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]]>Die
Zeitschrift
für
Politik, Litteratur und Kunst.
^7. Jahrgang.
Drittes Vierteljahr.
Leipzig.
Verlag von Fr. Wilh. Grunow.
1338.
in November d. I. wird in London ein internationaler Arbeiter¬
kongreß stattfinden, der von den englischen Gewerkvereinen angeregt
worden ist und eine für alle Kulturstaaten geltende Gesetzgebung
zum Schutze der arbeitenden Klassen beraten soll, und über den
wir schon jetzt sprechen, weil die Nachricht in mehreren Punkten
Mißverständnissen ausgesetzt sein kann und in der That bereits mißverstanden
worden ist. Man hat dabei an die Internationale gedacht, die kurz vor dem
deutsch-französischen Kriege und in den nächstfolgenden Jahren viel von sich
reden machte, auch eine Anzahl von Kongressen abhielt und selbst die Regie¬
rungen bewog, zu Beratungen gegen ihre Bestrebungen zusammenzutreten, und
man hat sich, was dem freilich widersprach, gewundert, daß die deutschen Ar¬
beiter, die sich zur Teilnahme an der bevorstehenden Zusammenkunft meldeten,
von den Einberufern derselben die Antwort erhielten, man könne sie nur zu¬
lassen, wenn sie sich als Vertreter von Fach- und Gewerkvereinen auszuweisen
vermöchten. Mit der Internationale und ihren Kongressen hat die Angelegen¬
heit schon deshalb nichts gemein, weil diese Seifenblase der deutschen Kommu¬
nisten in London längst zersprungen ist. Sie geht vielmehr von den englischen
I'raÄs-IIiüoiiL aus. Diese IraÄö-IInions entstanden, nachdem den englischen Ar¬
beitern 1824 die Befugnis zu teil geworden war, in Vereine zusammenzutreten
und über ihre Arbeitskraft wie der Fabrikant über die von ihm damit erzeugte
Ware zu verfügen. Heutzutage kann das Heer von Arbeitern, das den Fahnen
dieser Vereine folgt, an Zahl sich denen der größten Staaten Europas an die
Seite stellen. Anfangs war der Hauptzweck derselben die Erklärung und Unter¬
stützung von Arbeitseinstellungen zur Erzwingung höherer Löhne und zur Ver-
kürzung der Arbeitszeit, und es wurde vielfach Zwang nicht bloß gegen die
Arbeitgeber, sondern auch gegen die Arbeiter selbst angewendet, wenn letztere sich
dem betreffenden Vereine nicht anschließen oder seinem Willen nicht gehorchen
wollten. Es kam dabei sogar zu schweren Verbrechen, wie denn z. B. in Sheffield,
der Stadt der Messerschmiede, solche Widerspenstige meuchlerisch mit Windbüchse»
erschossen wurden und andern das Haus in die Luft gesprengt ward. Die frühern
^mas-IInions waren nicht viel mehr als Kassenvereine bestimmter Gewerke für
die Zeit, wo durch Feiern den Fabrikanten Zugeständnisse abgenötigt werden
sollten. Nachdem die Mitglieder ein oft ziemlich hohes Eintrittsgeld entrichtet
hatten, zahlten sie jede Woche einen Beitrag, der für alle gleich war und von
1 Penny bis zu 2 Schilling stieg. So entstand ein Reservefonds, der sich in
günstigen Jahren rasch vermehrte und der gestattete, die Mitglieder des Vereins
zu unterhalten, wenn es an Arbeit mangelte oder die Genossenschaft dem Unter¬
nehmer ihre Arbeit versagte. Dem für alle gleichen Beitrage entsprach dann
die für alle gleich bemessene Unterstützung. Die Verwaltung des Vereins wurde
durch einen Aufsichtsrat und einen Exekutivausschuß besorgt, welche jedes Jahr
durch geheime Abstimmung aller Mitglieder gewählt wurden. Der letztere be¬
stand aus einem Vorsitzenden, einem Kassirer und einem Schriftführer und hatte
die Beziehungen zu den Arbeitgebern zu pflegen, den Beginn und das Aufhören
von Streiks festzusetzen, die Höhe und Verteilung der Entschädigungen zu be¬
stimmen und über die Zulassung und Ausstoßung von Mitgliedern zu entscheiden.
Die großen Finanzfragen, z. B. die Ausschreibung eines außerordentlichen Bei¬
trages, der von allen Mitgliedern zu leisten sein sollte, wenn nur ein Teil der¬
selben feierte und die regelmäßigen Hilfsmittel des Vereins zu deren Unterhal¬
tung nicht genügten, war einer Versammlung der Gesamtheit vorbehalten. Die
Organisation der größten Gewerksverbände, z. B. der vereinigten Maschinenbauer,
der vereinigten Tischler und Zimmerleute, der beiden Genossenschaften der Maurer,
der Eisenarbeiter von Staffordshire und Nordengland, der Metallformer und
der Weber von Lancashire und der Bergleute war mehr gegliedert, indem sie
in viele Zweige zerfielen. Jeder Zweig bestand aus Arbeitern desselben Be¬
zirks, wählte seinen besondern Ausschuß und hatte seine besondre Kasse, die er
selbst verwaltete, über die er aber dem Generalrat jährlich einmal Rechnung ab¬
legen mußte. Letzterer wurde aus Abgeordneten zusammengesetzt, die von den
verschiednen Zweigen oder Logen nach der Zahl von deren Mitgliedern gewählt
wurden, und hatte zwei Beamte, einen Schriftführer und einen Schatzmeister,
die von diesen Abgeordneten unmittelbar zu ernennen waren. Die Logen be¬
schlossen an erster Stelle über Aufnahme von Bewerbern um die Mitgliedschaft,
über Ausschließung vom Vereine, über örtliche Arbeitseinstellungen und örtliche
Unterstützungen; aber man konnte dagegen an jene Zentralbehörde Berufung
einlegen, und der Zweigverein, der die Arbeit niederlegte, bevor er die Billigung
des Generalrates eingeholt hatte, wurde durch den Gesamtverein nicht unter-
stützt. Endlich gehörte die Berufung einer Loge gegen die Entscheidung des
Gencralrates vor die Generalversammlung der Genossenschaft.
Später änderte sich hierin mancherlei, indem z. B. nur noch eine kleine
Anzahl von ^rg.et«z-llnicm8, die man nun als ^ac-Looistiss bezeichnete, die
Verwendung ihrer Gelder ausschließlich auf die Unterstützung der Streiks be¬
schränkte. Die übrigen gewähren außerdem ihren Mitgliedern noch gewisse
Vorteile, die den Gesellschaften zu gegenseitiger Aushilfe entlehnt sind; z. B. eine
wöchentliche Unterstützung bei Unfällen oder Krankheiten, Pensionen für Arbeits¬
unfähige und Altersschwäche und Versicherung gegen den Verlust von Werkzeug.
Eine der interessantesten unter diesen Arbeitergenossenschaften ist die der Ma¬
schinenbauer von Manchester. Sie wurde 1826 als bloßer örtlicher Verein
gegründet, aber 1834 durch Anschluß von andern Gesellschaften erweitert; 1851
traten ihr wieder andre bei, und allmählich verbreitete sich diese Verbindung
über den größten Teil Englands. Zugleich nahm man eine Umänderung der
Statuten vor. Die den Teilnehmern gebotenen Vorteile bestehen in Unter¬
stützungen bei Arbeitsmangel, bei Krankheiten, bei unverschuldeten Unfällen,
welche deu davon betroffenen zur Arbeit unfähig machen, in Beiträgen zu
Reisen und in Sterbegeldern. Die Zweiggesellschaftcn, von denen keine mehr
als 300 Mitglieder zählen soll, erfreuen sich bei der Leitung ihrer Angelegen¬
heiten der größten Selbständigkeit, nur steht ihnen das Recht der Gesetzgebung
nicht zu. Diese wurde vielmehr bis 1864 von einer alljährlich zusammentretender
Abgeordnetenversammlung geübt, deren Beschlüsse für alle Mitglieder des Vereins
bindend waren. Hatte sich diese aufgelöst, so stand die Exekutive einem von
ihr gewählten „leitenden Zweige" zu, welchem die übrigen Zweigvereine im
Jahre zweimal genaue Nechnungsausweise einzusenden hatten, die sodann zu¬
sammengestellt und veröffentlicht wurden. Wie sämtliche Zweigvereine hinsichtlich
der Gesetzgebung einen einzigen Körper darstellen, so auch hinsichtlich des Ver¬
mögens und der Besteuerung. Der Ausschuß des leitenden Zweiges berechnet
nach deu vorhandnen Kasscnbestünden den auf jedes Glied fallenden Vermögens¬
anteil und weist darauf die einzelnen Zweigkassen an, die Überschüsse des Durch-
schnittsanteils an diejenigen abzugeben, die durch vermehrte Ausgaben geschwächt
sind und geringe Bestände aufweisen. So bleiben die Kassen der Einzelvereine
immer imstande, plötzlich an sie herantretenden Ansprüchen zu genügen. Im
Jahre 1836 wagten die Maschinenbauer, um Verringerung der täglichen Arbeits¬
zeit und Erhöhung des Lohnes für die nächtliche zu erzwingen, den ersten
größeren Streik, der acht Mouate dauerte, dann aber mit der Bewilligung jener
Forderungen von feiten der Fabrikanten endigte. Dagegen behielten 1852, wo
eine neue Arbeitseinstellung erfolgte, die letzteren, die sich inzwischen zu ge¬
meinsamem Widerstande verbunden hatten, den Sieg, nachdem der Verein der
Maschinenbauer sein gesamtes Vermögen zugesetzt hatte. Indes erholte sich die
Genossenschaft nach einigen Jahren wieder, und nach einer Zusammenstellung
Von 1869 zählte sie 316 Zweige und rund 34000 Mitglieder, die zusammen
98 700 Pf. Se. Vermögen besaßen. Inzwischen hatte auch die Verfassung eine
wesentliche Umgestaltung erfahren. Die Abgeordnetenversammlungen waren ab¬
geschafft und die Leitung des Vereins war einem Generalausschuß übertragen
worden, dessen Schriftführer gewissermaßen der Präsident dieser Arbeiterrepublik
ist, indem alle Fäden der Verwaltung des Bundes in seiner Hand zusammen¬
laufen. Auch der frühere Hauptzweck dieser Vereinigung ist in den letzten Jahr¬
zehnten ein andrer geworden. Man hat eben von der Erfahrung gelernt, und
überdies hat das Parlament gewisse Einrichtungen geschaffen, welche die Ver¬
ständigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitern erleichtern. Das Bestreben der
Maschinenbauerunion ist jetzt Regelung der Arbeit, sodaß dem Arbeiter stets
Verdienst gesichert ist. Keineswegs geht es in erster Linie auf Veranlassung
von Streiks; denn der Arbeiter empfindet den ihm daraus erwachsenden
Schaden ebenso sehr als der Fabrikant, und so wird nur im äußersten Falle
mehr zu diesem Zwangsmittel gegriffen. Dasselbe gilt aber auch von den
übrigen IraZs-IInions. So viel als irgend möglich suchen sie gegenwärtig alle
Fragen und Streitigkeiten zwischen Arbeitern und Fabrikanten auf friedlichem
und freundschaftlichem Wege zu schlichten, wozu beiden Teilen in Einigungs¬
ämtern und Schiedsgerichten gute Mittel geboten sind. Ihre Kraft ist außer¬
ordentlich bedeutend. Sie gründet sich auf ihre einheitliche und feste Gliederung
und auf ihre gute Finanzlage, die wiederum das Ergebnis ihrer vorsichtigen
Politik gegenüber den Arbeitgebern einerseits und den Projektenmachern ander¬
seits ist, welche ihnen unpraktische Maßregeln und Einrichtungen zur Verbesserung
ihrer Stellung und Einnahme zu empfehlen nicht müde wurden. Nach mäßiger
Schätzung vereinigen die verschiednen Iracls-IIiiions jetzt mindestens eine halbe
Million Arbeiter in sich, andre rechnen achtmalhunderttausend heraus, und auf
jeden derselben fällt wenigstens zwei Pfund Sterling Kassenvermögen. Zu der
sich hieraus ergebenden Summe, die in Fonds, Sparkassen, Banken und Bau¬
gesellschaftsaktien sicher angelegt ist, kommt die Verfügung über den jährlichen
Durchschnittsbetrag der Wochenbeiträge (durchschnittlich sechs Pence die Woche)
in der Höhe von 6 — 700 000 Pf. Se. Von dieser Summe wird ungefähr
der vierte Teil für die Durchführung von Arbeitseinstellungen und ähnlichen
Maßregeln ausgegeben, sodaß noch ein sehr erheblicher Rest für andre Zwecke,
Unterstützung von Kranken, andern zur Arbeit unfähigen, Reisenden u. dergl
übrig bleibt, und das Stammvermögen nicht angegriffen zu werden braucht,
sondern durch Zinsen fortwährend zunimmt. Auf einer Abgeordnetenversammlung
der englischen Gewerkvereine, die im Juli 1868 in Manchester abgehalten wurde,
wurden die Grundsätze und Bestrebungen derselben öffentlich besprochen und im
Gegensatze gegen die Parlamentarische Regierungskommission verteidigt, welche
die volle Öffentlichkeit ausgeschlossen hatte, und welcher man nicht ohne Grund
vorwarf, sie vertrete mehr die Interessen der Kapitalisten als die der Arbeiter.
Die rechtliche Stellung der ^as-Hliion8 ist erst seit 1869 gesichert worden,
indem ihren Fonds erst seit diesem Jahre Schutz vor den Gerichten gewährt
worden ist. Ein Gesetz vom Juni 1871, welches verlangt, daß sie sich bei der
Behörde in ein Register eintragen lassen, ist von der Mehrzahl der Vereine
nicht beachtet worden. Nur etwa 50 von den 200. welche der Regierung ihre
Berichte einsenden, waren 1378 eingetragen. Diese hatten zusammen etwa
250 000 Mitglieder mit ungefähr 265 000 Pf. Se. jährlicher Einnahme, und
die größten derselben waren zwei Genossenschaften von Bergleuten, die ^inÄ-
FAinatsÄ ^ssovi^ion ok Kinns in Manchester mit 105 028 Mitgliedern und
66 321 Pf. Se. jährlicher Einnahme und die Nmers ^.ssoeiation, in Durhcun
mit 41310 Mitgliedern und einer Einnahme von 48 046 Pf. Se.
In den Vereinigten Staaten von Nordamerika bestehen ähnliche Gewerk¬
vereine neben andern Arbeitergenossenschaften, z. B. den XniMs ok Il^our
und einer Anzahl von sozialistischen und anarchistischen Gesellschaften. In
Italien giebt es ebenfalls Arbeitervereine, die nach Art der englischen Imäo
Ilnioiis eingerichtet sind. In Deutschland riefen Schulze-Delitzsch, Franz Duncker
und Max Hirsch 1869 neben der sozialdemokratischen Arbeiterpartei mit ihrer
Bebel-Liebknechtschen und ihrer Lassalleschen Gruppe Gewerkvereine ins Leben,
die den englischen in wesentlichen Stücken glichen und zwar fortschrittlich angehaucht
waren, sich aber nicht, wie die Sozialdemokraten, mit Fragen der hohen Politik
befaßten. Sie gediehen eine Zeit lang ziemlich gut, und ihr Verband umfaßte
1875 schon 357 Ortsvereine und gegen 22 000 Mitglieder. Seitdem aber ist
die Entwicklung ins Stocken geraten, indem, wie bekannt, der Staat die Er¬
reichung der Hauptzwecke dieser Vereine ins Auge gefaßt und zum großen Teile
in Angriff genommen hat, und die deutschen Gewerkvereine werden ganz über¬
flüssig werden, wenn erst das Bismarcksche Werk zum Abschluß gelangt ist.
Diese Gewerkvereine sind es also nicht, welche von dem Londoner Kongresse
ausgeschlossen sein sollen, vielmehr sind mit der Zurückweisung nur die Sozial¬
demokraten gemeint, und dies ist sehr erklärlich und wohlberechtigt. Phantasten,
unpraktische Doktrinäre, Phrasenmacher und Leute, die trotz aller Ableugnung
zuletzt doch gewaltsamen Umsturz alles Bestehenden hoffen und erstreben, ge¬
hören eben nicht unter nüchterne und friedfertige Reformer, welche die Re¬
gierungen selbstverständlich anerkennen, wenn sie sich um Schutz und Förderung
an sie wenden. Die Einberufer des Kongresses treiben keine Politik. Jeder
englische Gewerkverein beschränkt sich streng auf sein Fach, wie er auch nicht
jeden Beliebiger, der sich Arbeiter nennt, sondern nur solche unter seine Mit¬
glieder aufnimmt, die eine bestimmte Zeit das betreffende Handwerk oder Gewerbe
gelernt haben und in ihm thätig gewesen sind. Allgemeine Bedürfnisse und
Ziele der verschiedenen Vereine sind Sache des Zentralrates, der aus den
Vorständen derselben gebildet worden ist. Der einzelne Fachverein kümmert sich
lediglich um die nächsten Interessen der Mitglieder (Messerschmiede, Gelbgießer,
Lederarbeiter. Weber, Bergleute u. dergl.), die er umfaßt. Der Kupferschmied,
der Stahlfedcrmacher, der Töpfer befaßt sich mit den Arbeitsgelegenheiten des Ge¬
werbes, innerhalb dessen er thätig ist, mit den Aussichten des Marktes, auf den die
von ihm angefertigte Ware vorzüglich geht, mit der Haltung der Meister und
Großindustriellen, in deren Lohn und Brot er steht oder beschäftigt zu werden
wünscht, aber niemals spricht er von der sozialen Frage. Die Maurer, die
Zimmerleute, die Bautischler sind durch ihren Fachvcrein Wohl unterrichtet über
die Preise, welche die Meister von den Bauherren verlangen und erhalten, über
die Löhne, die sie zahlen, sie wissen genau, wo rege Baulust herrscht und wo
nicht, wo nächstens viel gebaut werden wird und wo nicht; sie besprechen sich
mit ihren Handwerksgenossen über die Aussichten eines Streiks und ähnliche
Angelegenheiten, aber es fällt ihnen nicht im Traume ein, an den sozialistischen
Zukunftsstaat zu denken, der das Ideal der Herren Marx, Bebel und Liebknecht
ist, und wer ihnen mit Reden von solchen Utopien kommen wollte, würde bald
sehen, wie sie ihm achselzuckend den Rücken kehrten. Die Schmiede, Gießer
und Monteure, die in den Geschützfabriken arbeiten, unterhalten sich allerdings
über politische Fragen, aber nur über solche, die Krieg und Frieden, Vermehrung
oder bessere Ausrüstung der Armeen, Ausrüstung von Kriegsschiffen u. dergl.
betreffen, und studiren darüber auch die Zeitungen, weil ihr Handwerk bei der
Herstellung von Kanonen und dem Bedarf an solchen bedeutend interessirt ist,
aber wenn einer von ihnen den Einfall hätte, ihnen in einem Vortrage aus¬
einander zu setzen, wie ein Krieg oder ein Aufstand zur Bildung einer neuen
Gesellschaftsordnung führen könne, so würden die übrigen ihn zunächst nicht
begreifen und dann an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln. Diese nüchternen,
praktischen Menschen finden es unverständlich, daß deutsche Arbeiter, statt sich
in Gruppen, welche durch die Art und den Gegenstand ihrer Arbeit gegeben
sind, zusammenzuthun, um mit vereinten Kräften kräftiger und aussichtsvoller
die Verbesserung ihrer Lage betreiben und das damit Erreichte festhalten zu
können, sich auf abstrakte Spintisirereien und luftige Zukunftsträume verlegt
haben und dadurch mit ihrer Negierung in Zwiespalt und Gegnerschaft geraten
sind. Die Mitglieder der T^äg-Hinons werden, so haben wir uns den Ent¬
schluß zur Abweisung der deutschen Kollegen vorzustellen, an die Gefahr gedacht
haben, auf einem Kongresse, der rein praktische Fragen zu verhandeln bestimmt
ist, den internationalen Schutz des Arbeiters zu schaffen vorhat, lange und
breite Reden über die Notwendigkeit der Güterteilung, über gemeinschaftlichen
Besitz alles Grundeigentums, über freie Ehe, über Abschaffung der Religionen,
über Militarismus, Kosmopolitismus, Kollektivismus und wer weiß, welchen
Ismus sonst noch anhören und verdauen zu müssen. Es sieht aus, als hätten
sie bei ihrer Weigerung, die deutschen Arbeiter an der Versammlung teilnehmen
zu lassen, einem bloß formalen Einwände zu viel Gewicht beigelegt. Sie werden
indeß gewußt haben, daß die deutschen „Arbeiter," welche gekommen sein wurden,
wahrscheinlich nicht befugt gewesen wären, Mitglieder irgend eines englischen
Gewerkvereins als Fachgenossen anzusprechen; nicht sowohl Arbeiter, als Führer,
Verführer und AufHetzer von solchen würden in London erschienen sein. Es
wäre ein Irrtum, wenn man den Beschluß der Engländer mit politischen oder
sozialpolitischen Gegensätzen erklären wollte. Es stehen hier nur verständige
Auffassung der Dinge, praktischer Sinn und kühles Streben nach erreichbaren
Zielen unklaren Dichten und Trachten und zweckloser Selbstbeschädigung
gegenüber.
Die hegen offenbar den ernstlichen Wunsch, internationale
Maßregeln zum Schutze der Arbeiter getroffen zu sehen, und sie scheinen sich
klar darüber zu sein, daß sie sich deshalb an die Regierungen wenden müssen,
wenn nicht, um sie zu positiver Mitwirkung zu bewegen, so doch, um sie zur
Duldung von Einrichtungen zu gewinnen, die von den Arbeitern selbst geschaffen
werden. Infolge dessen war auf die Regierungen Rücksicht zu nehmen, und das
wäre natürlich nicht geschehen, wenn man nicht von vornherein verhindert hätte,
daß der Kongreß, statt sich mit dem Schutze hilfloser Arbeiter beschäftigen zu
können, von Leuten in Anspruch genommen würde, die hier Abhandlungen über
sozialdemokratische Lieblingsthemen an den Mann bringen zu dürfen meinten.
Die Verhandlungen der Novemberversammlung werden vermutlich zeigen, daß
die englischen Gewerkvereine den Grundsatz der Solidarität nicht so gemütlich
auffassen und deuten wie unsre Sozialdemokraten; sie sind sehr exklusiv und
halten es gewöhnlich mit der Regel: Knopf auf den Beutel!
Nicht zu verwundern ist es, daß die Deutschen, denen die Thür des Kon¬
gresses verschlossen wurde, darüber viel Lärm geschlagen und sich bemüht haben,
das Zusammenkommen des Kongresses zu verhindern. Aber nur die Nord¬
amerikaner scheinen wegbleiben zu wollen, weil den Deutschen durch Nichtzulas¬
sung Unrecht geschehen sei. Die Italiener und Franzosen werden in London
erscheinen. Die Schweizer und Belgier haben den „deutschen Brüdern" ihr Bei¬
leid wegen solcher schlechten Behandlung zu erkennen gegeben, werden aber gleich¬
falls den Kongreß beschicken. Unsre Sozialdemokraten wollen nun für das
Jahr 1889 eine Art Gegenkongreß ausschreiben. Wenn er überhaupt zu stände
kommt, so hat er nicht darauf zu rechnen, von nichtdeutschen stark beschickt zu
werden, wird auch selbstverständlich nichts für den internationalen Schutz der
Arbeiterwelt thun können, da die Regierungen nicht in der Lage sind, sich mit
Sozialisten der revolutionären Art zu gemeinsamem Wirken zu vereinigen.
s war vor einigen Wochen, an einem herrlichen Sonntagmorgen
im Wonnemonat Mai, da kam ich vom stolzen Pfänder und
seinem Vorberge mit der Gebhardskapelle herunter hinein in das
alte Bregenz am Bodensee. Beim Betreten des Städtchens tönte
mir lauter Trommelwirbel entgegen, und wenn ich nicht gewußt
hätte, daß die Bregenzer Kaiserjäger und Landesschützen keine Trommeln haben,
ich wäre auf den Gedanken gekommen, daß ich österreichischem Militär begegnen
würde. Da löste sich mir bei der nächsten Biegung des Weges das Rätsel.
Auf dem freien Platze vor dem bekannten Wirtschaftsgarten „Zum Heidelberger
Faß," wo es den guten Roten giebt, stand ein Mann mit einer Militür-
trommcl und ließ einen lauten Wirbel ertönen, die Leute aber steckten die Köpfe
zu den Fenstern heraus oder blieben auf der Straße stehen, bis die Trommel
verstummte und der Mann alle möglichen Bekanntmachungen mit lauter Stimme
vorlas. Nach jeder Bekanntmachung erfolgten wieder einige Trommelschläge,
und so ging es eine Zeit lang weiter, bis der Mann alles verkündigt hatte
und die guten Bürger und Bürgersfrauen wußten, was es alles in ihrer Stadt
zu verkündigen gab. Die Sache war nicht so übel und paßte gut zu den alter¬
tümlichen Häusern und Türmen des Städtchens.
In größern Städten ist das freilich längst anders geworden. Dort hat
der städtische Austrommler oder Ausscheller seine Trommel oder Schelle in die
Ecke gestellt, und an seine Stelle ist das Zeitungsblatt getreten. Auch die
Bregenzer haben es schon auf zwei Blättchen gebracht, und der Anstrommler
hat sich nur so aus altem Herkommen erhalten. Selbst der Bauernbüttel auf
dem Lande hat nicht mehr viel mit der Schelle zu Hantiren. Lesen kann ja
heutzutage jeder, und Zeitungen giebt es mehr als genug mit so viel Anzeigen
aller Art darin, daß der Staatsbürger nächstens nicht mehr wissen wird, wo
er anfangen und wo er aufhören soll mit all dem gebotenen Lesestoffe.
Das Jnseratenwesen hat bei uns unter dem Einflüsse der Entwicklung des
Zeitungswesens überhaupt und bei dem Bestreben der konkurrirenden Produ¬
zenten, ihre Waren an den Mann zu bringen, nachgerade einen Höhepunkt
erreicht, den man früher nie für möglich gehalten hätte, und die Summen, die
der Geschäftsmann der Gegenwart für diese Art der Anpreisung aufzubringen
hat, sind ganz außerordentliche geworden und tragen, da sie sich kaum umgehen
lasse», nicht unwesentlich zur Erhöhung der auf den Warenpreis zu schlagenden
allgemeinen Unkosten unsrer Geschäftsleute bei. Ein Städtchen, wär' es noch
so klein, es kann nicht ohne Blättchen sein. Wo fände sich heute noch eine
kleine Stadt, die nicht ihren Buchdrucker hätte, und wenn er nur ein halbes
Dutzend Schriftkästen und eine „Trittmühle" sein eigen nennt. Er hält sich
ein paar Provinzialzeituugen, stellt sein Intelligenzblatt mit der Scheere zu¬
sammen und verkündet den Bürgern zwei- oder dreimal in der Woche, was
Voulcmger in der Kammer gesprochen hat und wo es Blut- und Leberwürste
oder am nächsten Sonntag eine Tanzmusik giebt, wer eine gesunde Amme sucht
oder was die Brandtschen Schweizerpillen bei diesem oder jenem Würdenträger
der Umgegend für eine „phänomenale" Wirkung erzielt haben. Ist gar noch
ein Oberamtmann im Städtchen, so führt das Blättchen an seiner Spitze den
stolzen Titel „Amtsblatt," und sein Besitzer ist ein gesegneter Mann zu nennen,
ein Privatmonopolist in des Wortes verwegenster Bedeutung. Für ihn giebt
es dann keine Konkurenz. Wehe dem, der sich etwa erkühnte, sich neben ihm
im Städtchen niederzulassen, um ein Konkurrenzunternehmen zu veranstalten;
er würde Geld und Mühe vergebens opfern, denn ihm fehlt die Weihe des
Amtsblatttitels.
Es giebt in der That nicht leicht ein besseres Geschäft heutzutage, als ein
altes, gut „eingeführtes" Jnseratenblatt, zumal ein Amtsblatt; die Summen,
welche die glücklichen Besitzer solcher Unternehmungen einheimsen, sind, wenigstens
zum großen Teil, sehr bedeutend, und es gehört viel dazu, ein solches Blatt,
wenn es nur einigermaßen richtig geleitet ist, aus dem Sattel zu heben. In
nichts zeigt sich vielleicht der konservative Sinn, der noch heute Gottlob in der
überwiegenden Mehrzahl des deutschen Volkes lebt, deutlicher, als gerade in dem
zähen Festhalten an dem gewohnten Zeitungsblatt. So kommt es auch, daß
sich der Preis für die Lokalblätter und die Anzeigegebühren derselben so lange
auf einer Höhe erhalten konnte, die den durch das Herabgehen der Preise für
die verwendeten Rohstoffe, namentlich das Papier, ermäßigten Herstellungskosten
gegenüber oft viel zu hoch war. Dabei fehlt es in Deutschland an eigentlich
großen Zeitungen, wie sie das Ausland, namentlich England, hat, sodaß der
Geschäftsmann gezwungen ist, in einer ganzen Reihe von Blättern und Blättchen
seine Ware anzupreisen und damit Opfer zu bringen, die sich bei einer bessern
Zusammenfassung des Jnserateuwesens vermeiden ließen und lediglich zur Be-
reicherung einer Anzahl von eingesessener Pfründnern dienen, die oft keineswegs
auf der Höhe der Zeit stehen und ihre Machtstellung einfach der Gewohnheit
des Volkes oder der hergebrachten Monopolstellung durch den Amtsblatttitcl
verdanken. Wie wenig Dank übrigens die Regierungen zum Teil für diese
Unterstützung ernten, haben schon manche Vorgänge bewiesen'
Diesen Übelständen abzuhelfen, dem deutschen Geschäftsmanne eine Gelegen¬
heit zu verschaffen, seine Produkte in ausgiebigster Weise um möglichst billigen
Preis dem konsumirenden Publikum anzubieten und dem durch die Verleihung
des Amtsblatttitels an einzelne Verleger gegebenen Privileg ein Ende zu be¬
reiten, und zugleich dem Staate eine Einnahmequelle zu verschaffen, die ihm
jährlich Dutzende von Millionen zufließen lassen könnte, ist der Zweck des im
Nachstehenden kurz skizzirten Planes eines allgemeinen deutschen Anzeigeblattes, das
vielleicht geeignet wäre, unser gesamtes deutsches Zeitungswesen in eine wirtschaft¬
lich gesündere Bahn zu leiten. Ich denke mir die Sache etwa folgendermaßen.
Die Herausgabe des Blattes, welches den Titel „Deutsches Reichsanzeige¬
blatt" führt, erfolgt durch die kaiserliche Neichspost. Das Blatt enthält lediglich
Inserate und hat zunächst den Zweck, ein Werkzeug zur möglichst ausgiebigen
Verbreitung der Erlasse und Anzeigen sämtlicher staatlichen Amtsstcllen des
Reiches zu sein (weshalb auch alle diese Stellen das Blatt von Amtswegen
zu halten Hütten), des weitern aber auch, dem Privatpublikum Gelegenheit zu
praktischer und billiger Verbreitung von Anzeigen aller Art in möglichst um-
fassender und gründlicher Weise zu geben.
Das Blatt zerfällt zu diesem Zwecke in vier Teile.
Der Hauptteil, unter dem Titel „Deutsches Reichsanzeigeblatt," wird in
der Reichsdruckerei in Berlin hergestellt und enthält die amtlichen Bekannt¬
machungen der Neichsbehörden sowie in den für die königlich preußischen Ge¬
bietsteile des Neichspostgebietes bestellten Exemplaren alle amtlichen Bekannt¬
machungen der preußischen Monarchie. Diese Exemplare erhalten infolge dessen
auf dem Titel den Beisatz: „Zugleich Staatsanzeigeblatt für das Königreich
Preußen."
Die erste Beilage führt den Titel: „Amtsblatt für die königlich preußische
Provinz Brandenburg, Posen" u. s. w. und erscheint am Sitze der betreffenden
Provinzialregierung; der Titel kann auch lauten: „Staatsanzeigeblatt für das
Königreich Sachsen, das Großherzogtum Baden" u. s. w.
Die zweite Beilage führt den Titel: „Amtsblatt für den königlich württem¬
bergischen Donaukreis, Jagstkreis, den königlich preußischen Regierungsbezirk
Danzig" u. s. w. und erscheint am Sitze der betreffenden Stelle.
Die dritte Beilage endlich führt den Titel: „Amtsblatt für den königlich
württembergischen Oberamtsbezirk Ulm" oder „für den königlich preußischen
Kreis so und so." Der Inhalt der Beilage ergiebt sich aus dem Namen.
Das Format des Blattes wäre das eines gewöhnlichen Foliobogens Kanzlei¬
papier, die Anzahl der Seiten würde sich nach dem vorliegenden Material an
Bekanntmachungen richten. Der Abonnementspreis für das Hauptblatt mit den
dem Wohnsitze des Bestellers entsprechenden drei Beilagen wäre vierteljährlich
etwa 50 Pfennige bei freier Zustellung durch die Post ins Haus des Bestellers.
Bestellungen auf das Blatt würde jede Postagentur annehmen. Der Inseraten-
preis für die viergespaltene Korpuszeile würde bei einer Anzeige für den Haupt¬
teil etwa 2 Mark, für die erste Beilage 50 Pfennige, für die zweite Beilage
20 Pfennige und für die dritte Beilage 10 Pfennige betragen, entsprechend der
Verbreitung, welche die Inserate in diesen Beilagen fänden. Es hätte eben bei
der geplanten Einrichtung jedermann Gelegenheit, in beliebigem Umfange, ent¬
weder im ganzen Reiche oder nur innerhalb einer Provinz, eines Regierungs¬
bezirkes oder eines Kreises, seine Bekanntmachung zu verbreiten. Annahmestelle
für jedes Inserat wäre jede Poststelle. Ich gebe einige Beispiele.
Ein Fabrikant in Stuttgart hat eine neue Lampe gebaut und möchte sie
im ganzen deutschen Reiche zum Verkaufe empfehlen. Der Mann geht einfach
auf sein Postamt in Stuttgart, schreibt dort seine Anzeige, ähnlich wie es bei
den Depeschen geschieht, auf ein hierzu bestimmtes Formular und stillt die vor-
gedrncktcn Fragen über die Größe, die Wiederholungen und ähnliches aus. Der
Postbeamte nimmt dann die Berechnung des Jnserats vor, quittirt den Betrag
durch die hierzu vorhandenen Stempelmarken auf dem Formular, und der
Fabrikant entrichtet seine Schuldigkeit. Das Schema aber wird vom Postamte
Stuttgart an die Verwaltung des Neichscmzeigeblattes nach Berlin gesandt, dort
in Druck gegeben und nach einigen Tagen wird die Lampenanzeige in einer
Auflage von mindestens 300 000 Exemplaren bis in den hintersten Winkel des
Reiches verbreitet.
Oder: Ein Leipziger Buchhändler giebt ein Werk über Schlesien heraus
und möchte dies in der Provinz Schlesien bekannt machen. Er geht in Leipzig
auf die Post, macht es dort wie der Lampenfabrikant in Stuttgart, und einige
Stunden später ist das Manuskript seiner Anzeige auf der Reise nach Breslau,
wird in der mit der dortigen Post in Verbindung stehenden Druckerei gesetzt
und nach einigen Tagen in jedem Nestchen Schlesiens in der ersten Beilage zum
Reichsanzeigeblatt in einer Auflage von 30—40 000 Abzügen gelesen.
Oder: Ein Frankfurter Bankier möchte sich eine Villa in Wiesbaden kaufen.
Er übergiebt eine darauf bezügliche Anzeige dem Frankfurter Postamte, und
Tags darauf liest man im ganzen Regierungsbezirke Wiesbaden seinen Wunsch
schwarz auf weiß in einer Auflage von vielleicht 10 000 Exemplaren in der zweiten
Beilage des Reichsanzeigeblattes.
Oder endlich: Eine Frau in Edinger sucht ein Dienstmädchen. Sie geht
früh morgens aufs Postamt dort, schreibt ihr Inserat, am Abend desselben
Tages liest man in dem ganzen Donaustädtchen und dessen Oberamtsbezirk ihr
Begehren in der dritten Beilage zu etwa 2000 Reichsanzeigeblättern, und tags
darauf rücken die Scharen der stellesuchendeu Jungfern aus Stadt und Land an.
Der Wert der ganzen Einrichtung für das Publikum muß auf den ersten
Blick einleuchten. Die Unsummen, die seither der anzeigende Geschäftsmann
daranzuwenden hatte, um bei der herrschenden Zersplitterung des ganzen Jn-
seratenwesens eine Wirkung seiner Anzeigen zu erzielen, schrumpft zu einem ver-
schwindend kleinen Bruchteile zusammen, weil er nicht mehr mit Tausenden von
Blättern und Blättchen zu rechnen hat, sondern an deren Stelle der einzige all¬
gemeine Reichsanzeiger getreten ist.
Eines Reichsanzeigenmonopols, d. h. einer Zwangsverstaatlichung des
Jnseratenwesens, wie sie auch schon vorgeschlagen worden ist, bedürfte es dabei
gar nicht; ich wäre sogar entschieden, so wie ich die Sache heute ansehe, gegen
eine solche. Ich denke mir das Institut und sein Verhältnis zu den andern
Anzeigeblättern ähnlich wie die Reichsbank und ihr Verhältnis zu den Privat¬
bankiers. Ein Monopol hätte das Reichsanzeigeblatt nur für die staatlichen
Bekanntmachungen. Reichsanzeigeblatt und Privatanzeigeblätter würden einander
keineswegs ausschließen. Die letztern hätten vor dem Reichsblatte sogar das
voraus, daß sie politischen oder Unterhaltungsstoff nach Belieben bieten könnten,
während das Reichsblatt lediglich auf Anzeigen beschränkt wäre. Daß der Umsatz
der Privatzeitungen bei der zunehmenden Verbreitung und Benutzung des
Reichsblattes durch das Privatpublikum mit der Zeit natürlich Not leiden
würde, ist klar. Vielleicht müßte sich dann das Publikum dazu entschließen,
den Zeitungsverlegern ihren Ausfall durch einen erhöhten Abonnementspreis
zu ersetzen. Das wäre aber kein Unglück. Im Gegenteil: die anständige
Tagespresse und der bessere Teil der deutschen Journalistik könnte und müßte
es, wenn er ehrlich sein und von dem persönlichen Vorteil der zeitungver¬
legenden Brotherren absehen will, nur mit Freuden begrüßen, wenn die Fessel
des Jnseratenwesens den politischen Zeitungen mehr und mehr abgestreift und
diese dadurch in ihren Lebensbedingungen mehr auf ihren geistigen Inhalt an¬
gewiesen würden. Je mehr die große Menge der Anzeigen dem Staatsinstitut
zufiele, umso mehr müßte die politische Presse sich bestreben, durch gediegenen
Inhalt ihren Leserkreis zu steigern, weil der Schwerpunkt der Einnahmen der
Zeitungsverleger nicht mehr in den Jnseratengebühren, sondern im Abonnement
läge. Für die Reichspost aber würde, wenn sich die Sache erst einmal eingelebt
hätte, bei richtiger geschäftsmännischer Behandlung mit der Zeit eine ganz be¬
deutende Einnahmequelle aus der Einrichtung entstehen, die sich je nach den
Tarifsätzen für die Inserate und das Abonnement auf viele Millionen belaufen
könnte. Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Voranschläge in dieser Beziehung
heute schon anzustellen, halte ich nicht für richtig, umso weniger, als ich den
Schwerpunkt der Einrichtung nicht in der übrigens keineswegs zu unter-
schätzenden fiskalischen Wirkung derselben, sondern, wie schon betont, darin sehen
möchte, daß durch eine Zentralisation des Jnseratenwesens dem geschäftlichen
Publikum ein Teil seiner Reklamespesen abgenommen werden würde.
Daß die Einrichtung in weiten und zum Teil sehr mächtigen Interessenten¬
kreisen aus begreiflichen Gründen ans den lebhaftesten Widerstand stoßen und
von den verschiedensten Seiten angefochten werden würde, ist klar. Aber ebenso
einleuchtend sind auch die wirtschaftlichen Vorteile derselben, und darum würde
sie sicherlich auch ihren Weg finden, wenn auch nicht von heute auf morgen,
so doch mit der Zeit. Es ist vielleicht auch manches an dem Vorschlage ver¬
besserungsbedürftig, aber da läßt sich helfen; der eine kommt auf diesen Ge¬
danken, der andre auf jenen. Wenn nur die Grundidee richtig ist, das Weitere
wird sich finden.
rophezeien, Prophetentum, Dinge, ohne die in alter Zeit die
Völker für ihr höheres Leben gar nicht auskommen konnte», nun
aber auch vom Lichte der Aufklärung in die Rumpelkammer ver¬
wiesen. Und doch braucht man nicht in Kinderstimmungen zurück
zu fallen, in Stimmungen, wo man z. B. von der Märchenwelt
erfüllt mit Leid empfand, daß es keine Feen und keine Zauberei mehr giebt,
um auch jetzt einmal in gespannter Lage einen sichern Ausblick in die Zukunft
zu wünschen oder zu versuchen, also den Prophetenblick, an den die alten Zeiten
glaubten. Und daß nicht alles daran bloß in die historische Rumpelkammer
paßt, daß das alte Prophetenwesen auch bei allem Dunst und leerem Schimmer
einen rechten Kern enthielt, das ist wohl auch nicht schwer zu sehen und hat
seinen Wert, nicht bloß geschichtlich genommen. Mir fällt, um kurz den Gesichts¬
punkt dafür aufzustellen, Wallensteins Wort bei Schiller ein (Wallensteins
Tod 2, 3):
Es giebt im Menschenleben Augenblicke,
Wo er dem Weltgeist näher ist als sonst
Und eine Frage frei hat an das Schicksal.
Ich erinnere mich noch, wie mich als Schüler, gerade rationalistisch genug
geschult und gestimmt, das Wort doch mit einem schönen Ahnen tief durch¬
zuckte, als ichs zuerst las. Setzt man sich für den Weltgeist, der, Wallensteins
Denkweise angemessen, etwas nach Mittelalter schmeckt, den Zeitgeist, für das
Schicksal, das nach Altertum schmeckt, die Zukunft, so hat man Wohl den
Gedanken in der Form, wie ihn auch die heutige nüchterne Denkweise noch
brauchen kann: es giebt in allen menschlichen Verhältnissen, die als Ganzes
in arbeitender Bewegung sind, einen Punkt oder eine Linie, wo die eigentliche
treibende Kraft wohnt, und trifft man in glücklicher Stunde mit seinem Denken
und Fühlen in diesen Punkt, so kann man den noch nicht gegebenen Fortgang
der Bewegung des Ganzen im voraus sehen, soweit nicht äußere, unberechen¬
bare Störungen ihn hemmen; man sieht die Linie entlang, die noch nicht da
ist und doch in den Verhältnissen schon mit gegeben. In diesem Sinne wird
denn auch noch täglich prophezeit, im kleinen wie im großen Leben. Im großen
Leben z. V. von den Parteien, am selbstgewissesten von den beiden äußersten Par¬
teien, die beide die letzte treibende Kraft und ihre Vewegungslinie am sichersten in
der Gewalt zu haben glauben, den Socialdemokraten und Jesuiten. Wo die tiefste,
rechte treibende Kraft wirklich wohnt, der man sich mit seiner eignen Kraft anzu¬
schließen und in Dienst zu stellen hat, das gälte es sicher zu finden in dem
Durcheinander der Meinungen, das wohl jetzt wilder werden will als je, das
wäre das rechte Prophetentum für heute, und das ist eben wesentlich mit der
Streit der Parteien. Die verschiedene Antwort hängt neben dem verschiedenen
Wollen oder Willensziele von der verschiedenen sogenannten Weltanschauung
ab, die aber selbst immer zugleich eine Art Prophezeiung ist, ein Vorausschauen
in die Zukunft, eigentlich ein Hinansschauen über die Verhältnisse, wie sie
wirklich sind, in eine Gestaltung, wie sie sein könnte oder sollte und werden
muß, wie man meint, wenn Rettung kommen soll. Offenbar wie gesagt auch
eine Art Prophetentum, das teils in die Zukunft voraus, teils zugleich in die
Vorzeit zurückschaut, wohl auch in eine nur geahnte Vorzeit, um aus dieser her
über die Enge der Gegenwart hinweg den großen Gang sicher zu erkennen,
den die Dinge gehen sollen, ganz wie die Propheten alter Zeit. Das Pro¬
phetentum kann nicht aussterben, wenn es auch nicht mehr so heißt und in
der Ausübung manches anders geworden ist, als in alter Zeit.
Wir stehen nun jetzt mit unsern deutschen Angelegenheiten seit dem Ab¬
scheiden des Kaisers Wilhelm auf einem Punkte unsers Weges, der zum Rück¬
schauen wie zum möglichsten Vorschauen auffordert oder drängt, wie es nur
je in unsrer Geschichte gewesen sein kann. Das Vorschauen wirft Fragen vor
uns auf, zum Teil schwer genug; das Rückschauen giebt uns viel Antwort
und damit Trost und Mut. Es zeigt aber auch viel schwere, bange, ja ver¬
zweifelte Lagen, in denen man sich aus der Beklemmung des Augenblicks heraus¬
rettete durch Vorschauen in die Ferne und Ausschauen in die Höhe. Unsre
Geschichte ist voll von Prophezeien, das oft zugleich, wie bei den Propheten
des alten Testaments, die Form des Strafens und Mahnens annimmt, um
die Geister und Herzen auf die rechte Bahn zu lenken, zu treiben oder zu locken.
Und immer handelt sichs dabei wesentlich um den einen Punkt, von dem wir
heute sagen dürfen, daß er erreicht ist, denn der Kern des alten Prophezeiens
ist doch nun eingetroffen. Es reizte mich, Einiges zusammenzustellen, das ich
eben zur Hand habe und das gerade reichen wird, diese fröhliche Thatsache
ermutigend ins Licht zu rücken. Weiteres, das ich mir recht wünschte, wäre
Sache eines Geschichtskenners.
Der schwache Punkt im Gefüge des Reiches, um den sichs im Grunde im
Laufe der langen Jahrhunderte hinter uns gehandelt hat, wird schon früh im
dreizehnten Jahrhundert mit aller Klarheit und Schärfe bezeichnet, mit bangem
Voraussagen der zerstörenden Wirkung, in einem Spruche Frcidanks (73, 8):
<1ör vürstsn vbendors
stcort nooli äos rionss vrs;
d. h. daß die Fürsten einander, auch den Kaiser eingerechnet, el)6u Irör, gleich
hochgestellt sind oder zu sein in Anspruch nehmen. Ich weiß noch, wie mir zu
Mute wurde, als ich den Spruch zuerst las, nach dem traurig fehlgeschlagenen
Frankfurter Versuche, die Kaisergewalt wiederherzustellen als Schutzdach für
das Reich in neuem Aufbau oder Ausbau: wie weh wurde einem bei diesem
prophetischen Blicke, der, über 600 Jahre alt, nun vor uns so bewährt erschien!
Und wie anders, wie ruhig liest man die Worte jetzt! Es ist ja eigentlich
der altgermanische Grundgedanke von der Stellung des Königs unter seinen
Fürsten, daß er xrimus iutsr xg-rss sei, was sich im alten Frankreich aus¬
gesprochen fortsetzte in den pairs, in England noch jetzt in den xssrs. Aber
wie viel guten Willen, welch gesunden Sinn, welche hingebende Treue setzte
dies scharf zugespitzte Verhältnis voraus: Gleiche, die wohl Einen als Ersten
anerkennen, weil ihnen der allein ihre Gemeinschaft und Einheit sichert, der
aber selbst doch auch zugleich noch ihnen gleich sein soll. In Frankreich trug
von den Begriffen, die da in so überkünstlichem Gleichgewicht gaukeln, das
Minus den Sieg davon, bei uns das xg-rss, und damit kam das Ganze auf
den Weg der Auflösung, wie mans also schon im dreizehnten Jahrhundert sah
und gewiß unter den Leuten besprach. Das Ende der Richtung war die so¬
genannte Souveränität der Fürsten, von der nach 1860 wieder so viel und
nachdrücklich die Rede war, daß einem dabei um das alte, liebe, große, ganze
Vaterland, das uns endlich einmal vor den Händen hingeschwebt war, wie ein
Schmetterling, nach dem der Knabe hascht, nun doppelt angst und bange wurde.
Jetzt, seit 1870, hört man eigncrweise nicht mehr reden von dem französischen
Begriff und Wort, und wer verliert dabei? Ist es doch, als wäre das uralte
Minus mehr xg.i'68 mit seinem guten und gesunden Kern nun auch glücklich
hergestellt zum Heile des Ganzen und der Einzelnen.
Unsern Vätern aber ist über ein halbes Jahrtausend lang auferlegt gewesen,
das Reich verfallen zu sehen, wie es dort Freidank schon voraussagte. Wie
hundert Jahre nach ihm der prophetische Blick in die deutsche Gegenwart und
Zukunft sah, zeigt ein Gedicht aus den zwanziger Jahren des vierzehnten Jahr¬
hunderts, dann oft erweitert und erneuert, später auch gedruckt; es nennt sich
Sivyllen Weissagung, eine litterarische Form des Prophetentums, die aus
dem Altertum ins Mittelalter herüber wirkte.*) Die alte Sibylle wird da
vorgestellt als dem Kaiser Augustus, also am Anfang des römischen Reiches,
dessen Geschicke vorhersagend bis ans Ende, das man sich in der Beklommen¬
heit der Zeiten recht nahe dachte, in Anknüpfung an die biblische Voraussage
des jüngsten Gerichts, das tausend Jahre nach Christo kommen sollte, und
als es da doch nicht kam, nur hinausgeschoben, aber nahe bevorstehend
gedacht wurde. So führt die Sibylle auch die letzten Kaiser und Könige vor,
die der Zeit des Dichters im Bewußtsein waren, mit der Angabe, unter ihnen
würde r«!M68<zK rioli M8poeme van M' 2v. Mr: man sah es ja so vor sich,
das römische Reich aber war aus alter Zeit her, aus Karls des Großen Zeit
her gedacht als die Grundlage, das Grundgefüge aller Ordnung in der Christen¬
heit, d. h. zugleich der Culturwelt, der Welt überhaupt. So düster sah es
da aus in den Geistern, die sich zu einem Überblick auf das Ganze erhoben!
Und die große Zeit des zwölften Jahrhunderts, wenigstens eine Zeit mächtigen
Aufstrebens, um die alte Idee des Reiches kräftig zu verwirklichen, war noch
deutlich genug im Gefühl, wenn auch im geschichtlichen Bewußtsein seltsam
getrübt, denn an Stelle unsrer Geschichte stand damals noch wesentlich die
Sage von Mund zu Mund, wie sie jetzt noch z. B. bei unsern Bauern auch
waltet.
Aus der großen Zeit war dem höhern Bewußtsein oder Gefühl ein Name
als Stern geblieben, der gleichsam am Gedankenhimmel stehen blieb und da
aus einem Stern der Vergangenheit von selbst nun ein Stern der Zukunft
ward, der Leitstern im Wogenfturme der Zeit: der Name Friedrich, mit seinem
Klang und Gehalt zugleich auf das deutend, wonach die Zeit des furchtbar
kämpfenden Wirrwarrs am heißesten lechzte, auf Frieden. Aber nicht, in klarer
Bestimmtheit, Friedrich der Rotbart, der in unsrer Kyffhäusersage erst in der
neuern, gleichfalls prophetischen Dichtung so bestimmt eingesetzt worden ist,
sondern eine Gestalt, die sich aus Friedrich dem Ersten und dem Zweiten im
Volksbewußtsein von selbst gebildet hatte, ein Friedrich schlechthin als Stern
der Hoffnung, als Held von höchster Kraft und Weisheit, der wiederkommen
müsse und werde, als deutscher Held schlechthin. In einer lateinischen xroxlieoia
LibMö aus der Zeit Karls des Vierten (bei Vogt a. a. O. S. 86) heißt es
von Friedrich, in dem aber schon da die beiden Friedriche vermischt erscheinen:
rio äivitüs se Alorig, prassminst ot, siniilis sui non erit <Ziu, seines Gleichen
an Macht und Glanz wird lange nicht wiederkommen. Aber wenn er einmal
möglich gewesen ist, muß er auch wieder möglich sein, das mußte der Gedanke
sei«. Dazu kam der alte Glaube, daß rechte Helden, wie sie die Völker brauchen,
nicht sterben, wie andre Sterbliche, sondern nur der Alltagswelt entrückt werden,
um wiederzukehren als Retter, wenn ihre Zeit gekommen ist. Also auch der
unentbehrliche Friedrich konnte, mußte wiederkommen.
Und welche Aufgabe wurde ihm dafür gestellt! Nicht bloß, wie wirs aus
der Kyffhäusersage kennen, Deutschland in Ordnung zu bringen, sondern die
ganze Christenheit, die ganze Welt. Er sollte nach der Weissagung der Sibylle
der letzte Kaiser sein vor dem Weltende oder der neuen Weltordnung, sollte mit
gewaltiger Heeresmacht ausziehen, endlich das heilige Grab zu gewinnen, denn
das nur konnte der Mittelpunkt der vollendeten Christenwelt sein. Dort sollte
er großes Gericht halten (denn das war aus alter Zeit her der Kern der Königs¬
gewalt), Gericht als eine Art Vorspiel des jüngsten Gerichts. Das aber er¬
scheint vorgestellt in altgermanischer Form, er würde, hieß es, seinen Schild an
einen dürren Baum heulen, d. h. den altgermanischen Gerichtsbann, der zu¬
gleich heilig war als Wohnstätte der Gottheit und heiliger Mittelpunkt des
Volksgebietes, der denn auch hier zugleich in eins gesetzt wurde mit dem Baume,
an dem Christus hatte den Tod für die Menschheit erleiden müssen, und mit
dem Baume im Paradiese, der zum Sündenfall den Anlaß gab. Dann aber
sollte der Baum wieder grünen, als Zeichen eines neuen, großen Lebens gedacht,
und alles sollte gut werden auf Erden: eine wunderbar überschwängliche Vor¬
stellungsmasse, aber mit einer großartigen, tiefsinnigen Einheit, gerade so, wie
sie die aufgeregte Geisteswelt, wie sie damals war, eben brauchte, um ihr aus
der Zukunfts- und Ideenwelt Ruhe und Mut zu geben. Der wunderbare
Baum liegt uns ja noch nahe in der Sage vom Birnbaum auf dem Walfer-
felde am Untersberg, der ein heimischer Ableger jenes Weltgerichtsbaumes ist,
einer Sage, die auch in unsrer kritischen Zeit doch durchaus noch mit Achtung
angesehen wird, wie die Sage vom Kaiser Friedrich im Khffhäuser auch; sie
prägen sich in der Jugend mit so reicher, schöner, tiefer Ahnung ein, daß sie
auch im Mannesalter noch im Gemüte Stand halten vor dem nüchtern kri¬
tischen Denken oder Spotten.
Solch ein Ungeheures erwartete man also, und nicht in Deutschland bloß,
von dem deutschen Helden der Zukunft, von dem Friedrich. Frieden und Ein¬
heit unter den Völkern sollte er herstellen, dabei einen Glauben über die Welt,
im Christentum aber auch Versöhnung zwischen Klerus und Laien, die so nötig
war nach den schlimmen Störungen durch die langen, erbitterten Kämpfe zwischen
Kaiser und Papst. Es weht einen eigen an, wenn man in der Weissagung
folgendes liest und dabei unwillkürlich an heutige Verhältnisse denkt:
üis zMüon, als cia fini vsririlzsn
unä fini blidon (bis) ut' eilf nit Isbsn,
ü<in ivirt ir uralten wiäsr Mbcm,
Ä»s voUc Fvvinnst si u,i)ör (wieder) Uod uM port,
ivcisr man ir Isrsn uncl ir drocliAsu bsgsrt.
So rettete die Prophezeiung die Geister aus schwerster Beklemmung durch ein
kühnes Aufschwingen hoch über das Elend des Augenblickes hinaus; ein Vor¬
schauen von innen heraus zeigte der Zeit das Bild der Welt, wie sie sein sollte,
werden mußte, gleichsam in die Wolken gemalt mit Gold und Silber und Morgen¬
rot. Das Nachwirken dieser Prophezeiung aus dem vierzehnten Jahrhundert ist
bis ins siebzehnten zu erkennen, wo sie die Böhmen auf sich und ihren König
Friedrich von der Pfalz, den sogenannten Winterkönig, anwandten, um sie in ihm
erfüllt zu sehen (s. E. Weller, die Lieder des dreißigjährigen Krieges S. 34,
47, 104); wie vielen Tausenden sonst mag sie in schwerer Lage den sinkenden
Mut, die erlahmende Kraft wiedergegeben haben, wie uns manchmal, zuweilen
gerade in schlimmster Lage, ein schöner Traum ermutigt und auch durch einen
schweren Tag begleitet mit seiner Nachwirkung. Träume sind nicht bloß Schäume,
sie können auch unser Bestes aus der Tiefe heraufholen, besser oft, als es das
wache Bewußtsein fertig bringt. Und es giebt auch nationale Träume solcher
Art, im Leben der Völker nicht zu missen. Propheten, Weise, Dichter malen
oder legen sie aus, Staatsmänner, Fürsten, Helden führen sie aus, wenn die
Zeit dazu kommt. Wir haben es ja erlebt im größten Stile an zwei Völkern
in Europa, wir selbst darunter, und können nun wohl auch auf alte Propheten¬
träume, wie dieser, der sich um den Namen Friedrich bildete, mit aller Achtung
und Freude zurückblicken, ja uns selbst noch dran erbauen, im Mut erhöhen.
Um ein Jahrhundert später erscheinen Prophetenträume in andrer Form,
der harten Wirklichkeit nüchtern näher, doch auch mit großem Ziel und Auf¬
schwung. Die alte Gährung der Geister und der Verhältnisse in Reich und
Kirche war zu einer Stärke gediehen, daß alles nach einer tiefgreifenden Reform,
einer rskorraatio, einer Neubildung rief oder schrie. In Kaiser Sigismund
(richtiger Sigmund) fand die Bewegung einen Mann, der sie, an der rechten
Stelle stehend, zu lenken beschloß, wenn er auch später davon zurückkam, und
man kam ihm dabei mit einer Begeisterung entgegen, die das Beste versprach.
Auf dem Costnitzer Concil, wo er dem Kirchenschisma ein Ende machte,
wurde er als der berufene Verjünger der alternden Welt, als neuer Moses
gefeiert (F. von Bezold in den Göttinger Gelehrten Anzeigen 1876 2, 1230).
Und sofort rückte er damit in den Nahmen der über diesen Hoffnungen schwe¬
benden, glänzenden Friedrichsgestalt ein, eine Kölner Chronik vom Jahre 1499
giebt geradezu an, er habe bei der Kaiserkrönung den Namen Friedrich erhalten
(daselbst), auch die Gewinnung des heiligen Grabes prophezeite man ihm. Daß
er dabei selbst an Sibyllen Weissagung dachte, wie alle Welt, und an seine
Stellung dazu, ist bezeugt durch die merkwürdige Äußerung, er selbst zwar sei
kein Friedrich, aber es werde ihm bald ein Kaiser Friedrich nachfolgen. Er
meinte aber einen bestimmten Mann, einen Fürsten, den er schon in seine Nähe
gezogen und mitten in die Reichsangelegenheiten versetzt hatte, den Burggrafen
Friedrich von Nürnberg, aus dem Hohenzollernstamm, dem er die Branden¬
burger Mark mit der Kurwürde übergeben hatte, er erwartete von ihm die
Vollendung des begonnenen Werkes der Neubildung des Reiches.*) So prophe-
zene der Kaiser selbst, auf den man die Prophezeiung bezog, über sich hinaus,
aber auch in großer Zeitnähe. Eintreffen sollte es erst Jahrhunderte später,
wirklich durch Friedriche aus dem Brandenburger Hause.
Die mit Sigmunds Auftreten aufgeregten Hoffnungen und Forderungen
nahmen scharf ausgeprägte Gestalt an in einer Flugschrift, die geradezu unter
dem Namen Reformation des Kaisers Sigmund geht, den man ihr schon im fünf¬
zehnten Jahrhundert gab, obschon nicht der Verfasser selbst.*) Sie ist geschrieben
vermutlich im Jahre 1438 gleich nach des Kaisers Tode (Bezold a. a. O. 1226)
und scheint gedacht als sein Testament an die Zeit, daß die großen Pläne zur
Ausführung kämen. Er selbst tritt darin auf und berichtet von einem wachen
Traum, den er zwischen Nacht und Morgen gehabt, wie eine Stimme ihn zu
dem Werke berufen habe, der göttlichen Ordnung einen Weg zu bereiten, aber
doch nur als „wegberaiter des. der nach dir komen sol" (S. 242). Dieser aber
ist ein Priester, der Friedrich von Lantnaw genannt wird, d. h. niemand als
der Verfasser selbst, Friedrich Reiser mit Namen, also auch ein Friedrich, wie
der neue Markgraf von Brandenburg, aber ein Mann aus dem Volke. Er
giebt aber an, der Kaiser habe mit ihm geredet, und zwar in Basel (S. 244),
doch wohl auf dem Concil, nennt sich auch seinen Rat (S. 171), und so viel
Phantasterei in der Schrift des aufgeregten Geistes mit unterläuft, wäre das
doch nicht anders, als wie man von Kaiser Maximilian weiß, daß er gelegent¬
lich bedeutende Männer zu sich beschied, z. B. Kaisersberg, Murner, um ihre
Meinung über die Zeitfragen zu hören. In Friedrich Reihers Schrift spricht
neben aller Schwärmerei die Not der Zeit, wie sie durch herangewachsene Mi߬
verhältnisse, besonders auch den Mißbrauch der Gewalt von oben, fast allen
Ständen auferlegt war. Die Prophezeiung nimmt zugleich die Form der For¬
derung an, der selbst die Drohung mit dem Schwert nicht fehlt, und greift so
tief und umfassend in die Wirklichkeit herunter, daß z. B. außer gründlicher
Änderung in dem Elend des Zoll-, Münz- und Geleitswesens auch die Her¬
stellung guter Straßen für den Handel, die Bestellung wenigstens eines stu-
dirten Arztes in jeder Reichsstadt, die Aufhebung des Zunftwesens und der
Leibeigenschaft gefordert werden. Man fühlt recht, wie es Zeit war, daß das
Prophezeien aus den Wolken der Zukunft auf den verwüsteten Boden der Wirk¬
lichkeit herunterstieg, daß es aus tröstenden Vorschauen in Zugreifen und harte
Arbeit überging. Freilich eine Arbeit von Jahrhunderten, mit der wir noch
zu thun haben, so viel schon aufgeräumt ist und neu gebaut und gepflanzt wird.
Neben dieser Stimme aus dem Volke, aus dem gährenden Drange der
Lage von unten erklingt in derselben Zeit in wesentlich gleicher Richtung eine
Stimme aus der reinen Höhe des Geistes, aber aus großem Sinn und Herzen,
auch von einem Priester, in der Schrift des Nicolaus Cusanus, d. h. von Cues
(an der Mosel) vonoorZg-ulla, og-tlioliog. vom Jahre 1433, d. h. von der gott¬
gewollten und wiederherzustellenden allgemeinen Harmonie (er braucht auch das
Wort Qgrincmig) in und zwischen Kirche und Reich, von der alles Heil im
ganzen und einzelnen abhängt. Die Schrift ist an den Kaiser gerichtet Und an
das zu Basel versammelte Concil, auf dem das Heilmittel für die aufs höchste
gestiegene Not gefunden werden sollte; im dritten der drei Bücher, das vom
Reiche handelt, zeichnet der Verfasser, wie Bezold a. a. O. S. 1219 es aus¬
drückt, „großartig und prophetisch das Idealbild eines einheitlich organisirten,
von Rom unabhängigen Deutschland, in dem sich eine starke Centralgewalt und
eine ausgebildete Vertretung der Einzelstände das Gleichgewicht halten": von
Rom unabhängig, denn der hochgestellte Priester, nachher auch Cardinal, ist
zugleich ein ganzer, rechter Deutscher, dabei Gelehrter und Philosoph recht im
guten, neuen Sinne, eine Leuchte seiner Zeit und des deutschen Geistes über¬
haupt, mit großem Blick auf das Ganze und scharfem Auge für das Einzelne.
So übersieht er auch klar die verkommenen Zustände der Zeit, sieht aber mit
demselben Blick darüber hinaus in einen Zustand, wie er sein könnte und werden
müßte, und zeichnet sein Bild davon, groß wie ein rechter Philosoph und zu¬
gleich ins Einzelne hinein wie ein geübter Staatsmann und Geschäftsmann,
man wird an Leibniz erinnert. Was er aber vor sich sah, wenn es weiter
ginge wie bisher, erfährt man im 32. Capitel: Nortg-Ils niordus imxsrwm
LlsruiMioum, invasit, cui nisi subito Lglutari imtiäoto suvvsnigtur, mors
mantis 86<Mkt>ni', se Hugsretur imxöriuin in Hörnrkmig, et non invonistur loi
<ze xer (Z0QS0<zusn8 alisni ogxient loog. nostrg, se äiviäsntur intyr nos, ot sie
g,1tsri n-Moni sudMismur. Dabei muß an die Franzosen gedacht sein, es ist,
als wäre vorausgesehen, was durch Napoleon wahr werden sollte eine Zeit
lang: das deutsche Reich (wohlbemerkt nicht das römische) dicht vor dem Unter¬
gange, wenn nicht ganz rasch Hilfe gefunden wird, ein andres Volk wird uns
unterwerfen, die Reichsgewalten an sich nehmen und sich herrschend unter uns
verteilen. Und noch ein andrer düsterer Vorblick im 30. Capitel, das von der
reichsvergessenen Selbstsucht der Fürsten handelt, die die Kraft des Reiches zer¬
pflücken (also wie bei Freidank oben im dreizehnten Jahrhundert) und unter einander
hadernd auch sich selbst und die Glieder lahmen: Om-Mtibus omnibus sug.
MAiQ<zntM6, imxsrio g,ä rinn tsuÄontk, quia ssynitur nisi umvörsorum av
struvtio? Es fehlt dem Ganzen die xotvntig, nigM oonssrvgtivg. et og.og.tivg.
imperii, also „conservativ" schon hier, vielleicht neu; merkwürdig übrigens, was
damals der Weise für das Reich verlangte und vermißte, das ist nunmehr,
fünftehalb Jahrhunderte später, das neue Reich, dem wir angehören, für Europa,
die xotontig. oonservativs, <Zt of.og.tivg>. Am Ende des Capitels aber klingt es
dort düster prophezeiend für die Fürsten: Liout vrinoivW iinxerium äövorant,
lo populäres äsvorg.buQt xriuoixks, der gemeine Mann wird die Fürsten ver¬
schlingen, wie diese dem Reiche thun, also wie es dann in den Stürmen von
unten durch den sogenannten Armen Konrad und die Bauernkriege wahr werden
wollte, deren Sturmgeist man schon in der Schrift des Priesters Frieorich
wehen fühlt. Aber die Bauern forderten ja auch eine Erneuerung und Wieder¬
herstellung der zerstörten Reichsordnung und Reichsgewalt, eine gleiche Münze,
gleiches Maß und Gewicht durch das Reich u. s. w.
Im sechzehnten Jahrhundert erhielt der Gang oder besser Stand der Dinge
eine neue Wendung, die stockende Gährung fand eine bestimmte Richtung, in
der die Kräfte sich zusammenfassen konnten zu nahem, hohem Ziele. Es weht
eine Frühlingsluft durch die ersten Zeiten der Bewegung, mit der ein deutscher
Mann, ein Mönch, nun fertig zu bringen schien, was die Concilien mit Kaisern
und Päpsten nicht vermocht hatten, die Reformation, ein deutsches Christentum,
verjüngt aus der reinen Quelle des Evangeliums und der Wirkung des er¬
weckten Gewissens. Und in derselben Zeit war auch ein Augenblick, wo die
Neichsfrage gleichfalls auf neuen Fuß gestellt zu werden schien, indem man nach
Maximilians Abscheiden die Reichsgewalt nach dem Lande verlegen wollte, das
schon seit dem zur Neige gehenden Mittelalter sich wie zu einem neuen Kraft-
und Schwerpunkte für die Zukunft des Reiches herausgebildet hatte, demselben
Lande, von dem die religiöse Reformation ausging ins Reich. Es mußte wohl
dem Volke, vielleicht den Kurfürsten selbst nicht als Zufall erscheinen, daß es
ein Friedrich war, dem sie im Jahre 1519 die Krone des Reiches anbieten
konnten.
Luther selbst setzte den Namen seines Kurfürsten in Beziehung zu der alten
Prophezeiung, obwohl nur im religiösen Sinne, in der Schrift vom Mißbräuche
der Messe vom Jahre 1522 (Jenaer Ausgabe der Schriften 2, 45b): „Ich hab
oft in diesen Landen, als ich ein Kind war, ein Prophecey geHort, Kaiser
Friderich würde das heilige Grab erlösen, und wie denn der Propheceien art
und natur ist, das sie ehe erfüllet, denn verstanden werden, so sehen sie allzeit
anderswo hin, deun die wort für der Welt lauten. Also deucht mich auch,
das diese Prophecey in diesem unserm Fürsten Herzog Friderichen zu Sachsen
erfüllet sey. Denn was turnen wir für ein ander heilig Grab verstehen, denn
die heilige Schrift, darinnen die warheit Christi durch die Papisten getödtet,
begraben gelegen u. s. w. Denn nach dem Grab, da der Herr in gelegen hat,
welchs die Saracen inne haben, fragt Gott gleich so viel, als nach allen Kner
von Schweiz." Der Fürst, heißt es weiter, sei doch in Frankfurt von den Kur¬
fürsten einträchtiglich als Kaiser gewählt worden und wäre es, wenn er gewollt
hätte, sich selbst aber denkt er, fragweise hingeworfen, als Engel bei dem Grabe,
also als gottbestellten Hüter der evangelischen Wahrheit. Der Gedanke wurde
in einem Liede verarbeitet, das sich „ein neuer Bergreye von der Sibilla
Weissagung" nennt (Uhlands Volkslieder Ur. 353). Aber auch Luther selbst
wurde als der rettende Friedrich aufgefaßt, man deutete den in Sigmunds Re¬
formation prophezeiten Priester Friedrich auf libr (Bezold a. a. O. S. 1221).
Es hat etwas tief Rührendes, dies Festhalten an einem Hoffnungsfaden, einem
Faden in einer Spinnewebe gleich, aber fortgesponnen in den Geistern an einem
Namen, der alle Not überleuchtete. Und die Hoffnung sollte ja nicht täuschen,
wenn auch die Not sich noch lange mit fortspann in wirrem Gewebe.
Von Luther selbst ist über Deutschlands politischen Stand eine Äußerung
glücklich aufgezeichnet, die gar nicht mittelalterlich mehr, sondern recht modern
klingt, in seinen Tischreden (Frankfurt 1571 395 d. Förstemanns Ausgabe 4, 662,
auch in der Auswahl von Friedr. v. Schmidt, Leipzig, Reclam, S. 371): „Teutsch¬
land ist wie ein schöner weiblicher Hengst, der Futter und alles genug hat,
was er bedarf, es fehlet ihm aber an einem Reuter. Gleich nun wie ein stark
Pferd on einen Reuter, der es regiert, hiu und wider in die irre lauft, also
ist auch Teutschland mechtig genug von Sterke und Leuten, es mangelt ihm
aber an einem guten Haupt und Regenten." Anwendung auf das, was wir
nun über dreihundert Jahre später erlebt haben, ist auszusprechen nicht nötig.
Mir wars aber, als müßte Bismarck auf alle Fälle von Luthers Worten
wissen, so hab ich mir denn einmal erlaubt, sie ihm als Neujahrsgruß zuzu¬
schicken. Von ihm selbst weiß man ein anklingendes Wort, in dem er aber,
man könnte sagen bescheiden, Deutschland selber zum Reiter macht: „Setzen wir
nur Deutschland in den Sattel, reiten wird es schon können."
Auch im siebzehnten Jahrhundert, in der Zeit des größten deutschen Elends,
konnte das Prophezeien nicht fehlen; mitten in der entsetzlichen Ernüchterung
gegenüber der Blütezeit des vorherigen Jahrhunderts glich es mehr als je dem
Brete, an das sich der Ertrinkende klammert, um über Wasser zu bleiben.
Wenn es im sechzehnten Jahrhundert auf bestem Wege war, daß sich ganz
Deutschland um die Stimme des Propheten sammelte, um zunächst die religiöse
Reformation durchzusetzen, so gab eben diese nun den Anstoß dazu, daß die po¬
litischen Kräfte gegen und durch einander gingen in einem Kampfe der Ver¬
nichtung und Verwüstung, daß die altersehnte Reformation unter Mitwirkung
des Auslandes zu einer allgemeinen Zerstörung zu werden drohte. Und doch
blühte in derselben Zeit in der Litteratur eine neue Geisteswelt auf, auch
eine Reformation, die für die Gesamtreformation selbst die Führung übernehmen
sollte.
Das patriotische Prophezeien erscheint groß und eigenartig bei Christoph
von Grimmelshausen, mit eigentümlicher Mischung von Ideen, die der Ver¬
gangenheit, und solchen, die der Zukunft zugekehrt sind, dabei in dem köstlichen
Tone, der dem merkwürdigen Manne zu Gebote steht, jener Mischung von
ganzem, großem Ernste, wie ihn die Zeit nährte, und freiem Humor, wie sie
ihn in gesunden Geistern gerade auch wach rief, einem heiter in sich selbst
ruhenden Sinne, der über die Greuel und Ängste der Zeit frei hinweg schwamm.
Diesen Ton zeigen gerade auch die beiden Capitel des Simplicissimus. die
von dem deutschen Helden der Zukunft handeln, das vierte und fünfte des
dritten Buches. Grimmelshauscn braucht das feine Kunstmittel, das Traum¬
bild von einem halb Irren ausgehen zu lassen, der sich für einen Gott hält,
auf die Welt heruntergekommen, um nach ihrem Elende und der Abhilfe zu
sehen. Simplex trifft ihn im Walde, mit sich selbst redend: „Ich will einmal
die Welt strafen, es wolle mirs dann das große Ruinen nicht zugeben"; er er¬
kennt in ihm „einen ErzPhantasten, der sich überstudiret und sonderlich in der
Poeterey gewaltig verstiegen (d. h. bis in den Olymp hinauf), dann da er bei
mir ein wenig erwarmete, gab er sich vor den Gott Jupiter aus." Es geht
einen schwer an, die köstliche Ausführung der Verhandlung zwischen beiden zu-
sammenzuschneiden, die fortwährend zwischen tiefem Ernste und heiterer Laune
spielt. Jupiter verkündet: „Ich will einen Teutschen Held erwecken, der soll
alles mit der Schärfe des Schwertes vollenden; er wird alle verruchte Menschen
umbringen und die fromme erhalten und erhöhen": mit der Schärfe des Schwertes,
das lag ja der blutigen Zeit nahe genug. Der Held erscheint aber zugleich
noch als der in Sibyllen Weissagung Verheißene, der das jüngste Gericht ein¬
leiten oder vollziehen sollte und damit die Erneuerung der Welt mit allgemeinem
Frieden und Einigung im Glauben. Er heißt zwar nicht mehr Friedrich, wie
auch vom heiligen Lande und dem wunderbaren Gerichtsbaume nun nicht mehr
die Rede ist, aber er ist im Kern immer noch der Friedrich der alten Propheten¬
träume. Reif für das jüngste Gericht wäre diese Welt, das ist als Grimmels-
hausens Stimmung hindurch erkennbar (kommen doch bei Goethe ähnliche Ge¬
danken vor). Auf die Einwendung des Simplex, daß ja das wieder nur Krieg
gebe, dessen Greuel man genug habe, heißt es: „Ich will einen solchen Held
schicken, der keinen Soldaten bedarf und doch die ganze Welt reformiren soll,"
reformiren, das Wort aus dem fünfzehnten Jahrhundert her. Der Held wird
dann lange geschildert als eine außen und innen glänzende Erscheinung, als ein
Gewaltiger an leiblichen und geistigen Gaben, daß einem Wohl wird, ihn auch
nur in Gedanken vor sich zu sehen. Er ist auch mit einem wunderbaren Schwerte
ausgerüstet, das ihm Vulcan schmiedet und das ihm alle Beihilfe weiterer Ge¬
walt überflüssig macht, Jupiters Donnerkeil ähnlich, eine Erfindung, würdig
der Romantiker oder der Propheten des vierzehnten Jahrhunderts. „Zu letzt
wird er den größten Potentaten in der Welt befehlen und die Negierung über
Meer und Erden so löblich anstellen, daß beides, Götter und Menschen, ein
Wohlgefallen darob haben sollen."
Denn auch das alte Bild vom römischen Weltreich in deutscher Hand
liegt noch dem Ganzen zu Grunde, es konnte nicht so bald sterben, so groß
war es. Es heißt ausdrücklich, da Simplex auf den Widerstand der gegebenen
Verhältnisse verweist: „Die Könige in Engelland, Schweden und Dennemark
werden, weil sie Teutschen Geblüts und Herkommens, der in Hispmna, Frank-
reich und Portugall aber, weil die alte Teutschen selbige Länder hiebevor auch
eingenonimen und regieret haben, ihre Kronen von der Teutschen Nation aus
freien Stücken zu Lehen empfangen, und alsdann wird wie zu Augusti Zeiten
ein ewiger beständiger Friede zwischen allen Völkern in der ganzen Welt sein":
ein wundersames Traumbild, zumal mit dem grausigen großen Kriege als
Hintergrund, aber eben dieser trieb als Gegensatz dies Traumbild heraus als
Trost in den Wolken erscheinend. Daß auch in dem geträumten Verhältnis
von Europa zu Deutschland ein ernster Kern enthalten ist, wird durch deu
Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Bewußtsein der Zeit erkennbar. Man
weidete sich damals, im Beginn des sprachvergleichenden geschichtlichen Denkens,
an der Einheit der Sprachen und des Geblüts der germanischen Völker, man
stärkte sich daran in dem mitten in allem Jammer neu aufsteigenden deutschen
Selbstbewußtsein, und hier leuchtet aus der neuen Erkenntnis ein ahnender
Gedanke auf: wenn diese Einheit das Ursprüngliche ist, muß sie wohl auch
wiederkommen in der Zeit der Vollendung, wo die deutsche Nation (denn diese
ist gemeint, nicht das Kaisertum) als Lehnsherrin von Europa Allen den
ewigen Frieden verbürgen wird.
Der närrische Jupiter denkt aber auch an die harte Gegenwart und greift
mit großen Zukunftsgedanken ein. Nach dem großen Gericht wird der teutsche
Held „von jeder Stadt durch ganz Teutschland zween von den klügsten und
gelehrtesten Männern zu sich nehmen, aus denselben ein Parlament machen,
die Städte miteinander auf ewig vereinigen (von den Fürsten ist keine Rede),
die Leibeigenschaften samt allen Zöllen, Accisen, Zinsen u. s. w. aufheben und
solche Anstalten (Einrichtungen) machen, daß man von . . . keiner Beschwerung
beim Volk mehr wissen, sondern viel seliger als in den Elysischen Feldern
leben wird." Ja Jupiter selbst will dann mit dem ganzen Chorus der Götter
zu den Deutschen heruntersteigen, „mich unter ihren Weinstöcken und Feigen¬
bäumen zu ergötzen," biblisch traumhaft gedacht. Auch an die Bewegung denkt
er, in der damals und noch auf lange hin die Geister ihren nächsten Hoffnungs-
stern glänzen sahen, an die durch Opitz angeregte. Da einmal die Götter in
Deutschland sich ansiedeln werden (von denen ja die Dichter und Reimer so
viel sangen und redeten, die Maler malten u. s. w.), will er auch den Helieou
nach Deutschland versetzen und die Musen von neuem darauf pflanzen, ein
traumhafter Ausdruck für das Ziel, das man sich im Wetteifer mit den Ita¬
lienern, Franzosen u. s. w. als höchstes gesteckt hatte: aus Deutschland ein neues
Kunst-Griechenland zu machen, ein Ziel, das ja treibend und lockend gewirkt
hat eigentlich bis es durch die Romantiker von einem andern abgelöst wurde.*)
Köstlich ist zwischen Ernst und Spiel schwebend und giebt dem Gedanken doch
noch seine beste Kraft, wenn Jupiter zusagt: „Die Griechische Sprache werde
ich alsdann verschwören und nur Teutsch reden, und mit einem Wort mich so
gut Teutsch erzeigen, daß ich ihnen auch endlich, wie vor diesem den Römern,
die Beherrschung über die ganze Welt werde ankommen lassen," also Deutsch¬
land in der verjüngten seligen Welt als Griechenland und Rom in einem
gedacht, die Königin an Bildung und Macht, alles Beste und Höchste, was
die Welt gesehen, in ihm gesammelt und vertreten. Auch darin steckt mehr
Ernst, als zunächst scheinen mag, war das doch auch das stille Strebeziel in
Frankreich und auch in Italien. Ganzer Ernst aber steht hinter Jupiters
Zusage, dann nur deutsch zu reden, das fließt aus dem Selbstgefühl, zu dem
man sich, eben mitten in der Zeit, als die deutsche Sprache im Munde der
alamodisch Gesinnten (die jetzt noch nicht ausgestorben sind) zu einem bunt¬
scheckigen Bettlersmantel wurde, an ihrem nähern Studium in der Studierstube
erhöht hatte; der Fund oder Gedanke war ein Hauptanhalt für die beklemmten
patriotischen Geister, daß die deutsche Sprache von allen lebenden Sprachen
die herrlichste sei. Die Franzosen sonnten sich an dem Gedanken, auf ihre
Sprache angewandt, und halb Europa stimmte bei, die Deutschen rafften
kämpfend und ringend daran ihren Mut auf für eine bessere, große Zukunft.
Simplex sagt nichts zu der Versetzung des Helicon in die deutschen Grenzen,
scheint also damit einverstanden, wirft aber eine nüchterne politische Zwischen¬
frage ein: „Höchster Jupiter, was werden aber Fürsten und Herren dazu sagen,
wann sich der künftige Held unterstehet, ihnen das Ihrige so unrechtmäßiger
Weis abzunehmen und den Städten zu unterwerfen?" Damit ist aber Jupiter
rasch fertig. Darum wird sich der Held wenig bekümmern; er wird die schlechten
vertilgen, den andern die Wahl geben, im Lande zu bleiben oder nicht, aber
„was bleibet und sein Vaterland liebet, die werden leben müssen, wie andre
gemeine Leute" u. s. w. Also ein Aufräumen mit allen Fürsten und Herren,
glücklich nur einem Narren in den Kopf und Mund gelegt, aber mit einem
tiefernsten Hintergrunde, der schon im fünfzehnten Jahrhundert in jener Refor¬
mation des Kaisers Sigmund, ja bei Nicolaus Cuscmus zu erkennen ist, wo
nicht schon in dem Gedanken Freidanks aus dem dreizehnten Jahrhundert.
Vom deutschen Kaiser auch ist gar nicht die Rede, der deutsche Held steht an
seiner Stelle, wohl aber vom römischen, im alten Sinne. Der deutsche Held
wird nämlich „Constantinopel in einem Tage einnehmen und allen Türken, die
sich nicht bekehren oder gehorsamen werden, die Köpfe vor den Hintern legen -
daselbst wird er das Römische Kaisertum wieder aufrichten und sich dann wieder
in Teutschland begeben" u. s. w., also der römische Kaiser nun aus Deutschland
hinaus und wieder nach Konstantinopel gesetzt, um von da aus sein von den
Türken abgebrochenes Amt als christliche Vormacht des Morgenlandes wieder
anzutreten, ein Amt, das denn nunmehr der russische Zar übernehmen will
oder soll, während bei Grimmelshcmsen von Rußland gar nicht die Rede ist,
das lag da noch über den europäischen Gedankenkreis hinaus.
Aber noch eins fehlt in dem Zukunftsbilde, das Wichtigste, die Religions¬
frage. Ihr ist das fünfte Capitel gewidmet, sie erfordert noch mehr traum¬
haften Aufschwung, als das vierte Capitel brauchte, und wird eigncrweise ein¬
geleitet durch einen starken Anlauf von Humor, selbst bis in Derbheit hinein,
als wollte sich der Verfasser vor dem Leser und sich selbst sicher stellen, daß
er sich des Träumers gar wohl bewußt war. Simplex rückt mit der Frage
heraus: „Wie wird aber Teutschland bei so unterschiedlichen Religionen einen
so langwierigen Frieden haben können? werden so unterschiedliche Pfaffen nicht
die Ihrige Hetzen und wegen ihres Glaubens wiederum einen neuen Krieg über
den andern anspinnen?" „O nein!" sagte Jupiter, „mein Held wird dieser
Sorge weislich vorkommen und vor alleu Dingen alle Christliche Religionen
in der ganzen Welt mit einander vereinigen." Und da der Frager an das
Wunder nicht glauben will, entwickelt Jupiter seinen Plan. Sein Held werde
die nach dem Universalfrieden versammelten geistlichen und weltlichen Häupter
der christlichen Völker und Kirchen durch einen „sehr beweglichen Sermon"
dahin zu bringen wissen, „daß sie von sich selbst eine allgemeine Vereinigung
wünschen" und seiner „hohen Vernunft" die Leitung des Werkes übergeben
werden. Dann wird er „die allergeistreichste, gelahrteste und frömmste Theo¬
logos" von allen Religionen zusammenbringen, daß sie in frei behaglichster
Lage die streitigen Fragen behandeln und beilegen und „mit rechter Einhellig¬
keit die rechte, wahre, heilige und Christliche Religion, der heiligen Schrift,
der uralten Tradition und der probirten heiligen Väter Meinung gemäß
schriftlich verfassen sollen." Freilich wird sich der Teufel (er heißt Pluto)
dabei gewaltig hintern Ohren kratzen und seine ganze Macht dagegen loslassen,
aber der Held wird, „so lang dieses Concilium währet, in der ganzen Christen¬
heit alle Glocken läuten und das Christliche Volk zum Gebet an das höchste
Ruinen unablässig anmahnen und um Sendung des Geistes der Wahrheit bitten
lassen." Also so spät noch einmal der alte Gedanke der Concilien, auch in der
zu erzielenden Einhelligkeit, die allein die Wahrheit durch den heiligen Geist,
der ja nur einer ist, verbürgen, herzustellen auf Grundlage der heiligen Schrift
und der echten Tradition, also mit versöhnender Vereinigung der lutherischen
und katholischen Grundsätze (vom Papst ist nicht die Rede), wie sie dann
im vollen Ernst z. B. Leibniz anstrebte. Ja aber eben diese Einhelligkeit! Der
Held wird sie im Notfall erzwingen, sie muß ja werden. „Wann er merken
würde, daß sich einer oder ander vom Plutone einnehmen läßt, so wird er die
ganze Congregcition wie in einem Conclave ^d. h. bei der Papstwahl) mit
Hunger quälen, und wann sie noch nicht daran wollen, ein so hohes Werk zu
befördern, so wird er ihnen allen vom Hängen predigen oder ihnen sein wunder-
barlich Schwert weisen" u. s. w. Mag man über den Einfall, der noch nach
dem aufgeregten und erbitterten Geiste des Priesters im fünfzehnten Jahrhundert
schmeckt, lachen oder sich ärgern, auf alle Fälle durfte ein Narr im siebzehnten
Jahrhundert unter der Angst der Zeit und der Bitterkeit der Stimmung so
träumen und damit mehr als Narr sein, der Kern des Traumes ist weder zum
Lachen noch zum Ärgern, er war und bleibt wohl träumenswert. Was hier
von dem Zwange des gottgesandten Helden erwartet wird, das kam im acht¬
zehnten Jahrhundert doch in Gang durch den Zwang der Bildung und Sinnes¬
erhöhung und Ausweitung, die, darin zugleich echt christlich, allgemeine Menschen¬
liebe als höchstes Wort leuchtend an den Gedankenhimmel setzte. Wie es jetzt
auch damit anders steht, wo es für so viele wohl noch eine Gedankenwelt, auch
eine reichere als früher, aber keinen Gedankenhimmel drüber mehr giebt, man
wird darauf doch zurückkommen, man wird eben auch müssen.
(Fortsetzung folgt.)
achten ein Menschenalter seit den ersten fünfziger Jahren ver¬
gangen ist, lernen wir allmählich einsehen, welche frische, hoff¬
nungsreiche und leistungsfähige Zeit damals über der deutscheu
Litteratur aufgegangen war. Es waren die Tage, in denen eine
Reihe der besten und dabei grundverschiedensten Talente, deren
Anfänge noch in die vierziger Jahre fielen, Männer wie Friedrich Hebbel,
Gustav Freytag, Emanuel Geibel, in die Periode ihrer Reife traten, die Tage,
wo Otto Ludwigs Dramen und Erzählungen, Gottfried Kellers „Grüner
Heinrich" und „Leute von Seldwyla." Paul Heyses und Theodor Storms erste
Dichtungen erschienen. Man kann nicht sagen, daß alle diese vielverheißenden
und in ihrer Art vortrefflichen Schöpfungen begeistert aufgenommen und ge¬
würdigt worden wären, die Tageskritik vermißte meist in ihnen den tendenziösen
und publizistischen Beigeschmack, an den man sich in der Periode der jungdeutschen
Belletristik und der politischen Poesie gewöhnt hatte. Aber dreißig bis fttnf-
unddreißig Jahre, in denen unermeßlich viel, doch wenig besseres geschrieben
worden ist, haben hingereicht, das Bild jener Litteraturpcriode in eine wesentlich
andre und günstigere Beleuchtung zu rücken. Unter den einzelnen, die jenen
kurzen, vielversprechenden Aufschwung mit herbeiführten, hat durch seine Per¬
sönlichkeit, seine Leistungen und sein Schicksal keiner stärkere Teilnahme er¬
regt und verdient als der Dichter des „Erbförsters" und der „Makkabäer," der
Verfasser der kühn realistischen und doch so poetisch tiefen Erzählung „Zwischen
Himmel und Erde." Es gewinnt immer einmal wieder den Anschein, als
wollte die rasch lebende Gegenwart diesen einsamen aber lebensvoll kräftigen
Dichter vergessen und an die verhängnisvolle literarhistorische Unsterblichkeit
verweisen. Dann zeigt sich aber doch wieder, daß die Thüringer Naturen eine
geheime, still weiterwirkende Anziehungskraft ausüben, daß die hochragenden und
wahrhaft lebendigen dramatischen Gestalten Ludwigs von Zeit zu Zeit einen
oder einige Darsteller begeistern. Erst letzten Winter sind die „Makkabäer"
im Berliner Deutschen Theater neu aufgeführt worden, ohne daß die Mehr¬
zahl der Zuschauer nur eine Ahnung davon gehabt hätte, wie alt das für sie
neue Drama ist, und daß es genau fünfunddreißig Jahre früher mit Frau
Crelinger in der Rolle der Lea am königlichen Hoftheater gegeben worden ist.
Das Publikum und — mit einigen Ausnahmen — auch die Kritiker setzten
damals der großangelegten und trotz ihrer Mängel wahrhaft überwältigenden
Tragödie nicht sowohl ein Urteil, als die bekannte Schnoddrigkeit entgegen, die
in diesem Falle in dem Ausspruche gipfelte: „Das macht sich doch schlecht, wenn
Hendrichs mit einem toten Löwenvieh ankommt." Fünfunddreißig Jahre haben
hingereicht, um die Meinung über die „Makkabäer" auf bessere Grundlagen zu
stellen. Diesmal waren diejenigen Kritiker die Ausnahmen, welche, das große
und lebensvolle Talent Ludwigs ableugnend und verkennend, von der Tragödie
anders als mit warmer Bewunderung sprachen. Mit allem schuldigen Respekt
vor der Begabung und dem Streben Ernst von Wildenbruchs, Richard Vossens
oder Arthur Fitgers mußte man sich doch eingestehen, daß keines der Talente
des jüngsten Jahrzehnts an die Phantasie, die Gestaltungs- und Bildkraft
Otto Ludwigs heranreiche. Voraussichtlich werden die „Makkabäer" auch im
nächsten Jahre in der Reichshauptstadt wieder aufgeführt werden, ein paar der
größern Theater mögen daran den Mut gewinnen, auch ihrerseits einmal wieder
eine neuere Tragödie großen Stils zu verkörpern, in Wien sind die „Makka¬
bäer" ebenso wie der „Erbförster" überhaupt niemals aus dem Repertoire des
Hofburgtheaters verschwunden. Jedenfalls ist der Augenblick gekommen, das
Interesse aller, für welche die Litteratur, die Dichtung nicht eins ist mit Zeitung
und Zeitungsfeuilleton, für Otto Ludwig neu anzuregen.
Bis jetzt ist noch keineswegs alles veröffentlicht, was Otto Ludwig ge¬
schaffen hat. Selbst bei der strengsten Scheidung des in sich Vollendeten und
wahrhaft Bedeutende» von dem jugendlich Umreisen und Unfertigen bleibt eine
Reihe wertvoller poetischer Erzeugnisse Ludwigs übrig, die zur Sammlung
seiner Werke nicht hinzugenommen worden sind und doch das Bild seiner Ent-
Wicklung vervollständigen, die Teilnahme für die Eigenart seines Geistes erhöhen.
Zu dem Unveröffentlichten, absolut Unbekannten gehört namentlich der größte
Teil seiner Lyrik. Otto Ludwig hatte in frühester Jugend begonnen, Empfin¬
dungen und Träume, Natureindrttcke und Betrachtungen in lyrische Formen zu
kleiden, und in dieser Jugendlyrik mischen sich eigne Töne mit Nachklänge» seiner
Lieblingsdichter. Mit der beginnenden Reife aber und der bestimmten Erkenntnis
seines poetischen Berufes richtete sich Ludwigs Verlangen so ausschließlich auf
lebendige Gestaltung, daß er Vertiefung und sprachliche Meisterschaft als Lyriker
gar nicht mehr erstrebte. Nur in einzelnen Stunden und Augenblicken, von
einem Gefühl und einer Stimmung überwältigt, schrieb er noch lyrische Gedichte.
Mit der Niederschrift war die Sache für ihn abgethan, er dachte nicht an Ver¬
öffentlichung seiner Gedichte, der Vollendungsdrang war indessen mächtig genug,
um ihn, wenn sie ihm gelegentlich wieder vor Augen kamen, zu Überarbeitungen
und einzelnen Verbesserungen zu bewegen. Mehr als eins der spätern Gedichte
ist daher in doppelter Fassung vorhanden; in den meisten Fällen blieb es jedoch
bei der ersten Aufzeichnung. Es würde durchaus wider den Sinn und die fast
herbe Selbstkritik des Dichters sein, wenn etwa der Versuch gemacht werden
sollte, die sämtlichen lyrischen Blätter und Bruchstücke seines Nachlasses ans
Tageslicht zu ziehen. Nur so weit sie entweder vollendet schön sind oder einer
tieferen Wert als Zeugnisse der Empfindungen und Gesinnungen Ludwigs besitzen,
wird eine künftige Gesamtausgabe der Werke Otto Ludwigs sie zu berücksich¬
tigen haben.
Als Zeugnisse der letztgedachten Art müssen die wenigen Dichtungen an¬
gesehen werden, mit denen sich Ludwig der politischen Lyrik der vierziger Jahre
angeschlossen hat. Auch in ihnen bekundet sich die Gesundheit seines Geistes,
die Tiefe seiner vaterländischen Empfindung. Wie eine prophetische Vorahnung
geht es durch diese Gedichte hindurch, daß der eigentliche Jammer Deutschlands
die Zerrissenheit und die Ohr-macht dem Auslande gegenüber sei. Seine Lyrik
erhebt sich hier zu den stärksten Lauten vaterländischen Zornes, heißer Sehnsucht
und Leidenschaft. Als der Märzsturm des Jahres 1848 hereinbricht, erfaßt
er auch unsern Dichter, lenzfreudige Erwartung und Hoffnung braust durch ein
Gedicht vom 9. März 1848. Es ist überschrieben „Die erste Lerche" und lautet:
Diese jubelnde, hoffnungsselige Stimmung hielt aber nicht lange an, konnte
nicht dauern. Wer die andächtige, weihevolle Empfindung in diesem Freiheits¬
liebe Ludwigs mit dem Gebahren der Demokratie des Sommers von 1348 ver¬
gleicht, namentlich der thüringischen und sächsischen, die der Dichter aus eigner
Anschauung kennen lernte, der sagt sich selbst, daß er mit dem wunderlichen
Spuk, der im Namen der neuen Freiheit bei Hellem Tage aufgeführt wurde,
nichts gemein haben konnte. In Ludwigs Seele lebte vor allem das vater¬
ländische Pathos, er empfand nichts tiefer als die Schmach der Zersplitterung
und die geringe Aussicht, diese durch die Bewegung des Jahres geendet zu
sehen. Mit schmerzlichem Ingrimm läßt er in dem Gedichte „Deutschlands
Einheit" den Kaiser Friedrich Notbart reden:
Die gleiche Empfindung spricht das Gedicht „O Deutschland" aus:
Und immer heißer, leidenschaftlicher zeigt sich der Schmerz des Dichters um die
allgemeine Lage Deutschlands, immer klarer wird es ihm, daß der eine Mann
fehlt, der den großen Gedanken des Vaterlandes nicht bloß denken, der ihn in
die Wirklichkeit übersetzen kann. Aus tiefster Seele ruft er da:
Dem edeln und ernsten Dichter ist es nicht vergönnt gewesen, die große
Wandlung im Geschicke des Vaterlandes zu erleben, auf die er doch mit gläubiger
Zuversicht gebaut, deren Herbeiführung durch ein „großes Herz" er voraus ge¬
ahnt hat. In dem poetischen Nachlasse Ludwigs finden sich hinreichende
Proben, daß der Dichter gelegentlich auch ansetzte, um der bittern Enttäuschung,
die ihn um 1850 überfiel, satirischen, epigrammatischen Ausdruck zu geben. Aber
seine Natur widerstrebte dem, und er hüllte sich in jene schweigende Resignation
für den Augenblick, die doch eine unerschütterliche Hoffnung auf die Zukunft
mit einschließt.
Die politische Lyrik war nur eine kurze Episode in seinem Dichterleben,
aber kräftig, männlich, klar und tief, wie Ludwig überall war. zeigt er sich auch
hier. Jedenfalls verdienen die mitgeteilten politischen Gedichte einer vollstän¬
digen Sammlung seiner Werke einverleibt zu werden.
ber lieber Amtsrat, Sie reden ja wie der reine Eugen. Wenn wir
alles sterben lassen wollen, was nicht leben kann, so geht die ganze
Landwirtschaft zum Teufel und — Pardon — Sie mit.
Herr Regierungsrat, ich rede nicht von allem, sondern nur von
faulen Zuckerfabriken. Sie werden mir wohl glauben, daß ich eben
so gut wie jeder andre lieber eine Mark fünfzig als achtzig Pfen¬
nige für den Zentner nehme; aber das Gute haben die schlechten Preise wenigstens,
daß Klarheit in die Situation kommt, und daß mit den faulen Existenzen aufge¬
räumt wird.
Damit Ihre und andre starke Fabriken die Konkurrenz los werden und desto
fettere Dividenden zahlen können. Das ist es ja eben, was ich meine, daß ganz be¬
sonders in kritischen Zeiten der wirtschaftlich schwächere von dem wirtschaftlich stär¬
kern aufgezehrt wird. Aber jede vou dem großen Besitz ausgesogene kleine Existenz
bedeutet einen Verlust für den Staat. Der Staat hat die Pflicht, dafür zu sorgen,
daß ihm die breite Grundlage des bäuerlichen Besitzes nicht verkürzt wird. Ich
begreife wirklich nicht, daß ganz konservative Leute wie Sie, lieber Amtsrat, das
nicht auf den ersten Blick einsehen. Die Sache ist doch ganz einfach. Daß die
Bauern Zuckerbarone werden, Klaviere anschaffen und ihre Töchter in Pensionen
schicken, ist allerdings nicht nötig; aber der Preis darf nicht bis unter die
Grenze der Produktionskosten sinken. Wird der Preis des Zuckers — etwa durch
ausländische Konkurrenz — bis unter diese Grenze herabgedrückt, müssen die Fa¬
briken mit Unterbilanz arbeiten, so darf sich der Staat nicht daneben stellen und ab¬
warten, was leben kann und was nicht, er muß seine Gesetzgebung als Regulator
einfügen.
Schön, meinte der Herr Kreisbaumeister, der am Nebentische an einem Pro¬
tokoll schrieb, aber wo liegt denn diese Grenze? In Schlimmbach liegt sie bei
19 Mark und in Hedeborn bei 21 Mark.
Wieso?
Nun, wenn der Zucker 20 Mark steht, so setzen sie in Schlimmbach eine Mark
zu, und in Hedeborn verdienen sie eine Mark. Uebrigens ist mein Protokoll fertig.
Wollen die Herrn vielleicht so gut sein, zu unterschreiben?
Wir befinden uns nämlich im Speisezimmer des Herren Amtsrates in Hede-
born. Es ist ein feines Frühstück aufgetragen. Der Herr Amtsrat frühstückt mit
Appetit, der Herr Negiermigsrat ist bereits satt, denn die Esserei hat seit acht
Tagen nicht aufgehört, und der Herr Kreisbaumeister macht das Protokoll fertig.
Die letztern beiden Herrn befinden sich auf der Revisionsreise, wobei von Domäne
zu Domäne gezogen, der bauliche Zustand und das Inventar untersucht und aus¬
gezeichnet gegessen und getrunken wird. Der Baumeister, der in dem betreffenden
Kreise ansässig ist, wird als technischer Sachverständiger zugezogen und hat zu
laufen, zu messen, zu rechnen und zu schreiben, während der Herr Regierungsrat als
eigentlicher Revisor hinterher bummelt, den Liebenswürdigen spielt und frühstückt.
Eine solche Revisionsreise gilt in der Regierung für ein beneidenswertes Geschäft,
und es ist auch eine Zeit lang eine angenehme Sache, in der Welt herumzufahren
und sich zu pflegen; aber auf die Dauer wird das viele Essen und Trinken lästig,
und es gehört zur Ausübung dieses Regierungsgeschäftes vor allem ein guter
Magen.
Mit Hedeborn war man fertig. Gleich nach dem Frühstücke sollte es über
Schlimmbach nach der Domäne Horsthausen gehen. Der Herr Regierungsrat küßte
der wohlgenährten Frau Amtsrätin die Patschhand, verabschiedete sich in der derb
jovialen Art, die nach seiner Meinung notwendig zum Forst- und Domänenfach ge¬
hörte, von dem Herrn Amtsrat und rief, bereits im Wagen sitzend: Amtsrätchen,
bessern Sie sich, sonst schicken wir Ihnen einen Kommissar, der Ihnen ein Priva-
tissimum über Volkswirtschaft hält.
Sehr angenehm. Uebrigens wüßte ich auch für Sie einen Kommissar, Herr
Regierungsrat, den Adler-Andres. Schade, daß Sie heute nicht in Schlimm¬
bach bleiben.
Der Baumeister lachte kurz und trocken auf und winkte dem Amtsrat mit den
Augen zu. Damit fuhr der Wagen davon.
Die beiden Herren setzten sich jeder scharf in seine Ecke und schwiegen.
Der eine beschäftigte sich mit seiner Zigarre, der andre mit seinem Amts¬
kalender.
Unter allen staubgebornen Menschen giebt es nur zwei Gattungen, die
ohne Einschränkung weise genannt werden können: die Juristen und die Bau¬
meister. Die letztern sind sachverständig in allen Dingen, welche Dimen¬
sionen haben, die erster» haben die Gabe, schlechthin alles zu verstehen.
Man denke sich nun eine solche Fülle von Weisheit in dem engen Raume
eines Kutschwagens versammelt; das ergiebt ein Verhältnis, das geschont sein
will. Besonders wenn der eine der beiden Herren die Arbeit macht und der
andre Rotwein trinkt, und ganz besonders, wenn jeder den andern weit zu über¬
sehen glaubt.
Der Weg war schlecht. Natürlich, wo Zuckerrüben gefahren werden, giebt es
keine guten Wege. Die schlimmsten Stellen des schlimmen Weges waren aber die
gebesserter Stellen. Hier konnten auch die amtsrätlichen Pferde nur mühsam vor¬
wärts kommen. Auf dem Grasstreifen neben dem aus Schlamm und Steinen be¬
stehenden Fahrdmnm stampfte ein Fußgänger mühsam vorwärts, ein alter Kerl in
halb bäuerlichen, halb städtischem Anzüge, mit verwitterten Zügen und von einer
etwas gewaltsamen Jugendlichkeit des Benehmens. Als der amtsrätliche Wagen
nahe genug herangekommen war, rief er: Guten Morgen, meine Herren. Jsts
erlaubt, mitzufahren?
Ein keckes Verlangen, das den Herrn Regierungsrat einigermaßen ver¬
wunderte, da er aber zu den modernen Beamten gehörte, die begriffen haben, daß
sich auch ein Regierungsrat „populär" machen müsse, so steckte er den Leutseligen
heraus und winkte Gewährung. Während dessen war der Herr Baumeister gänzlich
in seinen Amtskalender versunken.
Der Wanderer stieg auf den Bock und hatte sogleich den Kopf im Rücken, wie
einer, der sich verpflichtet fühlt, den Unterhalter zu spielen.
Hübsches Wetter heute. Nicht zu kalt und nicht zu warm, und ganz und gar
nicht staubig.
Hin!
Die Herren fahren Wohl auch nach Schlimmbach?
Wie Ihr seht, fahren wir eben nach Schlimmbach.
Hübsches Dorf, eine Flur — etwas ausgezeichnetes! unter 180 Zentner auf
den Morgen giebts gar nicht.
Eure Wege sind aber niederträchtig.
Das stimmt. Die Wege sind schlecht. Ich habe es dem Herrn Amtsrat
— ist ein guter Freund von mir — erst neulich gesagt. Herr Amtsrat, sag' ich,
die Wege sind niederträchtig. Fuhrmeister, sagt er, da haben Sie recht, aber erst
die Rübenwagen, die alles kurz und klein fahren, und hernach die Schafe — da
nützt kein Wegebessern. Sie kennen doch den Herrn Amtsrat? Na ja. Mit dem
Geldgeben ist er ein bischen zach.
Pause.
Die Herren fahren Wohl ein bischen spazieren?
Ja, wir fahren so ein bischen im Lande herum.
Man wird sich doch von so einem Kerl nicht ausholen lassen.
Inzwischen überholte man einen Bauernwagen. Fuhrmeister auf seinem Bocke
winkte schon von weitem hinüber und rief: Morgen, Hottfried. Auch nach Schlimm¬
bach? — Das ist nämlich Gottfried Lanz aus Kleeberg, fuhr er zum Regierungsrat
gewendet fort, die Leute sagen Hottfried zu ihm, weil er das G nicht aussprechen
kann. Seine Großmutter und meine Tante mütterlicherseits, was die alte Winkel-
manuen in Trippstedt ist — die kennen Sie wohl nicht —, waren Schwestern.
Das ist auch einer von der Partei, die den Direktor in Schlimmbach wegbeißen
will. Kennen Sie den? Maier heißt er und stammt aus Lüneburg, seine Frau
ist eine Schradern aus Neustadt-Magdeburg. Ein ausgezeichneter Mann, reell,
galant und überhaupt ein tüchtiger Direktor. Früher war er in Feldwegen. Die
Fabrik hat er in die Höhe gebracht. Aber bei uns wills nicht recht gehen. Voriges
Jahr gar keine Dividende und dieses Jahr womöglich noch Zuschuß. Dabei kann
man nichts werden.
Aber da kann doch der Mann nichts dafür.
Da haben Sie recht. Die Zuckerpreise kann er nicht machen. Aber er mußte
sich kein Felopez anschaffen. Das haben sie ihm übel genommen.
Unsinn!
Meiner Seele! Es ist auch wahr, so ein Ding schickt sich nicht für fo einen
Mann.
Ihnen wäre es lieber gewesen, meinte der Baumeister, er hätte weiter
bei Ihnen ausgespannt, als daß er jetzt mit seinem Dreirad gleich nach der Sta¬
tion fährt.
Fuhrmeister lachte etwas verlegen und meinte, er habe nichts dagegen, seinet¬
wegen könnte Maier machen, was er wolle.
Sagt mal, alter Freund, sagte der Regierungsrat, Eure Zuckerfabrik soll ja
wackeln.
Wer sagt denn das?
Ihr sagt ja selber, daß Ihr Zuschuß zahlen müßt.
Das ist richtig. Es könnte freilich besser gehen. Aber das sind die schlechten
Zeiten, und das geht allen so.
I Gott bewahre. Warum geht es denn in Hedeborn besser? Wenn der Zucker
zwanzig Mark kostet, so verdienen sie in Hedeborn eine Mark, und Ihr setzt eine
Mark zu. Wie kommt denn das?
Darüber könnte man viel sagen.
Sagt einmal viel darüber.
Sehen Sie also, Herr —?
Ich heiße Müller.
Herr Müller, wenn ichs Ihnen denn sagen soll, unsre Fabrik ist gleich in der
Anlage verpfuscht. Fragen Sie den Herr Baumeister, ob ich nicht Recht habe. Es
war damals 1876 — oder wars 1875 —, da hieß es, eine Zuckerfabrik bauen.
Wir kamen also zusammen, die Schlimmbacher, die Trippstedter, die Hedeborner
und was so dazwischen liegt. Eine Fabrik wollten sie also bauen, aber jeder wollte
sie haben, und es kam zu keiner Einigung. Zuletzt kamen die Schlimmbacher und
boten ihre Gemeindewiese zu billigem Preise an. Die Wiese liegt für alle gleich
schlecht, und so waren sie es alle zufrieden. Hernach kam zu Tage, daß der Bau¬
grund miserabel war, und wir haben mehr in die Erde hineingebaut, als der
teuerste Bauplatz gekostet hätte. Ist das nicht so, Herr Baumeister? Nun sollte
die Gesellschaft gegründet werden. Die Aktien waren gezeichnet wie nichts. Hernach
hatten wir Generalversammlung und haben debattirt von früh zehn bis Glocke drei.
Wie sie uun alle schon ganz konfus waren, kam der Doktor Rimvler, was der
Apotheker in Trippstedt ist, und sagte: Meine Herren, hier habe ich das Statut
von Schnippra. Das Statut ist gut, und die Fabrik geht ausgezeichnet, ich schlage
vor, es in Blocko anzunehmen! Gut, wir nahmen das Statut an und hatten nun
eins. Aber es paßte nicht. Denn in Schnippra sind es fünf Teilnehmer und wir
sind achtzig. Und überhaupt, was für Schnippra paßt, Paßt nicht für Schlimm¬
bach. Da werden Sie mir Recht geben. Jetzt fingen wir an zu bauen. Herr
meines Lebens, was haben wir da für Geld hineingebaut! Da war der Bau¬
meister Schwarz, der konnte es gar nicht schön genug kriegen. 10 000 Steine,
das war wie gar nichts. Er ist niimlich der Schwager von Rambachen, und dem
sein Bruder hat die Dampfziegelei in Krauthain. Ich will nichts gesagt haben,
aber —
Es ist auch besser, Sie sagen nichts, warf der Baumeister ein, sonst könnten
Sie eines schönen Tages eine Injurienklage an den Hals kriegen. Uebrigens können
Sie sich über den Bau nicht beklagen, wenn Sie nur bessere Maschinen gekauft hätten.
Da haben Sie Recht, Herr Baumeister. Ich habe es immer gesagt, der Bau
ist teuer, aber gut, und wir können uns nicht beklagen. Die Steine — was aus¬
gezeichnetes.
Wie war denn das mit den Maschinen? fragte der Regierungsrat.
Das war so. Als wir die Maschinen verlizitiren wollten, kamen Warschauer
und der Hirsch an, ein paar hübsche Leute, zuvorkommend und überhaupt galant.
Die machten das Angebot, so wollten alle Maschinen im Bau übernehmen ohne
Anzahlung und alles für einen Spottpreis. Es sollte jährlich abgezahlt werden.
Dafür wollten sie auch die Reparaturen mit übernehmen. Ich sagte gleich: nichts!
Laßt euch mit den Juden nicht ein. Aber die dachten ja, sie kriegtens geschenkt,
und schlössen ab. Hernach haben wir für die Reparaturen noch einmal soviel be¬
zahlt, als die Maschinen wert waren.
Ist es auch wahr, Fuhrmeister, fragte der Regierungsrat, daß Ihr gegen
Warschauer gestimmt habt?
Na ja, ich allein konnte es doch nicht machen.
Wie war denn das mit dem wurmstichigen Kupfer? fragte der Baumeister.
Das ist uicht wahr, Herr Baumeister, das hat der Herr Amtsrat aufgebracht,
aber wahr ist es nicht.
Wie ist denn die Geschichte? fragte der Regierungsrat den Baumeister.
Fuhrmeister soll, als die Reparaturen uicht aufhörten, den Antrag gestellt
haben, das Kupfer der Pfannen und Röhren zu untersuchen, ob Warschauer nicht
wurmstichiges Kupfer geliefert habe.
Fuhrmeister war tief verletzt. Das müssen Sie doch selber sagen, meine
Herrn, daß das ein schlechter Witz von dem Herrn Amtsrate ist. Wurmstichiges
Kupfer! So dumm find wir denn doch nicht.
Dann ist es Wohl die Trippstcdter Intelligenz gewesen. Aber wie war denn
das mit den Maikäfern? Das ist wohl auch nicht wahr?
Maikäfer? Ich habe nie etwas davon gehört, erwiederte Fuhrmeister mit der
treuherzigsten Miene.
Na na! Die Herren vom Aufsichtsrate, wandte sich der Baumeister erklärend
an den Regierungsrat, waren Krämer und kleine Oekonomen, kamen sich sehr groß
vor und steckten ihre Nase in alles. Schließlich setzten sie sich vor die Stein¬
haufen, zählten die Ziegel nach und machte« Skandal. Der Volkswitz verglich sie
mit den Maikäfern, die ja auch „zählen," ehe sie aufpurreu. Daher haben sie den
Namen. Während dessen fuhren die Herren Lieferanten ganze Fuder hinten zum
Thore hinaus und präsentirten sie vorn zum zweiten male zur Abnahme. Davon
wissen Sie wohl nichts, Fuhrmeister?
Nein, habe ich nie gehört. Aber daß wir wieder auf die Maschinen kommen:
Wie wir unsre Sache imstande hatten, kam das Jllusionsverfahren auf.
Was für ein Verfahren?
Er meint das Elisionsverfahren, nach welchem der Rübensaft nicht ausgepreßt,
sondern ausgelaugt wird.
Ich weiß es nicht, entgegnete Fuhrmeister, bei uns heißt es Jllusions¬
verfahren. Da wurde nun alles wieder rausgerissen und neu gebaut. Hernach
kam das Strontian und die Polarisation, wir wurden nie fertig, und es kostete
alles ein Heidengeld. Wie wir nun fest faßen, sollten Prioritäten ausgegeben
werden.
Das wäre auch das Richtigste gewesen.
Da haben Sie ganz Recht, aber wer konnte das damals wissen? Wir hatten
230 Aktien, die waren annähernd in 83 Händen. Wie es nun hieß: Prioritäten,
stand Lanz Gottfried auf, derselbe, der vorhin vorbei fuhr, und sagte: Meine
Herren, das können wir selber verdienen, wenn wir die Aktien vermehren und sie
selber übernehmen. Es wurden also 160 neue Aktien ausgegeben und von den
Aktionären übernommen.
Da haben Sie doch das doppelte Risiko, wenn die Sache schief geht.
Wer dachte denn daran bei den Zuckerpreisen und bei dem schönen Ver¬
dienste?
Richtig, meinte der Herr Baumeister. Wenn der Zucker 36 steht, kann jeder
Zuckerfabrik spielen, wenn aber der Preis auf 20 heruntergeht, dann zeigt sichs,
wo was dahinter ist.
Da haben Sie Recht, Herr Baumeister. Da haben sie ganz recht. Ich
sagte auch immer: Hottfried, sagte ich, die Sache ist faul. Wenn das so weiter
geht, so haben wir als Aktionäre die meiste Wurst gegessen. Na, nun wurde
Lärm gemacht, und da kamen schöne Geschichten zu Tage. Unser Zuckerdirektor war
ein ganz guter Mann, aber ein bischen gleichgiltig. Da war kein Reserve¬
fonds da, es waren keine Abschreibungen gemacht. Sie hatten nicht einmal einen
Schuppen, um den Zucker zu lagern. Eine Menge Rechnungen waren unbezahlt;
für Kohlen allein 10 pot Mark, und beim Bankier eben so viel. Und den Zucker
hatten sie immer gerade verkauft, wenn er am allerschlechtesten stand. Ist es nicht
so, Herr Baumeister?
So ist es. Aber wer ist deun daran schuld? Doch die Aktionäre selber, die
vor allen Dingen hohe Dividenden haben wollten auch dann noch, als der Verdienst
schon gering geworden war. Es wurde also alles ausgeschüttet, nichts abgeschrieben
und nichts bezahlt. Und was die Zuckerpreise anbetrifft — das ist doch nnter
Bauern allgemein üblich: wenn die Preise steigen, verkauft niemand, es könnte ja
immer noch etwas mehr geben; erst wenn sie tief sinken, kriegt mans mit der
Angst und verkauft. Daß die Zuckerfabriken nicht einmal Lagerräume haben, um
den Zucker für eine günstige Konjunktur aufzuheben, ist allerdings auch üblich, aber
ein Skandal.
Aber den Wagemeister hätten sie nicht auch gleich mit wegschicken sollen. Das
war nicht nötig.
Ach so! wegen der Schinutzprozente.
Schmutzprozente? fragte der Regierungsrat.
Die Rübe wird hier schmutzig geliefert und verWogen; der anhängende Schmutz
wird taxirt und zurückgerechnet. Dasselbe geschieht mit den Köpfen. Da war es
nun gewissen Herren ganz angenehm, mit einem Wagemeister zu thun zu haben, der
sich für empfangene Gaben erkenntlich zeigte, niedrige Schmutzprozente ansetzte und
auch nicht weiter hinsah, wenn eine Fuhre Köpfe oder Schnitzel aufgeladen und mit¬
genommen wurde. Nicht wahr, Herr Fuhrmeister?
Der schien die Frage nicht gehört zu haben und fuhr in seinem Berichte fort:
Es war also ein Hauptlärm, und alles wollte einen neuen Direktor haben. Nun
boten wir Malern, der früher in Feldwegen war, 1000 Thaler mehr und machten
ihn zu unserm Direktor.
Das war eine Schlechtigkeit, Fuhrmeister, aber das Dümmste wars noch nicht.
Ich glaube nur, ihr macht jetzt auch noch die Dummheit, ihn wieder gehen zu
lassen.
Herr Baumeister, halten können wir ihn nicht, wenn er gehen will.
Und 3000 Thaler Gehalt ist auch ein schöner Posten Geld bei den schlechten
Zeiten.
Aber wie viel erspart Ihnen der Mann! Wenn er den Ponywagen abge¬
schafft hat und mit dem Velociped fährt, wem erspart er es dann? Und das
müssen Sie doch sagen, daß er Ordnung in die Fabrik gebracht hat.
Da haben Sie ja Recht, Herr Baumeister, aber mit den Wasferrüben brauchte
er auch nicht so schroff zu sein. Das war nicht hübsch von ihm.
Aha! Damit die Herren ihre unreife, künstlich aufgeschwemmte, zuckerarme
Rübe bezahlt kriegen, als wäre sie gut. Sehen Sie, Polarisation ist eine schöne
Sache.
Das ist wohl wahr, aber nach unsern Statuten liefern wir die Rüben
nach demi Zentner und nicht nach dem Zuckergehalte. Da muß er erst die Sta¬
tuten ändern. Und meine Rüben waren gar keine Wasserrüben. Staatsboden
und gut gedüngt! Da können Sie Lanz Gottfrieden fragen und wen sie sonst
wollen.
Der Regierungsrat hatte mit steigender Verwunderung zugehört und rief jetzt:
Ihr seid ja Hauptkerls mit Eurer Zuckerfabrik! Das finde ich einzig! Bauen sich
eine Fabrik, die ihnen viel zu viel kostet, schreiben nicht ab, sparen nicht in guten
Zeiten, haben eine traurige Verwaltung, und jetzt, wo die nötige Ordnung in die
Sache kommen soll, sind sie wie die Tauben, die sich nach ihrem unordentlichen
Schlage zurücksehnen. Hat mich gefreut, alter Freund, Eure Bekanntschaft zu
machen.
Der Wagen hielt, Fuhrmeister stieg ab, bedankte sich und fragte noch, ob denn
der Herr aus hiesiger Gegend wäre. Als das der Regierungsrat verneinte, sagte
er harmlos: Na drum, denn hierzulande ihrzt man die Leute nicht. Adjes auch.
Nichts für ungut.
Der Herr Regierungsrat war starr! Wer war denn der Kerl?
Das war der Adler-Andres. Nicht wahr, das Privatissimum war nicht
übel?
Der Herr Regierungsrat biß sich auf die Lippen und schwieg.
Am Abend kam die Nachricht nach Horsthausen, daß der Direktor Maier ge¬
kündigt habe. Er hatte den Antrag gestellt, daß die Rüben nicht nach dem Gewicht,
sondern nach dem Zuckergehalte abgenommen werden sollten. Die Verständigen
hatten zugestimmt; aber Adler-Andres und etliche gleichgesinnte Ehrenmänner, die
sich durch die neue Ordnung der Dinge in ihren Interessen geschädigt glaubten,
hatten so lange genörgelt und den Direktor so lange mit allerlei Fragen, Unter¬
schiebungen und Verdächtigungen und besonders mit seinem Velociped geärgert,
bis er die Geduld verlor und kündigte. Die Aktionäre zogen heim in dem Be¬
wußtsein, der Verwaltung tausend Thaler erspart zu haben.
Das ist ja eine Heidenwirtschaft! rief der Herr Regierungsrat. Nein, hier
wäre staatliche Hilfe ein reines Unrecht. Wenn alle diese faulen Existenzen durch
eine Krisis weggefegt würden, fo wäre das nur ein Segen.
Das war nun wieder nicht richtig.
^^M^M.!
A^<?)och immer konnte Ricks seinen Zorn darüber nicht verwinden,
daß sie sich der Gesellschaft, die sie so oft verspottet hatte, so
unwürdig in die Arme geworfen hatte. Die Gesellschaft hatte
sicher nur die Thür geöffnet und gewinkt, so war sie auch
schon eingetreten. Aber war das ein Grund, daß er mit Steinen
nach ihr warf? Hatte er nicht selber die magnetische Anziehungskraft der braven
Spießbürgerlichkeit gefühlt? Aber dies letzte Beisammensein, wenn sich das so
verhielt, wie er vermutete, wenn das ein leichtfertiger Abschied von dem alten
Leben hatte sein sollen, der letzte wilde Streich, ehe sie sich zurückzog in das
„Korrekteste des Korrekten"! War das möglich? Eine so grenzenlose Selbst¬
verachtung, die ihn mit hineinzog in ihren Hohn, ihn wie alles andre, was sie
mit einander gemein gehabt hatten an Erinnerung und Hoffnung, an Begeisterung
und heiligen Ideen! Er errötete, er raste.
War er aber gerecht? Denn auf der andern Seite, was hatte sie weiter
gethan, als ihm offen und ehrlich gesagt: das und das zieht mich nach der
andern Seite, zieht mich mit aller Gewalt, aber ich erkenne dein Recht an, und
zwar mehr, als du verlangst, und hier bin ich; kannst du mich nehmen, so
nimm mich; wenn nicht, so muß ich dahin, wo die Macht am größten ist. Und
wenn es sich nun einmal so verhielt, war sie da nicht in ihrem Rechte? Er
hatte sie nicht genommen, es konnte ja bei der ganzen Entscheidung auf eine
Kleinigkeit ankommen, auf den Schatten eines Gedankens, den Ton in einer
Stimmung.
Wenn er nur gewußt hätte, was sie doch eine Sekunde lang gewußt haben
mußte, was sie jetzt aber vielleicht nicht mehr wußte. Er wollte so ungern
glauben, wovon er sie doch so schwer freisprechen konnte. Nicht allein um ihrer
selbst willen — das war im Grunde das Wenigste —, aber es war ihm, als
sei seine Fahne dadurch befleckt. Logisch betrachtet freilich nicht, und doch!
Wie sie ihn nun auch verlassen haben mochte, das eine stand fest: er war
jetzt allein und er empfand es als eine Entbehrung, aber gleich darauf auch
als eine Erleichterung. Es gab so vieles, was seiner wartete. Das Jahr auf
Lönborggaard und im Auslande war, wie sehr es ihn auch in Anspruch ge¬
nommen hatte, eine unfreiwillige Ruhe gewesen, und der Umstand, daß er sich
in diesem Jahre auf so mancherlei Weise klarer über seine Vorzüge und Mängel
geworden war, konnte ja nur seinen Durst vermehren, in ungestörter Arbeit
seine Kräfte zu gebrauchen. Nicht um zu schaffen, das eilte nicht, aber um zu
sammeln. Es gab so vieles, was er sich aneignen mußte, so unübersehbar viel,
daß er anfing, die Kürze des Lebens mit mißtrauischen Blicken zu messen. Er
hatte auch früher die Zeit nicht vergeudet, aber man macht sich nicht so leicht
unabhängig von dem väterlichen Bücherschränke, und es liegt so nahe, auf der¬
selben Bahn weiterzuschreiten, die andre zum Ziele geführt hat, und deshalb
hatte er sich nicht selber ein „Vinland" in der weiten Welt der Bücher auf¬
gesucht, sondern war gefahren, wie die Väter vor ihm gefahren waren, hatte
autoritätsgläubig seine Augen für vieles verschlossen, das ihm gewinkt, um besser
in die große Nacht der Edda und der Sagen hineinsehen zu können, hatte seine
Ohren für vieles verschlossen, das rief, um besser den mystischen Naturlauten
des Volksliedes lauschen zu können. Jetzt hatte er endlich begriffen, daß
es keine Naturnotwendigkeit war, altmodisch oder romantisch zu sein, und daß es
weit einfacher sei, seine Zweifel selber auszusprechen, als sie Gora Loke-
dyrker in den Mund zu legen, weit natürlicher, einen Laut für die Mystik des
eignen Wesens zu finden, als gegen die mittelalterlichen Klostermauern anzurufen
und die eignen Worte echoschwach zurück zu erhalten.
Für das Neue in der Zeit hatte er ja stets ein offnes Auge gehabt, aber
er hatte eigentlich mehr zugehört, wie das Neue dunkel im Alten ausgesprochen
war, als daß er auf das gelauscht hätte, was das Neue selber ihm klar und
deutlich zurief; und darin lag nichts Merkwürdiges, denn es ist noch niemals
ein neues Evangelium hier auf Erden gepredigt worden, ohne daß die Welt
nicht sofort mit einer Unmenge von alten Prophezeiungen bei der Hand ge¬
wesen wäre.
Aber dazu gehörte etwas andres, und Ricks fiel mit Begeisterung über
seine neue Arbeit her; er war von der Eroberungslust ergriffen, von dem Durst
nach der Macht des Wissens, den wohl jeder Diener des Geistes, wie demütig
er auch sein Amt verrichten mag, einmal empfunden hat, sei es auch nur für
eine einzige armselige Stunde. Wer von uns, den ein gütiges Schicksal so
gestellt hat, daß er für die Entwicklung seines Geistes sorgen konnte, wer von
uns allen hat nicht mit begeistertem Blicke hinausgestarrt auf das unendliche
Meer des Wissens, und wer hat sich nicht hingezogen gefühlt zu seinen klaren,
kühlen Wassern, und hat nicht angefangen, in dem leichtgläubigen Übermute der
Jugend es mit der hohlen Hand zu schöpfen wie das Kind in der Legende?
Weißt du noch, die Sonne konnte über sommcrhcllcm Lande lachen, du sahest
weder Blumen noch Wolken noch Quelle; die Feste des Lebens konnten vorüber¬
ziehen, sie erweckten keinen Traum in deinem jungen Blute; selbst die Heimat
lag dir fern; weißt du das noch? Und weißt du auch noch, wie er sich dann
in deinen Gedanken aufbaute aus den gelbwerdenden Blättern, geschlossen und
gesammelt, in sich selber ruhend wie ein Kunstwerk, und es war dein Werk in
jeder Einzelheit, und dein Geist lebte in dem Ganzen. Wenn die Säulen schlank
aufstiegen, mit selbstbewußter Tragkraft in ihrer starken Nundung, so war es
ein Teil deines eignen Ichs, dies kecke Aufsteigen, in dir lag dies stolze Tragen;
und wenn die Wölbung zu schweben schien, weil es seine ganze Schwere, Stein
auf Stein, gesammelt hatte und sein Gewicht in mächtigen Tropfen auf den
Nacken der Säulen senkte, so ward er dein, dieser Traum vom gewichtlosen
Schweben, weil die Sicherheit, mit der sich die Wölbung herabsenkte, ja nichts
andres war als du selber, der den Fuß auf sein eignes Ich setzte.
Ja, so war es, so wächst unser Wesen mit unserm Wissen, klärt sich da¬
durch, sammelt sich darin. Es ist ebenso schön zu lernen wie zu leben. Fürchte
nicht, dich selber in Geistern zu verlieren, die größer sind als du selber. Sitze
nicht da und grüble ängstlich über die Eigentümlichkeit deiner Seele, verschließe
dich nicht vor dem, was Macht hat, aus Furcht, daß es dich mit sich hinab¬
reißen und deine liebe, innerste Eigenheit in seinem mächtigen Strudel mit
sich fortreißen könnte. Sei überzeugt, die Eigentümlichkeit, die in dem Aus¬
scheiden und dem Unbilden einer fröhlichen Entwicklung verloren geht, war nur
eine UnVollkommenheit, ein im Dunkeln getriebener Sprößling, dessen ganze
Eigentümlichkeit darin bestand, daß er krank war an lichtscheuer Blässe. Und
von dem Gesunden in dir sollst du leben, aus dem Gesunden heraus entwickelt
sich das Große.
Es war ganz unerwartet für Ricks Lyhne Weihnachten geworden.
In diesem ganzen verstrichenen Halbjahr war er nirgends zu Besuch ge¬
wesen, nur hin und wieder einmal bei dem Etatsrat, und von diesem hatte er
auch eine Einladung erhalten, den Weihnachtsabend in seiner Familie zu ver¬
bringen. Aber vor einem Jahre hatte er Weihnachten in Clarens gefeiert, und
deshalb wünschte er allein zu sein. Einige Stunden, nachdem es dunkel ge¬
worden war, ging er aus.
Es war sehr windig. Eine dünne, noch nicht ganz niedergetretene Schnee¬
decke lag in den Straßen und schien sie zu verbreitern, und der Schnee auf
den Dächern und Fenstersimsen verlieh den Häusern einen Schmuck, aber zugleich
ein vereinsamtes Aussehen. Die Laternen, die im Winde flackerten, jagten
ihr Licht geisterhaft an den Mauern entlang, sodaß hie und da ein Schild
aus seinen Träumen aufschreckte und in großartiger Gedankenleere vor sich
hinstarrte. Auch die Ladenfenster, die nur halb erleuchtet waren und deren
Schaustellung in der Geschäftigkeit des Tages zerstört worden war, sahen anders
aus als sonst: es war etwas eigenartig Jnsichgekehrtes über sie gekommen.
Ricks bog in die Nebenstraßen ein, und hier schien Weihnachten schon in
vollem Gange zu sein, denn aus den Kellern und den niedern Erdgeschossen
klangen ihm überall Töne entgegen, zuweilen von einer Violine, am häufigsten
aber von Handharmonikas herrührend, die sich unverdrossen durch bekannte
Tanzmelodien hindurchquälten, und durch die treuherzige Weise, mit der sie vor¬
getragen wurden, mehr die frohe Arbeit des Tanzes als das eigentliche Fest¬
liche desselben ausdrückten. Aber es lag über dem Ganzen eine gewisse Illusion
von schleppenden Tritten und qualmiger Luft, so schien es ihm, dem draußen
stehenden, den seine Einsamkeit gegen jegliche Geselligkeit feindselig stimmte. Er
hatte weit mehr Sympathie für den Arbeitsmann, der vor dem matt erleuchteten
Fenster des kleinen Kramladens stand und mit seinem Kinde über eins der
billigen Wunder da drinnen verhandelte, und der so besorgt schien, eine unwider¬
rufliche Wahl zu treffen, bevor sie sich in die Höhle der Versuchung wagten.
Und dann diese alten, einfachen Damen, die in Menge des Weges gingen, eine
nach der andern, fast auf jedem hundertsten Schritt; alle mit den wunderbarsten
Mänteln aus längst entschwundnen Zeiten, und alle mit leisen, menschenscheuen
Bewegungen ihrer alten Hälse, ganz wie mißtrauische Vögel, und mit etwas
Unsicheren, Weltentwöhntem in ihrem Gange, als hätten sie Tag für Tag da
oben in den Mansardenstübchen der Hinterhäuser gesessen und wären nur an
diesem einen Abende ins Freie gelassen worden. Er wurde traurig, als er daran
dachte, und es stieg ein krankhaftes Gefühl in seinem Herzen auf, als er sich
träumend in das langsam verrinnende Dasein so einer einsamen alten Jungfer
versetzte, und er hörte vor seinen Ohren das langsame Ticktack einer Wanduhr
peinlich taktfest die inhaltslosen Sekunden in die Schale des Tages tröpfeln.
Er mußte suchen, den Weihnachtsabend zu überstehen, und so ging er
denn denselben Weg zurück, den er gekommen war, mit einem halbbewußten
Grauen, daß in den andern Straßen neue Einsamkeiten dämmerten, andre Ver¬
hältnisse auftauchten als die, welche ihm hier entgegengetreten waren und die
ihn so bitter gestimmt hatten.
Draußen in den großen Straßen atmete er freier auf, er ging schneller,
mit einem gewissen Trotz in seinem Gang, und befreite sich von dem, was ihn
eben noch so unangenehm berührt hatte, durch den Gedanken, daß er ja seine
Einsamkeit freiwillig gewählt habe.
So trat er in eines der größern Restaurants ein.
Während er dasaß und auf die Speisen wartete, beobachtete er hinter
einer alten Zeitungsbeilage die Leute, welche eintraten. Es waren fast aus¬
schließlich junge Menschen; einige von ihnen kamen allein, mit herausfordernder
Haltung, als wollten sie die Anwesenden verhindern, sie für Leidensgenossin
anzusehen, andre konnten es gar nicht verbergen, daß es ihnen peinlich war,
an einem solchen Abend nicht eingeladen zu sein, alle aber hatten sie eine aus¬
geprägte Vorliebe für einsame Ecken und abseitsstehende Tische. Viele kamen
paarweise, und den meisten von diesen Paaren konnte man es ansehen, daß sie
Brüder waren; Ricks hatte niemals so viele Brüder auf einmal gesehen; oft
waren sie sehr verschieden in Kleidung und Wesen, und noch deutlicher zeugten
ihre Hunde davon, wie verschiedenartig oft ihre Lebensstellungen waren. Es war
fast eine Seltenheit, sowohl wenn sie kamen, wie auch spater, wenn sie saßen und
mit einander sprachen, ein wirklich vertrauliches Verhältnis zwischen ihnen zu
entdecken: bald war der eine der überlegene und der andre der bewundernde,
bald war der eine entgegenkommend und der andre zurückweisend; hier herrschte
eine wachsame Vorsichtigkeit auf beiden Seiten, dort, was noch schlimmer war,
eine stillschweigende Geringschätzung der gegenseitigen Ziele, Hoffnungen und
Mittel. Für die allermeisten bedürfte es offenbar eines solchen heiligen
Abends und damit verbunden einer gewissen Verlassenheit, um sie an ihre ge¬
meinsame Herkunft zu erinnern, sie mit einander zu vereinigen.
Während Ricks dasaß und hierüber nachdachte, wie auch über die Geduld,
mit der alle diese Menschen warteten und weder klingelten noch laut nach den
Kellnern riefen, als wollten sie nach stillschweigender Übereinkunft das Restau-
rationsgeprägc, so gut es ging, fernhalten, während er an alles dachte, sah er
einen seiner Bekannten eintreten, und dieser plötzliche Anblick eines bekannten
Gesichtes nach allen den fremden kam ihm so überraschend, daß er sich nicht
enthalten konnte, aufzustehen und den eintretenden mit einem freudigen, aber
zugleich verwunderten Guten Abend! zu begrüßen.
Warten Sie auf jemand? fragte der andre, und fah sich nach einem Haken
für seinen Überrock um.
Nein, solo!
Das trifft sich ja ausgezeichnet!
Der Neuangekommene war ein Doktor Hjerrild, ein junger Mann, den Ricks
zuweilen bei dem Etatsrat getroffen hatte und von dem er wußte, zwar nicht
aus seinem eignen Munde, sondern durch neckende Äußerungen der Etatsrätin,
daß er in religiöser Hinsicht sehr frei sei. Aus seinem eignen Munde dagegen
wußte er, daß Hjerrild in politischer Beziehung ganz das Gegenteil war.
Dieser Art Menschen begegnete man sonst eigentlich nicht bei Etatsrath
die sowohl kirchlich wie liberal waren, und der Doktor gehörte auch im Grunde
vermöge seiner Anschauungen wie durch seine verstorbene Mutter zu einem jener
damals nicht seltenen Kreise, wo man die neue Freiheit teils mit zweifelnden,
teils mit feindlichen Blicken betrachtete, und wo man in religiöser Hinsicht mehr
als rationalistisch und weniger als atheistisch war, wenn man nicht, was auch
vorkommen konnte, indifferent oder mystisch war. Man fand in diesen übrigens
sehr verschieden abgestuften Kreisen die Ansicht, daß Holstein dem Herzen wenig¬
stens ebenso nahe stehe als Jütland, man hatte kein Verwandtschaftsgefühl mit
Schweden und war nicht unbedingt für das Dänentum in seinen neudänischen
Formen. Schließlich kannte man Moliere gründlicher als Öhlenschlciger und
war, was den Kunstgeschmack betraf, vielleicht ein wenig süßlich.
Unter Einwirkung von solchen oder doch nahe verwandten Anschauungen und
Sympathien hatte sich Hjerrild entwickelt.
Er saß da und sah Ricks mit einem unsichern Blicke an, wie dieser ihm
seine Beobachtungen, die andern Gäste betreffend, mitteilte und besondern Nach¬
druck darauf legte, daß dieselben sich beinahe schämten, nicht ein Heim oder eine
heimische Stätte zu haben, welche sie an diesem Abende hätte zu sich ziehen
können.
Ja, das kann ich nur zu gut verstehen, sagte Hjerrild laut, beinahe ab¬
weisend. Man kommt am Weihnachtsabende nicht von freien Stücken hierher,
und das demütigende Gefühl, so ausgeschlossen zu sein, mag es nun freiwillig
oder durch andre geschehen, kann nicht ausbleiben. Wollen Sie mir sagen,
weswegen Sie hier sind? Wenn Sie es nicht wollen, so sagen Sie nur nein!
Ricks antwortete, daß er den letzten Weihnachtsabend mit seiner verstorbenen
Mutter verlebt habe.
Ich bitte Sie um Verzeihung, sagte Hjerrild, es war sehr liebenswürdig
von Ihnen, mir zu antworten, aber Sie müssen es mir nicht übel nehmen, ich
bin sehr mißtrauisch. Ich will Ihnen sagen, daß man sich Leute denken könnte,
welche hierher kommen, nur um dem Weihnachtsfeste einen jugendlichen Fußtritt
zu geben, und ich selber, müssen Sie wissen, befinde mich hier aus lauter Re¬
spekt vor der Weihnachtsfeier der andern. Es ist dies der erste Weihnachts¬
abend, den ich nicht in einer liebenswürdigen Familie verlebt habe, die ich aus
meiner Vaterstadt kenne, aber es ist mir so vorgekommen, als ob ich ihnen im
Wege wäre, wenn sie ihre Weihnachtslieder singen. Nicht gerade, daß sie sich
genirt hätten, dazu waren sie viel zu brav, aber es berührte sie unangenehm,
daß jemand zwischen ihnen saß, für den diese Lieder nur in die Luft gesungen
wurden — wenigstens glaube ich das.
Ricks und Hjerrild nahmen ihre Mahlzeit fast schweigend ein, zündeten
dann ihre Zigarren an und beschlossen, in ein andres Lokal zu gehen, um dort
ihren Toddy zu trinken. Keiner von ihnen hatte Lust, heute Abend die ver¬
goldeten Spiegelrahmen und roten Sofas anzusehen, die sie Tag für Tag das
ganze Jahr hindurch vor Augen hatten, deswegen begaben sie sich in ein kleines
Cafe, in welchem sie sonst nie verkehrten.
Sie sahen aber bald, daß hier keine bleibende Stätte war. Der Wirt, die
Kellner und ein paar Freunde saßen im Hintergrunde der Stube und spielten
Dreikart mit zwei Trümphen; die Frau und die Töchter des Wirts sahen zu
und sorgte» für die Bedienung dieses Tisches, nicht aber für sie. Einer der
Kellner brachte ihnen endlich das Verlangte. Sie beeilten sich mit ihrem Ge¬
tränke, denn sie fühlten, daß sie störten, man sprach weniger laut, und der Wirt,
der vorhin in Hemdsärmeln dagesessen hatte, hatte sich nicht überwinden können,
sitzen zu bleiben, sondern war in seinen Rock gefahren.
(Fortsetzung folgt.)
Diese reichhaltige, auf ihrem eignen Schauplatze entstandene und auf That¬
sachen und Ueberlieferungen fast peinlich beschränkte Lebensbeschreibung des ur¬
wüchsigsten der „Originalgenies" wird auch außerhalb seiner engern Heimat
Schwaben, wo das Interesse für Schubart noch rege ist, auf die Aufmerksamkeit
eines nicht bloß literarhistorisch fachmäßigen Leserkreises Anspruch machen dürfen.
Der Geistersturm, der im vorigen Jahrhundert bis in die verlorensten Winkel des
Vaterlandes wehte, kann nicht eigenartiger, für die deutschen Verhältnisse bezeich¬
nender dargestellt werden, als durch das brausende Dichterleben dieses Schulmeisters
einer schwäbischen Unterstadt, dessen Phantasie und Pindarischer Versschwung sich
in — Schuldiktaten und Festliedern austobt, der schon dem ersten Anhauch freiern
Lebens moralisch erliegt und den ersten zahmen Versuch einer Erhebung über
Amts- und Schulstaub mit dem Martyrium einer grünt- und zwecklosen elfjährigen
Kerkerhaft bezahlen muß. Als der Gefangene auf dem Hohenasperg, als der Jo¬
hannes seines Landsmanns Schiller ist Schubart dem deutschen Volke meist bekannt.
Strauß hat sein Lebensbild dazu benutzt, um den Zwiespalt der eignen Natur
darin zu spiegeln. Aber Schubart ist weniger und mehr als ein litterarischer
Frühlingsbote, sicherlich alles andre als ein versprengter, in der Welt und in sich
selbst geirrter Ritter vom Geist, das zwiefache Opfer verknöcherter Lebensformen.
Er ist zunächst eine merkwürdige Persönlichkeit an sich mit seiner polyhistorischen
Vielseitigkeit und seiner oft geradezu kindischen Musikantenuatur, seinen moralischen
Anschauungen und seiner grenzenlosen Lüderlichkeit, seiner Klopstockscher Religiosität
und seiner Wiclandschen Freigeisterei. Er giebt seinen etwas ältern Zeitgenossen
Rousseau in verjüngtem Maßstabe wieder. Den eigentlichen Schlüssel zum Be¬
greifen dieser litterarischen Erscheinungsform aber giebt der deutsche Schubart.
Als Deutscher gehört er in eine Reihe für Deutschland charakteristischer Geister,
die sich schon im Mittelalter ankündigen, in den neuern Zeiten in den
Hütten, Christian Günther, Heinrich von Kleist u. a. immer wiederkehren. Ihr
Grundzug ist Widerstandsunfähigkeit gegen die eignen Lebensformen, ein Durch¬
gehen des Kopfes mit dem Herzen, ein trotziges Sichselbstvergessen im Ge¬
fühl der eignen Überlegenheit, ein Sichberauschen im neuen Wissen, im jungen
Geist. Auf sie alle gilt Goethes oft angeführte Wort über Günther. Schubart
tritt daher auch so auffallend heraus aus der Schciar der Stürmer und Dränger
der Folgezeit. Er ist ein Stürmer von Natur und nicht aus der litterarischen
Schule. Sein Leben ist allerdings, wie der Verfasser bemerkt, das, wozu das
Leben so vielfach mißbraucht wird: ein Roman. Es spielt in Deutschland zu jeder
Zeit. Das vorliegende Buch behandelt hauptsächlich die am wenigsten bekannten
und durchforschten Kapitel, die Lehrerzcit in Geislingen, die Geislingcr Idylle, wie
sie im Gegensatz zu der tragische» Elegie auf dem Asperg erscheint. Der Verfasser,
Professor Nägele in Geislingen, durch die örtlichen Andenken angeregt, hat es an
nichts fehlen lassen, sie treu und lebendig wirken zu lassen. Briefe und Dichtungen
durchziehen, wie billig und notwendig, bis auf die notwendigste» biographischen
Erörterungen das Ganze. Die beigegebene Auswahl aus den (im Privatbesitz er¬
haltenen) Schuldiktateu wird das Volk der Quintus Fixlein nicht ohne Lächeln und
Rührung durchblättern. Gute Lichtdrucke der durch den Helden merkwürdig ge¬
wordenen Oertlichkeiten schmücken das hübsch ausgestattete Buch.
Kritische Studien, die nicht bloß die Form, sondern auch den Gehalt dichte¬
rischer Werke eiuer strengen Prüfung unterziehen, sind heutzutage sehr selten ge¬
worden. Es hat sich der falsche Glaubenssatz eingenistet, daß die ästhetische Kritik
überhaupt sich nur um die Form zu kümmern habe, und der ganze charakterlose
Eklektizismus der Zeit, der Mangel an einer festen Ueberzeugung in sittlichen und
philosophischen Fragen, haben sich bei diesem Satze Wohl befunden. Allein die ästhe¬
tischen Dilettanten haben nicht eingesehen, daß die künstlerische Form selbst, wenn
sie ernst begriffen wird, nicht zu trennen ist von dem Gehalte, den sie umschließt, daß
sie ans den sittlichen Grundsätzen des Dichters herauswächst und von ihnen bestimmt
wird. Hermann Conrad übt in seinem Buche über Thackeray schneidige Sachkritik.
Seine Studie ist kein historisch-biographischer Essay, darum ist sie auch ganz unmodisch,
die Grundsätze dagegen, die sie verteidigt, sind ebenso vortrefflich, als durch die Mode
verdunkelt. „Unter dem Einflüsse der gegenwärtigen pessimistischen und naturalistischen
Strömung in der Litteratur — schließt Conrad — haben oberflächliche Geister sich
nicht gescheut, Thackeray als den größten Epiker der englischen Nation hinzustellen
und einen Goldsmith, einen Scott, einen Dickens, eine Elliot neben ihm verschwinden
zu lassen. Ich habe es für meine Pflicht gehalten, gegen diese Vermessenheit einen
rücksichtslosen Protest einzulegen. Thackeray ist kein großer Dichter. Ein solcher
ist nicht denkbar unter der traurigen Beschränkung eines einseitigen Pessimismus;
nicht denkbar bei einer so frivolen Auffassung und Behandlung seiner erhabenen
Kunst; nicht denkbar ohne Idealismus." Dieselben ästhetischen Grundsätze haben
wir an dieser Stelle immer vertreten, und wir stimmen Conrad rückhaltlos bei.
Ein Vorzug seiner Studie ist es, daß er zu diesen Sätzen den Leser nicht auf
spekulativen Wegen führt, sondern erst nachdem er in unbefangener, aber scharf¬
sinniger Weise die Hauptwerke Thackerays der Reihe nach durchgegangen und die
Wahrheit ihrer Bilder, die Logik ihrer Urteile, den Wert ihrer künstlerischen Form
unparteiisch geprüft hat. Das Bild, welches er von dem großen Satiriker im
Leser geschaffen hat, ist ungefähr folgendes.
Seinem persönlichen Charakter nach war Thackeray ein geistvoller und gut¬
artiger Lebemann. Im Jahre 1811, am 18. Juli, zu Kalkutta als Sohn wohl¬
habender Eltern geboren, kam er jung nach England, wo er im Charterhouse zu
London erzogen wurde. Früh äußerte sich in ihm eine starke Begabung für die
Karikatur, und er dachte auch daran, sich der Malerkunst zu widmen. Aber er brachte
schon im Alter von einundzwanzig Jahren sein Vermögen durch, und nun mußte er
für seinen Unterhalt sorgen. Dies gelang ihm in sehr einträglicher Weise, indem
er sich auf die Journalistik warf. Er hatte darin mit seinen blutigen Satiren an¬
fänglich mehr Glück als mit den poetischen Arbeiten, bis ihn der Roman Va,nit>
tair berühmt machte. Auch das Romanschreiber wurde uun von Thackcray ganz
in den Dienst des Honorars gestellt. Wenige seiner Erzählungen sind jedoch
künstlerisch wohl komponirte Ganze. Die meisten erschienen lieferungsweise, der
Anfang wurde gedruckt, ohne daß der Dichter wußte, wie er die Geschichte fort¬
führen werde. Lange Lieferungen wurden mit Trivialitäten gefüllt, nur um mehr
Geld herauszuschlagen. Aus seiner vorwiegenden Begabung für die Karikatur
machte Thackeray eine künstlerische Tugend. Er stellte sich im Gegensatz zu seinen
Vorgängern im Romanschreiber und in begeisterter Verehrung Fieldings auf den
Pessimistischen Standpunkt: „Mit Ausnahme einzelner Engel, welche er in dieses
Jammerthal hineinversetzt, ist die ganze Menschheit eine Gesellschaft von lauter
fleischlichen Materialisten. . . . Der Egoismus, wie Thackeray ihn in seinen Menschen
schildert, ist ein so bestialischer, daß er keine Schranken, wie sie etwa das Familien¬
gefühl, die Dankbarkeit, die Neue auferlegen, kennt." Conrad weist auch die lau¬
nische, Sprunghafte Manier des Dichters nach, der nicht immer sicher in seinen
sittlichen Urteilen war und es mit seiner künstlerischen Aufgabe selten ernst nahm.
Er ist dabei nicht blind für die guten Seiten ThackerayS: er betont die große
Schärfe seiner Kenntnisse, zumal des achtzehnten Jahrhunderts in England, und
die bedeutende Kraft seiner gestaltenden Phantasie.
Max Kretzer gilt als der Sozialist unter den Naturalisten, die die neue
Gattung des Berliner Romans Pflegen. In diesem neuesten Werke hat er aber seine
sozialistische Tendenz hinter der dichterischen Objektivität des Charakterschilderers
zu verbergen gestrebt, und an Stelle des Naturalismus ist eine säuberliche Zeich¬
nung, man möchte beinahe sagen eine altfränkisch Philiströse Gemütlichkeit getreten,
die weit mehr an die Romantik erinnert, als an den gewaltthätigen Zola. Denn
mit elegischem Blicke schaut Kretzer auf die gute, alte Zeit zurück: es waren damals
doch bessere Menschen, redlichere Männer, gesündere Verhältnisse. Dagegen jetzt!
Da macht sich das Strebertum mit seiner grenzenlosen Selbstsucht, seiner Gewissen¬
losigkeit, seinem rücksichtslosen Konkurrenzkampfe breit, daß die Männer vom guten,
alten Schlage, wie Meister Timpe einer war, dabei notwendigerweise zu Grunde
gehen müssen. Die Maschine, die Einführung des Dampfbetriebes, das Gro߬
kapital, die Massenproduktion haben diese Umwälzung herbeigeführt. Die Gro߬
industrie hat dem Publikum zwar schlechtere, aber billigere Ware geliefert, sie hat
die Preise für Ware und Arbeit gedrückt, diese Konkurrenz hat das Kleingewerbe
nicht aushalten können. Es ist die uns allen wohlbekannte soziale Tragödie unsrer
Tage, die Max Kretzer hier vorgeführt hat. Allein er hat durch Aufnahme ganz
gemeiner und zufälliger Motive der Tragik des Vorwurfs ihre Hoheit genommen.
Wie sehr man auch Partei für den Arbeiter und gegen das gewissenlose Gro߬
kapital nehmen mag, so darf man den Industriellen doch nicht schlankweg als Dieb
hinstellen. Die Tragik der Vorgänge liegt eben darin, daß sich die vorhandenen
positiven Gesetze und sozialen Ordnungen gerechterweise nicht gegen den Egoismus
des Großkapitals anwenden ließen, daß die Entwicklung der Gesellschaft Formen
angenommen hat, die von dem ältern Gesetzgeber nicht vorausgesehen werden
konnten. Rein bleibt diese Tragödie nur dann, wenn das Uebel objektiv in der
mangelhaften Gesetzgebung, nicht aber in der Bösartigkeit einzelner Menschen er¬
kannt wird; denn schließlich bleiben sich die Menschen durch alle Zeiten gleich, und
ebenso ihre Selbstsucht. In seiner Parteinahme jedoch für die armen Opfer der
Großindustrie, für die ruinirten Klcingewerbler, wie für die schlecht bezahlten und
schlecht ernährten Fabrikarbeiter hat Kretzer alles sittliche Licht auf diese und alle
Schändlichkeiten auf die Reichen vereinigt. Er läßt seinen spekulativen großindu-
striellen Urban nur durch einen ganz gemeinen Diebstahl der Modelle des Drechsler -
meisters Timpe seine großen Erfolge erringen, und das ist keine glückliche Erfin¬
dung. Die Gestaltung des Meisters Timpe und seines ganzen Familienlebens ist
ihm besser gelungen. In dem achtzigjähriger Gottfried Timpe, in seinem Sohne
Johannes, dem „Meister," und in dem Enkel Franz Timpe hat Kretzer die drei
Berliner Generationen unsers Jahrhunderts gut veranschaulicht. Der Enkel ist
schon ganz ein moderner Streber geworden, der seinen Vater bestiehlt, auf eine
reiche Frau spekulirt, flott lebt, viele Verhältnisse zu käuflichen Mädchen hat und
schließlich der Kompagnon desselben Großindustriellen wird, der den Meister Jo¬
hannes vernichtet. An diesem selbst, dem Typus eines tüchtigen und charaktervoller
Berliner Handwerkers, ist der Konflikt zwischen den zwei großen Motiven der mon¬
archischen Treue und der sozialistischen Unzufriedenheit poetisch der merkwürdigste
Charakterzug. Auf die Schilderung dieses schweren und langjährigen Seelenkampfes
hat Kretzer die meiste Sorgfalt verwendet; dieses neue Motiv ist der wertvollste
dichterische Kern des Romans geworden. Und Timpe bleibt königstreu, bis er
den letzten Atemzug in demselben Feuer aushaucht, das er, um sich selbst zu töten,
angezündet hat. Denn er endet im Selbstmorde aus Verzweiflung über die Schlechtig¬
keit feines Sohnes und der neuen Welt. Wie sich an Franz Timpe das Verbrechen
des Diebstahls beim eignen Vater rächen soll, hat Kretzer als rechter Sittenmaler
auch nicht einmal anzudeuten den Mut gefunden: der Sohn lebt ja noch, er ver¬
tritt die Gegenwart. Noch andre Kompositionsfehler wären anzumerken. So der,
daß Meister Timpe erst sehr spät in den künstlerischen Mittelpunkt des Romanes
tritt, und daß die völlige Vernachlässigung seiner Gegenpartei geradezu verstimmt.
Der Roman hat kein Gleichgewicht. Ebenso werden andre angefangene Fäden ohne
Grund fallen gelassen.
Zur Beachtung.
Mit dem vorliegenden Beste beginnt diese Zeitschrift das 5. Vierteljahr ihres 47. Jahr¬
ganges, welches durch alle Buchhandlungen und postanstalten des In° und Auslandes zu
beziehen ist. Preis für das Vierteljahr g Mark, wir bitten um schleunige Erneuerung
des Abonnements.
Leipzig, im Juni ZS88. ^ , , ^,
Ire Verlagshandlung.
irgends zeigt sich das deutsche Nechtssprichwort: „Der Tote erbt
den Lebendigen" (I^o wort saisit lo vit) kräftiger als in der
Erbfolge des Thrones. Die stille Sammlung, welche dem Bürger
gegönnt ist, den der Tod seines Familienhauptes betroffen hat,
bleibt dem Herrscher versagt. Die Größe seiner Stellung, die
hohe Pflicht seines königlichen Amtes verlangen gebieterisch, daß der neue Herr
sich von der Trauer um den Toten zu der Sorge um die Lebenden wende.
Daß dies bei der Thronbesteigung Friedrichs III. nicht der Fall sein konnte,
daß die tötliche Krankheit den Kaiser an das Zimmer bannte, als die Leiche
Wilhelms I. beigesetzt wurde, daß die fehlende Sprache den Monarchen hinderte,
zu der gewählten Vertretung seines Volkes persönlich zu reden, das alles lastete
wie Blei auf den Gemütern. Aber Gott verläßt die Deutschen nicht. Dem ersten
Kaiser Wilhelm ist Wilhelm II. gefolgt; ein jugendlicher Monarch, der kaum noch
vor einem Jahre der größern Menge bekannt war, hat mit festen Händen die Zügel
der Negierung ergriffen. Sein jugendliches Alter teilt er mit vielen seiner großen
Ahnen; der große Kurfürst und der große König von Preußen und Friedrich
Wilhelm I., der dem preußischen Königtum zuerst das feste Gefüge einer geord¬
neten, gerechten und sparsamen Verwaltung gab, sind noch jünger gewesen, als
der gegenwärtige Inhaber der deutschen und preußischen Krone. Erst seit dem
Beginne der Krankheit seines erlauchten Vaters begannen die Blicke des Jn-
und Auslandes sich dem „Prinzen Wilhelm" zuzuwenden. Man beobachtete
ihn genauer und fand zwei außerordentliche Grundzüge in seinem Charakter:
in dem Großvater sah er das Ideal eines Regenten, und in dem Fürsten Bis-
marck verehrte er mit Begeisterung den Staatsmann, dem sein Haus und sein
Land so viel Dank schuldet. Für die überwiegende Mehrheit der Nation war
diese Wahrnehmung ein Trost in schwerer Zeit, der Hoffnungsstern der Pl-
kunst, und die Bitternis, in welcher das deutsche Volk das Krankenlager
Friedrichs III. umgab, fand allein ihre Milderung in dem Aufblick zu dem
Sohne, der mit dem Namen auch die Eigenschaften des eben verblichenen ersten
Heldenkaisers geerbt zu haben schien. Zu dem körperlichen Leiden Kaiser
Friedrichs trat auch das seelische, daß in einer in Deutschland und Preußen ge¬
radezu unerhörten Weise eine Partei die Vermessenheit hatte, den Herrscher als
ihren Parteigenossen in Anspruch zu nehmen. Die Kamarilla und die sonstigen
Einflüsse, welche den schwerkranken Monarchen umgaben, mußten nach vielen
Richtungen hin den Eindruck verstärken, als ob die lügenhaften Reklamen der
Berliner Fortschrittszeitungen nicht ganz der Grundlage entbehrten. Der deutsch¬
freisinnige Hexentanz war damals für die Staats- und königstreuen Elemente
schwer zu durchbrechen, denn es hätte dies nur geschehen können, indem man
einzelnen Persönlichkeiten die Maske vom Gesichte riß, zu denen der kranke
Herrscher ein besondres Vertrauen hatte. Die wirkliche, nicht die papierne Loya¬
lität des „Berliner Tageblattes" und des Herrn Eugen Richter, duldete lieber
Verleumdungen, als daß sie dem kranken Kaiser Schmerzen bereitete und das
monarchische Prinzip erschütterte. In dieser kurzen Regierungszeit haben die
Fortschrittsblätter sich nach Kräften bemüht, den Kronprinzen Wilhelm in einen
Gegensatz zu seinem Vater zu bringen. Die demokratische „Volkszeitung" sprach
von dem tiefen Schmerze, den die Kaiserin Viktoria um ihren Sohn empfinde;
sie stellte die Kaiserin als von ihrem Fleisch und Blut verlassen dar. Auch
damals hat sich kein Staatsanwalt gefunden, der gegen diese freche Lästerung
eingeschritten wäre. Wollten die Parteien und die Zeitungen, die in den letzten
Monaten verunglimpft und geschmäht worden sind, das ihnen von den Demo¬
kraten und Fortschrittlern samt deren Presse gegebene Beispiel befolgen, so
könnten sie heute noch mit mehr Recht dem Kaiser Wilhelm II. als ihrem Kaiser
und König' entgegenjubeln. Vs8tiAig. torrent. Die Kartellparteien würden
in einem solchen Verfahren den Mangel an Ehrerbietung gegen den Herrscher
und ihre eigne Herabwürdigung erblicken. Ein preußischer König aus dem
Hohenzollernstamme kann niemals ein Herrscher von Parteien sein, und die ersten
Regierungshandlungen Wilhelms II. beweisen klar und deutlich, daß er ein
Herrscher für alle ist und daß er sein hohes Amt nicht zu Gunsten von Parteien,
sondern als Vertreter der Gesamtheit und als „erster Diener des Staates" zu
führen gesonnen ist. Wir freuen uns dessen und fühlen uns wieder geborgen und
sicher. Der Aufruf an Heer und Flotte zeigt, daß Wilhelm II. in der militärischen
Grundlage und deren Festigung, wie sein glorreicher Großvater, die erste und
notwendigste Schutzwehr des Reiches zu Pflegen gesonnen ist. Sein Aufruf an
das Volk enthält in schlichten, aus dem Herzen strömenden und zu Herzen
gehenden Worten die fromme Verheißung, daß das gegenseitige Vertrauen von
König und Volk und die Liebe zum gemeinsamen Vaterlande die Richtschnur
seiner Handlungen sein wird. Die Thronrede, welche der junge Kaiser, umgeben
von den gesamten Bundesfürsten und den Bürgermeistern der freien Städte, an
den Reichstag richtete, legt Zeugnis ab, daß er entschlossen ist, in den Bahnen
Wilhelms I. fortzuschreiten. Es ist mehr als eine symbolische Bedeutung, daß
die Bundesfürsten sich beeilten, sich an die Seite ihres Oberhauptes zu stellen,
um dem deutschen Volke und der Welt zu beweisen, daß die deutsche Bundes¬
treue keine Unterbrechung erfahren hat und daß neidlos auch ein jugendlicher
Kaiser freudig als Führer von Fürsten und Volk begrüßt wird. Indem die
Thronrede an die Regierungsgrundsätze des ersten deutschen Kaisers anknüpft,
enthält sie ein Programm, dem alle zujubeln werden, in deren Herzen die Liebe
zum Vaterlande jede andre Empfindung ausschließt. Die Thronrede an den Land¬
tag enthält wertvolle Zusicherungen auf dem Gebiete der innern Politik. Wir
rechnen es dem jungen König hoch an, daß er vom Throne herab, um nieder¬
trächtigen Versetzungen entgegenzutreten, feierlich jedem religiösen Bekenntnisse
Freiheit und Schutz zugesichert hat. Wohl macht es eine» Unterschied, ob ein
neunzigjähriger Greis oder ein dreißigjähriger Mann auf dem Throne sitzt, aber
dieser Unterschied wird sich in den wesentlichen Beziehungen nicht geltend machen.
Denn die Thronreden Wilhelms II. sagen nichts andres als jenes Wort, das
Friedrich der Große kurze Zeit nach seiner Thronbesteigung aussprach: „Die De¬
koration des Gebäudes wird eine andre sein, aber die Fundamente und Mauern
bleiben unversehrt." Wir werden weiter wandeln in den Bahnen, die Wilhelm I.
mit seinem großen Kanzler gewiesen hat, und mit diesem Programm kann Wil¬
helm II. der Liebe und des Vertrauens des gesamten Volkes sicher sein. Wehe dem,
der daran rütteln wollte I
as neue Strafgesetzbuch, das demnächst in Italien eingeführt
werden wird, enthält unter andern folgende Bestimmungen:
Art. 101. Wer eine Handlung begeht, die dahin abzielt, den
Staat oder einen Teil desselben einer fremden Herrschaft zu
unterwerfen oder die Einheit des Staates zu zerstören, wird mit
Zuchthaus bestraft. Art. 173. Der Kultusdicner, der bei Ausübung seiner
Amtsverrichtungen öffentlich die Einrichtungen oder Gesetze des Staates oder die
Handlungen der Behörden tadelt oder schmäht, wird mit Haft bis zu einem Jahre
und mit Geldstrafe bis zu 1000 Franks bestraft. Art. 174. Der Kultusdiener, der
unter Mißbrauch einer moralischen, aus seinem Amte entspringenden Macht zur
Mißachtung der Einrichtungen oder Gesetze des Staates oder der Handlungen der
Behörden oder sonst zur Uebertretung der Pflichten gegen das Vaterland oder der¬
jenigen, welche mit einem Staatsamte verbunden sind, anreizt oder berechtigten
Vermögensinteressen Eintrag thut oder den Frieden der Familie stört, wird mit
Hilfe von sechs Monaten bis zu drei Jahren, mit Geldbuße von 500 bis 3000 Franks
und mit dauernder oder zeitweiliger Ausschließung von der geistlichen Pfründe
heimgesucht, Art, 175, Der Knltnsdiener, der gegen die Verfügungen der Regierung
äußere Kultushandlungen verrichtet, wird mit Haft bis zu drei Monaten und mit
Geldbuße von 50 bis 150 Franks bestraft. Art, 176. Der Kultusdieuer, der in
Ausübung oder unter Mißbrauch seines Amtes sich irgend eines andern Vergehens
schuldig macht, verfällt der Strafe, welche gesetzlich dafür festgesetzt ist, verschärft
durch eine Erhöhung von einem weitern Sechstel bis zu einem Drittel, mit Aus¬
nahme der Fälle, wo bereits die Eigenschaft des Kultusdieners vom Gesetze in
Berücksichtigung gezogen worden ist.
