferientag" beschreiben! In den obern Klassen werden fast
ausschließlich litterargeschichtliche, dramaturgische und ästhetische Themata ge¬
stellt, dazwischen vielleicht einmal ein rein geschichtliches. Wie wenige haben
aber im spätern Leben Veranlassung, dergleichen zu behandeln! Da stehen sie
dann nach all dem weisen Gerede, das sie über Laokoon, über Schillers
ästhetische Erziehung, über Tasso und Antonio irgendwo — abgeschrieben haben,
wie die Kinder da.
Was aber noch schlimmer ist: wie im gewöhnlichen Leben überall der
Glaube verbreitet ist, Deutsch schreiben brauche man nicht zu lernen, so
besteht an der Schule der Wahn, Deutsch lehren brauche man nicht zu lernen.
Mag einer Theolog, klassischer Philolog, Neuphilolog, Germanist sein, zum
Unterricht im Deutschen gilt jeder für befähigt. Und doch, wenn ein klassischer
Philolog in der lateinischen Grammatik und Stilistik so unwissend Ware,
wie mancher Deutschlehrer in der deutschen — wie schnell würde er unschädlich
gemacht werden! In den klassischen Sprachen ist für jede Unterrichtsstufe genau
vorgeschrieben, was getrieben und erreicht werden muß. Jeder nachfolgende
Lehrer verlangt von seinem Vorgänger, daß die Schüler, die ihm dieser am
Schlüsse des Schuljahres abliefert, das vorgeschriebene Ziel auch wirklich er¬
reicht haben. Zweifel, Meinungsverschiedenheiten, abweichende Auffassungen
giebt es da nicht, da heißes entweder Wissen oder Nichtwissen. Wie ganz
anders im deutscheu Unterricht! Einen ordentlichen Plan über den Unterricht
in der deutschen Sprache giebt es nirgends. Alles ist dem Zufall überlassen.
Wenn beim. Durchsprechen eines Gedichtes oder eines deutschen Aufsatzes
sich Gelegenheit bietet, wird wohl die oder jene grammatische Regel, die oder
jene Spracherscheiuung einmal flüchtig gestreift. Aber was find das für
dürftige Brocken! Nicht der zehnte Teil der Spracherscheinungen, die dem
jungen Manne später im Leben gegen übertreten, nicht der zehnte Teil der
Verstöße, die später von allen Seiten ans ihn einstürmen, wird auf der Schule
Planmäßig behandelt. Wenn es der Junge halbwegs geschickt anfängt, kann
er in feinen Aufsätzen gröbere grammatische Fehler recht wohl vermeiden.
Wörtern und Wendungen, über die er nicht sicher ist, geht er aus dem Wege.
Tappelt er ja einmal hinein, nun, so wird der Fehler — vielleicht berichtigt,
wenn der Lehrer selber so viel Kenntnis hat, daß er den Fehler merkt und
berichtigen kann. Aber nötig ist es nicht. Bei weitem die «leisten Lehrer des
Deutschen sind jn selber Laien. Sie haben sich nie, weder in ihrer eignen
Schulzeit, noch auf der Universität, noch seit sie Lehrer geworden sind, plan¬
mäßig mit dem Studium der deutschen Sprache, der deutschen Grammatik und
Stilistik beschäftigt. Daß der eine Lehrer als Fehler anrechnet, was der andre
durchläßt, kommt wohl vereinzelt auch in den fremden Sprachen vor, aber im
ganzen beherrscht doch da die feste Regel Lehrer und Schiller gemeinschaftlich;
jeder Lehrer weiß: so ist es, so heißt es, das muß ich wissen, und das mußt
du wissen. Im deutschen Unterricht bleibt fast alles dem Belieben und der
zufälligen Kenntnis des Lehrers überlassen. Im Lateinischen oder Griechischen
gilt ein Verstoß gegen eine Elementarregel für ein Kapitalverbrechen, das dem
Jungen unter Umständen ein Lebensjahr kosten kann; im Deutschen darf der
Lehrer scherzend seine eigne Unwissenheit bekennen, und die Jungen sollen
das womöglich für geistreich halten. Jn einem Kollegium von etwa zwanzig
Lehrern wurde einmal darüber gestritten, was richtig sei: Wir Deutschen oder
Wir Deutsche. Ein Drittel war aus dunkelm Gefühl für das eine, ein zweites
Drittel aus ebenso dunkelm Gefühl für das andre, das dritte Drittel suchte
schnell nach Gründen für das eine oder das andre; zu einer Entscheidung kam
^ nicht, denn etwas ordentliches wußte keiner. So stehts, wenn es sich
um die ganz gemeine grammatische Korrektheit handelt! Wenn vollends Ge¬
schmacksfragen ins Spiel kommen, kann es geschehen, daß der Junge, wenn er
l^eißig gute Prosa aus der Klassikerzeit gelesen hat, mehr Geschmack hat als
der Lehrer. Daß der Junge ein gutes, einfaches, natürliches ihm hinschreibt,
d^r Lehrer ihm ein langweiliges, steifbeiniges, papiernes demselben draus
macht, ist durchaus nichts unerhörtes. Ich habe Dutzende von Aufsätzen aus
der Feder von Deutschlehrern an höhern Schulen unter den Händen gehabt,
die zum Abdruck für eine Zeitschrift eingesandt worden waren: Kaiser- und
Königsgeburtstagsreden, Sedanfestreden und andre Aufsätze aller Art. Ich
habe es manchmal kaum für möglich gehalten, daß das von Deutschlehrern,
ja daß es überhaupt von Sprachlehrern geschrieben sei, so fehlerhaft war vieles
darin. Auch wenn man Schulprogrcimme in die Hände bekommt, ist man oft
erstaunt über das Deutsch, in dem die wissenschaftlichen Abhandlungen und
vollends die Schulnachrichten geschrieben sind. Es liegt mir fern, den deutschen
Unterricht etwa für den Germanisten von Fach in Anspruch zu nehmen. Die
ausgedehnteste Kenntnis der Geschichte der deutschen Sprache befähigt an sich
und wenn nicht andre Eigenschaften dazu kommen, ebenso wenig zum Deutsch¬
lehrer, wie etwa der Theolog als solcher ohne weiteres vom deutschen Unter¬
richt auszuschließen ist. Das Haupterfordernis für den Deutschlehrer ist guter
Geschmack, lebendiges, feines, empfindliches Sprachgefühl. Gerade Germanisten
aber haben Fehlern und Geschmacklosigkeiten gegenüber infolge ihres einseitig
sprachgeschichtlichen Standpunktes oft eine unbegreifliche Schwäche. Alles,
was ist, ist vernünftig — diesen Grundsatz findet man bei Germanisten gar
nicht selten. Ich erinnere mich, daß ein Germauist von Fach eine der greulichsten
Erscheinungen der Kanzlei- und Zeitungssprache, die auf der Schule mit der
Lauge des Spottes übergössen und mit Feuer und Schwert verfolgt werden
sollte, die sogenannte Inversion nach und (und wurde derselbe u. s. w.)
mit der Bemerkung in Schutz nahm, die Konstruktion sei ihm zwar persönlich
auch „unsympathisch," sie sei aber doch sehr alt, komme schon bei Luther vor,
und es sei eigentlich nichts dagegen einzuwenden. Als ob etwas Häßliches
durch ehrwürdiges Alter schöner würde! Daß Germanisten auf die Frage:
Was ist richtig? das oder jenes? achselzuckend antworten: Ja, schließlich
ist beides richtig — ist etwas ganz gewöhnliches. Das ist, um ein Gleichnis
zu brauchen, der Bvtanikerstandpunkt. Der Deutschlehrer soll nun zwar auch
ein tüchtiger Sprachbotauiker sein, auch die Jungen dazu machen, als Deutsch¬
lehrer aber hat er sich lediglich auf den Gärtnerstandpunkt zu stellen. Denn
ich wiederhole, was ich schon in anderm Zusammenhange gesagt habe: Schreiben
ist eine Kunst. Auch der kleinste Brief, die kleinste Geschäftsanzeige in einer
Zeitung, sie siud in ihrer Art als kleine Kunsterzeugnisse zu betrachten.
Gerade auf den obern Stufen würde ein eingehender, planmäßiger Unter¬
richt in der deutschen Sprache gewiß dankbar hingenommen werden. Er müßte
sich nur nicht lange aufhalten bei dein, was Gott sei Dank noch jedermann
richtig macht, sondern sich vor allem erstrecken auf das, was leider beinahe
alle Welt falsch macht. Grammatik des Falschen und Häßlichen müßte vor¬
getragen werden, und zwar mit Laune, selbst mit Spott. Der Lehrer müßte
gelegentlich ein neuerschieuenes Buch, die neueste Nummer einer Tageszeitung
mit in die Unterrichtsstunde bringen und sie gemeinschaftlich mit den Jungen
durchkorrigiren wie eine Schularbeit — da wäre was zu lernen! Der voll¬
ständige Mangel eines zusammenhängenden Unterrichts in der deutschen
Sprache, namentlich auf deu obern Stufen, gehört zu den beklagenswertesten
Lücken in unserm höhern Schulwesen. Während die jungen Leute mit achtzehn,
neunzehn Jahren im Gebrauch ihrer Muttersprache so sicher und fest aus der
Schule in die Universität und ins Leben treten sollten, daß sie gegen alle
Gefahren gefeit wären, daß aller Sprachzvpf, der auf Universttütskathedern,
in Hand- und Lehrbüchern von Professoren ihnen entgegentritt, aller Sprach¬
unrat der Tagespresse, alle Sprachsudelei der zeitgenössischen Romanlitteratur
ihnen nichts anhaben könnte, daß sie mit souveränem Humor auf das alles
hinabblicken könnten, treten sie hinaus ohne Kenntnis, ohne Kritik, ohne
Widerstandsfähigkeit. Das bißchen Wissen und Geschmack, das die Schule
wirklich aufgebaut hat, ist in wenigen Monaten wieder niedergerissen, dann
überwuchert die mühselig gepflegten Pflanzungen der Schule dichtes Unkraut.
Aber ich wollte ja allerhand Sprachdnmmheiten vorführen und ereifre
mich über Zeitungsdeutsch, Sprachverein und deutschen Unterricht. Nun, mit den
Sprachdummheiten, die jetzt im Schwange sind, könnte man wohl ein dickes Buch
füllen. Es siud auch wirklich schon Bücher erschienen, die auf dergleichen auf¬
merksam machen, aus denen ich selbst viel gelernt habe und aus denen auch
mancher Deutschlehrer viel lernen könnte. Ich will nur zwei nennen: das
reichhaltige Buch von K. G. Umdrehen, Sprachgebrauch und Sprachrichtigkeit
(Heilbronn, Gebr. Henninger, zuerst 1880, 1887 in fünfter Auflage erschienen)
und das geistvolle, nach den verschiedensten Seiten hin Anregungen aus¬
streuende Buch von Rudolf Hildebrand (dem Wörterbuchs-Hildebrand): Von,
deutschen Sprachunterricht in der Schule und von deutscher Erziehung und Bil¬
dung überhaupt (1867 in erster, 1887 in dritter Auflage erschienen, Leipzig.
I. Klinckhardt). Auch eine Zeitschrift ist vor ewigen Jahren gegründet worden
^~ ich habe sie in den Grenzboten schon empfohlen —, die außer andern Auf¬
gaben sich auch der Aufgabe angenommen hat, die die Zeitschrift des Sprach¬
vereins bei ihrem einseitig betriebenen Fremdwörterkampf viel zu fehr links
liegen läßt, der Aufgabe, der zunehmenden Unsicherheit und Hilflosigkeit in
grammatischen Dingen zu steuern, eine Zeitschrift, die in Lehrerkreisen sicherlich
schon viel Nutzen gestiftet, viel Anregung gegeben und manchem über manches
die Augen geöffnet hat: die von O. Lyon unter R. Hildebrauds Mitwirkung
herausgegebene Zeitschrift für den deutschen Unterricht (Leipzig, B. G. Teubner).
Aber einer beobachtet nicht alles, und ich habe eben doch manches beobachtet,
was ich anderwärts nicht oder wenigstens nicht in der Weise beobachtet (und
bekämpft) gefunden habe, und eine Anzahl solcher Beobachtungen möchte ich hier
mitteilen. Ich beginne mit ein paar Proben aus der Formenlehre. Es sind
scheinbar Kleinigkeiten, um die sichs dabei handelt — schlimmere Dinge werde
ich später aus der Satzlehre vorzuführen haben — aber gerade in diesen
Kleinigkeiten wird unendlich viel gesündigt. Natürlich bitte ich den Leser in¬
ständigst um Verzeihung, daß ich ihm zumute, sich wieder einmal ein Stündchen
auf der Sextanerbank niederzulassen !
Vou den sogenannten Stoffnamen galt früher die Regel, daß man sie nur
im Singular brauchen könne, und so priesen denn unsre Kaufleute, auch wenn
sie noch so viel Sorten hatten, immer nur ihren guten Lack oder Firniß an.
Von einzelnen dieser Wörter hatte man aber doch gewagt, den Plural zu
bilden, um die Mehrzahl der Sorten zu bezeichnen (schon im Faust heißes:
Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden, doch ihre Weine trinkt
er gern), und wir haben uns daran gewöhnt. Neuerdings erfährt diese Plural-
bildung aber doch eine unerträgliche Erweiterung. Man empfiehlt Lanke,
Firnisse, Öle, Tabake, Garne, Tuche, Flanelle, Plüsche, Tülle!
Ich kann mir nicht helfen, ich höre das reine Kindergelall, wenn ich solche
Plurale höre. stumpfsinnigen oder Schwankendgewvrdnen das Sprachgewissen
zu schärfen, giebt es kein besseres Mittel, als daß man sie ans dem falschen
Wege noch ein Stück weiter führt, als sie selber schon gegangen sind. Nun
gut, wollen wir in Zukunft vielleicht auch sagen: Mehle, Essige, Wachse,
Leime, Kalke, Glase, Korne? Denn Gläser und Körner sind doch
etwas andres. Wo ist die Grenze?
Ein weitverbreiteter garstiger Fehler, der mir täglich Verdruß bereitet,
und für den leider schon in den weitesten Kreisen kein Gefühl mehr vorhanden
zu sein scheint, liegt in Ausdrücken wie Verein Leipziger Lehrer, Radi¬
rungen Düsseldorfer Künstler. Ich muß den Fall etwas eingehender
besprechen, weil ich die Erfahrung gemacht habe, daß selbst Leuten mit leidlicher
Sprachbildung der Fehler nicht sofort einleuchtet.
Die von Ortsnamen gebildeten Formen auf—er werden von vielen für
Adjektiva gehalten, wie sich schon darin zeigt, daß sie sie mit kleinen Anfangs-
lmchstaben schreiben (ganz beharrlich z. B. die Leipziger Jllustrirte Zeitung),
also: pariser, wiener, thüringer, schweizer. Das ist ein großer Irrtum.
Diese Formeu sind keine Adjektiva, sondern Genetive von Snbstantiven. Der
Leipziger Bürgermeister ist, wörtlich ins Lateinische übersetzt, nicht «onsul
I^ixsisnsjL — das wäre der Leipzigische Bürgermeister —, sondern
I^p8ienLiunr vonsul. Ganz dentlich sieht man das, wenn man solche Ver¬
bindungen zugleich mit einem wirklichen Adjektivnm deklinirt, z. B. der neue
Berliner Musenalmanach. Dann lenken die Kasus:
Während also das Adjektivum neu und das Substantivum Musenalmanach
deklinirt werden, bleibt Berliner unverändert. Natürlich, es ist eben kein.
Adjektiv, sondern ein abhängiger Genetiv. Der Irrtum ist dadurch entstanden,
daß mau solche abhängige Genetive, wie Leipziger, Berliner, durch den
Gleichklang der Endungen verführt mit dem Genetiv von attributiven Adjektiven,
wie deutscher, preußischer, zusammenwarf. Weil man richtig sagte: eine
Versammlung deutscher Lehrer, glaubte man nun auch richtig zu sagen: ein
Verein Leipziger Lehrer. Leider heißt nur hier der Nominativ nicht Leipzigc
Lehrer, während er dort deutsche Lehrer heißt; deutsche Lehrer — das
sind ini^'istii «einiÄnivi, aber Leipziger Lehrer sind IiixsiöN8mir
MÄAistri, nicht Lipsicii^LS. Nun weiß aber jedes Kind, daß beim un¬
bestimmten Artikel der Genetiv in der Mehrzahl, wenn er nicht durch ein
attributives Adjektiv des Genetivs kenntlich gemacht wird, überhaupt nicht
kenntlich ist; er muß durch die Präposition von umschrieben werden. Wenn
man sagt: eine Versammlung großer Künstler, so ist der Genetiv durch
den Zusatz großer genügend kenntlich gemacht; aber sovisws artikivnm
läßt sich ° nimmermehr übersetzen Verein Künstler, sondern nur Verein
von Künstlern; erst durch das von entsteht ein Genetiv. Ebenso ist es
aber, wenn zu dem Substantiv ein Attribut tritt, das nicht deklinirbar ist,
z- B. ein Zahlwort oder ein abhängiger Genetiv. So unmöglich es ist, zu
sagen: ein Bund sechs Städte, die Lieferung fünftausend Gewehre,
in der ersten Zeit dessen Leitung, der Verkauf ihres Mannes Bücher,
Genüsse mancherlei Art, eine Quelle allerlei Verlegenheiten, eine Samm¬
lung allerhand Sprachdummheiten, wie in allen diesen Fällen nnr mit
Hilfe der Präposition von der Genetiv kenntlich gemacht werden kann (ein
Bund von sechs Städten, der Verkauf von ihres Mannes Büchern),
so darf es auch einzig und allein nur heißen: Radirungen von Düsseldorfer
Künstlern, Verein von Leipziger Lehrern. Das ist so klar, daß, wer
auch nur noch eine Spur von Sprachgefühl hat, es unmittelbar fühlt; aber
auch wer es nicht mehr fühlt, müßte sichs doch durch ein wenig Überlegung
wieder deutlich machen können. Daß es unter andern ein Lehrcrverein ist, der
gleich in seinem Namen einen so abscheulichen grammatischen Fehler hat, ist
sehr bezeichnend und ein schlagender Beweis für das, was ich oben über gewisse
Deutschlehrer gesagt habe. Da laß ich mir die Leipziger Köche gefallen; die
schreiben sich Verein „Leipziger Köche," deuten also durch die Anführungs¬
zeichen wenigstens sttrs Auge an. daß sie Köche als Nominativ aufgefaßt
wissen wollen. Beim Hören kann ihnen freilich niemand diesen Gefallen thun,
da hört man eben auch nur den Fehler.
Ganz kläglich steht es jetzt um die Deklination der Eigennamen. Daß
der Genetiv von Friedrich Friedrichs heißt, wissen die Leute allenfalls
noch. Aber man frage sie einmal nach dem Genetiv von Friedrich der
Große! Die Hälfte aller Gefragten wird ihn Friedrich des Großen
bilden. Massenhaft begegnet man jetzt solchen schändlichen Genetiven wie
Heinrich des Erlauchten, Albrecht des Beherzten, Georg des
Bärtige». Ich machte vor kurzem einen sehr gescheiten und unterrichteten
Mann, der gleich auf dem Titelblatte eines Buches Friedrich des Großen
drücken lassen wollte, auf den groben Fehler aufmerksam; es war zum Glück
noch Zeit, ihn zu verbessern. Was erwiderte er mir? Er sei mir sehr dankbar
für die Belehrung, aber woher er das habe wissen sollen? In der Schule
habe ihm niemand dergleichen gesagt (!), er habe immer geglaubt, Verbindungen
wie Friedrich der Große seien eine Art von Formeln oder Siglen.die
nur am Ende deklinirt zu werden brauchten! Auch wenn die Apposition eine
bloße Ordinalzahl ist — der häufigste Fall —, wird kaum noch anders ge¬
schrieben als: die Gegenreformation Rudolf II,, die Gemahlin Heinrich VIII.,
die Regierungszeit Ludwig XIV. Wenn man das aussprechen will, kann
man ja gar nicht anders lesen als: Rudolf zwei, Heinrich acht, Ludwig
vierzehn. Denn wie kann der Schreibende verlangen, daß man die Zahl
als Ordinalzahl im Genetiv lese, wenn nicht der Name, wozu sie gehört, im
Genetiv steht? Nun aber vollends wenn noch der Herrschertitel davortritt —
dann ist alle Weisheit zu Ende. Wie deklinirt man Herzog Ernst der
Fromme, Kaiser Friedrich der Dritte? Wie wenige wissen da noch Be¬
scheid! Wie wenige wissen, daß in solchen Fallen der Titel undeklinirt bleibt,
Name und Apposition deklinirt werden müssen, es also heißen muß: die
Truppen Kaiser Heinrichs IV., Kaiser Karls V. Angriff ans Algier,
das Denkmal König Friedrichs I., die pädagogischen Bestrebungen Herzog
Ernsts des Frommen, eine Urkunde Markgraf Ottos des Reichen, die
Krankheit Kaiser Friedrichs des Dritten! Täglich muß man das Falsche
lesen, und nicht bloß in der Tagespresse, anch in neu erschienenen Geschichts¬
werken „erster" Historiker!
Vielfache Verlegenheit bereitet die Deklination adlicher Namen vteri solcher
Namen, die adlichen nachgebildet sind. Soll man sagen: die Gedichte Wolfram
von Eschenbachs oder Wolframs von Eschenbach? Richtig ist doch nur
das letztere, denn Eschenbach ist, wie alle echten Adelsnamen, ein Ortsname,
der die Herkunft bezeichnet; wie kann mau die in den Genetiv setzen wollen!
So muß es denn auch heißen: die Heimat Walthers von der Vogelweide,
die Burg Götzens von Berlichingen, die Gedichte Hoffmanns von Fal-
lersleben. Aber nun die unglückseligen unechten Ndelsnnmen, über die sich
schon Jakob Grimm lustig gemacht hat, diese vou Müller und von Schulze,
von Schmidt und von Weber, wie stehts mit denen? Soll man sagen:
Heinrichs von Kleist Michael Kohlhaas, Leopolds von Ranke Welt¬
geschichte? Streng genommen müßte es ja so heißen; warum behandelt man
Wörter, die alles, mir keinen Ort bezeichnen, als Ortsnamen, indem man ihnen das
sinnlose von vorsetzt! Im vorigen Jahrhundert war das Gefühl für die wahre
Bedeutung der adlichen Namen noch lebendig, da adelte man einen Peter
Hohmann nicht zum Peter von Hohmann, sondern zum Peter von Hohen-
thal, einen Ernst Kregel nicht zum Ernst von Kregel, sondern zum Ernst
Kregel vou Sternbach, indem man einen erdichteten Ortsnamen zum
Familiennamen hinzusetzte, in Osterreich verführt man großenteils noch hente
so. Aber da die falschen Adelsnamen nnn einmal massenhaft vorhanden sind, bleibt
wohl nichts weiter übrig, als bei ihnen das von zu behandeln, als ob es nicht
dawäre, und zu sagen Leopold von Rankes sämtliche Werke. Bei Schiller
und Goethe sollten wir endlich so vernünftig sein, uns das von überhaupt
zu ersparen.
Eine wahre Schande ist der Unfug, der mit den Personennamen getrieben
wird, die auf s, x und z endigen. Ihre Anzahl.ist ja sehr groß: Fuchs, Boß,
Brockhaus, Hinrichs. Jördens, Carstens, Görres. Strauß, Dickens, Curtius,
Mylius, Cornelius, Felix, Max, Franz. Fritz, Moritz, Götz, Uz, Schütz,
Schwarz, Leibniz, Rochlitz, Lorenz. Pohlenz, nicht zu reden von den griechischen
und römischen Namen: Sophokles, Taeitus u. s. w., man hat also hinreichende
Gelegenheit, sich über den Unfug zu ärgern. Welche Mätzchen werden gemacht,
>un den Genetiv dieser Namen zu bilden! Bei den griechischen und römischen
hilft man sich damit, daß man den Artikel vorsetzt: die Tragödien des So¬
phokles, die vsrwWig. des Taeitus. Man ist ans seiner Schulzeit an
diese Genetive so gewöhnt, daß man gar nichts Anstößiges mehr daran findet,
obwohl man das Anstößige sofort empfinden würde, wenn jemand schriebe:
die Gedichte des Goethe; der Bischer, der Makart — das sind österreichische
»ut süddeutsche Provinzialismen, die nicht in die Schriftsprache gehören. In
wnstgeschichtlichen Werken und Aufsätzen immer von Zeichnungen des Carstens
und Entwürfen des Cornelius lesen zu müssen, ist doch zu greulich. Manche
setzen nun, als ob gar keine Schwierigkeit vorläge, an alle solche Namen
fröhlich das Genetiv-s, natürlich mit dem unvermeidlichen Apostroph vorher
— an dein die Menschheit überhaupt eine kindische Freude hat —. also:
Hnrrns's Grabstein in der Thomaskirche, Kurfürst Moritz's Verdienste um
Leipzig, Leibniz's ägyptischer Plan. Gabriel Max's Illustrationen zu Uhlands
(oder vielmehr Uhland's) Gedichten. Das wäre wohl nicht glaublich? O, meine
Beispiele sind alle gesammelt, es ist kein einziges erfunden. Noch andre
^ und das ist das beliebteste und das, was geradezu in Grammatiker gelehrt,
in Druckereien befolgt und offenbar jetzt auch in der Schule vorgeschrieben
wird — bilden den Genetiv solcher Namen, indem sie ein Apostroph (aber
weiter nichts!) dahintersetzen, also: Celtes' Ausgabe der Roswitha, Junius'
Briefe. Uz' Gedichte. Boß' Luise. Heinrich Schütz' sämtliche Werte,
Rochlitz' Briefwechsel mit Goethe n. s. w. Sollten wir uns nicht ob dieser
kläglichen Hilflosigkeit vor dem Ausländer schämen, der Deutsch lernen will?
Ist es nicht kindisch, sich einzubilden und dem Ausländer einzureden, daß im
Deutschen ein oasu« odliMus gebildet werden könne, indem man ein Häkchen
hinter das Wort setzt, ein Häkchen, das doch nur auf dem Papiere da ist, nur
fürs Auge? Deun wie klingt deun das Apostroph? Kann mans hören?
Spreche es doch einer! Soll man vielleicht den Mund eine Weile aufsperren?
oder einmal husten oder niesen? Irgend etwas muß doch geschehen, um das
Apostroph für das Ohr vernehmlich zu machen, sonst ist ja zwischen Leibniz
und Leibniz'. zwischen dem Nominativ und dem angeblichen Genetiv, gar
kein Unterschied. nachdenklichen Setzern will denn mich die Sache gar nicht
in den Kopf. Daher kommt es, daß mein in Korrekturabzügen so oft von
Sophokle's Tragödie», Carsten's Werken und Dicken's Romanen lesen muß.
Eine gewisse Schwierigkeit ist nnn freilich da, und es fragt sich, wie man ihr ab¬
helfen soll. Die altere Sprache half sich bei deutschen Namen einfach dadurch,
daß sie — übrigens ganz wie bei den Fraueunamen — eine Mischform aus
schwacher und starker Deklination auf —eus bildete, also: Fuchsens,
Straußens, Schulzens, Fritzens, Götzens, Leibnizens, Maxens
(vgl. Luisens, Friederikens, Svphieens). Im Volksmunde sind diese
Formen auch heilte noch durchaus gäng und gäbe (ebenso wie die Dative und
Akkusative Fritzen, Sophieen), und es ist nicht einzusehen, warum sie nicht
auch heute noch vavierfähig sein sollten^). Verständige Schriftsteller, die vom
Tintendentsch zum Ohrendeutsch zurückkehre», brauchen sie denn auch allmählich
wieder; wenn sich nur mich die Schule herbeilassen wollte, sie wieder in
Gnaden anzunehmen! Unmöglich ist dieser Ausweg natürlich bei Namen, die
selbst Genetive sind, wie Carstens, Hinrichs (eigentlich Carstens Sohn,
Hinrichs Sohn); Carstensens scheint denn doch unerträglich. Aber auch
Phidiassens und Svvhvklessens, wiewohl auch solche Formen in der
Goethe-Schillerzeit unbedenklich gebildet wurden. Das beste ist es wohl, solchen
Formen ans dem Wege zu gehen, was bei einiger Geschicklichkeit so leicht aus¬
führbar ist, daß niemand einen Zwang merkt. Man kann den Namen in einen
ander» Kasus oder einen andern satzten bringen, statt des Genetivs sein,
seine, sein setzen, des Dichters, des Künstlers oder etwas dergleichen
einsetzen, aber nur nicht: die Zeichnungen des Carstens! Und noch weniger
Voß' Luise — denn das ist baarer Unsinn.
(Fortsetzung folgt)
is Martha spät in der Nacht in ihre Kammer kam, war sie noch
so erschöpft vor Erregung, daß sie sich kaum aufrecht halten
konnte. Mechanisch, gleichsam halb im Schlaf, entkleidete sie
sich, und sobald sie ihren Kopf aufs Kissen gelegt hatte, sank
sie wieder in einen tiefen, todesähnlichen Schlummer.
Sie mochte wohl eine Stunde geschlafen haben, als sie ganz in der Nähe
ehren Namen flüstern hörte, Sie konnte es sich lauge nicht erklären, woher
der Ton kam, bis das Fenster vorsichtig von außen geöffnet wurde und eine
Gestalt hereinkrvch. Mit unsichern, tastenden, lautlosen Schritten glitt die
Gestalt über deu Fußboden, aber sie erkannte sie nicht, bevor sie das Bett
erreicht hatte und das Mondlicht auf das blonde Haar siel. Da stieß sie
einen Schrei aus. Das war er!
Hastig umschlang sie seinen Hals und ruhte dann mehrere Minuten
bewußtlos an seiner Brust.
Endlich vernahm sie seine Stimme über ihrem Haupte: Liebste, Liebste!
Sie schlug die Augen auf und schaute ihn mit einem langen, seligen und
doch schmerzlichen Blick an. Noch konnte sie nicht reden, aber mit Aufbietung
aller Kräfte schmiegte sie sich ängstlich an ihn und preßte ihre Stiru gegen
seine Schulter.
Ich wußte es, ich wußte es ja! stammelte sie endlich und fiel wie ohn-
wüchtig zurück.
Er sank auf das Bett nieder und schlang seine kalten Arme um ihren
warmen, bebenden Körper, indem er sie an sich zog! Liebste, Liebste!
Ach wie gut, daß du kamst! sagte sie leise und preßte die eine Hand vor
die Augen.
Hast du gewartet?
Ich weiß nicht. Ich glaube, ich wäre wahnsinnig geworden, wenn du
nicht gekommen wärest. Ich —
Still, still! Nun ist alles vergessen, uicht wahr? Steh jetzt auf und
kleide dich an. Denn dn willst doch mit mir kommen?
Ja — nur fort von hier!
Komm — aber beeile dich, ich will dir helfen!
Sie wollte aus dem Bett springen, aber in demselben Augenblick — er¬
wachte sie. Sie schaute mit wirrem Blick um sich und richtete sich dann lang¬
sam in die Hohe.
War sie denn wirklich von Sinnen? War sie wirklich eine leichtfertige
Dirne? Hatte sie der liebe Gott denn ganz von sich gestoßen und sie dem
Teufel in die Hände gegeben?
Sie griff sich mit beiden Händen ins Haar. Und mit einem Blick voll
Wahnsinn starrte sie zum Feuster hinaus, wo der breite Strom des Baches
im Mondlicht schimmerte.
War es da unter nicht weit besser? Sollte sie sich uicht lieber da draußen
verbergen, bei Anne-Mette und den vielen andern, die dort Trost für ihr
Schicksal gefunden hatten? Was hatte sie sonst noch von diesem Leben zu
erwarten? — Aber dann mußte sie in stillen Mondscheinnüchten mit Anne-
Mette draußen im Walde wandern, nackt, mit einem Johanniswürmchen im
Haar! — Nixen hatte er gesagt — eine Nixe!
Sie raffte sich auf aus ihren Fieberphantasien, preßte die Hände vor
die Augen und legte sich wieder aufs Bett, um ihre Gedanken zu sammeln.
Nach einer Weile war sie fest eingeschlafen.
Als sie wieder erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Draußen
vor dem Fenster jubelten die Vögel, und unter auf der Wiese saug ein Hirten¬
knabe mit gellender Stimme. Sie ließ die Augen langsam durchs Zimmer
gleiten, bis sie am Fußende des Bettes Halt machten - da saß die Mutter
auf einem Stuhl und starrte sie an.
Ein Schauder durchfuhr sie. Sie wollte aufspringen, aber da ihr die
Kräfte versagten, schloß sie wieder die Augen. Was konnte das nur bedeuten?
dachte sie bei sich. Ob die Mutter etwas wußte? Aber in demselben Augen¬
blick entsann sie sich, daß Lars Einauge ihr von der Hast erzählt hatte, mit
der sich die Mutter am vorhergehenden Abend vom Markte entfernt hatte,
und es überkam sie ein Gefühl, als wenn ihre Glieder erstarrten. Sie weiß
alles, sagte sie sich.
Regungslos blieb sie liegen. Da erhob sich die Mutter und legte ihre
Hand auf die Bettdecke: Martha! du mußt aufstehen!
Noch eine Weile lag sie still da, dann richtete sie sich langsam empor
und blickte mit großen, entsetzten Augen um sich. So sprachen beide kein
Wort. Als sich aber ihre Augen begegneten, fuhr über beide gleichsam ein
eisiger Hauch. Die Mutter sank schwer auf den Rand des Bettes nieder, und
Marthn verbarg ihr Antlitz in beiden Händen, indem sie sich über ihre Kissen
beugte. Dann erklang ein heiseres, verzweifeltes Jammergeschrei.
Warum hast du niemals Vertrauen zu mir gehabt, Martha! sagte die
Mutter zögernd. Ich habe ja kein Recht, dir Vorwürfe zu machen, denn ich
habe dir ja kein besseres Beispiel gegeben, aber du hättest doch Vertrauen zu
mir haben können, Martha, ich bin ja nun doch einmal deine Mutter.
Weiß es Jesper? klang es unter der Bettdecke hervor.
Ja!
Oh! oh! Es klang fast wie das Weinen eines Kindes, und durch ihren
halbnackten Körper ging ein heftiges Zittern.
Wer hat es ihm gesagt?
Ich erzählte es ihm gestern Abend, als du gegangen warst.
Was sagte er? fragte sie »ach einer Weile.
Ich weiß es nicht!
Oh, oh! Sie bohrte ihren Kopf förmlich in die Kissen. Wo ist er?
Er ist drinnen im Zimmer. Er wartet auf dich. Er will mit dir
reden.
Sind die ander» auch drinnen?
Ja.
Wissen sie es auch?
Ich glaube nicht. Aber du mußt jetzt aufstehen, Martha! Hörst du?
Die Mutter schlug die Decke zurück und half ihr vorsichtig aus dem Bett.
Aber Martha war wie ein hilfloses Kind. Sie zitterte am ganzen Körper,
""d es war ihr unmöglich, i» die Kleider zu kommen. Versuche es doch
"ur, dich el» wenig zusammen zu nehmen, Kind! sagte die Mutter, indem sie
ihr half.
Als sie sie endlich fertig angekleidet hatte, als ihr Haar gekämmt und
ihr Kleid gekröpft war, führte sie sie zu einem Stuhl und hieß sie sich setzen.
So, nnn besinne dich ein wenig. Wenn du versprichst, daß du dich
bessern willst, so wird es dir Jesper mit Gottes Hilfe für dies eine Mal
wohl vergeben. Bleib jetzt hier, dann will ich ihn rufen. Er will gern hier
drinnen mit dir reden.
Sie blickte sie noch einen Augenblick tief bekümmert an, griff sich dann
mit der Hand nach den Schläfen, als zöge eine Erinnerung an ihrer Seele vor¬
über, und verließ das Zimmer.
Martha blieb wie leblos sitzen, die Hände in den Schoß gelegt, marmor-
l'leich im Gesicht, mit schwarzen, starren Augen. Aber bei dem ersten Geräusch
sprang sie auf und lauschte. Da ist er! dachte sie. Und obwohl niemand
kam, blieb sie mit weit geöffneten Augen stehen, wie ein Tier, das aus dem
Sprunge begriffe» ist. Jetzt kommt er! sagte sie dann »ach eiuer Weile halb¬
laut vor sich hin, und ihr ganzer Körper war wie eine gespannte Saite.
Als sie aber wirklich die Thür nach der Diele knarren hörte, griff sie
hastig nach ihren Schuhen und sprang wie eine Katze durchs offne Fenster.
Zwei Tage und zwei Nächte suchten sie im Walde nach ihr. Mit Stangen
und Haken wühlten sie das Bett des Baches und den Boden des Sees auf,
aber ohne Erfolg. Da drang das Gerücht herüber, daß in einem mehrere
Meilen entfernten Dorfe ein bleiches junges Mädchen gesehen worden sei, das
mit langem, herabhängendem Haar und gefalteten Händen am Grabenrande
gesessen habe. Jedesmal, wenn ein männliches Wesen vorübergegangen sei,
habe sie sich erhoben und ihm mit sonderbarer, verstörter Miene ins Gesicht
gesehen, sodaß mehr als einer entsetzt vor ihr geflohen sei. Und am Abend
sei sie in die Dorfschmiede gegangen und habe mit tiefer, verschämter Ver
neigung gefragt: Wie weit ist es noch bis zum Himmelreich? Auf alle Fragen
habe sie dieselbe Antwort gegeben: daß sie ausgegangen sei, um ihren Bräu¬
tigam zu treffen, er habe ihr geschrieben, er werde diesen Weg einschlagen. Er
sei Student, und zu Michaelis wollten sie Hochzeit halten.
Der Schmied und seine Frau waren gute Leute, es hatte sie des armen
Kindes gejammert, und sie hatten sich ihrer vorläufig angenommen. In der
Nacht aber war sie aus dem Fenster gesprungen, und am nächsten Morgen
fand man ihre Leiche in einem Mühlenteich in der Nähe.
Wenn auch nicht heute oder
morgen, doch ohne Zweifel in absehbarer Zeit wird die Erfindung Edisons, die
jetzt in der ganzen gebildeten Welt redet und von sich reden macht, so weit ver¬
vollkommnet sein, daß als Beilagen der Zeitungsblätter Wachsrolleu gegeben werden,
die uns alle am Tage vorher gehaltenen Reden unverkürzt und mit der Redner
Stimme und Vortragsweise vorsagen. Da der Ton die Musik macht, dürften wir
dann von mancher parlamentarischen Verhandlung ein ganz andres Bild gewinnen
als beim Lesen eines Zeitungsberichtes. Immerhin würde das Bild, um völligen
Ersatz für den unmittelbaren Eindruck uns den der Sitzung beiwohnenden zu leiste»,
noch einer kleinen Ergänzung bedürfen, und diese könnte ohne Schwierigkeit sofort
ins Leben treten. Wir meinen die Aufnahme von Angenbiicksbildern mit dem Photo-
graphischen Apparat. Bei nur einiger Umsicht wäre damit gewiß ein glänzendes
Geschäft zu macheu, Gegenwart und Zukunft würden dankbar sein für solche „echte"
Illustrationen der Tagesgeschichte, anstatt der hänfig erst nachträglich und „weit
vom Schuß" angefertigten Zeichnungen von „Spezialartisten." Denke» wir uns
z. B. die LilunOru, in dem Augenblicke geöffnet, wo Herr Engen Richter sich neulich
des durch Zeitungsartikel (natürlich nicht seine eignen!) gefährdeten „Ansehens des
Reiches" ritterlich annahm. Ob er selbst imstande gewesen ist, dabei den Ernst zu
bewahren, ist uoch uicht einmal die interessanteste Frage, die Gesichter der von ihm
angeführten Herren würden wir gern verewigt haben! Die Getreuesten werden wohl
von dieser überraschenden Wendung unterrichtet gewesen sein und daher ihre Ge¬
sichtsmuskeln beherrscht haben. Einige mögen alles, was ihr Hauptmann vorbringt,
für bare Münze nehmen und daher auch diesmal mit ehrfurchtsvoller Bewunde¬
rung zugehört haben. Vlber noch andre können doch an ihrem Herrn und Meister
^'re geworden sein, der plötzlich seinen erhabnen Standpunkt, hoch über allen deu
»ntioualeu Schwächen, an denen nur übrigen leiden, zu verlasse» schien! deren
Verblüffung muß sich recht ergötzlich ausgenommen haben. Auch hat er vermutlich
selbst das Bedürfnis gefühlt, die Myrmidonen wieder zu beruhigen. Das eigne
Ansehen ist einem doch näher als das Ansehen des Reiches. Und so wurde denn
l'ni der Niger-Company und bei Samoa die Gelegenheit frisch vom Zaune ge
»rochen, zu zeigen, daß die alte internationale Gesinnnngstiichtigkeit noch keinen
Schaden genommen hat. Eine Reihe befriedigt schmunzelnder Gesichter würde da
wieder ein sehr hübsches Bild gegeben haben.
Wie schade ferner, daß kein Detektivapparat i» Thätigkeit war, als bei der
Feier für Weinhold Herr Birchow die Anniesenden durch die Entdeckung erfreute,
daß die Geschichte unsre Lehrmeisterin sein soll. Für ihn war das augen¬
scheinlich eine Entdeckung. Und so viel man von dem Manne auch gewohnt ist,
den Gustav Schwetscht'e schon als toe^ax omiribnu An estan se >>nilnnAÜun a.Ili»
chnrnkterisirte: gerade aus seinem Munde jene Sentenz vernehmen zu müssen, das
l>al auf die Hörer eine unwiderstehliche Wirkung geübt.
Seien wir übrigens nicht Parteiisch. Die Versammlungen konservativer Wähler
"l Berlin, die, obwohl längst über das Alter jenes Knaben hinaus, der seine er-
frornen Finger als gerechte Strafe für seinen ihm keine Handschuhe laufenden Vater
ansah, doch beschlossen, gar nicht mehr mitzuspielen, weil sie nicht die erste Geige
spielen können, sie wären auch des Photographirens wert gewesen. Früher hielten
wir Herrn Adolf Wagner für einen Politiker, und müssen ihm nun Abbitte leisten:
er ist auch nur — Mitglied einer Partei. Ob die Verwaltung der Stadt Berlin
ilänzlich in die Hände von Anhängern einer Partei gelangt, die er nach seinen
Überzeugungen immer und überall bekämpfen muß, ob die Reichöhnuptstndt deu
feinen Ruf erhält, daß in ihr nur noch Richter und Singer kvnimandiren, das
thut nichts! Seine Partei ist „böse," sie steht maulend im Winkel, und dieses
ebenso patriotische wie imponirende Verhalten findet die volle Billigung ihres
Führers, des Geheimen Rates und Professors der Nationalökonomie Adolf Wagner, ja
er lehrt ausdrücklich die politische Weisheit: „Es ist meinem Vater ganz recht», f. w."
Wie mag sein alter Widerpart, Herr Alexander Meyer, darüber gelacht haben.
Wir aber hätten gern eine Photographie auch dieser Persammlung von Staats¬
männern !
In ver-
schiednen Volksvertretungen ertönt gellend der Wehruf, die Redefreiheit werde ein¬
geschränkt, die Würde des Parlaments verletzt — beides „wie noch nie!" Von
sonst gut unterrichteter Seite, wie die Zeitungen sagen, um anzudeuten, daß sie
sich über die Glaubwürdigkeit einer Nachricht keiner Täuschung hingeben , kommt
uns nun die Mitteilung, daß in den Weihnachtsferien eine Anzahl der gewiegtesten
Parlamentarier, namentlich aus Deutschland, Italien, Ungarn, Böhmen, Frankreich,
Dänemark, Norwegen u. s. w., zusammentreten werde, um eine internationale Ge¬
schäftsordnung zu beraten, durch die dem jetzigen unerträglichen Zustande ein Ende
gemacht werden soll. Über die wichtigsten Bestimmungen soll bereits brieflich volle
Einigung erzielt worden sein. Nämlich: Minister dürfen in einem Parlament nur
das Wort nehmen, wenn sie von einem oppositionellen Abgeordneten gefragt werden.
Die Antwort muß sich streng ans den Gegenstand der Frage beschränken und in
bescheidnen Tone vorgetragen werden. Erklärt der Interpellant die Antwort für
unbefriedigend, so hat der Minister eine andre zu geben. Sieht sich ein oppo¬
sitioneller Abgeordneter veranlaßt, einem Regierungsvertreter eine Rüge zu erteilen,
so hat dieser sich höflich zu bebauten und Besserung zu geloben. Um bei Er¬
teilung des Ordnungsrufes jede Willkür unmöglich zu machen, wird in Zukunft der
Präsident einen solchen nur dann aussprechen, wenn ihm ein Führer der Oppo¬
sition den „diesbezüglichen" Auftrag erteilt. Alle Staatsschriften, Gesandtschafts¬
berichte, Erlasse u. s. w. sind zuerst den Führern der Opposition zu überliefern,
die sie mit ihren Bemerkungen versehen und bestimmen, ob und in welcher Aus¬
dehnung die Schriftstücke den oppositionellen Zeitungen mitzuteilen sind; Regiernngs-
organe dürfen sie diesen entnehmen. Die barbarische Maßregel der Räumung
der Galerie wird für immer abgeschafft.
Wenn ich zu der an der Spitze dieses Heftes stehenden Ent¬
gegnung mir einige Worte hinzuzufügen erlaube, so geschieht dies vor allem, um
die Liebenswürdigkeit des von Loening angeschlagenen Tones dankbar anzuerkennen,
und um meiner Freude darüber Ausdruck zu geben, daß das Publikum durch diese
Entgegnung von neuem auf die wertvolle Schrift Loenings aufmerksam gemacht
wird. Ich habe, dem Charakter der Grenzboten entsprechend, nicht eine wissen¬
schaftliche Kritik des Loeningschen Buches, sondern nur in Anlehnung an das Buch
eine freie Erörterung der strafrechtlichen Verantwortung des Redakteurs geben
»vollen, wie ich dies auch in meinem Aufsatz ausgesprochen zu haben glaube. Des¬
halb hielt ich es auch nicht für erforderlich, was bei einer streng wissenschaftlichen
Kritik allerdings erforderlich gewesen wäre, alle einzelnen Punkte, in denen meine
Darstellung von der Loenings abweicht, genan anzugeben. Was den materiellen
Inhalt anlangt, so gehen wir von zu verschiednen Gesichtspunkten aus, um unsre
Ansichten vereinigen zu können : Loening vertritt den theoretischen, ich vertrete den
praktischen Standpunkt, beide Anschauungen können sich aber, wie ich auch in
meinem Aufsatze sagte, gegenseitig zur Förderung gereichen. Einen Grund, wes¬
halb die Grundsätze der reinen Theorie in der Praxis befolgt werden müssen, kann
ich nicht einsehen; ich glaube im Gegenteil, daß gerade in der Rechts wie in der
Staatswissenschaft in den letzten Jahrzehnten die Praxis der Theorie zu viel nach¬
gegeben habe und ein Zurückgreifen der letztern ans das praktische Leben wünschens¬
wert sei.
Der Verfasser hat fast elf Jahre in Italien, besonders im Süden Italiens
gelebt, und wenn er daraufhin den bekannten Umstand ausführlich erörtert, daß das
Christentum von Su'ditcilien im Volksleben nichts andres ist, als die Fortsetzung
des späten Heidentums, so kann er weit bessere BeMeise und Beispiele darüber
liefern, als die bisherige» Schriftsteller. Es sind wahrhaft haarsträubende Dinge,
die wir lesen. Gewiß mit Recht sagt er, diese heidnischen Dinge seien nicht, wie
man in Deutschland öfters meine, mir „Auswüchse," nein sie seien „das Gewächs
selbst." „In der Flasche blieb der alte Wein, mau änderte nur die Etikette ans
der Flasche. Das Geschäft selbst mit seinen Ideen, Grundsätzen und feiner Praxis
blieb dasselbe; geändert war nur der Name der Firma und daS Firmenschild."
Der Verfasser gesteht, manches im Leben des südlichen Christen gar nicht haben
begreifen zu können, bis er den betreffenden Punkt des antiken Heidentums kennen
gelernt habe. Bergil war ein Jahrtausend (bis zum vierzehnten Jahrhundert) in
Neapel verehrt als christlicher Halbgott und Heiliger. Andre heilige Zauberer
setzen ihn fort, so Egidio (1' 1812), der vieles leistete: er sieht eine Frau jammern
über zerbrochene Eier und braucht nur ein Kreuz zu schlage», so sind sie wieder
tzeil; einem Fischer waren Aale gestorben, Egidio strengt sich sehr an, Schwei߬
tropfen treten ihm auf die Stirn, aber er war ein großer Zauberer, die Aale
Wurden wieder lebendig. Aber er leistete noch größeres. Die Betteln«iiiichc in
Neapel ließe«« auch eine Kuh betteln, und lange kam sie abends gut gefüttert wieder
heim; aber ein Metzger schlachtete dieses arme Katharinchei« ab. Da ging der
Zauberer in den verborgenen Keller des Metzgers, wo sich noch der Kopf, das Fell,
die Eingeweide, das Fleisch fanden. Der Heilige breitete das Fell aus, legte
o«e einzelnen Stücke zurecht, «machte das Kreuz, und siehe, ein leises Brüllen, dann
em lautes, und Kntharincheu stand «nieder auf allen Vieren. Papst Leo XIII. Hai
diesen Totenerwecker der Kuh heilig gesprochen. Es «se eben nichts als eine
Apotheose, wie das Heidentum, das Orakel zu Delphi, der römische Senat n. s. w.
ste oft Vornahme««. Auch das Leben des großen Länserichs ^abre wird von Trete
in den Schmutz solcher Heilige«« eingestellt, gleiches zu gleichem. Der Verfasser
sieht mit Hase voraus, daß die Kirchengeschichte einmal zur allgemeinen Bildung
gehören werde. Dann wird man anch uns solchen rulturgeschichtlichei« Bildern
seine Bildung schöpfen müssen. Der Stoff ist so reich, daß der Verfasser noch
einen zweiten Teil des Buches in Aussicht stellt.
Örstedts Schrift über den ,.Geist in der Natur" und Humboldts „Kosmos"
Md die Vorbilder, denen die Schriften des Verfassers in populärerer Fassung
nnchstreben. Sie finde» das richtige, eindringliche Wort für das den einzelne»
Erscheinung»« des Naturlebens zu Grnnde liegende geistige Merlin«: und beruhen
gewiß auf gründlichern und ausgebreitetem Kenntnissen, als die gewöhnlich zu sein
pflegen, über die thevlvgisirende Naturbetrachter verfüge». Nur muß gerade diese
Art von Naturbetrachtung, da sie ebenso anmutend und dem Geiste geradezu un¬
entbehrlich ist, doppelt auf der Hut sein, Dinge einzumischen, die bereits in das
Gebiet der Naturdichtung gehören und gegen die sich dort auch gewiß nichts ein¬
wenden läßt. Hier aber, wo der Geist überzeugt sein will, stören sie ihn aus der
schonen Zuversicht, in die ihn eine sonst korrekte, kritische Umwendung der Teleologie
in der Naturbetrachtung versetzt, unsanft auf und sind unsers Erachtens gerade im¬
stande, ihn in neue Kette» von Zweifeln zu verstricken. Wir meinen mit diesem
Ausfall das Kapitel über Ahnungen und seltsames Zusammentreffen in Menschen-
geschicken, die hier sehr wohl hätten wegbleiben tonnen, so wenig wir sie dem ver¬
trauten Gespräch und überhaupt jeder geistigen Unterhaltung, in der die Phantasie
das Szepter führt, rauben wollen - und können. Denn sie sind hier zu allen
Zeiten ein besondres Lieblingsthema. Aber man unterschätze die Bedeutung nicht,
die Zeit und Umgebung auch für Ideen haben. Was wir im Drama und Roman
als durchaus notwendig hinnehmen, würde uns von Katheder oder Kanzel herab,
shstemaiisch vorgetragen, bedenklich stutzig mache». Das Buch läuft in einen
Hymnus auf die christliche Religion ans, deren Bedeutung als geistige Macht in
der Menschheitsgeschichte (zumal für die Stellung des deutschen Volkes in ihr)
jedes seiner Blätter verkündet.
Eine beachtenswerte Leistung und ein Zeugnis eines ungewöhnliche» dramatischen
Talentes, von dem wir gern Kenntnis nehmen. Die Hauptschwierigkeit des Stoffes
der Agnes Bernauer liegt in dem Verhältnis zwischen Vater und Sohn, Herzog
Ernst und Albrecht: Ernst, der Mörder der unschuldigen Agnes, geht in der Geschichte
straffrei ans, und Albrecht hat sogar später noch geheiratet. Mir die Bühne ist
dieser Sieg der Roheit unerträglich, vom Parterre ans empfinden Nur nnr für und
mit Agnes, sie hat tausendmal Recht, und wir vermissen im geschichtlichen Stoff die
tragische Sühne. Hebbel hat bekanntlich in feiner tiefsinnigen Weise den Gegensatz
von Staatsvernuuft und persönlicher Leidenschaft in diesem Stoss gesehen; aber sein
Stück hat sich trotz aller Vorzüge ans der Bühne nicht einbürgern können. Grill-
parzer geht es mit der den gleichen tragischen Gedanke» enthaltenden „Jüdin von
Toledo" ebenso, sie stößt im fünften Alt ab. Ott hat sich nun in eigner Art den
Stoff zurechtgelegt, die gewaltige tragische Wucht Hebbels freilich nicht erreicht, wohl
auch gar nicht angestrebt, nach unserm Dafürhalten aber die Geschichte bühnenfähig
gemacht. Zwischen die zwei harten Köpfe Ernst und Wilhelm hat er einen dritten
Mann geschoben, den Schürer des Gegensatzes und Träger der gröbsten Schuld.
Das ist der geheime Rat des Herzogs Ernst, Warmund von Pienzenan: ein falscher
Mensch, der im Dienste von Ernsts Feind, Ludwig dem Bärtigen, das Vertrauen
Ernsts mißbraucht, ihn schlecht berät, aufsetzt gegen den eignen Sohn, um sich
wegen Beleidigungen zu rächen, die ihm der jähe, hochfahrende Herzog angethan
hat. Auf diese» Rat Warmund wird alle Schuld geschoben, und mit so viel Glück,
daß unsre Stimmung gegen Herzog Ernst so böse nicht werden kann. Dieser steht
nicht auf dem Standpunkte der Staatsvernnnft, sondern ist bloß ans Ahnen- und
Adelstolz gegen Albrecht aufgebracht, der allerdings ohne ihn zu fragen in aller
Hast und Heimlichkeit Agnes geheiratet und damit sich auch schuldig gemacht hat.
Der Bruder Ernsts, Herzog Wilhelm, spielt anfänglich eine vermittelnde Rolle, ist
ein weiser Berater, den beide Herzoge sehr lieben und schätzen; Ernst befolgt auch
anfänglich seine Ratschläge in Sachen Albrechts und will sich versöhnen lassen.
Da, mi» Unglück, stirbt Wilhelm, und der böse Rat Pienzennu behält freie Hand,
dieser Tod des gütigen Wilhelm ist von ganz außerordentlicher Wirkung für den
Poetische» Gang der Tagiidic: wir sehen das Unglück kommen, da wir die Charaktere
schon kennen, und unser Gemüt wird mit schwerer Spannung belastet. Diese Er¬
findung konnte nur ein bedeutendes Talent macheu. Darum wirkt auch der Schluß,
wo sich Vater und Sohn in tiefster Erschütterung an der Leiche Agnesens die Hand
reichen und sich zum Kampfe gegen den gemeinsamen Feind vereinigen, poetisch
wahr und richtig. Es müßte allerdings auch noch die Probe auf der Bühne im
Angesichte des Publikums gemacht werden, so ein Schluß läßt sich von keinem
Menschen bloß noch der ^ete-n^', beurteilen. Es ist serner in der Gestaltung der
Agnes mit vieler Kunst selbst der tragischen Katastrophe Vorgebaul: Agnes beschuldigt
sich der nachgiebigen Leidenschaft, bleischwer liegt es ihr auf dem Herzen, ihr
gretchenhaft zartes Wesen voller Unschuld und Anmut ist aufgestört, mit sich selbst
zerworfen l sie atmet tragische Stimmung. Ein Hauptfehler bei der ganzen Geschichte
will uns aber in der nicht genügenden Motivirung des Hasses Warmnnds von
Pienzenan erscheinen. Wir sehen zwar, daß Herzog Ernst roh mit ihm verkehrt,
aber das will uns nicht für die Begründung seines so boshaften Handelns genügen.
Und die Gründe des Hasses, die der Rat in Monologen vorführt, sind dramatisch
mindestens gleichgiltig. So Unis muß sinnlich sichtbar guf der Bühne in Handlung
dargestellt sein; zur Not kann der Schauspieler ergänzend wirken.
Doch nnn zu der künstlerischen Form des Stückes, die uns hauptsächlich ge¬
fesselt hat. Ott hat den große» Stil, den breiten Strich in dieser Dichtung merk¬
würdig gut getroffen. Es fehlt nicht an theatralisch höchst wirksamen Auftritten,
wie z. B. im dritten Akt, wo Albrecht zu dem Turiner, das Ernst giebt, gekommen
>>t- Trotz der persönlichen Absicht seines Herzogs hat Warmnnd einen furchtbaren
Zornesausbruch auf beiden Seiten geschickt eingeleitet. An den Tonrnierschranken
wird Albrecht vom Herold angehalten, als ein unehrbnrer Mann, der in wilder
Ghe mit einer Dirne lebe. Empört wirft der Sohn dein Vater den Handschuh
hin; das ist der Schlich des dritten Aktes. Und an solch wirksamen Auftritten ist
die Handlung reich, das ganze Stück umfaßt nnr neunzig Seiten, weniger als das
"bliebe Maß, aber es ist zum Verwundern, was alles in dein engen Raume vorgeht,
>ab ohne etwa den Eindruck des skizzenhaften zu machen. Die schönsten Teile
des Stückes sind aber die prachtvollen Volksszeneu, mit behaglichem Humor breit
ausgeführt. Die Exposition in der Stube des Baders Bernauer ist ein köstliches Werk,
wenn auch der alte Kaspar unes dem Mister des Musikus Müller und des Tischler¬
meisters Anton <wor Hebbel) gemacht ist. Das deutsche Bürgertum ist mit seiner
ehrenfester Derbheit vorzüglich geschildert. Auch Shakespeurestudicu find in diesen
Volksszeneu und in der Zeichnung der Agnes merkbar. Der fünfte Akt bringt
wieder prächtige Volksszenen; jedesmal dienen sie echt künstlerisch den Handlung.
Die Sprache, bald Prosa, bald Verse, ist die eines echten Dichters.
Sollte diese Anzeige dein begabten Verfasser, dem wir sonst noch nirgends
begegnet sind, zu einer Aufführung verhelfen, dann hätte sie ihren Zweck erreicht.
Oels Dichtung ist den, Herzog Georg von Sachsen-Meiningen gewidmet. Dieser
hohe Herr hat die berufene Schauspielergesellschaft für die Aufführung beisammen.
Sie dürfte jedenfalls fruchtbarer werden, als es die Versuche mit den tranken
Stücken eines Richard Voß, Ibsen u. a. gewesen sind.
Wir haben die Freude, daß die Verbreitung der Grenzboten stetig zu¬
nimmt. Inmitten der Hochflut illnstrirter Wochen- und Monatsschriften, die
sich in allen erdenklichen Lockmitteln moderner Zeitungsausstattnng zu über
bieten, auf jede Weise den Neigungen, Wünschen und Launen der großen
Menge entgegenzukommen suchen, bricht sich unser ernstes, schlichtes und be¬
scheidnes Blatt, dein es immer nur um die Sache zu thun ist, und das nie
um die „Gunst" der Leser gebuhlt hat, von Jahr zu Jahr mehr Bahn.
Aber immer noch giebt es in den .Kreisen, an die sich unser Blatt wendet
und in denen es seine Freunde hat und sucht, viel mehr Leute, die kaum von
seinem Vorhandensein wissen, als solche, die es kennen und schätzen. Fast
täglich müssen wir die Erfahrung machen, daß die Grenzboten plötzlich von
irgend jemand „entdeckt" werden, daß jemand mit Überraschung wahrnimmt,
daß es ein solches Blatt, wie er es immer vermißt hat, wirklich giebt.
Diesem Zustande abzuhelfen giebt es bei der erdrückenden Überproduktion
aus dem Gebiete der Zeitschriften nur ein Mittel: daß die Leser und Freunde
des Blattes selbst soviel sie nur können für seine Verbreitung wirken. Wir
erlauben uns, ihnen dazu folgenden Vorschlag zu macheu.
Es wird wohl kaum ein Heft der Grenzboten ausgegeben, nach dessen
Durchsicht sich nicht der oder jener Leser sagte: Diesen Aufsatz hier sollte
Freund auch lesen! Diese Meinung hier sollte auch an der und der Stelle
gehört werden! In allen solchen Fällen nun, wo es dem Leser erwünscht
scheint, daß eine Stimme aus den Grenzboten, die ja oft ganz allein steht und
sich anderswo kaum zu äußern wagt, auch anderwärts vernommen werde, bitten
wir den Leser, einfach eine Postkarte zu nehmen und uns zu schreiben: Schicken
Sie Ur. . ., die den und den Aufsatz enthält, an Herrn N. N. (oder an die
und die Zeitung)! Wir werde» dann gern das betreffende Heft — auch wen»
sichs um ältere, weiter zurückliegende Nummern handelt — soweit der Vorrat
reicht, als Probeheft an die genannte Adresse senden. Ebenso sind wir gern
bereit, einzelne Hefte abzugeben, wenn Leser solche von sich aus in Kreisen,
wo die Grenzboten noch unbekannt sind, zur Einführung des Blattes benutzen
wollen.
Wir hoffen und bitten, daß von diesem nnserm Vorschlage und Aner¬
bieten recht reichlicher Gebrauch gemacht werde!
VN den vielen beistimmenden Aeußerungen, die unser das Heer¬
wesen verteidigender Aufsatz: „Unsere Reserveoffiziere" hervor¬
gerufen hat, heben wir mit großer Freude eine Stelle aus der
Militär-Zeitung Ur. 50 hervor, in der es mit Rücksicht auf
den „Sommernachtstraum" heißt: „Die Notwendigkeit wie die
-nchtigleit unserer Reserveoffiziere wird von allen Berufsoffizieren viel zu
lehr anerkannt, als daß sie derartigen unrichtigen Darstellungen beistimmen
könnten." Auf eine in unserer Gesellschaft angeblich weit verbreitete An¬
schauung müssen wir aber noch eingehen. In der vorletzten Nummer der Grenz-
boten wird die „Schnicpclei" in den akademischen Kreisen als eine Folge
des Reserveoffiziertnms bezeichnet. Wer unsre Kulturgeschichte genauer kennt,
wird diese Behauptung schwerlich unterschreiben. Je oberflächlicher, geist¬
loser, gedankenärmer ein Zeitalter ist, desto mehr geht es in äußern Förm¬
lichkeiten auf, desto gewissenhafter und andächtiger werden die Regeln des
Wßern Scheines behandelt und beobachtet, desto widerwärtiger zeigt sich die
Sucht nach Eigentümlichkeiten in Sprache, Tracht und Umgangsformen, die
den Einzelnen — obwohl oder eben weil er ein Herdenmensch ist — aus
der großen Herde sichtbar herausheben sollen. Brauchen wir an die lächerlichen
Sitten gewisser Zeitabschnitte im Mittelalter zu erinnern, an die Albernheiten
de^ Perückenjahrhunderts, an die Verschrobenheiten der Rokokozeit? Wenn wir
die geschniegelten, verzierten, weibischen Münncrgestalten des Rokoko sehen, wie
sie Und spitzigen Fingern das Taschentuch ziehen, wie sie in ihrer putzigen
Tracht assises einhertänzeln, dann überkommt uns geradezu das Gefühl des
Ekels oder die brutale Lust, dazwischenznschlagen. Wer wollte behaupten, daß
die abscheulichen Auswüchse jenes Zeitalters durch den Einfluß der Soldateska
entstanden seien? Und heutzutage spricht man allen Ernstes davon, dieselben
Erscheinungen der verschnörkelten Umgangsform, der gezierten Sprache, des
Weibisch eiteln Wesens unter unsrer akademischen Jugend seien eine Folge unsers
Militarismus, unsers Reserveoffiziertnms!
Die Gründe für diese stetig wachsenden krankhaften Zustände der Gegen¬
wart liegen denu doch etwas tiefer. Die Unnatur ist immer der Fluch des
Epigonentums, und unsre Jugend scheint leider Gottes zu schnell in diesen
Fluch hineingeraten zu sein. Nur im Erstrebe» liegt die Kraft. Wenn der
Strom sich durch die Felsenklüfte schäumend mit steigender Gewalt über alle
möglichen Hindernisse gestürzt hat und die weite, mühelose Ebene erreicht, dann
tritt die Gefahr der Ermattung, der Versumpfung ein. Nach den Jahren
1870 und 1871 sind wir in diese gefährliche Ebene geraten, in der wir uns
ein sicheres Bett auswählen oder aber bei Entkräftung im Sande verlaufen
werden, wie die Kontiuentalflüsse der asiatischen Steppen. Der Angreifer ist
immer in sittlicher Beziehung stärker als der Verteidiger. Während jener
nach wohlbedachten Plane und in selbständiger Kraftentfaltung vorwärts geht,
besteht die Eigentümlichkeit des Verteidigers im Warten, und dieses erschlaffende,
unselbständige Warten ist auch der charakteristische Zug unsrer Zeit. Der Knabe
wartet, bis er das Alntnricntenexamen gemacht hat, der Jüngling wartet auf
der Universität, bis die Staatsprüfung kommt, der junge Beamte wartet, bis
er seiue feste Anstellung erreicht, und hat er diese erlangt, so ist des Wartens
noch immer kein Ende: es wird gewartet auf Gehaltserhöhung, ans Beförderung,
auf Auszeichnung, Titel, Orden u. f. w.
Das Moralprinzip des Wartens hat gegenwärtig alle andern Grundsätze
des tiefer gehenden Interesses, der uneigennützigen Strebsamkeit, der redlichen
Arbeit, des thatkräftigen Erringens verdrängt; es wird nicht mehr gearbeitet,
wie es unsre Väter gethan haben, es wird gewartet und gerade nur so viel
gearbeitet, wie von den Prüfungskommissionen verlangt wird. Aber zu diesem
unverkennbaren Krebsschaden kommt noch der Übelstand, daß von unsrer Jugend
auch auf besondre unverdiente Bevorzugung gewartet wird; ja es ist thatsächlich
schon unter uusern Primanern die Ansicht verbreitet, wer „Karriere machen"
wolle, der müsse vor allen Dingen Korpsstudent werden. Ju den hohen
Ämtern säße» „alte Herren," die fast alle den Korps angehörten und die die
„unbedingte Ehrenpflicht" hätte», im Interesse der ganzen Verbindung jeden
jungen Korpsbrüder so hoch als möglich zu „poussiren." Weshalb also
arbeiten? Nur gleich von vvruherei» der zukünftigen hohen Staatsstellung
gemäß recht vornehm thun, recht „patent," „aristokratisch," „feudal"! immer
warten! Euch ,,Kameelen," die ihr eure Lasten durch die Wüsten der geistigen
Arbeit schleppt, legen wir Auserwühlten doch später die Zügel an! Es ist
unbegreiflich, wie die alten Herren, die vor dreißig, vierzig Jahre» den Ver¬
bindungen angehörten und eine ganz andre Auffassung vom akademischen Leben
gehabt haben, so thatenlos den vou den Grenzboten geschilderten Verirrungen
einiger ihrer jüngern Genossen zuschauen können.