Die Staatsgewalt will sich durch diese Paragraphen wirksamer gegen die
klerikale» Versuche zur Wiederherstellung des Kirchenstaates schützen. Es ist be¬
greiflich, daß die klerikale Presse, soviel sie vermag, gegen diese Gesetze ein¬
wendet, daß die Bischöfe förmliche Verwahrungen beim Parlamente dagegen
einlegen, daß der Papst selbst durch Ansprache im heiligen Konsistorium ernste
und feierliche Beschwerde führt.
Daß diese Bemühungen einen nennenswerten Erfolg haben werden, ist
nicht wahrscheinlich.*) Aber bei dem großen Einfluß, den die Kirche in Italien
auf die Gemüter ausübt, werden viele wohl die Frage aufwerfen, ob durch
die neue Gesetzgebung nicht eine Art „Kulturkampf" entstehen werde, worin die
Staatsgewalt in dem ganz katholischen Lande noch weniger auf einen Sieg
Aussicht haben könne, als in dem der Mehrheit nach protestantischen Preußen,
dessen Maigesetze doch bei weitem nicht die Tragweite der oben angeführten
italienischen Gesetzesparagraphen hatten.
Wir glauben, daß diese Frage verneint werden muß, und wollen zur Be¬
gründung die nachfolgenden Beobachtungen mitteilen, die wir mit vollkommener
religiöser und politischer Unbefangenheit im Lande selbst gemacht haben.
Auch wer sich sonst teilnahmlos gegen Kirche und kirchliches Leben verhält,
gewinnt bei längeren Aufenthalte in Italien doch allmählich Interesse daran
und wird zum Nachdenken angeregt. Mau wandert fast täglich von einer
Kirche zur andern und findet die mannichfachsten Genüsse. Architektur, Skulptur,
Malerei, Musik, Volksleben bieten uns die Kirchen in Fülle; oft suchen wir
auch in den heiligen Räumen Wärme, wenn es draußen kalt ist, und Kühle,
wenn uns die Sonne im Freien lästig wird; zuweilen auch Ruhe und Sammlung,
wenn das Gemüt ihrer bedarf. Allmählich begreifen wir, daß die Kirche in
Italien zum Leben des Volkes gehört und daß sie zu diesem eine ganz andre
Stellung einnimmt als diesseits der Alpen. Die Verhältnisse sind eben grund¬
verschieden, hüben und drüben.
Fassen wir den Geist der katholischen Kirche — wohlverstanden, wie er
sich in Italien bethätigt — richtig auf, so verlangt sie vom Volke eigentlich
nichts als Gehorsam. Daß sie eine wahrhaft sittliche Einwirkung jemals versucht
habe, davon liefert die Geschichte keinen Beweis. Savonarola wurde von der
Kirche verleugnet, und sein Versuch einer Einwirkung auf die Gemüter, einer
sittlichen Reform, fand nnr in Florenz, und auch da nur vorübergehend, Einfluß,
der wie ein neues Gericht einem verwöhnten Magen eine kurze Zeit lang
mundet, dann aber auch bald Überdruß erregt. Es war ein Feuer, das
mächtig aufflackerte, aber bald erlosch, weil es keine Nahrung im Charakter
des Volkes fand.
Das große Geheimnis, wie es der katholischen Kirche gelang, das Volk
im Gehorsam zu halten, nicht nur die rohen Massen, sondern auch die Ge¬
bildeten, ja selbst die Denkenden und den Dogmen widerstrebenden, liegt in
der Lehre von den Qualen der Hölle und des Fegefeuers und von der lösenden
Macht des Priestertums. Selbst ganz freidenkende Männer fügen sich, indem
sie denken, ja zuweilen offen aussprechen: „Es kann jedenfalls nichts schaden,"
oder: „Man kann immerhin nicht wissen" u. s, w.
Man ist erstaunt, wenn man dergleichen Äußerungen aus dem Munde
ernster Männer vernimmt. Aber man muß sich vergegenwärtigen, daß die Angst
vor den höllischen Qualen nicht nur auf einer kirchlichen Lehre beruht, soudern
daß diese Qualen auch mit einer Zolas würdigen Realität von Künstlern und
Dichtern dem Volke in allen denkbaren Einzelheiten dargestellt worden sind.
Dante hat die Hölle so drastisch geschildert und dem Geiste seines Volkes so
lebhaft vor die Augen geführt, daß der Eindruck um so tiefer gehen mußte,
je größer und unanfechtbarer der Name Dantes seinem Volke wurde und je
höher sein Gedicht in der Litteratur im Range stieg. Noch mehr haben die
Maler gethan, um die Angst vor den Höllenqualen im Gemüte des Volkes zu
befestigen. Man findet die Beweise hierfür in allen Winkeln Italiens. Es
genüge, auf die entsetzlichen Darstellungen hinzuweisen, welche die Fresken in
der Kuppel des Florentiner Domes enthalten.
Das Kirchenregiment also verlangt vom Volke nichts als Gehorsam. Der
Gottesdienst stellt fast keine Anforderung, verlangt keine Mitwirkung der Ge¬
meinde. Dies alles bleibt dem Einzelnen überlassen. Der Priester ist der
Vermittler zwischen Volk und Gott; der Priester allein ist es, der der Gottheit
die ihr gebührenden Opfer darbringt; das Priestertum ist es, das Gott verehrt
und mit Gepränge und Feierlichkeit jeder Art verherrlicht. Die Kirche ruft
zwar das Volk zur Anwesenheit beim Gottesdienste herbei, aber sie erkennt nicht
einmal den Grundsatz 1'rizs lÄeiunt soolksiain an, denn auch wenn niemand
kommt, geht der Dienst wie gewöhnlich von statten.
Alles dies findet schon in der räumlichen Anlage der Kirche seinen Ausdruck.
Die Kirche besteht aus zwei ganz verschiedenen Räumen, dem Zuschauerraum
und — man möge den Ausdruck seiner Anschaulichkeit wegen gestatten — der
Bühne. Während auf der letzteren die heilige Handlung vom Priester voll-
zogen wird, bewegt sich das Volk im Zuschauerraume in der ungezwungensten
Weise. Mütter mit ihren Säuglingen auf dem Arme wandeln ans und nieder
und halten es nicht für unpassend, dem Kinde innerhalb der Kirche die Brust
zu bieten. Größere Kinder tummeln sich mit ihrem Spielzeug, Mäuner haben
ihre Hunde mitgebracht, oder die Hunde sind auch allein hereingelaufen. Geringe
Leute haben ihre Lasten auf dem Rücken, Soldaten lassen ihre Säbel auf den
Boden aufklirren, zärtliche Paare sitzen in entfernteren Ecken, Fremde mit dem
Baedeker in der Hand kommen in lautem Gespräche mit dem begleitenden
Lohndiener, schlüsselrassclndc Kirchendiener erbieten sich zur Vorzeigung der
Merkwürdigkeiten der Kirche; in einer Ecke (in Mailand) steht ein Zahltisch,
an dem man das Eintrittsgeld zum Domdache entrichtet und Photographien
kauft. Von Andacht, von Gemütserhebung ist hier kaum die Rede. Selbst die
wenigen, die hie und da in entfernten Winkeln oder an den Stufen eines
Scitenaltars knieen, vermögen doch wohl in diesem Getümmel kaum sich innerlich
zu sammeln und den Geist vom Irdischen zum Ewigen zu erheben.
So durchdringt, ja beherrscht das Volksleben die Kirche, wir meinen das
Kirchengebäude. Selbst Chor und Sakristei sind, wie in Santa Maria del
Fiore und Santa Maria Novella in Florenz, offen und jedermann zugänglich.
Die Kirche ihrerseits aber, als Anstalt, durchdringt ebenso das Volksleben,
und indem sie vom Volke nichts verlangt als Gehorsam, ihm aber gar vieles
darbietet und gewährt, wie Schulen, Asyle, Spitäler, Kunstwerke, Musik, Pracht,
Gepränge, selbst Beleuchtungen und Feuerwerke, ist sie dem Volke wert, will¬
kommen, ja unentbehrlich. Die Geistlichen bilden nicht, wie bei uns, eine ab¬
geschlossene Kaste, die sich vom Volke fernhält; sie tragen nicht, wie bei uns,
jene ernsten, zuweilen finstern und kampfbereiten Züge; man findet sie vielmehr
überall mitten unter dem Volke, am Vergnügungsort, im Kaffeehaus, in der
Osteria, im Omnibus und auf der Pferdebahn, bei Kegel- und Ballspiel; ihre
Gesichtszüge sind unbefangen und natürlich; der eine sieht ernst aus, der andre
heiter, dieser macht den Eindruck eines Sanguinikers, jener den eines Cholerikers,
kurz, sie erscheinen wie andre Menschen, als Individuen, nicht als Stand.
Um diese gegenseitige Durchdringung von Volk und Kirche, .von Kirche
und Volk recht zu verstehen, dazu waren die Oktobertage 1882 recht geeignet.
Man beging damals das siebenhundertjährige Jubelfest des heiligen Franz
von Assisi. In Assisi selbst hatte man dem Heiligen ein mächtiges Standbild
errichtet, das unter allgemeiner Teilnahme enthüllt wurde. Die Presse, selbst
die radikale, brachte lobredende Artikel, die den Heiligen als einen der großen
Männer Italiens priesen; die Kirchen, insbesondre natürlich die zu Franzis¬
kanerklöstern gehörigen, gaben Feste, zum Teil, wie Ognissanti in Florenz, mit
unerhörter Pracht. Und wie dabei das Volk der Kirche seine Reverenz machte,
so umgekehrt die Kirche dem Volke, indem sie seinem Nationalstolze schmeichelte.
Die Kirche Ognissanti hatte riesige Anschlagzettel an ihre Thüren und Mauern
gehängt, welche verkündigten, daß sie das Fest von Ario<Zi88ling. xonixg, begehe,
daß oratori valenti (es ist dasselbe Wort, das man von Virtuosen u. s. w.
gebraucht!) auftreten würden u. s. w. Am Hauptportale der Kirche war fol¬
gende Inschrift zu lesen: ^ Lg-ri ?rg,ne,<Z8vo ä'^.8sisi al Lristo rsäsutors im-
rngHinö rsäivivo, snooinigto äg.11' ^lligdieri uft äivinv xosma, äg. (ülmavus,
äg viotto, vus us ritrassöi-o le Zestö wiravili ^c. (Dem heiligen Franziskus,
dem Ebenbilde des Erlösers, verherrlicht durch Dante in dem göttlichen Gedichte,
durch Cimabue, durch Giotto, welche seine wunderbaren Thaten darstellten u. s. w.)
Ein andrer gleich riesiger invito 8gxw schloß mit dem Anruf: L vus si
8V6Z1iii(i trg. i egttolioi larZg. e tsoonäa mint^lors nött' goooAliers ig. rö^via
api Lgnto ?atriaroa, LöAuouäo 1'ö86iuxi0 al Dante, al Oiotto, al tüolomdo a
Alorig äst vous Lii8lig.no ö g. 8gluw äellg. vivit soeistg.. (Und möge unter
den Katholiken ein tiefer und fruchtbarer Eifer entstehen, die Regel des Heiligen
zu nehmen, nach dem Beispiel des Dante, des Giotto, des Columbus, zum
Preise des christlichen Namens und zum Heile der bürgerlichen Gesellschaft.)
Wer dürfte es bei uns wagen oder auch nur auf den Gedanken verfallen,
unsre geistigen Nationalheroen zur Anpreisung einer kirchlichen Feier anzurufen!
Es hieße dem Nachdenken des Lesers zu wenig vertrauen, wenn wir die Gründe
näher erörtern wollten.
Am Abend drängten sich dann Tausende in die Kirche Ognissanti, erst
um den vglsnts orgtore zu hören, der nichts vortrug, was irgendwie einer
Predigt glich, sondern der eine feurig begeisterte Lobrede (snoomio) auf den
Heiligen hielt; dann aber, um den zauberhaften Anblick zu genießen, welchen
die Kirche bot, als sie, mit den kostbarsten Spiegeln, Kron- und Wand¬
leuchtern und glänzenden Schaustücken geschmückt, in der Beleuchtung vieler
tausend Kerzen schwamm. Wenn dann in einem düstern Seitenraume neben Obst
und den Zeitungen Isierg-moMg,, Vsästtg, Leeolo, ?uuZoIo auch geweihte Rosen¬
kränze und eine kiöKkierg. g, Lau ?rg.no68(Zv ä'^88i8i mit seinem Bildnis auf
einem Flugblatte zum Verkaufe ausgeboten wurde, an dessen Fuß geschrieben
stand: ?ut.ti volori vus terraimo nslls loro <zg,86 ^uostg, 8gntg, iminaxiiis al
Lau ?rg,roe8<zö ä'^,88i8i, reoitguäo ers Aorig, ?g,tri8 it Ziorno vue vgäe ig,
8ug, et8eg, edö ö it 4 ottovro, 8grgnno lidergti as. mores iraxrovisg ca ot-
tsrigiio 100 Aiorui ä'irläuIZkii^g. in xuuto al mores, eonosssi äa Lua Lautitg.
I^one XIII (Alle, die in ihrem Hause dies heilige Bild des San Francesco
d'Assisi halten und an seinem Geburtstage, der der 4. Oktober ist, drei Klorig
Mri8 beten, sind befreit von plötzlichem Tode und erhalten im Todes¬
falle hundert Tage Ablaß, die Seine Heiligkeit Leo XIII. bewilligt hat)
und wenn man dazu mit lauter Stimme angeschrieen wurde: Leuto ^iorni
ä'iuäulssku^ per un 8vio soläo, so ging dies alles zwar nicht in der Kirche
selbst vor, aber doch immerhin in einem zu ihr gehörigen Vorraume; man konnte
entschuldigend sagen, es sei wie bei den Zeitungen mit dem. was unter dem
Striche steht, wofür die Redaktion zwar keine Verantwortlichkeit trägt, was sie
aber doch gern geschehen läßt; alles aber war ein anschaulicher Beweis, wie
sehr sich Kirche und Volksleben durchdringen und wie jedes dem andern freie
Bewegung gönnt.
Von hohem Interesse und äußerst belehrend ist es, die Freundschaft der
beiden Mächte, Kirche und Volksleben, auf dem Lande, in kleinen Städten n»d
Dörfern im einzelnen zu beobachten, z. B. bei dem Feste eines Schutzheiligen.
Da thut die Kirche, was sie nur vermag, das Volk zu unterhalten. Aber auch
das Volk versäumt nichts, das Fest mit möglichstem Gepränge zu feiern, und
der Festesjubel kennt dann keine Grenze, die Gemeindekasse thut ihr möglichstes,
und die Nachbarn treten zusammen, um Laub- und Blumengewinde über die
Straße zu ziehen, die Häuser zu schmücken, Ehrenpforten für den Durchzug
der Prozession zu errichten, abends zu illuminiren und ein prächtiges Feuerwerk
zu veranstalten. Trifft es sich gar, daß an demselben Tage in einem benach¬
barten Orte ein andrer Heiliger sein Fest begeht, so ergreift die Leidenschaft
auch die Kirche, und es ist nicht selten, daß sie, um im Wettkampfe Sieger zu
bleiben, tiefer in den eignen Seckel greift, als die armen Leute erschwingen
können. Dergleichen kirchlich-weltliche Wettkämpfe konnte man von Castellamare
aus beobachten, als Portici und Resina den Wettkampf aufnahmen. Der Jubel,
als man des Sieges gewiß war, spottete jeder Beschreibung. In Capri konnten
am Tage des Heiligen die jungen Bursche in ihrem Eifer gar nicht das Ende
des Gottesdienstes erwarten; sie feuerten ihre Flinten schon unter dem Portal
der Kirche ab, als der Priester noch am Altar stand, und sie begleiteten
mit ununterbrochenen Salven die Prozession, die den Heiligen hinab nach
der Narwg. ^ranäs brachte, während die Mädchen den Weg mit Blumen be¬
streuten.
In der mächtigen Kirche Santo Spirito in Florenz war der Verfasser
dieser Zeilen zugegen, als — wohl zur Feier der heiligen Agathe — ein fremder
Priester, wieder ein besonders angekündigter valsuts orators, die Festpredigt
hielt. Er mußte seinen Vortrag mehrmals unterbrechen und mit gänzlichem
Aufhören drohen, weil der Lärm, den Kinder und Erwachsene, ja sogar Hunde
machten, seine Stimme übertönte. Aber das Volk kümmerte sich nicht um
die Mahnung, der Lärm dauerte fort, und der Priester beendete seine Rede,
obwohl ihn nur sehr wenige hören konnten. (Solche Kirchen sind ja mich
viel zu groß, als daß man darin Ruhe halten könnte, wenn sie einmal
gefüllt sind.)
So sehen wir also überall gutes Einvernehmen, gegenseitige Rücksicht, ja
wirkliche Freundschaft zwischen Volk und Kirche. Auch die Schaustellung ihres
Reichtums, ihrer Schätze und Kostbarkeiten ist weit entfernt, vom Volke übel ver¬
merkt zu werden. Unser nationalökonomisches Gewissen wird lebhaft erregt, wenn
wir die ungeheuern toten Kapitalien überschlagen, die in den Schätzen der Kirchen
stecken. Aber bei näherm Nachdenken und wenn man mit dem italienischen
Leben vertrauter geworden ist, muß man doch eingestehen, daß diese Kapitalien
keineswegs ganz tot sind. Denn die Kirchen dienen dem Bedürfnis des Süd¬
länders nicht weniger mit ihrer Pracht und ihren prunkvollen Zeremonien, als
mit ihrer kühlen Stille und ihrer überwältigenden Einsamkeit; und dieses Be¬
dürfnis wird auch nicht schwinden, wenn sich Aufklärung und Wohlstand mehr
und mehr verbreiten. Die Pracht der Kirche verletzt das Gefühl des Armen
durchaus nicht, im Gegenteil, ihn tröstet, erhebt, erquickt, versöhnt der Anblick
eines Reichtums, der ihm persönlich versagt ist, den aber die Kirche vor ihm
und für ihn entfaltet. Ein einfacher, schmuckloser Gottesdienst, Kirchen ohne
Marmor, Mosaikboden, Gemälde, kostbare Altäre, Priester ohne schimmernde
und spitzenbesetzte Gewänder würden dem Italiener unerträglich sein. Mag
eine Kirche Jahrhunderte lang einer würdigen Fassade entbehren (wie San
Lorenzo in Florenz und der Dom daselbst bis in dieses Jahrzehnt), dem Innern
darf an Schmuck und Pracht nichts abgehen.
Es würde nicht schwer fallen, noch vieles andre zur Begründung unsrer
Ansicht über das Verhältnis zwischen Volk und Kirche anzuführen, wir glauben
aber, daß das Angeführte genügt, um den Leser zu überzeugen, daß Italien mit
einem andern Maßstabe gemessen werden muß als Deutschland. Ein Kultur¬
kampf wie in Deutschland ist in Italien undenkbar. Der Papst mag nach
Wiedererlangung der weltlichen Herrschaft trachten, der Staat mag in seinem
Bestreben fortfahren, die päpstliche Macht noch weiter zu beschränken, die Kirche
wird bleiben, was sie ist und wie sie ist, ein intcgrirender Teil des Volkslebens,
eine Offenbarung desselben, die nicht verschwinden wird, so lange die Italiener
Italiener bleiben. Wenn es Agitatoren hie und da gelingt, den Pöbel auf¬
zuhetzen und zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen die Kirche aufzuregen, so
beweist dies nichts weiter, als daß am gegebenen Orte und zur gegebenen
Zeit Stoff zum Zwiste angesammelt war. Der Papst selbst mag sich trotz aller
Proteste gegen den Verlust der weltlichen Herrschaft doch wohl der Überzeugung
nicht verschließen, daß seine sittliche Macht kaum in wenigen Zeiten des Mittelalters
größer gewesen ist als in der Gegenwart, wo er in rein politischen Händeln
von mächtigen Staaten als Schiedsrichter angerufen wird, wo selbst prote¬
stantische Staaten wie Preußen und England seiner Hilfe bei innern Schwierig¬
keiten nicht entbehren können und diese mit Zugeständnissen an die katholische
Kirche erkaufen müssen. Es giebt einsichtige und urteilsfähige Italiener, welche
behaupten, Pius IX. sei im Geheimen mit Viktor Emanuel über die politische
Neugestaltung Italiens einverstanden gewesen. Sein Nachfolger kann jedenfalls
nicht verkennen, daß jetzt, nachdem der italienische Einheitsstaat in die Gemüter
eingewachsen ist, sich durch Finanzen, Heer und Marine gefestigt hat, ein ge¬
achtetes Glied des europäischen Areopags geworden ist, daß jetzt der Wieder¬
herstellung eines weltlichen Kirchenstaates in Italien Erschütterungen aller mo-
rauschen und politischen Verhältnisse nicht nur Italiens, sondern der ganzen
Welt vorausgehen müßten, von einer Größe, die wir uns kaum vorstellen können
und deren Folgen auch dem Papsttum verhängnisvoll werden könnten.
min Pascha ist seit der Ermordung Gordons und dem Tode
Livingstones die interessanteste Persönlichkeit, welche die Geschichte
der europäischen Unternehmungen in Afrika außer Stanley aus¬
weist. In diesem Augenblicke harrt die gebildete Welt voll
ängstlicher Erwartung der Nachrichten über die Errettung dieses
heldenmütigen Nachfolgers Gordons durch denselben unerschrockenen Reisenden,
der Livingstone einst Hilfe brachte. Was aber Livingstone that, wird Emin
wahrscheinlich auch thun: er wird sich weigern, die Stätte seiner Wirksamkeit
und seiner Triumphe zu verlassen, ehe er sein Werk vollendet hat.
So viele Nachrichten über die „Rettung" Emin Paschas durch die Zeitungen
gehen, so wenig ist doch bekannt, welches die eigentliche Lage des Mannes ist,
was ihn in Mittelafrika fesselt, oder warum er da ist und was er während
der langen Zeit seiner Jsolirung gethan hat. Vor kurzem haben nun Schwein-
furth und Ratzel einen Band Briefe und Tagebücher Emin Paschas ver¬
öffentlicht, und da diesen authentischen Nachrichten über den kühnen Mann neues
erst dann hinzuzufügen sein wird, wenn Stanley mit oder ohne ihn zurückkehrt,
so ist es wohl gerechtfertigt, wenn wir auf Grund dieser Schriftstücke einige
Mitteilungen über ihn machen.
Der Mann, der den orientalischen Namen Emin fuhrt, heißt eigentlich
Eduard Schnitzer und ist 1840 zu Oppeln in Schlesien geboren. Zwei Jahre
nach seiner Geburt siedelte der Vater, der als „Kaufmann" bezeichnet wird,
mit seiner Familie nach Reiße über, wo die Mutter und die Schwester unsers
Forschers noch leben. Seine Erziehung erhielt er auf dem Gymnasium zu
Reiße und besuchte dann 1858 die Universitäten zu Vreslau und Berlin, auf
denen er sich dem Studium der Medizin widmete. 1864 erlangte er zu Berlin
den medizinischen Doktorgrad. Mehr jedoch als die Medizin, deren philan¬
thropische Seite ihm näher lag, zogen ihn naturwissenschaftliche Studien an;
dazu gesellte sich eine unwiderstehliche Reiselust; und beide Neigungen vereinigten
sich, um ihn hinaus in die Weite zu treiben.
Zuerst ging er nach der Türkei (1864), er wollte sich eine ärztliche
Praxis dort gründen. Nachdem er sich eine kurze Zeit in Antivari aufgehalten
hatte, ging er nach Skutari. Hier glückte es ihm, das Interesse des damaligen
Valis, Ismael Pascha Haggi, zu erregen und seine Aufnahme in das Gefolge
des türkischen Würdenträgers zu erwirken, der in amtlicher Stellung die ver¬
schiedenen Provinzen des weiten Reiches zu bereisen hatte. Auf diese Weise
lernte er Armenien, Syrien, Arabien kennen. Dann kam er nach Konstantinopel,
wo der Pascha im Jahre 1873 starb. Im Sommer 1875 kehrte er nach
Reiße zum Besuche seiner Angehörigen zurück. Er lebte hier mehrere Monate
und benutzte seine Muße zu naturwissenschaftlichen Studien. Aber von neuem
kam Wanderdrang über ihn, und 1876 finden wir ihn wieder auf dem Wege
nach Ägypten, wo er als „Dr. Emin Effendi" in den Dienst des Khedive trat.
In dieser Stellung wurde ihm ein Wirkungskreis unter dem Generalgouvemeur
des Sudans in Chartum zugeteilt, und von hier wurde er dann als oberster
Sanitätsoffizier in die Äquatorialprovinz geschickt, deren Gouverneur damals
Gordon Pascha war, der englische Oberst, der so tragisch endigen sollte.
Der Grund, weshalb sich Dr. Schnitzer den Namen Emin beilegte, war
der, daß er sich den Eintritt in die muhammedanische Welt, in der er eine lange
Reihe von Jahren zu wirken gedachte, erleichtern wollte. Als „Emin" vermied
er das tiefgewurzelte Mißtrauen, das alle Orientalen gegen den „Franken"
erfüllt, und seine außerordentliche Sprachkenntnis erleichterte ihm diese Um¬
wandlung. Er war nicht nur im Französischen, Englischen, Italienischen und
in mehreren slawischen Sprachen sattelfest, sondern er hatte sich auch während
seiner asiatischen Wanderungen eine so gründliche Herrschaft über das Türkische
und Arabische angeeignet, wie sie nur wenige Europäer besitzen werden. Er
studirte dazu noch das Persische und beherrscht jetzt ohne Zweifel die meisten
Dialekte Zentralafrikas.
So konnte Schnitzer, nach Änderung seines Namens, bei den Muham-
medanern des Sudans geradezu für einen Ägypter gelten, und das wollte in
dem fremden Lande, das nun sein Arbeitsfeld ausmachte, viel sagen. „Emin"
ist ein arabisches Wort und bedeutet die Treue, und wohl niemals hat sich
jemand einen Namen mit bessern: Recht zugelegt. So lauge die Kultur noch
Geschichtsschreiber hat, wird dem treuen Manne, der auf seinem einsamen
Posten ausharrte, ein ehrendes Andenken bewahrt bleiben.
Gordon war der rechte Mann, einen Emin zu würdigen und seine Be¬
gabung und Thatkraft zu verwerten. Er sah in ihm viel mehr als einen bloßen
Sanitätsoffizier. Er beauftragte ihn mit Inspektionsreisen durch die Gebiete,
die Ägypten neu erworben waren, und betraute ihn mit diplomatischen Sen¬
dungen an verschiedene Häuptlinge, so nach Uganda, wo der König Mtesa eine
Zeit hoffnungsvoller Kulturentwicklung in Aussicht zu stellen schien.
Als Gordon Pascha zwei Jahre später, vom Khedive Ismael mit Voll¬
machten ausgerüstet, wie sie zuvor noch keinem Gewalthaber im Sudan zu teil
geworden, Hoknmdar, d. h. Verweser aller außerhalb des engern Ägyptens ge-
legeuen Gebiete, wurde, erhielt or. Emin Effendi im März 1878 die Befehls¬
haberstelle in Lato und damit die Verwaltung der Äquatvrialprovinz (Wa-
delai), die sich ungefähr vom neunten bis zum zweiten Breitengrade erstreckt,
bis hinab an die Nordküste des Albert-Nyanzasees, und die er bis heute mit
so viel Opfermut und Thatkraft behauptet hat.
Zwischen den südlichen Grenzen dieser Provinz und dem Viktoria-Nyanza-
see, an dem sich verschiedne Missionsstationen befinden, liegen die Staaten
Unyoro und Uganda, die von zwei eingebornen Nationen bewohnt werden,
welche beständig mit einander im Kriege liegen und deren Gebiete mehrere Jahre
hindurch für jeden Europäer unpassirbar waren. Seit dem Tode Mtesas
herrscht in Uganda dessen Sohn Mwanga, der nach allen Berichten, die über
ihn eingelaufen sind, ein Jüngling von äußerster Wildheit zu sein scheint, dem
man auch die Ermordung des Bischofs Hannington zur Last legt.
In diesem ausgedehnten Gebiete hatte sich zuerst Sir Samuel Baker und nach
ihm der „Chinese" Gordon abgemüht, den Sklavenhandel zu unterdrücken, eine Be¬
mühung, in welcher keiner von beiden eine wirkliche Unterstützung durch einflu߬
reiche Personen in Khartum und Kairo fand. Damit brachte Gordon das Land
in einen organisirten und friedlichen, wenn auch nicht ertragsfähigen Zustand, denn
es krankte an einer schwer drückenden Schuld und arbeitete mit einem bedeutenden
jährlichen Defizit. Als sich dann Gordon von dieser Stellung zurückzog, folgten
ihm eine Reihe gewissenloser und unfähiger eingeborner Gouverneure, welche
die Provinz bald wieder der Anarchie überlieferten und aus ihr eine Freistätte
für Erpressung und Räuberei machten. Die verschiedenen Stämme, die sich unter
dem wohlthuenden Einflüsse von Gordons Negierung erholt hatten, litten unter
seinen unwürdigen Nachfolgern schwer, während die Sklavenhändler, in be¬
festigten Dörfern wohl verschanzt, ihr häßliches Gewerbe von neuem aufnahmen.
Dies war der Zustand des Landes, als Gordon bei seiner Rückkehr nach
Khartum als Generalgouvemeur des Sudans die Verwaltung der Äquatorial¬
provinz Emin übertrug, der bis zu diesem Zeitpunkte immer nur noch erster
Arzt gewesen war. Bisher hatte er auch noch keinen ägyptischen Rang gehabt,
jetzt wurde er Bey und bald auch Pascha.
Emin ergriff die Zügel der Negierung im Jahre 1873, und bereits wenige
Jahre darauf hatte er in der Provinz eine große Veränderung bewirkt. Er
hatte sich einer Anzahl unehrenhafter Beamten entledigt, unter denen sich viele
aus Ägypten verbannte Verbrecher befanden, die in den Staatsdienst getreten
waren, nachdem sie ihre Strafe abgebüßt hatten. Solche ägyptische Soldaten,
denen er nicht trauen konnte, ersetzte er durch Eingeborne, die er sich heranzog
und die ihm ergeben waren. Er baute die in Verfall geratenen Stationen
wieder auf, verteilte die Abgaben gleichmäßig und gerecht, beschwichtigte die
Unzufriedenheit des Volkes und jagte die Sklavenhändler, diesen Fluch der
Provinz, aus dem Lande.
Er errichtete auch ein Hospital in Lato, das er selbst leitete, und unter¬
nahm vielfache Reisen durch sei» Gebiet. Ende 1882 konnte er berichten, daß
seine Provinz beruhigt und vom Sklavenhandel befreit sei, daß der Anbau von
Baumwolle, Indigo, Kaffee, Reis und Zucker emsig gefördert werde, daß zwischen
den einzelnen Stationen eine regelmäßige, wöchentliche PostVerbindung hergestellt
sei, daß die Wege verbessert und widerstandsfähiger gemacht worden seien, und
daß endlich das Budget nach Abzug sämtlicher Verwaltungskosten, statt eines
Fehlbetrages, einen Überschuß von achttausend Pfund aufweise. Und alles dieses
hatte ohne jegliche Hilfe ein deutscher Arzt vollendet, der, als er nach Afrika
ging, nichts von militärischen, finanziellen und landwirtschaftlichen Angelegen¬
heiten wußte, und der seine einzigen Erfahrungen in der Diplomatie unter
Gordon gemacht hatte.
Besonders bemerkenswert ist bei Emin seine Neigung zu wissenschaftlicher
Forschung und der Eifer, mit dem er botanische und zoologische Studien
betreibt, ohne jedoch dabei im geringsten die überwältigenden amtlichen Pflichten
zu vergessen, die auf ihm ruhen. Seine Tagebücher sind überreich an Bemer¬
kungen, die für den Naturforscher von größtem Werte sind, und man hat auch
Grund anzunehmen, daß er einige wichtige geographische Probleme gelöst habe,
die auf die Länder und Flüsse im Süden des Albert-Nycmzasees Beziehung
haben. Kehrt er noch einmal nach Europa zurück, was übrigens nach den
neuesten Nachrichten wenig wahrscheinlich ist, oder gelingt es ihm, seine geo¬
graphischen Forschungen in ihrer Vollständigkeit nach Europa gelangen zu
lassen, so wird man ohne Zweifel imstande sein, eine zuverlässige Karte Zentral¬
afrikas bis zum Äquator zu entwerfen.
or. Felkin, der in den Jahren 1878/79 bei Emin war, erzählt, daß ihm
am meisten der Pflichteifer und die Selbstlosigkeit des Mannes aufgefallen seien.
Sein ganzes Leben, sagt Felkin, scheint in der Sorge für das Wohlergehen
seines Volkes und für die Fortschritte der Wissenschaft aufzugehen, ohne daß
er einen Gedanken an seinen Ruhm oder an seinen persönlichen Vorteil hegt.
Dr. Hartlaub sagt: „Die Arbeit, die Emin durch seine zoologischen Samm¬
lungen und Beobachtungen geleistet hat, ist erstaunlich. Sie konnte aber nur
von einem Manne ausgeführt werden, dessen Herz in dem reinen Feuer wissen¬
schaftlicher Bestrebungen, in begeisterter, völlig selbstloser Liebe zur Natur er¬
glüht und von dem unwiderstehlichen Drange erfüllt wird, nach besten Kräften
die Schätze zu ihrer Erkenntnis zusammenzutragen."
Das also ist der Mann, der von der ägyptischen Regierung immer mit
Undank behandelt und seinem Schicksale überlassen wurde, als der Aufstand des
Mcchdi ausbrach, als Khartum fiel und Gordon schmählich ermordet wurde.
Dreiundeinhalb Jahre lang blieb Emin ohne Nachricht von der Außenwelt.
Er hörte, daß sein früherer Leutnant, der nachmalige Gouverneur der Nachbar-
Provinz Bahr-el-Ghazcilhad, sich dem Mcchdi unterworfen habe, und eine Zeit
lang glaubte er, daß er dasselbe Schicksal werde erleiden müssen. Doch
hielt er sich so lange aufrecht, bis die Ermordung des Mahdi die größte Ge¬
fahr beseitigt hatte und er hoffen konnte, Ersatz zu bekommen.
Gegen Ende Februar 1880 erhielt er endlich über Sansibar eine Depesche
von Nubar Pascha, die ihm anzeigte, daß der Sudan aufgegeben sei, daß die
Regierung ihn nicht unterstützen könne und daß er daher geeignete Maßregeln
treffen möge, das Land zu verlassen. Kurz, er wurde seinem Schicksale über¬
lassen, die Vollmacht, daß er von dem englischen Generalkonsul in Sansibar
so viel Geld erheben könne, als er brauche, war kein Trost für ihn. In
seinem Schreiben an Dr. Schweinfurth bemerkt er hierüber bitter: „Sie schlagen
mir einfach den Weg nach Sansibar vor, ganz als ob es sich um einen
Spaziergang nach Schubra ^ein Ort vor den Thoren Kairos^ handelte."
Der Weg nach Sansibar war nicht offen. Mwcmga, der Nachfolger
Mtesas, hatte eine feindliche Haltung gegen die Europäer angenommen. Er
verweigerte daher Emin den Durchzug durch sein Gebiet und fing auch längere
Zeit die Hilfsmittel ab, die Dr. Junker seinem Landsmanne schickte. Emin
würde aber auch nicht gegangen sein, wenn er es gekonnt hätte. In seinem
Schreiben an or. Felkin vom Juli 1886 drückt er die Hoffnung aus, daß
England ihn unter keinen Umständen verkommen lassen werde, es werde jeden¬
falls die Wichtigkeit zu schätzen wissen, die seine Entsetzung für die Unter¬
drückung des Sklavenhandels und die Freiheit der Provinz habe.
Im April 1887 erfuhr er durch Mackay, den gefangenen Missionar in
Uganda, daß ihm Unterstützung geschickt sei, und nun schreibt er einen Brief an
Dr. Felkin, worin er seinen Dank dafür ausspricht. Er fügt jedoch hinzu:
„Wenn das englische Volk glaubt, daß ich, sobald Stanley oder Thomson an¬
kommt, mit ihnen zurückkehren werde, so irrt es sich sehr. Ich habe hier zwölf
Jahre meines Lebens zugebracht. Würde es nun recht von mir sein, von
meinem Posten zu desertiren, sobald sich eine günstige Gelegenheit hierzu bietet?
Ich werde bei meinem Volke bleiben, bis ich ganz klar ersehe, daß seine Zukunft
sichergestellt ist. Ich will mich bemühen, das Werk Gordons, das er mit
seinem Blute bezahlte, fortzusetzen, wenn auch nicht mit seiner Energie und
seinem Genie, so doch nach seiner Absicht und in seinem Geiste." Und weiter:
„Alles, was wir von England wollen, ist, daß es sich in ein besseres Einver¬
nehmen mit Uganda setzt und uns so einen freien und sichern Weg nach der
Küste verschafft. Das ist alles, was wir brauchen. Aber unser Land ver¬
lassen? Sicherlich nicht!"
Worin liegt nun eigentlich der Reiz dieses Landes, das Emin so anzieht?
Wir haben von Sir Samuel Baker und andern Reisenden schon früher gehört,
daß es ein schönes Land sei, wir erhalten aber eine genauere Vorstellung durch
Emins Tagebücher. Freilich hat es auch seine Übelstände. Ein Marsch wie
der, den Emin beschreibt, als er das Gebiet von Fatiko inspizirte, gehört
gewiß nicht zu den Annehmlichkeiten des Daseins. Sobald die Reisenden das
Dorf verlassen hatten, hörte jede Spur eines Weges auf. Dagegen dehnte sich
weithin ein Meer von Gras, das, dicht wie Filz, eine fabelhafte Höhe erreicht
hatte. Überall blitzte der Thau in dicken Tropfen. Diesen feuchten und dicken
Wald von Halmen mußten die Reisenden förmlich durchbrechen. Emin, der
als Führer voranschritt, hatte natürlich von der Feuchtigkeit und Stachligkeit
des Grases am meisten zu leiden. Naß wie eine Wasserratte, bei 63 Grad
Fahrenheit, durch ein solches Gebüsch zu kriechen, ist selbst im zentralen Afrika
kein Vergnügen. Es war kaum möglich, sich nach dem Kompaß zu orientiren,
es war alles mit Wasser bedeckt, und das Gras schlug unverschämt in Augen
und Ohren. Die erste Lichtung wurde erst nach zweiunddreiviertelstündigem
Marsche erreicht, und hier erst konnten sich die Schiffer dieses kontinentalen
Sargassomeers in der Sonne trocknen. Dazu wehte ein kalter Wind, und um
sich zu erwärmen, mußte man nun laufen, so lange es ging. In Modo, einem
alten Stationsorte, der kurz nach Mittag erreicht wurde, war das ohnehin
spärliche Wasser von Elefanten und Büffeln völlig ausgetrunken, und so mußten
sich die Reisenden mit lechzender Zunge noch 2^ Stunde weiter schleppen,
bis sie in Nah-el-Fit ankamen. Hier fanden sie dann in einer Reihe von
Bächen Wasser, das sie nun nach achtstündigem, beschwerlichem Marsche er¬
quickte.
Man sieht aus dieser Probe, daß, wenn Emin Pascha sich weigert, zurück¬
zukehren, es nicht deshalb geschieht, weil er in jenem „Reiche" auf Rosen ge¬
bettet sei. Alle Unannehmlichkeit einer typischen Afrikacxpedition hat er zu
überstehen, um sein Land in Ordnung zu halten. Von den bewohnten Teilen
desselben erhalten wir freilich andre Schilderungen. Auf den Stationen hat
sich der Gartenbau entwickelt, und Gemüse und Obst wächst hier in Fülle. Den
Ackerbau hat Emin durch Einführung mehrerer Spielarten der Bambusstaude
gefördert, er hat die Eingebornen zum Anbau mehrerer amerikanischen Getreide-
arten bewogen, deren Samen er ihnen beschaffte, er hat den Reisbau und deu
Anbau vieler andern Nährpflanzen in Schwung gebracht. Die Vorliebe
für Garten- und Ackerbau, sagt er, hat sich in meinem Volke sehr ver¬
breitet, und ich erhalte täglich Briefe, in denen man mich um Samen und
Schößlinge bittet. Für den Handel liegt aber der Reichtum des Landes in
seiner Baumwolle, seinem Kaffee und Zucker. Außer diesen Produkten bezeichnet
Emin in einem Schreiben an or. Schweinfurth vom Jahre 1883 noch Elfen¬
bein, verschiedne Sorten Öl, Felle, Korn(?), Straußenfedern, Gummi, Wachs
und Eisen als Erzeugnisse des Landes, mit denen ein bedeutender Handel ge¬
trieben werden könnte. Eisenlager giebts an mehreren Stellen, und das Vor¬
handensein andrer wertvoller Mineralien ist mehr als wahrscheinlich. Auch
Kautschuk, sagt Emin, könnte das Land in großen Mengen liefern, allein es
war ja verhindert, mit der „Welt" in unmittelbare Handelsbeziehungen zu
treten, da es alle Produkte nach Khartum abliefern mußte, um von hier als
Entgelt die schlechtesten Waren zu den höchsten Preisen zurückzubekommen.
Es ist nicht schwer einzusehen, daß ein so reiches Land, mit einer Be¬
völkerung, die jetzt die Segnungen des Friedens kennen gelernt hat und die
Jahre lang an regelmäßigen Fleiß gewöhnt worden ist, ein bedeutender Markt
für viele europäische Produkte werden kann. Die Schwierigkeit ist nur die,
einen Verbindungsweg zu schaffen und offen zu halten. Der Weg längs des
Nils ist jetzt verschlossen und wird es wohl noch geraume Zeit bleiben; dazu
war er auch lang und beschwerlich. Die andern möglichen Wege sind der von
der Sansibarküste durch Uganda, und der vom Kongo her. Den letztern hat
Stanley gewählt, und die Erfahrungen, die er auf ihm machen wird, werden
wohl für lange Zeit entscheiden, auf welcher Straße die Äquatorialprovinz
künftighin zu erschließen ist.
Außer diesem handelspolitischen hat die Frage aber noch ein philanthropisches
Gesicht. Der Sklavenhandel ist noch heute der Fluch Afrikas, und man wird
nicht fehl gehen, wenn man annimmt, daß er durch hohe ägyptische Beamte
begünstigt, wenn nicht selbst geübt worden ist. Trotz dieser Schurken nun und
trotz aller Schliche der arabischen Händler hat Emin den Sklavenhandel in
seinem Gebiete fast gänzlich ausgerottet. An eine dauernde Unterdrückung des¬
selben ist aber nur dann zu denken, wenn im Herzen Afrikas eine europäische
Herrschaft bestehen bleibt. Die Anstrengungen der Missionare allein sind dazu
nicht ausreichend; doch spricht es für deren Thätigkeit, daß, wie Emin berichtet,
in seiner Provinz seit zwanzig Jahren nicht mehr als zehn Bekehrungen zum
Muhammedanismus vorgekommen sind. Ob daraus Schlüsse gegen die Zukunft
des Islams in Zentralafrika gezogen werden dürfen, wollen wir unentschieden
lassen. Was Emin selbst betrifft, so muß man nicht glauben, daß er mit seinem
arabischen Namen zugleich die arabische Religion angenommen habe. Er ist
noch heute Protestant und wird es auch bleiben. Emin ist jedenfalls nicht von
dem Dogma überzeugt, daß der Muhammedanismus die einzige Religion sei,
welche eine Kulturrolle in Afrika spielen könnte. Er befördert die Bemühungen
der christlichen Missionen und scheint von ihrer Wirksamkeit die ausgiebigste Be¬
förderung seiner Ziele zu erwarten.
Zum Schluß noch einige Worte über die Stellung unsers Vaterlandes
zu dem Werke Emin Paschas. Der ausgezeichnete Mann ist ein Deutscher,
und wenn sein Herz auch wohl, als das eines Erforschers und Entdeckers,
zunächst der Menschheit gehört, so gehört es doch sicherlich nicht minder dem
Volke, unter dem es zuerst geschlagen hat. Emin Pascha wird also gewiß nicht
wünschen, wenn es sich um die Erschließung feines reichen Landes handelt, daß
seine Landsleute weiter hinter den Engländern zurückstehen, als nach der Lage
der Dinge unerläßlich ist, zumal da die Engländer ihn in der ärgsten Klemme
in einer Weise haben sitzen lassen, die bedenklich an das bekannte Wort von
dem „treulosen Albion" erinnert. Emin Pascha hat erklärt, von welcher Seite
auch die „Befreiung" käme, er würde die Hilfe gern annehmen, aber er würde
unter keinen Umständen sein Land verlassen, es müßte denn seine Zukunft ge¬
sichert, d. h. seine Verbindung mit der Ost- oder der Westküste eine entschiedne
Sache sein. Emin Pascha ist kein Schwärmer und Märtyrer, sondern ein
kühner Politiker, ein eiserner Organisator und ein kühler Mann mit natur¬
wissenschaftlicher Denkart. Wenn er also eine solche Erklärung abgiebt, so wird
er seinen guten Grund dazu haben; d. h. das Ausharren auf seinem Posten
verlohnt sich der Mühe, das Land ist reich, und die Aussicht auf seine Er¬
schließung gewiß. Die Engländer, die so gern andre für sich arbeiten lassen,
um dann die reife Frucht vom Baume des Nachbarn sich in den Schoß fallen
zu lassen, haben das auch eingesehen und halten sich klüglich bereit, zur geeig¬
neten Stunde zuzugreifen. Es ist nicht unsre Aufgabe, auch haben wir nicht
alle Daten zur Hand, zu untersuchen, welche Rechtsansprüche in Bezug auf
die politische Vorherrschaft das eine oder das andre Land geltend machen kann.
Uns beschäftigt lediglich die handelspolitische Frage. Und da ist es klar, daß,
wer zuerst kommt, auch zuerst mahlt. Außer Deutschland und England kann
nur noch die Kongoregierung in Frage kommen, d. h. in Beziehung auf die
kommerzielle Vorherrschaft, wiederum England. Glückt Stanleys Expedition,
was wir aus Humanitären und wissenschaftlichen Gründen aufs lebhafteste
wünschen, so ist Englands Übergewicht entschieden. Aber wir wünschten, daß
die Deutschen nicht leer ausgingen. Der Weg nach der Sansibarküste würde
in den Machtbereich der deutschen ostafrikanischen Gesellschaft fallen, und ließe
er sich früher freilegen als der Kongowcg, so wäre Deutschlands Vorsprung
kaum einzuholen. Nun ist es gewiß, daß erstens der Kongostaat der unmittel¬
bare Nachbar der Äquatorialprovinz ist und daß der Sansibarweg auf Schwierig¬
keiten stößt, die schon oft erörtert worden sind und vorläufig unüberwindbar
zu sein scheinen. Aber erstens ist der Kongoweg bei weitem länger und hin¬
sichtlich des Terrains auch schwieriger als der andre, zweitens beweist das
zweifelhafte Schicksal der Expedition Stanleys, daß jener Weg auch nicht von
scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten frei ist; wogegen sich die Schwierig¬
keiten, die sich zwischen dem Kilima Ndjaro und dem Albert-Nyanza auf¬
türmen, leicht vermindern lassen könnten, zumal wenn in Uganda ein andres
Regiment Platz greift; auch scheint Emin Pascha selbst den Sansibarweg mit
hoffnungsvollen Augen zu betrachten, freilich unter Voraussetzung eines bal¬
digen Wechsels in der Negierung von Uganda.
Man folgt in Deutschland mit gespannter Teilnahme den spärlichen Nach¬
richten, die von unserm Landsmanne aus der Äquatorialprovinz herüberkommen;
aber man verfolgt sie nur mit dem objektiven Interesse, mit dem jedermann
in der christlichen Welt sie verfolgt. Eine lebhaftere Teilnahme, wie sie natürlich
wäre einer Frage gegenüber, die unsre nationalen Interessen berührt, ist bei
uns noch nicht aufgekommen. Wir halten das für bedauerlich angesichts der
Regsamkeit, welche die Engländer entwickeln. Vielleicht trägt eine gesteigerte
Aufmerksamkeit unter unsern Gebildeten dazu bei, daß die maßgebenden Kreise
die Frage immer wieder und wieder in Berücksichtigung ziehen und möglicher¬
weise doch Mittel finden, die uns erlauben, unsre kolonialpolitschen Gesichts¬
punkte am Kilimcr Ndjaro zu erweitern. Hierzu eine kleine Anregung zu geben,
ist der Zweck dieser Zeilen.
eben Grimmelshausen muß aber auch Leibnizens gedacht werden,
der neben oder über ihm steht, wie im fünfzehnten Jahrhundert
Nicolaus von Cues über Friedrich Reiser. Es ist wirklich,
als ob sich das Verhältnis zwischen diesen beiden im sieb¬
zehnten Jahrhundert in jenen beiden wiederholte: der Mann aus
dem Volke, der die schwere Not der Zeit mitten aus ihr selbst heraus mit
der Phantasie bezwingt, und der Mann des hohen Geistes, der die Not aber
auch mit großem Herzen voll empfindet und von der Höhe des Lebens ratend,
mahnend, anweisend eingreift oder dazu thut, was er kann. War Nicolaus ein
Priester durch die Weihe der Kirche, so erscheint Leibniz in seinem Thun und
Denken als ein rechter Priester durch die Weihe des Geistes, dabei im Vater¬
lande wurzelnd mit allen Sinnen, wie der Coblenzer Priester. Das ist erst
recht ans Licht gestellt worden durch das köstliche Buch von Edmund Pflei-
derer, G- W. Leibniz als Patriot, Staatsmann und Bildungsträger, ein Licht¬
punkt in Deutschlands trübster Zeit, Leipzig, 1870 (auf dem Titel könnte noch
mit stehen: als Mensch). Wie Nicolaus in jener Denkschrift an das Baseler
Concil, so arbeitet Leibniz in Denkschriften. Briefen und sonst mit allen Mitteln
an der Not des Vaterlandes und der Zeit, ja an allen europäischen Fragen
überhaupt, und zwar sein Leben lang, fast ein halbes Jahrhundert hindurch;
es ist, als schwebte er über dem Chaos wie ein schaffender Geist, alles sehend,
tief ins Einzelne eindringend mit scharfem Blick und zugleich aus der Höhe,
aus der Idee und aus der Geschichte genommen das leuchtende Bild zeigend,
Wie Deutschland sein und wieder werden müßte. Prophezeit er auch nicht eigent¬
lich, so arbeitet er doch als Prophet, immer aus dem Bilde der Zukunft und
der Geschichte heraus, dabei im Namen Gottes, dessen Nachahmung auf Erden
er früh und spät als höchste Menschenleistung bezeichnet. Merkwürdig ist dabei,
wie auch in diesem modernen Geiste noch die alte Reichsidee lebendig nachwirkt,
durch seine philosophische Weltanschauung vertieft und verklärt: das heilige
römische Reich, dem alle Fürsten der Erde eine gewisse Achtung und Ehrfurcht
schulde», ist ihm der Idee nach das Abbild des allumfassenden, vollkommen har¬
monischen besten Gottesstaates, vor andern bestimmt, die Ehre Gottes und
seines Namens zu wahren und auszubreiten, daher auch sein großes Vertrauen,
daß es nicht untergehen könne (Pfleiderer S. 19). Das wirkliche Reich freilich
sah er in seinem Baue nur noch mit einem seidenen oder strohernen Faden
zusammenhängend und unter dem Drucke der Feinde von Westen und Osten
mit dem Einsturz bedroht (S. 297). Das wäre denn die volle Tragödie in
dieser deutschesten Seele, wie sie so viele deutsche Seelen in den langen Jahr¬
hunderten in sich habe» abspielen müssen. Aber man sieht ihn nie ohne Mut,
immer neu strebend, hoffend, glaubend, planend, immer neue Hebel ansetzend,
wenn einer versagte, eben ans der Kraft einer rechten Prophetennatnr heraus.
Freilich sieht er auch, wenn der um sich greifenden Zersplitterung alles Ge-
meinstnns durch wachsende Selbstsucht uicht Einhalt geschehe durch neue Vater¬
landsliebe, eine allgemeine Umwälzung (rövolution) voraus, von der Europa
bedroht ist; aber auch darüber blickt er mutig hinaus, denn damit „wird die Vor¬
sehung die Menschen zu heilen wissen (Pfleiderer S. 7, Uouvsimx lZsskus IV, 16),
also eigentlich das jüngste Gericht der alten Prophezeiungen in verjüngter Ge¬
stalt. Leibniz, der große Philosoph, der große Mathematiker, der große All¬
gelehrte gehört zugleich, wie einer, zu den prophetischen Vorkämpfern unsrer
neuen Zeit, zu unsern Rettern.
Aber auf dem politischen Boden war zunächst die Rettung nicht möglich,
das Reich ging wirklich seiner Auflösung entgegen. Doch nach andrer Seite,
uach oben, that sich ein Weg neuen Lebens auf. Wie im sechzehnten Jahr¬
hundert die Führung des Aufwärtsstrebens an die religiöse Bewegung überging,
so nun seit dem siebzehnten Jahrhundert an die durch Opitz angeregte littera¬
rische Bewegung, eine Fortsetzung der Arbeit der Humanisten in deutscher Form
und Vorbereitung der Arbeit auch in deutschem Geiste von Klopstock, Lessing,
Goethe, Schiller u. s. w., die zunächst freilich aus der wirklichen Welt und ihrem
Elend hinausführte in Gedankenhöhe, ja Traumwelt, das ging nicht anders
und war im Grunde auch Prophetenarbeit, die dann aber doch von der ge¬
wonnenen Höhe rückwärts eingreifen sollte in die verkommene Wirklichkeit zu
neuer Gestaltung oder der Arbeit daran.
Schon der Einfall von Grimmelhausens närrischen Jupiter oben, den
griechischen Helicon nun in Deutschlands Grenzen zu setzen, kann zeigen,
mit welchem Mute man in diese Bewegung eintrat. Auch Leibniz sah sie mit
mutigster Hoffnung an, arbeitete auch selbst, wie überall, mit Ratschlägen an
ihrem Gedeihen, wie er denn einmal für ein deutsches Epos oder Heldengedicht,
wie man damals besser sagte, einen Plan gezeichnet hat, von dem Klopstocks
Messias als teilweise Ausführung erscheint. Auch bittere Enttäuschungen lähmten
den neuen Mut nicht, wie die an dem Lohensteinschen Geschmack erfahrene,
den man ziemlich lange als auf der Höhe des Helicon angelangt, ja darüber
weit hinaus sah, bis man gewahrte, daß es ein Sumpf war, das Ende alles
Weges. Als man dann ganz aufs neue geduldig auf die Suche ging, nun
mit Natur, Vernunft und Geschmack als Wegweisern, kam auch bald der mu¬
tige Aufblick wieder. Gellert z. B. in seinen letzten Jahren, in der Rede von
den Ursachen des Vorzugs der Alten vor den Neueren in den schönen Wissen¬
schaften vom Jahre 1767, vor dem jungen Churfürsten auf dessen Wunsch ge¬
halten, weist am Schlüsse einer Untersuchung, was der Dichter aus den klassi¬
schen Vorbildern und was er aus sich selbst nehmen könne, d. h. was Gegenwart
und Zukunft wert seien dem glänzenden Altertume gegenüber, die Dichter er¬
mutigend an: „Es giebt in dem Reiche der schönen Wissenschaften, wie auf der
Erdkugel, unangebaute, auch ganz unentdeckte Gegenden, und kein großes Genie
darf verzagen, daß es nichts Neues werde unternehmen können," d. h. noch gar
nicht Dagewesenes in aller Zeit: Genie, das Wort, das sich durch Gellerts
Einfluß bei uns einbürgerte und in der Gedankenbewegung nach oben die Füh¬
rung überkam, mit einem Begriff, dem man Wunder zutraute, auch das Wunder
des deutschen Sieges in der Welt des Schönen, in der wir vorher nur de¬
mütige Schüler der andern Völker gewesen waren, nun aber Meister werden
sollten; damit nahm der deutsche Mut seit der Mitte des Jahrhunderts einen
Aufschwung, einem großen Ruck nach oben gleich, in derselben Zeit, wo an dem
politisch wirr bewölkten Himmel sich eine Lichtstelle aufthat, durch welche die
Sonne der Zukunft hervorbrach. Freilich kümmerte sich der große Friedrich
nicht um die deutsche Geistesbewegung, wandte ihr vielmehr den Rücken zu und
erschien der Nation als Franzose von Geist, während unsre Bewegung wesent¬
lich mit das Ziel hatte, sich aus der Umklammerung durch den französischen
Geist loszuwinden; aber man arbeitete in allem Schmerz darüber auch ohne
ihn mutig weiter. Es folgten sich ja an der Arbeit ein Genie nach dem andern
in wunderbar raschem Aufsteigen. Bodmer, einer von den treuesten Vorbereitern,
jubelt im Jahre 1748 selbstentsagend über Klopstocks Auftreten und über Kleist,
in einem Briefe an Lange: „Wir stehen vorn an ^dicht vor) dem goldnen Alter.
Ich habe in dem Isthmus gelebt, der von dem eisernen Alter zu dem goldnen
hinüber geht" (Briefe der Schweizer:c., Zürich 1804, S. 84).
Wenn aber da das goldne Alter nur in dem alten Schulsinne gebraucht
ist, nach dem goldnen Zeitalter der römischen Litteratur, so ging man in dem
neuen Mute auch darüber hinaus und verstand es vom Lebensglück, wie es die
goldnen Zeiten des Paradieses aus Kinderjahren her der Phantasie zeigten.
Das Genie sollte nicht bloß schöne Verse zu Wege bringen, mit denen der
Deutsche nun vor Aristoteles, Horaz, Boileau u. s. w. als die Lehrer hin¬
treten könnte, um auch endlich einmal die erste Censur zu erhalten: es sollte
in und mit ihnen Leben schaffen, ein neues Leben, das des Wortes wert
wäre, und alle unsre großen Dichter des vorigen Jahrhunderts und
nicht nur die großen haben dafür als ihr letztes Ziel gearbeitet. Haller fand
das goldne Zeitalter in den Alpen wieder, in der Einfachheit des Gebirgs-
lebens, noch im Schoße der Natur: „Ihr Schüler der Natur, ihr kennt noch
güldne Zeiten," und nun sucht sich jeder gebildete Städter, jeder Schüler der
Cultur jährlich einmal einen Abschein davon, Sommerfrische genannt, im Ge¬
birge, auf dem Lande, findet da auch paradiesische Thäler u. s. w. Aber die
goldne Zeit sollte auch in der Stadt selbst wieder einkehren, mitten in der Cultur
und Übercultur, so hoch stieg der ahnende Mut der jungen Bewegung. Man
hatte das Herz gleichsam wieder entdeckt als ewige Quelle alles guten und
schönen Lebens, die Kunst und das Schöne in ihrer Wirkung auf Herz und
Sinn mußten nun auch im Leben draußen ein neues schönes Leben herstellen,
wie es von Haus aus von Gott und Natur gemeint war. In diesem Sinne
ist gerade in der Frühlingszeit unsrer großen Litteraturbewegung von der
Wiederkehr des goldnen Zeitalters entschieden die Rede, recht im Gegensatz zu
dem politischen Jammer, dessen Empfindung aber gerade jenen Aufschwung des
Gemütes verstärkte. Ein begeisterter Schüler Gellerts prophezeit sie in einer
entzückten Stunde für das folgende Jahrhundert als Wirkung seines Meisters,
der zu früh verstorbene I. W. von Brawe in einem Briefe von 1757 eben
an Gellert selbst, in dem er seine Vision ausmalt, darin: „Seine Gedichte halfen
das goldne Weltalter wieder herstellen" (A. Sauer. I. W. von Brawe, Stra߬
burg 1878, S. 14). Und wenn uns solches jetzt recht kindlich anwehe und
zum Lächeln oder Spötteln reizt, so haben wir doch nicht ganz recht damit,
wir sind solchen Gedanken gegenüber gar zu nüchtern geworden. Es ist damit
wie mit der Sonne, die wir, wie sie ist, auch nicht brauchen könnten im Zimmer
oder Garten, aber ihre Wirkung brauchen wir. Uns fehlt eigentlich eine solche
Sonne am Gedankenhimmel, der uns recht verwölkt ist, eine Sonne, die alles
Leben nach oben zieht und alles Einzelne mit ihrem Licht und ihrer Wärme
umfangend zu einem Ganzen macht.
Das treue Arbeiten unsrer Dichter und Philosophen, die dabei als Helfer
nicht zu vergessen sind, leuchtete bald mit glänzenden Erfolgen, auch über die
Grenzen hinaus, nach Osten und Norden, selbst nach Westen, wo uns wieder¬
holt das Genie zur Kunst abgesprochen worden war. Im Jahre 1770 schon
las man im Leipziger Almanach der deutschen Musen eine begeisterte Auslas¬
sung über die Leistungen unsrer Dichter von einem Franzosen. Dorat, in einer
lass as Is. xovsis allLMMäo, als Einleitung zu einer frei übersetzten Schrift
von Wieland, darin: „O Deutschland, unsre guten Tage sind dahin, die dei-
nigen brechen an! Du trägst in deinem Busen alles, was eine Nation über
die andern erheben kann, Sitten, Talente und Tugenden" u. s. w. (S. 132), er
findet bei uns noch den wahren Enthusiasmus, nicht eine Philosophie, die das
Herz verschließt, die Phantasie austrocknet u. s, w.. wie in seinem Vaterlande
(S. 131). Und im Jahre 1782 las man im Almanach der Belletristen: „Abbe
Raynal sagte erst neuerlich zu einem teutschen Gelehrten: Ihre Litteratur steigt,
unsre sinkt. Sie bekamen den Geschmack von uns, nun werden wir ihn von
Ihnen wiederholen müssen" (S. 79). Und im Jahre 1786 erlebte man auch die
Freude, daß sich Friedrich der Große endlich am Abend seines Lebens vor der
Nation aussprach über die Erfolge und Hoffnungen ihrer Litteratur, in dem
Schriftchen: of ig. 1ne6rg.wrs gllvinimäs. Da erfuhr man denn, wie der große
König ihren Gang doch auch im Auge gehabt hatte, wenn auch aus hoher
Ferne, aber mit einer Liebe und einem Glauben an ihre Zukunft, die alle Er¬
wartungen übertreffen mußte. Er enthüllte sich da in französischer Sprache mit
einer deutschen Gesinnung, die tiefer und größer gar nicht sein konnte. Er,
der klare, scharfe Geist, damals den Menschen gegenüber so furchtbar ernüchtert,
spricht hier im vollen Prophetentone von der usursuso rsvowticm (Umschwung),
<M6 rious g,et,önäon3 (S. 17), mit Ausführung der glücklich erarbeiteten Vor¬
bedingungen, auch im Volksleben (tiers-Ltat), zu einem großen geistigen Auf¬
schwung, mit dem los Nusos nous introZuiront A, uotrö tour clWS lo "Ismxls
an> ig, Zloirs. Und am Schlüsse stellt er so Großes in Aussicht, daß es für
ihn und noch für uns zum Teil überschwcinglich klingt: Vs8 ^uZustss den-ont
clös Viriles. Mus g-urons nos emtsurs elassiciuos, ne>8 voisins apprsuclront
l'gUswMcl, los 001113 is xarlerollt s-ose äslivs, <ze it xourra, arrivsr pus notrs
1»NAU6 xoliö sti p6re6ot,ioQn66 8'6könnt«z su tavsur as nos dovs corio^ins et'un
bout as l'IZuroxo 1'g.nerf. Diese schönen Tage unsrer Litteratur seien zwar noch
nicht da, iruÜ8 ils axproeusut, ^ vous iss gnnonvö, it8 vont xarMrö. Er selbst
freilich werde sie nicht mehr sehen, aber er sei wie Moses, der das gelobte Land von
ferne sehe, ohne es selbst zu betreten. Eine mutigere und kühnere Prophezeiung,
wenn man zumal ermißt, was der König von unsern Dichtern wußte und nicht
wußte, ist selten ausgesprochen worden. Es ist, als hätte er alles, was er vom
Deutschen an sich hatte vermissen lassen, nun am Ende bei seiner Nation recht
gründlich wieder gut machen wollen, indem er das Deutsche, Sprache und Lit¬
teratur, im Geiste im voraus in die europäische Ehrenstelle einsetzte, in der er
selber das Französische fand, doch gewiß nicht gegen seine Überzeugung, daran
ist bei diesem Geiste nicht zu denken. Deuten doch die Äußerungen der Fran¬
zosen Dorat und Raynal vorhin auf dasselbe hin, hochherzig auf Kosten ihrer
Nation gethan.
Allein, so glücklich und rasch dieser geistige Neubau gedieh, es blieb doch
dem Kerne nach nur eine Traumwelt, im grellen Widerspruch mit der wirt-
liehen, die einem einstmals stolzen, nun elend verfallenden Schloßbau glich. Man
kann nicht auf die Länge in einem solchen Bau ruhig weiter wohnen und sich
die zerbröckelnder Mauern und Dächer gutmütig nur ganz träumen und in dem
alten Schmuck. Das Ahnen und Sehnen nach einem Neubau des Reiches war
nicht zu ersticken. Das legten uns gerade die Franzosen nahe genug, als sie
im siebzehnten Jahrhundert straflos verwüstend und raubend in das Reich ein¬
brachen. Daher denn mahnende, spornende Stimmen, wie in einem Gedichte
von Abschatz (Eisenhütel) mit Bezug auf das Unerhörte, was da in der Pfalz,
in Schwaben, im Elsaß geschah:
Wollt ihr ^Deutsche) euch unterwinden,
Zu thun, was sich gebührt,
Ein Hermann wird sich finden,
Der euch an Reihen führt.
Ein Hermann, wie man sich den römischen Namen Arminius schon seit dem
sechzehnten Jahrhundert deutsch zurecht machte. Der große Cheruskerfürst, der
einst die römische Flut zuerst zum stauen und Rückfluß gebracht hatte, als sie
nach Verschlingung Galliens nun auch Germanien verschlingen wollte, war erst
im sechzehnten Jahrhundert wieder aufgetaucht aus der Tiefe der Vergessenheit,
in die er für das deutsche Bewußtsein lange Jahrhunderte versunken war. Die
Humanisten haben ihn aus römischer Quelle wieder erweckt, er trat nun im
gelehrten Bewußtsein auf als wunderbar glänzende Gestalt, kam von da nachher
auch ins Volksbewußtsein und trat eigentlich an die Stelle des Friedrich der
nationalen Weissagungen und Hoffnungen, den die Gelehrten schon seit dem
fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert dem Volke überließen wie ein Kinder¬
märchen. Nun ward der Cherusker der deutsche Held, an dem sich der Glaube
an deutsche Kraft und Größe und Zukunft anklammerte, für die Heldengestalt
aus dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert trat eine um mehr als ein
Jahrtausend ältere aus dem ersten Jahrhundert ein, eine gewaltige Ausweitung
des geschichtlichen Selbstbewußtseins, und der Held hatte es ja mit Rom, der
Weltherrin, auf der Höhe ihrer Macht siegreich aufgenommen, was auch der
Römer Tacitus mit bewundernden Worten ausspricht, und hatte dazu das
Wunder vollbracht, die deutschen Stämme aus ihrer herkömmlichen Zwietracht
einmal zu gemeinsamer Kraftwirkung zusammenzufassen; sein tragisches Ende
aber, auch so recht deutsch, indem er eben an dem Versuche, die deutschen Kräfte
anch beisammen zu halten, zu Grunde ging, gab der Heldengestalt eine Weihe
des Schmerzes von höchster Poesie und mahnender Lehre zugleich. So lebte er,
sechzehn oder siebzehn Jahrhunderte nach seinem wirklichen Leben, wieder auf im
deutschen Geiste als Mahner und Ermutiger mit lebendig wirkender Kraft, wie
ihn die zwischen fortschreitendem Verfall und frischem Aufschwung, zwischen
großer Angst und großer Hoffnung kämpfende Zeit gerade brauchte.
So nimmt ihn das achtzehnte Jahrhundert gerade in der Zeit seines Auf¬
strebend Wir müssen uns die Begeisterung wieder Heraufrufen, mit der wir
als Knaben an Hermann den Deutschen dachten, um den Ernst nachzufühlen,
mit dem ihn da auch der Mann in der Seele trug als Anhalt des Glaubens
in der vaterländischen Not und mit ihr in Beziehung setzte. Uz z. B. in einem
Gedichte, „Das bedrängte Deutschland," mit dem Anfang:
Wie lang zerfleischt mit eigner Hand
Germanien sein Eingeweide?
spricht in heiligem Zorn von dem politischen Elende, dem „der Adler ent¬
schlafen zusieht," von der höllischen Zwietracht:
Ihr Natternhecr zischt uns ums Ohr,
Die deutschen Herzen zu vergiften,
Und wird, kömmt ihr kein Hermann vor,
In Hermanns Vaterland ein schmählich Denkmal stiften.
Schönaich widmet seinen „Hermann oder das befreyte Deutschland," ein Ge¬
dicht, das viel besser ist als sein Gottschedischer Ruf, dem kommenden neuen
Hermann:
Hermann! Dich will ich erheben: und dem sey mein Lied geweiht,
Der einst Deutschlands Unterdrücker, Galliens Geschlecht, zerstreut,
Der, dem ersten Hermann gleich, unser schnödes Joch zerschlaget
Und der stolzen Lilgen Pracht vor dem Adler niederleget-
Am Schlüsse der Ruf an den Himmel:
Ach! wo lebt nun wohl ein Hermann? holder Himmel! Schafs ihn doch!
Deutschland heget ja wohl Helden, aber keinen Hermann noch.
Ist es möglich, o! so laß meinen heißen Wunsch gelingen,
Und du, Muse! sollst alsdann mit erhabneren Tone singen!
Das klingt, als hätte er, der junge Mann, ihn selbst noch zu sehen gedacht, um
ihn selbst noch höher zu besingen. Wo sollte er aber herkommen? Die Hoff¬
nungen auf Österreich, die man so lange und treu festhielt auch in Norddeutsch¬
land, erlahmten ja immer mehr. Und doch war er vielleicht schon da!
I. A. Cramer, Gellerts und Klopstocks Freund, feiert Hermann im
Jahre 1744 in den Belustigungen des Verstandes und Witzes in einer soge¬
nannten pindarischen Ode, die Deutschlands Verfall in tiefstem Schmerze aus¬
malt, er sieht die Deutschen in Sittenverderbnis und in Knechtschaft vor dem
Auslande (beides von Frankreich ausgehend):
Doch stets wird es nicht knechtisch bleiben,
Ein Held wird ihren Feind vertreiben.
Wer wird Germanien befrein?
Er: denn er wird wie Hermann sein!
Er, also ein bestimmter, nur nicht genannter, aber zu erkennender Er (es er¬
innert unausweichlich an das langjährige Er des Kladderadatsch von Napoleon
dem Dritten), wer ist das? Jul, Nisfert in einem trefflichen Aufsätze in Herrigs
Archiv 63. 288, „die Hermannsschlacht in der deutschen Litteratur," sieht Friedrich
den Großen darin, und es kann gar nicht anders sein; daß Cramer als Sachse
nicht deutlicher wird, laßt sich begreifen aus Rücksicht nach oben. Auch von
Klopstock weiß man nun (s. Nisfert S. 294, Strauß kleine Schriften, 1866,
S. 132 ff.), daß in der Jugendode: Heinrich der Vogler ursprünglich Friedrich
gemeint und gefeiert war als künftiger Befreier Deutschlands. Der Gedanke
könnte in dem Leipziger studentischen Freundeskreise, dem Klopstock und Cramer
angehörten, als ein Punkt, ein Kernpunkt der neuen deutschen Welt, die sie
kühn in sich ausbrüteten, gar wohl mit aufgetaucht und ausgebildet sein, viel¬
leicht gerade zuerst in Klopstocks, der feurigsten deutschen Seele. Wenn man
ihm seine spätere Abwendung von Friedrich jetzt als patriotische Lücke auf die
Rechnung oder in sein Bild setzt, so denkt man sichs zu rasch vom heutigen
Standpunkte aus und vergißt, was in Klopstocks deutschem Welt- und Fürsten¬
bilde bewußtes Deutschtum und Christentum war. die er bei dem großen König
schmerzlich vermißte, vermissen mußte. Cramer, der Theolog, hat daran freilich
keinen Anstoß genommen, er feiert noch später Friedrich in hochgchendster Be¬
geisterung als den rechten Mann Gottes, z. B. in den sämtlichen Gedichten
1783 3. 326 ff. 374 ff.
Das Denken an Friedrich fand aber auch schon einen ältern Hintergrund
vor. War doch schon am Ende des siebzehnten Jahrhunderts der deutsche Gc-
dankcnheld geradezu nach Berlin versetzt worden, in Lohensteins Roman Armiuius,
den erst nach des Verfassers Tode sein Bruder Hans Casper herausgab, „von
andrer Hand" vollendet. Es war im Jahre 1689, das Werk hatte ursprünglich
dein großen Kurfürsten gewidmet werden sollen, nun wurde Friedrich der Dritte
für ihn eingesetzt. Aus der ersten Fassung ist aber stehen geblieben, im Anschluß
an die Erfindung des Dichters, daß Armin von einem Brandenburger Fürsten
treue Hilfe erfährt: „Was Wunder, daß er sArmin^ sich mit seinen sieghaften
zu dem großen Europäischen Friedrich Wilhelm zu wenden begehret?" d. h. der
Armin im Buche zugleich als lebende Gestalt, als Vertreter des deutschen Ge¬
dankens vorgestellt. Und dann geradezu: „Arminius bleibt nun Zweifels ohne
in dem berühmten Berlin, dessen Verherrlichung herrliches Aufsteigen^ einen
Angust zum Beherrscher andeutet," mit dem Ausdruck der Hoffnung, daß
Friedrich der Dritte der Hermann Deutschlands sein werde, als Nachfolger des
großen Kurfürsten (Nisfert S. 252).
Dem großen König selbst wird bei seinem allumfassenden und scharf ein¬
dringenden Denken auch dieser Gedankenkreis nicht fremd gewesen sein. Er muß
in dem Gespräche Friedrichs mit Gellert im Jahre 1760, das uns leider nur
mit Lücken bekannt ist, gestreift worden sein, da der König auch die Frage auf¬
wirft: „Wie? will Er denn einen August in ganz Deutschland haben?" worauf
Gellert ausweichend antwortet, er kümmere sich nicht um die Politik. Die Klein-
staaterei mit ihrem unaussprechlichen Elende nach allen Seiten, von dem wir
Alten noch einen schwachen Nachgeschmack kennen, wurde ausdrücklich mit dem
Hermannsgedanken in Verbindung gesetzt, z. B. von Schönaich im ersten Buche
seines Hermann, im Munde eines weisen Römers:
O wie glücklich sind die Völker, die ein einzig Haupt regiert,
Wo man kein geteiltes Herrschen, keine fremde Macht verspürt.
Und Möser in seinem Drama Arminius, einem Jugendwerke vom Jahre
1749, das durchaus als Spiegel der Gegenwart gearbeitet ist, wie Kleists Her¬
mannsschlacht, denkt dabei unverkennbar an Friedrich (Riffert S. 275):
Glückselig ist das Land, das nur ein Fürst regiert,
Der blos, um wohl zu thun der Gottheit Szepter führt u, f. w.
Hätte man von dem Friedrichsglauben der alten Weissagungen noch ge¬
wußt, der bei den Gebildeten so versunken war, wie bis ius sechzehnte Jahr¬
hundert die Gestalt des Cheruskerhelden, die Dichter hätten sich sicher den
wirksamen Zug nicht entgehen lassen: da will ja die alte Prophezeiung in Er¬
füllung gehen! und gerade so, wie sie Kaiser Sigismund einst ausgelegt hatte,
vom Hause Brandenburg aus! Und es war nicht einmal ein blinder bloßer
Zufall, denn der Name Friedrich, im Hause der Hohenzollern so treulich fort¬
geführt bis auf heutigen Tag, geht bis in ihre schwäbische Zeit zurück und hat
gewiß Zusammenhang mit den hohenstaufischen Friedrichen, als Ausdruck treuen
Vasallcnverhältnisses und naher Zugehörigkeit. Und wenn im Titel der Kaiser
schon lange vor den Staufern der Ehrenname xii-oilivus erscheint (Waitz, deutsche
Verfassungsgeschichte 6, 114), noch nicht als leere Titelfüllung, sondern als be¬
deutsame Bezeichnung vom Wesen des Kaisertums in seiner Stellung nach innen
und außen (vergl. Nicolaus Cusanus oben), so fand man das in dem staufischen
Friedrich, d. h. eigentlich Friedenskönig, gewiß mit ausgesprochen, und heutzu¬
tage wird unser Kaiser als Friedensfürst in Europa herum gepriesen. Und da
muß doch auch erwähnt werden, daß von mehrern Forschern schon, unabhängig
von einander (zuletzt von dem gelehrten und scharfsinnigen Isländer Vigfusson,
mir fast überzeugend) die Vermutung aufgestellt worden ist, Arminius habe vor
seiner römischen Umlaufe mit heimischem Namen Siegfried geheißen und lebe
im Siegfried der Nibelungensage verdunkelt fort. Siegfried, der schönste Name
für einen Volkshelden, der denkbar ist: Sieg und Friede in und mit einem Manne,
durch großen Sieg zu großem Frieden. Haben wir das nicht erlebt? sind nicht
unsre Hohenzollernhelden rechte Siegfriede? und das deutsche Reich und Volk
will und soll es auch sein. Wie sich aber da in Arminius, Siegfried, Friedrich
unsre Nationalhelden so verschiedner Zeiten, der ältesten, der mittlern und der
neuern und neuesten, in Namen und Wesen die Hand reichen, oder in einen
leuchtenden Punkt über achtzehn Jahrhunderte hinweg zusammentreten, das wäre
ein brauchbarer Gedanke gewesen für die prophetischen Dichter und kann es wohl
auch für uns andern sein in Sonntagsstimmung.
Um aber auf den geschichtlichen Faden zurückzukommen: bald nach Fried¬
richs des Großen Tode kam eine wunderbare Wendung in die Geschicke Deutsch¬
lands und Europas. Auf der Scheide des achtzehnten und unsers Jahrhunderts
standen auch die deutschen Dinge auf einer entscheidenden Kippe. Das Reich
in sich an seinem Ende, von außen dem Einbrüche der französischen Kräfte aus¬
gesetzt gefährlicher als im siebzehnten Jahrhundert, es drängte von dort vor
wie aus einem Vulcane, unter Führung eines Mannes, der an Caesar und
Alexander erinnerte und selbst an sie als Vorbilder dachte. Das neue geistige
Reich aber in Dichtung und Philosophie auf eine Höhe gediehen, wie sie die
Geschichte der Menschheit noch nicht höher gesehen hatte, ein wundersamer Wider¬
spruch, und in beiden Erscheinungen doch nur die Vollendung einer seit Jahr¬
hunderten begonnenen Doppelbewegung.
In Weimar, der Hauptstadt des neuen Reiches, gedachte man den Wechsel
des Jahrhunderts festlich zu begehen. Schiller war erwärmt dafür, fand aber beim
Herzog und bei Goethe nicht den nötigen Anklang, weshalb das Fest unterblieb.
Er hatte wenige Jahre vorher in den Xenien (Ur. 96) das trostlose Wort aus¬
gegeben, das doch eigentlich als Trost gemeint war (es soll aber von Goethe sein):
Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens,
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus,
eine harte Nuß, an der noch wir vom alten Geschlecht die Zähne zu üben
Gelegenheit gehabt haben. Das Fest aber sollte zugleich ein deutsches Siegesfest
werden, Schiller fühlte oder sah sich mit Goethe und den andern seltenen
Kräften, die in dem Kreise wirkend waren, auf der Höhe angelangt, nach der
der deutsche Geist neben und über dem politischen Verfall lange so unermüdet
emporgearbeitet hatte, er wollte die Nation ins neue Jahrhundert als in eine
neue große Zeit hinübergeleiten, rückschauend, umschauend und vorschauend wie
von heiliger Bergeshöhe. Man erfuhr das deutlich erst aus den Vorarbeiten
zu einem Festgedicht, die im zweiten Bande von Goedekes großer Ausgabe aus
dem Nachlaß bekannt gemacht wurde, gerade im Jahre 1871, in dem das selbst
wie eine nachträgliche oder vorläufige Feier der nun erlebten großen Dinge er¬
schien. Da heißt es in hochprophetischem Tone z. B: „Jedes Volk hat seinen
Tag in der Geschichte, doch der Tag des deutschen ist die Amte der ganzen
Zeit" (S. 410), d. h. indem er, das Beste von allen Völkern und Zeiten sich
aneignend, die Idee der Menschheit in sich rein vollendet und darstellt (der
Gedanke der Weltlitteratur); „er ist erwählt von dem Weltgeist, während des
Zeitkampfs an dem ewigen Bau der Menschenbildung zu arbeiten," er „verkehrt
auch mit dem Geist der Welten" (ein Blick auf die Philosophie der Zeit), ist
„der Kern der Menschheit," die andern Völker Blüte und Blatt. Den Mut zu
solch hohem Glauben schöpft er auch aus der Sprache (wie man im siebzehnten
Jahrhundert that und dann auch Fichte in den Reden an die Nation): „Die
Sprache ist der Spiegel einer Nation, wenn wir in diesen Spiegel schauen,
so kommt uns ein großes, treffliches Bild von uns selbst daraus entgegen"
(S. 412). Bis zu geahnter Herrschaft steigt der prophetische Blick: „Unsre
Sprache wird die Welt beherrschen," und: „Dem, der den Geist bildet, be¬
herrscht, muß zuletzt die Herrschaft werden, wenn anders die Welt einen Plan
hat; am Ende muß die Sitte und die Vernunft siegen, die rohe Gewalt j^des
Stoffes^ der Form fJdce^ erliegen." Also Herrschaft einstmals, wenn auch nur
geistige; schleicht sich aber da nicht das Politische von selbst mit ein? Es wird
doch förmlich abgelehnt: „Der Deutsche wohnt in einem alten, sturzdrohenden
Haus, aber er selbst ist ein edler Bewohner, und indem das politische Reich
schwankt, hat sich das geistige immer fester und vollkommener gebildet" (S. 414),
denn „deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge," und:
Stürzte auch in Kricgcsflcunmeu
Deutschlands Kaiserreich zusammen,
Deutsche Größe bleibt besteh» (S. 413).
Wunderbar, Untergang von außen, und Große von innen! wie gesagt, das
Ende der Doppelbewegung aus Jahrhunderten her, in dein doch die Berichtigung
durch die Zukunft von selbst schon begrifflich gegeben war. Deutsches Reich
und deutsche Nation zweierlei, das war wohl damals gut als Trost, aber auf
die Länge? unmöglich! Schon um fünfzig Jahre früher hatte der junge
Cronegk (er starb leider jung) den Mut dieses Gedankens, vor dem Schiller,
der mutige, hier Halt macht, in dem Gedichte „Einsamkeiten" im zweiten
Gesang, wo er auf diese Gedankengänge kommt, die ja in der Luft lagen
(Schriften 1766 2. 72):
Aber ich sehe den Schutzgeist, der Deutschland zu schützen bestimmt ist...
Klage nicht, sprach er mit himmlischer Stimme, bei dein, was du siehest.
Auch den Unsterblichen ist es verborgen, was ewige Vorsicht
Über das zitternde Dentschland beschlossen. Vielleicht zu der Freiheit
Oder vielleicht zu der niedrigsten Knechtschaft bestimmt sie dein Deutschland.
Doch ein Weiser ist niemals ein Knecht, erhabene Seelen
Bleiben bei jeder Veränderung groß. Der Ewige wirket,
Und ein Reich geht unter: er winkt, nud ein neues entstehet.
Auch Schiller hätte seinen Gebankenfaden oben so weiter spinnen können mit
eignen Gedanken aus seinem Wallenstein, und wir könnens noch für ihn thun.
Im Anschluß an die Deutschen als „Kern der Menschheit," im Pflanzenbilde,
mit Wallensteins Worten (Wallensteins Tod 3, 13):
Da steh ich, ein entlaubter Stamm; doch innen
Im Marke lebt die schaffende Gewalt,
Die sprossend eine Welt aus sich geboren.
Und «is Motto über die ganze neuere deutsche Geschichte passen wie geschaffen
Wallensteins Worte ebenda:
Noch fühl' ich mich denselben, der ich war!
Es ist der Geist, der sich den Körper baut.
Die hohen Prophetenworte Schillers, die uns ans überschwängliche streifen,
wie die Friedrichs des Großen, klingen doch noch nüchtern gegen das, was ans
den Kreisen der Jugend erschallte in wahrem Prophetenrausch; sie hatte ihn doch
von dem Trank, der von Goethe, Schiller, Herder, Kant, Lessing nüchtern gebraut
war, hatte sich aber daran einen Mut getrunken, der eine ganz neue Welt von
Deutschland aus ins Leben rufen wollte, wie zwanzig Jahre früher Zimmer¬
mann von den Genies der siebziger Jahre sagte (Einsamkeit 2, 9), sie wollten
„ganz Deutschland umstimmen und dann, nnter ihrer stolzen Führung, durch
die deutsche Nation alle Nationen um sich her." Die Romantik brach hervor,
wirklich zugleich eine fortsetzende Wiederaufnahme der Genieperivde, brach aus
wie ein Weltfrühling, dessen neuer Lebenshauch in der That nachher rings um
Deutschland herum so wirken sollte, wie Zimmermann da mehr spöttelnd von
den Genies sagte. Der Umschwung der ästhetisch-philosophischen Welt, den
Franzosen wie Dorat, Raynal vorausgesagt hatten und der Deutschland zunächst
auf diesem Boden wieder zur Mitte Europas machte, fällt wirklich wesentlich
mit dem Wechsel des Jahrhunderts zusammen. Die Französin, die im Anfang
des Jahrhunderts beim deutschen Geiste Trost suchte für das Unglück ihres
Vaterlandes, wie sie die Schicksale Frankreichs unter Napoleon empfand, die
Stael-Holstein, witterte die neue Lebensluft in Weimar. xar sa
Situation AöOKraxlnHuo, xout otro oousiävröö eomiris 1s oosur as 1'IZurovs,
sagt sie in ihrem Buche as 1'^.IIomaMs, Paris 1810, London 1813 1, 13, und
fügt, an Napoleon denkend, politisch prophetisch hinzu: se la granäs assooiation
eontiuentals (Europa als eine Gemeinschaft gedacht) us Sauron rstrouvor son
inäsxonäanos aus xar eslls as es xa^s; denn 1'inävvöQäanos as 1'aus, die sie
in Deutschland sah (1a patris as 1a xsusss), tonäera eslls clss stats (1, XVI),
also im Grunde wie Schillers „Geist, der sich den Körper baut"; vom Herzen
muß die Neubelebung des Ganzen ausgehen, das ist der Gedanke der Fran¬
zösin. Sie sah sonst düster in die Zukunft Europas und seiner Cultur, sah
Verfall vor sich: it so xsut . . c^us 1a ^sunssss ein Asnrs Quinain soit xassss
xcmr tousonrs, es scheint abgelebt, dem Altern verfallen, aber: oexsuäant on
oroit sentir äans los vorits as« ^.llemanäss uns ^'srmssss nouvolis (3, 136,
im 9. Kapitel des 3. Buches), eine neue Jugend für die Menschheit in der deut¬
schen Litteratur, mit wahrhaft geistreich philosophischer Ausführung und Be¬
gründung, die ich ungern bei Seite lasse. Der Grundgedanke, hier von philo¬
sophischer Beobachtung einfach, ruhig und klar ausgesprochen, ist doch derselbe,
wie er im Folgenden etwas verworren und unruhig aus gährendem Jugeud-
gciste cinherbranst.
Friedrich Schlegel feierte für sich den Wechsel des Jahrhunderts mit einem
langen Gedicht „An die Deutschen," gedruckt im Athenäum 3, 165 ff. (in den
Gedichten 1809 S. 239 ff, mit simizersiörenden Fehlern), als Vertreter des
Kreises der jugendlichen kühnen Weltverbesserer oder Weltvollender, die in der
Zeitschrift predigend lind orakelnd philosophirten. Er hebt zürnend an:
Vergaßt auf ewig Ihr der hohen Ahnen,
Ihr uneins all, an Stumpfheit alle gleich,
Gelehrte, Layen, Herrn und Unterthanen!
Die Herrlichkeit und Kraft der Vorzeit, bis zu Arminius zurück, wird mahnend
ausgemalt, auf politisches Thun zwar verzichtet, aber aus Kunst, Wissenschaft,
Religion, Philosophie ein neuer Weltbau aufgeführt, der eben jetzt im deutschen
Geist erstehe. Als „Meister" erscheint Goethe, als „Priester der Natur," der
zur „Hierarchie der Kunst" sein Werde spreche. Gezürnt wird mit den Stumpfen,
die noch nicht merken, „daß sich der Nacht ein Weltall neu entrissen."
Wem aber die Augen geöffnet sind, der „muß im Mittelpunkt den Erdgeist
fassen," der sieht „des Menschengeistes kühnen Weltenbau," auch eine Wunder¬
pflanze genannt, in die aller bisher erworbenen Bildung Mark strömt, auch ein
Tempel, eine Kirche:
Wahl seid Ihr taub, sonst hörtet Ihr mein Rufen!
Der Tempel grünt in euch, in euch noch leben
Die Kräfte, so das Alterthum erschufen.
Dringt, Jüngling', ein! Ernennt durch tapfres Streben
Euch selbst zu Herrn und Fürsten jeder Kunst,
So wird die Kirche sichtbar sich erheben...
Entflammt die ganze Welt zu einer Brunst u, s. w,
Europas Geist erlosch, in Deutschland fließt
Der Quell der neuen Zeit u. f. w.,
also immer noch das Ziel von Opitz her, aber nun in höchster, ungeahnter
Vollendung, Erhöhung und Ausweitung, nahe vor den Händen schwebend oder
erreicht, und der deutsche Geist nun nicht mehr bloß Europa ebenbürtig, sondern
sein Lehrer und Führer zurück oder vorwärts zum goldnen Alter, denn dieser
Gedanke aus dem Anfang des neuen Aufschwunges wirkt auch noch darin.
Am Schluß:
Bleibt jung, gedenkt der Ahnen, das Fantom
Der trägen todten Meng' ist nur ein Splitter,
So dämmen will der Zeiten Riesenstrom.
Des Geistes heil'gen Krieg kämpft treu wie Ritter.
Also Krieg angesagt, ein heiliger Krieg, aber nur Geisteskrieg (Eichendorff schrieb
ein Spiel „Krieg den Philistern"), ohne sichtbare Ahnung der nahen Zeit, wo
wirklicher Krieg furchtbar blutig nötig wurde, auch ein heiliger Krieg, für den
Th. Körner das Stichwort der jungen Kunstwelt aussprach, wie mit seinem
Blute geschrieben: „Laßt mich der Kunst ein Vaterland erfechten!"
Noch mehr wie weltentrücktes Träumen, wie der Traum einer geistbe¬
rauschenden Sommernacht, klingt dasselbe, eben auch im Jahre 1800, bei No-
palis im Heinrich von Ofterdingen, in einem Gedichte, das den zweiten Teil
(Erfüllung genannt) eröffnet. Darin z. B:
Es bricht die neue Welt herein
Und verdunkelt den hellsten sbisherigenj Sonnenschein.
Man sieht nun aus bemoosten Trümmern öder alten Welt)
Eine wunderseltsame Zukunft schimmern u. s, w.
Was sollten aber solche Träumer aus Wolkenkukuksheim, so glänzend sie es
ausmalten, unten in der deutschen Welt, wie sie nun wirklich war? In die
Sterne gucken, während ihnen die Bergspitze, auf der sie guckten, von unten her
abgegraben wurde? Man begreift da völlig, wie Napoleon, der unsäglich nüch¬
terne (und selbst doch gewaltiger Träumer), von den Deutschen als Ideologen
sprechen und denken konnte. Nun der Jdeenheld, als die Zeit kam, war doch
auch gleich wieder der alte deutsche nött W swer nariclsn, das sollte Napoleon
im Jahre 1813 erfahren, wie sein Neffe im Jahre 1870 wieder. Im Jahre 1805
tröstet sich Arnim prophetisch ahnend in der Abhandlung von Volksliedern, als
Anhang zum ersten Bande des Wunderhorns: „Ob sich die (deutsche) Welt aus¬
ruht zum Außerordentlichen? Das Speculiren, das so ernsthaft genommen
wird, macht es wahrscheinlich, denn dies ist der Traum der Thätigkeit, nur der
Morgenträume sind wir uns bewußt" (Wunderhorn 1845 1, 461). Und so
kam es, es waren Morgenträume auf einen neuen Welttag gewesen. In den
Heeren von 1813 kämpfte und lenkte nun der Geist mit, der eben aus jenem
Gedankenhimmel herunter kam, gerade auch der romantische, durch den ja auch
das deutsche Nationalgefühl aus der Vorzeit her wieder zu ganzer Kraft er¬
weckt, der deutsche Geist in der eignen Heimat wieder heimisch geworden war.
Die Träumer hatten dort oben doch die rechten Lichter aufgesteckt oder wieder¬
entdeckt, die die rechten Wege auch hienieden wiesen und beim Zugreifen an
der da gebotenen sauern Arbeit leuchteten.
Wie sich gerade in der Zeit und dem Geiste der Romantik der Umschwung,
der nun nötig war, entschieden meldete, die Rückkehr vom Träumen zum Ein¬
greifen in die gegebene Welt, vorbereitet allerdings schon in der Genieperiode,
das läßt sich z. B. in Hölderlins Seele sehen, der den Weg vom Hellenismus
her zur deutschen Zukunft durch die Romantik hindurch suchte. So wenn er im
November 1794, also schon vor dem eigentlichen Drang und Zwang der poli¬
tischen Not, aus Jena in die Heimat an Neuffer von der ästhetischen Welt
schreibt, die ihm nun in ihrem Aufsteigen abgeschlossen vorkommen will, zugleich
unter dem mächtigen Einfluß von Fichtes Vorlesungen: „Wenns sein muß, so
zerbrechen wir unsre unglücklichen Saitenspiele und thun, was die Künstler
träumten. Das ist mein Trost." (Werke 1846 2, 106.) Und im Hypenon hat
er das gethan, so weit es mit der Feder in der Hand in der Stube möglich
ist, der Roman ist bei aller seligen Seelenträumerei, bei allem Rausch von Phan¬
tasie und Naturfühlen doch zugleich voller Prophetie auf ein großes Thatleben
der Zukunft hin, zu dem eben der Traumrausch hindrängt für eine Neugestaltung
und Wiedergeburt der Welt nach den Traumbildern, auch politisch. Den Wende¬
punkt in der Richtung der jungen Geister, allerdings eben wacker vorbereitet
mitten in der ästhetischen und philosophischen Ideenwelt, bezeichnet auch sein
goldnes Wort „leben die Bücher bald?" das Wohl noch auf Jahrhunderte hin
als mahnendes Motto hoch über all unsrer Gedankenarbeit dienlich oder nötig
wäre, in einer Ode „an die Deutschen":
spottet ja nicht des Klubs, wenn es mit Peitsch' und Sporn
Auf dem Rosse bon Holz muthig und groß sich dünkt.
Denn ihr Deutsche, auch ihr seid
Thatcnarm und gedankenvoll.
Oder kömmt, wie der Strahl aus dem Gewölke kömmt,
Aus Gedanken die That? Leben die Bücher bald?
O ihr Lieben, so nehmt mich,
Daß ich büße die Lästerung!
Und so geschah es, die That kam aus dem Gedanken, wie der Strahl aus
des Himmels Wolken, als die Zeit erfüllet war. Die ganze deutsche Dichter¬
welt, die unsrer großen Philosophen und Tondichter nicht zu vergessen, war
doch wie eine große Prophetie für ein neues Leben, nicht für uns bloß, son¬
dern für die Welt, wie auch das Ausland rings herum immer mehr empfindet
und anerkennt. Zunächst aber auf uns, für ein neues Leben, welches den Namen
Leben verdiente und ohne welches auch das höhere Leben fest und dauernd
nicht möglich ist. (Schluß folgt.)
enden die „Renaisscinee" Mode geworden ist, wird das Wort,
das früher nur eine bestimmte, zeitlich begrenzte kunstgeschichtliche
Bedeutung hatte, auf alles mögliche angewandt. Man verbindet
mit allen künstlerischen Erscheinungen vom fünfzehnten bis ins
siebzehnte Jahrhundert den Namen „Renaissance," jeder unbequeme
. hochrückige Lehnstuhl, jeder messingene oder schmiedeeiserne Leuchter,
der sich in Technik oder Form an ältere Vorbilder anlehnt, wird durch dieses Wort,
das einen gewissen künstlerischen Glanz ausstrahlt, gleichsam geadelt, und während
unser Kunstgewerbe mit raschen Schritten die Jahrhunderte durcheilt und nach
kurzem Verweilen bei den edleren Formen des fünfzehnten und sechzehnten
Jahrhunderts bereits völlig in die Fluten des Barockstils, der den Neigungen
und dem Geschmacke unsrer Geldaristokratie begreiflicherweise mehr entspricht,
untergetaucht ist, bleibt doch der einmal lieb gewonnene, vornehm klingende
Name „Nencnssanee" in aller Munde.
In der Geschichte der Wissenschaften und der bildenden Künste bezeichnet
das Wort zweierlei. Einmal den Vorgang der Wiedergeburt des klassischen
Altertums, den Augenblick, wo die geistigen und künstlerischen Reichtümer der
Vorzeit in aller ihrer Schönheit wieder aus der Vergessenheit emporstiegen und
der Menschheit neue Ideale schenkten. Dann aber vor allem die Zeit, die auf
jenes Ereignis (denn wir können es wohl als ein Ereignis bezeichnen, so schnell
vollzog sich jener Wechsel der Anschauungen) folgte, die Zeit, wo sich modern-
christliche und antike Ideen zuerst bekämpften, wo dann die Antike eine Zeit
lang Siegerin blieb, um sich schließlich unlöslich mit ihrer frühern Gegnerin
zu verbinden. Diese Verbindung bezeichnet den Höhepunkt der neuern Kunst.
Die Periode, wo sich Antikes und Modernes völlig die Wage hält, wo die
Gedanken und Empfindungen des modernen Menschen eine Form finden, die
aus dem alten, wicdereroberten Schönheitsideal geboren ist, bringt einen Michel
Angelo, einen Nciffael hervor.
Eine gleichartige Entwicklung macht die Dichtung der Völker des westlichen
Europas durch. In Italien, dem Lande, welches die Reucussanee am unmittel¬
barsten erlebte, bezeichnet Petrarca die erste, der Humanismus des fttufzehnten
Jahrhunderts die zweite, Ariost die dritte und höchste Stufe dieser bis zum
Gipfel der Kunst aufsteigenden Bewegung. In der französischen Dichtung siegt
die Antike in schnellem Anlauf: Ronsard und die Plejade unterwerfen sich ihr,
und sie herrscht ein halbes Jahrhundert, bis sich endlich in der it-als litten.-
durs Ludwigs des Vierzehnten der französische Nationalgeist ihr zugesellt und
in Corneille den Dichter hervorbringt, der in der Vereinigung von Altertum
und Gegenwart die Entwicklung abschließt. Einen schnelleren, aber in den
Grundlinien gleichen Lauf nimmt die englische Poesie. In der kurzen Zeit von
fünfzig Jahren schreitet sie von Wyatt und dem Earl of Surrey, den Nach¬
ahmern der durch die Italiener vermittelten Allen, fort bis zu den Dramatikern
der elisabethanischer Periode und findet in Shakespeare ihre Vollendung.
Ariost, Corneille, Shakespeare sind im ursprünglichen Sinne des Wortes echte
Nenaissanccdichter, die Renaissance bedeutet, wie in der bildenden Kunst, so auch
in der Poesie, bei Italienern, Franzosen, Engländern (und Spaniern) den Höhe¬
punkt klassischer Vollendung.
Welche Wirkung hat nun die Renaissance auf die deutsche Dichtung gehabt?
Welches sind unsre großen Nenaissancedichter? Diese Fragen will für ein be¬
stimmtes Gebiet, für die Lyrik, ein jüngst erschienenes Buch von Max Frei¬
herrn von Waldberg ^ beantworten. Als Renaissancelyrik bezeichnet der Ver¬
fasser im Vorwort seiner Arbeit die weltliche Lyrik der ersten Hälfte des
siebzehnten Jahrhunderts, da nicht nur die Kunstlyrik, sondern auch die volks¬
tümliche Dichtung dieser Periode einen tiefgehenden Einfluß jener Kulturbewegung
zeige, die wir „Renaissance" nennen. In der That bildet im Gegensatz zu den
frühern Dichtern der Einfluß der Antike das bezeichnende Merkmal der
Schöpfungen eines Opitz. Fleming, Dach, Zehen. Die alte deutsche Dichtung
hatte sich am Ende des sechzehnten Jahrhunderts völlig ausgelebt. Nur das
geistliche Lied, auf das unausgesetzt der befruchtende Segen der lutherischen
Bibel herabströmte, und das Volkslied trieben noch neue Blüten, die Kunst¬
dichtung war längst abgestorben, und was an ihrer Stelle geboten wurde,
waren jämmerliche Leichengedichte, zotenhafte Hochzeitscarmina und andre Ge¬
legenheitspoesien, die in Form und Inhalt jeder feinern Empfindung Hohn
sprachen. Ohne Rücksicht auf das unsrer Sprache eingeborne Betonungsgesetz
wurden die Silben zu je acht in den Vers hineingezählt, die Worte, wo sie
der vorgeschriebenen Silbenzahl nicht entsprachen, gewaltsam gedehnt oder ver¬
kürzt. Dieser Dichtung verdankt der Ausruf: „Reim' dich oder ich freß' dich"
seine Entstehung. Man kann behaupten, daß nie ein Volk auf hoher Stufe
der geistigen und künstlerischen Entwicklung eine so elende Poesie besessen hat,
wie das deutsche beim Beginn des siebzehnten Jahrhunderts. Die Verse des
Hans Sachs, die stets als Muster der „Knüppelreime" von den spätern an¬
geführt werden, stehen noch verhältnismäßig hoch. Nun höre man die „Deutsche
Rithmi," in denen 1609 ein beliebter schlesischer Gelegenheitsdichter, Georg
Rentier in Breslau, ein Bogenschießen zu Großglogau besingt:
Wann man dann zun Kricgsrttstungen
Gebraucht mancherlei Gattungen
Von Waffen, Wehren, Jnstrumentn
Wie man die immer tan erdenkn u. s. w.
Man sollte glauben, daß die Jämmerlichkeit dieser Verse nicht überboten werden
könne. Und doch wird in der Folgezeit auch dieses Kunststück fertig gebracht.
Die Gelegenheitspoeten warfen die letzte Fessel ab, die sie bedrückt hatte, die
feststehende Silbcnzahl. und ein Landsmann Reutters, Modestinus Beußdorf,
verfaßt im Jahre 1627, zehn Jahre nach dem Auftreten Opitzens, eine Sorte
von Versen, die er vornehm RMtinolog'las nennt, die aber jedem einigermaßen
gebildeten Ohre geradezu Schmerzen verursachen:
Gottes Gnad und reichen Segen,
Besteudig Gesundheit darnebn,
Vnd langes Leben in Fried und Ruh,
Ew. E. E. ich wiintschen thu,
Sambt einem Gluckselgem Rewn Jahr,
Vnd aller Heylsamn Wohlfart gar u. s. w.
Diese Beispiele, denen tausend ähnliche aus alle» Teilen Deutschlands zur Seite
gestellt werden können, bezeichnen deutlich den Zustand, in welchem sich die
deutsche Dichtung zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts befand.
Nur wenn man diesen Zustand erwägt, kann man beurteilen, welchen un¬
ermeßlichen Fortschritt es bedeutete, als im zweiten Jahrzehnte des Jahrhun¬
derts eine Anzahl von Dichtern auftrat, die das unbrauchbare Alte beiseite
warfen und auf völlig neuer Grundlage eine neue deutsche Dichtung schufen.
Waldberg hat es unterlassen, die deutsche Kunstdichtung (d. h. dasjenige,
was ihre Stelle vertrat) vor Beginn des von ihm behandelten Zeitraumes zu
schildern. Er leitet die neue Dichtung nur aus einer Quelle, dem Volksliede,
ab. Selbst zugegeben, daß der Zusammenhang zwischen Volks- und Kunstlied
so eng sei, wie der Verfasser uns durch die Vergleichung der innern Form,
des sprachlichen Ausdrucks und des Gedankengehalts beider Gattungen glauben
machen will, so hätte doch darauf hingewiesen werden müssen, daß dieser Zu¬
sammenhang ein nicht gewollter, ein völlig unbewußter ist. Waldberg läßt dies
an der einzigen Stelle, wo er flüchtig darauf hindeutet (S. 46 f.), ganz unent¬
schieden. Ans den gleichzeitigen Lehrbüchern der Dichtkunst, die er fast gar
nicht beachtet hat, erhellt aufs deutlichste die Stellung der neuen Schule zu
ihren Vorgängern. Opitz und seine Genossen erkennen theoretisch diese Vor¬
gänger überhaupt nicht an, zwischen dem Beginn des sechzehnten Jahrhunderts
und ihrer Zeit giebt es für sie in der Dichtung nur eine gewaltige, gähnende
Kluft, die nirgends überbrückt ist. Dichter, die in dem Verse „Rot' Röslein
wollt' ich brechen" und in Wendungen wie „das mündlein rot," „die Hände
fein" nur Verstöße gegen die Regeln sahen, wollten sicher mit dem Volksliede
nichts gemein haben.
Allerdings war kurze Zeit das Bestreben vorhanden, in der neuen Dich¬
tung an volkstümliche Ueberlieferungen anzuknüpfen, aber es wurde schnell unter¬
drückt. Wcckherlin suchte mit deutlich erkennbarer Absicht dem Volksliede An¬
schaulichkeit und frische Unmittelbarkeit der Empfindung zu entlehnen und sie
in einer höhern Ansprüchen genügenden Form auszuprägen. Unter dem Ein¬
flüsse seiner 1618 erschienenen Oden und Gesänge steht der größte Teil der
Dichter, die Zincgref 1624 im Anhange zur ersten Ausgabe der Gedichte Opitzens
(nicht zum Aristarchus) vereinigte. Von dieser Sammlung geht die Darstellung
Waldbergs aus. Wie aus dem eben Gesagten hervorgeht, ist das ein chrono¬
logischer Fehler. Ueberhaupt gehört die Chronologie zu den schwachen Seiten
des Buches. Sämtliche Dichter von 1600 bis gegen 1670 sind in einen Topf
geworfen (man verzeihe den etwas handgreiflichen Ausdruck), und der Verfasser
greift beliebig die Beweisstücke heraus, deren er sür seine Behauptungen bedarf.
Selbst der aufmerksamste Leser wird keinen Unterschied zwischen Weckherlin,
Opitz, Schoch, Finkelthaus, Harsdörffer, Zehen und irgend einem der übrigen
zahlreichen, von Waldberg behandelten Dichter aus dem Buche Heranslesen
können, eine Entwicklung innerhalb des von ihm geschilderten Zeitraumes be¬
steht sür den Verfasser nicht, ebenso wenig wie er es für der Mühe wert hält,
irgend einen Dichter in seiner Eigenart zu chcirakterisiren, obgleich er in der
Vorrede die Schilderung des „Entwicklungsganges" der deutschen Lyrik des
siebzehnten Jahrhunderts als sein Ziel bezeichnet hat. Das Bild, das wir
bisher von dieser Periode unsrer Dichtung besaßen, hat in der neuen Darstel¬
lung an Klarheit eher verloren, als gewonnen.
Waldbergs Arbeit zerfällt, abgesehen von der Einleitung, in drei Hauptab¬
schnitte; der erste, „Volksdichtung und Kunstlyrik," umfaßt 67 Seiten, der zweite,
die „Schäferlyrik," 117 Seiten, der dritte mit der Ueberschrift „Anlehnung und
Entlehnung" 40 Seiten. Schon aus dieser Raumverteilung ist ersichtlich, welches
Gebiet dem Verfasser als das wichtigste und am meisten angebaute erscheint:
die Schäferdichtung. Mag auch gegen das Ende des Zeitraumes die
Schäferposie überwiegen (nur eine mühsame und an sich zwecklose Statistik
könnte darüber Sicherheit geben), in der weitaus größern Hälfte, bis in die
vierziger Jahre hinein, wird die Schäfermaske nur hie und da vorgenommen,
erscheint sie als bevorzugtes Kostüm nur bei deu Dichtern, welche den Italienern
nacheifern. Aber freilich ist nach Waldbergs Anschauung (S. 16 u. ö.) die ge¬
samte von ihm behandelte Dichtung von den Italienern abhängig. Das ist
sicherlich ein Irrtum. Im ersten und selbst noch im zweiten Jahrzehnt des
Jahrhunderts überwiegen allerdings, wie schon Scherer bemerkt hat, die ita¬
lienischen Einflüsse; aber die von Weckherlin und Opitz begründete poetische
Richtung (und deren Schilderung ist doch Waldbergs hauptsächliche Aufgabe)
geht von den Niederländern und den Vorbildern dieser, den Franzosen, aus,
die lyrischen Formen wie der Gedankengehalt, den sie umschließen, siud von Opitz
und seinen Schülern aus Frankreich herübergenommen worden. Es lassen sich
für die Dichtungen dieser Zeit mindestens ebenso viele niederländische und fran¬
zösische, wie italienische Vorbilder nachweisen, nur zieht sie Waldberg nicht zur
Vergleichung heran, da er z. B. Heinsius' ^loclsräuMous kosraatg, gar nicht
und Ronsards Dichtungen nur in der dürftigen Auswahl von Becq de Fouquieres
kennt, von den Sternen zweiter Größe wie Du Bellay oder Svieghel nicht zu reden.
Die Frage nach den Quellen, aus denen die Dichter des siebzehnten Jahr¬
hunderts geschöpft haben, ist für die Beurteilung ihrer Leistungen die wichtigste.
Denn es mangelt ihnen, wie Waldberg richtig bemerkt, an Unmittelbarkeit, „die
geschilderten Seelenvorgänge habe» alle ^oder doch wenigstens zum größten
Tell^ eine konventionelle Färbung, sie ist mit einem Worte keine erlebte, sondern
angelernte und anempfundene Dichtung." Frisches, eigenartiges Leben giebt sich
nur im Volksliede kund, das sich anfangs in der Richtung des sechzehnten
Jahrhunderts weiter bildet, und dieses wirkt auch auf die Kunstpoesie hinüber,
zumal in Süd- und Westdeutschland, während der Norden und Osten volks¬
tümliche Wendungen und Formen zu vermeiden sucht. So sind in der Sammlung
Zinegrefs sprichwörtliche Wendungen und alte Volksformen, wie Liebesgruß
und Liebeswunsch, verwendet, die wir bei Opitz und den Seinigen vergebens
suchen würden, weil die um Zincgref versammelten Dichter fast ausschließlich
dem Südwesten angehören. Eine besonders starke Einwirkung übt das Volkslied
auf das sogenannte Gesellschaftslied aus, das, wie Waldberg mit großer Be-
lesenheit nachweist, sich zum großen Teil aus Bestandteilen älterer Lieder zu¬
sammensetzt. Das Gesellschaftslied ist ursprünglich das Volkslied der höhern
Stände, es dringt aber bald auch in die untern Schichten und unterscheidet
sich von seinem bescheideneren Genossen vor allem durch die Melodien, die aus
Italien und Frankreich eingeführt werden. Nach Hoffmann von Fallersleben
(Die deutschen Gesellschaftslieder, Vorrede) verstummt das Gesellschaftslied beim
Auftreten der schlesischen Dichter, während Waldberg, ohne sein Abweichen von
der früher geltenden Ansicht zu rechtfertigen, ein Fortbestehen der volkstümlichen
Dichtung während des ganzen von ihm behandelten Zeitraumes annimmt. Auch
Opitz dichtete auf französische Melodien, wie Li e'oft xcmr mon xuoelgZ-ö
oder ^.uxrss an höret as Lsins, sangbare Lieder, und wie schnell sich diese
in allen Ständen verbreiteten, zeigen die Worte, die er im Jahre 1628 an
seinen Freund Coler schrieb: „Alle Häuser und Gassen hallen von meinen
Liederchen wieder, sie werden sogar an den Straßenecken für wenige Pfennige
verkauft. So bin ich ein lebendiger Zeuge meines eignen Ruhmes und ergötze
als angenehmer Sänger die Herzen der Dirnen und Mägde. Und wenn ich
auch jetzt von diesen Belustigungen früherer Jahre zurückgekommen bin, so freue
ich mich doch der Erinnerung an die Vergangenheit." Diese Aeußerung bestätigt
unmittelbar den Uebergang des Kunstliedes in das Volkslied, der im siebzehnten
Jahrhundert so oft zu beobachten ist und dem Waldberg mit großer Aufmerk¬
samkeit und Feinfühligkeit nachgegangen ist. Zu diesem Uebergange haben sicher
auch die volkstümlichen Wendungen beigetragen, die sich bei den meisten Dichtern
von Theobald Hock bis Zehen nachweisen lassen. Nur liegt hier keine bewußte
Anlehnung vor. Die Dichter des siebzehnten Jahrhunderts handelten nach dem
Grundsatz: .Is xronäs mon bien, on ^js 1s trouvo. Sie sammelten die Blumen,
mit denen sie sich schmückten, in französischen Ziergärten und anf deutschen
Wiesen, sie waren befriedigt, wenn der Kranz, den sie daraus wanden, recht
bunt in die Augen stach. Manches wird auch von Waldberg mit Unrecht auf
volkstümliche Quellen zurückgeführt. So ist die Verachtung des Reichtums
und der Preis des Landlebens, übrigens einer der verlogensten Züge in dieser
Dichtung der gelehrten Hofleute, gewiß besser auf Horaz und die römischen
Elegiker als auf das Volkslied zurückzuführen. Ebenso dürfte die Wieder¬
holung der Liederanfünge bei den zahlreichen Dichtern, die sich auf Nachahmung
der Opitz, Fleming, Dach beschränkten, wohl nicht dem Volksliede, sondern eher
der Bequemlichkeit und Unfähigkeit jener Poeten entstammen. Fein und zu¬
treffend ist von Waldberg der Unterschied zwischen Volks- und Kunstlyrik fest¬
gestellt worden, indem er diese als ruhend, jene als bewegt, diese als beschreibend
jene als erzählend bezeichnet. Die Kunstdichtung malt mit zierlichem Pinsel
und unzähligen zarten Strichen kleine Bilder, aus denen sich anmutige Damen
spröde von verliebten Herrchen umflattern lassen, während im Hintergründe
vom leichtbewölkten Himmel sich eine heitere Gcirtenperspcktive abhebt. Das
Volkslied entwirft mit markigen Strichen Bild auf Bild, in schnellem Fluge
wird der Hörer von einem zum andern fortgerissen, die Dichtung macht den
Eindruck des Erlebten. So ist das Verhältnis beider Gattungen am Anfang
unsers Zeitraums. Aber im Laufe desselben ändert es sich zum Nachteil des
Volksliedes. Die Beschreibung, die Betrachtung über die eigne Empfindung
dringt ein; das Volkslied wird empfindsam, es gebraucht mit Vorliebe Beispiele aus
dem Altertum, und an Stelle des sinnfälligen Ausdrucks tritt der gedankliche.
Weit entlegene Vergleiche werden zur Bezeichnung der einfachsten Dinge heran¬
gezogen, so wenn Martin Kempe (übrigens nach Flemings Vorbild) den Mai
einen „künstlichen Apelles" nennt, der die „köstlichsten Gartenbilder" darstellt.
Auffallend ist im siebzehnten Jahrhundert der Gegensatz zwischen Dichtung
und Leben. Waldberg sagt zwar zu viel, wenn er behauptet, daß fast alle
Dichter den Schlachtfeldern enteilen und auf erträumten arkadischen Wiesen und
am grünen Ufer ihre Syrinx blase»; denn es giebt kaum einen bedeutenderen
Dichter, der nicht den endlosen, leidensvollen Kampf in seinen Versen beklagte
oder in frischen Soldatenliedern der kriegerischen Zustimmung Rechnung trüge;
aber lange verweilt keiner von ihnen bei den Greuelbildern, die sich allenthalben
dem Ange boten, und wo sie es versuchen, wie bei der Eroberung Magdeburgs,
den furchtbaren Eindrücken der Zeitereignisse Ausdruck zu geben, fehlt ihnen
Kraft und Größe.
Ein weiterer Widerspruch besteht zwischen den Leistungen der Dichter und
ihrem Selbstgefühle. Sie alle leitet das patriotische Streben, ihr Vaterland
auch auf dem Gebiete der Poesie zu gleicher Höhe mit den andern Völkern zu
heben, die ganze poetische Bewegung geht von dieser Absicht aus. wie schon
Opitzens erste Schrift, der „Aristarchus" zeigt, aus dem die von Waldberg an¬
geführte Stelle Schirmers fast wörtlich entnommen ist. Und wie weit auch
die Fähigkeit hinter dem guten Willen zurückbleibt, so glauben doch diese Dichter
sich dreist neben Petrarca und Rabelais stellen zu dürfen, wenn sie ein italienisches
Gedicht oder eine spanische Satire mühsam nachgestammelt haben.
Die poetischen Bestrebungen gingen mit den sprachlichen Hand in Hand,
und die Reinigung der Muttersprache galt während der ganzen von Waldberg
hier behandelten Zeit als vaterländische Ehrenpflicht. Seitdem Opitz so kräftig
dafür eingetreten war, wurden mit größter Sorgfalt in der gesamten Kunst¬
lyrik die Fremdwörter vermieden, und mit Unrecht behauptet Waldberg, daß
diejenigen, die am heftigsten dagegen kämpften, auch solche seien, die die Fremd¬
wörter am häufigsten gebrauchten. Allerdings kommen ja Sprachmengereicn
vor; aber sie finden sich fast ausschließlich in den Romanübersetzungen, die
damals größtenteils ebenso fabrikmäßig und von ebenso unfähigen Personen
ausgeführt wurden wie heute. Und wer würde unsre heutige Prosa nach dem
sogenannten Deutsch einer Ossip Schubin zu beurteilen wagen?
Der Gegensatz zwischen Reden und Thun, den Waldberg in der Sprache
mit Unrecht auffinden will, zeigt sich dagegen deutlich im Empfindungsleben
der Dichter. Die Liebe wird von ihnen als bloße poetische Vorstellung ge¬
schildert, und zwar nicht erst von Salomon von Birken, sondern schon von
Opitz in der ersten und zweiten Vorrede zu seinen Gedichten und in der
„Poeterey." Daß für diese Verleugnung des gesunden Gefühls Petrarca vor¬
bildlich gewirkt hat, hätte Waldberg wenigstens andeuten sollen; in seiner Dar¬
stellung erscheint die Verleugnung der Liebe als eine besondre Eigenschaft der
deutschen Poesie, während sie doch, ebenso wie der Zweifel über die Verwend¬
barkeit der antiken Mythologie, für den Waldberg ebenfalls nur ein Zeugnis
aus später Zeit beibringt, überall sich zeigt, wo mittelalterliche Weltflucht und
antike Lebensfreudigkeit zusammenstoßen.
Wir sind bis hierher aufmerksam der Darstellung Waldbergs gefolgt. Umso
kürzer können wir uns über den folgenden, bei weitem größer» Teil seines
Buches, die Schäferlyrik, fassen. Denn während die ersten Abschnitte vor allem
in der Schilderung des Verhältnisses von Volksdichtung und Kunstlyrik viel
Neues, wenn auch nicht überall Richtiges bringen und ein bisher wenig be¬
achtetes Gebiet beleuchten, enthält die Abhandlung über die Schäferlyrik fast
nur eine Zusammenstellung von Beweisen für bekannte Dinge. Handelte es sich
um eine verwickelte, mühsam zu erklärende literarhistorische Erscheinung, so
wäre dieses Anhäufen von Material gerechtfertigt. Aber die Schäferdichtung
ist eine, wenn auch künstlich geschaffene, so doch äußerst einfache, in wenigen
feststehenden Formen sich entwickelnde Gattung, deren besondre Merkmale sich
auf den ersten Blick dem Auge darstellen. Hervorgegangen aus der neuerwachten
Liebe des Renaissancemenschen zur Natur einerseits, aus dem Geschmacke der
Italiener am Maskenspiele anderseits, entstanden in Italien die tavolo boseg.-
rsooio, in denen spielend verkleidete Schäfer um anmutige Schäferinnen warben
und vornehme Damen, dem Spiele zu liebe, mehr gewährten, als die strenge
Sitte sonst gestattete. Kein Wunder, daß dieser poesievolle Mummenschanz,
der sich noch dazu auf antike Vorbilder berufen konnte, der dichterischen Phan¬
tasie Anregung zu reizvollen Gemälden gab, die immer wieder nachgepinsclt
wurden, weil sie in ihrer glatten Zeichnung, in ihren zarten Farben den künst¬
lerisch gebildeten Augen der vornehmen Welt heitere Unterhaltung gewährten.
Die wirklichen Bauern und Hirten waren in ihrer Rohheit auf diesen Bildern
nicht zu verwenden, höchstens wurde einmal in der Ecke neben den geistreichen,
verliebten Amyntors der dumme, nur an Speise und Trank denkende Korydon
angebracht, um durch den Gegensatz die Wirkung zu erhöhen.
Bestimmte Formen bildeten sich in dieser Dichtungsart, die auf wenigen,
noch dazu erfundenen Situationen beruhte, leicht aus. War der Schäfer z. B.
von der Geliebten getrennt, so wurde er in betrübter Stellung gezeichnet, wie
er von dem früher genossenen Glücke sang. Oder war er mit ihr vereinigt,
so pries er seine zufriedene Lage gegenüber der des unbefriedigten, von Ehrgeiz
und Gewinnsucht geplagten Städters und erhob sein Arkadien, in dem es weder
Geld noch Krieg, weder Krankheit noch Tod gab und ein ewiger sonniger
Frühlingstag lachte. Die Natur teilt die Empfindung des Schäfers, sie wird
beseelt, und wenn er liebt, so lieben auch die Fische in den Flüssen und die
Bäume auf den Wiesen, von dem allgewaltigen Eros bezwungen. Man er¬
kennt in diesem ganzen gefühlsseligen Treiben dieselben Stimmungen wie in
der spätgriechischen Lyrik, die in der That auf die deutsche Dichtung des sieb¬
zehnten Jahrhunderts einen weitgehenden Einfluß geübt hat. So ist z. B. der
Einfluß Anakreons auf Weckherlm und die Art und Weise, wie dieser die an-
eilen Motive verwendet, sehr merkwürdig und wäre wohl der Beachtung
Waldbergs wert gewesen. Häufig kamen die von den Alten entlehnten Stoffe
und Ausdrucksformen erst aus zweiter und dritter Hand, durch Italien, Frank¬
reich und Holland nach Deutschland, und auf diesem weiten Wege wurden sie
oft sehr verhindert. Während die Italiener sie mit modernem Gefühle belebten,
wurden sie von den Franzosen abgeglättet, durch den Einfluß der Galanterie
verflacht, von den Holländern endlich steifer und gelehrter gestaltet. Darum
muß man auch da, wo die französische oder holländische Vorlage sich auf ein
italienisches Original stützt, die unmittelbarste Quelle bei der Begleichung mit
den deutschen Nachahmungen berücksichtigen, weil man sich natürlich nur so ein
richtiges Urteil über den selbständigen Wert derselben bilden kann. Dadurch,
daß Waldberg stets auf die Italiener und die Alten zurückgeht, erscheint die
Ungeschicklichkeit und Kälte unsrer Dichter viel größer, als sie in Wahrheit ist,
da vieles, was man auf ihre Rechnung setzt, ihren unmittelbaren Mustern,
Franzosen und Holländern, zur Last zu legen ist. Gerade in ihren Aus¬
artungen zeigt die Schüferdichtung mehr französisch-verständige als italienisch¬
phantastische Elemente, und ihr Ende bewirkt schließlich der Einfluß italienischer
Kunst, Marinis und seiner Schule. Die Schäferlyrik ging bald zu Grunde,
weil ihr der Boden der Wirklichkeit immer mehr unter den Füßen schwand,
weil sie ihr kleines Stoffgebiet schnell durchmaß und, um Neues zu bieten, der
Übertreibung und Künstelei verfiel. Doch war sie nicht für immer aus Deutsch¬
land verschwunden. Denn das achtzehnte Jahrhundert, das die Bestrebungen
des vorhergehenden mit richtigeren Verständnis und geschulteren Kunstsinn
wieder aufnahm, sah an den Ufern der Pleiße und Saale ein neues Geschlecht
von Schäfern erstehen, welche unmittelbar die Muster Theokrits und Virgils
nachzuahmen suchten. Aber sie wirkten noch unnatürlicher als ihre Vorgänger,
weil ihnen auch der letzte Nest von Naivität, der den Schöpfungen jener
einen gewissen Reiz verliehen hatte, fehlte. Diese süßlich weichen Töne wider¬
sprachen der kräftigen deutschen Eigenart, und mit bitterm Hohne rief der junge
Goethe den girrenden Seladons die Worte zu:
singt, Schttfer, singt, wie's euch gelingt,
Bis ihr deutschen Glanz zu Grabe bringt.
Der Grund dafür, daß die deutsche Lyrik des siebzehnten Jahrhunderts
nach verheißungsvoller Anfängen so schnell kraftlos in Unnatur und äußerliche
Fvrmspielerei versank, lag in der Talentlosigkeit und der dadurch hervorgerufenen
Unselbständigkeit ihrer Vertreter. Waldberg behandelt im letzten Hauptteil seiner
Arbeit diese Eigenschaft. Er zeigt, wie von vornherein die Nachahmung auch
in der Theorie an die Spitze gestellt wurde, wie jede Achtung vor fremdem
geistigen Eigentum fehlte, wie' Übersetzen eignem Schaffen gleich geachtet wurde.
Es wurde massenhaft, wie zu keiner Zeit sonst in Deutschland, gedichtet, aber die
Masse schrumpft auf eine ganz kleine Zahl zusammen, wenn man die wörtlichen
Nachahmungen, die Parodien und die mit Hilfe der poetischen „Schatzkammern"
aus gestohlenen Wendungen zusammengeleimten Gedichte abzieht. An einzelnen
Beispielen weist Waldberg mit reicher Belesenheit nach, wie bestimmte Verse von
Hand zu Hand wandern, wie besonders von Opitzens Oden keine einzige der
immer von neuem wiederholten Ausplünderung entgeht. Als schließlich der Unfug
alle Grenzen überschritt, erhoben sich die Verständigen unter den Dichtern und
machten ihm mit treffendem Spott ein Ende. So wurde, noch ehe das letzte
Viertel des Jahrhunderts anbrach, der Parnaß wenigstens von seinen schlimmsten
Gästen gesäubert, und wenn auch die, welche ihnen folgten, nicht viel besser
waren, so kam doch in ihren Leistungen, welche gewöhnlich, als die Dichtungen
der zweiten schlesischen Schule, von Waldberg in einer frühern Arbeit als
die „galante Lyrik" bezeichnet wurden, eines zur Geltung, was jenen gefehlt hatte
und was dem Dichter erst das Recht auf diesen Namen giebt: die Phantasie.
Nur wer sich selbst eingehender mit dem von Waldberg behandelten Zeit¬
raume unsrer Poesie beschäftigt hat, kann ermessen, wie groß die Schwierigkeiten
sind, die sich einer wissenschaftlichen Behandlung desselben entgegenstellen. Ab¬
gesehen von der Trockenheit des Stoffes, ist schon die Mühe der Erlangung
der nötigen Urkunden nicht zu unterschätzen. Umsomehr ist es zu bedauern,
daß Waldberg bei allem aufgewandten Fleiße nicht mehr geschaffen hat, als
eine, allerdings sehr sorgfältige und umfassende Behandlung dessen, was wir
nach Scherers Vorgang die innere Form der Dichtung nennen. Darüber ist
z. B. die Beobachtung der äußern, metrischen Form ganz vernachlässigt worden,
sie wird nur einige male (S. 4. 66. 146. 189. 202) flüchtig erwähnt. Aber
es hätte doch gezeigt werden müssen, daß sich in der Lyrik in den zwanziger
Jahren das neue Betonuugsgesetz Bahn bricht, daß die Sorgfalt sür die äußere
Gestalt der Dichtung von Jahr zu Jahr steigt, um sich schließlich bis zu den
gekünsteltsten Zierformen zu versteigen. Ferner hat der Verfasser, meines Erachtens,
die Grenzen des von ihm behandelten Stoffes nicht richtig gezogen. Er berück¬
sichtigt grundsätzlich nur die eigentliche Lyrik, schließt also die Gelegenheits¬
dichtung ganz aus, dagegen hat für ihn ein Gedicht von Kindermann oder
Kempe ganz dieselbe Beweiskraft, wie eins von Opitz oder Fleming. Waldberg
hätte besser gethan, die Gelcgenheitspocsie, die bei Opitz und seinen Nachfolgern
mit Erfolg strebt, sich über den unmittelbaren Zweck zu erheben, etwas mehr, und
dafür jene Poeten unterster Gattung weniger zu berücksichtigen. Daß die Schil¬
derung des Entwicklungsganges innerhalb der behandelten Periode nicht gelungen
ist, wurde schon gesagt. Kann man überhaupt vou einer Entwicklung in der
Reihenfolge: Volkslied — Gcsellschaftslied — volkstümliches Kunstlied, wie es
Waldberg (S. 81 f.) thut, reden? Ist hier nicht eher ein Bestehen neben einander
als nach einander vorhanden? Wenigstens bekommt man beim Lesen des Buches
den Eindruck, als hätten die drei Gattungen in annähernd gleichem Umfange
auf einander eingewirkt, und das zeitliche Verhältnis der von Waldberg ange¬
führten Beispiele widerspricht dem nicht.
Waldberg hat also, so verdienstlich und belehrend sein Buch auch im einzelnen
ist, die selbstgestellte Aufgabe nicht gelöst, eine Geschichte der deutschen „Renaissance-
lyrik" bleibt noch zu schreiben, wenn anders die deutsche Dichtung des sieb¬
zehnten Jahrhunderts berechtigt ist, diesen Namen zu führen. Allerdings ist sie
vom Altertume in hohem Grade beeinflußt, allerdings strebt sie darnach, die
Elemente, die ihr von außen zugeführt werden, zu verarbeiten und in sich auf¬
zunehmen. Aber dieses Bestreben mißlingt, das Fremde wird übermächtig, und
die Poesie bleibt auf der Stufe stehen, die in Frankreich Ronsard, in England
Surrey betreten hat. Mangel an schöpferischen Talenten und Ungunst der äußern
Verhältnisse verhindern lange Zeit das Fortschreiten auf dem von Opitz betretenen
Wege, bis endlich Klopstock die deutsche Muse i» die Arme des griechischen Genius
führt. Aus ihrer Verbindung erblüht die echte Renaissancelyrik, und nirgends
hat sich klassischer und moderner Geist inniger vermählt als in Schiller und
Goethe. Sie sind unsre großen Renaissancedichter.
ir sind heute doch ziemlich obdachlos, meinte Ricks, als sie sich
abermals auf der Straße befanden.
Ja, das ist ganz in der Ordnung, erwiederte Hjcrrild etwas
pathetisch.
Sie begannen ein Gespräch über das Christentum, das Thema
lag ja gleichsam in der Luft.
Ricks sprach heftig, aber in ziemlich allgemeinen Redensarten gegen das
Christentum.
Hjerrild hatte es satt, die Erörterungen, die für ihn etwas altes waren,
von neuem aufzunehmen, deswegen sagte er plötzlich ohne all zu viel Zusammen¬
hang mit dem Vorausgegangenen: Nehmen Sie sich in Acht, Herr Lyhne; das
Christentum besitzt Macht. Es ist dumm, es mit der regierenden Wahrheit zu
verderben, indem man für die Thrvnfolgcrwahrheit agitirt.
Dumm oder nicht dumm, solche Rücksichten müssen hier schweigen.
Sagen Sie das nicht so leichtsinnig; es war nicht meine Absicht, Ihnen
die Trivialität zu sagen, daß es in materieller Hinsicht dumm sei, in ideeller
Hinsicht ist es dumm und mehr als das. Nehmen Sie sich in Acht; wenn es
nicht unumgänglich notwendig für Ihre Persönlichkeit ist, so schließen Sie sich
nicht allzu fest gerade an diese Richtung der Gegenwart an. Als Dichter haben
Sie ja so viele andre Interessen.
Ich verstehe Sie nicht; ich kann doch nicht mit mir Verfahren wie mit einem
Leierkasten, ein weniger populäres Stück herausnehmen und ein andres dafür
einsetzen, welches alle Welt auf den Gassen singt und pfeift!
Das könnte» Sie nicht? Es giebt doch Menschen, die das können. Aber
könnten Sie nicht etwa sagen: dies Stück wird nicht gespielt? Man kann im
allgemeinen in dieser Richtung weit mehr, als man glaubt. So eng hängt ein
Mensch nicht zusammen. Wenn Sie Ihren rechten Arm stets gewaltsam be¬
nutzen, so strömt ihm das Blut im Übermaße zu, dadurch nimmt er auf Kosten
der andern Glieder an Wachstum zu, während die Beine, die sie nur so viel
gebrauchen, als durchaus notwendig ist, ganz von selber dünn und kraftlos werden.
Die Nutzanwendung des Bildes können sie selber machen. Achten Sie nur darauf,
wie die meisten und auch wohl die besten ideellen Kräfte hier bei uns sich aus¬
schließlich der politischen Freiheit zugewendet haben. Beachten Sie das, und
lassen Sie sichs zur Lehre dienen. Glauben Sie mir, es ist ein erlösendes Glück
für einen Menschen, für eine Idee zu kämpfen, die eine Zukunft hat, während
es auf der andern Seite sehr entsittlichend ist, zu der unterliegenden Minder¬
heit zu gehören, der das Leben durch die Richtung, in welcher es sich entwickelt,
Punkt für Punkt und Schritt für Schritt Unrecht giebt. Es kann nicht anders
sein, denn es ist so bitterlich entmutigend, das, von dessen Wahrheit und Be¬
rechtigung man im tiefsten Innern der Seele überzeugt ist, diese Wahrheit von
jedem elenden Troßknechte des siegreichen Heeres verhöhnt, ihr ins Angesicht
geschlagen zu sehen, es mit anhören zu müssen, wie sie mit Schandnamen ge¬
schmäht wird, und doch nichts dagegen thun zu können, als sie nur noch treuer
zu lieben, mit noch tieferer Ehrfurcht im Herzen vor ihr zu knieen, ihre schöne
Erscheinung stets ebenso strahlend schön, ebenso voller Hoheit und unsterblichen
Lichtes zu sehen, wie viel Staub auch gegen ihre weiße Stirn aufgewirbelt werden,
ein wie dichter und giftiger Nebel auch ihre Glorie verhüllen mag. Es ist bitter¬
lich entmutigend, und es kann nicht ausbleiben, daß die Seele Schaden darunter
leidet, denn es liegt so nahe, sein Herz müde zu hassen, die kalten Schatten
des Verachtens um sich zu sammeln und die Welt schmerzensmüde ihren Gang
gehen zu lassen. Natürlich, wenn man das in sich trägt, daß man, statt das
Leichtere zu wählen und sich selbst aus allem Verbände mit dem Ganzen zu,
lösen, sich aufrecht halten und mit gespannten Kräften, mit wachsamen Sym¬
pathien den vielstacheligen Geißelschlag der Niederlage hinnehmen kann, so wie
er gerade fällt, Schlag auf Schlag, und doch seine blutende Hoffnung vor dem
Wanken behüten, indem man auf die dumpfen Laute lauscht, die den Umschlag
der Zeit verkünden, und nach dem schwachen, fernen Schimmer späht, der eines
Tages vielleicht erscheinen wird! wenn man das in sich trägt! Aber versuchen
Sie das nicht, Lyhne! Bedenken Sie, was das Leben eines solchen Mannes
sein müßte, wenn er wirklich alles thäte, was in seinen Kräften steht. Nicht
reden zu können, ohne daß Hohn und Spott in der Spur selner Rede
aufwuchert! Alle seine Worte verdreht zu sehen, besudelt, zu schlauen Schlingen
mißbraucht, vor seine Füße geworfen, und dann, ehe man sie noch kaum aus dem
Kehricht aufgesammelt und wieder entwirrt hat, plötzlich alle Welt taub zu
finden! Und dann an einem andern Punkte von vorn anzufangen genau mit
demselben Erfolge, und wieder und wieder! Und dann, was vielleicht das Schmerz¬
lichste von allem ist, sich verkannt, verachtet zu sehen von edeln Männern und
Frauen, zu denen man trotz der verschiednen Überzeugung mit Bewunderung
und Ehrfurcht aussieht! Und doch muß es so sein, es kaun nicht anders sein.
Eine Opposition soll nicht erwarten, daß sie deswegen angegriffen wird, was
sie wirklich ist und will, sondern einzig und allein deswegen, was die Macht
glauben will, daß sie sei und denke; und außerdem, die Macht, die dem Schwachen
gegenüber gebraucht wird, und der Mißbrauch der Macht, wie soll sich das
trennen lassen? Denn das wird doch wohl niemand verlangen, daß sich die
Macht selber schwach machen soll, um gegen die Opposition mit gleichen Waffen
kämpfen zu können. Aber darum bleibt der Kampf der Opposition doch ebenso
schmerzlich, ebenso aufreibend. Und glauben Sie denn wirklich, Lyhne, daß ein
Mann den Kampf wirklich kämpfen kann, sobald alle diese Geierschnabel auf
ihn loshacken, wenn ihm die zähe, blinde Begeisterung fehlt, die man Fana¬
tismus nennt? Und wie in aller Welt soll er etwas Negativen gegenüber
fanatisch werden? Fanatisch begeistert für die Idee, daß es keinen Gott giebt!
Und ohne Fanatismus kein Sieg! Hören Sie wohl?
Sie standen vor einem Erdgeschoß, wo man einen der Vorhänge aufge¬
zogen hatte, und durch die geöffnete Luftscheibe klang es von klaren Frauen-
und Kinderstimmen hinaus zu ihnen:
Schweigend gingen sie weiter. Die Melodie, namentlich die Töne des
Flügels, folgten ihnen die stille Straße hinab.
Hörten Sie wohl, begann Hjerrild, die Begeisterung, die durch dies alte
hebräische Siegeshurrah hindurchklang? und diese beiden jüdischen Städtenamen!
Jerusalem, das war nicht nur symbolisch, die ganze Stadt, Kopenhagen, Däne¬
mark; das sind wir, das christliche Volk der Völker!
Es giebt keinen Gott, und der Mensch ist sein Prophet, sagte Ricks bitter,
aber auch tiefbetrübt.
Ja, nicht wahr? spottete Hjerrild. Nach einer kleinen Weile sagte er:
Der Atheismus ist doch grenzenlos nüchtern, und sein Endziel ist doch schließlich
nichts andres als eine Menschheit ohne alle Illusion. Der Glaube an den
leitenden, richtenden Gott, das ist die letzte, große Illusion der Menschheit, und
wenn sie diese verloren hat, was dann? Dann ist sie klüger geworden, aber
reicher, glücklicher? das glaube ich nicht.
Aber, rief Ricks aus, begreifen Sie denn nicht, daß an dem Tage, wo
die Menschheit frei jubeln kann: Es giebt keinen Gott! daß an dem Tage wie
auf einen Zauberschlag ein neuer Himmel und eine neue Erde entsteht? Erst
dann wird der Himmel jener freie, unendliche Raum statt eines drohenden
Späherauges, erst dann wird die Erde unser, erst dann gehören wir der
Erde an, wenn jene dunkle Welt der Seligkeit und der Verdammnis da draußen
wie eine Seifenblase zersprungen ist. Die Erde wird unser wahres Vaterland,
das Heim unsers Herzens, wo wir uns nicht wie Fremdlinge nur eine kurze
Spanne Zeit aufhalten, sondern für die ganze Dauer unsrer Zeit. Und welchen
Vollgehalt wird das nicht unserm Leben verleihen, wenn dieses Leben alles
umschließen wird, wenn außerhalb desselben nichts mehr liegt! Der unendliche
Liebesstrom, der jetzt zu dem Gott aufsteigt, an den man glaubt, wird sich,
wenn der Himmel leer ist, der Erde zuneigen, wird mit liebenden Armen alle
die schönen, menschlichen Eigenschaften und Gaben umfassen, mit denen wir die
Gottheit ausgestattet und geschmückt haben, um sie unsrer Liebe wert zu machen.
Güte, Gerechtigkeit, Weisheit, wer kann sie alle nennen? Begreifen Sie nicht,
welchen Adel das über die Menschheit ausbreiten muß, wenn sie ihr Leben frei
leben und ihren Tod frei sterben kann, ohne Furcht vor der Hölle oder Hoff¬
nung auf den Himmel, nur sich allein fürchtend, nur auf sich selber hoffend?
Wie wird nicht das Gewissen geschärft werden, welche Festigkeit wird es nicht
geben, wenn thatenlose Reue und Demut nichts mehr zu sühnen vermögen,
wenn es keine andre Vergebung mehr giebt, als indem man durch Gutes das
Böse wieder gut macht, das man verbrochen hat!
Sie scheinen einen wunderbaren Glauben an die Menschheit zu haben.
Der Atheismus würde darnach ja weit größere Forderungen an die Menschen
stellen, als es das Christentum thut!
Ja natürlich!
Natürlich? Woher wollen Sie denn alle die starken Persönlichkeiten
nehmen, deren sie bedürfen, um ihre atheistische Menschheit zusammensetzen zu
können?
Der Atheismus soll sie nach und nach selber erziehen; weder dieses Ge¬
schlecht noch das nächste noch die dann folgenden werden den Atheismus er¬
tragen können, das weiß ich wohl; aber in jedem Geschlechte wird es einzelne
geben, die sich ehrlich durchkämpfen werden zu einem Leben und zu einem Tode,
und diese werden im Laufe der Zeiten eine Reihe geistiger Ahnen bilden, auf
welche die kommenden Geschlechter mit Stolz zurückblicken und durch deren Be¬
trachtung sie erstarken werden. Im Anfange werden die Bedingungen am
härtesten sein, werden die meisten im Kampfe erliegen, und die, welche siegen,
den Sieg nur mit zerfetzten Fahnen erringen, weil ihr Innerstes noch von
Überlieferungen erfüllt sein wird und weil es in einem Menschen noch so viel
andres giebt als Gehirn, so vieles, was erst überzeugt werden muß: das Blut
und die Nerven, die Hoffnungen, das Sehnen, ja sogar die Träume! Aber
darum wird es doch einmal kommen, und aus den Wenigen werden Viele
werden!
Glauben Sie das? Ich suche nach einem Namen für Ihre Anschauung —
könnte man ihn nicht den pietistischen Atheismus nennen?
Jeder wahre Atheismus — begann Ricks, aber Hjerrild unterbrach ihn
schnell: Natürlich, sagte er, natürlich! Laß uns doch nur ein einziges Thor,
ein einziges Nadelöhr für alle die Kamele der Erde!
Erst im Sommer kehrte Erik Nestrup nach einem zweijährigen Aufenthalte
in Italien wieder heim. Er war als Bildhauer fort gereist, aber als Maler
kam er zurück, und er hatte schon Glück gehabt mit seinen Bildern, er hatte
mehrere verkauft und neue Bestellungen erhalten.
Daß ihm das Glück so, gleichsam auf den ersten Wink, zugeflogen war,
verdankte er der sichern Selbstbegrenzung, mit der er sein Talent um sich zu¬
sammengezogen hatte. Es war keines der großen, vielversprechenden Talente,
deren Hände überall hinanreichen, deren Erdenweg einem Bacchuszuge gleicht,
die alle Gefilde jubelnd durchziehen und goldigen Samen nach allen Seiten hin
ausstreuen. Er gehörte zu denjenigen Talenten,, in welchen ein Traum be¬
graben liegt, der Frieden und Heiligkeit über einen kleinen Fleck ihrer Seele
verbreitet, da wo sie am meisten sie selber und doch am wenigsten sie selber
sind. Und durch das, was sie in der Kunst schaffen, die sie besitzen, klingt stets
derselbe sehnsuchtsvolle Endreim hindurch, und jedes ihrer Werke trägt dasselbe
ängstlich begrenzte Gepräge von Verwandtschaft, als stamme das Bild aus dem¬
selben kleinen Heimatslande, aus demselben kleinen Schlupfwinkel mitten zwischen
den Bergen. So verhielt es sich mit Erik; wo er auch in den Schönheits¬
ozean niedertauchen mochte, stets brachte er dieselbe Perle ans Licht.
Seine Bilder waren klein, im Vordergrunde eine einzelne Gestalt, thonblau
durch ihren eignen Schatten; dahinter erikabewachsene Erde, die Heide oder die
Campagna, am Horizont der rotgoldige Schein der sinkenden Sonne. Eine
dieser Gestalten war ein junges Mädchen, das sich nach Art der Italienerinnen
selber weissagt. Sie hat sich auf die Kniee niedergelassen, an einer Stelle,
wo die Erde bräunlich unter dem kurzen Grase hervorschimmert. Ein Herz,
ein Kreuz und einen Anker aus getriebenem Silber hat sie von ihrer Halskette
gelöst und auf die Erde gestreut; jetzt liegt sie auf den Knieen, ihre Augen
sind gläubig geschlossen, die eine Hand deckt die Augen, die andre hält sie
suchend ausgestreckt nach dein unsagbaren Liebesglück, nach dem bittern Schmerz,
den das Kreuz mildert, und nach der Hoffnung hoffenden Alltagsleben. Sie hat
es noch nicht gewagt, die Erde zu berühren; die Hand ist zaghaft in dem
kalten, geheimnisvollen Schatten; die Wangen glühen, und der Mund verzieht
sich halb zum Weinen, halb zum Gebet. Es liegt etwas Feierliches in der
Luft, das Abendrot da draußen droht so schaurig und so heiß, legt sich so
wehmutsvoll Über die Heide. Wüßtest du es nur: unsagbares Liebesglück —
bitterer Schmerz, den das Kreuz mildert — oder der Hoffnung hoffendes All¬
tagsleben? Dann war ein andres Bild, eins, auf dem sie sehnend mitten auf
der braunen Heide steht, die Wange gegen die gefalteten Hände gelehnt, so süß
in ihrer naiven Sehnsucht, so unglücklich über das häßliche Leben, das so teil¬
nahmlos, ohne sie zu beachten, an ihr vorübergeht. Warum kommt denn
Eros nicht, warum zögert er, glaubt er, daß sie zu jung sei? Er sollte
nur fühlen, wie ihr Herz pocht, er sollte nur kommen mit seiner Hand, o,
dadrinnen liegt eine Welt verborgen, eine Welt der Welten, wenn sie nur er¬
wachen wollte! Und warum sie nicht wecken? Sie liegt dadrinnen wie eine
Knospe, all ihre Lieblichkeit, all ihre Schönheit fest umschließend, ganz für sich
allein, beklommen, ohne zu wissen weshalb. Sie weiß ja, daß das ist, von dem
sie nicht weiß, was es ist. Hat es nicht liebevoll die schützenden Blätter darum¬
gelegt, ist es nicht durch sie hineingedrungen, sodaß es licht wurde bis in das
innerste, tiefroteste Dunkel hinein, wo der Duft, sich selber ahnend, duftlos zu¬
sammengepreßt liegt in einer zitternden Thräne? Will es denn niemals kommen?
Soll es denn niemals aufatmen, was es ahnend besitzt, reich sein mit seinem
Reichtum? Soll es sich denn nie, niemals entfalten, sich wach erröten, während
die goldnen Sonnenstrahlen unter alle seine Blätter dringen? Sie verliert
wirklich alle Geduld mit Eros, schon zittern ihre Lippen von dem aufsteigenden
Weinen, hoffnungslos, herausfordernd schweift ihr Blick ins Weite, und das
Köpfchen sinkt immer verzagter herab, wendet langsam das feine Profil hinein
in das Bild, wo ein leiser Luftzug den rötlichen Staub vor sich hertreibt, hin
über die dunkelgrünen Ginsterbüsche, den weingoldnen Himmel entlang.
So malte Erik Restrup, und das, was er sagen wollte, fand stets seinen
Ausdruck in Bildern wie diese. Wohl konnte er andre Bilder träumen, konnte
sich heraussehnen aus dem engen Kreise, innerhalb dessen er sie heraufbeschwor;
kam er aber außerhalb desselben, versuchte er sich auf andern Gebieten, so
überkam ihn bald ein entmutigendes, ernüchterndes Gefühl, daß er von andern
leihen wolle, und daß das, was er hier schuf, nicht sein eigen war. Kehrte
er dann von einem so mißglückter Ausfluge zurück, bei dem er doch jedesmal
mehr lernte, als er selber ahnte, so wurde er nur noch mehr Erik Nestrup, als
er es bis dahin gewesen war, gab er sich nur noch mutiger, mit fast schmerz¬
licher Heftigkeit seiner Eigentümlichkeit hin und hielt sich, wo er ging und stand,
in pietätvoller Festesstimmung, die sich in seinen geringsten Handlungen aus¬
prägte, sich in der ganzen Art und Weise zeigte, mit der er in solchen Zeiten mit
sich selber verkehrte. Es war, als wenn die schönen Gestalten, die in ihm
dämmerten, jüngere Schwestern von Parmegianinos schlankgliedrigen Frauen
mit den länglichen Hälsen und den schmalen Prinzessinnenhänden, mit ihm
zu Tische säßen und seinen Becher kredenzten mit Bewegungen voller Adel
und Liebreiz, ihn in dem Banne ihrer lichten Träume hielten mit Luinis
mystischem, nach innen gewandtem Lächeln, so unergründlich fein in seiner ge¬
heimnisvollen Anmut.
Aber hatte er dann elf Tage lang seiner Gottheit treulich gedient, so konnte
es wohl vorkommen, daß andre Mächte in ihm die Oberhand gewannen, und
es konnte ihn ein rasendes Verlangen ergreifen nach den groben Lüsten der
groben Genüsse. Dann gab er sich ihnen hin, fieberhaft ergriffen von dem mensch¬
lichen Bedürfnis nach Selbstvernichtung, die, während das Blut brennt, wie es
brennen kann, sich nach Erniedrigung, nach Kot und Schmutz sehnt, genau mit
demselben Maße von Kraft, welches jenes andre, ebenso menschliche Bedürfnis
besitzt, das Bedürfnis, sich selbst zu erhalten, sich größer und reiner zu erhalten,
als man in Wirklichkeit ist.
In solchen Augenblicken gab es kaum etwas, das ihm roh und gewaltsam
genug erschienen wäre, und es währte lange, bis er sein Gleichgewicht wieder
errang, nachdem dieser Zustand vorübergegangen war, denn im Grunde war ihm
dieser Zustand nicht natürlich, dazu war er viel zu gesund, und er kam eigent¬
lich nur als ein Ausschlagen in der seiner Hingebung zu den höhern Mächten
der Kunst entgegengesetzten Richtung, gleichsam als Racheakt, als fühle seine
Natur sich gekränkt durch die Wahl jenes ideellen Lebenszieles, zu dessen Ver¬
folgung ihn die Umstände geführt hatten.
Der Kampf dieser beiden Richtungen hatte jedoch nicht derartig die Ober¬
hand in Erik Restrup gewonnen, daß er sich nach außen hin gezeigt hätte oder
daß es ihm ein Bedürfnis gewesen wäre, seine Umgebung dadurch mit sich in
Einklang zu bringen. Nein, er war noch immer derselbe unzusammeugesetzte,
lebensfrohe Bursche wie früher, ein wenig unbeholfen infolge seiner Scheu vor
Gefühlsausbrüchen, ein wenig freibeuterhaft durch seine Fähigkeit, zu nehmen und
zu erfassen. Das Gefühl war aber trotzdem in seinem Innern, es machte sich
vernehmlich in stillen Stunden, gleich den Glocken, die in der versunkenen Stadt
auf dem Meeresgrunde erklingen; und er und Ricks hatten einander nie so gur
verstanden wie jetzt, das fühlten sie, und sie schlössen schweigend einen neuen
Freundschaftsbund. Als die Ferienzeit kam und Ricks einmal Ernst machte mit
seinem Vorsatze, die Tante Rosalie zu besuchen, die mit dem Konsul Claudy in
Fjordby verheiratet war, begleitete ihn Erik. (Fortsetzung folgt.)
Wir haben schon gelegentlich in diesen Blättern ausgesprochen, daß wir die
Unterwerfung des Sittengesetzes unter das naturwissenschaftliche Prinzip der Ent-
Wicklung, wie sie Wundt in seiner Ethik versucht, für einen Irrweg halten. Aber
diese Ueberzeugung würde uns niemals veranlaßt haben, unsre Feder in so giftige
Säfte zu tauchen und so leichtfertig damit zu agiren, wie es Herr Hugo Sommer
in den Preußischen Jahrbüchern offenbar gethan hat. Die vorliegende kleine Streit¬
schrift ist nach unsrer Auffassung geradezu vernichtend für die dilettantische Spiegel¬
fechterei des Herrn Sommer und beweist, daß Wundt wenigstens durch solche
Gegner nicht geschlagen werden kann.
Die „Kaba diu" ist die tägliche Umgangssprache des türkischen Volkes, we¬
sentlich verschieden von der türkischen Litteratursprache, die von vielen fremden
Wörtern aus dem Persischen und Arabischen durchsetzt ist. In der „Kaba diu,"
d. h. in der groben Sprache, sind zahlreiche Volksromane abgefaßt, die beliebter
sind als alle osmanische Kunstpoesie und die in den Harems verschlungen werden —
eine Poesie echt orientalischer Abenteuer und phantastischer Märchen, vor allem
aber feuriger Liebesgeschichten. Diese Romane nun enthalten auch Gedichte, die
den verliebten Helden und Heldinnen der Handlung in den Mund gelegt werden,
zum besondern Ausdruck der Sehnsucht, der Treue, der Leidenschaft, der Trauer ze.
Diese Lieder sind es, die Grünfeld ausgewählt und übersetzt hat. Nicht ohne
Glück; wenn man auch häufig die Schwierigkeiten merkt, die dem Verfasser das
Suchen nach einem Passenden deutschen Volksliedertone bereitet hat, so sind doch
zumal die spätern Lieder des Bändchens meist recht anmutig zu lesen. Wie nicht
anders zu erwarten ist, sind sie alle verliebter Natur, schwelgen in Bildern oder
spielen in Worten, aber viele haben auch kräftigern, romanzenhaften Charakter,
geben lebhaft bewegte Stimmungen und Szenen, so wenn der Geliebte in der
Fremde einen Boten aus der Heimat in ängstlicher Erregung ausfragt, wie es
denn dort zugehe u. dergl. in. Der Uebersetzer hat die Lieder zu Gruppen je
nach dem Romane geordnet, dem sie entnommen sind, sodaß sie ein ungefähres
Bild der ganzen Romanhandlung, in seinen Lücken auszufüllen, dem Leser bieten.
Als Beispiel mag folgendes Frage- und Antwortspiel dienen, das, leider! durch die
zwölfmalige Wiederholung des garstigen „frug" — das schon einmal unerträglich
genug ist — verdorben wird.
Ich frug: Wem sind die Perlensträhne?
Sie sagte: Das siud meine Zähne!
Ich frug: Was ist denn zehn und drei?
Sie sagte: Daß so alt sie sei.
Ich frug: Was ist denn rot, mein Kindchen?
Sie sagte: Das ist ja mein Mündchen!
Ich frug: Und darfs geküßt nicht sein?
Sie sagte: Nein, nein nein, nein nein!
Ich frug: Wer lindert Seelenqualen?
Sie sagte: Meiner Augen Strahlen.
Ich frug: Und wo ist Liebeslust?
Sie sagte: Hier in meiner Brust.
Ich frug: Wann wird gestillt mein Jammer?
Sie sagte: Einst, in meiner Kammer.
Ich frug: Läßt du mich heut nicht ein?
Sie sagte: Nein, nein nein, nein nein!
Ich frug: Wen täuschen leicht die Frauen?
Sie sagte: Die, so leicht vertrauen.
Ich frug: Wen hab ich stets im Sinn?
Sie sagte: Mich, die Sultanin!
Ich frug: Wer pflegt mich zu belügen?
Sie sagte: Das ist mein Vergnügen.
Ich frug: Und wird das stets so sein?
Sie sagte: Nein, nein nein, nein nein!
is Kaiser Wilhelm der Erste noch auf der Bahre lag, ließen
bereits die Nachtvögel aller Art ihre krächzenden Stimmen hören.
So schrieb das Bairische Vaterland: „Wir glauben, daß der Augen¬
blick nahe ist, wo gewisse deutsche Bundesstaaten ihre ehemalige
Selbständigkeit wieder gewinnen werden." Wie wollte man es
da den Pariser Blättern verargen, wenn sie bereits ein Wiedererwachen des
Partikularismus sahen und die Hoffnung hegten, unter Kaiser Friedrich, der
selbst ein Gegner der Abtrennung von Elsaß-Lothringen von Frankreich gewesen
sei, werde die Wiedergewinnung bald und leicht vor sich gehen!
Es wäre merkwürdig gewesen, wenn sich in diesem Chorus nicht gleich von
Anfang an auch die Stimme des „Fortschritts" bemerklich gemacht hätte. Und
richtig, die Volkszeitung fing gleich in derselben Nummer, in der sie den Tod
des Kaisers meldete, im zweiten Blatte zu kreischen an. Puttkamer hatte als
Vizepräsident des Ministeriums die Mitteilung an den preußischen Landtag
über den Tod des Kaisers gemacht, worin er am Schlüsse sagte, daß, je tiefer
der allgemeine Schmerz über den Hintritt des unvergeßlichen Königs sei, umso
fester und unzerreißbarer sich das Band erweisen werde, welches Preußens
Herrscherhaus und Preußens Volk in guten und bösen Tagen verbinde. Bei
den letzten Worten konnte kein wohlmeinender Hörer an etwas andres denken
als an den neuen Herrn und König Friedrich. Aber mag es immerhin ein
Versehen gewesen sein, daß der Minister das vivs 1s roi nicht ausdrücklich aus¬
sprach, so war das Versehen verständlich genug bei einem Redner, der vom
tiefsten Schmerz über den Hingang dessen erfüllt war, der in Wahrheit der
Vater des Vaterlandes gewesen war. Diesen Grund konnten freilich die nicht
verstehen, denen die Abschiedsstunde des großen Kaisers keine Trauerstunde ge¬
wesen war. Sofort klagten die Liberale Korrespondenz und die Volkszeitung
Puttkamer an, daß er die Pflicht verletzt habe, die „monarchische Tradition vor
dem Lande und vor Europa anzuerkennen." Es war, als ob sich die deutsche
Welt plötzlich auf den Kopf gestellt hätte, die Minister Republikaner und die
Demokraten Königsverteidiger geworden wären! Es sollte „peinliches Aufsehen
im Abgeordnetenhause erregt haben, den Übergang der Krone Preußens auf den
bisherigen Kronprinzen Friedrich nicht zu erwähnen." Das peinliche Aufsehen
fand sich nur bei den Herren Fortschrittlern, die Stoff zu einer Demonstration
gesucht hatten. Derselbe Artikel erzählte denn auch: „In Abgeordnetenkreisen
^d. h. bei den Deutschfreisinnigen) wurde sofort die Frage aufgeworfen, was zu
thun sei, wenn etwa im Reichstage in gleicher Weise verfahren werden sollte.
Für diesen Fall war die Rede davon, ein Hoch auf Kaiser Friedrich III. aus¬
zubringen." Der Reichskanzler that ihnen nun freilich nicht den Gefallen, der
das Hoch ermöglicht hätte, man sah aber, wie selbst der Heimgang des großen
Kaisers von diesen Patrioten vorwiegend unter dem Gesichtspunkte des Partei¬
interesses betrachtet wurde. Niemand konnte es freilich anders von ihnen er¬
warten, der die Geschichte dieser Partei kennt. Nimmt doch nach dem oft
wiederholten Urteil der fortschrittlichen Blätter das deutsche Reich „den niedrigsten
sittlichen und freiheitlichen Stand unter den zivilisirten Nationen" ein. Eine
dieser zivilisirten Nationen, Italien, erklärte durch die Sprache der das Freiheits¬
banner, aber auch die patriotische Fahne hoch haltenden Ritoring, beim Tode
Kaiser Wilhelms: „Das durch die Hohenzollern geeinigte Deutschland und das
durch das Haus von Savoyen geeinigte Italien vertreten in der Welt die
Freiheit des Geistes und die Unabhängigkeit der Nationen. Daher müssen beide
über den Tod Kaiser Wilhelms zusammen weinen und zusammen ruhig der
Zukunft entgegengehen."
Wie die Fortschrittler bei uns der Zukunft entgegenzugehen gedachten, davon
bekam man einen Begriff, wenn man sich die Folgerungen ansah, die sie aus
dem ersten Erlaß Kaiser Friedrichs zogen, dem Erlaß aus San Remo: „Hin¬
sichtlich der bisher üblich gewesenen Landestrauer wollen Wir keine Bestimmungen
treffen, vielmehr es einem jeden Deutschen selbst überlassen" u. s. w. Dazu
sagte die Volkszeitung: „Dieses erste Wort Kaiser Friedrichs an sein Volk ist
ganz dazu angethan, freudige Genugthuung und Hoffnung zu erwecken; denn
der neue Kaiser bricht dadurch mit einem alten Brauche, von dem der Bruch
mehr ehrt als die Gewöhnung." Sie sieht den neuen Kaiser mit ähnlichen
Vorsätzen die Regierung antreten wie Kaiser Josef den Zweiten. Die Berliner
Zeitung schrieb sogar: „Wir mußten diesen Passus ftaß es jedem überlassen
bleibe, seiner Betrübnis nach seiner Weise einen passenden Ausdruck zu geben)
drei, vier, fünf mal lesen, ehe wir es erfaßten, daß noch je einmal irgend etwas
in unsern Willen gestellt werden könnte." Der Erlaß dünkt ihr darum als ein
„Märchen." „Wir sollen einmal selbst denken, selbst entscheiden, was uns ziemt,
was sich gebührt!. . . Das deutsche Volk wird sehr bald durch sein Ver¬
halten . .. sich als reif für die Erteilung fernerer, wichtigerer Rechte, für die
Bethätigung des freien Willens in höhern Beziehungen legitimirt haben." In
dieser unreifen, schülerhaften Tonart erging sich die Lobeshymne derer, die sich
jetzt dem Kaiser als Helfer anboten. Zu der Unreife kam sehr bald, wie es
unvermeidlich war, die Pöbelhaftigkeit. Der roheste Patron des Fortschritts
gab wenige Tage nach dem Tode des Kaisers Wilhelm, als dieser eben erst
im Dome aufgebahrt war, die Parole aus: „Bildet freisinnige Vereine im
Lande!" und wies auf die Möglichkeit einer alsbaldigen Auflösung des Reichs¬
tags hin.