Unsre Jugend — das kaun nicht laut und oft genug gesagt werden —
bringt in der großen Mehrzahl von der Schulbank her einen wahren Wider¬
willen gegen alle tiefere geistige Arbeit mit. Es giebt kaum ungebildetere
Meuscheu, als die einseitigen Fachstudenteu — gleichviel ob Juristen, Theologen,
Philologen oder Mediziner — als diese bloßen Mechaniker des Gedächtnisses,
deren spätere Thätigkeit für unser ganzes nationales Leben im Gründe nicht
wertvoller ist als die eines Steiullvpfers. Einseitigkeit und Verbohrtheit haben
aber immer den Dünkel zum Begleiter; und kommt hierzu noch das feudale
Feinthuu, das steifleinene Frcitzentum, das von einigen holMpfigen Tonan¬
gebern als vorzüglicher Ersatz sür wissenschaftliche, litterarische oder künstlerische
Bestrebungen entdeckt worden ist, dann haben wir im allgemeinen die Knrri-
katur unsrer „Herren Studierenden/'
Es ist unglaublich, daß solche Menschen, die in ihrem ganzen Gebaren
eine völlig unreife Lebensanschauung verraten, von einer höhern Schule das
Zeugnis der „Reife" erhalten konnten. Die Universität soll doch eine Pfleg¬
stätte der Wissenschaft, des gesunden geistigen Lebens sein und keine Brutanstalt
nationaler Schäden.
Ich frage nun, was in aller Welt hat der Reserve- oder Landwchroffizier
mit krankhaften Erscheinungen zu thun, die ihre einzige Quelle in unserm
zerfnhrnen Familienleben haben, in unsern auf Examendresfur angelegten höhern
Schulen, in unsern oberflächlichen, geistlosen gesellschaftlichen Zuständen, denn eine
Gesellschaft, die solche Unnatur des Studententums in ihrer Mitte „originell"
findet, muß unzweifelhaft ihrer würdig sein! Was hat der Student mit dem Re¬
serveoffizier zu thun? Sie stehen beide weit auseinander: der Student muß nach
seiner militärischen Dienstzeit das akademische Studium beendigt und eine
bürgerliche Stellung erreicht haben, um zu dieser Auszeichnung zu gelangen.
Wenn man unter der akademischen Jugend eine alberne Sprachziererei und
untre Lächerlichkeiten findet, so kann sie also nicht der Reserveoffizier hinein¬
getragen haben; sie sind lediglich Nachahmungen und Übertreibungen des soge¬
nannten „feudalen" Tones, der unter der Mnrizssiz clorss noch als besonders
vornehm gepflegt wird. Die Reserveoffiziere, die ihren bürgerlichen Beruf aus¬
füllen müssen, und die an Jahren schon ziemlich weit vorgeschritten sind, ehe
sie zum Offizier gewählt werden, haben besseres und wichtigeres zu thun, als
sich mit jenen Albernheiten zu befassen. „Der heutige Dienst, sagt die Militär-
Zeitnng sehr richtig, die scharfe Zugluft, die in unsern Offizierskreisen weht,
machen Ausschreitungen wie die geschilderten einfach unmöglich."
Es ist ein wahrer Segen, daß jene junge Herren, die vor Feinheit kaum
wehr lachen können, ein Jahr — „das fütäle Jahr" — auf dem Kasernenhof
oder in der Mannschaftsstnbe zubringen müssen, wo ihnen wenigstens ziemlich
deutlich beigebracht wird, daß die Welt nicht ihretwegen da ist. So lange
sie dienen, pflegt auch ihre „Patentthuerei" zu ruhen; leider bricht sie später
gewöhnlich wieder mit doppelter Kraft hervor. Mich begleiten bei dieser ganzen
Betrachtung Goethes Worte: „Nun verdrießt mich nichts mehr, als wenn die
Menschen einander plagen, am meisten, wenn junge Leute in der Blüte des
Lebens, da sie am offensten für alle Freuden sein könnten, einander die paar
guten Tage mit Fratzen verderben und nur erst zu spät das uuerseetzlich ihrer
Verschwendung einsehen."
in 6. und 7. Oktober fanden im Abgeordnetenhause die Verhand¬
lungen über die Resolutionen der Budgetkommission statt. Ein
vermittelndes Amendement von Vincke wurde abgelehnt, und
die früher angeführten Resolutionen wurden mit 251 gegen 36
Stimmen angenommen. Am 10. und 11. Oktober fanden die
Budgetberatuugen im Herrenhause statt. Das Haus beschloß auf Grund eines
Antrages des Grafen Arnim-Bvhtzenburg: -i) den Gesetzentwurf betreffend die
Feststellung des Staatshaushaltsetats für 1862 in der Fassung, in der er
aus den Beratungen des Hauses der Abgeordneten hervorgegangen war, ab¬
zulehnen; b) denselben Gesetzentwurf, wie er vou der königlichen Staats¬
regierung durch Allerhöchste Genehmigung vom 25. Mai d. I. den beiden
Häusern des Landtages zur verfassungsmäßigen Beschlußnahme vorgelegt worden
war, anzunehmen.
Am folgenden Tage, am 13. Oktober, eröffnete Grabow die Sitzung mit
einer Rede, worin er erklärte, er bedürfe des Beirath des Hauses, „um den
verfassungswidrigen Beschluß ^der ihm inzwischen zugestellt worden warj von
der Barre dieses Hauses zurückzuweisen." Die wenigen Anhänger der Regierung
verließen, nachdem sie gegen dieses Vorgehen Einsprache erhoben hatten, den
Saal, und die 237 Anwesenden beschlossen dann einstimmig: „Das Haus der
Abgeordneten erklärt: der von dem Herrenhause in seiner Sitzung am 11. d. M.
in Ansehung des Staatshaushaltsetats für 1862 gefaßte Beschluß, insofern er sich
nicht darauf beschränkt, den der Beratung des Herreuhanses allein unterliegenden
Beschluß des Abgeordnetenhauses vom 3. d. M. über die Budgetvorlage der
Negierung anzunehmen oder zu verwerfen, vielmehr nach Verwerfung des
Beschlusses des Abgeordnetenhauses die Budgetvorlage der Regierung annimmt,
mit welcher das Herrenhaus gar nicht befaßt gewesen ist, verstößt gegen den
klaren Sinn und Wortlaut des Verfnssungsartikels 62 und ist deshalb null
und nichtig. Die königliche Staatsregierung kann daher keinerlei Rechte ans
diesem Beschlusse herleiten." Damit war auch zwischen den beiden Hnnscrn des
Landtages ein offner Konflikt ausgebrochen, und zwar war er völlig nutzloser-
und zwecklvserweise herbeigeführt worden. Zunächst lag die Rechtsfrage durch¬
aus nicht so klar, wie in der eben angeführten Erklärung des Abgeordneten¬
hauses behauptet wurde. Im Art. L2 der Verfassung heißt es durchaus
„Staatshaushaltsetats werden nur in der von dem Abgevrdnetenhnuse ihnen
nicht: gegebenen Form von der ersten Kammer im ganzen angenommen."
Wenn solche Gesetzentwürfe zuerst der zweiten Kammer vorgelegt werden
müssen, doch natürlich und selbstverständlich in der von der Regierung ihnen
gegebenen Fassung, so ist gar nicht abzusehen, warum sie nicht auch darnach
in dieser Form der ersten Kammer vorgelegt werden sollen. Die Behauptung,
daß das Herrenhaus sich mit der Regierungsvorlage gar nicht zu befassen habe,
sondern nur mit dem Beschlusse des Abgeordnetenhauses, ist mindestens uner-
iviesen, und die ganze Frage ist schließlich praktisch völlig wertlos, eine reine
Doktorfrage. Darum hätte das Abgeordnetenhaus klug gethan, den Beschluß
des Herreuhauses, der um der vorhandenen Sachlage nicht das geringste änderte,
ohne irgendwelche Erörterung zu den Akten zu nehmen und sich weiter nicht
darum zu kümmern. Wenn aber das Abgeordnetenhaus die Beschlüsse des
andern Hauses für null und nichtig erklärte, so überschritt es unzweifelhaft die
ihm verfassungsmäßig zustehenden Rechte und maßte sich einfach wieder die
unbedingte Souveränität an. Die Regierung hat, nebenbei bemerkt, auf die
Annahme des Budgets von feiten des Herrenhauses niemals Gewicht gelegt.
Noch an demselben Tage, am 19. Oktober, wurde der Landtag im Weißen
Saale des königlichen Schlosses zu Berlin geschloffen; Bismarck verlas die
Schlußrede; ihre wichtigste Stelle lautete: „Nachdem der Gesetzentwurf über
den Staatshnnshaltsetat für das Jahr 1802 in der von dem Abgeordneten¬
hause beschlossenen Feststellung wegen feiner Unzulänglichkeit von dem Herren¬
hause verworfen worden, findet sich die Regierung Seiner Majestät des Königs
M der Notwendigkeit, den Staatshaushalt ohne die in der Verfassung voraus¬
gesetzte Unterlage führen zu müssen. Sie ist sich der Verantwortlichkeit in
vollem Maße bewußt, die für sie aus dem beklagenswerten Zustande erwächst;
sie ist aber ebenso der Pflichten eingedenk, welche ihr gegen das Land obliegen,
und findet darin die Ermnchtignng, bis zur gesetzlichen Feststellung des Etats
die Ausgaben zu bestreiten, welche zur Erhaltung der bestehenden Staats-
einrichtungen und zur Förderung der Landeswohlfahrt notwendig sind, indem
sie die Zuversicht hegt, daß dieselben seinerzeit die nachträgliche Genehmigung
des Landtages erhalten werden."
Die Aufregung im Lande wuchs natürlich fortwährend. Einige Beamte,
die allzusehr die schuldige Rücksicht gegen die Regierung, der sie Gehorsam
geschworen hatten, außer Augen setzten, wurden gemaßregelt; so wurde
Herr von Bocknm-Dolffs „im Interesse des Dienstes" von Koblenz nach
Gumbinnen versetzt. Zur Unterstützung dieser Märtyrer der Freiheit wurde
ein sogenannter Nationalfonds gebildet, der bis gegen Ende des Jahres auf
75 000 Thaler anwuchs. Diese Sammlungen wurden verboten, ihre Ver¬
anstalter vor Gericht gestellt, jedoch meistens freigesprochen. Natürlich fehlte
es nicht an Preßprozessen. Allerlei Körperschaften, wie Stadtverordneten¬
versammlungen und Universitäten, die sich besser um Sachen gekümmert hätten,
die sie angingen, fingen an in Politik zu machen. Viele Abgeordnete wurden
bei ihrer Heimkehr festlich empfangen u. f. w. Aber auch die staatserhaltenden
Parteien zeigten nach und nach wieder ein kräftigeres Leben. Zahlreiche Er¬
gebenheitsndressen und Lvyalitätsdeputationen aus allen Landesteilen gingen
an deu König, und dieser selbst ließ es an der nötigen Entschiedenheit des
Auftretens nicht fehlen. So sagte er um 23. Oktober zu einer Deputation aus
Potsdam und Spandau: „Was die Militärrevrgauisation betrifft, so ist diese
mein eigenstes Werk und mein Stolz, und ich bemerke hierbei, es giebt kein
Boniusches und kein Römisches Projekt; es ist mein eignes und ich habe daran
gearbeitet nach meinen Erfahrungen und pflichtmäßiger Überzeugung. Ich
werde daran festhalten und die Reorganisation mit aller Energie durchführen;
denn ich weiß, daß sie zeitgemäß ist. Es ist auch eine Verleumdung, die
geflissentlich verbreitet wird, daß die beschworeue Verfassung gebrochen werden
solle. Ich halte fest an meinem Eide, halte fest an meinem Programm von
1858. Ich danke Ihnen für die Unterstützung, die Sie mir und meinen aus-
gesprochnen Absichten schon dadurch leisten, daß Sie sich ermannt und gesammelt
haben den Angriffen gegenüber, deren Ziel die Schwächung des Königtums
und des Throns ist. Fahren Sie fort in Ihrer Treue und streben Sie dar¬
nach, daß Ihre Gesinnung nicht ans die Kreise beschränkt bleibe, von denen
Sie hergesandt sind, sondern sich weiter über alle Stände des jetzt so vielfach
irregeleiteten Volkes verbreitet." Aber in dem Lärmen und Toben des Partei¬
getriebes verhallten die Worte des Königs fast wirkungslos.
Dasselbe war der Fall mit der ruhigen und entgegenkommenden Thron¬
rede, mit der Bismarck am 14. Januar 1803 den Landtag wieder eröffnete.
Der Präsident Grabow betonte in seiner Eröffnungsrede nur, daß in den
letzten drei Monaten der Konflikt sich verschärft habe, und daß der Art. 99
der Verfassung verletzt sei. Die Abgeordneten Virchow und von Carlowitz,
unterstützt von mehr als zweihundert Mitgliedern des Hauses, beantragten den
Erlaß einer Adresse an den König und legten zugleich den Endorf dazu vor.
Dann heißt es: „Seitdem haben die von Euer Majestät berufenen Minister
verfassungswidrig die Verwaltung ohne gesetzlichen Etat fortgeführt. Das
oberste Recht der Volksvertretung, das der Ausgabebewilligung, war damit an¬
gegriffen. Nur eine kleine, der Nation seit lange entfremdete Minderheit hat,
gestützt .durch die Minister Eurer Majestät, bis zu den Stufen des Thrones
die gröbsten Verleumdungen gegen einen Faktor der Gesetzgebung getragen und
den Versuch nicht gescheut, das Urteil über Maß und Bedeutung klarer Ver¬
fassungsrechte zu verwirren. Gleichzeitig ist vielfach ein Mißbrauch der Re¬
gierungsgewalt, wie er in deu trüben Jahren vor der Regentschaft Eurer
Majestät stattfand, hervorgetreten. Es sind verfassungstreue Beamte mit
drückenden Maßregeln henngesucht worden. Es ist die Presse verfolgt worden,
wo sie für das Recht offen eintrat. Eure Majestät haben noch jüngst zu
erklären geruht, daß niemand an allerhöchst Ihrem Willen zweifeln dürfe,
die beschworene Verfassung aufrecht zu erhalten und zu schützen. In der That
wagt niemand, einen solchen Zweifel zu hegen. Aber gestatten Eure Majestät,
es offen auszusprechen — die Verfassung ist durch die Minister schon jetzt
verletzt. Art. 99 ist keine Wahrheit mehr. Das schwere Übel einer budgct-
lvsen Regierung ist über das Land gekommen. Inmitten dieser Bedrängnis
läßt das preußische Volk nicht von der Hoffnung, daß Eurer Majestät Weis¬
heit die ehrliche Stimme seiner gesetzlichen Vertreter unterscheiden werde von
dein Rate derer, welche in dem Kampfe der Parteien ihre an sich ohnmächtigen
Bestrebungen durch den erhabenen Namen Eurer Majestät zu decken und zu
stützen sich bemühen. Königliche Majestät! Unsre Stellung als Vertreter des
Landes legt uns die gebieterische Pflicht auf, feierlich zu erkläre«, daß der
innere Frieden und die Kraft nach außen dem Laude nur durch die Rückkehr
zu verfassungsmäßigen Zuständen wiedergegeben werden können." Ob die
Herren gar nicht fühlten, daß alle diese Vorwürfe und Anschuldigungen, die
schwersten, die man gegen eine Regierung, die die Hüterin der Gesetze sein
soll und will, erheben kann, schließlich den König persönlich treffen mußten,
wenn auch nur immer seine Minister genannt wurden?
Drei Tage, von 27. bis zum 29. Januar, dauerte die Debatte über diese
Adresse. Bismarck griff mit einer langen, inhaltreichen und bedeutenden Rede
l-'i», die aber nur neuen und heftigem Widerspruch hervorrief. Der Entwurf
bon Virchow und Ccirlowitz wurde schließlich mit 255 gegen 68 Stimmen an¬
genommen. Der König weigerte sich, die Adreßdeputation des Abgeordneten¬
hauses zu empfangen, und das Schriftstück wurde eingesandt, (31. Januar).
Unter dem 3. Februar erging darauf die Autwort des Königs, nur von
ihm persönlich gezeichnet, ohne die Gegenzeichnung irgend eines Ministers,
weil er glaubte, „daß es dem Hanse darum zu thun sei, seiue persönliche
Anschauung und Willensäußerung kennen zu lernen." Um nicht zu weit
schweifig zu werden, verweise ich in Bezug auf den Inhalt dieser Kundgebung-
des unvergeßlichen Monarchen, die auch heute noch beherzigenswert ist, auf
größeres Sammelwerk (z. B. Hahns Fürst Bismarck).
nachgerade schien den großen Staatsmännern des Fortschritts die Zeit
gekommen, auch einmal ihre hervorragende Befähigung für die auswärtige
Politik darzulegen. In Russisch-Polen war ein wilder Aufstand gegen die
Regierung ausgebrochen. Preußen hatte seine Armeekorps in den Ostprovinzeu
auf einen erhöhten Friedensstand gesetzt und einige militärische Maßregeln
getroffen, um zu verhindern, daß die eignen, von Polen belvohnten Landes-
teile in Mitleidenschaft gezogen würden. Der Generaladjutant von Alvensleben
und der Flügeladjutant von Rauch waren nach Petersburg und Warschau ge¬
schickt worden, um gemeinsame Schritte mit den russischen Behörden zu ver¬
abreden, und am 8. Februar war mit Nußland in dieser Frage eine geheime
Konvention abgeschlossen worden. Über den eigentlichen Inhalt dieser Kon¬
vention wurde nichts genaueres bekannt; umso weitern Spielraum hatte die
geschäftige Phantasie der demokratischen Zeitungsschreiber. Eine so günstige
Gelegenheit, der Regierung, dein verhaßten Bismarck alle möglichen teuflischen,
freiheitsmörderischen Pläne unterzuschieben und daraufhin die leitenden Männer
in Preußen und schließlich Preußen selbst anzugreifen, zu verdächtigen und zu
verkleinern, durfte sich der Fortschritt unmöglich entgehen lassen. Man ver¬
fuhr dabei nach dem Grundsatze des gesinnungstüchtigen Volksmannes, den
man später kurz und witzig so zusammenfaßte: „Ich kenne zwar die Absichten
der Regierung nicht, ober ich mißbillige sie." Bisher hatten sich zwar die
Führer des polnischen Aufstandes streng gehütet, auch ans preußischem Gebiete
Unruhen zu erregen; aber, wie Bismarck amtlich feststellte, alles war vor¬
bereitet, um im günstigen Augenblicke, d. h. wenn irgend ein entscheidender
Erfolg gegen Nußland errungen war, sofort die Flammen der Empörung in
den Provinzen Posen und Westpreußen auflodern zu lassen. Zudem mußte
jeder, der nur ein wenig Anspruch auf gesundes politisches Urteil erheben
wollte, sich doch sagen, daß ein wiederhergestelltes, unabhängiges Polen sofort
Ansprüche auf weite Gebiete erheben würde, die seit langem dem preußischen
Staate angehörten, und die dieser gar nicht abtreten konnte und durfte, ohne
daß die Grundlagen seiner Macht aufs tiefste erschüttert wurden. Das hielt
aber die „deutsche Fortschrittspartei" nicht ab, sich sofort „voll und ganz" auf
die Seite der Polen zu stellen. Dasselbe Schauspiel erleben wir ja bellte
auch; sobald das deutsche Reich irgend einen Streitfall mit dein Auslande hat,
nimmt der „deutsche Freisinn" und seine ganze Presse sofort die Partei des
Landesfeindes. Vor fünfundzwanzig Jahre» war es auch so. Da hielten die
wackern Führer der Mehrheit des Abgeordnetenhauses, die Herren Schulze-
Delitzsch, von Sybel, von Carlowitz, von Hoverbcck, Tochter u. s. w., Reden
so bar jeglicher Vaterlandsliebe, daß dem Patrioten, der sie liest, noch heute
die Schamröte in die Wangen steigt. Die Angriffe, die sie gegen das
eigne Land, angeblich freilich nur gegen die Regierung dieses Landes, rich¬
teten, überschritten alles Maß. Bismarck äußerte darüber: „Meine Herren!
Für das Bestreben, das eigne Vaterland vor dem Auslande als erniedrigt
darzustellen, weil die eigne Partei nicht am Nuder ist, für dieses Bestreben
überlasse ich die Verantwortung denen, die sich in diesem Sinne allsgesprochen
haben, in diesem Hause und außerhalb desselben." Und später, am 18. Februar:
„Es ist sehr leicht, die Regierung anzugreifen, wenn man ihr eine Anzahl von
Absichten unterlegt und an diese Konjekturen »ut Betrachtungen knüpft, ohne
sich vorher zu vergewissern, ob die ^iegierungen diese Absichten auch hat. Der
Herr Vorredner sovil Earlvwitz> hat die Politik der Regierung eine kurzsichtige
genannt im Vergleiche mit der Rußlands. Nun, ich lasse mich gern vou der
reifern Erfahrung und tiefern Sachkunde des Herrn Vorredners belehren. Im
übrigen will ich mit ihm über das Maß derjenigen Epitheta, die wir uns hier
auf kurze Entfernung gegenseitig beilegen, nicht rechten, mochte aber doch dar¬
auf aufmerksam macheu, daß auch für Schmähungen gegen die eigne Regierung
vor der Öffentlichkeit und dem Auslande sich gewisse Grenzen empfehlen."
Abgesehen von diesem gänzlichen Maugel an Patriotismus, zeugten die An¬
sichten, die von den Vertretern des Liberalismus vorgetragen wurden, von
einer Unreife des politischen Urteils, die geradezu erstaunlich ist. Es waren
die würdigen Nachfolger jener Redner der Paulskirche, die im Jahre 1848
el» einiges Deutschland hatten „auf den Platz schwatzen" wollen.
Zunächst interpellirte der Abgeordnete Kantak die Regierung wegen des
Erlasses des Oberpräsidenten und des Militürgvuverueurs von Posen vom
1- Februar d. I. Bismarck gab eine ruhige und sachliche Autwort. Dann
brachte am 18. Februar der Abgeordnete von Carlowitz eine Jnterpellation
ein bezüglich der geheimen Konvention mit Rußland. Obwohl Bismarck die
Beantwortung ablehnte, trat das Haus in eine Besprechung ein. Infolge
dieser Besprechung stellten die Abgeordneten von Hvverbeck und von Carlowitz
c>in 2et. Februar folgenden Antrag: „Das Haus der Abgeordneten wolle be¬
schließen, folgende Erklärung abzugeben: Das Interesse Preußens erfordert,
daß die königliche Staatsregierung dem im Königreiche Polen ausgebrochenen
Aufstande gegenüber sich lediglich auf die zum Schutze der preußische« Landes-
grenze erforderlichen Maßregeln beschränke, jede darüber hinausgehende Ein
Mischung vermeide und Bewaffneten nicht gestatte, das preußische Gebiet ohne
gleichzeitige Entwaffnung zu betreten." Die weitläufige Erörterung, die sich
an diesen Antrag knüpfte und die mehrere Tage in Anspruch »ahn, führte einen
höchst heftigen persönlichen Austritt zwischen dem Ministerpräsidenten und dem
Vizepräsideuten Behrend herbei, wobei der letztere durch wüstes Geschrei seiner
Parteigenossen unterstützt wurde. Bismarck hatte geäußert: „Die Neigung,
sich für fremde Nationalitäten und Nativnalbestrebnngeu zu begeistern, auch
dann, wenn diese nur auf Kosten des eignen Vaterlandes verwirklicht werden
können, ist eine politische Krankheitsform, deren geographische Verbreitung sich
auf Deutschland leider beschränkt. In dieser Diskussion traten nun die deutschen
Redner schon unverhüllbar mit ihrer Sympathie für die polnische Sache hervor.
Der Abgeordnete Waldeck verglich die Einstellung der preußischen Reserven mit dem
Verkauf der hessischen Landeskinder nach Nordamerika. Der Abgeordnete von Unruh
deutete unter Ihrem lebhaften Beifall an, daß, wenn aus den Vorkehrungen,
welche die Negierung zur Sicherung unsrer Kreuzen und unsrer Interessen
getroffen Hut, auswärtige Entwicklungen entstehen sollten, Sie die Mittel zur
'Landesverteidigung dem Könige verweigern wird, Heißt das nicht, dem Auslande
zurufen: Kommt her, der Augenblick ist günstig, Preußen - - (Unterbrechung
und Widerspruch). Nun, es freut mich, daß Sie noch ein Gefühl der Ent¬
rüstung äußern." (Unterbrechung; Ruf: Zur Ordnung!) Einen Ordnungsruf
hielt nun zwar der Vizepräsident nicht für gerechtfertigt; als aber Bismarck
fortfuhr: „Diese Drohung, Preußen wehrlos zu machen, sprach derselbe Ab¬
geordnete von Unruh ans, dessen Name mit der Steuerverweigerung von
1848" wurde er von neuem unterbrochen, und als er entschieden das Recht
zu solchen Unterbrechungen bestritt, verstieg sich Herr Behrend zu dem Ans
Spruch: „Ich muß den Herrn Ministerpräsidenten trotz dieser seiner letzten
Äußerung dennoch unterbrechen. Ich habe dein Herrn Ministerpräsidenten das
Wort nicht entzogen und nach der Verfassung nicht entziehen können; der
Präsident dieses Hanfes übt in diesem Saale seine Disziplinargewalt ans, so¬
weit diese vier Wände reichen; sie endet nicht am Ministertische." (Lebhaftes,
anhaltendes Bravo). Daß diese unerhörte Anmaßung, für die es weder in
der Verfassung, noch in der Geschäftsordnung des Hauses anch nur eine Spur
von Begründung giebt, mit Jubel aufgenommen wurde, ist bezeichnend für die
Anschauungen und Bestrebungen der damals herrschenden Partei. Bismarck ließ
es selbstverständlich an einer gebührenden Zurückweisung nicht fehlen; als er
aber zum zweitenmale Herrn von Unruh und die Steuerverweigerung erwähnte,
brach neuer Lärm los. „Stürmische Bewegung in der Versammlung: Das
ist unwürdig — Vertagen! Andauernder Ruf der Glocke des Präsidenten,"
heißt es in dem Bericht über die Sitzung. Eine weitere Folge hatte der
Zwischenfall nicht.
Ganz ähnlich wie in der polnischen Frage war auch das Vorgehen des
Abgeordnetenhauses in der schleSUüg-holsteinischen Frage, die damals wieder anfing
brennend zu werden. Auch hierin stand die herrschende Mehrheit vollständig
auf Seiten der Gegner Preußens, der dänischen Demokraten, des Augusteu-
bnrgers und der deutschen Kleinstaaten. Tochter brachte am 17. April die
betreffende Jnterpellation ein und äußerte in seiner Begründung: „Die Dänen
wissen allerdings, daß nnter den gegenwärtigen Umständen eine preußische Re¬
gierung, welche mit dem eignen Lande im härtesten Widersprüche steht, welche
eine kaum nennenswerte Partei in der Vertretung des eigne» Volkes hinter
sich hat, daß eine Regierung, welche infolge der innern Zustände anch im
übrigen Deutschland ganz ohne Einfluß und ohne jede Möglichkeit ist, eine
kräftige Initiative zu ergreifen, welche daneben Preußen anch nach außen hin
gänzlich isolirt hat, welche durch ihre Politik in der polnischen Angelegenheit
den preußischen Staat in die äußerste Spannung zu den Westmächten gebracht
hat, daß die völlig außer stände ist, einen Krieg mit Dänemark zu führen;
»ut wenn die preußische Regierung unter den jetzigen Umständen dazu geneigt
sein sollte, so werden wir einer solchen Neigung entschieden entgegentreten
müssen, meine ich, weil wir die jetzigen Zustände nicht als solche betrachte»
können, unter denen unter irgend welchen Umstände» ein glückliches Resultat
des Krieges und el»e glückliche definitive Lösung dieses Streites zu erwarten
wäre." Bismarck sagte in seiner Antwort unter anderm: „Der Herr Vorredner
hat Dänemark darüber zu beruhigen versucht, daß es einen Krieg in diesem
Augenblicke von Preußen unter unsern nach innen und außen zerrütteten Ver¬
hältnissen nicht zu erwarten habe. Zum Glück ist man im Auslande nicht
ebenso leichtgläubig, und ich kann Sie versichern und das Ausland versichern,
wenn wir es nötig finden, Krieg zu führen, so werden wir ihn führen, mit
oder ohne Ihr Gutheißen." Die Entgegnung des Abgeordneten Löwe schloß
mit den Worten: ,,Jch behaupte, daß die Pflicht dieses Hauses dahin geht,
diesem Ministerium uicht bloß wegen seiner verwerflichen Grundsätze, nicht
blos; wegen seiner Tendenz die Mittel zu versagen, sondern besonders deshalb,
weil dieses Ministerium einen so außerordentlichen Mangel an staatsmännischer
Geschicklichkeit nud Einsicht, an Kenntnis der wirklichen Verhältnisse des Staates,
besonders aber der wirklichen Machtmittel dieses Staates gezeigt hat, daß wir
ihm keine neuen Mittel, so weit wir es verhindern können, in die Hände geben
dürfen, weil wir die Mittel, die wir ihm in die Hände geben, als verwüstet
betrachten. In diesem Sinne verwahren Nur uns gegen diese Erklärung des
Herrn Ministerpräsidenten, welche die parlamentarische Sitte mich hindert näher
M aualifiziren, daß man einen Krieg führen wird ohne die Zustimmung der
Volksvertretung. Beginnen kann man ihn, aber diese Männer werden niemals
die Geschicke der Nation in Händen haben, wenn die Nation mit ihrem Blute
dafür einstehen muß; dann ist der Augenblick gekommen, wo sie diese Sitze,
die sie im Rate der Nation immer freiwillig räumen, sobald große Angelegen¬
heiten verhandelt werden, auf immer räumen werden."
Die gesamte „liberale" Presse erhob über diese Vorgänge im Landtage
einen ungeheuern Lärm. Doch wurde nicht etwa Entrüstung geäußert gegen
die unpatriotischen Männer, die so schmachvoll ihr eignes Vaterland beschimpften
und vor dem Auslande herabzuwürdigen strebten, sondern gegen den Minister-
Präsidenten, der angeblich den krasseste« Absolutismus, die schrankenloseste
Willkürherrschaft verteidigte.
Art. 78 der Verfassung lautet: „Der König hat das Recht, Krieg zu er¬
klären und Frieden zu schließen, auch andre Verträge mit fremden Regierungen
zu errichten. Letztere bedürfen zu ihrer Giltigkeit der Zustimmung der Kammern,
sofern es Handelsverträge sind, oder wenn dadurch dem Staate Lasten oder
einzelnen Staatsbiirgeru Verpflichtungen auferlegt werde»." Wenn Bismarck
also das Recht des Königs, allein über Krieg und Frieden zu entscheiden, be¬
hauptete, so stand er damit vollständig ans dein Boden der Persassnng, die
hierzu durchaus uicht die ^Zustincmung der Kammer» verlangt. Wenn aber
die Fortschrittspartei dieses unbestreitbare Recht des Königs illusorisch zu
machen und durch Bewilligung oder Versagung der Mittel zum Kriege die
endgiltige Entscheidung über diese hochwichtige Frage in die eigne Hand zu
bringen suchte, so war das unzweifelhaft ein Streben nach parlamentarischer
Machterweiterung, wie es dreister nicht gedacht werden konnte. Daß sie jemals
ein solches Bestreben gehabt habe, hat die Partei freilich damals und später
immer aufs lebhafteste bestritten, immer mit jenem Brusttöne der Überzeugung,
deu auch heute uoch die Biedermüuuer vom Freisinn so gut anzuschlagen ver¬
stehen, wenn es gilt, eine unbequeme geschichtliche Thatsache abzuleugnen. Sie
finden dabei auch fast immer gläubige Zuhörer; denn die Zahl derer, die solche
Dinge geuau kennen, ist natürlich gering, und sie rechnen immer mir uns
die große, unwissende Menge und mit dieser.
Die langwierigem Debatten über den Militär- und Marineetat führten bei
einer solchen Zusammensetzung des Hauses natürlich zu keiner Verständigung
und waren eigentlich völlig zwecklos. Sie führten aber am 11. Mui zu einem
heftigen Zusammenstoß zwischen dem Kriegsminister von Roon und dem Vize¬
präsidenten von Bockum-Dolffs. Der letztere nahm für sich wieder Disziplinar¬
gewalt über die Minister in Anspruch, Roon bestritt ihm diese; der Präsident
wollte sich bedecken; damit die Komik nicht fehlte, wurde ihm ein falscher Hut
gebracht, der ihm viel zu groß war; die Sitzung wurde ans eine Stunde ver¬
tagt. Das gesamte Staatsministerium richtete ans Grund dieses Vorganges
ein Schreiben an das Abgeordnetenhaus, worin erklärt wurde, daß die Minister
nicht eher wieder im Hause erscheinen würden, als bis durch eine förmliche
Erklärung auf jenes angemaßte Recht Verzicht geleistet würde (12. Mai).
Dagegen beschloß die Fortschrittspartei (295 gegen 20 Stimmen) am 15. Mai:
1. daß der Präsident jeden Redner, also anch die Minister unterbrechen könne;
2. daß durch eine solche Unterbrechung das verfassungsmäßige Recht der Mi¬
nister, jederzeit gehört zu werden, nicht beeinträchtigt werde; !!. daß es dagegen
verfassungswidrig sei, wenn die Minister ihre Gegenwart im Hause von Vor¬
bedingungen abhängig machten; 4. daß demnach das Haus sich uicht veranlaßt
sehe, auf das im Schreiben des Staatsministeriums vom 11. Mai ausgesprochene
Verlangen einzugehen.
Nachdem am 16. das Ministerium eine weitere Erklärung erlassen hatte,
erging am 20. eine allerhöchste Botschaft um das Abgeordnetenhaus, die von
sämtlichen Ministern gegengezeichnet war. Darin heißt es: „Ein solcher An¬
spruch entbehrt der gesetzmäßigen .Grundlage, und wir können es der Würde
unsrer Regierung uicht für entsprechend erachten, daß unsre Minister als Ver¬
treter der Krone den Verhandlungen des Hauses unter Verzichtleistung auf die
ihnen rechtlich zustehende und verfassungsmäßig verbriefte selbständige Stellung
gegenüber dein Hause der Abgeordneten und dem Präsidium desselben bei
wohnen. Wir köniren daher das Hans der Abgeordneten nnr ermahnen n, f. w."
Hierauf richtete die Mehrheit des Hauses (239 gegen l>1 Stiimnen) eine Adresse
an den König, die ihrem Inhalt und Töne nach nnr als unverschämt be¬
zeichnet werden kann. Einige der stärksten Stellen darin lautem „Die Minister
Ew. Majestät haben wider den Wortlaut der Verfassung ihr Erscheinen ab¬
hängig gemacht von der unmöglichen Bedingung u. s. w. Die Minister Ew.
Majestät fahren fort, verfassungswidrige Grundsätze offen auszusprechen und
zu bethätige». Die Hoffnungen ans Wiederherstellung der Macht und Einheit
Deutschlands hatten sich von neuem belebt. Die gegenwärtigen Minister Ew.
Majestät haben diese Erwartungen getäuscht. Das Hans der Abgeordneten
hat kein Mittel der Verständigung mehr mit diesem Ministerium; es lehnt
seine Mitwirkung zu der gegenwärtigen Politik der Regierung ab. Zwischen
den Ratgebern der Krone und dem Lande besteht eine Kluft, welche nicht anders
als durch einen Wechsel der Personen und mehr »och durch einen Wechsel
des Systems ausgefüllt werde» wird. Das Land verlangt vor allem die volle
Achtung seines verfassungsmäßigen Rechtes. Die wichtigsten Rechte der Volks¬
vertretung sind mißachet und verletzt. Vergeblich harrt das Land der in der
Verfassung verheißenen Gesetze n. s. w." Ob mich damals wieder keiner der
Herren auf den Gedanken gekommen ist, daß alle diese unerhörten Vorwürfe,
die gegen die Regierung geschleudert wurden, schließlich den König trafen?
Entweder waren alle die angeblichen Verfnssnugsverletzuugeu und Rechtsbrüche
mit Vorwissen und Genehmigung des Monarchen geschehen; dann war er,
wenn auch uicht gesetzlich, strafrechtlich, so doch moralisch in erster Linie dasür
verantwortlich. Oder aber das alles war vorgegangen, ohne daß es der Herrscher
wußte, merkte oder sich darüber kümmerte. Das letztre scheinen die Herren,
die die „tiefste Ehrfurcht" vor dem Könige beständig im Munde führten, haben
andeuten zu wollen, wenn sie in dem Schriftstücke zweimal ausgesprochen,
daß dem Könige „die Verhandlungen und die Absichten des Hauses nicht
wahrheitsgetreu vorgetragen" worden seien. Darin liegt aber doch nichts
andres als: der König ist entweder zu nachlässig und zu gleichgiltig, sich um
die wichtigste» Vorgänge im Staatslebe» zu kümmern, und giebt sich nicht die
Mühe, sich wahrheitsgemäße Berichte zu verschaffe», oder! der König ist nicht
fähig, Wahres von Falschen zu unterscheiden, und ist leichtgläubig genug, sich
von seinen Ministern alles aufbinden zu lassen. In beiden Fällen eine so
schwere Beleidigung, wie sie nur gedacht werde» kaun.
Der König lehnte natürlich eine persönliche Eutgegenuahme des Mach¬
werkes ab und antwortete dem Abgeordnetenhause wieder in seinem eignen
Namen, ohne die Gegenzeichnung eines seiner Minister. Leider ist das Schreiben
zu umfangreich, als daß hier auch mir die Hauptstellen angeführt werden könnten.
Wer sich aber darüber unterrichten will, welche Stellung König Wilhelm dem
Konflikte gegenüber einnahm, der versäume es nicht, dieses Muster und Denkmal
echt königlicher Denkart und Gesinnung zu lesen (S. Hahn, Fürst Bismarck,
S. 135). Dieses Antwortschreiben des Königs wurde dem Hanse am 27. Mai
mitgeteilt. Einen tiefer gehenden Eindruck ließ der verbitterte und verbissene
Parteigeist nicht aufkommen. Gleich darauf kündigte eine königliche Botschaft
den Schlich der Tilgung an und entbot für den Nachmittag die Abgeordneten
in den Weiße» Saal des Schlosses. Hier schloß Bismarck den Landtag mit
einer Rede im Namen des .Königs.
(Schluß folgt)
ach mancherlei Erfahrungen im gewöhnlichen Leben wie in den
Kreisen der Politik und der Zeitgeschichte könnte man behaupten,
daß es bei großen Niederlagen oder Verlusten die menschliche
Schwachheit der Betroffenen nicht oder doch in der Regel nicht
-zulasse, einzugestehen, daß sie ihr Unglück verdient haben, und
daß es eigentlich gar nicht anders habe komme» könne». Gewöhnlich suchen die
Opfer die Ursache außer sich: ein böser Stern, ein widriges Schicksal, ein Zu¬
fall hat veranlaßt, daß sie unterlagen. Dann und wann, aber selten, besonders
wo Einzelne einander gegenüber getreten sind, beim Billard, beim Kartenspiel
zwischen zweien, auf dem Fechtboden, beim Wettlauf, hören Nur wohl, daß ein
aufrichtiger Verlierer zugiebt, sein Gegner habe gewonnen, weil er der Stärkere
oder Geschicktere bei der Sache gewesen sei. Aber wo irgendwie Aussicht vor¬
handen ist, die Verantwortlichkeit für die Niederlage oder doch einen guten Teil
von sich abzuwälzen und sie einem ander» aufzuhalsen, wird die Gelegenheit
meist sofort benutzt, und wie der Whistspieler, der verloren hat, seinen Schaden
womöglich seinem Partner zuschiebt, der schlecht gerechnet haben soll, so Pflegt
es auch bei politischen und militärischen Vorgängen gehalten zu werdem der
erfolglos vperireude Staatsmann oder General hat stets eine Anzahl von Be¬
teiligten »eben sich, aus deren feigem oder unklugen Verfahre» er seine Nieder¬
lage erklären kann, und fast immer wird von dieser Gelegenheit, sich ganz oder
hauptsächlich zu rechtfertige»?, Gebrauch gemacht.
An diese Beobachtungen wurden wir erinnert, als in diesen Tagen ein
französischer Staatsmann wieder vo» sich reden machte, der scho» seit Jahre»
in Vergessenheit gerate» war, n»d der es vo» Rechts Wege» als el» Werk der
Barmherzigkeit empfunden haben sollte, daß ihn der Lethestrom verschlungen
und so lange bei sich behalten hatte. Herr Encile Ollivier, weiland Minister
Kaiser Napoleons III. und bekannt durch sein angebliches Wart, er sehe dein Kriege
„mit leichtem Herzen" entgegen, taucht wieder auf, und noch dazu mit einen?
Buche in der Hand, das in dem, was ihm offenbar die Hauptsache bei seiner
Darstellung war, den Beweis liefert, daß er wirklich der Thor ist, als der er
bisher in unserm Gedächtnis lebte, obwohl wir inzwischen erfahren haben, das;
jenes albern leichtsinnige Wort nicht auf seiue Rechnung zu setzen ist. Das
„leichte Herz" vom Sommer 1870 war vielmehr Eigentum eiues Amtsge¬
nossen Olliviers, der ans dem Barometer der Staatsklugheit »och ein
Paar Grad tiefer unter dem Nullpunkte stand als er und namentlich noch
weniger Takt besaß es gehörte zu dem vierschrötiger Körper des be¬
rüchtigten Herzogs von Gramont, deu Bismnrck einmal als sehr geeignet zu
einem Fvrstläufer, aber uicht zu einem Minister bezeichnete. Von dem
Buche Olliviers, das soeben unter dem Titel: 17 8!)^l«8i> in Paris
erschienen ist, fassen wir nur den Abschnitt ins Auge, bei dessen Vorgängen
der Verfasser mitgewirkt hat, und wo die Schrift den Charakter einer
Selbstverteidigung oder Selbstentlastung annimmt. Es kommt ihm dabei zu
gute, daß er reichlich freie Hand in der Wahl seiner Entschuldigungen hat.
In dieser Hinsicht tritt er dem furchtbaren Gegenstande seiner Betrachtung mit
Vorteilen näher, die vielen Staatsmännern, deren Namen sich mit großen
nationalen Nöten und Niederlagen verknüpfen, versagt sind. Kein verständiger
und billig denkender Zeitgenosse, dem die Ereignisse und Persönlichkeiten der
Vorgeschichte der ^rmos wrriblö der Franzosen noch einigermaßen deutlich vor
Augen stehen, wird annehmen wollen, daß den guten Emile Ollivier eine größere
Verantwortlichkeit für die darauffolgende Reihe von französischen Schlappen
und Verlusten treffe als seine Amtsgenossen. Er stand allerdings dem Titel
und Range nach an ihrer Spitze, hatte aber nicht mehr wirklichem Einfluß auf
deu Gang der Dinge als sie, denn der eigentliche Herr und Meister war der
kränkliche, unentschlossene und selbst allerhand Einflüssen, namentlich dem
der Furcht vor der öffentlichen Meinung und einer Revolution der Pariser
zugänglichen Kaiser. Mag man die Kette von Beweggründen weiter zurück
verfolgen bis zu der Stellung der bigotten Kaiserin gegenüber dem empor-
gekommenen protestantischen Preußen oder bis zu der Sorge des kaiserlichen
Paares um die Ansprüche und Hoffnungen des Sohnes, dem die Ironie des
Schicksals später statt des Thrones den Tod unter deu Speeren afrikanischer
Wilden beschied, niemand, der die Krisis aufmerksamen Blickes und gerechten
Sinnes bis zur Katastrophe verfolgt, wird ans den Gedanken kommen, daß
Ollivier die Hauptrolle dabei gespielt habe oder auch nur in einer besonders
wichtigen Nebenrolle dabei beteiligt gewesen sei. Dazu mangelte es ihm sowohl
an der erforderlichen Verstandesschärfe als an der nötigen Willenskraft. Ohne
das doppelte Unglücks daß ein Amtsgenosse von ihn> in einem unvergeßlichen
Augenblicke sich eine wegen ihrer mierhörten Leichtfertigkeit unvergeßliche Redensart
entschlüpfen ließ, und daß irgend ein Mißgeschick ihn vor der Welt für ewige
Zeit zum Vater dieser großthuerischen Abgeschmacktheit machte, würde der Name
Emile Ollivier zwar in den Registern der französischen Minister stehen, aber
schwerlich auf den Blättern der Weltgeschichte.
Vergegenwärtigen wir uns, wie geringfügig der Einfluß des ehemaligen
Ministers und sein Anteil an der Beschleunigung des Zusammenstoßes vom
Sommer 1870 und wie beträchtlich dagegen der seines kaiserlichen Herrn und
(Gebieters war, so gereicht es ihm unzweifelhaft zur Ehre, wenn er jetzt, wo er
als Schriftsteller auftritt, sich bemüht, die Schuld Napoleons möglichst abzu¬
schwächen. Selbstverständlich sind wir nichts weniger als geneigt, die Ent-
schnldigungsversuche Olliviers alle widerspruchslos gelten zu lassen, ja manche
davon stimmen uns geradezu heiter; z. V. wenn behauptet wird, Napoleon
„habe seit 1«t>6 allerhand Beleidigungen hinuntergeschluckt, um den Krieg mit
Preuße» zu vermeiden." Wir können nus dem gegenüber getrost aus die
öffentliche Meinung Europas mit Einschluß der ehrlichen Franzosen berufen
und fragen: weiß jemand auch nur eine» einzigen Fall preußischer Dreistigkeit
und napoleonischer Langmut als Beleg für diese Behauptung des Verfassers
anzuführen? Freilich wenn das bloße Entstehen und Fortbestehen eines nord¬
deutschen Bnndesstnates unter preußischer Oberleitung, der die Wahrscheinlich
keit einer ähnlichen allgemein deutschen Vereinigung in sich barg, eine Belei¬
digung Frankreichs oder seines Beherrschers bedeutete, wie die Unverschämt¬
heit der „Mameluken" des Kaisers und andrer französischen Chauvinisten be¬
hauptete, daun müssen wir zugeben, daß König Wilhelm und Graf Bismarck
für ein solches Beispiel von Dreistigkeit verantwortlich zu machen waren. Und
anderseits unterlag es keinem Zweifel, daß, wenn die ungeheuerliche Phrase
„Rache für Sadvwa" mir den gerechten Groll einer zum Herrschen und Richten
über Europa berufene» Nation über das ungebührliche Benehmen eines Nach¬
bars ausdrückte, wir in der That den Kaiser Napoleon als den duldsamsten
aller Monarchen zu betrachten und zu preisen haben, wenn er vier lange Jahre
hindurch seinen eignen Ingrimm im Zaume hielt und zu gleicher Zeit den
Ausbruch der von Natur rachsüchtige» und eifersüchtigen Gefühlsweise der
Franzosen verhütete. Doch müssen wir, wenn Herr Ollivier erwartet, daß
wir und andre, denen er sein Werk vorlegt, die „wohlberechtigten Empfindlich¬
keiten Frankreichs" in diesem Lichte ansehen, wenn er voraussetzt, daß wir der
sonderbaren Meinung beistimmen, Preußen habe durch Besiegung Österreichs
und Beseitigung seiner Hegemonie über die deutschen Mittel- und Klein¬
staaten Frankreich beleidigt und geschädigt, doch die Bitte an ihn richten, ein
wenig ausführlicher zu sei» und Beweise zu liefern statt nur Behauptungen
vorzubringen. Doch ist das am Ende nicht unbedingt erforderlich, dn er die
Ansicht ausspricht, der Kaiser der Franzose« würde, sofern es sich um sein
persönliches Eingreifen und Vorgehen gehandelt hätte, bis zum letzten Augen¬
blick jene Beleidigungen gelassen ertragen und niemals zum Schwerte gegriffen
haben, wenn nicht eine Macht außer ihm ihn dazu gedrängt hätte, „Er
wurde — sagt sein Sachwalter — gegen seinen Wunsch auf das Schlachtfeld
getrieben, und zwar durch das gebieterische Geschrei seines Parlaments und
seines Volkes, die über eine feindselige Herausforderung entrüstet waren," wo¬
mit die Wahl des Prinzen von Hohenzollern zum Könige von Spanien ge¬
meint ist. Es ist das wieder ein Beispiel für die von Ollivier geteilte An¬
maßung der Franzosen, sich zur Einmischung in die innern Angelegenheiten
ihrer Nachbarn berechtigt zu fühlen und diese Angelegenheiten nach Belieben
als „Herausforderungen" zu behandeln. Nur gut, daß der Verfasser das auf¬
richtige Zugeständnis folgen läßt, daß die Minister dem Kaiser „einstimmig den
Rat erteilten, dem öffentlichen Verlangen zu gehorchen." Und noch heute ist
Ollivier, wie es scheint, überzeugt, daß Napoleon recht daran that, nach jenem
Rate zu handeln. Sein Unglück war nach der Darstellung des Verfassers
einzig und allein, daß er sich dabei zu viel körperliche Kraft zutraute; sonst
stand alles aufs beste, und man hatte die schönsten Aussichten. Indem der
Kaiser glaubte, er sei noch der lebensfrische General, als der er 1859 sein
Heer nach Oberitalien geführt und die Österreicher in zwei großen Schlachten
besiegt hatte, übernahm er einen Oberbefehl, zu dem er physisch nicht mehr
tauglich war. Daher tagelanges Zögern bei einer Krisis, wo schon eine Stunde
dem Gegner abgewonnen zu haben von höchstem Werte war, daher schwächlich
zauberndes Stillstehen noch, als endlich alles bereitgestellt war, um mit einem
kühnen Angriff zu beginnen. Was die vollkommene Güte der Waffe des
Kaisers angeht, so hegt Ollivier, wie sichs für jemand schickt, der als Minister
ihren sofortigen Gebrauch empfohlen hat, nicht den geringsten Zweifel daran.
Er scheint fast geneigt zu sein, sich das Wort Marschall Leboeufs anzueignen: „Es
fehlt auch nicht ein Gamaschenknopf!" Die französische Armee war nach Ollivier,
diesem jüngsten und, so viel wir wissen, beinahe einzigen Lobredner ihres Zu¬
standes, alles, was man von ihr billigerweise verlangen konnte. Sie verlor
das Spiel und der Kaiser seinen Thron, Frankreich seine zwei Provinzen, seine
fünf Milliarden und seine stolze und gebietende Stellung in Europa einzig und
allein durch Unentschlossenheit und langsames Vorgehen. So wird uns ver¬
sichert. Aber kann man dem beipflichten? Gewiß würde es nicht viel helfen,
wenn man zeigte, daß, da kein Berichterstatter, selbst kein französischer, erklärt
hat, das deutsche Heer sei zu schwach an Zahl oder sonstwie von mangelhafter
Beschaffenheit gewesen oder seine Mobilmachung und sein Aufmarsch seien zu
langsam vor sich gegangen, der Vorteil, den Frankreich durch rasches Ergreifen
der Offensive gewonnen haben könnte, nicht so ohne weiteres auf der Hand
liegt. Ohne Zweifel ist es unter Umständen zu empfehlen, daß von zwei
Heeren, die sich gegenüberstehen, das schwächere rasch angrisssweise vorgeht.
Haben wir aber, wie hier, zwei Heere vor uns, die gleich stark an Zahl und
gleich kriegsbereit sind, so ist nicht mit Notwendigkeit voranszusngen, daß der
Sieg demjenigen zu teil werden müsse, der zuerst zuschlägt. Sicher kann ein
erster Erfolg, der erfahrungsgemäß in einigen Fällen errungen wurde, wo der
Feldherr, seinen Vorteil erhebend, schnell entschlossen die Initiative ergriff,
denen, die ihn zu benutzen verstehen, schon als moralischer Vorteil von großem
Werte sein, und ein solcher Erfolg waren die Schlachten bei Wörth und Saar¬
brücken, insofern sie dazu beitrugen, Österreich und Italien von der Beteiligung
am Kampfe gegen Deutschland absehen zu lassen. Niemand jedoch wird be¬
haupten wollen, daß diese ersten, verhältnismäßig kleinen Siege der deutschen
Heere den Ausgang des Feldzuges entschieden hätten. Es giebt sogar Leute,
die in den Worten, die der Kaiser nach der großen Niederlage äußerte: tout
xsur so rot^our, den Ausdruck eiuer Hoffnung erblickten, während sie sicher
nur die Verzweiflung eingab, und die des Glaubens lebten, unter einem fähigen
Führer würden die Geschicke Frankreichs sich wieder besser gestalten lassen.
Sicherlich war es nicht die Schuld des französischen Soldaten, wenn diese
Hoffnung sich nicht erfüllte. Keine andre Truppe schlug sich besser als er,
das müssen selbst wir, die Gegner, ihm nachrühmen, und wenn die Führung
der französischen Heere, die bei Metz und Sedan bluteten, ihrer Tapferkeit
gleichgekommen wäre, so würde der Ausgang des Feldzuges wahrscheinlich ein
andrer gewesen sein. Unser Werk sagt in dieser Hinsicht nichts, wie es denn
löblicherweise auch die einst beliebte Behauptung, es sei bei den Niederlagen
Verrat im Spiele gewesen, nicht einmal in Form von Andeutungen enthält,
und wenn der Verfassrr es unterläßt, auf die Thatsache hinzuweisen, daß die
Generale und die militärischen Einrichtungen der Franzosen 1870 mancherlei
zu wünschen übrig ließen, so hat das die Wirkung, daß es seine Erklärung
so zu sagen gar zu vollständig erscheinen läßt. Hatte die französische Armee
im Sommer 1870 so tüchtige Offiziere, wie sie tüchtige Soldaten hatte, war
die Strategie und Taktik ihrer Befehlshaber so wenig mangelhaft als ihre
Gliederung, Ausrüstung und Ausbildung, wie kam es dann, daß sie nicht
siegte? Oder wenigstens, wie konnte es geschehen, daß sie so vollständig ge¬
schlagen wurde, eine solche Reihenfolge der furchtbarsten Schlappen erlitt, die
zusammen einer beinahe gänzlichen Vernichtung gleichkamen? Die von Ollivier
gerügte Zeitvergeudung in den Wochen unmittelbar vor dem Kampfe mag alle
Aussichten auf Verwirklichung des Programms vernichtet haben, das mit den
Worten ^ Lsrlw! in Paris ausgeschrieen wurde, aber sie sür sich allein konnte
nicht hinreichen, die deutsche Armee bis nach Paris gelangen zu lassen. Was
führte aber dazu? Herr Ollivier antwortet darauf nicht zu unsrer vollen Zu¬
friedenheit, ja er umgeht die Sache beinahe ganz. Aber wir finden nicht, daß
die Welt schlimmer dabei fährt, wenn er der Frage ausweichen zu müssen
meint. Versuche, sie zu beantworten, erinnern nur verdrießlich an Carlyles
kräftigen Einspruch gegen ähnliche Versuche, die Verantwortlichkeit für eine
andre Katastrophe, und zwar für eine schrecklichere als die von 1870, von dem
wahren Schuldigen hinwegzudeutcln und auf Rechnung andrer zu setzen. Es
sollte, als vor hundert Jahren die Revolution ausbrach, die Schwäche des
Königs, die Leichtfertigkeit der Königin, die Selbstsucht des Adels, die schläfrige
Gleichgültigkeit der Kirche, es sollte dies und es sollte jenes die Ursache ge¬
wesen sein. „Meine Freunde — sagt der realistische englische Geschicht¬
schreiber —, es war jener quacksalbernde Scheinmensch, der vorgab, etwas zu
thun, während er doch nur aß und trank und nichts that." Es war auch
1870 das Scheinwesen der Franzosen, mit dem sie der gegen sie heranziehenden
Wirklichkeit erlagen. Ihre Macht gegenüber Europa und zunächst gegenüber
Deutschland war Selbsttäuschung und Täuschung andrer, war in doppeltem
Sinne Schwindel gewesen, der eine ernste Probe nicht aushielt. Der Haus¬
schwamm der sittlichen Verderbnis hatte das staatliche Gebäude zerfressen, als
der Oststurm kam, und so sank es rasch vor seinen Stößen zusammen. Napoleon
hatte diese Trockenfäule nicht hereingebracht, sondern schon vorgefunden und
nur entwickelt. Die parlamentarische Republik hat sie nicht beseitigt, und so
kann es einmal ein zweites 1870 geben, wenn man dem friedfertigen Deutsch¬
land gegenüber das Schicksal herausfordert.
it Staunen und Unwillen vernahm Darwin, wie in Deutschland
seine Lehre sogar sür sozialistische Zwecke ausgebeutet werde.
Dagegen konnte es ihn nicht überraschen, daß in seinen: Vaterlande,
wo Bibelglänbigkeit zum guten Ton gehört, der Ersatz der Welt-
schöpfung durch die Zuchtwahl ungeheuern Anstoß erregte. Wir
übergehen den Streit darüber, der uns Deutsche ja weiter nicht interessirt,
und beschränken uns darauf, darzuthun, daß Darwins Gelehrtengewissen voll¬
kommen rein war. Er war weit entfernt davon, gleich manchen Deutschen die
Descendcnzthevrie nur darum mit Freuden zu begrüßen, weil sie Gott über¬
flüssig zu mache« schien, oder gar sie zu diesem Zwecke zu vervollkommnen
(erfunden hat er sie bekanntlich nicht). Er selbst hat über den Entwicklungs¬
gang, dnrch den er ganz absichtslos und sogar ahnungslos in seine Theorie
hineingeführt wurde, in seinen Büchern und Briefen muss genaueste berichtet.
Als er seine Forschungsreise auf dem Beagle (27. Dezember 1831 bis
2. Oktober 1836) antrat, war er noch vollkommen bibelglänbig. Die Offiziere
des Schiffes, obwohl selbst orthodox, lachten manchmal herzlich über die Zu¬
versichtlichkeit, mit der er die Bibel als unanfechtbare Autorität zu Beweis¬
führungen verwendete. In Südamerika zuerst und auf den fünfhundert englische
Meilen westlich davon gelegenen Galapagosinseln wurde er an der UnVer¬
änderlichkeit der Arten irre, nicht etwa um der Religion, an die er bei der Sache
gar nicht dachte. Auf den genannten Inseln sah er sich von eigentümlichen
Pflanzen- und Tiergestalten umgeben, wie sie nirgend sonst in der Welt vor¬
kommen. „Doch trugen sie fast alle ein amerikanisches Gepräge an sich. Im
Gesänge der Spottdrossel, in dem scharfen Schrei des Aasgeiers, in den großen
leuchterähnlichen Opuntien bemerkte ich deutlich die Nachbarschaft Amerikas.
Noch überraschender war die Thatsache, daß die meisten Bewohner jeder einzelnen
Insel dieses kleinen Archipels spezifisch verschieden von denen aller andern, aber
trotzdem nahe verwandt unter einander waren. Ich fragte mich, wie diese
eigentümlichen Tiere und Pflanzen Wohl entstanden seien. Die einfachste Ant¬
wort schien zu sein, daß die Bewohner der verschiednen Inseln von einander
und alle zusammen von Einwanderern aus Amerika abstammten, und daß sie
in langen Geschlechtsfolgen Veränderungen erlitten hätten, die jene Verschieden¬
heit bei Übereinstimmung der Grundformen bewirkten. Wodurch diese Ver¬
änderungen herbeigeführt worden seien, das wäre mir noch lange unerklärlich
geblieben, Hütte ich nicht die Züchtuugsergebuisfe an den Haustieren studirt
und mir auf diese Weise eine richtige Vorstellung von den Wirkungen der
Zuchtwahl gebildet. Nachdem ich mir dann diese Idee schon fest angeeignet
hatte, erkannte ich beim Lesen vou Malthusens Werk über die Bevölkerung, daß
natürliche Zuchtwahl das unvermeidliche Ergebnis der raschen Zunahme aller
organischen Wesen war; denn den Kampf ums Dasein in seiner Bedeutung zu
würdigen, war ich durch langes Studium genügend vorbereitet." Außerdem
hatte er in Amerika fleißig Fossilien ausgegraben und sich überzeugt, daß auch
diese einen spezifisch amerikanischen Charakter tragen, wonach also die Folgerung
nahe lag, daß die jetzt dort lebenden Tiere von den dortigen vorweltlichen
abstammen (Das Variiren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Dome¬
stikation S. 10 bis 11). Über die Kühnheit seines Gedankengnuges erschrak er
selbst. „Ich bin beinahe überzeugt," schrieb er am 11. Januar 1844 an Hooker,
,,daß die Arten — mir ist, als gestünde ich einen Mord ein — nicht unver¬
änderlich sind. Der Himmel bewahre mich vor dem Lamarckschen Unsinn einer
»Neigung zum-Fortschritt,« der »Anpassungen infolge des langsam wirkenden
Willens der Tiere« u. s. w. Aber meine Schlußfolgerungen sind von den seinigen
nicht sehr verschieden, obwohl die Änderungsmittel es gänzlich sind. Ich glaube
— wie anmaßend! — die einfachen Mittel gefunden zu haben, durch die ver-
schiedne Spezies verschiednen Zwecken angepaßt werden. Sie werden seufzen
und denken: An was für einen Menschen habe ich meine Zeit verschwendet!
Vor fünf Jahren hätte ich selbst noch so gedacht."
Gleichzeitig zwar, aber nicht in bewußter Wechselwirkung mit seiner Natur-
auffassung, änderte sich seine Stellung zur Religion. Lebhafte religiöse Empfin¬
dungen hatten ihn niemals bewegt, zusammenhängendes Nachdenken über religiöse
und metaphysische Fragen war nicht seine Sache. Bei fortschreitender Bücher¬
kenntnis meinte er nun einzusehen, daß dem Alten Testament nicht mehr
Glaubwürdigkeit beizumessen sei als etwa den heiligen Schriften der Hindu,
und später ließen die Wundergeschichten und Widersprüche im Neuen Testament
ihm auch dieses unglaubwürdig erscheinen. Doch hing er am christlichen Glauben
und gab ihn nicht gern auf. Er hegte zuweilen den phantastischen Wunsch,
es möchten irgend welche Urkunden aufgefunden oder Inschriften ausgegraben
werden, die die Wahrheit des biblischen Berichts über Jesus unwiderleglich
bezeugten; aber so etwas ereignete sich eben nicht. In einer 1876 geschriebenen
Selbstbiographie, aus der sein Sohn Bruchstücke mitteilt, erzählt er das und
sagt dann: „So beschlich mich der Unglaube ganz laugsam, so langsam, daß
ich kein Unbehagen empfand." Schließlich kam ihm auch zum Bewußtsein, daß
und an welcher Stelle diese nebenherlaufende Umbildung seiner Glaubensansicht
in die seiner Naturauffassung eingriff. „Der alte Beweisgrund Mir das Dasein
Gottes^ vom Zweck in der Natur, der mir früher so entscheidend schien, schlägt
jetzt fehl, nachdem das Gesetz der natürlichen Auslese entdeckt worden ist.
^FehlschlußWir können z. B. nicht länger folgern, daß das wunderschöne
Schloß einer zweischaligen Muschel, ähnlich wie die Angel einer Thür, von
einem intelligenten Wesen gebildet sein müsse. In der Variabilität der orga¬
nischen Wesen und in der Wirkungsweise der natürlichen Zuchtwahl scheint
nicht mehr Zweckmäßigkeit zu liegen, als in der Richtung, in der der Wind
weht. ^Welch ein Vergleich!j Ich habe aber diesen Gegenstand am Schlüsse
meines Buches »Über das Variiren der Tiere und Pflanzen u. s. w.« erörtert,
und die dort gegebene Beweisführung ist, so weit ich es übersehen kann, niemals
widerlegt worden." Von der trefflichen Widerlegung, die ein Jahr vorher
E. von Hartmann im Anschluß an das Werk eines Fachmanns, des Botanikers
Wigand, geliefert hatte, haben also die deutschen Jünger dem englischen Meister
nichts verraten. Hnrtmann beweist u. ni., daß Darwin die Wirkungen der
Zuchtwahl überschützt, und daß überhaupt der Aufbau der organischen Wesen
ohne eine schaffende Intelligenz nicht denkbar ist, wenn diese auch nicht so
verfährt, wie sichs der kindliche Schvpfungsglaube vorstellt, sondern durch
Anwendung der von Darwin entdeckten Mittel die ursprünglichen einfachen
Gebilde allmählich in zusammengesetztere umwandelt.
War Darwin durch keinen außerhalb seiner Fachwissenschaft liegenden
Einfluß in seine Bahn hineingeführt worden, so trat doch, wie wir sahen,
allmählich eine Wechselwirkung ein zwischen seiner Botanik und seiner
Zoologie einerseits und seiner Metaphysik anderseits; und von da an
bestärkte ihn allerdings in seiner Theorie eine Erwägung, die ganz außer¬
halb der Naturwissenschaften liegt, die aber seinem Herzen Ehre macht.
Wie er in dem angeführten selbstbiographischen Bruchstücke und in meh¬
reren Briefen gesteht, war eS der Anblick des Leidens in der Tierwelt, was
ihm die Annahme eines persönlichen Schöpfers unwahrscheinlich und wider¬
wärtig machte. Der Gedanke widerstrebte ihm, daß ein bewußter Gott Tiere
erschaffen haben sollte, die darauf augewiesen sind, einander erbarmungslos
an- und aufzufressen. Er war sehr mitleidig gegen Tiere und zog sich durch
Einmischung zu Gunsten von Pferden und Vögeln manche Unannehmlichkeit
zu. Auch für die Sklavenbefreiung nahm er mit einer Leidenschaft Partei, die
sonst seinem gelassen pedantischen und bedächtigen Wesen ganz fremd war.
Sehr charakteristisch ist es, daß sich in seinen Schriften und Briefen keine
Spur von Teilnahme findet für die Leiden des englischen Arbeiterstandes, der
Prvletarierkiuder, der hungernden Iren. Es hätte ihn, so oft er in London
weilte, nnr einen Weg von einigen hundert Schritte» gekostet, jenen Abschnitt
des Kampfes uns Dasein zu studiren, der uns Menschen doch unendlich näher
liegt, wie die Leiden der Raupen und Würmer. Der richtige Engländer ver¬
schließt eben vor allem Elend und Verbrechen im eignen Vaterlande so lange
seine Augen, bis ihn ein besonders packender Fall überwältigt; von diesem
Augenblick an macht er dann den Philanthropismus zu seiner Lebensaufgabe.
Mir Darwin trat diese Krisis nicht ein; bis an sein Lebensende blieb er seinen
Würmern, Käfern und Tauben treu. Er gesteht dann weiter ein, daß ihm der
brasilianische Urwald eigentümliche Empfindungen eingeflößt habe. Er habe
da gefühlt, „daß noch etwas mehr im Menschen sei als der bloße Atem seines
Leibes. Jetzt aber (1876) würden die großartigsten Szenen keine derartigen
Überzeugungen und Empfindungen mehr in meiner Seele entstehen lassen.
Man konnte ganz zutreffend sagen, daß ich in dieser Beziehung farbenblind
geworden sei, und daß dem allgemeinen Glauben der Menschheit gegenüber mein
mangelndes Wahrnehmungsvermögen nichts beweise." Aber diese Schlu߬
folgerung sei doch nicht zwingend, weil die Überzeugung vom Dasein Gottes
nicht bei allen Menschenrassen allgemein, das religiöse Gefühl von der allge-
meinern Empfindung des Erhabenen nicht wesentlich verschieden sei und nur
dort religiös werde, wo es sich mit dem schon vorhandenen von anßen her
erzeugten Glauben an Gott verbinden könne. Das Bild von der Fnrbenblind-
heit ist gut. Es wird noch besser dadurch, daß Darwin auch noch seinen
Mangel an Sinn für die Musik heranzieht, und er hätte noch hinzufügen
sollen, daß ihm überhaupt die ästhetische Empfindung verloren gegangen war.
An einer andern Stelle erzählt er, als Schulknabe sei er von Shakespeare
entzückt gewesen. „Jetzt kann ich schon seit vielen Jahren keine Zeile Poesie
mehr ertragen. Ich habe vor kurzem versucht, wieder einmal Shakespeare zu
lesen, fand ihn aber so unausstehlich langweilig, daß mir übel davon wurde.
Auch den Geschmack für Gemälde und Musik habe ich beinahe verloren." Es
mag dahingestellt bleiben, wie groß die Zahl derer ist, denen die ästhetischen
Gefühle mangeln. Jedenfalls halten wir sie, sowie die, denen alle religiöse
Empfindung abgeht, für unvollständige Menschen, und können den mit solchen
Mängeln behafteten die Berechtigung nicht zugestehen, in den höchsten metaphy¬
sischen Fragen das entscheidende Wort zu sprechen.
Einen starken Eindruck machte auf ihn der Gedanke, daß nach dem Glauben
der Geologen und der Astronomen dereinst die Erde erkalten und das Reich
der Organismen untergehen soll. „Glaubt man, wie ich es thue, daß der
Mensch in weit entfernter Zukunft ein weit vollkommueres Geschöpf sein werde,
als er es jetzt ist, so ist der Gedanke unerträglich, daß er und alle andern
empfindenden Wesen zu vollständiger Vernichtung verurteilt sein sollen nach
einem so lange dauernden langsamen Fortschritt." Der Fortschritt thut dabei
gar nichts zur Sache, wenigstens bei dem gesund empfindenden Menschen.
Die Wesen, die nach zehntausend Jahren leben werden, sind uns schon aus
dem Grunde ungeheuer gleichgiltig, weil wir gar nicht wissen, ob sie leben
werden. Und sollten unsre Nachkommen vollkommnere Wesen als wir, d. h.
keine Menschen mehr sein, so würden sie uns noch gleichgiltiger sein. Den
Menschen, wie sie sind, und zwar den mitlebenden, gehört unsre Teilnahme;
und der Gedanke an ihre Vernichtung ist uns in dem Maße unerträglich,
einerseits als wir sie lieben, anderseits als sie in diesem Leben nicht auf die
Kosten gekommen sind. In einer jüngst erst erschienenen Novelle hat Ch.
d'Hüricault sehr gut geschildert, wie die Vernichtung des Unsterblichkeits¬
glaubens unter Umständen wirken kann. Ein junger Gelehrter hat seine Fran
von allem „Aberglauben" gründlich kurirt und sie glücklich — die Liebe zum
Manne thut ja Wunder — bis auf die Höhe moderner Anschauung hinauf¬
geschraubt. Nach dem Tode ihres ersten Kindes wird sie rückfällig. Doch
gelingt es dein Manne, ihr die Sehnsucht nach Wiedersehen als eine Thorheit
auszureden und aufs neue die Überzeugung zu begründen, daß der Tod weiter
nichts sei, als das Ende der „Evolution" eines „Individuums"; daß dieses
Ende bei manchen ungewöhnlich früh eintrete, sei ebenfalls in den Naturgesetzen
begründet, denen man sich nun einmal unterwerfen müsse. Aber auch das
zweite und das dritte Kind stirbt, und nun wird die junge Mutter wahnsinnig.
Nachdem sie sich ausgetobt hat, wird sie als geheilt aus der Irrenanstalt
entlassen und entfaltet nun eine erzwungene Liebenswürdigkeit, mit der sie den
Mann eine Zeit lang tänscht. Bei einem Familielimahle, mit dem die Ge-
nesung gefeiert wird, schneidet sie ihm mitten in einer heitern Unterhaltung
die Kehle durch und wendet sich dann zu ihrem auf der andern Seite sitzenden
Vater mit der Bemerkung: „Papa, sagen Sie der Mama, daß es weiter nichts
ist als das Ende von Edmunds Evolution."
Darwin sagt also mit Recht: „Denen, die an die Unsterblichkeit der Seele
glauben, wird die Vernichtung unsrer Welt nicht so furchtbar erscheinen." So
ganz, wie er sich zu Zeiten wohl einbildete, hatte er doch die Gründe der
Teleologen noch nicht innerlich überwunden. Das Weltganze machte immer
wieder tiefen Eindruck auf ihn. „Denke ich darüber nach, dann fühle ich mich
genötigt, mich nach einer ersten Ursache umzusehen in Gestalt eines menschen¬
ähnlichen denkenden Geistes, und ich verdiene dann Theist genannt zu werden.
Diese Folgerung war sehr lebendig in mir um die Zeit, als ich die »Ent¬
stehung der Arten« schrieb." In der That sieht man das aus den Schlu߬
sätzen dieses Werkes. Sie lautem ,,So geht aus dem Kampfe der Natur,
aus Hunger und Tod die Lösung des höchsten Problems hervor, das wir zu
erfassen vermögen: die Erzeugung immer höherer und vollkommnerer Tiere.
Es ist wahrlich eine großartige Ansicht, daß der Schöpfer den Keim alles
Lebens, das uns umgiebt, nur wenigen Formen oder nur eiuer einzigen Form
eingehaucht hat, und daß, während unser Planet den strengen Gesetzen der
Schwerkraft folgend sich im .Kreise schwingt, aus so einfachem Anfange sich
eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und
noch immer entwickelt." Später, heißt es in seinen Aufzeichnungen weiter, sei
ihm der Zweck in der Natur wieder zweifelhaft geworden. „Ich darf mir nicht
anmaßen, auch nur das geringste Licht auf solche abstruse Fragen werfen zu
wollen. Das Geheimnis des Anfangs aller Dinge ist für uns unlösbar, und
ich für meinen Teil muß mich bescheiden, ein Agnostiker zu bleiben." Ins¬
besondre ein „entsetzlicher Zweifel" war es, an dem seine Anläufe zur Teleo-
logie scheiterten; der Gedanke nämlich, ob den Überzeugungen eines Wesens,
das sich ja aus niedern Tieren entwickelt habe, überhaupt irgend welcher Wert
beizulegen sei. „Würde sich wohl jemand auf die Überzeugungen in der Seele
eines Affen verlassen, wenn in einer solchen Überzeugungen vorhanden wären?"
Damit trifft Darwin, ohne es zu merken, den Nagel ans den Kopf. In der
That, von Überzeugung, von dem Werte einer Meinung, von Wahrheit kann
nur so lange die Rede sein, als wir an eine ewige und unveränderliche Wahr¬
heit im Geiste eines persönlichen Gottes glauben, der die Fähigkeit, diese
Wahrheit zu erkennen, und die logischen Gesetze, uach denen diese Fähigkeit
wirkt, in unsre Seele gelegt hat. Giebt es keine solche Wahrheit, d. h. keine
unzerstörbare in der Harmonie ihres reichen Inhalts selige Persönlichkeit, die
die Fülle ihrer Ideen in Geschöpfen verwirklicht, um diese an der eignen
Seligkeit teilnehmen zu lassen, ist der Menschengeist nur eine Phosphorescenz
der Materie und die Vorstellung der eignen Persönlichkeit eine unbegreifliche
Illusion, dann hat sein Denken gar keinen Wert; Teleologie, Darwins Hypothese
und alle andern Gedankengebäude sind dann gleich wertlos und nichtig. Dann
ist ein Kerl, der spekulirt, anstatt zu genießen, niag er nun paulinisch oder
darwinisch spekuliren, wirklich ein dummes Tier, das, von der Drehkrankheit
erfaßt, ans dürrem Stoppelfelde sich zu Tode rennt und den grünen Klee da¬
neben unberührt läßt. In der That, dem Affen, und mag er noch so hoch
entwickelt sein, gebührt keine Stimme in der Philosophie!
Bekanntlich wurde Darwin mit der Gretchenfrage viel geplagt und hat
immer nur zögernd und verdrießlich darauf geantwortet. Sein Briefwechsel
mit einem holländischen Studenten lief vor zwei Jahren, als das von seinem
Sohne Heransgegebene Werk „Leben und Briefe" in deutscher Übersetzung er¬
schienen war, durch alle Zeitungen. Seine Antwort auf solche Anfragen
lautete der Hauptsache nach regelmäßig, er habe über diese Dinge niemals im
Zusammenhange nachgedacht, Theologie und Philosophie seien nicht sein Fach,
an eine Offenbarung glaube er nicht, er könne sich aber auch nicht einen
Atheisten nennen, er sei ein Agnostiker, er wage nichts zu entscheiden. In
einem Briefe an Graham schreibt er: „Ich habe keine Übung im abstrakten
Denken und mag wohl ganz in die Irre gehen. Immerhin haben Sie meine
innerste Überzeugung ausgedrückt, wenn Sie sagen, das Weltall könne un¬
möglich ein Werk des Zufalls sein." Über eine Unterredung mit ihm in den
letzten Jahren seines Lebens berichtet der Herzog von Arghll, ein tiefreligiöser
Maun, der an den wissenschaftlichen und sozialen Bewegungen der Zeit den
lebhaftesten und thätigsten Anteil nahm. Der Herzog äußerte, man könne die
wunderbar zweckmäßigen Anpassungen in der Natur unmöglich betrachten, ohne
das Walten eines vernünftigen Geistes darin zu erkennen. „Ich werde, er¬
zählt er weiter, Mr. Darwins Antwort nie vergessen. Er sah mich scharf an
und sagte: ,,Das kommt wohl oft über mich; aber zu andern Zeiten — und
hier schüttelte er leise den Kopf — scheint es vorüberzugehen."
Man sieht, daß Darwin über diesen Punkt niemals mit sich ins Reine
gekommen ist, und daß er, weit entfernt davon, andern Leuten den Atheismus
aufdrängen zu wollen, ihn vielmehr von sich selbst abzuwehren suchte. Ja er
hat nicht einmal den Versuch gemacht, die mechanische Natnrerklürnng bis auf
den tiefsten Grund durchzuführen. „Es wird noch einige Zeit dauern, schrieb
er 1863 etwas spöttisch um Hooker, ehe wir sehen, wie Schleim, Protoplasma
u. dergl. ein neues Tier erzeugt. Es ist einfach Unsinn, gegenwärtig an den
Ursprung des Lebens zu denken jdas soll doch Wohl heißen, den Ursprung des
Lebens erklären zu wollenl; eben so gut könnte man an den Ursprung der
Materie denken." Daß die Descendenztheorie eine zwecksetzende und den Prozeß
leitende Intelligenz nicht ausschließt, sondern geradezu fordert, hat E. von
Hartmann in dein Büchlein, das „Wahrheit und Irrtum im Darwinismus"
mit unübertrefflicher Klarheit scheidet, so überzeugend nachgewiesen, daß es Holz
in den Wald tragen hieße, wenn man noch ein Wort hinzufügen wollte. Wie
die vor vierzehn Jahren erschienene Schrift in den Kreisen der Naturforscher,
zu denen ich nicht gehöre, gewirkt haben mag, weiß ich nicht; ans den fast
alljährlich wiederkehrenden Proteste» BirchvwS gegen den Leichtsinn, mit dem
die Darwinisten unbewiesene Hypothesen für »uumstößliche Wahrheiten aus¬
geben, sieht man wenigstens so viel, daß sie in Fachkreisen nicht die Allein¬
herrschaft behaupten. An dem uicht fachmännischer Publikum scheint Hartmanns
Buch spurlos vorübergegangen zu sein. Was in Deutschland nicht kirchlich
orthodox ist, strebt nach dem Ruhme darwinischer Rechtgläubigkeit. Für eine
dein Standpunkte der heutigen Forschung angemessene Theorie, die außer den
geläuterten Bestandteilen der Darwinischen kehren auch noch andre Elemente
aufzunehmen hätte, schlägt E. von Hartmann in jener Schrift den Namen
„organische Entwicklungstheorie" vor. EV glaubte schon damals wahrzunehmen,
daß sich die Anhänger der Deseendenzthevrie in Deutschland aus den, Banne
des Darwinismus zu einer dem Volle der Denker mehr entsprechenden Auf¬
fassung hindurchzuarbeiten strebte«. „Es dürfte daher, schreibt er in seinem
fremdwörterreichen Deutsch, auch an der Zeit scheinen, den Namen des Dar¬
winismus, der oft in nüßbräuchlicher Weise noch sür einen nicht unwesentlich
modifizirten Thevrienkomplex ans Pietät gegen den Urheber der neuen na!.ur-
philvsvphischen Bewegung und Erregung der Geister festgehalten wird, de, unio
fallen zu lassen." Damit ist er so wenig durchgedrungen, daß vielmehr, wie
kürzlich an dieser Stelle hervorgehoben wurde, der Name Darwins in Deutsch¬
land dazu gemißbraucht wird, alles zu empfehlen, was eine üppig wuchernde
Phantasievvlle Spekulation an kühnen Behauptungen nur immer hervorbringt.
Bor E. von Hartmann hatte schon Darwins Fre'.ut HiEc .eschrieben:
,,Die teleologische und die mechanische Auffassung der Rat?? schließen sich
keineswegs gegenseitig ans. Im Gegenteil, je logischer der Mechanist denkt,
desto sicherer wird er eine ursprüngliche molekulare Anordnung c .,>c-l)inen, die
eben zu dem Zwecke eingerichtet ist, damit daraus d' Erscheinungen des
Weltalls hervorgehe» können." Von Atheismus könne dabei keine Rede sein;
wenn es uicht gegen deu Glauben um Gott verstoße, daß sich ans dem El, das
doch weder ein Hahn noch eine Henne sei, ein Hühnchen entwickle, dann sei
vom gläubigen Standpunkt ans auch gegen die Entwicklung des Weltalls nichts
einzuwenden; eins sei gerade so unerklärlich wie das andre. Ja Darwins
Sohn rechnet sogar die Neubelebung der Teleologie zu den großen Diensten,
die sein Bater der Naturgeschichte geleistet habe. Der Ruhm allerdings, die
unlösbare wechselseitige Abhängigkeit von Mechanismus und Zweck allseitig
dargelegt zu haben, gebührt unserm LvKe, und es erscheint nur als ein be¬
trübender Beweis weitverbreiteter Denkschwäche, daß sich der Urgedanke einer
„gewordenen Zweckmäßigkeit" in Deutschland noch einnisten konnte, nachdem
dieser klare Denker den Widerspruch zwischen der vom Materialismus geforderten
Einheit der Welt und ihrer gleichzeitig behaupteten Planlosigkeit so allseitig
und zuweilen mit köstlicher Ironie beleuchtet hatte. Möge wenigstens ein
Sätzchen aus seiner „Medizinischen Psychologie" hier Platz finden: „Dieselben
Schriftsteller, welche die Trennung von Körper und Geist als eine unstatthafte
Zersplitterung der Welt betrachten, haben selten etwas dawider einzuwenden,
daß der Weltlauf überhaupt planlos sei, und das jedes Ereignis, jedes Erzeugnis
desselben nur ->. lor^o durch die nachwirkende Gewalt seiner vorangehenden
Bedingungen in das Leere hinnnsgeschoben werde, ohne dnrch eine Macht, die
es i>. l'mento bewegt, mit allen andern nach einem gemeinsamen Ziele hingezogen
zu werden."
Darwin war, wie wir gesehen haben, an diesen Verirrungen nicht schuld.
Er würde sich über mögliche metaphysische Folgerungen ans seiner Lehre über¬
haupt nicht ausgesprochen haben, wenn er nicht durch Angriffe und Anfragen
gezwungen worden wäre, die ihn Peinigten, und die daher ungezogen und
lieblos erscheinen. Nur eines, scheint mir, wozu keinerlei Nötigung vorlag,
hätte er lieber ungeschrieben lassen sollen: Die erste^Hälfte des Buches „Die
Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl," oder wenigstens
jene Schilderung unsrer angeblichen Vorfahren, die er von Seite 15>1 an ent-
wi^l. Abgesehen davon, daß der Stammbamu deS Meuscheu Wohl niemals
mit Sicherheit wird festgestellt werden können, hat seine Ausmalung weder
einen praktischen noch einen theoretischen Zweck. Keinen praktischen, weil wir
schon dumme und viehische Menschen genug haben, und es niemand einfallen
wird, deren Zahl dnrch Nachzucht zu vermehren. Keinen theoretischen, weil
die Tiere, deren eine? vom Schöpfer für das Wunder der Menschenschöpfung
verwendet den sei» mag, Tiere waren wie andre Tiere, und unser guter
Geschmack ohne 'ten Nutzen für die Wissenschaft beleidigt wird, wenn uns als
Ahnen bel'--irte und geschwänzte Scheusale vorgestellt werden, bei denen nach
Darwins ^^.cheruug die Weibchen mit Bärten und die Männchen und Milch¬
drüsen zum Sänge er Jungen Versehen waren.
Mag die Bedeutung Darwins, soweit sie über die Botanik und die
Zoologie hinaufreicht, liegen, wo sie will, darin liegt sie ans keinen Fall, daß
dnrch ihn der alte Atheismus, den David Strauß fälschlich neuen Glauben
genannt hat, endlich einmal die bisher noch vermißte wissenschaftliche Be¬
gründung erhalten hätte. „Wer Gott mitbringt, der findet ihn in der Natur,
und wer ihn nicht mitbringt, der findet ihn nicht," sagt der geistvolle Geologe
Quenstedt. So war es vor Darwin, so ist es auch nach Darwin geblieben,
>nit so wird eS immer bleibe». Wenn Darwin selbst zu Zeiten in einer
mechanisch wirkenden Zuchtwahl einen Ersatz für den Schöpfer zu sehen glaubte,
so lag das daran, daß er nach seinem eignen Geständnis keine Übung im
Philosophischen Denken hatte. Wen» aber das Haupt der deutschen Darwininuer
verkündet: „Darwin setzt also an die Stelle einer bewußten Schöpferkraft eine
Summe von sogenannte» blinden, zweck und Planloo wirkenden Naturkräften,"
wenn er solchergestalt den dummen Gedanken einer geistlosen Welt für den
Kern von Darwins Hypothese ansgiel't, so verunglimpft er den Meister. Das;
das Salz der Erde dumm wird, erlebt man leider zuweilen; allein ganz un-
erhört ist es, daß jemals ein Dummkopf weise geworden wäre. Die Materie
aber, der geistlose Stoff, ist das Artname in der Welt; und ehe ich glaube,
daß blind sich stoßende Körpermassen von selber schöne und kunstvolle Gebilde
hervorbringen oder auch nur das schwächste Geistesfünklein erzengen, glaube
ich lieber an die schwebende Bratpfanne zu Resan.
n der Deklination der Adjektiva herrscht ein garstiger Mißbrauch
bei den Adjektiven, deren Stamm ans —el und -er endigt, wie
edel, eitel, übel, dunkel, lauter, wacker; auch alle Kom-
parativstänune, wie besser, größer, unser, euer, immer,
außer, ander, gehören hierher. Bei diesen Adjektiven kommen
in der Deklination zwei Silben mit kurzem c zusammen, also: des eitelen
Menschen, dem übelen Rufe, dem dunkelen Grunde, unseres Wissens, mit
besserem Erfolge, aus härterem Holze. Diese Formen sind unerträglich,
man schreibt sie wohl bisweilen, aber niemand spricht sie, eins der beiden e
muß weichen; aber welches von beiden? Die richtige Antwort darauf giebt
der Infinitiv der Verba, die von Stämmen auf —el und —er gebildet sind.
Soviel ich weiß, ist es nur in einer Gegend Deutschlands, in Hannover, Sitte,
zu sagen: labten, handlen, wandle», veredlen, vereitlen, verdunklen,
verwechsle,!, cinsbeutlen, andren, Verwundren, erinureu, erschütt¬
ren, veräußren, versilbren, erläutreu; im ganzen übrigen Deutschland
sagt man tadeln, veredeln, erinnern, erläutern, d. h. man opfert das e
der Endung und bewahrt das e des Stammes. Und so ist es gut und ver¬
nünftig.") Nicht nur daß das Stamm-e wichtiger ist, als das der Endung,
die Formen ans — ein, — ern klingen auch voller, kräftiger, sie erfordern
einen etwas griißern Kraftaufwand der Sprachwerkzeuge; die Formen auf —kam
und —ren entstehen durch schlaffere Aussprache und haben etwas «uschöu
weichliches. Genan dasselbe aber ist es bei den genannten Adjektiven. In
ganz Deutschland, in allen Büchern und Zeitungen druckt man die häßlichen,
weichlichen Formen: unsres Volkes, des üblen Rufes, die ältren Ausgaben,
mit andren Mitteln, und doch spricht fast alle Welt: unsers Volkes, des
Übeln Rufes, die ältern Ausgaben, mit andern Mitteln. Man druckt ja
nicht: die Eltren. Die werden doch überall richtig Eltern gedruckt, warum
also nicht auch: die älter»? Beides ist doch dasselbe.
Auch in der Steigerung der Adjektiva fehlt es nicht an Dummheiten,
die sich großer Beliebtheit erfreuen. Einfache Begriffe, wie groß oder
hoch, werden jetzt durch allerhand schwülstige Zusammensetzungen umschrieben,
wie hochgradig, tiefgehend, weitgehend, weittragend n. a. Große
Erregung, hohes Fieber — pfui, wer wird sich so gewöhnlich ausdrücken!
Hochgradige Erregung, hochgradiges Fieber schreibt der gerechte und
vollkommne Zeitungsschreiber. Wenn diese schwülstigen Bildungen nun in die
Steigerungsgrade gesetzt werden sollen, was dann? Heißt es tiefergehende
Anregungen oder tiefgehendere? von weitesttrngender Bedentmig oder weit¬
tragendster? Das Richtige ist natürlich das erstere; aber das Falsche muß
man alle Tage lesen, und schon kann man doch l'eins von beiden nennen.
Noch schlimmer sind die jetzt so beliebten doppelten Superlative: die best¬
eingerichtetsten Posten, die bestbewährtesten Fabrikate, der feinstlaubigstc
Kohlrabi (statt der best eingerichteten oder der bewährtesten). Für so gut
als möglich kann man auch.kurz sagen: möglichst gut. Wie muß dieser
Ausdruck sich mißhandeln lassen! Die einen bringen den Superlativ an die
falsche Stelle und sagen bestmöglich — was vollständiger Unsinn ist, denn
?s soll ja nicht die höchste Güte, sondern die Güte in dem höchsten Grade der
jeweiligen Möglichkeit ausgedrückt werden; andre wissen sich auch hier nicht
genug zu thun und rücken wieder mit dem doppelten Superlativ bestmög¬
lichst an! Im übrigen steigert man ja die Adjektiva durch sehr, überaus,
ungemein, außerordentlich, äußerst, höchst, in hohem Grade, un¬
glaublich u. s. w. - unsre Sprache hat einen großen Vorrat von Wör¬
tern und Wendungen, womit sie die immer schlimmer werdende Neigung, stark
aufzutragen, zu übertreiben, unterstützt. Aber auch hier ist neuerdings eine
ganz besondre Dummheit aufgekommen und hat reißend schnell um sich ge¬
griffen: die Bezeichnung eines hohen Grades dnrch das Adverbium selten:
em selten tüchtiger Fachmann, eine selten günstige Kapitalanlage, ein
Mädchen von selten gutem Charakter. Daß mit solchen angeblichen Super¬
lativen gerade das Gegenteil von dem gesagt wird, was gesagt werden soll,
davon scheine» die selten klugen Leute, die dieses selten immer im Munde
führen, leine Ahnung z» habe».
Aber sollte Mans für möglich halte», daß selbst im Gebrauche des Artikels
grobe Fehler im Schwange sind? Da ist zunächst die abscheuliche Nachlässig¬
keit, mehrere Personen oder Gegenstände von gleichem Genus und numerus
unter einem Artikel unterzubringen, also zu schreiben: das alte und neue
Buchhändlerheim — die Zustimmung des Bundesrates und Reichs¬
kanzlers eine Sitzung des Ban-, Ökonomie- und Finanzaus¬
schusses — der deutsche Handel war bedeutender als der englische und
amerikanische zusammen — ein Ausflug nach dein süßen und salzigen
See. Doppelt störend wird diese Nachlässigkeit, wenn durch das im Plural
stehende Prädikat oder auf irgend eine andre Weise noch besonders fühlbar
gemacht wird, daß sichs um mehrere Personen oder Dinge handelt, wie: der
lyrische und epische Dichter bedürfen dieses Mittels nicht — an der
Nordseite befinden sich der Dresdner, Magdeburger, Thüringer nud
Berliner Bahnhof — zwischen dem 13. und 15. Grade südlicher Breite —
der Unterschied zwischen der Bedeutung der kirchlichen und staatlichen
Einrichtungen. In allen diesen Fällen muß unbedingt der Artikel wiederholt
werden. Denn wie kauu ein Buchhnudlerheim zugleich alt und neu, ein See
zugleich süß und salzig, ein Grad zugleich der 13. nud der 15, sein? Wer
soll erraten, daß der Bau-, Ökonomie- und Finanzausschuß drei verschiedne
Ausschüsse sind? Der König von Preußen und Kaiser von Deutsch¬
land — das ist richtig, denn beide sind ein und dieselbe Person.
Doch es handelt, sich hier mehr um einen Verstoß gegen den Satzbau.
Ein ganz gemeiner Formfehler aber ist es, eine Lüderlichkeit, die einen Stumpf¬
sinn ohne gleichen verrät, ein Femininum und einen Plural nnter ein und
demselben Artikel unterzubringen. Und doch muß man täglich auch solche
Roheiten lesen, wie: die Höhe und Formen des Gitters — die Siche¬
rung der Post »ud Transporte — die Gegner der deutschen Land¬
wirtschaft und Getreidezölle — eine Preisfrage ans dem Gebiete d<>r
Mathematik und Naturwissenschaften — die Angabe derBevölteruugs-
dichtigkeit und Temperaturverhältnisse - - trotz der papistischen Ge¬
sinnung und Bestrebungen des Herzogs Georg — Geschichte der
Seuchen, Hungers- nud Kriegsnvt im dreißigjährigen Kriege (gleich
auf dem Titelblatt eines soeben erschienenen Buches!). (Auch beim besitz¬
anzeigenden Adjektiv statt des Artikels kommt der Fehler massenhaft vor, z. B.
die karolingische Pfalz zu Aachen, eine Untersuchung ihrer Lage und Bau¬
werke.) Es ist das eins der kläglichsten Beispiele der herrschenden Papier¬
sprache, in der nicht nach Sinn und Klang, sondern nnr nach dem Lautbilde
des einzelnen Wortes gefragt wird. Die ^ der — das ist für den Papier-
meuschen nichts weiter als ein Aggregat von drei Buchstaben: d—i—e, d—e—r.-
Daß diese drei Buchstaben das einemal das Femininum im Singular, das
andremal den Plnrnl bezeichnen, ist ihm ganz gleichgiltig, dafür hat er alles
Gefühl verloren. Komme mir niemand mit dem Einwände, solche Verbin¬
dungen fänden sich bei den „besten Schriftstellern," sogar bei unsern „Klassikern."
Ein gemeiner Sprachfehler wird nicht um ein Haar besser, weil er sich ge¬
legentlich auch bei unsern „Klassikern" findet. Ein guter Schriftsteller ist
maßgebend, wo er gut und richtig schreibt; wo er falsch schreibt, kann er so
wenig massgebend sein wie ein beliebiger subter.
Eine klägliche Unsicherheit herrscht darüber, in welchen Fällen der Artikel
mit einer vorausgehenden Präposition verschmolzen werden muß, und in
welchen Füllen das nicht geschehen darf, wann es also heißen muß: zum, im,
aufs, ins (oder, wenn denn jemand ohne Apostroph nicht leben kann, auf's,
in's — vielleicht mich zu'in, i'in?), und wann zu dem, in dem, auf das,
in das. Und doch ist die Sache so überaus einfach und selbstverstündl Der
bestimmte Artikel der, die, das hat ursprünglich demonstrativen Sinn, er be¬
deutet dasselbe wie dieser, diese, dieses, oder wie das herrliche Kanzlei-
"ut Zeitnngswort derjenige, diejenige, dasjenige. In dieser Bedeutung
wird er ja auch noch täglich gebraucht, er wird dann betont, auch gedehnt
gesprochen (man nehme nur seine Ohren zu Hilfe, und nicht immer bloß
die Augen!), während er als bloßer Artikel unbetont bleibt und kurz gesprochen
wird. Nun ist es doch selbstverständlich, daß die Verschmelzung mit der
Präposition nur da eintreten kann, wo der wirkliche Artikel vorliegt. Ver¬
schlungen oder verschluckt werdeu kauu nur ein Wort, das keinen Ton hat.
Es ist also ganz richtig, zusagen: Du wirst schon noch zur Einsicht kommen,
wen» gemeint ist: zur Einsicht überhaupt, zur Einsicht schlechthin. Sowie aber
durch einen nachfolgenden Jnhnltssatz eine bestimmte Einsicht näher bezeichnet
wird, ist es klar, daß der Artikel dann einen Rest seiner ursprünglichen demon¬
strativen Kraft bewahrt hat, und dann kann von einer Verschlingung mit der
Präposition keine Rede mehr sein. Es kann also nnr heißen: Als er nach Jahren
zu der Einsicht kam, daß er nicht zum Künstler geboren sei. Und doch muß
'"an täglich so fehlerhafte Satze lesen, wie: Die Bauern sind zum Bewußt¬
en, gekommen, daß sie auf weitere Schenkung von Grund und Boden nicht
rechnen können — man kam zur Überzeugung, daß mit den glühenden
Farben des Glases die Wirkung eines Staffeleibildes nicht zu erreichen sei —
die Begleichung seiner Landsleute mit den Deutschen von ehemals führte
Melanchthon zur Erklärung, daß die Deutschen leider ihren Vorfahren un¬
ähnlich geworden seien — folgende Erwägung führt zur Vermutung, daß
die Ohnmacht Gretchens in der Kirche einem geschichtlichen Fall nachgebildet sei —
er stand im Rufe, es mit der klerikalen Partei zu halten. In alleu diese»
Fällen ist die Verschmelzung der Präposition mit dem Artikel ein grober
Fehler. Es ist unbegreiflich, wie jemand das Gefühl für so etwas verlieren
kaun. Wo dagegen wirklich der bloße Artikel vorliegt, da sollte nun aber auch
überall die Verschmelzung vorgenommen werden, nicht bloß in der lebendigen
Sprache — da festes nicht dran > sondern auch auf dem Papiere; und zwar
ohne das kindische Apostroph, diesen Stolz des ABCschntzen der Volksschule.
Kein Mensch sagt: eine Anstalt in das Leben rufen, sich auf das be¬
quemste einrichten, sondern ins Leben, aufs bequemste. Warum schreibt
und druckt man nicht so? Hält mans vielleicht für gemein, fiir „plebejisch," für
„vulgär"? O dieser Wahn, daß es eine besondre, höhere, feinere Schreibsprache
gebe im Unterschied vou der Sprechsprache! /
Endlich noch ein weit verbreiteter Fehler, der auch hierher gehört. Wenn
von einer Präposition mehrere Substantiva desselben Geschlechts abhängen und
beim ersten die Verschmelzung mit dem Artikel eingetreten ist, so ist es höchst
anstößig, bei den folgende,? Substantiven den Artikel gewaltsam aus der Ver¬
schmelzung wieder herauszureißen und z. B. zu schreiben: i» gewisser Ent¬
fernung vom Brandplatze oder dem Platze des sonstigen Unglücksfnlles ^ sich
vom Christentum und dessen Sittenlehre» lossagen. Die Verschmelzung vom
wirkt im Sprachgefühl fort auch auf das folgende Wort; man hört also un¬
willkürlich: vom dem Platze, vom den Sittenlehren. In solchen Fällen ist
es unbedingt nötig, entweder die Präposition zu wiederholen, also zu schreiben:
in gewisser Entfernung vom Brandplatze oder vom Platze des sonstigen
Unglücksfalles, oder die Verschmelzung vo» vornherein zu unterlassen und zu
schreiben: von dem Brandplatze oder dem Platze des sonstigen Unglücksfalles.
Das erstere verdient natürlich den Vorzug. Falsch sind also solche Fälle: im
Süden, dem taurischen Gouvernement — um ersten Tage der Verhandlungen,
dem 15. November; im und am muß hier wiederholt werdeu. Vollends all^
stößig ist es, die Wiederholung der Präposition zu unterlassen, wenn dahinter
der bestimmte Artikel mit dem unbestimmten wechselt, z. B. zur Annahme von
Bestellungen und direkter Erledigung derselben; es muß heißen: zur Annahme
und zu direkter Erledigung.
Ich wende mich zur Flexion des Verbums, um auch da ein Paar Fülle
zu besprechen. Ein recht beschämendes Beispiel der grammatischen Unwissenheit
unsrer Gebildeten ist die Niesenschnelligkeit, womit seit etwa zehn Jahren die
falschen Formen frägt und frug um sich gegriffen haben. Die Sache verhält
sich so. Unsre Zeitwörter mit ag im Stamme zerfallen in zwei Gruppen;
die eine gehört dein starken Verbum an, die andre dem schwachen. Die erste
Gruppe bilden die beiden Verba:
sie haben dieselbe Ablautsreihe wie fahre, fuhr, gefahren — grabe,
grub, gegraben — wachse, wuchs, gewachsen — wasche, wusch,
gewaschen u. a. Zur zweiten Gruppe gehören:
Frage» hat nun seit vielen Jahrhunderten nie zu einer andern Gruppe gehört
als zur zweitem ich frage, du fragst — ich fragte — ich habe gefragt.
Unsre Klassiker keimen fast gnr keine andre Form. Zwei der allerbesten
deutschen Prosaiker, Lessing und Gellert — (Gellert? ja Wohl, lest ihn mir,
ihr kennt ihn ja gar nicht!), wissen von frägt und frug gar nichts, Nur
ganz vereinzelt findet sich im Verse, also uuter dem beengenden Einflüsse
des Rhythmus, frug; so bei Goethe in deu Venetianischen Epigrammen:
Niemals frug ein Kaiser nach nur, es hat sich kein König um mich bekümmert ^-
bei Schiller im Wallenstein: Ja wohl, der Schwed frug nach der Jahrszeit
nichts. Auch Bürger hat es (Lenore: Sie frug den Zug wohl auf und ab,
und frug uach allen Namen), und da haben wir denn auch die Quelle: es
stammt ans dem Plattdeutschen. Bürger war 1747 in Molmerswende bei
Halberstadt geboren; wahrscheinlich sagte man dort schon zu seiner Zeit allge¬
mein frug. Aber »och in den fünfziger und sechziger Jahren unsers Jahr¬
hunderts hörte mau die Dialektfvrm in der Umgangssprache der Gebildeten so
gut wie gar nicht. Da auf einmal tauchte sie auf. Und nun ging und geht
es ganz wie mit einer neuen Kleidermode, anfangs langsam, dann schneller
und immer schneller. Erst lauscht man: frug? Na, wenn ders sagt, dann
muß es ja fein sein, also will ichs nur mitmachen! Schüchtern wirds in der
nächsten Unterhaltung gewagt, das nächstemal gehts schon besser, bald ist
das Ungewohnte überwunden, und uun kommt man sich auch so fein vor wie
die andern. Am meisten zur Verbreitung der falschen Form hat ohne Zweifel
Gustav Frehtag beigetragen; er kennt gar keine andre Form, obwohl er ein
geborner Schlesier ist. Es paßt das ganz zu Freytags Stil, der ja unleugbar
viel besser ist, als der manches andern neuern deutschen Schriftstellers, aber
dabei doch nicht frei von allerhand Unnatur, Manier und Ziererei. Als Freytags
„Ahnen" Modebücher waren, da wurde auch frug Mode. Die Grenzboten
veröffentlichten 1882 ein hübsches Sonett aus Süddeutschland, das sich über
das Vordringen der falschen Form lustig machte. Es begann mit der Strophe:
Ich frug mich manchmal in den letzten Tagen:
Woher stammt wohl die edle Form: Er frug?
Wer war der Kühne, der zuerst sie wug?
So frug ich mich, fo hab ich mich gefragen.
Eine Reihe von Zeitungen brachte dann Gegensonette, aus denen nicht bloß
hervorging, daß ihre Verfasser keine Ahnung von den Anfangsgründen der
deutschen Grammatik hatten, sondern auch daß ihnen die falsche Form schon
so in Fleisch und Blut übergegangen war, daß sie für das Richtige alles
Gefühl verloren hatten. Es entspann sich ein förmlicher Sonettenkampf.
Aber was halfs? Heute schwatzen nicht bloß de>' Ladendiener und die Laden¬
mamsell in der llnterhaltnng uuallfhörlich: ich frug ihn, er frug mich,
wir frugen sie, sondern auch der Student, der Gymnasiallehrer, der Pro¬
fessor, alle schwatzens mit, alle Zeitungen, alle Novellen und Romane Schreibens,
das Richtige bekommt man kaum uoch irgendwo zu hören oder zu lesen. Es
fehlte nnr, daß mich noch gesagt und geschrieben würde: Ich habe gefragen,
er hat mich gefragen u. s. w. Das kommt schon auch uoch. Und dabei
bezeichnet Grimm im Deutschen Wörterbuche die Formen frug und frägt als
„höchst unorganisch," und noch in der neuesten (elften) Auflage von Hoffmanns
„Neuhochdeutscher Elementargrammatik" (1885) Seite 73 ist das Zeitwort
fragen als Beispiel für die schwache Konjugation vollständig ausgeführt, lind
Seite 83 steht kurz und bündig zu lesein ,,Fragen geht schwach; frug ist
falsch; ebenso fragst und frägt."
Hier sieht man einmal an einem einzelnen Beispiel, was dabei heraus¬
kommt, daß es ans unsern höhern Schulen, aus denen die gebildeter» Kreise
hervorgehen, nirgends einen ordentlichen Unterricht in der deutschen Grammatik
giebt. Ich frage: Wie stellt sich die Schule zu einem solchen Sprachvvrgange?
Wird etwa bereits gelehrt: fragen ist ein „unregelmäßiges" Verbum, das
teils nach der schwachem, teils nach der starken Konjugation geht? Wenn man
vor zwanzig Jahren beim Lesen unsrer .Klassiker in der Schule auf die Form
frug stieß, so stutzte der Schüler, und man mußte die Form als eine Be¬
sonderheit besprechen und entschuldigen. Wie stehts heute? Wenn Lessing,
Goethe, Schiller gelesen wird, wird vielleicht schon gelehrt, die hätten sich der
„veralteten" Form fragte bedient? Und wenn der Junge im deutschen Auf¬
satze schreibt: Ich fragte, wird das vielleicht schon als ,,ganzer Fehler" an¬
gerechnet? O heilige Einfalt! Wenn zu Gottscheds Zeiten innerhalb weniger
Jahrzehnte ähnliche Sprachverirrungen vor sich gingen, so wars kein Wunder.
Damals wucherte die Sprache völlig wild, auf den Lateinschulen wurde Latein
getrieben, und der Vvlksschnlunterricht wurde in elenden Winkelschnlen erteilt,
die die Behörden notdürftig überwachten. Daß aber die stolze deutsche Schule
der Gegenwart nicht imstande gewesen ist, die Verbreitung einer solchen Dumm¬
heit zu verhüten, wie dieses frägt und frug, ist einfach eine Schande für sie.
(Schluß folgt)
» dem Verlage dieser Blätter erschien vor drei Jahren eine Ge¬
dichtsammlung, die durch die Eigentümlichkeit ihres Inhalts,
die wissenschaftliche Sorgfalt der Herausgabe und die mit seinem
Geschmack besorgte änßere Ausstattung in gleichem Maße die
Aufmerksamkeit auf sich zog: das unter dem Titel ,,Als der
Großvater die Großmutter nahm" zusammengestellte „Liederbuch für altmodische
Leute," eine mit umfassender Litteraturkenntnis hergestellte Sammlung von
fabeln, Erzählungen, Liedern und Opern- und Singspielnnmmern, an denen
sich unsre Großväter und Großmütter in jungen Jahren erfreut haben, die
aber heute natürlich meist aus den Sammlungen und zum guten Teil auch
aus dein Gedächtnis verschwunden sind. Das Buch erregte die allgemeinste
Freude, erlebte bereits mich Jahresfrist eine zweite Auslage und ist seitdem
Wohl das beliebteste Geschenkbuch geworden, wenn es gilt, den Großeltern, dein
Jnbelhvchzeitspnare oder sonstigen lieben Alten eine kleine litterarische Extra¬
freude zu machen.
Aber die Verlagshandlung blieb bei diesem „altmodischen" Buche nicht
stehen. Es galt nun auch, ein Seitenstück dazu zu schaffen für das jüngere Ge¬
schlecht, eine Auslese des Besten und Schönsten, was die neuere deutsche Lyrik
geschaffen hat. Dergleichen Anthologieen giebt es zwar wie Sand am Meere.
Aber die meisten sind doch uicht viel mehr als bedrucktes Papier, zusammengerafft
ohne Kenntnis und Urteil, in der Regel unter Bevorzugung des süßlichen,
Sentimentalen, vor allem darauf berechnet, jungen Damen von jungen Herren
zum Geschenk gemacht zu werden. Sammlungen für das gebildete deutsche
Haus, Sammlungen, die auch höhern Ansprüchen genügten, gab es kaum eine
oder zwei. So kam denn auch die zweite von der Verlagshandlung heraus¬
gegebene Anthologie, der unter dem Titel „Sang und Klang" erschienene „Haus¬
schatz deutscher Lyrik," einem wirklichen Bedürfnis entgegen. Nicht „aus zwölf
Büchern ein dreizehntes" — wie dergleichen Sammlungen zu entstehen pflegen—,
sondern ein frisch und neu aus den Quellen geschöpftes Buch, eine Auswahl,
wie sie nur die ausgebreitetste Litteratnrkeuntnis und der reifste und geläutertste
Geschmack schaffen konnte, hatte der Herausgeber geboten.
In diesem Jahre nun schüttet die Verlagshandlung ein ganzes Füllhorn
neuer Bücher vor uus ans, die sich in derselben Richtung bewegen wie die
beiden genannten und sämtlich in demselben Sinn und Geiste geschaffen sind:
eine Sammlung von Vaterlandsliedern, ein Balladcubuch, eine Samm¬
lung geistlicher Lieder und einen Zitatenschatz. Alle vier schließen sich
in jeder Beziehung an die beiden frühern an: für jede ist der rechte Mann
gefunden worden, der seine Aufgabe mit Ernst und Liebe erfaßt, mit Sach¬
kenntnis und Geschmack gelöst hat, sür das äußere Gewnnd, das bei allen
gleichmüßig ist und doch bei aller Gleichmäßigkeit eine feine und charakteristische
Mannichfaltigkeit zeigt, hat eine Hand gesorgt, der — das sieht man — diese
Fürsorge eine wahre Frende gewesen ist, nud was das Beste und Wichtigste
ist: jedes dieser vier Bücher füllt eine wirkliche Lücke aus, ja es ist eigentlich
zu verwundern, daß sie in unsrer überproduktiven Zeit, die so viel Unnützes,
Gequältes, Totgebvrnes auf den Markt wirft, uicht längst von andrer Seite
geschaffen worden sind. Wenn mau es als das ganze Geheimnis geschäftlichen
Erfolges bezeichnen kann, niemals das zu machen, was andre machen — eine
Regel, die der deutsche Buchhandel leider viel zu wenig beherzigt, denn in
keinem Geschäftszweige ist die garstige, gemeine Nnchmacherei so verbreitet wie
in unserm Buchhandel —, dagegen immer das zu machen, was andre nicht
machen und was doch' einmal gemacht werden muß, so darf man Wohl diesen
vier Büchern einen schönen Erfolg voraussagen.
An einer guten Sammlung von Vaterlandsliedern hat es uns bisher
vollständig gefehlt. Für Schulzwecke erschien vor ein paar Jahren eine, in
der Hauptsache aus den Dichtern der Freiheitskriege ausgewählt, um den Be¬
stimmungen gewisser Schulordnungen, die eine halbjährige Beschäftigung mit
diesen Dichtern im deutschen Unterricht anordnen, entgegenzukommen. Andre
Sammlungen sind aus den dichterischen Erzeugnissen der Jahre 1870 und
1871 versucht worden, wieder für Schulzwecke, um an Patriotischen Schulfesten
«Sedantag) zum Singen und Deklamiren Stoff und Auswahl zu bieten. Mit
solchen Büchern hat das vorliegende, in jahrelangem, liebevollem Sammeln von
Ednard Heyck in Stuttgart zusanunengebrachte nichts zu thun. Es hat einen
weit größer» Rahmen und einen viel allgemeinern Zweck. Der Titel „Vater¬
landslieder" ist nur gewählt worden, um dem Buche einen kurzen, bequemen
Namen zu geben. Deutlicher sagt schon der Untertitel, was es enthält: „die Dich¬
tung der deutschen Träume und Kämpfe deS neunzehnten Jahrhunderts," und noch
deutlicher spricht sich der Herausgeber im Vorwort über seine Absichten ans. Am
wenigsten — sagt er — war eine patriotische Liederharfe oder auch ein Buch
mit einseitiger Tendenz beabsichtigt. Vielmehr ist aus einer Anzahl objektiver
Gesichtspunkte eine Auswahl von Gedichten nationalen oder politischen Inhalts
hervorgegangen, die natürlich von selbst auch einen historischen Charakter trägt.
Aber durchaus nicht etwa als eine poetische Begleitung der deutscheu Ge¬
schichte im neunzehnten Jahrhundert. Diese ist ja zu dem großen Wende¬
punkte von l«7«> auf ganz andern Wegen gelangt, als wie sie der laute Ton
der öffentlichen Meinung eingeschlagen wissen wollte, und gerade die allge¬
meinen Wünsche sind ja, außer in den Kammerreden, Zeitungen u. f. w,, in
ihrer aufrichtigsten und herzlichsten Form in den eigentlichen politischen Zeit-
gedichteu niedergelegt worden. Aus deren erdrückender Fülle sind gerade so
viele für dieses Buch der Vergessenheit entrückt worden, daß die Abwege der
öffentlichen Meinung hie und da nebenbei erkannt werden können. Im übrigen
ist natürlich das Material, das gegen sie zeugt, möglichst beiseite geschoben,
»ut mit mehr Anteil und Liebe das, was ihr Ehre macht, gesammelt und
festgehalten worden. Verteilt sind die etwa l!70 Stücke der Sammlung unter
folgenden sechs Abteilungen: Napoleonische Zeit und Befreiungskriege — Von
der Kriegszeit bis zum Jahre 1840 — Drang- und Sturmjahre — Die Jahre
der Ermattung lind der Kriegsruf für Österreich 1859 — König Wilhelm
von Preußen — Der französische Krieg und das neue Reich.
Auch das Balladenbuch — der Herausgeber ist F. A. Krais in Stutt¬
gart, derselbe, dem wir die schöne Sammlung „Sang und Klang" verdanken —
darf man als einen Schuß ins Schwarze bezeichnen. Was es leistet und bietet,
wird einem wieder am besten zu Gemüte geführt, wenn man es mit den
mancherlei für Schnlzwecke vorhandnen Sammlungen vergleicht. Auch ein
genauer Kenner der deutschen Litteratur wird freudig erstaunt sein, wenn er
die Schätze sieht, die hier vor ihm ausgebreitet werden, und es wäre nicht zu
verwundern, ja nur zu wünschen, daß diese Sammlung auf unsre landläufigen
Schulsammlungen recht befruchtend einwirkte. Die Regung des Dankgefühls, die
»eben dem der Freude sich unwillkürlich alleu diesen Sammlungen gegenüber
einstellt, haben wir doch am stärksten diesem Balladenbuche gegenüber empfunden,
das so viel Schönes vereinigt, so viel Schönes anch aus Unbekannten oder
Wenigbekanntem, Vergessenen oder Halbvergessenem wieder zu Ehren gebracht
hat. Die Sammlung enthält mir Stücke, die in irgend einer Weise bedeutend
und charakteristisch sind. Nirgends hat man das Gefühl, daß etwa um der
leidigen Vollständigkeit Nullen ein Gedicht Aufnahme gefunden habe, damit der
"der jener anch in dem Buche „vertreten" sei. Mit feinem Sinne sind die
einzelnen Stücke nach wechselnden Gesichtspunkten geordnet und außerdem uuter
drei große Gruppen gebracht worden: Balladen und Romanzen — Stimmen
der Sage und der Geschichte — Poetische Erzählungen. Die ganze Sammlung
enthält etwa drittehalb hundert Stücke.
Etwas völlig neues bieten anch die Geistlichen Lieder. Ein derartiges
^etes hat es bisher unter der vornehmern Geschenklitteratnr nirgends gegeben.
Man müßte sich unter den eigentlichen Musikalien, den Notenheften umsehen,
wenn man etwas annähernd ähnliches finden wollte. Eine richtige Vorstellung
von dem Buche zu geben ist uicht ganz leicht: es ist kein Erbauungsbuch, kein
Gesangbuch, kein Choralbuch, keine Nu»ivÄ savrg,, es ist das alles zusammen,
und zwar in so schöner und im guten Sinne moderner äußerer Form, daß
unsre amtlich eingeführten Landesgesangbücher und unsre Erbauungslitteratur
nur davon lernen könnten. Ein zierlicher, schmaler Oktavband, die Texte in
schöner gotischer Schrift gedruckt, die Noten in saubersten typographischen
Druck hergestellt — wo hat je ein solches Buch auf dem Notenpult eines
Klaviers gelegen? Und hierfür, zur stillen, zugleich religiösen, zugleich künst¬
lerischen Erbauung des Einzelnen oder der Familie oder eines Freundeskreises,
ist es in erster Linie bestimmt. Wo eine größere Anzahl von Exemplaren
benutzt würde, könnte es aber anch dos Hanptübnngsbuch vou Kircheuchor-
gesangvereinen, Cäeilienvereinen u. dergl. werden. Auch diese Sammlung be¬
steht aus drittehalb hundert Stücken, die ungefähr in der Einteilung unsrer
Gesangbücher in 24 Abteilungen gebracht sind. Die meisten darunter sind
geistliche Lieder mit Choralmelvdien, doch stehen daneben auch kleine Hymnen
und Motetten, Oratoriennummcrn n. ahnt. Die Texte sind meist dem Tvnsatz
gegenübergedruckt, der Tonsatz links, rechts der Text. Nur bei „dnrchkompv-
nirten" Gesängen ist der Text unter die einzelnen Stimmen gedruckt. Die
Texte sind meist in ihrer ursprünglichen Fassung gegeben; wo eine Bearbeitung
nötig war, ist die Fassung des sächsischen oder des hannöverschen Gesangbuches
zu Grunde gelegt worden. Für die Tonsätze ist — wie die Herausgeber im
Vorworte bemerken — vor allem die grosse deutsche Choralzeit von Eccard bis
Bach benutzt, und anch für die Motetten, Lieder und Hymnen sind die Ton-
sätze dieser Zeit mit besondrer Absicht herangezogen worden. Die neuere Zeit
ist hauptsächlich durch Stücke vertreten, deren Volkstümlichkeit feststeht. Einige,
wie Beethovens „Bitten," sind natürlich ans den Chorsatz übertragen worden.
Im allgemeinen ist, so weit als möglich, anch bei den Kompositionen die Original¬
fassung zu Grunde gelegt worden. Die Namen der beiden Männer, die neben dem
dritten, jungen Mitarbeiter, Paul Stöbe in Leipzig, als Herausgeber genannt
sind, Konsistorialrat Heinrich Ahlfeld in Hannover und Professor Hermann
Kretzschmar in Leipzig, bürgen wohl dafür, daß nach allen Richtungen hin,
in Wahl und Fassung der Texte wie der Tonsätze, das Richtige getroffen
worden ist. An litterarischen Nachweisen fehlt es dieser Sammlung so wenig
wie den beiden erstgenannten.
Endlich der Zitatenschatz. Bei diesem Buche wird der Leser fragen: Wird
es nicht selbst von dem oben erhobenen Vorwürfe getroffen, eine überflüssige
Nachahmung zu sein? Was will es neben Büchmanns allbekannten „Geflügelten
Worten"? Der Herausgeber, Dr. Hans Nehry in Leipzig, beantwortet diese
Frage im Vorwort. Das Buch — sagt er — steckt seine Grenzen weiter als
das von Büchmann, es beschränkt sich nicht auf die sogenannten „geflügelten
Worte." In den deutschen und den ausländischen 5!lassikeru, die die Grundlage
unsrer litterarischen Bildung ausmachen, ist eine Fülle von Ansprüchen, die,
einmal gelesen, sich mit ihrem Gedankeniuhalte dein Gedächtnis oft wieder auf¬
dränge», ohne doch i» ihrem ursprünglichen Wortlaute sofort wiedererzeugt
werden zu können. Durch die Aufnahme auch solcher Aussprüche hat das Buch
einen wesentlich andern Charakter gelvoinien als Büchmauus Buch. Es enthält,
kann man sagen, den ganzen Büchmann mit, aber es enthält außerdem mehr
als noch einmal soviel. Daß es dabei an äußerm Umfang das Buch Büch-
manns nicht tibersteigt, ist eine Folge seiner höchst zweckmäßigen Einrichtung.
Bei Büchmann muß man jedes Zitat zweimal aufschlage», zuerst im nlphnbe
lischen Inhaltsverzeichnis, dann im Buche selbst an der Stelle, ans die das
Verzeichnis verweist; und dort muß mau sichs aus dem „verbindenden Text,"
an dem Büchmann die einzelnen Zitate aufgereiht hat, der ihm gewiß viel
Mühe gekostet hat und der doch eigentlich unnötig ist, herauslesen und hernns-
löseu. In Nehrhs „Zitateuschcitz" sind alle Aussprüche streng alphabetisch ge¬
ordnet, der Nachweis des Ursprungs, Parallelstellen und sonstige Erläuterungen
lind Zusätze mit kleiner Schrift daruntergedruckt. Bei Aussprüchen, die in
ihrer landläufige«! Fassung schwankem, die möglicherweise unter verschiednen
Stichwörtern gesucht werden könnten, ist durch mehrmalige Aufnahme dafür
gesorgt, daß sie leicht und schnell »ud unbedingt gefunden werden müssen.
Alle vier Bücher, oder sagen wir alle sechs, um auch der beiden ältern
nochmals zu gedenken, sind echte, rechte Bücher für das deutsche Haus und
die deutsche Familie, gediegen dnrch und durch, im Innern wie im Äußern.
Die „Vaterlandslieder," das „Balladenbuch" und deu „Zitatenschatz" mag sich
aber vor allem auch die Schule warm empfohlen sein lassen, es sind Prnmien-
bücher ersten Ranges, die „Geistlichen Lieder" eines der schönsten Geschenkbücher
für Konfirmanden, die im Elternhause eine gute musikalische Ausbildung ge¬
nossen haben.
s war Ende Juli 1887. Im Blockhaus C. war nichts zu
thun, seit Wochen nicht eine Spur von Räubern oder Schmugg¬
lern, die drückende Hitze und die Trockenheit des Bodens er¬
schwerten die Patrouilleugäuge der Mannschaft im felsigen Ge¬
lände; mein Kamerad saß über seinen Vorbereitungsarbeiten zur
Kriegsschule und war deshalb den ganzen Tag nicht zu sprechen, und ich war
krank. Gott weiß, wo ich mir das hartnäckige Wechselfieber geholt hatte, zu
dem sich ein Kopfschmerz gesellte, der mich mit mathematischer Regelmäßigkeit
von neun Uhr bis Mittag ans Bett fesselte und so matt machte, daß ich nicht
einmal die gewohnten Pürschgange unternehmen konnte. Vom Chinin war
ich beinahe taub, vom Arsenik ganz appetitlos geworden, mit Sehnsucht sah
ich der Ankunft unsers Arztes entgegen, dein ich ausführlich über meinen Zustand
berichtet und den ich um schleunige Hilfe gebeten hatte. Im Zimmer war es
schon seit fünf Uhr früh nicht auszuhalten, die Hitze und die Fliegen verscheuchten
den Schlaf, schon stellten sich die Vorboten des Fieberanfalles ein. Ich ließ
mein Bett hinaustragen, lagerte mich im Schatten einer riesigen Fichte, und
vertieft in einen alten Schmöker, erwartete ich gefaßt meine Qualen, Da, als
ich die müden Augen erhebe und über die Umgebung schweife» lasse, erblicke
ich aus der laugen Thalwiese zwei Reiter, die sich in gestrecktem Galopp dem
Blvckhcmse nähern. Ein Blick durchs Glas belehrt mich, daß es keine Türken
sind; bald unterscheide ich Uniformen, europäisch gesattelte Pferde, es fehlen
aber die schwarz-gelben Binden des Streifkorps, es muß also entweder eine
Inspektion oder der heißersehnte Doktor sein. Und er war es wirklich! Voran
die vier Hunde, seine steten Begleiter, die mich auf ihre Art begrüßten, dann
er selbst auf seiner kleinen feurigen Halbblutstute, die wegen ihrer unliebens-
würdigen Charaktereigenschaften am Korton nnter dein Namen „Krawallfanny"
bekannt war; dann der wackere Bursche Jstwan, die Perle aller Osfiziers-
bnrschen. Mit einer Flasche in der Hand trat der Doktor zu mir heran und
trank mir lustig zu. „Mensch, rief ich, ich kann nicht, die Anfälle werden
dann noch heftiger!" — „Nur keine Faxen, mein Lieber, Alkohol ist auch ein
Medikament." Damit nahm er an meinem Schmerzenslngcr Platz, untersuchte
mich sorgfältig und sagte schließlich: „Deinen Brief habe ich richtig erhalten,
ein kostbares Aktenstück zur Krankheitsgeschichte eines Melancholikers, und
nachdem ich meine Wissenschaft zu Rate gezogen habe, habe ich ein treffliches,
anch für dich wirksames Heilmittel ersonnen, das, nicht so bitter wie Chinin,
nicht so widerwärtig wie Arsenik, dir doch gute Dienste leisten wird. Ich
habe mit unserm Alten ^respektswidrige Benennung für unsern Bataillons-
kommandanten^ Rücksprache genommen und bringe dir einen fünftägigen Ur¬
laub, den ich auch mir unter dem Vorwande, meine Handelskenntnisse zu er¬
weitern, erwirkt habe, wir wollen jagen, ohne Plan und Ziel umherstreifen,
bei Waldnachtquartiereu und bei selbstbereiteter Küche wollen wir fröhlich leben
und ans diese Weise das verwünschte Fieber verjagen." „Wenns nur was
nützen wollte," stöhnte ich trübselig, „ich wäre gern von der Partie, aber hente
hilf mir erst um alles in der Welt." , Der Anfall war da, der Doktor nahm
aus seiner Diensttasche ein Flnschchen, mit dessen Inhalt er meine Stirn ein¬
rieb, was mir Erleichterung verschaffte, dann plauderte er weiter und nötigte
mich dabei zum Weintrinken. „Was meinst du, wie wäre es, wenn wir nach
Montenegro durchgingen? Den Dormitor hat noch keiner bestiegen, vielleicht
ein paar zerlumpte Ziegenhirten ausgenommen, ich möchte die Bande einmal
in ihren Nestern aufsuchen, um mit ihnen zu plaudern, vor allem aber möchte
ich deu Dormitor besteigen." „Hast du einen Paß?" „Keine Spur, den alten
Lump von Kommandanten der nächsten Station, wo die Qnasitruppen der
Montenegriner liegen, kenne ich genau, er ist much schon bei mir gewesen, hat
mir Arznei und sonst allerlei abgeschwindelt, ich bin ihm einen Gegenbesuch
schuldig, und dn gehen wir eben zusammen." Ich hatte noch allerhand Be¬
denken, erst vor vier Wochen hatte ich einen Montenegriner, der sich ohne
Paß auf unser Gebiet gewagt hatte, nnter Eskorte bis zur Grenze schaffen
und ihm dort einen Tritt geben lassen, was mir bei jenein Hauptmann keine
günstige Meinung verschafft haben konnte; aber der Doktor beruhigte mich
darüber. „Du kommst als mein Freund zu ihm, wir sind seine Gäste, und
bei diesen Leuten ist die Gastfreundschaft unverletzlich, da geschieht dir nichts.
Schicke »ur nach dem Stanko." Stnnkv war unser „Konfioent"; im Jahre
1878 noch Räuber, kurz nachher wohlbesoldeter Pandur, diente er uns als
Spion, was uns bei seiner weitverzweigten Verwandtschaft in den Schwarzen
Bergen sehr zu statten kam. Sein Monatslohn und vor allein die erhaltene
Auszeichnung machten ihn zu einem zuverlässigen Diener. Für einen Dukaten
setzte er bereitwillig sein Leben aufs Spiel, um uns sichere Nachrichten von
drüben zu bringen. Bald erschien er auch auf unsern Ruf, der Doktor teilte
ihm seinen Plan mit, ein paar Gläser Wein und vor allem ein Silberguldeu
bestimmten ihn zum sofortigen Aufbruch, da er eine mündliche Botschaft, daß
wir als Gäste in anderthalb Tagen in Dolanjak zu erscheinen gedächten, über¬
bringen sollte.
Ich weiß nicht, war es die Erregung, in die mich der Plan meines
Freundes versetzte, oder war es seine Arznei, der Anfall, der sich so bösartig
angekündigt hatte, verschwand nach schwachem Rückzugsgeplänkel. Auch war
es Zeit, an unsre Ausrüstung zu denken, wir wollten drei Reitpferde und ein
Tragtier mitnehmen, dem letztern wurden die notwendigen Lagerdecken aufge¬
laden, außerdem Proviant, Kochgerätschaften und Sonstiges, besonders des
Doktors Reiseapotheke, da er als fahrender Doktor Eisenbart seinen Einzug in
Montenegro halten wollte. Um zwei Uhr brachen wir auf, und bald nahm
uns der Wald in seinen Schatten auf. Voran unsre beiden Diener, notdürftig
als Einheimische verkleidet, dann wir in Zivil, da Uniform zu tragen in
Feindesland uns nicht ratsam schien; den Schluß bildete ein Soldat mit dem
Tragtier, das an der Landesgrenze entlassen werden sollte. Der Doktor war
von ausgelassener Lustigkeit, freute sich auf die ausgiebige Gemsjagd und ganz
besonders darauf, daß er und kein Engländer zuerst die jungfräuliche Spitze
des Dvrmitors besteigen würde. „Ich werde ganz oben, wie einst Kiselcick,
unsre Namen meterhoch mit schwarzer Farbe anmaleu, ich sehe schon das saure
Gesicht des spleenigen Engländers, der sich zuerst auf diese Spitze verirrt und
schon einen Vorgänger findet. In einem Zukunftsbädeker, wenn erst auf dem
Dormitor N'g.n68 uütsls mit befrackten Kellnern, meterlangen Rechnungen,
Zahnradbahnen und Ballonstationen die Luft unsicher machen werden, follen
unsre Namen prangen; was Wilkinson nicht gelungen ist, müssen wir fertig
bringen. Die 3400 Meter müssen überwunden werden, und sollten wir ohne
Sohlen herunterkommen." Nach dreistündigem Steigen brachten uns unsre
kleinen einheimischen Pferdchen an den Grenzbach, der beinahe 600 Meter
unterhalb der bewaldeten Hochebene, auf der wir standen, sich hiuschlängelte,
und hinter dem sich, gleich einer chinesischen Mauer, die steilen Felswände
Montenegros erhoben.
Wir überließen den Dienern die Herrichtung der Lagerplätze, ich nahm
mein Skizzenbuch, um einiges aufzunehmen, der Doktor pfiff seinen Hunden,
nahm die Büchse und verschwand mit dem verheißungsvoller Rufe: „Ich bringe
dir sicher Backhähndl!" im nahen Walde. Nach zwei Stunden kam er, be¬
laden mit drei Haselhühnern und zwei Holztauben; auch zwei Hornvipern, die
er wie Gott Äskulap um einen Stock gewunden über seinem Haupte schwang,
gehörten zu seiner Beute. Er warf mir das Wild zu und machte sich alsbald
daran, die beiden Bestien in seiner umflochtenen Spiritusflasche zu verwahren.
Mein Freund sammelt nämlich alles, nur kein Geld.
Doktors Jstwan bereitete in kurzer Frist vorzügliche Backhähndl, die uns
nebst Thee an dem kühlen Abend in einer Höhe von 1800 Fuß ganz herrlich
mundeten. Wir streckten uns in der aus Zweigen rasch errichteten Hütte aufs
Lager, vor uns loderte klafterhoch das Wachtfeuer, der Doktor forderte seinen
Jstwan auf, die Geige zu ergreifen und uns auszuspielen, und eingewickelt in
unsre Decken lauschten wir den wundersamen Weisen, die er den Saiten zu
entlocken wußte. Jstwan war ein Universalgenie, Huzule von Geburt, diente
er schon das elfte Jahr, um, wie er sagte, sich Wagen und Pferde zusammen¬
zusparen; er war zugleich vorzüglicher Koch und leidenschaftlicher Jäger, des
Doktors Faktotum und Kanrmermusikus. Der Naturkünstler entfaltete vor uns
seineu gauzen Reichtum an slawischen, ungarischen und böhmischen Liedern,
denen wir, in die prasselnden Flammen blickend, andächtig lauschten; zuletzt
noch ein Händedruck und ich schlief ein, da ich nach Mitternacht zwei Stunden
für die Sicherheit unsers Lagers und Feuers wachen mußte.
Der Leser kennt die Wohlthat einer Lagerdecke nicht, noch dazu bei einem
Nachtquartier im Freien. Aus einem großen Stück Kautschukleinwand bestehend,
wird sie um den Körper gewickelt, um vor Bodennässe und Regen zu schützen,
darüber kommt ein „Kotzen," der die Wärme hält, und den Sattel oder die
Faust unterm Kopf, schläft man so süß, wie auf Schwuugfedermatrccheu und
nnter Daunendecken nicht. Um zwei Uhr übergab ich die Wache dem Doktor,
der mich schon um vier Uhr mit dem Bedeuten weckte, es sei die höchste Zeit,
zur Jagd aufzubrechen. In einer halben Stunde waren wir marschbereit, nur
mein Diener und der nutgenommene Soldat blieben beim Lager zurück, Jstwan,
mit kurzem Karabiner bewaffnet, schritt mit den Hunden voran, und bald er¬
reichten wir einige Waldwiesen, wo wir uns der Verabredung gemäß auf¬
stellten, um uns Wild durch die Hunde und den Burschen zutreiben zu lassen.