Kann man im Hinblick auf die Wirkung, die der Erlaß von San Remo
hatte, über seine Güte zweifelhaft sein, so werden dagegen die beiden Prokla¬
mationen des Kaisers und Königs Friedrich ewig denkwürdige Zeugnisse eines
weisen und kraftvollen Herrschergeistes bleiben. Beide Schriftstücke, die Prokla¬
mation „An mein Volk" und die „An den Reichskanzler und Präsidenten des
Staatsministeriums," zeichnen sich durch die Kraft einer edeln Sprache und durch
Präzision der Gedanken aus; sie treffen alle Bedürfnisse der deutschen Nation
und des preußischen Volkes in richtiger Schätzung. Am bemerkenswertesten war
an ihnen, daß sie der geschichtlichen Wahrheit die Ehre geben. In der Pro¬
klamation „An mein Volk" erinnerte der Kaiser daran, daß die Neubegründung
des Vaterlandes die Frucht der ausdauernden Arbeit von Preußens Volk und
Fürsten ist, daß König Wilhelm durch das preußische Heer den sichern Grund
zu den folgenden Siegen der deutschen Waffen gelegt hat, aus denen die nationale
Einigung hervorging. Ebenso war in der Proklamation an den Reichskanzler
der Gedanke des Reiches als eines preußisch-deutschen betont. Überall zeigte sich
so die richtige geschichtliche Auffassung, die allein die sichere Gewähr für den
Bestand des Reiches abgiebt, der ohne Wahrung des festen preußischen Kernes
nicht möglich wäre. Daß jeder deutsche Kaiser das wisse, ist von höchster Be¬
deutung. Kaiser Friedrich wußte es. Die Gesichtspunkte, die er in dem Erlaß
an den Reichskanzler aufstellte, im einzelnen wiederzugeben, ist hier nicht der
Ort. Nur auf einiges wollen wir noch hinweisen: erstens, daß die Gewinnung
überseeischer Besitzungen erwähnt wurde, durch welche der Marine „ernste Pflichten
erwachsen sind." Die neue Regierung ging also, ganz Wider die fortschrittlichen
Wünsche, mit demselben Ernst an die kolonialen Aufgaben, wie der verstorbene
Kaiser. Bei Erwähnung der Bestrebungen für das wirtschaftliche Gedeihen
wurde sodann vor der Erwartung gewarnt, „als ob es möglich sei, durch Ein¬
greifen des Staates allen Übeln der Gesellschaft ein Ende zu machen"; diese
Stelle verwerteten die Freisinnigen für ihre Theorie vom Gehenlassen wie es
will. Da aber der Kaiser früher nie sich gegen die sozialreformatorischen Grundsätze
seines Vaters irgendwie abweisend erklärt hatte, so konnten die Worte unmöglich
etwas andres enthalten, als eine verständige Mahnung daran, daß es nur Auf¬
gabe des Staates sein kann, der höchsten Not zu Hilfe zu kommen und die
Schwachen und Hilflosen vor dem Untergange zu schützen. Auch wurde ebenso
weise als dringend vor den Gefahren der Halbbildung und der Weckung von
Lebensansprüchen gewarnt, denen nicht genügt werden kann. Die denkwürdige
Urkunde war erlassen an den Fürsten Bismarck, als „den treuen und mutvollen
Ratgeber, der den Zielen der Politik Kaiser Wilhelms die Form gegeben und
deren erfolgreiche Durchführung gesichert hat."
Nach diesen Erlassen stand so viel fest, daß wir in König Friedrich nicht
einen englischen Schattenkönig haben würden. Und das wußten auch die Fort¬
schrittler; daher die tollen Sprünge eines Teiles derselben. Kaum waren die
Proklamationen erschienen, so erschallten die Unkenrufe. Die Volkszeitung brachte
einen Leitartikel über das „Regierungsprogramm." Er klang ganz so, als wäre
er 1862 geschrieben. Wenn der Kaiser von dem Grundsatze der religiösen Duldung
gesprochen hatte, der allen seinen „Unterthanen" zum Schutze gereichen sollte,
so meinte das edle „Organ für jedermann," es sei hier „Staatsbürger" der
zutreffende Ausdruck gewesen; sachlich aber war ihm das Versprechen selbst gar
nichts wert, denn „wenn Bismarck bleibt, so ist es äußerst gleichgiltig, ob 100 000
Stöcker gehen." In den sozialpolitischen Sätzen des Erlasses „findet sich nicht
irgend ein konkreter Ansatz zu einer wirklichen Sozialreform." Und warum?
Weil das Sozialistengesetz nicht aufgehoben werden soll. Aber das ist ja ganz
natürlich; „denn, wo die Hand des Fürsten Bismarck mächtig ist, da ist die
Abhilfe für die arbeitenden Klassen fern." Und diese Hand ist mächtig gewesen
in Leipzig, das zwischen San Remo (Erlaß wegen der Landestrauer) und
Charlottenburg (die beiden Proklamationen) liegt. Und damit „geht der neue
Pfad, der sich den Blicken des Volkes eröffnete, nicht in die Höhe." In der
nächsten Nummer meint das „Organ," man müsse abwarten. Bald wurde die
Probe darauf gemacht, ob das Abwarten etwas helfen würde. Richter machte
die Entdeckung, daß die beiden vom Reichstage beschlossenen, aber noch nicht im
Reichsanzeiger publizirten Gesetze, das über die Verlängerung der Legislatur¬
perioden des Reichstags und das über die unter Ausschluß der Öffentlichkeit
abzuhaltenden Gerichtsverhandlungen, die Eingangsworte trugen: „Wir, Wil¬
helm" u. s. w., und sah sofort die Notwendigkeit einer Neubeschließung; er
hoffte, daß Kaiser Friedrich seine Unterschrift dann versagen würde. Von
dieser prächtigen Theorie, die die Kontinuität der Kaiserwürde aufhob, hielt aber
Kaiser Friedrich so wenig, daß er, unbekümmert um das Jammern der Fort¬
schrittspartei, alsbald seine Unterschrift gab und die Gesetze publiziren ließ.
Als das geschehen war und als später im preußischen Herrenhause Miquel die
Umänderung der Unterschrift für so verständlich erklärte, daß es dazu nicht
einmal eines Antrags oder Beschlusses bedürfte, da hielt auch die deutschfreisinnigc
Partei es für das beste, ihre so laut verkündigte Theorie fernerhin mit Schweigen
zu bedecken und sich zunächst noch weiter aufs Abwarten zu legen.
Denn auf einen Erfolg, den Kaiser für sich in Beschlag zu nehmen, hofften
sie unverdrossen. Sie dachten an ein Verlangen des neuen Kaisers nach einer
freisinnigen Reichstagsmehrheit, wo der alte Spuk wieder losgehen könnte mit
der ultramontan-sozialistisch-welfisch-polnisch-dänisch-französischen Verbrüderung.
Aussicht zu solchem Schauspiel hatte der Kaiser in seinen an den preußischen
Landtag und an den Reichstag gerichteten Botschaften durchaus nicht gegeben.
Besonders die ein den Reichstag zeigte, daß es dem deutschfreisinnigen Drängen
nicht gelungen war, den Kanzler vom Kaiser zu trennen. Wies sie doch darauf
hin, daß Kaiser Wilhelm durch die einmütige Bereitwilligkeit dieses Reichstages
zur Stärkung der Wehrkraft des Vaterlandes noch in seinen letzten Lebenstagen
gestärkt und erfreut worden sei. Wurde doch diesem Reichstage, der nach fort¬
schrittlicher Anschauung nur ein Angstprodukt des deutschen Volkes war, Dank
und Anerkennung vom neuen Kaiser ausgesprochen für seine patriotische Hin¬
gebung und im zuversichtlichen Vertrauen auf diese die Zukunft des Reiches in
Gottes Hand gelegt.
Von demselben Tage, an welchem die beiden Botschaften ausgingen, war
auch der Erlaß, durch welchen der Kaiser kund gab, daß er die Regierung der
Reichslande übernommen habe. Der Kaiser war „entschlossen, die Rechte des
Reiches über diese deutschen, nach langer Zwischenzeit wiederum mit dem Vater¬
lande geeinigten Gebiete zu wahren." Die dauernde Vereinigung dieser alt¬
deutschen Gebiete mit dem deutschen Vaterlande wurde kräftig betont. Die eng¬
lischen Zeitungen, die so gütig waren, der neuen deutschen Kaiserin als einer
Tochter Englands die Aufgabe zuzuweisen, eine Versöhnung Frankreichs und
Deutschlands durch Verzicht des letztern auf Elsaß-Lothringen zu stände zu
bringen, erlebten so den Schmerz, die freundliche Insinuation zurückgewiesen zu
sehen. Für eine derartige, schon 1870 zur Genüge kennen gelernte Freundschaft
Albions müssen wir eben ein für alle mal danken.
Am 20. März hielt der Reichstag seine letzte Sitzung, und nun fühlte sich
der Freisinn selbst freier. Er war die Kontrole los, die er, wenn auch wider¬
willig, achten mußte. Und was für Schätze förderte er nun zu Tage! In einem
Artikel vom 22. März zeigte die Volkszeitung, daß sie auch Lessings Drama¬
turgie gelesen habe. Sie sprach von Furcht und Mitleid, die jedes fühlende
Herz bewege, sobald es erwäge, was das letzte Jahr den Hohenzollern gebracht
hatte, „den Tod Kaiser Wilhelms, die Krankheit Kaiser Friedrichs, die Ver¬
sammlung beim Grafen Waldersee." Diese drei Dinge stellte wirklich der Jüng¬
ling der Volkszeitung zusammen und gab seine Kenntnis der Tragödie weiter
damit zum Besten, daß er schrieb: „Wir, die keine Götter und keinen Gott mehr
kennen, sehen die Tragik in der Verkennung der menschlichen Gebrechlichkeit,
welche allen gleichermaßen anhaftet, und welche sich ausgleicht nicht nach dem
strengen Spruche der Gerechtigkeit, sondern nach dem milden Recht der Gnade."
Vor solchem unreifen Geschwätz, welches die Tragik in einer Verkennung der
menschlichen Gebrechlichkeit sieht, die doch nur eine Voraussetzung des tragischen
Schicksals ist, nicht dieses selbst, und welches in seiner Gedankenlosigkeit Thor¬
heiten zu Tage fördert, wie die: „Wir, die wir keinen Gott mehr kennen," sollte
sich der Freisinn doch sehr hüten; denn jede Partei, die mit zählen will,
braucht Männer, die das Leben kennen, nicht Jünglinge, die erst noch etwas
Weltweisheit studiren sollten, um zu erkennen, daß der Dogmatismus, der die
Nichtexistenz Gottes behauptet, der schlechteste und bornirteste von allen ist.
Mit solchem Geschwätz wird man die Gefahren, die die Bestrebungen der Stadt¬
mission vielleicht in sich bergen, nicht bannen.
Der Artikel, der, wie man aus dem Gesagten schon erraten kann, eine
Mahnung an die Krone zu einer Amnestie war, sagte weiter, daß man schon
am neunzigsten Geburtstage Kaiser Wilhelms einen soschen Guatemale erwartet
habe. Das Ausbleiben hätte einen Schatten auf die Feier geworfen, aber dafür
sei Kaiser Wilhelm nicht verantwortlich zu machen gewesen, sondern „die von
seinen Beratern vertretene Staatsräson," die seinem milden Herzen Zwang an¬
gethan habe. Diese Staatsräson habe aber nun „den Stoß ins Herz" erhalten.
Klingt dies nicht gerade, als ob das ultramontane Wiener „Vaterland" redete?
Dann geht es weiter: „Diese Staatsräson hat sich als ein Gespenst erwiesen,"
aber jetzt ist es „in leeren Nebel und Rauch aufgelöst." Diese Aufwendung
von phrasenhaften Schweifwedelten, in denen aus jedem Worte die Tücke spricht,
sollte, wie gesagt, dazu dienen, die Amnestie zu empfehlen: „An dem heutigen
Gedenktage (22. März) drängt sich der wehmütige Gedanke an den letzten
Schatten auf, den die heute schon als wesenloses Gespenst entlarvte Staatsräson
auf die glorreichste und glücklichste Zeit Kaiser Wilhelms geworfen hat." Da
ist also die Staatsräson nicht mehr in Rauch aufgelöst, sondern entlarvt! Und
alles das, um zum Schlüsse zu kommen: „In keiner bessern Hand kann das
Recht der Gnade aufbewahrt sein, als in der Hand Kaiser Friedrichs." Das
wußten wir andern auch, und zwar ohne den Hinweis auf die schattenwerfcnde,
in Rauch aufgelöste, entlarvte Staatsräson. Man sieht aber aus dem Artikel,
und deshalb haben wir das schöne Machwerk etwas ausführlicher gezeichnet,
was den Herren vom Fortschritt in den Gliedern lag. Das „Fort mit
Bismarck!" ging jetzt vor der Hand noch nicht; darum mußte die Sache an
einem andern Ende angefaßt werden, und so rief man: Fort mit der Staats¬
räson! Das lautete anders und kam doch auf dasselbe hinaus. Später konnten
dann die dreisteren Worte folgen, wie es denn auch geschah nach dem Austritt
Puttkamers aus dem Ministerium. Da erklärte, nicht zufrieden mit diesem
Austritt, dieselbe Volkszeitung, daß der große Tag der Freude für das Volk (der,
an welchem das Sozialistengesetz zerbrochen werden würde) nicht eher anbrechen
könne, „als bis der Stern des Fürsten Bismarck für immer untergegangen" sei.
Ein Gnadenerlaß vom 31. März brachte die erwartete Amnestie in einem
Umfange, der den Bestand der staatlichen Ordnung nicht gefährdete. Verurteilte,
deren Amnestirung den Bestand des Staates gefährden würde, wurden in den
Gnadenerlaß nicht eingeschlossen, also zunächst nicht die, welche in den Sozialisten¬
prozessen verurteilt worden sind. Das deutsche Volk billigte das bis auf die
tapfern Fortschrittshelden durchaus; eine Begnadigung jener Leute würde zuerst
von den Agitatoren selbst als Anerkennung der Berechtigung ihrer Bestrebungen
ausgenutzt worden sein. Wurde doch aus dem sozialistischen Lager in London
berichtet, daß die aus Deutschland ausgewiesenen Agitatoren mit fieberhafter
Ungeduld auf die Rückkehr in die Heimat warteten, wo jedem Einzelnen schon
wieder seine spezielle Aufgabe zugeteilt war. Nicht getroffen von der Amnestie
wurden ferner sämtliche Verbrecher wegen Landes- und Hochverrat. Auch das
geschah mit Billigung des deutschen Volkes; für Meuchelmord und Verschwörung
mit dem Auslande soll es keine Milde geben. Wie diese Ausnahmen aber be¬
urteilt wurden von den Freisinnigen, die mit jüdischer Aufdringlichkeit und
byzantinischer Schmeichelei den Kaiser und vornehmlich die Kaiserin von Tag
mehr umtanzten, ergiebt sich aus einem Artikel der Volkszeitung, „Die Amnestie"
überschrieben. Nachdem sie es als ein günstiges Vorzeichen für die Regierung
Kaiser Friedrichs genommen hat, „daß ihm die Gnade wie ein holder Engel des
Lichts vorausschwebt," will sie den Dank gegen Kaiser Friedrich nicht um ein
Atom dadurch gemindert sehen, daß die Vergehen gegen das Sozialistengesetz
nicht in den Gnadenerlaß hereingezogen worden seien. „Die Thatsache erklärt
sich vielmehr daraus, daß die Amnestie nicht nur von Kaiser Friedrich, sondern
auch von sämtlichen preußischen Ministern unterzeichnet ist. Die Namen Bis-
marck und Puttkamer enthalten die erschöpfende Antwort auf die Frage, wes¬
halb die sozialdemokratische Partei als solche von der Amnestie ausgeschlossen ist."
Die Volkszeitung befindet sich natürlich in dem Falle, sich „mit den Schranken,
welche durch das Staatsministerium dem Walten der königlichen Gnade gezogen
worden sind," nicht einverstanden erklären zu können. So war denn Kaiser
Friedrich auf einmal wieder eine Null geworden, indem er sich von seinen
Ministern vorschreiben ließ, wem und wie weit seine Gnade leuchten sollte.
Am schwachsinnigsten und heuchlerischsten benahmen sich aber die deutsch¬
freisinnigen Patrioten in der Battenberger Verlobungsgeschichte. Da sollte es sich
nicht ziemen, den zartesten Empfindungen des Fürstenhauses näher zu treten.
Wenn Fürst Bismarck 21/, Stunden lang mit Kaiser und Kaiserin über die
Tragweite dieser Heirat verhandelt hat, so wird er wohl auch für die Ent¬
sagung, die er hier von der kaiserlichen Mutter und Tochter verlangte, das als
einen Hauptgrund geltend gemacht haben, daß, wenn den zarten Empfindungen von
Großmutter, Mutter und Tochter in diesem Falle nachgegeben werden sollte, dann
möglicherweise Hunderttausende von deutschen Müttern, Frauen und Bräuten ihre
Söhne, Männer und Verlobten hergeben müßten. Das hätten doch die schwach-
köpfigen freisinnigen Schmeichler bedenken sollen, ehe sie um der Unterstützung
ihrer Herrschgelüste willen eine Politik begünstigten, die Wohl in Albion Sympathie
erwecken mußte, wo man bereits den Battenbergcr als „nahen Verwandten des
deutschen Kaiserhauses" wieder auf dem Bulgarenthrone sah, die aber für
Deutschland, wo eben erst der sterbende Kaiser seinem Enkel geraten hatte, die
Gefühle des Zaren zu schonen, ein Jammer gewesen wäre. In solcher Schonung
sahen dieselben Leute, die nie etwas Angelegentlicheres zu thun gehabt haben,
als dem Kaiser Wilhelm und seinen treuen Beratern das Leben zu verbittern,
weiter nichts als „Furcht vor Väterchen," und diese Furcht schrieben die, die
wie die Kammerdiener jedem leisen Wunsche ihrer Herrschaft mit Sprüngen ent¬
gegenkamen, dem Fürsten Bismarck zu! Mit welcher Dreistigkeit wurden da die
Dinge verdreht! Nicht die, gegen welche Bismarck die Wohlfahrt und Selb¬
ständigkeit des deutschen Reiches zu schützen hatte, ließen sich Rücksichtslosigkeit
gegen den leidenden Kaiser zu Schulden kommen, sondern „der Kanzler hat ohne
Rücksicht auf den leidenden Kaiser wieder einmal seinen Willen durchgesetzt."
Auch hier fanden sich Freisinnige und Papisten in ihrem Haß gegen Bis¬
marck sofort zusammen. Freisinnige Zeitung, Vörsenkourier, Volkszeitung und
Germania bezeichneten in rührendem Einklange das Eintreten des Kanzlers für
die Politik, die Deutschland seit siebenundzwanzig Jahren groß gemacht hat, als
„Boulangismus"; auf der einen Seite stand der Kanzler und arbeitete am
Sturze der Hohenzollern als „Hausmaier," auf der andern Seite standen Windt-
horst und Richter und schützten den Kaiser in der Rolle des treuen Eckart.
Es war ein schönes Bild, als Ehren-Richter und die Perle in einer Foyerecke
des Abgeordnetenhauses ihre stille Besprechung hielten — worüber, das konnte
man sich wohl denken. Es war dasselbe Thema, das die Fortschrittsblätter,
wie die Berliner Zeitung, an jenem Tage behandelten: „Die geschmähten
Demokraten, der verlästerte Freisinn, sie haben heute die Aufgabe, den Kaiser
zu schützen gegen das Treiben der Byzantinergesellschaft. Nie hat sich die große,
staatserhaltende Kraft des Liberalismus besser gezeigt als in diesen Tagen; die
»nationale« Revolution beginnt ihr Haupt zu erheben, die Revolution für den
Kanzler gegen den Kaiser." Und dieses Tollhäuslertreiben konnte stattfinden,
nachdem Kaiser Wilhelm kaum vier Wochen von uns gegangen war. Dabei
griffen diese Heuchler zu jedem Mittel, die persönliche Ehre der erprobtesten
Patrioten zu beschmutzen. So wurde Professor Biedermann in zweideutigen
Worten an den Pranger gestellt, als einer, „der noch unlängst eine Privat-
unterstützung in erheblichem Betrage auf Anweisung des Reichskanzlers" em¬
pfangen habe. Und wie die Freisinnige und die Berliner Zeitung, so die andern
Fortschrittsblätter. Schrieb doch das Deutsche Reichsblatt: „Schart euch um
unser Kaiserpaar! Denn dasselbe ist heute mit großen Gefahren bedroht. Die¬
jenigen, welche sich sonst als von Gottes und Rechts wegen bestellte Hüter der
Krone aufzuspielen suchen, sind es heute, welche die Rechte des Herrscherhauses
zu zerstören und zu untergraben trachten. Vielleicht heißes bald, die Treue
gegen das Reich und unser Kaiserhaus zu zeigen nicht durch billige Worte,
sondern durch die That."
Die Verlobung wurde zurückgestellt. Wer hätte auch in die Bresche ein¬
springen sollen, wenn Bismarcks Platz leer wurde! So fand das tieftraurige Schau¬
spiel, das vor unsern Blicken gleich nach dem Tode des Kaisers zur Freude unsrer
Feinde aufgeführt wurde, doch noch ein gutes Ende. Daß die Dentschfreisinnigen
inniges Vergnügen daran fanden, eine Politik zu unterstützen, die schweres Un¬
heil stiften mußte, wenn nicht der Kanzler die Dynastie davor geschützt hätte,
das wird ihnen aber unvergessen bleiben. In welche Lage hätte diese zu einer
Hofkamarilla ganz geeignete Sippschaft, der jeder Diplomat, gleichviel welcher
Qualität, zur Nachfolge Bismarcks recht gewesen wäre, das Vaterland versetzen
können, wenn nicht der große Kanzler auch in diesen trübsten Zeiten Wache ge¬
standen hätte! Was alles fünf Wochen nach dem Tode Kaiser Wilhelms möglich
war, das verrieten die Absichten der Dänen in Nordschleswig, eine Damendepu¬
tation wegen Abtretung von Nordschleswig an Dänemark zur Kaiserin Viktoria zu
senden. Warum auch nicht? Hatten die englischen Zeitungen eine Beilegung des
Zwistes zwischen Frankreich und Deutschland durch die Abtretung von Elsaß-
Lothringen, vermittelt durch die Kaiserin, gehofft, hatten die Polinnen in fran¬
zösischer Sprache die Wünsche Polens ihr ans Herz legen dürfen, warum
sollte den nordschleswigschen Dänen verwehrt sein, ihre Wünsche, die bei Eng¬
land immer so großen Anklang gefunden haben, einer Tochter Englands nahe
zu legen? Selbst die Welsen fingen an, an die Anwesenheit der englischen
Königin in Charlottenburg Hoffnungen für ihren Cumberland zu knüpfen. Wie
stark diese Hoffnungen auf die Wiederherstellung des Königreichs Hannover ge¬
wesen sind, ersah man später aus Windthorstschen Blättern; die niedersächsische
Zeitung schrieb in einem Leitartikel über Kaiser Friedrich: „Unsre Hoffnung
auf eine wahrhaft kaiserliche That hat sich nicht erfüllt"; denn Kaiser Friedrich
ist abberufen worden, „noch bevor er gut zu machen vermochte, was er nie ge¬
billigt." Daß Windthorst in seinen Bestrebungen von der freisinnigen Kamarilla
unterstützt worden wäre, dafür war gesorgt. Und all dies Treiben im An¬
gesichts des Kampfes, den der arme Dulder gegen die tückische, furchtbare
Krankheit führte! Als aber die Battenberggeschichte aus war, da wollten auf
einmal die Freisinnigen der „Krisis mit Unparteilichkeit gegenüber gestanden"
haben. Ja Munckel meinte damals in einer fortschrittlichen Versammlung,
Bismarck wäre wohl auf einige Jahre noch unentbehrlich. Aber freilich, bereit
sein ist alles, und so erklärte Ehren-Richter ungefähr zu gleicher Zeit in seinem
Blatte, mit den Ansichten des Kaisers, wie sie in seinen Erlassen niedergelegt seien,
vertrüge es sich, auch freisinnig zu regieren; es komme alles auf die Wahlen an.
Zuletzt aber wurde noch die herrlichste Gaukelei aufgeführt damit, daß die Ther-
sitesgenossen die Mähr verbreiteten, die Kanzlerkrisis sei erfunden gewesen.
Wurden von dem Fortschritt auf der einen Seite mit den jämmerlichsten
Liebesdiensten allerlei Interessen, nur nicht die des deutschen Volkes gepflegt,
so steigerte sich nach der andern Seite die Wut gegen die deutsche Regierung
bis zur offnen Teilnahme an den Bestrebungen des wildesten Anarchismus.
Der Schweizer Bundesrat hatte die Leiter des Sozialdemokraten, Bernstein,
Motteler, Tauscher, Schlüter, ausgewiesen. Darüber brachte die Volkszeitung
einen Artikel der gemeinsten Art; weil der Berner Bundesrat die Ausweisung
auch damit begründete, daß die Sprache des Sozialdemokraten, heftig und
oft beleidigend, die deutschen Behörden aufs tiefste verstimme, so wurde er, wie
die deutsche Regierung selbst, mit Hohn überschüttet: „man" ist groß, und ich
bin klein, das würde wohl auch, so sagte das Organ für jedermann, der wahre
Grund des Bundesrath gewesen sein. Aber „man" wird sehr bald erfahren,
daß „man" den Sozialdemokraten nicht getötet hat und auch nicht töten kann,
indem „man" heldenhafter Weise einige seiner Angestellten um ihre Existenz
bringt. Daß Tausende durch diesen Sozialdemokraten schon um ihre Existenz
gebracht worden sind, und er den besten Willen hatte, noch einige andre Tausende
um ihre Existenz zu bringen, dafür hat natürlich dieses „Organ" kein Wörtchen.
Mit welchen Mitteln die Freisinnigen arbeiten und welchen Charakter sie
in Wirklichkeit tragen, das trat einmal wieder recht deutlich bei einer Wahl,
bei der Stichwahl zu Altena-Iserlohn, zu Tage. Was die Demokraten immer
leugneten, was sie nie heuchlerischer und feiger leugneten, als unter dem neuen
Regiment, ihr Republikanertum, das wurde hier offenbart, als der Abgeordnete
Lenzmann den deutschfreisinnigen Kandidaten Langerhans damit empfahl, daß
er „ein entschiedener Republikaner" sei. Daran ist auch gar nicht zu zweifeln,
und so hinkte Herr Langerhans auf einer ultramontanen und einer demokratischen
Krücke in den Reichstag hinein. Bei all dem Republikanertum aber, in dessen
Bewußtsein sich die starken Seelen ihres Männerstolzes vor Königsthronen
stets rühmten, brachen sie doch in stürmischen Jubel aus, wenn einmal einer
der Ihrigen von einem Strahle der Gnadensonne getroffen wurde, wie das
in einer deutschfreisinnigcn Versammlung geschah, als mitgeteilt wurde, daß
von Forckenbeck den Stern zum roten Adlerorden bekommen habe. Wenn aber
so die Dekorirung eines der Ihrigen die Gesellschaft zu frenetischem Jubelsturm
begeisterte, so versuchten sie dagegen den guten Namen eines Mannes zu be¬
geifern, dem wider ihren Wunsch die kaiserliche Huld zu Teil geworden war;
über Gneist fiel die Freisinnige und die Volkszeitung mit bissiger Köterwut
her. Die eine sah nun „die jungen Herren Söhne von Gneist auf Landrat
studiren," wobei sie übrigens nichts andres thun würden, als was ein gewisser
Regierungsassessor a. D. einst auch, nur ohne den gewünschten Erfolg, gethan
hat, die andre widmete der Nobilitirung Greises einen ganzen Artikel, worin
Herr von Gneist „sich im Glänze seines neugebackenen Adels ausspreizt und
an der Spitze der Kartellbrüder als Tambourmajor marschirt"; er ist „der
ausgeprägte Typus aller Charakterlosigkeit unsrer Zeit," der meinen mochte,
daß „das Tüpfelchen über dem i ihm fehlen würde, wenn aus einem Gneist
nicht noch ein von Gneist würde." Damit aber diese katzbuckelnden Demokraten
eine solche Kritik mit ihrer Liebedienerei vereinbaren könnten, schickte die Volks¬
zeitung ihrem Gekläffe die unwahre Bemerkung in Bezug auf Standeserhöhungen
voraus, daß das Ministerium eine Reihe bezüglicher Vorschläge mache und der
Monarch sie genehmige. Dann ging ja die Standeserhöhung Greises eigentlich
nicht vom Kaiser, sondern vom Ministerium aus. Unwahr ist die Bemerkung,
weil in Preußen Nobilitirungen immer dem persönlichen Wohlwollen des Landes¬
herr» Ausdruck verleihen.
Es ist merkwürdig, wie ausgezeichnet nach diesem Charakter der Ver¬
logenheit hin Herr Mackenzie zu dieser Partei paßte. Wir wollen Herrn
Mackenzie, der genug gezeichnet ist, hier nur nach dieser Seite hin mit etlichen
Worten zeichnen. Zu solcher Zeichnung mag das Schreiben dienen, welches
der Herr im IZrit>l8ki Nsäiosl ^ournsl aus Charlottenburg vom 8. Mai ver¬
öffentlichte und worin er erklärte, er habe „niemals an die Presse irgend welche
Informationen gegeben, ausgenommen solche, die ausdrücklich gestattet waren behufs
Widerlegung falscher und übertriebener Gerüchte." Nun sind aber, wie die Kölnische
Zeitung zeigte, während des ganzen Aufenthaltes des damaligen Kronprinzen im
Auslande ununterbrochen falsche, zweideutige und reklamenhafte Berichte unter aus¬
drücklicher Berufung auf Herrn Mackenzie, auf dessen Sohn und auf Personen, die
mit diesem in Verbindung standen, verbreitet worden. In Villa Zirio war eine
ganze Preßkompagnie eingezogen, wie später in Charlottenburg. Warum ist
denn Herr Mackenzie schon damals nicht dem Mißbrauch seines Namens ent¬
gegengetreten, als deutschfreisinnige, englische und französische Reporter, wie
der famose Bonneton, sich auf ihn beriefen? Wo sitzt hier die Verlogenheit
und der Schwindel? Schon der uoch-Korrespondent, Mr. Löwe, sagte seinem
Landsmanne in seinem Schreiben vom 10. Mai, was von seiner Wahrheitsliebe
zu halten war, wenn er berichtete, daß Sir Morett, von ihm wegen absichtlich
verdunkelnder Nachrichten interpellier, sich damit entschuldigte: „Mir war es
nicht erlaubt, Ihnen diese Mitteilung ivon der wahren Natur der Krankheit^
eher zu machen." Und mit welcher Schamlosigkeit sich Herr Mackenzie auf
seinen Vorteil verstand, das konnte man aus der in seinem Namen an Mr. Howe
gestellten Bitte um „künftige Unterstützung" sich zusammen reimen. Das war
der Mann, der sich für den Kaiser „opferte." Nachdem jetzt bekannt geworden
ist, wie Herr Mackenzie die Behandlung des kranken Kronprinzen und Kaisers
nach politischen und andern Rücksichten geübt hat, wollen wir über den englischen
Herrn kein Wort weiter sagen, als was die norddeutsche Allgemeine Zeitung
sagt: „Wir wissen nun, daß ein unbedeutender englischer Arzt von radikal
politischer Gesinnung es sich herausgenommen hat, den geheimen Kabinetsrat zu
spielen und bestimmend in die Geschicke der deutschen Nation eingreifen zu wollen,"
Seit beinahe drei Monaten hatte das fortschrittliche Parlamentsstrebcrtnm
alles mögliche an Lüge und Verdrehung geleistet, um die Leitung der vater¬
ländischen Geschicke in die Hände eines Richter, Hamel, Rickert, Bamberger zu
bringen; an Liebedienerei hatten sie es nicht fehlen lassen. So stellte Herr Rickert
sich als den getreuen Eckart der Krone hin, die er gegen den „Hausmeier" ver¬
teidigen zu müssen glaubte, und verkündigte laut: „Wir können uns denken,
daß die Krone etwas andres will, als der jeweilige Minister, und dann müssen
wir die Interessen der Krone wahrnehmen." Was das für eine Krone war,
verriet freilich Herr Rickert nur zu deutlich, wenn er an demselben Tage sagte:
„Der zahlende Wähler ist der eigentliche Träger der Staatsgewalt."
Man sieht, wie wahr es ist, daß die Lüge auch das logische Denken
verdirbt. Wie korrumpirt das politische Denken dieser fortschrittlichen Herren
ist, zeigte der Fall Techow. Dieser gab der Volkszeitung in mehreren Artikeln
Veranlassung, in dem „Militarismus" wieder einmal den „Moloch" zu sehen,
der alles Glück des Landes verschlingt. Daß die Volkszeitung für ihre Bilder
auf die Sprache Kanaans zurückgreift, ist nur natürlich, und daß sie die Ge¬
schichte sich zurecht macht nach der Weise der Geschichtschreiber Kanaans, ist
auch natürlich. So schrieb sie denn: „Die bedrohte Disziplin des Heeres hat
nicht gehindert, daß der Hauptmann von Natzmer, der gegen diese Disziplin
sich noch schwerer versündigt hatte als Techow, bereits nach einigen Monaten
begnadigt wurde." Der Hauptmann von Natzmer war Kommandant des Zeug¬
hauses bei dem Sturme desselben 1848 gewesen und war durch die gefälschte
Darstellung des Premierleutnants Techow über die Vorgänge und den Willen
des Königs so berichtet worden, daß er sich für berechtigt hielt, das Zeughaus
der Masse zu übergeben. Natzmer hatte darin gefehlt, daß er den Worten
Techows vertraut und sich den königlichen Befehl nicht schriftlich hatte über¬
geben lassen. Das war also „die schwerere Versündigung" Natzmers gegen
die Disziplin im Vergleich mit Techow. Natzmer machte sodann den Feldzug
gegen die Aufständischen in Baden als gemeiner Soldat mit, wobei er den
Tod suchte, um von dem guten Namen seiner Familie den Flecken wieder ab-
zuwaschen. Das nennt die Volkszeitung „Begnadigung." So suchte man teils
mit Liebedienerei, teils mit Lügen dem Herrscher nahe zu kommen und seinen
Willen zu beeinflussen.
Aber alle diese Künste waren doch bis jetzt, wenigstens in entscheidenden
Dingen, ohne Erfolg gewesen. Nunmehr schien dieser endlich zu winken. Die
Veröffentlichung des Gesetzes über die fünfjährige Dauer der preußischen Ab¬
geordnetenmandate war vom König einstweilen ausgesetzt worden. Schließlich
war aber das Gesetz mit der königlichen Unterschrift vollzogen und an den
Minister von Puttkamer mit einem Schreiben gesandt worden, das die Freiheit
der Wahlen verlangte. Es kam nun dem Minister darauf an, daß er vor der
Publikation des Gesetzes den König überzeugte, daß die Freiheit der Wahlen
von ganz andrer Seite gefährdet war, als von Seiten der Regierung, und daß
die Thatsachen keinen hinreichenden Anlaß geboten hatten zu dem schändlichen
Lärm der freisinnigen Redner am letzten Tage der Session des Abgeordneten¬
hauses, wo Herr Richter von Bismarck als einem Staatsverräter gesprochen
hatte; dem Kaiser hat er dann die Äußerung vom „treffenden Worte zu rechter
Zeit" zugeschoben. Gelang Puttkamer der Nachweis nicht, so mußte man auf
seinen Rücktritt gefaßt sein, und was sich daran weiter anschließen würde, das
ließ sich noch gar nicht übersehen. Für jetzt verlautete nur, daß der aller¬
höchsten Genehmigung des Gesetzes später ein Erlaß eines die Wahlfreiheit
sichernden Aktes folgen solle. Etwas Angenehmeres hätte nun dem Freisinn
und den Ultramontanen gar nicht begegnen können, als die Veröffentlichung
eines kaiserlichen Erlasses für Freiheit der Wahlen, über die doch bisher und
wieder im letzten Abgeordnetenhause von allen Parteien gewacht worden war.
Erfolgte ein solcher Erlaß, so konnten Herr Richter und seine schwarzen und
roten Kumpane dem Kaiser in derselben Stellung zeigen, die sie so heuchlerisch
bisher angenommen hatten, wenn sie den letzten Reichstag, der uns vor dem
schwersten Unheil bewahrt hat, als ein Angstprodukt des mißleiteten Volkes
darstellten. Auch mußte ein solcher Erlaß ganz von selbst die Folge haben,
daß während der Wahlzeit das Kommando der Herren Richter und Windthorst
an die Stelle der Regierung trat. Und damit wäre ja den wackern Patrioten
geholfen gewesen.
So war denn wieder eine neue Krisis im Anzüge, die der Kompagnie der
dcutschfreisiunigen Streber heraufzubeschwören glücklich gelungen war. Schließlich
schien sie damit beigelegt, daß der Staatsanzeiger amtlich das die Verlängerung
der Legislaturperiode des preußischen Abgeordnetenhauses betreffende Gesetz ver¬
öffentlichte. Ein Wahlerlaß, der sich gegen Puttkamer gewendet hätte, erschien
nicht. Man durfte darum wohl annehmen, daß es dem Minister gelungen sei,
durch seine schriftliche Darlegung seine bisherigen Verwaltungsgrundscitzc als
im Einklang mit dem kaiserlichen Erlaß vom 4. Januar 1882 stehend nachzu¬
weisen. Da gelangte aber tags darauf ein neues Schreiben des Kaisers be¬
züglich der Wahlen, unerwartet für alle Beteiligten, an Puttkamer, und nun
war es wohl keine Frage, daß der Minister xsrsoua, WZraw war. Dies allein
hat seinen Sturz bewirkt. Als die Entlassung genehmigt war, zeigte es sich,
daß dem Freisinn der ganze Lärm gegen Puttkamer nur soweit von wirklichem
Belang war, als er damit Bismarck treffen könnte. Sie nannten Puttkamer
und meinten Bismarck. Die Volkszeitung sagte das ganz deutlich in ihrem
Artikel über „Freiheit der Wahlen": „Gesetzt den günstigsten Fall, es käme
an die Stelle des Herrn von Puttkamer ein Minister des Innern, der diesen
oder jenen Auswuchs beseitigte oder milderte, so wären derartige »Verbesse¬
rungen,« die, so lange Fürst Bismarck am Ruder bleibt, äußerst geringfügig
sein könnten, eher schädlich als nützlich." Was war das wiederum anders als
das alte: Fort mit Bismarck! das man eben nicht so schlechtweg rufen darf,
jetzt wie ehedem, weil man damit selbst die gänzlich Unwissenden vor den Kopf
stößt. Es muß feiner operirt werden. Vor allen Dingen brauchte man eine
fortschrittliche Majorität, zu der es nur kommen konnte, wenn man Herrn
von Puttkamer als Angriffsziel nahm. Man rechnete so, daß, wenn es gelänge,
ihn zu beseitigen, schon jetzt die freisinnige Mythe Glauben finden mußte, daß
auch der Kaiser die vollendete Wahlniederlage des Freisinns als ein Werk amt¬
licher Beeinflussung der Wahlen ansahe. Und damit glaubte man den Sieg
schon in den Händen zu haben, umso mehr, als man Wege gefunden hatte, nicht
bis zum Kaiser selbst, aber bis in seine Nähe zu kommen. Dieselbe Quelle,
aus der schon in San Remo die Preßpiraten ihre Nachrichten gezogen hatten,
schien jetzt noch reichlicher zu fließen. Eugen Richter war in der letzten Zeit
immer prompt in den Stand gesetzt, über gewisse Vorgänge bei Hofe schnell
berichten zu können. Von allen übrigen Zeitungen schrieb er zuerst in seinem
Blatte (9. Juni): „Der Angriff der freisinnigen Partei auf das System Putt¬
kamer in der letzten Sitzung des Abgeordnetenhauses ist von dem erhofften
Erfolge gekrönt worden. Das treffende Wort zur rechten Zeit hat seine Wir¬
kung nicht verfehlt." Er berichtete zuerst, daß durch ein zweites eigenhändiges
Schreiben des Kaisers dem Herrn von Puttkamer kund gegeben worden sei, daß
dessen Nechtfertigungsschrift für nicht genügend befunden worden sei, worauf
Puttkamer seine Entlassung eingereicht habe, „deren Gewährung außer aller
Frage" stehe. Einen Teil ihres vielerstrebten Zieles schien also die freisinnige
Kamarilla in der That erreicht zu haben. In der Dresdner fortschrittlichen
Versammlung am Sonntage vor des Kaisers Tode, in welcher unter den sechs¬
hundert Teilnehmern etwa ein Drittel Sozialdemokraten und ein Drittel Neu¬
gierige waren, ließen denn auch schon Alexander Meyer und Munckel den Ge¬
danken hervorschimmern, daß sie, die Freisinnigen, bald an die Reihe kämen.
Und nach Ihnen wir! klang es schrill aus der Sozialistentruppe, der freisinnigen
Herrlichkeit nur kurze Dauer verheißend.
Lange sollte diese Herrlichkeit nun allerdings nicht sein; nicht etwa wegen
sozialdemokratischer Nachfolge, auch nicht deshalb, weil der Tod Kaiser Friedrichs
den Freisinnigen die Hoffnung genommen hätte, wie sie flunkern, sondern weil
Kaiser Friedrich selbst noch seine klare Willensmeinung, wie er regiert zu sehen
wünsche, dadurch kund gab, daß er zwei Tage vor seinem Heimgange den
Ministerpräsidenten beauftragte, mit dem Grafen Zedlitz in Verbindung zu treten
wegen Übernahme des Ministeriums des Innern. Dieser letzte Negierungsakt des
Kaisers war die deutlichste Sprache, wodurch der Deutschfrcisinn den Abschied er¬
hielt. Berufen sich die Freisinnigen für ihrem Bestrebungen auch noch nach solchem
Abschiede auf Kaiser Friedrich, so ist das der gewohnte fortschrittliche Schwindel.
Eines aber wollen wir nicht vergessen, das ist der Dank, den wir dem
Reichskanzler dafür schulden, daß er sich in der trübsten Zeit nicht hat hinweg-
ärgern lassen von denen, deren angelegentlichstes Geschäft es immer gewesen ist,
an dem Sturze des großen Mannes zu arbeiten. Jetzt war er für uns raus,
<M vobis ouilotiZ-naiv rsstituit rein.
le diplomatische Kunst des Fürsten Bismarck hat es länger als
anderthalb Jahrzehnte zu verhüten verstanden, daß der Krieg
um den Bestand des 1871 aufgerichteten neuen deutschen Reiches,
der immer eine Möglichkeit, oft eine Wahrscheinlichkeit war und
zuweilen schon im Osten oder im Westen am Gesichtskreise auf¬
steigen wollte, zum Ausbruche kam, und wir hoffen jetzt mehr als je zuvor, daß
diese Kunst den Krieg noch lange fern zu halten imstande sein wird. Dennoch ver¬
läßt uns niemals die Empfindung, daß unsre Hoffnung auch täuschen kann- denn
diese Kunst bleibt, so weitblickend und so erfindungsreich sie auch ist, doch immer
eine menschliche Kunst, die weder allwissend noch allmächtig ist. Nur eins
wissen wir mit voller Sicherheit, daß wir es nicht sein werden, wenn der
Friede einmal gestört wird; denn wir haben jetzt reichlich, was wir brauchen
und mit Recht beanspruchen konnten, und wir sind kein Volk, das mehr will,
als es bedarf, und kein Volk, das um des bloßen Ruhmes willen zu den Waffen
zu greifen gewohnt ist. Wir haben in entscheidender Zeit viel Glück gehabt,
vor allem das Glück einer genialen Führung, der große Dinge mit rechter Ver¬
wendung der tüchtigen Eigenschaften der Nation gelungen sind, und doch blieb
unsern Führern, sowie der verständigen Mehrzahl der Geführten die Hybris,
die Überhebung fremd, welche die ärgste Feindin der Glückskinder, der Sieg¬
reichen, der aus Armut zu Reichtum, aus Erniedrigung zu hoher Stellung und
Macht gelangten ist. Wir dürfen uns rühmen, den Neid der Götter nicht
erweckt zu haben. Aber den Neid der Menschen hat unsre Bescheidenheit und
Genügsamkeit nach den uns gewordenen Erfolgen nicht zu beschwichtigen ver¬
mocht, und zu dem Neide böser Nachbarn gesellt sich bitterer Haß, weil unsre
neue Größe und Stärke ihnen als Damm gegen ihr Streben nach Vergrößerung
ihres Besitzes und Einflusses, als mächtiges Hindernis für die weitere Ver¬
wirklichung von Wünschen erscheint, die ihnen zur zweiten Natur geworden
sind. Wir mußten uns die Vogesengrenze und Metz mit Umgebung erobern,
um die Franzose» unfähig zu machen, ihre jahrhundertelange Bedrohung und
Beeinflussung Sttddeutschlands fortzusetzen; wir wurden als deutsches Reich
vor der Wiederkehr des russischen Druckes bewahrt, der unter Zar Nikolaus
auf unserm nationalen Leben lastete, und wir erschienen von dem Tage an, wo
wir nach Auflösung einer unnatürlichen Verbindung mit Österreich durch ein
Bündnis mit ihm, welches das rechte, für beide Teile heilsame Verhältnis her¬
stellte, der russischen Ländergier als ein Haupthindernis für die Lösung der
orientalischen Frage in jenem panslawistischcn Sinne, der sich auch gegen die
Lebensinteressen unsers Bundesgenossen an der Donau kehrt. Daher das Wort:
Konstantinopel muß in Berlin erobert werden, das in Moskau und Petersburg
immer wieder laut wurde und vermutlich nicht so bald völlig verstummen wird.
Es ist nicht unmöglich, daß es zuletzt wie ein Bann oder ein zwingender
Zauber auf die höchste maßgebende Macht wirkt, die sich seiner bisher erwehrte,
und dieser Augenblick braucht durchaus nicht tief und fern in der Zukunft zu
liegen. Daß Frankreich dann, wenn der Haß und die Mißgunst des russischen
Panslawismus ihre Fahnen gegen uus entfalten, die seinen in der Hülle lassen
werde, ist so gut wie undenkbar. Es ist daher geraten, sich immer wieder einmal
die Frage vorzulegen: Nun, wenn es denn sein müßte, was hätten wir für
Kräfte und Mittel, den uns aufgedrängten Krieg unserseits zu führen, wie sind
die unsrer Bundesgenossen beschaffen, und welche können unsre Gegner auf¬
bieten? Eine vor kurzem in Hannover erschienene Broschüre, „Der europäische
Koalitionskrieg/' will zwar nicht zugeben, daß ans Italiens Mitwirkung von
seiten des Friedensbundes mit Sicherheit zu rechnen sei, und wir räumen dies
ein, wenn der Krieg lange auf sich warten lassen sollte. Die jetzt den Fran¬
zosen sehr abgeneigte und mit Österreich versöhnte öffentliche Meinung könnte
dann umschlagen, die herrschenden Parteien könnten andern Parteien weichen
durch welche die Jrredentisten Oberwasser erhielten, sogar der Umsturz der
Monarchie und die Verwandlung in eine Republik, die es ihrer Selbsterhaltung
wegen mit der französischen Schwester halten würde, sind denkbar. Aber das
alles liegt in weitem Felde, und so darf Italien für die nächste Zeit und für
den Fall, daß Frankreich sich an einem Kriege zwischen uns und Nußland be¬
teiligt, getrost in obigem Sinne in die Rechnung eingestellt werden.
Wie man die Weltlage auch ansehen mag, wenn man an einzelnes denkt,
die Gefahr für alle Parteien liegt immer darin, daß die Mächte des Friedens¬
bundes den beiden voraussichtlich zum Angriffe auf sie verbündeten Staaten
als unmittelbare Nachbarn mit gewaltigen Heeren gegenüberstehen. Eine Ab¬
rüstung ist unter diesen Umständen nur denkbar in dem Falle, daß der eine
Teil eine vollständige Niederlage erleidet. Dann wird der Sieger dem Be¬
siegten den Präsenzstand, den er aufrecht erhalten darf, vorschreiben, und
darauf kann er auch den seinigen entsprechend vermindern und so eine schwere
Last loswerden. Die auf Krieg sinnenden Mächte sind der Abrüstung abgeneigt,
weil sie auf friedlichen Wegen nicht dahin gelangen können, wohin sie wollen,
die Russen nicht nach Konstantinopel, die Franzosen nicht wieder in den Besitz
Elsaß-Lothringens. Diese Abneigung der revolutionären Mächte nötigt die drei
konservativen Mächte ebenfalls in Waffen zu starren, und da dies auf lange
Zeit aus finanziellen Gründen kaum zu ertragen ist, so wird der Friedensbund,
um seine Kräfte nicht zu erschöpfen, in einem der nächsten Jahre wohl zunächst
in Nußland anfragen müssen, welchen Zweck es mit der Anhäufung von Truppen¬
massen und andern Kriegsvorbereitungen an der Grenze Dentschlands und
Österreich-Ungarns, von denen doch offenkundig kein Angriff drohe, verfolge.
Eine solche Frage aber pflegt man nur zu stellen, wenn man entschlossen ist,
eine unbefriedigende, weil nicht ganz deutliche und rückhaltlose Beantwortung
derselben als oasus dslli anzusehen und zu behandeln. Darin liegt der Haupt¬
grund zu der Beängstigung, welche die Friedensfreunde erfüllt. Daneben steht
aber als Trost die an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit, daß ein Krieg
mit einer Niederlage unsrer Feinde endigen und sie zur Einwilligung in eine
Abrüstung zwingen würde, die uns für die Zukunft den Frieden verbürgte.
Überlegen wird sich eine Kriegsmacht immer dann erweisen, wenn sie über
eine größere Zahl von Truppen verfügt als die des Gegners; doch ist dies nicht
allein das Entscheidende, da auch die gründlichere Übung, die bessere Bewaffnung,
die größere Kriegsbereitschaft, der schnellere Aufmarsch und die genialere
Führung als wichtige Umstände bei dem Vergleich in Betracht kommen. Was
die Zahl der Truppen angeht, so beträgt die des deutschen Heeres, welches, wie
wir uns von vornherein gegenwärtig halten wollen, die Hauptarbeit zu thun
haben würde, nach der neuesten Gestaltung der Wehrverfasfung mit Einschluß
des Landsturmes ungefähr drittehalb Millionen Soldaten, von denen die bei
weitem größere Hälfte vollkommen genügend geschult und in kriegstüchtigem
Alter ist. Die Kriegsstärke des deutschen Heeres ohne Landsturm beträgt
1456677 Mann mit 312731 Pferden und 2808 Geschützen, wovon 744031
Mann mit 242415 Pferden und 2040 Geschützen auf die Feldarmee, 296614
Mann mit 31373 Pferden und 444 Geschützen auf die Ersatztruppen und
416032 Mann mit 38943 Pferden und 324 Geschützen auf die Besatzungs¬
truppen kommen. Die Linieninfanterie zählt 161 Regimenter zu 3 Bataillonen,
die leichte 20 Jäger- und Schützenbataillone, die Kavallerie 93 Regimenter zu
5 Schwadronen, die Feldartillerie 37 Regimenter, die Fußartillerie 31 Ba¬
taillone, die Pioniere 19 Bataillone, wozu noch ein Eisenbahnregiment und
18 Trainbataillone kommen. Die weitern Einzelheiten sind in Schriften
und Zeitungsnachrichten so oft dargestellt worden, daß wir auf sie nicht
einzugehen brauchen, zumal da sich von selbst versteht, daß die verschiednen
Waffengattungen in richtigem Verhältnisse vorhanden sind, und daß es den
Mannschaften nicht an der erforderlichen Zahl von Offizieren und Unteroffi¬
zieren fehlt.
Über die Wehrkräfte unsrer österreichisch-ungarischen und italienischen Bundes¬
genossen müssen wir etwas ausführlicher berichten. Als Österreich-Ungarn nach
1866 daran ging, seine Heereseinrichtungen nach preußischem Muster umzu¬
bilden, übernahm es keine leichte Aufgabe; namentlich war es schwer, in dem
vielgegliederten und vielsprachigen Doppelstaate ein einheitliches, gut geschultes,
wohl bewaffnetes und von tüchtigen Offizieren befestigtes Heer zu schaffen.
Doch gelang dies in vergleichsweise kurzer Zeit. Die österreichischen Linien¬
truppen bestehen aus 408 Infanterie- und 42 Jägerbataillonen, 41 Kavallerie¬
regimentern mit 237 Schwadronen und 209 Batterien Artillerie mit 1529
Feldgeschützen, zu deren Ergänzung noch 102 Ersatzbataillone für die Infan¬
terie, 42 Ersatzkompagnien für die Jäger, 41 Ersatzschwadronen und 150 Ge¬
schütze bereit gehalten werden, und die zusammen etwa 780000 Manu stark
sind, wovon rund 500000 auf die Infanterie, 50000 auf die Jäger, 62000
auf die Kavallerie, ungefähr ebensoviele auf die Feldartillerie und die übrigen
auf die Festungsartillerie, die Genie- und Eisenbahntruppen, die Handwerker,
den Train und das Sanitätspersonal fallen. Die Dienstsprache des Heeres ist
das Deutsche, d. h. alle Befehle werden deutsch erteilt, wogegen die Unterweisung
der Mannschaften und der sonstige mündliche Verkehr derselben in den aus nicht
deutschen Bezirken rekrutirten Regimentern vorwiegend in der Sprache dieser
Bezirke stattfindet — ein Übelstand, der sich nicht vermeiden läßt, obwohl er
die Gleichmäßigkeit und Einheitlichkeit der einzelnen Heeresglieder beeinträchtigt
und unter Umständen ihr rechtes Zusammenwirken hindern kann. Für die Aus¬
bildung der Offiziere ist, auch in Ungarn, während der letzten Jahrzehnte viel
geschehen, und wenn sie und ihre Leute in ihren gewöhnlichen Dienstblusen
nicht so schmuck und stramm aussehen wie ihre Kameraden im deutschen Reiche,
so ist die Tracht doch praktisch, weil bequem und gesund, und an Pflichttreue
und Schneidigkeit fehlt es denen, die sie tragen, ebenso wenig wie uns. Der
leidige Streit der Nationalitäten hat, wie es scheint, nicht auf das Offizierkorps
eingewirkt, es fühlt sich eins im Hinblick auf den obersten Kriegsherrn aller
seiner Glieder. Neben und unabhängig von dem Linienheere bestehen zwei
Landwehrkörper, einer für „die im Neichsrate vertretenen Länder," wie der
amtliche Ausdruck für Cisleithanien lautet, und einer für „die Länder der
ungarischen Krone," die Honvedarmee. Diese werden zum geringern Teile aus
den Mannschaften gebildet, die ihre zehnjährige Dienstzeit im stehenden Heere
(drei Jahre bei der Fahne, sieben in der Reserve) beendigt haben und nun noch
zwei Jahre in der Landwehr bleiben müssen, zum größern Teile aus den nicht
zum Dienst in der Linie herangezogenen Wehrpflichtigen, die zwölf Jahre der
Landwehr angehören, aber nur ziemlich gut geübt werden, wogegen die wissen¬
schaftliche Ausbildung der Offiziere namentlich bei der Honvedarmee mit Eifer
und in ungewöhnlicher Ausdehnung betrieben wird. Die cisleithanische Land¬
wehr zählt etwa 135000 Mann, die in 82 Jnfanteriebataillone, 10 Bataillone
Tiroler Schützen und 6 Regimenter Kavallerie eingeteilt sind, die trans-
leithanische rund 130000 Mann, die in 92 Bataillone Infanterie und 10 Re¬
gimenter Reiter zerfallen. Diese Landwehren sollen allerdings nur mit Zu¬
stimmung der betreffenden Volksvertretung außerhalb der Grenzen der Reichshälfte,
welche sie stellt und erhält, verwendet werden, doch darf der Kriegsherr in
Fällen der Not eine Ausnahme von der Regel macheu und die Genehmigung
dazu erst später einholen. So vermöchte Österreich-Ungarn im Falle eines
Krieges dem Feinde mehr als eine Million Soldaten über die Grenze entgegen¬
zusenden, wenn es in einem Landsturme das Mittel besäße, die Punkte im
Innern genügend zu besetzen, die hier gesichert werden müssen. Dazu sind
jedoch erst Anfänge vorhanden, und auch diese nur in Ungarn. Das Doppel¬
reich an der Donau leistet überhaupt auf militärischem Gebiete an sich zwar
recht ansehnliches, vergleichsweise aber doch nicht genug. Allerdings genügte
die vor zwanzig Jahren für den Kriegsstand des Heeres gesetzlich festgestellte
Zahl damals vollständig; gegenwärtig aber sollte und könnte mehr geschehen,
denn jetzt entspricht sie weder der inzwischen gewachsenen Ziffer der Bevölkerung,
noch den mittlerweile beträchtlich vermehrten Streitkräften der übrigen Staaten
Europas. Im Sommer 1868, als der Kriegsstand des österreichisch-ungarischen
Heeres in den Parlamenten zu Wien und Budapest beschlossen wurde, übernahm
man im wesentlichen die mit der Organisation der fünfziger Jahre bestimmte
Ziffer. Diese reichte auch für die damaligen Verhältnisse hin. Es gab in
Deutschland nur das Heer des Norddeutschen Bundes, neben dem im Süden
eine bairische, eine württembergische und eine badische Armee bestanden, die zwar
auf Grund einer Militärkonvention im Kriege an die Seite des Bundes treten
sollten, von denen aber niemand mit Bestimmtheit sagen konnte, ob sie ihrer
Verpflichtung auch wirklich entsprechen würden. Die russischen Heere erholten
sich noch von den Wunden, die ihnen die Kriege auf der Krim, in den Donau¬
fürstentümern und in Polen geschlagen hatten. Italien war noch im Werden,
Rumänien und Serbien ebenfalls die Balkanfrage gab es noch nicht. Die Ver¬
teilung der politisch-militärischen Kräfte war also damals ganz anders als
heutzutage. Deutschland, Rußland, Italien, Frankreich, die Nachbarn Österreich-
Ungarns an der untern Donau und am Balkan haben seitdem ihre Wehrver¬
hältnisse nach Menge und Tüchtigkeit außerordentlich entwickelt. Nur die
österreichisch-ungarische Monarchie ist, wenigstens in einer Beziehung, stehen ge¬
blieben. Ihre Wehrkraft ist zwar innerlich tüchtiger geworden, aber ihre Linien¬
truppen zählen noch wie vor sechsunddreißig Jahren gesetzlich nur etwa 800000
Mann, obwohl die Bevölkerung der beiden Staaten derselben jetzt vierzig
Millionen erheblich übersteigt, und die infolge der 1868 eingeführten allgemeinen
Wehrpflicht verfügbaren Massen weder im Heere noch in der Landwehr ge¬
nügenden Raum finden, sodaß jedes Jahr ein starker Bruchteil derselben gar
nicht zur Ausbildung im Waffendienste herangezogen werden kann. Wenn man
darauf hinweist, daß neben dem in seiner Stärke stehen gebliebenen Heere die
beiden Landwehren sich in den letzten beiden Jahrzehnten zu kräftigen Orga¬
nismen entwickelt hätten, die mit Beruhigung in die Schlachtordnung eingestellt
werden könnten, so ist das doch nur teilweise richtig. Denn kein Sachverstän¬
diger wird sich darüber täuschen, daß Truppen mit der sehr geringen Dienstzeit
der ungarischen Honveds und der österreichischen Landwehr, die in mancher
Hinsicht besonders zurückgeblieben ist, nicht denselben Halt in schwierigen Lagen
eines Feldzuges zu zeigen vermögen, wie Truppen mit dreijähriger Dienstzeit,
die überdies in der Lage sind, sich einen größern Bestand brauchbarer Unter¬
offiziere heranzubilden. Auch kann niemand daran zweifeln, daß Truppen,
deren Kompagnien und Schwadronen mit drei Berufsoffizieren und einem Re¬
serveoffizier ins Feld rücken, doch etwas besseres sind als solche, deren Unter¬
abteilungen mit einem Berufsoffizier, oder auch gar keinem, und drei Offizieren
des Beurlaubtenstandes gegen den Feind marschiren müssen. Natürliche An¬
stelligkeit, allgemeine Bildung und patriotische Hingebung können viel leisten,
aber in einer Welt voll materieller Schwierigkeiten und technischer Aufgaben
werden handwerksmäßige Übung und Erfahrung, die genügend nur durch längeres
Verbleiben bei der Sache erworben werden können, deshalb nicht entbehrlich.
Es würde daher gut sein, wenn man dies beherzigte und bald dazu thäte, den
angedeuteten Mängeln abzuhelfen. In Ungarn wird ja auch die Notwendigkeit
einer Reform in maßgebenden Kreisen schon seit geraumer Zeit anerkannt.
(Nach neuern Nachrichten wird den beiden Parlamenten der Monarchie im
Oktober d. I. ein neues Wehrgesetz vorgelegt werden, und es ist beabsichtigt,
dieses spätestens am 1. Januar 1839 in beiden Reichshälften zu veröffentlichen
und am 1. Januar 1890 ins Leben treten zu lassen.)
Auch die neue Großmacht Italien kann den Frieden in Verbindung mit
dem deutschen Reiche mit sehr ansehnlichen Streitkräften verteidigen helfen. Wie
bei unserm nächsten Bundesgenossen, ist hier in dem letzten Vierteljahrhundertc
auf militärischem Gebiete viel geändert und viel neues geschaffen worden, und es
hat sich auf der Grundlage der piemontesischen Armee ein einheitliches National¬
heer entwickelt, auf welches das Land mit Stolz und Vertrauen blicken kann.
Damit ist allerdings vorzüglich die Feldarmee gemeint, an die der Kriegsminister
Rieotti zunächst dachte, als er am 16. Dezember 1886 vor dem römischen Par¬
lamente erklärte, Italien sei imstande, jederzeit ohne Schwierigkeit eine halbe
Million Soldaten um seine Fahnen zu versammeln und marschiren zu lassen.
Nach den Listen hatte das Land damals noch weit mehr wehrfähige Mann¬
schaften, nämlich im ganzen 902112 Mann, die für das stehende Heer,
285 307, die für die mobile Miliz, und 1 309 709, die für die Territorialmiliz
verfügbar waren. Doch waren das nur Massen auf dem Papier, von denen
weit über die Hälfte nur geringe oder auch gar keine militärische Übung ge¬
nossen hatten. Wie in andern Staaten, herrscht auch in Italien gesetzlich die
allgemeine persönliche Dienstpflicht für gewisse Altersklassen der Bevölkerung,
ohne daß sie jedoch streng hätte durchgeführt werden können. Die nach dem
Gesetze zum Kriegsdienste verpflichteten sind daher in drei Klassen geteilt.
Die erste verbleibt drei Jahre bei der Fahne, gehört dann fünf Jahre der
Reserve der stehenden Armee an, tritt hierauf in die mobile Miliz (Landwehr)
ein und verbringt schließlich noch sieben Jahre in der Territorialmiliz, die zum
Teil der deutschen Landwehr zweiten Aufgebots, zum Teil unserm Landsturme
entspricht. Die zweite Klasse hat dieselben Dienstverpflichtungen wie die erste,
wird aber in den acht Jahren, in denen sie dem stehenden Heere angehört, nur'
zu kurzen Übungen einberufen, sodaß sie nur eine notdürftige militärische Aus¬
bildung erhält. Noch übler ist es mit den Mannschaften der dritten Klasse
bestellt, welcher die weniger kriegstüchtigen Leute und die wegen häuslichen
Verhältnisse zurückgestellten zugeteilt werden. Diese Klasse bleibt in den
neunzehn Jahren ihrer Dienstpflichtigkeit beinahe ganz ohne Ausbildung und
Übung in den Waffen und ist eigentlich nicht mehr als Material, mit dem die
Territorialmiliz, wenn ein Krieg droht, außerdem verstärkt werden soll. Zur
Einreihung der dienstpflichtigen Massen in militärische Verbände bestehen im
Frieden 96 Regimenter Infanterie, in jedem der 12 Armeekorps 8, 12 Re¬
gimenter Bersaglieri (Schützen), 7 Regimenter Alpenjäger, 24 Regimenter
Kavallerie, jedes mit 6 Schwadronen, und 12 Regimenter Feldartillerie mit
je 14 Batterien zu 6 Geschützen, 6 Batterien reitende Artillerie für die 6 Ka¬
valleriedivisionen und 8 Batterien Gebirgsartillerie, sowie was an Festungs¬
artillerie, Genie-, Eisenbahn-, Sarnath- und Handwerkertruppen, Train und
ähnlichem zu einer modernen Armee gehört. Die Bersaglieri sind eine Elite¬
truppe, die namentlich im raschen Marschiren ungewöhnliches leistet. Sehr
gelobt werden auch die Alpenjäger, die sich lediglich aus den nördlichen und
nordwestlichen Teilen des Landes ergänzen, wo sie auch ihre Garnisonen haben,
und die bestimmt sind, vor den großen Heeresmassen im Gebirge aufzuklären
und deren Flanken zu decken, was anderwärts Aufgabe der Reiterei ist. Die
italienische Reiterei genügt deshalb in bergigen Gegenden, wogegen sie bei Ope¬
rationen in ebenen Landstrichen nicht stark genug zu vollständiger Erfüllung jener
Aufgabe sein dürfte. Hier wird daher eine Verstärkung stattfinden müssen, und
die wird wohl auch nicht ausbleiben, da es nicht an gutem Willen zu Ver¬
besserungen fehlt. Das gilt namentlich von der Landwehr und dem Landsturme.
Von ersterer, der mobilen Miliz, beabsichtigt man allmählich 162 Bataillone
Infanterie, 36 Kompagnien Alpenjäger und 56 Batterien Artillerie aufzustellen,
und dieser Plan ist jetzt bereits so weit verwirklicht, daß die Kadres, die Waffen
und das sonst erforderliche Material dazu größtenteils vorhanden sind. Des¬
gleichen wird an der Beschaffung einer Territorialmiliz und der Entwicklung
der schon vorhandenen Anfänge zu einer solchen nach Kräften gearbeitet, und man
trifft Vorbereitungen, um für den Fall des Bedarfs 320 Bataillone Infanterie,
75 Kompagnien Alpenjäger und 100 Kompagnien Festungsartillerie von diesem
Landsturme bilden und ausrüsten zu können. Vorläufig wird das bereits Fer¬
tige ungefähr ausreichen, um mit Aussicht auf Erfolg Operationen außerhalb
der Grenzen zu wagen; man kann dazu die weitaus größere Hälfte der
500 000 Mann des stehenden Heeres verwenden, weil der Rest mit der vor¬
handenen mobilen Miliz bei der Stärke der italienischen Flotte, zu welcher in
der Adria österreichische Schiffe stoßen würden, zur Verteidigung der allerdings
langgestreckten Küsten wahrscheinlich genügen wird. Der italienische Soldat,
namentlich der aus den nördlichen Provinzen des Königreichs, besitzt vortreffliche
Eigenschaften, er hat sich auch, wo er Niederlagen erlitt, immer tapfer geschlagen,
ist genügsam und rasch und auf Märschen ausdauernd. Seine militärische Aus¬
bildung läßt aber auch in den südlichen Regimentern wenig mehr zu wünschen
übrig. Das Offizierkorps, das anfangs im Drange der Verhältnisse aus sehr
verschiednen Elementen, darunter auch wenig brauchbaren und achtungswerten,
zusammengestellt war, ist von Jahr zu Jahr besser geworden, und gegenwärtig
bildet es ein durchaus einheitliches und tüchtiges Ganze, das dem, was wir
an unserm Offizierkorps besitzen, wenig nachsteht. Der italienische Offizier hat,
wie der Italiener überhaupt, eine gute Haltung, die durch eine schmucke Uniform
gehoben wird, er ist im ganzen begabt, rasch im Auffassen, gewandt und steht,
schon weil Italien keine strenge Scheidung der Gesellschaftsklassen kennt, seinem
Untergebenen von Natur gemütlich nahe. Von einem engen, außerdienstlichen
Zusammenleben der Offiziere im Regiments, wie es bei uns Regel ist, wollen
die italienischen Kameraden wenig wissen. Seltsam erscheint, aber nicht selten
ist es, daß man Offiziere höhern Grades mit ihrer Ordonnanz den Markt be¬
suchen und Einkäufe für die Wirtschaft machen sieht. Aber ländlich, sittlich;
auch ist das eine Nebensache, die den wesentlichen Eigenschaften des Militärs
keinen Eintrag thut. Für eine gründliche Fachausbildung der Offiziersaspi¬
ranten und der jüngern Offiziere sind alle Vorkehrungen getroffen, und auch
die spätere militärische Entwicklung wird eifrig und zweckmäßig gefördert. Po¬
lnischer Parteigeist endlich hat in den Kreisen der italienischen Offiziere von
heute so wenig Zutritt wie in denen der deutschen. Auch dort giebt es keinen
Boulanger und keine Möglichkeit zu Pronunciamentos.
Zum Schluß noch ein paar Worte über die italienische Flotte, die, wie
angedeutet, für die lang ins Meer gestreckte apenninische Halbinsel mit ihren
beiden großen Inseln bei der Nachbarschaft des seemächtigen Frankreich von
großer Wichtigkeit ist. Die Flottenliste vom 1. Januar dieses Jahres weist im
ganzen 247 Schiffe auf, von denen 178 für Kampfzwecke bestimmt sind. Unter
diesen befinden sich 18 Schlachtschiffe erster, 16 zweiter und 25 dritter Klasse.
Unter denen der ersten Klasse begegnen wir 3 (Umberto, Sicilia und Sardegna)
Panzern der größten Art von 13 298 Tonnen Deplacement, 19 500 indi-
zirter Pferdekraft und 18 Knoten Fahrt, die zwar noch im Baue sind, aber
binnen Jahresfrist fertig werden sollen. Die nächste Klasse besteht meist aus schnellen
Kreuzern und vorzüglichen Torpedowiddern, die dritte aus kleinern Torpedo-
fahrzengen. Diese Kampfschiffe stellen infolge ihres zweckmäßigen Bausystems,
ihrer Schnelligkeit und ihrer gewaltigen Bewaffnung mit Geschützen eine See¬
macht dar, die schon hente auch durch eine feindliche Flotte ersten Ranges nicht
mehr von der See zu verscheuchen und ebenso wenig in einem Hafen zu blockiren
ist. Nach dem Plane des Marineministers Brin wird aber Italien im Jahre
1897, abgesehen von Schulschiffen, Fahrzeugen für den Lokaldienst und kleinern
Dampfern, 16 Kampfschiffe erster, 20 zweiter und 40 dritter Klasse haben,
unter deuen der ersten 11 nach den Mustern des Duilio und der Italia mit
allen Verbesserungen der modernen Technik und den größten bis jetzt zur Aus¬
rüstung verwendeten Geschützen, unter denen der dritten 16 Transportschiffe der
neuesten Art, außerdem aber 190 Torpedofahrzeuge, 120 für die hohe See
und 58 für die Küstengewässer, sowie 12 Avisos. An der Ausführung dieses
Programms ist, wenn nicht in den nächsten neun Jahren Italien in einen Krieg
verwickelt wird und unterliegt, nicht zu zweifeln, und ist sie erfolgt, so ist Italien
eine Seemacht ersten Ranges geworden, seine Interessen im Mittelmeere sind
sichergestellt, und es kann fortan seine ganze Landmacht ohne irgend welchen
Abzug von vornherein zum Angriffe vorgehen lassen.
ir haben Erdkarten in allen Projektionen und allen Maßstäben.
Wir haben auch Karten des Mondes — in Berlin ist die be¬
rühmteste Karte des Mondes, die von Beer und Mädler, ent¬
standen. Aber Karten des Mars? Jawohl, auch diese haben
wir jetzt, und selbst ein Globus des Planeten Mars wird binnen
kurzem seinen Weg von Paris, wo er gefertigt wird, nach Deutschland machen.
Sehen wir uns etwas näher an, was uns diese Dinge neues gebracht haben
und bringen.
Seit zwei Monaten ist der Mars wieder eine auffällige Erscheinung am
Abendhimmel, er befindet sich in der größten Nähe der Erde. Er ist leicht zu
erkennen an seinem roten Lichte und an dem ruhigen Glänze, der ihn vor den
andern Sternen auszeichnet. In solchen Zeiten seiner größten Erdnähe lassen
es sich nun die Astronomen besonders angelegen sein, die Erscheinungen seiner
Oberfläche zu studiren, und es sind sowohl in den letzten Jahren als auch bei der
diesjährigen Erdnähe Erscheinungen beobachtet worden, die das allgemeinste
Interesse erregen dürften.
Der Wunsch, die Beschaffenheit der Himmelskörper jenseits unsrer Erde
kennen zu lernen, ist zu allen Zeiten rege gewesen. Die Himmelskunde mußte
aber sehr bald erkennen, daß bei der fast unendlichen Entfernung der Sterne,
selbst wenn man noch so mächtige Fernröhre baue, nicht sehr viel von der
Oberflächenbeschaffenheit der Gestirne würde erforscht werden können. Nur über
die Nachbarplaneten unsrer Erde, die sich uns in kürzern Zwischenräumen bis auf
verhältnismäßig kleine Entfernungen nähern, konnte man Aufschlüsse erwarten.
Derjenige Planet, welcher unsrer Erde bei seinem Laufe um die Sonne am
nächsten kommt, ist nun zwar nicht der Mars, sondern die Venus. Allein diese
zeigt uns zur Zeit ihrer größten Erdnähe ihre unbeleuchtete, dunkle Seite, weil
sie dann gerade zwischen Sonne und Erde steht, und so können wir zu dieser
Zeit ihre Oberflächenbeschaffenheit nicht erkennen. Viel günstiger liegen die
Verhältnisse beim Mars. Der Mars steht zur Zeit seiner größten Erdnähe
— er nähert sich uns bis auf 55 Millionen Kilometer — der Sonne gerade
gegenüber, er erscheint also für unser Auge voll vom Sonnenlichte beleuchtet.
In dieser Stellung zur Erde erscheint er, obwohl er viel kleiner ist als unsre
Erde — er hat einen Durchmesser von nur 6700 Kilometern, und seine Gesamt¬
masse beträgt nur den zehnten Teil von der der Erde —, in den stärker» astro¬
nomischen Fernröhren als eine ziemlich große runde Scheibe, auf der in raschem
Wechsel dunkle und helle Teile auf einander folgen. Schon die unvollkom¬
meneren optischen Instrumente der frühern Zeiten ließen dunkle Flecken auf der
Marsoberfläche erkennen, und so war es von jeher ein Lieblingsstudium der
Astronomen, die Oberflächenbeschaffenheit des Mars zu erforschen. Zu der so
ausnehmend günstigen Stellung, in die der Planet zu unsrer Erde kommt,
kamen aber noch Erwägungen andrer Art, welche hoffen ließen, aus der Ober¬
flächenbeschaffenheit des Mars nicht nur interessante Aufschlüsse über die Ver¬
hältnisse und Erscheinungen auf diesem Planeten selbst, sondern auch rückschließend
über die großen Wandlungen in der Entwicklungsgeschichte unsrer Erde zu er¬
langen. Der Mars ist nämlich derjenige unter den Planeten, der die nächsten
verwandtschaftlichen Beziehungen zur Erde hat. Ist er, was nicht unwahr¬
scheinlich ist, der nächstältere Bruder der Erde, so dürfen wir annehmen, daß
die Erscheinungen auf seiner Oberfläche uns bis zu einem gewissen Grade ein
Zukunftsbild unsers eignen Planeten entrollen werden, wodurch er das aller¬
größte und allgemeinste Interesse erlangt. Die Ähnlichkeiten mit den Erscheinungen
und Vorgängen auf der Erde sind vielleicht sogar noch vollständiger, als es
auf den ersten Blick scheinen mag. Die Bedingungen für die Übereinstimmung
in dem Lcbensprozesse der Planetenoberflächen, und namentlich auch für das
Vorhandensein organischer Wesen, sind ja ganz wesentlich in dem Grade der
Bestrahlung dieser Welten durch die Sonne gegeben. Nun scheint es freilich,
daß es wegen der größern Entfernung des Mars von der Sonne auf seiner
Oberfläche viel kälter sein müsse, als auf der Erde. Indessen kommt ein Um¬
stand von großer Bedeutung für die klimatischen Verhältnisse aus den Planeten
hinzu, der es sehr wahrscheinlich macht, daß die Temperatur auf dem Mars
durchaus nicht so viel niedriger ist, als es ohnedies wohl sein müßte. Es ist
eine bekannte Thatsache, daß es auf hohen Bergen viel kälter ist, als in nie¬
driger gelegenen Gebieten, und es rührt dies wesentlich daher, daß oben die
Ausstrahlung der von der Erde empfangenen Sonnenwärme rascher und unge¬
hinderter stattfinden kann als unten. Wie wir nun gleich aus der Betrachtung
der Marskarte sehen werden, besitzt dieser Planet sehr wahrscheinlich eine viel
dichtere Atmosphäre als die Erde, die von der Marsoberfläche erhaltene Er¬
wärmung durch die Sonne wird daher in geringerm Maße in den Weltraum
ausgestrahlt werdeu, als dies auf unserm Planeten der Fall ist. Es wird also
dadurch die Oberfläche in höherer Temperatur erhalten und somit eine Aus¬
gleichung gegen die geringere Bestrahlung bewirkt. Diese Verhältnisse, welche der
Möglichkeit des Vorhandenseins organischer Wesen auf dem Mars sehr günstig
sind, verleihen den Beobachtungen der Marsvberflciche einen besondern Reiz.
Sehen wir uns nun etwas näher an, was man auf dem Mars erblickt
hat, und wie die Marskarte zu stände gekommen ist.
Die ersten Anfänge der Entdeckung auffälliger Bildungen auf dem Planeten
Mars wurden schon im Jahrhundert der Erfindung des Fernrohrs gemacht,
indem der Astronom Fontana im Jahre 1636 die großen dunkeln Flecken auf
der leuchtenden Marsscheibe auffand, die dann, weil sie keine Verschiebungen
zeigten, von dem älteren Cassini bald zur Bestimmung der Umdrehungsdauer
des Planeten Mars verwendet wurden. Schon damals fand sich, daß die
Marstage fast gleich groß mit den Erdentagen sind; ihr Unterschied beträgt nur
etwa eine halbe Stunde. Indessen waren die damaligen Fernrohre noch zu
unvollkommen, um Einzelheiten auf der Marsoberfläche erkennen zu lassen, und
so wurde erst — etwa ein Jahrhundert später — durch Herschel, der sich be¬
kanntlich ein Riesenteleskop gebaut hatte, ein weiterer Fortschritt in der Er¬
forschung des Mars gemacht. Herschel hatte in der Nähe der Marspole das
Periodische Auftreten merkwürdiger Flecken beobachtet, deren Entstehen und Ver¬
gehen er schon mit dem Wechsel der Jahreszeiten auf dem Planeten erklärte;
er meinte, daß der Winter Eismassen in der Polarzone bilde, welche im Sommer
großenteils wieder wegschmölzen. Den nächsten, sehr wertvollen Beitrag zur
Erforschung der Marsoberfläche lieferte der Lilienthaler Astronom Schröter,
der 217 Zeichnungen der Marsoberflüche anfertigte. Diese Zeugnisse über das
frühere Aussehen des Mars sind in neuerer Zeit mit neueren Beobachtungen
verglichen worden, und sie beweisen, daß die merkwürdigen großen Oberslächen¬
gebilde des Mars keine Veränderung erfahren haben. Zu demselben Ergebnis
kamen Beer und Mädler in Berlin, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts
sehr sorgfältige Beschreibungen hervorragender Oberflächengebilde des Mars
lieferten, seine Umdrehungsdauer genauer bestimmten, und die UnVeränderlichkeit
im Aussehen einiger Gebilde während der Dauer mehrerer Jahre nachwiesen.
Den ersten Versuch, eine Weltkarte des Mars zu entwerfen, verdanken wir
aber dem Leidener Astronomen Kaiser, der in den sechziger Jahren sehr sorg¬
fältige Beobachtungen über die Marsoberfläche anstellte.
Die Hauptschwierigkeit, welche bei der Anfertigung der Marskarten zu
bewältigen war, bestand darin, daß man bei den früheren Marsbeobachtungen
die einzelnen Oberslächenteile nicht vollständig festhalten konnte: vermöge der
Umdrehung um seine Achse zeigte der Planet bald diese, bald jene Seite der
Oberfläche; diese Schwierigkeit wurde noch erhöht durch die Neigung der Um-
drehungsachse gegen unsre Gesichtslinie. Erst nachdem es gelungen war, die
Lage der Marspole und des Marsäquators, sowie seine genaue Umdrehungs¬
geschwindigkeit zu bestimmen, konnte man die einzelnen Oberflächenteile in ihrer
richtigen Lage auf der Marskugel bestimmen und somit an die Konstruktion
der Marskarte gehen. Diese wurde nun ganz ebenso ausgeführt, wie man es
bei der Anfertigung einer Erdkarte macht. Die Lage der Pole ist dadurch
bestimmt, daß sie an der täglichen Umdrehung nicht teilnehmen, der Äquator
liegt um einen Viertel Marsumfaug von ihnen entfernt, und wenn man dann
auf diesem Marsäquator einen Punkt ein für alle mal annimmt, von dem
aus man die Entfernungen zählt (auf der Erde der der Insel Ferro am nächsten
liegende Äquatorpunkt), so hat man das Netz für die Marskarte gefunden, in
welches dann die verschiedenen Gebilde der Oberfläche eingetragen werden. Nur
mit Hilfe einer solchen Karte ist es möglich, die einzelnen Gegenstände sicher
zu bestimmen, wiederaufzufinden und Verwechslungen vorzubeugen. Diese
Vorbedingungen sind nun bei den neuern und neuesten Marsforschungen mit
einem großen Maße von Genauigkeit erfüllt, und die ersten guten Marskartcn
von Kaiser, Schiaparelli und Lohse zeigen die Erscheinungen der Marsoberfläche
mit großer Zuverlässigkeit. Auf einer solchen Karte treten zunächst neben großen
hellen Gebieten eine Menge dunkler Flecken hervor. In den erster» hat man
die Verteilung des Festlandes, in den letztern die großen Meere zu erkennen.
Die Verteilung von Wasser und Land auf dem Mars ist insofern den ent¬
sprechenden Verhältnissen auf der Erde ähnlich, als auch dort das Meer viel
größere Oberflächenteile einnimmt als das Festland. Aber ein ganz verschiedenes
Aussehen gewinnt die Marskarte dadurch, daß sich auf ihr das Festland viel
mehr durch Wasserarme durchzogen zeigt, als bei uns.
Die ausführlicheren Marskarten, welche sehr merkwürdige Einzelheiten
auf dem Planeten zeigen, stammen aber erst aus den letzten Jahren. Der
Mailänder Astronom Schiaparelli war bei der Annäherung des Mars an
unsre Erde im Jahre 1877 von der Menge der Einzelheiten, die er auf dem
Mars sehen konnte, so überrascht, daß er sofort beschloß, eine ausführliche
Marskarte zu entwerfen. Die Hauptkarte, welche so entstand, ist wie unsre
allgemeinen Erdkarten in Merkators Projektion entworfen. Das Festland ist
weiß, das Meer blau dargestellt. Eine weitere Spezialkarte stellt die Gegend
des Südpols des Mars dar, eine Partie, die wegen des Entstehens und Weg-
schmclzens großer Eis- und Schneemassen in den verschiedenen Jahreszeiten,
welches man dort beobachten kann, besondres Interesse bietet. Diese große Eis-
und Schneeregion auf dem Mars ist auch schon in frühern Zeiten beobachtet
worden, so in den Jahren 1830 und 1862, nur zeigt sie die Merkwürdigkeit,
daß sie dem Einfluß der Jahreszeit viel mehr unterworfen ist, als dies auf
der Erde mit dem Polareis der Fall ist. Diese Erscheinung findet jedoch ihre
genügende Erklärung darin, daß die Sonne auf dem Mars im Sommer viel
höher steigt als auf der Erde, und daß die Jahreszeiten beträchtlich länger
dauern, als bei uns. Die verschiednen dauernden Gebilde auf dem Mars, die
Festländer, Vorgebirge, Inseln, Meere, Flüsse und Kanäle, sind von Schia-
parelli mit Namen bezeichnet worden, die meist der alten Geographie entlehnt
sind. Obwohl nun diese Karte schon unvergleichlich viel reicher ist als alle
frühern, namentlich bezüglich der kleinern Bildungen, der Kanäle, so durfte
man doch noch größere Hoffnungen an die nächste Wiederkehr des Mars zur
Erdnähe knüpfen. In der That brachten die folgenden Annäherungen des
Mars — sie finden ungefähr aller zwei Jahre statt — überraschende Er¬
scheinungen. Zunächst fand Schiaparelli 1879 bis 1880 alle 1877 gesehenen
Gebilde wieder. Damit war wieder dargethan, daß man es mit festen Ober¬
flächenbildungen zu thun hatte. Zwei kleinere Gebilde, ein See am Delarue-
Ozean und ein Kanal, der 1877 nördlich von der Gabelbai gelegen war, waren
1879 unsichtbar, dagegen 1881 auf 1882 wieder sichtbar. Während der Sicht¬
barkeitsdauer 1879 auf 1880 hat Schiaparelli 114 Gegenstände gemessen und
auf der Marskarte verzeichnet. Das Aussehen des Mars in diesen beiden
Erscheinungen bot noch eine besondre Merkwürdigkeit, die früher nicht gesehen
worden war. Gewisse Regionen leuchteten in besondern: Glänze, und die Be¬
grenzungen der Ländermassen waren bald scharf gezeichnet, bald mehr ver¬
schwommen. Auch die Farbe der Äquatorialzone des Mars erschien geändert.
1877 erschien sie rot mit weiß untermischt, 1882 war sie von Schatten bedeckt,
in deren Nähe gelbe Flecken sichtbar waren. Diese Schatten zogen sich später
zu dunkeln Linien zusammen, die gelbe Färbung verschwand, und eine große
Fläche (Ozean und Golf Alcyonius), die früher nur verschwommen erschien,
löste sich in Bilder scharfer dunkler Linien auf.
Die merkwürdigste Erscheinung aber, welche in den letzten Jahren auf der
Marsoberfläche beobachtet worden ist, bildet unzweifelhaft die Verdoppelung der
Verbindungsadern zwischen den Meeren, der Kanäle. Gerade diese Thatsache,
daß scheinbar zweckmäßig angelegte Wasserstraßen, die zur Verbindung getrennter
Meere die Länder durchziehen und früher als einfache Kanäle gesehen wurden,
plötzlich verdoppelt erschienen, mußte zu den überraschendsten Kombinationen
führen. Diese neuen Kanäle erschienen so regelmäßig gebaut, daß sie den alten
genau parallel folgten und dieselbe Breite hatten. So lange man über die Art
und Zeitdauer der Bildung dieser neuen Erscheinungen nichts näheres beobachtet
hatte, konnte man über ihr Entstehen die kühnsten Hypothesen äußern, und es
lag der Gedanke nicht fern, sie für künstliche Bauwerke zu halten. Indessen
diese Hypothese mußte fallen, sobald die kurze Zeitdauer ihrer Bildung beobachtet
war. Von den mehr als zwanzig neuen Kanälen, die Schiciparelli auf seiner
Karte verzeichnen konnte, wollen wir nur die Bildungsweise eines einzigen heraus¬
greifen. In der Gegend des südlichen Wendekreises konnte 1877 kein einziger
Kanal doppelt gesehen werden. Der große, auf der Karte Nil benannte Kanal
erschien bis zum 24. Dezember 1879 scharf ausgesprochen, einfach. Aber schon
am 26. Dezember war die Verdoppelung des Kanals zu sehen. Auch Anfang
1882 war sie, nachdem sie kurz zuvor noch unsichtbar gewesen war, deutlich
wieder zu sehen und konnte vom 12. Januar bis Ende Februar gut verfolgt
werden. In den beiden folgenden Annäherungen des Mars an die Erde 1884
und 1886 wurden die Einzelheiten der Marskarte immer wieder in Übereinstim¬
mung mit dem Himmel gefunden und weitere neue kleine Bildungen beobachtet.
Im Frühjahr des laufenden Jahres hat auch der Nizzaer Astronom Perrotin
einige neue bemerkenswerte Veränderungen am Mars beobachtet, die er in eine
von ihm entworfene Marskarte eingezeichnet hat. Perrotin meint, die Mars¬
kanäle erschienen bestimmt als Verbindungen zwischen den Meeren der beiden
Marshalbkugeln, oder auch um die einzelnen Teile desselben Meeres zu ver¬
binden, oder schließlich auch als Verbindungen zwischen den Kanälen selbst. Und
in der That zeigt die Marskarte ein solches Gewirr durcheinander laufender
dunkler Linien. Während das Aussehen dieser Kanäle nach Perrotin gegen
die Erscheinung von 1886 in diesem Jahre sich im allgemeinen nicht verändert
hat, zeigten sich vor zwei Monaten gegen die frühern Jahre doch drei auffällige
Veränderungen am Mars. Die merkwürdigste ist das jetzt völlige Verschwunden¬
sein eines Festlandes von der Größe Deutschlands, das 1886 noch gut zu sehen
war und auch auf der ältern Karte des Mars verzeichnet ist. Dieses Land
lag in der Nähe des Äquators und war im Süden und Osten durch ein Meer
begrenzt; es macht den Eindruck, als wenn es vom Meere verschlungen worden
wäre. Ferner enthalten die frühern Marskarten, die viel kleinere Gebilde in
großer Vollständigkeit haben, einen Kanal nicht, der jetzt gut sichtbar ist, eine
Länge von 20 Grad hat und wegen seiner Augenfälligkeit nicht übersehen werden
kann. Dieser Kanal liegt im Norden des verschwundenen Festlandes und muß
eine neue Bildung sein, die innerhalb der letzten zwei Jahre entstanden ist. Eine
dritte auffällige Veränderung gegenüber den bisherigen Marskarten ist ein großer
Kanal, der durch das Nordpolareis des Mars zieht und sich weiter über den
Planeten erstreckt.
Wie wir sehen, wird die Marskarte immer mehr vervollkommnet, gerade
so, wie etwa in den letzten Jahren unsre Karten von Afrika immer mehr Einzel¬
heiten erhalten haben. Nur in einem Punkte unterscheiden sich noch die beiden
Kartenwerke: die Marskarten scheinen periodischen Veränderungen unterworfen
zu sein, was bei den Erdkarten kaum vorkommt. Dazu kommt, daß die bis¬
herigen Beobachtungen des Mars das Vorhandensein einer sehr bedeutenden
Atmosphäre um ihn gezeigt haben und die Anwesenheit sehr großer Flüssigkeits¬
massen wahrscheinlich machen. Daraus läßt sich vermuten, daß das zeitweilige
Unsichtbarsein so mächtiger Kanäle entweder durch die zufällige Beschaffenheit
der Atmosphäre hervorgerufen sei, oder daß sie wirklich zu Zeiten, von Flüssig¬
keiten frei, wie Länderstrecken erscheinen, zu andern wieder wirklich Wasserstraßen
seien. Recht gut würde dazu auch die Annahme passen, daß das Überfluten
eines so großen Ländergebietes, wie es in diesem Frühjahre beobachtet worden
ist, in der Wechselwirkung zwischen Meer und Atmosphäre seine Ursache habe.
Hoffentlich werde» wir bei den zu erwartenden Annäherungen des Mars in
den neunziger Jahren dieses Jahrhunderts noch näheres über diese merkwürdigen
Verhältnisse erfahren. Ob wir freilich jemals in die Lage kommen werden,
eine Reliefkarte des Mars zu gewinnen, wie wir sie von der Erde und auch
vom Monde bereits haben, muß man jetzt noch stark bezweifeln.
ber es drängt mich zum Ende, auch über die Zeit hinweg, die
nach jenen Träumen von 1800 in so furchtbarem Widerspruche
folgen sollte, über das verzweifelte Wanken und Schwanken
unsrer äußern und innern Zustände hinweg, wo eintraf, was
Leibniz und schon Nicolaus von Cues voraus gefürchtet hatten,
daß Deutschland zusammenbrach und alles durcheinander purzelte unter den
Schlägen und Fußtritten des westlichen Nachbarn, der seit Jahrhunderten auf
den Augenblick gelauert und ihn, an uns von außen und innen nagend, unter
Mitwirkung der Vaterlandsverräter vorbereitet hatte. Gab es doch Deutsche, die
in der verzweifelten Lage in Napoleon selbst den Gotteshelden sehen wollten, der
die Welt, auch die deutsche, verjüngen sollte, als wäre er der deutsche Held der
alten Prophezeiung, der seinen Schild an den Weltgerichtsbaum henken sollte ze.,
der Erfüller von dem, was der große Friedrich begonnen hatte. Gerade auf
Friedrichs Schöpfung drückte der Corse, sein vermeintlicher Nachfolger, am
stärksten, um den letzten Widerstand loszuwerden, traf aber da die Stelle, in
der sich der deutsche Geist die größte Schnellkraft gesammelt hatte, die sich dann,
wie einst die Kraft der Cherusker gegen die Römer, gegen den vernichtenden
Druck aufschnellte und sich auch dem deutschen Volke mitteilen sollte, nicht nur
vorübergehend, sodaß auch der tragische Ausgang des Cheruskerhelden nun aus¬
blieb und sich in sein Gegenteil verkehrte, wie wir es selbst vollends erlebt
haben: die Geschichte hat uns endlich, endlich gewitzigt.
Auch die edeln Sänger der Befreiungskriege müssen übergangen werden,
Körner, Schenkendorf, Arndt, Fouqu6, Rückert, Kleist:c. (auch Fr. Schlegel erschien
nun unter ihnen), die, wie der Philosoph Fichte in seinen Reden an die Nation,
zugleich als echte Propheten wirkten, nicht in ferne Höhe schauend, sondern un¬
mittelbar in die Geister und Willen gewaltig eingreifend als Lenker, Sporner
und Ermutiger, zum Teil selbst mit dem Schwerte in der Hand. Nur von
Goethe muß noch die Rede sein, doch auch nur kurz, denn eine Besprechung
seines eigenartigen, ja seltsamen Verhältnisses zur deutschen Lebensfrage wäre
eine Arbeit für sich. Aber man fragt unwillkürlich nach ihm, wie man damals
that, was er zu den unerhörten Kämpfen und Nöten seines Vaterlandes dachte,
wollte und that, er, der sich so oft und früh schon selbst als Propheten gefühlt
und bezeichnet hat. Er war ja allein übrig von den Führern der großen Zeit,
an sich der größte von ihnen, während es Schillern wie Herdern, auch Klop-
stock und Kant eben noch erspart worden war, das längst geahnte tiefste Elend
ihres Volkes im Alter mit anzusehen.
Goethe war, kann man sagen, ganz Grieche geworden, d. h. auf dem von
Opitz eingeschlagenen Rettungswege bis ans Ende geschritten; er sah vom alten
Helicon auf die Barbarei der Zeit herab und auf die wilde Brandung der
culturzerstörenden Wogen der Politik, wie er es ansah, um dort auf heiliger
Kunsthöhe in sich ruhig bleiben zu können; flüchtete er sich doch nachher, merk¬
würdig genug zu einer Zeit, wo es nicht mehr nötig schien, noch weiter hinaus
in den „reinen Osten," um da „Patriarchenluft zu kosten" und bei seinem reinen
Blumenleben zu bleiben, ein rechter Vertreter der deutschen Ideologie. Auch
andre verwandte Geister hatten in Hellas ihre ästhetische Rettung aus der
deutschen Not gesucht, waren aber auch ins Vaterland zurückgekehrt, z. B. Schiller
im Tell. Auch Goethe that das endlich, versuchsweise schon in Hermann und
Dorothea, aber es wurde ihm schwer, und erst die wachsenden Erfolge der
romantischen Schule im Auslande brachten bei ihm das Gefühl zum Durch¬
bruch, wie es dem Hellenismus gegenüber nötig und einzig natürlich sei, wieder
„Zeitgenosse seiner selbst" zu werden, also den Riß, die Kluft im eignen Innern
aufzuheben. Eine solche Kluft zwischen sich und den Deutschen spricht aus
Vielen seiner Ausspriiche über die Deutschen, ich weiß noch, welches Weh sie
mir vor Jahren erweckten, wenn das oft klang, als rede er von ihnen wie aus
dem Monde herunter, als gingen sie ihn nichts weiter an, außer wo es zu
schelten, ja zu schimpfen galt. Aber auch darin war er ein Kind seiner schlimmen
Zeit. Es ist noch nicht lange her, daß es förmlich guter Ton war, von den
Deutschen, den „guten Deutschen" so zu reden, daß man sich außer ihnen hinaus,
möglichst hoch über sie stellte, um sich selbst sicher als etwas Rechtes für sich
zu fühlen; wer die Erscheinung nachträglich studieren wollte, würde wohl finden,
daß auch das erst seit 1870 langsam aus der Mode gekommen ist. Wie es
früher entwickelt war, kann man z. B. an einer brieflichen Äußerung Knebels
an Goethe vom 12. März 1814 empfinden, die doch auch die Umkehr zeigt:
„Die Deutschen geben sich jetzt Mühe, wie es scheint, ihre Nation zu einer
Nation zu bilden," wohlbemerkt noch im März 1814 nur „wie es scheint"!
und „die Deutschen," so als ob er durchaus draußen stünde, fern und hoch wie
ein unbeteiligter kühler Gelehrter, der für eine Geschichte Notizen sammelt.
Allerdings heißt es dann, mit Umkehr: „Dahin sollten alle Hände oder vielmehr
Köpfe gerichtet sein" und: „den braven guten Willen, den gegenwärtig die
Nation zeigt, hätte man auch kaum erwarten können." Hätten aber alle be¬
rufenen Geister so gedacht und sich so kühl fern gehalten, bis allenfalls solche
Stöße an sie kamen, wie damals bis ins Jahr 1806 zurück, hätten z. B. auch
Leibniz, Fichte, Schleiermacher, Stein und die Tapfern alle so gedacht und
geredet und gewirkt, was wäre aus uns geworden? Da dachte die Französin,
durch deren Schrift ac 1'^.lleing.Alls die Äußerung Knebels veranlaßt war,
anders von uns als die deutschen Weimaraner; in der Vorrede vom 1. October
1813, also vor der Leipziger Schlacht, schreibt sie: ^'in an aus les ^llowanäs
n'vtoient xg,8 rav vation, mais cerdo8 ils äonvout an mena« waintsvMt
ä'Köroiougs ä^me-litis Z. oetts e-ranke, spricht dann auch von der Schande der
deutschen Landsleute, die ihren Unterdrückern beistehen, an mchris as leurs
meines, Iss ?rimyg,i8, sie mag ihre Namen gar nicht nennen. So hatte
die Fremde die gesunde Empfindung für uns, die bei uns so gebrochen war!
Den einzigen Trost dabei giebt die Geschichte um ein Paar Jahrhunderte rück¬
wärts, wo klar wird, wie auch dieser Schandzustand lange vorbereitet und aus
den jammervollen deutschen Reichsverhältnissen erwachsen war, er ist nun aber
auch in der Wurzel abgeschnitten.
Was Goethe in den entsetzlichen Jahren in sich doch gelitten hat als
Deutscher und als Mensch, davon wäre viel zu sagen, er war geübt, dergleichen
in sich zu verbergen und still zu verdauen, wenn ers nicht als Dichter ver¬
arbeiten konnte. Nur als Probe die merkwürdige Auslassung gegen den
Kanzler von Müller vom 14. December 1803: „Ich studiere jetzt die ältere
französische Litteratur ganz gründlich wieder, um ein ernstes Wort mit den
Franzosen sprechen zu können," in welchem Sinne, wird leider nicht klar, es
scheint, um ihnen zeigen zu können, wie die deutsche Cultur, obschon weit
jünger, doch der ihren nun ebenbürtig, Achtung und Schonung fordern könne.
Denn politisch ist es gar nicht gemeint, es heißt dann vielmehr geradezu:
„Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel, und doch bilden
sich Letztere gerade das Umgekehrte ein," wunderlicher, schroffster Widerspruch
gegen die, die noch an Deutschland glaubten und es eben damit retteten, und
doch zugleich wunderbarer Umschlag von der Geringschätzung ins gerade Gegen¬
teil. Dann aber als sein Trost und seine Hoffnung: „Verpflanzt und zerstreut
wie die Juden in alle Welt müssen die Deutschen werden, um die Masse des
Guten ganz und zum Heil aller Nationen zu entwickeln, die in ihnen liegt."
Wie die Juden! ihm kam also die Lage Deutschlands selbst vor, wie die des
Judenstaates nach der Zerstörung von Jerusalem. So stand es da in einem
Geiste, wie Goethes, der so hoch und weit über die Weite der Welt hinblickte.
Er sucht sich ebeu auch den Trost in der Weite, daß die Deutschen doch einen
Wert für die Welt behielten — als Völkerdünger, wie man das nachher genannt
hat. Denn es war in der Geschichte schon einmal dagewesen, am Ende des
verrottenden Altertums, als Beginn der deutschen Geschichte, und sollte nun
ihr Ende werden! Wir aus der Zeit vor 1848 haben an dem Gedanken noch
oft kauen müssen, so lag er in der Luft (Goethes Äußerung ist erst 1870 be¬
kannt geworden), wenn auch nun mehr mit Zorn oder Spott behandelt. Wir
dachten zum letzten Trost an die alten Griechen, die am Ende ihrer nationalen
Geschichte so der Cnlturdünger der Welt wurden, wie wir uns auch für das
Misverhältnis zwischen Preußen und Österreich Trost suchten bei dem Ver¬
hältnis zwischen Athen und Sparta. Was übrigens Goethe da meinte als
Trost beim Verzichte auf ein Vaterland, das geschieht ja nun doch wirklich in
alle Weite, wie es nach dem Osten schon seit dem Mittelalter im Gange war,
aber es geschieht neben der Wiederherstellung des Mutterlandes, und beide
Arbeiten fördern einander wechselseitig, die in der weiten Welt und die in der
Heimat. Wie aber Goethe später, nach der vorläufigen Wiederherstellung durch
die Freiheitskriege, von den Deutschen ganz anders dachte, davon auch eine
Probe aus den Sprüchen in Prosa (Ur. 512): „Der Deutsche läuft keine größere
Gefahr, als sich mit und an seinen Nachbarn zu steigern. Es ist vielleicht keine
Nation geeigneter, sich aus sich selbst zu entwickeln, deswegen es ihr zum größten
Vorteil gereichte, daß die Außenwelt von ihr so spät Notiz nahm," also die
Deutschen, nun auch als Nation anerkannt, ganz auf sich selbst gestellt, sich
selbst genug für alle Entwickelung der Zukunft, während in jener Äußerung von
1808 ihr Heil und Wert im zersplitternden Aufgehen in den andern Völkern
gesucht wurde. Es ist freilich von Litteratur und Kunst gemeint, aber
ein mutiges hohes Prophetenwort, das wir nun auch politisch anzuwenden
allen Anlaß haben, wie es wissenschaftlich genommen auch längst im besten
Gange ist.
Als die bösen Zeiten, die bösesten unsrer Geschichte, durchgelitten und durch¬
gekämpft waren, wobei Brandenburg-Preußen der ihm von der alten Prophe¬
zeiung des Kaisers Sigismund zugewiesenen Aufgabe genug gethan hatte, und
ein neuer Tag mit ahnungsvollem Morgenrot aufstieg nach der langen, bangen,
öden, kalten Nacht, die man sich ja um Jahrhunderte zurück ausdehnen kann,
da kam Goethen die Gelegenheit in die Hand, sich vor der Nation darüber aus¬
zusprechen. Als Aufforderung dazu konnte er schon im Jahre 1809 die Worte
in I. Pauls „Dämmerungen für Deutschland" (unsicher, ob Abend- oder Morgen¬
dämmerung) in der Vorrede ansehen: „Mit den deutschen Wunden sind zugleich
auch die deutschen Ohren offen, daher rede Heilsames, wer es vermag, und
möchten nur Männer, die es am besten vermöchten, jetzo nicht schweigen!" Schon
im Jahre 1793 mahnte ihn die Fürstin Gallitzin: „ach Lieber, Sie sollen
darauf denken, unsre schläfrige Nation etwas aufzuwecken über ihre jetzige Lage"
(Goethe-Jahrbuch 3, 285). Er hatte sich ja auch ausgesprochen über die po¬
litisch-nationalen Dinge von damals, in dem Mährchen vom Jahre 1796, aber
so im Tone des Mährchenrätsels, daß es bis heute noch nicht eigentlich gelöst
ist, was konnte der romantische „Spaß" im furchtbaren Ernst und Drang der
Zeit helfen? Nun kam aber im Mai 1814 von Berlin aus Jffland an ihn:
„Seit Luthers Reformation ist kein so hohes Werk, dünkt mich, geschehen, als
die jetzige Befreiung von Deutschland. Begeisterung hat alle Menschen ergriffen.
Es giebt keine höhere Feier als die, daß der erste Mann der Nation über diese
hohe Begebenheit schreibt." Und Jffland sprach im Sinne Tausender. Wer
nun aufatmend aufsah und sich umsah nach einem, der für die Nation und zu
ihr das Segenswort zu reden hätte, der sah Goethen in dieser Stelle, nachdem
Schiller zu früh abberufen war. Er war eben mehr für die Nation als bloß
Dichter, oder der Begriff Dichter rückte nun in der Erregung der Zeit von selbst
wieder in das alte Licht und die Würde ein, wie z. B. zu den Zeiten Walthers
von der Vogelweide, daß er zugleich der höchste nationale Berater und Prophet
zu sein habe. Las man doch noch 1839 im Vorwort der Ausgabe von Goethes
Briefen an die Gräfin Auguste zu Stolberg das merkwürdige Wort, aber recht
deutsch nach altem Begriffe: „Goethe ist, so lange die Deutschen keinen öffent¬
lichen politischen Charakter haben, der öffentlichste Charakter. Die Dankbarkeit,
Verehrung und Liebe, die wir alle in unserm Herzen aufgespart haben für einen
großen deutschen Mann, sind wir geneigt Einstweilen) zu übertragen auf einen
großen deutschen Dichter." Also, können wir fünfzig Jahre später nun sagen,
Goethe als Abschlagszahlung des deutschen Genius auf Bismarck genommen,
die Dichterwelt als Prophetie auf eine neue wirkliche Welt, für die sich dann
auch eine neue politische Form des Ganzen von selbst verstand. So tröstete
sich und seine Deutschen I. Paul im Jahre 1809 in den Dämmerungen und
mahnte in Prophetenhaltung: „Ist das vaterländische Feuer erloschen und haben
die Vestalen nicht gewacht, so holet es, wie der Römer seines von der Sonne
Wieder, vom himmlischen Musengott" (Werke 1827 33, 148). Und so kam es,
war schon längst still im Gange.
Nun war denn das vaterländische Feuer in Tausenden von Herzen wie
auf seinem heiligen Herde wieder entfacht zur vollen Flamme und leuchtete auch
aus großen Thaten und Erfolgen in die Welt hinaus, wie es seit Jahrhun¬
derten nicht mehr geschehen war, leuchtete als ahnungsvolles Morgenrot eines
neuen vaterländischen Tages. Und Goethe, der selbst den Funken des Prome¬
theus dazu vom Himmel geholt hatte, wenn auch mehr für die Menschheit als
für das Deutschtum, sollte dazu treten und es als Priester segnen. Das hat
er denn gethan in „des Epimenides Erwachen." Er war noch nicht genug
wieder Deutscher geworden, um es anders thun zu können als in griechischer
Maske. Das Stück, mit der Spannung der wunderbar gehobenen Zeitstim¬
mung erwartet, begegnete vieler Enttäuschung. Man brauchte unmittelbare Wir¬
kung in dem unmittelbaren Leben, das man wieder schmeckte, und sollte sie sich
durch Gelehrsamkeit vermittelt zusammensuchen, sodaß die Nichtgelehrtcn von
vornherein davon ausgeschlossen waren. Ja hätte Schiller noch zehn Jahre
länger leben und das Stück schreiben können, wie hätte er seine hohen Pro¬
phetenworte vom Jahre 1800 nun nach der politischen Seite, für die er den
höchsten Sinn hatte, ergänzt vortragen können! Goethe mußte dazu sich gleich¬
sam selbst überspringen, um ein Jahrzehnt oder mehr über sich selbst hinaus
und voraus springen, denn bei Eckermann später findet man ihn in Stimmungen
(z. B. am 14. März 1830), die für die Aufgabe die brauchbaren gewesen wären.
Er hat aber das Überspringen seiner selbst, das Schwerste, was einem auf¬
gegeben werden kann, doch auch tapfer geleistet. Er hat als Epimenides die
düstere Nacht der furchtbaren Zeit verschlafen und verträumt und sieht nun
beim Erwachen auf einmal die ungeheure Wandlung, sieht, was vollbracht ist
ohne sein Zuthun, und — erklärt vor seinem Volke geradezu ein x^lor xsevavi,
sieht es nun über sich, nicht mehr unter sich (2. Aufzug, 9. Auftritt):
Doch Scham' ich mich der Ruhestunden,
Mit euch zu leiden war Gewinn:
Denn sür den Schmerz, den ihr empfunden,
Seid ihr auch größer als ich bin.
Man muß, um das zu begreifen, in den Erinnerungen der Malerin Louise
Seidler nachlesen, wie ihn Professor Kieser bei einem Besuche am 12. De¬
cember 1813 fand (2. Auflage S. 104), nämlich erschüttert bis in die Grund¬
festen seines Wesens, weil die Braudung der neuen Begeisterung nun auch in
Weimar selbst an ihn kam und ihn unentrinnbar umfing, daß es ihm über den
Wert der Nation und die wahre Bedeutung des Geschehenden recht eigentlich
wie Schuppen von den Augen fiel; er beichtete in einer unerhörten Aufregung
vor Kiesern wie vor einem Vertreter der von ihm gekränkten Nation, und ent¬
wickelte einen großen Plan, wie er selbst nun eingreifen wolle, den Kieser leider
als Geheimnis behandelt und dem Briefe nicht anvertrauen mag. Jenes Be¬
kenntnis und Ehrenerklärung des Epimenides stammt aus dem Gedankenkreise,
den Kieser da leider nur andeutet, und wenn man in der Goethegemeinde aller¬
meist nicht daran will, daß da in der altgriechischen Maske der Dichter selber
von sich selber von der Bühne herab zur Nation so rede, so geschieht das wohl
nur, weil er ihnen mit der Selbsterniedrigung zu klein würde; ich sehe ihn nir¬
gends größer als da.
Aus der Stimmung jener Stunde begreift sichs auch, wenn er sich nun
zu dem alten vox xoxuli ?ox asi versteht, das zugleich so tief ist und so flach
sein kann, für ihn gleichfalls eine wahre Selbstüberwindung, eine Selbstüber-
springung. Im siebenten Auftritt singt der Chor:
Brüder, auf! die Welt zu befreien!
Kometen winken, die Stund' ist groß u. s. w.
So erschallt nun Gottes Stimme,
Denn des Volkes Stimme sie erschallt,
Und, entflammt von heilgen Grimme,
Folgt des Blitzes Allgewalt.
Gewalt, Blitz, Grimm, alles sonst so unbrauchbar in Goethes Denk- und Em¬
pfindungswelt, und hier, im Licht aus heiliger Höhe gefaßt, unentbehrlich. Er
war eben über sich selbst erhöht durch die Gewalt der Ereignisse und der na¬
tionalen Erhebung: erhöht, wenn das der Goethegemeinde nicht munden will,
kann man auch sagen, aus seiner Ätherhöhe heruntergeholt in die drangvolle
Wirklichkeit, in der eben allein sich alles Leben bewegt, das doch sonst sein rechtes
Stichwort ist, und hier fand sich doch erst die rechte Höhe für ihn, an der
Spitze der Nation. Auch die Volksstimme, mit der er sich selbst hier vorgreift,
ward ihm noch zu einem unentbehrlichen Begriffe, als er sich nachher immer
mehr darein fand, doch mit der Entwickelung des neuen Zeitgeistes zu gehen,
so weit er konnte; hatte er doch das Gesunde darin selbst halb unbewußt mit
pflanzen und Pflegen helfen. So in dem erwähnten Gespräche mit Eckermann
im Jahre 1830 (3, 216), wo von Beranger die Rede ist, von dem er nicht
ohne neidische Regung äußert, „daß der Dichter fast immer als große Volks¬
stimme vernommen wird. Bei uns in Deutschland ist dergleichen nicht möglich.
Wir haben keine Stadt soie Paris^, ja wir haben nicht einmal ein Land, von dem
wir entschieden sagen könnten: hier ist Deutschland! Bloß vor sechzehn Jahren,
als wir endlich die Franzosen los sein wollten, da war Deutschland überall" :c.
(folgt noch Bedeutsames genug): „Deutschland überall" im Jahre 1814 auf so
kurze Zeit, dann eigentlich keins mehr, das wissen ja wir Alten noch aus bitterm
wurmenden Weh, und nun doch „Deutschland überall" auf immer, oder wir
müßten nicht wollen, auch ohne ein deutsches Paris, das alles Leben in sich
aufsaugen will, und das wir gar nicht brauchen können.
Auch als Epimenides, dessen er da nicht gedenkt (er dachte offenbar später
Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.
nicht gern daran zurück), sprach er doch endlich zugleich, aus der griechischen Rolle
fallend, als große Volksstimme, auch wie mit dröhnenden Posaunentöne, z. B.:
Und wir sind alle neugeboren,
Das große Sehnen ist gestillt.
Bei Friedrichs Asche wards geschworen
Und ist auf ewig nun erfüllt —
auf ewig! ja so dachte, fühlte man damals, man sah durch die Befreiung vom
napoleonischen Joche für alles geholfen, wofür doch noch Arbeit, Streit und Leid
genug übrig blieb und bleibt, und doch sind die Worte wie schon für die hohen Stun¬
den von 1870 und wie für unsre nähere Zukunft geschrieben. Ebenso im Munde
des Epimenides:
Ich sehe nun mein frommes Hoffen
Nach Wunderthaten eingetroffen u. s. w.
Und im Liede des Chors am Ende:
Nun sind wir Deutsche wiederum,
Nun sind wir wieder groß u. s. w.
Zusammenhaltet euren Wert,
Und euch ist niemand gleich.
Damit ist zugleich über den Augenblick hinaus in die Zukunft geblickt, stand
er doch mit den Zeitgenossen nun auch wie auf heiliger Bergeshöhe, wie Schiller
damals im Jahre 1800, und doch nun auch ganz anders. Wenn Schiller die
Höhe ganz aus sich selbst und dem deutschen Innern hatte nehmen und sein
prophetisches Ausschauen auf das Innere beschränken müssen, so war oder wurde
nnn, wie Hölderlin zwanzig Jahre vorher geahnt hatte, die Wasserscheide vom
bloßen Innenleben zu neuem wirklichen Leben überschritten, und man sah vor
sich und hinter sich in das Land der deutschen Geschichte mit ganz verschiedenem
Anblick. Auf Wasserscheiden stehen an der Straße gern Capellen zur Andacht,
zu der die Höhe mit ihrem Weitblick den Wanderer ohnehin leicht einladet. Auch
auf dieser Höhe war der deutsche Geist zur Andacht erhöht, von Gott und dem
Heiligen voll. Es ging eine hohe Sonntagsstimmung durch die Lande, zugleich
Frühlingsstimmung, Osterstimmung, wie Schenkendorf in die Geschichte zurück¬
blickend jubelnd ausbrach (Frühlingsgruß 1814):
Vaterland! in tausend Jahren
Kam dir solch ein Frühling kaum.
Auch Epimenides blickt so andächtig hoch gestimmt ins Weite von der noch
nicht erlebten Höhe. Schon im Eingange thut es die Muse für ihn, um voraus
den Grundaccord anzuschlagen (am Schluß der Ansprache):
So ging es mir sGoethcn^, mög es Euch so ergehen,
Daß aller Haß sich suum^ augenblicks entfernte...
Und alle Welt von uns die Eintracht lernte.
Und so genießt das höchste Glück hienieden,
Nach hartem äußern Kampf den innern Frieden.
Frieden, Eintracht: wie reicht das zugleich dem Schlußbilde der alten Prophe¬
zeiungen die Hand, in der des Jupiter im Simplicissimus, wie in Sibyllen
Weissagung aus dem vierzehnten Jahrhundert. Und wenn Goethe die Welt,
die Eintracht von uns lernend wünscht (das Gefühl, daß man ein ganz neues
Leben zu beginnen habe, ging ja durch ganz Europa), wie fällt das in der
Sache zusammen mit dem alten Zuge in der Idee des deutschen Kaisers, der
sich in dem Titel xaoiüou8 ausdrückt, bei Walther von der Vogelweide in der
Mahnung an Kaiser Otto IV. als an seine höchste, letzte Aufgabe, nachdem er
in Deutschland Frieden gemacht: und süövöt al als Kristsvlisit (12, 22 Lach¬
mann). Die hohe Idee war eben wie von selbst nicht nur an die Kaiseridee,
auch an unsre Mittellage in Europa gebunden, die Leibniz so nachdrücklich be¬
tonte. Völlig, als wäre er mit den alten Weissagungen bekannt, schrieb am
3. November 1814 Cornelius aus Rom an Görres, seine Stimmung jugendlich
ausschüttend u. a.: „Ich glaube, Gott will sich aller herrlichen Keime, die in
der deutschen Nation liegen, bedienen, um von ihr aus ein neues Leben, ein
neues Reich seiner Kraft und Herrlichkeit über die Erde zu verbreiten" (Görres
Schriften 8, 435).
Aber Eintracht bei den Deutschen! und der Dichter dachte sie sich offenbar
auch wie nun dauernd, als Muster für Europa. Ja damals war sie da, rein
und groß, eine hübsche Zeit lang, wie lange nicht in unsrer Geschichte, von
einer jugendlichen Begeisterung getragen, wie man sie seit den Kreuzzügen nicht
wieder gesehen hatte. An die dachte man denn auch, wie Cornelius in dem
erwähnten Briefe, wie Schenkendorf öfter, wie Körner: „Es ist ein Kreuzzug,
ist ein Heilger Krieg," und auch das als Kriegszeichen gestiftete eiserne Kreuz
faßte man so auf. Nehmen wir Goethes Wunsch aus den wunderbaren Tagen
von 1814 als mahnendes Prophetenwort für die Zukunft, für das wir thun
was wir können! Geschieht es doch schon, freilich mehr zwangsweise, seit bald
zwanzig Jahren.
Ein wichtiges, mehr nüchternes, und doch auch ein Prophetenwort fällt
noch am Schlüsse des Stückes. Epimenides erklärt:
Er öder Höchste) lehrte mich das Gegcnwärtge kennen,
Nun aber soll mein Geist entbrennen,
In fremde Zeiten auszuschaun.
Das ist zunächst wieder ein bloß persönliches Bekenntnis: ich hatte mir die
Gegenwart (in seinem eigentümlichen gedrungenen Sinne genommen) als Ziel
und Umkreis meines Erkennens gesetzt, das Sinnengegebene, die Natur, nun
aber erkenne ich, daß das nicht ausreicht und die Geschichte zur Ergänzung
braucht; man kennt sein Geständnis noch in Wahrheit und Dichtung, daß er der
Weltgeschichte nie etwas habe abgewinnen können. Jetzt aber war er mit er¬
griffen von dem Drang, die ungeheuern Dinge aus der Geschichte begreifend zu
überwinden, sie hatten ihn auch darin über sich selbst erhöht. Er läßt es dann
den Priester aussprechen, wie im Namen der Nation:
Und nun soll Geist und Herz entbrennen,
Vergangnes fühlen, Zukunft schaun:
fühlen, sein altes Wort für gründlich erfassen, bis ins Innerste verstehen, also:
die Vergangenheit gründlich erforschen, um von da aus einen Blick in die Zu¬
kunft zu gewinnen.
Auch das stand schon mit im Programm der Romantik (zuletzt doch auch
aus Herders Jdeenmasse abgeleitet), schon im Jahre 1798 von Friedrich Schlegel
in das knappe Wort gefaßt, das ein geflügeltes geworden ist: „Der Histo¬
riker ist ein rückwärts gekehrter Prophet" (Athenäum 1, 2, 20), von H. Heine
auf Schiller angewandt (die romantische Schule S. 85). Auf Deutschland in
seiner verzweifelten Lage im Jahre 1808 angewandt von Arnim, er schreibt da:
„Dadurch, daß wir erkennten, wie wir geworden, könnten wir zu einem tiefern
Bewußtsein unsrer selbst und zu einem festern Vertrauen auf die Natur unsers
Vaterlandes gelangen. Wenn es lange Zeit und gut war, daß Deutschland sich
in ruhiger Bewußtlosigkeit entwickelte, so machen die Andrange von außen, die
jetzt geschehen, es nötig, daß es in seinem Selbst sich zum Beschluß seiner Be¬
stimmung unter den Völkern sammle" (W. Scherer, I. Grimm S. 42).- Der
Gedanke lag eben für denkende Geister, die in der Höhe Trost suchten, in der
Luft der deutschen Verhältnisse. Hatte ihn doch auch schon Leibniz gehabt, der
deshalb Jahre lang beim kaiserlichen Hofe für Gründung einer historischen
Neichscommission wirkte, an deren Spitze er sich selbst dachte; das war in Wien
freilich vergebliche Mühe, schon den jesuitischen Einflüssen dort gegenüber, ebenso
wie seine langjährige Bemühung für Gründung einer deutschen Akademie, d. h.
einer „deutschgesinnten" Gesellschaft der Wissenschaften, die ihm dann in Berlin
gelang und in seinem Sinne durchaus die zusammenfassende Hebung des deutschen
Geistes und Lebens zum Zweck und Kern hatte, sein Leben lang der Mittel¬
punkt in seinem großen Denken für die Erneuerung und Rettung des Vater¬
landes. Der Gedanke an die Neubegründung vaterländischer Geschichtsforschung
in diesem Sinne ist nur ein Stück aus dem ganzen Plane und tauchte dann
in der Zeit der letzten Kämpfe um das Dasein und der ersten Erfolge von selbst
wieder auf, man konnte ihn aus der Zeit nehmen und brauchte ihn nicht erst
zu entlehnen. So ist er wohl unentlehnt selbständig bei Arnim, bei Goethe,
bei Stein. Denn die Nonunnznta, (?örrn.g.nig,6 nistorioa als Hauptarbeit der
„Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde" sind eine Schöpfung Steins,
womit Leibnizens und Goethes Gedanke zur schönsten Ausführung kommt. Stein
hat selbst mit Goethe darüber verhandelt im Sommer 1815, um ihn für den
Plan zu erwärmen; wie wenig ihm aber das gelang und wie kalt, um nicht
mehr zu sagen, sich Goethe nun dagegen verhielt, daß er seinen eignen hohen Ge-
danken, d. h. die Höhe der vaterländischen Stimmung, aus der er stammte, so¬
bald nachher wieder ganz verloren hatte, kann man im neuesten Goethe-Jahrbuch
S. 90 finden, s. besonders den Brief an Voigt vom 26. August 1816; die „Ver¬
blendung," von der er da spricht, war doch wirklich auf seiner eignen Seite,
dieselbe, aus der man ihn im December 1813 in Kiefers Bericht herausgerissen
sah. Wie gut wieder, daß nicht alle so dachten und empfanden, nachdem der
erste Morgentraum verrauscht war und die harte Tagesarbeit begann.
Die Geschichte eine rückwärts gekehrte Prophetie, das ist eigentlich die
Seele unsrer seitdem verjüngten Geschichtsforschung und Geschichtschreibung ge¬
worden. So ausgesprochen in dem Vorwort zu dem ersten großen Unternehmen
der Art von Perthes, Geschichte der europäischen Staaten, herausgegeben von
Heeren und Ukert 1. Band S. IV: „Damit man sehe, wie im Laufe der Zeit
jeder Staat das geworden ist, was er ist, damit die Gegenwart richtig ver¬
standen und der Blick in die Zukunft, so viel möglich, weniger unsicher werde."
Und in der Einleitung zur Geschichte der Teutschen von dem trefflichen schwä¬
bischen Pfarrer Pfister, die das Unternehmen eröffnete, im 1. Band S. IX:
„Sehr ernste Fragen hat unser Jahrhundert zur Sprache gebracht. Zu ihrer
Lösung soll die Geschichte als Einleitung dienen, und sie wird es, dafür bürgt
der Eifer und die ausgebreitete Thätigkeit, wozu sich eben jetzt so viele ver¬
einigen." Das ist im Jahre 1829 geschrieben, kurz vor den Stürmen von 1830,
denen nachher die von 1848 folgten u. s. w., d. h. die ernsten öffentlichen all¬
gemeinen Fragen, von denen Pfister 1829 sprach, häuften sich und steigerten
sich und rückten uns, jedem Einzelnen, immer näher auf den Leib, daß einer
nach dem andern in die Drehung der gewaltigen Bewegung hereingezogen wurde:
recht eigentlich unsre Lebensfrage, bis ins alltäglichste Erwerbs- und Geschäfts¬
leben herunter, wie bis in das höchste Geistesleben hinauf, eigentlich die eine
Frage: können wir uns als Volk, als lebendiges Ganzes verjüngen aus dem
einst alternden, absterbenden Zustande heraus? und nun auch aus den eingetre¬
tenen wirren Währungen heraus zu einer festen Neugestaltung kommen? Welche
Arbeit für die Geschichte nach allen Seiten, daß sie als Prophetie aus den
Wegen und Irrwegen der Vergangenheit heraus den rechten Weg für die Zu¬
kunft weise!
So war und ist nun das Amt des Prophezeiens, das doch nicht leer
bleiben kann, an die Wissenschaft übergegangen, ist aus einem begeisterten Träumen
oder Schwärmen zu einem ernsten Arbeiten geworden, die Wissenschaft aber damit
geadelt, indem sie mit ihrer sauern, nüchternen Arbeit zugleich doch das alte
Amt des Sehers und Priesters übernimmt und damit nicht mehr nur, wie in
der vorigen Zeit der bloßen Gelehrsamkeit, über das Geschehene wie über ein
Abgeschlossenes aus ferner kühler Höhe Buch führt für das bloße Wissen der
Schule, sondern bei aller reinen Höhe doch dem Leben so nahe rückt, daß sie
nicht nur dessen Pulsschlag teilt, sondern auch in sein Werden und Geschehen
Von oben eingreifen lernt oder lehrt, daß es die gottgewollten Wege finde. Und
das alles zugleich ein fröhliches und sicheres Zeichen, wie keines sonst, daß die
große, ja ungeheure Aufgabe gelingt, an der die Besten bei allen Völkern seit
Jahrhunderten arbeiten: die Menschheit aus der Gefahr des Alterns und Ver-
rottens, der das classische Altertum nicht hat entgehen können, heraus zu holen
zu einem neuen Leben; ja, „es ist der Geist, der sich (neu) den Körper baut."
Für uns Deutsche aber wurden seit dem Morgen unsers neuen Lebens, der
auf den Abend des alten gefolgt ist, die Fragen, wie sie aus dem gründlich
rajolten Boden wuchsen, alte und neue, als Kraut oder Unkraut, alle doch von
einer umspannt: von der nach Kaiser und Reich. Es war ja auch die alte
erste Frage, von allem Anfang her, die Frage nach dem Zaun oder der Mauer,
die einen Garten umhegen muß, damit dann in ihnen sicher wachsen und werden
könne, was soll oder will, was Menschen Bedarf oder Willkür und was des Himmels
Luft und Licht aus dem gegebenen Boden lind seinen Keimkräften gewinnen mag.
Solche Namen haben, wie Blumen, einen Duft um sich, weit waltend und
allbestimmend und belebend, so lange sie die Träger von Lebensmächten sind;
der Duft kann sich aber auch verlieren, wie bei den Blumen, und in sein Gegen¬
teil umschlagen, wenn das Leben davon weicht. So war es mit „Kaiser und
Reich" gegangen. Für das letztere braucht man nur an die Reichstruppen zu
denken, um zu wissen, wie übelriechend der alte edle Begriff geworden war.
Und ich weiß noch aus meiner Kindheit, wie da „draußen im Reich" unter den
Leuten in Gebrauch war. wohlbemerkt, „draußen," von Sachsen, Preußen,
Österreich aus gesagt, wo man längst mit Genugthuung empfand, daß man
nicht mehr „drin" war. Sang man doch schon im sechzehnten Jahrhundert vom
sterbenden Reiche, d. h. die damals gar stolzen Buchdrucker sangen in einem
Preisliede ihrer „Gesellschaft" von sich selbst, um der Sicherheit ihrer Fröhlich¬
keit kräftigen Ausdruck zu geben, auch wie prophezeiend (Fischarts Gargantua
Cap. 6, Uhlands Volkslieder Ur. 265):
Sie hat gar kleine Sorgen
Wol umb das Römisch Reich,
Es sterb heut oder morgen,
So gilt es ihnen gleich.
Also schon wie Goethes Studenten in Auerbachs Keller, Frosch:
Das liebe heilge Römsche Reich,
Wie hales nur noch zusammen?
Aber Brander, dem das doch eine peinliche Gedankenreihe erweckt, unterbricht
ihn gleich:
Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied!
Ein leidig Lied! Danke Gott mit jedem Morgen,
Daß ihr nicht braucht siirs Römsche Reich zu sorgen!
Ich halt' es wenigstens für reichlichen Gewinn,
Daß ich nicht Kaiser oder Kanzler bin.
Schon im dreizehnten Jahrhundert, in Zeiten, wo die so nahe dahinter liegende
Herrlichkeit zuerst in bedenkliche Zerrüttung geriet, äußerte Freidank (73, 20),
wenn auch zugleich die Schwierigkeit des Kaisercmtteö überhaupt gemeint ist:
mont lou winsn willen nan,
lob. wnltsm Icsissr rielis Illn,
Wie schmählich aber zuletzt der Kaiserbcgrisf heruntergekommen war, das hört
man am schärfsten aus Kindermunde, wenn z. B, aus Schwaben bei E. Meier,
Deutsche Kinderreime nud Kinderspiele aus Schwaben, Tübingen 1851, S. 39
in einem Auszählspruch als Schluß gesagt wurde:
Zipperle pipperle bump,
Der Kaiser ist e Lump,
Er reitet über Feld
Und bringt e Sack voll Geld;
und noch einmal in einem Spiele S. 136: „Birke birle bump, der Kaiser ist
ein Lump," wobei gewiß das bump dem Lump zu Gefallen in den Reim kam,
nicht etwa umgekehrt. Es giebt ein ganzes Bild: der Kaiser allein daher reitend
mit einem Sack voll Geld in der Hand, wie ans einem Bilderbogen, als
„Lump," d. h, als ob er sich das Geld eben in einer Reichsstadt geborgt hätte,
der Witz könnte z. V. aus Ulm oder Augsburg stammen, bei den Kindern nur
haften geblieben. Erscheint doch der alte Fritz in seinen Geldnöten in Kinder¬
mund, freilich nicht als Lump, sondern als Held, in einem Auszählspruche ans
Schierstedt:
Friederich der große Held
Hat Soldaten und kein Geld.
Überhaupt klingt oft genug politische Wahrheit so als klarer scharfer Niederschlag
i» Volks- und Kindermunde, z. B. das unfindbare Deutschland von ehedem, von
dem Goethe oben bei Eckermann spricht, in einem Kinderspruch im Wunderhorn
(1845 3, 432), „wenn die Kinder ans der Erde herum rutschen," in einer
Fassung, wie sie bei Frankfurt von Handwerksburschen gehört worden ist (ihr
Wanderleben wie jenes Herumrutschen gedacht):
Such vorne, such hinten,
Such alletveil herum,
Kann Deutschland nicht finden,
Rutsch alleweil drauf rum!
So sangen sogar die Kinder dem alten Deutschland und dem alten Kaiser
wie ein Grablied mit Schimpf und Hohn! Man kann aber daran auch wie
kaum an etwas anderm den Umschwung ermessen, der sich bei unsern Lebzeiten
vollzogen hat, gar mancher von den kleinen Spottsängern wird dann dazu ge¬
holfen haben. Gerade in den Knabenseelen wurzelten und hafteten am tiefsten
mit wunderbarem Ahnen die ermutigenden Worte, die von Dichtern ausgegeben
wurden. Ich weiß z. B. noch, und gewiß viele, wie Schillers Wort von der
„kaiserlosen, der schrecklichen Zeit" in der Ballade vom Grafen von Habsburg
(v. I. 1803), die man ja ganz früh kennen lernt, mir als Knaben wie einen
Stoß gab, der eine Lücke im tiefsten Gefühl eröffnete, die Ausfüllung verlangte.
Und was Rückerts volksmäßig gehaltenes Lied vom alten Barbarossa, dem
Kaiser Friederich im KyfMuser (vom Jahre 1814) im stillen Seelengrunde von
tausend und abertausend Kindern für Wirkung gethan und vorbereitet hat, das ist
nicht zu ermessen: ein romantischer Traum, ja! aber ein prophetischer, einer
von denen, die doch dann für die Tagesarbeit auch Kraft und Saft in Sinn
und Glieder geben.
Diese Arbeit, die nach den Freiheitskriegen der Nation aufgegeben war,
erschien oder war schwerer als je eine, hoffnungslos den widerstrebenden Mächten
und Verhältnissen gegenüber. Aber die Kräfte der Nation sammelten sich auch
unter dem Druck stetiger und sicherer als je, von allen Seiten auf die eine
wunde Stelle drängend, die schon im dreizehnten Jahrhundert Freidank scharf
bezeichnet hatte, um sie zu heilen. Wie die ästhetische Stubenarbeit endlich in
Drang nach wirklicher Arbeit ausgelaufen war, am schärfsten ausgesprochen in
Hölderlins „wir ^Jungen) wollen thun, was die Künstler träumten," ebenso
ging es nun, noch merkwürdiger, mit der philosophischen Stubenarbeit. Schon
in Fichte ballte sich Kants reine Denkwelt wie zu Thateukraft zusammen, wie
es Arnim tröstend geahnt hatte, und das System, in dem der reine Gedanke,
die Idee ihren höchsten Flug nahm und im Äther zu verschweben schien, das
Hegeltum, schlug doch am Ende auch geradezu in drängende Thatkraft um, die
Idee griff nun nach unten und umfaßte die ganzen Nöte der Zeit und des
Vaterlandes mit den« in der Höhe gelernten gewaltigen Anspannen, und das
Umfassen ging von selbst in ein Erfassen, das Begreifen in ein Eingreifen über.
Dazu halfen die Dichter den Philosophen, wie in der großen Zeit des achtzehnten
Jahrhunderts, der Zeit der ahnenden Vorarbeit, so nun bei der Arbeit des
Zugreifens; das sogenannte junge Deutschland und das junge Hegeltum gingen
ans Werk in stillem und offenem Bunde, alles lang und tief geschulte Denken
und Empfinden, Träumen und Ahnen ward aus sich selbst heraus zu einem
Wollen. Auch die bildende Kunst wie die Geschichtsforschung, nicht anders die
junge deutsche Philologie, eigentlich alle Geistesarbeit der dreißiger, vierziger
Jahre hatte mehr oder weniger bewußt nur ein Ziel, auf das alle neu erweckten
Kräfte in einer Richtung hinstrebten, wie Strahlen nach ihrem einen Ausgangs¬
punkte, während die umgekehrte Richtung in der deutschen Geschichte das Her¬
kömmliche war. Die zerstreut arbeitenden Kräfte wurden damit zu einer un¬
widerstehlichen Kraft, die in sich ihres Erfolges sicher war. Die Luft war voll
von einer deutlich geahnten, heiß ersehnten nötigen großen deutschen That, die
wie mit einem großen Ruck alles Zerfahrene auf einen neuen festen Fuß und
Stand setzen mußte.
Aus dem Kreise der bewußten Arbeiter und Dränger sei nur einer benutzt,
P. A. Pfizer und sein „Briefwechsel zweier Deutschen," Stuttgart und Tübingen,
bei Cotta, 1831, während ich daneben gern auch Wienbargs Ästhetische Feld¬
züge, Hamburg, 1834, das eigentliche Stiftungsbuch des jungen Deutschlands, zu¬
zöge. Beide Bücher sind rechte Prophctenarbeit. Pfizer, der junge Schwabe, steht
in Hegels Welt, die ja, selbst aus schwäbischen Geiste, damals in Berlin die
Herrschaft hatte. Man sieht da das wunderbare Gähren der überhohen Ideen¬
welt, wie sie durch Hegel aufgeregt war, sieht aber auch die Abgründe, die sich
darunter aufthaten (wie bei Wienbarg auch) und durch den ätherischen oder auch
grauen Nebel hindurch, der doch schon Risse hat, das ganze Elend des Vater¬
landes mit einer Schärfe als Schmach vor Europa empfunden, wie kaum je
vorher. Aber eben aus der Idee blitzt auch kühne Hoffnung und Thatkraft,
z. B. in dem Schlußworte eines Briefes von Friederich an Wilhelm (so heißen
die beiden bricfwechselnden Dentschen), das zugleich an Schillers Gedanken vom
Jahre 1800 anknüpft, ohne davon zu wissen (S. 263): „Möge einstweilen
immerhin das stolze England alle Meere beherrschen, möge Frankreich die Welt
zum zweiten male erobern (!) oder Nußland seine gewaltthätigen Arme noch
weiter über Asien und Europa strecken, die wahre Geistesbildung wird ihren
Sitz und Mittelpunkt in Deutschland doch behalten und immer fester begründen;
ja die Zeit wird kommen, wo die Schutzgöttin der Deutschen, die Philosophie,
aufhört, eine bloße Schulmeisterin zu sein, die auf Kathedern thront, die Zeit
wird kommen, wo sie handelt und vollbringt, wo sie zur That wird und die
Welt beherrscht." Was im Hintergründe von alle dem als bestimmender Punkt
in des Philosophen Seele stand, wie bei Tausenden, zeigt ein Gedicht „der künf¬
tige Messias" S. 354, wo er, in romantischer, religiöser Haltung, von einem
Klausner dichtet (er bekennt sich zuletzt selbst als ihn), der sich aus dem Volke,
„das mit Unwert prahlt und sich der Schande freut," in des Waldes Einsam¬
keit geflüchtet hat, aber als Prediger in der Wüste „von dem Reiche, das kommen
soll," redet,
Von des Heilands Feuertaufe, vom Erlöser, der erscheint,
Wenn der Stern aus Morgen wieder blinkt, das irre Volk vereint n. s. w.
Woher aber der Messias kommen sollte? Die Antwort war schon seit dem
siebzehnten Jahrhundert gleichsam herangewachsen. Wie Lobenstein seinen Ar-
minius in dem Berlin des großen Kurfürsten dauernd ansiedeln wollte, wie im
achtzehnten Jahrhundert der große Friedrich die alten deutschen Messiashoff-
nungcn wach rief, so war durch die mit stillem und Hellem Lichte leuchtenden
Thaten der Befreiungskriege der preußische Staat die Stelle der Hoffnnngs-
strahlen im düstern Gewölk für den, der über das wirre Durcheinander der
Verhältnisse, Strebungen und Meinungen hinausblickte in die Höhe der ge¬
gebenen Thatsachen und Kräfte. Was freilich nun für uns und das ganze
Erdenrund weltgeschichtliche Thatsache ist, dazu gehörte damals noch ein großer
kühner Glaube, ein rechter Prophetenmut, denn die Schwierigkeiten waren von
innen und außen unendlich viel größer, als unser jüngeres Geschlecht weiß und
ahnt. Aber Pfizer, der Schwabe, sprach es im Jahre 1831 aus, so gewagt
es war gerade in Württemberg (vgl. ihn selber in Fr. Perthes Leben 3, 367);
sein Wilhelm schreibt z. B.: „Wenn nicht alle Zeichen trügen, so ist Preußen
auf das Protectorat über Deutschland durch dasselbe Verhängnis angewiesen,
das ihm einen Friedrich den Großen gab" u. s. w. (S. 201); „wenn Preußen
seinen ehrenden Beruf in großartigem Sinne würdig auffaßt und die beschränkte
preußische Nationaleitelkeit zu einem deutschen Nationalgefühle erweitert, wenn
es bedenkt, daß sein Übergewicht an materiellen Kräften weniger sein Verdienst,
als eine Gunst des Himmels, ein Fingerzeig für seine künftige Bestimmung
ist" u. s. w. (S. 227). es ist „der gottgegebene Retter in der Not" (S. 239),
während Friederich, der andre Briefsteller (es ist im Grunde Friedrich Roller,
ein Freund Pfizers, der erst im Jahre 1884 starb) scharf Widerpart hält,
Preußens damalige Mängel oft beißend hervorhebt und das ganze politisch
vorausgeschrittene Selbstgefühl des Südwestdeutschen ausspricht: man wittert
da die Gefahr einer Dreiteilung, die bis 1866 uns ängstigte, und die der Main¬
linie, die auch nach 1866 uns noch ohne Not geängstigt hat. Pfizers eigenste
Gedanken läßt wieder ein Gedicht sehen, „Einst und Jetzt" S. 301; da schweift
der Geistesblick vom heimischen Hohenstaufen hiu zu Kaiser Rothbart, der nur
schlummert, rückwärts zu Kaiser Karl dem Großen, bis zum „heiligsten der
Schatten, Hermann, der als Opfer fiel," aber auch vorwärts zu den Zollern,
die ja anch einst von Schwaben aus ihre deutsche Bahn antraten:
Gleich dem Aar, der einst entflogen
Staufers Nachbar und im Flug
Zollerns Ruhm bis an die Wogen
Des entlegnen Ostmeers trug.
So ist für das vaterländische Gefühl des Schwaben die Einheit des innersten
Lebensfadens gewonnen zwischen alter und neuer Zeit, aber wir Andern freuen
uns ja auch an dieser Einheit, an der alten Nachbarschaft des Hohenstaufen und
Hohenzollern. Schade, daß auch Pfizer für den Schluß seiner Vision von dem
Friedrich in Sibyllen Weissagung und Kaiser Sigismnnds Ausdeutung auf den
Brandenburger Friedrich nichts wußte:
Adler Friederichs des Großen!
Gleich der Sonne decke du
Die Verlaßuen, Heimatlosen
Mit der goldnen Schwinge zu u. s. w.
Was da die Stimme aus dem freien Süden hochherzig selbstentsagcnd
nach dem Berlin von 1831 hinauf rief, das bei allem Hegeltum politisch im
Garne Rußlands zappelte, das war eigentlich: wenn dn nicht willst, du
mußt, denn es ist der deutschen Geschichte, des deutschen Gottes Wille. In der
Volksseele, wie sie von den Besten dargestellt wird, war der Wille da, zu einer
einheitlichen Spannkraft gesammelt, wie nur je in den größten Zeiten rück¬
wärts. Aber der Wille brauchte eine Hand, einen Arm, einen Kopf, daß die
alte Gedankenthat des Trciumens, Ahnens und Wollens endlich zur wirklichen
That wurde, der ja unendliche Schwierigkeiten entgegenstanden. Und der Kopf,
die Hand fanden sich, im Dienste des deutschesten Herzens, eben in und mit
einem rechten Preußengeiste. „Vvlkswille, Gotteswille," so faßt Franz Crcimer in
einem Schriftchen über Goethes Epimenides (Despotismus und Volkskraft,
Berlin 1874, S. 23) Goethes Wort dort von des Volkes Stimme als Gottes
Stimme, und schließt (S. 26): „Kühn und mutig und frei tragen wir die
Stirne, wir kennen ja das Walten des Zeitgeistes seit Jahrtausenden. Die
Volkskraft ist groß und — der eiserne Kanzler ist ihr Prophet." Damit kann
auch ich schließen, nur daß eisern und Prophet uusern Bismarck nicht ganz be¬
zeichnen: er ist uns der rechte Friedrich, der rechte Siegfried, der rechte Ar-
minius geworden und hat auch seinen König und Herrn dazu gemacht, daß in
und mit ihm sich die alten Prophezeiungen erfüllten, die ja seit dem Anfange
des fünfzehnten Jahrhunderts auf Brandenburgs Fürstenhaus wiesen. Die
deutsche Geschichte, und nicht die politische nur, mit ihr die deutsche Geschichte
überhaupt, beginnt, als finge sie nun erst oder endlich an, aber mit dem Lehr¬
gewinn von langen Jahrhunderten. Man möchte wirklich wieder mit jung sein.
Aber als Nachklang doch noch einige Stimme» von Fremden, auch Pro¬
phetenworte. Da muß aber auch die aus der ältesten Zeit mit erwähnt werden,
die des Römers Tacitus, der mit seinein bewundernde» Berichte von den Thaten
des Arminius wie mit seiner (^srin-mia für uns ein rechter Prophet geworden
ist, ohne es zu wollen; er ahnte ja aber auch das Schicksal, das dem Römer-
reiche von den Germanen bevorstand. Was das von ihm gezeichnete Bild
unsrer Vorfahren, seit es im sechzehnten Jahrhundert bekannt wurde, für die
deutscheu Geister und ihre schwere vaterländische Arbeit geworden ist mit stär¬
kender, erhebender, reinigender Wirkung, das kann man nicht ermessen, aber
ahnen aus dem Gebrauche, den die Chronisten und Geschichtschreiber alsbald
davon machten, und jeder von uns hat es noch auf der Schule an sich er¬
fahren. Der große Römer, auf Feindcsseite, eröffnet die Reihe unsrer großen
Propheten. Am Ende der Reihe aber erklingt am wunderbarsten eine Pro-
phetenstimme über uns aus Frankreich, sollte ich auch sagen auf Feindesseite?
nein! zumal sie noch vor 1866 fällt. Victor Hugo, der so gern in Prophenton
fällt, kam in seiner Abhandlung über Shakespeare vom Jahre 1864 auch auf
das deutsche Wesen zu sprechen, das vom europäischen verschieden und ihm doch
unentbehrlich sei: I^u. naturf MsniWäs, xrotoncls se Südens, äistivote as ig,
nawro sriroxosnns, irmis ä'aooorä avsv suo, 8ö volatiliss se notes M-äöWU8
As8 nations. I/esprit Momimä sse drumsux, luinillöux, vrM'L. L'sse uns
sorte ä'inrinense Airs nuce, g.veo äos etoiles, er findet seinen reinsten und
höchsten Ausdruck in der Musik, was nachher geistreich und geistreichelnd weit
ausgeführt wird, auch wie mit wohlwollendem nachfühlen unsrer politischen
UnVollkommenheit. Vorher aber noch: 8i 1'aine iZ-Ueing-nah g-v^it »reg-ut as
äensite eine et'etenäue, o'est-a-aire antient 6e volonte ^ne 6s taeulte', eile
xourrait, Ä um moment- 6onnv, soulever et sMver 1s Zenre nnnrain: wenn
sie eben so viel Dichtigkeit als Ausdehnung hätte, d. h. ebenso viel Willen als
Fähigkeit, könnte die deutsche Seele in einem gegebenen Augenblicke das Menschen¬
geschlecht erheben und retten, aus der unendlichen wolkig sternreichen Seele, die
in Gasform über den Nationen schwebt, könnte einmal das Heil für die Mensch¬
heit kommen, wenn das Gas sich zu Kraft verdichtete! Wunderbar! Was wir
dazu sagen sollen? zumal nun nach 1870? Lieber nichts, als daß wir dankend
den hohen Sinn des Franzosen anerkennen, der so stolz war auf die Cultur-
Höhe seines Frankreich als Führerin der Menschheit, auf Paris als das Gehirn
der Welt. Und doch noch etwas: ist es nicht, nur überschwänglich gefaßt,
eigentlich dasselbe, was uns vorhin an dem geschichtlichen Faden der deutschen
Entwickelung in die Hand ging? und wiederum dasselbe eigentlich dem Kerne
nach, was in den Prophezeiungen des närrischen Jupiter im Simplicissimus,
ja in Sibhllen Weissagung aus dem vierzehnten Jahrhundert vom deutschen
Helden der Zukunft gesagt ist? Auch noch aus Pfizers Briefwechsel ließe es
sich als Grundgedanke nachweisen, daß Victor Hugo damit herzlich hätte einig
sein können, wie schon die oben angeführte Stelle andeutet.
Als wir 1870 um unsre endliche Auseinandersetzung und Abrechnung mit
Frankreich kämpften, die sie ja selbst begehrt hatten, sah in England drüben ein
Mann jubelnd zu, Thomas Carlyle, der alte begeisterte Freund des deutschen
Geistes und grenzenlose Bewunderer Friedrichs des Großen, auch eine rechte Pro¬
phetennatur; er prophezeite unsern Sieg, damit aber den Übergang der Führung
der modernen Entwickelung an Deutschland: (-crura^ c>nM to dö ^residere
ok Durons, g,na pill g-Min (wie einmal schon im Mittelalter), it sesins, dö trisä
vier trat oMes lor anotnsr live esnturies or so (Monate, Ib.. OarlM, Iris Ule
2, 401); es sollte im Kampfe mit dem Teufel, wie er das Culturelend nannte,
vollenden, was Frankreich in der Zeit seiner Vorherrschaft halb gethan gelassen
hätte: Ib.« Hsrinan rase, not tue (?g.suo, ars nov to ve tbs Protagonist in
that immense- norlÄ-äraina. (Lssg^s 07 0. 7, 249).
Jetzt nehmen im Osten die Russen die Rolle des Retters der europäischen
Zukunft in Anspruch, wie im vorigen Jahrhundert im Westen die Franzosen
thaten. Nun wenn die Rettung nur kommt, thue jeder dazu, was er kann, es
ist dabei mehr Schweiß zu holen als Lorbern. Wir aber mußten zunächst uns
selber retten, und die Russen sollen das erst noch fertig bringen. Also mutig
in die Zukunft hinein, aber mit dem europäischen Gemeinsinn, den Victor Hugos
Worte atmen und der auch gut deutsch ist.
Und noch ein französisches Wort aus diesem Jahre. Als Kaiser Friedrich
den Thron bestieg, der ja in Wahrheit nur ein Siechenlager sein sollte, erschien
in Paris in mehreren Auflagen eine Schrift von Edouard Simon, der auch
über Kaiser Wilhelm und Bismarck geschrieben hatte, 1'smxsr<zur ^löäöiio.
Darin ist auch von Friedrichs Besuch am Hofe Napoleons III. im Jahre 1856
erzählt, dabei eine briefliche Äußerung der Kaiserin Eugenie: „Der Prinz ist
ein großer, schöner Mann, fast einen Kopf größer als der Kaiser, schlank, blond,
mit strohfarbenem Vollbart, ein Germane, wie Tacitus ihn beschreibt, nicht ohne
einen hamletartigen Zug. Sein Begleiter, ein General Moltke oder ein ähn¬
licher Name, ein Herr, sparsam mit Worten, aber nichts weniger als ein
Träumer; immer aufmerksam und fesselnd, überrascht er durch die frappantesten
Bemerkungen. Das ist eine imposante Rasse, die Deutschen. Louis sagt, die
Nasse der Zukunft. Bah! So weit sind wir noch nicht!»
Friedrich! Als ich zu schreiben anfing, konnte man seiner gesunden Natur
noch ein paar Jahre Wirkens zutrauen, wie freute ich mich bei dem Friedrich
des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts auf den Schluß mit Friedrich
im neunzehnten! Und sein Programm, mit dem er, tief durchdrungen von der
hohen Würde seines deutschen Amtes, dieses antrat, bot in lange vorbereiteten
Gedankenkreise so manches, was wie aus des große» Friedrichs Geiste genommen
und ini Geiste unsrer Zeit fortgebildet klang. Im Tode wollte man Züge aus
der Totenmaske des großen Königs in der seinen finden. Eine Siegfrieds¬
gestalt sprach ihm kürzlich Du Bois-Reymond in der Berliner Akademie zu,
ganz treffend. Nun ist er zu seinen Vätern versammelt, zu den andern Friedrichen.
Aber der Name Wilhelm ist ja auch schon geweiht durch seinen Vater, er war ja
der rechte Friedrich und Siegfried für die Nation geworden, und die Weihe, geht
auf seinen Enkel über, der anch mit hohem Sinne und festem Willen aus einer
ernsten Schule an die Leitung der nationalen Geschicke kommt, wie nnr je ein
junger Fürst. Und el» junger Kaiser für das junge Reich, das ist ja auch so
gut. Also mutig und treu weiter mit ihm in das neue deutsche Leben hinein.
Es wird immer besser. Kaum haben sich die Grenzboten
gegen den Ausdruck „höhere Töchterschule" ausgesprochen, so erscheint ein besonders
für Mädchenschulen bestimmtes „Poetisches Schatzkästlein" von M. Walleser (Mann¬
heim, Bensheimer), dessen Herausgeber in der Vorrede versichert, er habe sich bei
den verschiedensten „Parthenagogen" Badens, der Pfalz, des Elsaß u. s. w. über
die Auswahl der einzelnen Gedichte Rats erholt. Natürlich, „Mädchenschullehrer"
klänge doch gar zu gewöhnlich. Gönnen wir den Herren den Spaß; aber für die
deutsche Sprache fürchten wir von den Herren „Parthenagogeu" schlimmes. R. A.
Zusatz der Redaktion. Auf derselben Stufe wie die Parthenagogeu stehen
auch die „Musikpädagogen," die „Klavierpädagogeu" und die „Gesangpädagvgen,"
von denen gegenwärtig die Tagespresse — wenigstens in Leipzig — wimmelt.
Die Herren sind natürlich nichts weiter als Klavier- oder Singelehrer. Aber damit
erscheinen sie sich eben nicht wichtig genug, und sie bilden sich ein, sie würden
etwas höheres, wenn sie sich „Pädagogen" nennen. Wahrscheinlich bekommen wir anch
noch von „Geigenpädagogen," „Schreibepcidagogeu," „Zeicheupädagogeu," „Turu-
pädagogeu" zu hören, und Herr Walleser müßte folgerichtigerweise auch von Näh-
und Strickparthenagoginnen reden. O heilige Einfalt!
Der Kampf gegen die unzählbare Menge unnützer
Fremdwörter, die unsre Sprache verunstalten, ist heftig entbrannt. Ans der ganzen
Linie sind die Angreifer im Vorrücken; viel ist schon erreicht, mehr noch muß erst
erkämpft werden. Nicht minder schlimm aber als die maßlose Anwendung von Fremd¬
wörtern, ja geradezu abscheulich ist die Aussprache, die wir bei manchen von ihnen
anzuwenden für gut finden."
Da ist vor allem das arme Wort „Pension. Der Süddeutsche spricht es
richtig, d. h. so wie es geschrieben wird; für den Norddeutschen aber ist es fast
ein Ding der Unmöglichkeit, anders zu sprechen als „Paugsiohn," also vorn fran¬
zösisch, hinten deutsch! Niemand fühlt, wie lächerlich das ist. Mit „Pensionat"
ist es ebenso. Dagegen muß der „Rentier" sichs gefallen lassen, daß er vorn
deutsch und hinten französisch ausgesprochen wird. Warum sagen wir nicht wenigstens
„Rentner" ? Fast noch schlimmer stehts um das Wort „Spalier." Der norddeutsche,
wenigstens der Mecklenburger, spricht „Spali—eh" und meint, er zeige sich damit
dem „Spalihr" sprechenden Süd- und Mitteldeutschen gegenüber als feingebildeter
Mann. Schade, das daß Wort in dieser Form im Französischen gar nicht vor¬
handen ist; es heißt dort ssMisr!
Auch das „Bicycle" gehört hierher. Zwar bürgert sich der Ausdruck „Zweirad"
mehr und mehr ein; aber noch immer giebt es Leute genug, die es doch für besser
halten, sich bei dieser Gelegenheit als fertige Engländer zu zeigen, und gerade die
haben dann das Unglück, nicht zu wissen, daß es „Bisikl" und nicht „Beisikl" heißt.
"
Und nun gar der unglückselige „Don Juan! Noch immer muß er für seine
Sünden dadurch büßen, daß man ihn „Dong Schuang" nennt. Ich vermute, daß die,
die das thun, der Meinung sind, sie sprächen das Wort französisch aus. Leider
kann ich ihnen darin nicht Recht geben. Die Sprache, in der der Bösewicht „Dong
Schuang" heißt, ist überhaupt noch nicht erfunden. Warum nicht einfach Don
Juan, wie wir ihn schreiben? Denn spanisch wollen wir ihn doch auch nicht aus¬
sprechen, obwohl es natürlich noch immer viel besser wäre als die jetzige Unsitte.
"
Auch an das berühmte „Orchester möchte ich noch erinnern. Die weit ver¬
breitete Aussprache „Orschester" ist weder griechisch, noch französisch, noch deutsch,
uoch sonst irgend etwas; sie ist einfach albern.
Im Kampfe gegen eine solche Mißhandlung der Fremdwörter, wie ich sie im
Vorhergehenden an einigen Beispielen nachgewiesen habe, müßten, meine ich, die
etrachten wir nun die beiden Mächte, die wir bisher für den Fall
eines Angriffs, den eine von ihnen gegen ein Glied des Friedens¬
bundes unternähme, nachgerade als natürliche Bundesgenossen
anzusehen uns gewöhnt hatten, und fassen wir zuvörderst Ru߬
land ins Auge. Wir haben uns dabei von vornherein ebenso
sehr vor Unterschätzung wie Überschätzung zu hüten. Die Redensart von dem
„Kolosse mit thönernen Füßen," die nach dem Verlaufe des Krimkrieges und
den ungefähr gleichzeitigen Vorgängen an der untern Donau bis zu einem ge¬
wissen Grade berechtigt zu sein schien, und die später damit begründet werden
konnte, welche Mühe Rußland hatte, die polnische Revolution niederzuwerfen,
ja für die sich noch der letzte Türkenkrieg mit den Tagen von Plcwna anführen
ließ, trifft jetzt nicht mehr zu. Der Zarenstaat hat seitdem in militärischen
Dingen unleugbar große Fortschritte gemacht, seine Hilfsquellen bedeutend ent¬
wickelt, sich durch den Bau von Eisenbahnen besser zum Angriff vorbereitet und
durch die Anlegung neuer und die Verstärkung bereits vorhandner Festungen
im westlichen Grenzlande gewaltig für die Verteidigung gerüstet. Er verfügt
über eine ungeheure Masse von Soldaten und darunter über eine sehr starke
Reiterei. Angesichts dieser Thatsachen dürfte man wohl eine gewisse Beklem¬
mung empfinden. Dennoch brauchten wir nicht am Siege zu zweifeln, wenn
das deutsche Reich die moskowitischen Scharen gegen sich anstürmen sähe.
Namentlich dürfen uns die Millionen von Streitern nicht beängstigen, die das
russische Reich als Gesamtheit aufzustellen imstande ist; denn ein beträchtlicher
Teil derselben würde uns niemals gefährlich werden können. Nußland würde
bei einem Kriege mit europäischen Mächten immer nur die Truppen zu ver¬
wenden in der Lage sein, die es in Europa stehen hat. Auch die asiatischen
Heereskörper dazu heranzuziehen, verbietet ihm erstens die Entlegenheit der
Provinzen, wo diese ausgehoben werden und ihre Standquartiere und Sammel¬
plätze haben, zweitens die Unmöglichkeit, diese Provinzen von Verteidigern gegen
natürliche Feinde zu entblößen, die sich jetzt still verhalten, aber durch einen
Krieg im Westen aller Wahrscheinlichkeit nach sofort bewogen werden würden,
zu den Waffen zu greifen und sie gegen ihre einstigen Besieger zu kehren. Man
vergegenwärtige sich die unermeßlichen Räume zwischen den sibirischen Strömen
und Seen, zwischen Ann und Syr Darja, zwischen Transkaukasien einerseits
und dem Weichsellande anderseits. Man erinnere sich, daß diese Räume zum
großen Teile Steppe und Wüste sind und der Mittel zu rascher Beförderung
von Armeen fast ausnahmslos entbehren. Man denke endlich daran, daß Ru߬
land in Asien, in der Türkei, in Persien, in den Charaden von Turkestan, in
Afghanistan und in China erst kürzlich besiegte Unterthanen oder Nachbarn hat,
die nur im Hinblick auf die vor ihnen bereit stehenden Streitkräfte des Zaren
gute Unterthanen oder Nachbarn sind. Wir brauchen also bei der folgenden
Übersicht nur die europäische Hälfte der russischen Wehrkraft in Rechnung zu
bringen, und auch dabei werden wir bemerken, daß manches gefährlicher scheint,
als es in Wirklichkeit ist.
In Nußland ist 1874 die allgemeine Wehrpflicht gesetzlich eingeführt
worden, und zwar erstreckt sie sich hier vom vollendeten zwanzigsten bis zum
vierzigsten Lebensjahre. Die Infanterie und Fußartillerie dienen fünf, die Ka¬
vallerie, die reitende Artillerie, die Genietruppen dienen sechs Jahre bei der
Fahne. Dann treten die Leute in die Reserve ein, in welcher der Infanterist und
der Fnßartillerist zehn, der Kavallerist, der reitende Artillerist und der Geniesvldcit
neun Jahre verbleibt, um dann für weitere fünf Jahre der Reichswehr (Opvl-
tschenje) anzugehören, die unserm Landsturme zu vergleichen ist, und die man je
nach Bedarf in drei Aufgeboten, jedes 150 Bataillone und 34 Schwadronen
stark, zu den Waffen zu rufen beabsichtigt, wenn es der Krieg erfordert; indes
ist für eine Formation dieser Truppenkörper in Friedenszeiten noch sehr wenig
gesorgt worden. Das Jahr liefert durchschnittlich 850 000 junge Männer,
welche das wehrpflichtige Alter erreicht haben, und davon werden rund 190 000
in das stehende Heer eingestellt, während ungefähr 45 000 Mann, zur Er¬
gänzung bestimmt, eine nur über neun Monate sich erstreckende Ausbildung er¬
halten. Wer den Besitz eines gewissen Bildungsgrades nachzuweisen vermag,
dem wird Verkürzung der Dienstzeit bei der Fahne um ein bis vier Jahre
gewährt. Die reguläre Armee zerfällt in Feld-, Reserve-, Ersatz- und Lokal¬
truppen. Die Infanterie derselben ist in 192 Linienregimenter von je 4 Ba¬
taillonen und 56 Bataillone Schützen eingeteilt und soll eine Kriegsstärke von
rund 820 000 Gemeinen und Unteroffizieren mit etwa 17 000 Offizieren haben.
Die reguläre Kavallerie, nur Dragoner, die auch auf den Dienst zu Fuß ein¬
geübt sind, umfaßt 10 Garde- und 46 Linienregimenter, jedes zu 6 Schwadronen,
sodaß mit Hinzurechnung von einigen besondern Abteilungen im ganzen 334
Schwadronen vorhanden sind, die, auf Kriegsstärke gebracht, 45 000 Reiter
haben. An Feldartillerie weist die europäische Armee Rußlands 288 Batterien
auf, die in schwere, leichte, reitende und Gebirgsbatterien zerfallen, 2472 Ge¬
schütze führen und etwa 82 000 Mann zur Bedienung derselben haben. Mit
Einschluß der Genie- und andern Spezialtruppen und des Trains giebt das
eine Kriegsstärke von ungefähr einer Million Soldaten für die Feldarmee.
An Reservetruppen will man bei Ausbruch eines Krieges 545 Bataillone,
60 Schwadronen und 80 Batterien mit 640 Geschützen, im ganzen ungefähr
570 000 Mann aufstellen, während an eigentlichen Ersatztruppen noch etwa
80 000 Mann mit 26 000 Pferden und 212 Geschützen marschbereit gemacht
werden sollen. Da die vorhandnen Lokaltruppen, wenn man von den 50 Ba¬
taillonen der Festungsartillerie absieht, in der Hauptsache nur für deu Dienst
im Innern des Reiches bestimmt sind, so brauchen wir sie hier nur zu er¬
wähnen. Dagegen muß ein andres Glied des russischen Heercsorganismus, das
ursprünglich eine Art Miliz oder Landwehr lokalen Charakters war, die Kosaken,
etwas näher betrachtet werden, weil ein Teil desselben jetzt bereits für den
Frieden organisirt und den Dragonerdivisionen zugeteilt ist. Wir meinen damit
die Kosaken vom Don, die im Frieden 2 Garde- und 15 Linienregimenter mit
8 Batterien stellen, im Kriege aber um 31 Regimenter vermehrt werden sollen.
Sie haben mit ihrer Einreihung in die reguläre Armee, mit der eine Ab¬
streifung ihres frühern Charakters verbunden sein mußte, nur noch die Bedeutung
einer populären Reiterei. Übrigens ist der Nimbus der Kosaken, seit die Armee
umgestaltet worden ist, Hinterlader eingeführt, die gewöhnlichen Truppen mobiler
gemacht und Anstalten zur Errichtung eines Landsturms getroffen werden und
vielfach Eisenbahnen und Telegraphen vorhanden sind, gänzlich verschwunden,
und es wäre keine wesentliche Vergrößerung der von Nußland uns drohenden
Gefahr darin zu erblicken, wenn man die übrigen Kosaken, die ihr altes Wesen
bewahrt haben und von denen die Steppenlandschaften am Kaukasus und in
Mittelasien sowie Sibirien gegen 140 000 Mann liefern können, bei einem
Kriege mit Deutschland und Österreich-Ungarn verwenden könnte. Die Kultur
mit ihren Maschinen und anderm Handwerkszeuge der Kriegführung ist viel
elastischer und geschwinder als diese Naturmenschen, deren militärischer Wert eben
nur in ihrer Elastizität und Schnelligkeit bestand.
Wie die russische Regierung durch Einführung der allgemeinen persönlichen
Wehrpflicht ihre Armee in ein riesenhaftes Heer verwandelt hat, so ist sie auch
bemüht gewesen, die Tüchtigkeit derselben zu verbessern. Der russische Rekrut
bringt dazu viel mit, namentlich natürliche Tapferkeit, Ausdauer bei Strapazen
und Entbehrungen, Genügsamkeit und die Gewohnheit, zu gehorchen. „Es ist
befohlen" ist das oberste Gesetz seines Thuns und Lassens, und das viele
Fasten, das seine Kirche vorschreibt, hat ihn gelehrt, im Bereiche dessen, was
Leib und Seele zusammenhält, wenig Bedürfnisse zu empfinden. Dagegen ist
er im Durchschnitte nicht sehr anstellig, vielmehr ein stumpfer Herdenmensch,
der schwer dazu gebracht werden kann, selbst zu denken und sich selbst zu helfen,
und deshalb fast immer die Stimme des Leiters bedarf. Auch ist sein Bildungs¬
grad äußerst niedrig, sodaß es der Regierung bisher nicht geraten erschien, ihn
mit dem Magazingewehr auszurüsten, das bei unsern modernen Schützenschlachten
unentbehrlich ist. Den Bemühungen, aus diesem Menschenmaterial tüchtige
Soldaten zu bilden, sind ferner durch die Natur des Landes enge Grenzen
gesteckt, welche ein Zusammenziehen großer Truppenmassen, eine gründliche Aus¬
bildung im Felddienste, den Austausch von Anschauungen und Erfahrungen, die
Anweisung und Überwachung der einzelnen Heereskörper außerordentlich erschwert.