Es war ein wunderbarer Sommermorgen; inmitten von hohem Gras und
Blüten, auf denen die Tautropfen hingen, gedeckt durch einen dicken Fichten-
stamm, lauschte ich dem freudigen Gebell der Hunde und dem Hol hol! des
treibenden Jstwan. In meiner nächsten Nähe sang eine Singdrofsel ihr
Morgenlied auf der Spitze einer jungen Fichte, der Waldzimmermann Specht
hämmerte lustig auf einem dürren Ast, immer lebendiger wurde es um mich
Miederhallend, ein Zeichen, daß die Jagd begann. Da, wie ich much umblicke,
sehe ich im nahen Farnkraut, das meterhoch zwischen den Stammen flau 5,
sich etwas bewegen, es sind keine Nehläufe - noch einen Augenblick, und der
.Hammeldieb, der Kompagnon unsrer Nachbarn aus Ezernagora, ein Wolf,
zeigt mir ahnungslos seine Breitseite. Ein Ruck — ein Knall — em knurren ^-
die Kugel saß/und richtig wälzte sich ein starker, ausgewachsener Wolf in
seinem Blute. Ich hatte kaum Zeit, die leere Patrone zu ersetzen alö mich
ein Schuß in der Tiefe belehrte, daß noch nicht alles aus dem Trnebe fort sei;
lustiges Nundegebell ließ sich hören, wahrscheinlich war em Stuck krank-
geschossem und die blutlechzenden Bestien waren auf seiue Spur gekommen.
Bald steht ein stattlicher Rehbock vor mir, nur mühsam steh schleppeiid, ein
Gnadenschuß auf dreißig Schritt Entfernung, und auch er lag auf der Strecke.
O die böhmischen Jagden, die werde ich einmal schmerzlich vermium! Unter
türkischer Regierung wurde so gut wie gar nicht gejagt die waffenbesttzenden
Beys machten höchstens Treibjagden ans Wölfe und Wildschweine, deren es
noch immer Unmassen giebt, und da das Genießen eines geschossenen Bieres
durch Koranvorschriften verboten war, blieben Hasen, Rehe und Steinhühner
so gut wie verschont. Unter österreichischer Regierung ist die ^ägt den Offi¬
zieren, Beamten und sonstigen, gut augeschriebcneu Personen freigestellt, durch
Lösung einer Jagdkarte, die hier 2 Gulden 50 Kreuzer kostet, erhält man das
Recht, überall zu jagen. Ob dies freilich zum Vorteil des Wildstandes ist.
darüber läßt sich streiten, für Liebhaber von Gemsjagden bieten die Grenz¬
marken Bosniens und der Herzegowina ein reiches und müheloses ^elo.
Die Sumpfjagden in der Narcntaniederung finden wohl nirgends ihres¬
gleichen. . .
^
Nachdem wir uns auf meinem Standplatz wieder zusammengefunden hatten,
zngte sich, daß die Beute sehr ausgiebig war. Zu meinem Wolf gesellte sich
des Doktors Fuchs und der Rehbock, den Jstwau sür sich beanspruchte. H-rohen
Mutes traten wir den Rückweg an, dn der Verabredung gemäß unser Staicko,
den wir uach Montenegro geschickt hatten, gegen Mittag eintreffen sollte, ^es
war besonders heiterer Stimmung. denn sonderbar genug: es war elf Uhr vor¬
über, und uoch war der tägliche Fieberanfall nicht erschienen; ich verspürte
deutlich die Wirkung der neuen Medizin, das angewandte Mittel war besser
"is Chinin und Arenik.
^...^Dein Mittagessen folgte eine längere Ruhe, bis gegen vier Uhr der Doktor
um Fernrohr ergreifend nur verkündigte, daß auf dem schmalen Felssteg drüben
"> Montenegro'zwei Gestalten sichtbar wären, in denen er unser Kvufidenten
und unsern zukünftigen Gastfreund vermutete. Und so war es auch; uach etwa
einer halben Stunde erschien unser Gastfreund, vom Doktor herzlich begrüßt
und hoch erfrent über den angekündigten Besuch. Er war eine stattliche Er¬
scheinung, ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, von scharfen, aber edeln
Gesichtszügen. mit langem, schwarzem Schnurbart; den Kopf bedeckte die monte¬
negrinische Xg.M (eine'niedrige, runde Mütze, der Deckel rot mit einem goldnen
Stern, um den halbmondförmig goldne Streifen laufen, der Rand der Mütze
aus schwarzer Seide oder aus Lammfell.") Die Brust bedeckte ein roter, reich
mit Gold verzierter I)Wi7in<la,n (Weste), über diesen ein lauger, weißer, faltiger
6ni^ (Rock), der vorn offen und über den eine ärmellose Jacke, der .lolcilc,
gezogen war, aus dunkelrotem Tuch und mit einer Unmasse goldner Knöpfe
und Kettchen und panzerartig anliegenden getriebenen Goldvlättchen verziert.
Um den Leib schlang sich ein roter, wassenbespickter Kollin (Gurt), in dem
wunderbar mit Gold und Silber beschlagene Pistolen und der einst so furcht¬
bare Handjar steckten. Reich gefaltete dunkelblaue Tuchhosen und hohe weiße
mit unzähligen Hefteln geschlossene "lolcoleniM (Gamaschen) vervollständigten
das ebenso reiche wie malerische Kostüm.
Nach kurzer Besprechung brachen wir auf, nachdem wir den Soldaten
und das Tragtier heimgeschickt und unsre Reitpferde mit den nötigsten Sachen
bepackt hatten, denn es galt noch heute den Wohnsitz unsers Freundes zu
erreichen.
Auf schmalen Wegen, durch Abhänge, hart am Abgrunde ging es hin,
der nackte Karst, spärlich mit Wachholderbüschen und Krummholz bewachsen,
machte deu Marsch sehr beschwerlich. Hie und da kam eine aus Reisig ge¬
flochtene Hütte, als einziger Zeuge, daß hier Menschen hausten. Gegen elf Uhr
nachts bei tiefer Dunkelheit, die uur die Luchsnugeu eines Montenegriners zu
durchdringen vermögen, erreichten wir endlich Dolaujak, eine Ortschaft von
etwa dreißig Hütten, in der unser Freund die wichtige Stellung eines Lucia«
(Richter) innehatte.
Die Beschreibung eines montenegrinischen Hauses darf ich dem Leser doch
nicht vorenthalten, ich gebe sie um so lieber, als mir jenes Haus wohl lauge
noch im Gedächtnis bleiben wird. Der A-ur (Wohnsitz) unsers Freundes
bestand aus einer Holzhütte, die blockhausartig aus starken Balken gebaut,
mit breiten Schindern gedeckt und mit einer längs des ganzen Hauses hin¬
laufenden Veranda Versehen war. Zwei durch einen Gang getrennte Zimmer,
wovon das zur rechten Hand als Gastzimmer, das zur linken als Wohnraum
benutzt wurde, bildeten die gesamten Räumlichkeiten. Aus Haus lehnten sich
die Vieh- und Pferdestallungen und ein langer Schuppen, worin sich Schafe
und Ziegen befanden. Vor der Thür erwarteten uns drei saubere, wei߬
gekleidete Frauen, eine ältere wurde uns als die Gemahlin des Hausherrn,
die zweite als seiue ?c>808drin!i, die dritte, ein etwa dreizehnjähriges Mädchen,
als die Tochter des Hauses vorgestellt. Nach alter Sitte beeilten sich alle
drei, unsre Hände zu küssen, was von uns, ebenfalls nach allein montenegri¬
nischen Brauch, durch einen Kuß auf die Stiru erwiedert wurde. Man führte
uns nun in das Gastzimmer, wo uus aus einer Ecke, in der ein Greis in
Decken vergraben lag, ein Gruß Kost Knvi — An>A lcuvi (ein Gast im Hause —
Gott im Hause) entgegeuschvll, der mit einem slltva. sog'u (Gott sei gelobt) er¬
wiedert wurde. Das Zimmer war etwa zwanzig Quadratmeter groß, mit zwei
Glasfenstern versehen, in der Mitte brannte auf einigen Backsteinen, die den
Herd vertraten, ein Feuer, das zugleich die Beleuchtung schaffte, über dein
Herd hing an einer rußigen Kette ein kleiner Kessel. Der Rauch suchte sich-
seinen Ausweg durch das offene Dach und durch das schon erwähnte offene
Fenster. Längs der Wände waren etwas abschüssige, mit weißen, zottigen
Decken belegte breite Bänke angebracht, die zugleich Bett und Sofa vertraten,
an der einen Wand, auf einem wunderbaren türkischen Teppich, sür den ein
Kenner wohl gern 200 Gulden gegeben hätte, hing das ganze Arsenal unsers
Gastfreundes, mich seine Kriegstrophäen. Herrliche, reich mit Silber und Gold
beschlagene Steiuschloßgcwehre und Pistolen, silberne getriebene Patrontaschen,
HandjarS und Jatagmis mit Edelsteinen ausgelegt, einige Sattel echt türkischer
ckbstammung, einige moderne Gewehre, türkische Säbel und Brustbeschläge —
das alles zeugte vou dem Reichtum des Hauses und von dein Kriegsglück des
Hausherrn. Wir nahmen auf dem Sofa Platz, ich neben dem Großvater,
der infolge einer Schußwunde aus dein Feldzuge kaum gehen konnte, dann
der Doktor, der den Löwenanteil der Unterhaltung ans sich »ahn, neben ihm
unser Gastfreund.
^ Bald kreiste ein Becher leichten montenegrinischen Landweins, und die
Frauen trugen das Essen in einer großen Zinnschnssel iMisla) auf; es be¬
stand aus gebratenem Hanuuelsleisch und „Fleischbitta" (einer Art Fleischpuddiug),
alles war in Öl zubereitet und mundete uns nach dem langen Marsche, trotz
des etwas fremdartigen Geruches, recht gut. Wir mußten uns unsrer
eignen Eßbestecke bedienen, die übrige männliche Gesellschaft langte mit Natnr-
gabeln zu, während die Frauen, stumm und ohne sich zu setzen, uns bedienten.
^ ^egen Mitternacht hörten wir plötzlich Schüsse und lustiges Lachen und
^ufm vor dem Hause, ein Zug vou fünf Personen, hoch zu Roß, hielt vor
^ er Thür. „Es ist meine älteste Tochter Sorka sSopW, die mit ihren Brüdern
Eetinje kommt." Bald war das junge Wesen mitten unter uns, küßte
Großvater und Eltern herzlich, machte uns einen Schulgerechtem Knicks und
verschwand dann in dem andern Zimmer. Als sie nach ungefähr zehn Minuten
<^'ückkam, konnte ich mein Erstaunen nicht verbergen, so sehr stach ihre ganze
Erscheinung von der Umgebung ab. Ein enganliegendes, braunes Kattunkleid
"ut schwarzer Schärpe, schwarze Glasperlen um den Hals, an denen eine Gold¬
münze befestigt war, europäisch frisirte Haare und richtige Stiefelchen bildeten
einen seltsamen Gegensatz zu der Tracht ihrer Angehörigen. Lächelnd übergab sie
"-em Bater ein großes, mit amtlichen Siegel versehenes Schreiben, das er nach
einem flüchtigen Blicke dem Doktor, der Russisch verstand, übergab; erst jetzt
erfuhr ich, daß das Mädchen eine gebildete Dame, eine Pensionärin des
ehrennnensencinars in Cetinje war. Da las nun der Doktor lauter ausge-
aeuhne^ Zensuren im Französischen, Russischen und im Klavierspiel, Natur-
^Ilenschaften, Pädagogik u. f. w., und zerfloß in Komplimenten gegen die
Achter des Hauses/ Ich aber dachte: Armes Wesen, wozu das alles, hast
em wimig aus der großen Schale der Kultur genippt, und das wird vielleicht
ven Unglück werden! Der Leser wird dies vielleicht mit Befremden hören
uno glauben, daß mich der Korton zu einem Feind aller Frauenbildung ge-
h"l>e. O nein, wenn sich irgendwo der Ausspruch, daß, je höher die
^Übung eines Volkes ist, desto höher auch' die Achtung deS weiblichen Geschlechts
e>, und umgekehrt, sich bewahrheitet, so ist dies im Orient der Fall. Hier,
uno besonders in Montenegro, scheut der Manu, mit Ausnahme des Kriegs-
^."d ^agdhandwerks, jede Beschäftigung als schimpflich, die ganze Wirtschaft,
v e ^earbettung des Feldes, die Besorgung des Hauses und der Kinder ruht
»us den Schultern des Weibes, das von den rohen Gesellen zum mindesten
mit einer gewissen Geringschätzung angesehen wird, und während für den Türken
die Frau eine Art Luxusgegenstand ist, muß sich das montenegrinische und
auch das serbische Weib vom Augenblicke der Heimführung für den arbeits¬
scheuen Manu abarbeiten. Die in Pensionaten künstlich beigebrachte Erziehung
und Bildung hat gewiß den Gedankenkreis des armen Wesens erweitert und
ihm gewisse Begriffe von der gesellschaftlichen Stellung des Weibes beigebracht —
welche Enttäuschungen harren ihrer, wenn sie diese im väterlichen Hause und
in ihrer Zukunft so wenig verwirklicht sieht! In Mvntenegro, wo nur Kriegs¬
glück und Mut den Mann machen, blickt ein Zurück (Held) mit einer Art
Verachtung auf sein Weib, als auf ein nur zur Arbeit bestimmtes Geschöpf,
sie naht sich ihm voll Demut, sie wagt es nicht, sich in seiner Gegenwart zu
setzen, mag auch der Mann seine Bildung, wie es viele junge Montenegriner
thun, in Paris oder in Petersburg erhalten haben, er bleibt aus Furcht, sich
lächerlich zu machen, bei dem alten Brauche, die Frau bleibt für ihn immer mir
die oberste Magd. Ich will damit nicht sagen, daß die Sittlichkeit darunter litte,
es giebt in Montenegro keine Halbwelt, wozu Wohl beitragen mag, daß die
Gesetze gegen den Ehebruch ungemein streng sind, und daß die Mißhandlung
einer Frau als etwas Schimpfliches angesehen wird. Die jungen, meist sehr
schönen Mädchen werden von zartester Jugend an daran gewöhnt, im Manne
den zukünftigen Gebieter zu sehen, und darauf vorbereitet, daß sie auf Familien-
verabrednng hin, ohne um ihren Willen gefragt zu werden, als Zugabe zu ein
Paar Ochsen und allerhand Hausgerät dem Manne übergeben werden. Sie
heiraten auch sehr jung, meist im vierzehnten oder fünfzehnten Lebensjahre,
und da ist es kein Wunder, daß ein dreißigjähriges Weib keine Spuren früherer
Schönheit aufzuweisen hat; auf solch ein abgemagertes, abgearbeitetes Geschöpf
würden Bezeichnungen wie das „schöne" oder „zarte" Geschlecht sehr wenig
passen. Noch vor vierzig Jahren gab es in Mvntenegro keine Schulen, erst
unter Danilo I., dem Vorgänger des jetzigen Fürsten, sind einige Schulen
errichtet worden, und uuter dem jetzigen Regenten Nikola, der seine Erziehung
in Paris, Wien und Triest erhalten hat und in fortwährendem Verkehr mit
Europa steht, hat das Schulwesen einen plötzlichen, beinahe unnatürlichen
Umschwung erfahren. Es wurden Volksschulen nach dem System der Wander¬
schulen errichtet, in größern Ortschaften allgemeine Schulpflicht eingeführt,
einheimische Lehrer und Geistliche bestellt, auch Pensionate errichtet. Im
Lehrerinnenpensivnat werden die zukünftigen Lehrerinnen auf Staatskosten ge¬
bildet, dorthin senden auch die Reichen ihre Töchter zur Ausbildung, auch Fürsten-
tochter hat man oft ans dein Wege zur Schule in lustiger Rauferei mit der
Straßenjugend gesehen. So wird sich der Leser leicht das Los der Tochter
unsers Wirtes vorstellen können; zu reich und zu hochmütig, um Lehrerin zu
werden, ohne Aussicht, sich auswärts zu verheiraten, wird sie binnen kurzem,
gleich ihrer Mutter und Großmutter, die Sklavin eines Mannes werden.
(Schluß folgt)
erhalten wir aus Magdeburg noch folgende Zu¬
schrift: Mit großem Interesse habe ich die Abhandlung .Unsre Reserveoffiziere"
in Ur. 48 der Grenzboten gelesen. Was die Redaktion nachträglich hinzufügt, ist
nur ganz ans der Seele geschrieben. Seit einigen Jahren sehe auch ich mit
Staunen, das veränderte Gebahren der Jugend und habe oft darüber nachge¬
dacht, bin aber zu dein entgegengesetzten Schlüsse gekommen. Nicht die Berufs¬
offiziere haben diese Unsitten in die Kreise der Reserveoffiziere eingeführt, fondern
umgekehrt die letztern in die Armee. Es ist eben nichts weiter als die unerträglich
alberne Korpsstndentensimpelei, wie sie hauptsächlich in Bonn und Heidelberg gro߬
gezogen und von andern Hochschulen nachgeahmt wird. Der Schreiber dieser Zeilen
ist ein älterer Offizier, der seit einigen Jahren mit Stannen das Umsichgreifen
dieses Komments unter den jüngern Kameraden beobachtet. Er fand ihn aber hanpt-
snchlich unter den jungen Juristen, die sich vorzugsweise aus Korpsstudenten er¬
gänzen. Glauben Sie mir, diese Lesart ist die richtige, nicht die Ihrige, denn
uoch vor zehn bis zwölf Jahren kannte man diese Dinge in der Armee nicht. Da
>vir im Grunde genommen in der Sache selbst eines Sinnes sind, so fühlte ich
'und zu diesen Zeilen veranlaßt. Möchten sie zur Klärung der Erscheinung bei¬
tragen!
Unter den zahlreichen litterarischen Neuigkeiten,
die der Redaktion dieser Blätter in den letzten Wochen zugegangen sind und deren
^esprechung je nach Zeit und Gelegenheit den Lesern geboten werden soll, befinden
>ich doch crus einige, auf die Nur schon heute kurz hinweisen mochten, weil manchem
damit noch ein willkommner Wink für den Weihnachtstisch gegeben werden könnte,
ennge dieser Bücher uns anch wohl nnr in der stillen Hoffnung zugesandt worden
und, daß wir noch vor dem Feste unsre Leser damit bekannt machen. Da wir
uns iMiz kurz fassen müssen , so bitten wir, auch zu wenigen empfehlenden Zeilen
icsmal das Vertrauen zu haben, das mau sonst einer eingehenderen Besprechung
in diesen Blättern zu schenken pflegt.
Die Grunowsche Verlagshandlung hat uns endlich eine schöne Ausgabe von
Schillers und Goethes Werken/gebracht; keine illustrirte — diese Kinder-
nmüheit unsrer Klassikeransstattnng haben wir wohl glücklich hinter uns —, sondern
Wirklich vornehm ausgestattete Textausgabe. Gutes Papier, schönes, schlankes
ttavforinat, eine charaktervolle Frakturschrift mit einem leisen altertümlichen Anhauch,
Wasse solide Einbände, nach Belieben einfach oder kostbar — das find die äußern
^vrzüge dieser Ausgaben. Es ist die volle Wahrheit, wenn man sagt, daß der-
^nges dem deutschen Volke uoch nicht geboten worden ist. Aber auch auf die
^xte jhe g-^^ Sorgfalt verwendet, namentlich was Orthographie und Inter¬
punktion betrifft, nach den verständigsten Grundsätzen Verfahren worden. Beide
-msgnben enthalten eine Auswahl, in dieser aber alles, was der Gebildete heut¬
zutage in seinem Schiller oder Goethe sucht. Der Preis ist nicht ganz niedrig
Groschenausgaben sind es nicht! —, aber bei dem wachsenden Wohlstand und
°°es wohl auch Geschmack unsers Volkes sollte man meinen, daß wir uns endlich
Wunden" elenden Löschpapier- und Kalikoansgaben unsrer Klassiker losmachen
Der Seemannsche Verlag giebt seit einiger Zeit eine Reihe höchst zweckmäßiger
„Kunsthcmdbücher" heraus, mit deren Besprechung wir leider noch im Rückstände
sind. Einige davon sind zwar ausschließlich für den Künstler, den Techniker und
den GeWerken bestimmt, andre aber, wie das Handbuch der Ornamentik
von Franz Sales Meyer, das Buch von August von Heyden über die
Tracht der europäischen Kulturvölker, auch für weitere, ja für weiteste Kreise.
Und dieser letzten Gruppe hat sich soeben ein Buch angeschlossen, das von Tausenden
mit offnen Armen empfangen werden wird, namentlich von der Frauenwelt, für
die es auch, wenn anch nicht ausschließlich, berechnet ist! ein Handbuch der
Liebhnberkünste, wiederum herausgegeben von F. S. Meyer, Professor an der
Kinnstgewerbeschule in Karlsruhe. Dieses reich illustrirte Buch enthält — und zwar
uicht lediglich in trocken lehrhaften Tone, sondern am rechten Orte auch in lau¬
niger Darstellung, wovon gleich der Zusatz auf dem Titel: „Zum Gebrauche für
alle, die einen Vorteil davon zu haben glauben" eine Probe giebt - - alles Wissens¬
und Wünschenswerte über die Technik und die Gerätschaften aller jener Künste, die
am häuslichen Herde von Liebhabern (Dilettanten) geübt werden (Nauchbilder,
Holzbrandtechnik, Seidenmalerei, Thonmalerei, Porzellanmalerei, Glasmalerei, Holz¬
malerei, Laubsägearbeit, Lederplastik, Pflanzeupressung, Spritzarbeit u. s. w.), dazu
eine Sammlung von Zierschriften, Initialen, Monogramme», eine reiche Sammlung
von Sprüchen, wie sie sich zu Inschriften an allem erdenklichen Hausrat eignen,
endlich auch eine Fülle von Rezepten. Hoffentlich reicht diese Andeutung für
diesmal hin, dem Leser eine Vorstellung von dem reichhaltigem Buche zu geben.
Allen, die Lust und Anlage zu dergleichen Beschäftigung haben, wird man mit
dem Buche große Freude machen.
Ein prächtiges Bilderwerk hat der Verlag von Wiskott in Breslau gebracht:
Spreeathener. Berliner Bilder von C. W. Alters: in schmucker Mappe
dreißig Lichtdrucke nach Bleistiftzeichnungen, die sämtlich Bilder und Gestalten ans
dem Berliner Volksleben, von der Straße wie aus dem Hause, vorführen. Da
aber das deutsche Großstadtleben heute wohl fast liberall dieselben oder sehr ähn¬
liche Typen zeigt, so werde» diese Darstellungen auch überall, wo offner Sinn und
offnes Auge für dergleichen vorhanden ist, dankbare Betrachter finden. Der
Künstler hat die mannichfnltigslen Gestalten und Szenen des großstädtischen Volks¬
lebens, rührende und drollige, fein beobachtet, lebendig aufgefaßt und mit erstaun¬
licher Treue, die oft an die Wahrheit Photographischer Augenblicksaufnahmen streift,
wiedergegeben. Auch diese Mappe wird überall großes Vergnügen bereiten.
Endlich für heute noch ein paar Bilderbücher für die Kleine». Das eine
nennt sich Kinderreime (Stuttgart, Schmidt u. Spring), das andre Des Kindes
Wunderhorn (Breslau, Wiskott). Wir wisse» »icht, welchem von beiden wir
den Vorzug geben sollen, es ist eins so gut und so hübsch wie das andre. Beide
enthalten keine gemachten Kinderverse Z, 1» Blüthgen, sondern die echten, alten
Kinderverse der Volkspoesie, die unsre neumodischen Mütter leider nicht mehr alle
kennen, und beide sind allerliebst illustrirt, das erste von Claudius und Klimsch,
das zweite von Flinzer. Der Leser merke sich aber gefälligst die Titel und die
Verleger beider Bücher, denn beide gehören nicht zu der gewöhnlichen Fabrikware,
die man um die Weihnachtszeit auf der Ladentafel des Sortimenters findet, son¬
dern sie müssen möglicherweise erst bestellt und verschrieben werden!
us Rio de Janeiro sind weitere Mitteilungen über den Verlauf
der dortigen Revolution eingetroffen, die unsre ersten Nach¬
richten über das Ereignis teils ergänzen, teils berichtigen, und
die, da es hiernach in einem Hauptpunkte in anderm Lichte er-
^.scheint als in dein unsers frühern Aufsatzes, zu nochmaliger
^'tnichlmig der Sache auffordern. So lange wir auf die Telegramme be¬
schränkt waren, worin die provisorische Regierung den Hergang dem eurv-
pluschen Zeitungsleser bekannt machte, mußten wir glauben, die Veränderung
ver Regierung^form habe sich ohne oder doch beinahe ohne alle Anwendung
von Gewaltmitteln, so zu sagen in aller Güte, etwa wie die freiwillige Tren¬
nung von Ehegatten, vollzogen. Das Volk Brasiliens, so durfte» wirs uns
vorstellen, erhob sich in seiner großen Mehrzahl, um die Republik auszurufen,
wobei es nur Spazierstöcke, vielleicht Regenschirme in der Hand hatte. Der
Kaiser wurde höflichst davon in Kenntnis gesetzt, er dachte nicht daran, sich
M sträuben, der abgedankte Monarch ließ sich mit einem guten Ruhegehalte
""finden und ging, nachdem sich beide Teile mit artigen Verbeugungen von
munter verabschiedet hatten, an Bord eines Schiffes, das ihn nach der alten
^>ete brachte. Der zwar ein wenig unregelmäßige, aber leicht und ohne Härten
Reh abspielende Auftritt endigte mit Blumenwerfen des Volkes und den Klängen
crier sanften Musik. Jetzt erfahren wir, daß die Geschichte doch wesentlich
anders verlaufen ist. Die Entthronung Petros II. war nicht die Folge einer
Volkserhebung, obwohl es allerdings in den ehemaligen Sklavenhaltern und
in den Republikanern Unzufriedene in großer Zahl gab; sie wurde vielmehr
durch eine Meuterei der Besatzung Rios herbeigeführt Diese spielte nicht das
bloße Werkzeug, sondern die Hauptrolle bei dem Drama, ja fast die einzige
neben dem Kaiser. Dieser befand sich mit seiner Familie in Petropolis als der
Aufstand in Rio ausbrach. Am 15. November früh wurde er, von der Messe
zurückkehrend, durch ein Telegramm des Ministers Ouro Pretv davon be¬
nachrichtigt, ebenso von der Erklärung des Belagerungszustandes durch die
Leiter der Meuterei, die ihrer Artillerie befohlen hatten, die Stadt mit ge¬
ladenen Kanonen zu bedrohen. Dom Pedro begab sich infolge dessen sofort
in sein Schloß zu Rio, wo er von Truppen umringt wurde und ein Unter¬
leutnant ihm das Dekret überreichte, durch das der Marschall Deodoro da
Fonseca die Errichtung der Republik bekannt gemacht hatte. Der Kaiser beriet
sich darauf mit den Ministern und Staatsräten und versuchte ein neues Kabinet
zu bilden, an dessen Spitze der radikale Sciraiva stehen sollte. Der Marschall
da Fonseca aber erhob dagegen Einwendungen, indem er in einem Schreiben
an den Kaiser erklärte, der Umstand, daß die Republik ausgerufen worden sei,
gestatte den Aufenthalt des Monarchen und feiner Familie im Lande nicht
mehr. Das Schreiben klagt, daß das Ministerium vom 7. Juni „alle Gesetze
in beispielloser Weise verletzt und umgestoßen" habe, und sagt dann bezeich¬
nend! „Die systematischen Beleidigungen, die der Armee und der Flotte in
neuerer Zeit von der kaiserlichen Regierung zugefügt worden sind, bilden eine
hassenswerte Politik, was auch von der Nation empfunden worden ist. Die
Beseitigung der Rechte dieser beiden Klassen und die Einführung von Ele¬
menten amtlicher Unterdrückung, die stets von der liberalen Demokratie verab¬
scheut worden sind, veranlaßten die gestrigen Ereignisse, deren Bedeutung Sie
sicherlich begreifen werden. Das Verbleiben der kaiserlichen Familie in diesem
Lande würde nach der unwiderruflichen Revolution unvernünftig und unmöglich
sein, da es geeignet wäre, Unruhen hervorzurufen, die zu verhüten uns die
öffentliche Sicherheit zur notwendigen Pflicht macht. Wir sehen uns daher
genötigt, mit aller Achtung vor der Würde des öffentlichen Amtes, das zu
bekleiden Sie aufgehört haben, Ihnen kund zu thun, daß die provisorische
Regierung von Ihrer Vaterlandsliebe das Opfer erwartet, daß Sie mit Ihrem
Hause in möglichst kurzer Frist Brasilien verlassen. In dieser Hinsicht setzen
wir das höchste Maß an Zeit fest, das Sie — wir verlassen uns darauf -
nicht überschreiten werden." Dom Pedro beschloß nach einer Besprechung mit
seiner Umgebung abzureisen. In der Nacht aber wurde ihm von Major Tvm-
bolsci, der ihn und seine Familie mit einer Truppenabteilung in ihren Schlaf¬
gemächern bewachte, ein schriftlicher Befehl Fonsecas überbracht, angesichts dessen
er sich ohne allen weitern Verzug einschiffen sollte, da man seine Abreise erst
nach Tagesanbruch nicht gestatten könne, weil die Haltung der Studenten, die
eifrige Republikaner und jetzt großenteils bewaffnet seien, bei seiner Durchfahrt
durch die Straßen zu Blutvergießen führen würde. Der Kaiser und die
Kaiserin fuhren daher schon um drei Uhr morgens nach dein Quai, und seine
Tochter und deren Gemahl, der Prinz d'En, mußten den Weg dahin zu Fuße
antreten, wobei sie alle von Militär begleitet wurden. Trotz des stürmischen
Wetters fand die Einschiffung der Herrschaften ohne Aufschub statt. Eine
Dampfjacht brachte sie mich einem Kriegsschiffe, das sofort die Anker lichtete
und nach Ilha Grand abging. Am Bord wurden sie als Staatsgefangene
festgehalten, Ins sie an den Dampfer Alagoas abgegeben wurden, der nach
Lissabon in See stach, dabei aber von dem Panzerschiffe Niachuelo begleitet
wurde, das Befehl hatte, eine Wiederausschiffung des Kaisers in Bahn oder
anderswo an der brasilischen Küste zu verhindern. Erst aus dein Alagoas
empfing Dom Pedro das Dekret der provisorischen Regierung, durch das ihm
Weitergewährung seiner Zivilliste zugesichert wurde. Er nahm das Anerbieten
nicht an, er hat nicht abgedankt, er betrachtet sich einfach als durch Gewalt¬
haber vertrieben und hat erklärt, wenn man ihn auf den Thron zurückrufe, der
Aufforderung entsprechen zu wollen.
Das wären die Thatsachen, und nun ein paar Worte über deren Bedeu¬
tung. Soldaten und nur Soldaten umzingelten den kaiserlichen Palast in Rio.
schnitten den Verkehr zwischen diesen, und der Stadt ab. hielten den Monarchen
»ut seine Familie gefangen und begleiteten sie während ihrer erzwungenen
Abreise. Diese Ausschließlichkeit gestattet ohne Zweifel die Annahme, daß
Fonseca und seine Mitverschwornen wenigstens den Fall für möglich hielten,
daß das Volk dem Herrscher, der es fast ein halbes Jahrhundert regiert und
sich ehrlich bestrebt hatte, es glücklich zu machen, beim Scheiden seine Liebe
und Hochachtung erweisen, ja vielleicht mehr thun werde. Die Befürchtung
mich Angriffs übereifriger Republikaner auf den abziehenden Monarchen war
höchstwahrscheinlich bloßes Vorgeben Fonsecas. der Eile hatte, einen Neben¬
buhler mit Aussichten loszuwerden. Die republikanische Partei stand offenbar
"n Hintergründe, und es gab in Rio unstreitig ebensoviel Monarchisten. Nur
haben, wenn die bewaffnete Macht sichs belieben läßt, sich in Staatsangelegen¬
heiten zu mischen, die Bürger wenig Aussicht, die Oberhand zu behalten, mögen
sie auch mit sehr starken Sympathien auf der andern Seite stehen. Europa
hatte ferner nach dem Inhalte der ersten Kunde von der Umwälzung den
Eindruck, daß Dom Pedro sich den Verhältnissen ohne langes Besinnen und
Widerstreben gefügt habe. Nach deu neuern Berichten irrte man sich auch
hierin, es ist vielmehr klar, daß er nur starkem Drängen und Drohen und mir
nnter Versuche,,, sich mit einer neuen Regierung zu halten, und zuletzt unter
Wahrung seiner Thronrechte gewichen ist, und daß er in Lissabon seinen Ent¬
schluß kund gegeben hat. zurückzukehren, wenn man dies wünsche, was er nicht
gethan hätte, wenn er nicht mit einigem Grund gehofft hätte, dieser Wunsch
werde ihm bald von einer starken Partei ausgesprochen werden.
So hat denn die neueste Revolution unsers Jahrhunderts bis jetzt kein
endgiltiges Ergebnis gehabt, und es ist einfach nicht wahr, wenn die provi¬
sorische Regierung behauptet, an dem Bestände der Republik sei nicht mehr
zu zweifeln. Wir haben vielmehr alle möglichen Elemente zukünftiger Unruhe
und Erschütterung vor uns beisammen: nur ein kleiner Teil des Volkes, das
Militär, war es, das die Monarchie stürzte und die Republik ausrief; neben
den bürgerlichen Anhängern der letztern steht eine gewiß nicht kleine, besonders
unter der Kaufmannschaft und der besitzenden Klasse überhaupt stark vertretene
reaktionäre Partei, anf deren Ruf der Kaiser bereit ist, wieder zu erscheinen
und die Regierung von neuem anzutreten; dazu endlich die Wahrscheinlichkeiten,
die sich aus dem uustreitigeu Vorhandensein nebenbuhlerischer Generale ergeben,
die bereit sein werden, das Beispiel Fvnseeas in der Richtung gegen ihn nach¬
zuahmen und bei der ersten passenden Gelegenheit die Rolle eines Monk oder
eines Bonaparte zu spielen. Wir haben also Grund, Herrn Gladstones freu¬
digen Glückwunsch zu der friedlichen Entstehung Neubrasilieus als verfrüht
anzusehen. Es scheint ihm dabei wie 1862 ergangen zu sein, als er verkündigte,
Jefferson Davis, der jetzt verstorbene Präsident der Palmettorepublik, „habe
nicht bloß ein Heer und eine Kriegsflotte, sondern eine Nation geschaffen."
Man muß sich also hüten, wenn mau ein Staatsmann sein will, sich auf
Telegramme zu verlassen, namentlich wenn der Telegraph ausschließlich einer
Regierung zur Verfügung steht-
Es giebt verschiedne schlechte Grundlagen politischer Macht. Der Glaube
an den Herrscherberuf einer Familie oder einer Volks klaffe kann gefährlich
werden, wenn der Inhaber der Gewalt unmündig, von Wahnsinn verblendet
oder ein Schwachkopf ist. Das Vertrauen auf die Klugheit der großen Masse
aber, die in politischen Fragen stets ohne rechte Kenntnis der Dinge, ohne
richtiges Urteil über deren Ursachen und Folgen ist und sich durch Redens¬
arten leicht bethören läßt, hat zu allen Zeiten und uuter allen Umständen die
Völker in die Irre und zuletzt zu schrecklichen Katastrophen geführt. Doch
finden die beiden extremen Formen des Regierens, der Absolutismus und die
Demokratie, doch zuweilen dadurch eine Ausgleichung, daß ein großer Monarch
auf die Bühne tritt, oder daß sich hochsinnige Gedanken und Bestrebungen
reformirend, aufklärend, segenbringend und befreiend über das Land verbreiten.
Wo es dagegen zur Gewohnheit wird, daß die Führer der bewaffneten Macht
sich in die politischen Angelegenheiten mengen und dabei den Ausschlag geben,
ist es stets verhängnisvoll für das Gedeihen des betreffenden Staates gewesen.
Es führte allmählich zum Verderben des altrömischen Reiches, bis die Kaiser¬
würde zuletzt von den Prätorinnern versteigert und dem zugeschlagen wurde,
der das höchste Gebot that. Es machte in der Türkei die Janitscharen, in
Ägypten die Mamelucken zu Gebietern des Volkes und seiner Regenten. Es
demoralisirte in Spanien die Armee und die Politik aufs ärgste. Es ver¬
wandelte Mexiko und die kleinern Staaten des einst spanischen Amerikas in
Theater, auf denen sich unablässig bald blutige, bald lächerliche Meutereien
abspielten, die oft wahre Scheltsale, bisweilen auch wahre Karikaturen zu
Helden hatten. Man denke an den langjährigen Diktator Rosas in Argen¬
tinien lind an den Präsidenten Bcirrios in Guatemala, der vor einigen Jahren,
als kein Priester zur Stelle war, seinen Minister die Messe lesen und seine
Mätresse dabei nackt über dem Altar die heilige Jungfrau spielen ließ. Sehr
häufig waren diese Generale gemeine Egoisten, die lediglich, um die Staats¬
gelder in ihre Hand zu bringen, sich der Präsidentschaft bemächtigten, fast nie
aber waren sie begabte Männer. In der Regel befaßen sie nur dreiste Ent¬
schlossenheit und Gewissenlosigkeit in der Wahl ihrer Mittel. Denn es liegt
auf der Hand, daß in den meisten Fällen nicht der sich zum Führer einer Revo¬
lution aufwerfende General die besten Aussichten auf Erfolg hat, der dabei den
Ruf als großer Kriegsmann geltend machen kann, sondern der, der es am besten
versteht, sich durch Versprechungen und Bestechungen, Ränke und Schliche die
Herzen der Soldaten zu gewinnen. Gelegenheit dazu findet sich immer; er
kann sie mit allerlei Zusagen ködern für den Fall, daß sein Pronuneiamiento
gelingt: Verminderung ihrer Übungen und Dienstleistungen, Erhöhung ihres
Soldes und ihrer Nationen, Verleihung von Vorrechten und Beförderung zu
höhern Stellen. Sie folgen ihm dann, gleichviel, zu welchem politischen Zweck
er sich bekennt, ob er sich selbst oder einen andern, etwa einen Fürsten, ans
Ruder bringen, ob er eine Monarchie oder eine Republik errichten oder um¬
stürzen will. Der Bürger, namentlich die besitzende Klasse, hat unmittelbar
und mittelbar unter diesem Unwesen zu leiden. Denn die Kasernenpolitik be¬
ruht ans keinerlei Grundsätzen, sie kennt keinerlei andre Ideen als den Ge¬
horsam gegen den Führer, der sich ihn zu verschaffen weiß. Heute hält der
Marschall' Manuel Deodoro da Fonseca in Rio de Janeiro die Zügel der
Negierung in seiner meineidiger Hand. Im nächsten Monat oder im nächsten
Jahre kann ihn ein andrer General stürzen, indem er sich gleichen Verrates
'lud gleicher Werkzeuge bedient wie er, und dein zweiten Meuterer wird ein
dritter und ein vierter folgen, bis das Land durch die ewige Unsicherheit und
Unruhe, durch den Raub der Sieger, den steten Wechsel in der Verwaltung,
die Störung von Handel und Wandel so gründlich zerrüttet und verkommen
ist wie die meisten spanischen Republiken Amerikas, in denen sich dieses Un¬
wesen entwickelt hat — immer vorausgesetzt, daß die Erkenntnis des Schadens
sich nicht bald Bahn bricht und die Wiederherstellung der Monarchie herbei¬
führt. Das Volk wird, da es unbewaffnet ist, mit Einschluß der Republikaner,
gleichgiltig und regungslos zusehen, wie der Mnrschall abbaute oder erschossen
wird, und wie die Soldaten eine andre provisorische Negierung errichten oder
die kaiserliche Regierung wieder Herstellei?, die ihnen dann freilich zu Dank
verpflichtet wäre. Alle diese Wahrscheinlichkeiten ergeben sich ans den neuesten
Nachrichten, nach denen in Rio nicht eine Volkserhebung, sondern eine Militär¬
meuterei stattgefunden und die Monarchie umgestoßen hat. Wäre der Kaiser
Dom Pedro von: Volke sür abgesetzt erklärt worden, so ließe sich vielleicht er-
warten, daß die republikanischen Einrichtungen von einer erregten und begeisterte»
Demokratie im Sinne der Freiheit, der Selbstregierung und des Fortschritts
bis zu einem gewissen Maße segensreich entwickelt werden würden. Was aber
dürfen wir Gutes hoffen, wo das Volk, wie es nunmehr aussieht, sich zu der
Sache schweigend verhielt und nur die Soldateska das Wort hatte und handelte?
Eine nur oder fast nur von diesem oder jenem Regiment oder dieser oder jener
Brigade aufgespielte politische Umwälzung kann leicht durch zwei Regimenter
oder zwei Brigaden ungeschehen gemacht werden, die ein andrer Befehlshaber
gegen sie führt. Auch muß man sich erinnern, daß der Mann, der es so leicht
fand, einen Kaiser, der kein Kriegsmann, sondern ein sanftmütiger Gelehrter
war, zu vertreiben, eine schwerere Aufgabe vor sich haben wird, wenn ein
Soldat in fernen Provinzen mit ganz andern Interessen, als die der Zentral¬
regierung sind, die Fahne des Aufstandes erhebt.
Abgesehen von dem fast rein militärischen Charakter der brasilischen
Revolution erweckt die Regierung, die aus ihr hervorgegangen ist, noch ein
andres Bedenken. Diese Regierung will, wie es heißt, die Jesuiten aus dem
Lande treiben und ihren reichen Güterbesitz in Beschlag nehmen. Das wird
schwerlich ohne Widerstand und harten Kampf zu bewerkstelligen sein. Das
brasilische Volk ist keineswegs zu dem bittern Hasse erzogen, der die französischen
und die belgischen Freidenker gegen die Söhne Loyolas erfüllt. Es betrachtet
überhaupt die Kirche nicht als Feindin des Staates und der Gesellschaft, und
es hat insbesondre keine Ursache, zu wünschen, daß die Väter der Gesellschaft
Jesu Verbanne und beraubt werden; denn sie haben hier fast nur wohlthätig
gewirkt, den Hcidenstämmen des Hinterlandes mit dem christlichen Glauben
Gesittung und menschliches Empfinden gebracht, Schulen gegründet und Pflan¬
zungen angelegt, kurz in vielfacher Richtung genützt. Die Fortschrittspartei
in diesen Gegenden, die sie bekämpft und vornehmlich als Verbündete der
konservativen Partei verabscheut, erscheint der Mehrzahl des Volkes als Ver¬
ächter aller Religion, als Leute, die Plünderung der Besitzenden predigen und
an die Stelle von Gesetzen die Pöbelwillkür setzen wollen. Es ist nicht schwer,
den Leuten den Glauben beizubringen, die provisorische Negierung wolle den
Jesuiten nicht sowohl, weil sie konservativ, als weil sie reich sind, an den
Kragen. Und damit wäre man anch gewiß nicht weit von der Wahrheit ent¬
fernt. Soldaten plündern eben gern, wo sie es dürfen, und die jetzige brasilische
Regierung darf es, wenn sie, die Soldatenregierung, das Volk so auf ihrer
Seite hat, wie sie versichert. Das ist aber gewiß nicht der Fall, wenigstens
nicht in den innern Teilen des Landes.
Viktor Emanuel rühmte sich, durch Einigung Italiens die Ära der Revo¬
lution geschloffen zu haben. Dom Pedro würde nach dem, was wir bei dieser
Betrachtung gesehen haben, allen Grund zu der Klage haben, seine Verbannung
aus Brasilien habe die Ära der Revolution eröffnet.
n das Jcihr 186Z fiel eine Reihe von erhebenden Gedenkfeiern
der gewaltigen Ereignisse und der unvergeßlichen Thaten des
Befreiungskrieges. Zum funfzigsten male kehrten die Tage wieder,
an denen Friedrich Wilhelm III. den Aufruf: „An mein Volk"
erlassen hatte, an denen bei Großbeeren, an der Katzbach, bei
^Lennewitz die preußischen Waffen unsterblichen Ruhm errungen hatten. Das
Hetzen und Treiben des Abgeordnetenhauses hatte aber damals, namentlich in
^u sogenannten gebildeten Klassen, allen gesunden patriotischen Sinn soweit
erstickt, daß jener Großthaten der Väter kaum gedacht wurde. Sogar der
18. Oktober, der Gedenktag der Völkerschlacht bei Leipzig, wurde wohl in
den Mittel- und Kleinstaaten fast allgemein, in Preußen aber eigentlich nur
amtlich und von der Armee, von weitern Kreisen des Volkes fast gar nicht
^feiert. Die demokratische Presse war nicht damit zufrieden, daß an den
öffentliche Gebäuden in Berlin nur preußische Fahnen zu sehen waren, was
doch ganz natürlich war, da nur preußische Ruhmesthaten zu feiern waren.
Sie beschwerte sich darüber, daß in vielen Städten das Ausstecken von soge¬
nannten deutschen Fahnen verboten wurde. Unter deutscheu Fahnen verstanden
die „Liberalen" in jener Zeit der politischen Zerfahrenheit und Begriffs¬
verwirrung die schwarz-rot-goldnen Fahnen, obschon diese ganze Farben-
gusanuneustellung eine willkürliche Erfindung einiger schwärmerischen Studenten
w Jena war, denen dabei wahrscheinlich die Abzeichen der Lützowschen Frei-
Ichar vorgeschwebt hatten. Abgesehen von den traurigen Erinnerungen des
Jahres 1343 hatten diese Farben damals nicht den geringsten geschichtlichen
Hintergrund; deutsche Farben oder gar Reichsfarben sind sie niemals gewesen.
Dagegen lud eine Anzahl von Kölner Bürgern die drei Präsidenten des Ab¬
geordnetenhauses, die sämtlichen liberalen Abgeordneten aus Rheinland und
Westfalen und den Herrn Schultze-Delitzsch zu. einem großen „provinziellen
^artete'^ nach Köln ein. Das Fest sand am 18. und 19. Juli statt und ge¬
staltete sich zu einer großen Kundgebung gegen die Regierung, die damals noch
den Unfug gestattete.
Im August des Jahres 1863 hatte bekanntlich auf Betreiben Österreichs
auch der Frankfurter Fürstentag stattgefunden. Die k. k. Regierung hatte ver¬
sucht, die alte Politik des Fürsten Felix von Schwarzenberg, die seinerzeit dem
preußischen Staate ein Warschau und ein Olmütz bereitet hatte, fortzusetzen
und zu Ende zu führen. Die Festigkeit, mit der .König Wilhelm ans den Rat
seines Ministerpräsidenten allen Zumutungen des Kaisers und der Bundes¬
fürsten entgegentrat, hatten die Versuche, Preußen in seiner deutschen und
europäischen Stellung noch mehr herabzudrücken, zum Scheitern gebracht. Die
Politik Bismnrcks hatte offenbar einen bedeutenden diplomatische,: Erfolg er¬
rungen; Preußen begann wieder die Stellung einzunehmen, die es auf Grund
seiner ruhmreichen Geschichte beanspruchen konnte und mußte. In der Hoffnung,
daß dieses kräftige Auftreten nach außen seine Wirkung im Innern nicht ver¬
fehlen würde, schlugen die Minister, die einsahen, daß von dem damaligen
Hause der Abgeordneten eine Mitwirkung bei einer festen und patriotischen
Politik nicht zu erwarten war, dem Könige die Auslösung dieses Hauses und
die Anordnung von Neuwahlen vor (2. September). Die allgemeinen Wahlen,
die am 28. Oktober stattfanden, täuschten jedoch die Hoffnung der Regierung
vollständig. Nur 37 ihrer Anhänger wurden gewählt; die altlibcrale Fraktion
verschwand fast Vollständig, und die Sitze, die sie und die katholische Fraktion
verloren, fielen der Fortschrittspartei zu.
Der neue Landtag wurde am 9. November durch den König in Person
eröffnet; wie immer, war die Thronrede in ruhigem, versöhnlichem und ent¬
gegenkommenden Tone gehalten. In der Hauptsache freilich, in der Heeres-
umgestaltuug, konnten wesentliche Zugeständnisse nicht gemacht werden. Denn
die Wehrkraft Preußens schwächen, namentlich unter den damaligen Verhält¬
nissen, Hütte geheißen den Staat ins Verderben stürzen. Daß mit dem neuen
Abgeordnetenhause ebenso wenig eine Verständigung zu erzielen war, wie mit
dem vorigen, bewies sofort die Wahl der Vorsitzenden, nämlich der Herren
Grabow, von Unruh und von Bockum-Dolffs. Der Nachtragsetat für 1863
und das Budget für 1864 wurden dem Hanse zwar vorgelegt, aber vorläufig
unerledigt gelassen. Dafür fanden lauge Debatten statt über die sogenannte
Preßvrdouuauz, die denn auch vom König aufgehoben wurde. Dann wurde
auf den Antrag von Schulze-Delitzsch und Carlowitz eine Kommission eingesetzt
zur Untersuchung der gesetzwidrigen Wahlbeeinflussungen und der Verkümmerung
der verfassungsmäßigen Wahlfreiheit preußischer Staatsbürger. Dazwischen
brachten die Herren Stavenhagen und Virchow im Namen ihrer Parteien eine
Jnterpellation in der Schleswig-holsteinischen Frage ein (23. November). Daß
sie sich dabei ganz ans einen prenßenfeindlichen, mittelstaatlichen Standpunkt
stellten, war nach der bisherigen Haltung der Fortschrittspartei fast selbst¬
verständlich. Die Schaffung eines neuen schwächlichen Kleinstaates, der immer
zu Preußens Gegnern gehört haben würde, und der trotzdem immer auf
Preußens sehn!'. angewiesen gev'ehe» wäre, die Einsetzung noch eines neuen
Bundesfürsten sollten Deutschland Heil und Rettung verschaffen. Die Debatte
über diese Jnterpellation fand am l. und 2. Dezember statt; die Herren Sybel
und Birchow führten das große Wort gegen Bismarck, Diese Redeübung führte
g^var zu einer Resolution in dem angedeuteten Sinne; aber die Regierung ließ
sich dadurch in der Durchführung ihrer wohlüberlegten und tiefdurchdachten
Politik uicht irre machen. Sie verlangte am 9. Dezember die Bewilligung
einer Anleihe von 9 Millionen für den beschlossenen Krieg gegen Dänemark.
Statt diese Anleihe zu bewilligen, beschloß das Halts, eine Adresse an den
König zu richten, in der der Regierung förmlich vorgeschrieben wurde, welche
äußere Politik sie zu befolgen habe, und in der es dann heißt: „Das Hans
der Abgeordneten wendet sich an Eure Majestät, um die schwere Schuld von
sich abzuwenden, daß es nicht alles versucht habe, um eine Politik zu ändern,
welche das Land ans lange Zeit zu schädigen droht. Denn nach dem System
des Ministeriums müssen wir fürchten, daß in seinen Händen die begehrten
Mittel nicht im Interesse der Herzogtümer und Deutschlands, nicht zum Nutzen
der Krone und des Landes verwendet werden dürften." Der Übergriff des
Unterhauses in ein Gebiet, ans dem verfassungsmäßig unzweifelhaft dem König
allein die Entscheidung zusteht, wurde durch eine von dem Gesamtministerium
gegengezeichnete königliche Botschaft mit folgenden Worten zurückgewiesen:
.Wenn an die Spitze dieser Adresse der Satz gestellt worden ist, daß das
Haus der Abgeordneten bereits die Richtung festgestellt habe, welche einzuhalten
Deutschlands Ehre und Interessen gebieten, so will ich annehmen, daß damit
der Mir nach der Verfassung und den Gesetzen des Landes zustehenden Ent¬
scheidung über die Beziehungen der Monarchie zum Auslande nicht hat vor¬
gegriffen werden sollen."
In einer Sitzung der Anleihekonunission (18. Januar) erklärte Bismarck:
„Wir haben zu Ihnen nach wie vor das Vertrauen, daß Sie uns diejenigen
Mittel, welche wir so notwendig bedürfen, auf verfassungsmäßigen Wege zu¬
gänglich machen werden; sonst müssen wir sie nehmen, wo wir sie bekommen."
Die letzten Worte sind ihm bekanntlich bis zum Überdruß oft vorgeworfen
worden. Als die Sache dann im Plenum zur Beratung kam, entwickelte sich
daraus eine zweite Schleswig-Holstein-Debatte (21. und 22. Januar). Die
Redner der Opposition leisteten Unglaubliches in Schmähungen gegen die
Regierung und in Herabsetzung des eignen Vaterlandes. Alle übertraf darin
Herr Rudolf Birchow; er äußerte: „Meine Herren, Sie spreche,', immer von
der Großmacht Preußen. Ich muß sagen, ich besaure, daß dieses Sprechen
von der Großmacht allmählich einen krankhaften Zustand angenommen hat.
Nun, meme Herren, was machen Sie denn mit dieser Großmachtstellung?
Sagt man Ihnen: Macht doch einmal große Politik, geht doch einmal energisch
vor! dann sagen Sie: Ja, das könnte europäische Verwicklungen geben, da
müssen wir zu Hause bleiben; aber wenn die kleinen deutschen Staaten etwa
auf dein deutschen Bundestage einen Beschluß fassen wollten, der im Sinne
der Majorität der deutschen Nation wäre, dann sagt Preußen: Wir als Gro߬
macht sind nicht in der Lage, uns diesem Beschlusse zu unterwerfen, wir werden
uns nicht majorisiren lassen von den Kleinen — aber von den Großen natürlich!
Ich meine, Sie könnten uns mit der Großmachtangelegenheit zu Hause bleiben.
Wenn Preußen einmal gezeigt haben wird gegen Großmächte, daß es eine
Großmacht ist, dann, meine Herren, sprechen Sie wieder davon; so lange
Preußen aber nur gegen kleine und Mittelstaaten als Großmacht spricht, so
lange, denke ich, wollen wir diese Angelegenheit bei uns schweigen lassen." In
derselben Rede hatte er von Bismarck gesagt: „Er ist jetzt dein Bösen verfallen,
und er wird von ihm nicht wieder loskommen." Die Komik in diesem Ausspruche
war aber eine ziemlich unfreiwillige; denn der „Staatsmann" Birchow meinte
das im Ernst, und das war eben das Komische an der Sache. Die Bewilligung
der Anleihe wurde verweigert, und die Kosten für die Reorganisation wurden
im Ordinarium und im Extravrdinarinm gestrichen. Das Herrenhaus verwarf
zum zweitenmale das von dem Abgeordnetenhause aufgestellte Budget und stellte
die ursprüngliche Regiernugsvvrlage wieder her. Das Unterhaus erklärte diesen
Beschluß wieder für null lind nichtig und erklärte ferner, daß die Staats-
regierung sich eines offnen Berfassuugsbruches schuldig mache, wenn sie fort¬
führe, ohne Zustimmung beider Häuser des Landtages über die Mittel des
Staates eigenmächtig zu verfügen. Am 25. Januar wurde der Landtag auf
Befehl des Königs von Bismarck geschlossen, um erst im Anfange des folgenden
Jahres (1865) wieder zusammenzutreten.
Während bis dahin in der innern Politik eine erträgliche Ruhe herrschte,
vollzogen sich die weltgeschichtlichen Ereignisse, die die meerumschlungeueu
Herzogtümer endgiltig von der düuischeu Fremdherrschaft befreiten und sie als
wirkliche und lebendige Glieder wieder mit dem deutschen Baterlande ver¬
einigten. Die wackern Regimenter in Schleswig, meist Brandenburger und
Westfalen, zeigten, daß die Preußen noch verstanden, zu kämpfen und zu siegen,
und Bismarck bewies, daß die Zeit vorüber war, wo eine erbärmliche Diplo¬
matie mit ihren Federn verdarb, was das blanke Schwert errungen hatte.
Aufmerksamer Beobachtern konnte es nicht entgehen, daß in der Stimmung
des Volkes, die so lauge durch wüstes Geschrei und durch fanatische Partei¬
hetzereien irregeleitet worden war, sich eine Umwandlung vorzubereiten und
auch bereits zu vollziehen begann. Doch dauerte es noch lange, bis in dem
parlamentarischen Leben Preußens die Alleinherrschaft der Fortschrittspartei,
die in dem „Konflikt" ihr Lebenselement hatte, gebrochen wurde.
Erst am 14. Januar 1865 wurde der Landtag von neuem eröffnet, wieder
durch den König selbst. Die Thronrede ging in ihrer Fassung bis um die
Grenze des Möglichen, um dem Hause Entgegenkommen zu beweisen und eine
Verständigung zu erleichtern. Von einer Rückgängigmachung der Heeres-
reorgauisntio» konnte natürlich gar keine Rede sein, jetzt, wo sie sich im blutigen
Ernst so glänzend bewährt hatte. Sogar Grabow, der als früherer Präsident
vorläufig wieder den Vorsitz übernommen hatte, konnte uicht umhin, der ruhm¬
reichen Thaten der tapfern Krieger zu gedenken, die in den Nvrdmarken des
Vaterlandes das deutsche Recht und die preußische Ehre hochgehalten hatten.
Als er aber, nebst den Herren von Unruh und von Bocknm-Dolffs, wieder¬
gewühlt war, schlug er einen ganz andern Ton an: „Bei unsrer letzten Ent¬
lassung ward einstweilen ans die Hoffnung einer Verständigung mit diesem
Hause verzichtet. Seitdem sind die Verfolgungen der liberalen Presse, Diszi-
Plinirung der liberalen Beamten, Nichtbestätignng liberaler Kvmmnnalwahlen,
Verunglimpfungen, Verdächtigungen lind Verleumdungen der liberalen Staats¬
bürger in noch stärkeren Maße als in den frühern Jahren eingetreten. Die libe¬
rale Gesinnung ist in den Bann gethan. Die Überzengungstrene, der schönste
Schmuck des altpreußischen Beamten, ist in die neupreußische Acht erklärt. Die
Axt wird an den seit 1808 die schönen Früchte Gemeinsinn und Gemeinwohl
treibende» Baum der Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden gelegt, um
die dreimal erprobte öffentliche Meinung, die stärkste Macht im Staate, zur
Umkehr zu stimmen, das Abgeordnetenhaus zur Unterwerfung zu zwingen und
damit der Verfassung die Lebensader zu unterbinden."
Der wiederholte lärmende Beifall, den diese Worte Grabvws bei der
harschenden Partei fanden, zeigte deutlich, daß mit diesem Hause ebensowenig
eine Verständigung zu erzielen war. wie mit dem vorigen. Es verlohnt sich
»ber nicht, die Verhandlungen im einzelnen weiter zu verfolgen; denn Neues
wußten die Herren von der Opposition uicht mehr vorzubringen, die Be¬
schimpfungen Preußens, seiner Regierung und seiner Einrichtungen, blinde
Parteinahme für alles, was gegen Preußen auftrat. Unverstand und Urteils¬
unfähigkeit wiederholten sich stets. Die Minister mähten sich vergebens ab,
den Parteifanatikern Vernunft zu predige». Ein praktisches Ergebnis hatte
die ganze Tagung nicht; die Kosten für die Reorganisation wurden wieder
gestrichen, ein gesetzmäßiges Budget kam wieder nicht zu stände, und der
Staatshaushalt wurde wieder durch königliche Verordnung geregelt, »uter Zu-
stimmung des Herrenhauses. Eine SchlesN'ig-Holstein-Debntte im großen Stil,
bei der Virchow, Waldeck, Duncker. Löwe, Twesteu große Reden hielten, bewies
>"n-, daß diese Herren und ihre ganze Partei von den thatsächlichen politischen
Verhältnissen, von der ganzen Lage in Deutschland und in Europa nicht die
leiseste Ahnung hatten. Daß ihnen aller Patriotismus fehlte, war nichts
Neues.
Nur ewige Vorgänge will ich noch kurz erwähne», die beso»ders be¬
zeichnend fiir die Zu stände in der .K'vnfliktszeit" sind. Am !). Februar über¬
reichte eine Depntntivn aus Veöln dem Präsidenten Grabow eine silberne Bürgep
kröne, die dieser auch annahm ,,nicht für sich, Saldern namens der liberalen
Mehrheit des Hauses." In dem lieben, lustigen Köln am Rhein hat man
von jeher große Neigung zu derartigen Karnevalsscherzen gehabt; die Jahres¬
zeit war sehr passend gewählt. Hätte mau gefragt, für welche Verdienste Herr
Grabow diese Bürgerkrone erhielt, so hätten sicherlich weder die Schenker, noch
der Empfänger, noch die ganze „liberale Mehrheit" eine befriedigende Antwort
geben können. Unbestreitbar hatte sich doch jeder einfache Musketier und
Füsilier, der vor Düppel gekämpft und geblutet hatte, ein ungleich größeres
Verdienst rin das Vaterland erworben als alle Redner der ganzen Fortschritts¬
partei zusammengenommen.
Am 2. Juni, bei der Debatte über die Mcirinevorlnge, erlaubte sich der
Abgeordnete Virchow, eine grobe persönliche Beleidigung gegen den Minister¬
präsidenten auszusprechen. Er sagte: ,,Die Vorlage war gar nicht ernsthaft
gemeint, sondern nur ein Scheinmauöver. Es ist eine Umkehr der Wahrheit,
zu sagen, die Kommission habe kein Interesse für die Marine an den Tag
gelegt. Wenn der Herr Ministerpräsident den Bericht gelesen hat, so weiß
ich nicht, was ich von seiner Wahrhaftigkeit halten soll." Darin lag doch
offenbar der Vorwurf der Lüge. Da Virchow sich weigerte, seine Äußerung
zurückzunehmen, der Präsident ihn anch nicht zur Ordnung rufen wollte, so ließ
Bismarck den Beleidiger nach der Sitzung in aller Form fordern. Der gelehrte
Herr Professor, der sehr wohl wußte, was die bessere Hälfte der Tapfer¬
keit ist, und dem es vielleicht nicht ganz unbekannt war, daß man mit Schie߬
gewehr leicht Unheil anrichten kann, lehnte wohlweislich die Forderung ab.
Dafür erboten sich verschiedne aufgeregte Berliner Studenten für ihren allver¬
ehrten Lehrer die Sache „auszupcmken." Daß die erregten Jünglinge das
thaten, rechnen wir ihnen nicht zu hoch nu; ein Stndentengehirn treibt sonder¬
bare Blasen, namentlich abends zu etwas später Stunde und beim Früh¬
schoppen. Daß aber die ganze liberale Presse den Mnnnesmut dieser jungen
Freiheitskämpfer bis in den Himmel erhob, sodaß eigentlich alle Spartaner
und Römer sich davor hätten verstecken können, zeigt wieder, wie kindisch man
damals ernsthafte Sachen behandelte. Einen ähnlichen Streit hatte am 5. Mai
der Kriegsminister von Roon mit dem Herrn Dr. Gneist gehabt. Dieser hatte
ihm vorgeworfen, daß er ein Werk durchführe, die Reorganisation des Heeres
nämlich,, das „das Kainszeichen des Eidbruches an der Stirn trüge," das ,,auf
dem Boden des Verfafsungsbruches" stehe. Der wackere Soldat hatte dein
Herrn Professor einfach geantwortet, daß seine Äußerung „den Stempel der
Überhebung und Unverschämtheit" an der Stirn trüge. Am 17. Juni wurde
die Tagung des Landtages geschlossen.
Zunächst sorgte die gute Stadt .Köln wieder dafür, daß der fortschritt¬
lichen Presse und den Bierbailkpvlitikeru der Stoff zum Kannegießern nicht
gleich ausginge. Dort hatte ein Ausschuß unter dem Vorsitze des Stadtver-
ordneten Classen-Kappelmann, eines sonst sehr harmlosen und unbedeutenden
Menschen, ein großartiges Fest vorbereitet und sämtliche Mitglieder der libe¬
ralen Partei des Mgevrdnetenhanses dazu geladen. An ein feierliches Fest¬
mahl im großen Saale des Gürzenich, gewürzt durch die üblichen Hetz- und
Brandreden, sollte sich Tags darauf eine Rhcinfcchrt schließen. Aber der
Polizeipräsident von Köln (Aich) verbot auf Grund des nicht aufgehobenen
Gesetzes vom 11. März 1850 die Abhaltung dieses Festes. Der Festausschuß
erklärte, sich diesem Verbote nicht fügen zu wollen, und zwar auf Grund des
Art. 2', der Verfassung. Auch der Aufforderung des Oberbürgermeisters
(Vachem), den Gürzenichsnal zu räumen, wurde nicht Folge geleistet. Herr
Classen-Kappelmann hatte nun den genialen Gedanken, zu erklären, daß er den
Saal allein zur Abhaltung eines Privatdiners gemietet habe. Aber anch
darauf fiel, um einen etwas gewöhnlichen, aber treffenden Ausdruck zu ge¬
brauchen, der Polizeipräsident nicht hinein. Herr Clnsfen-Kappelmanu aber
war für kurze Zeit der populärste Mann im ganzen heiligen Köln; seine Mit¬
bürger fangen-
Der Bachem und der Aich
Die sind von einem Teig;
Jedoch der Classen-Knppetmaun
Das ist und bleibt ein Ehrenmann,
>'les aber der Tag des Festes gekommen war, hatte der „Ehrenmann" es vor¬
wogen, eine kleine Reise in das benachbarte Anstand zu machen unter dein
Vvrwnnde, daß ihm Verhaftung drohe, woran niemand gedacht hatte. Man
durs das dem gefeierten Volksmann, der übrigens bald wieder völlig vergessen
war, ^ sehr übel nehmen; das Märthrertum ist nun einmal nicht jeder¬
manns Sache.
Von 253 eingeladnen Abgeordneten hatten 150 bis 100 zugesagt; aber nnr
etwa 80 waren um 22. Juli wirklich in Köln erschienen. Da der Gürzenich¬
snal polizeilich geschloffen war, so versuchte man, das Fest auf der rechten
Rheinseite in Deutz im „Marienbildchen"'1 abzuhalten. Doch der Bürger¬
meister von Deutz wollte das auch nicht gestatten, und als auf seine Auffor¬
derung hin die Versammlung nicht sofort auseinanderging, wurden aus der
benachbarten Kaserne einige Mannschaften vom achten Kürassierregiment herbei¬
geholt, die dann das Räunuu>gsgeschäft7ebenso rasch wie gründlich besorgten.
Innerhalb der Wälle einer preußischen Festung war also offenbar kein Raum
für jene Vertreter der Volksrechte. Also aufs Land! Der Zoologische Garten
l«g damals auf dem Gebiete der Landgemeinde Longerich. Speisen und Ge¬
tränke wurde» über den Rhein geschafft, und das Mahl begann. Wären nun
die Herren nur eß- und trinklustig gewesen, so hätten sie wohl volle Befriedi¬
gung gefunden. Aber die Redewut war zu groß. Sobald jedoch die erste
politische Rede gehalten wurde, erschien der Bürgermeister von Longerich und
forderte die Versammlung auf, auseinanderzugeheu. Zwar machte ein witziger
Kopf sofort den tiefempfundenen Vers:
Herr Bürgermeister von Longerich,
Wir sind noch alle so hongerig!
aber nicht einmal durch diese Berufung ans die heiligsten Gefühle des Menschen¬
herzens wurde der gefühllose Beamte gerührt. Wieder erschien Militär und
räumte den Garten. Ebenso waren auch die zur Rheinfahrt gemieteten Dampfer
militärisch besetzt. Aber die Zweckesser und nebeliger wollten ihr Vergnügen
nicht aufgeben. Preußen war den Krallen der finstern Reaktion verfallen;
man beschloß also, dem geknechteten Vaterlande den Rücken zu kehren und das
Land der Freiheit, Nassau, aufzusuchen. Nicht etwa, als ob Nassau ein Land
der Freiheit für die eignen Bewohner gewesen wäre; beileibe nicht! Die Hütten
einmal mucksen sollen! Aber man gewährte damals dort eine sehr weitgehende
Freiheit im Schimpfen auf Preußen, und darauf war doch hauptsächlich die
ganze Sache angelegt. Also ans »ach Oberlahnstein! Aber solche Volksvertreter
wollte nicht einmal die nassnuische Regierung dulden; auch hier erschien, wenn
auch etwas spät, Militär, und damit hatte der kleine Sommerscherz sein Ende
erreicht. Am auffälligsten bei der ganzen Geschichte war, daß man später gar
nicht davon horte, daß einer oder der andre der Festteilnehmer infolge einer
nicht gehaltenen Rede erstickt oder geplatzt wäre. Zum Schlüsse sei nur noch
bemerkt, daß die Verfügung des Polizeipräsidenten von Köln wegen des
Gürzenich wirklich durch richterliche Entscheidung aufgehoben wurde, aber erst
am 28. Juli.
Noch ein Vorgang mag hier erwähnt werden, der zwar auf geschichtliche
Bedeutung keinen Anspruch machen kann, aber höchst bezeichnend ist für die
Art und Weise, in der damals die Volksklassen aufgehetzt wurden. Am Abend
des 4. August hatte in Bonn eine „Kellerei" zwischen Studenten und „Knoten"
stattgefunden, ein Vorkommnis, das leider anch heute noch auf deutscheu Hoch¬
schulen nicht zu deu Seltenheiten gehört. Der Koch des damals in Bonn
studierenden Prinzen Alfred von England, ein gewisser Ott, ein Straßburger
von Geburt, war auf irgend eine Weise, jedenfalls nicht ohne eigne Schuld,
in die Schlägerei verwickelt worden und hatte dabei Verletzungen davongetragen,
die seinen Tod herbeiführten. Der Thäter war ein junger Graf Eulenburg,
Mitglied des Korps Borussia und damals Einjähriger bei den Königshusaren.
Der unglückliche junge Mann, deu man doch eigentlich mehr bedauern mußte,
wurde später zu drei Monaten Festung verurteilt, aber nach Verbüßung eines
Moruks begnadigt. Der ganze Vorfall würde heutzutage durch einige Notizen
im „Vermischten" für die Öffentlichkeit erledigt worden sein. Damals aber
war das anders. Der junge Mann war Mitglied eines Korps, diente bei
einem aristokratischen Regiment und war von Adel, sogar Graf. Das war
ein gefundenes Fressen, das die „liberale" Presse sich nicht entgehen lassen
durfte. Da konnte man doch einmal in spaltenlangen Leitartikeln zeigen, wie
die „Junker," wenn sie vollends zur Gewalt kämen, das „Volk" behandeln
würden. Wäre plötzlich einer der sprichwörtlichen „Lüderitze und Köckeritze,
Krachten oder Jtzenplitze" auf magerm Rosse ans der freien Landstraße, etwa
zwischen Berlin und Magdeburg, erschienen und hätte angefangen, aus dem
Stegreife zu leben, die „Pfeffersäcke" niederzuwerfen und die unglücklichen Ge¬
fangnen bei Molchen und Salamandern in grausigen Burgverließ verschmachten
M lassen, der Lärm Hütte unmöglich größer sein können.
Die letzte Tagung des Landtages in der Koufliktszeit wurde um 15. Januar
^W6 durch°Bismarck eröffnet. Die Verhandlungen bieten dasselbe Bild dar
wie die frühern. Die hitzigen Redekämpfe hatten dasselbe thatsächliche Ergebnis
wie früher, nämlich gar keins. Die Fortschrittspartei konnte es natürlich nicht
lassen, wieder Übergriffe in das Gebiet der auswärtigen Politik zu machen.
Diesesmal lieferte der Vertrag zu Gastein den Stoff zu einem heftigen Angriffe
auf die Regierung. Da dieser Vertrag dem Staate keinerlei Verpflichtungen
auferlegte - König Wilhelm hatte bekanntlich die Entschädigungssumme an
Österreich aus seiner eignen Schatulle bezahlt —, so bedürfte er zu seiner
Giltigkeit nicht der Zustimmung des Abgeordnetenhauses (Art. 48 der Verf.).
Aber man konnte ja versuchen, wie weit nun, kam. Außerdem lautet Art. 55:
..Ohne Einwilligung beider Kanunern kann der König nicht zugleich Herrscher
fremder Reiche seim" Wenn der Herr Abgeordnete Virchow, der den Antrag
eingebracht hatte, jenen Vertrag für rechtsuugiltig zu erklären, so lange die
verfassungsmäßige Zustimmung des Landtags fehle, den letztern Beweisgrund
besonders hervorhob, so wollte er offenbar nur zeigen, daß es ihm nicht an
Geist fehle; denn den jetzigen „Kreis Herzogtum Lauenburg" für ein fremdes
Reich zu erklären, und zwar in allem Ernste, das war doch ein guter und
wvhlgelungener Scherz. Trotzdem daß Bismarck in meisterhafter Rede die An¬
maßungen des Hauses zurückwies, wurde natürlich der Antrag Virchows an¬
genommen (251 Stimnien gegen 44). Auch mehrere andre Beschlüsse wurden
gefaßt, durch die die verfassungsmäßigen Befugnisse des Abgeordnetenhauses
überschritten wurden. Am 18. Februar richtete daher Bismarck an das Haus
ein Schreiben, dessen wesentlicher Inhalt folgender war: „Nachdem das königl.
Staatsministerium von Ew. Hochwohlgeboren ges. Schreiben vom Z,, 10. und
16. d. M. durch mich Kenntnis erhalten hat, hat dasselbe beschlossen, die
Annahme dieser Schriftstücke zu verweigern, weil die darin mitgeteilten Be¬
schlüsse in der dem Hause der Abgeordneten durch die Verfassung beigelegten
Kompetenz nicht nur keine Begründung finden, sondern verschiedne Artikel der
Verfassung ausdrücklich verletzen. Das Haus der Abgeordneten ist weder be¬
rechtigt, einen von Sr. Majestät dein Könige geschlossenen Staatsvertrag für
rechtsungültig zu erklären, noch richterliche Urteilssprüche anzufechten, noch den
Beamten der Exekutivgewalt Vorschriften zu erteilen. Der Beschluß des Hauses
vom 3. d. Mes. verletzt den Art. 48, der vom 10. d. M. den Art. 86, der
vom 1ö. d. Mes. den Art, 45, der Verfassung. Die königliche Staatsregierung
vermag über rechtswidrig gefaßte Beschlüsse keine amtliche Mitteilung von dem
Präsidium des Hauses entgegenzunehmen, und ich beehre mich daher, Ew. Hoch-
wohlgeboren die überreichten Ausfertigungen der Beschlüsse betreffend das
Herzogtum Lauenburg, den Antrag des Freiherr» von Hoverbeck und die
Petition des Herrn Classen-Kappelmann wieder zuzustellen."
Dieses Schreiben Bismarcks, datirt vom 18. Februar, rief natürlich wieder
starke Aufregung und heftige Debatten hervor. Doch ließ man den Redehelden
hierzu nicht lange Zeit; denn schon am 22. wurden sie durch eine königliche
Verordnung überrascht, die deu Schluß der Tagung verfügte. Der Präsident
Grabow hielt zum Schlüsse noch eine Rede, die seine Anhänger sicher für fehr
„schneidig" erklärt Hütten, wenn dieser schöne Ausdruck damals schon allgemein
gebräuchlich gewesen wäre. Noch „schneidiger" war es freilich, daß die „libe¬
rale" Presse gleichsam triumphirend hervorhob, daß in das zum Schlüsse auf¬
gebrachte Hoch auf den König nnr ,,die Feudalen und die Katholiken" einge¬
stimmt hätten. So weit waren die Männer des „latenten Patriotismus" (der
Ausdruck ist bekanntlich von Schutze-Delitzsch gebraucht wordeu für seine eigne
Partei) bereits auf der schiefen Ebene gekommen. Das that aber nichts. Am 2!!.
Februar wurde der Landtag durch eine Rede Bismarcks geschlossen. Mau hatte
mehr und Wichtigeres zu thu», als die völlig frucht- und wertlosen Nedekcimpfe
mit einer Gesellschaft unverbesserlicher und unbelehrbarer Doktrinäre und ver¬
bissener Parteifanatiker fortzusetzen.
Immer drohender ballten sich über Deutschland die düstern Wetterwolken
zusammen, die nach wenigen Monaten sich in krachenden Schlägen entladen
sollten. Bald sollten die eisernen Würfel rollen in dein blutigen Kriegesspiele,
in welchem Länder und Reiche, Szepter und Kronen den Einsatz bildeten. An
demselben Tage, wo in dem fernen Böhmen auf deu Höhen zwischen Elbe und
Bistritz die männermordende Feldschlacht brüllte und tobte, in der Preußens
waffenfrohe und wafseuftarke Krieger zeigten, daß sie ihrer Heldenväter viere waren,
am 3. Juli, wurden im ganzen Lande die Neuwahlen für das Abgeordnetenhaus
vollzogen. Die trübe und drückende Atmosphäre, die über Preußen ebenso sehr
wie über dem ganzen bundestäglichen Deutschland gelagert hatte, war durch den
„frischen, fröhlichen Krieg" mit einemmale gereinigt und geklärt worden. Etwa
die Hälfte der neugewählten Abgeordneten waren entschiedne Anhänger der
Negierungspolitik. Unter den wiedergewählten Oppositionsmännern waren nicht
wenige, die entweder offen oder doch insgeheim ihr bisheriges Unrecht einsahen
und eingestanden. Die Alleinherrschaft der Fortschrittspartei war gebrochen,
gebrochen sür immer. Hätten die Wahlen noch etwa acht oder vierzehn Tage
später stattgefunden, als man die ungeheuern Erfolge, die errungen waren,
genauer übersehen konnte, so hätte wahrscheinlich damals schon die ganze Partei
in wenigen Droschken spazieren fahren können.
Am 5. August des ewig denkwürdigen Jahres' 1866 eröffnete der greise
Monarch, der soeben mit unverwelklichen Lorbeeren geschmückt in die Heimat
zurückgekehrt war, den neuen Landtag. Die herrliche Thronrede, dnrch die
das geschah, darf wohl als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Der König
kündigte an, daß seine Negierung für die ohne Staatshaushnltsgesetz geführte
Verwaltung Indemnität nachsuchen werde. Was vor drei Monaten noch eine
unverzeihliche Schwäche gewesen wäre, das war jetzt ein Schritt, der bewies,
welche Geistesgröße und welcher Seelenadel den Herrscher selbst und seiue Um¬
gebung erfüllten. Nach Königgrätz, nach einem Kriege, der dem Staate drei
neue Provinzen brachte, der die Einigung Deutschlands in fast greifbare Nähe
rückte, da konnte man den Gegnern manchen Schritt entgegenkommen, ohne sich
irgendwie zu demütigen!
Der bisherige Präsident Grabow hatte, da er nicht mit Unrecht meinte,
dus; seine Person vielleicht eine Ausgleichung mit der Regierung erschweren
könne, eine Wiederwahl zum Vorsitzenden bestimmt abgelehnt und zog sich bald
ganz aus dem politischen Leben zurück. Alle seine Anhänger, die nicht den
Mut finden konnten, offen einzugestehen, daß sie bisher in Irrtum befangen
gewesen waren, hätten nur seinem Beispiele folgen sollen. Unter den Männern,
die sich der Annahme der Judemuitätsvvrlage, die am 13. Angust eingebracht
worden war, heftig widersetzten, ragte, man könnte sast sagen natürlich, Herr
Professor Virchow hervor; sogar Tochter empfahl die Annahme der Vorlage.
Sie erfolgte im Abgeordnetenhause am 3. September mit 230 gegen 75 Stimmen,
"n Herrenhause an: 8. September mit Einstimmigkeit.
Damit war der Verfassungsstreit in Preußen beendigt, der Konflikt, der
s" viele Jahre das öffentliche Leben vergiftet hatte, war aus der Welt geschafft.
Mehr als zwanzig Jahre, voll von gewaltigen Ereignissen, sind inzwischen
über Deutschland und Europa dahingegangen; die Vorgänge aus den Jahren
1861 bis 1866 gehören der Weltgeschichte an und sind in weitern Kreisen
teilweise schon ganz vergessen, unterliegen aber anch teilweise einer ganz falschen,
schiefen Beurteilung. Dieser entgegenzutreten, war der Zweck dieser Arbeit.
Denn die Parteibestrebungen, die damals den Konflikt herbeiführten, haben mit
ihm nicht aufgehört. Noch heute giebt es nicht nur eine Partei, sondern ein
Gemisch, ein Sammelsurium der verschiedensten Parteien, deren gemeinsames
Bestreben darauf gerichtet ist, um jeden Preis Konflikte mit der Negierung
herbeizuführen und so wiederum Verwirrung, Verhetzung und Unheil über unser
Vaterland zu bringen. Ich brauche diese Parteien nicht zu nennen; jeder
Patriot kennt sie und weiß, wie er sich ihnen gegenüber zu Verhalten hat.
Jeden Deutschen, der tren zu Kaiser und Reich hält, anzuspornen, diese Ge¬
sinnung in dem bevorstehenden Reichstagswahlkampfe kräftig zu bethätigen,
das war der Hauptzweck dieser geschichtlichen Darstellung. Das aber wird
jeder thun, der mit uus den Wahlspruch hvchhältl
Das Vaterland, nicht die Partei!
le Religion wird, wie wir sahen, vom Darwinismus nur insofern
berührt, als er den Atheisten eine neue Einkleidung für ihre alten
Ansichten, den Christen aber einen großen Reichtum bis dahin
unbekannter Fälle von Zweckmäßigkeit darbietet. Wird doch Darwin
selbst nicht müde, die „wunderbare Schönheit" der mechanischen
Vorrichtungen zu preisen, durch die z. B. die Befruchtung der Blute mit
ihrem eignen Pollen verhindert und die wechselseitige Befruchtung sicher gestellt,
das Nektarium der Passionsblumen vor den Kolibris geschützt, dagegen den
Hummeln zugänglich gemacht wird u. s. w. Selbst wenn die Entwicklungs¬
lehre streng bewiesen wäre, würde sie nicht zu einer Umbildung unsrer religiösen
Vorstellungen nötigen, da die mosaische Schöpfungsgeschichte schon vor Darwin
auch in gläubigen .Kreisen nicht mehr wörtlich verstanden wurde. Vielseitig
und tiefgreifend dagegen ist Darwins Einfluß auf das wissenschaftliche Leben;
und diesen glaube ich im allgemeinen dahin bestimmen zu dürfen, daß der große
Forscher durch seine zahllosen Beobachtungen sowie durch die Kunst phantasie¬
voller Verknüpfung von Thatsachen ungemein anregend und befruchtend gewirkt,
freilich durch diese Kunst zugleich die unvorsichtige, kritiklose Hypothesenbauerei
befördert hat.
Ein paar Beispiele sollen diese sehr gegen Darwins Absicht eingetretene
nachteilige Wirkung veranschauliche»:. Wir führen einige Fälle an, wo er seiner
Hypothese zu Gefallen offenbar den Thatsachen Gewalt anthut; die weit weniger
gewissenhaften Schüler und das gedankenlose Publikum sehen in solchem Bei¬
spiele eines so großen Meisters selbstverständlich eine Aufmunterung zu noch
größerer Kühnheit. Nach Darwin entstehen Gattungschnraktere dadurch, daß
die den Lebensverhältmssen am wenigsten angepaßten Individuen nur wenige
Nachkommen' hinterlassen oder schon vor der Begattung zu Grunde gehen,
während die am besten angepaßten am Leben bleiben und so ihre Eigentümlich¬
keiten fortpflanzen. Wenn nun Eigentümlichkeiten vorkommen, die den damit
behafteten Wesen eher hinderlich als förderlich sind, so hatte er doch daraus
mindestens den Schluß ziehen müssen, daß seiue Anpassnngstheorie nicht
allgemein giltig sei. Aber zu diesem Schlüsse war er nicht zu bewegen. Großes
Kopfzerbrechen verursachte ihm u. a. der Stirnschmuck der Hirsche. Das Geweih
hindert den Hirsch außerordentlich auf der Flucht durch den Wald, und für
den Kampf mit Nebenbuhlern sind einfache Hörner weit zweckmüßiger. Die
Geweihe zweier kämpfenden Hirsche verwickeln sich nicht selten in einander, sodaß
beide das Genick brechen. Als in einer Gegend Nordamerikas zufällig
eine Spielart einfach gehörnter Hirsche entstand, verdrängten diese sehr bald
die gewöhnliche Art. Ein glänzender Beweis für die Zuchtwahl und zugleich
gegen ihre Allgemeingiltigleit! Darwin aber will auch nicht ein Jotn von
seiner Theorie preisgeben und nimmt in seiner Verlegenheit seine Zuflucht zu
gewundenen Redensarten, bei denen sich kaum noch etwas denken, läßt (Ab-
swmmuug des Menschen, S. 487 ff.).
Wie konnte durch bloße Anpassung überhaupt eine Entwicklung in Gang
kommen, da nach Darwins eignem Geständnis die niedern Organismen ihren
Lebensverhältnissen ganz gut angepaßt und daher bis auf den heutigen Tag
unverändert bestehen geblieben sind? Er sagt (Das Variiren der Tiere und
Pflanzen im Zustande der Domestikation I, L): „Wir sind beinahe gezwungen, die
Spezialisativn oder Differenzirung von Teilen oder Organen für Verschiedelle
Funktionen als den besten oder selbst einzigen Maßstab des Fortschritts anzusehen;
»ut da die Lebensbedingungen infolge der zunehmenden Anzahl verschiedener For¬
men und infolge davon, daß die meisten dieser Formen eine immer verwickeltere
Struktur erhalten, immer komplizirter werden, so können wir ruhig annehmen,
daß im ganzen die Organisation fortschreite. Dennoch kann eine sehr einfache,
fiir sehr einfache Lebensbedingungen passende Form unendliche Zeiträume hin¬
durch unverändert und unverbessert bestehen bleiben; denn was würden z. B.
ein Infusorium oder ein Eingeweidewurm für einen Vorteil davon haben,
wenn sie hoch organisirt wären?" Sehr richtig! Aber von den übrige»
niedrigen Geschöpfen gilt dasselbe. Woher sollte also der Anstoß zur Ent¬
wicklung kommen, wenn sie alle ganz gut für ihre Umgebung paßten? Newton
fand, die geheimnisvolle Gravitationskraft vorausgesetzt, die Umwälzungen der
Weltkörper ganz begreiflich; nnr damit die ungeheure Maschine in Gang komme,
hielt er doch einen Stoß für notwendig. Sollte es sich hier nicht ähnlich ver¬
halten? Durch verwickeltere Lebensbedingungen. meint Darwin, seien die Or¬
ganismen künstlicher, und durch die künstlichem Organismen seien die Lebens-
l'ediugnugeu verwickelter geworden. Wenn das kein fehlerhafter Zirkel ist, dann
giebt es keinen. Allerdings ist in der allgemeinen Verkettung der Welt jedes
Ding Ursache und Wirkung zugleich; aber hier wird eben gefragt, wodurch die
Wechselwirkung ihren Anfang nahm. Wenn Palmbäume und blätterfressende
Wiederkäuer schon da sind, läßt es sich leicht vorstellen, wie von den letztern
die langhalsigsten am besten fortkommen, und so an hochstämmigen Palmen sich
allmählich ein Geschlecht langhalsiger Giraffen heranbildet. Sind Blüten und
honigsaugende Insekten einmal vorhanden, dann läßt sichs leicht denken, daß
sie einander gegenseitig zu gewissen Änderungen der Formen nötigen. Aber
auf dem Wege dieser mechanischen Anpassung und bloß durch sie ans einem
Prvtoplasmaklümpcheu einerseits Palmen und Orchideen, anderseits Giraffen
und Bienen hervorgehen zu lassen, dazu gehört eine kühne Phantasie und ein
starker Glaube.
Wo ihn die natürliche Zuchtwahl ganz und gnr im Stich läßt, da nimmt
Darwin seine Zuflucht zur geschlechtlichen Zuchtwahl, d. h. dem Überleben
derjenigen Eigenschaften, die Männchen und Weibchen gegenseitig an einander
am meisten schätzen. Aber hier fühlt sich der gesunde Menschenverstand zu
noch lebhafteren Widerspruch herausgefordert. Um jene affenähnlichen Wesen,
von denen wir abstammen sollen, zu Menschen zu veredeln, hätten bei ihrer
Paarung der Schönheitssinn, die Wertschätzung von Gemüts- und Charakter¬
eigenschaften und die Selbstbeherrschung schon ganz allgemein und beharrlich
thätig sein müssen, Eigenschaften, deren Einfluß noch heute bei der Eheschließung
so häufig vermißt werden, daß der Iioiuo s^xisuZ gerade in diesem Falle mit
Vorliebe seinen Unterschied von den Tieren zu vergessen scheint.
Ein wahres Kreuz war für Darwin die Schönheit, die er in den meisten
Fällen durch die geschlechtliche Zuchtwahl zu erklären suchte. Symmetrie, darin
kann man ihm Recht geben, ergiebt sich in vielen, nicht in allen Fällen aus
der zweckmäßigen Anordnung der innern und äußern Körperteile von selbst;
aber bei der Zeichnung und Färbung ließ ihn die „Anpassung" im Stich. Daß
lebhafter gefärbte Blüten leichter von den die Befruchtung vermittelnden In¬
sekten gefunden werden, und daß männliche und weibliche Schmetterlinge einander
desto rascher finden, je mehr sie von ihrer grünen Umgebung abstechen, wird
man zugeben müssen. In einzelnen Fällen scheint sogar die Zeichnung von
Nutzen zu sein; wenigstens behauptet Darwin, schwarze Striche auf den Blumen-
blätteni wiesen den Insekten den Weg zum Nektarium. Aber schwarze Striche
und lebhafte Farben machen die Schönheit noch nicht ans; es giebt auch un¬
scheinbare Blumen und solche, die nach unserm Geschmack unschön siud. Woher
kommt es, daß uns die Mehrzahl durch Schönheit erfreut? Die Schönheit
der Tiere erklärt Darwin daraus, daß die Männchen die schönsten Weibchen
aufsuchen, die Weibchen die schönen Männchen vorziehen. Bei Pferden soll so
etwas ja vorkommen, wenn auch nur ausnahmsweise. An den Hündinnen
mußte Darwin selbst zu seinem Ärger wahrnehmen, daß sie ohne Wahl jedem
Köter nachlaufen und wenn überhaupt Geschmack, dann einen herzlich schlechten
verraten. Aber den Vögeln und Schmetterlingen spricht er entschieden Schön¬
heitssinn zu. Er verhehlt sich freilich die Schwierigkeit nicht, die in der kunst¬
vollen und durch unzählige Geschlechter sich beständig gleichbleibenden Zeichnung
der Schmetterlinge und vieler Vögel liegt. Und in der That, es gehört ein
starker Glaube dazu, anzunehmen, ein so dummes Vieh wie die Pfauhenne habe
die prachtvollen Pfauenaugen und deren regelmäßige Anordnung auf den langen
Schwanzfedern des Gemahls samt der Kunst des Radschlagens ersonnen und
zu ihrem Vergnügen dem Hahn im Äiufe von einigen hunderttausend Jahren
angezüchtet; das Allerwunderbarste an der Sache würde die Beharrlichkeit sein,
denn äonrm ö rnodilö.
Aufrichtiger als in seinen Büchern gestand Darwin in seinem Briefwechsel
ein, wie lebhaft er diese Schwierigkeiten empfand. So schrieb er z. B. am
it. Mui 1861 an den Botaniker Uhr Gray: „Wenn Sie wünsche», mich vou
einem elenden Tode zu erretten, dann sagen Sie mir, warum »i Anordnung
der Blätter am Steugelj mir die Winkelreihe ^, ^ u. s- w. vor¬
kommt und keine andre. Diese Erscheinung reicht hiu, den ruhigsten Menschen
toll zu machen." In der That müssen derartige Anordnungen in der Natur
jeden toll machen, der sich die Darwinsche Theorie in den Kopf gesetzt hat
und doch seine Augen den Thatsachen nicht geflissentlich verschließt. Mögen
die Blätter in gleicher Höhe am Stengel stehen oder so, daß die ihre An-
heftungsstellen verbindende Linie eine Spirale bildet, in jedem Falle beträgt
die Entfernung von Blatt zu Blatt einen bestimmten Bruchteil des Stengel¬
umfangs, und dieser Bruchteil bleibt nicht bloß bei derselben Pflanze, sondern
innerhalb der Pflanzenart derselbe. Und zwar kommen nur folgende Brüche
V-, °/s. "-s-w- Diese Brüche bilden eine höchst
merkwürdige Reihe. Addirt man nämlich einerseits die Zähler und anderseits
die Nenner, so findet man, daß jeder Zähler die Summe der beiden vorher¬
gehenden Zähler und jeder Nenner die Summe der beiden vorhergehenden
Nenner darstellt. Dieser künstliche arithmetische Bau scheint allerdings vom
Schöpfer besonders zur Verspottung derer erfunden worden zu sein, die
alle Wunder seiner Schöpfung auf eine rohe Mechanik und blinde Kräfte
zurückführen wollen. Gott ist eben, wie ihn der alte Statistiker Süßmilch nennt,
ein großer Arithmetikus. Schon Nägeli hatte hervorgehoben, was später
Wigand und E. von Hartmann weiter ausführten, daß gerade jene morpho¬
logischen Eigentümlichkeiten, wie Blattstellung oder Zahl der Blütenblätter,
die den Artcharakter der Pflanzen ausmachen, für deren Fortkommen im Kampfe
ums Dnsein ganz gleichgiltig und ohne Nutzen sind, Darwin hilft sich mit dem
Troste, daß wir den Nutzen nur nicht kennen, wie er denn überhaupt bei jeder
Gelegenheit klagt, daß wir eigentlich nichts wüßten, was zu dem Alleswissen-
wollen seiner Schule einen sonderbaren Gegensatz bildet.
Eigentümlich berühren seine Geständnisse in einem Briefe an Bentham vom
W.Mai ^863: „Bericht nicht die Schwierigkeit in hohem Grade daraus, daß
wir stillschweigend annehmen, wir wüßten mehr, als wir wirklich wissen? That¬
sächlich muß sich gegenwärtig der Glaube an natürliche Zuchtwahl aus allge¬
meine Betrachtungen stützen. Steigen wir jedoch zu Einzelheiten hinab, so
können Nur beweisen, daß sich nicht eine einzige Spezies verändert hat, oder
wir können wenigstens nicht beweisen, daß irgend eine Spezies sich verändert
habe; auch können wir nicht beweisen, daß die angenommenen Veränderungen
wohlthätig gewesen seien, was doch die Grundlage der Theorie ist. Ebenso¬
wenig können wir erklären, warum einige Spezies sich verändert haben und
andre nicht. Bronn sein Zoologe^ dürfte die Kreationisten wie die neue Schule
vergebens fragen, warum die eine Müuseart längere Ohren hat als die andre
und die eine Pflanze spitzere Blätter als die andre." Der Kreationist würde
doch wohl um eine Antwort nicht verlegen sein; er würde sagen, daß der
Schöpfer die Wesen mannichfaltig gebildet habe, weil diese Mannichfaltigkeit
seinen Reichtum offenbare und zur Schönheit der Welt gehöre. Dies neben¬
bei. Die Hauptsache ist das Urteil, das Darwin in der angeführten Stelle
über seine Hypothese und über sein Verfahren fällt. Seine Lehre ist ihm
Gegenstand des Glaubens; dieser Glaube stützt sich auf allgemeine Erwägungen,
wie daß jene Lehre die Verschiedenheit der Tiere und Pflanzen erklärlich mache;
durch Thatsachen ist die Lehre nicht zu beweisen, und viele Thatsachen scheinen
damit in offenbarem Widerspruche zu stehen. Trotzdem hält er daran fest,
weil sie ihm ans Herz gewachsen ist, und setzt sich über die widersprechenden
Thatsachen mit dem Troste hinweg, daß wir eben alle nichts wissen. Da
haben wir Strich für Strich das Bild eines echten Gläubigen! Wird nun
das Verhalten des gläubige» Christen mit Recht getadelt, wenn er sich nicht
damit begnügt, den naturwissenschaftlichen oder geschichtlichen Schwierigkeiten
gegenüber seinen Glauben festzuhalten, sondern auch noch sür seine theologischen
Gründe Geltung in der Natur- oder Geschichtswissenschaft beansprucht, so darf
man das gleiche Verfahren an einen: gläubigen Zuchtwähler uicht loben, nud
beobachtet es der Meister selbst, so truü das uicht ohne schlimme Folgen für
die Sicherheit der wissenschaftlichen Forschung bleiben.
Geradezu gefährlich erscheinen mir folgende Sätze Darwins (Das Variiren
der Tiere und Pflanzen I, 9): „Bei wissenschaftlichen Untersuchungen ist es
erlaubt, irgeud eine Hypothese zu erfinden; und wenn eine solche verschiedene
große und von einander unabhängige Klassen von Thatsachen erklärt, so erhebt
sie sich zum Werte einer wohlbegründeten Theorie. Die Undulationen des
Äthers und selbst dessen Existenz sind hypothetisch, und doch nimmt jetzt jeder¬
mann die Undulationstheorie öder ungeschickte Ausdruck steht so in der Über¬
setzung von Carus^ an. Das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl kann man
als eine Hypothese betrachten; doch wird sie einigermaßen natürlich gemacht
durch das, was wir von der Variabilität organischer Wesen im Natur¬
zustände, von dem Kampf um das Dasein und der davon abhängigen unver¬
meidliche» Erhaltung vorteilhafter Variationen positiv wissen und durch die
analoge Bildung domestizirter Nassen. Diese Hypothese kann nnn geprüft
werden, und dies scheint mir die einzig passende und gerechte Art, die ganze
Frage zu behandeln. Man muß untersuchen, ob sie mehrere große und von
einander unabhängige Klassen von Thatsachen erklärt, wie die geologische Auf¬
einanderfolge organischer Wesen, ihre Verbreitung in der Vor- und Jetztzeit
und ihre gegenseitigen Verwandtschaften und Homologien. Erklärt das Prinzip
der natürlichen Zuchtwahl diese und andre große Reihen von Thatsachen, so
sollte man sie annehmen. Ans der gewöhnlichen Ansicht, daß jede ^pezies
unabhängig geschaffen worden sei, erhalten wir keine wissenschaftliche Erklärung.
irgend einer dieser Thatsachen." Und da Darwin und seine Jünger überzeugt
sind, daß die Hypothese das Geforderte leiste, so find wir also wissenschaftlich
verpflichtet, fie° anzunehmen. Genau so wird auch heute in Broschüren. Wochen¬
schriften und Zeitungen die Forderung begründet mit dem neidischen Hinweis
auf die angeblich bevorzugten und begünstigten Hypothesen der Physiker. Die
bloße Möglichkeit dieses Hinweises ist ein beklagenswerter Beweis für die
Denkschwäche, die der Darwinismus verschuldet hat. indem er die ehedem von
den verachteten Scholastikern und Systematikern gepflegte Logik unter Hypo¬
thesen und einer unübersichtlichen Masse von Thatsachen erstickte.
Wer den Darwinismus für gleichwertig hält mit den physikalischen Hypo¬
thesen, der begeht zwei grobe Fehler. Die physikalischen Hypothesen werden
benutzt zur Erklärung von Erscheinungen, die sich vor unsern Angen ereignen;
die Lehre von der Entstehung der Arten durch Zuchtwahl aber soll Erschei¬
nungen erklären, die kein Mensch gesehen hat. sondern von denen diese Lehre
behauptet, daß sie sich vor Millionen Jahren zugetragen hätten. Der Dar-
winianer mutet uns zu, daß wir die Erscheinungen glauben sollen, die er uus
klaren Null; die Erscheinungen, die der Physiker erklärt, brauchen wir nicht
SU glauben, denn wir sehen sie. Daß beim Zusammentreffen zweier Lichtstrahlen
das Licht manchmal verstärkt, manchmal geschwächt und unter besondern Um¬
ständen ausgelöscht wird, kann jeder sehen, der nicht blind ist. Und diese so¬
genannten Jnterferenzerscheinungen waren es zunächst, die den Physiker Young
in der Wellentheorie bestärkten. Denn wenn zwei Wellenreihen zusammentreffen,
so können jene drei verschiednen Erfolge eintreten; der dritte in dem Falle,
daß die Wellen gleich groß sind, sich mit gleicher Geschwindigkeit bewegen,
und je ein Wellenberg der einen Reihe in ein Wellenthal der andern zu liegen
kommt. Erst dann würde der Vergleich richtig sein, wenn die Physiker mit
ihren Theorien nicht mehr bloß die gegenwärtig sich ereignenden Naturerschei¬
nungen erklären, sondern begreiflich machen wollten, wie vor Zeiten die ein¬
fachen Stoffe entstanden find, an denen jene Erscheinungen sichtbar werden,
mit wenn sie einen Stammbaum der chemischen Elemente aufstellten, in dem
der leichte Wasserstoff als Wurzel, Gold und Platin als Spitzen der Krone
erscheinen würden. Dergleichen Spekulationen werden ja von manchen Phy¬
siker» wirklich angestellt, aber mit dem klaren Bewußtsein, daß es philosophische
Spekulationen und nicht für die exakte Wissenschaft verwendbare Hypothesen seien.
Zweitens beweist der Physiker die Richtigkeit seiner Hypothesen dnrch das
Experiment. Die von Darwin selbst zum Vergleich herangezogene Hypothese
wird dadurch gerechtfertigt, daß man Lichtstrahlen gegen einander sendet und
voraussetzt, in welchen Fällen verstärktes Licht, geschwächtes Licht oder Dunkel¬
heit eintreten wird. Gelingen dem Physiker die Experimente nicht, mit denen
er eine Hypothese beweisen will, dann zieht jedermann ohne Schonung und
Erbarmen deu Schluß, daß entweder er ein ungeschickter Experimentator oder
seine Hypothese falsch sei. In der Wissenschaft darf man nichts glauben,
sondern darf uur für wahr annehmen, was durch handgreifliche und augen¬
scheinliche Beweisstücke erhärtet ist; das ist eben der Unterschied zwischen exakter
Wissenschaft und religiösem Glauben. Allerdings hat die Annahme des Äthers
einige Ähnlichkeit mit dem Glauben, aber sie ist nicht Glauben, sondern eben
Annahme. Die Äther- und Wellenhypothese würde ihren vollen Wert selbst
dann behalten, wenn es gar keinen Äther gäbe; denn sie setzt uns in den
Stand, den Lauf gewisser Naturerscheinungen nach unserm Willen und Be¬
dürfnis zu leiten. Giebt es keinen Äther, so dient seine Annahme dem Phy¬
siker, wie das x, die imaginäre Zahl oder eine andre solche Rechengröße dem
Mathematiker. Um ihre Hypothese einer solchen Physikalischen gleichwertig zu
machen, müßten die Darwinianer uns die Verwandlung einer Art in die andre
vormachen. Mit den Millionen Jahren, die dazu nötig sein sollen, lassen wir
uns nicht abspeisen, denn die Tierzüchter vermögen die Umwandlung ganz
außerordentlich zu beschleunigen. Wer eine Geflügelallsstellung besucht, er¬
staunt immer aufs neue über die sonderbaren Gestalten, in die des Züchters
Laune Tauben und Hühner hineinzwängt. Warum also nicht eine wissen¬
schaftliche Zuchtcmstnlt gründen und sich die Züchtung von Hühnern ans
Tauben und von Fasanen aus Hühnern zum Ziele setzen? Binnen weniger
als fünfzig Jahren braucht ja das Ziel nicht erreicht zu werden. Gelingt der
Versuch, so ist der Hauptsatz des Darwinismus bewiesen. Mißlingt er, so ist
bewiesen, daß die Natur bei der Bildung der Arten über Kräfte verfügt hat,
die heute nicht mehr wirksam sind, und Kunstgriffe angewendet hat, die sie
uns nicht verrät.
Der Schlußsatz des oben angeführten Abschnittes aus Darwin enthält noch
einen dritten Fehler, den Häckel zum Angelpunkte seiner Bestrebungen gemacht
hat, die Ansicht nämlich, es sei Aufgabe der Wissenschaft, zu erklären, wie die
Welt geworden ist, und eine Lehre, die das nicht leiste, sei keine Wissenschaft.
In seinem Vortrage „Über Entwicklungsgang und Aufgabe der Zoologie"
nennt Häckel den Begriff einer blos; beschreibenden Wissenschaft eine vcmtrmliotic) in
».äjövw lind will daher der Zoologie (und der Botanik) die Würde einer Wissen¬
schaft nur dann zuerkennen, wenn ihre Systemntiker „in dem natürlichen System
der Organismen den hypothetischen Ausdruck ihres Stammbaumes erblicken."
Erlangte dieser Satz allgemeine Geltung, so wäre er der Tod der exakte»
Forschung und würde die zuverlässige Wissenschaft durch einen wilde» Hypo¬
thesentaumel verdrängen, Wissenschaft ist das geordnete Wisse» von den Gegen¬
stände» oder Erschemnnge» einer bestimmten Klasse, Wer weis;, wie die
wichtigsten Pflanzen und Tiere aussehen, wie sie einzeln benannt und nnter
welchen Benennungen ihre wichtigsten Arten zusammengefaßt werden, der weiß
etwas, und zwar etwas Tüchtiges, und es ist lächerlich, ihm die Wissenschaft
abstreiten zu wollen und von einer oyntrgclivtio in a,<Z.ovo zu sprechen. Ist
er außerdem Anatom und Physiolog, kennt er den innern Bau der Tiere und
Pflanzen und die chemischen Veränderungen, die der Ablauf ihres Lebens mit
sich bringt. so steht sein Wissen höher und greift tiefer, macht aber das
einfache Systematikerwissen der untersten Stufe keineswegs zu nichte. Mag
er nun mich noch die Pflanzen und Tiergeographie, die Bedeutung der Pflanzen
»ut der Tiere für die Kultur, das Wissen vom Menschen dazu sich aneignen
und sein Wissen zur Uuiversalwissenschaft erweitern, so hat er immer uoch kein
Recht, deu einfachen Systematiker zu verachten. Im Gegenteil, je nüchterner
dieser bleibt, je weniger dieser sich durch Lieblingsmeinungen und Hypothesen
verleiten läßt, Dinge zu sehen, die nicht da sind, und andre unbequeme Dinge,
d'e da sind, nicht zu sehen, desto sicherer steht er selbst, der erhabne Mann.
Wir verkennen nicht den in Häckel mächtigen echt dentschen idealen Drang.
Wissend das All zu umspannen und das Geheimnis zu ergründen; aber exakte
Wissenschaft ist solche Philosophie nicht. Wir verkennen anch nicht den wissen¬
schaftlichen Nutzen, ja die Unentbehrlichkeit der hypothcseuspiuncnden Phantasie,
die sich in der Physik so glänzend bewährt hat. Aber sie hat sich doch nur
dadurch bewährt, daß sie der exakten Forschung diente; die Darwinianer kehre»
das Verhältnis um und ordnen die Thatsachen der Phantasie unter. Häckel
gesteht zu. daß seine Zoologie in die innigste Berührung mit der spekulativen
Philosophie tritt, aber, meint er. die Zoologie könne eben „so wenig wie irgend
eine andre Naturwissenschaft der Spekulation entbehren." Gewiß, nur muß
das richtige Verhältnis aufrecht erhalten und die Grenze sauber inne gehalten
werden. Jede Wissenschaft wird um so menschenwürdiger, je mehr sie den
philosophischen Charakter annimmt; aber sobald dieser die Sicherheit und Zu¬
verlässigkeit gefährdet, ist es Pflicht, die Göttin Phantasie vorläufig zu ver¬
abschieden und mit kaltem Kopf und klarem Blick ausschließlich dem trocknen
Knechte Verstand zu folgen. Der unaufhaltsame Fortschritt der Wissenschaft
ist notwendig, weil unsre immer künstlicher werdende Existenz nur noch durch
immer ausgedehntere Herrschaft über die Natur möglich bleibt, und der immer
tiefere Einblick in daS Walten der Naturkräfte, in ihre Harmonie und Einheit
befriedigt zugleich unsern Erkenntnistrieb und gewährt uns einen ästhetischen
Genuß. Aber zu ergründen, wie Gott oder das Unbewußte oder der ursprüng¬
liche Atvmkomplex es angefangen hat, die Welt zu machen, ist nicht Aufgabe
der Wissenschaft. Dieser Überspanntheit gegenüber halten wir es mit Goethe,
der u, a, sagt: „Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu
lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der
Grenze des Begreiflicheil zu halten."
DWP
MtzM
KEMc>n Zeitungen muß mau jetzt täglich von überführten Kranken
und überführten Leichen lesen, das soll heißen: von Personen,
die in das oder jenes Krankenhaus oder nach ihrem Tode in
ihre Heimat zum Begräbnis gebracht worden sind. Wie kann
sich nur das Sprachgefühl so verirren! Verbrecher werdeu über¬
führt, wenn ihnen trotz ihres Leugnens ihr Verbrechen nachgewiesen wird;
dann aber werden sie ins Zuchthaus übergeführt, wenn denn durchaus
„geführt" werdeu muß. Wie ist die Regel? Es giebt eine Anzahl mit Prä¬
positionen zusammengesetzter Verba, bei denen, je nach der Bedeutung, die
sie haben, bald die Präposition, bald das Verbum betont wird, z. B. über¬
setzen (den Wanderer über den Fluß) und übersetzen sein Buch), überlegen
und überlegen, unterhalten und unterhalten, durchfliegen (durchs Examen!)
und durchfliegen (ein Buch), hintergehen und hintergehen, auch wieder¬
holen und wiederholen. Gewöhnlich haben die Bildungen mit betonter Prä¬
position die eigentliche, sinnliche, die mit betonten Verbum eine übertragene
Bedeutung. Die Bildungen um, die die Präposition betonen, trennen bei der
Flexion die Präposition ab (ich halte nnter, ich gehe hinter) und bilden das
Partizip der Vergangenheit mit der Vorsilbe ge— (untergehalten, hinter¬
gegangeil); die dagegen, die das Verbum betonen, lassen bei der Flexion
das Verbum mit der Präposition verbunden (ich unterhalte, ich hinter¬
gehe) und bilden das Partizip ohne die Vorsilbe ge— (unterhalten, hinter-
gangen). Wie steht es also mit iiberführeu und überführen? Es ist doch
klar, daß von einem zum andern Orte etwas nur übergeführt, aber nicht
überführt werden kann. Ebenso verhält sichs bei übersiedeln, wo das
Sprachgefühl nenerdings auch ins Schwanken zu kommen anfängt. Es heißt:
Wann siedelst du über? Ich bin schon übergesiedelt, aber nicht: Wann über¬
siedelst du? Ich bin schon übersiedelt. Bisweilen ist derselbe Unterschied
auch zu beobachten, je nachdem das Verbum im intransitiven oder im transitiven
Sinne gebraucht wird, wenn es auch beidemal in seiner eigentlichen, sinnlichen
Bedeutung steht; es heißt: ich habe nach dem Nachbarhause durchgebrochen,
aber: ich 'habe die Schranken durchbrochen - der Fuhrmann ist übergefahren,
aber: der Fuhrmann hat das Kind überfahren.
Eine weit verbreitete Geschmacklosigkeit, die sür unsre Sprache geradezu
schon verderblich geworden ist, ist die im Übermaß herrschende Unsitte, am
Ende von Nebensätzen das sogenannte Hilfszeitwort wegzulassen, also zu
schreiben: Der Bischof war bestrebt, von dein Einfluß, den er früher in der
Stadt besessen (nämlich hatte), möglichst viel zurückzugewinnen, der Rat ba¬
ngen trachtete, die wenigen Rechte, die ihm noch geblieben (nämlich waren),
immer mehr zu beschneiden. Auch beim Infinitiv mit zu läßt mau das sein
Weg und schreibt: Der Ursachen sind mehrere, wen» sie auch sämtlich auf eine
Wurzel zurückzuführen (nämlich sind) — eine kolossale Pallas, die einst
unen Helm trug, wie aus der oben abgeplatteten Form des Kopfes zu er¬
kennen (nämlich ist). Die Unsitte ist so verbreitet, daß man sie sich nur
dadurch erklären kann, daß die Leute sie für eine besondre Schönheit halten
"ut deshalb mit Vorliebe anwenden. Namentlich Romanschriftsteller schreiben
fast gar nicht anders, aber auch in wissenschaftlichen, namentlich in Geschichts¬
werken geschieht es massenhaft. Ja es muß hie und da geradezu^ in den
Schule» gelehrt werden, daß dieses Wegwerfen des Zeitwortes eine Schönheit
sei; wenigstens erinnere ich mich, in einer pädagogischen Zeitschrift einen Auf¬
satz gelesen zu haben, worin verächtlich vom „Hattewarstil" die Rede war;
offenbar meinte der Verfasser damit die pedantische Korrektheit, die das hatte
und war nicht opfern will. Nun. wer sich einmal die Mühe nehmen null,
bei einem Schriftsteller, der das Zeitwort regelmäßig in dieser We.se wegläßt.
>"ir ein paar Druckseiten lang ans diese angebliche Schönheit zu achten, der
wird sehr bald eines Bessern belehrt werden. Er wird schon nach Weingen
Seiten täuschend den Eindruck haben, als befände er sich in einen, Tiergarten,
wo lauter unglückselige Bestien mit abgehacktem Schwänze» um ihn herum¬
liefen. Es jhe eine ganz abscheuliche Manier. Selbst in Füllen, wo der nach¬
folgende Hauptsat. wieder mit demselbe» Zeitwort anfängt, mit dem der
Nebensatz geschlossen hat. ist das Wegwerfe» des Verbums im Nebensatze
unerträglich. Aber »amentlich das wird nicht nur für eine Feinheit, sonder»
geradezu für eine Notwendigkeit gehalten. Es ist ein allgemeiner Schnlnieister-
aberglaube, daß man nicht ein und dasselbe Wort kurz hinter einander in einen.
Satze zweimal brauchen dürfe. Ich erinnere mich genau, daß uus das in
der Schule immer und immer wieder eingeschärft wurde. Dieser Aberglaube
verschuldet eine ganze Reihe von Dummheiten, z. B. das unnötige und geradezu
störende, irreführende Abwechseln zwischen Synonymen, wo einzig und allein
der wiederholte Gebrauch desselben Wortes am Platze ist, den störenden, das
Verständnis oft in peinlichster Weise erschwerende» Mißbrauch, der mit ersterer
und letzterer, dieser und jener getrieben wird, wo einzig und allein die
Wiederholung des Hauptwortes das Nichtige ist. Ich werde in der Satzlehre
mehr dergleichen zu behandeln haben. Man sehe doch, wie Lessing schreibt,
und wie wenig er von dieser angeblichen Schönheitsregel weiß! Genau das
Gegenteil ist das Nichtige. Ich will nicht sagen, daß es beim Lesen störe,
wenn man nicht weiß, ob das eine hatte, das dasteht, das Ende des Neben¬
satzes oder der Anfang des Hauptsatzes sei; dafür sorgt schon das liebe Komma,
dieser Augentrost des Lesers. Beim Vorlesen aber, also beim Hören, ist das
Weglassen des einen hatte bei weitem störender als die zweimalige Setzung.
Denn in lebendiger Rede spricht ja gar niemand so, da setzt jeder ohne
weiteres das Verbum doppelt, und es fällt nicht im geringsten auf; es ist
eben wieder nur geziertes Papierdeutsch, dieses greuliche Schwanzabhacken!
Doppelt unausstehlich wird es, wenn es in zwei oder mehr aufeinander
folgenden Nebensätzen verschiedne Zeitwörter sind, die dadurch verloren gehen,
haben und sein, z.B.: Es war ein glücklicher Gedanke, dort, wo einst der
deutsche Dichterfürst seinen Fuß hingesetzt (nämlich hat), auf dem Boden,
der durch seinen Aufenthalt geschichtlich geworden (nämlich ist), eine Kuranstalt
zu errichten —, oder wenn das Partizip mit dem Indikativ des Präsens gleich¬
lautet, ohne Hilfszeitwort also das Präteritum vom Präsens gar nicht zu unter¬
scheiden ist, z. B. nachdem 1631 der schwedische General Bauer die Stadt
vergeblich belagert (nämlich hatte) — er verteilte die Gewehre an die Partei,
mit der er sich befreundet (nämlich hatte) — in unsrer Zeit, wo der Luxus
eine schwindelhafte Höhe erreicht (nämlich hat) — er ist auch dann strafbar,
wenn er sich nur an der That beteiligt (nämlich hat). Aber damit berühre
ich ein sehr, sehr trauriges Kapitel, nämlich den verheerenden Einfluß, den
dieses Wegwerfen des Zeitwortes schon auf den richtigen Gebrauch der Tem¬
pora und vor allem den richtigen Gebrauch der Modi im Deutschen ausgeübt
hat und täglich mehr ausübt. Daß selbst unsre ,.führenden" Schriftsteller zum
große» Teil keine blasse Ahnung mehr davou haben, in welche Nebensätze ein
Konjunktiv, und in welche ein Indikativ gehört, daß man täglich hundertfach
der syntaktischen Rohheit begegnet, daß Annahmen, Vermutungen, Meinungen,
Überzeugungen in deu Indikativ, Thatsachen in den Konjunktiv gesetzt werden,
daran ist zum größten Teil das Weglassen der Hilfszeitwörter schuld. Wo
soll noch Gefühl für die Bedeutung eines Modus herkommen, wenn mau jedes
ist, sei, war, wäre, hat, habe, holte, hätte unterdrückt und den, Leser
»ach Beliebe» zu ergänzen überläßt? Auch auf diese Sprachverwüstung gedenke
ich später in der SnKlehre noch näher einzugehen.
Für diesmal noch ein Paar Beobachtungen über Erscheinungen in unsrer
heutigen Wortbildung. Da habe ich eben in anderthalb Zeilen drei Wörter
hingeschrieben, die auf -ung endigen. Schreckliches Verbrechen! Allgemein
verbreitet ist ja der Aberglaube, diese Wörter klänge» häßlich, ja sie seien ge¬
radezu eine Bernnftaltnng unsrer Sprache In Schulen wird gelehrt, man solle
sie möglichst vermeiden; ich erinnere mich sogar, irgendwo die witzige Be¬
merkung gelesen zu haben, unsre Sprache mit ihrem vielen — ung — ung
^ ung klinge wie lauter Unkenrufe.
Das ist barer Unsinn. Die Endung —ung ist tonlos und fällt nirgends
i» solchem Grade ins Gehör, daß ihre öftere Wiederholung in kurzen Zwischen-
räumen stören könnte. Ein Satz wie der, womit ich diese Betrachtung be-
gonnen habe, oder wie folgender ° Wir fassen unser Urteil über die Einrich¬
tung dahin zusammen/ daß ihre Einführung eine schwere Schädigung
des Nechtsgefnhls sein würde -, hat nicht das geringste Anstößige. ' In
lebendiger Rede hört es gar niemand, daß hier kurz hinter einander drei Wörter
"uf —ung stehen. Hebt man freilich die Endung auffällig hervor, so kann
man auch hundert andre Spracherscheinungen anstößig oder lächerlich machen.
Das erste Erfordernis alles Ausdrucks ist Richtigkeit und Klarheit; aber gerade
das wird bei der thörichten Abneigung gegen die Wörter ans —ung fort¬
während vernachlässigt.
Die Wörter auf - ung bezeichnen zunächst eine Handlung, einen Vorgang.
Bildung. Erziehung. Aufklärung bedeutet zunächst die Handlung des
Bittens, des Erziehers. des Aufkläreus. Aus dieser Bedeutung entwickelt sich
"ber leicht eine weitere, nämlich die des Ergebnisses. das diese Handlung hat.
des Zustandes, der durch sie herbeigeführt wird; Bildung. Erziehung.
Aufklärung bedeutet auch deu Zustand des Gebildetseins, des Erzogensems,
des Aufgeklärtseins (man verzeihe die häßlichen Wörter, hier wo es auf Deutlich¬
keit ankommt). Vielfach hat nun die Sprache, um den Unterschied zwischen
der Hmidlnng und ihrem Ergebnis zu bezeichnen, neben dem Wort auf-ung
noch ein kürzeres, meist durch Amiant, unmittelbar ans dein Stamme geschaffen,
gleichsam eine starke Bildung neben der schwachen. So beiden wir Anlage
neben Anlegung und können geradezu reden von der Anlegung von Garten-
Anlagen oder von der Anlegung von Gas- und Wasseranlagen. Aber
wie verfährt man jetzt in dem blindwütigen Hasse gegen das arme —ung?
Da. wo die Sprache eine Unterscheidung an die Hand giebt, mit andern
Worten- wo sie es ermöglicht, einen Unterschied zu machen (da haben wir
gleich wieder ein Beispiel: Unterscheidung und Unterschied!), verschmäht
man ihn und schwatzt von Hingabe, Erwerb, Bezug. Vollzug. Ver¬
gleich, Ausgleich,' wo Hingebung. Erwerbung, Beziehung, Volk-^
ziehung, Vergleichuiig, Ausgleichung das einzig Nichtige ist. Ander¬
seits: da, wo die Sprache wirklich beides, Handlung und Zustand, mit
ein und demselben Worte ausdrückt, schafft mau künstlich einen Unterschied
durch greuliche Neubildungen auf — heit (sie schießen jetzt wie Pilze aus der
Erde) und läßt die Menschen aus Geneigtheit oder Abgeneigtheit, in
der Zerstreutheit, in der Verzücktheit, in der Verstimmtheit, in der
Aufgeregtheit, in der Überraschtheit, uuter Merkmalen von Geistes¬
gestörtheit (!) thun, was sie früher aus Neigung oder Abneigung, in der
Zerstreuung, in der Verzückung, in der Verstimmung, in der Auf¬
regung, in der ersten Überraschung, in einem Anfalle von Geistesstörung
thaten. Fühlt der Leser nicht das Vornehme in den Bildungen auf —ung?
Weht ihm nicht klassische Luft daraus entgegen? und aus den Bildungen auf
— heit der gemeine Dunst der heutigen Zeitungssprache? Der Strafvollzug,
von dem unsre Juristen, die innige Hingabe, von der unsre Romanschriftsteller
immer reden (nnter andern auch Gustav Freytag wieder, in seinem neuen
Buche über deu Kronprinzen auf jeder Seite), sind geradezu greulich. Wird
jemand Eingabe und Eingebung verwechseln und schreiben: er that dus
aus göttlicher Eingabe? Das fürchterlichste ist der Bezug. Früher
kannte man Bezüge nur an Bettkissen und Stuhlpolsteru. Jetzt heißt es:
mit Bezug auf, in diesem Bezug u. s. w., und da natürlich auch die,
die das Wort so verkehrt anwenden, die Bedeutung der Handlung, die
darin liegen soll, ihm doch nicht recht anfühlen, was haben sie gemacht?
Sie haben das herrliche Wort Bezugnahme erfunden, das nnn freilich
eigentlich Bezug nehmung heißen müßte. Das könnt ihr bequemer haben,
ihr klugen Leute! Was ihr mühselig durch das doppelt fehlerhafte Wort
Bezugnahme auszudrücken sucht, das liegt eben in dein einfachen und richtigen
Worte Beziehung! Aber nur jn kein Wort auf —ung! Dem arme» — ung
ist der Tod geschworen, das muß mit Stumpf und Stil ausgerottet werden.
Bald wird es als ein Zeichen von Mangel an Erzug und Gebildetheit
gelten, so veraltete Wörter wie Erziehung und Bildung auch nur in den
Mund zu nehme». Vielleicht erleben wirs auch noch, daß vom Lotteriezug
geredet wird, statt von der Lvtterieziehung.
Eine rechte Dummheit hat in der Bildung der Adjectiva auf - isch um
sich gegriffen bei Orts- und Personennamen, die auf e endigen: man schreibt
nur noch von der Halle'schen Universität und von Goethe'schen und
Heine'schen Gedichten. Der Leser übersehe ja das Apostroph nicht! Ohne
das Apostroph würde die Sache den Leuten gar keinen Spaß machen. Jn
dieses Häkchen sind Schulmeister und Professoren ebenso vernarrt wie Setzer
und Korrektoren. Die Endung -isch hat stets unmittelbar an den Stamm
zu treten. Von Laune heißt dus Adjektiv launisch, von Hölle höllisch;
niemand spricht von lauue'scheu Mensche» oder solle'schen Qualen. Und
sagt oder und schreibt wohl ein einziger vernünftiger Mensch: dieses Gedicht
klingt echt Goethe'sah? Jeder sagt: es klingt Goethisch. Wenn man aber
in der undeklinirten, prädikativen Form das Adjektiv richtig bildet, warum
nicht in der attributiven, deklinirten? Es könnte wohl einer denken, der Dichter
hieße Goeth, wenn man von Goethischen Gedichten spricht? Es ist doch
zu beschämend, daß in der ganzen großen Gemeinde, in dem Jahrbuche und
in der ganzen neuern Litteratur, die Goethes Namen tragen, ein solcher Unsinn
wie die Goethe'schen Gedichte hat um sich greifen können. Das müßte doch
wahrhaftig wieder zu beseitigen sein! Unsre Klassiker, die in die Hallische
Litteraturzeitung schrieben (im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert sagte
man sogar mit richtigem Amiant baltisch). drehten sich im Grabe herum,
wenn sie lasen, daß es jetzt einen .Halle'schen Bürgermeister giebt. Und genau
so dumm sind die Lanbe'schen Dramen, die Heine'schen wieder, die Heyse'sche
Sprachlehre und die Taaffe'sche Ära. Neuerdings fängt man auch an, von
der meiningen'schen Truppe zu reden, statt von der meiningischeu. Dann
wollen wir mir auch in Zukunft von den bremen'scheu Stadtmusikanten und
von planen'schen Fabrikaten reden (geschieht schon! auch der plauische
Bürgermeister heißt bereits der planen'sche! Die Red.), vou thüringer'schen
Landgrafen, vom Sachsen'schen »ut vom preußen'schen König. Nein, lieber
Leser, die Ortsnamen ans — e» sind alte Dative im Plural, und wenn ein
Adjektiv auf — isch davon gebildet werden soll, so kann auch das nur vom reinen
Stamme gebildet werde»; es heißt also einzig richtig: bremisch, plauisch,
sächsisch, preußisch, thüringisch, meiningisch. Meile dirs und kämpfe
liegen die Dummheit an, wo du nur kannst!
Eine Masse von Unfug ist neuerdings in der Wortzusammensetzung ein-
gcrisse». Ich will nur einiges anführen. Bei der sogenannten uneigentlichen
Zusammensetzung, d. h. bei der, bei der (Papiermcnsch, staune! bei der, bei
der ^ welches Verbrechen! dn würdest doch schreiben: bei derjenigen, bei
welcher) die Wörter ursprünglich unverbunden neben einander standen, muß das
erste Glied, das Bestimmungswort, natürlich im Genetiv stehen: Tageslicht,
Wirtshaus, Beamtenwohnnng, Konfirmandenanzng (eigentlich des
Tages Licht, des Wirts Haus, des Becnnteu Wohnung). Jetzt kann
man aber täglich in den Zeitungen lesen: Reisendergesuch, Disponent¬
gesuch und ähnliches. Statt der organischen Berbindung ein bloßes rohes
ineinanderschieben.
Da ist nun auch ein Fall, der wieder schlagend zeigt, was dabei heraus¬
kommt, wenn die große Masse anfängt, mit Nachdenken an der Sprache zu
ändern. Es giebt alte, gute schwache Singularformen des Feminins. In
feststehenden Redensarten und Sprüchen haben sie sich noch erhalten, z. B. auf
Erden, von Gottes Gnaden, die Kirche unsrer lieben Frauen, es kommt
endlich um die Sonnen u, s. w.; im übrigen siudsie verloren gegangen. Wunder-
voll erhalten aller haben sie sich in der Wortzusammensetzung eben unter dem
Schütze der Zusammensetzung. Man denke an Sonnenschein, Frauenkirche
öd. i, die Kirche der Jungfrau Maria), Erdenrund, Lindenblatt, Aschen¬
becher, Taschentuch, Gassenjunge, Kohleuzeichnuug, Leichenpredigt,
Gnadengesuch, Breitengrad, Muldenthal. Sogar Lehn- und Fremd¬
wörter haben sich in der Zusammensetzung diesem guten, alten schwachen Genetiv
angeschlossen, wie in Straszenpflaster, Tintenfaß, Kirchendiener, Visiten¬
karte, Toilettentisch, Promenadenfücher. Da haben sich nun neuer¬
dings offenbar kluge Leute die Frage vorgelegt: Was soll das n in diesen
Wörter»? ein n bezeichnet ja die Mehrzahl, und die hat hier gar keinen Sinn,
also hinaus damit! Und so schreibt und drückt man jetzt wahrhaftig: Asche¬
becher, Aschegrube, Tintesaß, Sahnekäse, Stellegesnch, Muldethnl,
Visitekarte, Toiletteseife, Promenadeplatz, Chokoladefabrik ». s. w.
In allen Banzeitnngen muß man von Lageplau lesen — so haben die Herren
Architekten, die ja erfreulicherweise eifrige Sprachreiniger geworden sind, Situa¬
tionsplan übersetzt —, in alle» Kunftzeitschriften von Kohlezeichnungen.
Wer nicht fühlt, daß das das reine Gestammel ist, der thut mir aufrichtig leid.
Es klingt so, als ob kleine Kinder dahlten, die erst reden lernen und noch nicht
alle Konsonanten bewältigen können. Man setze sich auch das nur weiter im
Geiste fort. Was wird die Folge sein? Daß wir in Zukunft auch lallen:
Svnneschein, Taschetnch, Roseduft, Geigespieler u. s. w. Nein, wenn
der alte schwache Genetiv durchaus nicht mehr benntzt werden soll, dann bleibt
mir eine Möglichkeit der Zusammensetzung, die, daß man das e abwirft und
nur den reinen Stamm beibehält. So haben Nur neben Kirchenbuch und
Kirchendiener Kirchspiel und Kirchvater, neben Mühlenstraße Mühl¬
gasse, neben Muldenthal und Muldenbett Elbthal, Elbufer und Elb-
brücke. Aber eine so klägliche Leimerei wie Saalezeitung ist über die Maßen
scheußlich.
Und doch wird namentlich bei der Taufe neuer Straße» oder Gebäude
nur noch in dieser Weise geleimt, von organischer Verbindung ist keine Rede
mehr. Wer wäre vor hundert Jahren imstande gewesen, eine Straße
Augustastraße, ein Haus Marthahaus zu nennen? Da bildete man
Annenkirche, Katharinenstra ße, und es fiel doch auch niemand ein, dabei
an eine Mehrzahl von Anne» oder Katharine» zu denke».
Da haben also Wohl die Schenkwirte, die statt der früher allgemein
üblichen Speisekarte eine Speisenkarte eingeführt haben, etwas sehr Welses
gethan? Haben sie nicht den guten, alten Genetiv wieder hergestellt? Nein,
daran haben sie nicht gedacht, sie haben die Mehrzahl ausdrücken wollen, denn
sie haben sich gesagt: auf meiner Karte steht doch nicht bloß eine Speise.
Damit sind sie aber nun auch wieder gründlich hineingefallen. Wenn nur
das Volk nicht mit Überlegung an der Sprache ändern wollte, es wird allemal
eine Dummheit fertig! In Speisekarte ist die erste Hälfte nicht durch das
Substantivum Speise gebildet, sondern durch den Verbalstamm. Die Speise¬
karte ist die Karte, nach der man speist, wie die Tanzkarte die Karte, nach
der man tanzt, die Spielregel die Regel, nach der man spielt, die Bau¬
ordnung die Ordnung, nach der man baut, die Singweise die Weise, nach
der man singt, das Stickmuster das Muster, nach dem man stickt, die Zähl¬
methode die Methode, nach der man zählt u. s. w. Hätten die Schenkwirte
mit ihrer Speiseukarte Recht, dann müßte man ja auch Tänzekarte sagen.
Ähnlich verhält sichs mit dem neuen Modewort Anhaltspilnkt. Früher sagte
man: ich habe dafür keinen Anhaltepunkt, d. h. keine Stelle, wo ich mich
anhalten kann; der erste Teil der Zusammensetzung war wieder der Verbal¬
stamm, wie in Speisekarte. Daneben hatte man noch in demselben Sinne
das Substantiv Anhalt; man sagte: dafür fehlt es mir an jedem Anhalt.
Aber Anhaltspunkt, so beliebt es auch neuerdings zu werden anfängt
wahrscheinlich glaubt man damit einen feinen Unterschied geschaffen zu
haben von den Anhaltepunkten auf deu Eisenbahnen, als ob Anhalte-
Punkt nicht ebensogut den Ort bezeichnen konnte, wo man sich anhält, wie
den, wo man anhält! — Anhaltspunkt ist Unsinn.
Auch unter deu sonstigen Zusammensetzungen, deren Bestimmungswort ein
Verbum ist, sind einige, die man fortwährend falsch gebildet findet, nämlich:
Zeichnenbuch, Zeichnenheft, Zeichnensaal, Rechnenheft. Eine dunkle
Kunde davon, daß diese Formen falsch find, und warum sie es sind, ist zwar
neuerdings selbst bis in die Kreise der Volksschule gedrungen; dennoch muß
man die falschen Formen noch täglich neben den richtigen lesen. Es kommt
hier folgende Regel in Betracht. Das Verbum kann in der ersten Hälfte von
Zusammensetzungen nnr in der Form des Verbalstammes erscheinen; es
heißt: Sprichwort, Schreibfeder, Stehpult, Rauchzimmer, Sing¬
stunde. Nun giebt es einige Verbalstümme, die auf n ausgehen, nämlich
zeichen —, rechen —, trocken —, Waffen —, turn —, wovon die In¬
finitive rechnen (eigentlich rechenen), zeichnen, trocknen, waffnen,
turnen heißen. Werden diese zusammengesetzt, so können natürlich nur Formen
entstehen wie Rechenstunde, Zeichensaal, Trockenplatz, Waffenrock,
Turnhalle. Wäre Nechnenbuch richtig, dann müßte man auch sagen:
Waffueurvck, Turuenhalle, Schrcibeufeder, Neißenzeug, Singeu-
stunde. Bei der Entstehung der falschen Formen mag wohl wieder ein ge¬
wisses Uuterscheiduugsbedürfuis im Spiele gewesen sein: man wollte den
Gleichklang mit den Substantiven Zeichen und Rechen vermeiden. Aber diese
Besorgnis vor Mißverständnissen ist doch wahrhaftig überflüssig.
Mau schwelgt aber jetzt auch in Zusammensetzungen oder vielmehr Zu-
sammenschiebungen, die man überhaupt uicht bilden, sondern durch Genetive
oder Adjektiv« ersetzen sollte. Goethehaus, Goethebildnis, Goethe-
b i o g r a p h i e, S es ni rd e n k in al, Shakespearedrainen, Reinh r a ndts es ü ter,
Pilotyschüler, Wagnerverehrer, Vischerverehrer, Weimarlvse,
Japanwaren und ähnliches Schandzcug schießt in Masse empor. Wo ist
die Grenze? frage ich wieder. Wollen wir schließlich auch noch von Goethe¬
gedichten reden (der Erlkönig ist ein Gvethegedicht) oder von Goethe¬
eltern? Man denke sich, daß jemand Berlinlose, Münchenlose,
Leipziglose oder Jtalienwaren, Frankreichwaren, Englandwaren
zum Verkauf anbote! Und Wagnerverehrer und Vischerverehrer,
das sind doch — nach Bildhauer, Schornsteinfeger und ähnlichem zu
urteilen. — offenbar Kerle, die gewerbsmäßig jeden verehren, der Wagner
oder Bischer heißt.