Dazu kommt, daß die Mehrzahl der Offiziere, auf die bei der Unselbständigkeit
der Mannschaften hier weit mehr ankommt als anderwärts, viel zu wünschen
übrig läßt. Zwar giebt es auch in Rußland eine beachtenswerte Militärlitte¬
ratur und Offiziere, die von ihr Gebrauch machen und infolge dessen in ihrem
Fache wohl zu Hause sind. Doch gilt dies nur von denen der Garde und
einem Teile der obern Chargen in der Linie. Der gewöhnliche Linienoffizier
unterscheidet sich in Bildung und Haltung wesentlich von dem deutschen Stnndes-
genossen, aber sehr wenig von den Gemeinen seines Regiments. Die meisten
dieser Offiziere zweiter Klasse verbringen ihre Tage in kleinen, abgelegenen
Orten, wo kaum von einem Verkehr mit der übrigen Welt die Rede sein kann,
ohne Abwechslung und Anregung und ohne andern Umgang als den mit
ihresgleichen und mit der niedern Klasse des Volkes, verdrießlich, gelangweilt
und gleichgiltig gegen höhere Interessen und Bestrebungen, man müßte denn
die Lehren und Absichten des Nihilismus als solche bezeichnen wollen; denn
diese haben ihren Weg auch in die Kreise des halbgebildeter Mißmuth gefunden,
welcher sich über die ganze Mittelschicht der russischen Gesellschaft ausbreitet;
es wird kaum eine der vielen geheimen Gesellschaften mit staatsfeindlicher und
anarchistischer Tendenz entdeckt, wo sich nicht herausstellt, daß jüngere Offiziere
zu ihr gehören. Eine Armee mit solchen Elementen ist dem Kriegsherrn und
dem Staate gefährlicher als den Feinden, zumal da in Nußland in Gestalt der
Panslawisten eine andre Partei hinzukommt, der ebenfalls viele Offiziere, vor¬
züglich solche von höherm Range, angehören, und die den Willen des Zaren
auch nur gelten lassen möchte, wenn er mit ihrem Glaubensbekenntnisse und
ihren Wünschen übereinstimmt. Ein Krieg ist für die russische Regierung ein
doppeltes Wagnis: die Feuerprobe gegenüber einem tüchtigen europäischen Heere
hat die moskowitische Armee seit mehr als drei Jahrzehnten nicht zu bestehen
gehabt, und sie fiel damals schließlich für Rußland nicht günstig aus; geschieht
dies jetzt wieder, so ist nach der Heimkehr der Besiegten eine russische Revolution
zu befürchten. Aber siegte man auch, was bei einem Vergleiche der Eigen¬
schaften unsrer Kriegsmacht mit den angeführten Eigenschaften der russischen
nicht zu erwarten und umso weniger wahrscheinlich ist, als das Verpflegungs¬
wesen der letztern infolge von unausrottbarer Betrügerei der Lieferanten und
unverbesserlicher Bestechlichkeit der obern Befehlshaber in unerhörtem Grade im
Argen liegt, so würden die Offiziere aus dem Westen Ideen zurückbringen, die
der russische Absolutismus nicht verträgt. Die Gedanken, die man sich 1815
im Westen aneignete, führten zu den Ereignissen von 182S, und der Nihilismus
ist gleichfalls ein Kind des Westens, das im halbbarbarischen Osten besonders
wilde Mißgestalt annahm. Es kann nach alledem nur unverständiger Dünkel
und verblendete Begier nach Ruhm sein, wenn höhere Offiziere in Petersburg
und Moskau eifrig die Gelegenheit herbeisehnen, sich mit Deutschland und
Österreich-Ungarn auf dem Schlachtfelde zu messen, und es ist im Interesse
Rußlands nicht minder wie Deutschlands, daß ihre Sehnsucht ungestillt bleibt,
im Interesse Deutschlands freilich mehr deswegen, weil sein Sieg keine greif¬
baren Erfolge, welche die Opfer lohnten, haben, vielmehr nur Ruhm bringen
würde, dessen wir uus schon reichlich zu erfreuen haben, und der nur den Neid
und die Rachsucht, die uns ebenfalls schon mehr als zur Genüge umgeben,
verstärken würde.
Wir kommen nun zu Frankreich, als dem voraussichtlichen Verbündeten
Rußlands bei einem Angriffskriege gegen Deutschland. Über die Stärke der
französischen Armee zahlenmäßig nach allen Einzelheiten zu berichten, halten
wir, da dies schon oft mit aller Ausführlichkeit geschehen ist, für überflüssig.
Wir beschränken uns hier auf eine kurze Charakteristik der Verhältnisse. Wie
bekannt, ist man nach dem Kriege von 1870 und 1871 auch bei unsern west¬
lichen Nachbarn dem Beispiele Preußens gefolgt und hat die allgemeine per¬
sönliche Dienstpflicht eingeführt, soweit es möglich war, d. h. mit den Be¬
schränkungen, zu denen sich alle Staaten, welche dieses System annehmen,
genötigt sehen, weil die Geldmittel zu vollständiger Durchführung desselben,
also zur Einstellung aller Diensttauglichen in das Heer, sich schlechterdings nicht
auftreiben lassen. Nach langen und heftigen parlamentarischen Kämpfen zwischen
denen, welche für Beibehaltung der frühern Einrichtungen mit einigen Ver¬
besserungen waren, und denen, welche allgemeine Volksbewaffnung im Sinne
einer Miliz und möglichst kurzem Verbleiben bei der Fahne befürworteten, einigte
man sich endlich zu dem Beschlusse, die Dienstzeit im stehenden Heere ans fünf
und in der Reserve desselben auf vier Jahre festzusetzen; dann sollten die
Mannschaften für weitere fünf der Territorialarmee, die unsrer Landwehr ent¬
spricht, angehören und schließlich noch für sechs Jahre in der Reserve dieser
Armee innerhalb gewisser Schranken der Regierung zur Verfügung stehen.
Daneben wurde die Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen eingeführt, sehr
gegen die Lehre, nach welcher alle Bürger der Republik als unbedingt gleich
anzusehen und zu behandeln sind. Diese Formationen standen indes von An¬
fang an auf schwachen Füßen, da der Geist des Parlamentarismus wie über¬
haupt so auch auf militärischem Gebiete dauerndes nicht duldet und steten
Wechsel verursacht. Schon seit langer Zeit wird von den Radikalen eine Ab¬
änderung des Gesetzes über die Wehrpflicht erstrebt, nach welcher die Dienstzeit
im stehenden Heere auf drei Jahre herabgesetzt und die Einjährig-Freiwilligen
abgeschafft werden sollen, was in Frankreich für den Wert der Armee allerdings
nicht so viel wie bei uns zu bedeuten hätte, da die Anforderungen, die man
dort an die wissenschaftliche Bildung der sich zum einjährigen Dienste mel¬
denden stellt, weit geringer sind als in Deutschland. Visher wurden jedes Jahr
140000 Mann in die Armee eingestellt, von denen 100000 drei Jahre, die
übrigen, die sogenannte „zweite Portion," ein Jahr bei der Fahne dienen
sollten, in Wirklichkeit aber mir zehn Monate bei ihr blieben und somit nur
eine dürftige militärische Ausbildung erhielten, auch nicht genügend an dienst¬
lichen Gehorsam gewöhnt werden konnten und ebenso wenig ihre Schulbildung
zu ergänzen oder überhaupt etwas der Art sich zu erwerben imstande waren —
ein Umstand, der ins Gewicht fällt, wenn man bedenkt, daß noch 1836 nicht
weniger als 11,30 Prozent der sich zur Rekrutirung stellenden jungen Leute
aller Schulkenntnisse entbehrten. Seit 1871 hat der regierende Parlamen¬
tarismus dem Lande achtzehn Kriegsminister gegeben, und jeder derselben
hielt es für seine Pflicht, an der Heeresorganisatiou mehr oder minder zu
ändern. Der tüchtigste war der vorletzte, General Ferron, dessen Änderungen
wirkliche Verbesserungen waren. Er bildete die damals bestehenden 144 Regi¬
menter Infanterie, die je vier Bataillone hatten, in 162 Regimenter von je
drei Bataillonen um und gab den einzelnen Kompagnien dieser Waffengattung
eine für die taktische Einübung vorteilhaftere Friedensstärke. Er fügte ferner
den vorhandenen 70 europäischen Kavallerieregimentern (die afrikanische zählt
deren 8) noch 6 hinzu. Dagegen ließ er die Artillerie, die entsprechend den
19 Armeekorps 19 Brigaden mit 449 Batterien und 2694 bespannten Ge¬
schützen hat, bei ihrem bisherigen Bestände. Vor etwa zwei Jahren erschien
eine Schrift mit dem Titel: ^vaut 1^ dawillö, die viel Aufsehen erregte, da
man erfuhr, daß Barthelemy, ihr Verfasser, bei seiner Arbeit aus amtlichen
Quellen geschöpft hatte. Sie rechnete für das stehende Heer und dessen Reserve
mit Einschluß aller Mannschaften der verschiednen Hilfsdienste eine Stärke von
2051459 Mann heraus, wobei aber nicht gesagt war, daß ein erheblicher Teil
dieser Masse von Menschen in Uniform beinahe gar keine militärische Aus¬
bildung genossen hatte, also sehr wenig brauchbar sein mußte. Ja diese pa-
pierne Kriegsmacht schrumpfte in der Wirklichkeit auch der Zahl nach nicht un¬
beträchtlich zusammen. Andre französische Schriftsteller geben das Heer erster
Linie auf rund 1186000 Mann an, schießen aber auch damit noch über das
Ziel hinaus; denn die Zahl der wirklichen Streiter darin dürfte eine Million
nicht sehr überschreiten. Diesem Heere der ersten Linie tritt jedoch die Terri¬
torialarmee zur Seite, welche in 145 Regimenter Infanterie, 36 Regimenter
Kavallerie und 270 Batterien Artillerie zerfällt und im Kriege ungefähr
620000 Mann stark sein soll. Das gesamte, für diesen Fall der Regierung
zur Verfügung stehende Menschenmaterial wird von dem Verfasser der genannten
Schrift auf 4108655 Mann angeschlagen. Das ist in der That eine ungeheure
Zahl, namentlich wenn man damit die Thatsache zusammenhält, daß Frankreich
nur etwa 39 Millionen Einwohner hat. Man darf aber dabei nicht außer
Acht lassen, daß Barthelemy seine Schrift zur Beruhigung und Ermutigung
der Franzosen in sehr bewegter Zeit schrieb, wo ein Krieg mit dem deutschen
Reiche vor der Thür zu stehen schien, und daß der Kriegsminister, in dessen
Auftrage und mit dessen Unterstützung er die militärischen Kräfte des Landes
berechnete, Boulanger hieß. Ferner hat sein Buch, wie schon bemerkt worden
ist, in wichtigen Beziehungen Widerlegung durch Fachleute erfahren, unter deren
Prüfung das erwähnte wehrfähige Menschenmaterial Frankreichs sich auf
höchstens Millionen verminderte. Auch das ist noch sehr viel gegenüber
unsern 2^/2 Millionen. Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, daß jene
31/2 Millionen Wehrfähige zum großen Teile noch keine Soldaten sein werden,
wenn der Krieg ausbricht, vielmehr erst welche werden müssen, während die
2^/z Millionen des deutschen Kriegsheeres, die dann aufmarschiren können, mit
viel geringern Ausnahmen mehr oder minder lange Zeit militärische Übung und
Gewöhnung durchgemacht haben werden. Überhaupt hat die Masse hier gewiß
ihre Bedeutung, nicht minder aber auch die Tüchtigkeit, wie Gambetta 1870
und 1871 erfuhr, als er seine Volksheere gleichsam aus der Erde stampfte und
sie fast so rasch geschlagen, zurückgeworfen und zerstreut oder in die Gefangen¬
schaft abgeführt sah, als sie mit den viel weniger zahlreichen, aber kriegs-
tüchiigereu Gegnern zusammenstießen. Vieles ist seitdem in Frankreich anders
und besser geworden, doch gilt hier auch heute noch der Satz, daß nicht sowohl die
Zahl eines Heeres dessen Wert bestimmt, als der Geist, der ihm innewohnt und
es bewegt, die Zucht und die Führung. In dieser Hinsicht läßt die französische
Armee verglichen mit der deutschen offenbar noch jetzt nicht wenig vermissen,
obwohl man sich viel Mühe gegeben hat, sie zu heben, und wie die Dinge liegen,
ist anch nicht zu erwarten, daß es sich damit in der nächsten Zukunft viel bessern
wird. Unstreitig haben die Franzosen mit großer Opferwilligkeit sich bemüht,
ihre im Kriege mit Deutschland fast völlig vernichtete Kriegsmacht wieder her¬
zustellen und auf achtunggebietenden Fuß zu bringen, und unleugbar dürfen sie
in vieler Hinsicht mit Befriedigung auf das blicken, was hier in kurzer Zeit
geleistet worden ist. Aber gerade die kurze Zeit, in der man eine Armee, ge¬
eignet zur Wiedergewinnung der Verlornen Provinzen und des geschwundenen
Ansehens in Europa, zu schaffen suchte, war vom Übel. Die Neubildung mußte
mit kaltem Blute, allmählich, in allen Einzelheiten seich- und naturgemäß und
in stetiger Entwicklung vor sich gehen, wenn sie durchaus Tüchtiges und Festes
zum Ergebnis haben sollte, sie mußte wachsen ohne Anwendung von Treibhaus¬
hitze, sie durfte nicht übereilt werden. Das ist aber in vielen Beziehungen
geschehen, und so zeigen sich in der Organisation des französischen Heeres bei¬
nahe überall Mängel, die auf zu hastigem Schaffen beruhen. Dazu kommt,
daß die Demokratie und der Liberalismus im Grunde das Militär fürchten,
und daß die Republikaner von den Generalen, die sich auszeichnen oder sich
sonst Ansehen zu erwerben verstehen, für den Bestand ihrer Republik Gefahr
drohen sehen. Dies und der Charakter des Parlamentarismus, der unaufhör¬
lichen Wechsel der Parteien in der Staatsleitung verlangt und dies auch auf
die einzelnen Zweige der Verwaltung ausdehnt, bewirkte häufiges Gehen und
Kommen der Kriegsminister, Ersetzung der Systeme, nach denen sie organisirten,
durch andre, die ihnen besser gefielen, und Verschiebungen in den Reihen der
höhern Offiziere, von denen infolge dessen wenige sich in ihr Korps recht ein¬
leben und mit ihm verwachsen konnten. Wir brauchen endlich nur an Boulanger
und an das, was im Zusammenhange mit der über ihn verhängten Untersuchung
an den Tag kam, zu erinnern, um noch auf zwei sehr bedenkliche Gebrechen
der französischen Armee aufmerksam zu mache«: auf die Gewohnheit mancher
höhern Offiziere, sich mit Politik zu beschäftigen, und auf den Mangel an
Disziplin und Subordination, der in dem ganzen Stande sich mehr oder minder
erkennbar zeigt. Das Offizierkorps ist aus sehr verschiednen Elementen zu¬
sammengesetzt, das Volk zerfällt in viele Parteien, der alte Adel und die größere
Hälfte der Bauern, desgleichen die Geistlichen, die immer noch einflußreich sind,
haben sich noch nicht mit der Republik versöhnt, und noch immer giebt es
Bonapartisten. Die Offiziere gehören zwar offen keiner Partei an, aber es ist
sehr fraglich, ob es die adlichen nicht im Stillen mit den Monarchisten halten,
es ist gewiß, daß unter den übrigen noch lebhafte Sympathien mit dem Im¬
perialismus herrschen, und wieder andre können sehr geneigt sein, sich an dem
Streber Boulanger, dem es bisher so gut glückte, ein Beispiel zu nehmen oder
doch sich nach seiner Meinung zu richten, daß der Wehrstand sich von poli¬
tischen Fragen und Bewegungen nicht fern zu halten brauche. Der Geist der
französischen Armee und vornehmlich der, welcher in ihr Offizierkorps Eingang
gefunden hat, die Einheit desselben beeinträchtigt und seinen Sinn für den
Gehorsam schwächt, mag in glücklichen Tagen keine Gefahr sein, er mag der
vielbesprochenen turia (?g.11iW beim Angriffe keinen Eintrag thun; anders aber
ists ohne Zweifel, wenn ein solches Heer Unglück hat und sich nach Niederlagen
Widerstandskraft und Zusammenhalt zu bewahren hat. Die an innerm Werte
unstreitig über der jetzigen Armee Frankreichs stehenden Soldaten Napoleons III.
leisteten in dieser Hinsicht wenig, was soll man da von diesen erwarten? Wir
glauben nicht in die Sünde der Überhebung zu verfallen, wenn es uns scheint,
als sähen wir das Heer der Republik, nachdem der Pariser Dünkel und Taumel
wieder einmal Z. Lsrlin! geschrieen, in noch längern Zügen als 1870 in die
deutsche Gefangenschaft wandern. Dann aber müßte dem gallischen Hahne sein
böses Blut gründlich abgezapft und er, soweit Menschenaugen reichen, für immer
unfähig gemacht werden, uns ein gefährlicher Nachbar zu sein.
le Frage, ob die berufsgenossenschaftlichen Arbeiterverbände mit
ihren neuern Unterstützungseinrichtungen Versicherungszwecke ver¬
folgen und darnach unter die versichernngsgesetzlichen Bestim¬
mungen fallen, d. h. einer besondern staatlichen Genehmigung be¬
dürfen, ist mehrfach Gegenstand der öffentlichen Besprechung
gewesen, seitdem die Behörden auf Grund jener Gesetzesbestimmungen von den
Mitgliedschaften solcher Verbände den Nachweis der staatlichen Zulassung ver¬
langen und ihre Schließung verfügen, sobald sie der gestellten Anforderung nicht
nachkommen.
Der sozialdemokratischen Presse im Bunde mit der deutschfreisinnigen war
es vorbehalten, in diesem Vorgehen, welches lediglich der bestehenden Gesetz¬
gebung Rechnung trägt, eine willkürliche und reaktionäre Maßregel der Regie¬
rung zu entdecken, wonach jeder Rest von selbständiger Arbeiterorganisation ver¬
nichtet werden soll. Als aber u. a. dem ältesten und größten Arbeiterverbande,
dem in Stuttgart seßhaften „Unterstützungsverein deutscher Buchdrucker," auf
sein Gesuch um staatliche Zulassung in Preußen diese gegen Erfüllung der ge¬
setzlichen Vorbedingungen in Aussicht gestellt wurde, richteten sich die giftigen
Ausfälle dieser Presse gegen den Verein selbst; er wurde der Arbeiterschaft unter
dem Titel „Königlich Preußischer Gewerkverein" als „ein trauriges Beispiel
von Selbstentlmnnung" vorgeführt. Damit zeigte sich wieder einmal die wahre
Absicht dieser Presse; sie arbeitet stets darauf hin. das Vertrauen der Arbeiter
zur Staatsregierung mit allen Mitteln zu untergrabe» und eine Verständigung
um jeden Preis zu hintertreiben. Daß mit dem Ratschläge an die übrigen
Verbände, es lieber darauf ankommen zu lasten, als den gestellten Anforde¬
rungen nachzukommen, lediglich zum Ungehorsam gegen bestehende Gesetze auf¬
gefordert wurde, und die Folgen davon die wirklichen Arbeiterinteressen schwer
schädigen mußten, war den ehrenwerten Ratgebern natürlich gleichgiltig.
Zu einer sachlichen Beantwortung der gestellten Frage müssen wir uns
zweierlei vergegenwärtigen: einerseits die heutige Arbeiterorganisation in ihrem
neuern Entwicklungsgange, anderseits die einschlägige Gesetzgebung in ihrer An¬
wendung darauf.
In ersterer Beziehung läßt sich nicht verkennen, daß die modernen Jn-
dustrieverhältnisse, die den gewerblichen Lohnarbeiterstand erzeugten und diesen
bei zunehmender Entwicklung in seiner wirtschaftlichen Lebenslage vielfach ge¬
fährdeten, in der Arbeiterschaft eine entsprechende Reaktion hervorriefen, die
sich anfänglich in schüchternen Organisationsversuchen mit örtlichen Zuschnitte
äußerte, allmählich aber immer festere Gestaltung annahm und schließlich zu
eigentümlich ausgebildeten Organisationen auf nationaler, zum Teil schon inter¬
nationaler Grundlage führte, wie sie in dem Buchdruckerverbande und den
gleichartigen „Unterstützungsvereinen der .... und verwandter Berufsgenossen
Deutschlands" gegenwärtig bestehen. Diese bezwecken der Hauptsache nach, die
Berufsgenossen in ihrer sozialen Lage gegen jene Fährnisse sicherzustellen, und
erscheinen ihrem ganzen Wesen nach als eigenartige Fortbildungen auf dem Ge¬
biete der gegenseitigen Versicherung mittels berufsgenosseuschaftlicher Selbsthilfe.
Hinsichtlich der allgemeinen Entwicklungsgeschichte dieser Organisationen,
ihrer Beziehungen zur Sozialdemokratie und ihrer gegenwärtigen Ausbreitung
in Deutschland können wir uns auf unsern frühern Aufsatz über „Die moderne
Arbeiterbewegung" (in Ur. 41 und 42 des Jahrgangs 1886 dieser Zeitschrift)
beziehen und uns hier darauf beschränken, sie nnr nach der für die vorliegende
Frage interessirenden Seite zu behandeln, d. h. in ihrer Stellung zur Lohn-
»ut Uuterstützungsfrage, oder richtiger: zum Streik- und Versicherungswesen.
Obwohl hier anscheinend nur das letztere in Frage kommt, lassen sich doch beide
nicht gut von einander trennen, da sie ein geordnetes Kassenwesen zur gemein¬
samen Voraussetzung haben und nach Ansicht der beteiligten Kreise sich sogar
wechselseitig bedingen. Wenngleich die meisten Arbeiterverbände die „Förderung
der materiellen und geistigen Interessen" der Berufsgenossen an die Spitze ihrer
Satzungen stellen und sich in der Aufzählung der dazu geeigneten Mittel fast
erschöpfen, so geht doch unter den heutigen Verhältnissen durch die ganze Be¬
wegung unverkennbar das Bestreben, jene beiden Dinge als den Angelpunkt der
ganzen Arbeiterorganisation zu betrachten, d. h. den Verbands- und Berufs-
genossen in. erster Linie eine auskömmliche und gesicherte Existenz zu gewähr¬
leisten. Die Rücksichtnahme auf diese nächstliegenden Bedürfnisse läßt sich aus
der überraschenden Gleichförmigkeit aller dieser Organisationen sofort erkennen.
In der Regel ist die Einteilung eine dreigliedrige: die unterste Stufe
bilden die örtlichen Mitgliedschaften, das Mittelglied stellen die Gau- oder Be-
zirksvereiue dar, die sich aus den Mitgliedschaften größerer Bezirke zusammen¬
setzen, und den einheitlichen Abschluß nach oben erhält der nationale Gesamt¬
verband in dem leitenden Hauptvorstande. Die beschließende Gewalt steht den
aller zwei oder drei Jahre zusammentretender Generalversammlungen zu, und
als Vereinsanzeiger und zugleich geistiges Bindemittel dient ein sogenanntes
Fachblatt. Da die ganze Exekutivgewalt in die Hand des Verbandsvor¬
standes gelegt ist, so ist klar, daß bei der streng durchgeführten Zentrali-
sation ein solcher über das ganze Reichsgebiet verzweigter Verband gegebenen¬
falls eine außerordentliche Wirkungsfähigkeit entwickeln kann. Diese findet aber
ihren eigentlichen Stützpunkt erst in der regelmäßigen Verbindung der bloßen
Vereinsorganisation mit sogenannten Unterstützungskassen, deren einheitliche
Verwaltung ebenfalls vom Verbandsvorstande ausgeht.
Diese Kasseneinrichtungen bezwecken im allgemeinen die Sicherstellung der
Vcrbandsgenossen bei Arbeitslosigkeit (Streik, Aussperrung, Arbeitsmangel),
Arbeitsunfähigkeit (Krankheit, Unfall, Invalidität). Todesfall und andern Not¬
fällen. Hier interessirt nur der erstgedachte Versicherungszweig, weil dieser für
die vorliegende Streitfrage von ganz besondrer Bedeutung ist, und die übrigen
Versicherungszweige, insoweit sie nicht bereits eine reichsgesetzliche Regelung
gefunden haben, aus Mangel an den dazu erforderlichen Mitteln meist nur
vereinzelt und versuchsweise betrieben werden.
Die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit zerfällt regelmäßig in zwei Arten:
die Unterstützung „auf der Reise" und „am Orte." Die erstere findet ihren ge¬
schichtlichen Anknüpfungspunkt in dem sogenannten Viatikum, dem alten Hand¬
werksbrauch, wandernde Berufsgenossen durch freiwillige Gewährung von Herberge
und Zehrpfennig von Ort zu Ort zu unterstützen; sie hat sich aber den mo¬
dernen Bedürfnissen entsprechend jetzt durch enge Anlehnung an die oben
geschilderten Verbandsorganisativnen zu einer festgegliederten Einrichtung aus¬
gebildet und dient vornehmlich dazu, beim Eintritt von Streiks oder Aus¬
sperrung die nicht an den Ort gebundenen (unverheirateten) Verbandsgenosscn
von den im Aufstande befindlichen Plätzen sofort abzuschieben und damit einer¬
seits den Abziehenden bis zur Auffindung eines anderweiten Arbeitsverhältnisses
die nötigen Unterhaltsmittel zu gewährleisten, anderseits durch die Verringerung
des Arbeitsangebots einen entsprechenden Druck auf die Arbeitgeber auszuüben.
Die andre Unterstützung dient unter den nämlichen Voraussetzungen zur Sicher¬
stellung der verheirateten oder sonst an den Ort gebundenen Verbandsgenossen
während der Dauer des Aufstandes.
Allerdings ist nicht ausgeschlossen, daß diese Kasfeneinrichtungen auch bei
rein zufälliger Arbeitslosigkeit (wegen mangelnder Nachfrage) wirksam werden,
doch weist die ganze Art und Weise ihrer Einrichtung und Verwaltung, ins¬
besondre die enge Anpassung an die Verbandsorganisationen, darauf hin, daß
sie in erster Linie diesen die notwendige Ergänzung und Widerstandskraft zur
Durchführung sogenannter „normal-Lohntarife" für die bezüglichen Gewerbs-
zweige geben sollen, deren „Minimalsätze" den örtlichen Verhältnissen durch
entsprechende „Zuschlage" angepaßt werden. Dies springt sofort in die Augen,
wenn man sich vergegenwärtigt, wie die ganze Einrichtung bei solchen Tarif-
streitigkeitcn wirkt und das früher regellose und örtlich gebundne Streikwesen
planmäßig geordnet hat.
Sobald nämlich an irgend einem Orte ein Streik in Aussicht steht, hat
der Vorstand der betreffenden Mitgliedschaft unter Beifügung der nötigen
Unterlagen zunächst die Entscheidung des Hauptvorstandes einzuholen. Fällt
diese gegen den Streik aus, so muß sich die Mitgliedschaft dem fügen, widrigen¬
falls sie auf eigne Gefahr handelt oder auch den Ausschluß aus dem Verbände
zu gewärtigen hat. Erklärt sich aber der Hanptvorstaud für den Streik, so ist
dieser damit zur Verbandssache gemacht, d. h. der Ortsvorstcmd erhält die er¬
forderlichen Geldmittel aus der Hauptkasse angewiesen (oft unter Festsetzung
der an die streikenden und abzuschiebenden Genossen zahlbaren Unterstützungen),
während zugleich im Verbandsblatt und in der Fachpresse vor Zuzug nach dem
im Aufstande befindlichen Orte gewarnt und um entsprechende Geldsammlungen
(zur Deckung der Vorschüsse oder Ausfälle) gebeten wird. Das weitere Ver¬
fahren ist dann verschieden, je nachdem es sich um einen „partiellen" oder
„generellen" Streik handelt. Weigern sich nämlich nur einzelne Arbeitgeber,
die gestellten Forderungen zu bewilligen, so wird über diese die „Sperre"
verhängt, d. h. die Arbeit wird bei ihnen eingestellt und nicht eher wieder auf¬
genommen, als bis einer der beiden Teile nachgiebt. Dieses Verfahren bietet
den doppelten Vorteil, daß einerseits die teilweise Gewährung der Forderungen
diese eher als berechtigt erscheinen lassen, anderseits die Kassenmittcl nicht so
stark in Anspruch genommen werden. Kommt es dagegen auf der ganzen Linie
zum Streik (Generalstreik), so wird der ganze Ort als im Aufstande befindlich
behandelt. In beiden Fällen treten sofort die Unterstützungskassen in Wirk¬
samkeit und ermöglichen erst die praktische Durchführung des Streiks.
Es läßt sich nicht leugnen, daß eine solche Organisirung die Streike ver¬
hältnismäßig seltener macht, dafür hat aber die weitere Ausbildung und Be¬
festigung solcher Berufsverbände, insbesondre durch Eingehung wechselseitiger
Kartellverbindungen mit den ausländischen Vereinen, zur notwendigen Folge,
daß der Kampf zwischen Arbeit und Kapital eine breitere Grundlage und größere
Schärfe annimmt, und damit den bestehenden Klassengegensatz noch greller
zum Ausdruck bringt.
Der erste deutsche Arbeiterverband, der die eben dargelegten Grundsätze
durchführte und allen spätern Bildungen zum Muster diente, war der vielbe¬
sprochene Buchdruckerverband.
Nachdem der Gedanke, die gesamte Buchdruckergehilfenschaft Deutschlands
einheitlich zu organisiren, zuerst gegen Ende der vierziger Jahre zu der vor¬
übergehenden Verbindung des „Deutschen Nationalbuchdruckervereins," später
„Gutenbergbundes" geführt hatte, wurde er aus Anlaß eines höchst kostspieligen
und doch erfolglosen Streiks in Leipzig im Jahre 1866 wieder aufgenommen
und führte dort auf dein „ersten deutschen Buchdruckertage" (20, bis 22. Mai
1866) zur Begründung des „Deutschen Buchdruckerverbandes/' Man begnügte
sich zunächst damit, die leitenden Grundsätze festzustellen und durch Einsetzung
einer Kommission, sowie Beschaffung eines Fachblattes (des „Korrespondenten"
in Leipzig) eine vorläufige Organisation zu schaffen. Als nächste Hauptaufgabe
galt es, das vorhandene Netz der örtlichen Vereine und Kassen möglichst zu
vervollständigen und überall den Grundsatz der Freizügigkeit und Gegenseitigkeit
zur Anerkennung zu bringen. Erst nachdem dies gelungen und das Feld ent¬
sprechend geebnet war, kam das Zentralisationsprinzip zur strengen Durch¬
führung, die bisher selbständigen Fachvereine wurden Mitgliedschaften des
Verbandes, für die das Hanptstatut bindend war. und die örtlichen Unter¬
stützungskassen verwandelten sich in Zahlstellen einheitlicher Verbandskassen. So
wurde am 1. Oktober 1875 eine Verbandskasse zur Unterstützung der Arbeits¬
losen auf der Reise begründet, am 1. Januar 1879 die „Zentralinvalidenkasse"
eröffnet, am 1. Januar 1880 die Wirksamkeit der erstem auch auf die Unter¬
stützung der Arbeitslosen am Orte ausgedehnt („Allgemeine Verbandskasse")
und am ö. Juli 1881 die „Zcutralkranken- und Begräbniskasse" ins Leben
gerufen.
Nach Inhalt der gegenwärtigen Verbandssatzungen und Kassenordnungen
ist die Verfassung des Buchdruckerverbandes — oder des „Unterstützungsvereins
deutscher Buchdrucker," wie er sich seit Verlegung seines Sitzes nach Stuttgart
(im Jahre 1878) nennt — folgende: die örtlichen „Mitgliedschaften" einer
Provinz bilden den „Gauverein" und sämtliche Gauvereine den Gesamtverband;
als Verwaltungsorgane wirken die betreffenden Vorstände (Orts-, Gan- und
Vereinsvorstand) und als gesetzgebende Körperschaften die aller drei Jahre ans
Abgeordneten der Gauvereine zusammentretender Generalversammlungen. Mit
dieser Vereinsorganisation sind die vorbezeichneten Unterstützungskassen — mit
Ausnahme der als „eingeschriebene Hilfskasse" abgesonderten Zentralkranken- und
Begräbniskasse — derart verschmolzen, daß in Wirklichkeit nur ein einheitlicher
Verwaltungskörper besteht, obgleich die verschiednen Kassen getrennte Buch¬
führung haben. So bildet jede Mitgliedschaft zugleich eine mit Stellennachweis
verbundene Zahlstelle, welche von einem besoldeten (Orts-)Verwalter, der zugleich
Mitglied des Ortsvorstandes ist, versehen wird; diese steht unter der Aufsicht des
Gauvorstandes, erhält von diesem die zur Auszahlung der Unterstützungen er¬
forderlichen Kassenmittel angewiesen und hat monatliche Abschlüsse an den dem
Hauptvorstande angehörenden Hauptverwalter einzusenden, von welchem er die
gesamten technischen Anweisungen nebst Formularen u. s. w. empfängt.
Die Gauvorstände wieder stehen in vierteljährlicher Abrechnung mit dem
Berbcmdsvorstande, indem sie die Überschüsse an den Hcmptkassirer abführen
oder etwaige durch Vcrbandsausgaben veranlaßte Ausfälle zur Erstat¬
tung aufgeben. Endlich sind sämtliche Verbandsbeiträge und -Unterstützungen
einheitlich festgesetzt, und die letztern werden nur an Verbands- oder Kartcll-
genosscn ausgezahlt; ein derartiges Verhältnis besteht aber nicht blos; mit den
besondern Landesverbänden für Baiern und Elsaß-Lothringen, sondern auch mit
den Buchdruckerverbänden der meisten außerdeutschen Länder.
Schon allein der Stuttgarter Verband zählt von den 19 000 Vuchdrucker-
gchilfen Deutschlands an 13 000 zu seinen Mitgliedern in 22 Gauvercinen und
1254 Mitgliedschaften und arbeitet mit einem jährlichen Gesamtkapital von mehr
als 1^/2 Millionen Mark. So betrug nach der Jahresabrechnung für 1886:
Nähere Angaben über die Entwicklung und Wirksamkeit dieses Verbandes finden sich
in einer Abhandlung, die der Verbandsvorstand unter dem Titel: „Zur Arbeiter¬
versicherung, Geschichte und Wirken eines deutschen Gewerkvereins, 1866 bis
1882" in Leipzig im Jahre 1883 herausgegeben hat.
Seit einiger Zeit haben diese Berufsverbände eine überraschend schnelle
Ausbreitung gewonnen (gegenwärtig etwa vierzig mit annähernd 100000 Mit¬
gliedern und 2400 Mitgliedschaften) und durchweg das Bestreben zu erkennen
gegeben, sich auf der ausschließlichen Grundlage des § 152 der Neichsgewerbe-
ordnung zu geschlossenen Lohn- und Streikvereinigungcn zu entwickeln. Aus
den oben angeführten Gründen trat deshalb das Unterstützungs- und Ver¬
sicherungswesen bald derart hervor, daß es zum Schwerpunkt der ganzen Orga¬
nisation wurde. Gleichwohl sind diese Unterstützungs- und Versicherungskassen
nicht Selbstzweck, sondern sie sollen nur als Mittel zu andern Zwecken dienen,
nämlich zur weitern Kräftigung der Berufsverbände, um diese für den geschlos¬
senen Kampf gegen das Kapital und in weiterer Folge wohl gegen die ganze
heutige Wirtschaftsordnung widerstandsfähig zu machen.
Diese Verhältnisse führten vielfach zu einem unerträglichen, nach dem
Gesetz kaum faßbaren Terrorismus, der sich nicht bloß den Arbeitgebern,
sondern auch den Verbandsmitgliedern selbst fühlbar machte; es blieb daher
nicht aus, daß sich die erstem durch Gegenvereinigungen zu schützen suchten,
wie z. B. die sämtlichen Berliner Bauunternehmer aus Anlaß des allgemeinen
Streiks der 14 000 Maurer im Jahre 1885.
So traten sich wiederholt Kapital und Arbeit in geschlossenen Verbänden
gegenüber, die einander mit allen gesetzlich irgend zulässigen Mitteln bekämpften.
Je mehr sich diese Verhältnisse zuspitzten und der Lohnkampf sich auf berufs-
genosfenschaftlichcr Grundlage, d. h. einheitlich durch ganze Gewerbszweige, or-
ganisirte, desto größer wurde die Gefahr, daß dieser wirtschaftliche Krieg nicht
auf die Beteiligten beschränkt bleiben, sondern auch weitere Kreise in Mitleiden¬
schaft ziehen und so das allgemeine Wohl wie den sozialen Frieden gefährden
würde. Unter solchen Umständen war es ganz natürlich, daß die Staatsbehörden
nach einer gesetzlichen Einwirkung auf die fernere Entwicklung dieser Bewegung
strebten und die rechtliche Unterlage dafür bei dem starken Hervortreten des
Versicherungswesens in den versicherungsgesetzlichen Bestimmungen fanden, die
u. a. für Preußen das Strafgesetzbuch vom 14. April 1851 in H 340 6, insbesondre
das Versicherungsgesetz vom 17, Mai 1853 darboten, und die Reichsgesetzgebung
durch § 360 9 des Reichsstrafgesetzbuches ausdrücklich aufrecht erhalten hatte.
Wenn bei der Übertragung dieser Gesetzesbestimmungen auf die vorge¬
schilderten Verhältnisse mancherlei Mißverständnisse mit untergelaufen sein mögen,
auch von den Gerichten vielfach widersprechende Entscheidungen gefällt worden sind,
so dürfte dies nicht bloß auf die Eigentümlichkeit des dargelegten Entwicklungs-
prozefses, sondern vornehmlich darauf zurückzuführen sein, daß die einschlägige
Gesetzgebung eine überaus verschiedne Auslegung und Anwendung zuläßt.
Da wir uns hier auf die preußische Gesetzgebung beschränken wollen, wird
es namentlich darauf ankommen, klarzumachen, was diese unter „Gesellschaften"
und insbesondre unter „Versicherungsgesellschaften" versteht. Wir behaupten
nämlich, daß die in Rede stehenden Unterstützungsverbände an und für sich als
„erlaubte" Gesellschaften (s.A.L.-R. II. 6, 2 bis 21) dem staatlichen Aufsichts¬
recht und bei Feststellung ihrer Gemeinschädlichkeit der zwangsweisen Schließung
im Aussichtswege unterliegen, aber als gegenseitige „Versichcrungs"-Gesellschaften
nach Maßgabe der vorerwähnten versichernngsgesetzlichen Bestimmungen noch
einer besondern staatlichen Zulassung bedürfen und durch eine solche (nur landes¬
polizeiliche) Bestätigung ihrer Statuten lediglich die Eigenschaft ausdrücklich
erlaubter, d. h. „privilegirter" Gesellschaften (s. A. L.-R. II, 6. 22 bis 24)
— aber nicht die Korporationsrechte, s. § 25 — erhalten.
Das Allgemeine Landrecht versteht unter Gesellschaften Verbindungen
mehrerer Personen zu einem gemeinschaftlichen Endzwecke und unterscheidet
zunächst zwischen „Korporation" und „Sozietät" (A. L.-R. II, 6. Z§ 1, 26 ff.
und I. 17. §s 169 ff.).
Die erstere bedeutet einen Personenverband mit veränderlichem Mitglieder¬
bestände und korporativer Verfassung zu fortdauernden gemeinnützigen Zwecken;
ihre Entstehung, Fortdauer und Auflösung ist derart an die Mitwirkung des
Staates gebunden, daß sie vornehmlich dem öffentlichen Rechte angehört.
Die Sozietät dagegen ist eine Personenverbindung mit individuell bestimmtem
Mitgliederbestande und ohne korporative Verfassung zu vorübergehenden eigen¬
nützigen (meist Erwerbs-)Zwecken; sie erheischt keinerlei staatliche Mitwirkung
und gehört durchaus dem Privatrechte an.
Zwischen die Korporation und die Sozietät, von denen die erstere nach
innen und außen, die letztere nach keiner von beiden Seiten eine juristische Person
darstellt, hat nun das A. L.-R. (II. 6, ZZ 2—24) die ihm eigentümlichen „er¬
laubten," beziehentlich „privilegirten" Gesellschaften eingeschoben, welche nur nach
innen, aber nicht nach außen als juristische Personen behandelt und deshalb in
der Rechtswissenschaft"') auch vielfach als „halbe juristische Personen" oder als
„korporative Gesellschaften" bezeichnet werden; sie bedeuten Pcrsonenverbindungen
mit veränderlichem Mitgliederstande und nur nach innen korporativer Verfas¬
sung, die nicht ausschließlich gemeinnützigen oder privaten Interessen dienen,
vielmehr die Förderung gewisser Kollektivinteressen, insbesondre der sozialen Be¬
rufsinteressen bezwecken. Die Gesellschaften dieser Art wurzeln ein sich im Pri¬
vatrechte, berühren aber in ihrer Wirksamkeit derart das öffentliche Interesse,
daß sie gleich den Korporationen durchweg der Staatsaufsicht unterworfen und
teilweise, namentlich durch die spätere Gesetzgebung, von einer besondern staatlichen
Zulassung abhängig gemacht worden sind. (II, 13, Z 13, I, 11, § 651 a. a. O.)
Die grundsätzliche Verschiedenheit dieser drei Arten von Gesellschaften tritt
schon in privatrechtlicher Beziehung, d. h. hinsichtlich der Rechts- und Proze߬
fähigkeit, scharf hervor.
Nur die Korporation stellt ein von ihren Mitgliedern verschiednes selb¬
ständiges Rechtssubjekt dar; sie allein kann deshalb unter ihrem Namen Rechte
(insbesondre Grundeigentum) erwerben und Verbindlichkeiten eingehen, vor Ge¬
richt klagen und verklagt werden; das Geschäftsvermögen gehört ihr, und sie
haftet damit für die Gesellschaftsschulden; der einzelne Gesellschafter wird per¬
sönlich weder berechtigt noch verpflichtet und hat beim Ausscheiden keinen Ab¬
findungsanspruch, auch wird das Gesellschaftsvermögen bei Auflösung der Kor¬
poration nicht verteilt, sondern verbleibt seiner gemeinnützigen Bestimmung, d. h.
im Zweifel dem Staate.
Die Sozietät dagegen bildet kein eignes Rechtssubjekt, ist daher als solche
rechtsuufähig, d. h. nur die Gesellschafter werden persönlich und solidarisch be¬
rechtigt wie verpflichtet; das Gesellschaftsvermögen ist ihr gemeinschaftliches
Eigentum, der Ausscheidende kann die Herausgabe seines Anteils verlangen,
und bei der Auflösung der Gesellschaft findet die Verteilung unter die übrig
gebliebenen statt.
Auch die „erlaubte" Gesellschaft stellt als solche kein eignes Rechtssubjekt
dar, weil es an der dazu erforderlichen Voraussetzung, d. h. der ausdrücklichen
Anerkennung des Staates, fehlt; es ist daher durchaus folgerichtig, daß diesen
Gesellschaften in Z 13, II, 6 A. L.-R. die Rechtsfähigkeit ausdrücklich abgesprochen
ist, und wenn demgegenüber die neuere Gerichtspraxis**) allen Gesellschaften
mit veränderlichem Mitgliederbestande oder korporativer Verfassung, aber ohne
juristische Persönlichkeit ausnahmslos die Fähigkeit zuspricht, unter ihrem Namen
Rechte und Pflichten zu übernehmen und Prozesse zu fuhren, so kann dieser
Grundsatz bis zur reichsgesetzlichen Regelung des Vereins- und Versicherungs¬
wesens (Art. 4 der Reichsverfassung) für das allgemein-landrechtliche Gebiet
nur die Bedeutung eines Gewohnheits- oder Juristenrechts haben, mithin nach
dem Systeme des A. L.-R (§H 59 und 60 der Einleitung) keine Rechtsgiltigkeit
beanspruchen.
Dagegen sollen diese Gesellschaften gemäß Z 14, II. 6 des A. L.-R. nach
innen die Rechte einer juristischen Person haben, und aus dieser eigentümlichen
Mittelstellung zwischen Korporation und Sozietät erklärt sich, daß nach außen,
d. h. dritten gegenüber, die jedesmaligen Gesellschafter persönlich und gemeinsam
(pro rata) haften, daß aber diese Haftpflicht durch den Betrag des Gesellschafts¬
vermögens, welches als Eigentum der jedesmalige!, Mitglieder anzusehen ist,
begrenzt wird; ferner daß der ausscheidende Gesellschafter keine Abfindung be¬
anspruchen kann, dagegen bei der Auflösung eine Verteilung des Vermögens
nicht ausgeschlossen ist.
Eine ähnliche Dreiteilung der Gesellschaften hat sich neuerdings auch auf
dem Gebiete des gemeinen Rechts ausgebildet, indem die neuere Reichsgesetz¬
gebung zwischen der gemeinrechtlichen univsrsitAs und sooistW, welchen die
landrcchtliche Korporation und Sozietät im wesentlichen entsprechen, die soge-
nannnten Genossenschaften eingeführt hat, deren charakteristisches Merkmal in
der Solidarbürgschaft der Genossenschafter mit ihrem ganzen Vermögen, d. h in
einer kombinirten Haftung des Genossenschaftsvermögens und der Genossen¬
schafter, also der Einheit und der Einzelnen gegen Dritte besteht. Die Rechts¬
wissenschaft verhält sich dieser, auf Prof. Beseler zurückgeführten Erfindung
gegenüber allerdings ziemlich ablehnend, indem hervorragende Rechtslehrer des
gemeinen Rechts, wie z. B. Windscheid (römisches Recht) und Stobbe (deutsches
Recht) eine solche Zwischenfigur für überflüssig und den Begriff der Korporation
für völlig ausreichend erachten, sobald man nur zwischen Korporationen im
öffentlich-rechtlichen und im privatrechtlichen Sinne unterscheide. Indessen bliebe
dann noch immer die persönliche Haftung der Genossenschafter zu erklären, die
sich aus dem Begriffe der juristischen Person weder ableiten noch damit ver¬
einigen läßt, wenngleich das praktische Bedürfnis einer solchen verstärkten Haft¬
barkeit bei der hier durch keine Mitwirkung des Staates gewährleisteten Soli-
dität und Lebensfähigkeit ohne weiteres einleuchtet. Die Reichsgesetzgebung selbst
hat es vermieden, sich über den eigentlichen Rechtscharakter dieser Zwischen¬
bildungen bestimmt auszusprechen, und dieselben keineswegs immer gleichartig
behandelt, wie eine Vergleichung der unten angeführten Gesetzesstellen*) ergiebt;
insbesondre ist die Eigenschaft der Handelsgesellschaften überaus bestritten, je
nachdem der Sozietäts- oder der Korporationscharakter für bestimmend ange¬
sehen wird, indem keiner von beiden zu reiner Geltung kommt, vielmehr beide
aus Zweckmäßigkeitsgründen mit einander vermengt sind.
(Schluß folgt.)
es habe die Menschen sehr lieb, und das fühlt alt und jung,
suche immer die guten Seiten der Menschen zu erspähen und
überlasse die schlimmen dem, der sie schuf und der es am besten
versteht, die Ecken abzuschleifen. So gestand derselbe Goethe von
sich, der schon zu Lebzeiten mit dem Vorwurf des Egoisten be¬
lastet wurde, sodaß Riemer die abwehrende Bemerkung machen mußte: „Nun
heißt der ein Egoist, der zuerst sich selbst zu etwas machte, um andern etwas
zu sein; der sich zuerst selbst mannichfach ausbildete, um als Gebildeter auch
für andre zu wirken." Indes ist kein Vorurteil gegen Goethe hartnäckiger,
als eben dieses tölpelhafte: sie lasse» den großen Dichter gelten, aber zugleich
erklären sie ihn auch für den großen Egoisten, und merken dabei nicht, daß die
eine Eigenschaft mit der andern in unvereinbarem Widerspruch steht. Wie kaun
man ein großer Künstler, ein großer Dichter sein und der Liebe entbehren?
Wer ist mehr für das Mitleid empfänglich, als der, hellsehende, objektive
Dichter von Goethes Art, der sich unmittelbar in die Zustände und Stim¬
mungen der verschiedensten Charaktere zu versetzen vermag? Wie kann
soviel Weisheit sich in einem Menschen wie Goethe vereinigen mit Selbsncht?
Er war denn auch nichts weniger als Egoist, und wenn irgend etwas davon
auch den beschränktesten Verstand überzeugen kaun, so muß es der Nachweis
sein, daß Goethe ein Kinderfreund der liebenswürdigsten, hingebendsten Art, ein
Erzieher von seltener Begabung gewesen war. Neben seiner reichen Thätigkeit als
Dichter und Forscher, als Beamter und Staatsmann hat Goethe, der seine Zeit
stets wohl zu verwerten wußte, noch immer Muße und Neigung gefunden, über
Erziehung nicht bloß nachzudenken, sondern auch sich selbst praktisch als Erzieher
zu bethätigen. Er war nichts weniger als ein aristokratischer Hagestolz, wie ihn
ferner stehende Zeitgenossen beurteilten; er bewahrte sich bis ins höchste Alter
das Interesse am Familienleben, ganz im Geiste seiner lebensfreudigen Welt¬
anschauung; zu allen Zeiten seines Lebens griff er mit Rat und That fördernd,
aufklärend, ermutigend, mit pädagogischen Takte in das Familienleben seiner
Freunde ein und wurde auch hier als der überlegene Geist anerkannt.
In dieser pädagogischen Thätigkeit hat ihn Adolf Langgut!), selbst ein
Pädagoge von Beruf, studirt und in einem vortrefflichen Büchlein: Goethe
als Pädagog (Halle a. d. S., Max Niemeyer, 1887) anschaulich, auf Grund
des reichen urkundlichen Materials dargestellt. Langguth hat mit diesem Buche
seine 1886 erschienene umfassende Darstellung von „Goethes Pädagogik" in
der Weise ergänzt, wie sich das Bild des Praktikers zu dem des Theoretikers
verhält.
In Goethes Art lag es nicht, ein wissenschaftliches System zu konstruiren,
Goethe war vor allem eine künstlerische Natur, die lebensvoll gestaltete, sich
aber nicht einschnüren lassen mochte. Aber Goethe, der leidenschaftliche Natur¬
forscher und geschworne Empiriker, beobachtete sehr viel und sehr glücklich; seine
Anschauung drang intuitio von der Oberfläche der Dinge zu ihrer Idee vor,
weshalb es ja auch vorzukommen pflegte, daß er unbewußt deduktiv dachte.
Daher kam es, daß in allen seinen aphoristischen Aufzeichnungen sich ein gro߬
artiger Zusammenhang offenbaren mußte: die Einheit seiner eignen geistigen
Natur. Es hat auch nicht an Versuchen gefehlt, diese aus den zahllosen ge¬
legentlichen Äußerungen darzustellen, wie es am umfassendsten Otto Harnack in
seinem Buche „Goethe in der Epoche seiner Vollendung" gethan hat. Die
Pädagogik Langguths war auch auf gelegentliche Äußerungen Goethes an¬
gewiesen und hat in vorzüglicher Weise, mit voller Beherrschung des reichen
Materials, ihre Aufgabe gelöst. Sie stellt Goethe im Zusammenhang mit den
pädagogischen Bemühungen seines Zeitalters dar, entwickelt die Grundsätze
Goethes und baut sein Ideal der Erziehung nach den betreffenden Kapiteln des „Wil¬
helm Meister" und nach andern Stellen auf. In dem neueren Buche führt uns
Langguth Goethen als praktischen Erzieher vor: in seinem Verkehre mit den
Kindern des d'Orvillschen Hauses zur Wertherzeit, in seinem väterlichen Zu¬
sammenleben mit Fritz von Stein, in seiner rührenden Aufmerksamkeit für die
Kinder seiner Freunde Herder, Schiller, Knebel, Jakobi, in seiner wichtigsten
pädagogischen Leistung an dem jungen Karl August u. s. w. Langguth hat alle
erreichbaren Nachrichten über Goethes Verkehr mit der Jugend gesammelt und
nichts ausgelassen, was ein Licht auf die Herzensgüte des Dichters werfen könnte.
Er hat damit eines der liebenswürdigsten Bücher der Goethe-Litteratur geschaffen.
Um Goethe für pädagogische Fragen und Angelegenheiten von Jugend an
lebhaft zu erwärmen, traten zahlreiche Motive ins Spiel. Schon die Zeit
seines Eintritts in die Litteratur wirkte dabei mit. Rousseau hatte 1764 seinen
pädagogischen Roman Lmiliz veröffentlicht und damit eine ungeheure Bewegung
der Geister hervorgerufen. Sein Ruf nach Rückkehr zur Natur, seine Mahnungen
zu einer humanen Erziehung der Jugend, seine Forderungen der Abschaffung
der häuslichen Prügelstrafen, der sorgfältigen Behandlung des Körpers, der
Milderung des pedantisch strengen Tones im Verkehr zwischen Eltern und Kin¬
dern, der Einführung des Anschauungsunterrichts und Vermeidung des abstrakten
Gedächtniskrames, alle diese neuen Gedanken und die zahlreichen feinen Beob¬
achtungen an der Kindesseele wirkten wie eine Offenbarung auf die Zeitgenossen.
In Deutschland entstanden neue Erziehungsanstalten nach Rousseaus Grund¬
sätzen, und ein Schwärmer wie Lavater, ein derber Schulmeister wie Basedow
machten Propaganda für die neuen „Philanthropine." Basedow wanderte von
Stadt zu Stadt, um Geldbeiträge für Gründung eines solchen zu sammeln,
und auch der junge Goethe zu Weimar half ihm dabei. Von welchem Ein¬
flüsse Rousseau auf Goethes Gesinnung und Dichtung wurde, ist aus den
„Leiden des jungen Werthers" bekannt. Langguth führt aber ferner den Nach¬
weis, daß auch die Erziehungsszene im ersten Götz-Entwurf (Karl, Maria, Eli¬
sabeth) auf die Kenntnis Rousseaus zurückzuführen sei; und ebenso der bedeut¬
same Scherz Götzens mit seinen Sohne, der wohl richtig auswendig gelernt hat,
daß Jaxthausen eine Burg an der Faxt sei, diese selbst aber nicht auf allen Pfaden,
Wegen und Furten wie der junge Götz wandernd mit eignen offnen Augen
kennen gelernt hat.
Allein bei Goethes Interesse für pädagogische Fragen spielte auch seine
Persönlichkeit als Künstler und Mensch mit. Goethe liebte die Kinder und die
Jugend überhaupt. Der Umgang mit ihnen machte ihn wieder froh und jung,
wie er selbst sagt. „War er nicht ganz ein Kind — führt Langguth aus —
in der Freude und Lust an der sinnlichen Anschauung, und zwar Zeit seines
Lebens? Noch im Jahre der Reise nach Italien schreibt er aus München:
»Herder hat wohl Recht zu sagen, daß ich ein großes Kind bin und bleibe, und
jetzt ist es mir so wohl, daß ich ohngestrast meinem kindischen Wesen folgen
kann.« Der Knabe Wolfgang findet an den Seifenblasen ein buntes Spiel¬
werk, es blendet ihn die glänzende Farbenerscheinung, wenn er durch ein ge¬
schliffenes Glas die Welt ansieht; bei Goethe dem Greis, dem guten Großvater,
wie ihn Marianne von Willemer nennt, erregen Äpfelchen, ein Geschenk Ma¬
riannens für seinen Enkel, den Wunsch, Kind zu sein. Er braucht immer jemand
Fremdes, mit dem er wachsen, dem er seine zunehmenden Kenntnisse mitteilen
kann." In einem Briefe an Frau von Stein äußert Goethe einmal, indem
er von ihrem Sohne Fritz, der mit ihm gezogen war, berichtet: „Mit Fritz an
einem Tische habe ich eine Kanzlei aufgeschlagen, er ist recht gut, lieb und rein.
Christus hat recht, uns auf die Kinder zu weisen, von ihnen kann man leben
lernen und selig werden." Wenn er an Lotte und Kestner, später aus Italien
an Herder schrieb, vergaß er nie, die Kinder ausdrücklich zu grüßen, oder er
schrieb ihnen ganz eigens einen Brief, sandte ihnen kleine Geschenke, Aufmunte¬
rungen und Belohnungen, ganz besonders seinem geliebten Fritz von Stein, den
er früh schon zum Vertrauten seiner Arbeiten und Geschäfte gemacht hatte. Der
Knabe der geliebten Frau erfreute sich Zeit seines Lebens der Gunst Goethes. Wie
er anfänglich Liebesbote war, den Freund der Mutter mit Briefchen aufsuchte
und nie ohne ein solches von Goethes Hand zurückkehren wollte, so war Fritz
von Stein nach dem Bruche des Liebesverhältnisses wieder ein willkommener
und natürlicher Anknüpfungspunkt für einen äußerlich versöhnten Verkehr der beiden
Alten. An diesem Knaben hing Goethes Seele mit wahrhaft väterlicher Innigkeit;
für Goethes beschleunigte Rückkehr aus Italien war die Sorge um die Erziehung
Fritzens einer der wichtigsten Beweggründe. Goethe hatte der Mutter vor
Jahren das Versprechen, für Fritz zu sorgen, gegeben, und er nahm sein Wort
sehr ernst. Später, als Fritz in das reifere Alter kam, sorgte er auch redlich
dafür, ihm die Wege zu einem ungehinderten Fortkommen durch Fürsprache
beim Herzoge zu ebnen.
Aber auch vom dichterischen Standpunkte mußte sich Goethe für die Natur
und Entwicklung der Kindesseele interessiren. Nahm er doch der ganzen Welt
der Erscheinung gegenüber den Standpunkt seiner „Metamorphose der Pflanzen"
ein. Er war überall auf der Suche nach den bleibenden Verhältnissen, nach
typischen Formen, nach der naiven Offenbarung der psycho-physischen Menschen¬
natur, und konnte daher auch nicht am Kinde künstlerisch-gleichgiltig vorüber¬
gehen. Er hat das Kind auch vielfach in seinen Dichtungen gezeichnet; man
denke, um nur die wichtigsten Stellen zu nennen, an die Kinderszenen im
„Werther," an den Sohn Götzens, der kein Ritter werden wird, an den Sohn
Wilhelm Meisters, Felix, der durch seine neugierigen Fragen den Vater selbst
erzieht, durch seine Unarten (Felix muß immer eigensinnig aus der Flasche statt
aus dem Glase trinken) ärgert, an das Knabenmädchen Mignon, an die in dem
Mädchenpeusionat leidende Ottilie, an die Kindergeschichten in „Dichtung und
Wahrheit." Auch in diesen Kindergeschichten hat Goethe, wie überall in seiner
Poesie, persönliche innere Erfahrung und äußere Beobachtung vielfach verwoben.
Der Mann, der so sehr nach Bildung rang, dachte viel über den Einfluß nach,
den die Jugenderziehung auf seine Entwicklung gewonnen hatte. Für ihn
waren diese Fragen von höchster Wichtigkeit. Noch im hohen Alter setzte er
sich mit den vorrousseauisch überstrengen Erziehungsgrundsätzen seines Vaters in
der Erinnerung kritisch auseinander. Und dennoch gestand Goethe selbst, daß er
den pädagogischen Trieb vom Vater geerbt habe: „Mir war von meinem Vater
eine gewisse lehrhafte Redseligkeit cmgcerbt," erzählt er in „Dichtung und
Wahrheit." Und dieser Drang steter Lehrhaftigkeit begleitete ihn in allen
Lebenslagen, auf jeder Altersstufe, in jeder Stellung, sodciß er sogar an sich
halten mußte, um nicht ein „pedantisch-rodomontisches Ansehen" zu bekommen,
wie er der Schauspielerin Unzelnwnn gelegentlich in einem pädagogischen Briefe
über ihren Sohn schrieb. Sich davon zu befreien, boten ihm seine Werke will¬
kommene Gelegenheit.
Er war denn auch ein Meister der Erziehungskunst. „Der Mensch ist für
Goethe nicht der Thon, welchen der Erzieher nach Belieben modeln kann, sondern
eine Pflanze, die ihre besondre Natur und Gestalt mitbringt und von ihm nur
als von einem Gärtner gepflegt, groß gezogen und zu ihrer höchst möglichen
Vollkommenheit gebracht werden kann. Er verzichtet auf das Experiment, auf
einem wilden Apfelbaume einen Pfirsich wachsen zu lassen, schon zufrieden, wenn
er sieht, daß die Früchte dieses Baumes reif und süß werden, und drückt dies
in der Sprache des bürgerliche« Idylls »Hermann und Dorothea« so aus:
Denn wir können die Kinder nach unserm Sinne nicht formen;
So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben,
Sie erziehen aufs beste und jeglichen lassen gewähren.
Denn der eine hat die, die andern andre Gaben;
Jeder braucht sie und jeder ist doch nur auf eigne Weise
Gut und glücklich.
Der ruhige Gang, den die Pflanze zur dauernden oder vorübergehenden Vollen¬
dung nimmt, ohne gewaltsame Eingriffe zu vertragen, entspricht der Entwicklung
des Menschen, von dem man alles erhalten kann, wenn man ihn nach seiner
Art behandelt. Nötig ist dazu: ein ruhiger Blick, eine stille Konsequenz und
die Fähigkeit, in jeder Stunde das Nichtige zu thun. Diese Eigenschaften des
guten Gärtners, die auch den guten Erzieher ausmachen, besaß Goethe im
höchsten Maße" (S. 204). An Fritz von Stein leistete er sein Pädagogisches
Meisterstück, die Geschichte desselben kann vorbildlich für alle Erzieher sein.
Objektiv zu machen, alle Sinne des jungen Mensche» nach außen zu lenken,
für die klare Erfassung der Dinge zu befähigen und zu bilden: das war einer
der wichtigsten Grundsätze des Erziehers Goethe, der selbst ein so glückliches,
gesundes, für die ganze Mannichfaltigkeit der Welt empfängliches Naturell hatte.
Darum legte er auch so viel Gewicht auf das Zeichnen. Er nannte die Malerei
die ethischste Kunst. Das Zeichnen zwingt zur beobachtenden Aufmerksamkeit und
zur Zurückhaltung im Urteilen. Goethe nahm seinen Fritz in den zwei Jahren, wo
er ihn ganz bei sich behielt, auf allen Wegen mit. Im Spazierengehen lenkte
er seine Aufmerksamkeit auf Pflanzen und Mineralien, und allmählich führte er
ihn auch hinüber auf das soziale Gebiet. Er schickte ihn gern in fremde Ge¬
sellschaft, damit er sich dort an den konventionellen Zwang gewöhne und sich
betragen lerne. Er ließ den zehnjährigen Knaben seine eignen Wirtschaftsbücher
führen, um ihn im Rechnen zu üben. Er lernte gemeinsam mit ihm Algebra,
um durch die Gleichstellung mit dem Schüler diesen zum Wetteifer anzuspornen.
Er hob ihn überhaupt zu sich durch das Vertrauen empor, mit dem er ihm in
seine eigne Thätigkeit Einblick gewährte; damit beförderte er die Selbständigkeit
seines Urteils, die Reife seines Charakters. Er war von der größten Gelassen¬
heit, er übte das pädagogische Meisterstück, den Zögling an Fäden zu leiten,
die diesem unsichtbar blieben; er übte die Kunst, nicht unmittelbar den Charakter
zu bestimmen, sondern die Verhältnisse, in denen dieser sich bewegen mußte.
Sogar in Italien dachte er an seinen Zögling, und die Briefe, die er von dort
aus an Fritz schrieb, hatten etwas pädagogisches, und wenn er sie nur mit
einer seltenen Gemme siegelte, die den Knaben fesseln mußte. Zwei Ziele ver¬
folgte Goethes Pädagogik gleichzeitig: einmal sollte sie der Individualität
des Zöglings helfen, sich frei zu entwickeln, und sodann ihn zu einem har¬
monischen Menschen ausbilden. Goethe legte Wert darauf, die herrschende
Neigung, die Liebhaberei des Zöglings zu erforschen und sie für den Fall,
daß sie fruchtbar werden konnte, zu unterstützen und zu fördern. Er be¬
vorzugte den naturwissenschaftlichen Unterricht, aber er forderte auch nach¬
drücklich das Studium der Alten, denn die Antike war ihm die Grund¬
lage aller Bildung. Nichts war ihm mehr verhaßt als das Predigen der
Jugend gegenüber, das Schelten und Moralisiren, er begnügte sich nötigenfalls
mit einer ernsten Mahnung. Natürlich war diese Erziehungsmethode getragen
von seinem herrlichen Optimismus, seiner Grundvoraussetzung der Güte der
menschlichen Natur. Er war sich auch dessen wohl bewußt und verkannte nicht
die Notwendigkeit strengerer Maßregeln bei unbildsamen Individuen. Aber
Geduld forderte er vor allem von Eltern und Erziehern. „Der spätere preu¬
ßische Geheimrat I. G. Jacobi, der Sohn Fritz Jaeobis, dessen nicht richtig
aufgefaßte Eigentümlichkeit im frühern Knabenalter, für den Vater ein Gegen¬
stand großer Besorgnis gewesen war, forderte Goethes ganze Teilnahme und
thatkräftiges Eingreifen heraus. Die erste Kundgebung vom 31. März 1784
lautet: »Schreibe mir doch ein Wort von dem Kinde zu Münster und was ihr
mit ihm habt. Ich weiß nichts von ihm, kann es nicht beurteilen, und wenn
ich nicht sehr irre, behandelt ihr es falsch, die Fürstin und du. Ich mische mich
nicht gern in dergleichen Sachen, denn die Vorstellungsarten sind zu verschieden
und mit Schreiben ist gar nichts ausgerichtet, aber das Kind dauert mich, es
ist doch dein und Vettys Kind, und gewiß nicht zum Bösewicht, zum Nichts¬
würdigen geboren.« Während die Eltern fortgesetzt unzufrieden sind, ist Goethe
stets voll Zuversicht und behält schließlich Recht damit, daß er sie wegen ihrer
Ungeduld gescholten hat: »Ein Blatt, das groß werden soll, ist voller Runzeln
und Knittern, eh es sich entwickelt; wenn man nicht Geduld hat und es gleich
glatt haben will wie ein Weidenblatt, dann ists übel. Ich wünsche dir Glück
zur Vaterfreude« (9. September 1788)."
Diese Skizze mag genügen, Goethe als Erzieher zu kennzeichne» und das
Verdienst von Langguths Buch zu beleuchten. Um ihm nicht seinen Leserkreis
zu nehmen, brechen wir diese Mitteilungen hier ab, so verführerisch es auch
ist, sich in die unerschöpfliche Schönheit und Größe der Natur Goethes zu
vertiefen.
err Jsidor Hirschfeld saß sorgenvoll vor seinem Klappsekretär, Frau
Cora Hirschfeld in voller Breite auf ihrem Sofa.
Jsedor. — Hin? — Jsedor, ich will dir sagen, daß du machst
eine Dummheit. — Wie haißt Dummheit? Rede doch keinen Un¬
sinn! — Wirst du verklagen den Schlemper, wird er gehen Ptene,
wirst du kriegen für deinen Wein nicht soviel.
Dieser kühl ausgesprochene Gedanke machte Herrn Jsidor Hirschfeld so große
Schmerzen, daß er von seinem Stuhle aufschnellte, in der Stube herumtanzte und
sich im höchsten Grade aufregte. — Und ich werde ihn verklagen, und ich werde ihn
bringen von Haus und Hof, und ich werde ihn bringen ins Gefängnis, und wenns
niir soll kosten hundert Thaler.
Habe ich dir nicht gesagt, daß du machst eine große Dummheit? Was hast
du davon, wenn du ihn bringst ins Gefängnis? Den Aerger und die Kosten und
die Blamage. Du sollst ihn lassen in seinem Restaurant und sollst machen, daß
er seinen Wein verkauft. Ist dir geholfen, und ihm auch.
Herr Jsidor Pflanzte sich vor seiner Frau auf, ward betrübt und sagte: Cora,
ich hab dich gehalten für eine kluge Frau. Aber was du da redst, ist Stuß. Kann
ich kriegen die Leute beim Schlafitche? kann ich sie schleppen zum Schlemper? kann
ich sie zwingen, zu trinken meinen Wein?
Nu? erwiederte Frau Cora, hast du vergessen, wie es der Goldstein gemacht
hat in Diffa mit dem Jubiläum vom alten Przmischel. Hat er nicht verkauft seinen
ganzen Rotwein, den die Leute nicht haben trinken wollen. Nu? Was bringst
du nicht zu stände ein kleines Jubiläche?
Frau Cora war eine kluge Frau. Davon war Herr Jsidor auch sonst über¬
zeugt, aber in diesem Augenblicke sah er sie mit Bewunderung an. Ja, das wars!
Ein Fest, ein Jubiläum, eine goldne Hochzeit bei Schlemper, und er war aus aller
Not. Sein Wein wurde getrunken, und er kriegte sein Geld. Freilich war es
nötig, die träge Masse zu begeistern, einen der Feier würdigen Gegenstand zu finden,
ein Komitee zu bilden und die Sache so zu leiten, daß sie bei Schlemper endete.
Es schien unbedenklich, sich mit fünf Mark an die Spitze einer Sammelliste zu
stellen, und gar nicht schwer, in Kaldenried, einer Stadt von Is 000 Einwohnern,
das Rezept von Diffa mit Erfolg in Anwendung zu bringen.
Die Sache ging aber doch nicht so leicht, wie es sich Jsidor gedacht hatte. In
einer Stadt von 15 000 Seelen sind zwar stets Leute vorhanden, die vor 25 oder
50 Jahren irgend etwas geworden, oder die vor 60 oder 70 Jahren geboren
sind, und es kommt nur darauf an, das verborgene Verdienst auf den Leuchter zu
stellen und Leute zu finden, die sich für verpflichtet halten, ihm seine Ehre in
Form eines Zweckessens zu geben. Aber die Kaldenrieder sind ein etwas zähes
Geschlecht, das sich schwer für etwas begeistern läßt, was andern zu gute kommen
soll, das aber desto mehr von der Richtigkeit des Satzes: Selber essen macht fett
überzeugt ist. Auch waren die Jubiläumskandidaten nicht sehr geeignet, Stimmung
zu machen. Es konnte in Frage kommen der Bankier Heinzmann, der früher Pfand¬
verleiher gewesen war und eine nicht ganz saubere Vergangenheit hatte, oder der
Türmer Knopp, von dem leider nur zu allgemein bekannt war, daß er soff und
daß er schlief, statt zu wachen. Um letztern war es schade. Wie schön hätte es
sich gemacht, die gesamten städtischen Behörden aufzubieten und Toaste auf das
„höchste städtische Amt" auszubringen!
Damit wars also nichts. Hirschfeld gab jedoch seinen rettenden Gedanken
keineswegs auf, sondern spionirte weiter. Ja er entschloß sich, obwohl er ein er¬
bärmlicher Biertrinker war und jedesmal hinterher Kopfschmerzen bekam, den Gam-
brinus aufzusuchen. Hier pulsirte, abgesehen von der Loge, das städtische Leben
am lebendigsten. Hier versammelte sich das Spießbürgertum, hier kam allabendlich
das Kaldenrieder ungedruckte Tageblatt unter der meisterhaften Redaktion der Frau
Wirtin heraus, hier wurden unter Führung des Herrn Rektors die besten Witze
gemacht. Um jedoch keine falschen Borstellungen zu erwecken, muß noch gesagt
werden, daß diese Witze meist zu dem Geschlechte der sogenannten Dauerwitze ge¬
hörten.
Einer der beliebtesten dieser Dauerwitze lief darauf hinaus, den Komman¬
danten der freiwilligen Feuerwehr, Herrn Klempnermeister und Stadtverordneten
Pauli, zu veranlassen, auf seiner Signaltute (einer Art Kindertrompete, wie sie bei
der Feuerwehr eingeführt ist) das Wassersignal zu tuten. Herr Pauli, ein harm¬
loses, von der Feuerwehrsache begeistertes Menschenkind, hatte sich zwar hoch und
teuer verschworen, es nie wieder zu thun; aber der Witz bestand darin, ihn auf
allen möglichen Umwegen doch wieder dahin zu bringen. An dem Abende, an
dem sich Herr Hirschfeld zum ersten male in den Gambrinus wagte, war Herr
Pauli mit Rücksicht darauf, daß er am andern Tage zum Gauverbandsfeste nach
Bugenhagen reisen wollte, in voller Uniform erschienen. Damit stand das Thema
des Wassersignals auf der Tagesordnung. Das Wassersignal wurde auch wirklich
unter allgemeinem Halloh durchgesetzt, worauf Herr Pauli, veranlaßt durch die un¬
geheure Wißbegierde der Gesellschaft, zeigte, wie man nach den Regeln der Kunst
ein Kind aus den Flammen rettet. Das Orchester des anstoßenden Tanzsaales stellte
das brennende Haus vor, der Herr Musikdirektor, in die Billarddecke gewickelt,
einen Säugling von 130 Pfund, und die übrigen das entsetzte Publikum. Hierauf
erklomm Herr Pauli unter Lebensgefahr die Galerie und rettete das Kind mit an¬
erkennenswerten Eifer. Zum Schlüsse des Manövers mußte er sich mit Hilfe des
Gürtels und der Hanfschnur von oben herablassen, worauf „Feuer aus" geblasen
wurde.
Herr Jsidor Hirschfeld sah diesem allem ohne Freude zu. Die Bethätigungen
des freien Bürgersinnes standen ihm zu hoch für solche Profanationen. Vor allem
war er auch zu sehr von dem „sittlichen Werte" des Feuerlöschwesens überzeugt —
man konnte ja selbst einmal abbrennen. Während nun die andern ihren Ulk
trieben, hatten sich Herr Jsidor Hirschfeld und Herr Pauli bald gefunden und in
ein ausführliches Zwiegespräch über das freiwillige Feuerlöschwesen vertieft. Hierbei
kam zur Sprache, daß Pauli auf dem Sprunge stehe, zum Gauverbandstage nach
Bugenhagen zu fahren, und daß vermutlich das nächste Fest in Rabenstein ab¬
gehalten werden würde.
Nun, warum in Rabenstein? meinte Hirschfeld, warum nicht in Kaldenried?
Das könnte man in der That für später in Aussicht nehmen.
Nehmen Sie es für früher in Aussicht, Herr Kommandant.
Das geht doch nicht gleich so, da muß man doch —
Da muß man einfach sagen in der Versammlung: Ich bitte ums Wort. Und
wenn Sie dos Wort haben, dann sprechen Sie: Meine Herren, ich lade Sie
ein für nächstes Jahr nach Kaldenried, und sie werden kommen. Und ich werde
Ihnen versichern, Herr Kommandant, die Bürgerschaft wird Sie nicht lassen
im Stich.
Mit welcher Leichtigkeit dieser Herr Hirschfeld so schwierige Dinge behandelte!
Nächstes Jahr? Kein Gedanke daran. Aber im Innern des Herrn Kommandanten
baute sich ein Bild von erfreulichen Zügen auf. Die Versammlung neigte sich
dem Ende zu. Er, Pauli, bestieg die Rednerbühne und sprach unter großer
Aufmerksamkeit der Hörer: Meine Herren, es gereicht mir zur Ehre — oder
Freude oder irgend etwas anderm, Sie aufzufordern, für nächstes Jahr Ihre
Blicke auf Kaldenried, die Stadt der emporstrebenden Intelligenz, zu lenken. Ich
glaube Ihnen einen begeisterten Empfang „seitens" unsrer Bürgerschaft, sowie
genußreiche Tage versprechen zu können, und mache noch darauf aufmerksam, daß
Kaldenried durch den großen Brand von 1832 in der Geschichte des Feuerlösch¬
wesens eine denkwürdige „Etappe" bezeichnet. Darauf stürmisches Bravo, allgemeines
Händeschütteln, er war der Held des Tages. Das alles wäre ja so schön gewesen,
aber jetzt noch einen Auftrag zu stände zu bringen — unmöglich.
Am selbigen Abend sagte Herr Jsidor mit einer von dem getrunkenen Biere
und der inneren Erregung unsichern Stimme zu seiner Cora: Cora, du wirst
haben dein Jubiläche, und es wird sein ein Gaufest.
Trotz alledem hätte Herr Jsidor Hirschfeld Wohl vergeblich gehofft, wenn ihm
nicht die Umstände zu Hilfe gekommen wären. Rabenstein war nämlich für das
Fest unmöglich geworden, da die Bürgerschaft und die Feuerwehr sich wegen einer
anzuschaffenden neuen Spritze entzweit hatten. Das Gaupräsidium war in arger
Verlegenheit, ging umher wie Diogenes mit der Laterne, um einen Festort zu
suchen und traf schließlich auf Herrn Pauli, der unter vielem Wenn und Aber
die Möglichkeit, Kaldenried zum Festorte zu gewinnen, zugab. Das Präsidium
griff mit Begeisterung zu. Von rechts und links geschoben, stand Herr Pauli in
dem entscheidenden Augenblicke, schier wider seinen Willen, auf der Redner¬
bühne, hielt seine Rede, die er sich nur für sich ausgedacht hatte, und erntete
das begeisterte Bravo und das allgemeine Händeschütteln; er war der Held des
Tages.
Auf dem Heimwege hatte er zwar einiges Herzklopfen, wenn er daran dachte,
was man zu seiner Eigenmächtigkeit sagen würde. Aber er erwog alle ähnlichen
Fälle und blieb getröstet vor der Frage stehen: Haben Wohl jene Herren, die mit
großer Freudigkeit zu den allgemeinen deutschen Sänger-, Turner- und Schützen¬
festen einluden, von der Bürgerschaft, das heißt von denen, welche schließlich die
Festkosten zu tragen hatten, mehr Auftrag gehabt als du?
Er hatte sich bei seinen Befürchtungen auch nicht getäuscht. Die Mitteilung,
daß Kaldenried im nächsten Jahre die Ehre haben werde, das Gaufest in seinen
Mauern zu sehen, fand keine begeisterte Aufnahme. Man erhob zwar keinen
Widerspruch, aber man machte mürrische Mienen, indem man die unvermeidlichen
Kosten erwog, die neue Bluse, den neuen Hausanstrich, die Einquartierung —
Gedankenreihen, die sämtlich mit dem nicht erfreulichen Fragezeichen schlössen: Was
wird die Frau dazu sagen? Nur die sogenannte Brandmauer, eine Genossenschaft,
die ungefähr das vorstellte, was man sonst die scharfe Ecke zu nennen Pflegt,
Junggesellen und Haustyrannen, die sich vor keinem weiblichen Einsprüche fürch¬
teten und jede Gelegenheit zum Trinken willkommen hießen, stimmte begeistert
zu. Im übrigen betrachtete man die Sache wie ein unvermeidliches Schicksal und
tröstete sich einstweilen damit, daß man ja noch ein Jahr Zeit habe.
Die ganze Angelegenheit kam denn auch bis zum nächsten Frühling in Ver¬
gessenheit, nun aber galt es, der Aufgabe energisch „näher zu treten" und sie nach
den Regeln der Kunst einzufädeln. Hierzu war Herr Jsidor Hirschfeld der ge¬
eignete Mann. Natürlich war er längst der freiwilligen Feuerwehr beigetreten,
freilich ohne daß dieser daraus ein erheblicher Vorteil erwachsen wäre. Man wußte
mit seinen krummen Beinen nichts rechtes anzufangen und gab ihm den Schlauch¬
wagen zu ziehen. Herr Jsidor war stolz in dem Gefühle seiner Würde — waS
wäre auch die gesamte Feuerwehr ohne den Schlauchwagen gewesen, und was der
Schlauchwagen ohne den, der ihn zog —, stand jedermann im Wege und hörte
nicht auf zu fragen: Herr Kommandant, soll ich jetzt kommen mit dem Schlauch¬
wagen, Herr Kommandant, soll ich jetzt gehn mit dem Schlauchwagen? Dagegen
war er als Vorbereiter des Festes und Bearbeiter der öffentlichen Meinung sehr
brauchbar. Es war seine Idee, vor allem den Gegenstand im Verein für Volks¬
bildung auf die Tagesordnung zu setzen. Den Vorsitzenden, Herrn Redakteur Cohn,
der sein guter Freund war, zu gewinnen, kostete keine Mühe; schwieriger war es,
das geeignete Thema und den willigen Vortragenden zu finden. Auch diese
Schwierigkeit überwand die Zähigkeit Herrn Hirschfelds. Der Gymnasiallehrer
Herr Dr. Maudrig mußte heran und über das Feuerlöschwesen der alten Griechen
und Römer sprechen. Der Vortrag war sehr schön. Er berührte den trojanischen
Krieg und bewies aus den Quellen, daß die in Brand geratenen griechischen Schiffe
mit Seewasser gelöscht wurden, ging auf den baupolizeiwidrigen Zustand des alten
Athens zu den Zeiten der Perserkriege über und schloß mit dem Brande Roms
zur Zeit Neros und den als Fackeln verbrannten christlichen Märtyrern. Der
Pneumatica Heros wurde Erwähnung gethan und „konstatirt," daß man in Rom
wirkliche Feuerspritzen gehabt habe, die Syphons genannt wurden. Zur Erläuterung
wurde ein Selterwasser-Syphon herumgereicht und schließlich der Grundsatz auf¬
gestellt, die Höhe des Feuerlöschens sei ein Maßstab für die Höhe der Kultur eines
Volkes. Rauschender Beifall lohnte den Redner; alles war im Bewußtsein des
Besitzes einer freiwilligen Feuerwehr von der Höhe der eignen Kultur überzeugt.
Diesen Gefühlen lieh der Herr Vorsitzende beredten Ausdruck, indem er auf das
bevorstehende Gaufest hinwies und die Ueberzeugung aussprach, daß Herr Pauli
die lebhafteste Dankbarkeit der Bürgerschaft verdiene (Stimme aus dem Hinter¬
grunde: Na na!), wie denn auch der opferfreudige Heldenmut der freiwilligen
Feuerwehr über alles Lob erhaben sei.
Inzwischen machten die opferfreudigen Helden immer bedenklichere Gesichter,
denn die verschiednen Heldenfrauen singen an, unangenehm zu werden. Da war
es einer von dem Kollegium der Brandmauer, noch dazu ein alter Junggeselle,
der das Rechte traf: Leute, sagte er, mit Speck fängt man Mäuse. Richtet einen
Gauball ein, und ich sage euch, das ganze Weibervolk ist gewonnen. Dies wurde
beschlossen, und sogleich klärten sich sämtliche Gesichter auf.
Jetzt kam es darauf an, die Kommission zu bilden. Mit Rücksicht auf die
Bedeutung der Sache sollte diese Kommission aus einundzwanzig Mitgliedern be¬
stehen; es sollten alle Spitzen der Behörden zur Teilnahme eingeladen werden, es
sollten auch alle bürgerlichen Klassen und Interessentenkreise Vertretung finden.
Zu den Spitzen gehörte natürlich der Herr Bürgermeister, der Herr Gymnasial¬
direktor, der Herr Kreisphysikus und der Herr Baron von Rankwitz, der den ab¬
berufenen Herrn Landrat vertrat.
Herr Jsidor warf sich in seinen Frack und Herr Pauli in seinen Bratenrock,
und so machten sich beide, beladen mit dem Auftrage der Generalversammlung der
freiwilligen Feuerwehr, auf den Weg, die genannten Herren einzuladen. Der Herr
Bürgermeister wußte, was ihm bevorstand, und hatte als kluger Stadtverwaltungs¬
diplomat erwogen, daß er nächstens einige bedenkliche Etatsüberschreitungen zu ver¬
treten haben werde, und daß er vom freien Bürgersinne heftige Opposition und
den ganzen Brustton sittlicher Entrüstung zu erwarten habe, wenn er in Bezug
auf das Fest Schwierigkeiten mache. Die Deputation trat ein und trug ihre Sache
vor, der Herr Bürgermeister legte sein Gesicht in die allerbedenklichsten Falten.
Er stehe ja der Angelegenheit höchst wohlwollend gegenüber, es seien aber doch
auch ganz „erhebliche" Schwierigkeiten zu überwinden. Herr Jsidor Hirschfeld über¬
wand diese Schwierigkeiten mit siegreichen Gründen. Der Herr Bürgermeister gab
schließlich der nationalökonomischen Erwägung, daß das Fest Geld in die Stadt
bringe, nach und versprach — soweit es seine sehr in Anspruch genommene Zeit
gestatte — seine Hilfe. Die Deputation zog triumphirend ab, und der Herr
Bürgermeister betrachtete seufzend den Stoß wichtiger Verwaltungssachen, deren
Erledigung nun abermals verschoben werden mußte. Aber das Gaufest mußte doch
allem andern vorgehen.
Der Herr Baron von Rankwitz, ein etwas langsamer Herr, dessen Amts¬
thätigkeit darin bestand, seinen Namen unter das zu setzen, was der Herr Kreis¬
sekretär verfügt hatte, hörte mit abwesenden Blicken die Rede an, welche Herr
Jsidor in nervöser Eile hersagte. Als letzterer eine Pause machte, setzte er seinen
Kneifer auf, eine Geberde, deren Zweckmäßigkeit er in verlegenen Momenten schon
öfter erprobt hatte.
Und so wollen wir Sie gebeten haben, Herr Baron, fuhr Jsidor fort, uns
die Ehre zu geben zu unserm Gaufeste, das am 2S. August stattfinden soll.
— finden soll? Was Sie sagen?
Es werden erwartet die Vereine des Bezirkes und der umliegenden Fürsten¬
tümer.
Mindestens achthundert Personen werden eintreffen. Wir werden haben einen
Festzug, Festbcmket und Ball.
Es wird stattfinden eine Spritzenprobe und Feuerwehrmanövcr. Zur Vor¬
bereitung wird sich bilden eine Einundzwanziger-Kommission, wozu wir Sie ge¬
beten haben wollten, Herr Baron, mit beizutreten.
Fabelhaft. — Jaso. Natürlich, werde mir ein Vergnügen daraus machen.
Natürlich, soweit es meine sehr in Anspruch genommene Zeit gestattet. Adieu, adieu.
Bei Tisch wandte sich die Frau Baronin fragend an den Herrn Baron:
Egon, ist es denn wahr, was man auf dem Markte erzählte, daß du zum Gau¬
feste zugesagt hast? (Der Herr Baron setzte bedeutsam seinen Kneifer auf.)
Du hast doch nicht vergessen, daß wir im August nach Heringsdorf reisen
wollten.
In der That —
Aber Egon, ich bitte dich, sei doch nicht so denkfaul.
Sieh mal an — denkfaul — wie meinst du das, meine Liebe?
Hab ich dir schon zehnmal gesagt. Wir wollen, wie du weißt, im August
nach Heringsdorf, du mußt also das Kaufest absagen.
Unmöglich — der Kneifer fiel herab — Repräsentation — nationale That —
Beteiligung der Spitzen — Wirst allein reisen müssen, meine Liebe. Das war
aber der Frau Baronin gerade recht, und so machte sich das übrige.
Nicht so glatt ging es bei dem Herrn Gymnasialdirektor. Die Kommission
traf ihn mitten nnter ganzen Stößen von Korrekturen und Berichten an. Er war
also nicht in rosigster Laune und antwortete in seiner zugleich hastigen und
stockenden Weise: Bedaure, kann mich für Ihr Gau—efest nicht inter—essiren.
Wenn Sie Zeit und Lust zu der An—egelegenheit haben, so gradu—eure ich
Ihnen; aber ich habe dienst—cunde Ab—ehaltung. Herr Pauli war etwas ein¬
geschüchtert und wäre wohl davongegangen, aber ein Jsidor Hirschfeld war nicht
mit so leichter Mühe abzuschütteln. Er stellte die Angelegenheit nochmals dar und
schloß: Herr Direktor, wir würden bedauern, Sie nicht im Komitee zu haben, da
die Spitzen sämtlich teilnehmen. Wir kommen eben vom Herrn Baron, welcher
zugesagt hat mit Bereitwilligkeit. — Niemand gehört ungestraft zu den Spitzen,
dann am wenigsten, wenn die Frau Gemahlin darauf Wert legt, zu den Damen
der Spitzen zu gehören. Der Herr Gymnasialdirektor war sehr un—egehalten,
aber es half nichts, er mußte nach—egeben.
Weit weniger Umstände machte der Herr Kreisphysikus, der sich sogleich be¬
reit erklärte und als Probe seiner Beteiligung an der Kommission auseinander¬
setzte, wie mit Hilfe von Esmarchschen Hosenträgern etwa verunglückten Feuerwehr¬
leuten der Notverband angelegt werde, wobei Herr Jsidor Hirschfeld um einige
Grad blässer wurde. Hier endeten die persönlichen Einladungen. Die übrigen
wurden durch Zirkular aufgefordert, sich an der nationalen That zu beteiligen und
ihre Interessen wahrzunehmen.
Nunmehr begannen die Kommissioussitzungen. Solche Kommissionssitzungen
sind, Wie jedermann weiß, sehr zeitraubend, denn sie beginnen und schließen höchst
unpünktlich und bestehen, genau genommen, aus einem Vortrunkc, einem Haupt-
trunkc und einem Nachtrunkc. Es ist auch sehr umständlich, wenn jedem der zu
spät kommenden Herren Ehrenmitgliedern der ganze Verlauf der Sache nochmals
dargelegt werden muß. Die Kommission arbeitete also, das heißt, sie nahm Vor¬
schläge der Mitglieder „entgegen," erweiterte diese und nahm sie dann mit größter
Liberalität an. Man hatte bei der Kommission alle Stände und Interessenkreise
berücksichtigt, es war also begreiflich, daß die Vorschläge auch den verschleimen
Interessen entsprachen. Herr Handelsgärtner Abel beantragte die Ausschmückung der
Stadt und des Festplatzes mit Guirlanden. Angenommen. Herr Pauli (Klempncr-
meister) war für eine Illumination durch Blcchlämpchen, Herr Seifensieder Sonders¬
hausen mehr für Stearinkerzen. Angenommen. Herr Kreisphysikus Mylius machte
auf die Notwendigkeit, einen Verbandplatz einzurichten, aufmerksam. Angenommen.
Herr Kürschnermeistcr Lampe wollte die Besorgung der erforderlichen Esmarchschen
Hosenträger übernehmen. Angenommen. Herr Malermeister Schlierke war auf dem
Schützenfeste zu Leipzig gewesen und hielt die Errichtung eines Triumphbogens aus
Brettern mit Wappen und symbolischen Malereien für unerläßlich. Der Herr Gymna¬
sialdirektor empfahl die symbolische Darstellung von Wasser und Feuer, und der Herr
Baron Inschriften aus Schillers Glocke. Angenommen. Dann kam der Herr Re¬
dakteur Cohn, der für eine Festzeitung eintrat. Er hatte eine Novelle liegen, die,
wenn sämtliche darin vorkommenden Personen zu Feuerwehrleuten umgestaltet wurden,
sich zur Festnovolle eignete. Da er die unentgeltliche Aufnahme von Inseraten in
Aussicht stellte, fand er die Unterstützung aller der Mitglieder der Kommission, welche
Blumenspritzen, Hosenstoffe, Brennmaterial, Löschpapier, Räucherkerzchen und ähn¬
liche Passende Sachen zu annonciren hatten. Auch dieser Vorschlag wurde ange¬
nommen. Der nächstfolgende Vorschlag gab zu ernstlicher Meinungsverschiedenheit
Anlaß. Es handelte sich um das Festbankct, ob es bei Schlemper oder im Preu¬
ßischen Hofe abgehalten und ob dazu Wein oder Bier getrunken werden sollte.
Eigentlich war man für die letztern Vorschläge. Aber Herr Jsidor Hirschfeld ließ
plebe nach, regte sich furchtbar ans und setzte endlich seinen Schlemper und seinen
Wein durch. Als endlich noch Herr Modewarenhändlcr Breitfuß mit einem Vor¬
schlage, Ehrenjungfrauen weiß einkleiden zu lassen, ankam und die Andeutung machte,
daß die erforderlichen Stoffe bei ihm höchst preiswert zu haben seien, riß der Faden
der Geduld. Man wurde gar zu deutlich an die Kosten erinnert, man hatte
bisher alles angenommen, eine Ablehnung durfte doch nicht fehlen, und so
wurde dieser Antrag abgelehnt. Das Gaufest hatte sich ohne Ehrcnjuugfrauen zu
behelfen.
Aber dies alles geschah noch in der Zeit der ersten Liebe. Des Lebens Ernst
blieb nicht aus, denn es zeigte sich, daß zwar die Ideen sehr schön waren, aber
die Mittel nicht ausreichten. Die Festzeitung kam gar nicht zu stände, obgleich
der Herr Lokaldichter die Begrüßungsode schon fertig hatte. Glücklicherweise er¬
schien diese später im Jntclligenzblatte. Der Monumentalbau aus Brettern schrumpfte
zu einer gewöhnlichen, aus Tannenguirlanden und Rüstbäumen aufgeführten Ehren¬
pforte zusammen. Nur zwei Pappschilde, ein rotes, das das Feuer, und ein blaues,
das das Wasser symbolisirte, und die Inschrift: Wohlthätig ist des Feuers Macht :c.
erinnerten an die schönen Pläne. Der Verbandplatz, ohne den es der Herr Kreis-
physikus schlechterdings nicht that, beschränkte sich auf eine Marktbude mit einer In¬
schrift und einigen Verbandrollen und Stärkungsmitteln.
Noch andre Schwierigkeiten türmten sich auf. Einzelne nicht zur Kommission
zugezogene Interessenten wurden bösartig; es war zu befürchten, daß die unlieb¬
samen Bemerkungen dieser Herren die ganze Stimmung verderbe» würden. Der
Appell an die oftbewährte Gastlichkeit von Kaldenried, sowie die Aufforderung,
sich an der nationalen That durch Gewährung von Freiquartieren zu beteiligen,
verfing nicht. Bereits verhandelte man mit einigen Wirten über die Einrichtung
der verschiednen Tanzsäle zu Massenquartieren, da gelang es in einer langen, an¬
strengenden Sitzung, der Schwierigkeiten Herr zu werden. Man machte die wider¬
strebenden Herren unter Überreichung von gewaltigen Schleifen zu Festordnern,
welche die ausschließliche Aufgabe hatten, dem Festzuge voranzuschreiten, und man
bestimmte, daß alle diejenigen, welche Frciquartiere gewähren würden, Zutritt zu
dem Feucrwehrballe haben sollten. Das half.
So rückten denn die Festtage heran, und die Stadt that wirklich Hervorragendes.
Die Holzgasse, durch die der Zug gehen sollte, wurde gepflastert, der Markt aus¬
gebessert, und für das Rathaus wurden drei neue Fahnen angeschafft. Es wurden
Decken geweißt, Zimmer tapeziert und Häuser neu angestrichen, es wurden Fahnen
gewaschen, Tannenbäume herangefahren und Guirlanden gebunden, kurz die Stadt
legte ein Festkleid an, welches das zu Königs Geburtstag oder zum Sedanfeste
gebräuchliche weit übertraf. Aber man hatte ja auch nicht alle Jahre Gaufest.
Die Kommission war in fieberhafter Thätigkeit. Die Stadtverwaltung ruhte, die
Wissenschaften spannten aus, und die Geschäfte traten zurück — wegen des Gau¬
festes. Am Festvorabend gab es feierlichen Zapfenstreich, und am Festmorgcn blies der
Stadtmusikus vom Turme herab: Nun danket alle Gott. Froh bewegte Menschen
standen auf der Straße. Die Schule fiel natürlich aus, und der Wochenmarkt war
verlegt worden — wegen des Gaufestes. Schon tauchten einzelne Feuerwehrmänner
in voller Rüstung auf. „Sensation" unter den Madchen am Brunnen: Da ist einer,
da ist einer! Aber es war ein Kaldenrieder, «och dazu Vater von fünf leben¬
digen Kindern. Aber jener dort, der mit ernster Miene und gravitätischein Schritte
über den Markt wandelte, war wirklich ein Auswärtiger. Ein so blanker Römer¬
helm, so breite Liezen, eine so große Signaltute war in Kaldeuried noch nicht ge¬
sehen worden.
Durch das Gerberthor zogen Trupps vou Feuerwehrleuten ein, einige
sogar mit Tönen, die von weitem wie Musik klangen; aber das waren Bauern¬
vereine aus der Nachbarschaft, mit denen man nicht viel Umstände machte. Nur
die liebe Jugend ließ sichs nicht nehmen, vorauszuziehen. Die ankommenden
blieben eine Zeit lang scheinbar zwecklos auf dem Markte stehen und verliefen sich
dann in die verschiednen „Restaurants."
Der Ort, wo die Festbcgeisteruug am kräftigsten pulsirte, war der Bahnhof.
Hier hatte sich im Damenzimmer der Wohnungsausschuß festgesetzt, den Vorsitz
führte kein geringerer als der Herr Gymnasialdirektor. Auf dem Perron herrschte
eine von Minute zu Minute wachsende Spannung. Man redete im Flüstertöne;
der Bahnhofsinspektor hatte seine beste Dienstmütze auf.
Da fährt der Festzug ein. Bereits von weitem hört man ein Getöse von
Stimmen, Hände winken mit ekstatischer Hast zu den Wagenfenstern heraus, alles
stürzt aus den Koupees, als hänge an der Minute das Leben. Schon werden
Reden gehalten. Herr Jsidor Hirschfeld ist groß, ja er würde noch größer da¬
gestanden haben, wenn er nicht zu klein gewesen Wäre. Die Führer des Volkes
und Leiter der Gausache begrüßen sich mit ernstem Händeschütteln wie Bluts¬
verwandte, die sich seit zwanzig Jahren nicht gesehen haben. Sogleich wird stehenden
Fußes eine Sitzung abgehalten und festgestellt, daß die Thätigkeit der Kaldenrieder
Festkommission über alles Lob erhaben sei, und daß, wenn das Wetter günstig
bleibe, auf einen glänzenden Verlauf des Festes alle Aussicht vorhanden sei. So
war der erste große Moment vorüber gegangen, und die Spannung löste sich auf
in etliche Töpfchen Bier. Doch fand der große Moment bei jedem einlaufenden
Zuge seine Wiederholung, bis die achthundert todesmutigen Beschützer des Bürger¬
wohles bei einander waren.
Mit gewohnter Umsicht hatte der Vorstand das Fest in der Weise angeordnet,
daß am ersten Nachmittage die Verhandlungen, am Abend die offiziellen Be¬
grüßungen, am andern Mittage der Festzug, das Feuerwehrmanöver und hierauf
Festbankett und Ball stattfinden sollte. Wir müssen es uns leider versagen, alle
diese „Phasen" des Gaufestes mit zu durchleben, und können nur versichern, daß
kein Mißton das schöne Fest störte. Denn daß im Schützenhause die Fenster ein¬
geworfen und in der Gerbergasse ein Nachtwächter geprügelt wurde, geschah doch
erst nach Schluß des Festes und mag mit dem Uebermaße der genossenen Be¬
geisterung entschuldigt werden. Die Verhandlungen verliefen in herkömmlicher
Weise. Ein Häuflein redebcgeisterter Männer debattirte drinnen im Saal im
Schweiße des Angesichts über die der Hilfskasse für verunglückte Feuerwehrmänner
vom Staate zu leistende Beihilfe. Die Mehrzahl saß währenddessen draußen
unter den Bäumen, trank im kühlen Schatten ihr Bier, vergnügte sich mit zweifel¬
haften Witzen und hörte einem Gott weiß wie dazwischen gekommenen Agenten
einer Feuerversicherungsgesellschaft zu, der für sein Haus Reklame machte und seine
Rede mit den schönen Worten schloß: Darum, meine Herren, lassen Sie alles
ruhig brennen, Sie haben Ihre Police, und die Gesellschaft bezahlt mit Vergnügen
bei Heller und Pfennig, Nach Schluß der Verhandlungen wandte man sich zur
Besichtigung der Stadt. Besonders das Haus, bei dem der große Brand von
1632 Halt gemacht hatte, fand eine wehmütig-ernste Betrachtung.
Der Höhepunkt des Festes war der Festzug, der brüllend und angebrüllt die
Straßen der Stadt durchzog und zuletzt auf dem Holzplatze Aufstellung nahm. Die
den Schluß bildende Kaldenrieder Feuerwehr schwenkte kurz zuvor ab und verteilte
sich in die dem Spritzenhause zunächst liegenden Restaurationen, um sich durch einige
Gläser Bier in die vorgeschriebene Ahnungslosigkeit zu versetzen. Schlag zwei Uhr
ertönte die Sturmglocke. Der Festredner auf dem Holzplatze hatte leider seine
zündende« Worte noch nicht beendet und mußte einen unfreiwilligen Schluß mache».
Die Signalbläser eilten durch die Straßen der Stadt, in denen kein Feuerwehr¬
mann mehr zu finden war; die in den Bierstuben aufgeschreckte Mannschaft stürzte
sich auf die Geräte und kam mit unglaublicher Präzision auf den Holzplatz an¬
gerast. Nur Herr Jsidor Hirschfeld hatte sich mit seinem Schlauchwagen verlaufen,
oder vielmehr er hatte den kürzern Weg genommen und war hinter einem dicht
zusammengekeilten Haufen Zuschauern sitzen geblieben. Glücklicherweise war Herr
Pauli der Mann, auch solcher kritischen Augenblicke Herr zu werden. Er ver¬
zehnfachte sich, er war überall, er griff überall zu, er stellte jeden Mann an, half
jeden Schlauch auschrauben und kommandirte, bis er überhaupt gar keine Stimme
mehr hatte. Es muß der Wahrheit gemäß berichtet werden, daß die Spritzen gut
waren und das nötige Wasser abgaben, daß der aus Zimmerleuten, Dachdeckern
und Schornsteinfegern zusammengesetzte Steigerzug zu klettern verstand und die
„General-" sowie die „Spezialidee" durchgeführt wurde. Mit Hochgefühl blies der
Kommandant „Feuer aus" und nahm die Glückwünsche der Versammlung ent¬
gegen. Nur der alte Polizeisergeant Ladewig sagte kopfschüttelnd zu seinem Kol¬
legen: Bei uns in der Jnstruktionsstunde hieß es: Der Kommandant bleibt auf
seiner Stelle stehen, um daß damit ihn die Ordonnanz finden kann. Was diesen
Feuerwehrkommandantcn anbetrifft, den hätte ich als Ordonnanz nicht gefunden.
Aber was versteht die Soldateska vom freiwilligen Feuerlöschwesen!
Den Schluß bildete ein Feuerwehrreigen, das heißt eine Art Kinder-Ringel¬
reihen, die von den großen Leuten mit aller Ernsthaftigkeit nach den Klängen der
„Kleinen Fischerin" getanzt und von den maßgebenden Persönlichkeiten für sehr
instruktiv gehalten wurde. Hierauf wandte man sich zur Besichtigung der Aus¬
stellung von Löschgeräten, die von einem halben Dutzend seufzender Fabrikanten,
welche die Kosten erwogen, aber der Konkurrenz wegen nicht fern zu bleiben wagten,
beschickt worden war.
Blicken wir auf die Tage des Festes zurück, so müssen wir anerkennen: der
Erfolg war der Mühe wert. Es sind fünfundneunzig Hektoliter Bier getrunken
worden, und von dem Weine Hirschfelds ist auch nicht eine Flasche übrig geblieben.
Leider hat es nicht an solchen gefehlt, welche beflissen gewesen sind, den so er¬
habenen „Festgedanken" herabzuziehen. Hat sich doch der Herr Bergrat nicht ge¬
schämt, öffentlich zu sagen: Unsre werten Festgäste, Gevatter Schneider und Hand¬
schuhmacher, hätten besser gethan, für Frau und Kinder etwas zu verdienen, als zu
„Sauffesten" zu ziehen und ihr Geld zu vertrinken. Aber man weiß ja: jene
Herren sind keine Freunde der Volkswohlfahrt, und die Bethätigung des freien
Bürgersinnes ist ihnen ein Dorn im Auge.
Sprechen wir es aus: Feste sind Manöver. Hier werden die Kräfte geprüft,
gestählt und für den „Ernstfall" bereit gestellt. Umgekehrt sind Erfolge die Probe
auf die Wirksamkeit der vorausgehenden Feste. Es würde zu weit führen, dies
in Bezug auf die Schützen- und Turnerfeste und das deutsche Reich nachzuweisen.
Wenn in Kaldenried diese Probe nicht so günstig ausfiel, als zu wünschen gewesen
wäre, so lag dies an gewissen besonders ungünstigen Umständen. Bei Gelegenheit
des Festbankettes hatte Herr Pauli, während die anwesenden Bürger ein gelindes
Gruseln überlief, den kecken Wunsch ausgesprochen: Möchte es doch in Kaldenried
endlich einmal brennen, damit die Feuerwehr zeigen könnte, daß die gebrachten
Opfer nicht vergeblich gebracht worden sind. In der Nacht nach dem Feste, als
alles, auch der Türmer, im tiefsten Schlafe lag, brannte es wirklich. Die Spritzen
waren in Eile in den Schuppen untergebracht, aber keine stand an ihrem Orte,
die Schläuche waren zum Trocknen nach der Bleiche geschickt worden, und vor allem:
Herr Pauli war krank. Es war ein kleines, geduldiges Feuerchen, ein massiv ge¬
bauter Pferdestall, es regte sich kein Lüftchen, und es fiel ein linder Regen. End¬
lich kam die erste Spritze an. Man probirte und disputirte und fuhr sie wieder
weg, so die zweite und die dritte. Man legte Schläuche, aber sie wollten nicht
passen, kurz, es wollte nichts klappen. Das Publikum machte Bemerkungen, die
für die Feuerwehr nicht sehr schmeichelhaft ausfielen, besonders zeichnete sich
eine Reihe von Zuschauern aus, die auf der gegenüberstehenden Gartenmauer
Platz genommen hatten: Es wird nichts. — Laßt doch die Musik kommen, sonst
können sie nichts. — Musik! — Fischerin du kleine! — Schunkelwalzer! Und
wirklich, angesichts der hellen Flamme faßte sich die Reihe unter und fing an zu
schunkeln!
Von Herrn Jsidor Hirschfeld war nichts zu hören und zu sehen. Der Pferde¬
stall grenzte an seinen Hof. Nachdem er den leeren Schlauchwagen auf seinen Hof
gefahren hatte, rettete er feinen Schreibsekretär auf die Straße, und Frau Cora
setzte sich darauf.
Er hatte allerdings einigen Schaden von dem Feuer gehabt. Als er diesen
aber bei seiner Gesellschaft anmeldete und die Antwort erhielt, es werde nichts
vergütet, da er ja nicht nötig gehabt hätte, seine Möbel in den Regen zu schleppen,
verwünschte er die freiwillige und die unfreiwillige Feuerwehr und ihre Kinder
und Kindeskinder und trat noch am selbigen Tage wieder aus.
!VW!le Hauptlandstraße, welche nach Fjordby führt, ist in der Nähe
der Stadt von zwei mächtigen Dornhecken begrenzt, die Konsul
Claudys Küchengarten sowie seinen großen Strandgarten ein¬
hegen. Der Weg teilt sich dort und endet einerseits in des
Konsuls Hofplatz, der so groß wie ein Marktplatz ist, anderseits
macht er eine Drehung und läuft zwischen Claudys Scheune und dem Holzlager
als Straße durch die Stadt. Von den Reisenden machen viele die Drehung
und fahren weiter, während andre anhalten, in der Meinung, sie seien am
Ziele, sobald sie den getheerten Thorweg des Konsuls erreicht haben, der stets
weit geöffnet ist, und ans dessen zurückgeschlagenen Flügeltüren stets zum
Trocknen ausgespannte Felle hängen.
Die Gebäude des Hofes waren alle alt, mit Ausnahme des hohen Speichers,
dessen langweiliges totes Schieferdach Fjordbys neueste Errungenschaft auf dem
Gebiete der Baukunst war. Das lange, niedrige Vorderhaus sah aus, als
würde es von drei großen Bodenetagcn zur Erde gedrückt, und stieß in einem
dunkeln Winkel mit der Brauerei und den Ställen, in einem helleren Winkel
mit dem Speicher zusammen. In dem dunkeln Winkel lag die Hinterthür, die
in den Laden führte, der mit der Bauernstube, dem Kondor und der Leutestube
eine kleine dumpfe Welt für sich bildete, in der ein gemischter Geruch von ge¬
meinem Tabak, von erdigen Fußböden, von Gewürzen, getrockneten Fischen und
nassem Wollzeug die Luft so dick machte, daß sie förmlich zu schmecken war.
War man dann aber durch das Kondor mit seinem durchdringenden Siegellacks¬
geruch an den Korridor gelangt, der die Scheidewand zwischen dem Geschäft
und der Familie bildete, so wurde man durch den hier herrschenden Duft
von neuem Damenputz auf die süße Blumculuft der Zimmer vorbereitet. Es
war dies nicht der Duft eines Bouketts, er rührte nicht von wirklichen Blumen
her, es war die mystische, Erinnerung erweckende Atmosphäre, die über jedem
Heim schwebt, und von der niemand mit Bestimmtheit sagen kann, woher sie
stammt. Jedes Heim hat seinen eignen Duft, es kann an tausend Dinge er¬
innern, an den Geruch alter Handschuhe, an neue Spielkarten oder geöffnete
Klaviere, aber es ist stets ein andrer; er kann mit Räucherwerk, mit Parfüms
und Zigarrenrauch übertäubt, aber er kann niemals ganz ertötet werden, er
kommt immer wieder und ist stets da, unverändert, wie er von Anfang an ge¬
wesen ist. Hier war er wie Blumenduft, nicht von Rosen, Levkojen oder sonst
wirklich vorhandnen Blumen herstammend, sondern etwa wie man sich den Duft
jeuer phantastischen saphirmatten Lilienranken denkt, deren Blüten sich um die
Vasen aus altem Porzellan schlingen. Und wie stimmte dieser Duft zu den großen,
niedrigen Stuben, mit ihren ererbten Möbeln und der altväterischen Zierlichkeit!
Die Fußböden waren so weiß, wie es nur die Fußböden der Großmütter noch
sind, die Wände waren einfarbig, mit einer leichten, hellen Guirlande, die sich
unter dem Sims hinzog, in der Mitte der Decke war eine Stuckrosctte, und
die Thüren waren kannellirt und hatten blanke Messinggriffe in Delphinform.
Vor den Fenstern mit den kleinen Scheiben hingen luftige Gardinen, weiß wie
Schnee, faltenreich und kokett mit farbigen Bandschleifen aufgenommen wie der
Behang eines Brautbettes für Dämon und Phyllis, und auf den Fensterbrettern
blühten in grüngesprenkelten Töpfen altmodische Blumen, blaue Agapanthus,
blaue Pyramidcnglocken, feinblättrige Myrten, feuerrote Verbenen und schmetter¬
lingsbunte Geranien. Aber es waren doch hauptsächlich die Möbel, die dem
Ganzen sein Gepräge verliehen; diese soliden Tische mit den großen Platten
von dunkelm Mahagoni, diese Stühle, deren Rücken sich wie ein Span um
uns krümmt, diese Schubladenmöbel in allen möglichen Formen, Niesenkommoden
mit in hellgelbem Holz eingelegten mythologischen Szenen — Daphne, Arachne
und Narcissus —, oder auch Sekretäre auf dünnen, geschnörkelten Beinen, an denen
jede einzelne Schublade mit Mosaiken aus dentrischem Marmor verziert war, einsame,
viereckige Hänser mit einem Baume daneben vorstellend — das alles aus einer
Zeit lange vor Napoleon. Da waren ferner Spiegel mit gemalten Blumen auf
dem Glase in Weiß und Bronze: Schilf und Lotusblüten, die auf dem blanken
See schwammen; und dann das Sofa, nicht wie jene zierlichen kleinen Dinger
auf denen nur zwei sitzen können, nein, solid und massiv erhob es sich vom
Fußboden, gleich einer geräumigen Terrasse, an beiden Seiten in einem brust¬
hohen Konsolschrank endend, auf dem sich wieder je ein kleinerer Schrank in
Mannshöhe erhob und eine alte Urne außer dem Bereich gewöhnlicher Sterb¬
lichen brachte. Es war kein Wunder, daß sich so viele alte Sachen im Hause
des Konsuls befanden, denn sein Vater und vor ihm sein Großvater hatten
innerhalb dieser Wände gelebt und genossen, wenn ihnen die Arbeit im Kondor
und auf dem Holzlager Ruhe ließ.
Der Großvater, Berendt Berendtsen Claudy, dessen Namen das Geschäft
noch führte, hatte das Haus gebaut und sich hauptsächlich für das Laden- und
Produktengcschäft interessirt, der Vater hatte das Holzgeschäft in die Höhe
gebracht, Felder und Grundstücke gekauft, den Laden gebaut und die beiden
Gärten angelegt. Der jetzt lebende Claudy hatte sich auf den Kornhandel ge¬
worfen, hatte den Speicher und die Wirksamkeit eines englischen und hannöverschen
Konsuls sowie eines Lloydagenten mit seiner Thätigkeit als Kaufmann ver-
bunden. Das Korn und die Nordsee nahmen seine Zeit derart in Anspruch,
daß er nur eine dilettantische Aufsicht über die übrigen Zweige seines Geschäftes
führen konnte, weshalb er diese zwischen einem bankerotten Vetter und einem
alten, schwer umgänglichen Verwalter geteilt hatte. Der letztere aber setzte dem
Konsul jeden Augenblick den Stuhl vor die Thür, indem er behauptete, es sei
ganz einerlei, wie es mit dem Geschäft ginge, der Acker müsse aber bestellt
werden, und wenn er pflügen wolle, so müßten die andern sehen, woher sie
Pferde zum Holzfahren bekämen, sein Gespan» brauche er selber. Weil aber
der Mann sehr tüchtig war, ließ sich daran nichts ändern.
Konsul Claudy war ein angehender Fünfziger, ein stattlicher Mann mit
regelmäßigen, kräftigen, an das Plumpe streifenden Zügen, die sich ebenso leicht
zu dem Ausdruck von Energie und Verschlagenheit zusammenzogen, wie sie den
Ausdruck gierigen Genusses annehmen konnten. Er war auch wirklich ebenso
sehr in seinem Element, wenn er einen Handel mit den schlauen Bauern abschloß
oder mit einer Schar eigensinniger Bürger akkordirte, als wenn er bei einer
letzten Flasche Portwein zwischen grauhaarigen Sündern saß und einer mehr als
schlüpfrigen Geschichte lauschte oder auch selbst eine solche in der drastischen
Weise erzählte, in der er berühmt war.
Das war aber nicht der ganze Mann. Die Erziehung, die er genossen
hatte, brachte es mit sich, daß er sich auf Gebieten, die außerhalb des rein
Praktischen lagen, nicht zu Hause fühlte, aber deshalb verachtete er keineswegs
das, was er nicht verstand, auch suchte er es nicht zu verbergen, daß er es
nicht verstand, indem er etwa anredete und verlangte, daß man sein Geschwätz
beachten solle, weil er ein älterer, praktisch erfahrener, hochbesteuerter Bürger
war. Im Gegenteil. Er konnte mit einer rührenden Andacht dasitzen und
dem Gespräche junger Damen und Herren lauschen und hin und wieder nach
vielen Entschuldigungen eine bescheidene Frage äußern, die fast ausnahmslos
aufs umständlichste beantwortet wurde, worauf er dann mit der ganzen Ver¬
bindlichkeit dankte, die Ältere so schön in ihren Dank der Jugend gegenüber
legen können.
Es konnte überhaupt in einzelnen glücklichen Augenblicken etwas über¬
raschend Zartes über Konsul Claudy liegen, ein sehnender Ausdruck in seinen
klaren, braunen Augen, ein wehmutsvolles Lächeln um seine üppigen Lippen,
ein suchender, erinnerungsvoller Tonfall in seiner Stimme, als sehnte er sich
nach einer in seinen Augen bessern Welt, als die war, der er sich nach Ansicht
seiner Freunde mit Leib und Seele ergeben hatte.
Zwischen dieser bessern Welt und ihm unterhielt seine Frau die Verbindung.
Sie war eine jener sanfte», blassen, jungfräulichen Naturen, die nicht den Mut
oder auch nicht den Trieb besitzen, ihre Liebe so auszugeben, daß in der tiefsten
Tiefe ihrer Seele nichts mehr von dem eignen Ich zurück bleibt. Auch nicht
einen einzigen flüchtigen Augenblick können sie so ergriffen werden, daß sie sich
blindlings unter die Wagenräder ihres Abgottes werfen. Das können sie nicht,
sonst aber können sie alles für den Geliebten thun, sie können die schwersten
Pflichten erfüllen, sind zu den schmerzlichsten Opfern bereit, und es giebt keine
Demütigung, die sie nicht willig auf sich nehmen würden. So sind die besten
unter ihnen.
So große Forderungen wurden nun an Frau Claudy gerade nicht gestellt,
aber ganz ohne Kummer war ihre Ehe auch nicht verlaufen. Es war nämlich
offnes Geheimnis in Fjordby, daß der Konsul nicht der treueste Ehemann war,
oder es doch wenigstens bis vor einigen Jahren nicht gewesen war. Natürlich
war das ein großer Kummer für sie, und es war ihr nicht leicht geworden,
ihr Herz dazu zu zwingen, daß es festhielt und nicht wankte in diesem Wirbel
von Eifersucht, Verachtung und Zorn, Scham und tötlichen Schreck, der den
Boden unter ihren Füßen hatte erbeben machen. Aber sie widerstand. Es
kam nicht nur kein Wort des Vorwurfs über ihre Lippen, sie verhinderte sogar
jegliches Geständnis von seiten ihres Mannes. Wußte sie doch, daß wenn er
zu Worten käme, diese sie mit sich fortreißen würden, fort von ihm. Schweigend
mußte es getragen werden, und schweigend suchte sie sich zur Mitschuldigen an
dem Vergehen des Mannes zu machen, indem sie oft wegen ihrer Selbstver-
schcmzung, die zu überwinden ihre Liebe nicht stark genug gewesen war, in die
bittersten Vorwürfe gegen sich selber ausbrach. Ja es gelang ihr, diese Sünde
so aufzubauschen, daß sie ein unbestimmtes Bedürfnis nach Vergebung zu em¬
pfinden schien, und im Laufe der Zeit kam sie so weit mit sich selber, daß man
sich in der Stadt erzählen konnte, für die außerehelichen Kinder des Konsuls
Claudy werde ganz anders gesorgt als bloß mit Geld, es müsse eine verborgne
Frauenhand dasein, die sie schütze, die ihnen alles Uhle fern halte.
So geschah es, daß sich der Sünder zum Guten bekehrte, und daß ein
Sünder und eine Heilige sich gegenseitig besserten.
Claudys hatten zwei Kinder, einen Sohn, der in Hamburg auf dem Kondor
war, und eine neunzehnjährige Tochter, die Fennimore hieß nach der Heldin
in Se. Noche, einem von den Romanen der Paalzow, die in Frau Claudys Ju¬
gend sehr beliebt gewesen waren.
Fennimore stand mit dem Konsul an der Brücke, um auf den Dampfer
zu warten, der Ricks und Erik mich Fjordby brachte, und Ricks war sehr an¬
genehm überrascht durch die Entdeckung, daß seine Kousine so hübsch war, denn
bis dahin kannte er sie nur von einem alten Daguerrotyp, auf dem sie in
einer Dunstatmosphäre eine Gruppe mit ihrem jüngern Bruder und den Eltern
bildete, alle mit einer hektischen Röte auf den Wangen und mit starker Ver¬
goldung ans ihrem goldnen Schmucke. Und min war sie so allerliebst, wie sie
dastand in ihrem hellen Morgeuanzugc mit den schmalen Zeugschuhen und den
schwarzen Kreuzbändern, die bis über den Spann des weißen Strumpfes hinauf¬
reichten, wie sie dastand mit dem einen Fuße oben auf der Kante des Boll¬
werkes und sich lächelnd herüberbeugtc, um ihm die Krücke ihres Sonnenschirmes
zum Guten Tag und Willkommen zu reichen, ehe der Dampfer noch ordentlich
angelegt hatte. Wie rot waren nicht ihre Lippen, wie weiß ihre Zähne, und
die Schläfen hoben sich so zart ab unter dem breiten Eugenienhnte, durch die
lang herabhängenden, schwarzen, mit steinkohlenblanken Perlen verzierten Spitzen
der Krempe. Endlich wurde die Landungsbrücke ausgelegt, und der Konsul zog
mit Erik ab, dem er sich schon vorgestellt hatte, als noch sechs Ellen Wasser
sie von einander trennten. Gleich darauf hatte er sich in ein neckisches Gespräch
über die Qualen der Seekrankheit mit der vertrockneten Witwe eines Hntmachcrs,
die ebenfalls mit dem Dampfer gekommen war, eingelassen, und jetzt war er be¬
müht, die Bewunderung seines Gastes auf die großen Lindenbäume vor der Thür
des Amtsverwaltcrs hinzulenken und auf den neuen Schooner, der auf Thomas
Nasmussens Werft gebaut wurde.
Ricks folgte mit Fennimorc. Sie machte ihn darauf aufmerksam, daß im
Strandgartcu zu Ehren der Gäste eine Flagge aufgezogen sei, und daun fingen
sie an, über die Familie des Etatsrath in Kopenhagen zu sprechen. Sie waren
gleich darüber einig, daß die Etatsrätin ein wenig — ein bischen — sie wollten
nicht recht heraus mit dem Worte, aber Fennimore setzte so ein eigenartiges
Lächeln auf und machte eine katzenartige Bewegung mit der Hand, und das
war offenbar bezeichnend genug für die beiden, denn sie lächelten und sahen
gleich darauf wieder ernsthaft aus. Schweigend gingen sie weiter, alle beide
stark mit dem Gedanken beschäftigt, wie sie sich wohl in den Angen des andern
aufnahmen.
Fennimore hatte sich Ricks stattlicher gedacht, ausgeprägter im Wesen,
bestimmter bezeichnet, gleichsam wie ein unterstrichenes Wort. Ricks dagegen
hatte viel mehr gefunden, als er erwartet hatte: er fand sie anziehend, beinahe
berückend, trotz ihrer Kleidung, die viel von dem Übermodernen der Provinz¬
damen an sich hatte; und als sie in der Wohnung des Konsuls eintraten und
sie ihren Hut abnahm und, indem sie beschäftigt niederblickte, ihr Haar mit
so wunderbar graziösen, weichen, trägen Bewegungen der Hand und des Hand¬
gelenkes ordnete, fühlte er sich so dankbar für diese Bewegungen, als wären es
Liebkosungen, und weder an diesem Tage noch an dem nächsten konnte er sich
frei machen von dieser ihm selbst ein wenig rätselhaften Dankbarkeit, die zu¬
weilen so eigenartig iiberhand nahm, daß er meinte, es müsse das größte
Glück sei», ihr mit Worten dafür danken zu können, daß sie so schön und
so lieblich War. (Fortsetzung folgt.)
Was uns kaum glaublich schien, haben wir jetzt durch
eigue Akteneinsicht schwarz auf weiß bestätigt gefunden. Ein einfacher Prozeß,
der lediglich die Rückzahlung von 20 Mark betrifft, hat zu seiner Erledigung
uicht weniger als nahezu ein Dutzend Termine und anderthalb Jahre Zeit gebraucht!
und das alles nur in eiuer Instanz und bei einer einzigen Zeugenvcruehmung!
Doch nicht genug mit solcher Zeitvergeudung, es kommen noch ganz unerhörte
Kosten dazu. Da sich ein gewöhnliches Menschenkind in das Formelwesen unsers
heutigen Prozeßverfahrens nicht hineinzufinden vermag, so hatten beide Parteien
uotgedrungenerweise Rechtsanwälte angenommen. Die Kosten dafür betragen nicht
weniger als 25 Mark, d. h. fünf mal so viel als die ganzen Gerichtskosten, sodaß
die Gesamtkosten dieses winzigen Prozesses sich auf 30 Mark belaufen. Also um
von einem böswilligen Schuldner 2V Mark zu erlangen, muß man gewärtig sein,
150 Prozent Kosten zu haben, den Zeitverlust und die sonstigen Umständlichkeiten
noch gar nicht mitgerechnet. Das erinnert geradezu an amerikanische Zustände, und
doch rühmen wir uns, in einem Rechtsstaate zu leben. Der Verwaltuugsbericht
des Herrn Justizministers hat kürzlich die Abnahme der Prozesse, namentlich in
den untern Instanzen, als ein erfreuliches Ergebnis der neuen Justizgesetzgebung
besonders hervorgehoben; wenn aber solche Erfolge auf Ursachen der vorliegenden
Art zurückzuführen find, so dürfte das rechtsuchende Publikum doch andrer Ansicht
sein. Ein so unerhörter Aufwand von Geld und Zeit, um zu seinem guten Rechte
zu kommen, bedeutet für die Rechtsuchenden, wenigsteus für deu kleinen Mann und
die unbemittelteren Volksschichten, nichts andres als Rechtsverweigerung und für
die böswilligen Schuldner geradezu eine Belohnung ihrer Gewissenlosigkeit.
Während der frühere altpreußische Bagatellprozeß einfach, kurz und billig war,
sodaß jeder Durchschnittsmensch ohne besondern Zeit- und Geldaufwand sich sein
Recht selbst verschaffe,! konnte, so ist der heutige Prozeß das gerade Gegenteil von
alledem. Vergegenwärtigt man sich die gesamten Mängel, die jahraus jahrein
gerügt werden, aber noch immer der Lösung harren, so scheint es fast, als ob man
— anstatt Altbewährtes zeitgemäß zu verbessern — sich an der Hand grnndstürzender
unpraktischer Doktrinen in eine Sackgasse verrannt habe, aus der mau nun ver¬
geblich hinauszukommen sucht. Wir sind gewiß die letzten, die endlich erlangte
Rechtseinheit irgendwie unterschätzen zu wollen; aber wir sind der Ueberzeugung,
daß diese auch ohne so große Opfer an das Gemeinverständnis und Rechtsbedürfnis
des Volkes zu erlangen gewesen wäre, wenn nicht eben das juristisch-formale
Element das wirtschaftlich-praktische vollständig in den Hintergrund gedrängt hätte,
ein Fehler, den eine Autorität wie Professor Dernburg soeben auch dem EntWurfe
des neuen Zivilgesetzbuches zum Vorwurf gemacht hat.
Muß doch schon das leidige „Zustellungswesen" auf jeden Laien den Ein¬
druck machen, als ob eine Belohnung darauf gesetzt worden wäre, das umständlichste,
zeitraubendste und kostspieligste Verfahren ausfindig zu machen. Und was ist erst
aus dem vielgerühmten „Mündlichkeitsprinzip" in der Praxis geworden? ein un¬
bestimmbares Zwitterding, weil es eben von unhaltbaren Voraussetzungen ausgeht.
Denn entweder haben Richter und Rechtsanwälte die Fähigkeit, eine Reihe ver¬
wickelter Streitigkeiten in wenigen Vormittagsstunden frei aus dem Gedächtnis zur
Entscheidung zu bringen, oder sie haben diese Fähigkeiten nicht; im ersten Falle
bedarf es überhaupt keiner Schriftsätze, und in letzterem genügt es, im Termin
sich einfach auf das Geschriebene zu beziehen, wie es früher geschah. Statt dessen
sind heute Schriftsätze zwar vorgeschrieben oder zugelassen, aber es darf beileibe
nicht darauf Bezug genommen werden, denn was nicht mündlich vorgetragen wird,
geht den Richter nichts an, und wenn es zehnmal in den Akten steht. Giebt es
einen schrofferen Formalismus? Und doch rühmt sich die neue Prozeßgesetzgebuug,
mit solchen Grundsätzen endgiltig gebrochen zu haben!
Es ist ganz natürlich, wenn die Rechtsanwälte in einfachern und namentlich
in Bagatellprozessen solche Schriftsätze gar nicht erst ausarbeiten, sondern sich mit
einigen Notizen in ihren Handakten begnügen, die ihnen beim mündlichen Vortrage
als Anhaltepunkte für ihr Gedächtnis dienen sollen. Nun ist es aber für einen
halbwegs beschäftigten Rechtsanwalt gar nicht möglich, seine auf einen und den¬
selben Vormittag fallenden Terminsachen alle selbst vorzutragen; er muß also die
zusammentreffenden Sachen Kollegen zur Vertretung übergeben. Diese vermögen
sich aus den bloßen Notizen und in der Eile nur höchst flüchtig zu unterrichten,
und so kommt es denn, wie auch im vorliegenden Falle, dahin, daß Behauptungen
und Beweismittel aufgestellt werden, die den thatsächlichen Verhältnissen und den
Angaben der Partei schnurstracks widersprechen. Wenn wieder die Partei das
Opfer bringt, den Termin auch ihrerseits wahrzunehmen, obwohl sie ihren Rechts¬
anwalt dafür bezahlt, so wird das, namentlich bei stark besetztem Terminverzeichnis,
nicht selten als etwas ganz überflüssiges angesehen und die Partei kaum zum
Worte gelassen. Mitunter erscheint aber weder Rechtsanwalt noch Vertreter, und
es giebt dann, wie in unserm Musterprozeß, Versäumnisnrteile, Einsprüche dagegen,
neue Termine und unendliche Verschleppungen des Prozesses, die bei der frühern
Selbstführung durch die Partei ganz unbekannt waren. Allerdings besteht für die
amtsgerichtlichen Prozesse (bis zu 300 Mark) noch heute kein gesetzlicher Anwalts¬
zwang, aber die verwickelten und unverständlichen Formen des heutigen Verfahrens
haben mittelbar dasselbe Ergebnis herbeigeführt. Dieser Zwang, sich einen Rechts¬
anwalt zu nehmen, ist aber für Bagatellprozesse umso bedauerlicher, als solche
Prozesse, bei denen es weit weniger auf Rechtskunde als auf sorgsame Aufführung
der einzelnen Thatsachen ankommt, erfahrungsmäßig weit besser und schneller durch
die Parteien selbst, als von rechtsgelehrten Vertretern erledigt werden, die für so
„kleine Sachen" kein sonderliches Interesse zu zeigen pflegen. Anderseits scheint
es uns wieder ein innerer Widerspruch, den Prozeßbetrieb grundsätzlich den
Parteien zu überweisen und gleichzeitig durch Einführung des Anwaltszwanges sie
zu dieser Aufgabe für unfähig zu erklären. Denn entweder sind sie fähig, ihre
Sache selbst zu führen, und dann brauchen sie keinen Rechtsanwalt, oder sie sind
dessen nicht fähig, dann dürfte der Prozeßbetrieb der bewährten Leitung des
Gerichts umso weniger entzogen werden, als solche Versuche schon auf dem Gebiete
der freiwilligen Gerichtsbarkeit — zufolge der neuen Vormundschaftsordnung vom
5. Juli 1375 — zu höchst bedenklichen Ergebnissen geführt hatten.
Doch genug des Unerfreulichen. Begnügen wir uns damit, zu unserm Falle
noch den Vergleich gegen früher zu ziehen. Nach dem altpreußischen Bagatell-
verfahren hätte dieser Prozeß in einem oder zwei Terminen binnen Monatsfrist gegen
ein paar Mark Prozeßgebühren von den Parteien selbst erledigt werden können.
Heute bedürfte es dazu zehn Termine, anderthalb Jahre Zeit und 30 Mark Ge¬
samtkosten, wovon noch der größte Teil trotz des „Mündlichkeitsprinzips" auf —
Schreibwerk fällt! Das find Verbesserungen, die dem Gemeinverständnis nicht recht
einleuchten wollen!
Es kann nicht dringend genug darauf hingewiesen werden, daß die Mängel
des heutigen Prozeßverfahrens gerade beim Bagatellprozeß einen sehr ernsten sozial¬
politischen Hintergrund haben. Dieser Prozeß ist vorzugsweise dazu bestimmt, den
alltäglichen Rechtsbedürfnissen des gewöhnlichen Lebens und damit dem Rechts¬
bedürfnis der breiten Volksschichten zu dienen. Eine übermäßige Erschwerung dieser
Rechtshilfe, die einer gänzlichen Versagung fast gleichkommt, muß daher auf das
Rechtsbewußtsein der Volksmassen durchaus zerstörend einwirken und ist deshalb
wohl mit Recht als eine mitwirkende Ursache für das fortdauernde Wachstum der
Sozialdemokratie anzusehen. Findet sich doch fast in jeder Nummer des sozial¬
demokratischen „Moniteurs" der Grundgedanke wieder, daß es heute wie im Poli¬
tischen, so auch im sozialen Leben den Schwachen und Bedrängten gegenüber nicht
mehr Rechtsfragen, sondern nur noch Machtfragen gebe.
Zum Schluß noch eine Bemerkung. Man hat uns glaubhaft versichert, daß
die Besprechung solcher und ähnlicher Fälle, die sich leider beliebig vermehren lassen,
selbst von Blättern, die sich gern zur leitenden Tagespresse rechnen, wie der
Vossischen Zeitung, dem Deutschen Tageblatt, der Post u. a. in., mit dem einfachen
Bemerken abgelehnt worden ist, daß kein ausreichender Grund dazu vorliege. Uns
will es scheinen, daß eine solche Auffassung von einer gänzlichen Verkennung der
wahren Aufgabe der Presse zeugt. Nicht mit Vertuschung und Verschweigung,
sondern mit Aufdeckung vorhandner Mißstände wird den staatlichen und gesellschaft¬
lichen Interessen gedient; nnr die fortdauernde Besprechung solcher Fragen führt
schließlich zu Mitteln und Wegen, sie zu lösen. Allerdings handelt es sich hier
der Hauptsache nach nur um die „kleinen Leute," für deren Schmerzen und Leiden
die großen Tagesblätter anscheinend noch immer nicht das rechte Verständnis finden.
Und doch lesen wir schon in der Allerhöchsten Botschaft vom 17. November 1331,
welche in der jüngsten Thronrede eine verheißungsvolle Bekräftigung erhalten hat,
daß auch diesen Volksschichten ein höheres Maß der Fürsorge zu teil werden soll.
Möchte auch die Tages- und Parteiprcsse diese hohen Worte beherzigen und darnach
handeln; sie würde sich damit um Deutschlands Wohl zweifellos mehr Verdienst
erwerben als mit dem Breittreten andrer Fragen, an die sie in jüngster Zeit nur
allzuviel Raum verschwendet hat.
Der in Ur. 24 und 2ö der Grenz¬
boten enthaltene Aufsatz über das Studium der alten Sprachen auf den Gym¬
nasien hat wieder einmal die Verbesserung unsers gelehrten Schulwesens in An¬
regung gebracht und dabei auch die „unverantwortliche Vernachlässigung der
körperlichen Ausbildung der Jugend" berührt. Im Anschluß hieran wollen wir
hier nur einen Mißstand herausgreifen, der allmählich zu einer Volkskrankheit zu
werden droht: die durch das Uebermaß der geistigen Ablichtung beförderte Ueber-
Handnahme der Kurzsichtigkeit und des hierdurch veranlaßten Brillentragens. Ist
es doch schon so weit gekommen, daß in den obersten Klassen unsrer höhern Schulen
mehr als die Hälfte der Schüler nicht mehr im Besitz der natürlichen Sehkraft ist,
und daß daher die Brille, diese leidige Brücke blöder Augen, die leider schon in
den untern Klassen hie und da auftritt, je höher hinauf, desto stärkere Verbreitung
findet. So hat nun sich bei uns in Deutschland fast daran gewöhnt, die Brille
als die unvermeidliche Mitgift eines gelehrten Jünglings anzusehen und nimmt
an den zahllosen Brillenträgern keinen Anstoß mehr. Daß andre Völker darüber
anders denken, ergiebt sich daraus, daß englische und französische Witzblätter, wo
sie einen Deutschen als Zerrbild darstellen »vollen, ihm stets eine Brille ans die
Nase setze», offenbar in der Absicht, ihn schon dadurch als lächerliche Figur zu be¬
zeichnen.
Daß man vor sechzig bis siebzig Jahren auch bei uns das Brillentragen
noch nicht so gleichgiltig aufnahm wie jetzt, beweist das Beispiel Goethes, dem bei
seinem stark ausgeprägten Natursinn alles, was das schöne Bild des Menschen
entstellt, höchlichst zuwider war, und der daher gegen Brillenträger eine unüber¬
windliche Abneigung empfand. Er spricht das in verschiednen Stellen seiner Werke
aus. So in dem Gedichte:
Feindseliger Blick. Du kommst doch über so viele hinaus,
Warum bist du gleich äußeren Hans,
Warum gleich aus dem Häuschen,
Wenn eiuer dir mit Brillen spricht?
Du machst ein ganz verflucht Gesicht
N»d bist so still wie Mäuschen. Das scheint doch wirklich sonnenklar!
Ich geh mit Zügen frei und bar,
Mit freien, treuen Blicken;
Der hat eine Maske vorgethan,
Mit Späherblicken kommt er an.
Darein sollt' ich mich schicken? Was ist denn aber beim Gespräch,
Das Herz und Geist erfüllet,
Als daß ein echtes Wortgepriig
Von Ang zu Auge quittee!
Kommt jener nun mit Gläsern dort,
So bin ich stille, stille;
Ich rede kein verniinftig Wort
Mit einem dnrch die Brille.
In den „Wahlverwandtschaften" (II. 5) schreibt Ottilie in ihr Tagebuch: „Es
käme niemand mit der Brille auf der Nase in ein vertrauliches Gemach, wenn er
wüßte, daß uns Frauen sogleich die Lust vergeht, ihn einzusehen und uns mit ihm
zu unterhalten.""
In den „Wanderjahren (I, 10) äußert Wilhelm Meister: „Erlauben Sie
mir es auszusprechen, ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt gefunden,
daß diese Mittel, wodurch wir unsern Sinnen zu Hilfe kommen, keine sittlich
günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen sieht, hält sich
für klüger, als er ist: denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner innern
Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt; es gehört eine höhere Kultur dazu,
deren nur vorzügliche Menschen fähig sind, inneres Wahres mit diesem von außen
herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen. So oft ich durch eine Brille
sehe, bin ich ein andrer Mensch und gefalle mir selbst nicht; ich sehe mehr, als ich
sehen sollte; die schärfer gesehene Welt harmonirt nicht mit meinem Innern, und
ich lege die Gläser geschwinder wieder weg, wenn meine Neugierde, wie dieses
oder jenes in der Ferne beschaffen sein möchte, befriedigt ist. Wir werden diese
Gläser so wenig als irgend ein Maschinenwesen aus der Welt bannen; aber dem
Sittenbeobachter ist es wichtig, zu erforschen und zu wissen, woher sich manches
in die Menschheit eingeschlichen hat, worüber man sich beklagt. So bin ich zum
Beispiel überzeugt, daß die Gewohnheit, Annähernngsbrillen zu tragen, an dem
Dünkel unsrer jungen Leute hauptsächlich Schuld hat."
Endlich findet sich in Eckermanns Gesprächen mit Goethe (3. Teil) unter dem
5. April 1830 folgende Aufzeichnung: „Es ist bekannt, daß Goethe kein Freund
von Brillen ist. »Es mag eine Wunderlichkeit von mir sein — sagte er bei
wiederholten Anlässen —, aber ich kann es einmal nicht überwinden. Sowie ein
Fremder mit der Brille auf der Nase zu mir hereintritt, kommt sogleich eine Ver¬
stimmung über mich, der ich nicht Herr werden kann. Es genirt mich so sehr,
daß es einen großen Teil meines Wohlwollens sogleich ans der Schwelle hinweg-
nimmt und meine Gedanken so verdirbt, daß an eine unbefangene, natürliche Ent¬
wicklung meines eignen Innern nicht mehr zu denken ist. Es macht mir immer
den Eindruck des Desvbligeauten ^Unhöflichen^, ungefähr so, als wollte ein Fremder
mir bei der ersten Begrüßung sogleich eine Grobheit sagen. Ich empfinde dieses
noch stärker, nachdem ich seit Jahren es habe drucken lassen, wie fatal mir die
Brillen sind. Kommt nun ein Fremder mit der Brille, so denke ich sogleich: er
hat deine neuesten Gedichte nicht gelesen! und das ist schon ein wenig zu seinem
Nachteil; oder er hat sie gelesen, erkennt deine Eigenheit und setzt sich darüber
hinaus, und das ist noch schlimmer. Der einzige Mensch, bei dem die Brille mich
nicht genirt, ist Zelter; bei allen andern ist sie mir fatal. Es kommt mir immer
vor, als sollte ich den Fremden zum Gegenstand genauerer Untersuchung dienen,
und als wollten sie durch ihre gewaffneter Blicke in mein geheimstes Innere
dringen und jedes Mltchen meines alten Gesichts erspähen. Während sie aber
so meine Bekanntschaft zu machen suchen, stören sie alle billige Gleichheit zwischen
uns, indem sie mich hindern, zu meiner Entschädigung auch die ihrige zu macheu.
Denn was habe ich von einem Menschen, dem ich bei seinen mündlichen Aeuße-
rungen nicht ins Auge sehen kann, und dessen Seelenspiegel durch ein Paar Gläser,
die-mich blenden, verschleiert ist!«"
Was würde Goethe, der Freund und Bewunderer des schönen, unentstellten
„Menschengebildes," heute sagen, wenn er die wachsende Menge der Brillen- und
Klemmerträger erblickte und namentlich einen großen Teil der heranwachsenden
Jugend schon mit diesem Kennzeichen menschlicher Gebrechlichkeit behaftet sähe!
Seit Palleske, der unsers Wissens der
erste war, der den öffentlichen Vortrag von Dramen und Balladen berufsmäßig
betrieb, ist in dieser Kunstgattung eine ganze Reihe von Männern aufgetreten,
und heute ziehen, namentlich zur Winterszeit, diese modernen Barden fast kann
man sagen scharenweise durchs Land, um Städte und Städtchen, große und kleine
Vereine zu beglücken. Wir sind keine sehr großen Freunde dieser Herren Rezitatoren
— so lautet ihr offizieller Titel —, aber wir geben zu, daß sie doch manches
Gute schaffen. Wer nimmt sich denn heute noch die Zeit, eine längere Dichtung
mit der Hingebung und völligen Versenkung in den Stoff zu lesen, die weite Kreise
vordem besessen haben müssen? Der Mann liest alltäglich „seine" Zeitung, Wenns
hoch kommt, in ruhigerer Zeit oder in der Sommerfrische eine Novelle, einen
Roman; Frauen und Töchter nähren sich von der Leihbibliothek, höchstens daß zum
Geburtstage oder zu Weihnachten ein auf Vorschlag des Buchhändlers (!) gekauftes
Goldschnittbändchen, etwa von Julius Wolff oder Rudolf Baumbach, auf den Tisch
kommt. Die Zeit, die man sonst auf das Lesen neuer schönwissenschaftlicher Er¬
scheinungen, auf die Musenalmanache, Taschenbücher u. dergl. verwandte, verschlingt
heute zum größten Teile der Stammtisch, der Skat- oder Schafkopfabend, die
Kegelei nud wie diese edeln Genüsse der Gegenwart alle heißen.
Da ist es denn immerhin mit Freuden zu begrüßen, wenn solch ein Rezitator
den Anlaß und bequeme Gelegenheit bietet, sich wieder einmal dem Zauber des
Dichterwortes hinzugeben.
Unter den uns bekannt gewordenen Vorlesern ist Türschmann derjenige, der
auf uns den tiefsten Eindruck gemacht hat. Möglich, daß das traurige Geschick
der Erblindung, dem er anheimgefallen ist, einem das Herz schon weicher und em¬
pfänglicher macht, aber daß er ein Künstler, ein großer Künstler ist, wird sich kaum
bestreiten lassen. Die wunderbar ausdrucksfähige Stimme, das bewegliche Mienen¬
spiel, die edeln, wohldurchdachten Handbewegungen, die stattliche Gestalt mit dem
mächtigen Kopfe, der jetzt beinahe an manche Bilder des alten Goethe gemahnt —
alles das wirkt zusammen, uns unwiderstehlich in seinen Bann zu ziehen.
Von seinem Vortrage dramatischer Meisterwerke — Oedipustrilogie, Shake-
spearesche Stücke, Faust, Iphigenie — ist schon oft und eingehend gesprochen
worden, über sie nur einige Worte. Wir hörten neuerdings von ihm in Leipzig
den Coriolan und die Iphigenie. Von dem erstem hatten wir einen reinern
Genuß, als von der Iphigenie. Die holde Weiblichkeit von einem künstlich hinauf¬
geschraubten Bariton dargestellt zu hören, mag er auch so biegsam sein wie der
Türschmanns, wird doch immer ein gewisses peinliches Gefühl hervorrufen. Am
besten gelang noch die Volumnia; aber schon die Virginia bekam etwas Süßliches,
was der Römerin wenig ansteht, und die Iphigenie gar hatte von Anfang an
einen weinerlichen, singenden Ton, der zu der klaren Hoheit dieser Jdealgcstalt in
schärfsten Gegensatze steht.
Der dritte Vortrag Türschmanns umfaßte eine Reihe von Balladen, und hier
zeigte sich seine volle Größe. Es ist das ja auch ganz natürlich: die Rezitation
eines Dramas durch einen Einzelnen bleibt, sie sei so vollendet wie sie wolle, ein
Notbehelf, den man einem erblindeten Schauspieler verzeiht, den man bewundert,
der aber für die Wirkung von der Bühne herab doch keinen vollen Ersatz zu bieten
vermag. Aber Balladen! Die sind für den Vortrag des Einzelnen bestimmt,
sie wollen gesprochen und gehört, nicht bloß stumm gelesen sein — was wunder,
daß einem dabei das Herz aufging!
Türschmann begann mit den Kranichen des Ibykus, dann folgte der Fischer,
hierauf der Zauberlehrling. Die verschiednen Register, die er zu ziehen versteht,
konnten nicht wirksamer zur Geltung gebracht werden als durch die beiden letzten
Balladen: der Fischer, ein süßer, buhlerischer Gesaug von der ersten bis zur letzten
Silbe, in dem Zauberlehrling erst die Töne jugendlicher Keckheit und dann er¬
schütternder Angst, zuletzt das Selbstbewußtsein und die Würde des alten Meisters —
das quoll alles so natürlich, so selbstverständlich über die Lippen, daß die Kritik
völlig verstummen mußte.
Auch mit dem Taucher machte Türschmann einen gewaltigen Eindruck; nur das
weiche Gefühl und der schmeichelnde Mund der Königstochter: „Laßts, Vater,
genug sein des grausamen Spiels" hatten wieder etwas Lallendes, Singendes, wie
die Iphigenie.
Merkwürdig nahm sich die folgende Nummer, Firdusi von Heine, in der ge¬
wählten Zuhörergesellschaft aus. Eine in Balladenform gekleidete Klage des
Dichters über ungenügende Bezahlung — ein echt jüdischer Vorwurf! Wir haben
nicht recht verstehen können, warum Türschmann gerade dieses Gedicht gewürdigt
hat, in den Kreis seiner Vorträge gezogen zu werden. Auch die Sprache fällt
entsetzlich ab neben Schiller und Goethe. Wörter wie „ordinär," noch dazu im
Reime, können einem schon das ganze Gedicht verleiden.
Den Schluß bildeten Bürgers Lenore und das Lied von der Glocke. Wirkte
die Lenore grausig erschütternd, so die Glocke erhebend, erbauend — ein wunder¬
barer Ausklang der gesamten Vorträge.
Man kann über den Umfang und die Auswahl der Kunstmittel, die der Rezi¬
tator verwenden darf, streiten, und man wird zugeben dürfen, daß diejenigen,
welche behaupten, gerade Türschmann durchbreche die Schranken, die dieser Kunst¬
form gezogen seien, einigen Grund zu dieser Behauptung haben. Denn er spricht
eben nicht nur, er spielt, er singt (das Spottlied im Firdusi hätte man fast auf
Notenpapier nachschreiben können), er weint, er lacht. Daß aber alles das seinem
Zwecke dienstbar wird, den auftretenden Gestalten Fleisch und Blut zu geben,
und daß also schließlich die Ziele des Dichters dadurch gefördert werden, mag
dieser selbst auch an einen derartigen Vortrag nie gedacht haben — das, dünkt uns,
ist unbestreitbar.
Wenn wir nicht irren, hat Türschmann den Balladencyklus erst neuerdings
seinem Repertoire einverleibt. Wir halten das für die denkbar glücklichste Erwei¬
terung desselben und wünschen, daß uns später noch andre Balladen (wenn es
von Heine durchaus etwas sein muß, vielleicht Belsazar), von seiner Eigenart be¬
lebt und durchgeistigt, zu hören vergönnt sein möge!
Daß der Kampf gegen das Fremdwörterunwesen am
wenigsten Verständnis in den Kreisen unsrer Geschäftsleute finden würde, war
vorauszusehen. Um die Bedeutung dieses Kampfes auch nur zu begreifen, dazu
gehört ja eine weit höhere Bildung, als wie sie in diesen Kreisen im allgemeinen
zu finden ist. Daß es hundertmal vornehmer klingt und ist, ein „fein ausgestattetes
Herrenzimmer" auszubieten, als ein „elegant möblirtes Garyonlogis," hundertmal
vornehmer, von „Anfertigung von Frauenkleidern" zu sprechen, als von „Kon¬
sektion von Damenmoden," ist diesen Kreisen nicht begreiflich zu machen, wenigstens
vorläufig nicht.*)
Aber nicht nur die Fremdwörter werden in der sinnlosesten Weise heran¬
gezogen, um den Schein des Wichtigen und Vornehmen zu erwecken, leider muß
sich auch unsre gute Muttersprache selbst dazu mißbrauchen lassen. Um ein Bei¬
spiel für viele zu geben, machen wir nur auf den greulichen Unfug aufmerksam,
der gegenwärtig von den Schenkwirten mit den Wörtern Burg und Halle getrieben
wird. Was für eine Vorstellung hat man bisher mit dem Worte Halle verbunden!
Man denke an Schillers: „Freude war in Trojas Hallen," an Uhlands „Ver¬
nahmst du aus hohen Hallen Saiten und Festgesang/' an Kuglers: „Ihre Mauern
siud zerfallen, und der Wind streicht durch die Hallen," an Elisabeths Auftreten
im Tannhäuser: „Dich, teure Halle, grüß' ich wieder." Man denke auch an die
Tordalken, die Tuchhallen, die Markthallen, die Ankunfts- und Abfahrtshallen der
Bahnhöfe u. dergl. Nun vergleiche man damit den heutigen Gebrauch. Wenn
einer draußen in der Vorstadt eine kleine Budike mietet, um Milch nud Eier,
Butter und Käse drin zu verkaufen, so schreibt er stolz über die Ladenthür:
Milchhalle. Und sein Nachbar, der ein Paar kleine Stuben im Erdgeschoß, eine
zweifenstrige und eine einfenstrige, zu einem Bierschank hergerichtet hat, nennt das
Bierhalle oder Buudcshalle, womöglich Reichsbierhalle. Noch ärger aber wird es
mit der Burg getrieben. In der Südvorstadt Leipzigs kommt man jetzt auf einem
Wege von ein paar hundert Schritten bei nicht weniger als sechs Burgen vorbei: bei
der Kaiserburg, der Südburg, der Körnerburg, der Moritzburg, der Albrechtsburg
und — der Petersburg! Fühlt mau denn nicht, welche Abgeschmacktheit schon in diesen
Zusammensetzungen liegt? Was hat Kaiser Wilhelm oder Theodor Körner oder
der Apostel Petrus mit einer Burg zu schaffen? Die Petersburg — die neueste
Schöpfung dieser Art — ist nämlich im Anschluß an die Pctersstrnßc, die Peters-
brücke, das Pctersthor und — die Peterskirche genannt, ebenso wie der Nikolai¬
tunnel, auch eine Bierwirtschaft, im Anschluß an die Nikolaistraße und — die
Nikolaikirche. Oder hat der gute Mann wirklich keine Ahnung davon gehabt, wer
der Peter ist, nach dem die Petersstraße genannt ist? Hat er an den Zaren ge¬
dacht? Denkbar wäre es ja bei den bedeutenden Geschichtskenntnissen, die im Volke
verbreitet sind. Hatte doch vor ein paar Jahren, als zu Ehren Fichtes eine neue
Straße in Leipzig Fichtestraße genannt worden war, ein Schenkwirt nichts eiligeres
zu thun, als ein „Restaurant zur Fichte" dort zu eröffnen. Nun muß mau sie
aber nur sehen, diese Burgen!
Man begreift es ja, wie die Leute zu ihrer Vorliebe für die Halle» und Burgen
gekommen sind. Es hängt das unzweifelhaft mit der Altdentschtümclei zusammen,
die voni Kunstgewerbe ausgegangen ist. Vertäfelte Wände, Butzenscheiben, schmiede¬
eiserne Kronleuchter, Eicheuholzschemel, Steinkrüge — was Wunder, daß die Leute
nun auch in Burgen und Hallen sitzen wollen — auch die „Klosterschenkcn" sind
beliebt —, wenn sie auch thatsächlich in ganz gewöhnlichen Bierstuben sitzen, in
der außer dem unvermeidlichen Billard kaum vier Tische Platz haben. Aber es thut
einem doch leid um die schönen Wörter, die in ihrer Bedeutung heruntergezogen
werden, und um das Sprachgefühl, das durch deu dummen Mißbrauch abgestumpft wird.
In frühern Zeiten durfte kein Schenkwirt feine Wirtschaft benennen oder den
Namen seiner Wirtschaft verändern ohne Zustimmung der Behörden. Das war
mitunter recht heilsam. Als in Deutschland die leidige Mode aufkam, die Gast¬
höfe in Hotels zu verwandeln, als in Leipzig der „Helm" in ein Hols! av ?rü8M,
der „blaue Engel" in ein HötsI av Russio, zwei andre Gasthöfe in ein Hotsl as
Lsxs und ein Hötvl av IZg-viors umgetauft waren, da meldete sich auch der Wirt
zum „großen Joachimsthal" in der Hainstraße und wollte seinen Gasthof fortan
Lötsl as (!) AiAncl .IvÄsbimstncü nennen. Das war denn doch dem Leipziger Rate
zu toll, er wies den Wirt ab. Wie manche Dummheit würde uns auch heute
noch erspart bleiben, wenn nicht jeder Hansnarr die seinige so ungehindert zu Markte
tragen dürfte!
In den ersten Tagen des Mai waren die Wiener Zeitungen mit langen Be¬
richten über den Prozeß gestillt, den die Staatsbehörde gegen den bekannten Partei¬
führer G. von schönerer angestrengt hatte und der mit dessen Verurteilung zu
viermonatlicher schwerer Kerkerstrafe und Verlust des Adels und der Ehrenrechte
endigte. Bei dem leidenschaftlichen Hasse, mit welchem der von Juden geleitete
Teil der österreichischen Presse Herrn von schönerer verfolgt, war volle Unpartei¬
lichkeit von deren Berichten umso weniger zu erwarten, als er in diesem Falle
die Journalisten nicht nur mit Worten, sondern thatsächlich angegriffen haben sollte.
Auch verlautete bald, daß in österreichischen Juristeukreisen das Urteil vielfach nicht,
wie in den öffentlichen Blattern, als ein Triumph des Rechtes augesehen werde.
Nachdem wir uns nun die Mühe genommen haben, die ganze gerichtliche Ver¬
handlung nach dem vorliegenden, wie vorausgesetzt werden muß, getreuen Abdruck
kennen zu lernen, müssen wir allerdings bekennen, daß dieser Prozeß eine Merk¬
würdigkeit ist. Für den Angeklagten Partei zu ergreifen, wird sich schwerlich jemand
veranlaßt finden. Er ist in der Nacht vom 8. auf den 9. März d. I., von einer
Anhängerschar begleitet, in das Redaktionslokal des „Neuen Wiener Tagblatts"
gedrungen, angeblich, um sich zu erkundigen, ob die Nachricht vom Tode des Kaisers
Wilhelm oder der Widerruf (welche beide durch Extrablätter jener Zeitung ver¬
breitet worden waren) richtig sei. Dieser Schritt an sich wird ihm zum schweren
Vorwurfe gemacht, während dasselbe Blatt am nächsten Tage erzählte, daß an
jenem Abende schon viele gekommen seien, um „bezüglich des deutschen Kaisers
Erkundigungen einzuziehen." Aber er hat auch die anwesenden Redakteure mit
groben Beleidigungen überhäuft; dies steht fest, wenn auch die Zeugenaussagen
über die von ihm gebrauchten Worte, darüber, ob er die Journalisten aufgefordert
habe, niederzuknieen und Abbitte zu leisten oder nur gesagt habe, sie sollten dies
eigentlich thun u. dergl. in., einander unmittelbar widersprechen. Er hat sich dann
entfernt, was ihm in den Zeitungen als Feigheit ausgelegt wurde, und er be-
hanpet, nicht eher bemerkt zu haben, daß es zwischen einem von seinen Freunden
und den Redakteuren, welche Zuzug von Setzern :c. erhalten hatten, zu einer
Schlägerei gekommen war. Ein Redakteur war so „honorig," wie der Staatsanwalt
wiederholt hervorhob, zu bekunden, daß er zuerst, oder wenigstens gleichzeitig mit dem
Geguer, einen Schlag geführt habe. Das Urteil nimmt nun „als erwiesen" an,
daß schönerer zuerst seine Genossen aufgefordert habe, die Thüren zu besetzen, daß
er einen Schlagring und einen Stock mit Bleikuovf, „also eine Waffe," bei sich
gehabt und dadurch, wie durch sein ganzes Auftreten, nicht nur die Absicht, Gewalt
anzuwenden, gezeigt, sondern auch die Aufforderung zur Gewaltthätigkeit an seine
Genossen erlassen habe. Demnach wird er des „Hausfriedensbruches" schuldig be¬
funden. Aus den Verhandlungen ist jedoch zu entnehmen, daß alle Thüren offen
standen, daß in dem Wirrwarr niemand mit Bestimmtheit gehört hat, wer zum
Besetzen der Thüren aufgefordert hat; daß die Redakteure laut dem schon erwähnten
Berichte des „Neuen Wiener Tagblatts" Schöuerers Anrede mir mit „Lachen"
beantwortet haben wollten, während sie vor Gericht allerdings versicherten, in große
Angst versetzt worden zu sein; daß der fragliche Stock ein Spazierstock ist, den
schönerer in der Linken gehalten zu haben behauptet, da er in der Rechten die
beiden Extrablätter emporgehoben habe. Den Schlagring haben einige Belastungs¬
zeugen gesehen, andre nicht, und es hat keine große Wahrscheinlichkeit, daß jemand
im Wirtshause — woher schönerer und Genossen kamen — eine solche Waffe
bei sich führt. Genug, so wenig sein Vorgehen entschuldigt werden kann, so
wenig gewinnt man die Ueberzeugung, daß er wirklich ein Verbrechen begangen
habe, das so schwer geahndet zu werden verdiente. Allerdings hat der Gerichtshof
die Verlesung des Zeitungsartikels, welcher mit den spätern Aussagen der Redakteure
in so schreienden Widerspruche steht, nicht gestattet. Interessant ist ein vom Ver¬
teidiger berührter Umstand. Kurze Zeit vor dem besprochenen Auftritte hat
G. von schönerer in öffentlicher Versammlung den Unfug mit „unsaubern Annoncen
in gewissen Tagesblättern" in einer Weise gebrandmarkt, daß die Staatsbehörde
sich veranlaßt fand, jenem Treiben einige Schranken zu setzen. Wie es scheint,
sind in derselben Versammlung Ausdrücke gefallen, die einige Belastungszeugen
dann in der Nacht des 8. März vernommen zu haben meinen. Ein Ausspruch
des Staatsanwalts endlich verdient bemerkt zu werden. Den Ruf eines Mit¬
angeklagten: „Wir werden euch deutsche Art lehren" erläutert der Staatsanwalt
so: „Das heißt, jetzt wird gehauen." Tritt das Urteil in Rechtskraft, so hat die
parlamentarische Thätigkeit Schönerers vorläufig ein Ende. Ob das ein Verlust
oder, wie die Zeitungen behaupten, ein Glück für Oesterreich sei, vermag der
Fernerstehende nicht zu untersuchen. Nur lassen die Nachrichten vermuten, daß seine
Popularität durch das Martyrium noch werde gesteigert werden.
Das französische Original dieses Buches ist in den Grenzboten bereits be¬
sprochen worden. Ein Brief des Verfassers an die Verlagshandlung spendet der
Uebersetzung hohes Lob, das im wesentlichen auch verdient ist, berührt die That¬
sache, daß die gothischen Buchstaben der Verbreitung deutscher Werke im Auslande
hinderlich sind, dankt der deutschen Presse für die unparteiische Beurteilung der
Schrift über Bazaine, und bemerkt schließlich: „Die Auslassungen, welche Sie mir
bezeichnet haben und zu denen ein etwas übertriebenes patriotisches Zartgefühl den
Uebersetzer veranlaßt hat, sind von geringer Bedeutung und beeinträchtigen nicht
im mindesten den Charakter des Buches." Das letztere ist richtig, insofern man
nur dessen eigentlichen Zweck ins Auge faßt. Im übrigen sind die vom Uebersetzer
unterdrückten Ausfälle auf die Deutschen und deren Kaiser leider nur zu charakte¬
ristisch für den Franzosen, und unsers Dafürhaltens wäre es richtiger gewesen,
alles wiederzugeben und dort, wo d'Herisson Unwahrheiten vorbringt, sie ohne
unpatriotisches Zartgefühl als solche zu kennzeichnen. Erwünscht wäre ein Inhalts¬
verzeichnis, umsomehr, als die Darstellung des Verfassers sich sprunghaft bewegt.
MM man es für notwendig gefunden hat, ein deutsches Wort für
das englische Issäer zu schaffen, würde sich wahrscheinlich leicht
feststellen lassen. Vor dem Anfange der vierziger Jahre wird es
schwerlich gewesen sein, und eingebürgert hat sich der Begriff erst
1848 — in Österreich bestimmt. In ältern Zeitungen finden
wir politische Fragen in Korrespondenzartikeln erörtert, eingehendere Besprechungen
aber waren den Wochen- und Monatsschriften vorbehalten und der in der Zeit
von 1840 bis 1848 so fruchtbaren Flugschriftenlitteratur. Die mächtige Ent¬
wicklung des Journalismus hierzulande muß, da dem Sommerfasching des Re¬
volutionsjahres bald wieder die strengste Zensurherrschaft folgte, von dem so¬
genannten orientalischen Kriege der Westmächte gegen Rußland datirt werden.
Und dieser Zusammenhang erscheint verhängnisvoll. Napoleon HI. that der
„sechsten Großmacht" nicht nur mit derartigen Worten schön, Leiter von Tages¬
blättern sahen nichts unpassendes darin, sich für ihr Wettern gegen den Zaren
mit französischen Ehrenzeichen belohnen zu lassen, an deren Stelle vorsichtigere
Geschäftsleute das auf Gold geprägte Bildnis des großen Völkerbefreiers ge¬
wählt haben sollen; gleichzeitig wurden die finanziellen Erfindungen der Mires
und Pereire bei uns eingeführt, und mit ihnen der Brauch, die Presse durch
„Beteilung" mit Aktien für dergleichen Wohlthätigkeitsanstalten zu interessiren.
Von da an brachte jedes Tageblatt in jeder Nummer politische und wirtschaft¬
liche „Leitartikel." Ohne Zweifel war deren Zweck häufig, die Leser zu unter¬
richten, aufzuklären, natürlich im Sinne eines politischen und wirtschaftlichen
Parteistandpunktes. Allein bei verschiednen Organen ließen die Beziehungen
zur eignen oder zu einer fremden Regierung in der Politik, zu dieser oder jener
Geldmacht in Finanzfragen sich so wenig verhüllen, daß schnell der Glaube an
die Aufrichtigkeit des Zeitungsurteils schwand, und man auch hinter der Be¬
kämpfung verderblicher Bestrebungen wieder nur eigennützige Beweggründe ver¬
mutete. In der That erfolgte manchmal der Übergang von scharfer Kritik
z. V. eines finanziellen Unternehmens zu dessen Anpreisung, oder umgekehrt,
mit auffallender Plötzlichkeit, und Unternehmungen, deren Unsolidität in einer
Zeitung nachgewiesen wurde, ließen es sich nicht entgehen, durch Verbreitung
solcher Erklärungsgründe die Wirkung der Kritik abzuschwächen.
Diese Ansicht vom Charakter des Zeitungswesens hat sich im wesentlichen
unverändert erhalten, zum großen Schaden desselben im allgemeinen, der ehr¬
lichen Blätter im besondern, und notwendigerweise nicht minder zum Schaden
des öffentlichen Lebens. Jede Vorhaltung, daß es ein Unrecht sei, Blätter,
von deren Unredlichkeit man überzeugt ist, durch das Abonnement zu unterstützen,
wird mit Ausflüchten beantwortet: „Eins ist wie das andre, das meinige ist
wenigstens geschickt redigirt und gut geschrieben, die darin ausgesprochenen An¬
sichten haben für mich keinerlei Bedeutung; wer liest denn überhaupt mock> Npit-
artikel?"