Eine alberne Nachäfferei des Französischen endlich, wie so vieles in
unsrer Sprache, sind Zusammensetzungen wie Malerdichter, Malerradirer
und das jetzt bis zum Ekel gebrauchte Dichterkomponist. Es sind das
rohe, gänzlich undeutsche Nachbildungen von peintrö-gravonr, eominiZ-vos-rgeur
u. ahnt. Ein Walzerkomponist ist nach deutscher Logik einer, der Walzer
komponirt. Nun sage man sich selbst, was ein Dichterkomponist ist.
Hiermit will ich diese Plänkeleien vorläufig abbrechen. Im nächsten
Vierteljahre dieser Zeitschrift gedenke ich in einer Reihe von Heften einige der
schlimmsten Modedummheiten ans dem Gebiete der Satzbildung vorzuführen.
Da wird sichs freilich um Dinge handeln, die für unsre Sprache uoch weit
gefahrdrohender sind; daher werde ich auch noch etwas gröberes Geschütz auf¬
fahren müssen.
user Hausherr, sichtlich stolz auf seine gebildete Tochter, hörte
seinem ältesten Sohne, der inzwischen eingetreten war und
uns als Stammhalter vorgestellt wurde, mit Interesse zu. Er
war das Ebenbild des Vaters, eine schöne, martialische Er¬
scheinung, die Tapferkeitsmedaille sowie das an seiner Brust
hängende Kreuz des Danilvordens zeigten, daß der etwa vierundzwanzigjährige
junge Mann anch schon im Feuer gestanden hatte. Die jungen Leute, die mit
ihm gekommen waren, waren seine Freunde. Nach herzlicher Begrüßung nahmen
!le teil an unserm Mahl und unsern Gesprächen, die sich beim Dalmatiner
Vivo noro bis tief in die Nacht hinein erstreckten.
Die Gaststube wurde uns zum Nachtquartier hergerichtet, doch mußten
wir sie mit dem Sohne des Hauses teilen; unsre Diener waren im Pferdestnll
untergebracht, während die Familie im Nebenzimmer lagerte. Ich weiß nicht,
war es Ermüdung oder die außergewöluiliche Reinlichkeit des Hauses, ich
schlief prächtig, und die Sonne stand schon hoch am Himmel, als mich mein
Freund weckte, um nach dem Frühstück, daß unsre Diener zubereiteten und
woran auch unser Wirt teilnahm, einen Spaziergnng dnrch den Ort zu unter¬
nehmen. Dobrnjak bestand damals aus dreißig unregelmäßig zerstreuten kleinen
Häusern, unter denen das Haus unsres Gastfreundes, der zugleich Richter und
Kommandant der Mobiltruppeu war, Wohl das ansehnlichste war, die andern
waren meist nur aus Steinen und Reißig zusammengeflickte Baracken, in denen
Menschen und das liebe Vieh gemeinschaftlich hausten. Eine kleine, griechisch¬
orientalische Kapelle sah einer Festung ähnlicher als einem Gotteshause, was
aber nicht Wunder nahm; befanden wir uns doch auf blutgetränkem Boden
in dem sog. Xg.iÄ-äAg'Il (schwarzer Boden), den, der Sage nach, noch kein Türke
in den 590 jährigen Kämpfen lebend verlassen hat. Wie ein gothischer Dom
erhob sich südöstlich das Ziel unsrer Wünsche, der Dormitor, dessen Abhänge
mit ihren schwarzen Wäldern und riesigen Schneefeldern wunderbar von dem
blauen Himmel abstachen.
Wir sollten nachmittags aufbrechen und an der obern Waldgrenze über¬
nachten, um am nächsten Tage, bei Sonnenaufgang, die Besteigung der Spitze
zu unternehmen. Unser Wirt, sein Neffe und ungefähr 10 montenegrinische
Soldaten sollten uns als Führer und Gepäckträger begleite:?; ich gab unserm
Diener Auftrag, an den Proviant zu denken, wozu der gestern geschossene
Rehbock sofort gebraten wurde. Die Kunde von der Ankunft eines OeouiK
(Arzt) hatte sich schnell verbreitet, sodaß mein Freund alle Hunde voll zu thun
hatte, um alle Hilfesuchenden mit Rat und Arzneien zu versehen.
Nach dem Essen brachen wir auf, unsre Kolonne war 15 Mann stark,
7 Pferde und des Doktors Meute begleitete» uns. Hinter dem Orte betraten
wir uralte Bucheubestcinde, durch die der Weg bis ans die höher gelegenen
Wiesen führte. Den Beschluß unsres Zuges bildete» die mit Decken beladenen
Pferde, die hinter einander gekoppelt vou einem alte« Montenegriner, einen,
Musikanten seines Zeichens, geführt wurden. Wir kamen über mehrere Wald-
Wiesen, auf denen kleines, aber kräftiges Hornvieh weidete und allerhand junges
Volk mit Heumachen beschäftigt war. Der Weg ward immer schwieriger,
manchmal nur den kriegspfadgewvhnten Augen der Montenegriner erkennbar.
Gegen L Uhr erreichten wir die äußere Waldgrenze, wo wir unser Nacht¬
quartier aufschlugen. Bald waren einige junge Föhren gefällt, die als Zelt-
Stanzen dienten, auf ihnen wurden die schwarzen montenegrinischen Decken be¬
festigt. Die Pferde wurden abgezäumt und frei laufen gelassen; sie ergötzten
sich an dem wundervollen Alpengras. Ein Teil unsrer Kolonne ging, nach
Holz auszuschauen, dessen wir in dieser luftigen Höhe (1960 Meter nach des
Doktors Bestimmung) dringend bedurften. Ein angeführtes geschlachtetes
Schaf wurde um Spieß gebraten, ich unterhielt mich unterdeß mit dem Neffen
unsers Wirtes, dem finstern Marko, und ließ mir von ihm einige Episoden
aus dem letzten Türkenkriege, besonders von der Türkcnvernichtung beim
Dugapaß berichten. Dabei schaute ich dem Spießbraten zu, das ich noch nie
mit angesehen hatte. Nach etwa anderthalb Stunden war der Braten gar,
und bewaffnet mit einem großen Handjar ging der Hausherr an das Zer¬
legen des leckern Mahles; jedem von uns reichte er sein Stück, natürlich ohne
Gabel und Teller, und binnen kurzem war es verzehrt. Die kreisende Slivovitz-
flasche und der dampfende Thee verbreiteten bald eine behagliche Stimmung.
Der Anblick, der sich dem umherschweifenden Auge bot, war wunderbar genug;
vor uns schimmerte im letzten Abendscheine die gewaltige Dvrmitorspitze mit
ihren schneeigen Flächen und Abhängen, weiter unten der dichte, dunkle Urwald,
dies alles Übergossen vom Mondlicht, das seine Strahlen auch über unser
Lager auf der kleinen Waldwiese warf und zu dem rot erglühenden Feuer,
um das die bärtigen Gestalten der wilden Gebirgssöhne lagerten, eine» selt¬
samen Gegensatz bildete. Ans unsere Aufforderung begann der Musiker sein
dreisaitiges Instrument zu stimmen, und mit klarer Stimme erschollen unter
Chorbcgleitung einige montenegrinische Schlachtlieder in die stille Nacht hinaus,
dein ein ziemlich eintöniger Vortrag einiger Gesänge aus dem nationalen Epos
von der Schlacht um Amselfelde folgte. Gegen 11 Uhr war das ganze Lager
bis auf die Feuerwachen in tiefen Schlaf versunken, aus dem uns um 3 Uhr
früh unser Freund Stero weckte.
Schweigend traten wir unsern Marsch an, anfangs zwischen Krummhvlz-
feldern, dann abwechselnd über Gras-, Moos- und Schneeslcichen, bis wir zu
einem großen Quell gelangten, wo eine kleine Rast mit Frühstück abgehalten
wurde. Die Temperatur des Wassers wurde vom Doktor auf 5,3 Grad Celsius
bei einer Lufttemperatur von 12,6 Grad Celsius und einer Seehöhe von 2100
Metern bestimmt. Dann ging es mit Klettern, Sprüngen und Hinaufziehen
durch verschiedene Kamine und wackeliges Geröll noch zwei Stunden bergauf,
und um 5 Uhr 36 Minuten wurde die Spitze erreicht. Unser Unternehmen
war vom besten Erfolge gekrönt, die stolze, kaum unsre Gesellschaft fassende
Spitze war genommen!
In unbegrenzte Weiten kreiste das entzückte Auge; das schneebedeckte Ge>
birge von Montenegro, mit seinen unzähligen Spitzen und Püffen, das zer¬
klüftete Steinmeer der Dormitor-Planina zu unsern Füßen, in weiter Ferne
ein blauer Streifen, das Meer, hinter uns das grüne Sandjack und Albanien,
nur an den Grenzwächtern Bosniens, an dem stolzen Maglie und Wvlnjak
verdeckte eine dichte Nebelschicht den Einblick in das böhmische Gebiet. Für
einen Augenblick standen wir sprachlos in stummem Entzücken über die Gro߬
artigkeit dieser Rundsicht, dann brachte ein donnerndes Zivio und einige weit¬
hinschallende Flintenschüsse dein König des Gebirges unsern Gruß dar. „Nicht
so hoch, wie ich glaubte und wie die Angaben lauteten, kaum 2660 Meter,"
sagte der immer gründliche Doktor; dann verlangte er zu meinem Erstannen
von seinem Diener sein Rasierzeug und ließ sich in aller Seelenruhe seinen
kleinen Stutzbart abnehmen. „Das kann mir nicht jeder nachmachen," sagte
er, und wir mußten ihm beistimmen. In eine der geleerten Flaschen steckten
wir dann eine auf Pergnmentpapier geschriebene Urkunde unsrer Besteigung
und vergruben sie zwischen den Steinen.
Nach etwa einstündigem Aufenthalt verließen wir die stolze Dormitor-
IPitze und begannen den beschwerlichen Abstieg. Unterwegs stießen unsre Führer
auf ein Nudel harmlos grasender Gemsen, auf die sie eine regellose Jagd be¬
gannen, was uns etwa zwei Stunden Verzögerung, fünf Gemsen aber das
Leben kostete. Gegen elf Uhr erreichten wir unser Lager, wo ich Gelegenheit
hatte, ein neues Küchenrezept zu erHaschen, da des Doktors Bursche eben dabei
war, einen Ränberbraten, wie er es in seiner Heimat, in den dichtbewaldetcn
Karpathen gelernt hatte, für uns zuzubereiten. Ein beliebiges Stück Fleisch
wird in handtellergroße und fingerdicke Stücke geschnitten, diese werden dann
auf einen dünnen Stock, immer abwechselnd mit je einer Speckscheibe aufge¬
spießt, mit Salz und Pfeffer eingerieben und am offnen Feuer so lange ge¬
dreht, bis sich die einzelnen Scheiben aufzurollen beginnen. Zuletzt gießt man
Rotwein darüber, läßt sie nochmals einige Minuten rösten, und ein äußerst
schmackhaftes Gericht ist fertig. Uns allen mundete es so vorzüglich, daß binnen
kurzem eine halbe Gemse vollständig verschwunden war.
In sast gehobener Stimmung (kein Wunder, denn es wurde ein 37 Liter
haltendes Fäßchen Rotwein, nebst beträchtlichen Mengen Rum und Schnaps,
ausgetrunken) erreichten wir gegen Abend Dobrujcck, wo uns zu Ehren ein
großes Fest veranstaltet wurde, das in einem allgemeinen Schmaus für das
ganze Dorf gipfelte, zu welchem außer den von uns gelieferten Gemsen noch
etliche Schafe geschlachtet wurden. Ich war froh, gegen Mitternacht endlich
meine todmüden Glieder ausstrecken zu können. Am andern Morgen hatte der
Doktor schon zu früher Stunde mit seinen Kranken zu thun, ich wohnte
»nterdeß einer Gerichtssitzung bei, an der außer unserm Gnstfreund einige
Ortsältesten und der Geistliche Teil nahmen. Später, nach herzlichster Ver¬
abschiedung, traten wir gegen Mittag unsern Heimweg an und erreichten spät
in der Nacht unser Blockhaus.
Meiner unmaßgeblichen Meinung nach ist die Gesetzgebung eines Landes
das sicherste Kennzeichen seiner Entwicklungsstufe, seines innern Gesamtlebens
und des Vertrauens, das man ihm in internationalen Beziehungen widmen
darf; ich glaube also, daß dem Leser mit Anführung einiger in Montenegro
maßgebenden Gesetze besser als mit Beschreibungen des Volkscharakters gedient
ist. So habe ich mir aus dem Kodex Dcmilos I. einige bezeichnende Gesetze
heraufgeschrieben und hoffe, daß sie dem Leser ein wenig Interesse abgewinnen
werden. Der Kodex DanilvS I., der seit dem 23. April 1855 in Kraft ist
(unter dem Titel: Kodex Dcmilos I. des Fürsten und Herren des freien
Montenegro und Brdah) besteht aus 95 Artikeln, die voriges Jahr unwesentlich
abgeändert wurden und sämtliche Bürger des Landes binden. Alle Montene¬
griner und Vrdahner sind vor dem Gesetze gleich, Ehre, Eigentum, Leben und
Freiheit eines jeden sind unantastbar und können nur durch ein gerichtliches
Urteil beeinträchtigt werden. Die Richter sollen unparteiisch sein, jede Partei
und ihre Gründe anhören, jede zu Wort lassen und ihr Urteil erst dann fällen,
wenn sie vollkommen klar in der betreffenden Sache sind; zeigt sich ein Richter
parteiisch, so wird er abgesetzt und muß außerdem 150 Maria-Theresienthaler
Strafe zahlen; verlangt oder empfängt ein Richter Geschenke, so wird er eben¬
falls abgesetzt und muß 150 Thaler zahlen, von denen der Denunziant 50
Thaler erhält; der aber, der dem l Richter Geschenke verspricht oder giebt,
muß für jeden versprochnen Dukaten eine Woche im Gefängnis sitzen und darf
nie mehr vor Gericht erscheinen. Jeder soll seine Ortsvorsteher, Ortsültesten
und Richter achten und lieben, wer sie verleumdet oder mißhandelt, zahlt
10 Thaler Strafe, während der Vorsteher, Älteste oder Richter, der einen
Montenegriner beleidigt, 20 Thaler zahlen muß. Wer sich mit dem Feinde ins
Einverständnis setzt, um dem Lande zu schaden oder Aufruhr unter dem Volke
zu stiften, wird, wenn ihn zwei Zeugen überführen, erschossen, und jeder, der seinen
Verrat entdeckt, kann ihn töten. Wer dies unterläßt oder ihn gar verbirgt,
unterliegt der gleichen Strafe. Wer in Kriegszeiten nicht zu den Waffen
greift, sei es uun ein einzelner oder ein ganzer Stamm, wird entwaffnet, darf
nie wieder Waffen tragen, hat keine Ehre mehr und muß noch außerdem eine
Weiberschürze tragen, zum Zeichen, daß er kein Maunesherz hat. Wer die
Flucht eines Schuldigen begünstigt, wird gleich ihm bestraft. Jeder Mon¬
tenegriner, der einen audern tötet, ohne in Notwehr zu sein, wird erschossen
und kann sich nicht loskaufen; entflieht er, so wird sein Vermögen wegge¬
nommen, er selbst darf das Land nicht wieder betreten, da er für vogelfrei
erklärt ist. Wer beim Streite den Gegner verwundet, wird mit Geldstrafe
belegt, die, wenn die Verwundung vorsätzlich oder aus Übermut geschah, ver¬
doppelt wird. Stößt der Montenegriner einen andern mir dem Fuß, oder
schlägt er ihn mit dem Pfeifenrohr (sehr entehrend), so muß er 15 Dukaten
Strafe zahlen, auch kann ihn der Betroffene straflos töten. Dies muß aber
unmittelbar auf die Beleidigung geschehen, sonst wird er als Verbrecher gestraft.
Wer eines seiner Güter verkaufen will, muß zuvor seine Verwandten und
Nachbarn fragen, ob sie es zu dem geforderten Preise kaufen wollen; haben
sie keine Lust dazu, so kann er es anderweit verkaufen, dies muß aber im
Kaufvertrag ausdrücklich bemerkt werden, sonst ist der Kauf ungiltig. Söhne
können sich von ihren Eltern bei Lebzeiten und ohne deren Bewilligung nicht
trennen. Denn der Vater kaun nach Gutdünken schon bei Lebzeiten sein Ver¬
mögen verteilen; stirbt er ohne Testament, so wird das Vermögen zu gleichen
Teilen unter die Kinder verteilt, wobei aber der Witwe die lebenslängliche
Nutznießung des Gesamtvermögens gesichert bleibt. Verheiratet sich ein Mäd¬
chen, so hat sie uur Anspruch auf die Mitgift, die ihr die Eltern freiwillig
geben. Eine kinderlose Witwe genießt, so lange sie unverheiratet bleibt, das
ganze Einkommen von dem Vermögen ihres Mannes, vermählt sie sich wieder,
so erhält sie nur eine Rente von höchstens 10 Thalern. Stirbt der Vater,
ohne Sohne zu hinterlassen, so erben die Töchter alles bis ans die Waffen,
die der nächste männliche Verwandte erhält; hat der Vater aber Schwestern,
so bekommen diese ein Drittel seines Nachlasses. Erhält ein junges Mädchen
Güter als Mitgift und bleibt in der Ehe kinderlos, so fallen nach ihrem Tode
ihre Gitter an ihre Geschwister. Will sich jemand verheiraten, so muß er
dies drei Tage vor der Hochzeit dein Ortsgeistlichen mitteilen, damit dieser
das Mädchen um ihre Zustimmung frage. Verweigert fie diese, so darf der
Geistliche nicht trauen, sonst wird er seines Amtes entsetzt. Nimmt jemand
die Frau eines andern, oder entführt er ein Mädchen, das ihm nicht von
dessen Eltern oder Verwandten verlobt worden ist, so wird er Landes ver¬
wiesen und sein Vermögen weggenommen. Vereinigt sich aber ein Mädchen
aus eigner Wahl, einem Manne, selbst gegen den Willen der Eltern, so kauu
ihr niemand etwas anhaben. Verführt ein Montenegriner ein Mädchen und
will er sie dann nicht heiraten, so zahlt er ihr 150 Thaler zum Unterhalt
des Kindes, und dieses tritt, nachdem es volljährig ist, in die Rechte der ehelich
gebornen Kiuder. Ueberrascht ein Montenegriner seine Frau beim Ehebruch so
kann er sie und ihren Liebhaber töten; entflieht sie, so wird sie Landes verwiesen.
Herrscht in der Ehe Unfrieden, so darf sich der Mann von der Frau trennen,
doch dürfen beide Teile nicht wieder heiraten, und er muß für den Unterhalt
der Frau Sorge tragen, giebt diese aber nach der Trennung Anlaß zu Ärgernis,
so füllt die Versorgung weg. Ein auf der That ergriffener Dieb erhält Stock¬
schläge, und zwar gebühren ihm für einen Waffendiebstcchl hundert, für ein
Pferd oder einen Ochsen fünfzig und für Hammel und kleinere Diebstähle
zwanzig Prügel. Wird er zum drittenmal beim Diebstahl abgefaßt, so wird
er erschossen; der, der ihn abfaßt, erhält zwanzig Thaler Belohnung. Ein
Raubanfall auf fremdem Gebiete hingegen wird nicht als Diebstahl angesehen,
nur wenn dem Staate dadurch diplomatische Schwierigkeiten erwachsen, wird
der Anführer eines solchen Raubzuges mit Staatsgefäuguis bis zu sechs Mo¬
naten gestraft, was aber als keine entehrende Strafe gilt. Jeder Flüchtling,
der montenegrinisches Gelnet betritt, ist unverletzlich, so lange er nach den
Landesgesetzen lebt.
Ich will die Leser nicht länger mit Beispielen langweilen, ich habe nur
die ausgesucht, durch die sich ein Einblick in den Volkscharakter gewinnen läßt,
nud ich kann versichern, daß der Einfluß dieser Gesetze auf jenes Naturvolk
äußerst günstig war; seit Jahrzehnten hört man nichts von Ehebruch und
Mord, und Diebstahl und Selbstmord gehören zu den größten Seltenheiten.
Montenegro ist ein armes Land, die nackten Felsen und der Mangel an
Erdreich gestatten dein Ackerbau leine Entwicklung. Jahr für Jahr herrscht
Hungersnot, der nur die russischen Geld- und Getreidesendungen abhelfen
können. Durch diese Sendungen werden die Montenegriner freilich nach und
nach zu Söldlinge» Rußlands, für das sie bereitwillig ihr Blut in den Kämpfen
gegen die Türkei und jetzt als politische Freischürler gegen Bulgarien und
Österreich, vergießen. Als gefährliche Gegner einer disziplinirten und an Ge-
birgskrieg gewöhnten Armee kann ich mir die Montenegriner nicht vorstellen;
ihre Hcinptstärke besteht in nächtlichen Überfällen und in Ausnutzung des Ge¬
ländes; da können sie dem arglosem Feinde im Handgemenge höchst verderblich
werden. Noch haben sie bis jetzt keine Gelegenheit gehabt im offnen Felde
einer regelmüßigen Armee die Stirn zu bieten; auch die Nachrichten von ihrer
Treffsicherheit erachte ich für stark übertrieben. Als Nachbar habe ich mit
diesem Völklein bei seinen Nanbausflügeu manchen Strauß zu bestehen ge¬
habt (obwohl diese Scharmützel von Montenegro meist den herzegowinischcn
Überläufern in die Schuhe geschoben wurden). Verderbenbringend waren sie
uns merkwürdigerweise nur auf weite Entfernung, wogegen bei einem wirk¬
lichen Nahkampfe die Gegner aus llukenntnis ihrer eignen Gewehre meist zu
hoch schössen.
Schließlich will ich noch einen Charakterzug der Montenegriner erwähnen:
die Liebe zur Familie und zur Heimat gehört zu den Hauptmerkmalen des
Volkes, namentlich ist es die Liebe zu Eltern nud zu Geschwistern, die ihnen
eigen ist. Den Verstorbenen beklagt nicht die Gattin, sondern Mutter nud
Schwester. Die Schwester schwört bei dem Namen ihres Bruders, der Bruder
ist die Stütze seiner Schwester, sie ist seinem Schutze anvertraut, wehe
dem, der ihre Ehre angreift! Hat die Schwester keine Eltern, so ist ihr der
Bruder Vater und Mutter zugleich, sie würde nichts unternehmen, ohne den
Bruder zu befragen; er wählt ihr einen Mann, überantwortet sie diesem,
und selbst der verheirateten Schwester läßt der Bruder seinen Schutz und
seine Liebe angedeihen. Dieser Charakterzug mag den Grund zu einer Ein¬
richtung gegeben haben, die man anßer in Serbien nirgendswo sonst an¬
trifft und die im freien Montenegro allgemeine Verbreitung hat. Es ist
die sogenannte Wahlverwandtschaft, Wahlbrüderschaft und Wahlschwester¬
schaft. Zwei einander fremde Menschen fassen den Entschluß, sich Bruder
und Schwester zu sein und durch deu einfachen Spruch: Vucli mi xo dagr
br!re (sei mir Bruder in Gott) oder Lnäi mi xo bogn i-ostra (sei mir Schwester
in Gott) verbinden sie sich zu einem lebenslänglichen heiligen Bunde. Während
die Wahlbrnderschaft in ihre» Äußerungen nichts andres als ein Frcundes-
bttndnis ist, erscheint uns der Bund zwischen einem Manne und einem Weibe,
die Wahlschlvesterschaft. ziemlich fremdartig. Der xodr-Mui sorgt für seine
pvssstring. genau so, als ob er ihr leiblicher Bruder wäre, er läßt ihr seine
ganze Liebe und Fürsorge angedeihen, ohne sie je zum Weibe zu begehren, und
selbst die nationale Kirche verbietet ihre Vereinigung.
Gottfried Keller hat im Sommer dieses Jahres
seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert und zugleich die erste Gesamtausgabe seiner
poetischen Werke veröffentlicht. So weite Verbreitung und allgemeine Würdigung
die Schöpfungen des deutsch-schweizerischen Dichters im letzten Jahrzehnt gewonnen
haben, so ist doch zu hoffen, daß die zehn Bände der „Gesammelten Werke"
(Berlin, Wilhelm Hertz) noch weit größern Kreisen des gebildeten deutschen
Publikums die Augen über die Bedeutung und Eigenart des Dichters öffnen, die
Meinung, die sich unter schweren Kämpfen und unglaublichen Widerständen gebildet
hat, befestigen und vertiefen werden. Wir dürfen uns in der deutschen Litteratur
der Gegenwart kaum einer Erscheinung rühmen, die an Ursprünglichkeit der Be¬
gabung, an Frische und Stärke namentlich des Humors mit Gottfried Keller ver¬
glichen werden kann, wir haben nur wenige Dichter und Schriftsteller aufzuweisen,
die se künstlerisch ernst, so unbeirrt von dem Kunbengeschrei nach Weltumwälzung
und großen Epochen, so schöpferisch neu und doch in so guten: Einklang mit der
große» Entwicklung unsrer Litteratur und ihren unvergänglichen Geistern ihren
Pfad verfolgt haben. Selbst wo der höchste und strengste kritische Maßstab angelegt
wird, muß man einräumen, daß der schweizerische Lyriker und Erzähler Einzelnes
geschaffen habe, was dieses und das nächste Jahrhundert überdauern wird, ja erst
bei einer völligen Wandlung der gegenwärtig gesprochnen und geschriebnen deutscheu
Sprache in deu Hintergrund treten kann. Einer Begabung und künstlerischen Reife
wie der Kellers wird keiner das Recht zur Sammlung ihrer Schöpfungen und
Versuche absprechen; jeder wird mit uns wünschen, daß die Zahl der Genießenden
>ab Verstehenden sich durch die Gesamtausgabe tvesentlich vergrößern möge. Und
sicher wird die Vereinigung nud der Vergleich der in einer langen Reihe von Jahren
entstandenen Dichtungen zum Verständnis der eigentümlichen Phantasie und Gestal¬
tungskraft Kellers um so mehr beitragen, als es sich in diesen zehn Bänden um
eine nur mäßige Zahl von größer» Arbeite» handelt. Neues, das heißt Ungedrucktes,
biete», ein paar schöne Gedichte ausgenommen, die auch in der letzten Gesäme
aufgäbe der Gedichte noch fehlten, die gesammelten Werke nicht. Es handelt sich
nur um die Gedichte, die übermütigen und doch so anmutigen sieben Legenden, um
die beiden Romane „Der grüne Heinrich" und „Martin, Salauder," um die. drei
Novellensammlungeu „Die Leute von Seldwyla," „Züricher Novellen" und „Das
Sinngedicht." Aber Neues, das heißt llngekanntcs, noch nicht Erblicktes, noch nicht
Empfundenes, wird jeder, auch der beste, und mit Kellers Natur und Meisterschaft
vertrauteste Leser in diesen zehn Bände» genug finden. Denn der Dichter der
„Leute von Seldwyla" gehört nicht zu den Lyrikern und Erzählern, die beim
zweiten und dritten Lesen ihrer Schöpfungen bis auf die letzte eigentümliche Wen¬
dung, bis auf deu verstecktesten feinen Zug erschöpft sind. Vielmehr offenbart er
bei wiederholtem Genuß immer neue Reize der Erfindung, der schalkhaft halb ver-
borgenen Schilderung, des immer neuen Reichtums der Beobachtung, des Witzes,
neue Tiefen des Gefühls, sprachliche Kühnheiten und Feinheiten, hinter denen das
klare Antlitz des Dichters hervorblickt in all seiner Freude um dem guten Weltlauf,
in der Lust an der bunten Mannichfaltigkeit des menschlichen Teibeus. Keller wird
von der jüngsten Kritikerschule el» „Optimist" genannt, zur Zeit seines Beginns
wollte ma» die allzu herbe. u»d derbe Wahrheit in seinen Dichtungen nicht ertrage».
Jedenfalls ist es nie der „Optimismus der Niedertracht," der mit dem schlechteste»
Bestehenden sein Einverständnis erklärt und die Härten oder Untiefen des Lebens
lstnwegleugnen will, der seiner Darstellung der Welt in Vergangenheit und Gegen¬
wart zu Grunde liegt, es ist vielmehr die tiefe, echt dichterische Zuversicht, daß die
Poesie ein Recht, jn eine Pflicht habe, jedes versöhnende lichte Element des Menschen-
daseins festzuhalten und weithin nachwirken zu lassen. Das heutige Publikum hat
Grund genug, solchen Dichtern vor den seusniiouslustigen Darstellern, denen keine
Grausamkeit der Natur und des Schicksals grausam genug ist, den Vorzug zu geben.
Mit einem andern Kenner des Dichters möchten nur angesichts der Sammlung
der Kellerschen Werke wiederholen, daß auch auf kritische. Naturen das Jneinander-
spiel einer ursprünglichen poetischen Anschauung, die dem Leben mit der gläubigen
Hoffnung auf immer neue Offenbarungen zugewendet ist, und einer bewußten künst¬
lerischen Bildung, die die reine und klare Gestaltung dieser Offenbarungen sucht,
bei unserm Dichter immer erst in zweiter Linie, wirke. „Jn erster zieht der Dichter
alle, die ihm nahen und die geringste Genußfähigkeit für den Zauber gnuzen Lebens,
den Reiz echter, nicht brutal aufdringlicher Natürlichkeit haben, in die. Mannich¬
faltigkeit seiner Erfindung und Stimmung herein, gönnt uns in vollem Maße das
glückselige Gefühl, daß Schicksale und Abenteuer, Leidenschaften und Stimmungen
wahr und wahrhaftig erlebt sind, und läßt uns teilnehmen selbst an den flüchtigen
Seitenblicken, die er ans die bloßen Wunderlichkeiten des Daseins wirft, und den
leisen Träumen, in denen er Seeleuregungen enthüllt, die keine, feste Gestalt ge¬
winnen können und doch auch zum Leben gehören. Ehe wir über seine künstlerischen
Mittel, über die wundersame Abstufung von Licht und Schatten in seinen Gebilden
nachzudenken beginnen, sind wir schon ganz im Banne dieser Welt. Der Dichter
des »Grünen Heinrich,« der »Leute von Seldwyla« und des »Martin Salander«
Ware der letzte, der die Natur unterschätzen, die Natürlichkeit verleugnen möchte.
Gleichwohl hat er mit der unter dem Feldgeschrei »Natur« verkündeten Unuatür-
lichkeit, die von der ganzen Fülle der Welt- und Menschheitserschei»ungen »ur noch
das Abnorme, Häßliche. Widrige. Verkommene und Verkümmerte sehen kann, nichts
zu schaffen; Kellere poetischer Realismus kommt allen Tüchtigen, Lcbeuverheißeuden,
Schönen und Anmutigen auf mehr als halbem Wege entgegen."
Wie die Dinge einmal sind, ist alles, was wir hier in des Dichters ge¬
sammelten Werken aufs neue froh gewahr werden und um ihnen rühmen, erst
langsam aus einer kleinen Gemeinde in einen größern Kreis von Empfänglichen
gedrungen. Die Schicksale der Kellerscheu Erzählungen, die heute ihren Platz bei
den bleibenden Schätzen der deutscheu Litteratur haben und ihrer Zeit unter die
alltäglichste leichte Unterhältuugslitteratur gesetzt wurden, gegen deren Empfehlung
sich der platte Hnusverstmid und die klägliche Gewöhnung an falsches Pathos und
unechten Schwung setzte», gehören zu den zahlreichen Schöpfungen, bei denen noch
niemand enträtselt hat, was vorgehen mußte, vorgegangen ist, um plötzlich die
Empfänglichkeit für sie, die Lust an ihnen zu erwecken. Wer giebt den Schlüssel
?>» dieser Wandlung des Publikums, wer sagt uns, unter welchen Umständen die
Seelen, die Augen und Ohren für Kellers Novellen geöffnet, unter welchen ge¬
heimnisvollen Zeichen mau endlich die anfänglich so standhaft geleugneten Borzüge
und höchste» Reize dieser wie andrer Phantasieschöpfungen empfunden hat? Gewisse
moderne Literarhistoriker suchen die Erklärung für die Umbildungen des Geschmacks
in der Geschichte der Kritik. Das ist etwas, aber lange nicht alles, und die. Unter¬
suchung über die Gründe des augenblicklichen wie des langsamen und späten Er-
st'lgs soll noch angestellt und geschrieben werden. Wer in seiner Jugend oft genng
Tadel geerntet hat, weil er die „Leute von Seldwyla" als ein gutes Buch gepriesen,
und jetzt den fröhlichen Eifer erlebt, mit den, die Werte des neuesten Klassikers,
Gottfried Kellers Werke, der Familienbibliothek einverleibt werden, der kann bei
aller Genugthuung hierüber doch ein wenig nachdenklich werden. Die Grenzbote»
dürfen sich rühmen, daß sie Kellers großes Talent vom Beginn an mit Anteil be¬
flißt, daß sie seit einer langen Reihe von Jahren immer »nieder auf die Gesund¬
heit, die Kraftfülle, den sonnigen Humor und die lichte Anmut, die tiefe Empfin¬
dung wie deu künstlerischen Ernst in den Dichtungen des Züricher Meisters
hingewiesen habe«. Ihren Lesern brauchen sie die schöne Sammlung dieser Werke
(die mit einem für eine große Medaille gezeichneten vorzüglichen Bilde des Dichters
^'vn Arnold Böcklin geziert ist) nicht erst zu empfehlen, es genügt auf ihr Er¬
scheinen hinzuweisen. Dem Dichter aber wünschen wir, daß er viel Freude an
dieser Ernte eines echten Künstlerlebens empfinde, und uns, daß deu zehn Bänden
der Ausgabe noch einer oder der andre sich anreihe, der den alten Zauber in alter
Mische entfalte.
Indem ich Ihnen für die
in Ihrem geschätzten Blatte veröffentlichten Aufsätze über das heutige Studententnm
meinen Dank sage, erlaube ich mir, noch einige Worte über den Weg, auf dem
diesen Auswüchsen entgegengetreten werden kau», hinzuzufügen.
Die Ursache des krankhaften Zustandes wird von Ihnen richtig in der ein¬
leitigen Bildung der Studenten erkannt. Unter den Studenten, die sich eine all-
iMieine Bildung aneignen müssen, weil sie ihnen durch die Prüfungsordnung des
Staatsexamens vorgeschrieben ist, unter den Kandidaten des höhern Schnlamts,
lufft man j„ der That daS Schniepeltum am wenigsten. Von ihne» allein wird
wirklich das Studium der Philosophie verlangt, sie allein haben sich im Staats-
examen über philosophische Kenntnisse aufzuweisen. Den Theologen ist, soviel mir
bekannt ist, zwar das gleiche vorgeschrieben, ober in den beteiligten Kreisen weiß
jeder, daß sie eine Vorlesung über Philosophie nur belegen, niemals hören, da sie
thatsächlich in diesem Fache nie geprüft werden. Ihre UnUnssenheit in philosophischen
Dingen ist daher geradezu erstaunlich. Die Juristen und Mediziner kennen selbst
Kant, meist nur dem Namen »ach. Aber selbst in den Kreisen der Schnlamts-
landidaten wird das Studium der Philosophie nicht so lief betrieben, als es sein
sollte. Meist hören sie nnr eine Vorlesung über Logik und eine über die Ge¬
schichte der Philosophie. Selten kommt einer zum Studium eines Quellenwerkes.
Psychologie, Psychophysik, Erkenntnistheorie werden nur von wenigen gründlich ge¬
trieben. Diese wenigen sind dann meist Mathematiker oder Naturwissenschaften
Fragt man bei Philologen nach, warum sie Wundes psychologische Vorlesungen nicht
hören, so erhalt man gewöhnlich zur Antwort, ihre naturwissenschaftliche Bildung
sei zu gering, um sie verstehen zu können. Ist es nicht im höchsten Grade be¬
klagenswert, wenn einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart von seinen
Lnndsleuten nicht verstanden wird, während andre Nationen, wie die Franzosen
und Russen, seine Bedeutuug nicht genug schätzen können?
Die einseitige Schulbildung ist es, die unsrer Jugend das Verständnis für
die Gegenwart benimmt und sie zu verächtlichem Dünkeltum erzieht. Ans unsern
höhern Schulen, die Realgymnasien nicht ausgeschlossen, wird so wenig Naturwissen¬
schaft getrieben, daß der Abiturient die Fragen der neuern Philosophie gar nicht
zu fassen vermag. (Als vor einiger Zeit das „Problem der Materie" von Abend¬
roth erschien, hörte ich von studirten Leuten, die ich auf das Werk aufmerksam
machte, srogeu, was denn daS für ein Problem wäre!) Der Lehrplan der
sächsischen Gymnasien weist naturivisseuschaftlichen Unterricht nur bis Obertertia
auf und hier nur noch mit einer Stunde wöchentlich. Von da an wird zwar
Physik gelehrt, aber die sogenannten beschreibenden Naturwissenschaften nicht mehr,
und doch wäre es sehr notwendig, daß die in den untern Klassen gewonnenen Er¬
gebnisse des Anschauungsunterrichts vergeistigt und zu einem einheitlichen Bilde ver¬
webt würden. Zwei Stunden wöchentlich würden dazu genügen, die bei Beseitigung des
selbst vou den meisten Philologen als »unütz erkannten lateinischen Aufsatzes ohne
Vermehrung der Gesmutstundeu angesetzt werden könnten. Wenn die Schüler erst
ein Verständnis für die naturwissenschaftlichen Thatsachen und Erscheinungen erlangt
haben, werden sie ans der Universität auch den philosophischen Fragen daS richtige
Interesse entgegenbringen, und da die Anschauungen einer Zeit alle in der herr¬
schenden Philosophie wurzeln, werden sie das Interesse ans alle Erscheinungen der
Zeit, auf die der Wissenschaften, der Kunst, der Politik, tibertragen.
Der mangelhafte Lehrplan der Schulen trägt aber nur eine» Teil der Schuld,
der andre fällt auf die Gesellschaft und die Regierung. In Ihrem Aufsatze werden
die Auswüchse im Studentenleben zurückgeführt auf die in den Studentenkreisen
herrschende Vorstellung, daß die Mitglieder eines Korps in ihrem spätern Leben
die Protektion ihrer alten Herren genießen und auf diese Weise rasch zu Stellen
und Titeln kommen. Eine solche Vorstellung kann sich aber doch nur festsetze«,
wenn ihr Thatsachen zu Grunde liegen. In der That ist die Tüchtigkeit im Beruf
nicht die ausschlaggebende Eigenschaft bei Anstellung und Beförderung durch den
Staat. In den beteiligten Kreisen ist es ein öffentliches Geheimnis, daß der junge
Mann auch »ach seiner politischen Stellung gewürdigt wird. Die Korps gelten
aber als die Pflegstiltte eines streng konservativen Geistes, seine Mitglieder sind
von vornherein vou dem Verdachte selbständiger Eutschließuuge» in, politischen Leben
frei. Kein Wunder, wenn andre außerhalb der Verbindungen stehende Studenten
jene nachahmen, so gut eS geht, damit sie derselben Vorteile teilhaftig werden, die
jene genießen.
Die Gesellschaft schließt sich dein Vorgehen des Staates an. Jene sind nun
»mworben und werden von allen ans den Händen getragen, die andern werden
meist ausgeschlossen. Ein verhängnisvolles Vorgehen! Als ob ein junger Mensch
von 25 Jahren eine abgeschlossene politische Meinung hätte! Gerade zu dieser
Zeit, wo er politisch selbständig wird von Gesetzes wegen, wo er sich der Ver¬
antwortlichkeit seines politischen Denkens und Handelns erst bewußt wird, wird er
Belehrungen und Vorstellungen am dankbarsten hinnehmen und sie zu beherzigen
suchen. Erst jetzt, wo er herausgerissen wird ans der Sorglosigkeit des Studenten-
lebens, wo er zu ahnen beginnt, was das Leben bedeutet, wo er die Bedingungen
und Gesetze des Einzellebens allmählich erkennt, wird er sich eine bleibende An¬
schauung von deu Bedingungen und Gesetzen des Lebens eiues ganzen Volkes bilden.
Jemanden verurteilen ist leicht, ihn erziehen freilich ist schwer.
Vielleicht interessirt es, über deu Streit, ob die
,, Reserveoffiziere" die einfachen Sitten verschrauben, den Streit, der sich auch in
der Täglichen Rundschau fortsetzt und ihr einen bittern militärischen Kämpfer er¬
weckte, anch die Stimme eines Süddeutschen zu hören, der schon vor 45 Jahren
..studirt" und — beobachtet hat.
Damals war mir ein (norddeutsches) Korps Träger gezierten, junkerhasten Ge¬
barens mit sehr viel Überhebung und (trotz Glacees) innerer Roheit, deren ge¬
legentliches Zutagetreten jetzt kaum glaubhafte Erscheinungen zeigte. Die andern
Studenten wnreii nicht solche Rüpel, wie der Kölner Militär sich einbildet, hatten
schlichte, joviale Sitten, allgemein humane Interessen und Fühlung mit dem jungen
Bürgerstande. Daß auch „Turnsimpelei" und Überschwang der Säugerei einzeln
vorkam, ist natürlich.
Wie steht es aber jetzt? Durch die rasche Zunahme des Wohlstandes, ja
Reichtums bildete sich eine große, neue Schicht von Familien, denen feinere, innere
Bildung nicht vererbt war. Sie kamen in die Lage, ihre Söhne zu der so leicht
verschränkenden Gymnasinlbildnng, zur „Freiwilligen"-Stellung, zur Universität
(wir sagen absichtlich nicht „zum Studium") gelangen zu lassen. Und unter diesen
Söhnen zeichnen sich nun dnrch Überhebung und Enge deS Wissens und Bilduugs-
horizvntes uoch viele solche aus, die sich schon auf der Schule zu dem leichtesten,
"und in der Praxis dnrch Protektion (der Korpsbrüder z. B.!) fördersamsten, dem
Rechtsfach „entschlossen." Man absolvirt die formale Schulung in den alte»
Sprachen, macht in sechs bis sieben fideler Semestern den „Freiwilligen," begiebt
sich in die Schnellpresse „zum Zweck des bessern Examens" und wird „ein ge¬
machter Staatsbeamter." Durch alle diese Jahre fehlten dem „hoffnungsvollen"
Herrn Sohne nie die Mittel, deu reichen Genüssen des Lebens und der lieben
Eitelkeit zu fröhnen, fern blieb die bändigende Erfahrung, was eS heißt, Geld ver¬
dienen, fern lag die Rücksicht auf die Mittel der Eltern, ja oft hörte man die An¬
sicht: „Mein Alter ist mir bei meiner Stellung und Bildung diese Opfer
schuldig!"
So tritt der junge Herr von heute mit einem tüchtigen Stück Größenwahn
auf; und diese stets wachsende Schar der „goldnen Jugend" alten und neuen
Stammes steigert sich gegenseitig i» der Selbstschätzung und Genußsucht, und wenn
sie sich nur bloß durch Verzerrung lächerlich machte! sie verliert stets mehr den doch
einzig idealen Gedanken an ihre freiwillige Pflicht gegen Vaterland und Menschheit
und wird zu berechnenden Strebern.
Nicht also die Einrichtungen bis zum Reserveoffizier (bei »us ist auch der
Leutnant ein sehr geachteter Mann, wenn er tüchtig ist), sondern ganz andre Ur¬
sachen tragen die Hauptschuld, daß sich eine ganze Klasse verzogner und verbildeter
junger Herren im deutschen Volke breit macht.
Geehrter Herr Redakteur! Gestern schickte
mir mein Buchhändler ein neues Buch von etwas ungewöhnlicher Gestalt. Bei dem
Anblick des Titels „Mann im Mond-Kalender" rief ich ans: Nu endlich! Denn
es hatte mich schon lange gewurmt, daß, da doch Tausende Kalender machen, gerade
der dazu am meisten berufene hartnäckiges Schweigen bewahrte. Daß er über die
Zeitrechnung mehr zu sagen weiß, als irgend ein andrer, das ist ihm, glaub ich,
uoch niemals bestritten worden, und nnn hat man ihn auch als Wettermacher
wieder in seine uralten Rechte eingesetzt. Dazu ist er in der Lage, was man so
den Weltlauf im allgemeinen und im besondern nennt, von einem höhern Gesichts¬
punkt aus zu betrachten, als Kavaliers- und Vogelperspektive sind, während in der
Kalender- und andrer Litteratur die Froschperspektive an der Tagesordnung ist
(demgemäß auch das laute Gequake). Ich las also erwartungsvoll darauf los und
muß sagen, daß meine Erwartungen nicht getäuscht worden sind. Wie aber zu¬
fällig mein Blick noch einmal auf den Titel fiel, las ich zu meiner Ueberrnschung
„Zweiter Jahrgang." Darnach läßt sich vermuten, daß der Mann im Monde
schon für 1889 einen Kalender gemacht hat, und von dem müßten doch die Zeit¬
schriften berichtet haben, z. B. die Grenzboten. Nun schmeichle ich mir, zu den
gewissenhaftesten Lesern Ihrer Wochenschrift zu gehören, kann mich aber durchaus
uicht erinnern, über diese „epochemachende Erscheinung" etwas darin gesunden zu
haben. Auch in dem Inhaltsverzeichnis für 1888 keine Spur! Wie geht das zu?
Meinen Sie etwa, weil der Mond so stille durch die Abendwolken hingeht, dürfe
man nicht lant von ihm reden? Das ist er lange genug gewohnt. Oder haben
Sie gedacht, was ein so kluger und »veitblickender Mann spricht, das müsse ohne¬
hin aufmerksame Hörer genug finden? Als Redakteur sollten Sie die Welt besser
kennen. Jetzt läßt sich die Versäumnis vom vergangnen Jahr allerdings nicht
mehr ungeschehen machen; aber eine umso dringendere Pflicht der Grenzboten ist
es wohl, ihren Lesern zu sagen, was für eine Bewandtnis es mit dem neuen
Kalender hat.
Mir für meine Person gefällt besonders, daß der alte Herr da droben ein
so gemütliches Haus ist. Geschichten erzählen, ja, das thun alle alten Leute gern,
wenn sie mich weniger erlebt haben als er. Aber es muß ein Kern in den Ge¬
schichten sein, wie in denen, die Frnnklin und Abraham Lincoln erzählten. Und
an diese erinnern mich manche des Mannes im Mond — was natürlich ein
Kompliment für die Amerikaner ist. Dazu gehört, daß man sich hat den Wind
UM die Nase gehen lassen, was bei dein Mondmann gewiß zutrifft, und daß man
die Augen und Ohren offen hält. Von der Stadt der vollkommnen Leute wußten
wir wohl, daß die Sozialdemokraten sie bauen wollten; nun erfahren wir, daß sie
schon vorhanden ist, aber ein betrübendes Schicksal gehabt hat. Über die Nachricht
habe ich Thränen vergossen: erzählen Sie es nicht weiter! Ich bin einmal leicht
zu rühren. Ach ja, das Schöne blüht nur im Gesang. Dafür haben mir die
größte Freude die Mitteilungen über die neuesten Triumphe der Wissenschaft-go-
macht, die ungefährlichen Zündhölzer und die dreitägige Tinte. Die werden sich
die Qncrschreiber zu nutze machen! Doch, unter uns, alles glaube ich dem guten
Manne nicht, wenigstens die Benutzung deS Walfisches als Passagierbovt ist mir
noch nicht klar. Sollte sich der Mond etwa aufs Flunkern verlegen?
Ein Schalt ist er, das wissen wir längst. Das schiefe Gesicht, das er einmal
dem Minister Muster gezogen hat, steht jn aktenmäßig fest. Und ich muß immer
lachen, wenn er mit den Professoren, die ihn nicht als Wettermacher gelten lassen
wollen, seinen Schabernack treibt. Er sagt z. B. ganz ehrbar: Am 12. August
will ich mir eine Unterhaltung machen. An einigen Stellen soll die Erde beben,
und wo die Verhältnisse dazu ungeeignet sind, wird es stürmen, daß die Haare
davonfliegen. Dann heißt es: Was uinunt sich der alte Narr heraus! Ist kein
Professor, nicht einmal Privatdozent, ist nicht promovirt, gar nicht einmal inskribirt
gewesen, und will von der Meteorologie mehr verstehen als wir! Gut, wartet
»ur, denkt der Mond. Und nnn läßt er am l2. August die Sonne scheinen, sodaß
^le Professoren gleich am frühen Morgen anfangen zu höhnen. Aber er wartet
nur, bis sie hübsch weit von zu Hanse im Grünen sitzen oder eine Wasserfahrt
machen, und dann gehts los. Belehren lassen sich natürlich die Herren durch ihren
Schnupfen nicht, ein Professor, besonders wenn er freisinnig ist, wird doch nicht
seine Überzeugung ändern. Indessen hat der Mond seinen Spaß davon.
Gar nicht einverstanden bin ich jedoch mit der Veröffentlichung des Rezepts
5u einem führenden Schriftsteller. Jetzt werden wir in dem Stande wie in allen
übrigen eine solche Überfüllung bekommen, daß es nötig werden wird, Romane und
Schauspiele ans Staatskosten machen zu lassen. Der Mond kann darüber lachen,
der braucht sie nicht zu lesen, zahlt anch keine Steuern, aber unsereins ist ohnehin
geplagt genug.
Sie können von Glück sagen, daß mein Briefbogen- zu Ende geht, sonst würde
ich Ihnen noch allerlei erzählen, was mir bei dem Kalenderlesen eingefallen ist.
Treiben Sie keinen Mißbrauch mit meinem Geschreibsel, thu« Sie uur Ihre
Schuldigkeit, damit in ganz Deutschland und den Kolonien wieder einmal das schöne
Red angestimmt wird: „Eile nicht, bleib, Gedankenfreund!"
Es sind das sechs Abhandlungen, zum Teil aus Vorträgen entstanden; die
ersten drei, die sich mehr der Geschichte zuwenden, haben die Überschriften:
>) Warum hat der römische Staat die Christen verfolgt? 2) Die letzte Reaktion
der antiken Well unter Julianus dem Abtrünnigen; Paulus und Petrus in
Rom. Die letzten drei sind überschrieben: 4) Altchristliche Inschriften; 5) Die
Stellung der alten Christen zur Kunst; ti) Gottesdienst und Kunst. Der Verfasser
ist als Kenner der altchristlichen Kunst in der Litteratur bekannt. Die beiden letzten
Abhandlungen wallen offenbar die Hinwendung zur Kunst, wie wir sie jetzt in
protestantischen Kreisen gewahren, durch das Beispiel der Alten stärken. Eine ein¬
dringliche, ans eigner Anschauung beruhende Kenntnis des christlichen Altertums,
wie sie der Verfasser besitzt, ist immer anziehend. Sonst findet sich nicht gerade
viel neues in dem. Buche. Der Druckfehler sind weit mehr, als das Verzeichnis
sie nachweist. Auch findet sich dreimal die Wortverbindnng: zeigen von etwas
statt zeugen von etwas, ein Fehler, dem man in Zeitungen oft begegnet.
Es giebt Leute, die neuerdings etwas geringschätzig von Baumbach reden, und
es ist ja richtig: etwas neues bringt er nicht, es ist immer wieder dasselbe. Aber
das thut ja bekanntlich die Nachtigall anch, wenn sie im Frühling wiederkehrt;
„was neues hat sie nicht gelernt, singt alte, liebe Lieder." Thut man einem
Dichter nicht Unrecht, wenn man ihm sagt: Du solltest einmal das und das machen?
Man mag ihn doch machen lassen, was er will. Bnumbach ist sich des Umfanges
seiner Begabung gewiß sehr wohl bewußt, im Märchen und in der kleinen poetischen
Erzählung liegt seine Stärke, einen Roman zu schreiben, etwa gar einen Roman aus
der Gegenwart, liegt ihm ganz fern. Auch das vorliegende neue Bändchen zeigt
keine neuen Seiten. Es enthält eine Mandel hübscher Märchen, wie ihrer Banm-
bach schon mehr erzählt hat. Ob alles darin eigne Erfindung ist — wie in dem
kleinen Bierzeitungsscherz „Nicotiana" - oder ob allerhand ältere Motive glücklich
hinein verwoben sind, ist gleichgültig, wenn sie nur ans einem Guß siud, eine zier¬
liche Spitze haben und graziös erzählt siud. Und das siud die meisten auch in dem
v o ri i eg end en Bändchen.
Baumbach verwendet viel Fleiß auch ans die Sprache seiner Märchen. Einen
traulich nltertnmelndeu Ton zu treffen, thut er aber doch vielleicht manchmal zu
viel des Gutem Aber auch Fehler finde» sich. S. 150 steht: aufs Grade-
wvhl. So etwas nicht durchzulassen, Ware Sache des HanslorrektorS gewesen
— es heißt: aufs Geratewohl.
achten seit der Wiedervereinigung Elsaß-Lothringens mit dem
deutschen Reiche beinahe zwei Jahrzehnte verflossen sind, wird
man die Berechtigung zu der Frage: Welche Fortschritte hat das
Deutsche in dem französischen Sprachgebiete Elsaß-Lothringens
gemacht? gewiß nicht bestreiten. Ebenso wenig wird man bei
der großen Wichtigkeit, die der Sprachenfrage in Bezug auf die politische und
volkswirtschaftliche Entwicklung der betreffenden Landesteile zukommt, leugnen,
daß eine möglichst eingehende Beantwortung dieser Frage von hervorragendem
nicht bloß wissenschaftlichem, sondern namentlich auch praktischem Interesse ist.
Aber die Schwierigkeit der Beantwortung beginnt schon, wenn es sich darum
handelt, festzustellen, wie groß die Zahl der nur französisch sprechenden Personen
war, Elsaß-Lothringen in deutschen Besitz überging. Da nämlich die aus
französischer Zeit überlieferten Angaben über das Zahlenverhältnis der deutsch
redenden Einwohner zu den französisch sprechenden nichts weiter waren als
willkürliche Schätzungen, die keinen Anspruch auch nur auf annähernde Richtig¬
keit hatten, so begannen deutscherseits amtliche Erhebungen über diesen Punkt
schon im September 1870. Die dabei gewonnenen Ergebnisse wurden sodann
der fachmännischer Beurteilung des Professors Dr. Kiepert und des Negierungs-
rates Böckh in Berlin unterbreitet und als Grundlage für das Gesetz vom
Mürz 1872, die amtliche Geschäftssprache betreffend, verwendet. Diese
vorläufigen Berichte lieferten jedoch auch vielfach falsche Ergebnisse, einerseits
weil es in der ersten Zeit an zuverlässigen, mit der Bevölkerung genügend be¬
kannten Personen fehlte, anderseits Weilsich damals allgemein die Ansicht ver¬
breitet hatte, es handle sich um die Gewinnung von statistischen Material zur
Entscheidung der Frage, welche Gebiete an Deutschland abgetreten werden
sollten. Erst 1878 war es möglich, auf Grund der inzwischen gesammelten
Ersahrungen endgiltige, die Fehler der frühern Ermittlungen berichtigende Er¬
hebungen anzustellen. Aber auch da mußte ans eine völlig genaue Zählung
Verzicht geleistet werdeu, dn mit Sicherheit anzunehmen war, daß auch in den
Landesteilen, in denen das Deutsche ohne allen Zweifel die allgemeine Volks¬
sprache ist, eine große Anzahl von französisch redenden Personen angegeben
worden wäre. Die Ermittlung des Zahlenverhältnisfes wurde nun in der
Weise bewirkt, daß man die Einwohner der Gemeinden, in denen ausschließlich
deutsch oder ausschließlich französisch gesprochen wird, für sich berechnete und
die übrigen Gemeinden, in denen man beide Sprachen spricht, als „sprachlich
gemischt" bezeichnete. Dadurch, daß man dann die eine Hälfte der Einwohner
der letztern Gemeinden als deutsch, die andre als französisch redend annahm,
ließ sich ein allerdings nur annähernd richtiges Ergebnis gewinnen.
Bei diesen: summarischen Verfahren hat sich nun ergeben, daß 77,30 Prozent
der reichsländischeu Bevölkerung dem rein deutschen Sprachgebiet angehören,
während nur 12,12 Prozent ausschließlich französisch sprechen und 10,4!) Prozent
in dem Gebiete wohnen, wo beide Sprachen neben einander gebraucht werden.
Nach Bezirken verteilt, zählt Unterelsaß 4,09 Prozent französisch sprechende
Personen, die in 5 Gemeinden des Kreises Schlettstadt und in 22 Gemeinden
des Kreises Molsheim leben; Oberelsaß hat nur 3,71 Prozent ausschließlich
französisch redende und 17,58 Prozent gemischte Bevölkerung; in Lothringen
macht die französisch redende Bevölkerung 30,37, die dein gemischten Sprach¬
gebiet angehörige 16,38 Prozent aus. Im ganzen zählte das Reichsland im
Jahre 1875 181737 nur französisch redende Bewohner in 385 Gemeinden,
157269 Personen innerhalb des sprachlich gemischten Gebietes in 86 Gemeinden
und 1160015 nur deutsch redende Personen in 370 Gemeinden. Unterelsaß
weist 27 rein französische Gemeinden mit 23940, Oberelsaß 17 solcher Ge¬
meinden in't 16617 und Lothringen 341 Gemeinden mit 141179 nur fran¬
zösisch sprechenden Bewohnern auf. Ferner hat Unterelsaß 2 sprachlich ge¬
mischte Gemeinden mit 2268 Einwohnern, Oberelsaß 43 Gemeinden mit 78866
Einwohnern und Lothringen 41 Gemeinden mit 76135 Einwohnern.
Wenn man von diesen Ziffern ausgehend die Fortschritte feststellen will,
die das Deutsche innerhalb des französischen Sprachgebietes inzwischen ge¬
macht hat, so wird man von dem erwachsenen Teile der Bevölkerung, der von
der deutschen Schule unberührt geblieben ist, füglich absehen können, besonders
soweit es sich um die Landbevölkerung handelt. Diese hat keine Gelegenheit
zum Deutschlernen und bei ihrer Abgeschlossenheit vom Verkehr — jedes Dorf
bildet sozusagen eine Welt für sich — und bei dem Umstände, daß alle An¬
ordnungen der Behörden gleichzeitig auch in französischer Sprache erlassen
werden, auch keine Nötigung dazu. Rechnet man noch die Abneigung gegen
alles Neue dazu, wozu noch die politische Abneigung gegen Deutschland
kommt, so ist es erklärlich, daß das Deutsche keinen nennenswerten Fortschritt
aufzuweisen hat. Der Pfarrer predigt und unterrichtet nur französisch, der
Gemeinderat verhandelt nur in dieser Sprache, der Gemeindediener hat zwar
seine früher blau-weiß-rote Gemeindetrommel mit den deutschen Farben ver¬
sehen — es ist das so ziemlich das Einzige, was daran erinnert, daß man sich
in einem deutschen Dorfe befindet —, ruft aber seine Bekanntmachungen in
französischer Sprache aus. Der Bürgermeister schreibt an den Kreisdirektor
nur französisch. Die wenigen in das Dorf kommenden Beamten find alle des
Französischen mächtig; muß ein solcher Beamter ans dem Dorfe wohnen, so
verwelschcn sogar seine Kinder in der französischen Umgebung in wenigen
Jahren. Bei dieser Sachlage braucht man sich nicht zu wundern, daß es uoch
zahlreiche Dörfer giebt, namentlich in den durch ihre Lage und ihre Verkehrs¬
verbindungen auf das französische Hinterland angewiesenen Gegenden, wo viel¬
leicht mit Ausnahme des Lehrers keine in mittlern oder höhern Jahren stehende
Person vorhanden ist, mit der man ein deutsches Gespräch führen könnte.
Etwas günstiger liegt die Sache in den Städten und Städtchen des
französischen Sprachgebietes. Neben den deutschen Beamten hat hier eine starke
Einwanderung deutscher Geschäftsleute stattgefunden. Durch die tägliche Be¬
rührung mit den deutschen Elementen, sodann hauptsächlich unter dem Zwange
der geschäftlichen Mitbewerbnng und mit Rücksicht auf die deutsche Kundschaft
haben alle Geschäftsinhaber und ihr Personal sich so viel Deutsch ange¬
eignet, daß sie sich zur Not darin ausdrücken können. So dürfte es z. B.
in Metz zur Zeit kaum mehr ein Geschüftslvkal geben, wo ein Deutscher, der
»ur seiner Muttersprache mächtig ist, bei seineu Einkäufen in Verlegenheit
kommen könnte. Im großen und ganzen wird das aber bezüglich der Aus¬
breitung des Deutschen nicht besonders ins Gewicht fallen können, da sich bei
den Erwachsenen die Kenntnis dieser Sprache natürlich nur auf einen sehr
kleinen Jdeenkreis beschränkt.
Das Hauptmittel neben der Militärpflicht wird bei der Ausbreitung des
Deutschen immer die Schule bilden, und wenn wir prüfen wollen, inwieweit
das Deutsche Fortschritte gemacht hat, so werden wir uns an das heran¬
wachsende Geschlecht wenden müssen, das seine ganze oder doch beinahe sein
ganze sieben- oder achtjährige Schulzeit in der nach deutschem Muster um¬
gewandelten Volksschule zugebracht hat. Wir haben es dabei mit den jungen
Leuten beider Geschlechter von 14 bis zu 25 Jahren, zum Teil auch mit den
zur Zeit noch in schulpflichtigen Alter stehenden Kindern zu thun.
Zunächst richtete ich die im Eingänge dieses Aufsatzes stehende Frage an
einen höhern Schnlbeamten und erhielt von ihm die Antwort: „Das Deutsche
hat ganz entschiedn« Fortschritte gemacht; sehen Sie diese Verordnung, wonach
in einem großen Teile der Schulen im französischen Sprachgebiete von den
30 Wochenstunden 26, in den übrigen wenigstens 15 bis 18 Stunden in den
Dienst des Deutschen gestellt worden sind! Es giebt kaum mehr eine Schule,
in der gar kein Deutsch getrieben würde. Nachdem die alten, unbrauchbaren
Lehrkräfte beseitigt worden sind, werden zur Zeit nnr uoch ausnahmsweise
Kinder die Schule verlassen, ohne einen mehr oder weniger genügenden Schatz
von deutschen Kenntnissen — Lesen, Schreiben und auch Sprechen — mit ins
Leben hiuauszunehmen. Wenige Jahrzehnte noch, und es werden in den heute
noch rein französischen Gegenden von dem unter der deutscheu Verwaltung auf¬
gewachsenen Geschlecht beide Sprachen neben einander verstanden und angewandt
werden."
Dieselbe Frage, ob die Fortschritte des Deutschen sich bemerklich machten,
richtete ich dann an verschiedene Offiziere, die bei der Ausbildung der reichs-
ländischen Rekruten beschäftigt sind, und erhielt folgenden Bescheid: „Es ist
nichts geschehen für das Deutsche. Die Rekruten aus dem französischen Sprach¬
gebiete können zwar neuerdings zum Teil etwas deutsch schreiben und lesen
und werden deshalb als mit »deutscher Schulbildung« ausgestattet bezeichnet.
Aber sie können meist nicht einen Satz ordentlich deutsch sprechen; das lernen
sie erst von ihren Kameraden und im Kasernenunterricht. Bei der Garde hat
man es sogar für notwendig gehalten, Geldpreise sür solche Elsaß-Lothringer,
die gute Fortschritte im Deutschen machen, auszusetzen. Daß die Ausbildung
der nur französisch sprechenden Rekruten ganz besondre Schwierigkeiten macht
und auch an die Leute selbst ganz besondre Anforderungen stellt, liegt auf
der Hand."
Ähnlich ungünstig lautete das Urteil eines seit viele» Jahren im fran¬
zösischen Sprachgebiet angestellten Amtsrichters. Er sagte mir: „Die ersten
fünfzehn Jahre sind für Verbreitung des Deutschen als verloren anzusehen;
wie vor einem Jahrzehnt, muß ich mit den Zeugen oder Angeklagten, die acht
Jahre lang in die deutsche Schule gegangen sind, französisch oder im Patois
reden. Auf deutsche Fragen bringe ich in der Regel nur einzelne abgebrochene
Wörter heraus. Wenn nicht Wandel geschaffen wird, sind wir in einem halben
Jahrhundert gerade noch so weit wie zu Anfang der siebziger Jahre."
Ein einheimischer, beider Sprachen mächtiger Geistlicher riemle: „Die
jungen Leute können nur ihr Patois geläufig sprechen, das sie von ihren
Eltern lernen und das ein paar Stunden von hier kein Mensch mehr versteht.
Zu französischer Zeit haben sie wenigstens noch das mit dem Patois verwandle
Französisch gelernt. Seit sie auch noch Deutsch, also drei verschiedne Sprachen
treiben müssen, lernen sie keine einzige mehr richtig. Wenn das so fortgeht,
so muß ich zuletzt in der Predigt und im Katechismus mich des Patois be¬
dienen, um mich verständlich zu macheu."
Um mir Klarheit in der Sache zu verschaffen, beschloß ich eine Wande¬
rung durch das französische Sprachgebiet Lothringens zu unternehmen. Von
Ort zu Ort gehend besuchte ich dabei eine größere Anzahl von Gemeinden in
den Kreisen Metz, Bolchen, Diedenhofeli, Forbach, Saarburg und ganz be¬
sonders Chateau-Salms. Beiläufig bemerkt, bietet dieses der Tvuristenwelt
mit wenigen Ausnahmen so gut wie unbekannte Gebiet uicht bloß landschaft¬
lich überraschend schöne Partieen, sondern auch reiche Gelegenheit zu Studien
über Volkscharakter und eigentümliche Sitten und Gebräuche. Auch der
Altertumssreund, der Sammler alter Volkslieder, Sagen und Märchen, findet
hier für seinen Zweck jungfräulichen, wenigstens von deutschen Forschern noch
unberührten Boden. Dem Zwecke meiner Wanderung entsprechend teilte ich
das französische Sprachgebiet in zwei Zonen, nämlich in den an das deutsche
Gebiet angrenzenden Gürtel und in die mehr einwärts ans das französische
Hinterland gestützten Landesteile. Bei Bereisung der Grenzzone, die in erster
Linie für das deutsche Sprachgebiet zurückzuerobern ist, stützte ich mich auf die
von Constant This in seinem Werkchen „Die deutsch-französische Sprach¬
grenze in Lothringen" enthaltenen Angaben. Überall suchte ich zunächst Füh¬
lung mit der Schule und solchen Personen, die mir für meinen Zweck wirklich
Dienste leisten konnten. Das Hauptgewicht legte ich aber darauf, möglichst
zahlreiche junge Leute und zwar sowohl solche, die noch in die Schule gingen
oder sie vor kurzem verlassen hatten, als auch solche, die schon seit einer Reihe
von Jahren aus der Schule entlasse» waren, gesprächsweise ans ihre Kennt¬
nisse im Deutschen zu prüfen. Die nachstehenden Urteile beruhen daher fast
ausschließlich ans eignen Beobachtungen und Wahrnehmungen an Ort
und Stelle.
Ju den von mir besuchten Gemeinden der an das deutsche Sprachgebiet
Kreuzenden Zone werden jetzt in den Elementarschulen fast durchgängig wöchent¬
lich vier Sprechstunden und eine Katechismusstnnde französisch, die übrigen
2b Wochenstunden aber deutsch gegeben. Die Kinder lernen in den beiden
ersten Schuljahren nnr deutsch lesen und schreiben; erst im dritten Jahre
tritt dus Lesen und Schreiben deS Französischen hinzu. Mehrfach sind die
für deutsche Schulen geschriebenen Bücher in Gebrauch. Dieser Schulplan ist
übrigens erst seit anderthalb Jahre» eingeführt. Von einer Einwirkung
uns das praktische Lebe» wird dal>er erst in einigen Jahren die Rede sein
könne».
Die Ergebnisse des frühern Unterrichtsplaneö sind mit vereinzelten Aus¬
nahmen - die ganz besonders tüchtigen und eifrigen Lehrkräften zu danke»
sind — wenig befriedigend. Die jungen Leute, die vor vier oder fünf oder
!M- acht Jahren die Schule verlassen habe», verstehe!, zwar zur Not noch
einige Sätze', die ihm» schulmäßig vorgesprochen werden; aber die Fähigkeit
daraus zu antworte» oder sich gar a» el»em deutschen Gespräch zu beteiligen,
'se ihnen, wenn sie sie überhaupt je besessen habe», vollständig abhanden ge¬
kommen. Nur solche junge Leute, die geschäftlich in iimmiichfache Berührung
NUt den deutsche» Nachbarorte» gekommen sind oder einige Zeit im deutschen
Sprachgebiete gelebt haben, haben gelingende Fertigkeit im Deutschsprechen er¬
langt. Hierher gehören besonders alle in deutschen Garnisonen gewesenen Re¬
servisten.
Im allgemeinen fand ich es als Regel: je länger die Schüler ans der
Schule entlassen sind, desto geringer ist die Fähigkeit, deutsch zu sprechen, be¬
wahrt geblieben. Nicht wenige geben zu, in der Schule auch nicht ein Wort
Deutsch gelernt zu haben und führen das darnnf zurück, ihr alter Lehrer oder
die Schnlschwester habe selbst nicht Deutsch gekonnt und während der ganzen
Schulzeit nur französisch gesprochen. Von Geschäftsleuten hörte ich die Klage:
„Unsre vor einigen Jahren entlassenen Söhne haben nicht so viel Deutsch ge-
lernt, um unsern Kunden einen deutschen Brief zu schreiben oder mit den
deutschen Hnndluugsreisendeu zu verkehre». Wir sind, da nun einmal der
Geschäftsmann ohne das Deutsche nicht mehr bestehen kann, gezwungen, die
Knaben mit großen Kosten ans ein oder zwei Jahre in eine Schule im deutschen
Sprachgebiete zu schicken."
Daß bei der Bevölkerung das Bedürfnis, deutsch zu sprechen, immer mehr
empfunden wird, konnte ich wiederholt wahrnehmen. So ist es vorgekommen,
daß Gemeinden beantragt haben, deu nur französisch sprechenden Lehrer durch
einen, der auch des Deutschen mächtig ist, zu ersetzen. Seit das Deutsche im
amtliche» Verkehr in den letzten Jahren eine größere Ausdehnung gewonnen
hat und auch im Laudesausschuß und im Bezirkstag eingeführt ist, und seit
weder im Gemeindeleben noch im Staatsdienste das Deutsche entbehrt werden
kann, und bei dem steigenden Verkehr mit dem deutschen Sprachgebiet auch
der Geschäftsmann ohne Kenntnis des Deutschen seine Interessen geschädigt
sieht, seit endlich die früher gehoffte Wiedervereinigung mit Frankreich in un¬
absehbare Ferne gerückt ist, hat sich ganz allgemein, wenigstens in den die
Sprachgrenze entlang befindlichen Gegenden, ein Umschwung zu Gunsten des
Dentschlernens vollzogen. Inwieweit sich dieser Umschwung zur rascheru Er-
reichung des zunächst anzustrebenden Ziels, nämlich daß das Volk beide
Sprachen neben einander mit annähernd gleicher Fertigkeit spreche, verwerten
läßt, will ich noch erörtern. Hier sei uur noch bemerkt, daß die Geistliche»
überall grnudsützlich als Gegner der deutschen Sprache auftreten. Sie haben
ihre Ausbildung französisch erhalten und sprechen deshalb meist nicht deutsch.
Den Religionsunterricht erteilen sie mir französisch und stoßen natürlich dabei
auf Schwierigkeiten, je mehr der französische Unterricht zu gunsten des deutscheu
verkürzt wird. Aus allen meinen Kreuz- und Querwanderuugcn im franzö¬
sischen Sprachgebiet habe ich nicht einen Geistlichen getroffen, der seinen
Unterricht deutsch gegeben Hütte. Sogar im gemischten Sprachgebiete bevor¬
zugen sie in der Predigt und im Unterricht das Französische, selbst wenn sie
persönlich ganz gut Deutsch können. Auch im dentschen Sprachgebiete pflegt
der Klerus, wenn er unter sich ist, sich des oft sehr fragwürdig gesprochenen
Französisch zu bedienen. Inwieweit dus auf politische Beweggründe zurück-
zuführen ist, kann hier unerörtert bleiben.
Wenn aber in den an das deutsche Sprachgebiet grenzenden Zonen die
Ergebnisse des deutschsprachlichen Unterrichts seither wenig befriedigend waren,
so sind sie in den mehr nach innen, namentlich nach der französischen Grenze
zu gelegenen Gebieten geradezu trostlos.
In den dort von mir besuchten Gemeinden habe ich nur vereinzelt junge
Leute getroffen, die von der Schule her noch etwas Deutsch verstanden. Bei
den übrige» ist die Kenntnis des Deutschen wie mit dem Schwämme weg¬
gewischt. Die achtzehn Jahre unter deutscher Herrschaft sind also nach dieser
Seite hin — Ausnahmen bestätigen die Regel — als verloren anzusehen.
Fragt man nach den Gründen, warum nichts, aber auch gar nichts hängen
geblieben ist, so hört man sagen: Unser Lehrer war selbst Welscher, der nicht
Deutsch konnte, oder: Wir haben nur Vokabeln gelernt, aber keine Sätze gebildet,
oder: Man hat mit uns nur Übersetzungen gemacht, uns aber nie einen Satz
gelehrt, den wir hätten im täglichen Leben anwenden können. Der Schüler
hört bis zu seinem sechsten Lebensjahr und dem dann folgenden Eintritt in
die Schule nur Französisch, vielfach auch wahrend des Unterrichts. In den
Pansen, auf der Gasse, im Elternhause, in der Kirche hört er keinen dentschen
Laut; daß dn das Deutsche zu kurz kommt, daß alles, aber auch alles nach
der Entlassung aus der Schule wieder vergessen wird, ist erklärlich, zumal da
mit Ausnahme der Militärpflichtiger in der Regel die jungen Leute auch beim
besten Willen keine Gelegenheit haben, sich später im Spreche» zu üben.
Der Einsicht, daß etwas geschehe» müsse, um im Deutschen vorwärts¬
zukommen, scheint sich denn auch neuerdings die Verwaltung nicht verschließen
zu wollen. Die endlich begonnene Beseitigung der nicht Deutsch verstehenden
Lehrer und der vor zwei Jahren erlassene „Normalplan für den deutscheu
Unterricht in den einklassigen Schulen des französischen Sprachgebietes" sind
wohl darauf zurückzuführen. Leider sind aber die Anforderungen dieses Uuter-
richtsplanes derart niedrig gehalten, daß sie nnn und nimmer dazu führen können,
das Deutsche zur Volkssprache zu machen. Man höre. Als Ziel des deutschen
Unterrichts wird angegeben: Die zur Entlassung kommenden Kinder sollen
leichte deutsche Sprachstücke ordentlich lesen und mündlich und schriftlich ohne
grobe Verstöße wiedergeben können. Der französische Lese- und Schreibunter¬
richt beginnt schon im ersten Schuljahr; deutsch lesen und schreiben lernt der
Schüler dagegen erst im dritten Schuljahr. Auf der Oberstufe soll der deutsche
Unterricht in alle Fächer „hineinragen"; beim Kntechisnuisunterricht ist auch
dieses bescheidene „Hineinragen" ausdrücklich verboten. Gegen früher, wo jeder
Lehrer so ziemlich nach Willkür schaltete und waltete, bildeten diese Bestim¬
mungen — vorausgesetzt, daß sie uicht auf dem Papier stehen bleiben — aller¬
dings einen Fortschritt; daß sie aber völlig unzureichend sind, um dem Deutschen
Eingang im Volke zu verschaffen, wird jeder zugeben müssen, der mit den ein¬
schlägigen Verhältnissen vertraut ist-
Das Gesamtergebnis meiner Ermittlungen läßt sich in die Worte zu¬
sammenfassen: Die Fortschritte, die das Deutsche innerhalb des französischen
Sprachgebietes seit 1870 gemacht hat, sind verschwindend klein; die Schüler
haben bei ihrer Entlassung durchschnittlich nur ungenügende Fertigkeit im
Deutschsprechen, auf das es doch vor allem ankommt. Diese Kenntnisse sind
außerdem nicht nachhaltig genug; wo nicht ganz besondre Umstände eintreten,
verflüchtigen sie sich schon nach wenigen Jahren, und die ganze Schularbeit
ist dann umsonst gewesen.
Es sei hier ausdrücklich hinzugefügt, dnß für dieses unerfreuliche Er¬
gebnis der Hauptsache nach nur die gegebnen Verhältnisse, so namentlich die
während der Übergangszeit ans politischen Gründen gebotene Rücksicht und
der Mangel eines geeigneten Lehrkörpers — den ältern Lehrern und Schul-
schwestern fehlte sowohl die Sprachkenntnis als auch die richtige methodische Aus¬
bildung — verantwortlich gemacht werden können. Wer aber mit dem Schreiber
dieser Zeilen die Überzeugung hat, daß die innige Berbindung der französisch
redenden Landesteile mit den deutsch redenden und dein deutscheu Reiche
wesentlich auch von der Ausbreitung der deutschen Sprache abhänge, wird zu¬
geben müssen, daß die Übergangszeit jetzt als beendigt angesehen und zu Ma߬
nahmen gegriffen werden muß, durch die endlich nach dieser Seite hin wirkliche
und bleibende Erfolge geschaffen werden.
Einige praktische, die Förderung des Deutschen bezweckende Vorschläge, die
übrigens keinen Anspruch auf Vollständigkeit machen, mögen hier noch hinzu¬
gefügt werden.
Der französischen Schulverwaltung kann ein gewisses praktisches Geschick
nicht abgesprochen werden. Es geht dies u. a. daraus hervor, daß sie überall
im deutschen Sprachgebiete Kleinkinderschulen (3^1108 Ä'asM) einrichtete, zu dem
ausgesprochnen Zwecke, schon im vvrschnlpflichtigen Alter die Kinder zum
Französischsprechen anzuleiten. Die in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem
Kriege erzielten Erfolge in der Verbreitung des Französischen sind hauptsächlich
aus Rechnung dieser Einrichtung zu setzen. Deutscherseits hat man bis vor
einigen Jahren diese Schulen, die allerdings die Kinder im zartestem Alter der -
hüuskicheu Erziehung entfremden, ziemlich unbeachtet gelassen. Zur Zeit giebt
es deren in Lothringen nur IM, während 1450 Volksschulklnsseu bestehen.
Es wäre nun höchst wünschenswert, wenn ihre Zahl vermehrt und wenn sie
hauptsächlich in den Dienst des deutschen Unterrichts gestellt würden. Die
wenigen Schulen, bei denen ich befriedigende deutschsprachliche Leistungen finden
konnte, waren mit eiuer. solchen Kleinkinderschule verbunden, in der die Kleinen
so viel deutsch sprechen lernten, daß schon die Unterklasse der Volksschule fast
den gesamten Unterricht in dieser Sprache erteilen konnte.
Um zu verhindern, daß die in der Volksschule erlangten deutschen Kennt¬
nisse wegen Mangel an Übung bald wieder verloren gehen, wäre die Ein¬
richtung von Fortbildungsschulen wünschenswert. Gegenwärtig haben von den
7l>2 Gemeinden Lothringens nur 48 eine solche Fortbildungsschule. Es wäre
ein wahrer Segen für das Land, namentlich auch für die Hebung des Ge¬
werbes und der Landwirtschaft, wenn es möglich gemacht würde, diesen Schulen
eine größere Verbreitung zu geben, Da die Gemeinden die Lokale nebst Heizung
und Beleuchtung stellen und wohl auch Zuschüsse zur Bestreitung der Unter-
richtskvsten geben, so würden die dem Staate erwachsenden Kosten nicht uner¬
schwinglich sein.
Gleichfalls zur Auffrischung der Kenntnisse in der deutschen Sprache
würde es dienen, wenn in den Gemeinden des französischen Sprachgebietes
deutsche Schnlbiblivtheken eingerichtet würden, deren Bücher aber auch den der
Schule entwachsenen jungen Leuten zugänglich gemacht werden müßten. Aus
Landes- und Bezirksmitteln sind seit einer Reihe von Jahren Beiträge zur
Beschaffung solcher Bibliotheken bewilligt worden. Sie scheinen jedoch bis
jetzt hauptsächlich deutschsprachlichen Schulen überwiesen worden zu sein; we¬
nigstens habe ich auf meinen Wanderungen im französischen Sprachgebiete nur
ein paar deutsche Schulbibliotheken vorgefunden.
Wenn der Satz richtig ist: „Wer Lothringen wieder deutsch machen will,
muß vor allein deutsche Mütter heranziehen," so muß künftig dem Mädchen-
schulwese» in den französischen Landesteilen ein größeres Augenmerk zugewendet
werden. Gerade im französischen Sprachgebiete wird das Mädchenschulwesen
vorherrschend von Ordensschwestern geleitet, während in den deutsch redenden
Gegenden in den letzten Jahren die weltlichen Lehrerinnen zugenommen haben.
Bei der ungenügenden französischen und einseitig konfessionellen Erziehung und
Bildung der Schulschwesteru — deutsche Klassiker sind ihnen Verbote,: — und bei
ihrer Neigung, den Weisungen der dem deutschsprachlichen Unterricht abholden
Geistlichkeit zu folgen, darf mal sich nicht wundern, daß die ihnen anvertrauten
Mädchen im Deutschen sast durchweg noch weniger leisten, als die Kinder in
den von weltlichen Lehrkräften geleiteten Schulen. Besonders schlimm ist es,
wenn ihnen gemischte Schulen, in denen Knaben und Mädchen vereinigt sind,
anvertraut werden. Ich habe eine Anzahl von jungen Leuten gesprochen, die
aus einer derartigen Schule hervorgegangen waren, deren deutsche und auch
sonstige Kenntnisse fast Null waren. Daß solche Fälle nicht vereinzelt sind,
und daß die Ansicht unter der Bevölkerung, die Schwestern seien mehr ster
das Französische als für das Deutsche, allgemein verbreitet ist, wurde mir
allseitig bestätigt. Es wäre angesichts der Wichtigkeit der Sache wohl der
Erörterung wert, ob die Ordenspersonen uicht unes und nach aus dem. fran¬
zösischen Sprachgebiete zurückgezogen: und mehr in den deutscheu Gegenden ver¬
wendet werden sollten.
Bei diesem Anlaß mag auch darauf hingewiesen werden, daß es wohl an
der Zeit wäre, die Schulpflicht der Mädchen, die seither bloß bis zum drei¬
zehnten Lebensjahre dauerte, wie bei den Knaben bis zum vierzehnten Lebens¬
jahr auszudehnen und den Entlassnngsprüfungen, die in ihrer heutigen Gestalt
nicht selten nur eine leere Formalität sind, ein größeres Gewicht zu geben.
Es wäre ein bedeutender Sporn für Eltern und Schiller, wenn 8 2 des
Schulgesetzes vom 18. April 1871: „Der Schulbesuch muß so lange fortgesetzt
werden, bis das Kind von der Schulbehörde als eutlassungsrrif erkannt worden
ist," nicht bloß auf dem Papier stünde, sondern besonders anch auf das Deutsch-
sprecheu richtig angewendet würde.
Vom Lehrpersonal ist neuerdings ein Teil der nicht gelingend deutsch
sprechenden Lehrer in den Ruhestand versetzt worden. Doch traf ich noch
eine Anzahl von ältern Lehrern an, die des Deutschen fast gar nicht mächtig
waren. Ferner beobachtete ich wiederholt, daß ans französisch redenden
Gegenden stammende junge Lehrer, die vor wenigen Jahren aus dein Seminar
entlassen worden waren, ihr Deutsch aus Mangel an Übung verlernen und
sich nur noch sehr mühsam und fehlerhaft darin ausdrucken können. Statt
daß sie die Jugend in dem Dorfe verdeutschen, verwelscheu sie selbst. Es
dürfte wohl zweckmäßig sein, solche junge Leute womöglich zuerst einige Jahre
in deutsch sprechenden Schulen zu verwenden. Ob nicht von den Lehrern ein
entschiedneres Vorgehen zu Gunsten des Deutschen erwartet werden dürfte,
wenn sie eine unabhängigere Stellung einnahmen, will ich nur beiläufig er¬
wähnen. Inwieweit die wiederholt von mir gehörte Äußerung: „Der Lehrer
ist der Diener des Pfarrers und der Schreiber des Mcnres; eine Keine
Meinungsverschiedenheit mit diesen Hochmögenden, lind er stiegt zum Dorfe
hinaus" auf Wahrheit beruht, entzieht sich meiner Veilrteilnng.
Von entscheidender Wichtigkeit ist es schließlich, daß nicht bloß der
Sprachgrenze entlang, sondern in sämtlichen französisch redenden Gegenden der
französische Unterricht zu Gunsten des Deutschen beschränkt werde. Die seit¬
herigen Mißerfolge sind dadurch entstanden, daß die Schüler zu wenig Übung
im Deutschsprechen hatten. Im allgemeinen dürfte es ausreichen, wenn wöchent¬
lich zwei französische Stunden gegeben werde»; die ersten drei bis vier Jahrgänge
sollten gar keine französischen Stunden erhalten, damit die ganze Kraft des
Lehrers und des Schülers dem Deutschen gewidmet werden könnte. Daß die
Schüler auch zum Dentschsprechen in den Uuterrichtspanse», beim Spielen und
auf der Straße angehalten werden müssen, daß ferner der gesamte deutsche
Uiiterricht sich den Bedürfnissen des praktischen Lebens anschließen muß, daß
die überfüllte» und schlecht eingerichteten Schulen zu beseitige» si»d und hin¬
sichtlich der Lehrmittel nicht gekargt werden darf, ist selbstverständlich.
Von einer Unterdrückung der französischen Sprache kann dabei keine Rede
sein. Die Kuider hören zu Hanse und im täglichen Umgänge so viel franzö-
fisch, daß es ihnen trotz aller Bemühungen zu Gunsten des Deutschen ihr Leben
lang die geläufigere Sprache bleiben wird.
Aber mit Rücksicht ans den gewiß nicht anfechtbaren Satz: „So lange
die Lothringer nicht dieselbe Sprache reden, wie die übrigen Bürger Deutsch¬
lands, so lange wird sich auch das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dein
deutschen Reiche bei ihnen nicht einstellen," darf wohl angenommen werden,
daß möglichst bald Einrichtungen getroffen werde», die uns dem zunächst zu er¬
strebenden Ziele näher bringen, nämlich daß in den heute noch rein franzö¬
sischen Gegenden beide Sprachen vom Volke neben einander gebraucht werden.
Vom Darwinismus noch übrig bleiben wird, nachdem das,
was an ihm am meisten blendet, als wertloser Schein eriwmt
wird, und ob dereinst die Naturgeschichte Darwin „l-s ihren
eigentliche» Begründer verehren wird, wie die Astronomie
, die Chemie Lcwvisicr. den Schöpfer der aniiohlo-
gistischen Verbrennnngslehre, und die Phhsik Robert Mayer, der das Gesetz
von der Erhaltung der Kraft aufgefunden hat, muß der Zukunft anheimgestellt
bleiben. Soviel darf man, ohne den Wert der zahlreichen Einzelergebnisse von
Darwins Beobachtungen herabzusetzen, schon heute sagen, daß kein Bestandteil
seiner Lehre eigentlich neu ist. Daß die einzelnen Wesen sich ans einem Urstoff
stufenweise entwickelt haben möchten, haben die Philosophen von alten Zeiten
her für wahrscheinlich gehalten. Die Umgestaltung des Schafes in ein Kamel
durch Anpassung an die Umgebung beschrieb Buffon ganz so, wie Darwin das
Werden der Giraffe. Daß sich die Eigenschaften der Eltern auf die Kinder
vererbten, wußte jedermann, und praktisch verwertet wurde dieses Wissen sowohl
vom Gesetzgeber Lykurg wie in den Gestüten. Daß Organe und Fähigkeiten
durch Übung gestärkt werden und beim Nichtgebrauch verkümmern, pflegten lange
vor Darwin die Prediger und Katecheten in Erinnerung zu bringen, wenn sie
das Gleichnis im '25. Kapitel des Matthäus von den Talenten oder Pfunden
erklärten; eben durch diesen Zusammenhang ist das Wort Talent, das ursprüng-
lich ein Gewicht, dann eine Geldsumme bedeutete, bei den christlichen Völkern
zu der Bedeutung „Geistesanlage" gekommen. Um an Darwins Lehre ist die
Verbindung dieser Bestandteile zu einem Ganzen, und gerade die Art, wie er
diese Verbindung herstellt, enthält viel Anfechtbares.
Die wichtigste und wohlthätigste Wirkung, die der Darwinismus bei uns
in Deutschland geübt hat, dürfte darin bestehen, daß er die beginnende Reaktion
gegen einen zügellosen, selbstsüchtigen Individualismus verstärkte, indem er die
Abhängigkeit des Individuums von der Gattung lind den höhern Wert der
Gemeinschaft im Vergleich zum Werte der Einzelnen wieder allgemein zum
Bewußtsein brachte. Aber nachdem diese Bewegung längst über ihr Ziel hinaus¬
geschossen hat, sollte jetzt die entgegengesetzte, ergänzende Wahrheit wieder mehr
beachtet werden, und als deren Vertreter mochte ich Buckle empfehlen. Wenn
es einerseits richtig ist, daß der Einzelne nicht vorhanden wäre ohne die Gattung
und daß er sich nur in Wechselwirkung mit seinesgleichen entfaltet, so kann doch
anderseits nicht geleugnet werde», daß ohne die Einzelnen auch keine Gattung
vorhanden wäre, die ja weiter nichts ist, als die Gesamtheit gleichartiger Einzel-
wesen. Und wenn es Pflicht ist, das eigne Wohl dem Gemeinwohl unter¬
zuordnen, so hat diese Pflicht doch nur so lange einen Sinn, als man unter
dein Gemeinwohl das Wohl aller einzelnen Personen versteht, die die Gemein¬
schaft ausmachen. Im politischen Leben wie in der Wissenschaft wird diese
einfache Wahrheit nur allzuoft und allzuleicht aus den Augen verloren, und
man mutet deu Menschen zu, sich für ein Allgemeines zu opfern, das keine
Gemeinschaft lebendiger Menschen mehr ist, sondern nnr ein Staats-, Kirchen¬
oder Gesellschaftsbegriff, ein Abstraktum. Hierdurch verliert das Wort Gemein¬
wohl allen Sinn, denn Abstrakt« befinden sich weder wohl noch übel. Und die
Verehrung leerer Begriffe fälscht zu guter letzt die einfachsten Empfindungen,
wie denn Mazzini z. B. gestand, daß er die Menschheit zwar liebe, aber jedem
einzelnen Menschen gram sei.
Auch daß der Darwinismus dem Menschen die leibliche Seite seines Da¬
seins und deren Wichtigkeit zum lebendigen Bewußtsein brachte, war von großem
Nutzen gegenüber einer Staatskunst, Philosophie, Pflichtenlehre und Pädagogik,
die den Menschen als reinen Geist, den Leib entweder als Hindernis der Voll¬
kommenheit oder als (irmutitv uegliZizablo auffaßte und so die einfachen Gemüter
verwirrte und stets über Mißerfolge klagen mußte. Aber der Darwinismus
geht anch hierin zu weit. Buckle weist ebenfalls, von einer andern Seite her,
die Abhängigkeit des Geistes von der Natur nach, zugleich aber auch, daß der
Fortschritt der Zivilisation diese Abhängigkeit vermindert dnrch die Denk¬
thätigkeit des Einzelgeistes, der nicht den Naturgesetzen, sondern seinen eignen
Gesetzen folgt. Buckle läßt den Geist zwar stets an die Natur gebunden bleiben,
aber nicht in ihr untergehen. Die Darwinianer vermögen den Geist ans dem
chemischen Brei, in den sie ihn aufgelöst haben, nicht mehr zurückzugewinnen;
und Darwin selbst gesteht, wie wir gesehen haben, mit Betrübnis ein, daß den
Meinungen veredelter Affenseelen keine zuverlässige Geltung beizumessen sei,
und daß dnrch diesen „entsetzlichen" Umstand der wissenschaftlichen Forschung
der Boden unter den Füßen weggezogen werde, ein Geständnis, das unsre
deutschen Darwinianer ihrem Publikum zu verraten sich sorgfältig hüten, dem
sie aber selber nicht ausweichen könnten, wenn sie folgerichtig denken wollten.
Buckle hingegen zeigt in der prachtvollen Parallele zwischen Bossuet und
Voltaire (im 13. Kapitel der fünfbändigen Ausgabe), wie Voltaire die Erfolge
der menschlichen Vernunft auf Gebieten studirte, wo sie schlechterdings nicht
verkannt und geleugnet werden können, wie hierdurch seine Bewunderung der
menschlichen Vernunft und sei» Vertrauen zu ihr, aber damit zugleich auch
seine Liebe zu deu Meuscheu beständig wuchs. Weder einem Voltaire noch
einem Buckle würde die alberne und traurige Redensart entschlüpft sein, die
der darwinistische Zug der Zeit deu Berichterstattern auf den Schlachtfeldern
im Jahre 1870 entlockte: „Der Natur ist es ja nur um die Erhaltung der
Gattung zu thun!" Ist die Natur ein blindes, bewußtloses Wesen, dann ist
es ihr überhaupt um nichts zu thun; alles, was geschieht, ist dann Unsinn,
und jede Betrachtung darüber ist doppelt Unsinn. Wird aber Gott gemeint,
dein ist es natürlich um die Personen, seine Kinder, zu thun, und um die
Gattung nur insoweit, als diese gleich jeder andern irdischen Ordnung zu den
Lebensbedingungen der Personen gehört.
Die Darwinianer wollen nicht bloß die Naturwissenschaften, sondern das
ganze Leben vom Schulunterricht bis zu den Gesellschaftseinrichtungen bio¬
logisch gestalten; aber wenn wir uns mit dieser allgemeinen Redensart nicht
begnügen und nach ihrer Anwendung auf bestimmte Fülle fragen, so erhalten
wir entweder gar keine Antwort, oder es werden uns offenbar unausführbare
Vorschläge gemacht. Buckle hingegen bietet eine Menge Aufschlüsse von großem
theoretischen und praktischen Wert, die bisher viel zu wenig gewürdigt worden
sind. Sie leiden an Einseitigkeit und Übertreibung, und ich würde nicht raten,
sie unverbessert und uneingeschränkt in ein Handbuch der Geschichte für
Primaner aufzunehmen, aber sie geben immer genau die Stelle an, von wo
aus der Zusammenhang der Begebenheiten und Erscheinungen gefunden werden
kann, und wenn ihn Buckle selbst manchmal nicht richtig bestimmt, so kommt
das daher, weil er noch nicht alle hierzu erforderlichen Thatsachen beisammen
hatte. Er erkennt und bekennt das selbst mit tiefem Schmerz mir Schlüsse des
18. Kapitels, der hier wenigstens auszugsweise wiedergegeben werden soll.
Buckle ist in der Geschichte^ der Schotten bei dem auffälligen Widerspruch
angelangt, der zwischen den gewerblichen und wissenschaftlichen Leistungen dieses
Volkes und seiner Bigotterie zu bestehen scheint, und er verspricht, diesen
scheinbaren Widerspruch zu lösen. Daß er nur scheinbar sein könne, muß jeder
zu einer wissenschaftlichen Auffassung der Weltgeschichte befähigte zugestehen.
Denn in der geistigen Welt herrscht so wenig Gesetzlosigkeit wie in der körper¬
lichen; hier wie dort ist alles Übereinstimmung und Ordnung, Alle schein¬
baren Widerspräche sind nur Gegensätze, Selbstwidcrspruch (inooiuzistono^)
kann in einem Bvlkscharakter nicht vorkommen. Wenn sogar Männer der
Wissenschaft einem Volke widersprechende Eigenschaften beilegen, so vergessen
sie, das; dieser falsche Schein nicht den Gegenständen anhaftet, sondern nur
eine Wirkung ihrer Unwissenheit ist. Diese Unwissenheit zu beseitigen, zu
zeigen, daß alle Bewegungen im Völkerleben vollkommen gesetzmäßig verlaufen
und in jedem einzelnen Falle nur die notwendige Wirkung andrer vorher¬
gegangener Bewegungen sind, das ist eben die Aufgabe des Geschichtsschreibers.
Löst er sie nicht, so mag er ein Biograph, ein Annalen- oder Chronikenschreiber
sein, ein Geschichtschreiber ist er nicht. Das erste Gesetz der Geschichte lautet:
Werden gewisse Begebenheiten vorausgesetzt, so müssen gewisse andre Begeben¬
heiten mit Notwendigkeit erfolgen. Dieses Gesetz durchgreifend anzuwenden,
ist unendlich schwierig, aber durch seine Anwendung erhebt sich die Geschichte
zur Beherrscherin aller Wissenschaften. Freilich muß, wer dieses Ungeheure
unternimmt, anf manchen Antrieb verzichten, der sonst wohl die Forschung
mächtig fördert: auf Volksgunst, Gunst der Großen und Ehrenstellen. Nicht
allein wird man ihn der Unwissenheit beschuldigen, sondern man wird seine
Beweggründe verdächtigen und ihm nachsagen, daß er den Wert der Sittlich¬
keit leugne und die Religion untergrabe. Aber läßt er sich dadurch nicht ab¬
schrecken, so mird er die verborgenen Umstände enthüllen, von denen das
Schicksal der Nationen abhängt, er wird in der Vergangenheit den Schlüssel
zur Zukunft entdecken und die Gesetze der geistigen und der Körperwelt zu
einer einzigen Wissenschaft vereinigen. Wer das vollbringt, der wird einen
Neubau der Wissenschaft aufführen, in dein alle Widersprüche des ältern Baues
gelöst erscheinen. Vielleicht sind Nur Heutigen für diesen Bau noch nicht ge¬
rüstet. Jedenfalls wird der, der ihn unternimmt, wenig Freunde und Helfer
finden. Er wird den Grund legen, andre werden das Gebäude aufführen;
diese werden ernten, was er gesäet hat. Und in der That erfordert solch ein
Werk nicht bloß das Znsammenarbeitc» vieler Forscher, sondern auch die An-
häufung der Erfahrungen mehrerer Geschlechtsfolgen. „Einst, ich gestehe es,
mar ich andrer Ansicht. Als ich zum erstenmale das Ganze des menschliche»
Wissens überblickte n»d, wenn auch noch so »»deutlich, die einzelnen Teile und
ihre gegenseitigen Beziehungen erkannte, da ward ich von der überwältigenden
Schönheit des Aiwlicks dermaßen beznubert, daß ich mein eignes Urteil belog
und mir einredete, ich würde imstande sein, nicht bloß das Ganze zu über¬
schauen, sondern auch die Einzelheiten zu bewältigen." Aber ach, je mehr der
Gesichtskreis sich erweitert, desto mehr weicht er zurück, und in desto weiterer
Ferne zerfließen die anfangs scheinbar so nahen Gestalten! Jetzt wird mir
klar, einen wie kleinen Teil mir des ursprünglichen Planes ich nusznführe»
Vermag. Vielleicht ist die Thorheit meines Wagnisses von dem sittlichen Bor-
Wurfe der Anmaßung nicht freizusprechen. Trotzdem vermag ich sie nicht zu
bedauern, sondern mochte vielmehr meine ursprüngliche Stimmung nochmals
zurückrufen, denn es giebt kein größeres Glück als eine Hoffnung, deren
Schwung noch durch keine Enttäuschung gelähmt ist. „Nun sind sie dahin,
diese Gesichte einer ungezügelten Einbildungskraft! Dies Geständnis verursacht
mir Pein, aber ich darf es dem Leser nicht vorenthalten, damit er nicht des
irrigen Glaubens lebe, ich würde in diesem oder in einem etma noch folgenden
Bande meiner Geschichte Kleider folgte keiner mehr; der Tod zerriß den an¬
gesponnenen Fadenj mein Besprechen einlösen. Etwas menigstenS hoffe ich
zu vollenden, was die Denker der Gegenwart anregen und der Zukunft eine
Grundlage darbieten wird, auf der sie weiter bauen kaun." Dieses Etwas,
die Analyse der schottischen Volksseele, hat er denn anch vollendet.
Denken wir einige der wichtigsten Aufschlüsse, die er giebt, wenigstens an.
Im 14. Kapitel erklärt er die Unvermeidlichkeit des Sturzes der Jesuiten in
Frankreich ans der Wiederbelebung des Jauseuismns, der, wie er denn aus
dem kalvinistischen Holland stammte, wesentlich Kalvinismus war. Der Kal¬
vinismus ist nämlich demokratisch, während der Katholizismus (den Buckle in
diesem Abschnitt, um den Gegensatz zum Kalvinismus hervorzuheben, stets
Arminianismus nennt) ein aristokratisches Gepräge trägt. Der Kalvinismus
ist eine Religion für die Armen, der Arminianismus eine Lehre für die Reichen.
Denn eine Lehre, die nur Glauben fordert, ist offenbar wohlfeiler als eine, die
Werke fordert. Der Kalviuist wird seine Sünde durch die Kraft des Glaubens
los, der Arminianer muß sie durch äußere Leistungen tilgen, und wo der
Klerus die Macht hat, da nehmen diese Leistungen stets die Richtung ans Be¬
reicherung der Priester und Ausstattung der Gotteshäuser. Aber selbst wenn
Werke der Nächstenliebe gefordert werden, machen diese die Religion kostspieliger,
als sie bei den Kalvinisten ist, bei .denen jeder die Liebe auf seine eigne Person
beschränkt. Die Aristokraten sind prnickliebeud und ziehen daher den katho¬
lischen Gottesdienst vor. „Der gemeine Manu liebt den gottesdienstlichen
Pomp nicht weniger als die Vornehmen, allein er bezahlt nicht gern dafür,
und er weiß, daß eine zahlreiche Priesterschaft und großartige, reich geschmückte
Kirchen einen bedeutenden Teil des Wohlstandes verschlingen, der ohne sie
ungeschmälert seiner Hütte zufließen würde." Der Kalvinist blickt mehr in
sein Inneres, der Arminianer mehr auf andre; jener ist daher engherziger,
aber nicht so knechtisch wie dieser; seiner eignen persönlichen Bedeutung sich
bewußt, unabhängig im Denken, fragt er nicht nach Altertum, Überlieferung
und Autorität. Die Lehre von der Unfreiheit des Willens offenbart ihm die
Gesetzmäßigkeit alles Geschehens; trotz arger Verirrungen, die sie erzeugt, ist
sie daher der Wissenschaft förderlich, während die Arminianer mehr den Künsten
zuneigen. Die Hauptvertreter deo Arminianismus, die Jesuiten, mußten wohl
fallen in einem Lande und einer Zeit, wo die Staatsmänner Skeptiker und die
Theologen Jauscuisten waren!
Diese hier stark abgekürzte Darlegung fordert den Widerspruch in vielen
Punkten heraus, Unter anderm lehrt die Geschichte wie die Erfahrung der Gegen¬
wart, daß der Katholizismus mindestens ebenso oft die Religion der Armen wie
die der Reichen ist. Auch hat Buckle hier und an der früher erwähnten Stelle,
wo er den Protestantismus als höhere Entwicklungsstufe des Christentums dem
Katholizismus entgegensetzt, einen Umstand gänzlich außer Acht gelassen, der
für die Gestaltung und Wahl der Religion von entscheidender Wichtigkeit ist:
den Unterschied der Volksseeleu, der bewirkt, daß der Katholizismus den Ro¬
manen, der Protestantismus den Germanen innerlich verwandter ist. Aber
kein Denkender wird verkennen, von welcher Wichtigkeit trotzdem die aufgestellten
Gesichtspunkte sind.
Im 15. und 17. Kapitel zeigt er, wie allgemeine Ursachen über jedes
Hindernis triumphiren, das die entgegenwirkenden Bestrebungen einzelner ihnen
in den Weg legen. An der ersten Stelle legt er dar, wie den Spaniern weder
die alten Munizipalfreiheiten ihrer Städte noch die Aufklärungsversnche der
Staatsmänner des vorigen Jahrhunderts etwas nützen konnten, weil beide keine
Wurzeln im Volke hatten. An der zweiten Stelle zählt er die Mittel ans,
durch die Jnkob I. vou Schottland sich vergebens die monarchische Gewalt zu
befestigen bemühte, und fährt dann fort: „Wie fast alle Staatsmänner, über¬
schätzte er die Wirkungskraft politischer Maßregeln. Obrigkeiten und Gesetzgeber
vermögen die Krankheiten des Volkskörpers eine Zeit lang den Augen zu ver¬
bergen, Heilen können sie sie nicht. Allgemeine Übelstände beruhen auf allge¬
meinen Ursachen, und diese sind der politischen Heilkunst unzugänglich. Nur
die Anzeichen vermag der Arzt zu fassen, die Krankheit selbst spottet seiner
Bemühungen und wird durch die Behandlung gewöhnlich bösartiger." Endlich
möchte ich noch an die vortreffliche Erörterung des Verhältnisses von
Theorie und Praxis im 20. Kapitel erinnern, wo er darthut, daß zwar das
Theoretisiren in der Praxis ebenso gefährlich wie in der Wissenschaft notwendig
ist, daß aber jene praktischen Leute, die jede Theorie verachten und verspotten,
meistens selber uur Sklaven einer einseitigen, blind geglaubten und beharrlich
festgehaltenen Theorie siud.
Die mehrerwähnte Analyse des schottischen Volksgeistes, der die letzten
beiden Kapitel des Werkes gewidmet sind, darf keiner unberücksichtigt lassen,
der auf den Namen eines Historikers Anspruch macht. Dieser Teil ist frei
von jenen Einseitigkeiten, schwach begründeten Verallgemeinerungen und schiefen
Urteilen, die in den übrigen Kapiteln Wohl vorkommen, weil Buckle den Stoff
dafür vollständig beisammen hat, durchdringt und beherrscht. Die hinreißende
Schönheit der Darstellung und die Wärme eines edeln Gemüts, von der sie
durchglüht ist, machen zusammen mit dem gediegnen Inhalt dieses Bruchstück
zu einem Meisterwerke, das wir nur verunglimpfen würden, wenn wir einen
leicht mißzuverstehender Auszug davon geben wollten.
Der Mensch kann nur unter Menschen studirt werden, und uicht uuter
den Nagetieren, Ameisenfressern, Beuteltieren, Fledermäusen, Halbaffen und
Affen, in deren Sippe er als el» „diskvplazentales" Säugetier von den Dar-
winianern verwiesen wird. Daher leisten Untersuchungen wie die Buckles für
das Verständnis des Menschenlebens unendlich mehr und sind auch von unendlich
größerm praktischen Nutzen, als alle Untersuchungen über die Vererbung ab¬
gedankter Schwänze und alle die zahllosen Szenen aus dem Liebesleben der
Sperlinge, Ratten, Maikäfer, Schmetterlinge und Schnecken, mit denen die
Darwinianer uns den Appetit zum Essen, Lieben und Handeln verderben.
Namentlich zum letztern. Denn wer soll noch Lust, Mut und Freudigkeit zum
Schaffen haben, wenn er sich einreden läßt, daß nach Lvtzes hübschem Aus¬
druck alle Geschehnisse nichts sind als das unvermeidliche Ergebnis eines
Stoßes von hinten? Wer diesem Glauben verfallen ist, der wird, sofern
nicht angeborne Regsamkeit ihn treibt oder ein unmittelbar zu erlangender
Genuß ihn lockt, immerdar aus deu Stoß warten und sich nur noch gestoßen
bewegen.
Freilich verkündigt auch Buckle die Notwendigkeit, aber eine andre. Seine
Notwendigkeit ergiebt sich aus dem Weltplan, der für die Darwinianer nicht
dorhanden ist. Und die, wenn auch unvollkommen erkannte Schönheit des
Weltplans wird dem Erkennenden ein Antrieb zum Handeln, indem der Mensch
sich freut, an feiner Verwirklichung mitarbeiten zu können, sodaß seine Hand¬
lungen, die an sich und von Gott aus gesehen notwendige Wirkungen außerhalb
des Handelnden liegender Ursachen sind, für ihn und von ihm aus gesehen
freudige Leistungen seines freien Willens sind. Wunder allerdings, die
Störungen der gesetzmäßigen Verwirklichung des Weltplans sein würden, erklärt
Buckle für unzulässig, nicht aber deu Glauben an Gott, den Allwissenden,
Allmächtigen und Allgütiger. Während Darwin sich mürrisch und ängstlich
auf seinem Agnostikerstandpunkte verschanzte, um sich und andern die hinter
dem botanisch-zoologischen Reichtum seiner Bücher gähnende Ode und Leere
eines der Hoffnung beraubten Gemütes zu verbergen, bekennt sich Buckle offen
zu einem von Aberglauben freien Christentum. Er bedauert es (im 12. Ka¬
pitel) als ein Unglück, daß die französischen Aufklärer, anstatt nur die Macht
der Kirche anzugreifen, die Grundlagen des Christentums untergruben. Jenen
Männern sei der aus unvollkommner Sachkenntnis entsprungene Irrtum zu
verzeihen. Wir Heutigen jedoch, meint er, würden ihn nicht mehr begehen.
Wir wissen, daß das Christentum nicht an eine bestimmte Kirchenform gebunden
ist. Wir wissen, daß die Geistlichkeit fürs Volk, nicht das Volk für die Geist¬
lichkeit da ist. Wir wissen, daß Fragen der Kirchenverfassung nicht in die
Religion, sondern in die Politik gehören. Und weil wir das alles wissen,
wird bei uns (in England) die Religion nur noch von oberflächlichen Geistern
angegriffen. Sollten wir eines Tages finden, daß die Vorrechte und Reich¬
tümer unsrer Bischöfe dem Gedeihen des Volkes hinderlich seien, so würden
wir darum noch keine Feindschaft gegen dus Christentum empfinden, da ja der
Episkopat nur eine zufällige Einrichtung desselben ist. Oder versuchte unser
Klerus es noch einmal mit einer Willkürherrschaft, so würden wir zwar ihm,
aber nicht dem Christentum Widerstand leisten. Wir sehen in dem Klerus
eine Körperschaft, die zwar zur Unduldsamkeit hinneigt und an einer in
ihrem Stande begründeten Engherzigkeit leidet, die aber einen Teil jener
großen und edeln Einrichtung bildet, durch die der Menschen Sitten gemildert
und ihre Leiden gelindert werden. So lange die Einrichtung ihre Aufgabe
erfüllt, lassen nur sie bestehen, wie sie ist; für den Fall, daß sie einmal den
veränderten Verhältnissen einer fortschreitenden Gesellschaft nicht mehr ange¬
messen sein sollte, behalten wir uns das Recht vor und besitzen wir die Macht,
ihre Mängel zu verbessern, vielleicht sie selbst teilweise abzuschaffen. Aber nie
können, nie dürfen wir die großen religiösen Wahrheiten antasten, die den
Menschen trösten, ihn über den augenblicklichen Antrieb seiner Begierden empor¬
heben und ihm dnrch die Offenbarung seiner persönlichen Unsterblichkeit jene
erhabenen Bestrebungen einflößen, die das Vorzeichen und die Bürgschaft seines
zukünftigen Lebens darstellen.
Nach dem Zweck des Daseins dürfen wir die Darwinianer nicht fragen;
bei ihnen giebt es kein „damit," sondern nur ein „weil"; jedes Wesen besteht,
nicht damit es irgend etwas leiste oder genieße, sondern nnr weil vor ihm
ebenso zwecklos vorhandene Wesen es hervorgebracht haben. Sofern Entwick¬
lung gleichbedeutend mit Fortschritt genommen wird, ist sie eigentlich gar nicht
vorhanden. Eine nur durch äußere Anstöße erzwungene, an sich aber zwecklose
Umbildung kann nicht Fortschritt genannt werden. Fortschreiten setzt ein Ziel
voraus, dem man entgegenschreitet, ein Ideal, das verwirklicht werden soll,
und das Ziel kann nur von einem bewußten Wesen gesteckt, dus Ideal nur
von einem Vollkommnen aufgestellt werden, der vor uns da war. Da es, wie
Darwin sehr richtig sagt, einem Wurme nichts nützen würde, wenn er höher
orgnnisirt wäre, dn aber die hoch organisirten Wesen von ihrer künstlichem
Einrichtung auch weiter nichts davon haben, als daß ihnen eben unter er¬
schwerenden Umständen das Dasein ermöglicht wird, ein Dritter aber, der von
den höhern und niedern Wesen einen Vorteil zöge oder sie zu einem bestimmten
Zwecke geordnet hätte, nicht da ist, so ist es nicht ein Fortschritt, sondern eine
große Dummheit, daß nicht alle Würmer Würmer geblieben sind; wären wir
allesamt noch Würmer, so hätten wir keine Schererei mit politischen, sozialen
und wissenschaftlichen Fragen, schlimmstenfalls erlitten wir den Hungertod ohne
vorhergehende Nahrungssorge, und am allerbesten wäre es allerdings, wenn
wir in keiner Form, auch nicht als Würmer, am Leben wären.
Buckle wirft die Frage nach dem höchsten Daseinszwecke nicht auf, aber
mich allem, was er über Unsterblichkeit, Weltplan und die nähern Zwecke sagt,
setzt er ihn in die Vollendung der menschlichen Persönlichkeit, und zwar in
der Weise, daß die diesseitige Vollendung den Maßstab für die jenseitige abgiebt.
Er ist Optimist und Endämonist, wie aus folgender Stelle im 19. Kapitel her¬
vorgeht: „Völker wie Individuen können sich nur in dem Maße entwickeln,
als sie nlle Lebensverrichtungen kühn und furchtlos ausüben. Diese Ver¬
richtungen erhöhen teils das geistige, teils das leibliche Wohlbefinden. Ein
ganz vollkommner Mensch würde das höchstmögliche Maß von Befriedigungen
genießen, das mit seinem und der übrigen Menschen beständigen Glück ver¬
träglich ist. Aber da es keine vollkommnen Menschen giebt, so verlieren wir
alle mehr oder weniger das Gleichgewicht nach der einen oder der andern Seite
hin, indem wir entweder dem Leibe oder dem Geiste zu viel einräumen. ^Ein¬
zuräumen geneigt sind, würde ich lieber sagen. Denn neun Zehntel aller
Menschen räumen ihrem Leibe nicht halb so viel ein, als sie ihm einräumen
würden, wenn sie mehr Geld und weniger Polizei hätten; und die meisten
Gymnasiasten würden mit Vergnügen auf einen Teil der Gelehrsamkeit ver¬
zichten, die ihnen in den Kopf gestopft wird.^ Daß die geistigen Genüsse höher
stehen als die leiblichen, bezweifelt niemand; allein auf einen für die geistigen
empfänglichen Menschen kommen hundert, die für die leiblichen empfänglich sind.
!»Mehr,« muß man beidemal vor »empfänglich« ergänzen; denn Personen,
die für die eine oder die andre Art ganz unempfänglich wären, giebt es unter
den gesunden überhaupt nicht. Auch die berühmtesten Geistesheroen wissen
einen guten Tropfen und einen guten Braten zu würdigen, und selbst ganz
rohe Menschen empfinden mitunter Wohlgefallen an schönen Gegenständen und
sind den Regungen der Freundschaft, der Eltern- nud Kinderliebe zugänglich,
fühlen sich auch durch vollbrachte Leistungen befriedigt.^ Daher haben die sinn¬
lichen Genüsse einen viel größern Wert, als die Philosophen gewöhnlich zugeben,
die ihrem thörichten Vorurteile gemäß das Mögliche thun, um das Maß der
Glückseligkeit zu vermindern, dessen die Menschheit fähig ist. Diese Philosophen
vergessen, daß wir so gut einen Leib wie eine Seele haben, daß die große
Mehrzahl der Menschen mehr mit dem Körper als mit dem Geiste thätig ist,
und sie begehen den ungeheuerlichen Irrtum, jene Klasse von Verrichtungen
gering zu schätzen, für die neunundneunzig Hundertstel der Menschen am
geeignetsten sind. Die gerechte Strafe für diese Verirrung besteht darin, daß
mit Ausnahme einiger einsamen Bücherwürmer niemand ihre Schriften liest,
niemand sich um ihre Systeme kümmert, und daß sie zum Glück für die Mensch¬
heit von jedem Einfluß aufs wirkliche Leben ausgeschlossen bleiben. Das
Unheil jedoch, das sie anzurichten zu ohnmächtig waren, haben die Theologen
wirklich angerichtet, indem sie ihr Ansehen und ihre Macht dazu mißbrauchtem
Genüsse als unerlaubt zu verbieten, die für die ungeheure Mehrzahl der Menschen
wesentlich zum Lebensglück gehören. Diese Theologen haben einen Gott er¬
sonnen, der grausamerweise seine Geschöpfe mit unwiderstehlichen Trieben und
Begierden ausgerüstet und zugleich ihnen deren Befriedigung bei Strafe der ewigen
Höllenqual verboten haben soll. Bis auf den heutigen Tag noch halten die Theo¬
logen an ihrer verkehrten Ansicht sest, wenn sie diese auch mildern und verschleiern.
Aber jeder Genuß, durch deu weder der Genießende noch ein andrer geschädigt
wird, ist erlaubt, und jeder erlaubte Genuß ist löblich, weil er jene zufriedene
Stimmung fördert, die uns wohlwollend gegen andre macht. Die Theologen
haben noch zu lerne,?, daß unsre Begierden, die so gut zu unserm Wesen ge¬
hören wie unsre Fähigkeiten, befriedigt werden müssen, widrigenfalls der Mensch
teilweise unentwickelt bleibt und ein Krüppel wird. Die einzige Grenze im
Genießen ist, daß wir weder uns selbst noch andre schädigen. Diesseits dieser
Grenze ist alles erlaubt. Mehr noch als erlaubt, es ist notwendig. Wer seine
Natur nicht ganz entfaltet, der mag ein Mönch, er mag ein Heiliger sein, ein
Mensch ist er nicht. Und mehr als je bedürfen wir heute ganzer Menschen.
Kein früheres Zeitalter hat ein solches Stück Arbeit vor sich gehabt wie wir;
und um diese Arbeit zu leisten, brauchen wir gesunde, kräftige Menschen, die
alle Lebensverrichtungen ohne Einschränkung und Behinderung ausüben. Wir
würden der Last unsrer Aufgabe erliegen, wollten wir unsre Lebenskraft und
unsern Lebensmut durch die theologischen Vorstellungen früherer Zeiten nieder¬
drücken, brechen und schwächen lassen."
So ungefähr Buckle. Ich habe frei übersetzt und zusammengezogen. Unser
heutiges Geschlecht wird weniger von theologischen Vorurteilen gelähmt, als
vom Materialismus, der durch Leugnung des Zwecks die Antriebe zur Thätigkeit
raubt, und von jenem Pessimismus, der uns unsre Genüsse als Illusionen
verleidet, uns unsre großen und kleinen Widerwärtigkeiten hypochondrisch zer¬
gliedern lehrt und die unmögliche Zumutung stellt, daß wir Pflichten erfüllen
sollen, um die zukünftige „Erlösung des Unbewußten" anzubahnen. Es ist die
höchste Zeit, daß ein frischer optimistischer Luftzug in diesen faulen Dunstkreis
hineinfahre, sonst erliegen alle passiven Gemüter der Selbstinordmanie, während
die thätigem in ihrer Verbitterung einem Vernichtungskampfe gegen die wirklich
oder scheinbar glücklichen zustreben. Wer weder glücklich ist noch auf Glück
hofft, der ist nicht gut und thut nichts Gutes. Auf eine wichtige Frage bleibt
Buckle die Antwort schuldig, oder vielmehr er wirft sie nicht auf: in welcher
Beziehung der Fortschritt der Zivilisation zum Lebenszwecke des Einzelnen stehe.
Wir merken sie hier einstweilen für spätere Beantwortung vor.
s war fast - selbstverständlich, daß die Aufrichtung des neuen
deutschen Reiches der deutschen Geschichtsschreibung einen mächtigen
Antrieb gab. Es war ein so bedeutender Abschnitt in der Ent¬
wicklung unsers Volkes erreicht, und zwar trotz eines durch Ge¬
schlechter hindurch geführten Traumes von Einheit und Kalther>
kröne doch in letzter Stunde für viele noch überraschend schnell, daß der
denkende Deutsche unwillkürlich still stehen und Umschau halten mußte, vor¬
wärts und rückwärts. Vorwärts auf eine schöne verheißungsvolle Zukunft,
»och unentweiht von Parteigezänk und kleinlicher Mäkelei — die wenn auch
nicht die blutgcwonnenen Errungenschaften wieder in Frage gestellt, so doch ihre
wohlthuende Wirkung auf die Volksseele beeinträchtigt haben —, richtete der
Manu des praktischen Lebens und der Politiker den hoffnungsfreudigen Blick,
rückwärts vou der endlich gewonnenen freiern Höhe schaute in der stillen
Studierstube der Geschichtsforscher mit gedankenvollen Auge und suchte sich
die Lebensrätsel des deutschen Volkes, die nun ihre vorläufige Lösung gefunden
hatten, zurechtzulegen. Es galt zu begreifen, wie das alles so gekommen war,
an große Leistungen vergangner Geschlechter zu erinnern, aus den Fehlern
früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte zu lernen und den Gewinn zu ver¬
wenden zur Befruchtung der Ideen derer, die am Steuerruder des deutschen
Volkes standen. Das Studium der deutschen Geschichte an den Hochschulen
nahm einen ungeahnte« Aufschwung. Historische Gesellschaften und historische
Seminare blühten ans, die studierende Jugend fesselte namentlich die urkund¬
liche Erforschung des Mittelalters, und an der Hand großartiger Urkunden¬
sammlungen, die, wenn auch früher schon geplant und begonnen, doch jetzt in
größerer Fülle der Verborgenheit der Archive entstiegen, entwickelte sich eine
fast überreiche Litteratur über einzelne Persönlichkeiten, wirtschaftliche und
staatsrechtliche Fragen, Kriegsereignisse. Dazu kam die von örtlichen Interessen
beeinflußte Flut tüchtiger Stadt- und Landschaftsgeschichten. Aber nicht nur
neuer Stoff kam zu Tage, sondern mich neue Methoden, den Stoff zu be¬
trachten und zu verwerten. Ein guter Teil der Schulweisheit unsrer Lehrbücher
und ältern großangelegten Werke über das deutsche Mittelalter zerfloß vor den
eigenartigen, biologischen Forschungen eines K. W. Nitzsch in blauen Dunst.
Nicht minder wandelten sich die althergebrachten Urteile über Männer und
Verhältnisse der neuern Geschichte, indem einzelne unsrer großen Historiker nach
eingehenden archivalischen Forschungen große Persönlichkeiten oder einzelne
Geschichtsperioden der gelehrten Welt in ganz neuem Gewände und in neuer
Beleuchtung vorstellte». Zur bessern Erkenntnis aber der Geschichte unsers
Jahrhunderts schrieb eine größere Anzahl von Staatsmännern ihre Memoiren,
und sogar Fürsten ließen durch derartige Veröffentlichungen Blicke in sonst sorg¬
fältig gehütete Geheimnisse thun. Endlich ist in diesen Tagen von dem Alt¬
meister H. von Sybel eine aktenmäßige Darstellung der Begründung des deutschen
Reiches erschienen, zu der nicht nur die preußischen Staatsarchive, sondern selbst
die Registratur des Auswärtigen Amtes den Stoff geliefert haben.
Wer liest nun alle diese umfänglichen Werke oder einige von ihnen?
Wenn man von den Memvirenwerken und ähnlichen absieht, die ein persönliches
Interesse bieten, so sind es eben immer wieder nur die Fachleute, die Geschichts¬
forscher und Geschichtskundigen im engern Sinne des Wortes, oder die mit
verwandten Wissenschaften beschäftigten, die Zeit und Neigung haben, sich in
solchen Lesestoff zu vertiefen. Aber so selbstverständlich dies ans der einen
Seite erscheint, so sehr ist es auf der andern Seite zu bedauern, daß ueuer-
tauute geschichtliche Wahrheiten so schwer und so langsam den Weg zu den
breitern Schichten der Gebildeten finden; denn eine gründlichere Kenntnis der
Entwicklung unsers Volkes würde manchen häßlichen politischen Zank zum
Schweigen bringen, von manchem Abwege zurückrufen. Aber nicht bloß von
diesen: praktischen Gesichtspunkt aus, sondern anch um der idealeren Forderung
willen, daß jeder Mensch, um seines Daseins Rätsel leichter zu verstehen, we¬
nigstens die Geschichte seines Volkes gründlich kennen sollte, ist die Forderung
zu erheben, daß geschichtliche Kenntnisse und geschichtliche Anschnnungen in den
breitesten Kreisen der Gebildeten immer mehr heimisch werden.") Der Er¬
füllung dieser Forderung dient eine andre Art der Geschichtsschreibung als die
eben genannte gelehrte. Ich möchte diese Art über auch uicht schlechthin eine
populäre oder volkstümliche nennen, weil wir mit diesem Worte oft einen
andern Begriff verbinden als den, der hier das Richtige bezeichnet. Die soge¬
nannten populären Geschichtswerke kranken in der Regel an zwei Schwächen,
einmal an dein Streben nach Kürze um jeden Preis, das andremal an dem
Streben nach Verständlichkeit ohne Bemühung des Lesers. In dem erster»
Bestreben wird oft der Stoff, ohne Berücksichtigung des ttmstandes, daß zu
geschichtlichen Anschauungen eine große Menge von Einzelheiten erforderlich ist,
so stark beschnitten, daß nicht etwa ein gedrängteres, sondern überhaupt gar
kein klares Bild entsteht; das andre Bestreben führt manchmal zu einer Ver¬
äußerung des Echten und Wahren, mit der niemand gedient ist. Beide Be¬
strebungen berücksichtigen im Grunde genommen nur die Bequemlichkeit und
Gedankenlosigkeit des Lesers. Von einem jeden Geschichtswerke sür das gebildete
Volk ist allerdings zu verlangen, daß es knapp und verständlich sei, aber nicht
in dem Sinne, daß es sich zur Einleitung des Mittagsschlnfes eigne. Ein
gutes geschichtliches Volksbuch muß die Gedankenarbeit des Lesers ganz in
Anspruch nehmen, und es schadet gar nichts, wenn er sich am Schlüsse einer
Seite veranlaßt fühlt, sie noch einmal zu lesen; denn nur was sich der Mensch
mit geistiger Anstrengung erarbeitet, wird sein Besitz. Wer an ein Geschichts¬
buch herantritt, um es durchzujagen wie einen Unterhaltuugsrvman, der ist
schlecht vorbereitet, vom Wohl und Wehe seiner Väter zu vernehmen. Ernst¬
hafte geistige Arbeit wird den: Leser aber niemals ein Buch abnötigen, das
selbst ohne ernsthafte geistige, selbstschvpferische Bemühung geschrieben ist. Mag
ein Mosaikbild aus den Werken andrer noch so geschickt zusammengesetzt sein,
es übt auf den denkenden Leser, auch wenn er kein Fachmann ist, doch niemals
den Reiz und Zauber aus wie eine unmittelbare, ursprüugliche Schöpfung.
Deshalb bin ich der Meinung, daß anch eine Geschichte für das Volk nicht
nur künstlerische Darstellung, sondern anch selbsterarbeiteten Inhalt bieten
muß. Der Verfasser muß selbst inmitten des lebendigen Stromes der Forschung
stehen, ihn selbst bereichern und doch auch wieder die Gabe besitzen, die
Leistungen andrer im größten Umfang in sich aufzunehmen, nicht um sie
mechanisch zu verwerten, sondern um sie bei sich herumzutragen, unter einander
auszugleichen, durch innere Erfahrung zu läutern und dann erst wieder in
künstlerischer Form aus sich heraus zu gestalten.
Es giebt gewiß nicht viele Menschen, die das vermögen; und so war
denn eine wirklich gute deutsche Geschichte für das Volk, die den durch Er¬
richtung des neuen Reiches gewonnenen Gesichtspunkten gerecht würde, bis
jetzt eiir unerfüllter Wunsch der Gebildeten geblieben.
Den Versuch, diese Lücke auszufüllen, hat nun neuerdings mit der ganzen
Kraft eines reichbegabten und auf dem Gebiete der Geschichtsschreibung vielfach
bewährten Geistes Otto Kaemmel in seiner Deutschen Geschichte unter¬
nommen. Es muß billigerweise dem Urteile der historischen Fachzeitschriften
überlassen bleiben, festzustellen, inwieweit auch die historische Wissenschaft als
solche durch das Werk bereichert worden ist; wie weit aber dieses Buch den
oben ausgeführten Anforderungen, die an eine deutsche Geschichte für das ge¬
bildete Volk zu stellen sind, entspreche oder nicht entspreche, darüber möge
einem, der sich an Kaemmels Geschichte warm gelesen hat, ein Wort verstattet
sein, das vielleicht den Lesern dieser Zeitschrift nicht unwillkommen ist.
Zunächst fällt in Kaemmels Buch die Fülle des Stoffes auf, deu der
Verfasser nicht nur beherrscht, sondern auch auf verhältnismäßig knappen
Raume zur Anschauung bringt. Neben den allgemeinen Schicksalen des deutschen
Volkes ist, der föderalistischen Anlage unsrer Nation entsprechend, auch der
Sondcrgeschichte der einzelnen Landschaften und Fürstentümer, sogar der wich¬
tigern Städte (wie Köln, Straßburg, Lübeck, Nürnberg u, s, w.) ein so breiter
Raum verstattet worden, daß in dem Buche der Württembergs fo gut wie
der Sachse genügende Belehrung über die Schicksale der Heimat finden wird.
In der besondern Berücksichtigung der deutschen Kolonisation in Österreich er¬
kennt man den Verfasser der „Geschichte des Deutschtums in Österreich,"
ebenso ist die Kolonisation der Slawenlande des deutschen Reiches durchaus
selbständig nud meines Wissens noch nie so im Zusammenhange geschildert
worden. Neben der Politischen Geschichte ist mit Recht die Kultur- und
Wirtschaftsgeschichte in allen ihren Zweigen, sowie die Geschichte der Litteratur,
der Künste, des religiösen Lebens u. s. w. so ausführlich behandelt worden,
wie in keinem andern Geschichtswerke ähnlichen Umfangs. Diese Reichhaltig¬
keit ans verhältnismäßig engem Raume ist erreicht worden dnrch markige
und gedrungene Darstellung, dann aber auch durch rücksichtsloses Wegschneiden
des Entbehrlichen.
So sind z. B. die üblichen kriegsgeschichtlichen Schilderungen und ewig
sich gleichenden Schlachtberichte, die für den Fachmann zu wenig, für den
Laien, weil unverständlich, gar nichts bieten, weggelassen zu Gunsten weniger
wirklich eingehenden, lebensvollen, sogar das Wetter genau berücksichtigenden
Darstellungen der wichtigen und typischen Schlachten, z. V. im Teutoburger
Walde, bei Fehrbellin, der Entsetzung Wiens, bei Höchftädt, Austerlitz, Leipzig,
Königgrntz, Metz, Sedan, Eigentlich hätte diese weise Beschmnknng auch dazu
führen sollen, die spätern Kämpfe der Römer und Germanen zwischen 100
und Z75 n. Chr. noch kürzer zu fassen und namentlich in den ersten Abschnitten
des Mittelalters z. B. in der Erzählung vom Untergange des weströmischen
Reiches manchen überflüssigen Namen wegzulassen. Doch wird sich die an
wenigen Stellen hervortretende Überfülle an Namen leicht beseitigen lassen;
im allgemeinen ist trotz der Vielfältigkeit des Stoffes die Einheit der Hand¬
lung trefflich gewahrt, alle Einzelheiten gruppiren sich harmonisch um den
Hauptgedanken: die Entwicklung des deutschen Volkstnmes, die Entstehung der
nationalen Einheit.
Die Herrschaft dieses Gedankens über alle andern zeigt klar und deutlich
die eigenartige, durchaus neue Gliederung. Von dem Gedanken aus, daß die
wichtigste Angelegenheit der deutschen Geschichte die Bildung der nationalen
Einheit sei, kommt Kaemmel dazu, die althergebrachten Perioden über
den Haufen zu werfen und von der Entstehung des Frankenreiches an bis zur
Gegenwart nur zwei Hauptteile in der Geschichte des Deutschen zu erkennen:
1, die Reichst'ildungen auf germanisch-römischer Grundlage 47lZ bis 1273,
eine Periode, deren Schluß, nachdem nnter Barbarossa und Heinrichs VI. das
Ziel der Herstellung einer lebensfähigen einheitlichen Reichsverfassung nahe vor
die Erfüllung gerückt schien, mit dem Untergänge der Hohenstaufen zugleich
den Untergang der alte» Verfassung und der bereits vorhandnen Keime zur
Einheit besiegelte; 2. die Auflösung des römisch-deutschen Kaisertums und
die Entstehung des deutschen Bnndesreiches 1273 bis 1871. In dieser vom
Standpunkte der Gegenwart — und nur diese ist hierin für uns maßgebend —
richtigen und streng durchgeführten Gliederung finde ich einen auffallenden
Fortschritt. Es ist keine Frage, daß dadurch die Reformation äußerlich aus
ihrer führenden Stellung am Beginne der sogenannten neuern Zeit einiger¬
maßen zurückgedrängt wird, aber sie wird dadurch uur um so fester und inniger
als ein notwendiges und bestimmendes Glied in die Kette der nationalen Ent¬
wicklung hineingeschlossen und demgemäß auch von Kaemmel mit besondrer
Liebe dargestellt. selbständig und feinsinnig sind die Unterabteilungen der
Hauptzeiträume bestimmt und wiederum übersichtlich gegliedert bis herab zu
den kleinsten, oft nnr Seitenlängen Abschnitten, die einen Begriff oder Eigen¬
namen am Kopfe tragen. Bei dieser so weitgehenden Gliederung bedurfte es
einer besondern Kunst, die einzelnen Teile nicht auseinanderfallen zu lassen;
sie stehen aber zusammen in einer innern natürlichen Ordnung, und auch die
größern Abschnitte schließen sich natürlich an einander, alle im Dienste des
Hauptgedankens. So kommt es, daß auch in deu Abschnitten über Kultnr-
und Geistesleben, z. B. über Philosophie, geschichtliche Wissenschaften, Univer¬
sitäten und Schulen, Goethes Alter, Dichtung, Baukunst, Bildnerei, Musik,
Grundlagen des wirtschaftlichen Aufschwungs, Verkehr, überseeischen Handel,
Gewerbfleiß, Landwirtschaft, Wohlstand und Bevölkerung n. s. w., die in die
Darstellung der vierziger Jahre unsers Jahrhunderts eingewebt sind, überall
die Fäden bloßgelegt sind, durch die alle diese Dinge von den äußern und
innern Schicksalen des Volkes abhängig sind. Dieselbe enge Verflechtung der
Staats- und Kulturentwicklung zeigt sich z. B. auch bei der Darstellung der
Wiedergeburt Preußens nach 1806 und des deutschen Geisteslebens vor der
Napoleonischen Fremdherrschaft, der dentschen Kultur beim Tode Heinrichs VI.
u. s. w. So findet sich überall bei durchsichtigster Gliederung des Stoffes
doch die straffste Konzentration, das ganze Werk erscheint wie aus einem
Gusse.