Was den letzten Punkt betrifft, so wird allerdings jemar,
ist, sich ein eignes Urteil zu bilden, nicht darnach fragen, wi diese oder jeu
Zeitungsredaktion ein Ereignis, eine Maßregel angesehen haben will. Ab
viel solche Leser giebt es denn? Im Verhältnis zu dem ?u teil, der gegen¬
wärtig am politischen Leben genommen wird, ist die Zahl er Perfol
eignem Urteil unendlich viel geringer als zu der Zeit, wo die
mit politischen Fragen sich noch auf engere Kreise beschrär
eine Folge der ungeheuern Vermehrung und der massenhaf'
Zeitungen. Unleugbar ist der Aufwand von Talent in d
bewundernswürdig, auch Wissen und Bildung sind neben gro>z^ ^moissenheit
und Unbildung nicht gerade selten, und an Rührigkeit, Spürsinn, raschem und
geschicktem Erfassen und Ausbeuten der „Konjunkturen" steht diese Industrie
keiner andern nach. Sie macht es uns sehr bequem. Kaum hat der Draht
eine Nachricht überliefert, so liegt auch schon die Darstellung der Ursachen und
Wirkungen der neuen Thatsache und die Vorschrift, wie der Biedermann darüber
zu denken habe, schwarz auf weiß vor uns. Wir brauchen unser Gedächtnis
und unsern Verstand nicht anzustrengen, wir brauchen weder nachzuschlagen,
noch nachzudenken, was beides Zeit und Mühe verursachen würde; wir prüfen
nicht lange, ob die Behauptungen wahr und die Schlosse richtig sind, sondern
nehmen alles in gutem Glauben hin, sind begeistert oder entrüstet, hoffnungsvoll
oder mißmutig, bewundern oder spotten, wie es der Verfasser des Leitartikels
verlangt, bilden uns zuerst ein, er habe unsre innerste Überzeugung ausgesprochen,
und vergessen gleich darauf, daß er uns vorgedacht hat. Oder ist das nicht
bei Tausenden und Abertausenden der Fall? Sprechen nicht Leute, die sonst
ganz verständig sind, tagtäglich den Leitartikeln ihres Leibblattes nach, und sind
höchlichst verwundert, wenn sie hören, daß die Dinge sich in Wahrheit ganz
anders verhalten, oder daß sie in einem ganz andern Lichte erscheinen können?
Welche tief niederschlagenden Beobachtungen hat man in dieser Beziehung
allein während der letzten zehn bis zwölf Monate anstellen können! Ich will
nicht innere Angelegenheit berühren, deren Auseinandersetzungen für einen
Leserkreis in Deutschland sehr weitläufig werden müßte, sondern nur unsre Be¬
ziehungen zu Deutschland. Es ist uns nicht leicht geworden, wir waren ge¬
nötigt, alte Lieblingswünsche zum Schweigen zu verurteilen und Erinnerungen
niederzukämpfen. Aber heute sind wir, d. h. die Deutschösterreicher, mit Aus¬
schluß des Häufleins verstockter Klerikalen, mit dem Verstände und dem Herzen
bei dem Bündnisse. Unsre Zeitungen versichern von sich dasselbe. Sie erkennen
auch an hohen Feiertagen die überwältigende Größe des deutschen Kanzlers an.
An den Werktagen aber beten die meisten gehorsam das Gerede der Berliner
Oppositionspresse nach. Diese edeln Blätter haben im Kaiserstaate schwerlich
andre Abonnenten als die Zeitungsredaktionen, und doch kennt sie jeder dem
Namen nach, denn es vergeht kein Tag, wo nicht die Weisheit der „Freisin¬
nigen Zeitung" und des „Berliner Tageblattes" uns aufgetischt würde. Wie
das zugeht? Der einfache Grund ist, daß mit geringen Ausnahmen die Zei-
t>- > ^nden geschrieben werden, die immer „freisinnig" sind, soweit es
sich irgend mit dem Geschäft verträgt, und Freisinn und Geschäft vertragen sich
in der Regel fehr gut, weil der Österreicher im allgemeinen wirklich freisinnig
>c und der Deutschösterreicher erst recht unter der Herrschaft der Slawen. Nun
wußte die Berliner Oppositionspresse genau, was sie that, als sie den unglück¬
lichen Fürsten, der sich von Eugen Richter und Genossen als ihr Fürstenideal
verherrlichen lassen mußte, im Lichte eines Philosemiten erscheinen ließen und
seinen Nachfolger in den fürchterlichen Verdacht brachten, ein aufrichtiger Christ,
ja wohl gar ein Antisemit zu sein. Sofort stand das Urteil über beide Per¬
sönlichkeiten fest. Wir bekamen über die Krankheit des Kaisers Friedrich fast
nur zu lesen, was das Mackenziesche Preßbüreau verbreitete; ja noch gegenüber
dem Gutachten der ausgezeichnetsten deutschen Ärzte, denen sich der berühmteste
Spezialist an der Wiener Universität, Professor von Schroeter, anschließt, haben
große Blätter die Stirn, für den Engländer und seine Beschützer Partei zu er¬
greifen. Als jeder Deutschfühlende durch die Frage aufs tiefste erregt wurde,
ob wegen einer Prinzenheirat nicht nur der Schöpfer des deutschen Reiches ver¬
drängt, sondern zugleich seine Schöpfung bedroht und der europäische Friede
leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden solle, da war die Haltung derselben Zei¬
tungen so schmählich, daß die Empörung sich endlich Bahn brach, und die
Furcht vor dem Abfall ihrer Abonnenten wie im Hochsommer 1870 die Treff¬
licher zum Einlenken bestimmte. Das Auftreten der „Norddeutschen Allgemeinen
Zeitung" gegen den „Pester Lloyd" hat viel Aufsehen gemacht, und die magya¬
rischen Blätter hatten Recht, wenn sie dem „Kanzler-Organ" Unkenntnis der
ungarischen Verhältnisse vorwarfen. In der That ist der „Pester Lloyd" so
wenig der Ausdruck der wahren öffentlichen Meinung in Ungarn, wie man das
entsprechende von verschiednen Wiener Zeitungen sagen könnte: der eine und die
andern sind Organe des Judentums und glauben sehr wahrscheinlich außerdem,
sich mit den Äußerungen ihres Grolles an einzelnen höhern Stellen beliebt zu
machen. Gleichwohl kann man sich nicht wundern, wenn die „norddeutsche"
jenes Blatt überschätzte, da dessen Redakteur eine hervorragende Rolle im unga¬
rischen Reichstage spielt. In Berlin braucht es ja nicht bekannt zu sein, daß
der Ungar zwar ein geborner Redner, aber oft kein Freund des Schreibens ist,
und daß daher die Abgeordneten gern die Mühe und die Ehre, Referate zu
verfassen, einem Kollegen abtreten, der durch vieljährige, man möchte sagen
lebenslängliche Übung eine ungewöhnliche Gewandheit im Leitartikelschreiben er¬
worben hat.
Überhaupt werden ja Leitartikel nicht ausschließlich geschrieben, sondern
auch gesprochen. Sie sind sehr beliebt, um Dilettanten in der Politik in die
Vertretungskörper zu verhelfen, und bei den Wählern von Zeit zu Zeit den
Stolz auf einen solchen Vertreter aufzufrischen. Diese Form erlaubt es, die
Politik im großen und ganzen, insbesondre die auswärtige, von höhern und
größern Gesichtspunkten aus, d. h. ohne eigentliche Sachkenntnis, aber mit
Pointen zu betrachten, die ins Ohr fallen wie eine Operettenmelodie ^ base.
eben so viel Anspruch ans Popularität haben. Der parlamentarische Lei:» ^!
hat noch den Vorteil, auf eine Arbeit so viele Wochen oder Monate verwendet,
zu können, als dem Journalisten Stunden gegönnt sind; und ist die Rede glän¬
zend ausgefallen, so wird sie zur Befriedigung des Verfassers nicht nur in allen
Zeitungen abgedruckt, sondern auch zum Thema neuer Leitartikel gemacht. Dieses
in gewissem Sinne einträgliche Geschäft blüht bei uns vielleicht mehr als
irgendwo sonst, und vor allem sind die Delegationen der Boden, auf dem po¬
litische Sonntagsreiter die hohe Schule produziren. Bald entwickelt ein abge¬
dankter Diplomat, um wie viel mächtiger Österreich-Ungarn dastehen würde,
wenn es sich nicht unbedacht von den Traditionen Buols losgesagt hätte, bald
giebt sich einer die größte Mühe, den Glauben zu erwecken, daß wir nach Mace-
donien schielen, bald hält einer dem Kriegsminister eine Vorlesung, auf welche
dieser, als höflicher Mann, lieber gar nicht antwortet. Die Redner sind dann
ohne Zweifel überzeugt, daß mehrere Tage lang Europa von ihnen spreche,
während sie in Wahrheit nur zur Ausbreitung jenes Skeptizismus beigetragen
haben, den die Anhänger des parlamentarischen Systems so sehr scheuen.
Die Zeichen, daß man des Leitartikelregimes überdrüssig geworden ist,
mehren sich auf allen Seiten, ohne daß wir deshalb so bald Befreiung erwarten
dürften. Dergleichen Übelstände, ob sie „ererbt" sind oder nicht, lassen sich nicht
so schnell ausrotten. Mit umso größerer Ausdauer muß man an deren Be¬
seitigung arbeiten. Ein Stimmungsanzeichen ist das immer wiederholte Auf¬
werfen der Frage, wie die jetzige innige Verbindung zwischen Publizistik und
Annoncenwesen beseitigt werden könne. Daraus sollten die Zeitungen, die ein
gutes Gewissen haben, ersehen, daß der Gedanke weder totzureden noch totzu¬
schweigen ist; die andern werden natürlich jeden Versuch einer Reform mit allen
ihnen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfen, denn sie kämpfen um ihre Existenz.
Sie erkennen die volle Bedeutung der Frage. Ob dies bei dem Verfasser des
unlängst in dieser Zeitschrift abgedruckten Aufsatzes „Ein Reichsanzeigeblatt"
der Fall ist, wurde nicht ganz klar. Vielleicht hat er die Konsequenzen seines
Vorschlages absichtlich nnr nach der einen Seite hin verfolgt, und auf alle
Fälle ist es von großem Werte, daß einmal die Sache nur vom geschäftlichen
Standpunkte aus besprochen worden ist. Man versteht auch leicht, weshalb der
Verfasser von einem Monopol nichts wissen mag. Doch wird dies immer das
Ziel bleiben müssen. Erst wenn der Zeitungsverleger oder Zeitungsredccktenr,
welcher Bezahlung genommen, und ebenso derjenige, welcher bestochen hat, wegen
Verstoß gegen das Monopol verfolgt werden kann, ist die Möglichkeit ge¬
geben, der Korruption erfolgreich auf den Leib zu rücken. Zeitungen, die sich
schon in ihren Ankündigungen in eine Reihe mit „Gummiwaaren" und Brandes
Schweizerpillen stellen, würden gewiß auch sehr erfinderisch in Schleichwegen
zur Um 'sum des Gesetzes sein, aber so schwunghaft wie jetzt ginge das
Geschäft uns reinen Fall mehr. Jetzt läuft das Ding so glatt wie ein Uhrwerk.
Der geriebene Inseraten« ;ent verschafft die Mittel zur Besoldung von Korre¬
spondenten, phantasiereichen Reportern und beliebten Novellisten, der Inserate
und des bunten Stoffes halber wird das Blatt auch von Leuten gehalten, die
seine Richtung verabscheuen. Hört einmal die eigentliche Einnahmequelle zu
fließen auf, so werden anständige Blätter wieder konkurriren können, und das
Publikum wird bei dem Abonnement wieder auf den Charakter der Zeitung
sehen. Es wäre denkbar, daß auch dann in Wien ein bvulangeristisches Organ
erschiene und den deutschen Kaiser und dessen Ratgeber über das monarchische
Prinzip und die preußischen Traditionen aufklärte. Aber seine Leitartikel würden
dann Monologe sein. Daß die Einführung einer solchen neuen Ordnung eine
schwere Krisis für alle Zeitungen bedeuten würde, ist unverkennbar, aber die
anständigen Blätter thäten, wie gesagt, wohl, sich lieber auf eine Reform, die
über kurz oder lang doch kommen muß, vorzubereiten, anstatt mit unwürdigen
Genossen Chorus zu machen. Die Vorteile für die Geschäftswelt und für den
Staat hat Herr Nübling sehr richtig dargelegt, jeder Staat würde die neue
Einnahme brauchen können. In Osterreich z. B. wird seit Jahrzehnten die
Abschaffung des Lottos ersehnt, nur weiß man nicht den Ausfall zu decken.
Der Staat ziehe das Ankündigungswesen an sich, und er kann das unmoralische
I
ach alledem kann man behaupten, daß die durch die modernen
Rechtsbedürfnisse erzeugte Mittelbildung zwischen der juristisch¬
persönlichen Korporation und der gewöhnlichen Sozietät ihre
klassische Begriffsbestimmung bisher weder in der Gesetzgebung
noch in der Rechtswissenschaft gefunden hat. Hiernach dürfte
die Unsicherheit in der Rechtsprechung und Verwaltungspraxis auf dem hier
behandelten Gebiete umso erklärlicher erscheinen, als die angedeutete Rechts-
cntwicklung noch keineswegs abgeschlossen ist, vielmehr immer neue Bildungen
entstehen läßt, sodaß die Abgrenzung nach der einen oder andern Sei. .licht
so scharf ist, daß die Begriffsbestimmung im Einzelfall, d. h. die Zurech¬
nung einer bestimmten Gesellschaft zu dieser oder jener Klasse, immer zweifellos
wäre. Im allgemeinen wird es genügen, an der grundsätzlichen Unterscheidung
zwischen den (öffentlich-rechtlichen) Korporationen und den (privatrechtlichen)
Sozietäten festzuhalten, und alle Gesellschaften, die sich nicht unter eine dieser
beiden Grundformen bringen lassen, ohne weiteres jener Mittelgruppe zuzu¬
weisen. Dabei wird insbesondre zu beachten sein, daß alle sogenannten Zwangs¬
organisationen zweifellos zu den Korporationen zu zählen sind, weil der Staat
durch die Einführung des staatlichen Zwanges derartige Bildungen zur Mit¬
arbeit an der Lösung der Staatsausgaben für notwendig erklärt und sie damit
gewissermaßen zu Bestandteilen des Staatsorganismus macht; dieser Auffassung
entspricht z. B. die reichsgesetzliche Behandlung der sogenannten Zwangskranken¬
kassen und der Uufallberufsgenossenschaften im Gegensatz zu den freien Hilfs¬
kassen, was sich besonders darin kund giebt, daß bei jenen die Mitwirkung des
Staates keineswegs eine bloß kontrolirende ist, auch die Verteilung des Ver¬
mögens bei etwaiger Auflösung unter die Mitglieder ganz ausgeschlossen bleibt.
Fast noch mehr Schwierigkeiten als die Feststellung der privatrechtlichen
Stellung jener Mittelgruppe von Gesellschaften bietet die Bestimmung ihrer
öffentlich-rechtlichen Stellung, d. h. ihrer Beziehungen zur Staatsgewalt.
In dieser Hinsicht kann zunächst als unbestritten gelten oder doch aus den
unten angeführten Gesetzesstellen*) leicht nachgewiesen weiden, daß alle Gesell¬
schaften mit veränderlichem Mitgliederbestande, folglich auch die erlaubten und
privilegirten Gesellschaften, der Staatsaufsicht unterliegen. Dieses allgemeine
Aufsichtsrecht konnte aber den praktischen Bedürfnissen nicht genügen, wo es
sich um Gesellschaften handelte, deren Eigenart die Gefahr einer gemeinschädlichem
Wirkung besonders nahe legte. Hier mußte die Staatsbehörde die Möglichkeit
erhalten, vor der Begründung der Gesellschaft eine entsprechende Prüfung der
Verhältnisse vorzunehmen, um eine für das Gemeinwohl zweifelhafte oder ge¬
fährliche Schöpfung von vornherein verhindern zu können, andernfalls aber
unbedingt oder unter den nötigen Einschränkungen die Zulassung auszusprechen;
deshalb sind gewisse Gesellschaften von einer besondern staatlichen Genehmigung
abhängig gemacht worden.
Das A. L.-R. hatte eine solche nur für gemeinschaftliche Witwen-, Sterbe-
und Aussteuerkassen vorgeschrieben (I. 11, Z 651); indessen ist diese Vorschrift,
augenscheinlich den gesteigerten Bedürfnissen entsprechend, durch das preußische
Strafgesetzbuch vom 14. April 1851 340, 6) auf alle gleichartigen Gesell¬
schaften, insbesondre durch das Versicherungsgesetz vom 17. Mai 1853 (Z 1)
"us Versicherungsanstalten jeder Art ausgedehnt und in dieser Allgemeinheit
' '^sstrafgesetzbuch (Z 360, 9) ausdrücklich aufrecht erhalten worden.
le Begriffe „Gesellschaft" und „Anstalt" vielfach gleichbedeutend
gebraucht, ' nachdem die Personen- oder die Vermögensverbindung mehr betont
' ,e staatliche Zulassung ist aber nicht zu verwechseln mit der staat¬
lichen ' kennung als juristische Person, denn die Verleihung der Korporations-
nn landesherrlicher Akt, der bis zum Erlaß des im Artikel 31 der
Verse- darüber in Aussicht gestellten Gesetzes nach wie vor durch den
n als obersten Vertreter der Staatsgewalt ausgeübt wird, während
che Zulassung sich nur als ein besondrer Ausfluß jenes staatlichen
rechtes darstellt und nichts weiter als ein Verwaltungsakt der mit diesen
Befugnissen betrauten Staatsbehörde ist.
Die Voraussetzungen und Wirkungen beider Fälle sind auch grundver¬
schieden; in dem einen handelt es sich um die positive Feststellung, daß die gesetz¬
lichen Erfordernisse zur Erteilung der Korporationsrechte vorliegen, und daß
diese Rechte thatsächlich erteilt werden, in andern um eine bloß negative Ent¬
scheidung, daß gegen die Zulassung einer bestimmten Gesellschaft, die dadurch
eben zu einer „privilegirten" im Sinne des A. L.-R. II. 6, ZZ 22—24 wird,
keine Einwendungen erhoben werden. Dort wird ein Schutz für die Gesellschaft,
hier gegen sie bezweckt; beide male ist der leitende Beweggrund derselbe, die
Wahrung des Gemeinwohls, aber das eine mal, um eine unzweifelhafte Förte-
rung desselben zu unterstützen, das andre mal, um einer etwaigen Schädigung
desselben vorzubeugen, sodaß hier mehr das polizeiliche, dort das bevormundende
Moment hervortritt. So läßt sich aus den Motiven zum Z 340, 6 des preu¬
ßischen Strafgesetzbuches, wie aus den einschlägigen Minifterialerlassen*) ohne
weiteres entnehmen, daß die Einführung der staatlichen Genehmigung vornehmlich
gegen gewinnsüchtige Ausbeutung schützen sollte, und bezüglich der Versicherungs¬
gesellschaften spricht sich u. a. eine Entscheidung des frühern Obertribunals aus¬
drücklich dahin aus: Das Versicherungsgesetz vom 17. Mai 1853 wolle aus
polizeilichen Gründen die zu errichtende Anstalt prüfen und beaufsichtigen,
damit sie dem allgemeinen Wohl nicht gefährlich werde; deshalb bewiesen die
Bestätigung und das Aufsichtsrecht noch keineswegs den (für eine Korporation
erforderlichen) gemeinnützigen Zweck der Gesellschaft. Die Bestätigung der Sta¬
tuten einer Gesellschaft und die Aufsicht der Regierung darüber seien nicht
gleichbedeutend mit der Autorität des Staates, die einen staatlichen Schutz für
das Institut bedeute, der zu seinen Gunsten stattfinden solle, wogegen in
jenen polizeilichen Maßnahmen ein Schutz des Staates gegen Nachteile, die
durch die Anstalt für diesen und das Publikum entstehen könnten, bezweckt
werde.
Nach dem Vorausgeschickten kann es keinem Bedenken unterliegen, die be¬
rufsgenossenschaftlich organisirten Unterstützungskassen der oben i argelegten
Mittelgruppe, d. h. den „erlaubten Gesellschaften" im Sinne des Ä. L.-R. II.
6, 8 2 ff., zuzuweisen, da sie Personenverbindungen zu gemeinschaftlichen End¬
zwecken darstellen und weder zu den Korporationen noch zu den Sozietätc.
gehören; denn nach der einen Seite fehlt es an den notwendigen Voraussetzungen
für die Gemeinnützigkeit und Bestandsfähigkeit der Gesellschaft, nach der andern
an einem individuell-geschlossenen Mitgliederbestande und einem ausschließlich auf
Privatinteressen gerichteten Gesellschaftszweck. Als erlaubte Gesellschaften unter¬
liegen sie also dem Aufsichtsrechte des Staates und berechtigen die zuständige
Staatsbehörde, sie jederzeit auf ihre innere und äußere Wirksamkeit hin zu
prüfen und bei Feststellung einer gemeinschädlichem Wirksamkeit zu schließen,
erforderlichenfalls unter Androhung entsprechender Strafen bei Wiedereröffnung
oder Fortsetzung des verbotenen Betriebes und unter gleichzeitiger Liquidirung
des Kasfenvcrmögens, welches den gesetzlichen Bestimmungen gemäß dem Fiskus
verfallen würde. Nach der unterm 6. März 1884 in Sachen der deutschen
Verbandskasse für die Invaliden der Arbeit zu Berlin ergangenen Entscheidung
des königlichen Oberverwaltungsgerichts unterliegt ein solches Verfahren nur
der Beschwerde an die Aufsichtsinstanz und nicht dem Verwaltungsstreitverfahren,
weil es sich dabei um einen Akt des staatlichen Aufsichtsrechtes und nicht um
eine Verfügung in polizeilichem Sinne (Z 127 ff. des Landesverwaltungsgesetzes
vom 30. Juli 1883, Z 10 des A. L.-R. II. 17, M 6 und 12 des Gesetzes vom
11. März 1850) handelt.
Wir behaupten aber weiter, daß die fraglichen Unterstützungsverbände sogar
zu den genehmigungspflichtigen Gesellschaften (des Z 360 9 des Reichsstrafgesetz¬
buches) gehören, weil sie die Eigenschaften der Versicherungsgesellschaften auf
Gegenseitigkeit besitzen, und dies gerade bildet den Angelpunkt der ganzen
Streitfrage.
Es läßt sich kaum verkennen, daß die Verbände allgemeine Versicherungs¬
zwecke verfolgen und diese wie mehr oder minder alle derartigen modernen Bil¬
dungen auf sozialem Gebiete durch das Prinzip der berufsgenossenschaftlichen
Selbsthilfe zu lösen suchen; denn es wird eben eine Sicherstellung der Verbands¬
mitglieder gegen Arbeitslosigkeit und sonstige Notlagen, d. h. gegen zukünftige
ungewisse Ereignisse, durch gegenseitige Beisteuern zu einem Garantiefonds, also
nach dem eigentlichen Versicherungsprinzip bezweckt.
Der Beitritt zu einer derartigen Gesellschaft bedeutet aber nach der herr¬
schenden Rechtsprechung*) nicht bloß den Eintritt in die gesellschaftlichen Rechte
und Pflichten, die jedem Mitgliede als solchem zustehen, sondern er stellt zu¬
gleich den Abschluß eines Versicherungsvertrages zwischen dem Eintretenden
und der Gesellschaft dar, wodurch für den erster« ein bestimmter Versicherungs¬
anspruch begründet wird. Gerade in dieser Verbindung von gesellschaftlichen
und vertragsmäßigen Rechten besteht die Eigentümlichkeit der Versicherungs¬
gesellschaften auf Gegenseitigkeit, indem ihre Begründung und der Beitritt dazu
mittels besondrer (Versicherungs-)Verträge geschieht, von denen jeder einzelne
zwar ein gesellschaftliches Recht, zugleich und vorwiegend aber einen auf be¬
sondern: Privawertrcige beruhenden Versicherungsanspruch schafft, und es ist in
der Rechtsprechung wiederholt ausgesprochen worden, daß der Versicherungs¬
vertrag seinen Nechtscharaktcr nicht verliert, wenn er auf das Gegenseitigkeits¬
prinzip gegründet und der Versicherte zugleich Mitglied der Versicherungsgesell¬
schaft, d. h. Verhinderer und Versicherter in einer Person wird.
Da nun die preußische Gesetzgebung jeden Versicherungsbetrieb grundsätzlich
von einer ausdrücklichen Genehmigung des Staates abhängig macht, so war es
nicht bloß gesetzlich zulässig, sondern sogar geboten, die Einholung dieser Ge¬
nehmigung auch von den Arbeiterberufsverbänden zu verlangen, sobald der ver-
ficherungsgesellschaftliche Charakter ihrer Unterstntzungseinrichtungen sich deutlich
zu erkennen gab. Die beteiligten Kreise faßten dies aber unter dem Einflüsse der
eingangs gedachten Presse als einen ungehörigen Eingriff in ihr freies Selbst-
bestimmungsrecht auf und suchten sich den versicherungsgesetzlichen Bestimmungen
dadurch zu entziehen, daß sie — vermutlich auf den Rat eines ebenso großen
Schlaukopfes als schlechten Juristen — die bisherigen Unterstützungsvereine in
angebliche Wohlthätigkeitsvereine verwandelten, d. h. man glaubte durch eine
bloße Fassungsänderung der Statuten den Versicherungsanspruch in ein „Ge¬
schenk" oder auch die beiderseitigen Vertragsleistuugen — Beitrag und Unter¬
stützung — in „freiwillige" Leistungen umwandeln und durch eine förmliche
Ausschließung „jedes gesetzlichen oder Klagerechts" auf die Unterstützungen die
Erfüllung der bisherigen Rechtsansprüche in das ungebundene Ermessen der
Verbandsorgane stellen zu können. Als ob durch bloße Wortänderungen der
Rechtscharakter der Einrichtungen, die im übrigen ganz dieselben blieben, ver¬
ändert werden könnte!
Diese Versuche mußten schon deshalb erfolglos bleiben, weil Wohlthätigkeits¬
und Gegenseitigkeitsvereine grundsätzlich einander ausschließen. Denn die erster»
wirken lediglich zu Gunsten Dritter, sie bezwecken uneigennützige Zuwendungen
an Personen, die zu dem Vereine in keinerlei Rechtsverhältnis stehen. Ein
solches entsteht erst durch die Hingabe der Unterstützung und, je nachdem dieses
Rechtsgeschäft den Charakter eines einseitigen oder zweiseitigen Vertrages an¬
nimmt, liegt eine Schenkung vor oder nicht (wie z. B. bei Kreditvereinen zu
Gunsten unverschuldet Verarmter). Während die Unterstützungen hiernach stets
freiwillige sind, da sie nicht gefordert, sondern nur erbeten werden können, können
anderseits die Beiträge ebensowohl freiwillige als pflichtmäßige sein; aber stets
bleiben die Kreise der Veitragenden und der Unterstützten einander fremd.
Gegenseitigkeitsvereine dagegen verfolgen immer eigennützige Interessen, weil
ihre Wirksamkeit auf den Kreis der Vereinsmitglieder oder Gesellschafter beschränkt
bleibt. Hier bedeutet die Unterstützungsleistung nicht erst die Eingehung eines
Rechtsverhältnisses zwischen Geber und Redner, sondern die rechtliche Folge
eines schon bestehenden, d. h. der Unterstützungsbedürftige kann auf Grund des
Gesellschaftsvertrages die betreffende Leistung fordern, und zwar wird diese regel¬
mäßig den Charakter der Gegenleistung annehmen, weil bei den Gegenseitigkeits-
gesellschaftcn Beitrags- und Unterstützungszahlungen auf denselben Personenkreis
zusammenfallen. Anderseits brauchen auch hier die Beitragszahlungen nicht
notwendig Pflichtbeiträge zu sein, weil dies den Nechtscharakter der Gegen¬
seitigkeitsgesellschaft an sich nicht berührt; denn auch die Nichtzahler würden
gleichwohl einen Klageanspruch auf die Unterstützungen haben, da sie den auch
mit zu ihren Gunsten von den Beitragszahlern abgeschlossenen Verträgen auf
Grund des Gesellschaftsvertrages von Rechtswegen als beigetreten zu erachten
wären (vergl. U 74 und 75,1. 5 A. L.-R.). Ganz zweifellos gilt dies für Fälle
der vorliegenden Art, weil Versicherungsverträge ganz unbeschränkt zu Gunsten
Dritter geschlossen werden können, d. h. diesen auch ohne ihren Beitritt selb¬
ständige Klagerechte geben.
Hiernach zeigt sich die grundsätzliche Verschiedenheit zwischen Wohlthätigkeits¬
und Gegenseitigkeitsvereinen darin, daß sich die Unterstützungszahlungen bei den
erstem stets als freiwillige Leistungen, bei den letztern aber als vertragsmäßige
Gegenleistungen darstellen, und daß sie den Unterstützten im erstern Falle aus
fremden, im letztern aus eignen Mitteln gewährt werden.
Ein auf Gegenseitigkeit begründeter Unterstützungsverein würde also den
Charakter eines Wohlthätigkeitsvereins erst dann annehmen, wenn er seine
Unterstützungsfonds im wesentlichen von dritter Seite, d. h. von NichtMitgliedern
aufbrächte; damit würde er aber sofort aufhören, ein auf Gegenseitigkeit be¬
ruhender Verein zu sein.
Daß es sich bei derartigen Statutenänderungen lediglich um eine beab¬
sichtigte Verschleierung der thatsächlichen Rechtsverhältnisse, d. h. um eine rechts-
ungiltige Simulation handelt, läßt sich sogar aus dem sonstigen Inhalt der
Statuten selbst entnehmen, denn darnach werden regelmäßig Mitglieder, welche
die „freiwilligen" Beiträge nicht zahlen, einfach ausgeschlossen und die „Geschenke"
oder „freiwilligen" Unterstützungen nur an solche gezahlt, die (mindestens während
einer bestimmten Karenzzeit) „ihren Verpflichtungen gegen den Verband nach¬
gekommen" sind, sodciß also die Unterstützung nach wie vor an die Beitrags¬
zahlung geknüpft, mithin durch diese erst erworben wird. Im übrigen sind die
betreffenden Statutenänderungen auch deshalb ohne rechtliche Wirkung, weil sie
gegen zwingende Rechtsgrundsätze verstoßen, nach denen die Bestimmung oder
Erfüllung von Verträgen nicht in die bloße Willkür des Verpflichteten gestellt
und niemand der Rechtsweg abgeschnitten werden darf. (A. L.-R. Einl. Z 79
und I. 5, § 71.)
Von mancher Seite ist noch die Behauptung aufgestellt worden, daß von
einem Versicherungsanspruche nur dann die Rede sein könne, wenn ein „statu¬
tarisch liquider," das soll heißen ein seinem Inhalte und Umfange nach bestimmter
und klagbarer Rechtsanspruch vorliege. Das ist aber nicht richtig. Denn zur
Begründung eines vertragsmäßigen Anspruches genügt schon die bloße Bestimm¬
barkeit des Inhalts und Betrages der Leistung, und in dieser Beziehung bieten
die statutarischen Bestimmungen in Verbindung mit den ortsüblichen Gebräuchen
regelmäßig ausreichende Unterlagen. Ebenso wenig muß jeder Rechtsanspruch
einklagbar sein, wenn ihm anch diese Eigenschaft für gewöhnlich zukommt; es
kann vielmehr die Klagbarkeit durch Vertrag oder Gesetz ausgeschlossen sein.
Das erstere ist zu Gunsten der Einführung von Schiedsgerichten zwischen den
Vertragsschließenden gesetzlich gestattet; im letztern Falle liegt ein „unvollkom¬
mener" Rechtsanspruch vor (s. A. L.-R. Einl. Z 86), dessen Erfüllung sich zwar
nicht erzwingen, wohl aber freiwillig mit rechtlicher Wirkung vollziehen läßt,
d. h. es handelt sich dann um eine sogenannte Naturalobligation, ein vertrags¬
ähnliches Rechtverhältnis, und ein solches muß hier zum mindesten stets an¬
genommen werden, da die Verbandsbeiträge regelmäßig in der wechselseitigen
Absicht, einen zur Verwirklichung der Versicherungszwecke bestimmten Garantie¬
fonds zu bilden, gegeben und genommen werden.
Daß auch solche vertragsähnliche Versicherungen den versicherungsgesetzlichen
Bestimmungen unterliegen, dürfte kaum zweifelhaft sein. Der Z 1 des Ver¬
sicherungsgesetzes vom 17. Mai 1853 giebt zwar keine Begriffsbestimmung für
die Versicherungsgesellschaften, hat aber diese Klasse augenscheinlich erschöpfen
wollen, da er ausdrücklich von Versicherungsanstalten jeder Art spricht und nach
seinen Motiven nnr eine Erweiterung zu Z 340, 6 des preußischen Strafgesetz¬
buches vom 14. April 1851 hat geben wollen. Die dortige Erklärung: „Ge¬
sellschaften oder Anstalten, welche bestimmt sind, gegen Zahlung eines Einkaufs¬
geldes oder gegen Leistung von Geldbeiträgen beim Eintritte gewisser Bedingungen
oder Fristen Zahlungen an Kapital oder Rente zu leisten" muß also hier umso
mehr gelten, als sie in den Z 360, 9 des Reichsstrafgesetzbuches wörtlich über¬
gegangen ist, nachdem die Versicherungsanstalten zuvor unter die daselbst be¬
sonders aufgeführten Gesellschaften und Anstalten ausdrücklich mit eingeschoben
worden sind, wie eine Vergleichung der ZZ 340 und 360 a. a. O. ergiebt. Hier¬
nach zeigt sich zugleich die scharfe Abgrenzung der Versicherungs- gegen die
bloßen Wohlthätigkeitsgesellschaften, bei denen es sich überhaupt um keine recht¬
liche, sondern höchstens um eine sittliche Verbindlichkeit zur Unterstützungsleistung
handelt. Dahin werden auf dem vorliegend behandelten Gebiete z. B. alle die¬
jenigen Einrichtungen zu rechnen sein, die lediglich auf eine Übung des herkömm¬
lichen Handwerksbrauchcs abzielen, wandernde Berufsgenossen durch freiwillige
Gewährung von Herberge und Zehrpfennig (viatiouui) von Ort zu Ort zu
unterstützen. Sobald aber diese Einrichtungen in ein gewisses System gebracht
werden, insbesondre durch Einführung der Gegenseitigkeit und Freizügigkeit
zwischen den einzelnen Orten und einheitlicher Zahlungsregeln, durch die Be¬
schränkung der Unterstützungen auf Verbandsgenossen und durch Ausbildung
eines geregelten Kassenwesens, nehmen sie allerdings den Charakter geneh¬
migungspflichtiger Versicherungen (gegen Arbeitslosigkeit) an. So wird in
der oben erwähnten Abhandlung des Buchdruckerverbandes in geradezu klas¬
sischer Kürze und Schärfe darauf hingewiesen, wie durch derartige Maßnahmen
die anfänglich zusammenhangslosen und lediglich liberatorischcn Viatikumskassen
zu einer „wirklichen Versicherungsanstalt gegen unverschuldete Arbeitslosigkeit"
ausgebildet worden sino, sodaß die Unterstützung nunmehr als „ein Recht" gilt,
„welches durch Erfüllung der Vereinsverbindlichkeiten erworben wird."
Von einer anderweitigen Einwendung, daß das Vcrsicherungsgesetz uur die
gewerbsmäßigen, aber nicht die Gegenseitigkcitsgesellschaften betreffe, können wir
absehen, weil eine solche Unterscheidung im Gesetze selbst keine Begründung findet
und von der Rechtsprechung längst verworfen worden ist. Auch sind sich die be¬
teiligten Kreise des Versicherungscharakters ihrer auf Gegenseitigkeit beruhenden
Unterstützungseinrichtuugen sehr wohl bewußt, denn a. a. O. und in ähnlichen
Kundgebungen wird die „Arbeiterversicherung" auf Grund freier, genossenschaft¬
licher Selbsthilfe wiederholt als das „leitende Prinzip" und die weitere Aus-
bildung dieses „Versicherungswesens" durch Bildung wohlorganisirter Kassen als
der „Schwerpunkt" der ganzen Organisation bezeichnet.
Bei folgerichtiger Anwendung der dargelegten Grundsätze würden auch
die neuerdings so verbreiteten Lohn- oder Streikkommissionen, welche wohl
aus sozialisier?- und vereinsgesetzlichen Rücksichten die bisherige Thätigkeit der
Fachvereine auf dem Gebiete der Lohn- und Streitfrage ersetzen sollen, den ver¬
sicherungsgesetzlichen Bestimmungen und somit der Genehmigungspflicht zu unter¬
werfen sein; denn diese verfolgen im Grunde auch nichts andres als Versicherungs¬
zwecke, nämlich die Sicherstellung der Berufsgenossen gegen die Notlage während
des durchzuführenden Streiks, und zwar durch Auszahlung von (nach Pausch-
qucmtnm oder Kilometerzahl festgesetzten) „Reisegeldern" an die Unverheirateten
und von (meist nach Wochensatz bestimmten) „Streikgeldern" an die Verheirateten
aus dem dazu gesammelten Unterstützungs- oder Streikfonds. Dabei ist es an
sich gleichgiltig, ob es sich bei solchen bloß örtlichen Kommissionen meist nur
um vorübergehende Bildungen von unbestimmter Dauer handelt, weil die Vor¬
bedingung der Dauer für die bloß erlaubten und privilegirten Gesellschaften,
wie eine Vergleichung der M 25 und 1 ff., II. 6 des A. L.-R. ergiebt, gar
nicht erfordert wird.
Ganz unanfechtbar müssen die gezogenen Folgerungen erscheinen, wenn das
Streikwesen wie aus dem Allgemeinen Tischlerkongreß in Gotha im Dezember 1886
durch Einsetzung ständiger „Lokal-", „Provinziell-" und „Zentralkommissionen"
und durch Einführung einheitlicher Normen und Tarife für ganze Gewerbe
und ganz Deutschland einheitlich organisirt wird. In dieser Beziehung hat sich
das königliche Oberverwaltungsgericht bereits unterm 13. Juli 1878 dahin aus¬
gesprochen, daß Streikkassen, welche ihren arbeitslosen Mitgliedern nicht frei-
wille Unterstützungen, sondern kraft statutarischer Zahlungsverpflichtung die
Gewährung bestimmter periodisch wiederkehrender Geldleistungen bei Eintritt
gewisser Bedingungen zusichern, als Versicherungsanstalten im Sinne des Gesetzes
vom 17. Mai 1853, Z 1, beziehentlich s 360 9 des Reichsstrafgesetzbuches
anzusehen seien und deshalb der staatlichen Genehmigung bedürfen, ohne Rück¬
sicht darauf, ob die betreffenden Leistungen als „Geschenke" bezeichnet werden
oder nicht.
Im allgemeinen wird sich der Grundsatz aufstellen lassen, daß die Frage,
ob eine genehmigungspflichtige Kasseneinrichtnng im Einzelfalle vorliege oder
nicht, keineswegs bloß nach dem Inhalt der Verbands- oder sonstigen Satzungen.
sondern stets nach den gesamten thatsächlichen Voraussetzungen zu entscheiden
ist, wie ganz ähnlich auch der Rechtscharakter eines Vereins nicht durch den
Statuteninhalt allein, sondern durch sein ganzes thatsächliches Verhalten be¬
stimmt wird, und daß es zur Bejahung der Frage schon genügt, wenn die
wechselseitige Sicherstellung gegen zukünftige ungewisse Notlagen durch Beitrags¬
leistungen zu einem Garantiefonds bezweckt wird. Insbesondre wird es nicht
notwendig sein, daß dieser Fonds nach bestimmten lassen- und versicheruugs-
technischen Grundsätzen gebildet und verwaltet wird, da die Erzielung eines
Gewinns und somit die Gefahr einer gewinnsüchtigen Ausbeutung wie bei den
gewöhnlichen (Erwerbs ^Versicherungsgesellschaften für die davon vielfach ab¬
weichenden Gegenseitigkeitsgesellschaften von selbst ausgeschlossen ist, also auch
die durch das Gesetz in keiner Weise vorgeschriebene Art, wie die Verhinderungs¬
mittel aufzubringen sind — ob im Deckungs- oder Umlageverfahren oder nach
gemischtem Verfahren —, an sich gleichgiltig sein muß. Wenn übrigens die hier
in Rede stehenden Untersttttzungskassen gewisse von den sonstigen gewöhnlichen
Versicherungsgesellschaften abweichende Eigentümlichkeiten, insbesondre viel freiere
Formen zeigen, so ist dies eben darauf zurückzuführen, daß es sich hier um
mittellose, in ihrem wirtschaftlichen Einkommen durchaus ungehinderte Kreise
handelt, die eben zur Abstellung oder Milderung dieser Unsicherheit eigentümliche
Versicherungseinrichtungen ins Leben gerufen haben, welche den jeweiligen
Steuerkräften und Unterstützungsbedürfnissen durch entsprechende Ein- und Auf¬
zählungen periodisch angepaßt werden und sich ihrem ganzen Wesen nach als
auf Gegenseitigkeit begründete Lebensversicherungen im weitesten Sinne darstellen,
die mit den sonstigen Versicherungen bekanntlich nichts weiter gemein haben,
als das allen Versicherungen zu Grunde liegende Bestreben, das Zufällige und
Individuelle durch Zusammenfassung einer erheblichen Zahl von Thatbeständen
auszugleichen und das Durchschnittliche und in diesem Sinne Regelmäßige zur
Geltung zu bringen.
Schließlich bedarf es noch der Widerlegung einer mehrfach geltend ge¬
machten Ansicht, wonach die Anwendung der versicherungsgesetzlichen Bestim¬
mungen auf die geschilderten Berufsverbände einen unzulässigen Eingriff in die
gesetzlich gewährleistete Koalitions- und Vereinsfreiheit bedeuten soll. Diese
Auffassung geht von der Voraussetzung aus, daß die Reichsgesetzgebung mit
Einführung der Koalitionsfreiheit durch § 152 der Gewerbeordnung die laudes-
gesetzlichen Beschränkungen der Vereins- und vollends der Versicherungsgesetze
beseitigt habe; eine solche Auslegung ist aber rechtlich unhaltbar.
Nach einer erst kürzlich ergangenen Entscheidung des Reichsgerichts (vom
10. November 1887, Entscheidungen Band 16, S. 383) hat es Z 152 der
Gewerbeordnung ausschließlich mit den konkreten Arbeitsverträgen zwischen Ar¬
beitgebern und Arbeitern, mit den unmittelbar durch diese Verträge geregelten
Lohn- und Arbeitsbedingungen, mit dem Gegensatz und Kampf sozialökonomischer
Interessen unmittelbar um diese Bedingungen zu thun, und er hat lediglich die bis
dahin in Preußen und andern deutschen Bundesstaaten in Geltung gewesenen
Beschränkungen der gewerblichen Koalitionsfreiheit beseitigt, welche es den gewerb¬
lichen Gehilfen, Gesellen und Fabrikarbeitern untersagten, durch Verabredungen
über Arbeitseinstellungen und dergleichen ihre Arbeitgeber zur Gewährung von
Zugeständnissen hinsichtlich der Lohn- und Arbeitsbedingungen zu veranlassen.
Darnach beschränkt sich also die sogenannte Koalitionsfreiheit auf das
privatrechtliche Gebiet, wo es sich um die Regelung konkreter Arbeitsverhältnisse
zwischen beiderseits bestimmten Interessenten handelt. Sobald aber solche Koa¬
litionen darüber hinaus die Regelung der Arbeitsbedingungen für einen ganzen
Gewerbszweig, sei es am einzelnen Platze oder im ganzen Reichsgebiete (Normal¬
tarif) bezwecken, so verfolgen sie nicht mehr private — auf den Nechtskreis be¬
stimmter Personen beschränkte —, sondern öffentliche Angelegenheiten und fallen
unter die öffentlich-rechtlichen Beschränkungen der Landesgesetzgebung, also auch
die vereinsgesetzlichen Bestimmungen; insbesondre trifft dies nach der vor¬
gedachten Entscheidung dann zu, wenn sie die Organe und die Thätigkeit des
Staates für ihre Zwecke in Anspruch nehmen und sich so in „politische" Vereine
umwandeln.
Nach derselben Entscheidung sind ferner für die Beurteilung des Rechts¬
charakters von Vereinen nicht lediglich die allgemeine Tendenz und das letzte
Ziel, sondern zugleich Form und Mittel der Vereinsbestrebungen entscheidend.
Wenn also Vereine als Mittel zum Zweck Versicherungen betreiben, müssen
sie sich auch die Behandlung nach den Versicherungsgesetzen gefallen lassen. Die
dagegen versuchte Berufung auf die Verfassung ist ganz verfehlt, weil diese
(Art. 30) „das Recht, sich in Gesellschaften zu vereinigen," nur insoweit gewährt,
als deren „Zwecke den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen"; jeder nicht genehmigte
Versicherungsbetrieb ist aber verboten und strafbar. Überdies weist der Wort¬
laut des Art. 30, wie die Überschrift der dazu erlassenen Verordnung vom
11. März 18S0 („über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ord¬
nung gefährdenden Mißbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechtes")
darauf hin, daß diese Vorschriften dem Gebiete der Sicherheitspolizei angehören,
während wir es hier — wenn man die staatliche Aufsichtsführung über Ver¬
sicherungsgesellschaften überhaupt als eine „polizeiliche" Thätigkeit bezeichnen
will — lediglich mit der Wohlfahrtspolizei zu thun haben. Beide sind durch¬
aus nicht mit einander zu verwechseln.
Bezweckt die Sicherheits- oder eigentliche Polizei die öffentliche Rechtsord¬
nung gegen eigenmächtige Eingriffe oder Störungen zu schützen (A. L.-R. II. 17,
Z 10), so sucht die Wohlfahrtspolizei bloße Mißbräuche zu verhindern, die an
sich noch nicht die öffentliche Rechtsordnung, wohl aber die materielle Wohl¬
fahrt mehr oder minder bestimmt umgrenzter Interessenkreise gefährden (A. L.-N.
II. 6, M 2, 4). Behandelt die erstere meist Rechtsfragen, so die letztere mehr
Zweckmäßigkeitsfragen, weshalb ganz folgerichtig gegen etwaige Übergriffe dort
der Rechtsweg, hier die bloße Aufsichtsbeschwerde gegeben ist. Der Unterschied
läßt sich am einfachsten dahin ausdrücken, daß die Sicherheitspolizei vornehmlich
dem Staate, die Wohlfahrtspolizei der Gesellschaft dient, sofern man unter Staat
die politische, unter Gesellschaft die wirtschaftliche Organisation der gesamten
Staatsbürgerschaft versteht, deren Gliederung dort räumlich, hier beruflich ist.
Ehe wir unsern Gegenstand verlassen, wollen wir noch eine Entstellung
der sozialdemokratisch-deutschfreisinnigen Kartellpresse als solche kennzeichnen.
Es ist geradezu als ein ungesetzlicher Übergriff der Behörden bezeichnet worden,
daß u. a. an den Buchdruckerverein als Vorbedingung für seine Zulassung in
Preußen die Anforderung gestellt worden ist, den Vercinsvorstand innerhalb
Preußens zu bestellen und die jedesmalige Neuwahl desselben dem Bestätigungs¬
oder Einspruchsrechte der Behörde zu unterwerfen. Mit Recht darf den Ver¬
tretern einer solchen Auffassung die Frage entgegengehalten werden, wie denn
die vorschriftsmäßige Aufsichtsführung überhaupt möglich sein soll, wenn gar kein
der Aufsichtsbehörde verantwortliches, d. h. innerhalb der Landesgrenzen se߬
haftes Organ vorhanden ist? Allerdings ließe sich dagegen einwenden, was
Preußen recht sei, sei den andern Bundesstaaten billig, sodaß ein über das
ganze Reichsgebiet verzweigter Verband in die Zwangslage kommen könnte, in
verschiednen Staaten zugleich seinen Sitz zu nehmen. Allein abgesehen davon,
daß nur die wenigsten Bundesgebiete eine besondre Versicherungsgesetzgebung
haben, würden sich etwaige Schwierigkeiten der Art — nach dem Beispiele der
Buchdrucker — durch Einrichtung besondrer Landesvereine und Eingehung
wechselseitiger Kartellverbindungen leicht beseitigen lassen. Wenn den beteiligten
Kreisen solche Kartellverhältnisse immerhin weniger erwünscht sein mögen als
straffe Einheitsverbände, so müssen derartige Mängel freilich mit in den Kauf
genommen werden, so lange die nach der Reichsverfassung (Art. 4) in Aussicht
genommene einheitliche Vereins- und Versicherungsgesetzgebung noch fehlt. Im
übrigen macht das preußische Versicherungsgesetz die Zulassung von Versiche¬
rungsgesellschaften ausdrücklich von der fortdauernden Unbescholtenheit und Zu¬
verlässigkeit der Unternehmer abhängig. Wie anders als auf die vorgedachte
Weise soll aber die Aufsichtsbehörde sich die pflichtmäßige Überzeugung davon
verschaffen, wenn, wie hier, die Leitung des Unternehmens alljährlich wechselt
und versicherungstechnische Bürgschaften selten oder gar nicht gegeben werden
können, sodaß die Zulassung im wesentlichen auf dem Vertrauen der Aufsichts¬
behörde zu dem jeweiligen Vereinsvorstande beruht? Es liegt auf der Hand,
daß es sich auch bei diesen Ausstellungen der staatsfeindlichen Presse um nichts
andres handelt, als um geflissentliche Verdächtigungen zur Förderung unlauterer
Parteizwecke.
es möchte meine Leser in das alte Jena führen, das angesichts
der umgestaltenden Entwicklung des letzten Menschenalters bereits
der Geschichte angehört und doch in seiner Behaglichkeit und seiner
geräuschlosen Arbeitsamkeit den Anspruch erheben darf, nicht ganz
v ergesfen zu werden. Ich möchte es wieder erwecken in dem Sta¬
dium seines Daseins, in welchem es aufgeschreckt wird aus der Idylle seiner
Einsamkeit, und die Hochflut einer heftigen nationalen Bewegung die stillen
Ufer der Saale erreichte. Die Mehrzahl der Männer, die damals hier auf
der Höhe ihres Wirkens standen, ist inzwischen dahingegangen, ein neues Ge¬
schlecht seitdem in die Lücke eingetreten und arbeitet, selbst wieder in fortgesetzter
Erneuerung begriffen, eifrig im Dienste der Wissenschaft und der Nation. So
möge es denn gestattet sein, der entschwundnen Tage und der verblichenen Ge¬
stalten noch einmal zu gedenken. Ich fürchte nicht, auf diesem Wege die Leser
mit Mitteilungen von bloß örtlichen Interesse zu belästigen. Das kleine Jena
nimmt mit seiner Hochschule seit drei Jahrhunderten in den Abwandlungen
unsrer Kultur eine, wenn auch wechselnde, doch so sichtbare und charakteristische
Stellung ein, daß alles eher als eine solche Unterschätzung am Platze sein
möchte. Eine aus der Fülle des vorhandnen aktenmüßigen Materials geschrie¬
bene Geschichte der Stiftung Johann Friedrichs des Großmütigen würde dies
auch dem Blinden erkennbar machen. Sie trägt, was man keineswegs von jeder
deutschen Universität sagen kann, trotz oder dank der Kleinstaaterei, an welche
ihr nächstes Geschick geknüpft war, ein entschieden nationales Gepräge. Den
Höhepunkt erreichte sie bekanntlich in der Blütezeit unsrer nationalen Litteratur.
Ein Zeitalter des Niederganges ist freilich nicht ausgeblieben, aber auch diese
hängt mit der Umkehr unsrer allgemeinen Entwicklung eng zusammen, und der
vaterländische Grundzug ist doch niemals wieder verschwunden. Und so liegt
die Hoffnung nahe, das lebende Geschlecht werde auch für eine spätere, wenn
auch nicht glänzende Episode aus der Geschichte der Stadt und Hochschule des
alten Jena einige Aufmerksamkeit übrig haben.
Es war an einem freundlichen Oktobertage des Jahres 1847, als unser
Wagen von der Höhe des Landgrafenberges herab in das offne Mühlthal ein-
lenkte, und bald darauf das Ziel unsrer Fahrt, das viel genannte Saalathcn,
im Glänze der Abendsonne uns begrüßend entgegentrat. Wie oft hatten an
den Gestaden des Neckars mir liebe Freunde von der behaglichen Musenstadt
an der Saale erzählt, uun stand sie in anmutender Wirklichkeit vor meinen
Augen. Vielfach hatten die Schilderungen der Schlacht von Jena mit ihren
verhängnisvollen Folgen mich beschäftigt, heute hatte mich der Weg dicht unter
dem Schauplatze derselben vorübergeführt. Ein wohlwollender Zufall hatte es
gefügt, daß mein nächster Wagennachbar mit seinen Erinnerungen in jene kri¬
tischen Tage zurückreichte und mir jetzt mit der Beredsamkeit des Alters eins
und das andre aus der Fülle derselben mitteilte. Es war der Obcrpedell
Dorschl, eine der studirenden Jugend jener Zeit wohlbekannte Persönlichkeit. Sein
Gedächtnis hatte, trotz der fortgeschrittenen Jahre, nicht gelitten, und es war ihm
eine offenbar verzeihliche Genugthuung, was er selbst erlebt und gewiß schon zu
hundert malen vorgetragen hatte, einem andächtigen Zuhörer aufs neue zu
wiederholen. Tiefen Eindruck hatten auf ihn, wie bekanntermaßen auf so viele
andre, die kühnen Anstrengungen gemacht, mit welchen die Franzosen aus der
Senkung des Thalweges herauf ihr schweres Geschütz auf die Höhe des Land¬
grafenberges zu befördern verstanden haben. Die Plünderung der zagenden Stadt,
die auf die Schlacht folgte und die ja schon mehrfach von Augenzeugen geschil¬
dert worden ist, schwebte noch deutlich vor seinen Augen, und er gab so manchen
bezeichnenden Zug zum besten. Alles dies jedoch ohne jedes bittere Gefühl:
die mildernde Zeit hatte diese Wunde geheilt, und man konnte auch in diesem
Falle die Beobachtung machen, daß naive Naturen nach der Art meines Be¬
richterstatters sich der zermalmenden Macht einer Erscheinung, wie der korsische
Eroberer war, wenn sie anch nicht die „Weltseele" Hegels in ihm erkannten,
wenigstens ohne jede Kritik unterwerfen.
Wir führen in die Stadt ein. Die Straßen wie der Marktplatz waren
auffallend still, obwohl die Ferien bereits ihr Ende erreicht hatten. Es war
der Eindruck einer friedlichen Landstadt, den man empfing. Überhaupt lebte
und wohnte man damals in Jena noch ungewöhnlich einfach und billig; ein
halbwegs verwöhnter Großstädter mochte sich freilich schwer in diese Verhält¬
nisse finden, die sich durch eine fast rührende Schlichtheit und Anspruchslosigkeit
auszeichneten. Dafür wehte hier in jedem Sinne eine frische, freie Luft, die
manchen andern vermißten Vorzug aufwog. Die alten guten Überlieferungen
hatten sich uoch erhalten, die anderswo häufig Schiffbruch gelitten hatten. Noch
am vorgerückten Abend desselben Tages durfte ich mich zu meiner hohen Ge¬
nugthuung davon überzeugen. Es war der Vorabend des 18. Oktobers, dessen
Feier fast in allen übrigen Staaten des seligen deutschen Bundes unterdrückt
worden oder doch stillschweigend außer Übung gekommen war. Hier in Jena,
wie sich nun gleich zeigte, war eine solche jämmerliche Engherzigkeit nicht durch¬
gerungen. Kaum daß die Nacht ihre ersten Schatten ausbreitete, wurde es
auf dem Marktplatze plötzlich lebendig; die Jugend der Schulen versammelte
sich und zog unter der Führung ihrer Lehrer und unter der Begleitung eines
zahlreichen Gefolges Erwachsener auf eine der Höhen, die die Stadt umgeben.
Hier oben wurden stattliche Feuer angezündet, und Hunderte von Kehlen ver¬
einigten sich zu patriotischen Gesängen, die laut und herzerhebend die stille Nacht
durchtönten. Nach Beendigung der Feier zog die Jugend in geordneten Reihen
in die Stadt zurück, während die Erwachsenen sich in der nahen „Rasenmühle"
niederließen und bei einem frischen Trunke und zwangloser Plauderei sich in
ihrer guten Gesinnung bestärkten.
Ein günstigeres Vorzeichen meines Eintrittes in Jena hätte ich meiner
Denkungsweise gemäß gar nicht wünschen können. Nun aber galt es, mich auf
dem neuen Boden zurechtzufinden. Die nächste Umgebung von Jena ist oft
genug geschildert worden, sie verdient in ihrer Eigentümlichkeit das ihr ge¬
spendete Lob reichlich und vermag wohl einen Eindruck zu machen, der sich nicht
so leicht verwischt und auch vor einem strengen Richter besteht. Ich ging zu¬
nächst vor allem den Spuren nach, die von den großen Tagen unsrer klassischen
Epoche sich in Jena etwa erhalten hatten. Die Überlieferung erwies sich noch
kräftig genug; von lebenden mitwirkenden Zeugen derselben war jedoch so gut
wie nichts übrig geblieben. Frau Karoline von Wolzogen, Schillers Schwägerin
und als Schriftstellerin nicht unbewährt, die die letzten Jahre ihres Lebens
hier zugebracht hatte, war im Anfange des Jahres (1847) gestorben, und man
konnte mir höchstens das Haus bezeichnen, in welchem sie ihr Dasein beschlossen
hatte. Die Witwe des Majors von Knebel, des bekannten Freundes Goethes,
lebte noch — sie war, glaube ich, in ihren jungen Tagen weimarische Kammer¬
sängerin gewesen — und zeichnete sich durch eine gewisse harmlose Originalität
in ihrem Auftreten und ihrer Kleidung aus, wobei eine Art von Turban in
erster Reihe stand. Sie bewohnte jedoch nicht mehr das oft genannte Knebelsche
Gartenhaus, wo Goethe, wenn er zum Besuche nach Jena herüberkam, so
manche Stunden zugebracht hatte; dieses war vielmehr auf ihren Sohn über¬
gegangen. Ohne darnach gefragt zu haben, wurde ich gelegentlich auf die einst¬
malige Wohnstätte eines seit langem gänzlich verschollenen deutschen Dichters
aufmerksam gemacht, nämlich des Freiherrn I. M. von Sonnenberg, der sich
mit kühnem Anlaufe namentlich im Gebiete der Epik versucht hatte und in ver¬
zweifelter Aufregung in der Nacht des 22. November 1805 durch einen Sturz
aus dem Fenster seinen Tod gesucht und gefunden hat.
Doch kehren wir zu den Lebenden zurück. Bald hatte sich das Kontingent
der studirenden Jugend vervollständigt und hatten die Vorlesungen begonnen.
Es gehörte zu den Eigentümlichkeiten Jenas, daß ein wirkliches Universitäts¬
gebäude nicht vorhanden war. Was man so nannte, war das ehemalige
Pcmlinerkloster, welches u. a. die Aula, die Bibliothek, die nötigen Räumlich¬
keiten für die Verwaltung, die Sitzungen des Senats und der Fakultäten in
sich beschloß; Vorlesungen waren aber, so viel ich erfahren konnte, seit langer
Zeit nicht mehr darin gehalten worden. In der großen Mehrzahl der Fälle
mußten die Professoren und Dozenten für ihre Hörsäle auf andern Wegen sorgen.
Diejenigen von ihnen, die so glücklich waren, ein eignes Haus zu besitzen, hatten
sich hier ein Auditorium eingerichtet, die übrigen mieteten sich in verschiednen
Häusern der Stadt, die sich darauf eingerichtet hatten, die nötigen Räume; die
Überwachung der Jnfkription auf die Vorlesungen, die Beleuchtung und Heizung
besorgten die „Famuli," aber eine andre Art, als sie damals wenigstens noch
in Leipzig florirte; es waren das Männer von gewöhnlicher Bildung, in der
Regel wohl ihrer zwei bis drei, die sich von diesem Geschäfte, je nachdem, besser
oder schlechter nährten. Die Kosten dieser Einrichtung deckten zunächst die Do¬
zenten, weiterhin die Zuhörer; die Universitätsverwaltung kümmerte sich, wenn
nicht etwa mit der Vorlesung ein „Institut" verbunden war, nicht darum. Daß
dieser Zustand in mehr als einer Beziehung sein Unbequemes an sich hatte,
wurde nicht verkannt; man hat daher, um hinter andern Hochschulen nicht zu
weit zurückzubleiben, aber erst mehr als ein Jahrzehnt später, die sogenannte
„Wucherei," ein geräumiges, am „Graben" gelegenes Privatgebäude, erworben
und darin eine erkleckliche Anzahl Hörsäle eingerichtet.
Der sinkende Besuch der Universität in dieser Zeit gab zu häufigen Klagen
Stoff; die Dürftigkeit mancher Anstalten und Hilfsmittel mochte daran schon
einige Schuld tragen; auch der außerhalb der Korporation stehende bekam davon
oft wunderliche Dinge zu hören. Die Zahl der Studirenden erreichte damals,
wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, kaum mehr die Höhe von 400, und
dabei wurden die Mitglieder der landwirtschaftlichen Schule, die viele nicht als
rechte Studenten gelten lassen wollten, mit eingerechnet. Diese Schule erfreute
sich zur Zeit unter der Leitung von F. G. Schulze eines hohen Ansehens und
starken Zulaufs; ohne Zweifel verstand er es vortrefflich, den jungen Land¬
wirten von der praktischen und ethischen Seite zugleich beizukommen und ihren
Beruf zu idealisiren. Der alte Göttling pflegte im Hinblick auf die geringe
Gesamtfreqnenz und den zahlreichen Besuch dieser Anstalt sie in seiner kräftigen
Weise das „Feigenblatt" der Universität zu nennen. Die Studentenschaft Jenas
machte in diesen Jahren den Eindruck wunderbarer Zahmheit, wobei man den
Vergleich mit frühern Zeiten nicht einmal anzustellen brauchte. Damit soll
nicht etwa gesagt sein, daß sie über diesen Fortschritt der Gesittung die Frische
und den Schwung, die man an der Jugend niemals missen möchte, verloren
hatte; nur von eigentlichen Ausschreitungen und Rohheiten, wie sie im vorigen
Jahrhundert an der Tagesordnung und an der einen oder andern der deutschen
Hochschulen auch jetzt nicht ganz ausgestorben waren, bekam man hier so gut
wie gar nichts mehr zu hören. Das äußerste, was man erleben konnte, war,
daß ein Teil der „goldnen Jugend" sich nachmittags im Schlafrocke und ihren
langen Pfeifen am Markte versammelte und, an verschiednen Tischen aufgepflanzt,
ihren Mokka von zweifelhafter Güte plaudernd oder auch etwas lärmend schlürfte.
Der Lerneifer und der wissenschaftliche Sinn unter der großen Studentenschaft
wurden mit Grund gerühmt; Klagen über die Verödung der Hörsäle, wie
sie heutzutage von überall her laut ertönen, wären damals in Jena, selbst in
der Zeit hochgehender politischer Aufregung, kaum gerecht gewesen. Die Jenaer
Studentenschaft hatte vor manchen andern allerdings einen unschätzbaren Vorzug
voraus, sie rekrutirte sich nicht bloß aus den Staaten der vier erlauchten
„Nutritoren," sondern aus dem ganzen protestantischen, insbesondre nördlichen
Deutschland; dadurch entstand eine äußerst glückliche und anregende Mischung,
die keine prinzipielle Einseitigkeit oder gar den Schatten von Versumpfung auf¬
kommen ließ. Man erinnert sich allerdings noch an die Zeit, wo auch die
Jugend Süddeutschlands in Jena entsprechend vertreten war; aber diese Zeit
nahm ein für allemal ein Ende, seit die Reichsstädte fielen und die fränkischen
Markgrafschaften nebst der Reichsritterschaft größern Staatenbildungen einverleibt
wurden. Im Augenblicke war es offenbar die theologische Fakultät, die zwar
in keiner Weise die übrigen Fakultäten irgendwie beherrschte — wie es an
andern Universitäten zeitweise der Fall war —, die aber der Frequenz der Hoch¬
schule den angedeuteten Charakter gab, zum Teil infolge der freiern Richtung,
die sie vertrat und trotz erfahrener Anfechtungen bis zur Stunde bewahrt hat.
Man hat zugleich versichert, daß die Studenten der Theologie sich an den all¬
gemeinen Studien mit besonderm Eifer beteiligten und mit dem löblichen Bei¬
spiele des Fleißes und idealen Strebens voranzugehen pflegten. Die gesamte
Studentenschaft ging bekanntlich in zwei Gruppen auseinander, die Burschen¬
schaft auf der einen, die Korps auf der andern Seite. Die letztern, auch der
Zahl nach die schwächern, traten wenig hervor und trieben es in ihrer Art,
wie sie es überall zu treiben gewohnt sind; doch habe ich gelegentlich einzelne
höchst gediegene Vertreter derselben kennen gelernt. Meine Aufmerksamkeit war
aber mehr auf die Burschenschaft gerichtet, die sich zweifach gliederte, die Uriniren
oder der Burgkeller und die Germanen. Beide unterschieden sich zunächst durch
äußere Abzeichen, stimmten aber in ihren Grundsätzen wohl im wesentlichen
überein. Gerade sie waren die Träger des wissenschaftlichen Eifers; der Be¬
schäftigung mit Politik, worin das Charakteristische der alten Burschenschaft lag,
hatten sie nach wie vor nicht entsagt, sie hielten sich aber zugleich von allen
Überspanntheiten frei.
Unter den Professoren und Dozenten der Universität bestand ein erfreuliches
Zusammenwirken, das durch keine auffallende Sonderung getrübt wurde, ob¬
wohl leichtere Schyttirungen und Gegensätze, wie überall an deutschen Hoch¬
schulen, auch hier nicht fehlten. Erst die Parteibildungen, die im Gefolge der
Bewegung des Jahres 1848 eintraten, unterbrachen das kollegiale Zusammen¬
leben in empfindlichen Maße. Die Zahl der eigentlichen „Berühmtheiten" war
allerdings zur Zeit nicht gerade groß. Fries und Luden waren tot, lebten
aber, namentlich der erstere, in der Überlieferung noch vernehmlich fort. Dafür
hatte die Hochschule eine stattliche Anzahl gediegener, tüchtiger Gelehrten und
Lehrer aufzuweisen. Mit des verbreitetsten Rufes erfreute sich unzweifelhaft
der Kirchenhistoriker Karl Hase. Die Bekanntschaft mit diesem Manne gehört
zu den angenehmsten Erinnerungen, die ich aus Jena mitgenommen habe. Seine
Verdienste als Gelehrter und Lehrer sind längst anerkannt und gewürdigt.
Seine Persönlichkeit war von hinreißender Liebenswürdigkeit: er war die ver¬
körperte Humanität und von jeder Engherzigkeit frei. Duldsam nach allen
Seiten, wußte er gleichwohl seinen Standpunkt stets zu wahren. Angehenden
Kollegen kam er jederzeit aufs zuvorkommendste entgegen und förderte sie mit
Rat und That. Die wohlthuende Gastlichkeit seines Hauses — er lebte in
höchst bequemen Verhältnissen, wie sie jedem deutschen Professor zu wünschen
wären — wird jedem, der sie genoß, in dankbarem Gedächtnis geblieben sein.
Er war auch zugleich ein eifriger Politiker. Die Überlieferungen der alten
Burschenschaft und der Zeit ihrer Gründung fanden an ihm bekanntlich einen
echten Vertreter; er hatte für sie gelitten und zählte zu ihren Märtyrern. In
seinem Buche „Ideale und Irrtümer" hat er diesen Abschnitt seines Lebens
selbst in höchst lehrreicher Weise beschrieben. Die Begeisterung für das gute
Recht unsrer Väter hatte er sich fest bewahrt, und im Frühjahr 1848 brach sie
mit erneuter Kraft hervor. Auch in der Presse trat er für den Traum seiner
Jugend, für „Kaiser und Reich," nachdrücklich in die Schranken, mir daß
sein Standpunkt zeitweise vielleicht dehnbarer als billig war, wie es bei einem
so vollendeten Idealisten nicht verwundern konnte. Doch unterwarf er sich bald
vorbehaltlos dem Dahlmannschen Programm mit dem preußischen Erbkaisertum.
Die gewaltige Persönlichkeit Dahlmanns, der die Jahre zwischen seiner Ver¬
treibung aus Göttingen und seiner Anstellung in Bonn fast ganz in Jena zu¬
gebracht und hier einen mächtigen Eindruck zurückgelassen hatte, wirkte auch
aus der Entfernung noch nach. Hase selbst hat die meisten seiner Altersgenossen
überlebt. So alt wie das Jahrhundert, wandelt er noch unter den Lebendigen
und erfreut sich des Ertrages und der Ehren eines wohl angewandten arbeit¬
samen Lebens.
In nahen Beziehungen zu Hase stand der Geheime Kirchenrat I. K. Eduard
Schwarz, den entfernter stehende oft mit dem bekannten freisinnigen Gothaer
Oberhofprediger Karl Schwarz verwechselt haben. Eduard Schwarz war Super¬
intendent und Oberpfarrer in Jena und Professor der praktischen Theologie.
Seine Freundschaft mit Hase beruhte auf der vollendeten Gegensätzlichkeit ihrer
Naturen. Unbedingt subjektiv gestimmt, nicht durchaus frei von Leidenschaft¬
lichkeit, vermochte es Schwarz nicht, eines leisen hierarchischen Anfluges völlig
Herr zu werden. Seine Hauptkraft lag in der unmittelbaren Wirksamkeit, vor
allem auf der Kanzel, wo er gern, was ihn gerade bewegte, brennende Tagesfragen
u. dergl. in packenden Worten zur Sprache brachte. Als Gelegenheitsredner
war er ausgezeichnet; hier ließ er auch die liebenswürdigere Seite seines an
sich etwas herben Naturells oft in genialer Weise zu Worte kommen.
Senior der theologischen Fakultät war der Orientalist A. G. Hoffmann,
der die alttestamentliche Exegese vertrat. Unter den Fachgelehrten erfreute er
sich meines Wissens eines ziemlichen Ansehens und war u. a. namentlich mit
Hammer-Purgstall näher verbunden. Von der Teilnahme an der Redaktion
der Ersch-Gruberschen Encyklopädie Jahre lang in Anspruch genommen, nahm
er doch zugleich mit Vorliebe an der Verwaltung der Universität Anteil und
übte hierbei sichtlichen Einfluß, der erst durch die Ernennung eines Kurators
(18S1) eine merkliche Minderung erlitten haben soll.
Unter den juristischen Professoren kam ich dem bekannten Publizisten und
Germanisten A. Michelsen näher, der bereits im Jahre 1842 von Kiel her
übergesiedelt war. Mit einer Gräfin Brockdorf verheiratet, war er in der
Lage, ein offenes Haus zu halten und die ihm näher stehenden häufig zu
bewirten. Nach allem war er ein Gelehrter von Bedeutung und hätte es
sich ersparen können, von seinen Verdiensten selbst so gern und so häufig zu
sprechen. Die jungem seiner Freunde nahmen indes diese am Ende unschuldige
Schwäche meist geduldig hin; zu seinen Kollegen in der Fakultät trat er nie¬
mals in ein näheres Verhältnis. Die im Gefolge der deutschen Revolution
bald ausbrechende Schleswig-holsteinische Bewegung entzog ihn der Wirksamkeit
in Jena schnell genug und für längere Zeit ganz. Mehr als ein Jahrzehnt
später begegnete ich ihm flüchtig wieder in Nürnberg, wohin er (1861) als
Direktor des Germanischen Museums gegangen war; aber auch von dieser
Stellung nicht befriedigt und von den Interessen seines Heimatlandes aufs neue
in Anspruch genommen, legte er 1864 auch dieses Amt nieder und zog sich
zuletzt nach Schleswig zurück, wo er, obwohl fast gänzlich erblindet, fortgesetzt
wissenschaftlich thätig, im Jahre 1881 gestorben ist.
Unter den ältern Mitgliedern der medizinischen Fakultät zog D. G. Kieser
meine besondre Aufmerksamkeit auf sich. Bereits den Siebziger nahe, aber eine
zähe Natur, hielt er sich noch immer stramm aufrecht. Seine Verdienste waren
mannichfach, und er liebte es so wenig als Michelsen, sein Licht unter den
Scheffel zu stellen. Der Neigung des Alters gemäß erzählte er gern und
wußte viel zu erzählen, denn er hatte viel erlebt. Manche warfen ihm eine
unruhige Neigung zur Projektenmacherei vor, doch hatten wir jüngern keinen
Grund, uns dadurch anfechten zu lassen. Seine Frau war eine Tochter des
berühmten Berliner Arztes Dr. Keil, der seiner aufopfernden Thätigkeit als
Lazaretharzt nach der Schlacht bei Leipzig erlegen war. Frau Kieser zeichnete
sich durch eine wohlthuende Freundlichkeit gegen jedermann aus, hielt sich aber
gegenüber ihrem redseligen und leicht polternden Manne bescheiden zurück. Kieser
hatte sich als Arzt an dem Feldzuge der Jahre 1814 und 1815 beteiligt und
sprach gern von seinen bei dieser Gelegenheit gemachten Erfahrungen und Er-
lebnissen. Er war aber zugleich ein Mann des öffentlichen Wirkens. Wer sich
um die Geschichte des Wartburgfestes bekümmert hat, wird auf seinen Namen
gestoßen sein. In den Jahren 1831 bis 1848 vertrat er die Universität Jena
im weimarischen Landtage und wußte sich auch hier geltend zu machen. Damals
stand er auf Seiten der Opposition gegen das altkonservative Ministerium
Schweizer und war an dem Sturze desselben in den Märztagen 1848, wie
man wenigstens behauptete, kein ganz unbeteiligter Zuschauer. Seitdem gehörte er
der verständigen liberalen Richtung an und trat den aufkommenden demokratischen
Anforderungen grundsätzlich entgegen. Die letzte seiner Bemühungen, an die ich
mich erinnere, war die Agitation für die Errichtung eines Denkmals L. Okens
in Jena. Bekanntlich hat dieser seiner Zeit eine Reihe von Jahren hier als
angesehener Lehrer gewirkt und nebenher eine äußerst liebenswürdige Frau
aus einem der angesehensten Professorenhäuser erobert. Beharrlich wie Kieser
war, ruhte er nicht, bis er die erforderlichen Mittel zu diesem Zwecke aufge¬
bracht hatte. Er fand sogar den Weg zu dem damaligen Präsidenten der fran¬
zösischen Republik, der in seinen jungen Jahren in Okens Hause in Zürich häufig
verkehrt hatte, und in der That machte Louis Napoleon das Vertrauen des
Jenaer Geheimen Hofrats nicht zu Schanden. (Fortsetzung folgt.)
//^HM
^MA^l em aufmerksamen Beobachter der zeitgenössischen Litteratur wird
es nicht entgangen sein, daß der geschichtliche Roman seine Vor¬
herrschaft in den letzten Jahren verloren und sie an den sozialen
Roman abgetreten hat. Wer erlebt hat, wieviel undichterische
! Arbeit sich in jenen geschichtlichen Romanen breit machte und
wie selten es den gelehrten Schriftstellern klar geworden war, daß ein wesent¬
licher Unterschied zwischen der Kunst der Poesie und der der Geschichtschreibung
besteht, wird diese Wandlung des Zeitgeschmackes grundsätzlich mit Freuden be¬
grüßen. Die Geschichte wird zwar, so lange es eine Dichtkunst geben wird, der
unerschöpfliche Quell poetischer Stoffe bleiben, aber es kann nur zum Heile beider,
der Dichtung wie der Geschichtschreibung, dienen, wenn man sich ihres ver-
schiednen Berufes klar bewußt bleibt. Wenn auch das Bestreben der Romandichter
ganz löblich ist, ihren Lesern ein großes Weltbild zu bieten, sie auf die Höhen
der ganze Völker beherrschenden Schicksale zu leiten, so muß man doch dem Roman,
der unsre eigne Zeit recht groß erfassen und schildern will, den Vorzug vor
dem geschichtlichen geben, der die Phantasie des Lesers nur häufig genug in
eine gleichgiltige Vergangenheit abseits lenkte. Denn nichts thut mehr not, als
den Zeitgenossen zu einem klaren und reichen Bewußtsein ihrer eignen Zeit zu
verhelfen. Die Eigentümlichkeit dieser Zeit, ihre Entstehungsgeschichte, ihre ganz
eignen Aufgaben, ihr Beruf, ihre Fehler und ihre Tugenden, ihre Pflichten
und ihre Rechte werden doch nur von den wenigen Menschen erkannt, die sich
den Geist frei erhalten können von dem kleinen Getriebe des Alltagslebens, die
den Kopf hoch in die Zukunft blickend erheben, während die Millionen um und
mit ihnen den Blick beschränkt haben im Kampfe ums Dasein oder im Kampfe
der kleinen Partei, der sie zufällig angehören. Die reine Dichtkunst liebt aller¬
dings abgeschlossene Zeiten, geklärte Verhältnisse, wie sie sich künstlerisch nur
um die Gestaltung der Charaktere bemühen kann; aber der Roman ist eben
nicht reine Kunst, und darum erwirbt er sich ein volkserziehendes Verdienst,
wenn er die Bildungsbedürfnisse der Nation in fruchtbarer Weise befriedigt.
Auch ist er wahrhaft schöpferisch nur dann, wenn er ohne die vermittelnde Über¬
lieferung eines Geschichtschreibers unmittelbar zu einer bestimmten Zeit ein
Verhältnis gewinnt.
In den zwei Romanen, die Hans Blum in dem kurzen Zwischenraume
von kaum einem Jahre veröffentlicht hat,*) scheint er selbst diese Umwandlung
des Zeitgeschmackes durchgemacht zu haben. Die Äbtissin von Säckingen
ist ein geschichtlicher Roman, dessen Handlung in die für die Geschichte der
Reformation so bedeutsamen Jahre 1523 bis 1531 fällt; das neuere Werk,
Staatlos, führt uns in die von uns miterlebte Zeit von 1866 bis 1871.
Und wie die Wahl des zweiten Stoffes glücklicher war, so ist auch die jüngere
Erzählung vom Standpunkte des Unterhaltung suchenden Lesers zweifellos die
bessere.
Auch Blum ist sich nicht über den Unterschied zwischen Geschichtschreibung
und Dichtkunst klar geworden, auch bei ihm gehen die Grenzen von Wissenschaft
und Kunst verschwommen in einander über und stehen sich mit ihren Inter¬
essen im Wege. Blum ist von Hause aus überhaupt nicht dichterisch angelegt,
er ist vielmehr ein phantasievoller und eben deshalb vorzüglicher Kulturhistoriker.
Er hat einen lebhaften politischen Sinn, ja politische Leidenschaft und vor
allem eine nicht gewöhnliche geschichtliche Gelehrsamkeit. Dem Dichter Blum
aber ist die Wissenschaft über den Kopf gewachsen; im zweiten Bande der
„Äbtissin" fordert er von dem harmlosen Nomanleser eine Aufmerksamkeit für
kleine, nebensächliche Vorgänge, die nur der lokale Chronikenschreiber erwarten
darf. Der Künstler strebt darnach, aus der Fülle der Erscheinungen die großen
maßgebenden Züge und Persönlichkeiten herauszugreifen, und geht gern und mit
Recht so weit, sie ganz von dem Hintergrunde zu trennen, den Hintergrund
eben nur, soweit er zum Verständnis nötig ist, anzudeuten; dem Künstler ist
es um eine klare Übersicht, um ein schönes, in die Augen fallendes, unmittelbar
erfaßbares Bild zu thun; in der Geschichte forscht er nach den Gesetzen der
Perspektive nicht minder wie in der Landschaft, und die im Vordergrunde
stehende Einzelpersönlichkeit führt er mit liebevollem Eingehen in ihren Cha¬
rakter aus. Denn am Ende arbeitet alle Kunst mit der typischen Individualität,
mit dem kraftvollen, großartigen Charakter, in welchem sich viele Bestrebungen
zerstreuter historischer Persönlichkeiten symbolisch für die ganze Zeit, der sie an¬
gehören, vereinigen. Der Kulturhistoriker aber mit seinem wissenschaftlichen
Respekt vor der positiven, archivalisch festgestellten, urkundlich beweisbaren Wahr¬
heit verliert jenen künstlerischen Standpunkt; auch Blum hat ihn verloren, und
dies scheint uns der wichtigste Fehler seiner an Geist und Studien übrigens
reichen „Äbtissin von Säckingen" zu sein.
Die Äbtissin von Säckingen ist das Fräulein Magdalin von Hausen in
dem adlichen Damenstifte zu Säckingen. Sie hat die zündenden Predigten
Eberlins in Waldshut und in Säckingen selbst gehört und ist von der Wahrheit
und Größe dieser gereinigten evangelischen Lehre tief ergriffen worden. Der
Junker Gerold von Harpolingen, ein Freund Ulrichs von Hütten und Zwinglis,
hat ihr die Schriften Luthers, namentlich dessen Bibelübersetzung, und auch die
Schriften der andern Schöpfer und Führer der Reformation heimlich zugetragen,
denn er liebt das schöne Stiftsfräulein, und sie liebt ihn. Magdalin hat
sich in ihrer einsamen Zelle erfüllt mit der neuen Lehre, und als Eberlin den
Kabalen der Altgläubigen aus der Säckinger Gegend weichen muß, tritt das
Stiftsfräulein selbst auf den Markt vor das Volk, ihm das wahre Evangelium
zu verkünden. Als die alte Äbtissin stirbt, wird Magdalin zu ihrer Nach¬
folgerin gewählt, und nun faßt sie den Entschluß, das Stift zu reformiren, mit
ihm auch die ganze umliegende Gegend und wohl auch schließlich als Äbtissin
Gerold zu heiraten. Denn die Ehelosigkeit der Stiftsdamen ist niemals ge¬
setzliche Bedingung ihrer Würde gewesen; vielmehr haben schon viele Säckinger
Stiftsfräulein diese Würde mit der einer ehrenwerten deutschen Hausfrau ver¬
tauscht; nur eine alte Gewohnheit, aber kein geschriebenes Gesetz besteht, daß
die Äbtissin als solche unvermählt zu bleiben pflegt, wenn auch die zügellosen
Sitten des mittelalterlichen Klerus den hohen Frauen ihren Cölibat nicht
gerade schwer erträglich machen. Gegen den Plan Magdalins erheben sich
aber auch politische Mächte, denn das Säckinger Stift ist sehr reich und übt
großen Einfluß auf seine Umgegend aus. Daher leisten die Katholiken unter
Führung des Erzherzogs Ferdinand von Österreich Widerstand. In dem
Kampfe unterliegen die Evangelischen. Gerold hat sich heimlich mit der
jungen Äbtissin vermählen lassen, Zwingli selbst hat den Trauungsakt voll¬
zogen. Harpolingen wird belagert, Gerold muß sich auf Gnade und Un-
gnade ergeben und rettet das nackte Leben nur dadurch, daß sich Magdalm
freiwillig dem Feinde überliefert. Für beide beginnt nun eine schwere Zeit.
Gerold wird unter die - kaiserlichen Soldaten gesteckt, zeichnet sich 1529 bei
der Türkenbelagerung von Wien aus und kehrt endlich als österreichischer
Hauptmann in die Heimat zurück. Magdalin wird nach dem Falle der Burg
Harpolingen zu Säckingen in Gefangenschaft gehalten. Schlimmer aber ist
es, daß ihr Geist umnachtet ist und daß sie sich in bitterer, reuevoller
Selbstqual martert. Sie hat das Mittelalter in sich selbst doch noch nicht
überwunden, wie Zwingli, der ihr dazu helfen wollte, erklärt. Endlich aber,
nachdem noch der Bauernaufstand des „Bundschuh," der Kampf der Wieder¬
täufer zu Waldshut, der Kampf der Schweizer gegen die Kaiserlichen und der
Heldentod Zwinglis an unserm geistigen Auge vorübergegangen sind, erleben
wir die glückliche Vereinigung Gerolds und Magdalins. Gerold ist wieder
in den Besitz seiner Stammburg Harpolingen gekommen, Magdalin muß auf
ihre fürstliche Würde und Macht verzichten, bekommt aber doch ihre ins Stift
gebrachte Mitgift heraus.
Dies im Umriß die Handlung des ersten Romans. Es interessirt uns
wenig, wie sich Blums Dichtung zur geschichtlichen Wahrheit verhält, denn wir
sind nicht gewöhnt, solche bei Romanschreibern zu suchen, und den Streit um
sie halten wir im vorliegenden Falle für sehr müßig. Wir halten uns an
Blums Fabel, und diese müssen wir an und für sich als bedeutsam genug an¬
erkennen. Hier ein Weib, das so sehr aus den Schranken seines Geschlechts
heraustritt, neue Religionswahrheit zu verkünden: dies allein schon ein großes
dichterisches Motiv! Sie wird aber beim Widerstande der weltlichen Mächte,
deren nüchterne und egoistische Politik sie doch nicht ganz überschaut, irre an
sich selbst, sie ist nicht stark genug, den Kampf zweier Zeitalter allein in sich
durchzufechten, sie verfällt dem Trübsinn und wird erst nach und nach durch
ihre gesunde Natur dem Leben wieder gegeben. Welch eine Gelegenheit
zur Entfaltung feinster psychologischer Kunst! Wie groß und vornehm muß
der Charakterzeichner sein, um uns die Ekstase des religiös begeisterten Weibes
begreiflich, anmutend, liebenswürdig erscheinen zu lassen! Und welcher Tiefe
bedürfte es, um dann den Trübsinn in seiner vollen Tragik vor Augen zu
stellen! Und immerfort hätte diese lieblich tiefsinnige Erscheinung im Mittel¬
punkt der Erzählung bleiben müssen; denn die allen deutschen Lesern wohl¬
vertrauten Bilder der Hütten, Zwingli, der ganzen Zeit wären mit wenigen
Strichen ausreichend angedeutet, zur Genüge geschildert gewesen, um die Stimmung
der Zeit, ihre Farbe und Leidenschaft als Hintergrund und Erklärung für die
Hauptfigur zu veranschaulichen. So ökonomisch ist aber Hans Blum nicht Ver¬
fahren. Er schildert leider mehrere Helden, die nach einander den Vordergrund
einnehmen: Ulrich von Hütten, Eberlin, Zwingli. Da kommt natürlich die arme
Magdalin zu kurz dabei. Wir lesen einen ganzen dicken Band durch, bevor
sie überhaupt Äbtissin wird, und die wichtigen innern Umwandlungen, die sie
durchmacht, werden uns schließlich gerade nur referirt. Wir ahnen wohl, was
der Verfasser wollte, können aber nicht sagen, daß er es auch erreicht habe.
Wir staunen über seine Gelehrsamkeit, auch seine genaue Kenntnis der ober¬
rheinischen Lokalgeschichte vermag uns zu fesseln, die Zeichnung Zwinglis ver¬
folgen wir sogar mit dem Anteil, den Blum selbst an ihr genommen hat —
allein der Roman als Ganzes vermag uns nicht zu befriedigen.
Einen wesentlich freundlicheren Eindruck, eben weil sie übersichtlicher kom-
ponirt ist, hinterläßt die „lustige Zeitgeschichte auf ernstem Hintergrunde."
Zwar hat sich Blum die Arbeit hier etwas leicht gemacht, die Fabel einfach
erfunden, den Knoten der Verwicklung lose geschürzt, die eigentlich schwierige
psychologische Aufgabe, die auf dem Wege der Erzählung lag, vorsichtig über¬
sprungen, allein die Erzählung ist doch witzig im Problem, das in allen seinen
Konsequenzen verfolgt wird, und munter im Vortrag, fesselt den Leser immer¬
fort und entläßt ihn in heiterm Behagen, nachdem sie knapp vor dem Schluß
große, ernste, erschütternde Kriegsbilder entrollt hat. Es ist nur zu bedauern,
daß die Grundvoraussetzung der ganzen Fabel ganz unglaublich ist, und daß
darum die Geschichte völlig in der Luft hängt; hierin mag auch der Grund
liegen, daß Blum sein Thema nicht recht vertiefen konnte.
Die Geschichte ist folgende. Nach den Schlachten von Langensalza und
Königgrätz, welche über die Stellung Preußens im deutschen Bunde und über
dessen Vorherrschaft endgiltig entschieden, faßt der hannoversche Offizier Wolf
Freiherr von Warnecke den Entschluß, mit seinem Diener, dem Unteroffizier
Habakuk, nach Amerika auszuwandern. Warnecke will dem tief gehaßten
Preußen nicht dienen, so sehr er im übrigen ein braves deutsches Herz hat.
Kurz vor der Abreise findet er nun in einem hannoverschen Zeitungsblatte fol¬
gende Anzeige: „Staatlos! Ein Grundstück in Mitteldeutschland, an vier
deutsche Staaten grenzend, zu keinem Staate gehörig, frei von Steuern, Ab¬
gaben, Militärpflicht und Einquartierung, dessen Eigentümer sein eigner Sou¬
verän ist, und das aus ansehnlichen Gebäuden, Feld-, Wald- und Wiesenbesitz
besteht, und in Viehstand, Vorräten und Inventar gut versehen ist, hat wegen
Todesfalls gegen Vaarzahlung zu verkaufen Advokat Pfeffermann in Heida."
Rasch entschlossen reist Wolf auf dieses Inserat nach Heida zu dem genannten
Advokaten, und nachdem er sich aus dem Unterthanenverbande Preußens hat
ausscheiden lassen, kauft er das Gut „Staatlos" an, das ihm, ohne Reise in
die Urwälder Amerikas, mitten in Deutschland jene vollständige politische Freiheit
gewährt, die er sich wünschte. Das Gut ist in vorzüglichem Zustande. Die
merkwürdige Staatlosigkeit desselben erklärt der Fabulist damit, daß der Boden
ursprünglich das Bett des Flusses war, der seinen Lauf verschoben hatte, und
im Wiener Kongreß, wo Deutschland neu verteilt wurde, hatte man das Stückchen
Land geringschätzig übersehen. Es war dann von einem mit der Vielregiererei
des Vaterlandes unzufriedenen deutschen Gelehrten angekauft worden, der nach
gründliche» juristisch-historischen Forschungen die völlige Staatlosigkeit des neuen
Bodens festgestellt hatte. Nach dem Tode dieses Einsiedlers kam das Gut
„Staatlos" an einen mit der Gestaltung Deutschlands ebenfalls unzufriedenen
Achtundvierziger, der hier seine Zuflucht ebenso fand, wie viele seiner Streit¬
genossen aus der Paulskirche in England oder Amerika. Beide Eigentümer
waren ohne Familie, lebten ausschließlich sich selbst, ihrer Landwirtschaft und
wurden von den nicht staatlosen Nachbarn sehr geachtet. Jetzt ist Wolf
von Warnecke Souverän des kleinsten deutschen Ländchens.
Das Thema des Romans ist nun gegeben, wenn man die unglaubliche,
jedenfalls heitere Voraussetzung gelten läßt. Es handelt sich darum, Wolf
Warnecke von seinem Preußenhaß zu heilen und sein Bedürfnis nach Staat¬
losigkeit sa ichsuräum zu führen. Er muß erkennen, daß einem Staate an¬
zugehören Notwendigkeit sei; daß die Pflichten, die der Staatsbürger übernimmt,
ihm auch Rechte gewähren, welche seinen wirtschaftlichen und auch moralischen Be¬
stand überhaupt erst ermöglichen. Rein vom Nützlichkeitsstandpunkte muß Wolf,
nach der Absicht Blums, zuvörderst zur Erkenntnis des Wertes der Staats¬
angehörigkeit an sich gelangen. Ihn zum deutschen Staatsbürger im edleren
Sinne zu gestalten, benutzt Blum die großen geschichtlichen Ereignisse, die mit in
die Romanhandlung hineinspielen. Den fanatischen Welsen, der mit dem Sturze
seines Königshauses anch alle Heimat verloren zu haben wähnt, soll der neue
Staat, das auf den französischen Schlachtfeldern geborene deutsche Reich, ohne
ihn zur Untreue gegen sich selbst zu zwingen, in sich aufnehmen.
Zu alleu diesen inneren Wandlungen wird nun Wolf durch die Liebes¬
geschichte geführt, in die er gleich beim ersten Eintritt in sein Gut verwickelt
wird. Er sieht Fräulein Gertrud Kratz, die Tochter des humoristisch grobia¬
nischen Gutsnachbars, und liebt sie auch gleich (eine Bequemlichkeit Blums),
indes sein an urwüchsigen Bildern im Ausdruck üppiger Diener Habakuk ebenso
geschwind sein Herz an die ererbte Wirtschafterin, Fräulein Minchen, verliert.
Die ganze Handlung dreht sich darum, daß Wolf die geliebte Gertrud an¬
standlos und legitim heiraten könne. Zuerst steht dem Plane der väterliche
Grobian Kratz im Wege, der mit dem staatlosen Nachbar nichts zu thun haben
will. Kratz macht Wolf auf das Gefährliche seiner Stellung aufmerksam.
Als vorsorglicher Landwirt muß sich Wolf doch bei irgend einer Gesellschaft
gegen Feuer-, Hagel- und Seucheuschaden versichern. Welche wird aber dies
Geschäft mit ihm wagen? Die Gesellschaft muß doch ihrerseits durch die Gesetze
des Staates gegen etwaige verbrecherische Absichten des Versicherten geschützt
werden; der Staat muß denjenigen, der mit der Spekulation auf die Prämie
sein eignes Haus anzündet, bestrafen, sonst wäre ja die Versicherungsgesellschaft
die Beute von Dieben. Wolf aber gehört keinem Staate an, er ist keinem Ge¬
setze unterworfen, es findet sich also keine Gesellschaft, die sein Hab und Gut
zu Versichern willens wäre. Und wie ist es mit der Post? Haben seine
Nachbarn irgend welche Pflicht, ihm die unentbehrlichen Briefe und Zeitungen
zuzustellen? Er lebt also auf Kosten der Nachbarn, ohne sich durch Gegen¬
dienste erkenntlich zu erweisen. Und so ist es auch mit der Polizei, mit der
Sicherheit seiner Person und seines Besitzes bestellt. Blum unterläßt nicht, seinen
Helden alle diese Bedingungen gutsherrlichen Lebens fühlen zu lassen: eine
Reihe heiterer Szenen. Doch schließlich vermag sich Wolf gegen Feuersgefahr
durch ein künstliches Wasserwerk, gegen die Unsicherheit durch reichlichen Waffen¬
vorrat, gegen etwaiges Übelwollen der Nachbarn durch eignes großherziges
Entgegenkommen zu schützen. Allein, um seine Gertrud heiraten zu können,
nützen ihm alle diese Opfer und Tugenden nichts, denn den staatlosen, vogel¬
freien Mann kann in ganz Deutschland kein Pfarramt aufbieten, kein Standes¬
amt kann seine Ehe gesetzlich anerkennen. Den Vater Kratz gewinnt Wolf
durch heldenmütiges Handeln. Ein wütender Mensch, ein Arbeiter, der den
Gutsherrn bestohlen hat und der daher entlassen worden ist, hat Kratz meuch¬
lerisch überfallen, nachdem er ihm eine Scheune in Brand gesteckt hat: Wolf
schützt den Hof vor größerm Schaden und den Besitzer vor schmählichem
Tode. Die Versuche, die er nun macht, um sich die Möglichkeit zu heiraten zu
verschaffen, sind eine Reihe belustigender Abenteuer. Endlich ist Wolf ent¬
schlossen, in den preußischen Unterthanenverband zu treten, allein den Heimat¬
losen will keine Behörde aufnehmen. Gertrud wendet sich sogar unmittelbar
an den Grafen Bismarck, aber er hat das Gesetz, welches Heimatlose in den
Staat aufzunehmen gestatten soll, eben erst in Vorbereitung, es wird noch
lange dauern, bis es in Kraft treten kann, und inzwischen — bricht der deutsch¬
französische Krieg aus. Wolf hat sich in seiner Einsamkeit mit den Schriften
Schlözers vertraut gemacht, seiner geliebten Gertrud hat er sogar statt der
Liebesbriefe begeisterte Auszüge daraus geschickt. Der Ausbruch des Krieges
entzündet deshalb in ihm die feurigste Teilnahme. Staatlos, wie er ist, setzt
er sich in den Besitz der Papiere seines Dieners Habakuk, des Unteroffiziers,
der sich vorsorglicher Weise nicht aus dem preußischen Staatsverbande hat
streichen lassen, und unter dem fremden Namen nimmt Wolf als Unteroffizier
an den Schlachten von Weißenburg und Wörth teil. Hier wird er verwundet,
der Köter Jack, der ihn immerfort begleitet, bellt Hilfe herbei, und der Be¬
wußtlose wird rechtzeitig ins Lazareth getragen. Durch seine Teilnahme am
Feldzuge und durch das gewonnene Eiserne Kreuz hat sich Wolf so ipso die
preußische Staatsbürgerschaft erworben, und nun steht seiner Heirat nichts mehr
im Wege. Auch dafür wird gesorgt, daß sein staatloses Gut von einem liebens¬
würdigen rechten Souverän, der angrenzt, annektirt wird.
Auch hier sind dem Erzähler die Nebengestalten besser gelungen als die
Hauptfiguren. An Wolf und Gertrud vermissen wir die feinere Charakteristik,
ihre Liebe ist Plötzlich, man weiß nicht wie gekommen; der Schilderung ihres
Verkehrs fehlt die rechte poetische Wärme. Wolfs innerer Entwicklungsgang
wird nur skizzirt, und doch hätte sich gerade hier die Idylle mit dem großen
geschichtlichen Hintergrunde bedeutend vertiefen lassen. Auch dieser Hintergrund
der Jahre 1867 bis 1870 selbst hätte in kräftigeren Farben gemalt werden
können. Der Diener Habakuk aber mit seiner humoristischen Sprache, der
gute, grundgescheite Grobian Vater Kratz, das Fräulein Minchen, der Advokat
Pfeffermann sind warme, lebensvolle Gestalten. Wenn sich auch der Witz
Blums nur allzu häufig zum bloßen Wortwitz, zum Kalauer herabläßt, so ist
doch die ganze Geschichte, die etwas an Wilhelm Raabes Art erinnert, eine
freundliche Erscheinung deutschen Humors.
eilten wir uns nun den Fall, daß der Friedensbund genötigt
würde, mit Frankreich und Rußland zu gleicher Zeit Krieg zu
führen, so würde er es also mit Gegnern zu thun haben, die ihm
in der Zahl der Truppen wahrscheinlich um einige hunderttausend
Mann überlegen wären und, was Rußland betrifft, über ein sehr
starkes Pferdematerial verfügten, in andern Beziehungen aber teils als unter
dem Werte der Mehrzahl der Streitkräfte des Bundes stehend angesehen werden
müssen, teils der Tüchtigkeit der letztern ungefähr gleichkommen würden. Die
russische Infanterie besitzt noch kein Magazingewehr und scheint sich über¬
haupt für ein solches nicht zu eignen; im übrigen werden unsre Feinde, wenn
die zur Neubewaffnung der Infanterie bewilligten Millionen Verwendung ge¬
funden haben, hinsichtlich dieses Teiles ihrer Truppenmacht etwa ebenso gut
ausgerüstet sein wie wir. Als verbürgt kann gelten, daß die Heere des Drei¬
bundes durchschnittlich mehr geschult sind als die russischen und französischen,
und daß der Geist, der sie beseelt, ebenfalls besser ist. Die schneller zu er¬
möglichende Mobilmachung des deutschen Heeres und sein rascher sich vollziehender
Aufmarsch gegenüber der französischen Armee sind weitere Vorteile, die auch
dem österreichisch-ungarischen Verbündeten bei Beginn des Kampfes mit den
Russen zweifellos zu gute kommen würden. Auch Italien würde rasch mit einem
großen Teile seiner Kriegsmacht gegen Frankreich vorrücken können. Seine Flotte
ist, mit einem österreichischen Geschwader vereinigt, recht wohl imstande, den Schutz
der tyrrhenischen und adriatischen Küsten gegen Landungsversuche zu übernehmen,
welche die hierzu allein verfügbare Mittelmeerflotte Frankreichs wagen würde,
und so dürfte Italien kein Bedenken tragen, die bei weitem größere Hälfte seiner
Linientruppen und seiner mobilen Miliz sofort nach der französischen Grenze
vorzuschieben. Seine Einrichtungen, namentlich sein gut angelegtes Eisenbahnnetz,
würden es befähigen, zwei Wochen nach Ausbruch der Feindseligkeiten dort mit
10 von seinen 12 Linienkorps, 8 Divisionen Mobilmiliz, 3 Kavalleriedivisionen
und 40 000 Mann Alpentruppen, zusammen ungefähr 420 000 Soldaten, zu
erscheinen. Was die oberste Führung angeht, so beschränken wir uns darauf,
den großen Vorzug hervorzuheben, dessen sich der Dreibund darin erfreuen würde,
daß seine militärischen Operationen nach ein und denselben Gesichtspunkten, einem
und demselben letzten Ziele geleitet, daß der Genius Moltkes und daneben, soweit
die Diplomatie bei Kriegen mitredet, der Genius Bismarcks in allen Haupt¬
fragen nach Möglichkeit als maßgebend anerkannt werden würde. Ein solches
oder ein ähnliches einheitliches Handeln würde sich bei den Gegnern nicht wohl
herstellen lassen, schon weil der eine Teil eine demokratische Republik, der andre
eine völlig unbeschränkte Autokratie ist, dann, weil die letzten Ziele beider nicht
dieselben sind, endlich weil der eine Staat nicht als unmittelbarer Nachbar neben
dem andern steht. Der Selbstherrscher aller Reußen wird sich niemals bereit
erklären, die Leitung seiner Heere von den Ansichten und Absichten eines fran¬
zösischen Oberfeldherrn abhängig zu machen, der anderseits sich dem Parlamente
mehr oder minder unterzuordnen hätte, und anderseits wird das stark aus¬
geprägte Selbstgefühl der „großen Nation," der Mutter des noi Loleil und
Napoleons, des Volkes, welches „an der Spitze der Zivilisation einherschreitet,"
sich lebhaft dagegen sträuben, sich von dem Zaren in Petersburg, dem Gebieter
von Halbbarbaren, vorschreiben zu lassen, wie der Krieg zu führen und wann
damit aufzuhören sei. Wie wichtig aber Einheitlichkeit der Operationen Ver¬
bündeter Heere ist, liegt auf der Hand und ist aus den anfänglichen Mißerfolgen
der Verbündeten von 1813 und 1814 im Kampfe mit Napoleon erinnerlich.
Ein Krieg Deutschlands und seiner Nachbarn und Bundesgenossen im
Süden und Südosten, der nach zwei Seiten hin zu führen wäre, würde auch
einen Angriff des Bundes nach zwei Seiten verlangen, also keine Verteidigung
nach der einen Richtung hin gestatten, und zwar am wenigsten eine solche nach
Frankreich hin. Diese Weise der Kriegführung kann immer nur negative Er¬
gebnisse haben, eine Abwehr, ein Erhalten auf Zeit, einen Aufschub der letzten
Entscheidung. Die moderne Kriegführung bedient sich ihrer daher nur im Not¬
falle, d. h. wenn sie zu schwach ist, um angreifen zu können, und das wird von
dem Bunde nach der vorhergehenden Betrachtung niemand im Ernste behaupten
können. Nur ein rascher und kräftiger Angriff kann die Vorteile, deren sich
namentlich das deutsche Reich sowie sein südöstlicher Verbündeter erfreuen, ganz
ausnutzen. Wenn Rußland und Frankreich im Verlaufe eines lange dauernden
Kampfes allmählich sehr große Massen von Truppen auf die Beine zu bringen
vermögen, so ist es anderseits nicht schwierig, nachzuweisen, daß die Überlegenheit
der Zahl in den ersten Wochen, vielleicht auch Monaten des Krieges auf Seiten
des Dreibundes sein würde, wie dieser sich in der glücklichen Verfassung be¬
findet, rascher mobil machen zu können und dann mit Sicherheit den Aufmarsch
der einzelnen Heeresteile zu vollziehen imstande ist. Unter solchen Verhältnissen
ist es aber wahrscheinlich, daß die ersten Zusammenstöße der Verbündeten mit
den Feinden zu Niederlagen der letztern führen würden, dann würde die numerische
Überlegenheit der Verbündeten selbstverständlich wenigstens noch einige Zeit fort¬
dauern, und inzwischen würden neuere Einrichtungen bewirken, daß sie dann noch
länger fortbestünde. Der geniale Griff, den die deutsche Regierung und Heeres¬
leitung mit der Abänderung der Wehrverfassung gethan hat, hat für das Reich
den Grund zu einer wesentlichen Ergänzung der Feldarmee gelegt, und das
Landsturmgesetz in Österreich und Ungarn wird ähnliches zur Folge haben und
im Vereine mit jener Maßregel beinahe so viel bedeuten, als ob sich im Kriegs¬
falle eine vierte Großmacht mit ihren Streitkräften dem Dreibunde anzuschließen
versprochen hätte. Auch wenn wir die Wahrscheinlichkeit, daß Rumänien, Serbien
und Bulgarien sowie die Türkei bei Ausbruch eines Krieges zwischen Rußland
einerseits und den beiden mitteleuropäischen Mächten anderseits mindestens eine
drohende Haltung gegen das Zarenreich annehmen würden, und die immerhin
nicht undenkbare Möglichkeit eines Anschlusses Englands an den Bund und
einer Gefährdung der russischen Küsten durch eine englische Flotte nicht in
Rechnung bringen, würde Nußland auf dem Kriegsschauplatze in seinen west¬
lichen Provinzen kaum mehr als 54 Infanterie- und 15 Kavalleriedivisionen
bereitstellen können. Österreich-Ungarn aber würde, wenn es noch einige Zeit
zur weitern Organisation und Ausrüstung seiner Wehrkräfte behält, 32 Linien-,
13 Landwehr- und 6 bis 7 Neservedivisionen, also im ganzen 52 bis 53 Di¬
visionen Infanterie und 6 bis 7 Divisionen Reiterei mobil machen können und
dann immer noch über die Landsturmreserve, darunter 172 im Frieden vorbe¬
reitete Auszugsbataillone und 90 Schwadronen, verfügen können. Dem deutschen
Reiche würde es nicht unmöglich sein, sofort die Hälfte und allmählich ungefähr
zwei Drittel dieser Streitkräfte nach dem östlichen Kriegsschauplatze zu senden.
Die Überlegenheit der Zahl nach wäre also hier umso mehr gesichert, als Ru߬
land im Weichselgebiete und dem ganzen Polen überhaupt während der ersten
zwanzig bis vierundzwanzig Tage nach Beginn der Feindseligkeiten nicht wohl
mehr als 33 Divisionen Infanterie und 8 bis 9 Divisionen Kavallerie ver¬
sammeln kann. Es ist infolge dessen nicht zu begreifen, wenn Militärschriftsteller
wie der Verfasser der im ersten Abschnitte dieser Betrachtung erwähnten Schrift
„Der europäische Koalitionskrieg" der Meinung sein können, der Oberbefehls¬
haber des deutsch-österreichischen Bundesheeres werde hier, an der Westgrenze
des Zarenreiches, darauf verzichten müssen, angriffsweise vorzugehen. Das
würde ja heißen, er müsse warten, bis die vorläufig verfügbaren russischen
Streitkräfte ruhig und ungestört ihren Aufmarsch vollendet, und wohl auch
noch, bis sie sich durch Nachschub aus den weiter östlich liegenden Gouvernements
verstärkt hätten.
Wenden wir uns dem andern Kriegsschauplatze zu und richten wir die
Blicke dabei zuerst nach Südwesten. Italien vermag, wie bereits erwähnt
wurde, binnen vierzehn Tagen nach Eröffnung eines Feldzuges ungefähr mit
420 000 Mann (28 Infanterie-, 3 Kavalleriedivisionen des Linienheeres und
den Alpentruppen) nach der französischen Grenze vorzurücken und dort den Auf¬
marsch zu vollziehen. Das deutsche Reich verfügt im ganzen über achtzehn
bis neunzehn Jahrgänge gleichmäßig ausgebildeter Soldaten, und es steht ihm
für diese eine genügende Menge von Offizieren und Unteroffizieren, die im
Felde verwendbar sind, zu Gebote. Frankreich dagegen kann an seiner Ost-
grenze, wenn wir die zu Besatzungszwecken erforderlichen Truppen abrechnen
und den Umstand berücksichtigen, daß bei der von ihm geplanten Ausdehnung
der Wehrpflicht bis zum fünfundvierzigsten Lebensjahre ohne Zweifel für eine
bedeutende Anzahl von Einheiten das führende Personal mangeln wird, zu
Anfang des Krieges schwerlich eine stärkere Operationsarmee aufstellen als etwa
60 Divisionen Infanterie und 7 bis 3 Divisionen Reiterei. Dadurch ist aber
der Schluß gerechtfertigt, daß wir in Verbindung mit Italien auch auf dem
westlichen Kriegsschauplatze bei Beginn des Kampfes uns eine Überlegenheit
der Zahl nach schaffen können, die genügend erscheint, um auch hier der an¬
greifende Teil zu sein. Es geht, wie der Juli des Jahres 1870 zeigt, sehr
wohl an, daß man politisch defensiv und zu gleicher Zeit strategisch offensiv
verfährt.
Es wäre also nach keiner der beiden Seiten hin durch die Umstände ge¬
boten und zweckdienlich, sich auf die Verteidigung zu beschränken. Aber setzen
wir auch den Fall, dies wäre in Zukunft nach der einen Richtung hin aus
irgend welchen Gründen zu empfehlen, so müssen wir doch entschieden in Abrede
stellen, daß die wiederholt genannte Broschüre die rechte Wahl trifft, wenn sie
meint, der Bund solle im Westen den Angriff abwarten, gegen Rußland aber
angriffsweise vorgehen. Gerade für das Umgekehrte sprechen bei näherer Prüfung
der Umstände gute Gründe, immer vorausgesetzt, daß überhaupt wo die Ver¬
teidigung dem Angriffe vorgezogen werden müßte, was, wie angedeutet, nur
durch Umstände veranlaßt werden könnte, die jetzt nicht vorauszusehen sind.
Ein Angriffskrieg gegen Rußland verspricht zwar Erfolg, wird aber jedenfalls
längere Dauer haben als ein solcher gegen Frankreich. Schon Polen mit seinen
schwer zu überschreitenden Flüssen, seinen dichten und sumpfigen Wäldern und
seinen starken Weichselfestungen bietet einem raschen Vordringen große Schwierig¬
keiten, und sind diese überwunden, so stellen sich dem Angreifenden neue ent-
gegen. Das Land ist verhältnismäßig diinn bevölkert, es fehlt an Eisenbahnen,
an guten Straßen, an größern Orten, an Mitteln zur Unterbringung und Ver¬
pflegung der Truppen. Der Oberbefehlshaber des einrückenden Heeres wäre
genötigt, sich nach jedem Erfolge, der den Gegner zum Aufgeben einer Stellung
zwänge, für das weitere Vorrücken mühsam und mit Zeitverlust eine neue
Grundlage zu schaffen, um nicht wie Napoleon, nachdem er mit seiner Armee
über das Weichselland hinausgekommen war, in der Luft zu schweben und
schließlich aus Mangel an Nachschub von Mannschaften, Kriegsmaterial und
Proviant zu Grunde zu gehen. Im Westen liegen die Dinge wesentlich anders.
Die Mobilmachung der französischen Wehrkräfte vollzieht. sich allerdings noch
nicht so schnell wie die der deutschen, aber immerhin in weit kürzerer Frist
als die der russischen. Soll nun die anfängliche Überlegenheit des Bundes in
dieser Gegend gehörig ausgenutzt werden, so müssen die ersten entscheidenden
Schläge ohne langen Verzug fallen, der Angriff muß also unserseits so schleunig
als nur möglich geschehen, was sich schon darum empfiehlt, weil solche Siege
moralische Wirkung auf den Gegner ausüben und gegenüber der ersten beiden
französischen Linien von Festungen und Sperrforts eine Überraschung darin
liegt. Das Hinterland Frankreichs hat nicht die ungeheure Tiefe des russischen
im Osten des politischen Grenzgebietes, namentlich dann nicht, wenn der geniale
Gedanke Moltkes eines Abdrängens nach Norden in dem neuen Kriege wieder
den Gang der deutschen Operation bestimmte, was bei der Stärke des im Süd¬
westen vorrückenden italienischen Heeres und bei der geographischen Gestaltung
des Kriegsschauplatzes sehr möglich wäre. Die anfängliche Überzahl ihrer
Truppen benutzend, kann die deutsch-italienische Heeresleitung in verhältnismäßig
kurzer Zeit den französischen Armeen einige entscheidende Niederlagen beibringen
und dann mit Umgehung der einen und der andern Festung weiter im Innern
des Landes zu einem Hauptschlage ausholen. Bei dieser Lage der Dinge würde
also die militärische Oberleitung des Bundes, falls sie nach einer von beiden
Richtungen hin verteidigungsweise zu Verfahren hätte, nicht die westliche, sondern
die östliche hierzu ersehen. Indes empfiehlt sich die reine Defensive gegen Rußland
nicht. Das österreichisch-ungarische Heer und die mit ihm hier zusammen¬
wirkenden Teile des deutschen müßten vielmehr ihre größere Kriegsbereitschaft, ihre
Befähigung zu schleunigerem Ausmarsche und die sich aus beiden Vorzügen er¬
gebende anfängliche Überlegenheit hinsichtlich der Zahl ebenfalls benutzen, um
den Versuch zu machen, dem in Polen stehenden russischen Heere eine oder einige
kräftige Schlappen beizubringen, die als letzte Folge zweckmäßig eingerichteter
konzentrischer Operationen dem Festungsdreiecke an der Weichsel seine Haupt¬
bedeutung benähmen. Dann könnte, wenn es nötig erschiene, das vorrückende
Heer hinter dem Dujepr oder einem andern großen Strome so lange in die
Defensive treten, bis die französische Kriegsmacht vollständig niedergeworfen
wäre und nun bedeutendere Verstärkungen nach Osten gesendet werden könnten.
Immerhin wäre eine solche halbe Offensive ein Übelstand, und so haben wir
dem Reichskanzler und der deutschen Heeresleitung zu danken, daß der erstere durch
Gewinnung starker Bundesgenossen, die letztere durch Reform des Wehrgesetzes
uns die Möglichkeit geschaffen haben, den auf die Dauer doch vielleicht nicht
vermeidbaren Krieg nach beiden Richtungen hin in positiver Form zu führen.
Einen Vergleich der Seestreitkräfte, welche der Bund aufstellen kann, mit
denen der Gegner haben wir in Betreff des Mittelmeeres bereits angestellt, und
es hat sich gezeigt, daß die italienische Kriegsflotte im Verein mit der öster¬
reichischen Frankreich nicht zu fürchten hat, da dessen Besitzungen in Afrika und
Ostasien Deckung durch Geschwader erheischen. Die deutsche Flotte würde es
wahrscheinlich mit einer aus französischen, russischen und dänischen Schiffen zu¬
sammengesetzten zu thun haben und gegen diese auf hoher See wenig ausrichten,
sicher aber Landungsversuche an der Ostseeküste (an der Küste der Nordsee sind
solche durch die Watten ausgeschlossen) verhindern können. Hiermit erklärt
sichs, wenn beide Parteien den Beistand Englands wünschen, der jedoch für jetzt
noch sehr unsicher ist. Allerdings scheint das Ministerium Salisbury den Italienern
für gewisse Fälle Hilfe gegen Frankreich zugesagt zu haben, doch wird ein festes
Bündnis in Abrede gestellt. Anderseits ist erinnerlich, daß Gladstone mit Nu߬
land liebäugelte, und die Reise Lord Churchills nach Petersburg sah auch be¬
denklich aus. Letzterer bedürfte eines reichlichen Maßes von Dreistigkeit, um
sich dort feiern zu lassen, nachdem er zwei Jahre vorher den Moskowitern im
Parlament mit den stärksten Ausdrücken Hohn gesprochen hatte. Noch mehr
Dreistigkeit aber bedürften Franzosen und Russen, als sie versicherten, die
Engländer hätten von ihnen in Ostasien nichts zu befürchten, wenn sie sich mit
ihnen gegen den Friedensbund verbünden wollten, und Salisbury weiß das und
hat infolge dessen gegenüber den drei Mächten des letzteren wenigstens eine
freundschaftliche Stellung eingenommen. Die öffentliche Meinung in England
erlaubt ihm nicht weiterzugehen, sie gestattet aber auch den genannten beiden
Exministern nicht, wenn sie wieder ans Ruder kommen sollten, Partei für die
Gegner des Bundes zu ergreifen. Übrigens ist alles das mehr Nebensache.
England könnte uns nur nützen, wenn es uns durch Entsendung einer Hilfs¬
flotte in deutsche Gewässer und ins Mittelmeer in den Stand setzte, Truppen¬
teile, die zur Bewachung der deutschen, österreichischen und italienischen Küsten
zurückbehalten werden müssen, zum Kampfe gegen die Feinde in Polen und
jenseits der Vogesen zu verwenden. Die Entscheidung wird nicht durch Siege
oder Niederlagen zur See, sondern durch Landschlachten herbeigeführt werden,
und hierbei können wir mit guten Hoffnungen die Dinge an uns herankommen
lassen.
Trotz alledem wird natürlich der Krieg von den Staatsmännern des Drei¬
bundes so lange als irgend möglich vermieden werden; denn auch der entschiedenste
Sieg über beide Gegner könnte nicht Vorteile im Gefolge haben, welche die
unvermeidlichen Verluste an Menschenleben und Wohlstand aufwogen, die er
auch für uns bedeuten würde. Wir könnten Frankreich niederschmettern, daß
ihm die Lust zur „Revanche" auf ein Vierteljahrhundert und länger verginge, und
wir könnten ihm durch einen pekuniären Aderlaß größten Stils, sagen wir durch
eine Kriegssteuer von zehn oder fünfzehn Milliarden, für ebenso lange die Kraft
zu nehmen versuchen, die es bedürfte, wenn jene Lust sich wieder einstellte.
Aber seine Reproduktionskraft ist groß, fast wunderbar. Wir könnten ihm auch
kein Land mehr abschneiden, weil darauf Franzosen wohnen, und wir davon
im deutschen Reiche nicht mehr brauchen können, als wir schon haben. Wir
können es nicht in drei oder vier Stücke zerschlagen, weil Europa das nicht
gestatten würde, und weil, falls es dies auch erlaubte, die Anziehungskraft von
Paris, des Mittelpunktes, die von dort nach der Peripherie gehende Aus¬
strahlung die getrennten Körperteile über kurz oder lang wieder zusammen¬
fügen würde. Aber Rußland! Nun, ihm könnte man den Weg nach Kon-
stantinopel verlegen, man könnte ihm, wie eine kürzlich erschienene Broschüre
von W. Eisenbart „Der nächste Krieg mit Nußland und seine politischen
Folgen" (Halle, Frickes Sortiment) vorschlägt, die baltischen Provinzen ab¬
nehmen und sie dem deutschen Reiche angliedern, mit dem sie einst in Verbin¬
dung gestanden haben. Aber auf wie lange wäre jener Weg zu verbauen, wenn man
nicht wenigstens den westlichen Teil der Balkanhalbinsel von der Türkei ab¬
löste und mit Österreich-Ungarn vereinigte, und wäre das so leicht zu bewerk¬
stelligen? Und die baltischen Länder? Niemand kann die Mißhandlung und
Vergewaltigung der dortigen deutschen Bevölkerung durch den unduldsamen
Tyrannengeist des russischen Pcinslawismus tiefer empfinden und schmerzlicher
beklagen als wir, niemand ihr lebhafter Befreiung von diesem Alp wünschen,
aber der Verfasser der Broschüre hat sich wohl nicht klar gemacht, was für
Ungeheuerlichkeiten er in aller Ruhe sagt, wenn er meint, diese werde nur
möglich und von Dauer sein, wenn zugleich Polen wieder selbständig gemacht
würde, und wenn er infolge dessen neben der Eroberung Esthlands, Livlands
und Kurlands für das deutsche Reich die Wiederherstellung eines polnischen
Reiches fordert, sofern wir Rußland besiegen.
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^MHK-sZ>
VWMalt fühlte sich sowohl Ricks wie Erik völlig heimisch in dem
gastfreien Hause des Konsuls, und schon nach wenigen Tagen
hatten sie sich vollständig in das äolos tar nlsnts eingelebt,
aus dem so recht eigentlich das Ferienleben besteht und das
man nur mit großer Anstrengung gegen die Eingriffe guter
Menschen zu schützen vermag; sie mußten alles, was sie an diplomatischen
Kräften besaßen, aufbieten, um den vielen langweiligen Abendgesellschaften,
großen Segelpartien, Sommerbällen und Dilettantenvorstellungcn zu entgehen,
die ununterbrochen ihren Frieden bedrohten. Sie wünschten oft, daß das Haus
des Konsuls auf einer einsamen Insel läge, und Robinson kann keinen größern
Schrecken empfunden haben, als er die Fußspuren der Wilden im Sande fand,
als sie, wenn sie fremde Paletots im Vorsaal entdeckten oder wenn unbekannte
Arbeitsbeutel sich auf dem runden Tische im Wohnzimmer blicken ließen. Sie
wollten weit lieber allein bleiben, deun sie waren ja, noch ehe die erste Woche
halb verstrichen war, beide in Fennimore verliebt. Nicht mit jenem reifen Ver¬
liebtsein, das sein Schicksal wissen will und muß, das sich darnach sehnt, zu be¬
sitzen, zu umfassen, sicher zu sein; das war es noch nicht, es war noch das
Dämmern der ersten Liebe, das wie ein wunderbarer Lenz in der Luft liegt
und mit einer Sehnsucht schwillt, die Wehmut ist, mit einer Unruhe, die leises,
Pochendes Glück bedeutet. Der Sinn ist so weich, so leicht bewegt, so bereit,
sich hinzugeben. Ein Schimmer über der See, ein Säuseln im Laube, ja nur
eine Blume, die sich entfaltet, das alles hat eine so eigne Macht erhalten.
Unbestimmtes, namenloses Hoffen taucht plötzlich auf und verbreitet seinen
Sonnenglanz über alles in der Welt, und dann plötzlich liegt wieder alles ohne
Sonne da, eine leise Zaghaftigkeit fährt gleich einer Wolke über den Glanz
hin und färbt die Funken der Hoffnung mit dem Grau ihres Kielwassers.
Das Herz so mutlos, zerschmelzend mutlos und ergeben in sein Schicksal, voll
Mitleid mit sich selbst, voll Zaghaftigkeit, die sich in stillen Klagen spiegelt
und in einem Seufzer erstirbt, der halb erheuchelt ist; und dann rauscht es
wieder zwischen den Rosen, das Traumland taucht aus dem Nebel auf mit
goldigem Schimmer über den weichen Buchenkronen, mit duftreicher Sommer¬
dämmerung unter dem Laube, das sich über den Pfaden wölbt, von denen
niemand weiß, wo sie enden.
Eines Abends nach der Theezeit waren sie alle im Wohnzimmer ver¬
sammelt. Von einem Aufenthalt im Garten oder im Freien konnte nicht die
Rede sein, denn es regnete in Strömen vom Himmel herab. Sie waren ans
Zimmer gefesselt, waren aber keineswegs unzufrieden damit; das Gefühl, so
zwischen den vier Wänden eingeschlossen zu sein, verbreitete die Gemütlichkeit
eines Winterabends über das Zimmer, und dann war der Regen so erwünscht,
alles schmachtete nach Wasser, und wenn es so recht gründlich herabströmte
und die schweren Tropfen an die Scheiben prasselten, so zauberte dieser Laut
schöne Bilder vor die Seele, üppig grünende Wiesen und erquickte Laub¬
massen, und bald sagte der eine, bald der andre leise vor sich hin: Wie es
doch regnet! und dabei sah man zu den Fenstern hinüber mit einem Gefühl
des Behagens und einem schwachen Funken des Genießens in halbbewußten
Einverständnis mit den Naturmächten da draußen.
Erik hatte seine Mandoline geholt, die er aus Italien mitgebracht hatte,
und hatte von Napoli gesungen und von leuchtenden Sternen, und jetzt saß
eine junge Dame, die zum Thee da war, am Klavier und begleitete sich selber:
Rio. Mg ora d1g.na bsrAkn, und fügte zu jeder Endung ein hinzu, damit es
recht schwedisch klänge.
Ricks, der nicht sonderlich musikalisch war, ließ sich von der Musik weich
melancholisch stimmen und fiel in Gedanken, bis Fennimore zu singen begann-
Das weckte ihn.
Jedoch nicht auf angenehme Weise; ihr Gesang erfüllte ihn mit Unruhe.
Sobald sie sich dem Klänge ihrer Stimme hingab, war sie nicht mehr das
kleine Provinzmädchen; wie ließ sie sich von diesen Tönen hinreißen, wie atmete
sie frei und rückhaltlos auf in ihnen, ja er hatte eine Empfindung, als würfe
sie alles Zartgefühl, alle Hüllen ab.
Ihm ward so heiß ums Herz, seine Schläfen pochten, er schlug die Augen
nieder. Sah es denn keiner von den andern, was er sah? Nein, sie sahen es
nicht. Sie war ja ganz außer sich, fort von Fjordby, weit fort von Fjordbyer
Poesie und Fjordbyer Gefühlen. Sie war in eine andre, kühnere Welt versetzt,
wo die Leidenschaft auf hohen Bergen üppig wucherte und ihre roten Blüten
dem Sturme preisgab.
War es vielleicht, weil er so wenig Verständnis für Musik besaß, daß er
desto mehr in ihren Gesang hineinlegte? Er konnte es nicht recht glauben,
aber er hoffte es, denn er liebte sie weit mehr so, wie sie sonst war. Wenn
sie mit ihrer Näharbeit dasaß und mit ihrer sanften, ruhigen Stimme sprach,
mit ihren klaren, treuen Augen aufblickte, so fühlte sich sein ganzes Wesen mit
der unwiderstehlichen Macht eines starken, stillen Heimwehs zu ihr hingezogen.
Er sehnte sich darnach, sich vor ihr zu demütigen, das Knie vor ihr zu beugen
und sie eine Heilige zu nennen. Stets empfand er eine so wunderbare Sehn¬
sucht nach ihr, nicht nur nach ihr, so wie sie jetzt war, sondern nach ihrer
Kindheit und nach all den Tagen, in denen er sie nicht gekannt hatte; und
wenn er mit ihr allein war, brachte er stets die Rede auf die Vergangenheit
und ließ sich von ihr erzählen, von ihren kleinen Leiden, ihren kleinen Ver-
irrungen, kleinen Eigentümlichkeiten, an denen ja jede Kindheit reich ist. Und
er lebte in diesen Erinnerungen, neigte sich ihnen zu mit unruhigem, eifer¬
süchtigen Schmachten, einem unbestimmten Verlangen, zu ergreifen, zu teilen,
eins zu werden mit diesen feinen, mattfarbigen Schatten eines Lebens, das zu
reiferen, reicheren Farben erglüht war. Aber nun auf einmal dieser Gesang,
der so stark war, der ihm so unerwartet kam, wie uns der Anblick eines un¬
begrenzten Horizonts bei der Biegung des Weges überraschen kann und uns
die lauschige Waldeinsamkeit, die bis dahin unsre ganze Welt gewesen ist, nur
als eine die Landschaft begrenzende Ecke erscheinen läßt; die kurzen, gekräuselten
Linien des Waldes werden klein und unbedeutend im Vergleich zu den gro߬
artigen Zügen der Höhen und der fernen Meere.
Ach, es war ja aber nur eine Fata Morgana gewesen, diese Landschaft,
nur eine Phantasterei, in die er sich unter dem Gesänge hineingelebt hatte,
denn jetzt sprach sie ja wieder, wie sie immer gesprochen hatte, war wieder so
schön, wieder ganz die alte Fennimore! Er hatte es ja auch auf hunderterlei
Weise erfahren, welch stilles Wasser sie war, ohne Sturm, ohne Wogen, den
blauen Himmel mit den Sternen wiederspiegelnd.
So liebte er Fennimore, so sah er sie, und so war sie auch nach und nach
in ihrem Benehmen gegen ihm. Nicht daß sie sich absichtlich verstellt hätte,
es lag in gewisser Weise sogar viel Wahres darin, und es war so natürlich,
daß sie, wenn jedes seiner Worte, jeder seiner Ausdrücke, jeder Traum und
Gedanke sich mit seinen Wünschen, Bitten und Huldigungen gerade an diese
Seite in ihr wandte, daß sie dann unwillkürlich ihr eignes Ich in das Gewand
kleidete, das er ihr gleichsam aufzwang. Wie konnte sie auch darüber wachen,
daß jeder Beliebige einen völlig richtigen Eindruck von ihr, so wie sie wirklich
war, erhielt, jetzt, wo doch alle ihre Sinne und Gedanken nur von dem einen
erfüllt waren, von Erik, dem einzigen, ihrem erkorenen Herrn, ihm, den sie mit
einer Leidenschaft liebte, die nicht ihrer eigentlichen Natur entsprach, mit einer
abgöttischen Verehrung, die sie selbst erschreckte. Sie hatte geglaubt, daß 5le
Liebe eine süße Würde sei, nicht so eine verzehrende Unruhe voller Furcht, De¬
mütigung und Zweifel. Unzählige male, wenn sie zu sehen meinte, daß sich
das Geständnis von Eriks Lippen losringen wollte, konnte sie ein Gefühl über¬
kommen, als sei es ihre Pflicht, ihre Hand auf seinen Mund zu legen, ihn
am Sprechen zu verhindern, sich selber ihm gegenüber anzuklagen, ihm zu sagen,
daß sie ihn betrüge, ihm zu sagen, wie unwürdig sie seiner Liebe sei, wie irdisch
klein, wie kindisch sie sei, so gar nicht edel, nein, so elend und gering, so alltäglich
häßlich. Sie fühlte sich so falsch unter seinem bewundernden Blick, so berechnend,
wenn sie ihm nicht aus dem Wege ging, so verbrecherisch, wenn sie es nicht übers
Herz bringen konnte, Gott in ihrem Abendgebet zu bitten, daß Erik seinen Sinn
von ihr wende, auf daß eitel Licht über seinem Schicksal ruhen möge und Hoheit
und Herrlichkeit; denn sie hätte ihn ja hinabgezogen durch ihre erdgeborne Liebe.
Es geschah fast mit Widerstreben, daß Erik sie liebte. Sein Ideal
war immer vornehm gewesen, groß und stolz, mit leiser Schwermut auf den
bleichen Zügen und tempelkühler Luft in den strengen Falten des Gewandes.
Aber Fennimores Liebreiz hatte es ihm angethan. Er konnte ihrer Schönheit
nicht widerstehen. Es lag so eine frische, unbewußte Sinnlichkeit über ihrer
ganzen Erscheinung, wenn sie ging, erzählte ihr Gang flüsternd von ihrem Körper,
es lag eine Blöße über ihren Bewegungen, eine träumerische Beredsamkeit
über ihrer Ruhe, wogegen sie nichts machen konnte, wie es auch nicht in ihrer
Macht gestanden hätte, es zu verbergen oder zum Schweigen zu bringen, wenn
sie die leiseste Ahnung davon gehabt hätte. Niemand sah das besser als Erik,
und er wußte nur zu gut, einen wie großen Anteil ihre leibliche Schönheit an
seiner Neigung hatte; darum kämpfte er dagegen an, denn es lebte ein hohes
schwärmerisches Bild von der Liebe in seiner Seele, ein Bild, das nicht Poesie und
Überlieferung allein geschaffen hatten, sondern das seinen Ursprung einer tiefem
Naturanlage verdankte, als die war, welche für gewöhnlich in seinem Wesen zum
Ausdruck kam. Woher dies Bild auch stammen mochte, es mußte das Feld räumen.
Noch hatte er Fenuimore seine Liebe nicht gestanden, da geschah es aber,
daß der Schooner Vereudt Claudy ankam und sich draußen auf der Reede vor
Anker legte. Er sollte weiter hinauf an der Küste gelöscht werden, darum kam
er nicht in den Hafen, und da der Konsul sehr stolz auf dies Schiff war und
es seinen Gästen gern zeigen wollte, so ruderte man einmal gegen Abend hinaus,
um am Bord den Thee einzunehmen.
Das Wetter war herrlich, vollkommen windstill, und alle waren in der
heitersten Laune. Die Zeit verstrich auch aufs angenehmste. Man trank eng¬
lischen Porter, knabberte an englischen Biskuits, die so groß waren wie Monde,
und aß geröstete Makrelen, die auf der Fahrt durch die Nordsee gefangen waren.
Man pumpte mit der Schiffspumpe, bis sie schäumte, spielte mit dem Kompaß,
zog mit den großen Blecheimern Wasser aus den Behältern herauf, und lauschte
dem Steuermann, der auf einer achteckige« Handharmonika spielte.
Es war schon ganz dunkel, als man sich zur Heimkehr anschickte. Man
ruderte in zwei Abteilungen zurück, Erik, Fennimore und einige von den ältern
Herrschaften in der Schiffsjolle, die übrigen im Boote des Konsuls. Das erste
Boot sollte vorausrudern, erst einen kleinen Abstecher machen und sich dann
langsam nach dem Lande wenden, während das andre geradeswegs heimrnderte.
Der Grund zu dieser Verabredung war der, daß man hören wollte, wie der
Gesang an einem so stillen Abende über das Wasser schallte. Darum saßen
Erik und Fennimore auf der hintersten Bank im ersten Boote; die Mandoline
hatten sie mitgenommen. Aber der Gesang wurde eine ganze Weile vergessen,
denn als man die Ruder auslegte, gewahrte man ein ungewöhnlich starkes
Meerleuchten, und das nahm sie alle völlig in Anspruch. Leise glitt das Boot
dahin, und die glanzlose, glatte Fläche erstrahlte in gleitenden Linien und Kreisen
in mildem, weißem Lichte, das eine helle Furche hinter dem Boote bildete und
nur da, wo sie am stärksten war, einen seinen, matten Schimmer, gleich dem
Rauche eines Lichtes, über die Umgebungen verbreitete. Weiß sprühte es unter
den Ruderschlägen auf und glitt von bannen in zitternden Ringen, die schwächer
und schwächer wurden, und in lichten Tropfen floß es von den Rudern herab
gleich einem Phosphorregen, der in der Luft erlosch, das Wasser aber Tropfen
auf Tropfen entzündete. Es war ganz still auf dem Wasser, nur der Takt
der Ruderschläge teilte das Schweigen in regelmäßigen Zwischenräumen ab.
Weich lag die graue Dämmerung über der stillen Tiefe, und das Boot ver¬
schwamm mit seinen Insassen zu einer dunkeln Einheit, von der sich im schwachen
Scheine des Meerleuchtens nur die fleißigen Ruder abhoben, hin und wieder
ein Tau, das über den Rand des Bootes hing, und die gebräunten Gesichter
der Matrosen. Niemand sprach. Fennimore kühlte ihre Hand im Wasser, und
sie und Erik saßen zurückgewendet da und starrten auf das Phosphornetz, das
lautlos hinter dem Boote herfloß und ihre Gedanken in seinem lichten Ge¬
webe fing.
Eine Aufforderung vom Lande her, doch endlich mit dem Gesänge zu be¬
ginnen, erweckte sie, und so sangen sie ein paar italienische Romanzen zu den
Tönen der Mandoline. Dann schwiegen sie abermals.
Endlich legten sie an der kleinen Landungsbrücke an, die sich vom Strand¬
garten ins Meer erstreckte. Das Boot des Konsuls lag leer an der Brücke,
die Gesellschaft hatte sich bereits ins Haus begeben. Die Tante und die andern
gingen auch hinauf, während Erik und Fennimore stehen blieben und dem Boote
nachblickten, das zum Schiffe zurückruderte. Die Gartenpforte oben fiel ins
Schloß, der Schall der Ruder wurde schwächer und schwächer, und die Be¬
wegung des Wassers an der Brücke erstarb. Dann fuhr ein leiser Windhauch
durch das dunkle Laub hinter ihnen, gleich einem Seufzer, der sich versteckt
hatte und der nun ganz leise die Blätter zerteilte und von dannen flog und
die beiden ganz allein zurückließ.
Genau in demselben Augenblicke wandten sie sich einander zu, fort von dem
Wasser. Er ergriff ihre Hand, zog sie langsam, wie fragend, an sich und küßte
sie dann. Fennimore! flüsterte er, und sie gingen durch den dunkeln Garten.
Du hast es schon lange gewußt, sagte er dann. Sie sagte: Ja. Dann
schritten sie weiter, und dann fiel die Gartenthür abermals ins Schloß.
Erik konnte nicht schlafen, als er endlich auf seinem Zimmer anlangte,
nachdem er noch Kaffee mit der Gesellschaft getrunken und sich von den Fremden
an der Gartenthür verabschiedet hatte.
Es war so beklommen dadrinnen. Er öffnete die Fenster, dann warf er
sich aufs Sofa und horchte. Er wollte wieder hinaus.
Wie es im Hause schallte! Er hörte deutlich das Schlürfen der Morgen¬
schuhe des Konsuls, und jetzt öffnete Fran Claudy die Küchenthür, um nach¬
zusehen, ob das Feuer auch erloschen sei. Was hatte Ricks nur zu so später
Stunde noch in seinem Koffer zu suchen? Horch! was war das? — Eine
Maus hinter der Vertäfelung! — Jetzt ging jemand auf Socken über die Diele.
— Jetzt gingen da zwei! — Endlich! Er öffnete die Thür zu dem unbewohnten
Fremdenzimmer, das hinter dem seinen lag, und horchte. Dann öffnete er vor¬
sichtig das Fenster und schwang sich über das Fensterbrett hinaus in den Hof.
Durch die Rollkammer konnte er in den Strandgarten gelangen. Wenn ihn
jemand sähe, wollte er sagen, er habe unten an der Brücke die Mandoline ver¬
gessen und wolle sie holen, da der Thau ihr schaden könne. Deswegen hatte
er sie auf dem Rücken.
Der Garten war jetzt Heller, es wehte ein wenig, und ein schwacher Mond¬
schein spannte einen zitternden Silberstreifen von der Landungsbrücke bis zu
dem Schooner aus.
Erik ging hinaus auf die Steinmauer, die den Garten schützte und die sich
von dort in scharfen Winkeln um einen großen, gebannten Platz herum und
bis ans äußerste Ende der Hafenmaucr erstreckte. Den ganzen Weg balancirte
er auf den unbequemen, großen, schrägen Steinen entlang.
Ganz erschöpft gelangte er an die Spitze der Mole und setzte sich dort
auf eine Bank.
Hoch über seinem Haupte schaukelte die rote Signallaterne des Hafens leise
mit einem seufzenden Laut, und die Flaggenleine schlug sanft gegen die Stange.
Der Mond war ein wenig klarer geworden, doch nicht viel, er warf ein
vorsichtiges, grauweißes Licht über die stillen Fahrzeuge im Hafen und über den
Wirrwarr von viereckigen Dächern und weißen, hohläugigen Giebeln der Stadt;
und dahinter, alles andre überragend, erhob sich hell und ruhig der Kirchturm.
Erik lehnte sich träumend zurück, und ein Meer von unendlicher Wonne
und namenlosem Jubel schwellte sein Herz und ließ ihn sich so reich, so voller
Macht und Lebenswärme fühlen. Es war ihm, als könne Fennimore jeden
Liebesgedanken hören, der aus seinem Glück hervorsproß, Ranke auf Ranke und
Blüte auf Blüte, und er stand auf, fuhr schnell über die Mandoline hin und
sang triumphirend der schlummernden Stadt zu:
Wach liegt da droben mein Mädchen,,
Sie lauscht wohl auf mein Lied!
Wieder und wieder sang er die Strophen des alten Volksliedes, wie um seinem
übervollen Herzen Luft zu machen.
Allmählich wurde er ruhiger. Die Erinnerung an jene Stunden in frühern
Tagen, wo er sich am schwächsten gefühlt hatte, am elendsten, am verlassensten,
machte sich mit stillem, spannenden Schmerz geltend, der eine gewisse Aehnlich-
keit mit dem Gefühl hatte, das wir empfinden, wenn uns die ersten Thränen
in die Augen kommen; und er setzte sich auf die Bank, und während seine Hand
leise über die Saiten der Mandoline hinstrich, starrte er über des blaugrauen
Fjords weite Fläche hinaus, auf der sich die blitzende Mondbrücke ausspannte,
vorbei an dem dunkeln Schiff bis hinüber zu den feinen melancholischen Linien
der Morsöhöhen, die mit himmelblauem Land in einen Nebel von Weiß ge¬
zeichnet sind. Und die Erinnerungen mehrten sich, sie wurden süßer und süßer,
sie schwangen sich auf in lichtere Gefilde, gleichsam strahlend in einer Morgen¬
röte aus Rosen.
Wach liegt da droben mein Mädchen,
Sie lauscht wohl auf mein Lied.,
Er sang es leise vor sich hin. (Fortsetzung folgt.)
Ein Wörtlein vom Skat. Die außerordentliche, fast nicht mehr zu über¬
bietende Vervollkommnung unsrer Verkehrsmittel hat auch manches Unangenehme
im Gefolge, z. B. das Ausstellungsfieber, das zum Glück jetzt etwas zurück¬
zugehen scheint, den Sommerfrischenunfug, den neulich der Kladderadatsch so hübsch
geißelte, ferner die Kongreßseuche. Was alles jetzt Kongresse abhält, ist fast nicht
zu glauben! Mit das Tollste in dieser Beziehung war Wohl der Kegelkongreß in
Hamburg. Was für Leute das gewesen sein mögen, denen die „Kcgelei" als ein
ausreichendes gemeinsames Interesse erschien, um sie eine Reise nach Hamburg
machen und sich dort durch mehrtägige Lustbarkeiten hindurch essen und trinken
zu lassen (man könnte unbeschadet der Wahrheit wohl auch stärkere Ausdrücke
wählen), darüber gestattet uns schon der Wahlspruch ein Urteil, unter dem dieses
„nationale" Fest begangen wurde.
Im Aug und Arm gut Holz,
Das ist des Keglers Stolz!
Einen größern Blödsinn in zwölf Silben giebt es doch Wohl nicht.
Mit noch größerm Gepränge und erheblich anspruchsvoller trat in den letzten
Tagen der, wenn ich nicht irre, zweite deutsche Skatkongreß in Dresden auf. Daß
die Zeitungen in spaltenlangen Berichten mit dem lächerlichsten Ernste davon er¬
zählten, daß sie über die Beratungen einer allgemeinen deutscheu Skatordnung genau
in demselben Tone berichteten, wie etwa über den Entwurf eines bürgerlichen Gesetz¬
buches für das deutsche Reich, kann einen füglich nicht mehr wundern; denn
der Quark, den die Tagesblätter in ihrer Mehrheit heutzutage ihren Lesern unter
den Ueberschriften „Vermischtes," „Allerlei." „Vereinsleben" u. vergl. alltäglich vor¬
setzen, hat einen in dieser Beziehung schon an manches gewöhnt. Aber es thut
wahrlich not, daß auch einmal jemand, der von dieser Zeitkrankheit bis jetzt ver¬
schont geblieben ist, auftritt und darauf hinweist, welch eine unverantwortliche Zeit¬
vergeudung durch den Skat veranlaßt wird, und daß das Skatspiel geradezu zu
einer nationalen Gefahr zu werden droht. Für die Neigung zum Glücksspiele,
über die sich schon Tacitus bei den Deutschen wunderte — Äisam, auoä wirsrs,
sobrii inter ssria. exoresut —, ist die moderne Form der Skat.
Nach meiner Ueberzeugung trägt zur Nervosität der Männer der Skat oder
— in weiteren Umfange — das mit durch ihn veranlaßte gewohnheitsmäßige
stundenlange Kneipensitzen, der Aufenthalt in den meist unzureichend gelüfteten,
qualmerfüllten Zimmern, ganz abgesehen vom Biertrinken, mehr bei, als die Last
der Berufsarbeit.
Alle Stände sind von der Krankheit ergriffen: des Bauern, des Arbeiters
Sonntagsvergnügen (blauer Montag und gelegentlich andre Tage auch mit ein¬
geschlossen), was ists? der Skat. Junge Kaufleute haben kaum den letzten Bissen
ihrer Mittagsmahlzeit hinunter, so rufen sie den Kellner: Abräumen! Skatkartei
Die Zeit bis zum Anfang des Nachmittagsdienstes muß doch würdig ausgefüllt
werden. Die Soldaten in den Kasernen, die Offiziere in den Kasinos, womit Pflegen
sie ganz vorzugsweise die Kollegialität? mit dem Skat! Wenn in einem Bahn¬
wagen drei Leute zusammensitzen — nicht lange, so zieht der eine die Karte hervor,
und ein Plaid wird über die Kniee gebreitet — es wird ein Städchen gemacht.
Mir ist von einem Gymnasiallehrer glaubwürdig versichert worden, daß auf deu
Ausflügen, die Lehrer mit höhern Klassen unternehmen, bei einer längern Einkehr
die Erlaubnis des Skatspielens das sicherste Mittel sei, die Bürschchen davon ab¬
zuhalten, daß sie einen regelrechten Kommers in Szene setzen. Ja derselbe Lehrer
sagte mir, daß es nicht selten vorkomme, daß die Schüler gleich im Bahnwagen,
kaum daß er die Abfahrtsstation verlassen hat, Skat zu dreschen anfangen, wenn
der Lehrer nicht rechtzeitig dazwischen fährt und sie entschieden darauf aufmerksam
macht, daß dies Wohl kaum der Naturgenuß und die Reisefreude sei, um deret-
willen solche Schulreisen von den Behörden und Bahnverwaltungen so bereitwillig
unterstützt werden. Und dabei Pflege sich, so sagte man uns, herauszustellen, daß
fast niemand in der Klasse sei, der den Skat nicht kenne; die sogenannten Dummen
seien sogar meist die gewitzigtsten stäter. Da es nicht wohl auf einem Naturgesetze
beruhen kann, daß die Begabung für den Skat einen gewissen Grad von Dumm¬
heit voraussetzt, so ist wohl anzunehmen, daß diese sogenannten dummen Schüler
ihre geistige Kraft eben auf den Skat verwenden, die sie hochnötig zu andern
wichtigen Dingen brauchten. Die Skatfrage ist für die Verhandlungen von der
Ueberbürdung der Schuljugend wichtiger, als man denkt. Statistische Erhebungen
darüber, wie weit in die untern Klassen der Skat hinabreicht, würden staunens¬
werte Ergebnisse zu Tage fördern!
Ich kam einmal in ein thüringisches Walddorf, um den Pfarrer zu besuchen.
Ich war sehr staubig vom langen Wege, suchte darum erst das recht bescheidene
Wirtshaus ans, und wer sitzt, am Sonntag Nachmittag, bei prächtigstem Wetter,
in dem engen, niedrigen Wirtszimmer? Mein Freund, der Pfarrer, dazu der
Lehrer, der Förster und der Schultheiß — am städtisch! Der alte Standpunkt,
der in der Karte des Teufels Brevier sah, mag ja meinethalben nicht mehr zeit¬
gemäß sein. Aber daß der Pastor sich mit seinen Bauern zum Skate zusammen¬
setzt, das nenne ich doch unwürdig! Ja ich gehe noch weiter: es ist für jeden
Höhergebildcten, Pfarrer und Lehrer, Juristen und Arzt u. s. w., unwürdig, sich
öffentlich in der Kneipe hinzusetzen und Skat zu dreschen! Oder findet es etwa jemand
anständig und Passend, wenn ein Schuldirektor mit seinen drei Lehrern, wie ich es
selbst in einer kleinen Stadt gesehen habe, nach dem Nachmittagsunterrichte sogleich
in die Kneipe läuft und dort ohne Säumen zum „Skat selbst" übergeht, um dieser
edeln Beschäftigung dann bis zum Abend obzuliegen? Ein Bekannter sagte mir,
in großen Städten komme das alle Tage vor, und niemand finde darin etwas;
das ist denn aber doch Wohl nicht wahr!
Ein unsäglich lächerlicher Anblick war es immer für mich — ich habe es als
Student in Leipzig unzähligemale erlebt —, in einem Wirtshause an einem Tische
vier Männer stäten zu sehen und am benachbarten Tische ihre vier zugehörigen
Ehehälften in eifrigster Unterhaltung. Hier Klatschen mit der Karte, dort mit den
Zungen — vielleicht hat sich mittlerweile der Skat schon so weit entwickelt, daß die
Weiber auch ihrerseits mit den Karten klatschen; für möglich halte ich es.
Man sagt: Wovon soll man denn immer sprechen? An der Kannegießerei,
wie sie sonst auf den Bierbänken zu Hause war, ist doch nichts verloren. Gewiß!
aber man sollte eben auf andre Erholung bedacht sein und das leidige Kneipen
etwas beschränken! Man bilde sich doch nur nicht ein, daß das Skatspiel eine
geistige Erholung sei! Seht sie euch nur an, wie sie sich erhitzen, wie erbost sie
werden, wenn sie durchaus kein Spiel in die Hand bekommen, wie sie den Partner
anfahren, der ihrer Meinung nach einen Fehler gemacht hat! Das soll Spiel, das
soll Erholung sein?
Vor allem ist beklagenswert, daß der Skat jetzt schon in Kreisen beliebt und
angesehen nicht nur, sondern, wie es scheint, unentbehrlich geworden ist, die ihrer
ganzen Bildung und Lebensstellung nach ihre Zeit, auch die Erholungszeit, besser
anwenden könnten, sollten und müßten. Munkelt man doch sogar davon, daß der
Skat bereits an den Höfen eine nicht ganz nebensächliche Rolle unter den zum
Zeitvertreib der Kavaliere dienenden Beschäftigungen spiele.
Es wäre noch manches zu sagen: vom Bierskat der Studenten, von dem
Schaden, der dem Ehrgefühle geschieht durch den Geldskat (ich kannte einen Stu¬
denten, der erspielte sich seine tägliche, nicht unbeträchtliche Zeche) und so manchem
andern. Aber genug für diesmal! Ich bleibe dabei: der Skat in seiner heu¬
tigen Ausdehnung und in seinem unaufhörlichen Wachstum ist eine nationale Ge¬
fahr, und diejenigen, die sich von dem allgemeinen deutschen Skatvcreine mit Würden
und Aemtchen schmücken lassen und kein Bedenken tragen, damit zu prunken, sind
nicht bloß lächerliche Figuren — das versteht sich ja von selbst —, sondern sie
si
Eigentlich müßte man dieses Buch als Novelle bezeichnen, denn bei der schwülen
Liebesgeschichte, die darin erzählt wird, bilden die großen Welthändel nur den
Hintergrund, das Interesse des Lesers wird nur von den seltsamen „zwei Seelen"
gefesselt, die sich lieben, ohne einander fürs Leben angehören zu können. Der
Hintergrund ist allerdings, wie sich bei dem vielgewanderten Verfasser nachgerade
von selbst versteht, von ausgiebiger geographischer Weite geraten. Paris ist der
Hauptschauplatz der Handlung, aber wir werfen auch flüchtige Blicke nach Berlin,
erhalten ein meisterhaftes Kabinetbild kalifornischen Familienlebens, blicken in
das stille Leben auf einem norddeutschen Adelsgute, und sogar Italien taucht
im Verlauf der Geschichte vor uns auf. Die Hauptsache bleibt aber die traurige
Liebesgeschichte des preußischen Freiherrn Günther von Wildhagen mit der schönen
jungen Witwe Marquise Irene von BrS, einer echter Pariserin, wenn auch kor¬
sisches Blut in ihren Adern fließt. Beide sind typische Gestalten, Günther schlicht,
treuherzig, unverdorben, tapfer, empfindsam, wohlgebildet an Leib und Seele, ein
echter Deutscher, Irene dagegen maßlos stolz auf ihre Schönheit, ihre Macht,
ihren Reichtum, verschlossen, berechnend, Herrin ihrer selbst, gleichgiltig gegen alles,
was nicht sie persönlich betrifft, nicht aus Tugend, sondern aus Hochmut un¬
empfänglich für Schmeicheleien verliebter Hausfreunde. Und diese zwei so ganz
verschieden gearteten Seelen lieben einander! Sie wird angezogen von seiner deutscheu
Empfindsamkeit, Schlichtheit und soldatischen Erscheinung; er wird dämonisch von
ihrer Schönheit und Sprödigkeit gefesselt.
Im Winter 1866 hat er sie in ihrem Hotel de BrS zu Paris kennen lernen.
Als jedoch der deutsche Krieg ausbrach, ließ er sich selbstverständlich durch keine
ihrer Bitten abhalten, heim zu seiner Fahne zu eilen. Dieses Pflichtgefühl ver¬
stand sie gar nicht und zürnte dem Entfernten, auch dann noch, als er ihr nach
Monaten von seiner schweren Verwundung schrieb, von der er endlich glücklich genesen
war. Günther hielt durch ihr Schweigen das Verhältnis für gelöst. Im nächsten
Jahre machte er eine Vergnügungsreise um die Erde, um sich die Welt an¬
zuschauen, ehe er sich endgiltig ins Philistertum des verheirateten Landwirth, wie
es der Wunsch seines Vaters war, zurückzöge. Von dem, was Günther auf dieser
Rundfahrt gesehen hat, wird uns das Familien- und Gesellschaftsleben von San
Franzisko geschildert. Denn dort lernte Günther in einer wohlhabenden Kaufmanns¬
familie ein junges, eben flügge gewordenes schönes Mädchen kennen und lieben,
er verlobte sich sogar mit der zarten und naiven Florence, und im Oktober 1869
schiffte er sich nach Europa ein, um hier seine Hochzeit vorzubereiten. Zum Un¬
glück reiste er über Paris, um Einkäufe für seine Braut zu besorgen. Die wohl¬
bekannten Plätze und Straßen, die wiederbezogene alte Junggesellenwohnung weckten
Erinnerungen an Irene, die er auch an Florencens Seite nicht hatte vergessen
können: gerade der Kontrast der beiden weiblichen Wesen hielt in ihm jene Er¬
innerungen wach. Und nun will es der Zufall oder das Schicksal, daß ihn Irene
wiederfindet, als er nachdenklich in den Champs Elysees dasitzt, und daß sie ihn
wieder zu sich einlädt. Mehr als je beherrscht ihn nun die Leidenschaft für die
glutäugige Marquise, Günther verrät und verläßt seine kindliche Braut im fernen
Amerika, er schreibt ihr ab, da er in seiner deutschen Geradheit nicht das Doppel¬
spiel mit beiden Frauen zu spielen vermag. Aber er hat seine Ruhe verloren, die
Reue nagt in ihm, er schämt sich vor sich selbst und ist doch ohnmächtig, seiner
Leidenschaft Herr zu werden. Irene hat nach den ersten verliebten Wochen ihre
Tonart geändert; sie heuchelt Gleichgiltigkeit, sie quält ihren Geliebten durch Kälte,
denn sie will ihm nicht, wie er wünscht, als Gattin in den fernen, grauen Norden
folgen, sie kann Paris nicht entbehren. Der Deutsche und die Französin verstehen
einander nicht. Da bricht 1370 wieder der Krieg aus, und Günther ist in seiner
unmännlicher Schwäche aufrichtig froh, von außen gezwungen zu sein, sich der
Sklaverei im Hotel de Brö zu entreißen, nachdem er von selbst keine Kraft dazu
hätte finden können. Auch diesmal zürnt Irene — aber sie sehen sich nicht wieder.
Günther ist zwar heil an Gliedern, aber mit krankem Herzen aus dem Kriege
zurück auf sein väterliches Gut gekehrt: ein weltscheuer Junggeselle. Irene stirbt
wenige Jahre darauf mit der Sehnsucht nach dem leichtfertig gequälten Manne;
Florence stirbt aus Gram über seinen Verrat.
"
Man kaun diese „Zwei Seelen mit dem jüngsten Romane Spielhagens:
Uodlssso obliZs vergleichen, in beiden ist die Gegenüberstellung deutschen und fran¬
zösischen Nationalcharakters angestrebt. Spielhagen hat die Aufgabe in der ele¬
gischen Tonart des trauernden Idealisten behandelt. Lindau ist Realist: nicht mit
historisch-politischen Motiven, sondern mit den ursprünglichen Elementen des an¬
geborenen gegensätzlichen Nationalcharakters begründet er seine Darstellung der Un¬
möglichkeit eines Bündnisses zwischen einem Vollblutdeutschen und einer echten
Französin. Beide Romane sind Werke der nationalen Stimmung der Gegenwart.
Vom Standpunkte der Unterhaltungslektüre steht Lindaus spannende und stimmungs¬
volle Erzählung über Spielhagens Roman, wenn sie auch einen bescheideneren
Apparat in Bewegung setzt. Sie hat den Adel künstlerischer Vornehmheit für sich;
Lindau tritt nicht aus der epischen Objektivität heraus, und nur wer fein aufhorcht,
hört, was er mit seiner Geschichte eigentlich sagen will.
Dieses lcmgtitelige Buch ähnelt den sogenannten musikalischen Potpourris. Anek¬
doten und Auszüge aus einigen Memoirenwerkcn und Zeitungsfeuilletons sind bunt
aneinandergereiht und durch Sätze verbunden, die eben so banal sind, wie gewöhnlich
die musikalischen Phrasen zwischen Opern und Tanzmelodien. Falls der Verfasser
nicht eigentlich eine Verfasserin sein sollte, muß ihm bezeugt werden, daß er den
Stil der Durchschnittsschriftstellerinnen genau zu treffen versteht. Häufig sieht er
sich in der Lage, für eine „Abschweifung" um Entschuldigung zu bitten: augenschein¬
lich wird es ihm schwer, einen vorrätigen Ausschnitt unbenutzt zu lassen, wenn er
auch gar nicht zur Sache paßt. So wird uns „am Hofe der Bourbons" eine Ge¬
schichte des französischen Porzellans erzählt, aus der freilich niemand etwas lernen
wird; „am Hofe des großen Napoleon" werden Knabenbriefe aus Brienne, dann
Briefe von Blücher und Gneisenau vollständig abgedruckt; in dem Abschnitte „Frank¬
reich unter der dritten Republik" hat eine Beschreibung des Mausoleums der Familie
Thiers (einer „Kapelle in korinthischen Stil" mit rundbogigcin Portal!) und ein
Artikel über Lesscps' Aufenthalt in Berlin, sein Gespräch mit Bismarck u. dergl. in.
Platz gefunden. Das den Tagesblättern entlehnte scheint meistens unverändert
aufgenommen worden zu sein, und der fremde Ursprung andrer Mitteilungen
verrät sich durch das schönste Uebersetzerdeutsch: „Deun, sagte man sich, mag auch
China noch so reich sein an dieser Porzellänerde, warum sollte sie sich nicht auch
in Frankreich finden." — „Er gleicht in das Haus Mecklenburg" u. s. w. Deshalb
ist es fraglich, wer für die vielen Schnitzer und Lächerlichkeiten verantwortlich ge¬
macht werden muß. Lucian Bonaparte wird zum König von Holland gemacht,
Hebel mit Matthias Claudius verwechselt; „erst unter Ludwig XIV. bauten einige
Grandscigucurs Rokokvhotels"; Sebald Behams Tischplatte im Louvre „ist vielleicht
das als historisches Dokument wichtigste Md^, welches die deutsche Malerei her¬
vorgebracht hat, denn es zeigt uns nicht allein die Porträtfigürchen des Malers
und des Bestellers . . ., sondern auch noch sechzehn Wappenschilder." Zwei Druck¬
fehler sind berichtigt, eine Schaar viel wesentlicherer nicht. Zumal mit den Eigennamen
wird barbarisch umgesprungen, Turgot heißt Tourgot (mehrmals), Beham — Behar
(ebenso), Ecouen — Econen, Hcmnong — Haiivny u. s. w. Welchen Zweck solche
Bücher haben, wissen wir nicht, doch müssen sie wohl einem Bedürfnis entsprechen,
da von diesem schon eine zweite Auflage nötig geworden ist.
er Besuch, den unser Kaiser dem Hofe von Se. Petersburg ab¬
gestattet hat, hat, wie zu erwarten war, vom ersten bis zum
letzten Tage allenthalben reichlich Anlaß zu Vermutungen über
seine Natur und seinen Zweck gegeben, wobei die ausländische
Presse mitunter sehr seltsame Dinge zu Tage förderte. Wir
haben uns derartiger Gedankenspiele enthalten und sehen auch jetzt davon ab,
indem wir es für sicherer halten, zunächst uns den auf der Hand liegenden
Charakter des Ereignisses zu vergegenwärtigen. Der Besuch war eine Kund¬
gebung freundlicher und friedliebender Gesinnung, die das neue Oberhaupt der
Deutschen gegenüber einem benachbarten und zugleich verwandten Herrscher
ausdrückte, dessen Verhalten zur deutschen Politik in den letzten Jahren zu¬
weilen Zweifeln und Bedenken unterlegen hatte.
Statt des Versuches, weiter zu spüren und zu lüften, thun wir einen
Rückblick auf den Wechsel der Beziehungen Preußens und später des deutschen
Reiches zu Nußland von der Zeit an, wo die heilige Allianz die drei nordischen
Großmächte zum Widerstande gegen das Übergewicht Frankreichs und dessen
Herrschsucht und Eroberungstrieb vereinigte. Dieser Friedensbund zerging an
verschiedenen Ursachen, vorzüglich an dem Widerstreite der Interessen Rußlands
und Österreichs auf dem Gebiete der orientalischen Frage, und an dem Be¬
dürfnisse Deutschlands, sich einheitlich um Preußen zu gestalten, was das Aus¬
scheiden der Halbdeutscheu Großmacht Österreich aus dem deutschen Bunde er¬
forderte. Als Rest blieben lange Zeit gute Beziehungen zwischen Preußen und
Rußland, die nur vorübergehend, während der Revolution von 1848, den
Charakter einer gebieterischen Bevormundung und unbequemen Gönnerschaft
Rußlands Preußen gegenüber trugen, während des Krimkrieges aber und im
Verlaufe des polnischen Aufstandes von 1863 sich für Rußland sehr nützlich
erwiesen und anderseits, als König Wilhelm die Lösung der deutschen Frage,
erst Österreich, dann Frankreich gegenüber, in die Hand nahm, auch Preußen
zu gute kamen. Preußen fand noch während des Krieges mit Frankreich Ge¬
legenheit, sich für das russische Wohlwollen dankbar zu zeigen, indem es dem
Zarenreiche die 1856 Verlorne Freiheit des Schwarzen Meeres wiedergewinnen
half. Und nicht geringere Freundschaftsdienste leistete die deutsche Politik der
russischen während des letzten Türkenkrieges und bei Abschluß des Berliner
Friedens. Nußland hatte den Kongreß erstrebt und durch Vermittlung des
deutschen Reichskanzlers herbeigeführt. Der Kanzler bekämpfte die russischen
Anträge während der Verhandlungen niemals, unterstützte sie vielmehr in allen
Fällen nach Möglichkeit. Einigemale befand sich die Vertretung Deutschlands
ans dem Kongresse mit derjenigen Rußlands in der Minderheit, bei den meisten
Fragen aber, wo Meinungsverschiedenheit in Betreff russischer Wünsche eintrat,
gelang es dem deutschen Einflüsse, diesen Wünschen Befriedigung zu verschaffen.
Mitunter und zwar gerade bei den wichtigsten Meinungsverschiedenheiten über
Abtretung von Gebiet an Nußland hatte Fürst Bismarck hierbei erhebliche
Schwierigkeiten zu überwinden, und diese wurden dann mehrmals nur durch die
Erklärung beseitigt, daß Deutschland auf weitere Beteiligung am Kongresse
verzichten werde, wenn man die russischen Forderungen ablehne. Den berech¬
tigten Interessen der Russen war also von seiten Deutschlands jede Förderung
widerfahren, die sich mit denen der Österreicher vertrug, und der Kanzler hatte
dem durch den Krieg mit den Türken erschöpften alten Verbündeten einen Weg
zwischen Demütigung und einem schwereren Kampfe mit Österreich-Ungarn und
England geöffnet. Daß er nicht mehr thun, nicht alle Ansprüche der russischen
Politik vertreten und unterstützen konnte, weil er sich und Deutschland dadurch
mit dem übrigen Europa verfeindet hätte, war selbstverständlich. Ju den pan-
slawistischen Lagern zu Moskau und Se. Petersburg aber wollte man das nicht
verstehen. Man hatte hier in seiner Begehrlichkeit und seinem Hochmut nicht
Freundes-, sondern Vasallendienste verlangt.
Immer seit König Wilhelms Thronbesteigung war das politische Ideal
der preußischen Politik ein möglichst gutes Einvernehmen der drei östlichen
Großmächte gegenüber Frankreich gewesen, eine Rückkehr zu der Vereinigung
derselben, wie sie von 1815 bis zum Krimkriege bestanden hatte. Die Ereignisse
von 1854 hatten Österreich von Rußland, die von 1866 hatten es von Preußen
und Deutschland getrennt. Aber sofort nach der Bildung des neuen Deutsch¬
lands in seiner anfänglichen Gestalt wurden von Berlin Versuche zur Ver¬
wirklichung jenes Ideals unternommen, und kaum war der norddeutsche Bund
zum deutschen Reiche geworden, so wurde diese Arbeit der Versöhnung, die sich
bisher nur auf Österreich erstreckt und hier wenigstens ein leidliches Ergebnis
gehabt hatte, thatkräftig wieder begonnen und auch auf das Verhältnis Oster-
reichs zu Nußland ausgedehnt, das mit seinen Absichten auf die Türkei die
Interessen des Kaiserreiches an der Donau gefährdete, aber zunächst noch wie
dieses und Deutschland der Ruhe bedürfte. So kam es zu den Verhandlungen,
die zu dem Dreikaiserbunde von 1872 führten. Gortschakoff ging indes auf
diesen Gedanken Bismarcks unzweifelhaft nur mit dem Hintergedanken ein,
Deutschland werde sich, wenn die orientalischen Pläne der russischen Politik
einmal zur Ausführung gereift seien, zur Förderung derselben bestimmen lassen.