Nicht minder deutlich tritt des Verfassers Selbständigkeit in der Auffassung
großer politischer Ziele und großer Persönlichkeiten hervor, obwohl er sich
gerade ans diesem Gebiete dankbar als der Schüler von K. W. Nitzsch bekennt.
Unbeirrt dnrch Schulüberlieferung und alte Vorurteile übersieht er das Ganze
und weist jeder Regung dentschen Lebens, jeder Persönlichkeit mit Sicherheit
und Schärfe des Urteils den gebührenden Platz zu. Zu Anfang unsers Jahr-
Hunderts hatte man unter dem Einflüsse der Romantiker die mittelalterliche,
auf die Beherrschung Italiens gerichtete Kaiserpolitik als die glänzendste Kraft¬
entfaltung der „edeln, schönen Ritterzeit" gepriesen, seit der Mitte des Jahr¬
hunderts hatte, unter dem Eindrucke des Mißlingens des deutschen Einheits¬
werkes, die entgegengesetzte Auffassung Platz gegriffen, daß die italienische Politik
der Kaiser, weil sie von der unmittelbaren Fürsorge für eine lebensfähige
Reichsverfassung abgelenkt habe, eine verfehlte gewesen sei. Kaemmel zeigt,
daß die Beherrschung Italiens und des Papsttums notwendig war, weil die
deutsche Verfassung auf der freien Verfügung des Königs über die wirtschaft¬
lichen Kräfte der Kirche beruhte; auch brauchten die überschießeuden kriegerischen
Kräfte des Volkes ein Arbeitsfeld, sowie jetzt die überfließende gewerbliche
Produktion das deutsche Volk zur Gründung von Handelskolonien gedrängt
hat und die allgemeine Übervölkerung den Mangel an Ackerbaukolonien schwer
empfinden läßt; „was Italien für die Deutschen war, das ist um dieselbe Zeit
Südfrankreich für England oder noch früher England für die Normandie ge¬
wesen. In diesen Kämpfen sind die Deutschen zu einer Nation zusammen¬
gewachsen, haben sich durchdrungen mit dem stolzen Gefühl des Aufschwungs
und der Kraft, haben, von ihm getragen und angeregt durch die engen Be¬
ziehungen mit den Ländern der höhern, romanischen Kultur, zum erstenmale
in Kunst und Dichtung eiuen glänzenden Höhepunkt erreicht und zugleich den
Schritt von der bäuerlich-adlichen Naturalwirtschaft zum städtischen Leben, zur
Geldwirtschaft gethan." Die wärmste Begeisterung für die deutsche Sache,
gepaart mit sittlichem Ernste und tiefer Religiosität, durchwehen das ganze
Buch; sie erheben und erquicken den Leser, besonders in der Erzählung der
deutschen Erhebung gegen Napoleon und in der Darstellung der Reformation.
Die innerliche Verflechtung des Lebens und Wirkens Luthers, dessen Bild
als das eines Gottesmnnnes und doch zugleich auch als eiues mitten unter
seinen Volksgenossen stehenden Deutschen gezeichnet ist, mit der gleichzeitigen
Geschichte des deutschen Volkes gehört zu den ergreifendsten Stücken des Buches,
ebenso die scharfen und packenden Charakteristiken von Karl dem Großen,
Heinrich IV., Friedrich Barbarossa, Gustav Adolf, Wollenstein, Friedrich
dem Großen, Friedrich Wilhelm IV. und die von Wilhelm I., die den letzten
Abschnitt des Buches „Die Gründung des neuen deutschen Reiches" eröffnet.
Endlich möchte ich noch auf die gedrüngteu Übersichten hinweisen, die Kaemmel
am Eingange oder an, Ende größerer Abschnitte einschiebt. Sie sind so gedanken¬
schwer und wuchtig, daß ihr volles Verständnis allerdings nur dem vor¬
geschrittenen Laien klar werden wird; auch zeigen sie im Ausdruck, z. B. im
Gebrauche der Pronomina, manches Eigenartige. Übrigens aber sind gerade
diese Stellen Meisterstücke des historischen Denkens und zeigen anch am deut¬
lichsten die Meisterschaft, womit der Verfasser über die reichen Mittel der
deutschen Sprache verfügt.
Alles in allem ist Kaemmels „Deutsche Geschichte" ein eigentümliches,
vortreffliches Buch, das in der Reihe der für einen größern Leserkreis be¬
rechneten deutscheu Geschichtswerke einen neuen Abschnitt bezeichnet. Möge der
Wunsch in Erfüllung gehen, mit dem Kaemmel sein Buch in die Welt sendet,
möge es „dazu beitragen, die jüngere Generation, die Deutschland nur als ein
einiges, mächtiges Ganze kennt und ans eigner Erfahrung von den Leiden
und Kämpfen der Alten nichts mehr weiß, zu erfüllen mit warmer Begeister¬
ung für deutsche Art und Größe, in ihr den Entschluß befestigen helfen, die
große Gegenwart fortzubilden zu einer größern Zukunft, und bei ihr die Kennt¬
nis erwecken, daß die Geschicke eines Volkes nicht allein von seinen Leistungen
in Kunst, Wissenschaft und Technik bestimmt werden, sondern vor allem
von seiner sittlichen Kraft und feinem religiösen Geiste."
Baron Frederik
Deutsch von Therese Lorck
u deu uicht zu unterschätzenden Annehmlichkeiten, deren man
sich als Jäger zu erfreuen hat, gehört auch die, daß sich stets
ein Vorwand oder eine Gelegenheit finden läßt, ein wenig „aus¬
zukratzen," wenn man von den vielen Gästen, die gleich einem
selbst ihre Ferien ans dem Gute eines Verwandten oder Freundes
Anbringen, mürbe geschwatzt worden ist. Nimmt man noch dazu, daß ich für
meinen Teil mich selten oder nie wohler fühle, als wenn ich auf eigne Hand,
die Büchse über die Schulter gehängt, in dem stolzen Bewußtsein, alles Lebende
aufs Korn nehmen zu dürfen, herumschlendern kann, so wird man verstehen,
daß ich vor einigen Jahren, als ich Weihnachten ans Oberhof zubrachte, fast
jeden Tag mich draußen herumtrieb, obgleich es im Grunde nicht viel zu schießen
gab. Durch deu großen, stillen Wald zu gehen, wo die Pfade mit dickem
Schnee bedeckt waren, auf das einförmige Hämmern der Spechte zu hören und
dann und wann eine Meise mit lautlosem Flügelschlag zwischen die Stämme
hindurch segeln zu sehen, das war mir genug, und ich mußte ordentlich auf
mich selbst Acht haben, daß ich die Zeit nicht verpaßte und zu spät zum Mittags¬
tisch kam.
Eines Tages hatte ich meinen Ausflug weiter als gewöhnlich ausgedehnt
und befand mich schließlich an einem Waldessaume, denn ich noch nicht kannte.
Die Bäume standen hier vereinzelt, und im Schnee waren Fußspuren sichtbar.
Es war gegen Sonnenuntergang; am Horizonte breitete sich ein gelbroter Schein
ans, weiter hinauf hatte der Himmel schon den grünblauen Ton angenommen,
der einem Frosttage so eigentümlich ist. Ich hörte die Krähen schreien, sie
kamen näher und näher, und da ich vermutete, daß sie sich auf einen der
großen Bäume zur Ruhe setzen würden, so blieb ich stehen, nicht um nach
ihnen zu schießen, sondern weil mir ihr Gebaren stets Vergnügen macht.
Auf den Krähen liegt ein gewisses Gepräge unfreiwilliger Komik, und der,
dem das einmal aufgefallen ist, kann nicht unterlassen, darauf zu achten.
Wüßte man es nicht besser, so könnte man glauben, die Krähen kämen alt zur
Welt, in solchem Grade haben sie vom El ab alle die wenig ansprechenden
Eigenschaften des Alters: Streitlust, Habsucht, Mißtrauen und Neigung, das
große Wort zu führen, und diese Eigenschaften verlassen sie nie. Die Krähe
verbringt offenbar einen großen Teil ihres Lebens damit, sich zu ärgern; sie
ist ein geborner Reaktionär, ein geborner Hans Unzufrieden, der auf alle Welt
schimpft und am meisten ans jene frohen Sänger, die leichtsinnig auf schwankendem
Zweige sitzen und für sich und andre singen; die Krähe weiß recht gut, daß
sie zur großen Familie der Singvögel gehört, aber sie schämt sich der Ver¬
wandtschaft und thut, als ob sie sie nicht kennte. So auch diese hier. Ans
vollem Halse schreiend, schwärmten sie mit kurzem, schwerfälligem Flügelschlag
über die hohen Burne hinweg und setzten sich endlich auf die höchste Spitze.
Unwirsch und von einem Zweige zum andern ziehend, saß die würdige Gesell¬
schaft und schrie wie eine Versammlung knttenbekleideter Tartüffes, die sich
über die Schlechtigkeit der Welt erhaben fühlen und sich berechtigt glauben,
ihrer Entrüstung Luft zu machen.
Mit einemmale nahm ihr Schreien zu, einzelne flogen empor und es
kam Unruhe ins Lager. Eine menschliche Gestalt näherte sich; sie war es, vor
der sie sich fürchteten.
Es war aber auch eine etwas ungewöhnliche Erscheinung, die da zum
Vorschein kam. Eine in den mittlern Jahre» stehende hohe, magere Gestalt,
in einen weiten Havelock gehüllt, mit schwarzem, hohem Zylinder auf dem
Kopfe, schritt einher, einen Regenschirm in der Hand, mit aufgestreiften Bein¬
kleidern, die Füße in Galoschen.
Als sie näher kam, sah ich einen schmalen Kopf, von einem faltenreichen,
langen Halse getragen, und ein mageres Gesicht mit buschigem Knebel- und
Spitzbart; die ganze Gestalt erinnerte etwas an den überlieferten Don Quixote-
Typus.
, Da ich Wasserstiefeln anhatte, trat ich zur Seite, um dem Fremden den
schmalen Steg zu überlassen, und grüßte. Er erwiderte meinen Gruß aus-
nehmend höflich, Wie ein vollendeter Kavalier der alten Schule, blieb stehen
und sprach schnell, gleichsam über seine eignen Worte hüpfend und mit jenem
eigentümlich schwachen, aber doch deutlich erkennbaren dentschen Accent, der
sich dnrch viele Geschlechter erhalten kann: Freue mich sehr, Ihre geehrte Be¬
kanntschaft zu machen, freue mich außerordentlich!
Ich verbeugte mich, und er fuhr fort: Ah, Sie find Jäger! Eine
noble Passion, eine außerordentlich noble Passion! Sie sind vermutlich zu
Besuch auf Oberhof?
Ich bejahte dies.
scharmanter Wirt, dieser Carlsen auf Oberhof, außerordentlich scharmanter
Wirt! Habe manche angenehme Stunde bei ihm zugebracht. Erlauben Sie,
daß ich mich selbst vorstelle: ich bin Baron Frederik Rauch. Darf ich fragen,
mit wem ich die Ehre habe?
Als ich meinen Namen nannte, rief er ans: Das ist wirklich eine ange¬
nehme Begegnung! Es würde mir ein besondres Vergnügen sein, wenn Sie,
falls Ihr Weg Sie vorüberführte, einmal bei mir vorsprechen wollten. Ich
wohne hier im Gasthof, dort hinter dein kleinen Gehölz auf der andern Seite
des Weges. Es würde mich ausnehmend freuen, Sie zu sehen! In Wahrheit
eine angenehme Begegnung! Aber ich halte Sie auf, es ist schon spät — er
sah nach der Uhr —, ich muß mich beeilen, um die Mittagszeit nicht zu ver¬
säumen. Meinen Gruß auf Oberhof! Empfehle mich!
Ehe ich recht wußte, wie mir geschah, hatten wir einander die Hand wie
gute Bekannte gedrückt, er ging ans dem Walde hinaus, und ich zurück nach
dem Gute.
Dort erzählte ich natürlich von meiner Bekanntschaft mit dem Baron
und fragte, wer es eigentlich sei, der hier im Walde herumspaziere und im
Gasthof wohne.
Baron Frederik, sagte mein Wirt, kennen Sie den nicht? Er lebt doch
schon ein paar Jahre hier in der Gegend, es muß ein reiner Zufall sein, daß
Sie ihn noch uicht bei uns getroffen haben. Armer Karl — er hat gerade
nicht allzu viel zum Leben. Es geschieht auch aus ökonomischen Gründen, daß
er seine Residenz hier im Gasthof aufgeschlagen hat. Er hat von Kindheit an
bei einem Onkel, der uns dein Stammgnte saß, Unterkunft gefunden, und dort
betrachtete man ihn wie ein Stück beweglichen Hansinventars. Dann starb der
Onkel; ein entfernter Verwandter bekam das Gut, und bei ihm befand sich
Bnron Frederik wahrscheinlich nicht sonderlich wohl, denn eines schonen Tages
ließ er sich hier nieder. Honett und gutmütig ist er, alle Menschen haben
ihn gern, aber eine wunderbare Schraube ist und bleibt er. Im übrigen sollten
Sie doch seiner Einladung folgen, man stößt nicht alle Tage auf Originale.
Obwohl ich dies bereitwillig einräumte, wäre doch wohl kaum etwas aus
dem Besuche geworden, wenn ich nicht bald darauf eines Bormittags meinen
neuen Freund abermals, diesmal aber an einer ganz andern Stelle, getroffen
hätte. Ich erkannte schon in weiter Ferne die hohe Gestalt mit dem Regen¬
schirm, und als wir uns einander näher gekommen waren, hob und senkte er
mehrmals die Arme, bei welcher Bewegung der Havelock sich gleich Flügeln
ausbreitete, und begrüßte mich aufs freundlichste.
Das freut mich! rief er aus, Sie hatten Wort und kommen, einen alten
Junggesellen wie mich zu besuchen! Das ist außerordentlich aufmerksam von
Ihnen, ganz außerordentlich aufmerksam! Und um kommen Sie gerade zum
Frühstück, es kaun sich gar nicht besser treffen!
Einer so großen Freundlichkeit gegenüber würde es übel angebracht ge¬
wesen sein, einzugestehen, daß ich gar nicht darau gedacht hatte, ihm einen
Besuch zu machen; ich beschränkte mich also nur auf die Bemerkung, daß ich
der sei, der zu danken habe, und nicht er, und so gingen wir zusammen weiter.
Plötzlich sah er nach der Uhr. Ist es möglich! rief er aus. Es fehlen
nur noch zehn Minuten an elf! Dann haben wir keine Zeit zu verlieren, wenn
wir um elf Uhr zum Frühstück zu Hause sein wolle»! Ich muß Ihnen nämlich
sagen — fügte er erklärend hinzu —, ich gebe viel darauf, in nlleu Dingen,
großen wie kleinen, präzis zu sein. Ich habe meine Zeit ganz regelmäßig ein¬
geteilt, mein Leben geht wie am Schnürchen. Hätte ich mich nicht so eingerichtet,
so würde mir die Zeit ja lang werden)- so dagegen habe ich nie eine Stunde
übrig, ich führe ein gebundneres Leben als ein Soldat. Schlag sechs im
Sommer und Schlag sieben im Winter stehe ich auf und mache Toilette,
trinke meine anderthalb Tassen Thee und rauche meine Morgenpfeife. Um zehn
Uhr gehe ich ans, mag das Wetter sein, wie es will, und spaziere durch den
Wald; dazu brauche ich gerade eine Stunde bis zur großen Eiche, auf lang¬
samen Gang berechnet, sodaß ich, wenn ich jemand begegne und aufgehalten
werde, trotzdem die Zeit einhalten kann, wenn ich meinen Schritt etwas fvrcire.
Um elf Uhr frühstücke ich — zwei weiche Eier mit Brot, eine Tasse Kaffee,
nichts weiter —, von zwölf bis zwei lese ich oder zeichne etwas, von zwei bis
vier gehe ich wieder spazieren und passe immer auf, daß ich dann unten auf
der Chaussee bin, dort wo die Eisenbahn sie durchschneidet, wenn der Zug zehn
Minuten vor vier Uhr vorüberkommt, dann esse ich zu Mittag, schlafe ein
Stündchen und bin dann am Abend mein eigner Herr, denn der will ich sein.
Es lag etwas unwiderstehlich Komisches darin, einen Menschen, der ganz
und gar nichts zu thun hat, sagen zu hören, daß er am Abend „sein eigner
Herr" sein wolle, sodaß ich mich halten mußte, nicht darüber zu lachen. Aber
um doch anch etwas zu sagen, sprach ich meine Bewunderung über die Durch¬
führung einer solchen Regelmäßigkeit aus, fragte aber gleichzeitig, ob er sich
nicht ab und zu dadurch genirt fühle.
Dadurch genirt? Ja, so wahr ich lebe, fühle ich mich genirt, und dies
einen Tag wie den andern! Glauben Sie nicht, daß ich manchmal mit Freuden
eine blanke Mark in dei, Kirchenstock legen würde, wenn ich am Morgen ein
Stündchen länger liegen bleiben könnte, oder es unterlassen dürfte, auszugehen,
wenn das Wetter, geradeheraus gesagt, verdammt ist? Ja, darauf können Sie
sich verlassen! Aber der Mensch ist doch nicht in die Welt gesetzt, um seine
Gemächlichkeit zu pflegeu, er soll ein streng geordnetes Leben führen. Wenn alle
so handeln wollten, so würde vieles anders, ganz anders nusseheu. Wie beliebt?
Ich gab ihm natürlicherweise Recht und fragte, ob er diese Regelmäßigkeit
auch für Handlanger, die sich in längern Zwischenräumen folgten, aufrecht
halte oder uur für die tägliche Wirksamkeit.
Ja, so viel es ausführbar ist, antwortete er, aber es ist schwer, außer-
ordentlich schwer; denn versucht mau nach bestem Gewissen in das, was man seltener
vornimmt, ein System hineinzubringen, so geht die tägliche Ordnung darüber
verloren. Ich gehe z. B. einmal monatlich in die Kirche — nicht gerade,
weil Pastor Imsen ein besonders begabter Redner wäre, aber ich komme
in sein Haus, ich habe persönliche Achtung, große Achtung sowohl vor ihm als
vor seiner Familie, und man ist es auch seiner Stellung schuldig, der Gemeinde
mit gutem Beispiel voranzugehen. Ich gehe also einmal monatlich in die Kirche,
aber dieser Kirchgang stört mir den ganzen Tag. Ja es ist schwer, es ist
außerordentlich schwer, ein geregeltes Leben zu führen!
Während dieser Unterredung hatten wir den Gnsthvf erreicht, mein Be¬
gleiter öffnete die Thür, wir gingen hinauf und kamen in das erste der beiden
Zimmer, die er bewohnte.
Auf dem Lande muß mau es nehmen, wie es ist, sagte er, das ist meine
ganze Residenz!
Ich sah mich im Zimmer um. Es war geräumig und behaglich. DaS
Hausgerät war augenscheinlich Erbgut, von der schwarzbraunen Schatulle mit
den vergoldeten Messingbeschlägen an bis zu den hochlehnigen Stühlen; an
den Wänden hingen verschiedene Familienpvrtrüts, eine gewiß kostbare Porzellan¬
vase stand ans dem Kachelofen, ein kleines hängendes Bücherbrett trug alte,
in gelbes Kalbleder gebundene Bücher. Vor dein Sofa mit dem glatten Pferde-
Haarbezug stand der gedeckte Frühstückstisch; das Tuch war blendend weiß,
und das Ganze sah sehr einladend aus.
Der Baron bat mich, Platz zu nehmen, und zog an der Klingelschimr.
Ein nettes, aber etwas schwer gebautes Mädchen kam herein, und mein Wirt
bat sie, einige Eier mehr kochen zu lassen, auch aufzutragen, was sonst zu
haben wäre.
Ein hübsches Mädchen! sagte er, als sie hinausgegangen war, ein außer¬
ordentlich hübsches Mädchen!
Ich nickte zustimmend.
Ja, die kleine Marie ist ein gutes Mädchen. Es ist die Wirtstochter.
Flinte Leute, ungewöhnlich flinke Leute!
Ich ließ dem Frühstück alle Gerechtigkeit widerfahren und plauderte da¬
zwischen mit dem Baron, der der aufmerksamste Wirt war. Als wir gegessen
hatten, wurde sofort weggeräumt, und er bot mir eine Zigarre an.
Erlauben Sie, daß ich eine Pfeife rauche? Schon, es genirt Sie nicht?
Ich muß Ihnen sagen, eine gute Pfeife geht mir über alles, ich versichere
Ihnen, ich kann mich schon des Abends ordentlich auf meine Morgenpfeife freuen,
und diese — er zeigte ans einen großen, silberbeschlagenen Meerschaumkopf, deu
er in der Hand hatte — schmeckt nur besonders gut. Ich habe sie von meiner
Nichte erhalten, die mit dem Kammerjunker Father verheiratet ist, sie war so
scharmant, sie mir selbst in Wien zu kaufen.
Mein Auge siel auf ein aufgeschlagenes Buch. Darf ich sehen, was der
Herr Baron liest? fragte ich.
Oh. es sind Madame de Sovignvs Briefe. Höchst interessant! Etwas
flott, etwas frivol, aber schließlich muß sie doch ein teufelsmäßig instruirtes
Frauenzimmer gewesen sein. Wie beliebt?
Ich ehrte Madame de Svvignvs Andenken durch unverhohlene Anerkennung
und fragte, ob er vorzugsweise französisch lese?
Ja, so gut wie ausschließlich. Sie werden das horribel finden, aber ich
lese selten dänische Bücher. Die jünger» goutire ich nicht, die sind nur ent¬
weder zu subtil oder zu platt, und man liest doch wirklich nicht allein des
Vergnügens wegen, sondern auch um seinen Geist zu bilden, um sich in einer
Sprache zu vervollkommnen, und es giebt, das müssen Sie gestehen, keine
elegantere Sprache als die französische. Ich versichere Ihnen, obgleich ich
beinahe meine kleine Bibliothek auswendig weiß, so ist es mir doch immer
wieder ein Genuß, darin zu lesen. Und das sind prächtige Ausgaben, die ich
besitze, es sind scharmante Kupferstiche drin. Hier, sehen Sie.
Er holte einige Bünde hervor, und wir betrachtete» gemeinschaftlich ver-
schiedne jener tüchtig gezeichiiete», in der Regel freilich etwas bedenklichen
Szenen, in denen die Cochlus und Mvrenus im vorigen Jahrhundert als
Meister galten.
Ich liebe diese Bilder sehr, sagte der Baron, zierlich und pikant! Ich
verbringe manche Stunde damit, sie zu kopiren. Hier können Sie die Resultate
sehen, freilich es ist nur Dilettantenarbeit, aber vielleicht macht es Ihnen Ver¬
gnügen, sie durchzublättern.
Er zeigte mir eine Reihe Blätter, auf denen er mit unglaublicher Geduld
jeden Strich des betreffenden Kupferstiches mit Feder und Tusche wiedergegeben
hatte. Ich konnte nicht umhin, ihm meine aufrichtige Bewunderung über einen
solchen Fleiß auszusprechen, und das freute ihn offenbar. Als er seine Zeich¬
nungen wieder in die Schatulle legen wollte, fiel ein rotes Etui von der Art,
wie man sie in Juwelierlüden bekommt, ans deu Boden; ich beeilte mich, es
mifzuheben.
Können Sie raten, was das ist? sagte er. Nein, das können Sie nicht!
Es ist eine Kleinigkeit, ein silberner Löffel sür des Ortsrichters kleine Tochter,
die am Donnerstag getauft werden soll. Ich muß Ihnen sagen, die Leute
hier herum sind sehr anständig, außerordentlich anständig; sie legen Wert
darauf, einen bei den Hochzeiten und als Gevatter zu haben — Begräbnisse
liebe ich nicht, das wissen sie, und deshalb laden sie mich anch nicht dazu ein.
Nun, man darf nicht stolz sein, aber kommt man, so muß man seine Stellung
behaupten.
Es waren wohl ein paar Stunden vergangen, als ich aufbrach. Mit
dem bestimmten Versprechen, es nicht bei diesem einen Besuch zu lassen, verab¬
schiedete ich mich. —
Nach einigen Tagen reiste ich nach der Stadt und kam nicht früher als
zu den Sommerferien wieder nach Oberhof.
Eines Vormittags ging ich hinunter nach dem Gasthof, und pünktlich um
elf stellte ich mich bei meinem alten Freunde ein.
Scharmant! rief er aus, als ich eintrat. Sie vergessen mich nicht ganz,
und Sie sind präzis wie — nun wie ich selbst! Scharmant! Ach, kleine
Marie, Sie sind Wohl so freundlich und bringen noch ein Couvert!
Das Mädchen kam herein, und es schien mir, als folgte ihr der Baron
mit zärtlichen Blicken.
Ein hübsches Mädchen, ein außerordentlich hübsches Mädchen! sagte er
schließlich, als sie hinaus war, aber es klang eine gewisse wehmütige Resignation
aus diesen Worten.
Ja, man wird alt! sagte er darauf und fuhr ohne Einwendung meiner-
seits fort: Ja, das müssen Sie zugeben, ich bin kein Jüngling mehr, und wenn
man älter wird, fühlt man sich oft einsam, sehr einsam. Finden Sie auch,
daß die kleine Marie ein hübsches Mädchen ist? Na, das freut mich! Ein
gutes Müdcheu ist sie, ein sehr gutes Mädchen; honette Eltern, vernünftige
Erziehung. Glauben Sie nicht, daß sie einen Mann glücklich machen könnte?
Ja, auf Ehre, das kann sie! Ich sage es Ihnen rein heraus, wie es ist: das
Mädchen gefällt mir, und ich bin, unter uns, ziemlich sicher, daß sie ein Auge
auf mich hat — versteht sich in aller Ehrbarkeit, denn sie hat Prinzipien, und
ich habe Achtung, außerordentlich große Achtung vor Prinzipien, sodaß über¬
haupt nur die Rede von einer Heirat sein könnte. Nun, das, ist natürlicherweise,
wie Sie selbst einsehen werden, eine Unmöglichkeit, eine komplette Unmöglichkeit!
Ich hatte den Eindruck, als ob der Baron das letztere mir nur in der
Hoffnung sagte, daß ich ihm widersprechen sollte, und ich kam deshalb mit
einem langgezogenen: Ja, wie mans nimmt! hervor. Aber darauf sagte er:
Nein, mein lieber Freund, es ist, wie ich sagen möchte, eine physische Unmög¬
lichkeit. Gott bewahre, wir sind alle Menschen, wie es in der Schrift heißt,
und in jenem Leben weiß man ja nicht, neben wen man zu sitzen kommt, aber
für dieses Leben sind wirkliche Grenzen gezogen, die man respektiren soll und
muß. Was würden die Leute denken und was würden sie sagen? Was
würde er Wohl sagen? Und der Baron zeigte auf eines der Familienporträts.
Ich ließ mich auf keine Beantwortung dieser etwas heikeln Frage ein,
sondern beschränkte mich darauf, die Achseln zu zucken.
Er würde sich im Grabe umwenden, das würde er, er würde mich als
Verlornen Sohn betrachten, als ein Kind der Finsternis! Nein, es ist, Gott
Straf mich, eine vollständige Unmöglichkeit — jnso, entschuldigen Sie, daß ich
fluche, wenn ich in Affekt gerate, das habe ich von meinem seligen Vater, der
bei der Garde zu Pferde stand. Aber leid thut mir die kleine Marie, es thut
mir wirklich um ihretwegen außerordentlich leid!
Die „kleine Marie" sah aber gar nicht darnach aus, als hätte sie sein
Mitleiden nötig, denn als ich den Gasthof verließ, stand sie augenscheinlich
ganz heiter draußen im Hofe und plauderte mit einem jungen Knecht, und als
ich vorüberging, nickte sie mir ganz vergnügt zu.
Es verging eine Woche, ehe ich den Baron wieder im Walde traf. Ich
war nach Wasserschnepfen draußen im Moor, und er begann seine zweite Tour.
Ich fragte nach seinem Befinden.
Ach, das ist nnn so so, lieber Freund, sagte er. Wenn man in meinem
Alter sich zu etwas entschließt, so thut man das nicht ohne gründliches Nach¬
denken. Ich kann Ihnen sagen, ich habe mich im letzten Halbjahr manche
Nacht auf meinem einsamen Lager herumgeworfen und hiu und her gedacht.
Ja, was sind Prinzipien, ich frage Sie, was sind Prinzipien! Sie wissen es
nicht, und ich weiß es ebensowenig. Ich kann mir es noch so oft sagen, daß
es eine horrible Dummheit sei, ich kann mich wie der ärgste Sünder vor Gott
fühlen, wenn ich mich an meinen Vorfahren vorüber schleiche, die von der
Wand auf mich heruieder schielen, aber es hilft alles nichts, wir haben alle
unsre Leidenschaften! Und nun — ja Sie werden mich auslachen—, nun habe
ich meine Bestimmung getroffen, aber das bleibt vorläufig unter uns: morgen
ist Sonntag, wenn ich mein Frühstück genommen habe, rufe ich die kleine
Marie zu mir herauf und teile ihr mit, was ich beschlossen habe, und daß ich
sie zu meiner Frau zu machen gedenke. Was sagen Sie dazu?
Ich wünschte ihm natürlich Glück zu seinem Entschluß und sprach die
Hoffnung aus, daß die Zukunft hell und heiter vor ihm liegen möge.
Das wird sie, lieber Freund, das wird sie! sagte er, die kleine Marie ist
ein gutes Mädchen, ein vernünftiges Mädchen, das ihr Glück zu schätzen
wissen wird.
Hiermit endigte die Unterredung, denn ich mußte Abschied nehmen, um
rasch heimzukommen.
Und auch Sie, Herr Baron, müssen eilen, wenn Sie zur rechten Zeit
kommen wollen, wenn der Zug die Chaussee kreuzt, sagte ich.
Oh, das hat noch Zeit. Ich komme nie zu spät, ich bin in meinem
ganzen Leben noch nicht zu spät gekommen. Adieu, lieber Freund, adieu!
Am nächsten Tage ging ich des Nachmittags hinaus; ich war eigentlich
mehr als neugierig, zu wissen, ob die Entscheidung gefallen sei, aber es war
keine Hoffnung, den Baron jetzt zu treffen, denn um diese Zeit hielt er ja sein
Mittagsschläfchen, und ihn zu Hause aufsuchen wollte ich natürlicherweise nicht.
Zu meinem größten Erstaunen sah ich ihn aber doch plötzlich auf der staubigen
Landstraße gewandert kommen, es war also offenbar, daß etwas vorgefallen
war! Er sah fast noch zusammengeklappter aus als der getreue Regenschirm,
den er in der Hand hielt, und ich konnte deshalb weder fragen noch gratuliren,
aber er brach selbst das Schweigen, als er mich sah, und sagte: Ja, es ist
Ihnen unmöglich, vollständig unmöglich, zu denken, was geschehen ist! Und
wem: Sie sich auf den Kopf stellten, Sie errieten es nicht! Frauenzimmer sind
Frauenzimmer, wie mein seliger Vater sagte, und darin hatte er Recht! Denken.
Sie sich, wenn Sie es können, was geschehen ist! Ich rufe also die kleine
Marie zu mir herauf, wie ich mir vorgenommen hatte, und teile ihr mit,
welchen Entschluß ich gefaßt habe. Aber was glauben Sie wohl, das sie
antwortete? Ja, es ist ganz unmöglich, sich das vorzustellen: sie antwortete,
so war ich ein Sünder vor Gott bin, daß sie schon einen Liebsten hätte und
daß ich zu spät käme! Nun bitte ich Sie, zu bedenken, daß ich ihr anbiete,
sie zu meiner Fran zu machen, und sie antwortet, daß sie nicht Null! — Im
übrigen ist es aber doch ein deutlicher Beweis, welches determinirte Frauen¬
zimmer sie ist. Wie beliebt? Aber das ist doch komplett lächerlich! Lullnist
es auch ärgerlich; ich versichere Ihnen, ich habe mich mehr über die ganze
Geschichte geärgert, als sie wert ist.
Und der alte Kavalier wischte sich eine Thräne aus dem Auge, so hatte
er sich geärgert.
Ich kaun natürlicherweise nicht im Gasthofe wohnen bleiben, fuhr er fort,
ich ziehe aus. Meine Verhältnisse haben sich auch ein gutes Teil geändert,
seitdem ich meinen Onkel, den Hofjägermeister, beerbt habe, ich ziehe nach der
Stadt. Sehen Sie, ich kalkulire so: wenn Marie sich verheiratet, ein Hochzeits¬
geschenk — onem, aber zum Gevatterstehen, da habe ich denn doch keine Lust!
Ich sah Baron Frederik zum letztenmal', als ich von Oberhof abreiste.
Während ich mich der Stelle näherte, wo der Zug die Chaussee kreuzt, bog
ich mich zum Coupeefenster hinaus. Es goß in Strömen, aber unter dem auf¬
gespannten Regenschirm stand mein alter Freund, steif und stramm — er kommt
ja nie zu spät.
Die letzten Vorgänge im böhmischen Land¬
tage wie im österreichischen Ncichsrate beschäftigen die politischen Kreise Deutschlands
in ungewöhnlich hohem Grade, und das ist sehr begreiflich. Die besonnenen Freunde
Österreichs haben sich jederzeit bei der Beurteilung der dortigen Zustände große
Zurückhaltung auferlegt, schon weil es außerordentlich schwer ist, in so verwickelte
Verhältnisse einen klaren Einblick zu gewinnen; und nachdem die Deutschliberalen,
während sie um Ruder waren, sich den Anforderungen der praktischen Politik so
wenig zugänglich gezeigt hatten, begegnete Graf Tnaffe entschiednen Wohlwollen,
obgleich die Zulassung einer Rechtsverwahrung von feiten der tschechischen Abge¬
ordneten ernste Bedenken erregen mußte. Freilich konnte man damals nur mut¬
maßen, was durch die jüngsten Bekenntnisse des Führers der Alttschechen bestätigt
worden ist, nämlich daß das Zugeständnis gar nicht nötig gewesen wäre, um jene
Partei zum Aufgeben des passiven Widerstandes zu bewegen. Heute aber kann
keinem Beobachter mehr verborgen bleiben, daß die Frucht einer zehnjährigen Ver¬
söhnungspolitik der Krieg aller gegen alle ist. Auf allen Seiten wird mit Ent¬
schiedenheit behauptet, es bestehe zunächst in Böhmen und infolge dessen im ganzen
Reiche eine große Aufregung. Jede Partei beschuldigt die Geguer, diese Aufregung
künstlich hervorgerufen und genährt zu haben, und jede Partei mag darin bis zu
einem gewissen Grade Recht haben. Der Bürger und der Bauer begiebt sich ja
nirgends aus eignem Antrieb in den Politischen Kampf, und der Arbeiter hat sich, wie
es scheint, auch in Österreich einreden lassen, er nehme einen höhern Standpunkt ein,
wenn er als internationaler Demokrat solchem Kampfe gleichgiltig zusehe. Aber
wie es auch dahin gekommen sein möge: gegenwärtig liegen die Dinge bei den
Tschechen und bei den Deutschen doch sehr verschieden. Hat der Absolutismus den
erster» die Pflege ihrer Sprache verwehrt, hat Schmerling, um sich die Slawen
nicht über den Kopf wachsen zu lassen, eine ungerechte Zusammensetzung der Ver¬
tretungskörper als Schranke aufgerichtet, so siud nachher von den Liberalen alle
unbilligen Hemmnisse beseitigt worden. Trifft diese ein Vorwurf, dann ist es der,
daß sie sich mehr von Prinzipien als von politischer Klugheit leiten ließen. Was
die Tschechen jetzt noch mit Berufung auf Gleichberechtigung fordern, das muß
ihnen eben wegen dieses Grundsatzes versagt werden. Dafür, daß sie dereinst
— vielleicht — unterdrückt gewesen sind, wollen sie nun unterdrücken, die Radi¬
kalen gestehen das mit dankenswerter Aufrichtigkeit ein, aber das ist in dieser Frage
der ganze Unterschied zwischen Radikalen und Opportunisten, Jungen und Alten.
Nun verteidigen die Deutschen ihr Recht, ihre Existenz, und welcher Deutsche könnte
ihnen in diesem Kampfe die wärmste Teilnahme versagen! Noch stehen sie nicht
auf einem Verlornen Posten, wie unsre Stammesgenossen in den russischen Ostsee¬
ländern, sie haben die Bevölkerung der Erzherzogtümer, Steiermarks, Kärntens,
Salzburgs, Tirols, zum großen Teil Mährens und Schlesiens hinter sich, und diese
wird sie nicht im Stiche lassen.
So nahe uns diese ernsten Dinge berühren — näher als wir diesmal aus¬
führen wollen sie haben noch eine andre Seite. Was sagen unsre Freisinnigen
und Demokraten dazu, daß zwei von ihnen auf den Altenteil gesetzte Mächte,
Nationalität und Religion, in Österreich sich noch so lebensfähig und mächtig zeigen?
Den neuen Hussiten, bei deren Reden wohl jeder, der einmal das Präger Museum
besucht hat, sich der Sammlung barbarischer Waffen erinnert haben wird, mit denen
die alten Hussiten die „reine Lehre" verbreiteten, den neuen Hussiten ist es aller¬
dings nicht um den Glauben zu thun, sie behaupten ja gute Katholiken zu sein.
Sie feiern den Magister Huß nicht als Reformator der Kirche, sondern als den
Feind der Deutschen oder vielmehr der „Fremden" im allgemeinen (die Deutschen
im Lande Fremdlinge zu nennen, erfrechen sie sich ganz ungescheut, wie denn ihr
Auftreten in Wort und Schrift überhaupt beweist, daß die Begehrlichkeit und Unge-
berdigkeit dieses Volksstammes feit den Tagen König Wenzels sich ganz frisch erhalten
hat, obgleich er zwischendurch um Gefügigkeit und Unterwürfigkeit das äußerste
leistete). Sie haben den Magister Huß, den bekanntlich die Jesuiten durch Unter¬
schiebung eines halb mythischen Johann von Nepomuk vollständig aus dem Ge¬
dächtnis des Volkes verdrängt hatten, wieder zum Nationalheiligen gemacht und
eben damit Anhang unter der großen Masse der Ungebildeten gewonnen, denen die
Landgüter und Fabriken der „Fremdlinge" sehr verlockend in die Augen stechen
»logen. Sie haben alle Ursache, dein Fürsten Schwarzenberg dankbar zu sein, daß
er durch seiue junkerhafte - - dies viel gemißbraucht^ Wort ist hier am Platz wie
kein zweites — Herausforderung ihnen ein neues populäres Schlagwort verschaffte.
Ist dieser Fürst Schwarzenberg derselbe, der die deutschen Abgeordneten bewog,
den böhmischen Landtag zu verlassen, so kann ihm ein Platz in der Geschichte
Österreichs nicht verweigert werden, mag er in Zukunft auch kein Wort mehr
reden! Er hat unverkennbar ein eignes Geschick, Klarheit in eine Situation zu
bringen. Nur die Alttschechen sind jetzt übel dran, sie sollen den Ketzer und Re¬
volutionär verabscheuen und verlieren damit vollends den Boden unter den Füßen.
In den südslawischen Gegenden sind die Führer in der glücklichern Lage,
Religion und Nationalität auf ihre Fahne zu schreiben, der deutsche Klerus aber
scheint sich zum größten. Teile des Vnterlandsgefühles und des Stammesbewußt¬
seins so sehr entledigt zu haben, daß er um Roms willen mit den geschwornen
Feinden des Deutschtums Bündnisse eingeht.
Und der deutsche Liberalismus? Nach seiner jetzigen Haltung in der böh¬
mischen Frage darf mau vielleicht hoffen, er werde endlich zu der Einsicht gekommen
sein, daß im Kriege alle untergeordneten Trennungsgründe zurücktreten müssen
vor der Frage: „Wo steht der Feind?" auf die mit Blücher entschlossen zu
antworten ist: „Den schlagen wir!" Gläubig oder ungläubig, Judenfeind oder
Judengegner, Freihändler oder Schutzzöllner, Doktrinär oder Realpolitiker — was
will das alles sagen in einem Augenblick, wo jeder Deutsche Soldat sein muß, um
für sich und seine Nachkommen das Recht, deutsch zu bleibe», zu erstreiten!
Wenn Personen, die etwas Ernsthaftes zu
thun haben, sich nicht um die Marktware kümmern, von der die. große Mehrzahl
unsrer ach nur zu zahlreichen stehende» Bühnen lebt, so wird das jedermann er¬
klärlich finden. Wie sehr es aber zu wünschen ist, daß wenigstens von Zeit zu
Zeit in das Treiben der Herren Dramatiker und Dramaturgen hineingeleuchtet werde,
das ersehen wir aus einer äußerst wohlwollend gehaltenen Kritik über ein Lustspiel
von Paul Lindau. Gleich der Titelndes Stückes berührt aufs angenehmste. „Die
beiden Leonoren" — dabei dachte der Deutsche bisher an die Frauengestalten
im Tasso; zwei beliebige' Frauenzimmer, die in einundderselben Mann verliebt
sind, Leonore zu laufen und darnach eine 5tomödie zu benennen, dus ist ein „Witz"
von der Gattung, die in Künstlerkueipeu gedeiht. Auch erinnern wir uns, daß
ein Kollege des Herrn Lindau sich einmal herausgenommen hat, „Faust und
Grete" auf die Bühne zu bringen. Damals handelte es sich freilich um eine
alberne Posse, die auch für nichts andres gelten wollte; Herr Lindau (oder viel¬
leicht Landau?) pflegt aber das „höhere Lustspiel," und er soll sehr „geistreich"
sein, und er fühlte sich wohl verpflichtet, dies gleich bei der Wahl des Aushänge¬
schildes zu beweisen. Nun weiter. Bei der Bewerbung um den natürlich unwider¬
stehlichen Mann siegt die jüngere Leonore, eben weil sie die jüngere ist. Das
Thema ist schon ziemlich oft auf den Brettern in gleichem Sinn abgehnudelt wordeu,
sehr hübsch z. B. in >^n. ImKuUo 6« Z-uno« von Seribe. Da kämpft eine junge
Witwe gegen ihre Nichte und muß sich besiegt geben, obgleich sie ebenso schön ist
und dabei mit allen Vorzügen des Geistes, des Charakters und der Erfahrung aus¬
gestattet. So philisterhaft kann ein „moderner Dichter" die Sache uicht anpacken.
Da lebt natürlich der Man», und es werden soeben die Einleitungen getroffen, ihn
zu betrügen, als die Nebenbuhlerin in der Person — der eignen Tochter auf dem
Plan erscheint. Man wird zugestehen, dus; dieses Verhältnis viel pikanter ist. Der
Liebhaber will der Mama, die ihm für den Abend ein Stelldichein zugesagt hat,
Rosen bringen, findet die Tochter, verliebt sich stehenden Fußes in sie (nur umge¬
kehrt, wie sich gebührt), und — nun wollen wir dem wohlwollenden Kritiker das
Wort lassen.
„Lorchen fordert ihren Gesprächspartner ans, er möge die mitgebrachten Rosen
ihrer Mutter überreiche», worauf er erwidert: Bitte, bringen Sie die Blume» Ihrer
Frau Mama. Ich bitte Sie darum. Mir ist, als ob durch Ihre Berührung alles
Unschöne n»d Unreine von diesen, Rosen abgestreift würde, als würden sie durch
Ihre keuschen Hände geadelt und geweiht. Lorchen: Das verstehe ich wieder einmal
nicht, die Blumen sind ja herrlich. Hermann, der ihr nun die Blumen reicht,
während sie dieselben in die Hand nimmt, ausdrucksvoll j!j: Jetzt ja!" Der Kri¬
tiker wünscht das Wort keusch hinweg, wir können jedoch diesem, Zeusurstriche wenig
Bedeutung beimesse», eine greuliche Unverschämtheit bleibt die ganze Rede, die ge¬
halten zu werde», scheint, damit das junge Mädchen sich Gedanken über die Be¬
ziehungen der eignen Mutter zu dem Blumeuspeuder mache. Alle!» es kommt
noch besser. Nach dem erste» Kusse des von der Mutter zur Tochter übergegan¬
genen Liebhabers ruft Lorcheu: „Ganz so hab ich mirs gedacht! Ganz so!" Da
sieht man förmlich das Pensionat vor sich, wo die Backfische heimlich Romane
gelesen und sich eigne Romane vorgetränmt n»d die Verhältiusse ihrer junge»
Lehrerinnen, ausspivuirt haben, u. s. w., das Pensionat, ans dem, die „naiven"
hervorgehen, und das weiter nichts ist als die ungeschickte Übersetzung des fran¬
zösischen Klosters. Wie verblaßt Kotzebues Jndianermädchen, das jeden, Mann
heiraten will, neben dieser „höhern Tochter," die dein Geliebte» sagt, ga»z so habe
sie sich den Kuß der Liebe gedacht! Die liebe Unschuld! Kein Zweifel, daß Herr
Lindau glaubt, die beiden Szenen seien poetisch und zart u«d wahr, so empfänden
und so spräche» junge reine Menschen. Aber daß andre es ihm glaube», daß die
Deutschen hundert Jahre nach Faust und den Geschwistern, achtzig nach Käthchen
von Heilbronn, sich solches Zeug biete» lassen, daß es ein „beliebtes Repertoire¬
stück" werden kaun, dnrüber vermag »»s kaum die Thatsache zu beruhigen, daß
auch Kotzebue überstanden ist, der denn doch mehr war als Lindau u. Komp.
Unter der massenhaften Litteratur, die zu der achthnndertjährigeit Jubel-
feier des Fürstenhauses Wettin veröffentlicht worden ist, finden sich zwei für das
Erzgebirge wichtige Unternehmungen, die beide im wesentlichen dasselbe Ziel ver¬
folgen, und von denen doch keine die andre überflüssig erscheinen läßt. Der Erz-
gebirgS-Zweigverein in Chemnitz beginnt die Herausgabe vou Jahrbüchern, die in
einzelnen wissenschaftlichen Aufsähen die geschichtlichen, geographischen, naturwissen¬
schaftlichen Verhältnisse des Gebirges behandeln und sich allmählich zu einer um¬
fassenden Heimatskunde des Erzgebirges gestalte» sollen; das als Festgabe vorgelegte
Heft enthält Abhandlungen von Svphns Rüge, Heinrich Gebauer, H. Hoppe n. a.
über die Namen des Erzgebirges, seine Entstehung, über Klima, Bergbau. und
Spielwarenindustrie. Es ist zu wünsche», daß sich dieses Unternehme» lebensfähiger
erweisen möchte, als manche seiner Vorläufer.
Eine Heimatskunde des Erzgebirges Null anch das Süßmilsche Buch sein;
während jedoch die Jahrbücher erst im Laufe der Zeit zu einer annähernd voll¬
ständigen, dann allerdings anch auf sorgfältige Einzeluntersuchungen sich gründenden
Darlegung sämtlicher Verhältnisse des Gebirges gelangen werden, finden wir hier
eine dem gegenwärtigen Stande, der Kenntnisse entsprechende, alle Seiten berührende
Beschreibung, die uus nach keiner Richtung die gesuchte Auskunft versagt.
Der Verfasser, der seit früher Kindheit mit denk Erzgebirge vertraut ist, den
es droh genauer Bekanntschaft mit andern deutschen Mittelgebirgen und mit den
Alpen immer und immer wieder ins Erzgebirge gezogen hat, gilt längst sür einen
der besten, nur können Wohl sagen, für den besten Kenner desselben. Nachdem er
bereits seit einer langen Reihe von Jahren einzelne Ergebnisse seiner Wanderungen
und Forschungen in kleinern Schriften sonne in der Leipziger und Chemnitzer Tages¬
preise mitgeteilt hat, giebt er in dem vorliegenden umfangreichen Werke eine Zu-
sammenfassung alles dessen, Unis er bei seinen mehr als sechzigjährigen Beziehungen
zum Erzgebirge teils durch eigne Anschauung, teils dnrch fleißige Bemühung der
vorhandnen Litteratur") darüber in Erfahrung gebracht hat, und wie er für sich
selbst bei seinen > häufigen Besuchen des Gebirges immer neue Ergnictung gefunden
hat, so will auch seine von warmer Heimntliebe durchwehte Darstellung dem Leser
einen Genuß bereiten und dem Erzgebirge neue Freunde gewinnen.
Der allgemeine Teil bespricht zunächst die Begrenzung des Gebirges, die
nach Norden zu wegen der ganz allmählichen Aboachnng von jeher besondre
Schwierigkeiten verursacht hat. Süßmilch geht davon ans, daß der genau
bestimmbare Südfuß in 300 Metern Meereshöhe liegt, und verlegt nnn den Nordfnß
in gleiche Höhe. Ist diese Begrenzung auch eine willkürliche, wie mehr oder
weniger die aller frühern Schriftsteller über das Erzgebirge, so ermöglicht sie doch
eine übersichtliche Teilung des Nvrdabhanges in Höhenschichten von 100 zu 100
Metern bis zu der 700 Meter hohen Erhebung, dem eigentlichen Kamme des Gebirges.
Der hiermit verbundnen Besprechung der Oberflächengestalt und Bewässerung im
allgemeinen folgt eine Darlegung der geognostischen und geologischen Verhältnisse;
nur mit Rücksicht auf diese hat Süßmilch wohl die etwas seltsame Unterscheidung
zwischen Vorzeit und Vergangenheit ans dem Titel des Buches vorgenommen. Dem
Klima, der Besiedelung des Gebirges, der Anlage und Bauart der Dörfer und
Städte, dem Einzelhaus und Bauerngut, den Verkehrswegen, den Bewohnern, ihrer
Nahrung, ihrer Tracht, ihren Sitten und Gebräuchen, Liebhabereien und Ver¬
gnügungen, der Sprache, Litteratur, den Karten sind besondre Abschnitte gewidmet.
Seinem Werke eine eigne Karte beizufügen, hat der um das Kartenwesen Sachsens
selbst verdiente Verfasser mit Recht unterlassen, er verweist vielmehr in der Haupt¬
sache auf die königlich sächsische Generalstabskarte und die Spezialkarte k. k. öster¬
reichisch-ungarischen Monarchie.
Der Schwerpunkt des Werkes liegt in der ausführlichen Schilderung der ein¬
zelnen Teile des Gebirges von dem Thale der Gottleube im Nordosten bis zu
dem der Zwota im Südwesten; auf diese näher einzugehen ist hier nicht der Ort.
Ist es auch kein eigentliches Touristenhandbnch, so wird doch künftig auch kein
Tourist, der dein Gebirge ein tieferes Interesse entgegenbringt, Süßmilchs Buch
entbehren können. Es giebt kaum eine Ortschaft, einen Bach, eine Anhöhe im
Gebirge, über die er hier nicht anziehende Mitteilungen fände. Es empfiehlt sich
schon vor Entwerfen des Reiseplanes wie vor dem Antritt einzelner Wanderungen
das Buch zu Rate zu ziehen, wird hier doch auf das wirklich Interessante und
das Sehenswerte nachdrücklich hingewiesen; aber auch für das minder Wichtige
genügt die von Süßmilch gebotene Belehrung. Diese aber erstreckt sich außer auf
die Beschreibung der Landschaft und geographische Merkwürdigkeiten auch auf die
Geschichte des Gebirges, einzelner Orte und Verkehrswege, deren Bedeutung in
Kriegszeiten, auf Altertümer und .Kunstschätze, auf Statistik und die zahlreichen
Zweige der hier gepflegten Industrie, sowie auf die meist unterschätzte Landwirt¬
schaft im Gebirge. Zu bedauern ist es, daß die Benutzung des so inhaltreichen
Werkes nicht durch ein ausführliches Register erleichtert wird.
In einem frühern Jahrgange der Grenzboten haben wir eine kurze Be¬
sprechung der neuern Litteratur des Erzgebirges gebracht. Das Werk von Sü߬
milch-Hörnig nimmt einen ehrenvollen Platz darin ein, es ist das beste und um¬
fangreichste Handbuch über das Erzgebirge, das wir besitzen, und läßt an Viel¬
seitigkeit, gründlicher und geschickter Behandlung des Stoffes alle Arbeiten seiner
Vorgänger hinter sich.
Die „drei Freunde der Wahrheit" sind populäre Schriftsteller, die ungefähr
in der Weise Jnnsens die Vorwürfe zu entkräften bemüht sind, die im Laufe der
Zeit, zuerst von den Magdeburger Ceuturiatoren, dann, von neuern Gegnern gegen
die katholische Kirche erhoben worden sind. Aber sie gehen auch vou der Ver¬
teidigung zum Angriff über und versuchen, Thatsachen und Personen der vrote-
ständischen Kirche nach Möglichkeit in ihrem Werte und ihrer Bedeutung herunter¬
zusetzen. In beiden Richtungen hätten sie wohlgethan, sich der guten alten Regel
cMÄ luinis zu erinnern; denn häufig verfallen sie gleich denen, die sie be¬
kämpfen, in den Fehler, entweder zu viel zu leugnen oder zu viel zu behaupten
und so an die Stelle einer Unwahrheit, Schiefheit oder Uebertreibung nur eine
andre zu setzen. Gewiß ist von protestantischer Seite in der Darstellung von
Ereignissen, Zuständen und Persönlichkeiten der alten Kirche mancherlei gefehlt worden,
und gerne nehmen wir den Nachweis dessen an, wenn er mit guten Gründen und
maßvoll und unbefangen geführt wird. Ebenso bereitwillig lassen wir uns be¬
lehren, daß der Protestantismus in einigen Beziehungen das Kind mit dem Bade
ausgeschüttet hat, und daß seinen Koryphäen in manchen Stücken zu hohe Tugenden
und Leistungen zugeschrieben worden sind; Verdruß aber und Widerwille erfüllen
uns, wenn der angebliche geschichtliche Sinn, der uns darüber aufklären will, dann
seinerseits in Befangenheit und Parteilichkeit übergeht und an historischen Größen
ersten Ranges so gut wie nichts Gutes und Schönes lassen möchte. Das tritt aber
hier an mehr als eine Stelle hervor, obwohl die Verfasser sich im allgemeinen
einer gemäßigten Sprache befleißigen. Die Kenntnisse, auf deren Grundlage sie
schreiben, sind bis zu einer gewissen Grenze anerkennenswert, nur hätten sie sich
nicht ans das eigentlich wissenschaftliche Gebiet wagen sollen, denn hier hat die
kirchliche Autorität, der sie sich zur Folgsamkeit verpflichtet fühlen, nur sowie ein
Recht zu beanspruchen, als es mit den Ergebnissen der Wissenschaft zusammentrifft
und von diesen gedeckt wird. So hätte gleich der erste Abschnitt über das christ¬
liche Altertum, über die geschichtlichen Teile des Neuen Testaments, über die prote¬
stantischen Kirchenhistoriker des vorigen Jahrhunderts, über die Tübinger Schule
und ihre Ausläufer einfach wegbleiben sollen. Wer einen so schwachen und un¬
glücklichen Aufsatz wie den über den Primat und die Anwesenheit des Apostels
Petrus in Rom, mit dem dieser Abschnitt schließt, anfertigen und dann damit etwas
geleistet zu haben glauben kann, sollte sich nicht herausnehmen, sich neben Männer
wie Baur, Zeller, Schwegler und Lipsius zu stellen und sie meistern zu wollen.
Mehr Wert kann die zweite Abteilung beanspruchen, die vorzüglich die Vorwürfe
zu widerlegen bestimmt ist, die gegen das Papsttum und die von ihm regirte Kirche
im Mittelnlter erhoben worden sind. Die Verfasser versuchen hier, und zwar zum
Teil mit Glück, den Beweis zu sichren, daß das Papsttum nicht auf Betrug und
Fälschung begründet ist, und das es keine schrankenlose Gewalt besitzt. Es werden
dann Rom und die Päpste im zehnten Jahrhunderte charakterisirt und die freilich
schon längst von keinen Geschichtskenner mehr geglaubte Fabel von der Päpstin
Johanna in ihrer Nichtigkeit darstellt. Die weitern Kapitel beschäftigen sich mit
dem Papsttum und den Kaisern in der spätern Geschichte und bemühen sich, irrige
Meinungen und schiefe Auffassungen der Kämpfe zwischen Gregor VII. und Hein¬
rich IV. und zwischen Friedrich Barbarossa und Hadrian IV. sowie Alexander III.
zu zerstreuen. Eins betrachtet das „finstere" Mittelalter und findet es in der Art
der romantischen Schule eigentlich recht hell und freundlich. Eins rechtfertigt den
Cölibot und die Klöster, zwei waschen die katholische Kirche von der Beschuldigung
rein, dem Aberglauben Vorschub geleistet und die Hexen in die Welt gesetzt und
verfolgt zu haben. Dann macht sich das Buch an die Rettung der kirchlichem In¬
quisition aus der von Gegnern der Kirche über sie verhängten Verurteilung, wobei
namentlich über die Albigenser und über das eigentliche Wesen der spanischen In¬
quisition dankenswertes Licht verbreitet wird und der grimme Inquisitor ^ Peter
Arbues sich unter den Händen seiner Reiniger in einen milden, liebenswürdigen
Heiligen verwandelt und verklärt. Was das 25. Kapitel in diesem Zusammen¬
hange soll, ist uns nicht klar geworden. Es strengt sich an, die Mythe von der
Doppelehe des Grafen von Gleichen als grundlos darzustellen, was uns unnütze
Arbeit scheint.
Der dritte Abschnitt geht zum Reformationsalter über, wobei das Wort
Reformation mit Anführungszeichen versehen ist, als ob die Verfasser nicht wüßten
oder nicht anerkennen wollten, daß infolge des Auftretens Luthers auch die katholische
Kirche reformirt worden ist und ganz ebenso einen andern Charakter angenommen
hat, wie fast alle Staaten nach der Revolution, die das a-noiizn r«ZFiino in Frank¬
reich zertrümmerte. Hier sind namentlich einige Kapitel über Luther von Interesse,
in denen gewisse Legenden zerstreut werden, die, ans Mißverstand, Unkenntnis und
Uebertreibung hervorgegangen, auch in unsern Kreisen geglaubt werden.
Von dem letzten Abschnitt, der die neuere Zeit ins Auge faßt, geben wir
nur deu Inhalt einiger Kapitel kurz an, indem wir vorausschicken, daß die Th?men
hier ganz besonders kraus neben einander gepackt sind. So folgt ans eine Beleuchtung
der Bartholomäusnacht eine Besprechung Galileis, ans diese allerlei Richtiges und
Unbegründetes über Gustav Adolf in Deutschland und Tilly in Magdeburg, baun
wunderlicherweise ein Artikel in drei Nummern über die „Geschichtslügen" in
Schillers Dramen Don Carlos, Maria Stuarr und die Jungfrau von Orleans. Ganz
besonders angelegentlich beschäftigt sich unser Werk, sodann mit den Jesuiten und
ihren Gegnern in Deutschland, mit ihrem ^lonitn Le-ersta, Peter Gnrys Moral¬
theologie, ihrem „unbedingten Gehorsam" u. tgi., um darauf plötzlich zu einer
Betrachtung des geweihten Degens überzugehen, den der heilige Vater dem General
Daun zugesandt haben soll. Das Ganze schließt mit dem Versuche, die Behauptung
zu entkräften, Revolutionen kämen häufiger in katholischen als in protestantischen
Ländern vor, und mit einem Blick auf den Arbeiteraufstand, der 1386 in Belgien
stattfand.
Das Buch leidet an starken Mängeln und Gebrechen, die sich vorzüglich auf
Befangenheit und parteiische Anschauung und Behandlung der Dinge und Men¬
schen zurückführen lassen. Demungeachtet können wir manches daraus lernen, u. a.
wie man nicht polemifiren soll, und was ultramontane geistliche Herren (das sind
offenbar die „drei Freunde der Wahrheit", unter historischer Wissenschaft zu be¬
greifen Pflegen. Wie gut sie es aber verstehen, es dem Publikum mundgerecht zu
machen, beweist die neunte Auflage ihrer Arbeit.
Der vorliegende Band gehört zu den rühmenswerten Zeugnissen deutscher
Gründlichkeit und ist zugleich ein Beweis, daß diese Eigenschaft wohl zusammen¬
geht mit der Gabe schöner Darstellung. Der Verfasser will sich auf die Prin¬
zipien der Ethik beschränken, aber er ist weit davon entfernt, darunter eine Be¬
schränkung auf abstrakte Sätze zu verstehen. Besonders interessant ist, daß er die
Ethik überall zur Religion in Beziehung bringt und die so vielfach behandelte
tiefste Frage nicht umgeht.
Der Nahmen des Buchs wird einigermaßen deutlich, wenn wir wenigstens
die Kapitel aufzählen! 1) Die Ethik des kategorischen Imperativs (Kant). 2) Die
schöne Sittlichkeit (Schiller). 3) Die Ethik der schöpferischen Genialität (Fichte).
4) Der spekulative Idealismus (Krause und Hegel). 5) spekulative Rekonstruktion
der Kirchenlehre (Bänder, Schelling und Hegel). 6) Ausgleich zwischen Idealis¬
mus und Naturalismus (Schleiermacher). 7) Ethik des ästhetischen Formalismus
(Herbart). 8) Pessimismus (Schopenhauer). 9) Der Eudiimonismus (Beneke und
Feuerbach). 10) Frankreich. Der Spiritualismus (Cousin, Jouffroy, Proudhon).
11) Der Positivismus (Comte). 12) Das ethisch-religiöse Problem in Frankreich.
13) England. Allgemeine Charakteristik. 14) Die intuitive Schule (Stewart,
Whewell und Mackintofh). Is) Der Militarismus (Bentham und Se. Mill).
16) Das ethisch-religiöse Problem in England (Coleridge, Maurice und Mill).
Der Verfasser ist nicht der Mann, die geschichtlich hervortretenden ethisch¬
religiösen Formen bloß zu zeigen und objektiv darzustellen. Er nimmt selbst Partei
und belebt sein Buch dadurch außerordentlich. Nicht umsonst rühmt er, daß seine
Behörde ihm die Möglichkeit geboten habe, in England selbst (und in Frankreich)
seine Studien fortzusetzen. Die Fremde hat es ihm angethan. In seinen dankens¬
werten reichlichen Mitteilungen besonders aus Stuart Mill zeigt es sich, daß er
den Grundgedanken des radikal gesinnten großen Mill zustimmt. Daher that es
uns einigermaßen leid, daß er von vornherein ans die Darstellung der Ethik Rotzes
verzichtet hatte. Wir finden gerade bei Lotze eine befriedigendere Würdigung des
Religiösen für die Ethik und das ethische Leben.
In dem vierten Aufsatz über Buckle und Darwin im vorigen Hefte sind, wiederum infolge
Ausbleibens der Korrektur, einige Druckfehler stehen geblieben. Seite 360, Zeile 9 ist zu lesen
voraussagt statt voraussetzt, Seite 56l, Zeile 25, das Geheimnis des Daseins statt das
Geheimnis. Ein Druckfehler, der den aufmerksamen Leser sehr befremdet haben wird, steht
Seite 558, Zeile 3 von unten. Dort ist gedruckt: lind doch nimmt jedermann die Un-
dulationstheorie öder ungeschickte Ausdruck steht so in der Übersetzung von
Carusj an. Es muß aber heißen: die Undulationstheorie des Lichtes. Nur auf
den Genetiv des Lichtes und seine logisch fehlerhafte Verbindung mit Undnlations-
theorie bezog sich jn die in den Klammern stehende Bemerkung.
Die Redaktion kann ja stolz darauf sein/ daß es ihr much ohne Hilfe,,des Verfassers
gelingt, eiuen Aufsatz wie deu über Buckle und Darwin so sauber in die Öffentlichkeit zu
bringen, daß nur drei Fehler darin stehen. Erfreulicher wäre es aber doch für alle Beteiligten,
für den Verfasser, die Leser und vor allem für die Redaktion, die auf die Herstellung der Hefte
die denkbar größte Sorgfalt verwendet, wenn Druckfehlerberichtigungen überflüssig gemacht
würden. Das wird nur dadurch möglich, daß die Korrekturen stets umgehend zurückgesandt
werden. Wir wollen am Jahresschlusse alle unsre Mitarbeiter nochmals herzlichst darum ge¬
beten haben!
Zur Beachtung
Mit dem nächsten Beste beginnt diese Zeitschrift das z. Vierteljahr ihres 4g. Iahv-
gangcs. Sie ist durch alle Buchhandlungen und vostanstalten des In- und Auslandes zu
beziehen, preis für das Vierteljahr g Mark. Wir bitten um schleunige Erneuerung
des Abonnements. ^ Verlagshandlung Leipzig, im Dezember MS
Wir haben die Freude, daß die Verbreitung der Grenzboten stetig zu¬
nimmt. Inmitten der Hochflut illustrirter Wochen- und Monatsschriften, die
sich in allen erdenklichen Lockmitteln moderner Zeitungsausstattung zu über¬
bieten, auf jede Weise den Neigungen, Wünschen und Launen der großen
Menge entgegenzukommen suchen, bricht sich unser ernstes, schlichtes und be¬
scheidnes Blatt, dem es immer nur um die Sache zu thun ist, und das nie
um die „Gunst" der Leser gebuhlt hat, von Jahr zu Jahr mehr Bahn.
Aber immer noch giebt es in den Kreisen, an die sich unser Blatt wendet
und in denen es seine Freunde hat und sucht, viel mehr Leute, die kaum von
seinem Borhandensein wissen, als solche, die es kennen und schätzen. Fast
täglich müssen wir die Erfahrung machen, daß die Grenzboten plötzlich von
irgend jemand „entdeckt" werden, daß jemand mit Überraschung wahrnimmt,
daß es ein solches Blatt, wie er es immer vermißt hat, wirklich giebt.
Diesem Zustande abzuhelfen giebt es bei der erdrückenden Überproduktion
auf dem Gebiete der Zeitschriften nur ein Mittel: daß die Leser und Freunde
des Blattes selbst, soviel sie nnr können, für seine Verbreitung wirken. Wir
erlauben uns, ihnen dazu folgenden Vorschlag zu machen.
Es wird wohl kaum ein Heft der Grenzboten ausgegeben, nach dessen
Durchsicht sich nicht der oder jener Leser sagte: Diesen Aufsatz hier sollte
Freund X auch lesen! Diese Meinung hier sollte auch an der und der Stelle
gehört werden! In allen solchen Fällen nun, wo es dem Leser erwünscht
scheint, daß eine Stimme aus den Grenzboten, die ja oft ganz allein steht und
sich anderswo kaum zu äußern wagt, auch anderwärts vernommen werde, bitten
wir den Leser, einfach eine Postkarte zu nehmen und uns zu schreiben: Schicken
Sie Ur. . ., die den und den Aufsatz enthält, an Herrn N. N. (oder an die
und die Zeitung)! Wir werden dann gern das betreffende Heft — auch wenn
sichs um ältere, weiter zurückliegende Nummern handelt — soweit der Vorrat
reicht, als Probeheft an die genannte Adresse senden. Ebenso sind wir gern
bereit, einzelne Hefte abzugeben, wenn Leser solche von sich aus in Kreisen,
wo die Grenzboten noch unbekannt sind, zur Einführung des Blattes benutzen
wollen.
Wir hoffen und bitten, daß von diesem unserm Vorschlage und Aner¬
bieten recht reichlich Gebrauch gemacht werde!