Das Reifen derselben hätte aber geraume Zeit währen können, wenn die rasche
Ausbreitung der panslawistischen Bestrebungen und die Notwendigkeit, dem
Krankheitsstoffe, der sich im russischen Volkskörper während der letzten Jahr¬
zehnte angesammelt hatte, Abfluß zu verschaffen, verbunden mit dem Bedürfnisse
Gortschakoffs, populär zu bleiben und der Welt als großer Stern am poli¬
tischen Firmamente zu erscheinen, den Gang der Dinge nicht beschleunigt hätte.
So zeigten sich schon 1875 im Nordwesten der europäischen Türkei die Vor¬
boten eines neuen russischen Angriffes auf die Pforte, und diese nahmen bald
einen so ernsten Charakter an, daß sich daraus ein Weltkrieg entwickeln konnte.
Zunächst hielt doch der Bund der Ostmächte vor der Gefahr zusammen, und
sie verständigten sich über ein Reformprogramm, nach welchem das Nebenein¬
anderbestehen der christlichen und der muhammedanischen Unterthanen des Sultans
durch rechtliche Gleichstellung des Christentums mit dem Islam ermöglicht werden
sollte. Im Mai 1876 verhandelten Bismarck, Gortschakoff und Andrassy zu
Berlin über die Angelegenheit, und es kam das Berliner Memoranduni zu
stände, welches ein gemeinsames Einwirken Enropas auf die Pforte, sowie
anderseits auf die Aufständischen in der Herzegowina und Bosnien vorschlug
und zu diesem Zwecke den andern drei Großmächten mitgeteilt wurde. Italien
und Frankreich schlössen sich an, England nicht, weil das Memorandum für den
Fall, daß sein Vorschlag ohne Ergebnis bliebe, gemeinsame Zwangsmaßregeln
der drei Ostmächte androhte. Die Bedeutung der Berliner Besprechungen fand
Andrassy zufolge seiner Erklärung in der österreichisch-ungarischen Reichsratsdele¬
gation „in der vollständigen Einigung der drei Kaisermächtc über die Ziele in
der Sache und über die nach Maßgabe der gegenwärtigen Verhältnisse anzu-
wendenden Mittel," sowie „in deren Vorhaben, sich auch ferner von Fall zu
Fall zu verständigen." Diese Einigung erhielt sich zunächst. Im Juni waren
die Kaiser von Deutschland und Rußland in Eins beisammen, und im Juli
trafen sich die Kaiser Alexander und Franz Josef in Reichstadt, wo sie be¬
schlossen, unter den gegenwärtigen Umständen nicht zu interveuiren und nur,
wenn es andre Verhältnisse erforderten und ein konkreter Fall vorläge, mit den
übrigen christlichen Mächten vertraulich sich über weiteres zu vereinigen. Jene
andern Verhältnisse traten mit der greuelvollen Unterdrückung des bulgarischen
Aufstandes durch türkische Irreguläre und mit der unglücklichen Wendung, die
der Krieg der Serben mit der Pforte nahm, sowie damit ein, daß die Türkei
Zugeständnisse zur Verhütung weiterer Kämpfe auf der Balkanhalbinsel ver¬
weigerte, welche dem Zusammentritte einer Konferenz in Konstantinopel voraus¬
gehen sollten. Rußland begann jetzt zu rüsten, und am 31. Oktober 1876
überreichte sein Vertreter in Konstantinopel ein Ultimatum, das einen bedingungs¬
losen Waffenstillstand für die wiederholt geschlagenen Serben forderte. Bald
nachher äußerte Kaiser Alexander in Livadia gegen den englischen Botschafter,
die Pforte habe durch verschiedne Manöver die Versuche Europas zur Been¬
digung des Krieges und zur Sicherstellung des allgemeinen Friedens vereitelt,
und wenn die übrigen Mächte sich das gefallen lassen wollten, so vermöge er
das nicht mehr zu dulden. Zugleich verpfändete er sein Ehrenwort, daß eine
Erwerbung Konstantinopels ihm fern liege, und daß er, wenn eine Besetzung
Bulgariens nötig werden sollte, sie nicht länger dauern lassen werde, als bis
der Friede hergestellt und die Sicherheit der christlichen Bevölkerung erreicht
sei. Ein Beweis dafür sei der inzwischen von russischer Seite in London ge¬
machte Vorschlag, Nußland solle Bulgarien und Österreich Bosnien und die
Herzegowina besetzen. Schließlich faßte der Kaiser seine Forderungen in fol¬
gende Punkte zusammen: Waffenstillstand, sofortiger Zusammentritt einer Kon¬
ferenz zur Einführung von Reformen in den betreffenden türkischen Provinzen
und Bürgschaften der Pforte für Durchführung derselben. Alles das paßt,
wie man sieht, sehr wohl in den Rahmen des Dreikaiserbundes. Österreichs
Interesse war durch die Besetzung Bosniens gewahrt. Deutschland aber nahm
darin eine Stellung ein, die Bismarck im Reichstage folgendermaßen bezeichnete:
„Mein Bestreben und die mir von Sr. Majestät dem Kaiser gestellte Aufgabe
ist: im diplomatischen Verkehr dahin zu wirken, daß womöglich die guten Be¬
ziehungen, in denen wir zu den nächstbeteiligten Mächten stehen, ungetrübt aus
dieser Krisis hervorgehen. Diese Aufgabe könnte uns nur dadurch verdorben
und gestört werden, daß einer unsrer Freunde verlangte, unsre stärkere Freund¬
schaft zu ihm dadurch zu bethätigen, daß wir den andern Freund, der uns
ebenfalls nichts gethan hat, der im Gegenteil unser Freund bleiben will, feindlich
behandeln.. . . Jedenfalls wird unser Bestreben dahin gerichtet sein, in erster
Linie, daß wir uns den Frieden und die Freundschaft mit unsern bisherigen
Freunden bewahren; in zweiter Linie werden wir, soweit es durch freundschaft¬
liche, von allen Seiten bereitwillig aufgenommene Vermittelung möglich ist,
unter absolutem Ausschluß aber jeder drohenden Haltung von unsrer Seite,
uns bestreben, den Frieden unter den europäischen Mächten nach Möglichkeit
zu erhalten." Dieser Politik blieb der Kanzler während des Krieges der Russen
auf der Balkanhalbinsel treu, und er beobachtete sie auch während der Berliner
Friedensverhandlungen. Die Pcmslawisten aber und, von ihnen angesteckt, die
russische öffentliche Meinung überhaupt waren damit nicht zufrieden, und in der
Folge schien sich auch innerhalb der Regierungskrise eine Stimmung ausge¬
bildet und festgesetzt zu haben, der der „Weßtnik Jewropa." die verständigste
und maßvollste aller Monatsschriften Rußlands, schon bei Besprechung des
Berliner Friedensvertrages mit den Worten Ausdruck gegeben hatte: „Das
Dreikaiserbündnis besteht nicht mehr, und das entspricht vollständig unsrer
Meinung, nach welcher Rußland im Einvernehmen mit Deutschland und
Österreich eine ihm wünschenswerte Lösung der orientalischen Frage überhaupt
nicht erreichen kann. Der eine von den Teilnehmern des Dreibundes hat
nicht alles, was er für Nußland zu thun vermocht hätte, gethan, der andre
hat gegen Nußland gearbeitet, soviel er imstande war. Die daraus für
unsre zukünftige Politik zu ziehende Schlußfolgerung ist außerordentlich ein¬
fach: wir müssen entweder auf die Lösung jener Frage überhaupt verzichten
oder für sie andre Verbindungen ins Auge fassen." Andre russische Pre߬
stimmen gingen noch viel weiter, und mit besondrer Heftigkeit begann fast die
gesamte moskowitische Journalistik mit Einschluß der halbamtlichen Blätter
Deutschland anzufallen, als es im Sommer 1879 die Ausführung der einzelnen
Bestimmungen des Berliner Vertrages galt, zu denen in erster Reihe der Abzug
des russischen Heeres vom türkischen Gebiete gehörte, und bei denen Rußland
ebenfalls die unbedingte Unterstützung von deutscher Seite vermißte, zu der es
berechtigt zu sein glaubte. Neben diesem Preßfeldzuge gingen auf diploma¬
tischem Wege Äußerungen erst in dringendem, dann in gebieterischen, zuletzt in
drohendem Tone her, und dazu gesellte sich eine sehr bedeutende Verstärkung
der russischen Armee, und in den westlichen Gouvernements wurden Ansamm¬
lungen von Truppen, besonders von Reitermassen, bemerkt, während man in
Berlin bestimmte Berichte hatte, wonach ein russischer General die maßgebenden
Kreise in Paris wegen eines Bündnisses mit Frankreich sondirt hatte. Öster¬
reich und Deutschland waren von dem sich zusammenziehenden Sturme gleich sehr
bedroht, und es erschien für beide Mächte hohe Zeit, sich dagegen zu decken
oder ihn überhaupt am Losbruche zu verhindern. Das geschah am besten durch
näheres Zusammentreten beider, und so entstand an Stelle des zergangener
Dreikaiserbundes, in welchem Deutschland und Rußland sich näher gestanden
hatten als der dritten Macht, durch den deutschen Reichskanzler das durch
frühere Bemühungen desselben vorbereitete und allmählich gereifte österreichisch¬
deutsche Bündnis vom Spätsommer 1879. Dieses blieb bis heute in unge¬
schwächter Kraft und Festigkeit, wurde durch Hinzutritt Italiens ergänzt und
erwies sich dem Übelwollen Rußlands gegenüber als das, was mit ihm in
erster Reihe beabsichtigt war, als Bürgschaft für den Frieden beider Kaiser¬
staaten und ganz Europas. Man machte in Petersburg vor ihm Halt und be¬
gann darauf einzulenken, so weit es sich vor der Stimmung im Lande thun
ließ. Der Tod Alexanders II. und der Regierungsantritt seines Sohnes än¬
derten zunächst hieran nichts. Auch Alexander HI. war im Grunde friedfertig
gesinnt, und sein Wille erwies sich stärker als der des Panslawismus, der Deutsch¬
land zu grollen und mit Frankreich zu liebäugeln fortfuhr. Er brachte von
der Danziger Zusammenkunft, die seinen Wunsch bezeugte, dem Berliner Hofe
wieder näherzutreten, Vertrauen zu Bismarcks Ehrlichkeit mit, und er besaß in
Gicrs einen Minister, der ihn verständig beriet. Trotzdem trübte sich in der
letzten Zeit das Verhältnis Rußlands zu Österreich und zu dessen deutschem
Bundesgenossen wieder, und es wiederholte sich im Westen Rußlands das Schau¬
spiel von 1879, es schien, als bereite sich hier auf polnischem Boden ein Krieg
zur Entscheidung der Balkanfrage vor. In Berlin aber hatte man niemals auf¬
gehört, das gute Verhältnis zu Nußland zurückzuwünschen und, soweit es die
Rücksicht auf die Würde Deutschlands und das Interesse des österreichischen
Bundesgenossen gestattete, zurückzuerstreben. Zwar „fürchten wir anßer Gott
niemand," aber auch ein voraussichtlich für uns siegreicher Krieg ist und bleibt
trotz all seines Ruhmes ein großes Unglück. Noch auf seinem Totenbette legte
der greise Kaiser dem Enkel, der bald seine Krone erben sollte, die Pflege der
Beziehungen Deutschlands zu Rußlands ans Herz, und wir werden nicht fehl¬
greifen, wenn wir die Kaiserfahrt nach Petersburg als Erfüllung dieses Wunsches
betrachten. Es war der erste Besuch an fremdem Hofe, den das neue Ober¬
haupt der Deutschen machte. An die Bundesgenossen wird später die Reihe
kommen können, sie werden darin keine Zurücksetzung erblicken, sie wissen, was
sie an uns haben, und sie brauchen nicht gewonnen zu werden.
Ob sich an den Besuch Verhandlungen geknüpft haben, wissen wir nicht.
Sie könnten nur Bulgarien betroffen haben und auf eine Vermittelung gerichtet
gewesen sein, die Rußlands wohlgegründete Ansprüche auf Einfluß in diesem
Lande mit Österreichs Interessen zu versöhnen versucht hätte. Eine solche Ver¬
söhnung ist nicht leicht, aber doch nicht unmöglich. Rußland hat seine For¬
derungen in dieser Richtung noch nicht ausgesprochen. Wir wissen nur, daß
es das Fürstentum nicht sich einverleiben will, daß es die Vereinigung Bul¬
gariens und Ostrumeliens nicht anerkennt, und daß es dort keinen Fürsten an
der Regierung zu sehen wünscht, der wie der Battenberger englische oder über¬
haupt russenfeindliche Interessen vertritt. Es wäre daher nicht undenkbar, daß
die deutsche Politik in der Sache eine russisch-österreichische Verständigung wo
nicht schon vermittelt, doch angebahnt hätte, die zu einem moäus vivsnäi führte,
welcher keinem von beiden Teilen Opfer an Interesse und Ansehen auferlegte.
Wäre das der Fall, so stünde einem Wiederaufleben des Dreikaiserbundes oder
vielmehr der Entstehung eines Vierbundes mit Einschluß Italiens wohl nichts im
Wege, und das gäbe eine Macht, die geradezu unwiderstehlich wäre, und vor
der Frankreich genötigt sein würde, endgiltig und rückhaltslos die vollendeten
Thatsachen anzuerkennen und auf die Rückeroberung der 1871 zu Gliedern des
deutschen Reiches gewordenen Provinzen zu verzichten. Die Sache wäre zu
schön, als daß wir sie zu hoffen wagten: Friede am Balkan und Friede am
Wasgau! Indes haben wir Deutschen in den letzten Jahrzehnten vieles ge¬
schehen sehen, was wir auch nicht hoffen zu dürfen meinten.
om Übergänge von der Metaphysik zur Physik — so, nur noch etwas
ausführlicher, lautet der Titel des nachgelassenen Werkes von Im-
manuel Kant, welches jetzt, populär-wissenschaftlich dargestellt von
Albrecht Krause, als stattlicher Band vor uns liegt.*) Man wird sich
erinnern, daß vor etwa vier Jahren, als Krause die Handschrift Kants
eben käuflich an sich gebracht hatte, in den Zeitungen viel Staub aufgewirbelt wurde,
und daß schließlich von Sr. Exzellenz dem Herrn Kuno Fischer eine ungewöhnlich
leidenschaftliche Philippika gegen Krause losgelassen wurde. Auf Fernerstehende
mußte die Sache schon damals mindestens den Eindruck machen, daß Krause
doch wohl nicht ganz Unrecht haben könne, denn eine ganz unbedeutende Kraft
würde schwerlich einen so vornehmen Mann zu einer solchen Berserkerwut auf¬
geregt haben, die sich geradezu in einem Versuche, den Gegner litterarisch und
moralisch totzumachen, offenbarte. Umso berechtigter war aber die allgemeine
Erwartung, daß man endlich einmal erführe, was es denn in Wahrheit mit
der lange verloren geglaubten und nun wiedergefundenen Handschrift auf sich
habe, die Kant selbst bei Lebzeiten als sein Hauptwerk und den Schlußstein
seines ganzen Systems bezeichnet hatte. Zwar lagen schon seit 1882 eine
Reihe von Bruchstücken durch den Bibliothekar Dr. Neicke in Königsberg, in
der „Altpreußischen Monatsschrift" veröffentlicht, zu jedermanns Einsicht vor.
Aber gerade die unzusammenhängende Form dieser Veröffentlichungen aus der
Handschrift machte das eingehende Studium derselben so schwierig, daß sich bei
weitem die Mehrzahl der eigentlichen Philosophen von Fach vollständig ab¬
lehnend dagegen verhielt, zumal da diejenigen, die sich am meisten für berufene
Kantkenner und -Ausleger hielten, mit Emphase wiederholten, daß der alte
Königsberg?! Weise in seinen letzten Lebensjahren fast ganz stumpfsinnig ge¬
wesen sei und nichts mehr habe leisten können; auch sei ja sein System so voll-
endet und in sich abgeschlossen, daß man gar keine Lücke darin finden könne,
die etwa noch auszufüllen wäre. Krause allein war andrer Ansicht, und das
wurde der Grund zu einem Streite, der schließlich in wilden Kampf ausartete.
Krause hatte schon lange vorher in mehreren Schriften behauptet, daß unser
ganzes Jahrhundert hindurch der wahre Kant in seinen Hauptlehren falsch auf¬
gefaßt und falsch dargestellt worden sei, »ud daß das der Hauptgrund sei,
warum in unsern Tagen die Philosophie in so tiefen Mißkredit geraten sei.
Solche Vorwürfe brachten dem Verfasser natürlich wenig Gunst bei den Fach¬
philosophen. Aber die Sache sollte sich noch schlimmer gestalten. Während
jene das neu ans Licht gezogene Werk Kants auf den Mahnruf ihrer höchsten
Autoritäten hin durchgängig für ein Produkt des Stumpfsinns hielten, be¬
hauptete Krause gerade im Gegenteil, es sei das tiefsinnigste und größte Werk,
das je von Kant geschrieben worden sei, freilich würde zu seinem richtigen Ver¬
ständnis erfordert, daß man sich gründlich frei mache von den Vorurteilen der
berühmten Ausleger Kants. Seine eigne, schon früher von ihm vertretene Auf¬
fassung Kants fand Krause in der Handschrift bestätigt.
Um kurz den Hauptpunkt anzudeuten, um den sich der Streit dreht, so
ist es die Lehre vom „Ding an sich" und dem, was wir Erscheinung zu nennen
haben. Kant hatte gesagt, daß wir ein „Ding an sich/' d. h. so, wie es ganz
unabhängig von den Formen unsrer Sinnlichkeit und unsers Verstandes sei,
niemals erkennen könnte». Denn alle unsre Erkenntnis der Welt hebt mit der
sinnlichen Wahrnehmung an. Diese wird uns aber nicht einfach von deu
Dingen überliefert, sondern sie wird von uus selbst gemacht gemäß den Kräften
und Formen, die wir dazu in unserm Geiste besitzen. Also sind die Dinge, die
nur wahrnehmen, keineswegs unabhängig von den transzendentalen Formen
unsers geistigen Vermögens, sie können daher nur Erscheinungen heißen, nicht
„Dinge an sich." Das Wirkliche in der Welt um uus ist im metaphysische»
Sinne nur Erscheinung für uns und kann mir als solche Gegenstand für
unsre Erfahrung werde», während „Dinge an sich" Wohl von uns gedacht, aber
nicht wahrgenommen und erfahren werden können. Darauf gründete Kant seine
Theorie der Erfahrung, die nach seiner Meinung vor allem den Naturwissen¬
schaften den größten Dienst leisten sollte, indem sie die Methode angab, wie
die Erkenntnisse derselben absolut sicher zu machen seien, sodaß sie nicht nur
auf Wahrscheinlichkeiten beruhen.
Man kennt ja nun im allgemeinen den Verlauf der Entwicklung unsrer
Philosophie in unserm Jahrhundert. Kein Geringerer als Fichte brachte in
die sestgefügten Gedankenreihen Kants die erste schwer wiegende Verwirrung.
Zwar wies Kant noch bei Lebzeiten den Idealismus Fichtes aufs schärfste
zurück und leugnete schlechterdings jede Gemeinschaft mit ihm. Aber die Welt
glaubte doch mehr an Fichte und bedauerte die Stumpfsinnigkeit des altmerdenden
Köuigsbcrgers, der nicht begreifen wollte, daß das große Fichtesche Ich das
Nichtich, d. h. die Welt, geschaffen habe. So erreichte der idealistische Schwärmer
wirklich, was er wollte. Man glaubte ihm, was er behauptete, daß er den
eigentlichen Sinn Kants besser verstanden habe, als dieser sich selbst, und das
Fichtesche System die folgerichtige Weiterentwicklung des Kantischen sei. Aber
nun war die reale Welt im Sinne der Philosophen in bloßen Schein aufgelöst.
Kant sollte diese Auflösung begonnen haben, da er das „Ding an sich" für un¬
erkennbar erklärt habe, und Erscheinung war im Sinne seiner Nachfolger nichts
als oberflächlicher Schein. Nun schien es den Gelehrten, als wäre uns das
Innere der Natur überhaupt verschlossen, als sollte uns durch die Philosophie
verboten werden, irgend etwas Festes, Wirkliches zu erkennen; nur die Ober¬
fläche der Dinge, ihr die Sinne täuschender Schein sollte uns zugänglich sein.
In diesem Sinne haben die berühmten Wortführer der Philosophie von Fichte,
Schelling und Hegel bis auf unsre Tage alle gelehrt. Weil Kant unsrer Er¬
kenntnis das Wirkliche in der Welt verschlossen habe, fühlten alle das Bedürfnis,
andre Wege zu suchen, um doch auf irgend eine Weise hinter das Geheimnis
zu kommen, und den eigentlichen Grund der Welt, das wahre „Ding an sich,"
zu erkennen. Anfänglich gaben sie ihm schönere, volltönendere Namen, wie das
Absolute, oder den Weltgeist, den Realgruud der Welt, den UrWillen, das Un¬
bewußte u. a. in., bis wir in neuester Zeit wieder als Ziel aller Zukunfts-
philosophie die Erkenntnis der Entwicklung des „Dinges an sich" haben an¬
preisen hören.
Selbstverständlich gab es für den ernsten und nüchternen Denker, der alle
Schwärmerei vermeiden wollte, keine Verbindung zwischen der Naturwissenschaft
und einer solchen bodenlosen Philosophie. Wenn gleichwohl von berühmten
Philosophieprofessoren Gewaltiges in Naturphilosophie geleistet wurde, so kann
man heutzutage nur darüber erstaunen, wie dergleichen unverständliche Phrasen
von den Zeitgenossen haben bewundert und für tiefsinnige Weisheit gehalten
werden können. Aber was war in Deutschland nicht alles möglich, so lange
wir ein unpolitisches und unpraktisches Volk waren! Alexander von Humboldt
hat sich bekanntlich mit der Philosophie seiner Zeitgenossen niemals beschäftigt,
weil er sie für die Erfahrungswissenschaften mit vollem Rechte für unfruchtbar
hielt. Nur über Kants Kritik der reinen Vernunft äußerte er gelegentlich, daß
er sie als eine gute Verstandesgymnastik schätze. Daß sie aber thatsächlich der
Naturwissenschaft unter die Arme greifen könne, dachte er nicht. Man kannte
sie ja bis auf unsre Tage von keinem andern Standpunkte als dem der be¬
rühmten Professorenphilosophie. Die Naturforscher wollten wirkliche Thatsachen
erfahren und freuten sich auf diesem Gebiete fortschreitender Erfolge. Dazu
schien keine Philosophie helfen zu können, sondern im Gegenteil, so wie sie sich
in Deutschland entwickelt hatte, schien sie nur als Hemmnis zu wirken, das die
Fortschritte der Erfahrung zurückhielt. Sobald der Nimbus Schellings und
Hegels zu erblassen begann, wandte sich die Naturwissenschaft von aller Philo-
fophie ab, in den Hörsälen der Physiker und Chemiker wie der Physiologen
wurde geradezu gewarnt vor der Beschäftigung mit philosophischen Studien;
man glaubte an die Stelle aller Metaphysik den englischen Empirismus nach
Baco und Hume setzen zu können, und selbst in der Berliner Akademie hörten
wir von berufenster Seite in einer Festrede die Ermahnung für die Natur-
wissenschaft aussprechen, sich jeder philosophischen Spekulation zu enthalten, weil
selbst bei demjenigen Philosophen, der noch am meisten von der Natmwissen-
schaft verstanden habe, bei Kant, die Spekulation völlig unfruchtbar geblieben sei.
Wenn so die deutsche Philosophie öffentlich fast dem Hasse und der Ver¬
achtung preisgegeben wurde, so war das Los der offiziellen Vertreter derselben
nicht gerade beneidenswert. Das Traurigste an diesem Verlaufe der Dinge
aber war und ist noch heute, daß infolge der bodenlosen Spekulation der so¬
genannten großen Idealisten fortwährend der Vorwurf gegen Kant erhoben
wurde und noch erhoben wird, daß er uns den Zugang zur Erkenntnis des
Wirklichen in der Natur verschlossen habe. Kant hatte es selbst schon erfahren,
welche Mißverständnisse aus seiner Kritik der reinen Vernunft entsprangen;
denn sehr bald nach dem Erscheinen des großen Werkes wurden schon dieselben
Vorwürfe gegen ihn laut. Das veranlaßte ihn zunächst zu mehreren kleinen
Gegenschriften und einigen Zusätzen in der zweiten Auflage seiner Kritik, dann
aber ging er daran, die Prinzipien der Erfahrung, die er gefunden hatte, auf
die Naturwissenschaft im weitesten Umfange anzuwenden, wodurch die Vorwürfe
seiner kurzsichtigen Gegner ein für allemal ins Nichts zurückgewiesen werden sollten.
Dieses große Werk hat er leider nicht mehr druckfertig vollenden könne», wenn
es auch dem Inhalt nach vollständig ausgearbeitet wurde. Es blieb verborgen,
bis im Jahre 1882 die ersten Bogen dnrch Rcicke veröffentlicht wurden. Jene
kleineren Abwehrversuche aber, die Kant selber veröffentlichte, brachten ihm bei
unsern großen Philosophen nur den Ruf ein, daß er sich selbst widersprochen
und aus Furcht, die reine Wahrheit vor den Menschen zu sagen, seine eignen
Ansichten teils verschwiegen, teils entstellt habe, bis er überhaupt vor Alters¬
schwäche nicht mehr zurechnungsfähig gewesen sei. Das ist nicht etwa von er¬
bitterten Gegnern, sondern von solchen Philosophen ausgesprochen, die sich, wie
Schopenhauer und Kuno Fischer, ganz besonders rühmen, seine Jünger und
Verehrer zu sein.
So sind denn die Aussichten, unter denen die Darstellung des nachge¬
lassenen Kantwerkes erscheint, vorläufig sehr ungünstig. Ganze Berge von
Vorurteilen und Mißverständnissen müssen überwunden werden, ehe das richtige
Verständnis gelingen kann. Die Naturforscher, denen es die größten Dienste
leisten will, werden sich schwer dazu entschließen, es zu lesen, weil sie in der
Regel nicht die geringste philosophische Vorbildung haben, und gar nicht
wissen, wie dringend nötig ihnen ein sicherer Leitfaden wäre, um sich aus dem
Chaos der Hypothesen, die sich jeder nach Belieben macht, herauszufinden.
Die Philosophen aber werden wahrscheinlich zum Teil sogar mit bösem Willen
der Sache gegenüber treten, weil sie fürchten, daß ihr eigner Nimbus dabei
sich verlieren könnte. Wie wenig wirksame Unterstützung der auch von mir
versuchten Erneuerung der echten Kantstudicn zu teil geworden ist, haben wir
reichlich erfahren. Aber wie es im Liede heißt, das rechte Burschenherz kann
nimmermehr erkalten, zumal wo es den Kampf für die Wahrheit gilt. Und
so will ich denn nochmals versuchen, die Aufmerksamkeit auf die Sache zu lenken,
indem ich kurz den Inhalt des Ganzen skizzire.
Da sich die Handschrift, wie man auch aus den Veröffentlichungen von
Ncicke (Altpreußische Monatsschrift Bd. XIX ff.) ersehen kann, durchaus in
ungeordnetem Zustande befindet, so hat es der Herausgeber für nötig gehalten,
den Inhalt des Ganzen dadurch übersichtlich zu machen, daß er auf der einen
Seite seine eigne populär-wissenschaftliche Darstellung und auf der andern da¬
neben fortlaufend nummerirte Belegstellen aus dem Original abdrucken ließ.
Gegen den Schluß hin verzichtete er an vielen Stellen auf die eigne Dar¬
stellung zu Gunsten der ursprünglichen Worte Kants. In dieser Form ist das
Ganze nicht leicht zu lesen, doch das darf man von einem tief philosophischen
Werke überhaupt nicht erwarten. Die Darstellung Krauses ist etwas oratorisch
in der Weise eines lebhaft Vortragenden gehalten, während der Kantische Text
immer den Eindruck ruhigster Überlegung macht, nur daß man an den man¬
cherlei Schreib- und Jnterpunktionsfehlern sieht, daß ihm die letzte Überar¬
beitung gefehlt hat. Das Aneinanderreihen und Hineindrängen vieler Begriffe
in einen Satz erinnert lebhaft an die frühern Arbeiten Kants über natur¬
wissenschaftliche und philosophische Gegenstände, so lange es ihm weniger auf
die Form der Darstellung als auf den Inhalt derselben ankam.
In der Vorrede setzt Kant auseinander, welche Aufgaben die Metaphysik
und welche die Physik zu lösen habe, und daß die Vernunft einen Übergang
von dem einen Gebiet zum andern fordere. Unter dem Namen Physik begreift
er die ganze Naturwissenschaft im weitesten Sinne, die Chemie und Physiologie
mit eingeschlossen. Sie sammelt Thatsachen in unbegrenzter Fülle, indem sie
von der sinnlichen Wahrnehmung ausgeht, darauf Beobachtungen anstellt, diese
dem Experiment unterwirft, um schließlich sichere Erfahrung zu gewinnen. Da
aber die verschiedenen Sinne, Gesicht, Gehör. Gefühl u. s. w., uns so verschiedene
Gebiete von Erscheinungen liefern, so gelingt es der empirischen Methode, der
Beobachtung allein nicht, zu einem einheitlichen, d. h. echt wissenschaftlichen
System der Erfahrung zu kommen. Aus einem Aggregat von unzähligen ver¬
schiedenen Thatsachen der Beobachtung kann niemals eine einheitliche Erfahrung
hervorgehen, wenn man nicht die Bedingungen der Erfahrung überhaupt in
Betracht zieht und diese mit den Thatsachen der Erfahrung in Verbindung setzt.
Nur so, d. h. in Zusammenhang mit der Metaphysik, kann die wissenschaftliche
Einheit der Erfahrung gefunden werden.
Nun hatte Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft die Metaphysik voll¬
ständig umgestaltet. Er hatte ein für allemal nachgewiesen, daß es thöricht
sei, als das Ziel der Untersuchung ein „Ding an sich" oder den letzten von unserm
eignen Geiste unabhängigen Grund der Welt hinzustellen. Wenn auch die Meta¬
physik eine Wissenschaft aus reinen Begriffen sein will und der Anschauung
entbehren zu können glaubt, so kann sie doch ihre Begriffe auf keine andre
Weise finden als auf Grund unsers eignen Bewußtseins, und als Probirstein
für die Richtigkeit ihrer Ergebnisse kann sie nichts andres als die Erfahrung
zu Hilfe ziehen, die auf Anschauung beruht und von der sinnlichen Wahrnehmung
anhebt. So hatte Kant als die erste unumgänglich notwendige Vorbedingung
für jede Metaphysik die Zergliederung des menschlichen Erkenntnisvermögens
hingestellt, und als unveräußerliche Bestandteile desselben die reinen Formen der
Anschauung, Zeit und Raum und die Funktionen des Denkens (Kategorien ge¬
nannt) nachgewiesen. Diese Formen und Kräfte oder Fähigkeiten, die a priori
dem menschlichen Geiste eigen sind, setzen uns allein in den Stand, nicht nur
ein Chaos ungeordneter Wahrnehmungen durch die Sinne aufzunehmen, sondern
bestimmte Gegenstände der Erfahrung zu erkennen. Da diese aber immer auf
Anschauung beruhen, so sind es nicht bloße Gedanken oder Phantasieprodukte
von uns (nicht Dinge an sich), sondern Gegenstände an sich, d. h. unabhängig
von der zufälligen Wahrnehmung eines Einzelnen, und für alle gleichmäßig er¬
kennbar, die einen gesunden Verstand haben. Ein Gegenstand der Erfahrung
ist kein bloßer Gedanke von uns, sondern von uns empfangen in den reinen
Formen der Sinnlichkeit, und durch Denken bestimmt als die zusammengefaßte
Einheit aller seiner Eigenschaften. Nur so ist es möglich, daß aus dem
Chaos verschiedner Thatsachen ein Kosmos, d. i. eine einheitlich geordnete Welt¬
anschauung wird.
Aus diesen grundlegenden Vorbedingungen für alle Metaphysik ergiebt sich
mit Notwendigkeit, daß die obersten Gesetze aller erfahrbaren Gegenstände ab¬
geleitet werden müssen aus den Gesetzen unsers eignen Anschauens und Denkens,
und wenn die Natur der Inbegriff aller Gegenstände möglicher Wahrnehmung
ist, so müssen die Naturgesetze den Gesetzen unsers Erkenntnisvermögens unter¬
worfen sein. Daher hatte Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft als
die obersten Grundsätze aller möglichen Erfahrung gefolgert: 1. Daß alle Er¬
scheinungen extensive Größen und daher den Gesetzen der Geometrie unterworfen
sein müssen; Atome können daher nie Gegenstände der Wahrnehmung sein.
2. Alle Erscheinungen haben einen Grad der Intensität und müssen deshalb
auch den Gesetzen der Arithmetik gehorchen; leere Räume können nie wahr¬
genommen werden. 3. Die Summe der Substanz in der Welt kann weder ver¬
mehrt noch vermindert werden. 4. Jede Veränderung in der Natur hat eine
Ursache, die ihr vorausgeht. 5. Alle Substanzen stehen in Wechselwirkung
untereinander. 6. Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung über-
einkommt, ist möglich. 7. Was mit der Empfindung zusammenhängt, ist wirklich.
8. Das Wahrgenommene, welches nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung
(besonders nach dem Gesetze von Ursache und Wirkung) bestimmt ist, ist notwendig.
Diese Grundsätze hatte Kant als unumstößlich sicher hingestellt, weil sie
aus der von ihm gefundenen Eigentümlichkeit unsers Erkenntnisvermögens ent¬
sprangen. Das war aber kein Grund für die Naturwissenschaft, sie anzuerkennen,
denn nach der allgemeinen Meinung sollte Kant dabei überhaupt nicht von wirk¬
lichen naturwissenschaftlichen Thatsachen, sondern nur von oberflächlichen Er¬
scheinungen geredet haben, die für die exakten Naturforscher wenig oder gar
kein Interesse hatten. Das Einzige, was man gelegentlich gern hörte und an¬
führte, war die aus den beiden ersten Grundsätzen entnommene Behauptung
Kants, daß eigentlich nur so viel echte Wissenschaft in der Naturkunde vor¬
handen sei, als Mathematik darin vorkomme. Im übrigen kehrte man sich nicht
an ihn und gründete die umfassendsten Hypothesen auf Atome und leere Räume,
deren Existenz doch niemals bewiesen werden konnte. Ja man ging in den
kantfeindlichen empiristischen Bestrebungen so weit, die Zeit und den Raum
als erfahrungsmäßig entwickelt anzusehen und Fragen aufzuwerfen, ob es nicht
andre Zeiten und Räume als unsre Anschauungsformen geben könne, oder ob
es nicht andre mathematische Lehrsätze geben könne als die unsern, oder ob es
nicht Körper geben könne, die nicht den Gesetzen der Mathematik unterworfen
seien. Diese sonderbaren Ausschweifungen der Phantasie, die wir auch noch in
unsern Tagen sich haben erneuern sehen, haben alle das Eigentümliche, daß die
Erfinder derselben keine Ahnung davon hatten, daß sie von etwas redeten, was
gar nicht in unsrer Welt vorkommen kann, und daher für die Wissenschaft unsrer
Welt absolut unfruchtbar sein mußte.
Allen diesen Verirrungen der Wissenschaft wird nun ein Riegel vorge¬
schoben, wenn Kant das Wesen der Materie nicht allein, wie in den metaphy¬
sischen Anfangsgründen von 1786, nach mathematischen, sondern auch nach
dynamischen Prinzipien, d. h. in Verbindung mit der Empfindung durch die
Sinne, behandelt. Das ist die Bedeutung des hinterlassenen Werkes: „Vom
Übergange von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur
Physik." Die Physik wird hier definirt als die Lehre von den bewegenden
Kräften, die der Materie eigen sind. Die Gegenstände der Physik sind der
Inbegriff aller Gegenstände möglicher Wahrnehmung. Da nun aber Wahr¬
nehmung nicht möglich ist ohne eine aktive Beteiligung unsers Bewußtseins, so
folgt daraus die Möglichkeit, aus dem System der Thätigkeiten unsers Bewußt¬
seins die Prinzipien zur Klassifikation und Spezifikation aller Gegenstände
der Wahrnehmung und daher der Physik zu finden. Die Unterordnung der
Fülle der Gegenstände der Physik unter die Systematik der Bedingungen der
Erfahrung überhaupt, das ist der Übergang von der Metaphysik zur Physik.
Die Bedingungen der Erfahrung enthalten die Weltgesetze, welchen sich alle er-
fahrbaren Gegenstände fügen müssen. Daher ist sicher nur eine Welt, ein
Raum, eine Zeit und eine Materie, weil es nur eine Form des Bewußtseins giebt.
Es folgt nun eine wunderbar tiefsinnige Untersuchung über die Erkennbar¬
keit und das Wesen der Materie. Alle Gegenstände in der Physik sind Ge¬
staltungen einer Materie; diese ist aber selbst nicht Gegenstand der Physik, weil
sie nicht einfach durch die Sinne wahrzunehmen ist, sondern nur ans den wahr¬
nehmbaren Thatsachen erschlossen werden kann. Die Physik beruht auf
Wahrnehmung und findet an der Grenze derselben etwas Nichtwahruchmbarcs,
sie macht daher Hypothesen über Atome und Imponderabilien, ohne nachweisen
zu können, was das Wesen derselben sei. Die Metaphysik beruht auf Denken
und findet eine» Gegenstand, der mehr ist als Gedanke — die Materie. Die
Materie existirt notwendig als Gegenstand der Wissenschaft vom Übergang ?c.
Als solcher ist sie die Einheit der Synthesis oder die zusammengefaßte Einheit
aller ihrer Eigenschaften. Diese Eigenschaften sind bewegende Kräfte, und diese
werden erfahren durch die eignen Kräfte des Subjekts. Wir können in unserm
Bewußtsein die Kraft wahrnehmen, die wir selbst ausüben, entweder um ein
Gewicht zu heben oder um einen Druck abzuwehren, d. i. um auzuzichea oder
abzustoßen, also existiren anziehende und abstoßende Kräfte ebenso gewiß wie
unser eignes Bewußtsein.
Kraft ist Ursache einer Bewegung; da man nun den Begriff einer Ursache
nicht sehen, sondern nur denken kann, so ist der Begriff der Kraft aus der
Physik allein, da sie auf Wahrnehmungen beruht, nicht abzuleiten, und ist daher
den Physikern von jeher verdächtig gewesen. Wenn sie auch vorgeben, das
Gesetz der Erhaltung der Kraft auf empirischem Wege gefunden oder mindestens
höchst wahrscheinlich gemacht zu haben, so hört man doch von folgerichtigen
Denkern die Ansicht verteidigen, daß es eigentlich nur das Gesetz der Erhaltung
der Bewegung genannt werden müsse, da die Existenz einer Kraft, zumal einer
in die Ferne wirkenden (wie die Gravitation), nicht zu beweisen sei, und nur
die Bewegung das einzige sei, was man der mathematischen Berechnung unter¬
werfen könne. Anders spricht Kant. Weil wir im Bewußtsein die eigne An¬
strengung als eine von uns selbst geleistete realtive Kraft wahrnehmen, welche
Ursache einer Bewegung ist, so existiren wirklich anziehende und abstoßende
Kräfte als Bewegungsursachen, denn nach dem oben angeführten Grundsätze aus
der Erkenntnistheorie (zweites Postulat des empirischen Denkens überhaupt) ist
dasjenige wirklich, was mit der Empfindung zusammenhängt.
Nun geht er aber weiter. Das Bewußtsein ist nicht immer vorhanden in
jedem Menschen, im Schlafenden z. B. nicht. Die Thätigkeiten des Bewußt¬
seins wie Wahrnehmen und Denken sind nicht transzendental. Diese Bezeichnung
kommt nur den Vorbedingungen des Bewußtseins im Subjekt zu. Diese reinen
Formen und Fähigkeiten, die erst das Anschauen und Denken möglich machen,
sind nicht wahrnehmbar, sondern nur erschlossen, voov^co«, nicht <x«too^ep«,
gedacht, nicht Erscheinung. Aber das Anschauen und Denken, die Thätigkeit
des transzendentalen Subjekts, diese sind <x«los/deo«, d. i. Erscheinung für den
innern Sinn. Wir unterscheiden nach Kant den innern Sinn vom äußern.
Ersterer ist die Empfänglichkeit für Erscheinungen, die nur in der Zeit ver¬
laufen, wie z. B. alle psychologischen Prozesse in uns, wogegen der äußere
Sinn uns befähigt, Dinge in Zeit und Raum, d. i. außer uns (außer dem
Subjekt), wahrzunehmen. Dazu gehören natürlich Gesicht, Gehör, Gefühl u. f. w.
Daß nun aber Erscheinungen des äußern Sinnes Erscheinungen des innern
Sinnes hervorrufen, ist nicht rätselhafter, als daß zwei Erscheinungen im Raume
einander bestimmen oder hervorrufen. Wenn eine Bewegung die andre hemmt
oder verstärkt oder erregt, so kann auch eine materielle Bewegung im Raume,
z. B. Erschütterung der Gehirnsubstcmz, Thätigkeiten geistiger Art hervorrufen,
denn diese sind auch Erscheinungen, und die Zeit ist für beide Arten der Thätig¬
keit die verbindende Form. Thatsache ist es jedenfalls, daß durch materielle
Bewegungen, wie alle Sinnesreize und die Erschütterungen der Nervensubstanz
es sind, unser Bewußtsein hervorgerufen und zum Anschauen und Denken erregt
wird. Daraus folgt mit Notwendigkeit die Existenz der Materie, welche durch
auf uns eindringende erregende Kräfte die reaktiven Kräfte unsers Bewußtseins
wachruft; denn ohne ein bewegtes Etwas ist eine Bewegung undenkbar. Für
den Physiker ist das Zentralorgan für alle Sinne (das Gehirn) als Organ
nachzuweisen, durch welches die Materie als etwas Existirendes bewiesen wird.
Für den Metaphysiker ist die Thatsache des Bewußtseins der Beweis für die
Existenz der Materie als erregender Ursache. (Schluß folgt.)
»griffe auf die Akademie, auf ihren Wert, ihre Zweckmäßigkeit,
ihre Leistungen, ihren Geschmack, ihre Autorität sind beinahe
, während der ganzen Dauer ihres zweihundcrtjührigen Bestehens
in Frankreich gemacht worden. Man kann sagen, die Entwicklung
der neuern französischen Litteratur ging fast ganz in der Form
des Kampfes des nachwachsenden Geschlechtes mit dem ältern, welches die vierzig
Stühle der Unsterblichen innehatte, vor sich. Und natürlich siegte die Jugend,
insofern sie sich gegen den Zopf, gegen die Beschränktheit, gegen die Verknöche¬
rung der Alten auflehnte, jedesmal; sie siegte, nicht bloß weil sie die Jugend,
sondern weil sie die fruchtbareren Grundsätze für sich hatte; und sie hatte gegen
die Akademie gekämpft, nicht weil es die Akademie, sondern weil es die alte un¬
fruchtbare war. Das Institut selbst anzugreifen, grundsätzlich anzugreifen, fiel
früher einem Franzosen nicht so leicht ein. Die Romantiker mit Viktor Hugo
an der Spitze hatten im zweiten und dritten Jahrzehnt unsers Jahrhunderts in
dieser Weise die Akademie — zugleich die Hüterin der wortarmen altklassischer
französischen Sprache — bekämpft, aber nur so lange, bis sie die Palmcnfräcke
selbst anlegen durften. Bis in die tiefsten Schichten des französischen Volkes,
das doch so viel auf äußere Ehrenzeichen hält, ist der Respekt vor der Akademie
im Laufe der Zeiten gedrungen. Wie jeder Rekrut den Marschallstab im Tor¬
nister zu haben wühut, so stand ein Stuhl bei den vierzig Unsterblichen jedem
französischen Dichter als höchstes Ziel litterarischen Ehrgeizes von Jugend auf
vor Augen.
Man kann nun über den Wert dieses Instituts im allgemeinen denken
wie man will; bei uns in Deutschland haben sich immer zwei Parteien, eine
dafür und eine dagegen, gebildet; zuletzt hat Du Bois-Reymond in Berlin den
Plan zur Gründung einer der ^.«zaäönüg trMyÄss ähnlichen deutscheu Anstalt
entworfen, und Wilhelm Scherer schloß sich ihm aus philologischen Gründen
mit Wärme an. Thatsächlich haben die Franzosen von ihrer nationalen Akademie
weitaus mehr Vorteile als Nachteile gehabt. Nicht bloß fand die Pflege der
französischen Sprache ihren staatlichen Schutz, was wir Deutschen, die wir noch
immer an der Zerfahrenheit unsrer Orthographie und einer traurigen Unwissen¬
heit und Hilflosigkeit in grammatischen und stilistischen Dingen leiden, besonders
zu schätzen wissen; sondern ihr Dasein hatte mich nicht genug zu beachtende
Vorteile für die Stellung der schönen Litteratur innerhalb der andern Künste
und Wissenschaften, die von der Nation gepflegt wurden. Wie lange ist es denn her,
daß der Dichter und Schriftsteller bei uns seine anerkannte gesellschaftliche Geltung
hat? Noch nicht ein Jahrhundert. In Frankreich war die Litteratur durch die
Akademie sozial zu dem ihr gebührenden Range erhoben; durch dieselbe so oft
angefeindete und doch mit allen Opfern aufrecht erhaltene Akademie blieb die
Litteratur eine Macht im Staate, selbst unter dem Despotismus Napoleons, der
alle „Ideologie" so haßte.
Daran muß man denken, wenn man Daudets ohne Zweifel glänzende Satire
auf die „Unsterblichen" beurteilen will, die sein neuester Roman, oder vielmehr
seine neueste Schilderung der inoours M-isiennös: I/Iinmortel (Paris, Lemerre,
1838) enthält. An beides muß man denken: an die litterarische Gattung, die
mit dem Untertitel des Buches bezeichnet wird, und an die geschichtlich denk¬
würdige Stellung der ^eaäöwiö trairyg,i86 im nationalen Leben der Franzosen.
Denn gerade hier, nämlich in dem Abstände zwischen dem Standpunkte, welchen
Daudet zur Welt, die er mit scharfen Augen beobachtet, einnimmt, und jenem
Standpunkte, von dem aus ein Institut wie die Akademie beurteilt werden soll
liegt der Angelpunkt des Gegensatzes zwischen Verfasser und Gegenstand.
Auch eine Akademie ist Menschenwerk und als solches mit manchen Mängeln
behaftet. Auch ein solches Institut kann in der Idee von aller Welt gutgeheißen
werden und thatsächlich, in seiner praktischen Wirksamkeit und seiner realen
Erscheinung, Tadel verdienen. Den einen Vorwurf, daß es der Bildung des
nationalen Geistes engherzig bestimmte Bahnen vorschreibe, widerlegt die Ge¬
schichte selbst. Der Bestand der Akademie hat die französische Litteratur durch¬
aus nicht daran gehindert, so mannichfaltig zu werden, wie sie in Wahrheit
ist; ein Moliere, ein Diderot, ein Montesquieu, ein I. I. Rousseau, ein Alfred
de Musset, ein Beranger und so viele andre Genien sind groß und berühmt
geworden, ohne je Mitglieder der Akademie gewesen zu sein. Daudet ist
zufällig unter ihrem Schutze groß und berühmt geworden. Erst seit dem
Preise, den sein „Jack" von der jetzt so boshaft angegriffenen Akademie erhalten
hat, ging Daudets Ruhm und Verbreitung über Frankreichs Grenzen hinaus.
Aber freilich sind die vierzig Stühle zuweilen auch im Besitze von Männern
gewesen, deren Unsterblichkeit nicht übers Grab hinaus dauerte, deren Werke in
den Kellerräumen der Antiquare und Staatsbibliotheken modernd liegen blieben.
Und ebenso konnte es nicht ausbleiben, daß eine Gesellschaft von vierzig Männern
sich als eine einheitliche Macht fühlte und diese nicht minder zu eignem Vor¬
teile als zu dem der Litteratur ausnutzte. Es wäre gegen die wohlbekannte
menschliche Schwäche ein Irrtum, anzunehmen, daß die Akademiker ihre aner¬
kannte Bedeutung in der geistigen Welt nicht auch in der materiellen des täg¬
lichen Lebens durchsetzen wollten, und so eröffnete sich eine Quelle der mannich-
faltigsten Mißklänge, Gegensätze, Kämpfe, Intriguen, Kleinlichkeiten, an die sich
ein satirischer Sittenmaler von der Art Daudets mit ingrimmigen Behagen
heften kann. Welch ein lächerliches Bild des Gegensatzes bietet schon der
Durchschnittsgelehrte, der auf dem Papiere oder im Hörsaal mutig wie ein
Achilles, persönlich aber, im Salon oder auch nur im Zwiegespräch oft ein¬
silbig, ja schüchtern, tappend, ungeschickt, in den jedem Handlungsgehilfen fest¬
anliegenden Umgangsformen gleichsam schlotternd erscheint! Und vollends wie¬
viel Satire fordern häufig die Eitelkeit, die Ruhmsucht, der Geiz, die Habsucht,
das Cliquentum, der Neid, die Eifersucht selbst von solchen Gelehrten heraus,
deren Leistungen für immer anerkannt sind, und die nicht befürchten müssen,
so leicht entthront zu werden! Da breitet sich ein unerschöpfliches Gebiet für
den Sittenschilderer aus.
Und darin liegts, an dieser Doppelseite der menschlichen Natur im all¬
gemeinen und der Gelehrtennatur im besondern, daß ein Buch wie die mozui8
pMiÄMuss von Daudet notwendig ungerecht werden muß, ungerecht, weil es
einseitig ist. Denn im Wesen dieser realistischen Kunst liegt es, daß sie von
allen geschichtlichen Bedingungen der sich ihr darbietenden sittlichen Erscheinungen
und gesellschaftlichen Zustände absieht und nur das als wirklich anerkennt, was
sie unmittelbar mit ihren Augen erfaßt. Und dieses Auge wieder ist nur ein-
geübt auf die Beobachtung der gewöhnlichen, die Salons und das Straßen¬
pflaster füllenden und betretenden Menschen. Ein solcher Realist versteht es
sehr gut, eine Aufsehen machende Schauspielerin, eine verliebte Herzogin, einen
geckenhaften Streber u. f. f. zu schildern, nicht aber diejenigen Menschen, deren
ganzes Dasein in stiller, innerlicher Geistesarbeit oder in verschwiegenen Seelen¬
leiden aufgeht. Glänzende Farben sieht der Realist, und die allein kann er
wiedergeben, also nur die Außenseiten. Von jenem zweiten Kosmos des Geistes¬
lebens, der sich, unabhängig von der Zeit, Geschlechter überdauernd, erhebt über
unser materielles Leben, von dem will er nichts wissen, wenn er ihn überhaupt
hat kennen lernen. Darum ist der Realist von Haus aus ironisch gestimmt
gegen alle jene wissenschaftliche Thätigkeit, die unmittelbar kein sicheres Ergebnis,
keine praktischen Erfolge bietet. Alle Philologie, alle Geschichtswissenschaft ver¬
achtet er im Stillen und lacht über die Schwärmer, die sich in entlegene Zeiten
vergraben, um Bücher zu schreiben, die in ganz Europa nur ein ganz, ganz
geringes Publikum finden werden. Denn er kennt andre litterarische Erfolge,
solche, die gleich in die Waffen gehen — jede andre Art von Erfolg erscheint
ihm lächerlich. Ist nun el» solcher Mann berufen, über eine wissenschaftliche
Akademie abzuurteilen? Nein. Er hat ja gar kein Organ für ihre Würdigung!
Er hält sich an die kleinen Äußerlichkeiten, er zerrt an dem weitfaltigen Mantel
der Akademie und glaubt schon in ihr Fleisch zu schneiden: er kennt eben ihr
Wesen nicht. So ist es mit Alphonse Daudets Satire bestellt.
Daudet stellt das ganze Treiben der Akademiker teils als lächerlich, teils
als gemein, teils als jämmerlich hin, das Ganze eine Weiberrvckwirtschaft.
Frauen vergeben die Würden und vergöttern dann, nach Art der Wilden, die
Götzen, die sie sich geschaffen haben. Die naive Jugend aus der Provinz, die
sich, nachdem sie sich rein idealistisch um die Gunst der Musen bemüht, nach
nationaler Sitte bestrebt hat, in die heiligen Hallen, unter die berühmte Kuppel
der Unsterblichen zu gelangen, muß sich die Füße wund laufen, muß Stunden,
Tage, Wochen lang antichambriren und intriguiren und buhlen und schmeicheln
bei den übrigen 39 stimmberechtigten Akademikern, wenn sie so eitel ist, einen
Stuhl erobern zu wollen. Alle diese Unsterblichen sind aber — soweit geht
Daudet in seinem Zorn zu behaupten — zumeist Nichtswisser, die alle zusammen
einem plumpen Dokumentenschwindel in leichtsinnigster Weise in die Falle gehen
können. Es sind Männer, die nur eine Sinekure in ihrer Würde sehen, aber
nicht die geringste Pflicht, irgend etwas zu leisten. Es sind faule Menschen,
welche selbst die kleine Arbeit scheuen, die Bücher der neuen Kandidaten um den
erledigten Platz zu lesen. Es ist eine Gesellschaft der gegen das wahre Talent
verschworenen Mittelmäßigkeit. Je weniger der Kandidat geleistet hat, umso
willkommener ist er ihnen. Es sind Scholastiker, die gar kein Verständnis für
das freie, frische Leben der Litteratur und der Kunst haben. Sie hassen sich
unter einander und sind nur einig darin, die „Akademie," einen Begriff, der wie
eine leibhafte Persönlichkeit unter ihnen weilt, nach außen hin vor der Blamage
zu bewahren. Komödianten sind sie, glücklich, wenn sie ihre grasgrünen Fräcke
bei prunkhaften Leichenfeiern dein Pöbel zeigen können. Das liebe Geld giebt
auch hier, wie überall, den Ausschlag bei der Wahl eines neuen Unsterblichen,
der ja ebenbürtig auftreten, gesellschaftlich repräsentiren können muß. Feil und
feig ist die ganze Gesellschaft, orlecmistisch unter der Republik, höfisch kotzen-
buckelnd unter der Demokratie. Einem Großfürsten zu Ehren halten sie Fest¬
sitzungen, einer Herzogin zuliebe machen sie einen Taugenichts „unsterblich."
Sie sind von einer unglaublichen Schmntzerei. Die sechs Franks, die jedes
Mitglied der Akademie nach einer alten Stiftung für die Teilnahme an einer
Sitzung empfängt, lassen sie sich um keinen Preis entgehen; im Fiaker fahren
sie vor, um sie einzukassiren, und streiten sich noch mit dem Kassirer um
zwei Franks herum, wenn sie sich verkürzt glauben. Dieser, der Kassirer,
der kennt sie am besten, der behandelt sie von oben herab — wie der
Kammerdiener, fügen wir hinzu, seinen Fürsten am besten nehmen zu können
glaubt.
So schwarz hat Daudet die Akademie gemalt. Kein einziger anständiger
Mensch sitzt demnach darin. Daß Gelehrte von dem Range eines Ernest Renan,
Claude Bernard, Paul Berl, Hippolyt Taine, daß Dichter wie Dumas, Paillero»,
Feuillee. liebenswürdige Naturen wie ein Labiche noch gegenwärtig oder doch im
letzten Jahrzehnt ihr angehörten, fällt für Daudet uicht ins Gewicht. Es ist gar
kein Zweifel, daß er sich auch hier, wie in seinen andern Sittenschilderungen, an
geschichtliche Wahrheit gehalten hat, daß die Einzelzüge derselben nachgebildet sind.
Die Geschichte mit dem Manuskriptenschwindel ist im Jahre 1367 thatsächlich
vorgefallen. Der Geometer Michel Chusles glaubte Briefe von Pascal an
Newton gefunden zu haben, wonach dem erster» die eigentliche Entdeckung der
Gravitationsgesetze hätte zugeschrieben werden müssen, und die gesamte Akademie
erkannte nicht sofort die Unechtheit der plump gefälschten Briefe, weil sie die
französische Eitelkeit verblendete. Und dennoch, wenn Daudets Charakteristik
der Akademiker zur Grundlage ihrer Beurteilung dienen sollte, so wäre es nnr
ein höchst ungerechtes Urteil, das über sie gefällt würde. Es ist ein von per¬
sönlicher Gehässigkeit erfülltes Zerrbild der Akademie, die viele der vorgeworfenen
Schwächen besitzen mag, ohne ihre Bedeutung für die Nation einzubüßen. Denn
diese Bedeutung liegt ganz anderswo, als Daudet meint, und er, dem sogar
die Vis xarisiMNö den bösen Lapsus nachwies, das Grab der Scaliger von
Verona nach Florenz verlegt zu haben, ist wohl nicht der Mann, sie zu wür¬
digen. Wohl aber ist sein Werk sehr dazu geeignet, das Ansehen der Akademie
in der Heimat wie im Auslande tief zu schädigen. Denn es enthält neben der
Satire eine sehr unterhaltende Lustspielhandlung, eine Fülle der köstlichsten
Pariser Typen aus der sogenannten guten Gesellschaft, drastische Situationen,
pikante Verwicklung und läßt den Leser nicht einen Augenblick aus der Spannung.
Die große Menge der Leser wird sich natürlich daran ergötzen und dem Ver¬
fasser auch dort Glauben schenken, wo er karikirt hat.
Der „Unsterbliche" im Mittelpunkte der Handlung, Mr. Leonard Astier-
Nehu, wird als ein Schwachkopf und Pantoffelheld erster Sorte dargestellt.
Nur durch seine Heirat mit der Tochter eines einflußreichen Akademikers, des
gegenwärtig mehr als achtzigjähriger Rehu, ist er in das Institut gekommen,
nachdem er bis dahin ein bescheidener Gymnasiallehrer in der Provinz gewesen
war. Er war dann zugleich in einem Ministerium angestellt und hat diese
Stellung durch eine unvorsichtige Äußerung gegen die Republik zu Gunsten des
Orleans verloren. Damit einen großen Teil der Einkünfte. Nun wartet er
auf den Tod des ständigen Sekretärs der Akademie: eine abscheuliche Erwartung,
die Daudet nicht wenig boshaft beleuchtet. Zum Unglück hat Leonard an dem
buckligen Buchbinder Fage einen Parasiten eigner Art gefunden. Dieser pumpt
ihn mit den gefälschten Briefen von Karl V. und Rabelais jämmerlich aus,
140 000 Franks hat er ihm schon herausgelockt und spät erst, nachdem Astier
die Sekretärstelle gewonnen hat, und die gesamte Akademie durch seine vermeint¬
liche Entdeckung bloßgestellt ist, wird der Betrug entdeckt. Die Gerichtsszene
mit dem rohen Gelächter des Publikums und der bissigen Ironie des Ver¬
teidigers ist eines der kostbarsten Kapitel des Buches. Astier aber wird auch
von andrer Seite fortwährend um Geld gepreßt, wogegen er sich nur mit haus¬
väterlicher Grobheit wahren kann. Sein Sohn Paul, der zu seinem tiefsten
Leid nicht Gelehrter, sondern Architekt geworden ist, ein flotter, leichtsinniger,
auf großem Fuße lebender, künstlerisch impotenter Streber, der die wenigen Er¬
folge nur der uneigennützigen Hilfe des Universalkünstlcrs Vedrine zu verdanken
hat, ist in ständiger Geldverlegenheit. Er wendet sich immer an die Mutter,
die ihm Geld giebt, so lange es überhaupt möglich ist, ja die sogar die kost¬
barsten Stücke ans der Autographensammlung ihres Gatten stiehlt, um dem
Jungen Geld zu schaffen. Dieser Diebstahl führt zur Entdeckung der Fälschungen.
Aber schließlich geht auch der Madame Astier der Faden aus, und da verlegen
sich Mutter und Sohn auf Heiratssachen. Sie will nämlich dadurch Geld ge¬
winnen, daß sie eine Ehe zwischen zwei ihr bekannten Leuten stiftet, wenn sie
auch dabei eine vertraute Freundin in gemeinster Weise verletzt; Paul will eine
ungeheuer reiche, junge und schöne Witwe erobern. Diese Witwe ist wieder ein
kostbares Original. Ihre Trauer ist maßlos und lächerlich überspannt. Sie
hat sich die Haare scheren lassen, geht nirgends hin, betet den ganzen Tag,
läuft täglich auf den ?örs 1a LKÄss, zerfließt in Thränen, das Gedeck ihres
Verstorbenen muß immer noch so auf den Tisch gebracht werden, als wenn er
mitäße, es soll überhaupt so sein, als wenn er wiederkäme, sein Hut, seine Hand¬
schuhe und sein Spazierstock liegen an derselben Stelle unberührt im Vorzimmer,
wo er sie hinzulegen pflegte, und doch ist die Wohnung düster wie ein Grab
gemacht. Um diese Fürstin Colette de Rosen bemühen sich Mutter und Sohn
Astier. Dem schmucken Paul gelingt es allmählich, sich ins Herz Colettcns
einzustehlen. Interessant ist dieses Wiederwachen der Lebenslust und des Liebc-
bedürfnisses in der jungen Witwe dargestellt. Paul ist ihr Architekt für das
Mausoleum des Betrauerten. Und schließlich geschieht es, daß er auf dem
Grabe des Gatten selbst die Witwe zum Geständnis ihrer Liebe bringt, ganz
nach dem Muster der Matrone von Ephesus. Inzwischen hat aber Madame
Astier Colettcns Auge auf den Grafen Athis gelenkt. Ohne von den Be¬
mühungen ihres Sohnes um die Gunst der Witwe etwas zu wissen, hat die
Mutter ungeschickterweise ihm das Spiel verdorben. Denn Colette, dem Leben
wiedergewonnen, will nicht durch eine Verbindung mit dem simpel bürgerlichen
Architekten den Fürstentitel verlieren, und obwohl sie Paul liebt, zieht sie vor,
Athis des Titels und seiner Stellung wegen zu heiraten. Es verschlägt nichts,
daß Athis einer der erbärmlichsten Gesellen ist und Nang, Geld, Stellung der
Herzogin Padovani zu verdanken hat, die ihn liebt und mit Sicherheit darauf
rechnet, daß er sie nach dem täglich erwarteten Tode ihres getrennt von ihr
lebenden Gatten heiraten werde. Auch diese Herzogin ist ein satirisches Original.
Sie ist nicht mehr jung, aber noch immer eine schöne Frau. Ihr Reichtum
schafft ihr Macht und Einfluß: sie herrscht auch über die Akademie. In ihrem
gastfreien Hause kommt die ganze Gesellschaft zusammen. Sie unterstützt Madame
Astier dadurch, daß sie ihr von Zeit zu Zeit einen neuen Hut oder ein ele¬
gantes Kleid schenkt, das diese sich selbst nicht gönnen darf. Und doch ist Frau
Astier so bodenlos perfid, aus Eigennutz ihr den Grafen Athis abspenstig zu
machen und mit Colette zu verbinden, denn sie erwartet ein fürstliches Ehe¬
vermittlungsgeschenk dafür. Als ihr der Streich gelungen ist, entdeckt sie zu
spät, daß sie auch den eignen Sohn getroffen hat. Paul in seiner Wut fordert
Athis, und die Ironie des Schicksals will es, daß Paul, der berühmte Fechter,
von dem Stümper schwer verwundet wird. Aber so viel Geistesgegenwart hat
Paul noch, vom Kampfplatze aus einen raffinirt verlogenen Zettel an die Her¬
zogin zu schreiben: er habe sie rächen wollen, und es sei mißlungen. Bei der
alten Koketten gewinnt er dadurch sein Spiel, und schließlich heiratet er sie mit
ihrem großen Vermögen, so viel auch der alte Leonard Astier dagegen wettern mag.
Um diese Haupthandlung reiht sich noch eine Menge episodischer Neben¬
figuren, die jede für sich interessant sind und der Wiedergabe wert wären. Doch
begnügen wir uns mit der Andeutung. Die große Herrschaft Daudets über
die Form steht außer Zweifel. Daher rührt es, daß er auf einem im Grunde
mäßigen Raume eine solche Menge von Bildern entfalten konnte. Daß sie alle
im Dienste nicht bloß des Pessimismus, sondern sogar der persönlichen Ge¬
hässigkeit stehen — denn man weiß ja, woher Daudets Zorn gegen die Aka¬
demie stammt —, das ist das Fatale an dem Buche. Es vergällt einem
ernsten Leser die Freude an dem glänzenden Kaleidoskop.
or mehr als einem halben Jahrhundert, in den letzten Monaten
des Jahres 1833, verfertigte der junge, zwanzigjährige Richard
Wagner in Würzburg, wo er seine theatralische Laufbahn als
schlecht bezahlter Chordirektor begann, den Text zu einer umfang-
I reichen, dreiaktigen Oper und machte sich alsbald daran, ihn „nach
den Eindrücken Beethovens, Webers und Marschners auf sich" auch in Musik
zu setzen. Nachdem die ersten Hoffnungen, sie auf die Bühne zu bringen, ge¬
scheitert waren, hatte sie der junge Dichter zurückgelegt und über den neuen
Zielen und Entwürfen wohl halb vergessen. Im Jahre 1866 schenkte er sie
dem König Ludwig II. von Baiern, der den Wunsch hegte, die künstlerische Ent¬
wicklung seines verehrten „Meisters" von ihren Anfängen an kennen zu lernen,
und aus dem geheimen Gewahrsam, in den dieser sie verschloß, kam sie endlich
nach dem Tode des unglücklichen Fürsten wieder ans Tageslicht und, infolge
eigentümlicher Verhältnisse, auch an das gefährlichere Licht der Bühne. Am
29. Juni 1888 hat das Werk — „Die Feen" betitelt — auf dem Münchner
Hoftheater seine erste Aufführung erlebt.
Es kann kein Zweifel sein, daß Richard Wagner über diese letzte Wendung
im Geschicke seines Erstlings nicht absonderlich erbaut wäre. Er, der selbst den
sorgfältig ausgeführten, reifern Werken seiner ersten Entwicklungsperiode, ob¬
wohl sie seinen Ruhm begründet hatten, später nur noch wenig Teilnahme ent¬
gegenbrachte, er, der in dem Wunsche, seine Stellung in der Kunstgeschichte nur
durch das seiner eigensten Art entsprossene „Musikdrama" bezeichnet zu sehen
die „Opern," die seinen Zusammenhang mit der frühern Kunstübung bekunden,
nach Möglichkeit hintansetzte, würde jedenfalls bei Lebzeiten sich mit allen ihm
zu Gebote stehenden Mitteln gegen die Aufführung dieser „Jugendsünde" ge¬
wehrt haben. Das weiß alle Welt, und die Aufführung dieses unreifen Erst¬
lingswerkes bleibt daher auf alle Fälle eine arge Rücksichtslosigkeit gegen den
„Meister," den man angeblich dadurch ehren wollte. Dieser Vorwurf trifft
aber nicht die Leitung des Münchner Hoftheaters, die durch eine mustergiltige
Aufführung und glanzvolle Ausstattung das Unrecht einigermaßen gesühnt hat,
sondern die Familie Wagner, insbesondre Frau Cosima Wagner und deren
Bayreuther Berater, die, lange bevor München Ansprüche auf das Werk erhob,
dem Theaterdirektor Angelo Neumann das Recht zur Aufführung der vom Kom-
ponisten so sorgsam verborgenen Jugendoper „verquautct" hatten. Das ist
schlimmer als Rücksichtslosigkeit, das ist Impietät. Man versuche nicht, diesen
Mangel an Ehrfurcht, der sich schon einmal in dem absonderlichen Geschäft,
das mit der L-aur-Symphonie aus dem Jahre 1832 getrieben wurde, deutlich
offenbarte, durch die Liebe für Wagners letztes Werk zu entschuldigen, das man
durchaus vor den profanen Bühnen zu bewahren und für Bayreuth „retten"
zu müssen geglaubt hat, deun es kaun doch nicht zweifelhaft sein, daß es für
einen Künstler besser und ehrender ist, wenn das nach seiner Meinung reifste,
als wenn das unreifste seiner Werke der Welt preisgegeben wird.
Die „Feen" aber sind ein durch und durch unreifes Werk, und man muß
sich immer und immer wieder gegenwärtig halten, daß fünfundfünfzig Jahre
seit der Abfassung dieser Oper verflossen sind und daß es ein zwanzigjähriger
Jüngling war, der damals damit seinen ersten dramatischen Versuch machte, sonst
ist es ganz unmöglich, über diese alte „Novität" nach Gebühr zu urteilen. Die
ganze, reiche nud glänzende Entwicklung der großen historischen Oper und
deren weniger erfreuliche Nachwehen, der langjährige Kampf um das „Kunst¬
werk der Zukunft," der Sieg und die geräuschvolle Herrschaft des neuern Musik¬
dramas, das alles, also auch Wagners eignes bedeutsames Wirken, muß man
zu vergessen suchen. Mau muß sich in die Geschmackswelt jener Zeit zurückver¬
setzen, wo auf der deutschen Operubühne der ewig trillernde Rossini die Nach¬
wirkungen der klassischen Oper lähmte und wo dem feinfühligen Weber der mit
gröbern Mitteln arbeitende Marschner, dem „Freischütz" und „Oberon" der
„Vampyr" gefolgt war, um in diesem Textbuch nicht gar zu vieles läppisch und
abgeschmackt und in der Musik nicht das meiste seicht oder unselbständig, ver¬
altet und langweilig zu finden.
Es ist also weniger ein Kunstgenuß als eine kunstgeschichtliche Merkwürdig¬
keit, was mit den „Feen" dem Zuhörer geboten wird, allein es ist eine Merkwürdig¬
keit von mehr als persönlichem Interesse, und jeder, der den Entwicklungsgang
eines Künstlers zu verfolge» vermag, wird sie fesselnd und belehrend finden. Die
„Feen" erweisen nämlich nicht nur den Zusammenhang Wagners mit den Werken
seiner Vorgänger und der Kunstübung seiner Zeit, sondern auch das frühzeitige Vor¬
handensein seiner Eigenart und die ununterbrochene Entwicklung seiner persönlichen
Gedanken- und Formenwelt von der Jugend bis ins Alter. Bis jetzt war „Rienzi,"
geschrieben in den Jahren 1838 bis 1840, die älteste Oper Wagners, die allge¬
meiner Kenntnisnahme zugänglich war, und nur mit Mühe vermochte man in
dem großen Spektakelstücke die Keime und ersten Ansätze jener eigentümlichen
Empfindungs- und Ausdrucksweise zu finden, die den „Fliegenden Holländer"
(1841 komponirt), „Tannhäuser" (1842 bis 184S) und „Lohengrin" (1846
bis 184?) kennzeichnen. Schöpfung und Wesen dieser Werke war schwer zu be¬
greifen, wenn man die große Oper als Ausgangspunkt, den „Rienzi" als den
ersten und wahren Ausdruck der künstlerischen Eigentümlichkeit Wagners faßte.
Die „Feen" haben uns auch über die „Frühzeit" des „Meisters" völlig aufge¬
klärt, und was er selbst in seinen Schriften wiederholt versichert, wird durch
sein Jugendwerk vollauf bestätigt: Beethoven und Weber, der Vollender der
Symphonie und der Schöpfer der deutschen, romantischen Oper, sind die großen
Vorbilder, die von ihnen ausgebildete Formensprache und Technik die feste
Grundlage seines künstlerischen Schaffens.
Wie in seinen spätern Werken, so tritt Wagner auch in seinem ersten
gleich als Dichter und Tonsetzer auf, zeigt sich aber, wie leicht begreiflich, sowohl
als Dramatiker wie als Musiker in höherm Maße von seinen Vorlagen ab¬
hängig als später. Die „Feen" sind nicht nur dem Stoffe nach, sondern zum
größten Teile auch in der dramatischen Anlage der burlesken Märchenkomödie
äouua serxentö (Die Frau als Schlange) des Carlo Gozzi nachgedichtet.
Die phantastischen Stücke dieses Venetianers, der durch Schillers Bearbeitung
seiner „Turandvt" (1802) schon einmal Einlaß auf der deutschen Bühne ge¬
funden hatte, scheinen den nachhaltigsten Einfluß auf die Einbildungskraft des
jungen Künstlers ausgeübt zu haben, denn selbst dort, wo er sich von der Vor¬
lage entfernt, um seinem Texte einen passenderen, namentlich theatralisch leichter
ausführbaren Schluß zu geben, wird seine Erfindung von der Erinnerung an
Zaubertheatermotive Gozzis geleitet. ^
Gozzis ?ig.ba. t-zatralö er^icorniog. (von 1762) zerfällt in drei Akte, mit denen
sich die drei Aufzüge der Wagnerschen Oper, was Aufbau und Szeneufolge betrifft,
im allgemeinen decken. Namentlich der erste, sehr unbeholfene Expositionsakt
ist mit schülerhafter Ängstlichkeit der tollen italienischen Komödie nachgearbeitet,
und wo sich hier und in den folgenden Akten Abweichungen vom Original
finden, da sind sie in der Regel weniger auf reifere dramaturgische Absichten
zurückzuführen als anf die Schwierigkeiten, die dem Bearbeiter aus der Weglassung
der zahlreichen für die Stegreifkomödianten berechneten possenhaften Jntermezzo-
szenen des Brighella, Truffaldino, Pantalone und Tartciglia erwuchsen. Die
wesentlichste Abänderung des jungen Textschreibers betrifft den Schluß, da der
Fluch des Gatten die unglückliche Fee nicht in eine Schlange, sondern nach dem
Vorgang in einem andern Stücke desselben Verfassers, im „Naben," zu Stein
verwandelt. Dagegen ist die Erhebung des Helden zum Bürger der Feenwelt
aus Anerkennung für die Kraft seiner Liebe ein echt Wagnerscher Zug, und auch
in den Namen, auf die der junge Librettist die Gozzischen Figuren umtaufte:
Ada (Cherestani), Arindal (Farruscad), Lora (Canzade), Günther (Pantalone),
Gernot (Truffaldino), Moralt u. s. w., wird man leicht den Sinn des Mannes
erkennen, der einst den germanischen Mythus auf die Bühne bringen sollte.
In Bezug auf die Herkunft dieser Namen ist es nicht ohne Interesse, daß
Wagner die der drei Hauptpersonen: Ada, Arindal und Lora offenbar aus
seinem allerersten, nicht über den Entwurf hinausgediehenen Opernplan „Die
Hochzeit" (März 1833) herübergenommen hat.
Die Oper beginnt, wie die Tragikomödie, im Feenreiche, wo uns Farzana
und Zemina (die einzigen Namen, die Wagner aus Gozzis Personenverzeichnis
beibehalten hat) mit dem Geschick ihrer Gefährtin Ada bekannt machen. In
heißer Liebe zu einem Sterblichen entbrannt, hat die Unselige freiwillig der
Unsterblichkeit entsagt und lebt bereits acht Jahre an der Seite des Geliebten.
Allein der Ausspruch des Feenkönigs droht ihrem Glücke ein nahes Verderbe».
Acht Jahr — so erzählt sie selbst später — war es Bcdingnis, dir zu ver¬
schweigen, wer ich sei,
Und dann den letzten Tag auf dich so viel
Der Qualen und der Schrecken aufzuhäufen,
Als dich verleiten könnte, nur zu fluchen.
Nur, wenn dein Herz standhaft aus Liebe sei,
Soll ich das Loos der Sterblichkeit erhalten,
Wenn nicht, so sollte ich unsterblich bleiben
Und dann noch mein Begehren dadurch büßen,
Daß ich auf hundert Jahr' in einen Stein verwandelt sei!
Schon hat das Verhängnis seinen Anfang genommen, denn Arindal hat die
verbotene Frage nach der Herkunft der Geliebten gethan, und zur Strafe ist
sie ihm sogleich entschwunden, ihn aber hat höhere Macht in eine wilde Einöde
entrückt. Hier finden ihn und seinen Knappen — aus dem Spaßmacher
Trnffaldino ist ein recht philisterhafter deutscher Ritter Gernot geworden —
die Abgesandten seiner vom Feinde hart bedrängten Schwester Lora, die nach
dein Tode des alten Königs in Abwesenheit des Thronerben Reich und Herr¬
schaft übernommen hat. Es hält natürlich schwer, den trostlosen, im Liebes¬
wahnsinn herumirrenden Arindal zur Heimfahrt zu bestimmen, und die Hilfe
eines Zauberers Groma, der die beiden Boten als Eremiten und als des alten
Königs Geist erscheinen läßt, soll dies veranschaulichen. Leider fällt dieser un¬
geschickt eingeführte Zauberspuk und seine Vereitelung durch Adas Macht auf
der Bühne so läppisch aus, daß man sich in München schon bei der vierten
Vorstellung entschloß, ihn wegzustreichen und dem König gegen alle Psychologie
das Scheiden leicht zu machen. Nachdem er kurz von den Gefahren seines
Reiches unterrichtet worden ist, verspricht nun Arindal, das vergebliche Suchen
nach seiner entschwundenen Gattin aufzugeben und in sein Land zurückzukehren.
Zuvor aber legt er sich noch zur Ruhe nieder, und da versetzt ihn denn während
des Schlummers Feenmacht wieder in das Reich der Unsterblichen, dem Er¬
wachenden steht wieder die geliebte Gattin zur Seite, und alle guten Vorsätze
wären vergessen, wenn nicht Ada selbst auf die Rückkehr des Königs dränge
und dem Scheidenden ihren baldigen Besuch wie die bevorstehende endgiltige
Entscheidung über ihr Schicksal verkündete.
Der zweite Akt spielt in Arindals Hauptstadt, bei Gozzi ist es Tiflis.
Vom Feinde hart bedrängt, sehen wir Bürger und Krieger in der Vorhalle des
Königspalastes Rat und Hilfe suchen. Da, in der höchsten Not, erscheint ein
Bote mit der Meldung, daß der König und mit ihm, nach dem Spruche des
Zauberers Groma, die Siegeszuversicht seinem Volke wiederkehrt. Allein nur
kurz ist die Freude des Wiedersehens. Arindal ist ob der Trennung von seiner
Ada trübsinnig geworden und verzichtet auf die Leitung des Kampfes. Während
der Bräutigam seiner Schwester Lora für ihn aufs Feld der Ehre zieht, naht
Ada, der es auferlegt ist, in dieser ernsten Stunde den Gatten den vom Feen¬
könig befohlenen schicksalsschweren Liebesproben zu unterziehen. Die erste be¬
steht darin, daß sie ihre und Arindals Kinder in einen feurigen Schlund wirft,
der sich auf ihren Wink geöffnet hat, die zweite, daß sie sich, als nun dem
jammernden Vater auch noch die Kunde von einer gänzlichen Niederlage im
Kampfe gebracht wird, als Verräterin und Anstifterin seines Unheiles zu er¬
kennen giebt. Arindal besteht die Probe nicht und verflucht, seinem Eide zu
Trotz, sein Weib. Nun folgt die Enthüllung; die Kinder werden unversehrt
zurückgebracht, des Königs Feldherr kehrt siegreich aus der Schlacht zurück,
Ada aber verkündet dem Meineidigen die schreckliche Folge seiner That: ihre
Verwandlung in Stein, und dann versinkt sie nnter Blitz und Donner.
Der dritte Aufzug ist mit Ausnahme der ersten zwei Szenen, die Arindals
Wahnsinn und seines Volkes Trauer um ihn schildern, ganz den Prüfungen ge¬
widmet, denen sich der Held zur Erlösung seiner Ada unterworfen hat. In
einem unterirdischen Geklüfte, in das ihn die beiden Feen geführt haben, hat
er zunächst einen schweren Kampf mit wilden Geistern in tierischer Gestalt zu
bestehen, dann, nachdem er diesen mit Hilfe Gromas und seines Zauberschildes
ausgefochten hat, muß er sich mit einer Schar eherner Männer messen, und
nachdem ihm das Zauberschwert auch hier den Sieg verliehen hat, wird ihm
die Aufgabe, durch die Allgewalt seines Gesanges den Stein, in den Ada ver¬
wandelt ist, zu entzaubern. Mit Hilfe einer ihm von Groma verliehenen Harfe
gelingt es ihm, das Wunder zu vollbringen, Ada ist erlöst, und der Feenkönig,
dessen Palast im Hintergrunde sich glänzend öffnet, vereint die Liebenden für
ewig, indem er Arindal die Unsterblichkeit verleiht.
Diese Schlußwendung erschien Wagner später als etwas besonders Bezeich¬
nendes und mit Recht wies er auf das in diesem Zuge sich offenbarende poe¬
tische Motiv von der erlösenden Kraft reiner Liebe als auf etwas ihm durchaus
Eigentümliches hin. Dem Zuhörer aber tritt noch deutlicher die Verwandt¬
schaft der Feenfabel mit dem dramatischen Probleme des „Lohengrin" entgegen.
Hier wie dort wird der Mangel an Vertrauen, das Unvermögen, sich ganz und
rückhaltslos hinzugeben, zur tragischen Schuld, und wie Lohengrin der Elsa, so
verbietet Ada ihrem Arindal die Frage nach ihrer Herkunft, und der Bruch des
Verbotes und Versprechens wird der Anlaß zum Zusammensturze ihres Glückes.
Die Erinnerung an die Schwcmenritteroper wird auch noch durch ein andres
poetisches Motiv wachgerufen; in der sehr dürftigen Ballade von der Hexe
Dilnovaz findet sich bereits jener Aberglaube verwertet, wonach die Verletzung
des kleinsten Fingergliedes zauberhafter Wesen Aufschluß über deren Herkunft
und Art zu geben vermag, wie dies Ortrud dem Telramund und dieser der Elsa
berichtet. Viel interessanter aber ist es, daß, wie der Grundgedanke des „Lohen-
grin," so auch eine der wesentlichsten geistigen Anschauungen des „Fliegenden
Holländers" in den „Feen" vorgedeutet ist. Uns wenigstens erschien bei den
Worten der Ada:
Was ist dir Unsterblichkeit?
Ein grenzenloser, co'ger Tod
sogleich die rührende Gestalt des bleichen Seemanns vor dem Auge, und in
gleicher Weise dürfte Arindals Bemerkung:
O seht, das Tier kann weinen,
Die Thräne glänzt in seinem Aug'!
manchen an den spätesten Wagner, den greisenhafter Schöpfer des „Parsifal"
erinnert haben.
Damit ist aber alles erwähnt, was auf die spätere Entwicklung des jugend¬
lichen „Meisters," auf die Gedankenwelt seiner berühmten Opern und seiner
nachfolgenden eigentümlichen Schöpfungen hinweist, im übrigen erscheint der
Text der „Feen" in der Anlage wie in der Ausführung durchaus als etwas
Unfertiges und Unselbständiges, und mehr als einmal dürfte, um uns eines
Wagnerschen Ausdruckes zu bedienen, „der gewohnte Opernanblick" bei der Ge¬
staltung der Szene bestimmend eingewirkt haben. Der junge Librettist arbeitet
gern mit erprobten dramatischen oder besser gesagt theatralischen Motiven. So
ist die erste Szene frei nach „Oberon," die Schlußszene desselben Aktes nach
„Armida" gestaltet, und der dritte Akt erinnert auffällig an die Feuer- und
Wasserprobe der „Zauberflöte" und an die Furienszene des „Orpheus."
In noch höherm Grade als vom Text gilt von der Musik zu den „Feen"
das, was Richard Wagner selbst in der berühmten Mitteilung an seine Freunde
(1851) von seinen frühesten künstlerischen Arbeiten sagt: „Sie waren die ge¬
wöhnlichen Versuche einer noch unentwickelten Individualität, sich gegen das
Generelle der Kunsteindrücke, die uns von Jugend auf bestimmen, im all¬
mählichen Wachstum zu behaupten. Der erste künstlerische Wille ist nichts
andres als die Befriedigung des unwillkürlichen Triebes der Nachahmung dessen,
was am einnehmendsten auf uns wirkt." Weitaus das meiste in der Partitur der
„Feen" trägt den Stempel der Nachahmung, und zwar tritt diese Unselbständigkeit
hier viel störender zu Tage als beim Libretto, weil das Werk im einzelnen
eine Kenntnis der Kunstmittel und eine Beherrschung der damaligen musikalischen
Operntechnik verrät, die den Mangel an eignen Gedanken und Ausdrucksformen
um so befremdender erscheinen lassen. Die „Feen" leiden an dem schlimmsten
Gebrechen, an dem ein Erstlingswerk leiden kann: sie erscheinen nur zu oft leer
und phrasenhaft. Gerade diejenigen Nummern, welche formal am besten ge¬
lungen sind, sind in Bezug auf Ursprünglichkeit und Gedankenfülle die schwächsten.
Hin und wieder erhebt sich aber doch die Komposition, die im ersten und letzten
Akte meistens den Eindruck der Langenweile hinterläßt, über diese bescheidene
Höhe sogenannter Kapellmeistermusik, und vereinzelt lassen sich sogar Spuren
der nachmals so schroff ausgebildeten Eigentümlichkeit des „Zukunftsmusikers"
finden. Böse Zungen werden dazu in erster Linie die übermäßigen Längen und
die übermenschlichen Anforderungen an die Stimmkraft der Sänger rechnen;
wir möchten außer auf die leicht erkennbaren, zum Teil auch in den spätern
Opern in verbesserter Gestalt aufgenommenen Wagnerschen Melismen und
Motive, namentlich auf die für ihn nachher so bezeichnend gewordene Verwendung
des Paukensolos nach einer wichtigen Entscheidung, z. B. nach dem Schwur
im ersten Akt, auf die Vorliebe für Geigentremolos in hoher Lage bei der
feierlichen Verkündigung bedeutsamer Worte und auf das Vorherrschen der
xezitativischen Gestaltung hinweisen. Wagners Neigung zum Unschönen. na¬
turalistischen giebt sich hier, in dem kleinen Schreichor bei der Ankunft des
Harald (zweiter Akt), schon ziemlich unangenehm kund. Im allgemeinen läßt
sich bereits hier der Charakter seiner Melodie als vorwiegend instrumental be¬
zeichnen, und wie in seinen spätern Werken äußert sich seine musikalische Er¬
findungskraft mehr und besser in kleinen, aber charakteristischen Motiven als in
voll ausgewachsenen Melodien. Was die Jugendoper an breiten, entwickelten,
melodischen Sätzen bietet, erinnert, wenn sich nicht der Einfluß der Weberschen
Ccmtilene heilsam geltend machte, oft bedenklich an Weisen, wie man sie auf
der Straße hören kann. Dagegen tritt in Nummern wie Adas verzweiflungs¬
vollen Monolog vor der Entscheidung ihres Geschickes und Arindals Wahn¬
sinnsszene bereits Wagners eigenstes Können zu Tage; mangelt auch durchweg
die Größe der Form, so erheben sich diese Stücke doch zu beträchtlicher Höhe
in der Wahrheit des Ausdruckes. Sein bestes Können, seine große Herrschaft
über die Kunstmittel verraten aber, wie schon bemerkt, diejenigen Stücke, welche
mehr oder weniger stark seinen Vorbildern nachempfunden sind. Dahin gehört
namentlich eine ganz im Weberschen Zuschnitte gehaltene Cavatine der Lora,
ein gut geführtes und sehr wohlklingendes a eg,xxe1Ig.-Quintett mit Chor und
das vom Publikum am beifälligsten aufgenommene komische Liebesduett der
Drolla und des Gernot, das in seiner leichten, zungenfertigen Weise unver¬
kennbar auf Einflüsse der französischen Spieloper zurückzuführen ist. Meist
aber sind es, wie Wagner später selbst erzählte, Beethoven, Weber und
Marschner, die die musikalische Ausdrucksweise des jungen Komponisten be¬
stimmten, und zwar war es von den drei Meistern wieder Weber, der am nach¬
haltigsten wirkte. Vor allem die Gestaltung der Melodik und der Charakter
der Figuration weisen auf den Schöpfer der romantischen Oper als Vorbild
zurück, und im Bau der großen Solonummern läßt sich das eingehende Studium
der großen Agathenarie und der Szene des Max im „Freischützen" deutlich er¬
kennen. Dagegen scheint Beethoven nur bei der Komposition der Ensemble¬
schlußsätze, namentlich des ersten, durch das zweite Finale seines „Fidelio,"
Marschner bloß in Einzelheiten der Jnstrumentation vorbildlich gewesen zu sein.
Daß auch die italienische Oper der Zeit nicht ohne Wirkung auf den jungen
Tonsetzer blieb, bezeugt die ziemlich häufige Verwendung der „Stretta" als
Abschluß einzelner Nummern; auch die sehr lose gefügte und übermäßig sich
verbreitende Ouvertüre schließt mit einem solchen mehr geräusch- als gehaltvollen
Trumpf ab.
Trotz dieser Unselbständigkeit, die sich aber mehr als Anlehnung an fremde
Muster denn als Entlehnung aus solchen kundgiebt, wohnt der Musik dieses
Jugendwerkes doch eine Macht und stellenweise — namentlich im zweiten Akt —
auch ein Neiz inne, der nicht nur über die. unsinnige, oft sogar läppische Phantastik
der Handlung hinwegtäuscht, sondern auch die Phrasenhaftigkeit dieser erlernten
musikalischen Formensprache vergessen läßt. Es geht eben doch ein großer Zug
durch diese Arbeit des jugendliches Künstlers, und dies versöhnt auch schließlich,
obwohl manche umfangreichen Teile durch ihre Leerheit und Seichtigkeit lang¬
weilig wirken, den modernen Zuhörer mit all dem Umreisen und Unselbständigen,
Unschönen und Unmöglichen, das dem Werke anhaftet. /
So erging es auch den Besuchern der ersten Aufführung. Das Werk, ge¬
hoben durch die hervorragenden Leistungen unsrer ersten Kräfte, durch das herrliche
Spiel unsers berühmten Orchesters und durch die wirklich „feenhafte" Aus¬
stattung, gewann den Beifall des wohlgefüllten Hauses. Reiflicher Überlegung
freilich wird der Beifall, der namentlich den Leistungen unsrer Sänger und Sänge¬
rinnen und den Künsten und Lichterspielen unsers Maschinenmeisters zu danken
war, als nicht absonderlich schmeichelhaft für den Schöpfer des „Musikdramas"
erscheinen, und manchen wird es auch eine seltsame Fügung des Schicksals
dünken, daß es Wagner bestimmt war, wenige Jahre nach seinem Tode mit
seinem ersten Werke noch einen „Dckorationserfolg" zu erringen.
rei Jahre sind verstrichen, Erik und Fennimore sind zwei Jahre
verheiratet und wohnen in einem kleinen Landhause am Mariager¬
fjord. Ricks hat Fennimore seit jenem Sommer in Fjordby
nicht gesehen. Er wohnt in Kopenhagen und hat viel Verkehr,
doch steht er zu niemand in freundschaftlichen Beziehungen, aus¬
genommen zu Doktor Hjerrild, der sich alt nennt, weil sich bereits weiße Silber¬
fäden zwischen seinem dunkeln Haar zeigen.
Die unerwartete Verlobung Eriks war ein harter Schlag für Ricks ge¬
wesen, er ist infolge dessen ein wenig stumpf geworden, auch ein wenig bitterer
und nicht mehr so vertrauensvoll, er hat auch Hjerrilds Mißmut gegenüber
nicht mehr so viel Begeisterung. Er setzt seine Studien unverdrossen fort, doch
sind sie planloser geworden, und der Gedanke, fertig zu werden, um vortreten
und zugreifen zu können, fristet nur noch ein schwaches, flackerndes Leben. Er lebt
viel mit andern, aber er lebt eigentlich nicht mit ihnen; sie interessiren ihn wohl,
aber es ist ihm völlig gleichgiltig, ob sie irgend welches Interesse für ihn haben
oder nicht, und das eine fühlt er: die Kraft in ihm, die ihn dazu hätte an¬
spornen können, sein Teil in der Welt zu leisten, im Verein mit andern oder
im Kampf mit andern, diese Kraft wird schwächer und schwächer. Er kann ja
warten, sagt er sich, und sollte er selbst so lange warten, bis es zu spät ge¬
worden ist. Wer glaubt, der hat keine Eile, das ist sein Trost. Denn er besitzt
Glauben genug, das fühlt er, wenn er nur auf den Grund seines Herzens
geht, Glauben genug, um Berge zu versetzen; er kann sich nur nicht überwinden,
die Schulter dagegen zu stemmen. Hin und wieder erfaßt ihn wohl ein Drang,
zu schaffen, eine Sehnsucht, wenigstens einen Teil seines Ichs durch die Arbeit
befreit zu sehen, und ganze Tage lang kann sich sein Wesen gehoben fühlen
durch frohe, titanische Anstrengungen, den Thon zusammenzufahren, aus dem
er seinen Adam bilden will; aber es gelingt ihm nie, ihn nach seinem Bilde
zu schaffen; er hat nicht Ausdauer genug, um die Selbstkonzentrirung, die hierzu
erforderlich ist, aufrecht zu erhalten. Er trägt sich wochenlang mit dem Ge¬
danken umher, die Arbeit aufzugeben, und schließlich giebt er sie wirklich auf
und fragt sich gereizt, weshalb er sie denn auch fortsetzen solle, was er denn
im Grunde dabei gewinnen könne? Er hat das Glück der Empfängnis ge¬
nossen, die Beschwerden des Großziehens stehen ihm noch bevor, dies Hegen und
nähren, dies bis zur Vollendung in sich Herumtragen. Und wozu? für wen?
Er ist kein Pelikan, sagt er sich selber. Aber er mag nun sagen, was er will,
er ist doch unbefriedigt und fühlt, daß er sich nicht den Forderungen gegenüber,
die er an sich selber stellen muß, verantworten kann, und es hilft ihm nichts,
daß er mit diesen Forderungen ins Gericht geht und sich bemüht, die Berech¬
tigung der Ansprüche an ihn in Zweifel zu ziehen. Er sieht sich vor eine
Wahl gestellt, und er muß wählen; denn das ist ja nun einmal so, daß, wenn
die erste Jugend vorüber ist, früher oder später, je nachdem der Naturboden
in einem Menschen ein früher oder ein später ist, daß dann ein Tag herein¬
bricht, wo der Verzicht wie ein Versucher an uns herantritt und uns dazu
verleiten will, dem Unmöglichen Lebewohl zu sagen und uns zu begnügen. Und
solche Resignation hat so viel für sich; denn wie oft sind nicht die idealen
Forderungen der Jugend zurückgewiesen, ihre Begeisterung beschämt und ihre
Hoffnung vernichtet worden! Die Ideale, die lichten, lieblichen, haben zwar
noch nichts von ihrem Glanz eingebüßt, aber sie weilen nicht mehr auf der
Erde milde» unter uns wie in den ersten Tagen unsrer Jugend; auf der breit
angelegten Treppe der Weltklugheit sind sie Stufe um Stufe zurückgeführt
worden in den Himmel, aus welchem unser einfältiger Glaube sie herunter¬
geholt hatte, und dort sitzen sie, strahlend aber fern, lächelnd aber müde in
göttlicher Unthätigkeit, während der Weihrauch einer thatenloser Anbetung in
festlichen Windungen zu ihrem Throne aufwirbelt.
Ricks Lyhne war müde; diese eifrigen Anläufe zu einem Sprunge, der
niemals ausgeführt wurde, hatten ihn ermattet. Alles war ihm hohl und
wertlos geworden, verdreht und verwirrt und auch so kleinlich; es schien ihm
so natürlich, seine Ohren und seinen Mund zu verstopfen und sich in Studien
zu versenken, die nichts mit dem Staube der Erde zu schaffen hatten, die ab¬
gesondert für sich selber waren, gleich einer stillen Meerestiefe mit friedlichen
Tangwäldern und merkwürdigem Getier.
Er war müde, und um die vernichteten Liebeshoffnungen schlangen sich die
Wurzeln dieser Müdigkeit; von dort aus hatte sie sich schnell und sicher seinem
ganzen Wesen mitgeteilt, hatte sie alle Fähigkeiten, alle seine Gedanken ergriffen.
Jetzt war er kalt und leidenschaftslos genug, aber in jener ersten Zeit/als ihn
der Schlag getroffen hatte, war seine Liebe von Tag zu Tag mit der unhemm-
barcn Macht eines schleichenden Fiebers gewachsen, und es hatte Stunden ge¬
geben, in denen seine Seele, von wahnsinniger Leidenschaft getrieben, in unsäg¬
lichem Sehnen und schäumendem Verlangen zu einer Woge angeschwollen war,
höher und höher steigend, sodaß jede Fiber seines Hirns, jede Saite seines
Herzens bis zur äußersten Grenze angespannt war. Und dann war die Müdig¬
keit über ihn gekommen, abstumpfend und heilend, sie hatte seine Nerven taub
gemacht gegen den Schmerz, sein Blut zu kalt für Begeisterung und seinen Puls
zu schwach zum Handeln. Und mehr als das, sie hatte ihn vor einem Rück-
falle geschützt, indem sie ihn mit der ganzen Vorsicht und dem Egoismus eines
Rekonvaleszenten ausstattete. Und wenn er jetzt an die Tage in Fjordby zurück¬
denkt, so geschieht es mit demselben Gefühle der Sicherheit, welches derjenige,
der eben eine schwere Krankheit überstanden hat, bei dem Gedanken empfindet,
daß jetzt, nachdem er seine Leiden ausgelitten, nachdem sich das Fieber in seinem
Körper selbst zu Asche verzehrt hat, daß er jetzt auf lange, lange Zeit frei
sein wird. ^ ^- !/ ^> V,
Da geschah es denn, als Erik und Fennimore, wie schon gesagt, ungefähr
zwei Jahre verheiratet waren, daß er eines Sommertags einen halb kläglichen,
halb prahlenden Brief von Erik erhielt, worin dieser sich selbst anklagte, seine
Zeit vergeudet zu haben; woran es eigentlich liege, wisse er nicht, aber er habe
gar keine Ideen mehr. Sein Umgang bestehe aus frischen, muntern Leuten, die
weder prüde noch schwerfällig, aber was die Kunst betreffe, die gräßlichsten Drome¬
dare seien. Da sei auch nicht ein Mensch, mit dem er sich einmal gründlich
aussprechen könne, und es habe ihn ein lähmender Zustand von Trägheit und
Unaufgelegtheit überfallen, von dem er sich nicht mehr befreien könne, denn nie
sehe er eine Idee oder eine Stimmung so wie früher, er sei wirklich oft besorgt,
daß seine Fähigkeiten versiegt seien, daß er niemals wieder etwas leisten würde.
Aber das könne doch unmöglich so weiter gehen, es müsse doch wieder kommen,
er sei zu reich gewesen, als daß es so enden könne; und dann wolle er ihnen
zeigen, was Kunst sei, jenen andern, die ununterbrochen weiter malen, als sei
das etwas, was sie auswendig gelernt hätten. Vorläufig habe er jedoch das
Gefühl, als liege ein Bann über ihm, und es würde ein großer Freundschafts¬
dienst von Ricks sein, wenn er nach Mariagerfjord kommen wollte; er sollte
es so gut haben, wie es die Verhältnisse gestatteten, und er könne ja den Sommer
ebenso gut dort verbringen wie anderswo. Fennimore lasse grüßen und freue
sich sehr ^ auf seinen Besuch.
Dieser Brief sah Erik gar nicht -ähnlich, es mußte wirklich etwas Ernst¬
haftes vorliegen, da er so klagen konnte. Das sah Ricks sofort ein, und er
wußte auch nur zu gut, wie schwach im Grunde die Quelle von Eriks Pro¬
duktion war, ein spärlicher Bach, den ungünstige Verhältnisse leicht austrocknen
konnten. Er wollte sofort abreisen, was auch zwischen ihnen liegen mochte, Erik
sollte einen treuen Freund in ihm finden, und hatten auch die Jahre das Band
gelockert, waren auch die Illusionen im Laufe der Zeit verblaßt, jene Freund¬
schaft aus der Kinderzeit wollte er doch zu wahren wissen. Er hatte Erik früher
gestützt, er wollte ihm auch jetzt eine Stütze sein. Ein leidenschaftliches Freund¬
schaftsgefühl überkam ihn. Er wollte der Zukunft entsagen, dem Ruhme, den
ehrgeizigen Träumen, um Eriks willen. Alles, was er an glimmender Be¬
geisterung, an gährender Schaffenskraft besaß, wollte er Erik einflößen, er wollte
völlig in Erik aufgehen; sein eignes Ich, seine Ideen, das war alles bereit,
nichts wollte er für sich zurückbehalten, und er träumte sich den groß, der so
unsanft in sein Leben eingegriffen hatte; er selber kam sich ausgelöscht vor,
übersehen, arm, ohne geistiges Eigentum, und er träumte weiter, wie das, was
Erik erhalten hatte, allmählich nichts Geliehenes mehr war, sondern wirklich
sein Eigen und zwar durch den Stempel, den er ihm aufdrückte, indem er es
zu Thaten und Werken Prägte, Erik hoch und geehrt, und er selber nur einer
der vielen, vielen Durchschnittsmenschen; schließlich zur Armut gezwungen, nicht
freiwillig, ein wirklicher Bettler, kein Prinz in Lumpen, und es war so süß,
sich so bitter, elend und gering zu träumen.
Aber Träume sind Träume, und er lachte über sich selber und dachte daran,
daß Leute, die ihre eignen Angelegenheiten versäumen, stets imstande sind, ein
unerschöpfliches Interesse für die Arbeit andrer zu verwenden, und er dachte
auch daran, daß Erik, wenn sie einander gegenüberstünden, natürlich seinen Brief
verleugnen, das Ganze als einen Scherz hinstellen und es ungeheuer komisch
finden würde, wenn er wirklich zu ihm käme und sich bereit erklärte, ihm wieder
zu seinem Talent zu verhelfen. Aber trotzdem reiste er; im Innersten seiner
Seele glaubte er doch, daß er Nutzen stiften könne, und wie er sich auch be¬
mühte, es wegzuerklciren und in Zweifel zu ziehen, er konnte sich doch nicht
von dem Gefühle frei machen, daß es wirklich die alte Knabenfreundschaft sei,
die in ihrer ganzen Wärme und Natürlichkeit wieder erwacht war, den Jahren
und ihrem Einflüsse zum Trotz.
Das Landhaus am Mariagerfjord gehörte einem ältern Ehepaare, das
durch Gesundheitsrücksichten gezwungen war, seinen Wohnsitz auf unbestimmte
Zeit im Süden zu nehmen. Es war ursprünglich nicht ihre Absicht gewesen,
das Haus zu vermieten, denn damals, als sie reisten, glaubten sie, daß sie nur
ein halbes Jahr lang bleiben würden, und sie hatten deswegen alles stehen
lassen. Als nun Erik das Haus vollständig möblirt mietete, war dies in so
buchstäblichem Sinne der Fall, daß er es samt Nippsiguren, Familieuportrüts
und allem bekam, sogar eine Bodenkammer mit altem Rumpelzeug war da, und
in den Schiebladen der Schreibtische fand sich eine Menge alter Briefe vor.
Erik hatte das Landhaus entdeckt, als er nach seiner Verlobung Fjordby
verlassen hatte, und da sich hier alles beisammen fand, was sie brauchten, und
mehr als das, und da er die Absicht hatte, sich nach Verlauf einiger Jahre
in Rom niederzulassen, so hatte er es von dem Konsul zu erreichen gewußt,
daß dieser keine Aussteuer für Fennimore anschasste. Das junge Paar war
in Marianenlund eingezogen, wie man in ein Hotel einzieht, nur mit dem Unter¬
schiede, daß sie einige Koffer mehr bei sich hatten, als gewöhnliche Reisende zu
haben Pflegen.
Die Fassade lag nach der See hinaus, keine zehn Ellen vom Wasser ent¬
fernt. Das Gebäude hatte ein ganz gewöhnliches Aussehen, oben einen Balkon
und unten eine Veranda, dahinter lag ein erst vor kurzem angelegter Garten,
dessen Bäume nicht viel dicker waren als Spazierstöcke, dafür hatte man aber
von dort aus einen herrlichen Blick auf einen prächtigen Buchenwald mit weiten
Halbestunden und tiefliegenden Klüften zwischen grünbewachsenen Höhen.
So war Fennimores neues Heim, und eine Weile war es so licht, wie
das Glück es nur machen konnte, denn sie waren ja jung und verliebt, frisch
und gesund, ohne jegliche Sorgen in geistiger wie in leiblicher Beziehung.
Aber jedes Glücksschloß, das sich erhebt, hat in dem Grunde, auf dem es
ruht, Sand, und der Sand sammelt sich und rinnt unter den Mauern fort,
langsam vielleicht, unmerklich, aber er rinnt und rinnt, Korn auf Korn. Und
die Liebe? Auch sie ist kein Fels, wie gern wir es auch glauben möchten.
Sie liebte ihn von ganzer Seele, mit der Heftigkeit der Angst, mit zit¬
ternder Glut; er war ihr mehr als ein Gott, weit mehr; ein Abgott, den sie
anbetete ohne Rückhalt und über alle Maßen.
Seine Liebe war stark wie die ihre, aber sie ermangelte der feinen, männ¬
lichen Zärtlichkeit, welche die Geliebte vor sich selbst behütet und über ihrer
Würde wacht. Wohl mahnte es ihn wie eine dunkle Pflicht, wohl rief es ihn
mit leiser Stimme, aber er wollte nicht hören, denn sie war so bezaubernd in
ihrer blinden Liebe, und ihre Schönheit, die der unbewachten Üppigkeit und
dem demütigen Liebreiz einer Sklavin glich, reizte und entflammte ihn zu einer
Leidenschaft ohne Grenzen und ohne Gnade.
Steht nicht irgendwo in dem alten Mythus von Amor geschrieben, daß
er seine Hand auf Psychens Augen legt, ehe sie im süßen Liebestaumel durch
die glühende Nacht dahin fliegen?
Arme Fennimore! Wenn das Feuer ihres eignen Herzens sie hätte ver¬
zehren können, so würde der, welcher sie hätte schirmen sollen, in die Flammen
geblasen haben, denn er glich jenem trunkenen Herrscher, der mit der Brand¬
fackel in der Hand bei dem Anblicke seiner brennenden Königsstadt jubelte,
denn der Schein der flackernden Gluten steigerte seinen Rausch, bis ihn die
Asche ernüchterte.
Arme Fennimore! Sie wußte nicht, daß die brausende Hymne des Glückes
so oft gesungen werden kann, daß schließlich weder Worte noch Melodie zurück¬
bleiben, sondern nur ein Schwulst von Trivialität; sie wußte nicht, daß der
Rausch, der heute himmelhoch steigt, seine Kraft den Flügeln des kommenden
Tages entlehnt; und als endlich die Nüchternheit bleischwer zu dämmern be¬
gann, da begann sie mit Zittern einzusehen, daß sie sich in ihrer Liebe zu eiuer
süßen Verachtung vor sich selber wie vor einander erniedrigt hatten, zu einer
süßen Verachtung, deren Süßigkeit sich aber von Tag zu Tag verringerte, bis
sie schließlich einen bittern Beigeschmack erhielt. Da entfernten sie sich von
einander, so weit es nur möglich war, er, um von einem treulos verlassenen
Ideal voll höhnender Hoheit und kühlen Liebreizes zu träumen, sie, um in ver-
zweiflungsvollen Sehnen nach der blassen, stillen, jetzt so unendlich fernen Küste
ihrer Mädchentage hinüberzustarren. Von Tag zu Tage ward es unerträg¬
licher für sie, die Scham brannte wild in ihren Adern, und ein erstickender Ab¬
scheu vor sich selber machte alles für sie hoffnungslos, machte sie tief un¬
glücklich.
Es befand sich im Hause eine kleine, entlegene Kammer, in der nichts stand
als die Koffer, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Dort saß sie oft,
Stunde auf Stunde, bis die Sonne draußen über der weiten Welt herabsank
und die Kammer mit rötlichen Licht erfüllte; dort marterte sie sich selber mit
Gedanken, die spitziger waren als Dornen, schlug sich selber mit Worten, die
schärfer waren als Geißeln, bis sie, von Schmerz und Qual verwirrt, einen be¬
täubenden Trost darin suchte, sich wie, einen wertlosen Gegenstand an den
Boden zu werfen, sich selber zu widerlich, um der Sitz einer Seele zu sein.
Die Buhlerin ihres eignen Mannes! Der Gedanke verließ sie nie, mit diesem
Gedanken warf sie ihr eignes Selbst verächtlich in den Staub unter ihre Füße,
mit diesem Gedanken schloß sie jede Hoffnung an eine Wiederherstellung ihrer
Ehre aus, mit ihm steinigte sie jede Erinnerung an ein früheres Glück.
Allmählich überkam sie eine starre Gleichgültigkeit, sie hörte auf, zu ver¬
zweifeln, wie sie aufgehört hatte, zu hoffen, ihr Himmel war zusammengestürzt,
und sie fühlte kein Bedürfnis, ihn wieder zusammenzuträumen, sie machte keine
Ansprüche mehr auf Seligkeit, sie war nicht mehr zu gut für die Erde, wie
auch die Erde nicht mehr zu gut für sie war, sie waren einander wert. Sie
warf keinen Haß auf Erik, zog sich auch nicht voller Abscheu von ihm zurück,
im Gegenteil, sie nahm seine Küsse ruhig hin, denn sie empfand viel zu viel
Verachtung vor sich selber, um sich ihnen entziehen zu können, sie war ja nun
einmal sein Weib, das Weib eines Mannes!
Auch für Erik war das Erwachen bitter, obgleich er es sich mit dem pro¬
saisch klaren Blick eines Mannes gesagt hatte, daß es notwendigerweise einmal
so kommen würde. Als es aber kam, als die Liebe nicht mehr ein Ersatz für
alle Mängel war, als der goldenschimmernde Schleier, in welchem sie zu ihm
herab auf die Erde gestiegen war, davongeweht war, da empfand er es als
ein Erschlaffen aller Lebensgeister, ein Sinken aller seiner Fähigkeiten, das ihn
besorgt machte und ihn mit Neue erfüllte, sodaß er sich mit fieberhaftem Eifer
wieder seiner Kunst zuwandte, um sich zu vergewissern, daß er nicht noch etwas
andres eingebüßt habe als das Liebesglück. Aber er erhielt nicht die Antwort,
auf die er gehofft hatte, er ließ sich auf ein paar unglückliche Ideen ein, mit denen
er nicht vorwärts kam und die aufzugeben er sich auch wieder nicht entschließen
konnte. Obwohl er nichts Rechtes daraus zu machen wußte, beschäftigten sie
ihn doch fortwährend und hinderten andre Ideen daran, auszukommen und ihn
an sich zu ziehen; er wurde mutlos und verstimmt und verfiel in einen grü¬
belnden Müßiggang, weil die Arbeit ihm so ermüdend widerspenstig war, und
weil er dachte, daß er nur zu warten brauche, baun würde wohl der Geist
wieder über ihn kommen. Aber die Zeit verging, sein Talent blieb nach wie
vor unfruchtbar, und hier an der stillen Meeresbucht fand sich kein Umgang,
der befruchtend auf ihn hätte einwirken können; auch waren hier keine Kunst¬
genossen, deren Siege ihn zur Nacheiferung oder zum schöpferischen Widerspruch
hätten anspornen können. Diese Unthätigkeit wurde ihm unerträglich, er sehnte
sich glühend darnach, sich selber zu fühlen, gleichviel wie oder wodurch, und
da sich ihm nichts andres darbot, fing er an, sich einem Kreise jüngerer und
älterer Landleute anzuschließen, die sich unter Anführung eines sechzigjährigen
Jagdjunkers die Öde und Einförmigkeit des Landlebens durch solche Aus¬
schweifungen zu versüßen suchten, auf die ihre nicht allzu reiche Phantasie verfiel.
Der Kern ihrer Zerstreuungen bestand im Trinken und Kartenspielen, und es
war ziemlich gleich, ob die Schale, welche diese Vergnügungen umgab, eine
Jagdpartie oder eine Marktreise genannt wurde. Auch machte es keinen weitern
Unterschied, daß man die Szene hin und wieder nach einer der zunächstgelegnen
Provinzialstädte verlegte und dort im Laufe eines Nachmittags wirkliche oder
eingebildete Geschäfte mit den Kaufleuten erledigte. Der Schluß dieser Ge¬
schäfte fand stets am Abend im Wirtshause statt, dessen Inhaber mit bewun¬
dernswürdigem Takt alle Leute von der richtigen Farbe ihrem Klub zuführte.
Waren reisende Schauspieler im Städtchen, so ließ man die Kaufleute links
liegen, denn die Schauspieler waren weit umgänglicher, der Flasche gegenüber
nicht so zurückhaltend, und sie hatten im allgemeinen nichts dagegen, sich der leider
selten mit durchschlagenden Erfolg ausgeführten Wunderkur des sich Nttchtern-
trinkens zu unterziehen, nämlich in Genever, nachdem man sich in Champagner
betrunken hatte.
Der Hauptstamm des Kreises bestand aus Gutsbesitzern und Landleuten
jeglichen Alters, aber es gehörte auch noch ein Branntweinbrenner dazu, ein
massiver junger Laffe, sowie ein weißhälsiger Hauslehrer, der in den letzten
zwanzig Jahren kein Hauslehrer mehr gewesen war, sondern sich besuchsweise
auf den verschiedenen Gütern herumgetrieben hatte, mit einer Reisetasche aus
Seehundsfett und einer grauen Kracke, von der man allgemein im Scherz be¬
hauptete, daß er sie einem Pferdeschlächter gestohlen habe. Er war ein stiller
Säufer, ein großer Virtuose auf der Flöte, und es ging die dunkle Sage, daß
er Arabisch verstehe. Zu der Gesellschaft, die der Jagdjunker seinen Stab
nannte, gehörte ferner ein Prokurator, der immer neue Geschichten erzählte,
sowie ein Doktor, der nur eine einzige Geschichte wußte und zwar von Anno
Sechs, von der Belagerung Lübecks.
Dieser Kreis erstreckte sich sehr weit, und es kam fast niemals vor, daß
sie alle versammelt waren; vernachlässigte aber einer die Gesellschaft allzu lange
und wußte man, daß er zu Hause war, so ließ der Jagdjunker einen Aufruf
an seine Getreuen ergehen, und man machte sich in xlkuo auf, um die Ochsen
des Abtrünnigen zu besehen. Das bedeutete, daß man sich zwei bis drei Tage
auf dem Hofe des Unglücklichen einquartierte und dort, soweit es möglich war,
alles auf den Kopf stellte durch Spiel und Gelage und andre ländliche Scherze,
zu denen die Jahreszeit gerade einlud. Während eines solchen Strafbesuches
geschah es einmal, daß die Gesellschaft so gründlich einschneide, daß dem Wirt
schließlich der Kaffee, der Rum und der Zucker ausging, und man sich zuletzt
mit einem Kaffeepunsch begnügen mußte, der aus Cichorie gekocht, mit Syrup
gefußt und mit Branntwein vermischt war.
Es war im ganzen eine schlimme, zügellose Bande, in die Erik hinein¬
geraten war; aber Menschen mit einer so unverwüstlichen Lebenskraft konnten
sich in zivilisirteren Vergnügungen kaum genügend Luft schaffen, auch trug der
unerschöpfliche Humor, den sie besaßen, sowie ihre breite, urwüchsige Gemüt¬
lichkeit nicht wenig zur Milderung der Rohheit bei. Wäre Eriks Talent dem
eines Brower oder Ostade verwandt gewesen, so würde diese auserlesene Samm¬
lung von Zechgenossen eine wahre Goldgrube für ihn geworden sein; so aber, wie
die Sachen lagen, hatte auch er keine weitere Ausbeute als die andern, sie ver¬
gnügten sich alle vortrefflich, ja nur zu gut, denn bald ward dies wilde Leben
ihm ganz unentbehrlich und nahm nach und nach seine ganze Zeit in Anspruch.
Wenn er sich auch hin und wieder seiner Unthätigkeit wegen Vorwürfe machte
und sich ernstlich sagte, daß dieser Zustand ein Ende haben müsse, so trieben
ihn doch die Leere und die Ohnmacht, die er jedesmal empfand, wenn er zu
arbeiten versuchte, wieder und wieder zu dem alten Leben zurück.
Den Brief, den er an Ricks geschrieben hatte, eines Tages, als seine ewige
Unfruchtbarkeit, die nie ein Ende nehmen wollte, den Eindruck auf ihn gemacht
hatte, als sei sie ein zehrendes Fieber, das sein Talent ergriffen habe, diesen
Brief bereute er, sobald er abgeschickt war, und er hoffte, Ricks würde seine
Klagen in das eine Ohr hinein- und aus dein andern wieder herausgehen lassen.
Ricks jedoch kam, der wandernde Ritter der Freundschaft in höchsteigner
Person, und ihm wurde denn auch jene halb abweisende, halb mitleidige Be¬
willkommnung zuteil, die wandernde Ritter stets von denen erhalten, um deret-
willen sie die Rostnante aus dem warmen Stall gezogen haben.
Da Ricks jedoch vorsichtig war und wartete, thaute Erik bald auf, und
die alte Vertraulichkeit zwischen ihnen erwachte zu neuem Leben. Und Erik
empfand ein Bedürfnis, sich auszusprechen, zu klagen und zu bekennen, es war
fast ein physisches Bedürfnis, das er empfand.
Eines Abends — es war längst über die Schlafengehenszeit hinaus, und
Fennimore hatte sich bereits zur Ruhe begeben — saßen die beiden bei ihrem
Glase Grog in dem dunkeln Wohnzimmer. Nur das Glimmen ihrer Zigarren
zeigte, wo sie waren, und hin und wieder, wenn Ricks sich ganz in seinen Stuhl
zurückkehrte, hob sich sein aufwärtsstarrendes Profil ganz schwarz gegen das
dunkle Fenster ab. Sie hatten ziemlich viel getrunken, besonders Erik, während
sie von alten Tagen auf Lönbvrggaard sprachen, von jenen Zeiten, da sie
noch Knaben waren. Jetzt war durch Fennimores Weggehen eine Pause ent¬
standen, die scheinbar keiner von ihnen gern unterbrechen wollte, denn die Ge¬
danken in ihnen rollten so angenehm weich, während sie träumerisch dem Blute
lauschten, das, warm von dem aufsteigenden Rausch, vor ihren Ohren sang.
Wie einfältig ist man doch mit zwanzig Jahren! ertönte schließlich Eriks
Stimme. Gott mag wissen, was man eigentlich erwartete und wie man es sich
nur in den Kopf hatte setzen können, daß so etwas möglich sei! Wir nannten
die Dinge ja freilich bei ihren rechten Namen, aber das, was wir darunter
verstanden, lag doch völlig außerhalb eines Vergleichs mit dem zahmen Gottes-
segen, der uns zu teil geworden ist. Es ist im Grunde nicht viel am Leben,
meinst du nicht auch?
Ach, ich weiß nicht recht, ich lasse es so gehen, wie es gehen will. Im
allgemeinen lebt man ja nicht so weiter. Den größten Teil der Zeit existirt
man nur. Wenn man das Leben wie einen ganzen, großen, appetitlichen Kuchen
bekommen könnte, und wenn man dann einHauen könnte! Aber so bissenweise! —
das ist nicht ergötzlich —
Sag mir einmal, Ricks — man kommt eigentlich nur mit dir dazu, über
so wunderbare Dinge zu reden —, aber ich weiß nicht, es geht so gut mit dir.
Sag einmal — hast du auch noch etwas in deinem Glase? Gut! — hast du
wohl jemals über den Tod nachgedacht?
Ich? — Ach ja — und du?
Ich meine nicht bei Beerdigungen oder wenn man krank ist, nein, im
Gegenteil, gerade wenn man sich am allerwohlsten fühlt, dann kann es oft
so über mich kommen, gleichsam wie eine — ja, wie eine Verzweiflung. Ich
sitze da und grüble und kann nicht das Geringste zu stände bringen, ja es ist
mir völlig unmöglich, und dann fühle ich, wie die Zeit mir entgleitet, Stunden,
Wochen, Monate! Ohne Inhalt fliehen sie an mir vorüber, und ich kann sie
nicht mit meiner Arbeit an den Fleck nageln. Ich weiß nicht, ob du verstehst,
was ich meine, es ist ja nur so ein Gefühl von mir, aber ich möchte die Zeit
aufhalten können durch etwas, was ich ausgerichtet hätte. Siehst du, wenn
ich ein Bild male, so bleibt die Zeit, während deren ich es male, stets mein
Eigentum, oder ich habe wenigstens etwas davon, sie ist nicht vorüber, weil sie
entschwunden ist. Ich kann ganz krank werden, wenn ich daran denke, wie die
Tage dahin gehen, unaufhaltsam. Und ich Habenichts oder ich kann nicht dazu
gelangen. Es ist eine Angst, ich kann so rasend werden, daß ich im Zimmer
auf- und abgehen und ganz Unsinniges vor mich hinsingen muß, nur um nicht
vor lauter Wut zu weinen, und dann bin ich nahe daran, den Verstand zu
verlieren, wenn ich innehatte und daran denke, daß die Zeit inzwischen weiter¬
geschritten ist und daß sie weiterschreitet, während ich denke, weiter und immer
weiter. Es giebt nichts so Elendes, als Künstler zu sein; hier stehe ich, kräftig
und gesund; ich kann sehen, mein Blut ist warm und reich, mein Herz schlägt,
ich bin bei vollem Verstände und ich will arbeiten. Aber trotz alledem kann
ich nicht, ich kämpfe und greife nach etwas Unsichtbarem, das sich nicht greifen
läßt, zu dem mir keine Anstrengungen verhelfen können, und wenn ich arbeiten
wollte, bis mir das Blut unter den Nägeln hervorspritzte. Was soll mau
thun, um eine Eingebung zu erlangen, eine Idee? Ich kann mich zusammen¬
nehmen, soviel als ich will, ich kann mich bemühen, zu thun, als sei nichts ge¬
schehen, kann ausgehen und mich umsehen, ohne zu suchen, aber nein! Niemals,
niemals auch nur das Geringste, nur das Gefühl, daß jetzt die Zeit da draußen
in der Ewigkeit mitten im Leben steht und die Stunden an sich zieht, sodaß
sie vorüberfliegen ohne Aufenthalt, zwölf weiße und zwölf schwarze ohne Aufent¬
halt. Was soll ich nur thun, es muß doch etwas geben, was man thun kann,
wenn es so mit einem steht, ich kann doch nicht der erste sein, dem es so er¬
geht? Weißt du nicht etwa ein Mittel dagegen?
Du mußt reisen!
Nein, nur das nicht! Wie kommst du auf den Gedanken? Du glaubst
doch nicht, daß es aus sei mit mir?
Daß es mit dir aus sei? Nein! Aber ich meinte, die neuen Eindrücke —
Die neuen Eindrücke! Das ist es ja gerade! Hast du niemals von Leuten
gehört, die vollauf Talent besaßen, so lange sie in ihrer ersten Jugend standen,
so lange sie frisch waren, voller Hoffnungen und Pläne, aber dann, als sich
das verlor, war auch ihr Talent weg und kehrte nie wieder zurück.
Er schwieg lange.
Die reisten, Ricks, um neue Eindrücke zu sammeln. Das war wenigstens
ihre fixe Idee. Aber der Süden, der Orient, es war alles vergebens, es glitt
spurlos an ihnen vorüber wie an einem Spiegel. Ich habe ihre Gräber in
Rom gesehen. Wenigstens die von zweien, aber es giebt viele — unendlich
viele. Der eine verlor seinen Verstand.
Ich habe das bis jetzt niemals von Malern gehört.
Freilich! Was glaubst du wohl, was es sein kann? Ein heimlicher
Nerv, der zerstört ist? Oder trägt man etwa selbst die Schuld daran? Etwas,
dem man treulos geworden ist, ein Unrecht, das man begangen hat? Eine
Seele ist ein gar gebrechliches Ding, und niemand weiß, wie lange so
eine Seele in dem Körper wohnt. Man sollte gut gegen sich selber sein.
Nun — und seine Stimme wurde leise und weich — ich habe auch zuweilen
diese Sehnsucht — zu reisen, weil ich mich so leer fühle; ich sehne mich oft in
einer Weise, von der du dir keine Vorstellung machen kannst, aber es ist mir,
als dürfte ich den Versuch nicht wagen; denn, setze einmal den Fall, daß es
nichts hälfe und daß ich einer von denen wäre, von denen ich dir vorhin er-
zählte — was dann? Denke dir, wenn ich der nackten Gewißheit gegenüber¬
stünde, daß es mit mir aus wäre, daß ich nicht das Geringste besäße, daß ich
nichts, gar nichts könnte, denke dir — nichts zu können: ein Lump zu sein, ein
Krüppel, ein elender Kapphahn. Was sollte nur aus mir werden? Sage mir
das doch! Und siehst du, so ganz unmöglich wäre es doch nicht; die erste
Jugend ist vorüber, von Illusionen und allem, was dahin gehört, ist — bei
Gott — nicht viel übrig geblieben. Es ist merkwürdig, wie viel man davon
verbrauchen kann, und ich habe doch niemals zu den Leuten gehört, die sich
freuen, ihre Illusionen loszuwerden, mit mir war es nicht so wie mit euch
andern, die ihr bei Frau Boye verkehrtet; ihr wäret gar zu geschäftig, euch die
Schmuckfedern auszurupfen, und je kahler ihr wurdet, je übermütiger wäret ihr.
Aber im Grunde bleibt es sich ja völlig gleich, einmal muß man doch seine
Federn hergeben.
Sie schwiegen. Die Luft war bitter von dem Tabaksrauch, widerlich von
Cognac, und sie seufzten tief auf wegen des Qualmes, der da drinnen herrschte,
und dann, weil das Herz ihnen beiden so schwer war.
Da saß nun Ricks, der sechzig Meilen gereist war, um zu helfen, da saß
er und mußte sich vor dem kältern Teil in seiner Natur schämen. Denn was
konnte er nur thun, wenn es schließlich drauf ankam? Sollte er anfangen,
malerisch mit Erik zu sprechen, sollte er viele Worte machen, mit Purpur und
Ultramarin, triefend von Licht und in Schatten getaucht? Damals, als er
reiste, hatte ihm ein ähnlicher Traum vorgeschwebt. Wie war es doch lächer¬
lich! Helfen! Man kann ihm ja bei seinen Schöpfungen nicht mehr helfen, als
man ihm, wenn er gelähmt wäre, dazu verhelfen könnte, den kleinen Finger
von selber aufzuheben. Und wenn man noch so voll von Herz und Mitgefühl
und Opferfreudigkeit und allem wäre, was edel und hochherzig ist. Vor seiner
eignen Thür kehren, das sollte man, das wäre gesund und nützlich! Leichter war
es ja natürlich, ein Gefühlsmensch zu sein, ins Blaue hinein bis hoch hinauf
in den höchsten Himmel. Wenn es nur nicht so grenzenlos unpraktisch, so be¬
trübend zwecklos gewesen wäre! Für sich selber sorgen, und zwar gründlich für
sich sorgen, davon wurde man zwar nicht selig, aber man brauchte auch vor
niemand die Augen niederzuschlagen, weder vor Gott noch vor den Menschen.
Ricks hatte vollauf Gelegenheit, mißmutige Betrachtungen über die Ohn¬
macht des guten Herzens anzustellen, denn der ganze Nutzen, den er stiftete,
bestand darin, daß er ungefähr einen Monat lang Erik mehr an das Haus
fesselte. Er hatte indessen keine Lust, gerade in der wärmsten Zeit wieder nach
Kopenhagen zurückzukehren, aber er wollte auch nicht so bis ins Unendliche der
Gast seiner Freunde sein; deshalb mietete er sich bei einer Familie auf der
andern Seite der Meeresbucht ein, nahe genug, um in einer Viertelstunde nach
Marianenlund hinüberrudern zu können. Warum sollte er nicht ebenso gut hier
sein als anderwärts? Er hatte sich hier an die Gegend gewöhnt, und er ge¬
hörte zu den Menschen, auf die ihre Umgebung leicht Einfluß gewinnt; und
dann hatte er seinen Freund hier und seine Cousine Fennimore; das waren
Gründe genug, zumal da es in der weiten Welt nicht eine Menschenseele gab,
die auf ihn wartete. (Fortsetzung folgt,)
Im Jahre 1833 habe ich die in
demselben Jahre unter dem Titel Homo Mxiens tsrus 1^. erschienene Schrift Räubers
in dieser Zeitschrift besprochen. Diese Schrift enthielt einen teilweise ausführlichen
geschichtlichen Nachweis über sechzehn in dem Zeitraume von 1340 bis 1300 bekannt
gewordene verwilderte Jungen, von welchen schon Linne neun aufgeführt hatte.
In der Schlußbetrachtung über diese Wildlinge gedachte ich, nicht ohne meinem Be¬
dauern herbe Worte zu leihen, der zweifelnd wegwerfenden Beurteilung, die diese
hochinteressante Erscheinung bei drei hervorragenden Naturwissenschaftern, bei Blumen¬
bach, Schreber und Rudolphi, gefunden hat. Heute bin ich in der glücklichen Lage,
über ähnliche Vorkommnisse unsrer Tage berichten zu können, die ein beglaubigendes
Licht auf jene ältern Fälle werfe» und den oberflächlichen Zweifel jener Gelehrten
beschämen. Sie stammen aus Englisch-Jndien. und ich verdanke sie der Güte des
Herrn Dr. H. Wildermuth, des ärztlichen Vorstandes der Heil- und Pflegeanstalt
für Schwachsinnige in Stetten (Württemberg). Es ist eine Von einer deutschen
Dame in dem Waisenhause des Missionars Wolf in Sckundra herrührende schrift¬
liche Nachricht, die mir zur unbedingten Verfügung gestellt wurde und genau wieder¬
gegeben folgendermaßen lautet:
„In der Nähe des Flusses Jumna, etwa eine Stunde von Jumna Ockundrn,
dem Misstonssitz, wird die Ebene durch wilde Schluchten unterbrochen, die in der
Regenzeit durch das Wasser entstanden sind. Einst kam ein Polizist dieses Weges
und entdeckte in einer der Schluchten eine Wolfshöhle, welche sofort von den herbei¬
gerufenen Kameraden ausgeräuchert wurde. Nicht lange, nachdem ein Feuer vor
der Höhle angezündet worden war, kam eine Schaar junger Wölfe heraus und
mitten unter ihnen ein Knabe von 6 bis 7 Jahren. Bedeckt mit Brandwunden,
wurde er 1874 nach Ockundra zum Missionar Wolf gebracht. Man uneben am
daß ihn eine säugende Wölfin als kleines Kind fortgeschleppt habe. Werden doch
in dieser Gegend Hunderte (!) von kleinen Kindern von Wölfen zerrissen, was den
Tieren dadurch erleichtert wird, daß die Erwachsenen im Freien schlafen.
Es war ein schöner Knabe, hochblond, wohlgebildet, und er hatte insbesondre
einen schön geformten Kopf. Er aß nur rohes Fleisch. Was ihm sonst gebracht wurde,
warf er weg. Insbesondre genoß er nie Dal, das Hauptgericht der Inder, weder
Reis noch Roto. Beim Trinken schlappte er wie ein Hund. Es ließ sich keinerlei
seelische Neigung bei ihm wahrnehmen. Er war ein vollständiges Tier. Kleider
anzubehalten, konnte man ihm nicht beibringen. Jeden Tag mußte er frisch ange¬
kleidet werden, da er zur Nachtzeit alle seine Kleider zerriß und aus den Fetzen
ein Lager bereitete, um sich darin zum Schlafen zusammenzurollen. Besonders inter¬
essant ist eine Beobachtung über seine Gangart. Er war bisher genau wie ein
Affe gegangen mit der schlotternden Haltung, die den aufrecht gehenden Affen eigen
ist. Als er nun auf seinen Wanderungen zum erstenmale an das äußere Gitter
des Waisenhausgrundstückes kam, von wo er auf die grünen Felder und Bäume
hinaussah, stand er erst ganz still mit dem Blicke des Staunens und Entzückens,
sprang dann plötzlich auf Hände und Füße und rannte unter den Bäumen wie
ein kleines Tier auf allen Vieren umher. Frau Erhard gab ihm ein Paar Höschen
wie den andern Kindern, fand aber eines Tages den Wolfsbuben zu ihrer nicht
geringen Ueberraschung ganz nackt unter den andern Knaben zu deren großem
Jubel umhergehen, die eine Hose wie eine Mütze auf den Kopf gesetzt. Er hatte
die Gewohnheit, Laute hervorzubringen wie eine Ziege und seinen Kopf beständig
von einer Seite zur andern zu drehen. Sprechen lernte er nie. Er brachte nnr
einen Ton hervor, ähnlich dem einer Schreipuppe. Man gab sich große Mühe, ihm
wenigstens seinen Namen beizubringen (das war jedenfalls nicht die zum Sprechen¬
lehren geeignete Methode). Der einzige Erfolg war ein Gebrüll. Er machte
jederzeit einen trübseligen Eindruck und war am liebsten in einem leeren dunkeln
Zimmer, wo ihn die Knaben, wenn sie ihn zum Essen holen wollten, oft in der
dunkelsten Ecke zusammengerollt fanden. Am Fieber erkrankt, verweigerte er das
Essen ganz und starb an Entkräftung.
Sieben Jahre vorher war ein andrer, jedoch nur mutmaßlich bei den Wölfen
aufgefundener Knabe unter ähnlichen Umständen in die Anstalt gebracht worden.
In der ersten Zeit überaus unruhig, mußte er an die Kette gelegt werden. Er
nährte sich nur von rohem Fleisch und suchte, sobald er losgelassen war, allent¬
halben nach Knochen. Er konnte nicht dazu gebracht werden, auch nur die allerein-
fachste Arbeit selbst zu verrichten, wohl aber allmählich Kleider zu tragen und sich
an gekochte Nahrung zu gewöhnen. Ob er taub war oder nicht, konnte nicht sicher
ermittelt werden, da er das einemal zu hören schien, ein andermal auch auf den
lautesten Zuruf uicht hörte. Er hatte das vollständige Aeußere des Idioten, ins¬
besondre eine sehr niedere Stirn. Er schien heiter, zufrieden und lachte öfters,
während sein jüngerer Gefährte nie lachte, nur zischte. Seine Zähne waren infolge
beständigen Knirschens (schwäbisch Knirfens) ganz abgenutzt. Jeden Morgen wendete
er sich eine Zeit lang auf seiner Matte hin und her, starrte unverwandt in die
Sonne, was ihm nicht leicht jemand nachmachen wird, und berührte fortwährend
mit einer Fingerspitze die Schläfe, sodaß sich an dieser Stelle eine wahrnehmbare
Vertiefung bildete. Er ist noch am Leben, jetzt ein bärtiger Mann, sehr ruhig,
zeigt jedoch keinerlei Anhänglichkeit an irgend eine Person seiner Umgebung, wohl
aber bekommt er, von seinen Kameraden geneckt, zuweilen einen Wutanfall."
Daß dieser jetzt noch lebende Wolfmensch nicht bildungsfähig sei, kann als
entschieden betrachtet werden, da zwei Umstände hierfür sprechen: 1. das idiotische
äußere Gepräge, 2. die große Unempfindlichst, die er beim Blick in die Sonne
an den Tag legt, und die dementsprechende Gleichgiltigkeit seiner Umgebung gegen-
über. Bei dem jünger» Knaben fällt zwar der erste Umstand weg, da seine körper¬
liche Bildung nicht nnr regelmäßig, sondern mich wohlgefällig war, verdächtig aber
sind zwei Erscheinungen: 1. die große Trägheit, die den Knaben den Aufenthalt
im Finstern jedem andern vorziehen ließ; 2. die krampfhaft erscheinenden fortwäh¬
renden Seitenbewegungen des Kopfes. Beide der Pathologie angehörende An¬
zeichen gestatten nicht, an die Integrität der Nervenzentren zu glauben und somit die
Bildungsfähigkeit des Knaben als wahrscheinlich anzunehmen. So war sein früher
Tod eine Wohlthat für ihn selbst wie für die Anstalt, die ihn der Menschheit
zurückzugeben bemüht war.
Es ist eine ganz über¬
raschende Regelwidrigkeit, daß ein Staat wie Preußen, der nicht allein der staat¬
lichen wie der städtischen Verwaltung, der Kirche und der Selbstverwaltung ausge-
zeichnete Verfassungen gegeben hat, sondern anch in der Organisation der Hilfs-
gcnossenschaften allen andern Staaten vorangeht, daß dieser Staat für die länd¬
liche Gemeinde, d. h. für die Hälfte der Staatszugehörigen keine geordnete
Verfassung hat. Denn was vorhanden ist, ist völlig unzureichend und wider¬
spricht allen Grundbegriffen, die man von einer Gemeinde im rechtlichen Sinne
des Wortes hat. Das mindeste wäre doch eine Abgrenzung der Gemeinde, eine
feste, einheitliche Bestimmung darüber, wer stimmberechtigt ist, was zum Zustande¬
kommen eines giltigen Beschlusses gehört; die Grenzen der Befugnisse müßten ab¬
gesteckt sein, es müßte eine wirksame staatliche Oberaufsicht geführt werden. An
alledem ist Mangel. Und dieser Mangel macht sich nicht so sehr fühlbar in Bezug
auf den weitern Aufbau der Kreis- und Provinzialverbände, als vielmehr bei der
Dorfvcrwaltnng selbst. Der Gesamtcharakter eines Dorfes hängt in gar nicht seltenen
Fällen von dieser Unsicherheit der Verfassung ab.
Nach alter Dorfordnung wurde die Sache so gemacht, wie Gnaden Herr
Landrat meinte. Er war die Autoritätsperson des Schulzen und der Schulze
die der Gemeinde. Eine Sache wurde vorgetragen und so entschieden, wie es die
angesehensten Leute des Dorfes empfahlen. Wurde einmal „gehockt," so half ein
kräftiges Donnerwetter, und man war auch zufrieden. Bei einer solchen Verwal¬
tung war es ziemlich gleichgiltig, aus welchen Personen der Vertretungskörper
bestand. Jetzt hat man überall selbst zu entscheiden, zu beschließen, zu wählen.
Es ist nicht mehr gleichgiltig, wer wählt oder stimmt, die „Nachbarn" oder auch
die „Häusler," und ob die Stimmen gleiches Gewicht haben oder nicht. Der Segen
des liberalen Regiments ist auch aufs Land übergegangen. Die Landgemeinde hat
ihre Clique und ihren Fortschrittsring so gut wie die große Stadt, wenn sie auch
nicht so heißen. Die bessern Elemente ziehen sich zurück. Die Maulhelden machen
die Meinung, der Schulze ist abhängig von dem Troß, der ihn gewählt hat, und —
der Herr „Kantor" regiert das Ganze.
Der Herr Kantor ist eine höchst wichtige Person; in vielen Gemeinden ist er
unentbehrlich und unersetzlich. Wer soll die Impf-, Militär- und Steuerlisten an¬
fertigen, wer soll die Protokolle aufsetzen, die Berichte schreiben? der Herr Kantor.
Wer soll die widerstrebende Partei zusammentreiben, Beschlüsse vorbereiten, Rekla¬
mationen und Ausflüchte zu Papier bringen? der Herr Kantor. Dafür erhält er
seinen Gemeindeschreibergehalt, auf welchen er bei seinem knapp bemessenen Haupt¬
einkommen großen Wert legt.
Man würde dem Lehrer sein Nebeueinkommen, seine einflußreiche Stellung
gern gönnen, wenn hierbei nicht Schäden hervortraten, die sich sowohl auf die
Person, als auch auf das Amt des Lehrers beziehen, und die so ernstlicher Natur
sind, daß wir nicht anstehen zu verlangen: dem Lehrer muß die Uebernahme von
Gemeindeämtern ein für allemal verboten werden. Wir möchten nicht mißverstanden
sein und wollen ausdrücklich erklären, daß wir nicht von einer Regel ohne Aus¬
nahme reden, sondern von einzelnen Fällen, die wir in ein Gesamtbild zusammen¬
fassen. Aber diese Fälle sind so häufig, einzelne Züge dieses Gesamtbildes kommen
so allgemein vor, daß der Mißbrauch den Gebrauch aufheben muß.
Es giebt in jedem Stande anständige, ehrenhafte Leute und das Gegenteil
davon. Es giebt auch uuter der ländlichen Bevölkerung Ehrenmänner, auf deren
Wort und Gesinnung man sich verlassen kann; wer aber im allgemeinen von der
Biederkeit dieser Bevölkerung reden wollte, der kennt sie nicht. Wir könnten in
drastischen Ausdrücken hiervon reden, wollen aber nur andeuten, daß gewisse Formen
des Betruges auf dem Lande für völlig erlaubt gelten, daß nur zu oft statt einer
geraden Rechtschaffenheit eine hinterlistige Verschmitztheit geübt wird. Eigennutz
auf der einen Seite, Mißtrauen auf der andern führen das Nuder. Einer hält
den andern für einen Hallunken, einer sagt dem andern die ärgsten Dinge nach.
Wahrscheinlich sind das Uebertreibungen, aber ebenso wahrscheinlich ist ein ziemlich
dicker Kern von Wahrheit darin. Man kann nie darauf rechnen, daß irgend eine
Angelegenheit schlicht, sachlich behandelt wird, der Gesichtspunkt des Nutzens giebt
den Ausschlag. Es muß etwas abgezwackt werden, es muß ein kleiner Vorteil
dabei abfallen. Man kann nicht darauf rechnen, daß eine Verordnung gesetzmäßig
ausgeführt wird. Wenn irgend möglich, wird etwas bei der Ausführung umgangen
oder verdunkelt, falls irgend ein Vorteil zu gewinnen ist. Daß anstands- und
ehrenhalber in einem Berichte kein falsches Wort, in einer Rechnung keine falsche
Zahl stehen darf, ist eine Sache, für die man wenig Verständnis hat. Wer der
geriebenste ist, hat den meisten Einfluß.
Das sind keine schönen Züge. Und doch finden sie sich auch unter der Decke
äußerer Biederkeit, sogar Kirchlichkeit.
Gereicht es nun einem Lehrer zur Ehre oder zum Besten, in dies Getriebe
hineinzukommen? Man sollte meinen, daß der Lehrer seinen Einfluß geltend
machen würde, um Ungehörigkeiten zu verhindern, aber das geschieht nur in den
seltensten Fällen; viel häufiger kommt es vor, daß er selbst allmählich in das Ge¬
triebe hineingezogen wird. Einen selbständigen, unabhängigen Mann wird man
schwerlich zum Gemcindeschreiber wählen, beim Pfarrer setzt man mit Recht gar
kein Verständnis für Dorfpolitik voraus, aber der Lehrer ist willkommen. Man
hat das Gefühl, von ihm verstanden zu werden.
Und es ist wahr, daß der Lehrer in seiner ganzen Anschauungsweise nach
jener Seite neigt. Er stammt aus bäuerlichen Kreisen oder ist als . Sohn eines
Lehrers mit ihnen vertraut gewesen. Aber auch die eigentümliche Erziehung, die
der Lehrer genießt, die Schnelligkeit der Ausbildung, die Menge des dargebotenen
Stoffes bei ungenügender Vertiefung verursachen, daß manches, was- im Wesen
eingegraben sein müßte, nur äußerer Besitz bleibt. Die Gesichtspunkte sind eng
und kleinlich. Die unrichtige soziale Stellung, der Umstand, daß der Stand des
Lehrers gehoben, sein Einkommen aber zurückgeblieben ist, hat zur Folge gehabt,
daß auch bei ihm der Gedanke des Nutzens alles andre beherrscht. So geschieht
es nur zu oft, daß sich schöne Seelen finden.
Es kommt vor, daß Lehrer ihren Einfluß in der Gemeinde dazu gebraucht
haben, sich zu bereichern, daH sie gleichsam den Makler zwischen Gemeinde und
Arbcitsunternehmer darstellen, daß sie Geschenke und Provisionen annahmen und
selbst forderten und daß sie sich in unsaubere Geschäfte einließen. Das sind zum
Glück Ausnahmen. Nicht so sehr zu den Ausnahmen aber gehört es, daß der
Lehrer als Gemeindeschreiber unmerklich Schaden an der geraden und unbestechlichen
Rechtschaffenheit leidet, die er als Lehrer, Kirchendiener und Standesperson im
Dorfe haben müßte. Es dürfte nicht vorkommen, daß man dem Lehrer verdächtige
Dinge nachredet. Geschieht es vor den Ohren der Kinder — und man pflegt
nicht gerade vorsichtig zu sein —, so ist der erzieherische Einfluß des Lehrers ge¬
brochen. Es wird aber dem „Herrn Kantor" (wie dem Pastor) mit Vorliebe
Arges nachgeredet, denn wenn man „solch einem Manne" eine Makel anhängen
kann, so braucht man sich selbst nicht zu schämen oder einen Zwang aufzulegen.
Darum muß auch der böse Schein vermieden werden.
Man klagt allgemein über wachsenden Unfrieden in den Gemeinden. Wir
deuteten schon an, daß die Gemeindeverwaltung der Schauplatz des Parteigetriebes
sei. Es stehen sich gegenüber „die Großen" und „die Kleinen," die Besitzer und
die Hciuslinge. Die letztern sind ans dem Stande der Knechte und Handarbeiter
hervorgegangen und haben unter sich ganz gefährliche Elemente. Die Mittelklasse, die
kleinen Kothsasscn oder Kuhbauern und die Handwerker, stehen bald auf dieser, bald
auf jeuer Seite. Das Dorfregimeut wird entweder von der einen oder von der andern
Partei geführt. Tritt der Lehrer in den Gemeindedienst, so ist es ganz unmöglich,
daß er sich von diesen: Parteigetriebe fern halte. Er wird Parteimann und hat
sogleich das Vertrauen bei der Gegenpartei verloren. Man sagt ja nichts, weil
man fürchtet, der Lehrer werde es den in seiner Hand befindlichen Kindern ent¬
gelten lassen — das traut man ihm allen Ernstes zu —, aber man bewirkt durch
Wort und Haltung, daß das Kind den Lehrer als Feind ansehen lernt. Bei
diesen in Parteien zerspaltenen Gemeinden ist die erste Bedingung einer erfolg¬
reichen Thätigkeit eiues Lehrers völlige Parteilosigkeit.
Der Lehrer wird auch durch die Beschäftigung mit Gemeindeangelegenheiten
von seinem eigentlichen Berufe abgezogen. Es handelt sich hier nicht um einige
Arbeiten, die nebenbei gemacht werden können, sondern um eine dauernde, die
Freizeit ausfüllende Beschäftigung. Man kann die gegenwärtige Gepflogenheit in
unsrer Verwaltung mit dem bekannten Kartenspiele „Schwarzer Peter" vergleichen.
Mau giebt den schwarzen Peter weiter, beim letzten, d. h. bei der Lokalinstanz,
bleibt er sitzen. Die Arbeiten häufen sich also hier in einer Weise, daß sie fast
über die Leistungsfähigkeit des Nebenamtes oder Ehrenamtes hinausgehen. Der
Gemcindeschreiber wird sehr stark in Anspruch genommen, das Schulaint verliert
an Interesse und wird mit halber Kraft geführt, die Fortbildung im Berufe hört
gänzlich auf.
Auch der Einfluß, den der Lehrer in der Gemeinde gewinnt, ist für seine
amtliche Thätigkeit nicht günstig. Jeder bedarf der Aufsicht; der Lehrer als Dorf¬
regcut wächst aber seinem Lokalschuliuspektor über den Kopf und nimmt ihm gegen¬
über eine unangreifbare Stellung ein. Der Lokalschulinspektor weiß, daß er das
ganze Dorf wider sich hat, wenn er den Lehrer angreift, und daß ihm als Pfarrer
in seinem kirchlichen Amte heimgezahlt wird, was er im Schulamte ausgegeben
hat. In erster Linie ist er Pfarrer, also hütet er sich vor Konflikten und läßt
die Dinge so lange als möglich gehen, wie sie wollen. Es ist unbestreitbar, daß
die Lokalschulinspektion nicht in der Weise wirksam ist, wie man verlangen könnte.
Hier liegt der eigentliche Grund davon.
Man verweigert einem Lehrer den Jagdschein — warum eigentlich? Des
Dekorums wegen. Aber man gestattet bereitwillig die Uebernahme der Gemeinde¬
schreiberei. Hier sprechen aber nicht allein das Dekorum, sondern auch andre ge¬
wichtige Gründe dagegen. Denjenigen, welche dies Amt inne haben, läßt es sich
nicht gut ohne Grund abnehmen, aber man sollte bei Neuanstcllungen oder neuen
Anträgen die Genehmigung der Uebernahme ein für allemal versagen.
Dies Buch soll ein „Oelzweig" sein, soll den Franzosen sagen, daß in
Deutschland noch an andre Dinge gedacht wird, als an das militärische Uebergewicht
in Europa. Unsers Bedünkens haben diejenigen Franzosen, welche die geistige Be¬
deutung Deutschlands kennen lernen wollen, dazu Gelegenheit genug, und die
andern, leider die ungeheure Mehrzahl, werden sich auch durch bessere Bücher als
das des Herrn Fastenrath nicht bekehren lassen. Wir verübeln dem Verfasser nicht
die schwülstigen Liebeserklärungen an Frankreich und Paris in der Vorrede: sie sollen
bei den Lesern günstige Stimmung machen. Aber wir brauchen uns nicht gefallen
zu lassen, daß einer fremden Nation eine so kunterbunte Gesellschaft sozusagen als
unsre geistige Garde vorgestellt wird. Man beachte die Auswahl und die Gruppirung.
Der Abgeordnete Laster. — Carmen Sylva. — Die Erzherzogin Marie
Antoniette von Toskana. — Professor Karl Witte und der Naturhistoriker Brehm. —
Der Dichter Friedrich Notker. — Der Verschwender von Raimund. Die Schau¬
spielerin Josephine Gallmeyer und der Schauspieler Karl von Laroche. — Die
Maler Gustav Richter, Adolf Menzel und der Dichter Emanuel Geibel. — Der
Dichter Heinrich Laube. Die Schauspielerin Amalie Haizinger. Der Dichter
Gustav Pfarrius. Zwei deutsche Feste. — Haus Makart. Johann Strauß. —
Makart (noch einmal!). Frau Anna Forstcnheim. Karl Hillebrand. — Richard
Wagner und der Parsifal. — Ein Tänzerin und ein Dichter (Fanny Elßler und
Julins von der Traun). — Der Kölner Karneval. — Die Musiker Franz Abt und
Ferdinand von Hiller. — Die Dichter Karl Stieler und Alfred Meißner. —
Dr. G. Nachtigal und die deutschen Erforscher Jnnerafrikas. — Der letzte Herzog
von Braunschweig. Fürst Karl Anton von Hohenzollern. — Graf Schack. — Der
Uebersetzer und Dichter L. Braunfels. Die Maler Andreas Ueberhand, Wilhelm
Camphausen und Hans Canon. Die Schillerfeier. — Der humoristische Dichter
Josef Viktor von Scheffel. Heinrich Heine in Spanien. Ein Historiker von neunzig
Jahren (Ranke). — Ludwig Börne. — Gustav Freytag. — Der Wagnersänger
Emil Scaria. Die Maler K. von Piloty, Ed. secirte, Fr. Amerling. — Ein
Besuch am Starnberger See und auf Schloß Neuschwanstein. — Die Lutherfeier
in Worms. — Die Gedächtnisfeier für Uhland. Der Diplomat und Historiker
Alfred von Reumont. — Die Tragödin Charlotte Wolter.
So lautet das Inhaltsverzeichnis über die siebenundzwanzig Kapitel des
Buches. Das geht doch noch über Leipziger Allerlei und italienischen Salat!
Aber der Verfasser scheint solche Mischungen zu lieben; so zählt er als litterarische
Größen Oesterreichs mit Grillparzer, Stifter, Halm, Bauernfeld in einem Atem
Franzos, Sander-Masons, Nordau und ähnliche auf, am Schluß mit einem „u. s. w.,"
das z, B. auch Lenau, A. Grün, Sealsfield und Schreyvogel in sich begreift. Am
meisten Neugier flößte uns ein nie vorher vernommener Name ein. Wer ist die
Dame, welcher der Ehrenplatz zwischen Makart und Karl Hillcbrand angewiesen
wurde, Madame Anne Forstenheim? Schlagen wir also Kapitel X auf. Es beginnt
mit der Nachricht des Hinscheidens Makarts, welcher der „deutsche Dclcieroix, der
Rubens unsrer Zeit" genannt, als Landschafter mit Poussin verglichen, und von
dem behauptet wird, er fessle nicht allein durch „das eigentümliche Kolorit, die
Noblesse der Formen, die Delikatesse der Linien, die Anmut und Naturwahrheit
des Ausdrucks und der Bewegungen aller seiner Figuren, sondern anch durch deren
Charakteristik." Das klingt, als wäre es aus einer Münchner Zeitung von 18V9
übersetzt, denn 1884 verstieg sich sogar Herr Friedrich Pecht nicht mehr zu solchem
Reklamestil. Aber wo bleibt Madame Forstenheim? Sollte sie etwa eine der dnrch
Makarts Pinsel verewigten Schönheiten sein? Nicht doch, sie hat sich durch Makart
und Schwind (wieder eine köstliche Zusammenstellung!) zu Dichtungen begeistern
lassen, hat eine Catarina Cornaro und eine Melusine verfaßt. Sie ist von Geburt
eine Kroatin, spricht aber ein so gutes Deutsch, daß Herr Fastenrath sich nicht
erinnert, jemals ein besseres gehört zu haben; den orientalisch klingenden Namen
verdankt sie ihrer Verheiratung mit einem Wiener Bankier; sie ist begeistertes
Mitglied der ^ssoeiativn littsrairo internationale und „verdiente auch in Frankreich
mehr bekannt zu sein." „In Wien und Rom hat sie Italiener, Spanier, Fran¬
zosen und Deutsche clektrisirt durch ihre mehr Pariser als österreichische Lebhaftig¬
keit, die Mannichfaltigkeit ihrer originellen Einfälle, ihre angeborne Grazie, ihr
frisches und natürliches Lachen, ihre silberhelle Stimme, ihre sanfte und sympathische
Rede." Also nicht durch ihre Schriften? Dann dürfen wir uns über unsre Un¬
kenntnis derselben trösten. Der Verfasser mag wohl der Ansicht sein, daß eine
munter plaudernde junge Frau in Frankreich mehr Eroberungen machen könnte,
als ein ganzes Regiment emsiger Romandichterinnen, und in diesem Punkte würden
wir ihm nicht widersprechen. Aber hat er denn gar nicht bedacht, welchen Ein¬
druck sein Hymnus auf die Dame bei französischen Lesern machen muß? Zuerst werden
sie fragen, wo Agram liegt, dann höhnisch sprechen: „Natürlich, wenn die Deutschen
mit einer geistreichen Frau prahlen wollen, müssen sie sie den Kroaten -Morgen!"
und daraus werden sie den Schluß ziehen, daß Deutschland die Annexion Kroa¬
tiens vorbereite. Und Boulangers Leibpoet wird in einem neuen Bänkelgesange
die Patrioten beschwören, Gott, Frankreich, Elsaß-Lothringen und Kroatien zu retten:
^ das VismareK ot wort a,ux Z?russion8! So kommen wir nicht zur Versöhnung.
Die oben mitgeteilten Proben bezeugen, daß Herr Fastenrath mit vielem Er¬
folge französische Feuilletonsartikcl studirt hat. Ganze Ketten von tönenden, aber
nichtssagenden Redensarten ziehen sich durch das Buch. Ebenso charakteristisch ist
die Art des Ueberganges von einer Persönlichkeit zur andern. In welcher Be¬
ziehung steht Frau Forstenheim zu Karl Hillebrand? In der allerinnigsten! „Sie
hat sich durch das Lesen der großen Dichter gebildet, und das ist es, was Karl
Hillebrand einmal einer jungen Deutschen arriel." Ein Akrobat kann nicht
graziöser sich von einem Trapez zum andern schwingen. So erfahren wir im
zwanzigsten Kapitel, daß der Verfasser einmal Scheffel in Radolfzcll besucht hat,
und damit die Franzosen eine Vorstellung bekommen, weshalb der Dichter verdient,
1s xluZ ssmncl xoöts numoristique. as l'^llomaxinz eontsinvorains genannt zu werden,
Wird eine sehr freie Uebersetzung des „Alt-Heidelberg" von Amiet mitgeteilt, und
eine weniger freie, dafür umso schönere des Rundreims aus dem „Trompeter,"
die von Herrn Fnstenrath selbst herzurühren scheint: L,äisu! cela, out 6tü trop doa-u,
^.cliou! esls. u'-l xn Sö is^lissr! Dann heißt es, Italien habe weder Scheffel noch
Heyse bergessen, aber noch populärer sei Heine, den Theodor Llorente „wunderbar"
ins Spanische übertragen habe. Damit ist das Schlagwort „Heine in Spanien"
gerechtfertigt. Und nun fährt der Verfasser fort: „Wenn es in der deutschen
Poesie nur einen Heine und, fügen wir hinzu, nur einen Scheffel giebt, der Über¬
setzen läßt sich das nicht würdig!^ unit la viFueur ^ la, WntimöirtcüitE la, plus
oxauisv, 1'buinsur ^u sizvtimont xostigus, so haben wir in der Geschichtschreibung
unsern Ranke, der einen bevorzugten Platz einnimmt." Das ist doch herrlich!
Es müßte befremden, wenn der Verfasser nicht auch entschieden freisinnig wäre.
Er macht seine Reverenz vor dem Grabe Börnes, des deutscheu Paul Louis
Courier und Junius, des Lessing in der Politik, und er sieht die Tragik in dem
Leben Lasters darin, daß er bei seinem Austritte aus der nationallibcralen
Fraktion sich nicht sofort den Fortschrittlern anschloß. In diesem Aufsätze kommt
folgende Stelle vor: „Ich erinnere mich, daß Fürst Bismarck eines Tages zu
Laster sagte: Ich hoffe, daß wir als Kollegen mit einander arbeiten werden. (Das
heißt als Minister.) Und der geistreiche Mann des Gesetzes antwortete: Ich wußte
nicht, daß Euer Durchlaucht Rechtsanwalt werden wollen." Wir unsrerseits
erinnern uns wohl, daß diese Anekdote einst durch die Blätter ging, übrigens ohne
Nennung Lasters, und wir haben sie bisher für eine alberne Erfindung gehalten;
Herr Fastenrath aber scheint als Ohrenzeuge zu berichten, also muß das Gespräch
doch wirklich stattgefunden haben. Ganz wertlos ist das Buch mithin nicht.
Wir wollen uicht leugnen, daß der junge Verfasser dieses exotisch anmutenden,
in Wahrheit aber nicht sehr originellen Romans einige Begabung zeigt, die sich
bei ernstem künstlerischen Streben zu wertvolleren Leistungen fähig erweisen könnte;
hier, in „Karadi-Nisci," ist er noch Anfänger. Als solcher ist er noch nicht im¬
stande, klar und übersichtlich zu komponiren und seine Handlung spannend zu ge¬
stalten; noch zu sehr hat er den Hang, sich geistreich und kenntnisreich zu zeigen,
während der reife Künstler allen sogenannten Geist und alle Bildung nur dazu auf¬
wendet, um die Charaktere tief und lebensvoll zu zeichnen. Zobeltitzcns Kunst zu
charakterisiren, steckt noch in den Kinderschuhen; Erfindung scheint auch seine starke
Seite nicht zu sein. Der Held des Romans ist ein europäisch erzogener Japaner,
namens Karadi-Risa, der eine Zeit lang Diplomat war, aber den japanischen Staats¬
dienst verlassen hat, um mit seinen reichen Renten das Leben eines gebildeten Bummlers
in Europa zu führen. Er soll eine Mischung von Kultur und Barbarei vorstellen;
er hat den Reichtum positiver Kenntnisse wie etwa ein moderner Engländer und
die frivolen sittlichen Grundsätze des gebornen Japanesen. Eine abenteuerliche Ent-
führungsgcschichte soll einen romantischen Schimmer um ihn werfen. Er ist aber,
die Wahrheit zu sagen, recht unwahrscheinlich geblieben. Die Handlung des Ro¬
mans spielt in Rom; die Nebenfiguren sind aus der römischen Fremdenkolonie
genommen, und ihr internationaler Mischmasch erinnert einen Augenblick an Ossip
Schubins Gesellschaft, aber auch nur einen Augenblick! Denn Zobeltitz hat es nicht
vermocht, dem klassisch-poetischen Boden Roms ein poetisches Element abzugewinnen;
die Kunst der Stimmung, welche Schubin immerhin versteht, ist ihm fremd; sie ist
eben das Gegenteil von der Gcistreichigkcit, unter der Zobeltitz uoch leidet.
M^UM
/'^SW^'^in 14. Januar 1887 wurde der deutsche Reichstag, in welchem
die Demokraten im Verein mit dem Zentrum die Mehrheit bil¬
deten, von Kaiser Wilhelm aufgelöst, weil diese oppositionelle
Mehrheit, indem sie die Interessen und Programme ihrer beiden
Parteien über das dringendste Bedürfnis des Reiches stellte, die
Militärvorlage der Regierung zu Falle gebracht hatte. Es galt jetzt, daß das
Volk an dem Widerstande auch gegen dieses Bedürfnis erkannte, welch ein
unpatriotischer Geist die beiden Lager der bisherigen Opposition überhaupt
beseelte, und daß es auf Grund solcher Erkenntnis in den Wahlen einen Reichs¬
tag schuf, der in seiner Mehrheit nicht in erster Reihe demokratisch oder klerikal,
sondern patriotisch dachte und abstimmte. Das Volk aber wird von Parteien
geleitet, und so kam es vor allem darauf an, daß die national gesinnten Par¬
teien ihrem Parteigeiste Schweigen geboten und mit Beiseitesetzung dessen, was
sie trennte, sich in dem ihnen gemeinsamen Glauben und Wollen vereinigten,
mit andern Worten, daß die Konservativen von ihrer Hinneigung zum Zentrum
abließen, die Nationallibcralen die Seite ihres Wesens, nach der sie den Deutsch¬
freisinnigen verwandt waren, weniger hervortreten ließen und beide Genossen¬
schaften sich bei den Wahlkämpfen gegenseitig unterstützten. „Einen Reichstag,
wie ihn die große Mehrheit der Nation wünscht — so ungefähr schrieb am
Tage der Auflösung das Hauptorgan des Kanzlers —, darf man nach Lage
der Sache nur dann erwarten, wenn im bevorstehenden Wahlkampfe alle reichs¬
treuen Parteien von vornherein zusammenstehen und alles vermeiden, was zu
Mißverständnissen und Eifersüchteleien führen kann. Soll der vom Demo¬
kratismus großgezogene Parteigeist überwunden werden, so müssen die Gegner
der Demokratie und der Parlamentsherrschaft die Parteiung unter sich dem
höheren Ziele unterordnen, recht wohl was geschehen kann, ohne daß man
der eignen Überzeugung irgend etwas vergiebt."
In diesem Sinne verfuhren denn auch die nationalen Parteien bei der
Vorbereitung zu den Wahlen. Die Deutschkonservativen, die Reichspartci und
die Nationalliberalen schlössen mit einander ein Wahlkartcll, wonach in den
Wahlkreisen, in denen bisher ein Mitglied einer von diesen drei politischen
Gruppen im Besitze eines Maubads gewesen war, dieser oder ein Ersatzmann
gleicher Farbe gewählt werden und in andern Kreisen eine Einigung der Ver¬
bündeten über einen gemeinschaftlichen Bewerber erfolgen sollte. Die Folge
dieser Übereinkunft war, daß die Wahlschlacht vom 21. Februar mit einem
glänzenden Siege der reichstreuen Parteien über die Demokraten der ver¬
schiedenen Schattirungen endigte: die Deutschfreisinnigcn behielten von 67 Man¬
daten nur 11, von denen sie überdies 2 der Unterstützung der Klerikalen ver¬
dankten, die Volkspartei wurde ganz und gar vom parlamentarischen Boden
weggefegt, die sozialdemokratischen Bundesbrüder der Herren Windthorst und
Richter büßten die 6 Neichstcigssitze ein, die ihnen die letzten Wahlen in Sachsen
verschafft hatten, das diesmal 22 nationalgesinnte Vertreter und nur einen
deutschfreisinnigen nach Berlin sandte. Mit der oppositionellen Mehrheit war
es zu Ende, und die Negierung sah sich einem Reichstage gegenüber, mit dem
sich ihre reformatorischen Absichten und Aufgaben rasch und unbeschnitten aus¬
führen ließen. Man atmete auf wie nach einem Alpdrücken, man fühlte sich
wie genesen von langewirkcnder Vergiftung, wie von neuem Trieb und Leben
erfüllt. Mit freudiger Genugthuung begrüßte» es alle Patrioten, als sie in
den Berichten vom Parlament täglich mehr sahen, wie in dessen Sitzungssaale
an die Stelle des öden, eiteln, immer nur an sich selbst hinwandelnden Partei¬
zankes, der die Ära Richter-Windthorst-Grillenberger bezeichnet und zuletzt
geradezu ekelhaft für jeden verständigen und rechtlichen Mann gemacht hatte, ziel¬
bewußtes und erfolgreiches Arbeiten für das Vaterland getreten war.
Das Kartell hatte sich also vortrefflich bewährt, und so empfahl es sich
selbstverständlich auch für die jetzt herannahenden Wahlen zum preußischen Land¬
tage. Aber wenn wir die Freude hatten, zu erfahren, daß dies wie von der
großen Mehrzahl der Nationallibcralen auch von vielen Konservativen begriffen
worden ist und man darnach zu handeln begonnen hat, so bemerken wir ander¬
seits zu unserm Leidwesen, daß innerhalb der letztgenannten Partei eine Gruppe
von Andersdenkenden laut und immer lauter wird, der die Annäherung an die
Nationalliberalen, wenn sie ihr je ernstlich recht war, leid geworden ist, und die
starkes Gelüsten verrät, das alte Kompagniegeschäft mit der Schwindelfirma
Windthorst und Kompagnie wieder anzuknüpfen.
Aus Halle, vom Rheine und aus zwei schlesischen Wahlkreisen hören wir zwar,
daß die Verständigung zwischen Konservativen und Nationalliberalen, die sich
bei den Neichstagswahlen so nützlich erwies, für die Landtagswahlen erneuert
Worden ist: in Breslcin, das jetzt von drei Abgeordneten vertreten wird, die zur
Fahne Eugen Richters geschworen haben, sind von den Kartellparteien ein deutsch¬
konservativer, ein freikonservativer und ein nationalliberaler Kandidat aufgestellt
worden, und in Schweidnitz-Striegau haben sich die reichstreuen Parteien das
Wort gegeben, die beiden bisherigen Mandatsinhaber, von denen der eine
nationalliberal, der andre konservativ ist, gemeinsam zu unterstützen. Dagegen
hat Herr von Rauchhaupt, wie bekannt, ein besonders angesehener Führer der
Deutschkonservativen, es gerade jetzt für zeitgemäß erachtet, in einer öffentlichen
Rede die nationalliberale Partei in scharfer Weise anzurennen und mit Gering¬
schätzung von der Gemeinschaft mit ihr zu sprechen, indem er behauptete, der
ganze Osten der Monarchie wolle von ihnen nichts hören, und so könne man
sich von ihnen im Westen lossagen, ohne Vergeltung fürchten zu müssen. Das
beruhte zunächst auf einem Gedächtnisfehler. Der Osten Preußens gehört jetzt
allerdings den Konservativen, das war aber nicht immer so und braucht auch
nicht immer so zu bleiben. Es gab Jahre, wo nur vier Altkonservative im
Landtage saßen; noch 1376, als die Deklaranten beschämt in ihre Stiefel ver¬
sunken waren, brachte es die Partei mit Mühe und Not auf zweiundvierzig
Mandate, noch kein Drittel der Zahl, welche die Nationalliberalen aufzuweisen
hatten, und wenn sie jetzt Herrn von Rauchhaupts Schwenkung folgen wollte,
könnte sie leicht wieder zusammenschrumpfen wie vor zwölf Jahren. Es konnte
nicht verwundern und es war wohl vom Redner erwartet, daß die Germania,
Windthorsts Mundstück und Leiborgan, den schneidigen Ton der Absage mit
Wohlgefallen begrüßte, und ebenso wenig überraschte der Beifall, den ihr die
Kreuzzeitung spendete. Ist das einst in seiner Art sehr achtbare und noch jetzt
in auswärtigen Fragen häufig auf rechten Wegen gehende Blatt gegenwärtig
doch auf dem Gebiete der innern Angelegenheiten in kleinlicher, engherziger
Parteipolitik nicht minder befangen wie Eugen Richter und Konsorten, nur in
entgegengesetzter Ecke, und hat es doch nicht minder wie diese Verblendeten schon
längst den Blick für das eigentliche Leben und Bedürfnis der Nation eingebüßt.
Den Herren in diesem Winkel aus der Seele gesprochen zu haben, heißt aber
glücklicherweise nicht, der gesamten konservativen Partei oder auch nur der
Mehrheit derselben Worte geliehen zu haben. Diese Partei hat, wie die
Konservative Korrespondenz in der Sache erklärte, nicht die Aufgabe, Man¬
datsjägerei zu treiben, und ihre Kraft und Blüte wird nicht an der Zahl der
Parlamentssitze erkannt, die ihre Vertreter einnehmen, sondern an dem Maße
und Umfange, in welchem sich ihre religiösen und politischen Grundgedanken im
Volke befestigen. „Ihre Gesichtspunkte dürfen, zumal in wichtigen Epochen
unsrer Geschichte, keine andern sein als patriotische, und dieser Standpunkt sagt
uns so klar und bestimmt, wie nur eine Erkenntnis bestehen kann, daß wir im
gegenwärtigen Augenblicke doppelt Veranlassung haben, die Erschütterung hef¬
tiger Parteikämpfe und die Gefahr einer Rückbildung des im vorigen Jahre
durch das Kartell gewonnenen zu demi alten Elende unter der Herrschaft des
Dreigestirns Richter-Windthorst-Grillenberger zu vermeiden. ... Fragt man,
wer diese Stellungnahme und Beurteilungsweise empfiehlt, so antworten wir:
Die konservative Parteileitung, die parlamentarischen Vertreter unsrer Partei
im deutschen Reichstage bis auf vielleicht verschwindende Ausnahmen, zumal
auch die außerpreußischen, unter denen man die sächsischen verdientermaßen
höchlichst lobt. . . . Dieser erprobten Leitung der konservativen Partei steht eine
Gruppe von Zeitungsredaktionen gegenüber, die Verdikte darüber abgeben, wer
die Bezeichnung konservativ verdient, ohne zu dieser Ausmusterungsthätigkeit
mehr als eine sich selbst erteilte Befugnis zu haben, und deren Versuche, ein
terroristisches Regiment einer Gruppe der Konservativen über die ganze Partei
aufzurichten, wir hiermit zurückweisen. . .. Die konservativen Wähler haben, als
es zur Verwirklichung des Kartellgedankens kam, den Widerstand dieser Blätter
dagegen beiseite geschoben, und wir dürfen hoffen, daß sie auch jetzt der Stimme
bewährter Ratgeber folgen werden, von denen ihnen, wenn die Entscheidungs¬
stunde schlägt, nichts empfohlen werden wird, als was dem wahren Interesse
des Vaterlandes und zugleich dem der konservativen Partei entspricht, und die
sie für jetzt nur bitten, Besonnenheit zu bewahren und jede voreilige feindselige
Stellungnahme zu unterlassen."
Herr von Rauchhaupt hat also nur im Sinne der kleinen Kreuzzeitungs¬
partei, nicht als Vertreter der ganzen Genossenschaft der Konservativen, gegen
das Kartell gesprochen. Und hat er sich hier einem Irrtum überlassen, so würde
das nicht minder der Fall sein, wenn er seine Rede in der Voraussetzung ge¬
halten hätte, von hoher und mächtiger Seite werde sie beifällig aufgenommen
werden und man wünsche und hoffe hier ein weiteres Anschwellen der Konser¬
vativen seiner Gattung auf Kosten der Nationalliberalen, denen übrigens bei¬
läufig auch empfohlen werden darf, im Falle einer starken Vermehrung ihrer
Mandate nicht in Übermut zu verfallen und sich von ihm zu den alten Über¬
schreitungen der Grenze verleiten zu lassen, die der erste Teil ihres Namens
dem zweiten steckt. Ganz bestimmt und unzweideutig wurde dem Redner nach
dem Herzen der Kreuzzeitung von der Stelle aus erklärt, welche die Meinung
des Reichskanzlers anzudeuten Pflegt, daß sein Vorgehen dem leitenden Staats¬
manne nicht nur durch nichts gerechtfertigt erscheine, sondern sogar den Verdacht
erwecke, er gehe damit um, sich mit seinem Parteigefolge wieder den Erzfeinden
im Windthorstschen Lager zum Bundesgenossen anzutragen, was ihm und
seinesgleichen in der That ähnlich sieht. Die norddeutsche Allgemeine Zeitung
leugnete zunächst, daß sein Auftreten im Interesse seiner Fraktion gelegen habe,
da bisher aus keinem Wahlkreise Nachricht eingelaufen sei, daß die National-
liberalen den Konservativen das Mandat bestritten hätten oder es bestreiten
wollten, und fuhr darauf fort: „Wir können daher die Stellung, die Herr
von Rauchhaupt eingenommen hat, nur auf die Haltung zurückführen, die er
bei den Verhandlungen über das Schullastengesetz einnahm. Keinem unbe¬
fangenen Beobachter und Beurteiler konnte damals entgehen, daß sein Verfahren
in dieser Angelegenheit darauf hinauslaufen mußte, zwischen die drei Parteien,
die bisher in allen wichtigen Fragen zusammengestanden hatten, einen Keil zu
treiben und die Konservativen von neuem in das Lager des Zentrums hinüber¬
zuführen." Dieser Versuch mißglückte, wie erinnerlich, damals insofern, als der
bei weitem größere Teil der Fraktion ihrem Anführer den Gehorsam versagte
und es vorzog, mit den Freikonservativen und Nationallibcralcn für den ge¬
fährdeten Gesetzentwurf zu stimmen und ihn so sicher unter Dach und Fach zu
bringen. Jetzt sah es ganz so aus, als hielte Herr vou Rauchhaupt deu Augen¬
blick für geeignet, jenen fehlgeschlagenen Streich zu wiederholen und sich der ihm
unbequemen Bundesgenossenschaft der gemäßigten Liberalen durch kräftige Be¬
tonung dessen, worin seine Meinungen und Wünsche von den ihren abweichen,
zu entledigen, während doch Einigkeit der reichstreuen Parteien im wichtigsten
und einflußreichsten Landtage der Glieder des Neichsorganismus ganz ebenso
notwendig ist als in der Volksvertretung für das Ganze. Mit der Kreuzzeitung
und ihren Anhängern über den Wert und Nutzen des Kartells streiten und
hoffen, sie von ihm zu überzeugen, heißt sich auf das Gebiet des Unmöglichen
begeben. Ist doch ihr Ideal schon seit Jahren eine an zeitweilige Verschmelzung
hinanreichende dichte Annäherung an das Zentrum, das ihrer Auffassung der
Dinge mit seinem starren Widerstreben gegen jede staatliche Autorität in der
That nahe verwandt ist, und betrachtet sie doch alle, die ihren spezifisch-kirch¬
lichen Standpunkt nicht einzunehmen vermögen, mit einem Hasse, der so leiden¬
schaftlich ist, daß er es nicht für einen Raub hält, zur Befehdung, Schwächung
und Abdräugung der national gesinnten, im wesentlichen mit der Negierung
gehenden, aber freilich nicht auf jenem hochkirchlichen Standpunkte stehenden
Elemente im Hannoverschen um den Beistand der offenkundiger Welsen und der
Kreise von Zeloten zu werben, die ihr Welfentum nur bis auf weiteres ver¬
bergen, indem sie „der Obrigkeit Unterthan sind, die Gewalt über sie hat,"
d. h. die ihnen, falls sie ihre wahre Gesinnung aufdecken und bethätigen wollten,
Amt und Brot entziehen müßte. Mit der Kreuzzeitung ist also kaum mehr
zu rechnen. Man erwähnt sie nur noch gelegentlich, um sofort von ihr Weg¬
znsehen, man läßt sie grollen, schmähen und Hetzen, zumal da sie eine mehr und
mehr alternde und aussterbende Klasse von politischen Geschöpfen vertritt und
nur noch mäßigen Einfluß ausübt, obwohl sie gewohnheitsmäßig noch vielfach
gehalten wird. Anders verhält es sich mit Herrn von Rauchhaupt, wenn er
in dasselbe Horn zu blasen fortfährt wie der greisenhafte Geist des Blattes
mit dem Landwehrkreuze. Er würde damit auf einen Riß und ein schließliches
Zerfallen der Partei hinarbeiten, deren anerkannter Führer im Preußischen Ab¬
geordnetenhause er ist. Er ist hierdurch verpflichtet, die Anschauungen und
Willensmeinungen der gesamten Partei oder der großen Mehrheit ihrer Glieder,
nicht aber die Schrullen und Velleitäten eines vorzüglich von geistlicher Herrsch¬
sucht regierten Bruchteils derselben zu verkünden und zu vertreten. Der Wille
dieser großen Mehrheit ist aber, wie wir nicht erst aus der oben angeführten
Korrespondenz erfuhren, keineswegs auf einen Bruch mit den gemäßigten Libe¬
ralen, sondern auf eine Verständigung zu fernerem Zusammcnwählen und Zu¬
sammenwirken gerichtet. Von der Beute, welche der Sieg der Neichstrcuen bei
deu letzten Neichstagswahlen brachte, fiel dem nationalliberalen Flügel des
Kartellheeres der Löwenanteil zu, die Mandate, die er gewann, erreichten mit
101 fast die Zahl, deren sich die Partei in der Zeit ihrer höchsten Blüte er¬
freut hatte. Ihr Verhalten bei Behandlung der Fragen, über die sie in der
Folge im Reichstage zu reden und abzustimmen hatte, war im ganzen von der
Art, daß man ihr jenes Anwachsen gönnen konnte und daß wir ihr jetzt gleiche
Erfolge bei den Landtagswahlen wünschen dürfen. Käme es in der Folge bei
Erfüllung dieses Wunsches und dadurch gesteigertem Machtgefühle zu einem
Rückfalle in alte Sünden — wir denken an die Jahre, wo die Elemente noch
in der Partei waren und herrschten, die dann durch die Sezession ausschieden
und sich zuletzt an ihrer rechten Stelle, im Lager der Deutschfreisinnigen, ein¬
ordneten —, so wäre es für die Konservativen immer noch Zeit, das Kartell
aufzulösen. Wir dürfen aber wohl hoffen, daß die Nationalliberalen gelernt
und vergessen haben. Gut wenigstens ist es ihnen nicht bekommen, als sie von
1877 an in die Stellung einer Oppositionspartei abschwenkten.
Noch einmal: wenn Herr v. Rauchhaupt mit seinen neulichen Expektora-
tionen offenbar die Absicht verfolgte, die selbstverständlich zwischen den drei
nationalgesinnten Parteien und namentlich zwischen deu Deutschkonservativen
und den Nationalliberalen bestehenden Gegensätze grell hervortreten zu lassen
und zu einer Kluft, die keine Brücke zuläßt, zu erweitern, so handelt er nicht
im Namen und Sinne der konservativen Partei, deren Mehrheit jetzt hinreichend
darüber aufgeklärt ist, daß unsre politische Lage uns nicht erlaubt, geschweige
denn gebietet, Parteianlicgen über die Bedürfnisse des Staates und des ge¬
samten Volkes zu stellen und darüber mit denen, welche diese Bedürfnisse gleich
der eignen Partei zu fördern gewillt sind, sich zu überwerfen und mit denen, die
ihre Befriedigung bisher zu hintertreiben bemüht waren und allezeit bemüht
sein werden, zu liebäugeln, zu palliren und schließlich zusammenzustimmen. Wir
möchten uns der Hoffnung hingeben, daß Herr v. Rauchhaupt sich die Sache
nochmals überlege und zu andern Ansichten und Entschlüssen gelange. Vielleicht
überzeugt er sich bei genauerer Prüfung, daß die Aufgaben des preußischen
Landtags von denen des deutschen Reichstags sich keineswegs so sehr unter¬
scheiden, als er in Übereinstimmung mit der Kreuzzeitung meint, und dann muß
ihm einleuchten, daß es unmöglich angeht, mit denselben Leuten, die man am
Dönhoffsplatze feindselig zu behandeln vor hat, auf der Leipzigerstraße als Gleich¬
gesinnten, Gleichstrebenden und Verbündeten zu verkehren. Wir möchten ferner an
der Hoffnung festhalten, daß es wie in den obenerwähnten schlesischen, sächsischen und
rheinischen Kreise so auch in vielen andern gelingen wird, noch vor den UrWahlen
(die auf die erste Nvvemberwoche festgesetzt sind) eine Verständigung zwischen den
reichstreucn Parteien zu ermöglichen, die ein späteres ersprießliches Zusammen¬
wirken der von ihnen gewählten im Abgeordnetenhause sicherstellt. Auch das Blatt
des Reichskanzlers teilt diese Hoffnung, und zwar schöpft es sie aus Berichten
über die in den Wählerkreisen obwaltende Stimmung, woran es folgende treffende
Bemerkungen knüpft: „Es wäre eine Täuschung, wenn man annähme, daß das
Kartell nur die Bedeutung eines Vertrages habe, der zwischen den verschiednen
Parteileitungen abgeschlossen worden ist und wie ein gewöhnlicher Vertrag jeder¬
zeit wieder aufgelöst werden kann. Das Kartell ist lediglich die äußere Form
für das in den nationalgesinnten Kreisen der Wählerschaft begründete Bewußt¬
sein, daß nur durch ein entschlossenes Zusammenstehen aller staatserhaltenden
Kräfte die großen Fragen der Zeit in einer das Wohl des Landes fördernden
Weise gelöst werden können." Dieses Bewußtsein wird sich bei deu Wahlen
des nächsten Herbstes, wenn es namentlich von der wohldenkenden Presse wach¬
erhalten und gepflegt wird, auch in dem Falle mehr oder weniger Geltung ver¬
schaffen, wo in einem Kreise die Politiker vom Handwerke keinen Vertrag zu
wechselseitigen Beistände schließen, und wo die extremen Gruppen von rechts
und links dagegen wirken. Mögen diese hie und da noch mehr vermögen, als
zu wünschen und zu loben ist, die Zukunft gehört nicht dem Parteigeiste, sondern
der politischen Denkart, d. h. der, welche auf das über dem Parteitreiben
stehende, auf das Staatswohl blickt und zu dessen Förderung überall, wo die
Verhältnisse es heischen, bereit ist, Vermittlung zu versuchen und anzunehmen.
Dann aber wird die Zeit erfüllt und die Einigung der Deutschen volle Wahr¬
heit sein.
In Verbindung hiermit zum Schlüsse noch eins. Die deutschfreisinnigc
Presse klügelte aus, daß diese Polemik des Kanzlers gegen die Kreuzzeitungs¬
partei nicht sowohl den Zweck habe, diese Richtung zurückzudrängen, als viel¬
mehr den, die Nationallibercileu im Gefolge der Konservativen als „tote poli¬
tische Masse" festzuhalten. Darauf antwortet der leitende Staatsmann, indem
er sein Blatt statt seiner Person sprechen läßt, folgendes: „Wir haben von
jeher konservative Grundanschauungen vertreten, und namentlich wollen wir das
monarchische Fundament unsers Staates, der jeder Autorität die ihr zukom¬
mende Stellung anweist, erhalten wissen. Bei der darauf abzielenden politischen
Arbeit müssen wir selbstverständlich mit den extremen Strömungen von rechts
wie von links in Auseinandersetzungen geraten, und zwar umso mehr, wo sie
von der Vorstellung erfüllt und getrieben sind, den Gang der Ereignisse ohne
Rücksicht auf die thatsächlichen Verhältnisse aus dem Gesichtspunkte einer Partei
heraus bestimmen zu können. Die Klique der Kreuzzeitung wähnt ebenso wie
die entgegengesetzte politische Richtung stark genug zu sein, um im zeitweiligen
ausschließlichen Besitze der Kurbel der Gesetzgebung der gesamte» geistigen und
materiellen Entwicklung des öffentlichen Lebens ihren Parteistempel aufprägen
zu können. Wäre das wirklich so, wäre es denkbar, daß, wie früher im Ver¬
fassungsleben Englands, die Parteien sich im Besitze und Genusse der Macht
einander ablösten, dann hätten jene Ansprüche eine gewisse Berechtigung, und
gälte es nur die Parole: konservativ oder liberal, so würden wir im Verein
mit der Kreuzzeitung und ihren Freunden streben. Aber die lebendig erhaltene
Macht der Krone hat im preußischen Staatswesen die auch uur vorübergehende
Allmacht der Parteien endgiltig aus der Reihe der Möglichkeiten gestrichen, und
wie die Krone für alle da ist, so kann sie auch in ihrem Wirken für das Volks¬
wohl eine wahre, gewaltsamen Erschütterungen vorbeugende Unterstützung nur
in dem einträchtigen Zusammenarbeiten aller Elemente finden, welche die ge¬
schichtlich gegebenen Grundlagen unsrer nationalen Entwicklung geschützt, ge¬
kräftigt und weiter entfaltet sehen wollen. Wie wir aber bei solcher Anschauung
auf den Gedanken verfallen könnten, einen lebensfrischen, zu positiver Arbeit ge¬
neigten Faktor unsers Parteilebens zur toten, politischen Masse zu machen —
eine solche Behauptung kann eben nur von einem politischen Winkel ausgehen,
in welchem man es längst verlernt hat, über den Parteikirchturm hinaus nach
den Aufgaben und Zielen des Staates selbst zu blicken." Wir empfehlen den
Lesern das hierin liegende Glaubensbekenntnis zur Beachtung. Es ist die
Signatur der Ära, die mit Wilhelms II. Thronbesteigung begonnen hat.
MIM hat die Presse nach den aufregenden politischen Zwischen¬
fällen der letzten Zeit wieder einige Muße gefunden, so beginnt
auch schon die Erörterung des neuen Gesetzentwurfs über die
Alters- und Jnvalidenversorgung der Arbeiter in den Vorder¬
grund des Tagesinteresses zu treten, lind ein Blatt nach dem
andern schickt sich an, Stellung zu dem Entwurf zu nehmen und ihn kritisch
zu beleuchten.
Im Großen und Ganzen sind es zwei Hauptpunkte, um die sich der Streit
dreht. Erstens: Wie hoch sollen die Rentensätze und die Wartezeiten festgesetzt
werden? Und zweitens: Wie soll die Einrichtung der zur Durchführung der
Sache nötigen Anstalt beschaffen sein? Von diesen beiden Punkten, von
denen man den ersten kurz als die Geldfrage, den zweiten als die Organisations-
frage bezeichnen kann, ist der zweite ganz entschieden der wichtigere und schwie¬
rigere. Wenn von mancher Seite die Ansicht geäußert wird, daß eine Alters¬
rente von 120 Mark zu wenig sei, daß das 70. Lebensjahr ein zu später Termin
für die Berechtigung zum Bezug dieser Rente, daß der Zeitpunkt bis zum Bezug
des Höchstbetrages der Invalidenrente mit 45 Jahren Wartezeit zu weit hinaus¬
geschoben sei, so sind das Dinge, über die sich streiten läßt, aber es sind auch
Dinge, die jederzeit, auch nach der Einführung des Gesetzes, wieder mit leichter
Mühe geändert werden können. Man wird sagen dürfen: Es ist besser, für
den Anfang zu wenig zu bieten, als zu viel. Sind einmal Erfahrungen ge¬
sammelt und zeigt es sich, daß Abhilfe in dieser oder jener Beziehung nötig
ist, so ist diese bald geschaffen, indem man die Zahlen entsprechend verändert.
Anders verhält es sich mit der Organisationsfrage. Ist der Verwaltungs¬
apparat einmal geschaffen, so sollte er so sein, daß man ihn lassen kann, wie
er ist. Eingreifende Änderungen nach kurzer Zeit wieder vorzunehmen, ist
mißlich und schädlich. Hier gilt es also, mit aller Vorsicht zu Werke zu gehen,
damit etwas wirklich Gutes und dauernd Brauchbares geschaffen werde.
Nach dem seitherigen Gange der Angelegenheit sind nun drei verschiedene
Vorschläge wegen der Organisation zu Tage getreten: der erste ist der ur¬
sprüngliche Plan der Reichsregierung, die für die Unfallversicherung geschaffenen
Berufsgenossenschaften auch zu Trägern der Alters- und Jnvalidenversorgung
zu machen; der zweite Vorschlag möchte die Krankenkassen mit der gleichzeitigen
Besorgung wenigstens eines Teiles der Alters- und Jnvalidenversorgung betraut
sehen; der dritte findet seine Vertretung in dem neuesten Entwurf des Bundes¬
ratsausschusses und will zur Besorgung der Alters- und Jnvalidenangelegenhcit
ganz neue Verbände schaffen.
Dem letzten Vorschlage gegenüber drängt sich uns die Frage auf: Ist es
notwendig, zu den Anstalten für das Krankenwesen und für die Unfallver¬
sicherung noch eine dritte Anstalt mit weiterem kostspieligen Apparat zu schaffen?
Wäre es nicht möglich, diesen Aufwand zu ersparen und die neue Anstalt einer
der schon bestehenden anzugliedern? Daß es wünschenswert sei, wird man
Wohl zugeben; daß es auch, und zwar in ziemlich einfacher Weise, möglich ist,
hoffe ich zeigen zu können.
Wenn aber keine neue Anstalt geschaffen werden soll, an welche von den
beiden seitherigen Anstalten soll sich die neue Einrichtung anschließen? Be¬
trachten wir zunächst die Krankenkassen. Sie sind geschaffen, um den Arbeiter
gegen die Folgen vorübergehender Krankheit zu versichern, und man darf wohl
sagen, daß sie diesen Zweck seither, abgesehen von den Fehlern, die jede der¬
artige große Neuschöpfung bei dem Mangel jeglicher Erfahrung mit sich bringen
mußte, recht gut erfüllt haben. Was die Organisation dieser Kassen betrifft,
so zeigt sie eine Mischung von Berufs- und Ortsgliederung. Ortskassen, Ge¬
meinde- und Bczirkskassen, eingeschriebene Hilfskasfen, Jnnnngskasscn, Fabrik-
und Knappschaftskassen, das alles bietet ein buntes Bild verschiedenster Organi¬
sationen, die sich für den beabsichtigten Zweck der vorübergehenden Kranken¬
unterstützung ganz gut eignen, nicht aber für die Besorgung von Arbeiten, wie
sie die Versicherung gegen dauernde Arbeitsunfähigkeit mit sich bringt. Bei
vorübergehender Krankheit handelt es sich um Leistungen für 13 oder auch
26 Wochen, und für solche mag z. B. eine Fabrikkasse oder eine eingeschriebene
Hilfskasse die nötige Gewähr bieten. Anders ist es bei dauernder Erwerbs¬
losigkeit. Ein Arbeiter, dem ein Unfall zugestoßen ist oder der seine durch
anderweitige Verhältnisse entstandene Invalidität anmelden muß, blickt dabei
unter Umständen anf eine Thätigkeit von Jahrzehnten zurück, in denen er
vielleicht in Dutzenden von Orten seinen erlernten Beruf ausgeübt hat. Hier
bedarf es deshalb sicherer, festgefügter Verbände, deren Bestehen ein für allemal
staatlich verbürgt ist. Will man den Krankenkassen die Alters- und Invaliden-
Versorgung übertragen, so müssen sie zu derartigen Verbänden zum Teil erst
umgeschaffen werden, und daß es hierbei ohne einschneidende Änderungen nicht
abgeht, ist außer Zweifel.
Anders liegt der Fall mit den in letzter Zeit wieder so viel angegriffenen
Berufsgenossenschaften, die in Wirklichkeit besser sind als ihr Ruf. In ihnen
hat die Reichsregierung von Anfang an die künftigen Träger der Alters- und
Invalidenversicherung erblickt, und sie eignen sich auch hierzu ihrer ganzen Ein¬
richtung nach am allerbesten, sobald die Sache nur praktisch angegriffen und
folgerichtig auf Grund des Bestehenden weiter gebaut wird. Sie mögen ihre
Mängel haben, aber sie sind einmal geschaffen, haben sich schon etwas eingelebt,
und vielleicht verschwindet oder mildert sich gerade ein Teil ihrer Mängel, z. B. der
teure Apparat, durch die Angliederung weiterer Aufgaben, wodurch dieser Apparat
mehr Arbeit erhält. Also Angliederung der Alters- und Invalidenversicherung
an die Berufsgenossenschaften. Aber wie? Ich denke mir die Sache so.
Gegen Alter und Invalidität wäre jeder Arbeiter zu versichern, der einem
der Unfallversicherung unterworfenen Betriebe angehört. Jeder solche Arbeiter
erhält bei seinem Eintritt in den Betrieb von der Ortsbehörde ein Arbeitsbuch
(ohne eine Quittung geht es bei der Sache nun einmal mit allem guten Willen
nicht ab), etwa nach Art der für die Arbeiter unter einundzwanzig Jahren schon
im Gebrauch befindlichen, worin ihm der Eintritt in den betreffenden Betrieb
sowie seinerzeit der etwaige Austritt vom Arbeitgeber zu bestätigen ist. Die
Richtigkeit dieser Einträge wird durch Vermerk der Ortsbehörde beglaubigt und
zugleich in einer weitern Rubrik die Anzahl der vollen Wochen, während deren
der Arbeiter beschäftigt gewesen ist, und die Berufsgenossenschaft, zu der der
Betrieb gehört, vermerkt. Über die betreffenden Beglaubigungen ist von der
Ortsbehörde Buch zu führen, auch steht ihr das Recht zu, für jeden Eintrag
eine kleine Gebühr zu erheben, die vom Arbeitgeber und vom Arbeiter je zur
Hälfte zu tragen ist.
Die Feststellung der Rcntcnbeträge erfolgt nach Maßgabe der gesetzlichen
Bestimmungen durch die Berufsgenossenschaft, der der Berechtigte zuletzt angehört
hat, unter Mitwirkung der für die Unfallversicherung geschaffenen berufsgenossen¬
schaftlichen Schiedsgerichte und Berufung an das Reichsversichernngsamt in
Streitfällen. Die Bezahlung der Rentcnbeträge besorgt die Post in monatlichen
Raten wie die Bezahlung der Unfallentschädigungen.
Die Mittel für die Rentenbeträge haben zu einem Drittel das Reich, zu
zwei Dritteln die Berufsgenossenschaften aufzubringen, in deren Betrieben der
betreffende Rentenberechtigte während seines Lebens gearbeitet hat, und zwar
im Verhältnis zu der Zeit, während deren er laut den Eintragen in seinem
Arbeitsbuche diesen Berufsgenossenschaften angehört hat. Die Deckung der
hierdurch für die Berufsgenossenschaften entstehenden Kosten geschieht wie folgt.
Alljährlich ist von sämtlichen Arbeitgebern ein Namcnsverzeichnis der im letzten
Rechnungsjahre beschäftigt gewesenen Arbeiter bei der Berufsgenossenschaft ein¬
zureichen, bei jedem Arbeiter anzugeben, wie viele Wochen er in dem Betriebe
beschäftigt gewesen ist, und sodann die Summe der Arbeitswochen zusammen¬
zuzählen. Diese Summe bildet die Grundlage für das Verhältnis, nach welchem
die einzelnen Betriebe an der von der Berufsgenossenschaft an das Reichs¬
versicherungsamt zu zahlenden Summe teilnehmen, während die Arbeitgeber
ihrerseits das Recht haben, die Hälfte der von ihnen zu Zwecken der Alters¬
und Juvalidenversorgung an die Genossenschaft bezahlten Summe von den
Arbeitern sich durch regelmüßige Lohnabzüge ersetzen zu lassen. Für die Zeit
des Überganges wird sich vielleicht empfehlen, den Berufsgenossenschaften die
Bildung eines Reservefonds ähnlich wie bei der Unfallversicherung vorzuschreiben.
Dies ist in möglichst gedrängten Zügen der Vorschlag, den ich zu machen
habe. Man sieht, er ist bestrebt, überall, soviel als nur möglich, an Bestehendes
anzuknüpfen. Die Schaffung neuer Verbände fällt weg, und die ganze Ein¬
richtung schließt sich eng der Unfallversicherung an. Durch Einführung des
reinen Umlageverfahrens wird die ganze Einrichtung so einfach als möglich,
insbesondre fällt das geplante, bereits so vielfach angegriffene Markenbuch voll¬
ständig weg. Aber auch ein weiterer Wunsch mancher Kreise, namentlich
Schäffles, könnte bei der angegebenen Art der Einrichtung, wenn auch nicht
gleich, so doch vielleicht mit der Zeit, mit leichter Mühe Berücksichtigung finden,
es wäre die Einführung einer gewissen Verhältnismäßigkeit zwischen Lohn- und
Rentenbetrag. Die Rente müßte durchaus nicht für alle Arbeiter gleich fest¬
gesetzt sein. Jede Berufsgenossenschaft könnte mit der Zeit ihre Rentensätze
anders festsetzen, ohne daß hierdurch eine Änderung der Organisation erforderlich
würde.
0n rsvisut touMrs ü, öff xromiors amour8. Möge das alte Sprichwort
auch hier wieder Geltung haben und die Berufsgenossenschaft zu ihrem Rechte
kommen. Ich schließe diese Zeilen mit dem herzlichen Wunsche, daß es dem
eifrigen Zusammenwirken der gesetzgebenden und beratenden Kreise gelingen möge,
die große Frage der Alters- und Jnvalidenversorgung recht bald in einer Weise
zu lösen, die dem Gesamtwohl entspricht und die Lösung der sozialen Frage
wieder einen tüchtigen Schritt vorwärts bringt.
>>
^.-l^-;'eher das Wesen der Materie selbst hat sich Kant im Laufe
der Jahre zu immer reiferer Ansicht durchgearbeitet. Er braucht
anfänglich immer den Ausdruck Wärmestoff, den er den An¬
schauungen seiner Zeitgenossen entnahm, und folgt dabei der
damals (auch wohl heute noch) geltenden Hypothese, daß es
zweierlei Stoffe gebe, die wägbaren (ponderabeln) und die unwägbaren (im-
ponderabeln). Der unwägbare Wärmestoff sollte alles andre durchdringen
und durch seine eignen Schwingungen die wägbaren Stoffe in Bewegung und
Erschütterung der kleinsten Teile versetzen. Bei fortgesetzten kritischen Unter¬
suchungen aber entstehen ihm zunächst Zweifel, ob eine solche Hypothese eines
eigentümlichen Stoffes nötig sei, um die Schwingungen und Erschütterungen
der wägbaren Materie zu erklären. Schließlich spricht er es aus, daß Wärme
nichts sei als innere oscillatorische (schwingende) Bewegung oder Erschütterung der
kleinsten Teile aller Materie überhaupt, ohne daß dazu ein besondrer durch¬
dringender Stoff erfordert werde. Es giebt daher weder eine wägbare Materie,
die mit unwägbaren Stoffen durchsetzt wäre, noch einen unwägbaren Stoff, der
als Hülle der Atome diente (wie heute noch die Ätherhüllen hypothesirt werden),
sondern es giebt nur eine Materie, deren beide konstituirende Kräfte Anziehung
und Abstoßung sind, bekannt unter den Namen Gravitation und Wärme.
In den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft hatte Kant
gezeigt, wie man die Materie als dasjenige, was beweglich ist und den Raum
erfüllt, beurteilen müsse, indem man alle Funktionen des Denkens auf sie
anwendet. Jetzt untersucht er die Kräfte selbst, die der Materie ihre Eigen¬
schaften geben. Weil die Materie nur durch Bewegung erkannt werden kann,
indem sie unsre Sinnesnervcn in Erschütterung setzt, so existirt sie für uns nicht
anders als in fortwährender Bewegung, und da außer ihr im Raum nichts
andres ist, was ihr die Bewegung erteilen könnte, so muß sie von Ewigkeit her
die Bewegung in sich tragen. Wer ihr die Bewegung erteilt hat, ist eine Frage
nach etwas Transzendenten, die wir nicht beantworten können. Da sie das
Einzige ist, was den Raum erfüllt, so ist sie unendlich ausgedehnt, wie der
Raum und die Zeit. Da sie die Quelle aller physischen Kraft ist, ihre ganze
Summe aber weder vermehrt noch vermindert werden kann, so ist auch die Kraft
unerlöschlich und ewig. Da ferner der Raum den Gesetzen der Mathematik
unterworfen ist, so müssen es die Bewegungen der Materie auch sein. Sie
darf nicht aus Atomen zusammengesetzt gedacht werden, sondern sie ist wie der
Raum eine kontinuirliche Größe, Atome lassen sich wohl willkürlich konstruiren
zum Zwecke einer Berechnung, aber sobald ein kleiner Teil wahrnehmbar ist,
so ist er auch teilbar in noch kleinere Partikel. Unteilbare Materie ist eben so
wenig möglich wie unteilbare Räume.
Die bloße Materie, die allen materiellen Bildungen und körperlichen
Gestalten als alldurchdringender Urstoff oder Weltstoff zu Grunde liegt, ist
als solche form- und grenzenlos und kann nicht sinnlich wahrgenommen werden,
denn die Organe der Sinneswahrnehmung beruhen selbst auf ihren Kräften.
Wir sehen nicht die Schwingungen des Äthers, dessen Begriff sich ungefähr
mit der Weltmatcrie bei Kant deckt, wir sehen nicht den Äther, sondern durch
dessen agitirende Bewegung die erleuchteten oder leuchtenden materiellen Gegen¬
stände. Der Urstoff (inatsrig, äöiörons oder soluw) ist nicht wahrnehmbar (im-
pcrceptibel), nicht einzuschränken (inkoercibel), nicht zusammenhängend (inkohä-
sibel) und unerschöpflich (inexhaustibel), im Gegengesetz zu den körperlichen
Gestalten, die durch ihn hervorgebracht werden (matsrig, ki^ta.), die wahr¬
nehmbar (perceptibel), in Grenzen eingeschlossen (koercibel), zusammenhängend
(kohäsibel) und auszuleeren (exhcmstibel) sind. Kant entschuldigt sich selbst wegen
des Anscheines einer Wortkrämerei mit so ungewohnten technischen Ausdrücken,
er brauche sie, weil dadurch der Vortrag in der Exposition der Begriffe ab¬
gekürzt werde. Das „inkoercibel" heißt unsperrbar und alldurchdringend;
die immerwährende schwingende Bewegung der kleinsten Teile der Materie
hört nicht auf, wenn sich ihr feste Körper entgegenstellen, sondern diese sind
vollkommen durchgängig für jene Schwingungen. Die Bewegung der allge¬
meinen Weltmaterie wird nur durch sich selbst verändert, indem anziehende
und abstoßende Kräfte gegen einander wirken. Je nachdem die eine oder die
andre das Übergewicht hat, entstehen die verschiedenen Aggregatzustände der
wägbaren Stoffe. Denn auch die Wägbarkeit kommt nur der Materie im ge¬
formten Zustande zu, nur der niatsrig. ki^w, nicht der solutA. Ebenso wie
die allgemeine Materie nicht in Grenzen eingeschlossen werden kann, so ist sie
auch nicht innerhalb solcher Grenzen im Zusammenhange gebunden, d. i. nicht
kohäsibel. Der Zusammenhang eines Stoffes in sich wird erst hervorgebracht
durch verbindende Kräfte, die durch das Gegcnciuauderwirken der Gravitation
und der Wärme entstehen. Endlich wird die Unerschöpflichkeit, das Jnexhaustible,
dadurch bewirkt, daß niemals ein Raum ganz von jeder Materie entleert
werden kann. Ein ganz leerer Raum würde nicht auf unsre Sinnesorgane
wirken, also nicht wahrnehmbar sein, d. i. für uns nicht existiren.
So ist denn die Weltmaterie nach allen Richtungen hin vollständig defi-
nirt mit negativen und positiven Merkmalen, und darum ist sie nicht mehr
eine bloße Hypothese, sondern ein wirklich existirender Gegenstand der Wissen¬
schaft von» Übergange von der Metaphysik zur Physik, als notwendige Vor¬
bedingung zu aller Erfahrung in der Physik. Kant sagt: „Von einem solchen
formlosen, alle Räume durchdringenden, nur durch die Vernunft zu bewährenden
Urstoffe, von welchem wir nichts mehr als bloß im Raume verbreitete und all¬
durchdringende, bewegende Kräfte denken, läßt sich seine Wirklichkeit auch vor
der Erfahrung, mithin g, priori zum Behufe möglicher Erfahrung postuliren."
Nachdem also aus der Thatsache des menschlichen Bewußtseins die Berech¬
tigung nachgewiesen ist, einen Urstoff, Materie genannt, allen Thatsachen der
physikalischen Erfahrung zu Grunde zu legen, und da diesem keine andern
Eigenschaften beigelegt werden können als bewegende Kräfte, die wieder nur durch
die reaktiven Kräfte des Subjekts erkennbar sind, so handelt es sich nun um
die systematische Darstellung aller Kräfte der Materie. Sie müssen sich unter¬
ordnen lassen unter die Bedingungen aller Erfahrung überhaupt, d. i. unter die
Kategorien der Quantität, der Qualität, der Relation und der Modalität, denn
wir haben keine andern Kräfte der Erkenntnis als die nach diesen Kategorien
arbeitenden Funktionen des Bewußtseins. Daß die Physiker im allgemeinen
den Begriff der Kraft gern vollständig aufgeben möchten, aber nur durch die
Notwendigkeit, die Thatsachen der Erfahrung systematisch mit einander zu ver¬
knüpfen, sich nicht zu einem so radikalen Entschlüsse aufraffen können, haben
wir schon angedeutet. Man sieht nur Bewegungen der Körper und schließt
auf eine Kraft als Ursache derselben, die man aber selbst nicht sehen kann,
die also scheinbar nicht als wirklich nachgewiesen werden kann. Daher ist
es nicht unbegreiflich, daß es zahlreiche Aussprüche der ersten Physiker giebt,
welche behaupten, daß die Kraft überhaupt nie ein Gegenstand unsrer Er¬
kenntnis sein könne. Sagt doch Du Vois-Reymond sogar in der berühmten
Vorrede zu seinem ersten großen Werke, daß es eine Schwäche der menschlichen
Vernunft sei, sich auch da noch, wo ihre Einsicht aufhöre, mit einem dialektischen
Kunstgriff wie dem Begriffe der Kraft als Ursache der Bewegung über die
Schwierigkeiten weiter zu helfen und über die Beschränkung der eignen Grenzen
sich selbst zu täuschen. Dagegen sagt Kant: Die Schwierigkeit der ganzen
Frage, wie weit wir eine Kraft wirklich erkennen können, löst sich dadurch, daß
wir nicht in Gedanken etwas trennen, was in der wirklichen Welt niemals ge¬
trennt erscheint. Kraft und Bewegung sind in Wirklichkeit immer mit einander
verbunden, und unsre Verlegenheit ist nur dadurch entstanden, daß wir die
Kraft als Ursache der Bewegung vorhergehend dachten und nun sie nicht als
etwas Selbständiges fassen und begreifen konnten. Wenn ich ein Gewicht auf¬
hebe, so fühle ich die Anstrengung gleichzeitig, so lange ich es thue. Die von
mir aufgewandte Kraft giebt mir unmittelbar die Gewißheit, daß das Gewicht
eine aktive Kraft hat, die ich durch eine realtive Kraft überwinde. Bewegung
und Kraft gehören zusammen wie Form und Inhalt. Wie ich im Raume keine
Form sehen kann, die nicht einen Inhalt Hütte, wie selbst die reinen mathe¬
matischen Figuren nicht anders wahrgenommen werden können, als wenn sie
durch einen sichtbaren Inhalt und eine Umgrenzung von andern Teile» des
Raumes abgegrenzt sind, so ist die Bewegung nichts andres als die Form, in
der die Kraft der Materie sich äußert. Kein Inhalt ist wahrnehmbar ohne
Form, leine Form ist wirklich ohne Inhalt. So ist auch keine Kraft wahr¬
nehmbar ohne Bewegung und keine Bewegung ohne Kraft. Dafür geben uns
die reaktiven Kräfte, die wir selbst zur sinnlichen Wahrnehmung gebrauchen,
die unmittelbare Gewißheit. Daher läßt sich mit vollem Rechte ein System
aller denkbaren Kräfte aufbauen.
Zunächst bemerkt Kant, daß, wenn man die Kategorien zur Einteilung und
Erklärung realer Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung benutzen wolle (im
Gegensatz zu den spätern philosophischen Lehrmeistern), man stets auf zwei ent¬
gegengesetzte Haupt- oder Stammbegriffe komme, weil es sich nicht bloß um
logische, sondern um reale Gegensätze handle wie g, und — a oder wie etwas
Positives und etwas Negatives. Damit hat er gewissermaßen cmtizipirt, was
Krause erst in den siebziger Jahren fand (Gesetze des menschlichen Herzens,
1876), daß der Versuch, mit den Kategorien erfolgreich zu arbeiten und sie ans
Wahrnehmungen anzuwenden, notwendig dahin führe, zwei Hauptgegensätze in
jeder Klasse (der Quantität, der Qualität, der Relation und der Modalität)
zu statuiren, nicht aber darin, wie Kant zuerst gelehrt hatte. Daß es bei
Krause vier in jeder Klasse geworden sind, hebt das Prinzip der Zweiteilung
nicht auf, welches Kant schon frühzeitig für alle reinen Verstandesbegriffe
annahm.
Bei der systematischen Aufzählung aller Kräfte der Materie folgt Kant
um immer dem Prinzip, nichts vorauszusetzen, was nicht mit der Empfindung
und Wahrnehmung zusammenhängt und dadurch begreiflich und beweisbar wird,
im Gegensatz zur Atomistik und Molekularphysik, die metaphysische Theorien
darstellen, welche das Sichtbare auf das Unsichtbare und Unbeweisbare gründen,
aber trotzdem heutzutage noch in Blüte stehen. Die Einteilung der denkbaren
bewegenden Kräfte geschieht nun zunächst dem Materiellen nach in ortsverändernde
und innerlich bewegende Kräfte; das ist dasselbe wie anziehen, abstoßen oder
in beidem fortwährend wechseln, wie Erschütterung oder Schwingung. Die be¬
wegende Kraft, die nur abstoßend bewegen kann, ist Mchcnkraft, d. i. eine solche,
die nur in der Berührung wirkt, wogegen die Anziehung eine durchdringende
Kraft ist, die auch in die Ferne wirkt. Ferner werden sie eingeteilt dem For¬
maten nach: 1. der Richtung nach: Anziehung oder Abstoßung; 2. dem Grade
nach: d. i. der Geschwindigkeit der Bewegung nach; 3. der Relation nach: d. i. der
mechanischen Wirkung der Körper auf einander; 4, der Modalität nach: d. i.
ob eine Bewegung Anfang und Ende hat oder immerwährend dauert. Daran
schließt sich der Begriff des Gegensatzes zwischen toter Kraft und lebendigen
Kräften. Erstere ist die durch einen äußern Anstoß mitgeteilte Bewegung, die
Anfang und Ende hat, letztere dagegen sind unendlich und bewegen die Ma¬
terie innerlich durch Vibrationen oder Erschütterung. Alle bewegende Kräfte
der Materie sind also entweder anziehend oder abstoßend, und physische Körper
werden dadurch gebildet, daß beide Arten von Kräften sich gegenseitig in ver-
schiednen Verhältnis beschränken.
Die oberste Einteilung aller Gegenstände der empirischen Anschauung der
Materie ist nun die in Stoffe, physische Körper und organische Körper. Wenn
sich die Kräfte der Materie so beschränken oder vereinigen, daß etwas Beweg¬
liches im Raume entsteht, so nennen wir dies, so lange wir von jeder Be¬
wegung durch bestimmte Form und Gestalt absehen, Stoff. Sind die Kräfte
in der Art vereinigt, daß eine bestimmte Gestalt umgrenzt wird, so nennen wir
es einen physischen Körper; findet die Gestaltbildung nach dem Prinzip statt,
daß alle einzelnen Teile sich zu einem Ganzen zusammenschließen, sodaß sie sich
dem Plane dieses Ganzen unterordnen, so nennen wir es einen organischen
Körper. Hier aber reicht die Physik mit ihren Prinzipien zur Erklärung nicht
mehr aus. Die Wissenschaft vom Übergange von der Metaphysik zur Physik
muß auf die Einteilung in physische und organische Körper hinweisen, denn die
Erfahrung lehrt unzweifelhaft, daß alle Organismen ganz analog einer Ma¬
schine nach einem bestimmten Zwecke oder Plane konstruirt sind, sodaß die ein¬
zelnen Teile nicht um ihrer selbst willen, sondern um dem Ganzen zu dienen,
da sind. Wie das möglich ist, das können wir freilich nicht begreifen. That¬
sache ist es, daß ein physischer Körper beim Zerbrechen oder Zerspringen in
kleinere Teile zerfällt, die wieder Physische Körper darstellen, ebenso selbständig,
wie es der erste war. Nur die nach einem Zwecke angefertigten Geräte und
Maschinen zerfallen nicht in gleichwertige Teile, sondern durch den Verlust eines
Teiles wird das Ganze beschädigt, und der einzelne Teil verliert die Bedeutung,
die er vorher hatte, so lange er dem Ganzen diente. Aber eine solche nach Zwecken
wirkende Ursache kennen wir nur in uns selbst, in unserm eignen Willen, Streben
und Schaffen. Wie außer uns in der Natur eine solche nach Zweckgcdanken
wirkende Kraft thätig sein kann, das vermögen wir nicht g. xriori einzusehen,
wenn wir auch die Thatsache des Daseins einer solchen Kraft nicht leugnen
können, denn wir vermögen nur das mit Sicherheit einzusehen, was in den
Kräften unsers eignen Erkenntnisvermögens begründet ist. Wenn also die neueste
Biologie die zweckmäßig wirkende schöpferische Kraft in der organischen Natur
aus physikalischen Prinzipien erklären will, so ist das entweder Schwärmerei
oder Unsinn, das heißt in Widerspruch mit den Prinzipien der Vernunft.
Es folgt nun eine Übersicht über das Elementarsystem der bewegenden
Kräfte der Materie nach den vier Klassen der Kategorien Quantität, Qualität,
Relation und Modalität. Dabei werden die Erfahrungsthatsachen der Physik
klassifizirt und gleichsam in die frühern des menschlichen Erkenntnisvermögens
eingereiht. Wenn die Materie den Raum überall gleichmäßig erfüllte, so wäre
ihre Quantität geometrisch zu bestimmen durch die Raumteile, die ihre Massen
einnehmen. Da aber der Raum in unendlich verschiednen Grade der Dichtigkeit
von der Materie erfüllt ist, so ist ihre Quantität nur durch das Gewicht er¬
fahrbar. Damit aber ein Wägen der Materie möglich sei, muß sie anziehende
und abstoßende Kräfte besitzen. Der Hebel einer Wagschale muß stark sein durch
eine Widerstandskraft, die er dem Zerbrechen entgegensetzt, und die Materie
oder der Körper, der gewogen werden soll, muß durch die Kraft der Gravi¬
tation gegen den Mittelpunkt der Erde angezogen werden. Gäbe es nur die
eine bewegende Kraft der Materie, die Gravitation, so müßte schließlich das
ganze Weltall in einen einzigen Punkt zusammenfallen. Wäre die Abstoßung
die einzige bewegende Kraft der Materie, so müßte sich alles in dem unendlichen
Raume verlieren. Nur das Gegenteil beider Kräfte in verschiedenem Maße
macht es möglich, daß die Quantität materieller Körper durch Wägen bestimmt
werden kann. Die Metaphysik giebt so die Erklärung dafür, wie überhaupt die
Wägbarkeit (die Ponderabilitcit) der Materie zu stände kommt; sie macht es
auch begreiflich, wie räumlich gleich große Körper verschiedenes Gewicht haben
können; das verschiedne Verhältnis der gegen einander wirkenden Kräfte muß
eben einen verschiednen Grund der Erfüllung des Raumes zur Folge haben.
Die Physik hat dann empirisch das Gewicht — das spezifische wie das ab¬
solute — der Körper zu bestimmen. So ist die Quantität die erste charak¬
teristische Eigenschaft aller Materie, die wir unsrer Erfahrung unterwerfen.
Das Wesen einer impouderabeln Materie dagegen würden wir niemals bestimmen
können. Der Begriff einer solchen würde sogar einen Widerspruch in sich ent¬
halten; denn es kann nur das mit Recht ein Objekt der Wissenschaft sein, was
crfahrvcir ist, und erfahren kann nur werden, was auch Quantität hat.
Die Qualität der bewegenden Kräfte führt uns auf die Aggregatzustände
der Materie und erklärt, wie es möglich ist, daß es feste, tropfbar flüssige und
elastisch flüssige, d. i. gasförmige Stoffe giebt. Kant entwickelt dabei eine Theorie
der Wärme, die in allen wesentlichen Teilen mit den heutigen, mindestens ein
halbes Jahrhundert später zur Geltung gekommenen Vorstellungen übereinstimmt.
Der Unterschied ist nur der, daß nach ihm die Wärme die Erschütterung
der kleinsten Teile der Materie ist, nur ohne das Vorhandensein wirklicher
Atome, deren Existenz niemand nachweisen kann. In tropfbar flüssigem Zustande
überwiegen die anziehenden Kräfte über die abstoßenden und suchen die Substanz
auf einen möglichst kleinen Raum zu konzentriren, daher der Tropfen, sich selbst
überlassen, Kugelform annimmt. Im elastisch flüssigen (gasförmigen) überwiegen
die abstoßenden Kräfte, daher die Grenze nur von außen durch anstoßende
Körper bestimmt wird. Starre Materie ist, die sowohl äußerlich als innerlich
der Verschiebung ihrer Teile widersteht. Alles Feste hat ein Gefüge, Textur,
welche bewirkt, daß es beim Bruch sich in gewissen Richtungen trennt. Wir
deuten hier nur an, wie mannichfache Betrachtungen hier über das Wesen des
Steifen, Biegsamen, Spröden, Zerreibbaren, Streckbaren folgen. Sodann kommen
eingehende Untersuchungen über die Kapillaranziehung, die Krystallisation und
die Schmelzung, wobei zuweilen ganz überraschende Ergebnisse, selbst für den
heutigen Naturforscher, als reife Früchte nebenbei abfallen. Da die Wider¬
standskraft in einem starren Körper größer ist als in einem flüssigen, diese aber
auf Erschütterung der kleinsten Teile beruht, so muß bei der Berührung von
Starren und Flüssigem auch in letzterm die Widerstandskraft vermehrt werden,
d. h. die Erschütterungen der kleinsten Teile setzen sich vom starren Körper in
die Flüssigkeit fort. Da nun auch die Aliziehungskraft im Flüssigen nicht so
groß ist wie im Starren, so ist die Folge, daß bei der Berührung die Flüssig¬
keit weniger dicht, d. i. spezifisch leichter wird. Daher das Aufsteigen des
Wassers in engen Röhren, das man Kapillaranziehuug genannt hat. Kant
hätte für diese Theorie auch als Beispiel anführen können, daß am Rande der
Gewässer, wo starre Ufer oder Holzpfähle das Wasser berühren, dieses später
gefriert als in der Mitte, denn die Vermehrung der Widerstandskraft, d. i. der
Erschütterung der kleinsten Teile, ist identisch mit Vermehrung der Wärme.
Völlig überraschend ist das Beispiel, welches er wirklich anführt: nicht nur die
Thatsache des Aufsteigens der ernährenden Flüssigkeit in den Pflanzen wird
dadurch leichter begreiflich, daß sich in den Saftkanälen der Aggregatzustand
des Wassers verdünnt und dem Dampfe ähnlicher wird, sondern so erklärt
sich mich, wie es möglich ist, daß wachsende Wurzelfasern oder Baumzweige
Felsen und Mauern auseinander sprengen, wenn sie in deren Spalten ein¬
gedrungen sind. Ebenso die Thatsache, daß man durch aufquellende Erbsen die
Knochen eines Schädels auseinander sprengen kann. Wenn bei diesen Vor¬
gängen eine Ausdehnungskraft nachgewiesen wird, die ähnlich der Dampfkraft
wirken muß, so verliert die Erscheinung alles Rätselhafte, welches ihr anhaftete,
so lange man nur das Wort Kapillarität zur Erklärung hatte.
Wir können unmöglich alle Einzelheiten der überreichen Schrift hier wieder¬
geben. Nur das sei noch erwähnt, wie die Theorie des Polirens von Metallen
nach denselben Prinzipien erklärt wird. Durch Reibung zweier festen Körper
entsteht Vermehrung der Erschütterung der kleinsten Teile, also Wärme und
Verdünnung des Aggregatzustandes bis zum flüssigen. Daher kann durch Reiben
mit einem krystallinischen oder körnigen Pulver die Oberfläche von Metallen
und von Glas Völlig spiegelglatt werden, weil sich die »berste Fläche in ihrem
Aggregatzustande ändert und dein flüssigen ähnlich wird. Buche sie ebenso hart
und starr wie die innern Schichten, so würde ein solches Reiben mit dem
Pulver nur zur Entstehung unzähliger kleiner Schrammen führen. Diese werden
aber durch die weicher gewordene oberste Schicht der Masse glatt ausgefüllt.
Daher erklärt es sich denn auch, daß die spiegelglatte wieder verloren gehen
kann durch Berührung mit Körpern, die weniger hart sind als Metall oder
Glas. Und schließlich erklärt sich so der Substanzverlust, den jede Reibung mit
sich bringt und der es unmöglich macht, ein xörxswuin iliMls zu konstruiren.
Die Relation, d. i. die Beziehung der einzelnen Teile der Materie ans
einander, führt nus auf die Betrachtung der Kohäsion, derjenigen Kraft, die
den Zusammenhang der Körper bewirkt und aufrecht hält. Kant weist nach,
daß diese Kraft ebenso wie die Wärme auf einer dauernden Erschütterung der
kleinste» Teile beruhen muß, aber die Bewegung, welche die Kohäsion hervor¬
bringt, muß eine Form haben, die der Wärmebewegung entgegengesetzt ist.
Kohäsion ist daher das reale Gegenteil der Wärme. Sie führt zur Erstarrung
aus dem flüssigen Zustande,, wenn die Wärme verringert wird. So werden
die beiden Grundkräfte Anziehung und Abstoßung, die die Materie haben muß,
um ein Gegenstand der Erfahrung zu sein, charakterisirt als lebendige Kräfte,
durchdringende Erschütterung der kleinsten Teile, in entgegengesetzten Formen
der Bewegung. Wenn bei der Erschütterung der kleinsten Teile die Bewegung
in der Richtung nach außen überwiegt, so ist die Folge Erwärmung der Masse,
Ausdehnung und Lockerung des Zusammenhanges, d. h. Übergang des Aggregat¬
zustandes vom festen in den flüssigen und schließlich gasförmigen Zustand.
Überwiegt dagegen die koukussorische Bewegung in der entgegengesetzten Form,
so vermindert sich die Wärme, und die kleinsten Teile der Masse fügen sich zu
festen Körpern zusammen, die der Verschiebung Widerstand leisten. Der Ge¬
danke ist folgerichtig durchgeführt, daß Kohäsion und Wärme die beiden ur¬
sprünglichen Grundkräfte der Materie sind, welche Abstoßung und Anziehung
bewirken, und die nach mathematischen Gesetzen in ihrer Wechselwirkung alle
Erscheinungen der Physik hervorbringen. Man beachte wohl, wie diese Lehre
Kants vollkommen übereinstimmt mit den tiefsinnigen neuern Forschungen eines
I. N. Mayer über das mechanische Äquivalent der Wärme.
Bei der Untersuchung der Modalität der Materie und ihrer Kräfte führen
dieselben Prinzipien, die Kant durch sein ganzes Werk aufrecht erhalten hat,
sehr klar und bestimmt zu dem Ausspruch, daß das, was man jetzt das Gesetz
der Erhaltung der Kraft nennt, welches unsre Empiristen neu entdeckt und bis
zu einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit bewiesen zu haben sich rühmen,
eine notwendige Bedingung für alle Erfahrung der materiellen Kräfte sei. Wäre
die Materie ein bloßer Gedanke, sowie man sich das „Ding an sich" vorzustellen
liebt, nach dem in der Erfahrung niemals gefragt wird, so könnte man sich
auch ein Aufhören der Bewegung ihrer Teile denken. Da aber diese Bewegung
der Materie die Vorbedingung für alle Erfahrung ist, so kaun das Aufhören
derselben niemals erfahren werden. Die bewegenden Kräfte der Materie wirken
auf unsre Sinne und erwecken die reaktiven Kräfte unsers Bewußtseins, dnrch
die wir erst zur sinnlichen Wahrnehmung gelangen. Auf der sinnlichen Wahr¬
nehmung aber ruht alle Erfahrung, also würde das Aufhören der Wirkung
der materiellen Kräfte auf die Sinne das Aufhören jeder Erfahrung und des
Bewußtseins selbst bedeuten. So gewiß also wie wir selbst Bewußtsein
haben, ebenso gewiß dauert die bewegende Kraft der Materie unerschöpflich und
ewig fort.
Das Schlußwort in diesem wunderbaren Werke ist eine Warnung an die
Naturforscher und Philosophen: die Naturforscher sollen nicht glauben, aus em¬
pirischen Thatsachen eine Metaphysik schaffen zu können, und die Philosophen
sollen die Thatsachen der Erfahrung nicht a xriori, konstruiren, sondern nur in
einem System der Erkenntnis zusammenfassen. Beide sind durchaus auf einander
angewiesen.
Dies in Umrissen der Inhalt der von Kant hinterlassenen Handschrift, so
weit sie sich auf Naturerkenntnis bezieht und in der Bearbeitung Krauses
uus vorliegt. Man kann es anch jetzt noch nicht ein vollendet abgeschlossenes
Werk nennen, obwohl Krause das Verdienst gebührt, Ordnung und Zusammen¬
hang darin nachgewiesen zu haben. Es gleicht vielmehr einer reichen Fundgrube
tiefer Weisheit, künftige Arbeiten anregend und sie befruchtend. Aber bevor
das möglich wird, müssen die Naturforscher sich erst ein wenig in Kants Denk¬
weise hineingewöhnt haben, und dafür sind die Aussichten noch sehr gering.
Alle meine bisherigen Bemühungen in dieser Richtung scheinen infolge der
Gleichartigkeit gegen alle Philosophie so gut wie vergeblich gewesen zu sein.
Die fortgesetzte Teilnahmlosigkeit der gelehrten Welt wie der Behörden kann
die Sache nicht fördern, und namentlich nicht die Herausgabe des letzten Teiles
der Handschrift beschleunigen, worin Kant gleichsam der Weisheit letzten Schluß,
die Lehre von den Ideen Gott, Welt und Menschentum, niedergelegt hat. Und
doch wird die reiche Saat von Kants Gedankenarbeit erst dann völlig auf¬
gehen, wenn sein ganzes System bis zum letzten Schlußstein der Welt vor
Augen liegt. Noch weiß die Welt es meistens nicht, wie dies Ganze sich dar¬
stellt als eine wvhlgcschlosfene Kette vorgedachter Wirkung. Dieselben Prinzipien
beherrschen folgerichtig das ganze System. In der Erkenntnistheorie wurde
nicht, wie uns die Gelehrten glauben machen wollten, der Weg zum Erkennen
der Wirklichkeit verschlossen, sondern umgekehrt, der einzige Pfad nachgewiesen,
auf dem es dem Menschen möglich ist, die Wahrheit wirklicher Dinge außer
uns zu erkennen. In der Naturphilosophie wurden diese Prinzipien praktisch
auf die wirklichen Dinge angewandt, und es zeigte sich, daß sie in der That
geeignet waren, ohne alle Mystik und ohne Phantasterei die empirischen That¬
sachen in ein zusammenhängendes Ganze der Erkenntnis zu bringen. Die
Vollendung des Ganzen, die Lehre von den höchsten Ideen, zu der die Kritik
der praktischen Vernunft die Vorarbeit war, liegt noch in unverstandener Form
im Manuskript. Nur wenn unser Volk sein Interesse ihm in ganz andrer Weise
als bisher zuwendet, werden wir der herrlichen Früchte uns erfreuen können.
le originellste Gestalt nnter allen Lehrern der Hochschule und
zugleich eine der ersten Zierden derselben war unbestritten der
Philologe K. M. Göttling. Als Gelehrter anerkannt, als
Mensch eine echte Thüringer Natur der besten Art, gutmütig
und zugleich mit einem prächtige!,, oft allerdings etwas derben
Humor ausgestattet, war er in der Gesellschaft ein unschätzbares Element. Für
Jena wurde er u. a. durch die Gründung des archäologischen Museums und
der zu diesem Zwecke von ihm ins Leben gerufenen sogenannten Nosenvorlesungcn
von nachhaltiger Bedeutung. Als jüngerer Mann hatte er zu Goethe in ziem¬
lich nahen Beziehungen gestanden. Ans diesem Verkehr mit dem greisen
Dichter wußte er im vertraulichen Kreise manches Pikante mitzuteilen, was
nicht gerade für die Verbreitung durch den Druck bestimmt war. Wenn man
von Göttlings menschlicher Erscheinung spricht, darf man seine Schwester At¬
ome billigerweise nicht mit Stillschweigen übergehen. Ohne geistreich zu sein,
hatte sie, als ein untrennbares Teil ihres Bruders, getragen von seiner warmen
Anhänglichkeit wie durch ihre lebhafte Teilnahme an den Menschen und Dingen,
eine unverkennbare Bedeutung in der Gesellschaft und der sie umgebenden Kreise
gewonnen. Zu ihren Lieblingen gehörte u. a. Robert Prutz, der wiederholt
langem Aufenthalt in Jena nahm.
Nicht versagen kann ich es mir an dieser Stelle, einen Mann zu erwähnen, zu
dem ich zwar so wenig als vielleicht irgend ein andrer in eine Beziehung getreten
bin, der aber, jetzt so gut als vergessen, damals wenn nicht zu den Merkwürdig-
leiten, so doch zu den Seltsamkeiten Jenas zählte. Ich meine den Professor
- Ferdinand Wächter, der sich durch verschiedne Arbeiten ans dem Gebiete des
germanischen Altertums und der (thüringischen) Geschichte bemerkbar gemacht
hat, ein Sonderling im Leben wie in der Wissenschaft. Seit Jahren hatte er sich
gänzlich von der Welt zurückgezogen, war einer unüberwindlichen Menschenscheu
anheimgefallen und zum unbedingten Einsiedler geworden. Kaum daß sich
jemand rühmen durfte, bei ihm nur überhaupt Zutritt gefunden zu haben. Man
erzählte sich, seine Menschenflucht sei die Folge einer unerwiederten oder ge¬
täuschten Jugendneigung gewesen, deren Gegenstand mit einem echt deutschen
Rufnamen und andern guten Eigenschaften den Liebhaber des deutschen Alter¬
tums in Fesseln geschlagen hatte. Wie dem nun sei, ich erinnere mich noch
recht deutlich, wie der Bedauernswerte, einen breiten, roten Regenschirm unter
dem Arme, Tag für Tag zur bestimmten Stunde scheuen Blickes durch die
Straßen huschte, um seinen gewohnten Spaziergang nach dem benachbarten
Dorfe Wöllnitz anzutreten. Mehrere Jahre später verließ er Jena ganz,
zog sich auf seine kleine Besitzung im Vogtlande zurück und wäre sicher
unbeachtet dahingegangen, wenn nicht sein trauriges Ende die Aufmerksamkeit
aufs neue auf ihn gelenkt hätte. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht,
hatte er sich zuletzt wieder in der Nähe von Jena, ich glaube in dem Städtchen
Lobeda, niedergelassen und wurde hier (1861) das Opfer eines Raubmörders,
den die Begierde nach Schützen, die man bei ihm vermutete, zu der scheußlichen
Unthat trieb.
Neben den älteren Lehrern der Universität bewegte sich in diesen Jahren
eine ziemlich große Zahl jüngerer, die dann im Verlaufe des nächsten Jahr¬
zehntes nach allen Himmelsrichtungen zerstreut worden sind, und von denen
mittlerweile bereits mehrere heimgegangen sind. So der Zoologe Oskar Schmidt,
der vor zwei Jahre» als Professor in Straßburg gestorben ist, ein durch¬
aus gediegener Mensch, liebenswürdig, zuverlässig und von höchst kollegialer
Gesinnung. Seines Bleibens ist freilich nicht lange in Jena gewesen, obwohl
sein Fach durch keinen andern vertreten war, sei es, weil sich die Mittel für
einen halbwegs tüchtigen Vertreter seiner Professur nicht auftreiben ließen,
sei es, weil er nicht in das System paßte, das mit dem Jahre 1851 zur
Herrschaft gelangt war. So ging er denn zuerst nach Krakau wie in eine
ehrenvolle Verbannung, von da in befriedigendere Verhältnisse nach Graz und
endlich in eine angesehene Stellung nach Straßburg. Bereits dachte er daran,
mit der nahenden Vollendung seines 65. Lebensjahres sich in sein altes liebes
Jena zurückzuziehen, als ein rascher Tod dazwischen trat und ihm die unersehnte
letzte Ruhestätte in dem zurückgewonnenen Reichslande bereitete.
Neben O. Schmidt erwähne ich den Historiker Ernst Adolf Herrmann, der sich
als Verfasser einer Geschichte Rußlands allgemeine Anerkennung erworben hat.
Er stammte ans den Ostseeprovinzen und hatte sich in Berlin unter Ranke cmsge-
bildet, ein guter deutscher'Patriot, eine treue kindliche Seele, ohne Falsch, ange¬
nehm im Verkehr — Eigenschaften, die er sich bis zuletzt ungeschwächt bewahrt hat.
Er ist vor einigen Jahren als Professor der Geschichte in Marburg gestorben.
Endlich gedenke ich noch des Archäologen Bernhard Stark, der aus einer Familie
stammte, die der Universität Jena bereits mehrere höchst angesehene medizinische
Professoren gegeben hatte. Stark, in seinem Fache äußerst geschätzt, war zugleich
ein vortrefflicher, edler Mensch, ein untadelhafter Charakter, weichen, aber nicht
weichlichen Wesens und allgemein beliebt. Er folgte im Jahre 1855 einem
Rufe nach Heidelberg und ist hier, allzufrüh für die Wissenschaft und die
Seinigen, mitten im erfolgreichsten Wirken im Jahre 1879 abberufen worden.
Den Mittelpunkt der guten Gesellschaft Jenas bildeten damals die Uni¬
versität und das Oberappellationsgericht; beide waren ohnedem eng mit einander
verbunden, da eine Anzahl der juristischen Professoren zugleich als Mitglieder
des Gerichtshofes thätig waren. Der Ton der Gesellschaft war höchst angenehm,
von jeder Steifheit oder Ausschließlichkeit frei. Man lebte und ließ leben.
Allerdings bestanden Kreise im Kreise, aber nicht so abgeschlossen, daß sie sich
nicht gelegentlich mühelos zu einem größern Ganzen hätten zusammenfügen
lassen. Einladungen zu einem „Löffel Suppe" oder einer „Tasse Thee" erfolgten
häufig, die Bewirtung war meist einfach, aber gut, und ließ die Geringschätzung,
mit der oft von der thüringischen Küche geredet wird, nicht ganz gerechtfertigt
erscheinen. Auf derartigen häuslichen Verkehr sah man sich doch auch über¬
wiegend angewiesen, da ein Ersatz andrer Art nur selten geboten wurde. Ein
Theater z. B. gab es nicht, wie leicht zu begreifen ist; ich erinnere mich nicht
einmal, daß in den Wintern, von denen die Rede ist, eine fliegende Truppe hier
ihr Glück versucht hätte. Wer also Verlangen nach einem Genusse derart ver¬
spürte, sah sich darauf angewiesen, eine Fahrt nach Weimar zu machen, was
häufig genug geschah, so unbequem es auch zu einer Zeit war, in der noch kein
Schienenweg die beiden Städte verband. Davon abgesehen, konnte der geistige
Verkehr zwischen der Residenz- und der Universitätsstadt nicht gerade lebhaft
genannt werden; man sprach damals sogar, sei es mit Recht oder Unrecht, von
einer gewissen Eifersucht, die zwischen beiden bestanden haben soll; ein greifbares
Objekt einer solchen Nebenbuhlerschaft habe ich freilich niemals entdecken können.
Auch „Bruder Studio" entschloß sich hie und da, wenn gerade ein Stück an¬
gekündigt war, das seine Schaulust reizte — wie etwa die Räuber u. dergl. —,
in größerer Anzahl zu einem Ausfluge nach Weimar. I» frühern Zeiten
wagten es die jugendlichen Gäste in solchen Fällen, sich unter Umständen im
Theater lauter als billig vernehmen zu lassen und, wenn wir recht berichtet
sind, gelegentlich sogar ungebeten mitzuwirken; die neuere Zeit mit ihrer strengern
Anschauung von Schicklichkeit und Ordnung hat freilich die Ausbrüche solches
jugendlichen Umgestüms mit Erfolg niederzuhalten verstanden.
Zu den geistigen Genüssen der Winterzeit, die in Jena selbst geboten
312Erinnerungen aus Alt-Jena.
wurden, gehörten die „Rosenkonzerte," die von Zeit 'zu Zeit unter Mitw
von Weimarer Künstlern im Saale der „Rose" aufgeführt wurden,
die „Nosenvorlesungen," die, wie erwähnt, seit mehreren Jahren von G
ins Leben gerufen worden waren. Es hatten ihm dabei als unmittelbare
spiel die öffentlichen Vorträge in der Berliner Singakademie vorgeschwe
Friedrich von Raumer zu populäre» Zwecken nach englischem Muster do
erst eingeführt hatte. Seitdem hat jenes Beispiel immer häufigere Nacha
gefunden, und es giebt jetzt wohl keine größere Stadt in Deutschland, di
ein Gewicht darauf legte, sich ein so genußreiches Bildungsmittel zu vers
In Jena war diese Einrichtung von Anfang an in hohem Grade beliebt
die ältern und berühmtesten unter den Professoren, wie Hase und Gö
haben es nicht verschmäht, auf diesem Wege ihre Wissenschaft zu pop
siren. Soviel ich weiß, hat sich diese Sitte in Jena bis auf den heutige
erhalten.
Eine Gelegenheit zu regelmäßigem, fast täglichem Zusammentreffen b
nahe gelegene Dorf Löbstedt, wohin in der guten Jahreszeit längs der
über die erlenbesetzten Wiesen mehr als ein freundlicher Weg führte. Ein
zahl Professoren fand sich fast regelmäßig und bei jedem Wetter bei
schlichten Tasse Kaffee im Wirtshause zusammen, während Sonnabends si
eine größere Gesellschaft auch in Begleitung der Frauen hier vereinigte.
Hase zählte zu den selten fehlenden Gästen der Präsident des Oberappella
gerichtes, Friedrich Ortloff, ein ausgezeichneter Jurist und ungemein angen
Gesellschafter, durchaus einfach in seinem Wesen, konservativer Denkung
und untadelhaft von Charakter. In der Politik mußte man ihn wohl z
Anhängern der alten Schule zählen, ich weiß daher nicht, ob er den gewa
Unigestaltungen der Neuzeit seinen unbedingten Beifall gezollt haben
Sein Gesichtskreis war im übrigen weit genug, seine Arbeitskraft ungewö
groß; bekanntlich ist er bis an sein Ende wissenschaftlich thätig gewesen. H
ien u. a. auäu der erauseber der Minerva" Dr. ri
öetergg„,
Braun. Die „Minerva," eine ursprünglich von Archenholz gegründete Zeits
hielt sich jetzt mit Mühe über dem Wasser; der Herausgeber ließ es ni
sich fehlen, die gesunkene Teilnahme wieder aufzufrischen, doch waren sein
strengungen von so unzureichenden Erfolge begleitet, daß die Zeitschrift
dem Verlaufe einiger Jahre zu erscheinen aufhörte.
Unter den Familien, deren Haus in Jena eine besondre Anziehung
besaß, stand seit langer Zeit das Frommannsche in erster Reihe. Die Übe
rungen desselben reichten in die klassische Zeit zurück; es ist bekannt, daß G
dort gern aus- und einging, und jeder gebildete Fremde war dort ein
kommener Gast. Der „alte Frommann," der hochbejahrt erst vor kurze
orbenit, war eine Natur von etemSrot und Korn, nitoneAnla
Schulter und gebildeter Mann, erfreute er sich unter seinen Kollegen in der
Buchhändlerwelt bekanntlich hoher Achtung und Anerkennung. Die Frau des
Hauses war eine äußerst liebenswürdige Erscheinung und wußte durch die um¬
sichtige Weise ihrer Freundlichkeit die gelegentliche Schroffheit ihres Mannes
aufs erfolgreichste auszugleichen. An den öffentlichen Dingen nahm Frommann
lebhaften Anteil. In der großen Politik, namentlich in der deutschen Frage,
war der Hannoveraner Stüve, mit den? ihn von Jugend her eine enge Freund- ^
schaft verband, sein Ideal und Meister. An interessanten Verbindungen fehlte
es ihm überhaupt nicht, und da er ein erfahrungsreiches Leben hinter sich
hatte, konnte er manches erzählen. Auch die Feder wußte er geschickt zu führen,
wie er das durch mehrere Schriften bewiesen hat. Seine Schwester Atome,
die damals in Berlin lebte, tauchte ebenfalls von Zeit zu Zeit in ihrem
väterlichen Hause auf, eine künstlerisch hoch gebildete Dame, die eben wegen
dieser Eigenschaft, meines Wissens, zu der „Prinzessin von Preußen," der
spätern Kaiserin Angusta, in nähern Beziehungen stand. Wer Glück hatte,
konnte in diesem Hause mit „Minchen Herzlich," der durch die viel besprochene ^
Zuneigung Goethes oft genannten Frau Walch, zusammentreffen, obwohl sie sich
Begegnungen mit neuen Menschen ungern aussetzte. Auch ihr Gemahl, von
dem sie übrigens getrennt lebte, der Jurist K. W. Walch, wandelte noch unter
den Lebenden, ein kleines, etwas verwachsenes Männchen, durchaus gutmütig
und harmlos, aber offenbar unbedeutend. Man begreift es, daß die Ver¬
bindung einer höher angelegten Frau mit einem Manne dieser Art scheitern
konnte.
Das verhältnismäßige Stillleben, mit welchem der Winter begonnen hatte,
blieb übrigens nicht lange Zeit unangefochten. Im Gegenteile, der gespannte
Zustand der allgemeinen politischen Verhältnisse, vor allem die in Frankreich herr¬
schende Aufregung, die für ein kundiges Auge einen nahenden Sturm erraten ließ,
wirkte, wie überall hin, auch auf Jena zurück. Es fehlte in gewissen Kreisen nicht
an entzündlichen Gemütern, die von den angedeuteten Zeichen mehr hofften als
fürchteten. Als dann der entscheidende Schlag an der Seine geschah, gab es
kein Halten mehr. Die Aufregung war allgemein, und auch diejenigen, die sich
die Besonnenheit bewahrten, wurden davon, wenn nicht mit fortgerissen, so doch
irgendwie in Mitleidenschaft gezogen. Warme Teilnahme rief das Schicksal der
Herzogin Helene von Orleans hervor; die Tochter einer weimarischen Prinzessin,
eine Enkelin Karl Augusts, hatte sie einen Teil ihrer Jugend in Jena verlebt und
durch Anmut und Liebenswürdigkeit alle Herzen erobert. Man begrüßte es daher
mit lebhafter Teilnahme, als der Großherzog, nachdem die Herzogin mit ihren
beiden Söhnen glücklich den deutschen Boden erreicht hatte, sie mit offnen
Armen aufnahm und ihr eine Zufluchtsstätte im Schlosse zu Eisenach einräumte.
Stimmungen der Art wurden freilich bald dnrch das Ungestüm der geräusch¬
vollen Zurückwirkung des Sturzes des Julikönigtums auf Deutschland über-
holt. Es ist bekannt, wie infolge dessen die so lange Zeit zurückgedrängten
nationalen und freiheitlichen Wünsche mit unwiderstehlicher Gewalt erwachten
und sich fast überall in siegreiche Forderungen umsetzten. In dem kleinen Staate
Weimar erging es nicht anders; das altkonservative Ministerium Schweizer
wurde durch eine unblutige Revolution gestürzt, und der populäre Führer der
Opposition im Landtage, der Eisenacher Advokat von Wydenbruch, bildete mit
dem Herrn von Watzdorf, der vor mehreren Jahren von Dresden her in das
weimarische Ministerium gerufen worden war und sich beliebt gemacht hatte,
die neue Regierung. Auch eine Anzahl Jenaer Burschenschafter wirkten bei
diesem Vorgange mit. Der regierende Großherzog Karl Friedrich, Karl Augusts
Sohn und Nachfolger, hatte sich den an ihn gebrachten Zumutungen nicht
widersetzt und mit Anstand geschehen lassen, was er ohnedies nicht ändern konnte.
Er war kein hervorragend begabter Fürst, aber ein vollkommener Ehrenmann,
ein biederer Charakter, und aus diesem Grunde hatten auch die ärgsten Schreier
die UnPopularität des gestürzten Systems ihn persönlich niemals entgelten lassen.
Überhaupt stand die gesamte großherzogliche Familie in hoher Achtung; die Ge¬
mahlin des Großherzogs, die Großfürstin Maria Paulowna, die Schwester der
Zaren Alexander I. und Nikolaus I., eine geistig wirklich bedeutende Frau, er¬
freute sich verdientermaßen allgemeiner Verehrung; eine wahre Landesmutter,
stellte sie sich an die Spitze aller wohlthätigen Anstalten und war in ihrer
Großsinnigkeit überall schützend und hilfebringend zur Hand.
In Jena entwickelten sich, wie anderswo, die Wirkungen des eingetretenen
allgemeinen Umschwunges schnell, die alte Gesellschaft löste sich, je nach dem
ergriffenen Parteistandpunkte, in verschiedne Gruppen auf. Der demokratischen,
ja radikalen Anschauung fehlte es nicht an Vertretern, und der „Philister" ließ
sich, ohne sich etwas Schlimmes dabei zu denken, zum Teile weit genug mit fort¬
reißen. Die Saat der politischen Unreife, die durch das alte System grund¬
sätzlich groß gezogen worden war, ging nun wuchernd und hundertfältig auf.
Obenan unter den Führern der demokratischen Partei stand ein Mann, der seit
Jahren der Hochschule wie dem in Jena stationirten höchsten Gerichte der thü¬
ringischen Herzogtümer zugleich angehörte und allerdings mit seiner Denkungs-
weise schon vorher nicht zurückgehalten hatte: G. Chr. Schüler. Im Privatleben
durchaus ehrenhaft, schlug er jetzt sogleich einen extremen Ton an. Im Vor¬
parlament zu Frankfurt, wohin er geeilt war, stimmte er bereits für die un¬
verständigsten Anträge; in die Nationalversammlung gewählt, nahm er seinen
Platz auf der Linken, die seine Eigenschaft als Mitglied eines so angesehenen
Gerichtshofes wohl zu würdigen wußte; er hat dann unbekehrt bis zuletzt aus¬
gehalten. Nach der Niederlage des Rumpfparlaments in Stuttgart kehrte er
in die Heimat zurück und trat in den weimarischen Landtag ein, wo er seiner
radikalen Haltung treu blieb, bis endlich die Verweigerung des Urlaubs seinem
inhaltslosen, wenn auch gut gemeinten Thun ein Ziel setzte.
Die Wahl zum deutschen Parlamente hatte übrigens in Jena eine hoch¬
gehende Aufregung im unmittelbaren Gefolge gehabt und die Scheidung der
Geister vollendet. Dem Anstürmen der radikalen Agitation warf sich u. a. der
bereits erwähnte Präsident Ortloff mit einer vortrefflich geschriebenen und scharf
ins Fleisch schneidenden Flugschrift entgegen, die ihm freilich geringen Dank
eintrug. Die verschiednen Parteien sammelten sich und traten in Vereinen zu¬
sammen. In dem „konstitutionellen" Vereine sammelte sich alles, was, von
dem dreisten Treiben der Demagogen und der radikalen Politiker abgestoßen,
die Herstellung einer verfassungsmäßigen Freiheit in den Einzelstaaten und die
Ersetzung des alten Bundes durch einen kräftigen Bundesstaat zum Programm
erhob. Auch die Frage einer straffem Einigung der thüringischen Staaten kam
zur Erörterung, wenn man sich auch mit den Wünschen nicht geradezu bis zur
Herstellung eines Königreiches Thüringen verstieg, worüber der Herzog Ernst
von Gotha in seinen jüngst erschienenen Denkwürdigkeiten einige Mitteilungen
macht. In diesem konstitutionellen Vereine fanden sich allerdings auch Elemente
ein, die das Recht der Selbsthilfe der Nation gänzlich in Frage stellten, sie
waren aber nicht stark genug, an dem besagten Programm wesentliches zu än¬
dern. Diesem Vereine gehörte die Mehrzahl der Professoren und Dozenten,
der Beamten und auch viele angesehene Bürger an, er hat sich bis zum Er¬
löschen der Bewegung behauptet und unzweifelhaft manches Gute gewirkt,
manchen Schwankenden auf die rechte Bahn geführt.
Ein zweiter Verein nannte sich, glaube ich, Volksverein. Ich habe ihn
nur aus der Entfernung beobachtet; seiner Richtung nach ließ er sich etwa mit
den Deutschfreisiunigen unsrer Tage vergleichen. Die Häupter des Vereins ge¬
hörten überwiegend ebenfalls der Universität an, sein Publikum bestand aus
Bürgern und verwandten Elementen. Sein Programm verlangte das „ganze
Deutschland" und vor allem möglichst viele und unbeschränkte Freiheiten. Gegen
die Erhaltung der monarchischen Ordnungen erhoben die Herren nicht gerade
grundsätzliche Einwendungen, aber die Volksfreiheit sollte keinesfalls darunter
leiden. Eine monarchische Spitze fand man sicher für das wiedergeborne Deutsch¬
land unnötig, ja unzulässig. Es war eben das Programm G. Chr. Schülers,
von dem ich oben gesprochen habe, der aber sein Licht unmittelbar in Frankfurt
leuchten lassen mußte. Auf den Bänken dieses Vereins traf man u. a. Männer
wie den Botaniker Schleiden, den Kliniker sichert und den Pädagogen Stop.
Schleiden war eine geniale, aber leidenschaftliche Natur, und schon aus diesem
Grunde ein schlechter Politiker oder doch von zweifelhaftem Berufe zur öffent¬
lichen Wirksamkeit. Es scheint ihn eine allgemeine innere Verstimmung auf
die Seite der demokratischen Opposition getrieben zu haben, eine wahre Befrie¬
digung hätte er wohl auf keiner Seite gefunden. Daß er sich zu guterletzt sogar
noch in den weimarischen Landtag wählen ließ, war ein augenfälliger Luxus;
jedenfalls hätte er seine Zeit zweckmäßiger verwenden können. Nicht mit Still-
schweigen darf ich bei dieser Gelegenheit übergehen, daß die Anhänger der Frie¬
sischen Philosophie in Jena, zu welcher auch Schleiden zählte, infolge ihrer ab¬
weichenden politischen Anschauungen, sich jetzt spalteten und einander die
. Freundschaft kündigten. Professor Ernst Apelt, der bedeutendste dieser Gruppe,
ein höchst gediegener und charaktervoller Gelehrter, schloß sich eng an die kon¬
stitutionelle Partei an, und die zerrissene Freundschaft hat sich nicht wieder her¬
gestellt. Der Pädagoge Stop, als Fachmann hervorragend, mit Begeisterung in
den Spuren Pestalozzis wandelnd, ein schöpferischer und organisatorischer Geist,
ließ sich durch seine volkstümlichen Instinkte auf die Seite der „Volkspartei"
treiben, ohne über politische Dinge bisher tiefere Betrachtungen angestellt zu
haben. Er war übrigens in seiner Art ein warmer deutscher Patriot, und es
gehörte zu seinem System, in den Seelen seiner jugendlichen Zöglinge die Saat
vaterländischen Sinnes auszustreuen. Der Kliniker A. F. sichert, ein Schüler
Schönleins, der wenige Jahre vorher aus Vambcrg, wie sein Freund, der Chi¬
rurg Ried aus Erlangen, nach Jena gerufen worden war, behandelte die Po¬
litik wohl nicht immer von der ernsthaftesten Seite; gewohnt, sich gehen zu
lassen, fühlte er sich in diesem Kreise am behaglichsten und konnte mit Sicher¬
heit darauf rechnen, für seine humoristischen Einfälle ein dankbares Publikum
zu finden.
Neben der konstitutionellen und der Volkspartei-Gruppe hatte sich noch
eine dritte gebildet, die anf die soziale Republik lossteuerte. Ihr herrschendes
Haupt war Lafaurie, ein geborner Hamburger, der schon ein paar Jahre vorher
in Jena aufgetaucht war, nachdem er sich, wie man sagte, auf längern Reisen
durch Frankreich mit den neuesten kommunistischen Lehren erfüllt hatte. Sein
Anhang sammelte sich aus dem Kreise der Arbeiter, dem sich eine Anzahl Klein¬
bürger und wenige Studenten anschlössen. Lafaurie, von fanatischer Anlage
und mit agitatorischer Kraft ausgestattet, sah bald ein, daß er in der Stadt
selbst nicht auf große Erfolge rechnen dürfe, und übertrug daher seine Propa¬
ganda in die Umgegend, auf das flache Laud, wo er, vou der Erlahmung aller
offiziellen Organe unterstützt, mit seinen verführerischen Lehren bei den gut¬
mütigen und politisch vollständig unreifen thüringischen Bauern bereitwilliges
Gehör fand. Aber auch in der Stadt Weimar erfreute er sich lebhafter Be¬
ziehungen und einer, wenn nicht starken, doch ergebenen Gefolgschaft.
Zu den eigentümlichen Erscheinungen dieser Zeit gehörte, daß die Jenaer
Gesellschaft von außen her allerlei Zuwachs erhielt: die abgelegene Stadt war
wie eine Freistätte, an der jetzt so mancher, den irgendwo die revolutionäre
Sintflut dieser Tage erreicht hatte, Schutz suchte. So erinnere ich mich, daß
bald nach den Märztagen als ungeladener Gast von Berlin her plötzlich der
^ Schwabe Adolf Widmann auftauchte. Er hatte ursprünglich in Tübingen in
dem Kreise gelebt, den der seiner Zeit viel besprochene Roman Lritis sicut, I)<zu8
geschildert hat, ja eine Zeit lang hat man, soviel bekannt, mit Unrecht, ihn
selbst für den Verfasser dieses Romans gehalten. Von Tübingen war er nach
Zürich gegangen und dort in enge Beziehungen zu den Gebrüdern Rohmer und
zu Bluntschli getreten, und hatte endlich, als hier die schwer verständliche
Rohmersche Hetürie in die Brüche ging, infolge einer Schrift über die „poli¬
tischen Parteien," oder wie der Titel lautete, die nach der Rohmerschen Scha¬
blone die Begünstigung des vierten Standes gegenüber den bösen Liberalen als
rettendes Rezept vorschrieb, eine Einladung nach Berlin erhalten und in der
Redaktion der „Preußischen Staatszeitung" Verwendung gefunden. Als aber
die Revolution die preußische Hauptstadt überwältigte, hielt er als ein Diener
des gestürzten Systems es für ratsam, den unheimlichen Boden zu verlassen und
sich nach Jena zurückzuziehen. Die Jenaische Gesellschaft empfing ihn nicht ohne
Mißtrauen, und in den konservativen Kreisen wenigstens wurde er selten gesehen;
dagegen gewann er mit den Führern der Volkspartei rasch Fühlung, ohne daß
ich jedoch anzugeben wüßte, wie wirksam diese war. In spätern Jahren hat
er wenig von sich reden gemacht.
Ein andrer dieser ungebetenen Gäste war ein Mann viel bekannteren
Namens, nämlich Hannibal Fischer, der „Flottenfischcr" unvergänglichen Ange¬
denkens. Als seine Statthalterschaft im oldenburgischen Fürstentum Birkmfeld
infolge einer populären Erhebung im Frühjahre 1848 ein unerwünschtes Ende
fand, lenkte auch er seine Schritte nach dem gastlichen Saal-Athen. Man
könnte nicht sagen, daß er eine angenehme Erscheinung gewesen sei. Ein wahrer
kavtÄroii <Zös oriurös, trug er sein unfruchtbares politisches Glaubenssystem gar
zu unverfroren vor. Zugleich hatte er etwas Aufdringliches und war feinern
Zurechtweisungen nicht zugänglich. Man hatte freilich auch wieder Mitleid mit
dem alten Manne, der sich nun plötzlich aufs Trockne gesetzt sah; doch hätte er
am liebsten auch jetzt noch eine Rolle gespielt, und dazu reichte sein geistiger
Gehalt doch nicht aus, und seine Vergangenheit stand ihm im Wege. Er wußte
allerdings aus seinem wandelreichen Leben viel Interessantes zu erzählen, aber
er beging den Fehler, sich zu rasch auszugeben, und mit Wiederholungen machte
er kein Glück. Er war von einem unermüdlichen Thätigkcitsdrange beseelt, der
ihn dann weiterhin die Hand nach höchst bedenklichen Aufträgen ausstrecken ließ,
die eine reiche Quelle bitterer Erfahrungen und Verlegenheiten für ihn geworden
sind. In seinem „Politischen Martyrium" kann man über diese Dinge sich des
weitern in seiner Art von ihm selbst erzählen lassen.
Noch eine andre bemerkenswerte Persönlichkeit erschien damals ab und zu
in Jena, nämlich Franz von Florencourt, der bekannte und erst vor kurzem in
hohem Alter gestorbene Publizist und Konvertit, der damals in der Nähe von
Naumburg a. S. lebte und als alter Burschenschafter mit dem „Burgkeller"
nahe Beziehungen unterhielt. Er hatte eine Anzahl der talentvollsten jungen
Männer aus diesem Kreise für seine neueste Richtung gewonnen, die, in der
Politik streng konservativ, der Frankfurter Nationalversammlung geradezu den
Gehorsam aufkündigte und in der Religion die Rückkehr in den Schoß der
alleinseligmachenden Kirche predigte. Mehrere seiner erwähnten jugendlichen
Anhänger waren in der That nahe daran, den Lockrufen des modernen Ratten¬
fängers zu folgen, besannen sich indes, mit Ausnahme eines einzigen, glaube ich,
der aber nicht zu den hervorragenden zählte, im letzten Augenblicke eines Bessern
und thaten den letzten Schritt nicht. (Schluß folgt.)
s wird Wohl selten vorkommen, daß man lyrische Gedichte fast
ausschließlich nach ihrem künstlerischen Werte beurteilt. Bei Konrad
Ferdinand Meyer muß dieses geschehen. Wir finden bei ihm
nicht das schwärmerische Träumen Eichendorffs und der Romantiker,
nicht die süßliche Tändelei, wie sie sich bei Heine und dem jungen
Deutschland oft zeigt. Es ist die ihrer Ziele sich bewußte Kunst, die in diesen
Gedichten hell und schön zu Tage tritt, und der vollendete Geschmack hat oft
das Übergewicht über die lyrische Empfindung.
Wir finden in Meyers Gedichten kein geheimnisvolles Helldunkel, sondern
überall klaren Sonnenschein, nicht den Zauber unbewußter Empfindung, sondern
die Fülle sichtbarer Kraft. Seine Gedichte nehmen nicht ein durch jenes eigen¬
tümliche Verschwimmen der Formen in der Idee, die sie geboren hat, sondern
durch die scharfen plastischen Konturen ihrer Gestalten. Die Plastik, in künst¬
lerisch abwägenden Geschmack ausgebildet, nur mit den notwendigsten Elementen
lyrischer Empfindung versetzt, sie ist es, die diesen Gedichten ihren eigentümlichen
Stempel aufdrückt.
Wir würden das umfangreiche Buch, das kürzlich schon in dritter, vermehrter
Auflage erschienen ist,*) vielleicht unbefriedigt aus der Hand legen, wenn wir
darin reine Lyrik, Liebeslieder, Herzensergüsse u. s. w. suchen wollten. Jedem
Leser aber, der ganz unbefangen an diese Gedichte hinantritt, werden sie eine
Fülle des Anziehenden bieten.
Meyers Gedichte sind auf den ersten Blick Erzeugnisse, die sämtlich den
Stempel seiner dichterischen Natur an sich tragen, die Würde und Erfahrung
des gereiften Mannes, die Objektivität und klare Lebensauffassung des Gebildeten.
Aber gerade diese Eigenschaften sind es, die den Gedichten ein allgemeineres
Merkmal ausdrücken, das Merkmal unsers modernen künstlerisch bewußt schaf¬
fenden Zeitgeistes. Es ist die tiefste Empfindung des Dichters, und doch auch
wieder nicht er selbst, der in den Gedichten waltet. Meyer drückt sein Ver¬
hältnis zu seinen Gedichten wohl am besten selbst aus, wenn er sagt:
Mit dem Stifte les ich diese Dinge,
Auf der Rasenbank im Freien sitzend,
Plötzlich zuckt mir einer Vogclschwinge
Schatten durch die Lettern freundlich blitzend.Was da steht, ich hab' es tief empfunden,
Und es bleibt ein Stück von meinem Leben —
Meine Seele flattert ungebunden
Und ergötzt sich, drüberhin zu schweben.
Meyer ist ein Meister der epischen Darstellung, wie er das namentlich
in seinen geschichtlichen Novellen bekundet hat. So sind auch unter seinen
Gedichten das Unvergänglichste die Balladen, in denen überall frische, gedrungene
Kraft der Darstellung und Originalität der Motive zu Tage tritt.
Der Dichter weiß zu schaffen in dem ruhigen, dem „ewigblauen" griechischen
Himmel vergleichbaren Stil der Antike, wenn er Stoffe aus dem Altertum be¬
handelt, und in dem bewegten, farbenprächtigen Lichte mittelalterlicher Romantik,
wenn sein Griffel uns etwas aus der Geschichte des Mittelalters gestaltet. Wie
herrlich ist der Eingang der Ballade: „Der trunkene Gott," in der der Freundes¬
mord des Kleitos durch Alexander behandelt wird:
Weiße Marmorstufen steigen
Durch der Gärten laub'ge Nacht,
Schlanke Palmenfächer reichen
In des Himmels blaue Pracht.
Über Tempeln, Hainen, Grüften
Zeche in abeudweichen Lüften
Alexanders Lieblingsschar;
Knicend bietet ihm ein Knabe,
Daß der Erde Herr sich labe,
Wein in edler Schale dar.
Das ist dieselbe Plastik des Stimmungsbildes, wie wir sie auch in Meyers
prosaischen Schriften finden, namentlich in seinen zwei neuesten Novellen: „Die
Richterin" und „Die Versuchung des Pescara." Der Dichter liebt es, in den
meisten seiner Balladen den epischen Faden um ein oder mehrere meisterhafte
Stimmungsbilder zu schlingen oder geradezu von einem Stimmungsbilde aus¬
zugehen und uns mit einem Schlage in die gewünschte epische Situation zu
versetzen. Ich verweise auf die Ballade: „Michelangelo," in deren erster Strophe
uns ohne alle beabsichtigte Beschreibung doch die Gestalt des großen Meisters
deutlich entgegen tritt:
In der Sistina dämmcrhohcm Raum,
Das Bibclbuch in seiner nerv'gen Hand,
Sitzt Michelangelo in wachem Traum,
Unheile von einer kleinen Ampel Brand.
Zu den besten Balladen der Sammlung gehören: „Das Münster," „Einsiedel,"
„Frau Agnes und ihre Nonnen," „La Manche Res," „Die Ketzerin," „Der Berg
der Seligkeiten" u. s. w. Die Ballade „Der Mars von Florenz" behandelt in
kurzer, drastischer Form fast dasselbe Motiv, wie Meyers Novelle „Die Hoch¬
zeit des Mönches."
Oft liebt es der Dichter, nach Bildern oder Statuen zu arbeiten. Diese
Art ist völlig neu und birgt viel in sich. Allerdings bedarf es dazu nicht nur
eines lyrischen Gefühls, sondern auch einer geschmackvollen künstlerischen Auffassung
des Geschauten, wenn die Darstellung nicht prosaisch werden soll. Ein ge¬
lungenes Beispiel für diese besondre Art ist das „nach einer alten Skizze" ge¬
schaffene Gedicht: „Ja":
Als der Herr mit meinst'ger Schwinge
Durch die neue Schöpfung fuhr,
Folgten in gedrängtem Ringe
Geister seiner Flammenspur. Seine schönsten Engel wallten
Ihm zu Häupten selig leis,
Riesenhafte Nachtgestalten
Schlossen unterhalb den Kreis.Eh ich euern Reigen löse,
Sprach der Allgewalt'ge nun,
schwöret, Gute, schwöret, Böse,
Meinen Willen nur zu thun! Freudig jubelten die Lichten:
Dir zu dienen sind wir da!
Die zerstören, die vernichten,
Die Dämonen, knirschten: Ja.
Einen Nachteil hat dieses bewußte Schaffen freilich, daß es Gefahr läuft, in das
absichtlich Erzielte und so auf etwas dem dichterischen Geiste abgequältes zu ver¬
fallen. Dieser Nachteil läßt sich auch in einigen Gedichten Meyers bemerken,
wie z. B. in dem Gedicht: „Der römische Brunnen," wo die Nachempfindung
des gesehenen Bildes zu einer bloßen Beschreibung wird:
Aufsteigt der Strahl, und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite giebt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede rinnt und giebt zugleich
Und strömt und ruht.
Die Beschreibung freilich ist vortrefflich, das läßt sich nicht leugnen.
Eigentliche Liebeslieder finden sich bei Meyer wenig, dafür aber wunder¬
bar gedankenreiche Dichtungen, die das Wesen der Liebe tief in sich tragen.
Wenn daher Meyer vor die Abteilung seiner Gedichte, die er ,,Liebe" über¬
schreibt, die Zeilen setzt:
In diesen Liedern suche du
Nach keinem ernsten Ziel!
Ein wenig Schmerz, ein wenig Lust,
Und alles war ein Spiel —
so bin ich gar nicht damit einverstanden. Meyer ist nicht tändelnd leicht, nein,
im Gegenteil tief empfindend von der sonnenklarsten Reinheit glücklicher Liebe
bis zu der düstersten Tragik des Elends. Ich setze als Beispiel das herrliche
Gedicht ,.Einer Toten" vollständig hierher:
Wie fühl' ich heute deine Macht,
Als ob sich deine Wimper schatte
Vor mir auf diesem ampelhellen Blatte
Um Mitternacht!
Dein Auge sieht
Begierig mein entstehend Lied.Dein Wesen neigt sich meinem zu,
Du dises! Doch deine Lippen schweigen,
Und liesest du ein Wort, das zart und eigen,
Bists wieder du,
Dein Herzensblut,
Indes dein Staub im Grabe ruht.Mir ist, wenn mich dein Atem streift,
Der ich erstarkt an Kampf und Wunden,
Als seist in deinen stillen Grabesstunden
Auch du gereift
An Liebeskraft,
An Willen und an Leidenschaft.Die Marmorurne setzten dir
Die Deinen — um dich zu vergessen,
Sie erbten, bauten, freiem unterdessen,
Du lebst in mir!
Wozu beweint?
Du lebst und fühlst mit mir vereint!
Die ersten Strophen sehen sich an wie ein Gabriel Max. Aber ein gespensterischer
Schluß wäre dem ganzen Wesen Meyers zuwider. Die helle Lust des Lebens
spricht aus der letzten Strophe.
Echt volkstümliche Elemente enthält die Abteilung „In den Bergen,"
namentlich schöne Naturbilder aus der Schweiz, die in ihrer mehr epischen
Beschaffenheit vielfach an ähnliche Partien im ersten Teile von Meyers „Jörg
Jenatsch" erinnern. Reflexion wird man in diesen Naturbildern wenig finden,
und wenn sich ja eine findet, ist sie meistens nicht sonderlich gelungen. Die
reflektirende Dichtung widerstrebt eben dem ganzen Wesen Meyers. Prächtige
Naturbilder finden sich übrigens auch in der Abteilung „Stunde." Hier ein
kleines, überschrieben „Vor der Ernte."
An wolkcnreinem Himmel geht
Die blanke Sichel schön,
Im Korne drunter wogt und weht
Und rauscht und wühlt der Föhn.Sie wandert voller Melodie
Hochübcr durch das Land,
Früh morgen schwingt die Schnitt'rin sie
Mit sonnenbrauner Hand.
Ich habe schon die Originalität der Motive Meyers erwähnt. Hier will
ich noch einen damit zusammenhängenden Punkt kurz berühren. Der Dichter
macht es sich meistens zu einer besondern Aufgabe, seine Motive sorgfältig aus¬
zugestalten, sodaß sie oft nicht mehr rein lyrisch sind, sondern von einer berech¬
neten, völlig dramatischen Wirkung werden. Die Unmittelbarkeit des lyrischen
Motivs finden wir bei Meyer selten.
In den meisten Fällen ist er zu dieser Darstellung auf einer ganzen
Stufenleiter der Entwicklung seines Motivs gelangt. Dieses bewußte Aus¬
bilden ließe sich auch rein äußerlich an den einzelnen Auflagen seiner Gedichte
verfolgen. Eines der merkwürdigsten Beispiele dafür dürfte die schon erwähnte
Ballade „Michelangelo" sein, die in einer frühern Auflage eine ganz andre
Gestalt hatte.
Meyers Motive sind stets von einem gesunden Realismus durchdrungen,
ohne jede Überschwünglichkeit, aber zart in der Darstellung alles Menschlichen.
Nie kommt er zu einem verkehrten Naturalismus. Als Beispiel seines feinsinnig
durchgebildeten Realismus teile ich zum Schluß noch das herrliche Gedicht
„Am Himmelsthor" mit:
Mir triiumt', ich komm' ans Himmelsthor
Und finde dich, die Süße!
Du saßest bei dem Quell davor
Und wuschest dir die Füße.Du wuschest, wuschest ohne Rast
Den blendend weißen Schimmer,
Begannst mit wunderlicher Hast
Dein Werk von neuem immer.
Ich frug: Was habest du dich hier
Mit thränennassen Wangen?
Du sprachst: Weil ich im Staub mit dir,
So tief im Staub gegangen.
u den besten Tagen in dem politischen Leben Deutschlands, seit¬
dem dieses ein Reich ist und eine Volksvertretung besitzt, ge¬
hört unstreitig der des Zusammenschlusses der nationalen Par¬
teien gegen alles, was fremden Leitsternen folgt, mögen diese in
Rom oder Paris, in London oder Jerusalem funkeln. Da sah
man wieder einmal den deutschen Michel die schwerfälligen Glieder recken und
allerlei Gezücht von sich abschütteln, das nur allzulange mit dem trägen Riesen
hatte sein Spiel treiben dürfen. Eine wie gute That er gethan hatte, das mußte
ihm vor allem das Zedern und Geifern derer beweisen, die dabei unsanft auf
den Boden gesetzt worden waren, und die verblüffte Miene aller, die schon wieder
auf die unheilbare Uneinigkeit der Deutschen gerechnet hatten. Und frisch atmete
der Vaterlandsfreund auf nach Zeiten der bangen Sorge und der tiefen Be¬
schämung durch das Schauspiel, welches gegenüber der Haltung andrer Parla¬
mente das deutsche geboten hatte. Eine Folge schwerster Ereignisse hatte jenes
rasche Aufleuchten deutscher Gesinnung, das einen freudigen Schein auf die letzte
Lebenszeit des greisen Kaisers warf, fast aus unserm Gedächtnisse verwischt.
Soll es uns nun durch sein eben so rasches Erlöschen in Erinnerung gebracht
werden? Sind denn die Gefahren, welche damals zum Zusammenhalten mahnten,
für alle Zeit gebannt, daß wir uns ungestraft wieder unsrer nationalen Schwäche
überlassen dürften?
Die vor einem Jahre einander die Hände reichten, waren ja keine Kinder.
Sie wußten, daß jede Vereinigung zu gemeinsamem Handeln von jedem Teil¬
nehmer einen gewissen Verzicht fordert; das ist der Einsatz für den Anteil am
gemeinsamen Gewinne. Aber es scheint, daß jeder einen Löwenvertrag schließen
wollte, und erzürnt ist, weil der Verbündete nicht allein auf dem einen bedrohten
Punkte Hilfe leihen, sondern auch auf dem andern Hilfe haben will, die mög¬
licherweise ein Opfer kostet.
Der Fall von Siegen verstimmt die äußerste Rechte, und das ist begreiflich.
Hofprediger Stöcker ist in der Partei hoch angesehen, und sie will gerade den
dem Judentum und seiner freisinnigen Gefolgschaft am meisten verhaßten Mann
nicht missen. Auch wir würden solchen Triumph den Internationalen ungern
gönnen. Aber um wie viel größer ist der Triumph, wenn um Stöckers willen
das Bündnis gesprengt wird! Um diesen Preis werden sie mit Freuden selbst
den „Hofprediger" wieder auf der Nednerbtthne erblicken, den aus seinem Amte
zu verdrängen ihnen vor einigen Monaten nicht gelingen wollte. Denn — wie
oft haben sie das ausgesprochen — aller Übel größtes heißt ihnen Kartell.
Könnte da die Wahl zweifelhaft sein, auch wenn es sich um einen noch bessern
handelte? Mit der Thatsache muß doch der Politiker rechnen, daß Stöckers
Name in Berlin die Wahl eines Reichstreuen verhindert hat, daß seine Person
auch bet den Mittelparteien entschieden unbeliebt ist. Mit der Sprengung des
Kartells wäre seine Wahl viel zu teuer bezahlt, und man hätte von seinem
Patriotismus erwarten dürfen, daß er selbst zurückträte.
Das wäre heute freilich schon zu spät. Ob er in Siegen gegen die Na¬
tionalliberalen siegt oder unterliegt, gleichviel: jubelnd verkündet der Freisinn
nah und fern, daß die Konservativen das Tischtuch zerschnitten haben und die
äußersten Anstrengungen machen, um ihre Bundesgenossen von gestern überall
zurückzudrängen.
So besorgen die Konservativen die Geschäfte der Freisinnigen. Das gilt
nicht bloß für die Schwächung der gemäßigten Elemente im Reichstage wie
im preußischen Landtage und die mögliche Auferstehung der radikal-klerikal -
welfisch-polnisch-dünisch-französisch-sozialdemokratischen Mehrheit. Auch der
Wiederkehr einer konservativen Mehrheit würde die Firma Richter und Kom¬
pagnie sich zu freuen Ursache haben. Gar so weit zurück liegt ja noch nicht
die Zeit vor 1862, und der Name „Landratskammer" klingt uns noch in den
Ohren und ruft Bilder herauf, die sicherlich nicht geeignet sind, unser National-
gefühl zu befriedigen. Zuerst fällt da allerdings der Mangel an politischer
Einsicht und das starre Festhalten an alten Glaubenssätzen bei der Opposition
in die Augen. Allein wir sehen auch, durch wessen Schuld die Mißstimmung
so allgemein geworden war, daß die große Mehrheit des preußischen Volkes
nur noch von dem Parlamentarismus Heil erwartete. Daß Vismarck einst
Mitglied der Partei gewesen war, unter deren Regiment das Land zwölf Jahre
lang geseufzt hatte, das erzeugte das Mißtrauen gegen ihn; die Erinnerung
an Warschau und Olmütz ließ keine günstige Meinung von seiner auswärtigen
Politik aufkommen, und in dem Staatsmanne, der seine Pläne auch ohne die
Vertretung durchzuführen entschlossen war, sah man nur einen neuen, noch
rücksichtsloseren, noch „reaktionäreren" Manteuffel. Und wie Preußen, so dachte
fast das ganze übrige Deutschland. Der Widerwille gegen Preußen, zumal im
Süden, hatte wohl verschiedne Gründe: Abneigung gegen den protestantischen
Staat, Scheu vor dem strammen Militärwesen und Beamtentum, Furcht vor
Einverleibung; aber der nicht am mindesten gewichtige Grund war die Über¬
zeugung, daß Preußentum gleichbedeutend sei mit Junker- und Muckertum, und
daß das preußische Regiment sich von dem österreichischen höchstens durch den
Mangel an Gemütlichkeit unterscheide.
Manche Vorurteile sind innerhalb der letzten zwanzig Jahre geschwunden
oder im Schwinden begriffen, doch die Meinung von den preussischen Ultra¬
konservativen hat sich nicht gebessert. Und wie wäre das möglich, da sie selbst
sich unverbesserlich zeigen! Man darf ihnen ebenso terroristische Gelüste zu¬
trauen wie den Freisinnigen, und wie wir, wenn es nach ihnen gegangen wäre,
niemals ein Reich erhalten hätten, verraten sie auch jetzt nur zu oft, daß sie
Partikularsten geblieben sind und daß ihnen höher als Preußen ihr Partei-
Winkel steht. „Keine Regierung hat je ein Interesse, mit einer konservativen
Partei zu brechen, aber die Partei besorgt das mitunter selbst," sagte der
Kanzler einmal im Herrenhause, und erinnerte dabei an frühere „ähnliche
grundlose, ich will nicht sagen mutwillig heraufbeschworene Zwistigkeiten." Die
Herren scheinen diese Worte abermals wahr machen zu wollen. Ihre bisherigen
El folge im Kampfe gegen Bismarck und die von ihm vertretenen Forderungen
der Zeit tonnen sie wohl nicht zur Erneuerung jenes Spieles aufmuntern.
Wenn die Geschichtschreibung einmal nötig findet, zu zeigen, mit welchen Wider¬
sachern Bismarck zu ringen hatte, werden die Namen Diest-Daber u. s. w.
schwerlich in viel vorteilhafterem Lichte erscheinen als die Richter und Rickert.
Indessen mögen sie auf eine Wendung hoffen, welche sie ans Steuerruder bringen
könnte. Diese Wendung wird ohne Zweifel ausbleiben, denn auch nach Bismarck
wird wahr bleiben, daß eine Parteiregiernng in Deutschland ein Unding ist,
gleichviel ob sie von rechts oder von links angestrebt wird. Allein die Herren
brauchen gar nicht auf der Ministerbank zu sitzen, schon eine rein konservative
oder durch die Verbrüderung mit dem Zentrum erzielte konservative Mehrheit
würde die gemeine Sache tief schädigen. Schon die hochkirchlichen Bestrebungen
bringen breite Volksschichten in Aufregung und stören die kaum entschlafenen
Antipathien bei den Bundesgenossen auf. So sehr man sich in der Politik
vor dem Prophezeien hüten soll: daß der Sieg der Ultrakonservativen wieder
eine ultraliberale Hochflut heraufbeschwören würde, läßt sich mit großer Be¬
stimmtheit voraussagen. Ist das die Absicht der Herren, oder haben sie in
einem Vierteljahrhundert — und in einem solchen! — ebenso wenig gelernt
wie ihre Gegenfüßler? Ist diese Zeit noch nicht ernst und groß genug gewesen,
um uns allen ohne Ausnahme den Grundsatz einzuprägen: Über alleu Parteien
und Glaubensbekenntnissen steht das Vaterland, und die es lieben, müssen, wie
im Kriege, so im Frieden treue Waffenbrüderschaft halten, die Kleinigkeiten, die
entzweien können, unterordnen dem einen, was einigt? NMöWiz odligs. Die
deutschen Fürsten haben bei dem Tode Friedrichs III. ein leuchtendes Beispiel
gegeben, das in dem gesamten Auslande den tiefsten Eindruck gemacht, den
Glauben an Deutschland neu befestigt hat. Wollen die Hochkonservativen
durchaus diesen Eindruck wieder abschwächen?
amals, als Ricks nach Marianenlund reiste, hatte er lange
darüber nachgedacht, wie er sich zu Fennimore stellen solle, na¬
mentlich, wie er es ihr zu erkennen geben könne, wie voll¬
ständig er vergessen habe, ja daß er sich nicht einmal mehr er¬
innere, daß überhaupt etwas zu vergessen gewesen sei; vor allen
Dingen keine Kälte, eine herzliche Gleichgiltigkeit, ein oberflächliches Entgegen¬
kommen, eine höfliche Sympathie, so sollte es sein.
Aber es war schließlich alles überflüssig gewesen.
Die Fennimore, die er vorgefunden, war eine ganz andre als die, welche
er vormals verlassen hatte. Sie war noch sehr hübsch, ihre Gestalt war üppig
und schön wie früher, und sie hatte noch immer dieselben trägen, langsamen
Bewegungen, die er damals an ihr bewundert hatte; aber in dem Ausdrucke
um ihren Mund zuckte eine traurige Gedankenlosigkeit, wie bei jemand, der zu
viel gedacht hat, und in ihren sanften Augen lag eine elende, kümmerliche, zer¬
marterte Grausamkeit. Er konnte es ganz und gar nicht verstehen, das aber
war ihm klar, sie hatte etwas andres zu thun gehabt als an ihn zu denken,
und sie war völlig gefühllos den Erinnerungen gegenüber, die er jetzt erwecken
konnte. Sie sah ganz aus wie eine, die ihren Entschluß gefaßt und das
Schlimmste daraus gemacht hatte, was sie hatte machen können.
Nach und nach fing er an, zu buchstabiren und das Gefundene aneinander
zu reihen, und eines Tages, als sie zusammen am Strande gingen, begann ihm
der Zusammenhang klar zu werden.
Erik war bemüht, in seinem Atelier Ordnung zu schaffen, und während sie
dem Wasser entlang gingen, kam das Mädchen mit einer ganzen Schürze voll
Plunder herab und warf es auf den Strand. Es waren alte Pinsel, Bruch¬
stücke von Abgüssen, zerbrochene Modellirhölzer, alte Ölflascheu und leere Farben¬
kapseln, ein ganzer Haufe. Ricks wühlte mit dem Fuße darin herum und
Fennimore schaute zu mit der unbestimmten Entdeckungslust, die man an¬
gesichts alten Gerumpels gewöhnlich empfindet. Plötzlich zog Ricks den Fuß
zurück, als hätte er sich verbrannt, besann sich aber sofort und stöckerte hastig
in dem Haufen herum.
Ach laß mich das einmal sehen, sagte Fennimore und legte die Hand auf
seinen Arm, wie um ihm Einhalt zu thun.
Er bückte sich und hob einen Gipsabguß auf, eine Hand, die ein El hielt.
Das muß ein Irrtum sein, sagte er.
Nein, sie ist ja zerbrochen, erwiederte sie ruhig und nahm ihm den Abguß
aus der Hand. Sieh, der Zeigefinger fehlt. Da sie aber in demselben Augen¬
blicke gewahrte, daß das Gipfel mitten durchgeschnitten war und daß ein Dotter
mit gelber Farbe hineingemalt war, errötete sie leise und beugte sich vornüber
und zerschlug die Hand ganz langsam und bedächtig an einem Steine in kleine
Stücke.
Weißt du noch, damals, als die Hand gegossen wurde? fragte Ricks, um
doch etwas zu sagen.
Ich erinnere mich dessen noch sehr wohl, ich wurde mit grüner Seife ein¬
gerieben, damit der Gips nicht an meiner Hand hängen bleiben sollte. Meinst
du das?
Nein, ich dachte an den Abend, wo Erik den Abguß deiner Hand am
Theetisch die Runde machen ließ. Als er dann zu deiner alten Tante kam,
weißt du noch, wie der guten Frau die Thränen in die Augen traten und sie
dich voll tiefsten Mitleides an sich zog und auf die Stirn küßte, als sei dir
ein Leids geschehen?
Ja, die Menschen sind oft gefühlvoll!
Wir lachten damals genug über sie, aber es lag doch eine gewisse Feinheit
darin, obgleich es eigentlich so unsinnig war.
Ja, von dieser sinnlosen Feinheit giebt es leider nur allzuviel!
Du willst wohl Streit mit mir anfangen?
Nein, das wollte ich nicht, ich möchte dir nur gern etwas sagen. Du
nimmst mir ein wenig Offenherzigkeit doch nicht übel? Nun, dann sage mir,
glaubst du nicht auch, daß, wenn ein Mann in Gegenwart seiner Frau etwas
erzählen will, etwas recht derbes, oder auch etwas, was deiner Meinung nach
ihr gegenüber ein wenig rücksichtslos ist, hältst du es dann nicht selbst für
höchst überflüssig, daß du dagegen protestirst. indem du dich übertrieben zart¬
fühlend und ritterlich zeigst? Man sollte doch annehmen dürfen, ein Mann
kenne seine Frau am besten und wisse, daß es ihr nichts thun oder sie gar
verletzen kann; sonst würde er es ja unterlassen. Nicht wahr?
Nein, das ist durchaus nicht wahr; allem hier, mit deiner Billigung, kann
ich gern ja sagen.
Ja, thue du das nur, du kannst fest überzeugt sein, daß die Frauen keine
so ätherischen Wesen sind, wie mancher gute Junggeselle träumt; sie sind wirklich
nicht zarter als die Männer, sie sind durchaus nicht anders als die Männer;
glaube mir, der Thon, aus dem sie beide gebildet sind, ist schmutzig gewesen.
Liebste Fennimore, du weißt Gottlob nicht, was du da sagst, aber du thust
den Frauen sehr Unrecht und dir selbst am meisten; ich glaube an die Reinheit
des weiblichen Geschlechts.
An die Reinheit des weiblichen Geschlechts? Was verstehst du unter der
Reinheit des weiblichen Geschlechts?
Darunter verstehe ich — ja ^
Ich will dir sagen, was du darunter verstehst — nichts, gar nichts, denn
das ist auch so eine von diesen sinnlosen Feinheiten. Eine Frau kann nicht
rein sein, sie soll es gar nicht einmal sein; wie wäre das auch nur möglich!
Was für eine Unnatur wäre das! Ist sie etwa von der Hand Gottes dazu
bestimmt, es zu sein? Antworte mir! Nein und tausendmal nein! Was für ein
Wahnsinn das ist! Weshalb sollt ihr uns mit der einen Hand zu den Sternen
erheben, wenn ihr uns doch mit der andern wieder herabziehen müßt? Könnt
ihr uns nicht auf der Erde wandeln lassen, an eurer Seite, ein Mensch neben
dem andern, und nicht das Geringste mehr? Es ist uns ja ganz unmöglich,
uns sicher in der Prosa zu bewegen, wenn ihr uns blind macht mit euern Irr¬
lichtern von Poesie. Laßt uns doch in Frieden, laßt uns um Gottes willen
in Frieden!
Sie setzte sich hin und weinte bitterlich.
Ricks begriff vieles; Fennimore wäre unglücklich gewesen, wenn sie geahnt
hätte, wie viel! Das war ja zum Teil wieder die alte Geschichte von dem Fest¬
gericht der Liebe, das nicht zum täglichen Brot werden wollte, sondern ein Fest¬
gericht blieb, nur von Tag zu Tag faber werdend, ekelerregender, weniger und
weniger nahrhaft. Und der eine kann keine Wunder thun, und der andre kann
es auch nicht, und da sitzen sie nun in ihren festlichen Gewändern und bemühen
sich, einander zuzulächeln und festliche Worte zu gebrauchen, aber in ihrem
Innern herrscht eine Pein, ein Hunger und ein Durst, und ihre Blicke fürchten
sich, einander zu begegnen, denn der Gram keimt in ihren Herzen. Ist es nicht
zuerst so, und kommt dann nicht noch die zweite, ebenso traurige Geschichte
dazu, die Geschichte von der Verzweiflung einer Frau, daß sie sich nicht selber
wieder zurücknehmen kann, wenn sie entdeckt, daß der Halbgott, dessen Braut
sie so jubelnd gewesen war, nur ein ganz gewöhnlicher Sterblicher ist? Zuerst
die Verzweiflung, die nutzlose Verzweiflung, und dann die nutzenbringende Ab¬
gestumpftheit, war es nicht so? Er glaubte, daß es so war, und er verstand
es alles: die Härte, die sie zeigen konnte, die herbe Demut und ihre Verwilderung.
die für sie der bitterste Tropfen in dem ganzen Kelche war. Allmählich begriff
er auch, wie sehr ihr seine Rücksicht, seine ehrerbietige Huldigung zur Last fallen,
sie in ärgerliche Unruhe versetzen mußte. Liegt es doch nur zu nahe, daß eine
Frau, die aus dem Purpnrbett ihrer Träume auf das Steinpflaster hinab¬
gestürzt worden ist, jeden haßt, der ihr weiche Decken über die Steine breiten
will; denn in ihrer ersten Bitterkeit will sie gerade die Härte in ihrem ganzen
Umfange fühlen; es genügt ihr nicht, den Weg zu Fuß zurückzulegen, sie will
ihn ans den Knieen entlang kriechen, und zwar gerade da, wo er am härtesten
ist, wo die Steine am spitzesten sind. Sie weist jede Hand, jede Hilfe zurück,
sie will ihr Haupt nicht erheben, ihr Antlitz soll tief im Staube liegen, soll
den Staub mit der Zunge schmecken.
Ricks bedauerte sie von ganzem Herzen, aber er ließ sie in Frieden, wie
sie es ja gewünscht hatte.
Es war so schwer, sie leiden zu sehen, nicht helfen zu können, weit fort
zu sitze» und sie in dummen Träumen glücklich zu träumen oder in kühler
ärztlicher Klugheit zu warten und zu berechnen und zu sich selber so traurig
und so klug zu sagen, daß eine Linderung nicht eher eintreten könne, als bis
ihre alte Hoffnung auf den feinen, funkelnden Reichtum des Lebens sich völlig
verblutet und ein trägerer Lebensstrom alle Adern ihres Wesens durchdrungen
habe, bis sie selber stumpf genug geworden sei, um zu vergessen, schwerfällig genug,
um sich genügen zu lassen, und schließlich sogar grobstoffig genug, um an der
trüben Seligkeit Gefallen zu finden, die viele Himmel tiefer ist als die, welche
sie gehofft und die zu erreichen sie sich so schmerzlich heiß nach Flügeln ge¬
sehnt hatte.
Ihn erfaßte ein wahrer Abscheu vor der ganzen Welt, wenn er darüber
nachdachte, wie sie, vor der er einst so demütig und anbetend in seinem Herzen
gekniet hatte, nun so tief erniedrigt war, daß sie in Knechtschaft leben, frierend
am Zaun des Feldes stehen mußte, während er hoch zu Roß an ihr vorüber¬
ritt, und das reiche Gold des Lebens in seiner Tasche rasselte.
Eines Sonntagsnachmittags, gegen Ende August, ruderte Ricks über den
Fjord. Er fand Fennimore allein zu Hause. Sie lag, als er kam, auf einem
Sofa im Eckzimmer und klagte bei jedem Atemzug mit jenem kurzen, regel¬
mäßigen Stöhnen, das einem, wenn man krank ist, die Schmerzen zu erleichtern
scheint. Sie habe so furchtbare Kopfschmerzen, klagte sie, und es sei niemand
zu Hause, der ihr helfen könne; das Mädchen habe Erlaubnis bekommen, nach
Hcidssund zu den Ihren zu gehen, und bald nachdem sie gegangen, sei jemand
gekommen, um Erik abzuholen; sie könne gar nicht begreifen, wohin sie nur in
dem Regenwetter gefahren sein könnten. Jetzt habe sie schon mehrere Stunden
hier gelegen und versucht zu schlafen, aber daran sei vor lauter Schmerzen
nicht zu denken gewesen. Sie habe es noch niemals so gehabt, und es sei so
plötzlich gekommen, des Mittags habe ihr noch nicht das Geringste gefehlt, in
den Schläfen habe es angefangen und habe sich dann weiter und weiter der¬
breitet, bis es gerade hinter den Augen angelangt sei; wenn es nur nichts Ge¬
fährliches werde, sie sei so gar nicht daran gewöhnt, krank zu sein, und sei
sehr bange und unglücklich darüber.
Ricks tröstete sie, so gut er konnte. Er sagte ihr, sie solle nur ruhig
liegen bleiben, ihre Augen schließen und ganz still sein; er suchte einen dicken
Shawl, den er um ihre Füße wickelte, holte Essig ans dein Büffet und machte
einen nassen Umschlag, den er ihr auf die Stirn legte. Dann setzte er sich
still ans Fenster und sah hinaus in den strömenden Regen.
Von Zeit zu Zeit schlich er auf den Zehen zu ihr hinan und wechselte
den Umschlag, ohne zu sprechen, indem er ihr nur zunickte, wenn sie dankbar
zu ihm aufsah. Zuweilen wollte sie sprechen, er aber wehrte alle Worte mit
einem Kopfschütteln ab.
Schließlich fiel sie in Schlaf.
Eine Stunde verging, und noch eine, und sie schlief noch immer. Eine
Viertelstunde ging langsam in die andre über, während das trübe Tageslicht
mehr und mehr abnahm, und die Schatten des Zimmers langsam länger wurden
und aus den Möbeln und Wänden herauswuchsen. Und der Negen da draußen
fiel noch immer gleichmüßig und ununterbrochen, alles, was es an Lauten gab,
mit seinem rieselnden Sausen übertäubend.
Der Essigdampf und der Vanillegeruch von den Heliotropen auf den
Fensterbrettern vereinigte sich zu einem säuerlichen Weinduft und erfüllte die
Luft, die warm von ihrem Atem einen immer dichteren Thau über die grauen
Fensterscheiben zog, je mehr die Kühle des Abends zunahm.
Ricks war jetzt weit fort in Erinnerungen und Träumen, wahrend doch
die ganze Zeit ein Teil seines Bewußtseins bei der Schlafenden Wache hielt
und ihrem Schlummer folgte. Ganz allmählich, als die Dunkelheit zunahm, er¬
müdete die Phantasie, die stets aufflackernden, stets wieder ersterbenden Träume
zu schüren, gleichsam wie der Erdboden ermüdet, stets dieselbe Frucht zu erzengen;
die Träume wurden matter, unfruchtbarer, ohne üppig wuchernde Einzelheiten, sie
wurden starrer und büßten ihre lang aufgeschossenen, seltsam geformten Ranken
ein. Und der Sinn ließ es alles fahren, das Ferne, und kehrte wieder heim.
Wie still es da war! Waren sie nicht beide da, er und sie wie auf einer
Insel des Schweigens, die sich über dem einförmigen Schallmeer des Regens
erhob? Und ihre Seelen waren still, so still und sicher, während die Zukunft
in einer Wiege des Friedens zu schlafen schien.
Möchte sie doch nie erwachen, möchte doch alles so bleiben, wie es jetzt
war, nicht das geringste Glück außer dem, das ini Frieden lag, aber anch kein
Kummer, keine peinigende Unruhe! Daß es sich jetzt schließen könnte, dieses
gegenwärtige Dasein, so wie eine Knospe sich um sich selber schließt, und daß
nimmer ein Frühling kommen möge!
Fenmmore rief; sie hatte schon eine Weile wach gelegen, so glücklich, sich
frei von Schmerz zu fühlen, daß sie nicht daran gedacht hatte, zu reden. Jetzt
wollte sie aufstehen und Licht anzünden, aber Ricks fuhr fort, den Arzt zu
spielen, und zwang sie, liegen zu bleiben. Es würde gewiß nicht gut für sie
sein, wenn sie jetzt aufstünde; er habe Schwefelhölzer in der Tasche, und eine
Lampe werde er schon finden.
Als er die Lampe angezündet hatte, stellte er sie auf den Vlumentritt in
die Ecke, sodaß die runde, weißschimmernde Kuppel halb von dem feinen, schlum¬
mernden Laube einer Akazie verdeckt ward, und daß es nur gerade so hell
wurde, daß sie einander sehen konnten.
Er setzte sich vor sie hin, und sie sprachen von dem Regen, und wie gut
es sei, daß Erik seinen Regenmantel mitgenommen habe, und wie naß die arme
Trine wohl werden würde. Dann kam das Gespräch ins Stocken.
Fennimores Gedanken waren noch ein wenig schläfrig, und die Mattigkeit,
die über ihr lag, machte es so angenehm, so ruhig dazuliegen und halb zu
denken, ohne zu sprechen, und Ricks war anch nicht zum Reden aufgelegt, er
stand noch unter dem Einflüsse des langen, schweigsamen Nachmittags.
Hast du dies Haus gern? fragte Fennimore endlich.
Ach ja, er hatte es wohl gern.
Wirklich? Erinnerst dn dich der Möbel von zu Hanse?
In Fjordby? Ganz genau!
Wie ich sie liebe, und wie ich mich oft nach ihnen sehne! Die Möbel,
die wir hier haben, gehören uns ja nicht, sie sind nur gemietet und gehen uns
nichts an; an ihnen hängen keinerlei Erinnerungen für uns, und wir sollen
auch nicht länger mit ihnen zusammenleben, als wir hier sind. Du wirst es
gewiß merkwürdig finden, aber ich versichere dir, ich fühle mich oft so einsam
zwischen all diesen fremden Möbeln, die hier so gleichgiltig und stumm dastehen
und mich gehen lassen, wie ich will, ohne sich im mindesten um mich zu
kümmern. Und da sie mir nicht folgen werden, sondern hier bleiben, bis andre
Leute kommen, um sie zu mieten, so kann ich mich auch nicht an sie anschließen
oder mich für sie interessiren, wie ich es könnte, wenn ich wüßte, daß mein
Heim stets das ihre sein würde, und daß, was auch Gutes und Böses kommen
mag, es mir stets mitten unter ihnen kommen wird. Du findest das kindlich,
vielleicht ist es das auch, aber ich kann nun einmal nichts dafür.
Ich weiß nicht, was es ist, ich kenne es von mir selber, damals, als ich
allein im Auslande war. Meine Uhr wollte nicht gehen, und als ich sie dann
von dem Uhrmacher zurückerhielt und sie wieder ging, so war es — so wie
du vorhin sagtest. Ich liebte sie förmlich, es lag etwas eigenartiges in dem
Gefühl, etwas so gründlich Gutes!
Ja, nicht wahr! Ach, an deiner Stelle würde ich die Uhr geküßt haben!
Würdest du das gethan haben?
Sage mir doch, begann sie plötzlich, du hast mir niemals etwas von Erik
erzählt, wie er als Knabe war! Wie war er damals eigentlich?
Alles, was gut und schön war, Fcnnimore, prächtig, brav, in jeder Hinsicht,
Das Ideal eines Knaben für einen Knaben, nicht gerade das Ideal einer
Mutter oder eines Lehrers, sondern das eines andern Knaben, was so ungleich
viel mehr wert ist.
Wie kamt ihr mit einander ans? Habt ihr viel von einander gehalten?
Ja, ich war vollständig in ihn verliebt, und er hatte nichts dagegen; so
war es ungefähr. Wir waren sehr verschieden, mußt du wissen. Ich trug mich
immer mit dem Gedanken herum, berühmt und ein Dichter zu werden, aber,
weißt dn, was er sagte, daß er am liebsten sein möchte, als ich ihn eines Tages
darnach fragte? Ein Indianer, ein richtiger, roter Indianer! Ich konnte das
nicht begreifen, ich erinnere mich dessen noch so deutlich, ich konnte nicht be¬
greifen, wie jemand wünschen konnte, ein Wilder zu sein.
Aber war es dann nicht merkwürdig, daß er Künstler werden wollte?
fragte Fennimore, und es lag etwas Kaltes, Feindliches in dem Tone, in welchem
sie das sagte.
Ricks merkte das und stutzte. Ach nein, sagte er dann, es ist eigentlich
selten, daß Menschen mit ihrer ganzen Natur Künstler sind. Und gerade so
frische, lebensfrohe Menschen wie Erik, die haben so oft eine so unendliche
Sehnsucht nach allem, was zart und fein ist: nach dem feinen, jungfräulichen
Walten, dem lieblich Erhabnen — ich weiß nicht recht, wie ich es nennen soll.
Nach außen hin können sie robust und vollblütig genug sein, ja sie können oft
roh sein, und doch ahnt niemand, welche wunderlichen, romantischen, gefühl¬
vollen Geheimnisse sie mit sich herumtragen, denn sie sind so verschämt, verschämt
in seelischer Beziehung, meine ich, diese großen, schwerfälligen Menschen, daß
keine zarte, bleiche, kleine Jungfrau eine zarter besaitete Seele haben kann als sie.
Verstehst du es wohl, Fennimore, daß so ein Geheimnis, das nicht mit gewöhn¬
lichen Worten in die gewöhnliche, alltägliche Luft hinausgesprochen werden kann,
daß das einen Menschen zum Künstler machen kann? Und sie können es nicht
aussprechen, hörst dn, sie können es nicht; man muß es glauben, daß es da ist
und still da drinnen lebt, gleich einer Zwiebel, die in der Erde liegt, denn
zeitweise sendet es ja seinen duftigen, farbenprächtigen Blumenschatz ans Tages¬
licht. Verstehst dn wohl, verlange nichts von dieser Blütenkraft für dich selber,
glaube daran, freue dich, sie pflegen zu köunen, freue dich des Bewußtseins,
daß sie vorhanden ist. Sei mir nicht böse, Fennimore, aber ich fürchte, daß
du und Erik nicht gut gegen einander seid. Kann das nicht anders werden?
Denke nicht daran, wer Recht hat; grüble nicht über die Größe des Unrechts
nach, du sollst nicht mit ihm ins Gericht gehen, denn wie könnten wohl die
Besten von uns bestehen, nein, denke an ihn, so wie er in der Stunde war,
als du ihn am innigsten liebtest; glaube mir, er ist dessen würdig. Du sollst
nicht abmessen und wägen, ich weiß es, es giebt in der Liebe Augenblicke voll
glühender, festlicher Ekstase, in denen wir, wenn man es von uns verlangte,
unser Leben für den Geliebten hingeben würden. Nicht wahr? Denke jetzt
daran, Fennimvrc, vergiß es nicht, sowohl um deiner selbst wie auch um
seinetwillen.
Er schwieg.
Auch sie sprach nicht, sie lag still da mit einem schwermütigen Lächeln
um die Lippen, bleich wie eine Blume.
Dann erhob sie sich halb und reichte Ricks ihre Hand. Willst du mein
Freund sein? fragte sie.
Das bin ich, Fennimore, und er ergriff ihre Hand.
Willst du es bleiben. Ricks?
Immer, erwiederte er und führte ihre Hand ehrfurchtsvoll an seine Lippen.
Dann erhob er sich. Fenuimore wollte es scheinen, als habe sie ihn noch
nie so schlank gesehen.
Bald darauf kam Trine und meldete, daß sie wieder da sei, und dann
kam das Theewasser, und endlich ein Ruderboot durch den trüben Regen.
(Fortsetzung folgt.)
Leben, Thaten und Meinungen ist die Form, in der alte Volksbücher aus
dein Titel angeben, daß sie ihren Helden nach allen Seiten hin darstellen wollen.
Wenn nun auch nicht anzunehmen ist, daß das Volk unsrer Tage von dieser Ge¬
wohnheit Kenntnis hat, wenn es vielmehr vorgekommen ist, daß Gebildete an der
Bezeichnung „Meinungen" als einem zu subjektiven Ausdrucke Anstoß genommen
haben, so genügt doch ein Blick in das Buch, um zu finden, daß der Verfasser
keineswegs einen kühl historischen Standpunkt hat einnehmen wollen, sondern daß
er warm und überzeugt für Luther, seine Thaten und seine Lehre eintritt.
Das Buch bezeichnet sich als Volksbuch. Mau könnte einwenden: „Ein Werk
von 140 Bogen für das Volk geschrieben, ist das nicht ein Widersinn? Man gebe
dem Volke knappe, kernig geschriebene Auszüge." Nein. Man gebe dem Volke
ausführliche Schriften, darin hat der Verfasser unbedingt recht. Das Volk, wozu
man auch einen guten Teil der sogenannten Gebildeten und die ganze Frauenwelt
hinzunehmen mag. hat keine Freude an der Abstraktion. Das Interesse erwacht
erst da, wo die Darstellung ausführlich wird, wo sie farbige, anschauliche Bilder
giebt. Auch hat das Volk ein lebhaftes Lesebedürfnis und eine rühmenswerte Lese-
geduld. Hat man sich erst hingesetzt, will man auch festsitzen, hat man erst an¬
gefangen, kommt es auf ein paar Bände nicht an. Ob freilich 140 Bogen des
Guten nicht doch zuviel sind, und ob der Preis, wenn er auch noch so niedrig
gesetzt sein mag, der Ausbreitung des Werkes nicht doch vielleicht hinderlich ist,
das sind Fragen, die wir weder bejahen noch verneinen möchten, die sich aber der
Verleger doch wohl auch vorgelegt haben wird. Wenn große Liefernngswerke
zweifelhaften und sogar schlechtesten Inhaltes auf dem Wege der Kolportage ihre
Verbreitung finden, warum soll es bei vorliegendem Werke nicht gelingen, wenn
ähnliche Wege eingeschlagen werden?
Auch für die Geschichtschreibung der Reformation ist die ausführliche Dar¬
stellung der knappen, sich auf die Gegenüberstellung scharfer Gegensätze beschrän¬
kenden vorzuziehen. Die letztere mag packend sein, mag den protestantischen Geist
zum klaren Ausdrucke bringen, aber leider leidet nur zu oft die historische Richtig¬
keit darunter. Zum Beispiel: Vor Luther keine Bibel — Luther findet sie in
Erfurt an der Kette, löst sie und giebt sie dem Volke. Was soll nun der un-
unterrichtete Leser dazu sagen, wenn ihm gezeigt wird, daß es vor Luther Dutzende
von gedruckten Bibeln, auch mehr als ein Dutzend deutscher Bibeln gegeben hat?
Daß die Bibel, nicht das päpstliche Recht die rc-xula, licloi sei, das ist der Gegensatz,
aber der läßt sich mit kurzen Worten allgemeinverständlich hinstellen. Wenn es
sich vollends um die Darstellung der so reichen, nach so verschiednen Seiten sich
ausprägenden Persönlichkeit Luthers handelt, so giebt es nur ein Mittel, der Auf¬
gabe gerecht zu werden, nämlich eine ausführliche Schilderung, welche Schriften,
Briefe und gelegentliche Gespräche reichlich verwendet, welche dem Reformator in
seiner Entwicklung folgt und die Persönlichkeit in das richtige Licht und vor den
richtigen Hintergrund stellt. Es sind in der letzten Zeit meist verfehlte Luther-
Bilder und Statuen geschaffen worden. Hier ist es der orthodoxe Zelot, dort der
dickköpfige Bauer, dort der nationale Held und wieder wo anders der Freiheits-
npostel oder Litteraturprofefsor, der den Lutherrock und den Luthernamen trug.
Der Fehler war, daß die Künstler glaubten, von Luther und seiner Zeit genug
zu wissen, wenn sie ein Paar moderne Schlagwörter aufgelesen hatten. Diesen
Herren wäre ein „Volksbuch" wie das vorliegende sehr zu empfehlen gewesen.
Ans den volkstümlichen Ton, d. h. die direkte Anrede des Lesers, die Redens¬
art des täglichen Lebens, den Krnftausdruck, den Archaismus möchten wir weniger
Gewicht legen. Dieser Volkston ist im Grunde genommen doch nur ein Kunst¬
produkt und überdies nicht nötig. Die Hauptsache ist die klar gegliederte, scharf
gezeichnete Darstellung. Es macht uns Freude, das vorliegende Werk gerade in
dieser Beziehung als ein gutes Volksbuch bezeichnen zu können.
Neue Gesichtspunkte, neuen Stoff können wir von Rades Luthcrbuch nicht
erwarten; doch steht es ans der wissenschaftlichen Höhe der Zeit. Es hat auch,
ohne sich auf Widerlegung und Streit einzulassen, seine Stellung gegen die neuesten
sogenannten Geschichtswerke katholischen Ursprunges eingenommen. Der Gang der
Darstellung ist in den ersten zwei Bänden durch die Sache selbst gegeben. Das
erste Buch führt bis zum Beginne der Reformation, das zweite bis zum end-
giltigen Bruche, das dritte bis zum Schlüsse des Wormser Reichstages und das
vierte, welches der Hauptsache nach die revolutionären Bewegungen der Refor-
mationszeit behandelt, bis zur Verheiratung Luthers. Die Anordnung im dritten
Bande war schwieriger. Der Verfasser behandelt die Zeit von 1525 —1545 unter
dem Gesichtspunkte der Entstehung der lutherischen Kirche (fünftes Buch) und läßt
im sechsten die Schilderung Luthers in Haus und Amt folgen. Eingefügt ist der
vollständige Abdruck von elf Schriften Luthers und derjenige von elf andern in
ausführlichen Auszuge. Wir wünschen dem Unternehmen besten Erfolg und sind
überzeugt, daß die in der Art der Entstehung des Buches begründeten und von
dem Verfasser selbst empfundenen Mängel — wir meinen besonders das Ende
des fünften Buches — bei einer neuen Auflage Besserung finden werden.
Ein vortreffliches Büchlein, ebenso zeitgemäß, als geistreich und gelehrt. Mit
seltener Beherrschung der großen einschlägigen philosophischen wie dichterischen
Litteratur hat sich Emil Reich daran gemacht, Schopenhauers aphoristisch mitgeteilte
Philosophie der Tragödie nicht bloß darzustellen, sondern auch auf ihren Wahrheits¬
gehalt zu prüfen. Der erstere Versuch ist schon öfters gemacht worden, am um¬
fassendsten von Siebenlist, aber auch am langweiligsten, mit orthodoxer Unter¬
werfung unter seines Meisters Aussprüche. Gegen beide nun vornehmlich ist Reichs
gedankenvolle Studie gerichtet. Dadurch, daß sie immerfort ihre Grundsätze nicht
bloß dialektisch zu begründen strebt, sondern anch mit glücklicher Wahl die Stimmen
der berufensten Kunstphilosophen und Dichter zitirt, eines Sophokles, Euripides,
Aeschylos, Aristoteles. Shakespeare, Calderon. Lessing. Herder, Goethe, Schiller,
Grillparzer, Hebbel (Tagebücher). Otto Ludwig. Jean Paul, Hegel, Bischer, Herbart,
Zimmermann, Carriere, Jakob Bernays, Theodor Rötscher, Ulrici, Gervinus, Hettner,
Scherer, Georg Günther und noch vieler andrer Denker, dadurch erreicht sie die
überraschende Wirkung, zu zeigen: so zerfahren, wie man oft aufschreit, ist das
kunstphilosophische Denken der Nation denn doch nicht! Wer ein feines Ohr hat,
nicht rechthaberisch sich auf Worte steift, der wird schon die Mehrheit von Stimmen
über viele Punkte der Aesthetik geeinigt finden; auch dies ein Beweis mehr für
die oft bestrittene Möglichkeit einer Aesthetik als Wissenschaft. Doch dies nur
beiläufig zur Beruhigung des fleißig zitirenden Reich, der sich ob dieser, allerdings
nicht gerade bequemen und auch nicht immer geschmackvollen Darstellungsweise in
einem eignen Vorwort entschuldigen zu müssen glaubte. Das Verdienst seiner
Studie liegt indes vornehmlich in der objektiven und schlagenden Kritik der Lehre
Schopenhauers vom Tragischen.
Reich geht von dem Nachweise aus, daß der Frankfurter Philosoph schon prin¬
zipiell die Kunst falsch erklärte. Dadurch nämlich, daß er ihre Aufgabe einzig in
der Darstellung von (platonischen) Ideen, seinen „Objektivativnsstnfen des Willens,"
erkannte, setzte er alle Kunst in den Dienst der Erkenntnis, in den der Philosophie;
die Kunst wurde dieser nicht bei-, sondern untergeordnet. In Wahrheit aber hat
die Kunst nur den schönen Schein darzustellen, und der Erkenntnis dient sie nur in
zweiter Linie; erfreuen, ergötzen will sie, nicht belehren. Daher kam Schopenhauer
irrtümlich dahin, Form und Technik der Kunstwerke gering zu schätzen, welche von
allen Künstlern und Aesthetikern jedoch einstimmig dem Gehalte mindestens gleich¬
gestellt werden.
Als die Aufgabe der tragischen Kunst erklärte Schopenhauer, ein Bild dieser
schlechten Welt vor des Zuschauers Augen zu stellen, einer Welt, in der das
Unrecht siegt, das Recht überwältigt wird, in der eben keine sittliche Ordnung
herrscht, in der der Wille zum Leben entzweit ist mit sich selbst, sich selbst daher
in den verschiedenen Individuen bekämpft. Die Tragödie soll uns läutern von
unserm sündhaften Willen zum Leben und soll lehren, durch das Schicksal ihres
Helden selbst, daß es besser sei, nicht zu leben, erlöst zu werden von der Erbsünde
des Lebens selbst. Die Tragödie hat also den Beruf, den Pessimismus oder das
strenge Christentum, nach Schopenhauer, zu predigen. Und dabei verwies er auf
König Oedipus, Gretchen, Egmont, Clavigo, Ophelia, Cordelia, Desdemona, Don
Carlos und Posa, die Jungfrau por Orleans, die Braut von Messina, den „stand¬
haften Prinzen" von Calderon, „Mahomet" und „Tancred" von Voltaire und noch
andre Tragödien. Emil Reich nimmt nun Schopenhauer beim Wort, geht in
feinsinniger Analyse alle die genannten Stücke durch und führt schlagend den
Nachweis, daß Schopenhauer mit Unrecht seinen Pessimismus in diese Dichtungen
hineingelegt hat. Keiner dieser tragischen Helden verachtet das Leben, keiner geht
bloß an der Erbsünde uuter, und die poetische Gerechtigkeit, gegen die Schopen¬
hauer sich zornig als eine Philistern prosaischer Köpfe wendete, wird von allen
den genannten Tragikern, auch vom katholischen Calderon, mit klarem Bewußt¬
sein beobachtet. Cordelia ist schuldig: denn sie hat hochverräterischerweise das
fremde Heer auf englischen Boden gerufen und ist auch der Schwäche des alten
Vaters, die sie doch kennen mußte, trotzköpfig nicht entgegengekommen; auch Ophelia
ist schuldig: denn sie hat, wenn auch sich selbst unklar, von Claudius sich in ver¬
räterischer Absicht gegen Hamlet benutzen lassen; auch Desdemona ist schuldig:
denn sie hat sich herzlos gegen den alten Vater benommen u. s. w. Wenn die
Tragödie nicht gräßlich werden soll, kann sie der Schuld für ihre Helden nicht
entbehren, und zwar nicht etwa der mystischen Erbsünde, sondern wirklicher Schuld;
und die Ausgleichung derselben stellt sie gleichfalls auf Erden hin, sie kennt keine
Versöhnung in nirvana; denn sie predigt nicht den Ekel vor der Welt, sondern
sie stellt das Bild derselben als schönen Schein hin, und zu dieser Schönheit gehört
untrennbar der Glaube an eine sittliche Weltordnung. Durch diesen ihr uneut-
reißbaren Glauben ist sie abgrundtief von den Naturalisten getrennt, die Schopen¬
hauers Theorie in Praxis umsetzen (Ibsen). Er selbst freilich hätte die Naturalisten,
zufolge seiner künstlerischen Jdeenlehre, abgelehnt.
Endlich hat Schopenhauer die Lehre vou der UnVeränderlichkeit des Charakters
in der Tragödie aufgestellt und die Forderung der Willensfreiheit für den tra¬
gischen Helden angefochten. Siebenlist hat hierauf das „Gesetz des tragischen Mo¬
nismus." Reich weist nach, daß sich dieses sogenannte Gesetz mit der ganzen Pes¬
simistischen Lehre in Widerspruch bringe, denn dann wird ja jedem Charakter das
Seinige an Lohn und Strafe nach Recht zugewiesen!
Dies die Probleme, neben denen Reich eine Menge Einzelheiten zur Sprache
bringt. In einigen Fragen stimmt übrigens anch Reich dem großen Pessimisten
bei, z. B. in der nach dem Verhältnis der Poesie zur Geschichte. Es geschieht
dies immer dann, wenn sich Schopenhauer in seinen Urteilen nicht von seinem
System befangen machen ließ. Denn wenn auch Reich nachweist, daß Schopen¬
hauers pessimistische Kunstlehre litterarisch mit der Herrschaft der Schicksalsdramen
zusammenfällt, ferner, daß seine befremdende Überschätzung Voltaires als Dra¬
matiker auf seine allgemeine Vorliebe für den großen Aufklärer zurückzuführen
sei, so ist er doch weit davon entfernt, Schopenhauers bedeutenden künstlerischen
Sinn ganz zu verkennen. Das Beste an diesen Einzelheiten sind die vorzüglichen
Analysen der Dramen, zumal die des „König Lear," der „Tragödie des Cäsaren¬
wahnsinns" und der „Braut von Messina." Man hat Ursache, auf das größere
Werk über die dramatische Kunst gespannt zu sein, welches Reich ankündigt.
erständigen, unverblendeten Beobachtern der Bismarckschen Politik,
die ihre Beobachtungen im Gedächtnis bewahren, sagen wir nichts
neues, wenn wir im Hinblick auf das Kartell und gewisse Ge¬
lüste von Konservativen, eine andre Parteigruvpirung zu stände
zu bringen, behaupten, daß der Reichskanzler als solcher und
schon als preußischer Minister niemals einer Partei angehört hat. „Der König
war mein einziger Fraktionsgenosse — äußerte er 1881 —, und meine einzigen Ziele
waren Verteidigung der monarchischen Gewalt gegen verfassungswidrigen Parla¬
mentarismus und Herstellung, Kräftigung und Weiterausbildung des deutschen
Reiches." Kein Mann der Partei, oder was bei uns ungefähr dasselbe be¬
deutet, kein Mann der Doktrin, suchte er sich die von der Verfassung vor¬
geschriebene Mehrheit in den Parlamenten, wo er sie im gegebenen Augenblicke
zu finden hoffte. Indem er bemüht war, die großen Parteien so zu lenken,
daß sie der Erreichung der soeben genannten Ziele möglichst dienten, machte er
bald der einen, bald der andern Zugeständnisse, die verglichen mit den ihm am
nächsten liegenden Zwecke geringe Bedeutung zu haben schienen, und die nach
Erreichung dieses Zweckes umgestaltet werden konnten, sobald es die Umstände
erforderten. Seine Hauptaufgabe war von 1870 an die Pflege der deutschen
Einheit, die Befestigung des deutschen Reiches. Als er sich zu diesem Zwecke
nach Unterstützung in der Volksvertretung umsah, fand er diese zwar auch in
den Reihen der Konservativen, aber natürlich richteten sich seine Blicke mehr auf
die nationalliberale Partei, die als die zahlreichere sich zur Gewinnung einer
Mehrheit vor allem empfahl, und mit der er sich in seinen nationalen Zielen
fast durchgehends einig wußte. Mit ihr galt es daher nach ihrer andern, der
liberalen Seite hin sich möglichst zu verständigen, und indem dies geschah, kam
es zu verschiednen Vereinbarungen, die einen Teil der Konservativen, die Junker
und die Hochkirchlichen, welche ihr Organ in der Kreuzzeitung haben, verstimmten
und dem Kanzler zuletzt entfremdeten. Zuerst grollte, dann zürnte man dem
„liberal gewordenen Ministerpräsidenten," und 1872 kam es über der Frage des
Schulaufsichtsgesetzes zwischen ihm und jener Clique, die damals viel stärker als
jetzt war, zu offnem Bruche. Die Herren näherten sich sogar dem reichsfeindlichen
Zentrum und machten mit ihm Front gegen den Minister, indem sie in dem
Bedürfnisse gesinnungsvoller Opposition mit Windthorst die „Vindikation des
monarchischen Prinzips gegen parlamentarische Majoritätswirtschaft" und die
„Verteidigung des christlichen Charakters unsers Staates" besorgen zu müssen
erklärten. Bismarck hatte am 30. Januar in einer Rede gesagt: „Wie die
Sachen augenblicklich liegen ... bedürfen wir Minister einer Majorität, die
unsre Richtung im ganzen unterstützt." Das sollte nach der Kreuzzeitung eine
„unumwundene Anerkennung desjenigen Konstitutionalismus" sein, den das
Blatt und seine Partei „seit zwanzig Jahren bekämpft hätten, weil er in Preußen
nicht verfassungsmäßig sei." Mit unbestreitbarem Rechte ließ der Kanzler darauf
entgegnen: „Nicht verfassungsmäßig? Haben wir denn keine Volksvertretung?
Ist ihre Zustimmung nicht erforderlich zur Giltigkeit der Gesetze, und wird diese
Zustimmung nicht durch ihre Majorität erteilt? Da folgt doch mit unerbitt¬
licher Konsequenz das Bedürfnis der Räte der Krone, sich eine Majorität für
ihre Gesetze zu gewinnen, wenigstens insoweit, daß sie, wenn auch nicht jede
Vorlage ihre Beistimmung findet, die Richtung der Minister im ganzen unter¬
stützt. Der Mann, den die Kreuzzeitung mit überlegener Weisheit kritisirt, hat
im Sturm und Drang bewegter Tage bewiesen, daß er das für notwendig er¬
kannte keiner Majorität zu opfern gewillt ist. Aber derselbe Staatsmann sprach
es auch aus, daß der Konflikt keine regelmüßige Einrichtung des Landes sein
könne. Wo eine Volksvertretung besteht, und wo der Konflikt nicht ewig dauern
soll, da werden Majoritäten zu gewinnen sein, und entziehen die Männer von
der Rechten ihre Unterstützung, so erhebt sich die Frage, ob die Regierung, die
das Staatsleben im Gange zu erhalten hat, weiter links noch Volksvertreter
zu finden vermag, auf deren Unterstützung sie zählen kann." Diese sehr charak¬
teristischen Worte gingen nur gegen die äußerste Rechte, die dunkelste Schattirung
der Konservativen. Von den übrigen Mitgliedern der Partei wurde gerühmt:
„Die konservative Partei hat ihren Anhalt in der Regierung gesucht und auch
gefunden. Das nennt die Kreuzzeitung den Grund des Übels. Richtiger wäre,
darin den Grund des Ansehens und der Geltung dieser Partei zu erblicken.
Unter einer starken und aufstrebenden Regierung ist diese nach langen Jahren
der Nichtachtung emporgekommen. Indem sie sich der von Sr. Majestät er¬
griffenen Politik mit Loyalität anschloß, hat sie nicht das Gelingen dieser
Politik möglich gemacht, wohl aber sich, was nie zu vergessen ist, mit derselben
identifizirt und sich dadurch die Berechtigung zu vollem Anteil an Ruhm und
Ehre erworben. Man kann nicht sagen, daß die Regierung einen parlamen¬
tarischen Sieg in den letztverflossenen Jahren ihr allein zu danken hätte. Aber
es ist der Partei zu statten gekommen, daß sie mit einer Regierung zu gehen
beschloß, die fähig war, zu leisten, was die Partei zu vollbringen außer stände
war." Für die unheilbare Verblendung und den steifnackigen Dünkel der Kreuz¬
zeitungspolitiker war diese auch später und noch heute giltige Wahrheit eine
Predigt in den Wind. Man erinnert sich, wie sie zur Zeit der großen Ver¬
leumdungen in ihrem Blatte auf ähnliche Weise Sturm gegen den Kanzler
läutete wie Joachim Gehlsens Reichsglocke, wo ebenfalls frondirendc Junker den
Strang zogen, man denkt an die Kundgebung der Deklaranten, die das
billigte, man weiß, wie dieser Flügel der Konservativen sich wiederholt mit
Windthorsts Schwarzen zur Bekämpfung Bismarcks und seiner das Reichswohl
bezweckenden Politik verbündete, weil er ihnen nicht den Willen thun, d. h. keine
Reaktion in Szene setzen wollte.
Beinahe ganz dasselbe, was hier vom rechten Flügel der Konservativen
gesagt wurde, gilt vom linken der Nationalliberalen, der vor seinem Ausscheiden
aus der Partei so häufig der leitende war, daß es zeitweilig von der gesamten
Genossenschaft galt. Auch die Nationalliberalen haben sich bei der Neugestaltung
der deutschen Verhältnisse unzweifelhafte Verdienste erworben, aber ebenfalls nur
insofern, als sie sich der Politik des Reichskanzlers entschieden fügten. Sie
mußten, wie gesagt, als der innere Ausbau des neuen Hauses begann, dem
Baumeister nach den zunächst in Betracht kommenden Zügen ihres politischen
Charakters als besonders geeignete Arbeiter erscheinen, und sollte das Werk
rasch vollendet werden, so mußte er sie neben dem Teile der Konservativen, der
seine Pläne und Bestrebungen begriff und zu fördern gewillt war, und im
Einvernehmen mit ihm verwenden, sowie bei ihrer Arbeit festhalten und ihr
Interesse daran verstärken. Sie verfolgten gleich ihm sein zweites Hauptziel,
sie waren national und reichstreu gesinnt, aber zugleich in einem Grade liberal,
der sich damit nicht immer und mit dem ersten seiner Hauptziele, der Wahrung
des verfassungsmäßigen Rechtes des Monarchen, noch weniger vertragen wollte.
Es befand sich ein starker Prozentsatz „gesinnungstüchtiger" und infolgedessen
schwer belehrbarer Geister unter ihnen, die sich nur zögernd mit der Regierung
zu gehen entschlossen, weil das wider den Komment und Katechismus der libe¬
ralen Partei verstieß, der es für mindestens unschicklich erachtete und UnVer¬
söhnlichkeit und Opposition unter allen Umständen für das dem Genossen der¬
selben allein wohl zu Gesichte stehende Benehmen erklärte. Der Kanzler gewann
sie durch Entgegenkommen, durch möglichst schonende Behandlung ihrer Vor¬
urteile wirklich, einige ganz und für immer, andre bis zu einem gewissen Grade
und nur vorübergehend. Er erwarb sich unter ihnen Freunde durch formelle
Zugeständnisse an einige ihrer Lieblingsneigungen, die vorläufig als harmlos
betrachtet werden konnten. Aber so sehr er sich ihnen, seines höhern nationalen
Zweckes eingedenk, gefällig erwies, an einem Punkte hörte dies auf: das An¬
sehen und die Befugnis, welche die Verfassung der Krone lieferte, ließ er nicht
schmälern.
Der Liberalismus strebte nach einem Zustande, wie er in England, Frank¬
reich und Belgien Herkommen war, und bei dem die Minister nur mit der
Mehrheit der Volksvertretung regieren konnten und, wo ihnen diese fehlte,
sofort zurückzutreten und einem Kabinet Platz zu machen hatten, das der
Monarch oder Präsident aus der Mehrheit zu wählen verpflichtet war. Bis
1866 hatte Bismarck dieses Streben und die ihm zu gründe liegende Doktrin
für unzulässig in Preußen, weil nicht in dessen Verfassung begründet, erklärt
und 1863 zur Vermeidung von Konflikten auf die Politik der Kompromisse
hingewiesen. Diese wurde damals abgelehnt. Jetzt, nach Gründung des Nord¬
deutschen Bundes, vom Kanzler wieder aufgenommen und im deutschen Reiche
fortgesetzt, hatte sie bessern Erfolg. Die Nationalliberalen gingen gleich andern
Gemäßigten in den meisten Fällen auf sie ein. Ferner suchte der Kanzler den
Aberglauben der Liberalen zu widerlegen und zu beseitigen, der einen Gegensatz
zwischen Regierung und Volksvertretung als selbstverständlich und unter allen
Umständen wirksam ansah und als oberste Pflicht der Volksvertretung wach¬
sames Mißtrauen in Betreff der Pläne und Vorschläge der Regierung betrachtete,
die nächstwichtige aber in dem Bestreben der Parlamente sah, die angeblich er¬
folgte Übervorteilung der Regierten durch die Regierenden jetzt, nachdem die
nationalen Ziele in der Hauptsache erreicht worden, wettzumachen, die vermeint¬
lichen Rechte des Volkes, Menschenrechte, Grundrechte u. dergl. allmählich
zurückzuerobern und die Staatsbürger, die nunmehr politische Bildung genug
besäßen, um sich selbst zu regieren, von der „Bevormundung" durch die Staats¬
behörde zu befreien. Die Bemühungen Bismarcks, die Nationalliberalen von
der Verkehrtheit dieser von 1848 her überlieferten Ansichten zu überzeugen,
waren eine Zeit lang, wie es schien, nicht erfolglos, sodaß sich im großen und
ganzen zwischen ihm und der bedeutendsten Fraktion der Liberalen ein recht be¬
friedigendes Verhältnis ausbildete, bei dem diese mancherlei Zugeständnisse
von der Negierung erlangten. So auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Inter¬
essen, in der Frage der Verwaltungsreform und bei dem Kampfe mit den
Ultramontanen, so ferner bei der Justizreform und dem Militärorganisations¬
gesetze. Immer erreichte der Kanzler hier im wesentlichen seinen Zweck, indem
er auf liberale Forderungen, die sich gewähren ließen, einging, also auf dem
Wege von Vereinbarungen nach dem Grundsatze av ut ass.
Bei der Raschheit, womit der innere Ausbau des deutschen Staates in¬
folge dieses praktischen Verfahrens fortschritt, konnte es nicht fehlen, daß sich,
als man Zeit zu genauerer Betrachtung fand, Mängel am Werke herausstellten,
deren Beseitigung sich nicht aufschieben ließ. Ein Teil der Nationalliberalen
erkannte dies an, ein andrer nicht. Alle fingen mehr oder minder an, sich
ihrer doktrinären Vergangenheit zu erinnern, alle meinten Rücksicht auf ihre
Wähler nehmen zu müssen, von denen sie irrtümlich voraussetzten, daß sie der
Mehrzahl nach die alten Glaubensartikel des Liberalismus für unumstößliche
Regeln, für unantastbare Heiligtümer hielten. So wurde die Unterstützung des
leitenden Staatsmannes durch die Partei schon zu Beginn des zweiten Jahr¬
fünfts des deutschen Reiches fraglich und immer fraglicher. Allerdings führte
man sie noch im Programm, aber die Fälle, wo man sie gewährte, wurden
seltener. Man verfuhr zuerst zögernd, dann kühler, darauf abwehrend und
zuletzt angreifend. Man lieh dem Kanzler in den besten Fällen nur wider¬
willig und notgedrungen seine Mitwirkung bei der Verschärfung des von der
modischen Humanität stark beeinflußten Strafgesetzbuches, und die betreffende
Novelle ging aus den Verhandlungen des Reichstages verwässert und ver¬
stümmelt hervor. Bei den Justizgesetzen machte man zwar in dritter Lesung
erhebliche Zugeständnisse, aber vorher hatte man auch in dieser Angelegenheit
mit Eifer seinen doktrinären Liberalismus kund gegeben und in verdrießlichster
Weise gefeilscht, gemäkelt und abzuzwacken versucht. Die Partei, die vorher
bereitwillig bei den Reformen mitgezogen und -geschoben hatte, schickte sich
mehr und mehr an, ein Hemmschuh zu werden. Die Reichstagswahlen von
1877 zeigten ziemlich deutlich, daß die Führer derselben sich bei diesem Verhalten
mit der erwähnten Rücksicht auf die Wählerschaften getäuscht hatten. Ein be¬
trächtlicher Teil der letztern war einverstanden mit der Politik des Kanzlers,
und so kam es, daß eine nicht geringe Anzahl der bisherigen nationalliberalen
Abgeordneten den Kummer erleben mußte, ihr Mandat nicht erneuert zu sehen,
während die Fraktionen der Konservativen durch die Wahlen verstärkt wurden.
Ostern 1877 bat der Kanzler den Kaiser um seine Entlassung, worauf
im Sinne der ungeheuern Mehrheit des deutschen Volkes, soweit es an poli¬
tischen Dingen Interesse nimmt, mit dem bekannten „Niemals" geantwortet
wurde. Die Beweggründe zu dem Abschiedsgesuche waren hauptsächlich in Hof¬
kreisen zu suchen. Aber auch Verstimmung und Verdruß über die zunehmende
Opposition der stärksten Gruppe der Liberalen, die sich namentlich im Hinblick
auf die Feindschaft der Klerikalen und ihrer partikularistischen Bundesgenossen
gegen das Reich als Reichstreue ganz entschieden und unzweideutig auf die
Seite von dessen Schöpfer hätte stellen sollen, aber statt dessen, um den
Glanz liberaler Gesinnungstüchtigkeit hell zu bewahren, dem Kanzler jetzt fast
niemals ihren Beistand unverkürzt zu teil werden ließen, spielten dabei eine
Rolle. Die Herren vom linken Flügel der Nationalliberalen fühlten sich mehr
zu Kritikern als zu Mitarbeitern des Kanzlers berufen, und sie hatten sich all¬
mählich ganz zu ihrer vermeintlichen Hauptaufgabe, Wächter der angeblich von
ihm bedrohten Rechte und Freiheiten des Volkes zu sein, zurückgewöhne, sodaß
sie häufig von der fortschrittlichen Demokratie kaum noch zu unterscheiden
waren. Sie führten aber bei ihrer Rührigkeit und den nicht zu leugnenden
Talenten ihrer Leiter in der Partei vorwiegend das Wort und gaben ihr viel¬
fach die Farbe.
Inzwischen waren die Pläne des Kanzlers zur Umgestaltung der wirt¬
schaftlichen Einrichtungen des Reiches gereift, Pläne, die auf Vermehrung der
Einnahmen des letzteren aus den Zöllen und den indirekten Steuern, auf
Unterstützung der Industrie und der Landwirtschaft in ihrem Kampfe mit dem
übermächtigen Wettbewerbern des Auslandes und auf Erleichterung der mit in¬
direkten Abgaben schwer belasteten Mittelklasse, sowie der mit Ausgaben für
Schulen und Arme überbürdeten Gemeinden hinausliefen. Zu diesem Zwecke
suchte Bismarck den Beistand der Nationalliberalen. Im Herbste 1877 ver¬
handelte er deshalb mit Bennigsen. Dieser konnte oder wollte sich mit Rück¬
sicht auf jenen linken Flügel nicht allein entscheiden und nahm die Vorschläge
Bismarcks einfach entgegen, um sich darüber mit andern Führern der Partei
zu besprechen. Dies geschah, und einige Tage nachher wurde von der Presse
der Nationalliberalen die Parole „Konstitutionelle Garantien" ausgegeben.
Man dachte an ein großes Handelsgeschäft, zu dem offenbar Laster geraten
hatte, der schon 1873 mit der Bemerkung, daß man endlich auch „Volksrechte"
verlangen und gewähren müsse, mit der Forderung eines Preßgesetzes nach
seinem Geschmack hervorgetreten, aber von Bismarck abschlägig beschicken
worden war. Jetzt, wo man sich für notwendig und unumgänglich hielt, war,
wie Laster und Genossen rechneten, der Augenblick gekommen, diese günstige
Lage kaufmännisch auszunutzen und der Regierung alles abzudrücken, was man
begehrte. Über die „konstitutionellen Garantien" herrschte in der Partei frei¬
lich keine Übereinstimmung; aber schon daß man solche Bürgschaften in Anspruch
nahm, war der deutlichste Ausdruck des in der Partei nie ganz geschwun¬
denen Gefühls, daß sie in dem Kanzler nicht sowohl einen Freund und leitenden
Mitarbeiter, als einen Gegner vor sich habe, dem man sich nur mit Mißtrauen
und größter Vorsicht weiter nähern dürfe, und dessen Gesetzvorschläge man mit
allerlei Kautelen spicken müsse, wenn sie ungefährlich sein sollten. Bismarck
lehnte das Verlangen der Nationalliberalen, das auf Einrichtungen ähnlich
den englischen mit ihrer Parteiregierung hinauslief, als unerfüllbar ab, und
nun verwandelten sich die zuletzt nur noch halben und lauen politischen Freunde
in eine Partei, die fast in allen Fragen, welche den Reichstag und das Ab¬
geordnetenhaus des Landtages beschäftigten, mit der Opposition stimmte und
dem Kanzler häufig die natürlichsten Dinge abschlug. Das Ausscheiden des
linken Flügels aus dem Fraktionsverbande änderte daran zunächst nicht viel.
Die ganze Partei war mehr oder weniger in die alte Politik der Liberalen
zurückverfallen, und sie hatte sich damit von ihm, nicht er sich von ihr getrennt.
Ihre Blätter feindeten ihn in gleich gehässigen Tone an, wie die der Fort¬
schrittsleute. Ihre Vertreter am Dönhofsplatze verwarfen beinahe alles, was
die Negierung vorschlug oder verlangte, und die in der Leipziger Straße thaten
desgleichen, indem sie sogar das hochnvtwendige Sozialistengesetz zurückwiesen
und ihm erst dann zustimmten, als zwei Mordversuche aus den Reihen der
Umsturzpartei das geheiligte Haupt des Kaisers, der für die Verwirklichung
des nationalen Ideals seine Krone gewagt hatte, bedroht und die Nation in
eine Stimmung versetzt hatten, welche die Mandate der Doktrinäre, die hier
aus „Prinzipientreue" keine Abhilfe zustande kommen lassen wollten, für die
Zukunft unsicher erscheinen ließ. Die Herren wollten dadurch, daß sie dem
Kanzler Hindernisse in den Weg legten, in erster Linie zeigen, daß sie eine
Macht seien, die schaden und hemmen könne, und die man bei jeder neuen
Frage durch Zugeständnisse willig stimmen müsse. Sie schadeten sich aber damit
nur selbst. Abgelöst von Bismarck, galten und vermochten sie wenig, wurden
sie eine Partei zweiten Ranges, auch an Zahl. Der Kanzler aber empfand,
seitdem diese Politik der Nationalliberalen sich deutlich und beharrlich äußerte,
nur stärker als früher, daß sie unzuverlässige Freundewaren; im übrigen setzte
er mit Hilfe andrer wesentliche Punkte seines reformatorischen Programms
durch, nicht so viel, als er mit dem Beistande der Nationalliberalen aller
Schattirungen durchgesetzt haben würde, aber immerhin bis auf weiteres genug.
Jene andern waren die Konservativen und das Zentrum. Deshalb konnte
man aber eben so wenig nun sagen, der Kanzler sei reaktionär, junkerlich und
hochkirchlich geworden, als er sei unter die Klerikalen gegangen. Jene beiden
Parteien zeigten sich bereit, ihm gewisse Absichten verwirklichen zu helfen, und
er nahm dies an. Den gemäßigten und reichstreuen Liberalen stand es frei,
sich ihm von neuem zu nähern und wieder mit ihm durch Kompromisse auch
in Sachen ihrer liberalen Anliegen weiter zu kommen. „Ich habe — so sagte
er in den Tagen, wo er mit der wirtschaftlichen Reform begann — positive
praktische Ziele, nach denen ich strebe, und zu denen mir mitunter die Linke,
mitunter die Rechte geholfen hat, nach meinem Wunsche aber beide gemein¬
schaftlich helfen sollten. Wer diese Ziele mit mir erstrebt, ob man sie sofort
erringt oder erst nach jahrelanger gemeinschaftlicher Arbeit ihnen näher kommt
und sie schließlich erreicht, darauf kommt es so sehr nicht an. Ich gehe mit
jedem, der mit dem geht, was nach meiner Überzeugung das Interesse des
Staates und des Landes ist. Die Fraktion, der er angehört, ist mir gleichgiltig."
In der letzten Zeit haben sich die Nationalliberalen, durch Erfahrung
belehrt, dem Kanzler wieder genähert, die große Mehrheit der Konservativen
steht ihm gleichfalls nicht mehr fern und im wesentlichen zur Verfügung.
Beide Parteien aber haben sichs gesagt sein lassen, wenn er einst den Wunsch
äußerte, die Rechte wie die Linke möchten ihm bei seinem Streben nach posi¬
tiven praktischen Zielen gemeinschaftlich helfen. Sie haben ein Kompromiß,
das Kartell, geschlossen. Die Regierung muß wünschen, daß es bestehen bleibe
da sie einer Mehrheit bedarf, und diese sich auf der Grundlage der konserva¬
tiven Partei allein nicht herstellen läßt, sondern nur zu erreichen ist entweder
durch Verbindung der Konservativen mit dem Zentrum oder durch Einigung
derselben mit den Nationalliberalen und den Freikonservativen. Mit der Partei
Windthorsts zu gehen ist selbstverständlich für die Negierung ein Ding der
Unmöglichkeit, sie kann sich auf keine Mehrheit stützen, deren Bestand vom
Belieben dieses unverbesserlichen Neichsfeindes abhängt, mit dem sie also fort¬
während zu Pallirer hätte. Sie kann nur eine aus Nationalliberalen und
Konservativen zusammengesetzte Mehrheit brauchen. Sie muß infolge dieser
Lage der Dinge nicht nur sich selbst der Bekämpfung einer der drei nationalen
Parteien enthalten, sondern auch bemüht sein, zu verhüten, daß diese sich unter
einander befehden, und nach Möglichkeit dahin wirken, daß sie einig bleiben,
ihren Besitzstand in den Wahlkreisen unter einander schonen und bei Stich¬
wahlen für einander stimmen. Die Negierung ist nicht imstande, zwischen den
Fraktionen, deren Unterstützung sie zu verfassungsmäßigen Regieren bedarf,
eine Auswahl zu treffen. Das Zusammenhalten der nationalen Parteien ist
für sie eine unbedingte Notwendigkeit. Ohne dieses bliebe ihr nur übrig,
entweder in dauernder Minderheit zu operiren oder sich Herrn Windthorst und
seiner Anhängerschaft auf gut Glück in die Arme zu werfen, Elementen, die
aus dem Polentum, dem Welfenlager und den Reihen des Freisinns sich
zusammengefunden haben. Diese Umstände bringen die Politik des Kanzlers
in eine Art Zwangslage, auf welche die Fraktionen, die das Interesse des
Staates über das der Parteien stellen, überall und dauernd Rücksicht nehmen
sollten.
it Stolz darf der Deutsche auf die Ergebnisse seiner Geschicht¬
schreibung blicken. Ihm gehören die größten historischen Genies
der neuesten Zeit an, er schuf die Weltgeschichte und wurde
Hauptvertreter der Spezialforschung, er eröffnete die systematische
Durchforschung der Archive, wurde Wiedererwecker der Urkunden¬
lehre, zuverlässigster und umsichtigster Textherausgeber, von ihm ging die Rechts¬
wissenschaft aus und die Begründung der modernen historischen Kritik, die der
ganzen Wissenschaft und vielen Anverwandten ihre Grundfarbe verlieh. Kurz,
der Deutsche darf sich als vornehmster Träger der heutigen Geschichtskunde
ansehen.
Wie immer, so entwickelten sich aber auch hier mit dem Guten und Wert¬
vollen zugleich Übelstände und Gefahren. Diese erweisen sich von verschiedner
Art, als subjektive, aus dem Material erwachsende, und als objektive, in der
Disziplin beruhende oder sich eindrängende, zwei treten von außen heran und
zwei wirken innerlich; es sind das: Philosophie und Naturwissenschaft, Spezia¬
lismus und Standpunkt.
Zunächst die erstem. Höhere Geschichte kann weder der Ergebnisse der Phi¬
losophie noch der der Naturwissenschaft entraten, doch gedeihen sie zur Gefahr,
wenn sie übermächtig werden, mit abweichenden System und andern Zielen die
Thatsachen beeinträchtigen, statt daß die Thatsachen sie lenken und beeinflussen.
Das Wesen der Geschichte ist das Werden. Aus ihm ergiebt sich eine
Doppelfrage: Wie geschieht die Entwicklung und wohin führt sie? Oder: Was
sind die Faktoren und welches ist ihr Ergebnis? Oder: Was sind die Ursachen
und was ist die Wirkung? Beides hat Herder in seinen „Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit" zusammengefaßt. Der Mensch gilt ihm als
dazu bestimmt, alles zu erreichen, wozu ihm die äußere Möglichkeit und die innere
Kraft und Anlage gegeben wurde. Während er darnach strebt, strebt er nach
Vervollkommnung, nach reinerer Ausprägung der Humanität, und in dieser
Entwicklung beruht sein Glück. Erscheint nun hier schon der Vordersatz be¬
denklich, so ist die Folgerung geradezu falsch, denn nur wenige streben nach
Vervollkommnung, das Ziel der Masse ist von vornherein das Glück oder rich¬
tiger das, was sie für Glück hält; der Trieb der Selbsterhaltung, der Kampf
ums Dasein beherrscht den Einzelnen, die Völker, die Menschheit. Legte man
der Geschichte also den Herderschen Satz zu Grunde, so trübte man sie in ihrem
Wesen.
Später wurden Ursache und Wirkung besser gesondert, diese vorzugsweise
in idealphilosophischer, jene in sozialistisch-naturwissenschaftlicher Richtung weiter
geführt, und zwar mit steigender Entfremdung vom mütterlichen Boden.
Als Hauptvertreter der idealphilosophischen Richtung gelten Kant, Fichte,
Schelling und Hegel. Der Nerv ihrer Betrachtung ist der, ob die Entwick¬
lung fortschreite, ob die Geschichte ein Wertergebnis biete, und welches. Sie
alle bejahen dies und erkennen als Wirkung den Staat. Nach Kant darf man
die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines ver¬
borgenen Planes der Natur ansehen, um eine innerlich und zu diesem Zwecke
auch äußerlich vollkommene Staatsverfassung zu stände zu bringen als einzigen
Zustand, in welchem sie alle Anlagen der Menschheit völlig entwickeln kann.
Bei Fichte vollzieht sich die Geschichte im Staat und durch den Staat, der,
ursprünglich ein egoistisches Werk der Not, doch zugleich durch eine Kunst der
Natur deren höhere Zwecke erfüllt. Schelling meint, in der Rechtsordnung des
Staates vollziehe sich die Vereinigung der subjektiven Freiheit mit der objektiven
Notwendigkeit des Gesetzes. Hegel sieht das Höchste in der sittlichen Freiheit der
Person; indem sie sich den Gesetzen unterwirft, verschwindet der Gegensatz von Frei¬
heit und Notwendigkeit; der Staat und dessen Gesetz bilden ihm die rettende Lö¬
sung. Ihm ist Geschichte der Entwicklungsgang des Weltgeistes, als dessen
Wesen die sich selbst bestimmende Freiheit des Bewußtseins dasteht, sodaß der
Inhalt der Geschichte nichts andres sein kann, als der Fortschritt im Bewußt¬
sein der Freiheit. Nur das gilt ihm als Geschichte, was in der Entwicklung
des Weltgeistes eine wesentliche Epoche ausmacht.
Diese Männer begaben sich mit falsch übertragener Methode an die That¬
sachen, weil sie von der Philosophie ausgingen, statt von der Geschichte; die
Philosophie konstruirt, die Dinge der Geschichte ereignen sich. Nicht ein histo¬
rischer, sondern ein philosophischer Vorwurf ist der Kern ihrer Gedanken: das
Problem der Freiheit und Notwendigkeit. Deren Ausgleich im Staate erken¬
nend, überschätzten sie diesen, unterschätzten sie die nichtstaatlichen Bethätigungen
in Gewerbe, Religion, Kunst und Wissenschaft. Es ist eine Betrachtungsweise,
die eigentlich nur dadurch verständlich wird, daß ihre Vertreter zunächst den
preußischen Staat vor Augen hatten, worin sie lebten und wirkten. Darüber
verkannten sie, daß der Kulturstaat als solcher sich keineswegs immer mit den
Bedürfnissen seiner Bürger deckt, daß das Ideale nicht der bloße Staat, sondern
der Nationalstaat ist, sein Znsammenfall mit dem Volkstum. Nehmen wir ein
bestimmtes Beispiel, etwa Österreich: es wurde zufällig zusammenerobcrt und
-geheiratet, voll Haß und Erbitterung stehen sich innerhalb desselben die ver-
schiednen Nationalitäten gegenüber, und doch soll sich in seiner Rechtsordnung die
sittliche Vereinigung der subjektiven Freiheit mit der objektiven Notwendigkeit
des Gesetzes vollziehen! Ja auch der Nationalstaat bleibt unvollkommen, so¬
bald er nicht auf dem Volkstum beruht. Das Frankreich Ludwigs XV. war
gewiß ein Kulturstaat und doch so sehr der Freiheit und Gesetzlichkeit bar, daß
es ausmündete in die Revolution.
Alle die angeführten Aufstellungen sind von der Blässe des Gedankens an¬
gekränkelt; nicht aus dein vollen Menschenleben, im Überblicke über Triebe und
Leidenschaften gewann man sein Ergebnis, sondern als gute Philosophen setzten
sich die Herren nieder, schufen ans den Tiefen des Bewußtseins ihr System,
und ließen über das Ganze die nebelig unklare Gestalt des Weltgeistes walten.
Anders die sozialistisch-naturwissenschaftliche Richtung; sie wollte aus dem
Zusammenfluß einzelner Beobachtungen zu allgemeinen Gesetzen gelangen, sie
fußte auf der Masse, dem Streite der Interessen.
Im Gefängnisse der Revolution suchte sich der Marquis von Condorcet
durch seine DeMssö et'un tadlöim distoricius ass xrog'roh as l'ösprit Imnitün
zu trösten. Er ordnete darin die geistigen Anlagen den äußern Natur¬
bedingungen gegenüber und fragte: Weshalb sollte das Prinzip der Naturwissen¬
schaften, daß die allgemeinen Gesetze, von denen die Erscheinungen des Weltalls
abhängen, notwendig und beständig sind, weniger giltig sein für die Entwicklung
der geistigen und sittlichen Fähigkeiten des Menschen, als für die andern Be¬
thätigungen der Natur? Nicht auf den Einzelnen blickte er, nur auf Zustände
und Bewegung der Menge, die ihm als Geschichte erschienen.
Die hier betonte Beobachtung der Massenentwicklung führte Comte zur
Aufstellung einer dreistufigen Doppelreihe, nämlich: 1. die Stufe theologischer
Denkart oder die der Phantasie, hier herrscht Militarismus und Absolutismus;
2. die der metaphysischen oder absoluten Denkart, ihr sind Übergangszustände
eigen; 3. die der wissenschaftlichen oder positiven Denkart mit Herrschaft der
Arbeit, der wissenschaftlichen und politischen Einsicht. Die Anlagen des Menschen
scheinen Comte nicht sonderlich von denen höherer Tiere verschieden, nur sind
seine Triebe weniger, seine geistigen Fähigkeiten mehr ausgebildet. Während
nun der Mensch obige Stufenfolge durchlebt, treten Leidenschaften und Triebe
vor Verstand und Vernunft allmählich zurück, und das ist der Fortschritt
der Kultur. Die Entwicklung der Menschheit hing ihm ab von den unver¬
änderlichen Gesetzen der Natur; Wille und That des Einzelnen vermögen darin
nicht wesentlich einzugreifen. Die Fragen nach Willensfreiheit und geschicht¬
lichem Wertergebnis sind ihm gleichgiltig.
Noch weiter ging Buckle. Er suchte die Naturwissenschaft und ihre Methode
in der Geschichte zur allgemeinen Geltung zu bringen, sie, wie er meinte, zum
Range einer Wissenschaft zu erheben, indem er ihre Gesetze erforschte. Diese er¬
gaben sich ihm aus der Statistik, welche die Gesetzmäßigkeit aller menschlichen
Handlungen beweise. Es gelte deshalb nur, die Beobachtung weit genug aus¬
zudehnen, um die Regeln, die im einzelnen Falle nicht hervortreten, an der
Masse von Fällen zu erkennen. Da zeige sich, daß jegliches abhänge von
der Einwirkung äußerer Erscheinungen auf deu Geist und der des Geistes auf
die Erscheinungen. Der Sieg des Geistes über die Außenwelt biete das Maß
der Zivilisation, jeder Fortschritt hier sei der Aufklärung des Wissens zu danken,
woraus sich in weiterer Folge ergebe, daß der Fortschritt der Kultur durch
die Herrschaft der geistigen über die sittlichen Gesetze bezeichnet werde. Buckle
gilt Sittlichkeit als Privatsache, Psychologie und Eigenart als unwissenschaft¬
licher Ballast, die Thaten des Genies als sich ausgleichende Unregelmäßigkeiten;
Religion, Kunst, Litteratur und Staat, alles erscheint ihm wertlos vor der
exakt-wissenschaftlichen Aufklärung.
Und doch war es noch nicht genug damit. Du Bois-Reymond faßte die
Naturwissenschaft als absolutes Organ der Kultur, somit Geschichte der Natur¬
wissenschaft, beziehentlich Kulturgeschichte, als die Geschichte der Menschheit; sie
ist ihm die wahre Geschichte im Gegensatze zur sogenannten bürgerlichen; die
steigende und fallende Kenntnis der Natur das einzig sichere Barometer für
den Stand der Gesittung. Die Vergangenheit faßt er praktisch auf, sie lebt
ihm nur, soweit sie nutzbares Material bietet. Die Welt betrachtet er aus der
„archimedischen Perspektive," indem er geistig einen Standpunkt außerhalb
der Erde wählt; von ihm aus erscheinen die irdischen Dinge armselig und
gering.
Arglos war man also wieder auf den Weltgeist der Jdealphilosophen ge¬
diehen, nur mit dem Unterschiede, daß er nicht mehr nebelig unklar einher¬
schwebte, sondern es sich in Frack und weißer Binde hoch oben bequem gemacht
hatte. Er guckte selbstbewußt wie aus einem Lufballon herunter, ohne zu er¬
wägen, daß die Entfernung am klaren Schauen verhindert, daß dnrch sie ein
Bismarck gleich einem Herrn Meyer erscheint, oder richtiger, beide gar nicht
mehr, sondern nur noch ein Klecks auf dem Plauetcnballc, ein Klecks, genannt
Berlin.
Einer der bedeutendsten Historiker der Gegenwart, Jakob Burckhardt, äußerte
einmal gegen die übertriebenen Klagen Libris, daß die Italiener der Renaissance
die Naturkunde zu sehr vor dem Humanismus hätten zurücktreten lassen: „So
sehr es zu bedauern sein mag, daß das hochbegabte Volk nicht einen größeren
Teil seiner Kraft auf die Naturwissenschaften wandte, so glauben wir doch,
daß dasselbe noch wichtigere Ziele hatte und teilweise erreichte."
Suchen wir das Auseinanderstreben der beiden Wissenschaften zu ergründen.
Beruht es auf dem Gegenstande? auf der Methode? auf beidem? Die Natur-
wissenschaft verlangt: voraussetzungslos beobachten, das Beobachtungsmaterial
suchen und finden, wo und wie mans braucht, das Veobachtungsergebnis mathe¬
matisch exakt erfassen und die Schlüsse nur auf erwiesene Thatsachen bauen.
Alles dies paßt auch auf die Geschichte, vorausgesetzt, daß man nur dort mathe¬
matisch exakt erfaßt und sich bestimmt ausdrückt, wo dies möglich ist. In der
Naturwissenschaft sowohl wie in der Geschichte bleiben unendlich viele Fragen un¬
gelöst oder ihre Beantwortung höchstens wahrscheinlich und möglich. Die Methode
mithin birgt nicht den Unterschied. Wie steht es mit dem Gegenstande? Die Natur¬
wissenschaften haben es mit leblosen oder solchen belebten Dingen zu thun, bei denen
die Eigenart in Gruppe und Nasse versinkt. Die Geschichte bezieht sich auf Wesen
sinnlicher Wahrnehmung, von denen die Masse zwar einer Herde vergleichbar
sein mag, welche geboren wird, lebt und stirbt. Aber daneben wirken Geister
und Mächte höherer Art, die, stufenweise seltener werdend, emporsteigen, wie
zur Spitze einer Pyramide; und sie sind es, die in steter Wechselwirkung mit
niederen Reihenfolgen den Gang der Ereignisse bestimmen. Hier also liegt
ein Grundunterschied. Geist, Absichten, Wünsche und Hoffnungen fügen sich
nicht immer der statistischen Formel, und wenn sie sich zu fügen scheinen, so
fragt es sich sehr, ob es nicht nur Schein ist. „An die Stelle des Zählens,
Messens und Wagens muß die schildernde Beobachtung treten." Und noch
mehr: die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit ihren Körpern unmittelbar,
der Historiker nur mittelbar, nur insofern er Überbleibsel oder Nachrichten von
ihnen oder über sie besitzt. Hier liegt die zweite Grundverschiedenheit, denn
wie viel unzulänglicher sind solche Äußerungen nicht als das Ding selbst, wie
viel weniger sicher läßt sich mit ihnen rechnen! Es versagt eine Hauptstütze der
Naturwissenschaft: das Experiment. Man muß deshalb auch den abweichend
gearteten Gegenstand in der ihm entsprechenden Weise behandeln und kann nicht
schematisch die Art einer Wissenschaft für eine fremde verwenden. Von Herodot
bis heute hat die Geschichte den Einfluß der Natur auf die Menschen beachtet,
allerdings ohne den Mut, ihn der Zahl zu unterwerfen, denn sie wußte, daß
unter den Trieben, Bedingungen und Bedürfnissen des Tages noch Ideen vor¬
handen sind, die das Leben der Einzelnen und der Völker durchgeistigen, umso
stärker, je höher entwickelt diese sind. Betrachtet der naturforschende Historiker
nur die große Masse, fragt er nur nach dem Untergrunde, nicht auch nach
Türmen und Bauten, die sich emporheben, überträgt er seine Methode des
Durchschnittsverhältnisses auf die Geschichte, so trägt er eine einseitige und
damit falsche Methode in sie hinein, genau wie in andrer Richtung der Ideal-
Philosoph. Führte diese einseitig alle Erscheinung auf das Walten höherer
Ideen zurück, so der Naturphilosoph auf das Wirken materieller Gesetze; ihm
gilt bloß Kulturgeschichte als würdiger Gegenstand, jenem bloß politische.
Es darf nicht Wunder nehmen, daß beide die Geschichtswissenschaft be¬
reichert haben und in gewissem Umfange lebenskräftig und anregend geworden
sind, aber bei dem Abstände von Wirklichkeit und Bemühen ist kaum faßlich,
wie sie bedeutenden Einfluß erlangen, ja gär zur Mode werden konnten.
H. Ulrici kommt in seinem an sich trefflichen Werke „Charakteristik der antiken
Historiographie" zu dem Ergebnis: „Wir wünschen, daß unsre Untersuchung
etwas dazu beitrage» möge, die Meinung sicher zu stellen, daß der modernen
Historiographie einzig und allein die philosophische Behandlung der Geschichte
gezieme." Das Buch erschien 1833; fünfzig Jahre später ging mir I. Lippert,
Kulturgeschichte der Menschheit, zu, in dessen Prospekt es hieß: „Unter dein
Nachweise des Verfassers wird die gemeine Lebenssorge zur Schöpferin aller
weitern Fortschritte bis hinüber in das Gebiet der geistigen Kultur." Dort
haben wir den Ideal-, hier den Naturphilosophen.
Daß der gesunde Sinn namhafter Historiker sich nicht oder nicht mehr als
dienlich beeinflussen ließ, ist selbstverständlich, schon deshalb, weil er aus den
Quellen schöpfte, die den Weg von selber wiesen; es waren mehr die Geschichts-
popularisirer, welche sich Hingaben, aber gerade dadurch gelangten solche Lehren
vor einen größern Leserkreis, der sich durch scheinbar überlegene Gedankentiefe
und Beobachtung täuschen läßt.
Für die eigentlichen Forscher sind zwei andre Klippen gefährlich geworden:
es sind das Spezialismus und Standpunkt.
Die Spezialisirung beruht auf dem modernen Gedanken der Arbeitsteilung,
sie wurde notwendig durch Massenhaftigkeit und die verfeinerte Behandlung des
Materials, denen ein Einzelner nicht mehr gerecht zu werden vermochte. In
einer Fabrik schaffen Dutzende von Maschinen je einen Teil, und wenn sämtliche
Stücke vorliegen, setzt man sie zusammen zum Ganzen. Jeder Arbeiter treibt
nur seine Sache, und alles weitere kümmert ihn wenig. Wäre die Wissenschaft
reine Mechanik, wo ein Rad in das andre greift, so ließe sich nichts gegen
dieselbe Art einwenden, aber sie ist es eben nicht, und deshalb entstehen schwere
Unzuträglichkeiten, als deren augenfälligste die Einseitigkeit angesehen werden
muß. Wir begegnen ihr vom Kleinsten bis zum Größten, von kurzen Quellen-
untersuchungen bis zu ganzen Zweigen des betreffenden Faches. Der eine er¬
forscht die Urkunden eines Kaisers, aber nur eines, und wenn er es auf deren
drei gebracht hat, so scheint Welterschütterndes von ihm geleistet zu sein. Über
Tacitus' Akimauig. sind dicke Bücher geschrieben worden; meines Wissens wurden
aber nie oder doch nur unzureichend die antiquarischen Funde herangezogen,
welche vielfach geradezu das Kontrolmaterial bieten, und warum? weil sie für
den Tacitusfachmann noch nicht vorhanden sind. Altertumskundige eröffneten
Tausende und Abertausende von Gräbern und verwerteten die gemachten Funde
mit ungenügender Kenntnis der erzählenden Quellen, Inschriften und Münzen.
Ganze Kulturperioden hat man aus den erzählenden Quellen zusammengestellt,
ohne den dafür wichtigsten Stoff, die Altertümer, zu berücksichtigen. Für
mittelalterliches Kirchenrecht ruhen umfassende Mitteilungen in den Papst¬
urkunden; statt sie dort zu heben, streitet man sich herum, was unter römischem
Rechte eines Klosters zu verstehen sei. Dieselben Schriftstücke bieten reiche
Ausbeute für Papstpolitik, man muß sie nur herausschälen und sich nicht mit
unmittelbar eingreifenden Briefen begnügen. Noch ganz neuerdings konnte der
Vorwurf erhoben werden, daß Tausende von Urkunden mit ungeheurer Mühe
bloß auf äußere Kennzeichen durchgesehen würden, und dabei die innere Or¬
ganisation der Kanzlei, welcher doch die Erlasse ihr Dasein verdanken, vernach¬
lässigt würde, daß so vieles seine Geschichte besitze, aber nicht das öffentliche
Rats- und Regierungswesen. (Neudegger.)
Diese Einseitigkeit wurde dadurch gefördert, daß die technisch-kritische, be¬
ziehungsweise untersuchende Seite bevorzugt, die kombinirende Thätigkeit oft
mißtrauisch angesehen oder gar verpönt wurde. Die Wissenschaft erhielt damit
einen pedantisch-philiströsen Beigeschmack, denn ein gutes Kombiniren erfordert
Geist, Phantasie, Genialität, eine Quellen- oder Ereignisuntersuchung bisweilen
Scharfsinn, gewöhnlich Fleiß, vor allem Methode; diese kann man lernen, Geist
nicht. Bevorzugung artete aus in Überschätzung, in Überschätzung der Thätig¬
keit sowohl als der Fähigkeiten, auf denen sie beruht. Die Beschränkung erst
verlieh das Siegel der Meisterschaft, die Technik wurde das Höchste, das Zitat
der Gott. Man vereinzelte und verzettelte sich in Veröffentlichungen, Unter¬
suchungen und Kritik, gar oft ohne jegliche Frucht. Ein Buch konnte als gut
gelobt werden, das zwar sehr methodisch und sehr gelehrt war, aber keinen
einzigen Gedanken enthielt und worin bei aller Arbeit eigentlich nichts heraus¬
gekommen war; dagegen genügten einige fehlende Zitate, um ein tüchtiges Werk
zu verurteilen. Es wurde» Bücher geschrieben, eigentlich nur für den, der sie
schrieb, höchstens noch für einen oder einige Genossen. Der Begriff von
Wichtigem und Unwichtigem verwischte sich, die Wissenschaft gedieh bisweilen
geradezu zum Spott. Hatte man früher über hohe, unlösbare Fragen ge¬
stritten, so kämpfte man jetzt um niedere, die nicht selten ebenso ungelöst blieben.
„Mit der genialen Fähigkeit, es sich sauer werden zu lassen, verband man keine
Empfänglichkeit für irgend welche andre Genialität." In der besten deutschen
Zeitschrift, in den Fliegenden Blättern, war kürzlich die Frage aufgeworfen:
„Was ist ein Professor?" und die Antwort lautete: „Ein Mann, der andrer
Meinung ist." In Deutschland besteht nun die Mehrzahl der Geschichtsbe-
flissenen aus Professoren oder doch aus solchen, die es gerne würden. Und
wohl nirgends hegen die Gelehrten so wenig wahre, aufrichtige Achtung vor
einander, als bei den Deutschen, nirgends finden sich derartige gleiche Extreme
von kniefälliger Anbetung und selbstgefälligen Hochmute. Renans Ausspruch:
„Kaum einer mit Ausnahme Littres könne ein Versehen eingestehen, ohne an
seiner Würde zu verlieren" gilt leider nicht allein für Frankreich, und weit
mehr noch, als er wirklich gilt, glauben viele ihn befolgen zu müssen. Und
doch ist gerade der Irrtum das Erbteil des Menschen, und ihn zu überwinden
und sich dessen nicht zu schämen ist schöne Menschlichkeit, ist wahres Gelehrten-
tum. Je mehr man sich in einen Gegenstand vertieft, je öfter man ihn von
neuem betrachtet, umso weiter rückt die Grenze der Wahrheit. stupide Hart¬
näckigkeit, sagen wir Größenwahn, und Überzeugungstreue wird nur zu oft
verwechselt.
Das ganze Getriebe erzeugte Bevorzugung und Großziehung der Mittel¬
mäßigkeit, denn gerade das Genie irrt am leichtesten in Nebendingen, weil es
das Große, die heutige Wissenschaft gewöhnlich das Kleine vor Augen hat.
Der Dünkel stieg nur zu oft in dem Verhältnisse des kleiner werdenden Leser¬
kreises. Wie schön ist es, wenn man glaubt oder sich einredet: Wovon ich etwas
verstehe, weiß sonst niemand etwas; welch ein großer Mann bin ich doch! Die
Jünger, die sich um einen Lehrer sammelten und dessen Kunst inne zu haben
glaubten, erstarrten nicht selten zur Kaste. Das trifft selbständige Köpfe am
leichtesten, denn sie haben am wenigsten Lust, ihre Freiheit für so und so viele
Vorteile aufzugeben, besitzen am meisten das Gefühl, sich auf sich selber ver¬
lassen zu können. Eine der schlimmsten Cliquen war bekanntlich die Scherers.
Seine Geschichte der deutschen Litteratur liest sich recht gut, zeigt viel Geist,
viele unbegründete Phantasie und nicht selten baren historischen Unsinn. Und
doch wie wurde das Buch ausposaunt! Wie anders würde das Urteil gelautet
haben, wenn ein andrer als Scherer jene Dinge verbrochen hätte! Wir sind
ziemlich wieder bei dem Treiben der italienischen Humanisten des fünfzehnten
Jahrhunderts angelangt, die es auch so trefflich verstanden, „Akademien" zu
bilden und sich gegenseitig unsterblich zu machen. Aber nein, jenes Treiben
war doch höher, damals lebte man noch in jugendlicher Begeisterung für ein
Ideal, für das Altertum, damals strebte man nach wirklicher Bildung, nach
Vielseitigkeit, nach Schönheit und Kunstfertigkeit in allem; heute ist man an¬
gegreift, beschäftigt sich einseitig und glaubt nicht an Idealismus, an selbstlose
Hingebung. Freilich von der sittlichen Wirkung der Wissenschaft, von der sonst
gesprochen wird, war schon damals wenig zu verspüren, gerade die Humanisten
bieten Musterstücke an Halt- und Charakterlosigkeit, und auch heute noch
scheint es, als ob das Ärmliche der Beschäftigung, die Kleinlichkeit des Materials
die Menschen klein und erbärmlich mache. Im Schweiße des Angesichts kehrt
so ein Dutzendschüler, Urkunden- und Quellcnjüngling oder -Meister einige
Staubkörnchcn um und um und wieder um, und dann setzt er sich auf seinen
Maulwurfparnaß, wie ein König der Zwerge, breit und geschwollen, ohne zu sehen,
daß Berge rings ihn naturam. Wie jener Frankfurter Bürger, steht er am
brausende» Strome der Zeit, blickt zur Brücke und sagt sich mit Wohlgefallen:
Alles, was du durch jenen Bogenpfeiler erkennst, alles ist Frankfurter Land.
Die Beschränktheit entspringt guten Teils dem Charakter des Deutschen,
zumal desjenigen Deutschen, der noch überall Schlagbäume sah, wirkliche und
geistige, das junge Reich arbeitet ihr mächtig entgegen. Aber zugleich mit ihr
entweicht ihre liebenswürdige Schwester: die Bescheidenheit. Kein Geringerer
als Mommsen hat gesagt: „Wir sind durchaus nicht bescheiden und wünschen
nicht dafür gehalten zu werden." Wie groß wäre das Wort, wenn alle die
durchaus nicht bescheidenen Leute wie Mommsen wären! Und doch, auch in
Jakob Grimm leuchtete das Genie, und alle Bescheidenheit that ihm nicht Ab¬
bruch. Vielleicht fühlte er sich innerlich glücklicher als seine fortgeschrittenen
Nachfolger.
Der Spezialismus bietet den Vorteil der Vertiefung, der Gründlichkeit im
besondern, aber auch den Nachteil der Einseitigkeit und was mit ihr zusammen¬
hängt; er ist mithin Fels und Klippe zugleich.
Alles das gilt natürlich nur, wenn Spezialismus und Einseitigkeit zu¬
sammenfallen, oder doch jener mit geringem Studienumfange verbunden ist,
wenn er innerlich hierauf beruht. Anders verhält es sich mit Gelehrten, die
weite Gebiete beherrschen und doch ihrem Wesen nach Spezialforscher waren,
etwa wie Waitz im Mittelalter, Gutschmid im Altertume. (Schluß folgt.)
eher Richard Wagner nicht zu schreiben ist viel schwerer als über
ihn zu schreiben. Wäre nicht die schreckliche Aussicht, in die
„Wagnerlitteratur" eingereiht zu werden und „den Streit, der
noch immer um den hehren Namen tobt," fortzuführen, wer weiß,
ob die Kraft des Vorsatzes immer der Herausforderung gegen¬
über Stand hielte. Heutzutage, wo auch die vorgeblichen Gegner „mit ge¬
zogenem Hute" vor „das kolossalste Genie, das die Welt gesehen hat," hintreten,
und das nichtsdestoweniger oder besser gerade darum täglich anwachsende Heer
der „Gralsritter" wie ausgehungert auf jeden Bissen losstürzt, der das Be¬
wußtsein ihrer Unentbehrlichkeit für die „heilige Sache" stärkt, wäre es unklug
und gar nichts nütze, die zugehörige Satire zu schreiben. Sie wird einer künf¬
tigen Zeit nicht fehlen; denn wenn irgend etwas Satire auf sich selbst ist, so
ist es die Wagnerei, und wer eine wirklich echte, einzige, großartige Komödie
sehen will, der gehe nach Bayreuth. Er kann sich sogar die zwanzig Mark für
das Billet sparen. Die Wagnerianer machen es billiger als die „Meistersinger"
und „Wagnersinger."
Was mich diesmal nach Bayreuth führte, weiß ich nicht recht zu sagen.
Die Wagnerianer sicher nicht, denn die kenne ich. Ich bin mit dem ganzen
jüngern Geschlecht unter ihnen aufgewachsen, und sie wirken nicht mehr bloß
komisch, wenn man sie kennt. Auch nicht die beiden gewaltigen Thatsachen einer
„Neukreirung" des Parsifal und einer ersten Aufführung der Meistersinger in
Bayreuth. Ich muß sogar gestehen, daß ich diese beiden gewaltigen Thatsachen
erst in Bayreuth erfuhr. Vielleicht war es die Neugier, mit eignen Augen zu
beobachten, in welchem Verhältnis der gegenwärtige Gipfel des Wagnerkultus
zu dem Nullpunkt des Wagnerometers der königlich bairischen Privatschatnlle
stehe. Vielleicht die Nähe der böhmischen Bäder oder der Münchner Aus¬
stellung, wie bei meinem Reisegefährten, dem Bankier Meier u. Komp. (er ist
die Kompagnie, ich habe seinen Namen nie erfahren und begehre ihn nicht zu
wissen) aus Berlin. Vielleicht keins von beiden, vielleicht wirklich etwas von
dem, was man jetzt in der Welt so selten, in Bayreuth aber niemals findet:
nämlich ganz naive Schaulust. Im Jahre 1882 hatte ich als Student meine
ersten Reisegroschen dazu benutzt, um nach Bayreuth zur ersten Aufführung des
Parsifal zu fahren, zu „pilgern" muß man ja sagen. Das Wort Bayreuth
wirkte damals auf mich mit einem unruhigen Zauber, wie die flnmmendroten
und blauen Kartons der Umschläge zu Wagners Klavierauszügen. Der „Meister"
lebte damals noch, ich sollte ihn sehen, und ich hing am Arme eines waschechter
Wagnerianers, der mich nicht eher losließ, als bis ich in der echt modernen
Vorhalle der Wagnerschen Kunst, nämlich im Komtoir des Bankgeschäfts von
Feustel, den echten Goldklang deutscher Musik, nämlich der zwei Kronen Reichs-
währuug, hatte ertönen lassen. Ich hatte mir damals Vorwürfe gemacht, daß
ich so wenig Ertrag davon hatte. Ich war müde und verdrossen, und es gab
während der sechs Stunden Parsifal Augenblicke, lange Augenblicke, in denen
mir nichts gleichgiltiger war, als Gurnemanz, Amfortcs und „die ganze Ritter¬
sippe," wie der Klingsor des Stückes, auch hier ein sicherer Rätsellöser, sich so
energisch ausdrückt. Aber ich hatte die starke Erinnerung eines ganz neuen,
seltsam in sich abgeschlossenen Prunkes. Und dann das eigentümliche Schau¬
spiel dieses mächtig plumpen, eigenwillig höckrigen (denn es ist alles Maschinen¬
raum daran und Schnürboden), dieses durch und für den Willen eines einzigen
Mannes gebauten Theaters, weithin schauend über die sonnenüberglänzte, herrliche
fränkische Ane. Ringsherum schwirrend wie ein buntfarbiger Schmetterlings-
schwarm die Schar der Gäste, in allen Zungen redend, von den neuesten Moden
die ausgesuchtesten und verrücktesten zur Schau tragend, das stolz sogenannte
„Elitepublikum" aller Hauptstädte der Welt. Das alles auf dem abgelegenen
fränkischen Hügel, seltsam abstechend gegen die mild freundliche, ruhig deutsche
Umgebung. Da dachte doch gar mancher mit mir: Das hat er nun doch einmal
erreicht. Es überkam einen doch wie Stolz, daß der eine, gleichviel wie, wo¬
durch und wofür, es zu Wege gebracht hatte, alle diese Leute auf diesen deutschen
Erdenfleck zusammenzutrommeln, einzig zu dem Zwecke, sich auf sechs Stunden
in eine pechschwarze Finsternis sperren zu lassen, um eine wunderliche deutsche
Musik zu noch wunderlicheren deutschen Wörtern zu hören. Dies Gefühl war
mir geblieben; ich wollte es wieder einmal kosten und ausproben.
Denn ich muß gestehen, am Parsifal lag mir wenig, fast ebenso wenig
als an der berufenen „Neukreirung der Titelrolle." Ich hatte in der Zwischen¬
zeit Gelegenheit genug gehabt, meine traurige Verständnis- und Teilncchms-
losigkeit sür die Geheimnisse des Bayreuther Grals entschuldbar zu finden.
Nachdem ich, ein zweiter Parzival, früher ihnen nicht nachgefragt hatte, hatte
mich nunmehr der musikalisch-dramatische Zweifel ergriffen; ich hatte mich in
die Wildnis Richard Wagnerscher Theorie und Praxis tief hineinbegeben, so
tief, daß es mir, mit unserm alten Herzenskünder Wolfram zu reden, „in der
Seele sauer wurde," und ich froh war, ohne einen hilfreichen Trevrizent endlich
den Weg zurückzufinden ins sonnige Land der freien, nicht tyrannisirten Kunst.
Ich hatte auf meinem Wege manche berauschend duftende Blüte getroffen und
manch verlockend lieblichen Ruheplatz. Aber ein beklemmend fremdartiges Wesen
verbot die Blüte zu brechen und sie fröhlich an den Hut zu stecken, und eine
unsichtbare Stimme warnte vor dem schmeichlerischen Ruheplatze. Oft freilich
hatte ich mich auch erinnert gefühlt an den wilden Lauch, der im Frühjahr so
unschuldweiß, so fein und zierlich gestickt die Laubwälder bedeckt, aber wenn
man näher kommt, einen so wenig feinen und unschuldigen Duft ausströmt.
Dann gab es viele Meilen weit dichtes, dorniges Gestrüpp, auf das die Sonne
der Ungeduld versengend brannte, und weite, glühende Steinwüsten und häßliche,
grundlose Sümpfe. Aber an einer Stelle gab es überhaupt gar nichts, die war
wüste und leer, und kein Hauch vom Geiste der Kunst lag über den Wassern:
das war der Parsifal.
Ich will diesen Reiseeindruck vom Wagnerlande beileibe niemand aufdrängen.
Bekanntlich spielt an seinen Grenzpfählen, wie an der Bidafsoabrücke, ein zau¬
berhaftes Gesicht: wo der eine Schatten steht, sieht der andre goldnes Licht,
wo dem einen Rosen lachen, sieht der andre dürren Sand. Aber ich meine
doch: jedem ist das Elend finster. Der Parsifal aber ist gar nicht hell und
doch so leicht durchschaubar, wie — nun, wie das finstere, graue Elend. Und
ob ihn nicht sein eigner Meister durchschaut hat, als er so — so unbayreuthisch
fest verbot, ihn unter die Menschen gehen zu lasten? Der arme Kaspar Hauser
von Bayreuth! Eingesperrt muß er sitzen und ausdauern in dem kahlen, öden
Hause auf dem Stuck- (alias Trompeter-) Berge von Bayreuth, und nur einmal
im Jahre sieht er das elektrische Licht einer Aufführung bis (o armer Trost
Wagnerischer Herzen) — bis zum Jahre 1913, wo er in die Welt hinaustreten
wird und die staunende Menschheit erkennen wird, daß er — kein Prinz war.
Aber als Kaspar Hauser wird man ihn erkennen. (Wenn man ihn dann
überhaupt noch kennen wird, und wenn die Wagnerianer wüßten, was dreißig
Jahre im Kunstleben bedeuten!) Denn er kann nicht reden wie der Sensations¬
findling von Nürnberg, oder er thut es so, ganz so wie jener. Es umgiebt
ihn das Geheimnis einer hohen Herkunft, und er ist vielleicht nichts als ein
armer Bastard, die traurige Frucht einer unseligen, erzwungenen Verbindung,
der lebenssieche Spätling eines erschöpften Greises. „Es ist beängstigend
— sagte mir damals ein Wagnerianer in dem raunenden Geheimniston der
Zunft —, es ist beängstigend, die Überreife in diesem Werke! Es ist noch ein
höherer als der höchste Stil." Da haben wir den Schritt ins Transzendentale,
der diesen Glücklichen so leicht wird. Ganz natürlich, nachdem der höchste Stil
schon einmal erklommen war, mußte es beängstigend wirken, noch einen höhern
darauf stülpen zu müssen. Aber die Parole war einmal ausgegeben von Villa
Wahnfried, und ein Wagnerianer kennt Disziplin, das muß man sagen. Da
half man sich denn mit dem köstlich doppelsinnigen Worte „Überreife." Aller¬
dings ist er überreif: wie in einem Herbarium aufgetrocknet und sauber neben
einander geklebt, findet man da die Blüten der Wagnerischen Manier beisammen.
Und beängstigend einförmig ist der Eindruck allerdings, der uns dabei von ihnen
zu Teil wird. Da haben wir sie, die stoßförmigen, kurzen Zweiunddreißigstel
der Bässe, mit denen Kundry herein galoppirt wie Brünnhild, mit denen Or-
trud die Leute anfaucht, und Lohengrin und Telramund sich schlagen und ver¬
tragen, mit denen Tannhäuser in den Venusberg und der fliegende Holländer
zur Erlösung fährt, unter denen Siegfried erzogen und Beckmesser geprügelt
wird. Da ist sie, die langgezogene Sehnsuchtsmelodie des Lohengrin im Vor¬
spiel und der siegreiche Reigen im dritten, hier zweiten Akt, aber ach, mühsam,
schleppend, heiser, rat- und hilflos. Schon König Ludwig hatte die Rücksichts¬
losigkeit, das bei seiner Übersüße doch stark sich durchsetzende, mächtig anschwel¬
lende, wenn auch verlegen abbrechende Lohengrinvorspiel der ersten Privatauf¬
führung des Parstfalvorspiels folgen zu lassen, eine Stilvergleichungssucht, die
den „Meister" zum zornigen Aufbruch veranlaßt haben soll. Da ist zunächst
ein vierzig gleichförmige Takte langer Versuch, das von einer Terz zur andern
irrende und endlich mit einem Widerschlag der obern kleinen Sekunde sich dürftig
zufriedengebende Leidensmotiv des Gral endlich durchzuführen. Armer Gral!
Es gelingt nicht. Programmmäßig, natürlich! Dann setzt der Bläserchor nach
einer Fermate von der Länge eines bequemen Vaterunsers, auf die man zum
mindesten eine neunte Symphonie erwartet, mit einer ganz gewöhnlichen Wald-
und Wiesenfanfare ein. Nach feierlich majestätischer Wiederholung wieder große
Pause, und dann mit Posaunen und Trompeten wieder ein andres Bild, jene
gleichmäßig herabstapfenden Viertelnoten im Unisono, die den „Glauben" nicht
viel anders verkörpern als Fafner und Fasolt, die „ruppiger Riesen" im
„Rheingold." Dann folgt wie gewöhnlich bei Wagner eine Schlacht auf Leben
und Tod zwischen den beiden Motiven, bei der es aber gemütlicher hergeht, als
in dem starken Wogen der Tannhäuserouvertüre oder in der strammen, kontra¬
punktischen Verarbeitung des Meistersingervorspiels. Der Neigen mit seinen
Walzeransätzen, die immer wieder nur auf eine von den Geigen aufgehaltene
schwirrende Dominante auslaufen, sucht vergebens den Weg zu der Bizarrerie der
Rheintöchter zurückzufinden, mit denen er ja die berüchtigte hochdramatische Situa¬
tion teilt. Er ist vorbildlich für das unerfreuliche Schwanken zwischen Trivialität
und Gesuchtheit, auf die der eigentlich als „zukünftig" patentirte Stil des Züricher
Wagner hinauslief. Namentlich im Nezitativ, auf das Wagner bei der Natur
seiner Texte und seiner geringen lyrischen Begabung ja meistens angewiesen ist
(und das sich nebenbei so gut vom Arioso bei ihm unterscheiden läßt wie beim
vergangensten Opernkomponisten), in der musikalischen Ausstattung namentlich
der zahllosen kurzen Floskeln, mit denen seine Personen um sich zu werfen
lieben, hat sich dadurch eine Weise bei ihm ausgebildet, die man, wenn die
Übertragung auf das Gesangsgebiet erlaubt ist, nicht anders als Jargon be¬
zeichnen kann. Meist sind es rasch hinauflaufende Töne, die mit einem male
zu einem ganz abseits gelegenen tiefen (verminderte Dezime, None) herunter¬
springen, oder es ist ein quälendes Umherspringen in unreinen Quarten, Quinten,
übermäßigen und verminderten Septimer u. dergl. Man erinnere sich nur an
die Hauptvertreter dieser — Quäkweise, an Mime in den Nibelungen, Kur-
venal im Tristan, Beckmesser in den Meistersingern, und man wird der Noten-
bcispiele entraten können, die einem den häßlichen Singsang nur unnötigerweise
wieder vor die Ohren bringen würden. Er ist durchaus nicht bloß komisch,
alle Personen beteiligen sich daran, einige glückliche, viel auf Cantilenen gestellte,
wie Siegmund, Walther von Stoltzing, nur etwas weniger. Das ist nun
Wagners idealer „Singsprechton," der Dialekt des nationalen Gesamtkunst-
werkcs. Es ist peinlich zu sagen, aber wenn die Ccmtilene darin (die Sprach¬
forscher sprechen von der Cantilene eines Dialekts, um seine musikalische Fär¬
bung zu bezeichnen), wenn dieser Singsang an einen deutschen Dialekt erinnert,
so ist es einer, dem man gerade heutzutage das Beiwort „national" entrüstet
vorenthalten würde, und der es in Wahrheit auch nicht verdient. Wagner ist
dazu gelangt, weil er das alte Nezitativ von nun an, d. h. von Zürich an,
verschmähte, weil es ja allerdings den Nachteil hatte, nicht von ihm erfunden
zu sein, sondern die ehrwürdige Arbeit mehrerer Jahrhunderte darzustellen.
Keine geringe Arbeit. Wie gewissenhaft wachte früher der Kompositionslehrcr gerade
über richtige musikalische Deklamation im Nezitativ, wie lange und vielgestaltig war
die Übung darin, wie scharf der Tadel über das Verfehlte, wie groß der Jnbel
über einen unanfechtbaren Fortschritt gerade in dieser Kunst! Wie besonnen
und sicher, wie natürlich und angemessen schritt man aber auch darin fort!
Das musikalische Nezitativ ist ein Bau für sich, zu dem Unzählige die Steine
getragen haben. Darum konnte aber auch ein Mozart darin wohnen, ohne
sich beengt zu fühlen. Welch seltsamer Geschmack, diesen Bau zu verlassen (der
noch lange nicht ausgebaut ist), um sich solch einen Affenkäfig nach eigner
Fayon dafür herzurichten. Denn das Quäkende wird man dabei in der Vor¬
stellung nicht los. Zu dieser musikalischen Übergesuchtheit auf der Bühne tritt
nun im Orchester, gleichsam zur Versöhnung, wie oben angekündigt, die Trivia¬
lität und zieht allerdings meist verlegen genug (die wohlberechnete Einstreuung
beliebter Kadenzen in Melodie und Harmonie) vor dem Publikum den Hut.
Ich kann mir nun einmal nicht helfen, die stete Wiederholung eines, sei es auch
noch so hübschen Melismas, ob man es nun zehnmal mit dem stolzen Namen
Leitmotiv belegen mag, ist und bleibt nach urewigen künstlerischen Gesetzen eine
Trivialität. Thatsächlich und aller musikalisch-dramatischen Spekulation entkleidet
(um die sich das Publikum in Wahrheit keinen Deut kümmert, es müßte denn
so Wahn — so wagnerisch sein, die Leitmotivtabulaturen von Heinze, Wol¬
zogen u. s. w. auswendig zu lernen), rein künstlerisch betrachtet, hören die Leute
hierbei ein ins Ohr fallendes Motiv zum soundsovielten male. Das mutet sie
als alter Bekannter an, das gefällt schließlich, das muß schließlich gefallen, xar
doree in^fürs, und das nennt man in der Musik eben trivial. Jetzt macht sich
schon jeder Operettenkomponist diese billige Methode, eine Weise „populär" zu
machen, zu nutze. Wie stolz verschmähten sie die ältern Meister! Denn sie
schreibt sich natürlich nicht von heute und gestern, nicht von Wagner und auch
nicht von Weber her. Was so auf der flachen Hand liegt, das bedarf doch
wahrhaftig keines Genius zu seiner Erweckung. Wohl aber war es Weber, der
zuerst Mißbrauch damit getrieben hat, nachdem Mozart (im Don Juan das Largo
der Ouvertüre) und Beethoven (Arie des Florestan) einen der Natur des Gegen¬
standes angemessenen, vorsichtigen und feinfühligen, aber darum auch edel wirkungs¬
vollen Gebrauch davon gemacht hatten. Nun darf man allerdings nicht über¬
sehen, welch tiefere Bedeutung diese Methode für Wagner hat. Sie durchzieht
nämlich sein ganzes musikalisches Schaffen und ist am besten imstande, es zu
charakterisiren. Die RePetition musikalisch gesprochen ist das Lebensprinzip von
Wagners Komposition, wie im großen die Wiederholung der ganzen Weise
und des sogenannten leitenden Motivs, so im einzelnen in der Durchführung
die Wiederholung des Themas. Diese unveränderte Wiederholung eines Themas
auf verschiedenen Tonstufen nannte die alte musikalische Sprache spöttisch „Ro-
salie" oder „Schusterfleck," um die schlumpige Bequemlichkeit oder das Banau¬
sische daran zu bezeichnen. Haydn und Mozart haben sie humoristischer Wir¬
kungen halber nicht selten mit Bewußtsein angewandt; ein Prachtbeispiel dafür
bietet sich mir gerade im ersten Satze des an starken Gegensätzen so reichen
D-wM-Konzertes von Mozart. Man wird nun unter den blinden Bewunderern
des „Meisters" natürlich empört sein, über die Brutalität, zwischen der himmel¬
stürmenden „unendlichen Melodie" und der alten, bescheidenen „Rosalie"
enge verwandtschaftliche Beziehungen aufdecken zu wollen. Aber das wäre das
Schlimmste nicht, was man der „unendlichen Melodie" nachsagen könnte. Man
kocht auch in der Kunst nur mit Wasser, und es kommt nur auf den Meister
an, Nektar und Ambrosia zu bereiten. Der Nektar der unendlichen Melodie
aber muß es sich auch gefallen lassen, einmal auf seine Bestandteile chemisch
analysirt zu werden. Nun ist es ja eine bekannte Sache, daß Wagner die
Vergöttlichung der besagten „Rosalie" zur „unendlichen Melodie" durch ein
oft staunenswert scharfsinniges System der Harmonisirung erreichte, wobei
er zwar in den so verachteten „musikalischen Nippesverkäufern" Chopin und
Schumann ebenbürtige Vorarbeiter fand, worin ihm aber der Ruhm geistreicher
Selbständigkeit niemals bestritten werden soll. Auf dieser Grundlage wurde es
ihm möglich, aus dem steifleinensten aller musikalischen Kompositionsprinzipien
jenes melodische Wunderwerk zu schaffen, das ein nervöses Geschlecht, welches
nur mit halbem Ohre hört und daher des entschiedensten Entgegenkommens
von seiten des Komponisten bedarf, in die Wagnerianismus genannte Ekstase
versetzte. Die Melodie ist jetzt nicht mehr ein bewegliches „entschwindendes,"
aber dafür künstlerisch mannichfaltiges Bild, welches verfolgt sein will, sondern
sie ist ein festes Gerüst, das sich stark und sicher ins Ohr schlägt, und an dem
sich nun die exotischen Farben der aufbrausenden und absterbenden Harmonien
aufrollen. Man wird jetzt verstehen, weshalb man die Wagnersche Musik, und
zwar zunächst in Kreisen, die musiktheoretisch unbeteiligt einen naiven Eindruck
aussprachen, dekorativ nennen konnte. Das Geheimnis des Dekorateurs, sicher
und augenblicklich starke Wirkungen zu erzielen, indem er durch übersichtlichste
Gruppirung und feste Linien das Auge bannt und die Leere des Eindrucks
durch einen berauschenden Aufwand üppiger Farben verdeckt, dies Geheimnis,
dem sein gleichgestimmtes und oft genug mit ihm verglichenes malerisches Pendant
Hans Makart seine Macht über das neunzehnte Jahrhundert*) verdankt, hat
auch Wagner zu seinem Erfolge verholfen. Es ist ja auch bezeichnend, daß
Wagner seinen zahlreichsten und lautesten Anhang in Wien gefunden hat, und
der Vergleich mußte sich diesmal wieder demjenigen so recht aufdrängen, der an den
geräumigen Anzeigeschildern der Phäakenstadt an der Donau die riesigen Ein¬
ladungen des dortigen akademischen Wagnervereins (des einzigen, der wirklich
— dafür aber auch unheimlich starke — Wurzeln geschlagen hat) zum Extra¬
pilgerzug „auf nach Bayreuth" zu bewundern, noch mehr, wer diese Extrapilger
dann in Bayreuth zu bewundern Gelegenheit hatte. Allein das darf doch dabei
nicht verkannt und noch weniger dem wütenden Troß der Bewunderer gegenüber
in Abrede gestellt werden, daß in den redenden Künsten ein solcher Erfolg ein
gutes Teil ernsterer und tüchtigerer Grundlage erfordert als gerade in dieser
bildenden Kunst, der Malerei. Es sind im besondern Sinne — ohne natürlich
damit eine nachteilige Wertschätzung einzuschließen — geistreichere Künste, und
es wird ein geiht- und kenntnisreicherer Mann sein müssen, der hier ähnliche
Wirkungen erzielen will. Besonders in Deutschland, wo doch schließlich auf
die Dauer auch in der großen Masse nichts wirklich Boden gewinnt, was so
völlig des Ernstes und des höhern Schwunges entbehrt. In dieser Hinsicht
war ja auch Meyerbeer ein allzulehrreiches Exempel gewesen, mit dem Wagner
einen so auffallenden, jetzt so gern vergessen gewünschten Parallelismus der Ent¬
wicklung zeigt. Und Wagner war nur ein allzu geiht- und kenntnisreicher Mann
für seine besondre Kunst, die Musik. Wann aber auch sonst als in unserm
Jahrhundert hätte ein geistreicher Musiker auf die überspannte Idee kommen
können, ein philosophisches System mit Haut und Haaren, d. h. mit seiner
Terminologie (und einer so wenig musikalischen wie der Arthur Schopenhauers)
in Musik zu setzen!
Die Welt als Wille und Vorstellung für Sopran- oder Tenorsolo (und
namentlich Baritonsolo) mit großem Orchester! Wenn man Mozart, der in
dieser Hinsicht gar nicht so naiv und unbelehrt war, von solcher Tollheit be¬
richtet hätte, er hätte vielleicht empfohlen, die bekannte Flöte des Philosophen
selbst zu obligater Begleitung zu verwenden. Aber dafür soll Wagner seine
glücklichste Idee, die eigentliche, die ihm seine „Zukunft," d. h. die heutige
Gegenwart, gesichert hat, nämlich den Stoffkreis für seine Texte der deutschen
Sage zu entnehmen, Schopenhauer verdanken. Wie wenig die Ausführung dem
Philosophen entsprach, ist durch dessen derbes Urteil über die ihm vorgelegte
„Walküre" hinlänglich bekannt. Aber in all diesen Texten, vom Tannhäuser
an, mit dem Wagner bereits dies besondre Gebiet betrat, und stellenweise doch
noch in den ungeheuerlichen Ausgeburten der für ihn so verhängnisvollen
„Meisterperiode," ist doch nicht bloß ein ganz ungemeines Geschick, sondern auch
eine (leider nur oft übereifrige) Hingebung an den Vorwurf und starke dra¬
matische Wirkungen freudig und dankbar anzuerkennen. Wenn Tannhäuser
(gleichviel wie) das Gottesgericht auf der Wartburg auf sich herabbeschwört
und Elisabeth sich schützend vor ihn wirft, wenn die von Ortrud verblendeten
Brabanter den Retter der Unschuld staunend nahen sehen und ihren Sieg in
Jubelweisen feiern, wenn die Nürnberger Bürger ihren Hans Sachs mit jenem
kräftigen Weckliede der Reformation ehren und begeistert in den Werbesang um
ihre Mitbürgerin einfallen, so wird sich kein Kind unsrer Zeit dem bestrickenden
Zauber der Szene entziehen können. Wenn irgend etwas aus diesen Opern,
die Wagners Eigentümlichkeit in der Kunstgeschichte bezeichnen und durch die
er sich seine Herrschaft über die Zeitbühne erobert hat, späterer Zeit noch ver¬
ständlich sein wird, wenn irgend etwas imstande sein wird, die Macht seiner
Kunst auf die Zeit zu erklären, so sind es solche Szenen. Und wenn in den
Meistersingern Hans Sachs dem unwillig die Meisterkette abwehrenden Walther
sein „Verachtet mir die Meister nicht!" zuruft (nur braucht er ihn dabei nicht
gleich so klobig anzupacken, wie Herr Reichmann in Bayreuth!) und dann der
prächtige Zwiegesang zwischen dem Preisliede und den Meistersingermotiven
ertönt, dann wird kein billig denkender (so schwer es einem auch mitunter ge¬
macht wird) zu denen gehören, die „ihre deutschen Meister nicht ehren," nur
jeden „grad recht in seiner Weis" und diesen nun gerade nicht als den „Meister
aller Meister," als den „Meister" an sich.
So hätte uns denn der unglückselige Parsifal mit seinem mißverständlich -
etymologischen Namen und seiner unverständlich-archäologischen Musik Fes in
das Wagncrthema hineingeführt. Aber es wäre in der That böswillig, nach
dem Vorgange der Wagnerianer diesen mühsamen Altersauszug von Wagners
Schaffen als angebliche Krone desselben zu einer billigen kritischen Abfuhr aus¬
zunutzen. Für den unbefangenen Beurteiler ist es natürlich, daß er sich dann,
statt einfach zu verdammen, lieber des ganzen Weges erinnert, auf dem es zu
solchem traurigen Ende hat kommen können und müssen. Schon der Stoff
erklärt manches. Er wäre auch dem jüngern, in Wahn — fried noch nicht
gänzlich geistig umnebelten Komponisten zu einem Mißerfolge gerade auf seinem
eigentlichen Boden ausgeschlagen. Das Erlöserthema paßte für diesen Boden
Wie die Lilie in ein Päonien- und Georginenbeet. Man weiß jetzt, daß Wagner
sich lange mit dem Plane trug, die Büßerin von Magdala in irdischer Liebe für
den Heiland entbrennen zu lassen. Das wäre auch für Bayreuth unausführbar
gewesen, und so erhielten wir denn die dünne Umflorung dieses Vorwurfs mit der
Geschichte unsers tiefsinnigen, mittelalterlichen Romanhelden, dessen ehrwürdige
Gestalt für einen solchen Kulissendienst doch zu gut hätte sein sollen. Aber
auch so ist die Sache widerwärtig genug. Die Verführungsszeue mit dem
Blumenmädchen steht dabei wahrlich nicht im Vordergründe. Jeder Zeitungs¬
schreiber und mancher, ders gewiß nicht nötig hat, verdreht dabei die Augen.
Sie ist nur eine Wiederholung der berüchtigten, ebenso deutlichen Nheintochter-
szene aus dem Rheingold, und wir finden sie genau so abgeschmackt wie jene.
Sie erhebt sich gar nicht zu der Höhe einer moralischen Beurteilung; dafür ist
sie gar zu knabenhaft albern. Sie ist „in Wort und Weise" so grotesk plump
und unwahr (wiewohl es doch so grimmig ernst beabsichtigt ist), daß sie niemals
zu bösem Kitzel, sondern höchstens zu homerischen Gelächter reizen kann.
Ihr seid mir ein zicreS Geschlecht I
Nenn ich euch schön —
Dünkt euch das recht?
Solche Windelverse musikalischer Wickelkinder, die nur quälen und schreien, lassen
doch sofort jeden Ansatz zu einer schwülen Stimmung, den etwa die Hand¬
greiflichkeit der kurzröckigen „Mädchenblnmen" heraufbeschwört, im Nu sich ent¬
laden. Sie „dünken" denn auch den Wagnerianern „recht" und — unschuldig
genug, sie auf ihre Briefbogen (mit denen in Bciyrenth die Spielwarenläden
einen schwunghaften Handel treiben) drucken zu lassen. Nein, es ist etwas
andres, tiefer liegendes und bezeichnenderweise auch gleich für den ganzen
Wagner typisches, was sich uns dabei so unangenehm aufdrängt. Das ist
— wir können hierbei deutlich werden; hat ja doch die junge Damenwelt die
Wagnerischen Textbücher in der Hand — das ist die widerliche Breite und
Wichtigkeit, mit der — wir suchen doch nach einer weniger anstößigen Fassung,
da ja dieser Aufsatz nicht gesungen wird — die Nachtseite der menschlichen
Liebessphäre sich in Wagners Denken und Dichten vordrängt. Wer die elf
Großoktavbände Wagnerischer Philosophie und Poesie nicht bloß mit heiliger
Scheu in ihren Einbänden bewundert, dem wird es bald auffallen, welch eine
erst verblüffende, später abstoßende Rolle der aus dieser Sphäre hergeholte
Vergleich in Wagners theoretischen Schriften spielt. Durch alle Reiche der
Natur hindurch, Physisch und metaphysisch, wühlt er förmlich in dieser einen
Vorstellung herum, indem er sich zu ihrem philosophisch-poetisch-sozialen Rein¬
heitshort aufwirft. Das ist der springende Punkt, aus dem er sich die Schopen-
hauersche Philosophie und alles Denken und Dichten der Welt konstruirte. „Der
Mann — das Weib" und wieder „das Weib — der Mann," vom übrigen zu
schweigen, das ist der Kehrreim seiner Theorie, die in einen sehr viel schmäleren
Auszug gebracht werden könnte, als ihn Heinrich von Stein und Glasenapp
in ihrem Richard-Wagner-Lexikon der liebebedürftigen Welt beschert haben.
Wir wollen das ja bei einem theoretisirender Dichter nicht weiter betone»,
obwohl man in Deutschland auch vom theoretisirender Dichter einen umfassen¬
deren Gedankenkreis gewöhnt ist; aber wenn er auch als Dichter immer wieder
so nackt und trostlos auf dieses A und O seiner Philosophie hinauskommt, so
wird das auf die Dauer doch recht lästig und verdächtigt die Philosophie mit¬
samt der Dichtung. Hier im Parsifal haben wir nun die Wagnerische Grund¬
idee von der welterlösenden Macht der „Reine," in der ihm Schopenhauers
„Verneinung" so ausschließlich gipfelt, in ihrer äußersten und zugleich unbe¬
holfensten Form. Wie da das ungeheure Verdienst erotischer Empfindungs¬
losigkeit metaphysisch aufgebauscht und der zufällige Widerstand gegen die doch
recht mäßigen Verführungskünste einer Kundry zur erlösenden Weltthat ge¬
stempelt wird, wie das durch alle Stufen durchgehet wird in dem lächerlichen
Eunuchen Klingsor und dem „wunden" Jämmerling Amfortas, das muß man
samt seiner musikalischen Trostlosigkeit gehört und gesehen und nicht bloß ge¬
lesen haben, um es für möglich zu halten und das Verdienst zu würdigen,
dabei nicht in Kundrys verhängnisvolles Gelächter auszubrechen. Diese Lach¬
freiheit ist das einzige, um was man diese mystische Dame, die sich für ihre
Schäferstündchen durch anstrengende Spazierritte im Büßerkleide schadlos zu
halten sucht, beneidet. Aber man wird nicht umhin können, ihre (bei Klingsor
patentirte) Verführungskunst mittels der Erinnerung an die Mutter auf deu
Sohn einzuwirken, für recht naiv, hauptsächlich aber für den Gipfel der Wider¬
lichkeit zu halten. Es braucht wirklich der ganzen Widerlichkeit der „melodischen"
Quintenfolgen in dem „Verheißungsgesang," um die Erscheinung eines der¬
artigen „reinen Thoren," welcher einer solchen Person dabei nicht ein paar
Ohrfeigen verabreicht, musikalisch würdig zu illustriren.
Dies das „Werk von Bayreuth." Nun zu deu Bayrcuthern. Um eine
Erscheinung wie die Wagnerei nicht zu bespötteln, zu verlachen und zu ver¬
dammen, sondern nur um sie überhaupt zu begreifen, darf man sie ja nicht ver¬
einzelt betrachten, sondern man muß sie in das große Kapitel von der allge¬
meinen Sektenbildung einreihen, das nicht das kürzeste und unbedeutendste in
einer umfassenden Encyklopädie des menschlichen Geisteslebens sein würde. Der
Trieb zur Sektenbildung ist ein sozialer Grundtrieb der Menschennatur. Die
feststehende Art derselben zeigt sich kaum irgendwo deutlicher als in ihm. Das
fortgeschrittenste Zeitalter der Welt (ganz natürlich, denn es ist ja das letzte) lacht
über Religion und religiöse Erregung. Und gleichwohl finden sich in unsern
politischen und künstlerischen Parteien und Genossenschaften genau, lächerlich genau
die religiösen Sekten der Vergangenheit wieder. Als der Theologe Ritschl in
seiner Göttinger Festrede unsern Freisinnigen vorhielt, daß sie mittelalterliche
Ziele und Gegensätze wiederholten, ging ein allgemeines Halloh dnrch die poli-
lischen Reihen. Und doch war da nur einmal an weithintragender Stelle aus¬
gesprochen worden, was jeder Kulturhistoriker fast an jedem Gegenstände seiner
Studien nachzuweisen Gelegenheit hat, und wenn er Sinn und Augenmerk für
Gegenwart nicht verliert, auch wirklich nachzuweisen pflegt. Der Gelehrte macht
davon kein Aufhebens. Denn wer kann etwas Kluges, etwas Dummes (es han¬
delt sich hier meist um das letztere) denken, das nicht die Vorwelt schon gedacht
hätte. Nur allzu großer Überhebung lohnt es sich von Zeit zu Zeit damit
einen Dämpfer aufzusetzen. Denn die Gegenwart wird sich ihr unabweisliches
Lebensrecht, die Dummheiten der Vorwelt zu wiederholen, niemals rauben lassen;
wie Papa mit einer Ergebenheit, die zwischen Triumph und Resignation
schwankt, zu bemerken pflegt, daß der Sohn genau die dummen Streiche macht,
deren er sich aus den eignen Lehr- und Wanderjahren erinnert. Die politischen
und künstlerischen Parteien bereiteten sich bereits in den letzten Jahrhunderten
vor. Die künstlerischen sind älter als die politischen, als die modernen poli¬
tischen Parteigegcnsätze, die früher eben unter andern Formen auftraten: sie be¬
ginnen bereits mit der Erhebung der Poesie zu einer selbständigen gesellschaft¬
lichen Macht im Zeitalter des Humanismus. Wir haben uns bereits früher
in diesen Blättern über diesen für das Verständnis unsrer neuesten künstlerischen
Entwicklung so wichtigen Vorgang ausgelassen. Mehr oder minder politische
und soziale Zusätze sind auch ihnen heutzutage beigemischt, oft in sehr weit¬
gehendem Maße. Die Wagnerianer stehen hier im Vordergrunde, obwohl sie
seit dem Hinzutritt besonnener Elemente zu ihren künstlerischen Bestrebungen in
dieser Beziehung nachgelassen haben. Aber sie waren die erstere in künstlerische
Partei, die als solche eine heftige sozialreformatorische Propaganda betrieb, welche
sich nnr allzusehr an den Küchenzettel, die „Bekleidungsfrage" und ähnliche
schwer diskutirbare Dinge klammerte, um ernst genommen zu werden. Die An¬
hänger Rousseaus, die Shelley, Chateaubriand, Viktor Hugo sind hier vorbe¬
reitende Erscheinungen; der Saint-Simonismus hat nachweislich auf Liszt und
wohl auch auf Wagner Einfluß gehabt. Aber diese Reform um einen künstle¬
rischen Mittelpunkt zu vereinigen, den alten Streit um das Florentiner Musik¬
drama, die Kämpfe der „Franzosen" und „Italiener" um die große Oper, der
Gluckisten und Piccinisten mit Sozialismus und Buddhismus, mit Vivisektion
und Hygieine zu verquicken, das blieb dem agitatorischen Talente Richard
Wagners vorbehalten. Jetzt wird das den Leuten schon sehr leicht, jeder neue
Dichter hat neben seinem unvollendeten Drama oder Romane seine fertige neue
Weltordnung im Pulte. Es wäre bereits sehr lohnend, in einer zusammen¬
fassenden Untersuchung die alten Origenistischen Ideen vom tausendjährigen Reiche
der Vollkommenheit auf Erden, die manichäischen und wiedertäuferischen Ge¬
lüste nach Sinnenfreiheit und Willensgleichheit in den Köpfen dieser poetischen
Weltbeglücker nachzuweisen. Dies alles nun muß man zusammennehmen und
vereinigen mit dem rein elementar erregenden Untergrunde einer orgiastischen
Musik, wie wir sie oben zu schildern versuchten, um sich die kuriose Gesellschaft
einigermaßen zu deuten, welche sich „mit Stolz Wagnerianer nennt."
Wir sagen, zu deuten, diese seltsame Mischung von Unklarheit und Selbst¬
bewußtsein, Anmaßung gegen „Ungläubige" und übertriebener Demut vor dem
„Meister" und den Seinen, von Gelehrsamkeitsbrocken aus allen Richtungen
und knabenhafter Unwissenheit, von würdevollem Priesterton und kindischen,
altweiberhaften Interessen auf ihre Elemente zurückzuführen. Denn es zu be¬
urteilen ist nicht schwer. Man braucht nur einmal einem wagnerianischen
Gespräch gelauscht zu haben, man braucht nur in der berüchtigten Bierwirtschaft
von Angermann in Bayreuth („wo der Meister der Töne, Richard Wagner
sonst (!) seinen Vespertrunk zu schöpfen pflegte" und aus dessen durstigen „Hallen"
infolge dessen natürlich die Kaaba des „musikalischen Mekka" geworden ist) sich
die jungen Herrchen anzusehen, die da neben den Parsifal-Blumenmädchen am
lautesten schreien, und man wird sie an ihren Früchten erkennen. Eines wird
sofort auffallen, und man wird es, wann man auch wieder das Unglück hat, mit
Wagnerianern zusammen zu geraten, immer wieder bestätigt finden, daß unter
dem bunten, hochklingenden Aushängeschilde sich ein und dasselbe nichtige Ge¬
sprächsthema mit lächerlicher Breite und Wichtigkeit verbirgt: die Debatte über
die Wagnerischen Sänger und — eigentlich an erster Stelle — Sängerinnen.
Wehe dem Unglücklichen, der sie nicht alle kennt bis auf die feinsten Abstufungen
ihrer Rollen- und Lebensfehler, die Winkelmann und Vogt und Neichmann und
Matten und Matcrna und Sucher u. s. w. u. s. w. bis ins kleinste Hof- und
Stadttheater hinein, all die Ärmsten, die es sich jemals vom Dämon des Ehr¬
geizes getrieben einfallen ließen, beim „Meister" zu singen und damit unter die
blutige Zuchtrute von „Ihm" und seinen Getreuen gerieten. Er ist der un¬
zurechnungsfähigste Ignorant unter der Sonne, und bei den Wagnerianern hat
er auf alle Zeit „versungen und verthan." Das Geschwätz über Schauspieler
war, wie man sich nur noch allzugut erinnert, ein Erbübel im kleinstaatlichen
Deutschland. Wir sind noch sehr damit belastet, nur ist, wie sich hier be¬
schämend zeigt, aus dem lokalen Gesprächsthema der einzelnen Städte, das nur
jede für sich etwas anging, der Gesprächsstoff eines ganzen großen Reiches
geworden. Das ist das erste, womit der Neuling in den Wagnerischen My¬
sterien empfangen, und das ist das letzte, womit er als reif entlassen wird, daß
er wisse, wie „rhinozerosmäßig" Frau A'. heute Abend wieder die Brünnhild
zugerichtet hat, und „welchen Stiefel" Herr I. wieder einmal „zusammen ge¬
sungen," wie „großartig" aber zu aller Überraschung Herr Z. gerade heute
Abend „seine Sache gemacht" habe. Herr Z. hat nämlich immer irgend eine
Nebenrolle, einen jener Jämmerlinge, die sich in diesen Stücken zum Hohn auf
sich selbst herumtreiben, und er muß für seinen guten Willen entschädigt werden.
So werden bei jeder „Wagneraufführung" Parolen ausgegeben, die allbindend
und fürs ganze Wagnerreich giltig sind, und nach denen sich die Wertschätzung
der einzelnen Sänger und Sängerinnen für die nächste Zeit bemißt. Diese
Parolen wechseln natürlich sehr rasch, oft schon bei der nächsten Aufführung,
je nachdem etwa Herr Z. „genante" oder Frau X. ein gutes Wagnerwerk
gethan, etwa in einer Privataufführung unentgeltlich mitgewirkt hat und der¬
gleichen. Namentlich als der „Meister" noch lebte, war dies dem cartesianischen
Teufelchen zu vergleichende Hinauf und Hinunter der armen Sänger in hohem
Grade belustigend. War in diesem Semester Herr V., weil er der einzige
verwendbare Sänger des Siegfried war, die „wahrhafte Natur, die verkörperte
Stimme des Waldes," so ward er im nächsten halben Jahre, wo eine neue
Kraft sich zeigte oder Herr V. Schwierigkeiten machte, ein „Holzhacker," ein
„Auktionsbrüller" und wer weiß was alles. Was diese armen Leute, die ihre
hohen Gagen wirklich oft recht teuer bezahlen müssen, bei den Aufführungen
in Bayreuth unter der Knute ihres Tyrannen gelitten haben mögen, ist schwer
zu schildern. Aber ihr zitternder Viereifer, das unbewußte, ängstliche Schielen
nach der „Meisterloge," was „Er" nur wieder gefunden haben möge, ob mans
diesmal endlich recht gemacht habe, das alles verriet dem Kundigen traurig
genug die Begeisterungsseelenqualen der unseligen Heroen. In der Kundry der
Frau Materna, einer sehr begabten und tüchtigen Sängerin, und dem Beck¬
messer des — ich muß richtig ungebildeterweise im Zettel nachsehen — also des
Herrn Friedrichs konnte man diesmal noch die fossilen Überreste des „Bay-
reuther hohen Stiles," d. h. der Wagnerischen Einbläuungsmethode anstaunen.
Dies Zittern und dies Schweben, dies hysterische Auflachen und konvulsivische
Schluchzen, dies brummkreiselmäßige Losfahren und dies plötzliche Zusammen¬
knicken, dies Aufbrüllen und Wispern, dies Blöken, Meckern und Kreischen, zu
jedem Takt, nein zu jeder Note eine neue mimische „Nüance": das ist die
„Meisterweihe." Diese haargetreu Marionetten-, ja automatenhaft wiederzugeben,
dazu wird der Gedächtnisapparat befähigter Mimen bis zum Platzen angestrengt,
welche aus dem Eignen ein Besseres und vor allem ein Ganzes leisten könnten
und leisten würden. Das ist das Bayreuther „Ideal." Über die Sängerin
der Eva in der ersten Meistersingeraufführung, ich glaube Frau Sucher aus
Hamburg, wurde diesmal das schwere Verdikt, der große Bayreuther Bann
verhängt. Warum? Weil sie dies nicht übermäßig interessante Goldschmieds¬
töchterlein (als deren Devise mir wunderlicherweise immer der geistreiche Vers
einfällt, mit dem sie das selbsterkenntnisreiche „Ach, werd' ich dumm!" ihres
Vaters parirt: „Geh, Väterchen, geh, kleid dich um!"), weil sie diese einfach
schwer verliebte, verzogene Mäulchenmacherin und Durchgeherin weder als
Gretchen noch als Klcirchen, noch als Julia, noch Wagnerisch als alles dreics
zusammen mit Schopenhauerischer Transzendentalsauce, sondern einfach als das
spielte, was sie ist: nämlich als schlechthin schwer verliebte Mäulchenmacherin
und Durchgeherin. Dagegen war Herr Reichmann, der mit einem wahren
fliegenden Holländergesicht und den Geberden eines unzufriedenen Paschas den
Hans Sachs spielte, der „wahrhafte Vertreter deutscher Biederkeit und Tüch¬
tigkeit." er hätte den Wagnerianern „nur noch mehr thun können."
Aber man wird in diesen Blättern keinen „Bericht" suchen. Wir möchten
nur auch hieran eine allgemeine Bemerkung knüpfen, die die Bayreuther „Mustcr-
bühue" und ihren „Stil" als solche betrifft. Man weiß, welche ausschweifenden
Hoffnungen für die Hebung der gesamten Bühne Wagner damit verknüpfte.
Wir wollen dem liberregsamen und energischen Manne seine unmittelbaren und
mittelbaren Verdienste um die technische und künstlerische Hebung der Theater¬
orchester, um die allerdings sehr einseitig ihm zu gute kommende Aufrappelung
des meist so toten Sängerpersonals und des mechanischen Opernregiewesens
gewiß nicht verkürzen. Aber seine „Mustcrbühne" war von Anfang an dazu
geeignet, diese Vorteile echt menschlich in doppelt so viel Nachteile zu Verkehren.
Diese Musterbühne war von Anfang an ausschließlich für das Wagnerische
Muster bestimmt, und welches Muster dies ist, dafür legen dramatisch-musikalisch
der Parsifal als „überreifer, höherer als der höchste Stil," mimisch die
Zuckungen Kundrys und Beckmessers, „gefänglich" die Schreie Brünnhilds und
Isoldens und dekorativ der unglaublich groteske Gemüsegarten der Parsifalschen
Blumenmädchen Zeugnis ab. Aber davou wollen wir jetzt nicht reden, sondern
über den dunkeln Punkt, über den es anch im Wagnerianischen Hauptlager
immer deutlicher zu rumoren anfängt. Diese „Musterausführungen" werden
zu stände gebracht auf das Konto der Wagnervereine, von Sängern, Sänge¬
rinnen und Orchestermitgliedern aus allen Ecken der Welt, die sich einander
wildfremd sind, unter Dirigenten, die ihnen völlig neu sind, die ihre besonder»
Auffassungen zur Geltung bringen wollen und noch die der Frau Cosima und
ihres Generalstabes zur Geltung bringen müssen — und dies alles in drei
Wochen, die noch dazu meist die heißesten des Jahres sind. Da sollen Orchester¬
kombinationen wie die Wagners tadellos und frisch und stilvoll zu Gehör ge¬
bracht werden, da sollen Chorwildnisse urbar gemacht werden, wie die der
Blumenmädchen im Parsifal oder die Streit- und Prügelszenen in den Meister¬
singern, die auch den Vernünftigeren unter den Wagnerianern ein „Problem"
sind, wie sie geschmackvoll das deutsche Wort Unsinn übersetzen. Wenn man
mit diese» Zuständen und den knapp bemessenen drei Wochen die Forderungen
vergleicht, welche die Wagnerianer an andern Bühnen, die keine Musterbühnen
sind und sein wollen, für die Einstudirnng ihrer Idole erheben, so kann man
sich über die (wenigstens in dieser Hinsicht) Zufriedenheit und Bescheidenheit
wirkende Macht der Bayreuther Luft nicht genug verwundern. Vielleicht aber
weniger freuen. Ich erlauschte folgende Auslassung in dem „Cafe Sammet" (dem
„Angermann" gegenüber, wie es scheint, dem Sammelplatz der „Unbegeisterten,"
wo man auch noch einige harmlose Bayreuther und nicht bloß Berliner und
Wiener findet): „Ist was rechts mit den Vereinen und ihren Mitgliederzahlen!
Wenn sie doch lieber hinauswerfen wollten, statt neu aufzunehmen! Vor-
nehmlich die Herren Sänger und die Frauenzimmer, die da vorbauen und nach¬
brüllen und gute Zahler aber schlechte Musikanten sind!" Ich bin zu wenig
Eingeweihter — glücklicherweise — um die Beziehungen und die Richtigkeit dieser
allerdings „tief blicken lassenden" Bemerkung aufzudecken. Ich begnüge mich
auch nur, auf diese Thatsachen hinzuweisen und nur beispielsweise die Wag¬
nerianer zu fragen, was sie wohl dazu sagen würden, wenn etwa in Berlin
oder in Dresden oder sonstwo zu den geheiligten Klängen des Vorspiels aus
der Szene ein wüstes Gebrüll „Auf! Vorhang auf!" ertönen würde, wie in
Bayreuth vor dem letzten Aufzuge der Meistersinger!
Das Bayreuther Theater und seine Festspiele sind und bleiben — das
darf man eben nicht vergessen — eine Schöpfung König Ludwigs, wie Linder¬
hof, Herrenchiemsee, Neuschwanstein, eine „Hundingshütte" im großen Stile.
Und wie diese sind sie nach dem Hingange dieses königlichen, in seiner Art ein¬
zigen, barocksten aller Kunstmäcene aus imponirenden Weltwundern, den selbst¬
herrlichen Verkörperungen souveräner Laune doch etwas wie Kuriositäten, wie
Spielzeuge für große Kinder geworden; und ihre Erhaltung, die rauhe For¬
derung der Wirklichkeit an die phantastischen Traumgebilde, macht sie nunmehr
abhängig von der Gunst des großen Publikums. Das kann man sich ja nun
recht wohl in dieser Rolle denken, soweit die Befriedigung gröberer, künstlerischer
Interessen, der Schaulust und der Neugier, in Frage kommt. Aber für ein
künstlerisches Unternehmen mit solchem Programm, für ein Olympia der mo¬
dernen Welt reicht das doch nicht aus, ganz abgesehen von den andern Be¬
dingungen, die hier noch eintreten müssen. Auf Gäste, die vierzig Mark Billetkostcn
und die teure Reise bestreiten können, auf „Extrazügler" und solche Kunstfreunde,
für die die „Nähe Kissingens, Karlsbads und Marienbads" ausschlaggebend ist,
selbst auf „Spritztouristen" von irgend einer „süddeutschen Ausstellung" kann es
einem solchen Unternehmen doch am wenigsten ankommen. Wozu diese fortgesetzte
krampfhafte Selbsttäuschung, die für jeden Außenstehenden so hell ist, über
Natur, Zweck und Bedeutung dieser in seiner Art ja immer merkwürdigen,
großgedachten und prächtig genug in Szene gesetzten künstlerischen Veranstaltung?
Das demokratisch-revolutionäre „Kunstwerk der Zukunft," das nationale Fest¬
spiel des „ganzen Volkes" ist der sehr ausschließliche Sommersport einer inter¬
nationalen aristokratischen und plutokratischen Gesellschaft und — fügen wir
hinzu — ist das von Anfang an gewesen. Und dafür eignet es sich auch vor¬
trefflich. Da ist alles beisammen, was eine solche Gesellschaft braucht, und
wollte Apollo nur, daß sie ihren Sport nie tiefer wählte! Da ist Pracht und
Schwere (da wir „Gewicht" nicht sagen mögen), da ist Ausgesuchtes und Be¬
sondres in Fülle, da fehlt nicht die für die hohen Kreise so anziehende Tem-
pleisische Rosenkreuzerische Mystagvgie, da ist ihre zum Pessimismus neigende
sybaritisch weltverachtcnde Lebensanschauung, da — und das nicht zuletzt —
stand ein König und regierender Herr an der Spitze, das ist also fashivnabel
durch und durch. Und was fashivnabel ist, das macht die Plutokratie auch mit,
sollte es ihr auch so schwer ankommen, wie in diesem Falle den Berliner und
Wiener Börsenkreisen gegenüber dem schlimmen Richard Wagner, der ja aber
klug genug war, ihnen Brücken zu bauen, die für ihn zu Gold wurden. Bei
diesen Kreisen also steht es, ihr Vergnügen lebensfähig zu erhalten und nicht
zu Spott und Schanden werden zu lassen. Aber das „Volk" lasse man endlich
dabei aus dem Spiele und thue nicht immer so, als ob das Vaterland in Ge¬
fahr wäre, wenn die Bayreuther Festspiele eingingen. Das ist alles eitel Wind,
was da in diesen Broschüren und Programmen und Zeitschriften und Ver¬
sammlungen (und wie sich sonst der ganze wohlorganisirte Bau zusammensetzen
möge) gepredigt und getoastet wird, und damit lockt man Wohl ein paar armen
Studenten und Konservatoristinnen das Geld aus der Tasche, aber keinen Hund
vom Ofen. Ich wette, daß die Konservatoristinuen diesmal in Bayreuth zu
jener „bedeutenden Mehrzahl" der anwesenden Damen gehört haben würden,
denen der Prinz Alexander von Ballenberg unvergleichlich interessanter war
als der „reine Thor" auf der Bühne, was wir ihnen trotz des heiligen Zornes
der Frau Cosima gar nicht verübeln. Und die Studenten hätten wie jene
Wiener im „Cass Sammet" mir vorgeschwärmt, daß in den Meistersingerchören
die Schneider mit ihrem „Menk Menk" schon einsetzen, nachdem die Schuster
kaum aufgehört, und wie das doch gar so schön und kunstvoll sei. Oder sie hätten
auch mit der Uhr in der Hand gemessen, um wie viel länger Model das Parsifal-
vorspiel dirigire als der Meister und was der wunderlichen Belege für das
Bayreuther Kunstverständnis mehr sein mögen, die jeder sammeln kann. Mir
schien jener ehrenwerte Wiener Spießbürger (auch ein Extrazügler natürlich)
hinter mir vorbildlich, der mit heiliger Scheu „Großartig" vor sich hinstanunelte,
als es urplötzlich stockfinster wurde, noch bevor ein Ton erklungen war. Ja
so ist es, das Dunkle, das „ewig stockfinstere" daran, das ist es, was den
Leuten „großartig" dünkt. Das bemerkt man auch mit Recht bei den Wagne¬
rianern, wenn sie das wirklich Schöne und Bedeutende übersehen oder für selbst¬
verständlich halten, aber durch die endlosen dunkeln Wüsten mit wollüstigen
Röcheln sich durchschlagen. Aber das ist doch kein Grund und Boden, auf dem
ein „nationales Kunstwerk" sich dauerhaft und tief einbauen könnte. Unsre
Mozart und Hciydn und Beethoven hat man längst gespielt auf einsamen
Geigen und schlechten Klavieren, unsre Schubert, Mendelssohn und Schumann
hat man längst gesungen in Stadt und Land, ehe man dazu „Großartig"
sagen lernte. So wird ein echtes nationales Kunstwerk. Hier aber: nach drei,
vier Jahren, wenn der Sinn selbständiger geworden ist, der Geschmack reifer
und die Biertischbegeisterung verdächtiger, da Pflegen erfahrungsgemäß die
Studenten abzuschwenken und an einem neuen Drama, an einer Mozartschen
Sonate (die sie wenigstens spielen können, was bei Wagner — obwohl sie es
leider thun — nicht gerade behauptet werden kann) und an einem guten Buche
wieder mehr Gefallen zu finden als an dem ewigen Richard Wagner. Der
Wiener Spießbürger erzählt beim Straußischen Walzer, wie „großartig" es sei,
wenn es in Bayreuth dunkel werde, und die Kvnservatoristinnen — hoffen wir
es — bereuen, das viele Wagnergeld nicht auf ihre Aussteuer verwendet zu
haben. Ähnlich steht es mit dem Sinne für das „echt deutsche" und ins¬
besondre für das deutsche Altertum, der nach den Wagnerianern auf der Spitze
der „Bayreuther Frage" balancirt. Da scheint mir das Bild des Bayreuther
Festspielhauses mit seinem internationalem blasirten Publikum auf dem Hinter¬
grunde des fränkischen Hügellandes wie ein Symbol. Das ist das deutsche
Altertum für den parfümirten Atlasschlafrockkomponisten des Bayreuther
Theaters, ein wirkungsvoller Hintergrund, ein Kraft- und Naturparfüm. So
ähnlich empfanden es wohl die zeitgenössischen großer Erforscher des deutschen
Altertums. Und wenn die jüngern Germanisten mitunter auf das Interesse
für deutsches Altertum hinweisen, das durch Wagner erregt werde, so fällt mir
immer jene Dame ein — sonst durchaus modern „gebildet" und Wagnersängerin
von halbem Beruf —, die bei Berührung der Edda ganz treuherzig einwarf:
„Ach, das Gedicht von Wolzoaeu in der Neclamschen Bibliothek. Sehr hübsch!
Hab's natürlich angeschaut!"
Der große Schnürboden auf dem Hügel der schönen Frankenstadt wird
gewiß noch vor manchem Jahrgange Extrazügler die Zauber seiner Wandeldeko¬
rationen entfalten. Wenn die Zeit, wie es den Schein hat, ruhiger wird,
werden sie sogar vielleicht zahlreicher werden, als es bisher zum Schmerze der
Wagnerianer noch immer sein wollte. *) Aber die ruhigere Zeit dürfte auch etwas
andres wieder herstellen, was den Wagnerianern zwar sehr unangenehm, aber
gerade am nötigsten wäre, den ruhigern Sinn, das tiefer und nicht mehr bloß
oszillirend nervös erregte Gemüt, den freieren und klareren Blick. Dann dürfte
sich der Zauber des großen Schnürbodens und des Orchesters, das man ver¬
senken muß, um es zu genießen,^*) vielleicht verlieren, aber etwas andres müßte
umso reiner sich dafür erheben, das wahre Bild, was die Kunst leisten soll
und kann — auch im „Gesamtkunstwerk." Dies Bild, das dem Deutschen in
so schönen, edeln und erhabenen Zügen von seinen Meistern vorgezeichnet ist,
wird klar und immer klarer zum Durchbruch kommen und die Nebelbilder des
„Meisters" trotz aller bengalischen Beleuchtung immer siegreicher zur Seite
drängen. Dann wird ein nicht mehr epigonisches, frisches Geschlecht, das alte
Spiel wiederholend, neu erarbeiten, was uns heute nicht mehr taugt, und alte
Schätze „wunderlichst in diesem Falle" heben. Ob dann auch neue Meister
die alten Töne in neuen Weisen fassen und alte Sagen in neues Gewand, sie
werden nicht fremd und nicht undankbar den Großen gegenübertreten, die wie
ewige Statuen zu steter Verehrung und Nacheiferung an der Schwelle des
Hochbaues deutschen Geistes stehen. Und wenn dann der Deutsche auf seines
Lebens Mittag vor- und rückwärts blickt und den Überschlag macht über seines
Werdens Gewinn und Verlust und über seines Wirkens Frucht und Aufgabe,
dann wird ein Helles, gegenwärtiges Kunstwerk zur Stelle sein, das ihm dies
im Bilde zeigt: kein dunkles, unruhiges, übermaltes Zukunftsbild, sondern eine
helle, sichere, frische Gegenwart, in der eine verheißungsvolle Zukunft in einer
reichen und schönen Vergangenheit sich spiegelt.
er unsre Zeit unfruchtbar nennen wollte, würde auf allen Seiten
den heftigsten Widerspruch hervorrufen. Wann wäre mehr ge¬
dacht und gedichtet, gesagt und gesungen, gemalt und gemodelt,
gebaut und gebastelt worden? Doch wird sich nicht lenger lassen,
daß sich in alledem mehr Neproduktions- als Produktionskraft
äußert. In den Künsten vor allein wird immer wieder mit bewußter Absicht
irgend ein alter Stil erneut oder aus allen Stilen eklektisch ein neues Gebilde
zusammengetragen, und wenn auf die eine und die andre Weise nicht immer
Gutes herauskommt, so pflegt es doch noch erträglicher zu sein, als die qual¬
vollen Versuche in ganz neuen Stilen. Irren wir nicht, so wird die Zukunft
sogar manchem mehr Beifall zollen, was heute wegen Stilmischung als ver¬
werflich gilt, als Dingen, deren Schöpfer völlig in den Geist des Altertums,
des vierzehnten oder des sechzehnten Jahrhunderts eingedrungen zu sein meinen.
Wie soll auch ein strenger Purismus sich zu der ganzen Richtung der Gegen-
wart reimen, vorurteilsfrei die Erzeugnisse aller Zeiten nach den Bedingungen
zu beurteilen, unter denen sie entstanden sind? Unstreitig erhöht diese Zeit¬
strömung unsre Genußfähigkeit und erweitert bis ins Unendliche das Gebiet
künstlerischen Genusses: soll der Künstler allein von dieser Freiheit nichts haben,
mit Scheuklappen durch die Welt gehen? Die ganze Kunstgeschichte zeigt uns
ja eine ununterbrochene Kette von Stilmischungen, und neue Perioden lassen
sich nur darnach bestimmen, wie ein Element der Mischung das Übergewicht
erlangt.
Diese Thatsache ist uns wieder recht zum Bewußtsein gekommen bei dem
Betrachten eines schönen Werkes über die Gartenkunst: I-'^re usf
?g,rv8 — 3ar«Ziu8 — kromsn^als — 1rg,it6 xiatic^us se (liäaotiquk var lo Linon
IZrnouk. Iroisisms säitiou, sntisrsinsvt rskonäus g-oss 1s oonoours as ^. ^1-
xdaiiä. (Paris, I. Rothschild.) Welcher Stil beherrscht unsre heutige Garten¬
kunst? Darauf würde schwer eine andre Antwort zu geben sein als die: ein
Stil, der Bestandteile aller bekannten ältern in sich aufgenommen hat. Ein
gelehrter Gartenfreund und ein hervorragender Praktiker in einflußreicher Stel¬
lung in Paris lassen hier in sehr anziehender, durch eine Fülle von Abbil¬
dungen belebter Darstellung die Entwicklung der Gartenanlagen von den Zeiten
der Semiramis und des Ramses bis auf die Gegenwart an uns vorüberziehen.
Bleiben unsre Vorstellungen von den Gärten des Altertums auch hiernach noch
sehr lückenhaft, und ist in dem Abschnitt über das Mittelalter die Warnung
sehr am Platze, man möge nicht die sogenannten gothischen Gartenpläne in
Meyers „Schöner Gartenkunst" und ähnlichen Werken als echte Beispiele an¬
sehen, so werden wir desto genauer unterrichtet über System und Einzel¬
formen der Gärten der Renaissance in Italien und Frankreich, der Schöpfungen
Le notres und seiner Schule und des englischen Stils. Jede dieser Arten ist
einmal als höchstes Muster bewundert und dann als altfränkisch und geschmack¬
los belacht worden. Heute sind wir objektiv genug, unter den Übertreibungen
jeder Richtung das geschichtlich und das ästhetisch Berechtigte zu erkennen, keine
für unbedingt nachahmenswert zu halten, aber auch keine in Bausch und Bogen
zu verwerfen, aus jeder zu lernen und anzunehmen. Wir sind glücklich dahin
gelangt, zwischen öffentlichen Anlagen, Parks und Hausgärten zu unterscheiden,
den Zusammenhang zwischen Architektur und Gärtnerei wieder zu begreifen, aber
auch weder das architektonische noch das Landschaftsbild auf Kosten der Nutz¬
barkeit zu bevorzugen. Und wo es am besten gelungen ist, malerische Baum¬
gruppen, Rasenplätze, Blumenbeete, schattige Alleen, Lauben und Laubengänge
und, je nachdem, Obst- und Gemüsepflanzungen mit einander zu verbinden, da
werden wir sicher eine Verschmelzung von italienischem, französischem und eng¬
lischem System entdecken, vielleicht auch Züge, die noch unmittelbar an asiatische
Herkunft erinnern.
Wie das Werk jetzt vor uns liegt, darf es unbedenklich als ein Muster
seiner Gattung bezeichnet werden. Daß Frankreich, richtiger Paris, im Vorder¬
grunde der Betrachtungen steht, ist selbstverständlich. Für Frankreich haben ja
die Verfasser das Buch geschrieben, „der Verwaltung von Paris, welche so viel
zur Gesundung und Verschönerung der Hauptstadt und zur fortschreitenden Ent¬
wicklung der Gartenkunst beigetragen hat," lautet die Widmung, und wer könnte
leugnen, daß dieses Lob verdient ist? Doch liegt zu dem Vorwurfe nationaler
Ausschließlichkeit kein Grund vor. Die Beispiele sind sämtlichen vier alten Welt¬
teilen entnommen, und höchstens könnte auffallen, daß den modernen Garten¬
anlagen Oberitaliens wenig Berücksichtigung geworden ist. Vor allem wertvoll
wird das Werk dadurch, daß weder der Historiker und der Ästhetiker, noch der
Theoretiker, noch der Praktiker allein darin spricht, vielmehr alle Gesichtspunkte
zu ihrem Rechte kommen. Es ist eben so sehr Lehrbuch für den Gärtner, wie
für den Gartenfreund und den Künstler.
Etwa das erste Drittel des Buches nimmt die Geschichte der Gartenkunst
ein. Vom alten Griechenland ist wenig zu sagen, die Erwähnung der Gärten
des Alkinoos und der Kalypso in der Odyssee geben nur unbestimmte Vorstel¬
lungen. Ägyptische Denkmäler lassen schon die regelmäßigen Baumpflanzungen
um Wasserbecken, niedrige Pergolen und andre Kulturvorrichtungen erkennen,
und die verhältnismäßige UnVeränderlichkeit orientalischer Einrichtungen gestattet
Rückschlüsse von den persischen, indischen und andern Anlagen, die sich bis jetzt
erhalten haben, auf solche vor Jahrtausenden zu machen. Hier übt noch durch¬
weg die stilistische Richtung die Alleinherrschaft aus, und der Plan eines orien¬
talischen Gartens, entworfen von Meyer, ähnelt mit dem allmählichen Aufsteigen
von Wasserspiegeln und Blumenbeeten zu Gesträuchen und abschließendem
Baumdickicht eben so sehr den Gärten der Renaissance wie den holländischen
und andern aus dem vorigen Jahrhundert. Die Eigentümlichkeit der chinesischen
Gärten mit ihren künstlichen Felsen und vielfach überbrückten Wasserläufen
leitet Ernouf von dem Bemühen der Einwanderer her, sich ein Bild ihrer ge¬
birgigen Heimat im Kleinen ciufzubaueu. Auf jeden Fall liefern sie und nach
ihnen die Japaner das erste Beispiel der naturalistischen Richtung oder des
saräiv irresulisr. Über den Garten der Römer sind wir durch Wandmalereien
und durch die Rekonstruktion von antiken Villen so ziemlich unterrichtet. Nur,
eine bestimmte Zahl von Bäumen scheint in Verwendung gekommen zu sein
Platanen, Pappeln, Maulbeer- und Feigenbäume, Cypressen, Pinien; die be¬
liebteste Blume war die Rose, die man derart zwischen Lorber zog, daß sie für
Blüten dieses stachelfreien Strauches gehalten werden konnten. Auch wurden
Blumen künstlich gefärbt und in Warmhäusern zur Winterblüte gezwungen. Die
Anlagen setzten gewissermaßen die Architektur im Freien fort, waren aber bei
ihrem monumentalen Charakter doch so wenig wie die Gebäude selbst streng an
Symmetrie gebunden.
Diese kommt zur vollen Herrschaft im Mittelalter, während unverkennbar
mancherlei aus dem Altertume, z. B. die grünen Labyrinthe, sich daneben er¬
halten hat. Der Herzog von Bedford als Regent von Frankreich im Namen
Heinrichs VI. ließ 1431 den Garten des Hotel des Tournelles in der Straße
Se. Antoine vollständig umwandeln, und dabei mußten die Hecken eines „Hauses
des Dädalus" den neu eingeführten Obst- und Zierbäumen Platz machen.
Mit der Genialität, die aus den Trümmern der römischen Architektur einen
neuen Baustil erstehen ließ, schuf die italienische Renaissance auch den neuen
Garten, antike Traditionen mit den Anforderungen der modernen Zeit verbin¬
dend. Durch Benutzung der natürlichen Verschiedenheiten in den Höhenverhält¬
nissen des Bodens oder in deren Ermangelung durch künstlichen Ersatz wurde
die größte Mannichfaltigkeit der Ausblicke gewonnen von Terrassen und
Wegen aus wie von den Loggien und Fenstern der Wohngebäude. Die edeln
plastischen Bäume des Südens schlössen sich harmonisch an phantasievolle Lust¬
bauten, Bildsäulen, Springbrunnen und Wasserbecken, und zauberten mit ihrem
Immergrün den Sommer auch in die Zeit zurück, welche die Pergola des Laub¬
schmuckes beraubte. Der Garten ist für den Winter und für die Abendkühle
geschaffen, bedarf also nicht so vieler Schattenplätze wie unser Sommergarten.
Mit desto reicherer Hand wird nach Art der alten Römer das Wasser gespendet,
bald mit sinniger Vermischung mit den Linien des marmornen oder bronzenen
Brunnenbaues, bald mit seinem Schwall selbst eine flüssige Architektur bildend.
Umrahmt wird, wenn irgend möglich, das Bild von bewaldeten Höhenzügen,
denn nicht gern bringt man Villen und Gärten auf dem höchsten Punkte an.
Die Namen Boboli, Giusti, Doria-Pamphli, Este u. s. w. zaubern uns solche
heiter-anmutige Bilder einer Gartenkunst vor das Auge, die sich der Erzeugnisse
der Natur mit aller Freiheit bediente, aber ihnen nicht den Zwang anthat, wie
die französische Mode der Folgezeit.
Diese allmähliche Verkünstelung einerseits, anderseits das Streben nach Ge¬
spreiztheit auch in diesem Kunstzweige unter französischem Einflüsse wird durch
zahlreiche Abbildungen, auch Pläne, veranschaulicht; neben Frankreich liefern
England und Deutschland (Schönbrunn, Wilhelmshöhe, Würzburg) die bemer¬
kenswertesten Beispiele. Dann folgt als Einleitung zur Landschaftsgärtnerei
ein Abschnitt über die ideale Landschaft der Poussin, Lorrain, Berchem u. s. w.,
und den Schluß des ersten Teiles macht die Periode der Naturschwärmerei und
Sentimentalität.
Der zweite Teil behandelt aufs eingehendste den englischen Gartenstil in
seiner heutigen Entwicklung, kürzer den französischen und das Zövrö wixts,
ferner Stadtgarten, Promenaden und Sauares. Hier führt nun der gewiegte
Fachmann das Wort, der lehrt, mit welchen Mitteln nach den verschiednen
Systemen und praktischen Bedürfnissen gearbeitet werden kann und muß, und
seinen Vortrag durch vorzügliche Abbildungen der verschiednen Baumarten und
Ziersträucher, der Art der Anpflanzung, der Verbindung der Pflanzenwelt mit
Lust- und Nützlichkeitsbauten, der Schutz- und Pflegevorrichtungen u. s. w. ver¬
deutlicht. Auch die Preise von Gartenarbeiten in Paris werden jedem Garten¬
besitzer von Wert sein. Wer nicht in der glücklichen Lage ist, wer in einem Häuser-
mecre steckt, der kann sich wenigstens an dem Anblicke der Holzschnitte — über
500! erquicken oder, je nachdem, vor Sehnsucht verzehren.
in hellen Morgen kam Erik nach Hause, und als Fennimore
in dem kalten, ehrlichen Tageslicht sah, wie er sich auskleidete,
um zu Bette zu gehen, schwer und unsicher vom Trunk, mit
gläsernen Augen und erdfahl nach der durchwachten Nacht, da
erschienen ihr die schönen Worte, die Ricks geredet hatte, phan¬
tastisch, und die lichten Gelöbnisse, die sie in ihrem stillen Sinne gethan hatte,
schwanden erbleichend vor dem werdenden Tage, gauklerische Träume und Ge¬
dankentand, eine prahlerische Lügenschar.
Was konnte es nützen, dagegen anzukämpfen mit dem hoffnungslosen Druck,
der auf ihnen beiden lag? Es war so nutzlos, sich leicht zu lügen, ihr Leben
konnte doch nie wieder auf Federn gehen. Der Frost war dagewesen, die Ranken
und Ränkchen mit den Büscheln von Rosen und duftigen Blüten, die um sie ge¬
schlungen gewesen waren, die sie mit einander verknüpft hatten, sie hatten jedes
kleinste Blatt abgeschüttelt, jede Blume verloren, es waren nur noch die nackten,
zähen Unter, die sie unauflöslich an einander banden. Was konnte es nützen,
daß sie mit der Wärme der Erinnerungen die Gefühle entschwundner Tage zu
einem neuen, künstlichen Leben erweckte und ihren Abgott wieder auf seinen
Sockel stellte, seinen Augen den Glanz der Bewunderung, seinen Lippen das
Anbetungswort und seinen Wangen die Röte des Glückes wiedergab, was konnte
das nützen, wenn er sich nicht darauf einlassen wollte, der Priester des Abgottes
zu sein, sie bei dem frommen Betrüge zu unterstützen? Er! er kannte ihre
Liebe ja gar nicht wieder, es war ja keines ihrer Worte in seinen Ohren zurück¬
geblieben, kein Tag ihrer Tage in seiner Seele aufbewahrt.
Nein, tot und regungslos war die schwellende Liebe ihrer Herzen; der
Duft, das Licht und die zitternden Töne, es war alles verweht, und da konnten
sie aus alter Gewohnheit sitzen, er, den Arm um ihren Leib geschlungen, sie,
das Haupt an seine Schulter gelehnt, in tiefes Schweigen versunken, einander
vergessend; sie, um des Herrlichen zu gedenken, der er doch niemals gewesen war,
er, um sie im Traume zu dem Ideal umzuschaffen, das er jetzt immer in den
Wolken strahlen sah, hoch über ihrem Haupte. So war ihr Zusammenleben,
und die Tage kamen und gingen wieder und brachten keine Veränderung, und
Tag für Tag starrten sie hinaus auf die Wüste des Lebens und sagten sich
selber, daß es eine Wüste sei, daß dort keine Blumen blühten, daß auch keine
Aussicht auf Blumen, Quellen oder grüne Palmen sei.
Je mehr der Herbst vorschritt, desto häufiger wurden Eriks Ausschwei¬
fungen. Was sollte es auch nützen, sagte er zu Ricks, daß er zu Hause säße
und auf Ideen wartete, die doch niemals kamen, bis ihm die Gedanken in seinem
Kopfe zu Steinen wurden. Übrigens fand Erik nicht viel Trost in Ricks' Ge¬
sellschaft, er fühlte sich zu Leuten, die aus gröberem Schrot waren, hingezogen,
zu Leuten, die von Fleisch und Blut strotzten, die nicht ein Spielball zarter
Nerven waren. So waren Ricks und Fennimore oft allein zusammen, denn
Ricks ruderte jeden Tag nach Marianenlund hinüber.
Der Freundschaftsbund, den sie mit einander geschlossen hatten, und die
Worte, die an jenem Svnntagsabend zwischen ihnen gefallen waren, hatten sie
in ihrem Verhältnis zu einander ungezwungener und sicherer gemacht, und sie
schlössen sich, einsam wie sie beide waren, immer enger und wärmer an einander
an. Dieser herzliche Verkehr erhielt bald eine so große Macht über sie und
nahm ihre Sinne so gefangen, daß ihre Gedanken, ob sie nun bei einander oder
getrennt waren, stets nach diesem Freundschaftsverhältnis hinstrebten, gleichsam
wie Vögel, die an demselben Neste bauen, alles sehen, das, was sie sammeln,
wie das, was sie verwerfen, stets mit dem einen, gemütlichen Ziele vor Augen,
das Nest recht warm und weich für einander und für sich selber zu machen.
Wenn Ricks herüberkam, so machten sie fast immer, ob es regnete oder
stürmte, lange Spaziergänge in dem Walde, der an ihren Garten stieß. Sie
hatten sich in diesen Wald förmlich verliebt, und je mehr das Sommerleben
darin erstarb, desto teurer wurde er ihnen. Da waren ja auch tausenderlei
Dinge zu sehen. Erst wie das Laub gelb, braun und rot wurde, dann wie es
abfiel, an einem stürmischen Tage in gelbem Wirbel dahinfegte, wenn es aber
windstill war. leise Blatt um Blatt zur Erde schwebte, sanft herabraschelnd gegen
und zwischen die steifen Äste und die schwanken, braunen Zweige. Und während
das Laub von den Bäumen und Büschen fiel, wie kamen da alle die ver¬
borgensten Geheimnisse des Sommers zum Vorschein, eins nach dem andern,
und wie lag und saß es da rings umher voll von zierlichen Früchten und
farbenreichen Beeren, braunen Nüssen, blanken Eicheln und niedlichen Eichel-
bechcrn, Korallenbüscheln an den Berberitzen, schwarzen, blanken Schlehdorn¬
beeren und scharlachroten Urnen an den Heckenrosen. An den blattlosen Buchen
saßen die Bucheckern in Menge, und die Vogelbeerbäume bogen sich unter der
Last der roten Traubenbüschel. Späte Brombeeren lagen schwarz und bräunlich
zwischen dem nassen Laub am Wege. Zwischen dem Heidekraut wuchsen Tüte¬
beeren, und die wilden Himbeersträuche trugen zum zweitenmale ihre mattroten
Früchte. Die Farrenkräuter hatten im Welken wohl hundert Farben, und gar
das Moos! Das war eine ganze Entdeckung, nicht nur die kräftigen, großen
Moosarten in den Niederungen und an den Abhängen, die Ähnlichkeit mit
Tannen, aber auch mit Palmen und Straußenfedern haben konnten, sondern
auch das feine Moos an den Baumstämmen, das so aussah, wie man sich wohl
die Kornfelder der Elfen vorstellt, in so feinen, feinen Halmen schoß es auf mit
dunkelbraunen Köpfchen an den Spitzen, die Kornähren glichen.
Kreuz und quer durchstreiften sie den Wald, wie Kinder eifrig bemüht, seine
Schätze und Merkwürdigkeiten aufzufinden; und ganz wie Kinder zu thun
pflegen, hatten sie den Wald unter sich geteilt, sodaß der Teil, der auf der
einen Seite des Fahrweges lag, Fennimore gehörte, und der auf der andern
Ricks, und sie verglichen oft ihre Reiche miteinander und stritten sich, wer das
herrlichste hätte. Sie hatten auch für alles drinnen im Walde Namen, für die
Höhen und Klüfte, für die Steige und Pfade, für die Grüfte und Dämme;
und stand hier oder dort ein besonders schöner oder großer Baum, so hatte
auch der seinen Namen. So hatten sie den Wald auf jede nur denkbare Weise
in Besitz genommen, und so hatten sie sich eine kleine Welt für sich geschaffen,
eine Welt, die niemand kannte, in der niemand so heimisch war wie sie. Und
doch hatten sie kein Geheimnis mit einander, das nicht alle Welt hätte hören
können.
Noch hatten sie kein Geheimnis! Aber die Liebe war in ihren Herzen,
und war auch doch wieder nicht wirklich da, ebenso wie sich in einer über¬
sättigten Lösung Krystalle befinden und auch doch wieder nicht wirklich da sind,
nicht eher, als bis sich der entsprechende Stoff, und wenn es auch nur ein
Fäserchen desselben wäre, in die Flüssigkeit senkt, und sich dann gleichsam wie
mit einem Zauberschlage die schlummernden Atome ausscheiden, sodaß sie einander
entgegenfliegen, sich an einander festsetzen, Glied an Glied nach unerforschlichen
Gesetzen und in einem Nu Krystalle sind — Krystalle!
So war es auch eine ganz unbedeutende Veranlassung, die sie fühlen ließ,
daß sie einander liebten.
Es ist nicht viel davon zu erzählen, es war ein Tag wie alle andern, sie
waren allein im Wohnzimmer, wie sie es hundertmal vorher gewesen waren,
und ihre Unterhaltung hatte sich um ganz gleichgiltige Dinge gedreht, und das,
was von außen her auf sie einwirkte, war so gewöhnlich, alltäglich wie nur
möglich, es war nichts andres, als daß Ricks am Fenster stand und hinaus¬
sah, und daß Fennimore sich neben ihn stellte und auch hinaussah, das war
das Ganze, aber es genügte, um gleichsam wie mit einem Blitzstrahl die Ver-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft für Ricks Lyhne zu verwandeln durch das
Bewußtsein, daß er die Frau liebte, die an seiner Seite stand. Nicht wie etwas
Lichtes, Liebliches, Glückliches und Schönes, das ihn zu Seligkeit und zu Ent¬
zücken himmelhoch heben konnte, so war seine Liebe nicht. Aber es war ihm
ebenso unmöglich, ohne sie zu sein, wie es ihm unmöglich gewesen wäre, zu
leben, ohne Atem zu schöpfen; so liebte er sie, und er griff, wie ein Ertrinkender
um sich greift, nach ihr und preßte ihre Hand an sein Herz.
Und sie verstand ihn. Fast mit einem Schrei und in einem Tone voller
Schreck und Jammer rief sie ihm zu, wie eine Autwort und ein Bekenntnis
zugleich: Ach ja, Ricks! und entzog ihm in demselben Augenblicke ihre Hand.
Dann stand sie einen Augenblick bleich, fliehend da, sank dann mit dem
einen Knie auf einen Polsterstuhl, verbarg ihr Antlitz in der Samtlehne und
schluchzte laut.
Ricks war in den ersten Sekunden wie geblendet, und seine Hände suchten
zwischen den Zwiebelgläsern nach einem Stützpunkt.
Es waren nur wenige Sekunden, dann trat er an den Stuhl, auf dem
sie lag, und beugte sich über sie, ohne sie zu berühren, die eine Hand auf die
Lehne des Stuhles stützend.
Sei nicht so verzweifelt, Fennimore, sieh auf und laß uns mit einander
reden. Willst du, willst du nicht? Du mußt dich nicht fürchten, laß es uns
gemeinsam tragen, mein süßes Lieb, hörst du? Versuche, ob es dir nicht
möglich ist.
Sie hob den Kopf ein wenig, sodaß sie ihn ansah. Ach Gott! Ricks,
was sollen wir nur einmal anfangen! Ist es nicht entsetzlich, Ricks! Warum
muß es mir hier in der Welt auch so gehen? Wie schön hätte alles sein
können, so glücklich! Und sie schluchzte von neuem.
Hätte ich schweigen sollen, klagte er, arme Fennimore, wünschest du, daß
du es niemals erfahren hättest?
Sie blickte abermals auf und ergriff seine Hand. Ich wollte, ich wüßte
es und wäre dann tot, o, daß ich in meinem Grabe läge und es wüßte, das
würde so gut sein, o, so gut und schön!
Es ist bitter für uns, Fennimore, daß das erste, was uns unsre Liebe
bringt, Angst und Thränen sind. Meinst du nicht auch?
Du mußt nicht hart gegen mich sein, Ricks, ich kann ja nicht anders. Du
kannst es nicht so sehen, wie ich, ich müßte stark sein, denn ich bin gebunden.
O, daß ich meine Liebe nehmen und sie in die tiefste Tiefe meines Herzens
verschließen könnte, daß ich taub wäre für all ihren Jammer, all ihr Flehen,
daß ich es über mich gewinnen könnte, dich zu bitten, weit, weit fortzureisen,
aber das kann ich nicht, ich habe so viel gelitten, ich kann das nicht auch noch
leiden, ich kann es nicht, Ricks. Ich kann nicht ohne dich leben — kann ich
das wohl? Glaubst du, daß ich es könnte?
Sie stand auf und schmiegte sich an seine Brust. Hier bin ich, ich lasse
dich nicht, ich lasse dich nicht von dannen ziehen, um selber in der alten Finster¬
nis zurückzubleiben. Es ist wie eine bodenlose Tiefe voller Ekel und Pein, ich
will mich nicht dahinein stürzen, eher springe ich ins Wasser, Ricks; und wenn
auch das neue Leben Schmerzen bringen wird, so sind es doch neue Schmerzen,
die nicht den abgestumpften Stachel der alten haben, die nicht so sicher treffen
können wie die alten, welche mein Herz so grausam genau kennen. Rede ich
verworrenes Zeug? Ja, sicher thue ich das, aber es ist so gut, ohne Rückhalt
mit dir sprechen zu können, ohne daß ich mich vor all dem Vielen zu hüten
brauche, was dir zu sagen bis jetzt unrecht war. Jetzt aber hast du ein Recht
vor allen andern! Ach, könntest du mich doch ganz nehmen, sodaß ich ganz
die deine wäre, daß ich mit nichts einem andern gehörte, o, daß du mich
herausheben könntest aus jedem Verhältnis, das mich umgiebt!
Wir müssen die Ketten zersprengen. Fennimore! Ich werde alles gut ein¬
richten, sei unbesorgt, eines Tages, ehe irgend jemand das Geringste ahnt, sind
wir über alle Berge!
Nein, nein, wir dürfen nicht entfliehen, nur das nicht, eher alles andre,
«is daß meine Eltern hören sollten, daß ihre Tochter davongelaufen sei, das
ist unmöglich, bei Gott im Himmel, das werde ich niemals thun, Ricks, das
thue ich niemals!
Aber du mußt es thun, meine Liebe, du mußt es thun. Siehst du denn
nicht all die Gemeinheit, all die Nichtswürdigkeit, die uns auf allen Seiten
umgeben wird, wenn wir bleiben? All die entwürdigende List und Falschheit
und Verstellung, die uns einschnüren wird, die uns niederdrücken, uns elend
machen wird? Ich will dich nicht von alledem besudeln lassen, das soll sich
nicht in unsre Liebe einfressen wie ein giftiger Rost.
Aber sie war nicht zu bewegen.
Du weißt nicht, wozu du uns verdammst, sagte er betrübt, es wäre
weit besser, wenn wir mit einem eisernen Haken aufträten, statt zu schonen.
Glaube nur, Fennimore, wenn wir unsre Liebe nicht Alles für uns sein lassen,
das Einzige, das Höchste in der Welt, das, was vor allem andern erlöst
werden muß, sodaß wir da zuschlagen, wo wir lieber heilen würden, daß wir
da Kummer verursachen, wo wir lieber jeden Schatten von Kummer fernhalten
würden, wenn wir das nicht thun, dann wirst du bald erleben, wie alles das,
worunter wir uns beugen, sich schwer auf unsre Schultern legen und uns in
die Kniee zwingen wird, unbarmherzig und unerbittlich. Ein Kampf auf den
Knieen liegend gekämpft, du weißt nicht, wie schwer der zu kämpfen ist. Du
mußt weinen! Wollen wir den Kampf doch kämpfen, meine Liebe, Seite an
Seite gegen alle und alles?
In den nächsten Tagen setzte Ricks seine Bemühungen, sie zur Flucht zu
überreden, fort, dann fing er an, es sich auszumalen, wie hart es Erik
troffen würde, wenn er eines Tages heimkehrte und erführe, daß sein Freund
und seine Frau mit einander auf und davon seien, und ganz allmählich erhielt
es ein ganz unnatürliches, tragisches Unmöglichkeitsgepräge in seinen Augen,
und er entwöhnte sich, daran zu denken, wie er es mit so vielem andern that,
was er anders gewünscht hätte. Er gab sich mit ganzer Seele den Verhält¬
nissen hin, so wie sie einmal waren, ohne einen wissentlichen Versuch, sie um-
zudichten oder sie mit phantastischen Festons und Guirlanden auszuschmücken
und die Mängel fortzulügen. Aber wie süß war es, zu lieben, einmal die
wirkliche Liebe des Lebens zu lieben! Denn was er bis jetzt für Liebe gehalten
hatte, war ja keine Liebe gewesen, weder das schwer wogende Sehnen des Verein¬
samten, noch das brennende Entbehren des Phantasten oder die ahnungsvolle
Nervosität des Kindes; das waren Ströme in dem großen Ozean der Liebe,
einzelne Reflexe ihres vollen Lichtes, Splitter der Liebe, gleichwie die Meteore,
welche die Luft durchsausen, Splitter eines Weltenkörpers sind, denn dies war
die Liebe: eine Welt, die ganz war, etwas Vollendetes, Großes, Geordnetes.
Es war keine verwilderte, zwecklose Jagd von Gefühlen und Stimmungen,
die Liebe war wie eine Natur, ewig wechselnd, ewig erzeugend, und es erstarb
keine Stimmung, es welkte kein Gefühl, ohne einem Keim, der die Anlagen zu
etwas Vollkommenerem enthielt, neues Leben zu geben. Ruhig, gesund, mit tiefen
Atemzügen, so war es herrlich zu lieben. Und die Tage sielen jetzt neu und
glänzend vom Himmel selber herab, sie kamen nicht schleppend, selbstverständ¬
lich hintereinander wie die abgegriffenem Bilder in einem Guckkasten, jeder von
ihnen war eine Offenbarung, denn an einem jeden fand er sich größer und stärker
und gehobener. Noch nie hatte er eine solche Innigkeit, eine solche Macht des
Gefühls gekannt, und es gab Augenblicke, in denen er sich selber titanenhaft
däuchte, in weit höherem Maße, als er sich Mensch fühlte, eine solche Uner¬
schöpflichkeit empfand er in seinem Innern, eine so flügelbreite Zärtlichkeit
entströmte seinem Herzen, so weit war sein Blick, so großartig mild sein Urteil.
Das war der Anfang des Glückes, und sie waren lange glücklich mit einander.
Die tägliche Falschheit und Verstellung, die Luft von Unehre, in der sie
lebten, alles das hatte noch keine Macht, es konnte sie nicht erreichen in der
ekstatischen Höhe, in die Ricks ihr Verhältnis und sie selber erhoben hatte;
denn er war nicht schlechthin ein Mann, der die Frau seines Freundes ver¬
führte, oder richtiger, er war es, er sagte voller Trotz, daß er es sei, aber er
war auch gleichzeitig der Befreier einer schuldlosen Frau, die das Leben ver¬
wundet, gesteinigt, besudelt, einer Frau, die schon ihre Seele der Vernichtung
übergeben hatte. Ihr hatte er das Vertrauen auf das Leben wieder geschenkt,
hatte in ihr den Glauben an die bessern Mächte desselben wiedererweckt, ihren
Geist zu Adel und Hoheit erhoben, ihr das Glück gebracht. Was war nun
das Beste, jenes schuldlose Elend, oder das, was er für sie erkämpft hatte?
Er fragte nicht mehr darnach, seine Wahl war getroffen.
Vollkommen so meinte er es jedoch nicht. Der Mensch baut sich so oft
Theorien, in denen er doch nicht wohnen will. Die Gedanken schweifen so oft
weiter hinaus, als das Gefühl für Recht und Unrecht Lust hat, ihnen zu
folgen. Aber dieser Gedanke bestand doch für ihn und nahm der stets er¬
forderlichen Lüge, Falschheit, Niedrigkeit und Gemeinheit viel von ihrem un¬
aufhaltsam zehrenden Gift.
Schließlich machte es sich aber doch fühlbar, es fraß zu viele von den
feinen, zarten Nerven an, um nicht bald Schaden anzurichten und Schmerzen
zu verursachen, und der Verlauf wurde dadurch sehr beschleunigt, daß Erik
bald nach Neujahr glaubte, eine Idee bekommen zu haben, etwas mit einem
grünen Gewände, erzählte er Ricks, und mit einer drohenden Stellung. Er¬
innerte er sich wohl noch des Grüns in Salvator Rosas Jonas? Etwas in
diesem Genre. (Fortsetzung folgt.)
Wir haben schon vor mehreren Jahren einmal auf die
Schriften von Heinrich Seidel aufmerksam gemacht. Damals hatte Liebeskind in
Leipzig das bis dahin in unscheinbaren Biindcheu erschienene an sich gebracht und
begann es neben ganz neuem in der zierlichen Ausstattung, die er seinen Büchern
zu geben versteht, neu aufzulegen. Jetzt liegen allein von den Prosaschriften schon
fünf Bände vor, zum Teil in wiederholter Auflage, und wie wir hören, werden
die drei älteren dieser Bände (Jorinde und andre Geschichten — Geschichten und
Skizzen aus der Heimat — Vorstadtgeschichten) wiederum neu gedruckt werden und
dann mit den beiden neu erschienenen (Neues von Leberecht Hühnchen und andern
Sonderlingen — Die goldene Zeit) und den Gedichtbänden eine einheitliche Ge¬
samtausgabe bilden, oder wohl den Beginn einer Gesamtausgabe; denn die
neuesten Gaben Seidels lassen nicht darauf schließen, daß sein Born so bald ver¬
siegen werde.
Es ist sehr erfreulich, daß sich diese Sachen Bahn gebrochen haben und einen
immer größern Leserkreis gewinnen. Man darf auch darin, daß so harmlose, frische
und gesunde Poesie sich durch das greuliche Litteraturgestrüpp durchzuarbeiten ver¬
mag, welches alles zu überwuchern drohte, ein Zeichen erblicken, daß uns wieder
eine „goldene Zeit" herannaht. Eine Zeit ruhigerer und stetiger Entwicklung, der
wir jetzt, Gott sei Dank, entgegenblicken, wird auch mit sich bringen, daß unser
deutsches Gemüt wieder mehr Einkehr bei sich selber hält und sich von der un¬
gesunden Kost abwendet, mit der es sich vergiftet hat in einer Zeit des äußern
und innern Kämpfens und Jagens, in der ein gepfefferter Genuß gesucht wurde,
um über die Leere des Augenblicks hinwegzuhelfen. Die bösen Früchte des
Naturalismus und Pessimismus können bei uns doch nur reifen und genossen
werden, wenn alles Ringen und Kämpfen nach außen geht, auf materielle
Dinge und Erfolge. Sie werden dann immer vorhanden und marktfähig sein,
mag das überwiegende äußere Leben guten oder schlechten Grund haben. Die
Gcihruug, die aus alledem entstehen mußte, was durch die Wiederaufrichtung des
neuen Reiches zusammengegossen wurde, war doch nur ein äußerer materieller
Vorgang. Wir dürfen hoffen, daß dieser Zustand nun überwunden ist, und daß
unser Leben sich allmählich beruhigen und läutern wird, und damit wird das Un¬
gesunde, das sich eine Zeit lang breit machen konnte, von selbst ausgestoßen werden.
Wenn damit aber auch eine reinere und tiefere Strömung in unsrer Litteratur die
Oberhand gewinnt, so werden Leute wie Heinrich Seidel ebensowohl das ihre dazu
beigetragen haben, wie sie ihren äußern Erfolg bei den veränderten Zuständen
finden werden.
Die beiden neuen Bände zeigen die gleichen Eigentümlichkeiten des Dichters,
wie die vorhergegangenen. Sie enthalten zum Teil kleinere Skizzen und Charakter¬
bilder, zum Teil breiter ausgeführte Erzählungen. Tiefe Konflikte, dramatischen
Aufbau, einen verwickelten Knoten haben diese Erzählungen nicht, und ebensowenig
aufregenden Gang der Ereignisse. Sie variiren immer aufs neue das alte süße
Thema zweier verliebten Herzen, und die Liebesgeschichten spielen sich meist in sehr
einfacher und alltäglicher Weise ab; wird einmal etwas Romantik beigemischt, so
läuft wohl auch etwas Sentimentalität mit unter. Aber das meiste ist gesund und
frisch, und was den harmlosen Sachen ihren großen Reiz giebt, ist die feine und
saubere Kleinmalerei in den oft entzückenden Natur-, Stimmnngs- und Charakter¬
bildern, im Ausmalen der Situation. Darin ist Seidel Meister. Und in der Art,
wie er die schnurrige Gesellschaft seiner Sonderlinge vorführt, Natur und Still¬
leben schildert, offenbart sich aufs wohlthuendste ein warmes Herz, das für alles
Gute und Schöne offen ist, lebendig an allem Leben teilnimmt und sich ins Kleinste
gleich liebevoll versenkt, wie in das Größte, was das Menschenherz bewegt, und alles
ist mit einem Behagen, mit einer Anspruchslosigkeit und dabei einem so frischen
Humor vorgetragen, wie sie nun einmal selten geworden sind.
Man möchte denken, Seidel müsse Junggeselle sein, so sehnsüchtig weiß er
die Liebe zu schildern, das Aufglühen der Leidenschaft, bis sie zu hellen Flammen
aufschlägt und Mund zu Munde führt. Es sind auch meist Junggesellen, die er
schildert; alte Junggesellen, die in stillem Entsagen einer verschwundenen Liebe nach¬
denken, oder junge Junggesellen, die natürlich zum Abfallen reif wie Aepfel in
irgend eine günstige Gelegenheit zum Verlieben plumpsen und dann die ergänzende
bessere Hälfte finden. Man möchte denken, er male sich das in immer neuer Weise
aus, weil er es noch nicht errungen habe, oder weil es ihm selbst so gegangen sei
wie seinen Hagestolzen. Aber er ist verheiratet; die Agnes, der er den zärtlichsten
Band voll Liebesgeschichten zugeeignet hat, ist seine Gattin nach Aussage seines treff¬
lichen Verlegers. Ob sie nicht am Ende eifersüchtig wird auf alle seine Heldinnen?
Aus ewige» Stellen der Erzählungen geht hervor, daß Seidel eine besondre
Borliebe für Stifter und Storm hat. Er ähnelt ihnen auch in manchem, ins¬
besondre in der gelegentlichen Sentimentalität, aber in einem unterscheidet er sich
vorteilhaft von beiden, darin, daß alle seine Geschichten von dem Heißsinnlichen
frei sind, das auch in der sanften Einkleidung Storms doch die Pulse des Lesers
klopfen macht wie süßer Punsch, und von dem auch Stifter nicht ganz frei ist.
Bei ihm ist alles gesund, die Liebe wohl leidenschaftlich, aber dabei still und rein,
wie sie sein soll. Wer gern und viel mit der Natur verkehrt, hält sich auch meist
das Herz stark und gesund, holt sich bei ihr immer neue Frische und schärft sich
die Beobachtungsgabe. So thut es Seidel. Die Liebe zur Natur spricht aus
jeder seiner Geschichten und Bilder und umrankt sie mit den feinsten und lieb-
liebsten Schilderungen. Manchmal treten sie fast zu sehr in den Vordergrund,
man kann sich ganz respektable Kenntnisse in der Botanik, Entomologie und Orni¬
thologie bei Seidel holen. Aber er wird manchem Leser die Augen öffnen für
die schöne Gotteswclt, die uns umgiebt, und namentlich für das Kleine, oft Ueber-
sehene, wie er auf der andern Seite zeigt, vor allem in seiner liebenswürdigsten Figur,
dem köstlichen Leberecht Hühnchen, welches Glück mit einer kleinen und bescheidnen
Existenz verbunden sein kann, wie auch in dem alltäglichen Leben, in der nüchternsten
Umgebung tauseudfnches Glück zu finden ist für den, der es zu suchen versteht.
Wer sich eine behagliche und erfrischende Lektüre mit in die Ferien nehmen
möchte, der greife zu Heinrich Seidel!
Das ist doch nun das Avr Ms ultra der uni-
fvrmircnden Fabrikatsmuse unsrer Tage, das Notenheft, das wir da eben in den
Schauläden unter der sonst so verdienten Flagge der „Edition Peters" anstaunen.
Ein Trauermarschalbum! Wir empfehlen als nächste Albumnummern gleich ein
Wiegenliederalbum, das ja den schönern Titel „Berceusenalbum" führen könnte, und
dann ein Schunkelwalzeralbum. Mit allen übrigen Albums bis auf das „Tyro-
lienne- und Styrienne-Album" sind wir ja — den Kollektionsapollos sei Dank — ver¬
sehen. Sicher fügt nun eine konkurrirende „Kollektion" zu der Geschmack- die
Pietätlosigkeit und übertrumpft das Trauermarschalbum mit einem „Kaisertrauer¬
marschalbum." Arme Kandidaten, die ihr über eurer Examenarbeit sitzt, arme
Geisteshypochoudcr aller Fakultäten und Berufsklassen! Wenn erst einmal das
„Trauermarschalbum" den Einzug auf dem Notenpulte von Fräulein Hulda über,
unter oder neben euch gehalten haben wird, wird die Selbstinordstatistik einer Re¬
vision bedürfen. Zwanzig bis dreißig Mollstücke — I^rg-o, Ol^of, I^ordo in reicher
Abwechslung —, welcher „Wille zum Leben" soll dem noch Stand halten! Wir
fürchten sogar für Fräulein Hulda.
Es ist doch merkwürdig, was aus den Almanachs und Anthologien mit ihrem
Prinzip der buntesten Mannichfaltigkeit und Abwechslung schließlich geworden ist.
Wir haben keine Almanache und Anthologien mehr, wir haben Albums: das
„Berliner Conpletalbum," das „Album berühmter Monologe," das „Koschat-
albnm," das „Oberländeralbum" u. f. w. in intmiwin. Alles ordnet sich in Reih
und Glied, dem allmächtigen Prinzip von der Arbeitsteilung entspricht das von
der Gennßteilnng. Hat etwa unter den hundert Kollektivum schon eine den Ge¬
danken gefaßt, ein „Sonatenalbum" herauszugeben? Und doch wäre es das erste,
das wahrhafte „musikalische Album." Es ist in allen Künsten so. Die „Spezia¬
lität" schwingt ihr trennendes Szepter bis in die fernsten Winkel hinein, der
„Humor," der „Realismus," der „Optimismus" und der „Pessimismus," alles
macht sich sein gesondertes Eckchen zurecht, meist ist es ein Schmollwinkel. In
der Malerei scheidet sich das „Helle" vom „Dunkeln" in unversöhnlicher Feindschaft,
als läge das Chaos eben hinter uns. Und in der Mitte steht der Mensch und
sehnt sich nach Licht und freiem Ausblick. Die Kunst aber führt ihn in eine dunkle
Stercoskopenbude, läßt ihn durch hundert Guckkasten sehen und spielt ihm auf aus
dem „Trauermarschalbum."
Eine bezeichnende Illustration zu dem Artikel über Bayreuth in
diesem Hefte bringt das Leipziger Tageblatt in einer Korrespondenz aus Bayreuth vom
31. Juli. Da erzählt ein Herr M. Krause, indem er über eine weihevolle Lißt-
feier berichtet, die zwar nicht öffentlich war, zu der aber jedermann Zutritt hatte:
„Die Bemühungen, eine würdige musikalische Totenfeier zu veranstalten, wurden
dnrch allerhand Mißstände gekreuzt, und in grellen Farben hebt sich vor allem ab,
daß das protestantische Konsistorium von Bayreuth »ans mehrfachen Gründen,« wie
es in dem offiziellen Schreiben an den Unterzeichneten heißt, die protestantische
Stadtkirche zu einer noch dazu nicht öffentlichen Feier versagte. Diese unerhörte
Thatsache sei hiermit der Oeffentlichkeit preisgegeben und zu gleicher Zeit mit¬
geteilt, daß die katholische Kirche von dem geistlichen Rat, Herrn Korzendorfer, mit
der größten Zuvorkommenheit und Liebenswürdigkeit überlassen, sowie auch die
Kirche durch Aufstellung des Katafalks der Seelenmesse würdig geschmückt wurde.
Jeder vorurteilslose Protestant wird solche Handlungsweise zu ehren wissen und
anerkennen, daß dieselbe edel und schön und hoch erhaben war über Zelotentum
und Muckerei." Es folgt dann ein Bericht über die Feier selbst, an der sich
nicht weniger als drei „geniale" Künstler beteiligten, der „geniale Orgelvirtuos"
Herr Bernhard Pfannstiehl, der „geniale Chordirektor" Professor Porges und der
„geniale Haur," und am Schlüsse heißt es: „Alle Freunde des Meisters werden
den trefflichen Künstlern dankbar sein, daß sie in so würdiger Weise das Andenken
des Meisters feierten. Dem katholischen Rat Herrn Korzendorfer aber gebührt
nochmals der Dank aller wahrhaft Gebildeten für die bereitwillige Ueberlassung der
Kirche zum Zwecke der kleinen Feier."
Was denkt sich wohl die musikalische Redaktion des Tageblattes der Universitäts¬
stadt Leipzig dabei, wenn sie derartigen Albernheiten Raum gewährt? Daß das
Bayreuther protestantische Konsistorium noch so viel gesundes Muckertum besitzt,
dieser Sippschaft die Thüren seiner Kirchen nicht aufzuthun, verdient nach unsrer
Meinung die größte Anerkennung. Die Gründe werden dem „wahrhaft gebildeten"
Herrn Krause freilich verschlossen bleiben; ob es aber klug von ihm war, den
Mangel seiner Intelligenz so der Oeffentlichkeit preiszugeben?
in eiuer Zeitschrift zu berichtigen, hat im allgemeinen nicht
viel Sinn. Der Leser, der das neue Heft empfängt, worin die Druckfehler¬
berichtigung steht, hat in den meisten Fällen das vorhergehende, worin der Fehler
stand, nicht mehr in den Händen, er kann also die betreffende Stelle gar nicht
wieder ansehen. Es geschieht auch mehr zur Beruhigung des Verfassers, wenn
wir einmal einen Druckfehler berichtigen. Zum Glück ist es in den Grenzboten
selten nötig, es kann nur durch eine ganz besondere Verkettung von Umständen
nötig werden. Ein solcher Fall liegt heute vor. Man denke: Das nachgelassene
Werk Kants, von dem die einen sagen, es enthalte unverständliches Geschreibsel
eines schwachsinnig gewordenen Alten, die andern, es enthalte tiefste, freilich
schwer verständliche Weisheit! Von diesem Werke eine popularisirende Um¬
schreibung Krauses! Von dieser Umschreibung ein noch weiterhin popularisi-
reuder Auszug Classens! Dieser Auszug in einer äußerst schwer leserlichen
Handschrift! Natürlich ist es unbedingt nötig, daß der Verfasser des Auszuges selbst
eine Korrektur lese, keine Druckerei, keine Zeitungsredaktion, und wäre sie die
weiseste, möchte die Drucklegung eines solchen Aufsatzes auf ihre Kappe nehmen.
Die Korrektur geht denn auch rechtzeitig an den Verfasser ab, sie kann auch gut
und gern zur rechten Zeit wieder da sein. Aber der Tag des Drückens kommt,
die Korrektur bleibt aus. Der Bogen wird zurückgestellt, alle andern werden
vorher gedruckt, die Korrektur muß ja kommen, sie kann mit jeder Post da sein.
Endlich wird es die höchste Zeit, der Druck kann nicht länger aufgeschoben werden,
wenn das Heft zur rechten Stunde fertig sein soll. Telegraphiren? Nützt nichts.
Das schafft die Korrektur nicht ins Haus. Bringt höchstens die Antwort: „Nicht
erhalten!" oder „Sende sofort" oder „Unterwegs!" Schnell einen andern Aufsatz
einstellen? Geht nicht. Es ist keiner genau von derselben Länge abgesetzt. Aber
man kann doch keinen Unsinn drucken. Hier und hier und hier steht ja Unsinn.
Im Manuskript steht aber genau dasselbe, wenigstens hat es der Setzer und der
Korrektor nicht anders gelesen, und der verzweiflungsvolle Redakteur kanns auch
^-uicht anders lesen. In drei Teufels Namen denn: drucken! — Vier, fünf Tage
darauf kommt harmlos, als ob gar nichts vorgefallen wäre, die Korrektur, und
nun sieht man die Bescherung. Da soll es S. 303 Z. 14 v. u. heißen:
„nicht aber drei" statt „nicht aber darin," S. 304 Z. 18 v. o.: Begrenzung
statt Bewegung, S. 305 Z. 7 v. o. „in die Fächer" statt „in die früheren,"
Z. 13 v. o. starr statt stark, Z. 20 v. o. Gegenspiel statt Gegenteil,
Z. 16 v. u. „einen verschiedenen Grad" statt „einen verschiedenen Grund," S. 308
Z. 5 v. u. „vorbedachten Wirkung" statt „vorgednchtcn Wirkung." Es ist ja
nach Lage der Sache ein wahres Wunder, daß nicht noch dreimal mehr Fehler
stehen geblieben sind, daß alles andere tadellos gedruckt ist. Aber ärgerlich
ist ja jeder Fehler für alle Beteiligten. Wir können also immer nur wieder
bitten, um was wir schon so oft gebeten haben: Schreibt deutlich! Vor allen
Dingen schreibt Namen und Zahlen deutlich! Alles andre kann man zur Not
erraten (wenn's nicht gerade in einem Aufsätze über Kants nachgelassenes Werk
ist), Namen und Zahlen kann niemand erraten.
Das preußische Staatsrecht auf Grundlage des deutschen Staatsrechts. Von Dr. Her¬
mann Schulze. Erster Band. Zweite Auflage. Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1838.
Von diesem bei seinem ersten Erscheinen mit allgemeinem Beifalle begrüßten
Werke, welches seiner Zeit auch in den Grenzboten anerkennende Besprechung faud,
liegt nunmehr der erste Band in der schon längst notwendig gewordenen und er¬
warteten zweiten Auflage vor, die unter Beibehaltung des Standpunktes des Werkes
im allgemeinen der neuesten Entwicklung der Gesetzgebung und Praxis entsprechend
umgearbeitet ist. Nach einer Einleitung, welche die allgemeinen Gesichtspunkte und
die Quellen vorführt, giebt der Verfasser im vorbereitenden Teile eine äußerst
genaue und wertvolle Uebersicht über die Entwicklung des brandenburgisch-preußischen
Staates von dessen ersten Anfängen bis zur Gegenwart, und eine Darstellung der
staatsrechtlichen Individualität des Staates der Gegenwart. Der systematische Teil
handelt vom Verfassungsrechte des preußischen Staates, und zwar vom Königtum,
von den Staatsämtern und Staatsdienern, von den Staatsbürgern, deren Rechten
und besondern Klassen, von den Körpern der Selbstverwaltung, sowie von der
Volksvertretung. Die Beilagen bringen uns die Verfassungsurkunde und die Ver¬
ordnungen über die Bildung beider Hänser des Landtags, eine Beschreibung des
mittlern preußischen Wappens und als etwas sehr erwünschtes einen übersichtlichen
Stammbaum des preußischen Königshauses. Die Vorzüge des Werkes sind zu
bekannt, als daß sie hier einer Darlegung im einzelnen bedürften. Es soll des¬
halb nur noch dem Wunsche Ausdruck gegeben werden, daß wir möglichst bald die
zweite Auflage des Werkes vollständig in den Händen haben möchten.
le Erhaltung des Bündnisses der nationalgesinnten Parteien zur
Unterstützung einer gleichdenkenden und gleichstrebenden Regierung
und die Verhütung neuen Zusammengehens des rechten Flügels
der Konservativen mit dem Zentrum ist zunächst für Preußen,
dann unzweifelhaft auch für ganz Deutschland eine Frage von
solcher Wichtigkeit, daß sie nicht oft genug besprochen werden kann. Wir be¬
trachten sie daher noch einmal, und zwar zuvörderst nach den letzten Vorgängen
auf diesem Gebiete.
Fürst Bismarck hat die Mittelpartei, zusammengesetzt aus den Natwnal-
liberalcn, den Freikonservativen und den gemäßigten Altkonscrvativen, die er sich
seit zehn Jahren zur abschließenden Verwirklichung seines Regierungssystems
wünschte, im vorigen Jahre für die Volksvertretung des Reiches zu stände
kommen sehen und hofft, daß sie auch für die des preußischen Staates zusammen¬
halte, weil nur sie ihm die Mehrheit verbürgt, deren er bedarf. Die hoch¬
kirchlichen Konservativen dagegen fahren fort, an der Auflösung des Bündnisses
mit den Nationalliberalen zu arbeiten und den Zcntmmsmänneru, den Ver¬
tretern der „teuern Schwcsterkirche," die Hand zur Wiedervereinigung entgegen¬
zustrecken. Die Mehrheit der Altkonscrvativen ist offenbar nicht geneigt, sich
dabei zu beteiligen. Für die Freikonservativen hat vor kurzem Herr von Kar-
dorff das Wort ergriffen, um Festhalten am Kartell mit den gemäßigten und
reichstrcuen Liberalen zu empfehlen, und da er einer von den Führern dieser
Gruppe ist, dürfen wir annehmen, daß er im wesentlichen deren Auffassung der
Lage ausspricht. Er hält das Zusammenwirken der konservativen Partei mit
den Nationalliberalen für möglich und natürlich, weil die frühern schroffen
Gegensätze, die sie trennten, nicht mehr bestehen, die einen keinen Umsturz der
Verfassung mehr erstreben, die andern sich von dem Hinarbeiten auf eine Re¬
gierung parlamentarischer Mehrheiten losgesagt und anerkannt haben, daß die
Kontrole der Verwaltung, wie sie Reichs- und Landtag ausüben, und daß das
konstitutionelle Recht der Bewilligung neuer Abgaben und der Zustimmung zu
neuen Gesetzen einer stabilen, nach den Überlieferungen der preußischen Herrscher
geführten Negierung gegenüber eine weit stärkere Bürgschaft für eine gesunde,
freiheitliche Entwicklung und die wünschenswerte politische Machtentfaltung des
Vaterlandes bietet, als diese ewig wechselnde Parteiregierung mit ihrer unaus¬
bleiblichen Korruption der regierenden wie der regierten Klassen. Er weist
ferner darauf hin, wie diese Annäherung in den Anschauungen in dem Kartell
vor den letzten Reichstagswahlen ihren Ausdruck fand, als es galt, der Welt
zu zeigen, daß die Nation nicht nur einmütig jeden Mann und jeden Groschen
zur Verteidigung ihrer Selbständigkeit und ihres Besitzes herzugeben bereit war,
sondern auch entschlossen, dem Auslande zu zeigen, daß es volles Vertrauen in
die Leitung seiner auswärtigen Politik setze, indem es die beantragte ungeheure
Verstärkung der Wehrkraft ohne Makeln annehme und jede Beschränkung der
Frist, für welche die Bewilligungen gelten sollten, ablehne. Dann schließt Kar-
dorff mit den Worten:
Die Versuche, die bestehende Bundesgenossenschaft zu lockern, bergen die
große Gefahr in sich, die Feindschaft zwischen den Parteileitungen wieder zu be¬
leben. Man sagt dabei in unglaublicher Kurzsichtigkeit, es handle sich ja nicht um
große nationale Interessen, nur um häusliche Zwistigkeiten Preußens. ... Als ob
im preußischen Abgeordnetenhause kleinliche Fraktionspolitik getrieben werden könnte,
ohne Einfluß auf das Verhalten der Parteien im Reichstage zu einander und zu
den Regierungen! Die gesamte reformirende Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte
ist auf Grund von Vereinbarungen der Regierungen einerseits und der gemäßigten
Liberalen und Konservativen anderseits erfolgt. Mir in wenigen Fällen halfen
die Klerikalen zur Annahme dieser Reformen,^ Die gemäßigten Liberalen in ganz
Deutschland sind zu ihrem besten Teile zu der Einsicht gelangt, daß die geschicht¬
liche Entwicklung der preußischen Monarchie in dem großen und kleinen Grund¬
besitze, in dem Handwerkerstande und in dem Bürgertume der östlichen Provinzen
eine andre Art konservativer Anschauungen hat entstehen lassen als im Westen und
Süden, wenn solche Anschauungen sich überhaupt hier bildeten, daß aber gleichwohl
in der Osthälfte Preußens der feste Kern liegt, der es Preußen ermöglicht hat,
seiner Aufgabe, Deutschland zu einigen und mit neuer Kraft zu erfüllen, gerecht
zu werden. Anderseits haben die norddeutschen Konservativen die Erfahrung machen
können, daß die spezifisch preußischen Ueberlieferungen unsrer Politik bei den libe¬
ralen, aber dabei national gesinnten Schichten des süddeutschen Volkes ein weit
eingehenderes Verständnis fanden als in den dort konservativ genannten Kreisen,
die entweder in den Banden eines Partikularismus mit sehr engem Gesichtskreise
oder in denen eines preußenfeindlichen Ultramontanismus verstrickt erschienen.
Wenn beide Parteien, die gemäßigten Konservativen und die gemäßigten Liberalen,
dazu jetzt noch die Bemerkung machen, daß denen, welchen die Erhaltung der
Staaten und des Reiches am Herzen liegt, in der Sozialdemokratie ein Gegner
erstanden ist, der mit seiner für die große Masse verführerischen Lehre immer
Weitere Schichten des Volkes zu umgarnen versteht, und wenn sie sich sagen müssen,
daß die Beendigung des Kulturkampfes noch keineswegs dazu geführt hat, das
Zentrum sein unerklärliches Wahlbündnis ^unerklärlich — für uns sehr erklärlich,
und zwar aus der alle Oppositionsparteien beseelenden und einigenden bittern Feind¬
schaft gegen das nationale Reich und seinen Schöpfers mit dem Freisinn und der
Sozialdemokratie, also mit den Elementen aufzugeben, die ihre politische Aufgabe
darin erblicken, dem bestehenden Regiments in Deutschland und Preußen möglichst
viel Schwierigkeiten zu bereiten — wenn also jene staatsfreundlichen und reichs-
treucn Parteien vor solchen Erfahrungen stehen, so ist es doch selbstverständlich,
daß sie, auf den Luxus der Fraktionspolitik verzichtend, sich auch bei den Land¬
tagswahlen den großen nationalen Gesichtspunkten unterordnen. . . . Sollten sie nicht
vermögen, den mächtig angefachten Fraktionspatriotismus Wichtiger Fraktionsparti-
kularismus^ einigermaßen zu dämpfen, so werden die Kartellparteien sich selbst die
Schuld beizumessen haben, wenn die in Bezug auf die Wahlagitation weit besser
geschulten Gegner, die Freisinnigen, das Zentrum und die Sozialdemokraten, als
Bundesgenossenschaft vereinigt, sich ihnen in Zukunft nicht bloß bei den Wahlen
für den Landtag, sondern auch bei denen für den Reichstag überlegen zeigen.
Nach dieser Kundgebung würde Herr von Kardorff, wenn er in Betreff
der nächsten Wahlen außer seiner eignen Partei auch die weiter rechts stehenden
Konservativen leiten könnte, die bisherige Verbindung mit den Nationalliberalen
zu erhalten streben. Bei den Freikonservativen wird ihm das ohne Zweifel
gelingen, zumal da diese in allen kirchlichen Fragen den Nationallibcralen sehr
nahe stehen, und da das Gleiche auch von dem Verhältnisse der beiden Gruppen
auf politischem Gebiete gilt, wenn nicht die Interessen der Großgrundbesitzer
unter den Freunden Kardorffs auf die Tagesordnung gebracht werden. Die
Kreuzzeitung ist natürlich nicht der Ansicht des Führers der Freikonservativen.
Für sie sind die Nationalliberalen eine Partei, mit der man nichts gemein haben
dürfe, und sie hat die Freude, weissagen zu können, daß diese Partei über kurz
oder lang dem Untergange verfallen müsse, indem sie von der Gefahr bedroht
sei, entweder durch eine Mehrheit, zusammengesetzt aus Alt- und aus Frei¬
konservativen oder, was dem Blatte lieber wäre, eine solche, die sich aus dem
alten schönen Bunde ihrer Anhängerschaft mit dem Zentrum bilden soll, „gänzlich
überflüssig zu werden." Was man wünscht, das pflegt man zu hoffen. Sonst
sehen wir unter den gegenwärtigen Umständen nichts, worauf diese Prophezeiung
fußen könnte. Ein sehr großer Teil der Altkonservativen denkt, wie früher ge¬
zeigt, im Gegensatz zu dem Winkel, aus dem ihnen die Hochkirchler der Kreuz¬
zeitung ihre Richtung vorschreiben möchten, ähnlich wie Kardorff, will also das
Kartell mit der Partei Bennigsens und Miqnels erhalten wissen, folglich keine
Mehrheit aus Konservativen aller Schattirungen, die jene Partei „gänzlich über¬
flüssig machen" würde. Auch zu einem Bunde mit dem Gefolge Windthorsts
ist der größere Teil der Altkonservativen nicht zu haben, und noch viel weniger
die freikonservative Partei. Aber die Herren von der Kreuzzeitung wissen, was
sie wissen. Vermutlich nehmen sie an, daß die Nationalliberalen, die ja 1866
aus der Fortschrittspartei hervorgegangen sind, sich jetzt in der Not und Angst
vor den Konservativen ihres Ursprungs erinnern und mit den demokratischen
Deutschfreisinnigen, in die sich die Fortschrittler umzutaufen für gut gefunden
haben, Wahlbündnisse schließen werden. Deutschfreisinnig ist ja eigentlich nur
eine Übersetzung von nationalliberal. Eine solche Wendung würde, so schließt
man weiter, die Nationalliberalen ganz sicher der Unterstützung berauben, die
ihnen der Kanzler sonst gewähren würde, und das ist das einzig Richtige an
der ganzen Betrachtung. Wenn es nur kein Wenn und kein Aber dabei gäbe.
Zu den wichtigeren Vorkommnissen der letzten Tage gehört der Besuch Bemngsens
in Friedrichsruhe, und wir dürfen wohl glauben, daß der 'Führer der National¬
liberalen als solcher und nicht als liebenswürdiger Privatmann zu dem Tus-
kulum des Kanzlers im Sachsenwalde gekommen ist und mehrere Tage dort
verweilt hat. Ob er aus eignem Antriebe oder, wie im Spätherbste 1877 nach
Varzin, auf Einladung Bismarcks hingegangen ist, wissen wir nicht, aber jeden¬
falls sind dort die Landtagswahlen, die Stellung der Partei Bennigsens zum
Kartell und zu den Fragen, die den Landtag beschäftigen werde», besprochen
worden; auch wäre unter den jetzigen Umständen nicht undenkbar, daß an Herrn
von Bennigsen wieder der Antrag ergangen wäre, der ihm einst in Varzin
gemacht wurde, aber vorzüglich an der Abneigung des Kaisers Wilhelm schei¬
terte.*) Die Zeiten haben sich inzwischen geändert. Wir haben seitdem das
Heidelberger Programm erlebt und die im ganzen darnach eingerichtete Stellung
der Nationalliberalen zur Negierung während der letzten Reichstagssession.
Bennigsen ist — allerdings von Kaiser Friedrich — durch Verleihung eines hohen
Ordens ausgezeichnet worden. Es ist also schwerlich zu befürchten, daß sich
jetzt Wiederholen wird, was sich nach der Varziner Begegnung begab, wir hoffen
vielmehr, daß eine Verständigung stattgefunden habe, und zwar eine solche, die
Dauer verheißt, da Bennigsen auf keinen Laster mehr Rücksicht zu nehmen hat
und die Partei durch den Abzug ihrer demokratischen Elemente in das Lager
der Deutschfreisinnigen gereinigt worden ist und der Fähigkeit zur Mitregierung
nahe gekommen zu sein scheint.
Daß der Kanzler eine Mehrheit, die auf einem Bündnisse der Konservativen,
wie die Kreuzzeitung sie sich wünscht, mit dem Zentrum beruhte, nicht brauchen,
jetzt und für eine absehbare Zukunft nicht brauchen kann, hat er wiederholt un¬
zweideutig erklären lassen. Es wurde mit dem staatsfeindlichen, jeder Autorität
(in der Septennatsfmge selbst der päpstlichen) den Gehorsam verweigernden, im
letzten Grunde unter der Maske katholisch-kirchlichen Eifers Partikularistischen
Charakter des Zentrums begründet. Wir dürfen aber wohl noch auf einen andern
Grund hinweisen, der 1875 bei einer Besprechung der Stellung der Hvchkirchlich-
Konservativen zum Kampfe mit Rom vom Kanzler geltend gemacht wurde und dem
der Abschluß des Friedens mit dem jetzigen versöhnlichen Papste seine Geltung
für eine vielleicht nahe Zukunft nicht genommen hat.
Es war im Herrenhause, wo der Freiherr von Maltzahn gesagt hatte:
Ich habe gegen das Schulcmfsichtsgesch, gegen die Maigesetze und gegen das
Zivilstandsgesetz gestimmt; ich habe gesagt, sie schädigen das einzige Bollwerk gegen
Rom, die evangelische Kirche, und darum konnte ich nicht dafür stimmen. Jetzt
geht nun die Staatsregierung einen andern Weg, einen solchen, wie ich ihn damals
gewünscht hätte. Sie geht dem Gegner direkt auf den Leib, läßt die evangelische
Kirche beiseite und trifft mir die katholische, was sie von Anfang an hätte thun
sollen. Die Enchklika des Papstes entbindet die Unterthanen in Bezug auf das
betreffende Gesetz des Gehorsams gegen die Obrigkeit; sie übertrifft an Ueberhebung
das Unfehlbarkeitsdogma, oder um mich richtiger auszudrücken, es sind die not¬
wendigen und unausbleiblichen Konsequenzen dieses Dogmas, welche der Fürst
Bismarck schon im Jahre 1870 vorausgesehen und vorausgesagt hat. Der Papst,
welcher diese Enchklika erließ, war nicht Pius der Nennte, welcher dem Könige
von Preußen so dankbar war für die Aufhebung des Planet und der Kontrole
zwischen Rom und den Bischöfen. Nein, meine Herren, es war der unfehlbare
Pius der Neunte, welcher durch dieses sein Rundschreiben den ersten Versuch auf
deutschem Grund und Boden machte, eine Eisenbahn für die Reise unsrer Regierung
nach Canossa anzulegen. ... Je konservativer jemand sein will, desto rascher und
entschiedener muß er hier auf die Seite der Staatsregierung treten, und ich will
auch bezeugen, daß in allen Kreisen, in welchen ich daheim Verkehre, ich keinen kon¬
servativen Mann kenne, der nicht mit einer wahren Entrüstung die Enchklika des
Papstes gelesen hat, und der nicht der Regierung Dank sagt für diese unverzüglich
erfolgte und entschiedene Antwort.
Darauf erhob sich der Fürst Bismarck zu einer Rede, in welcher er sagte:
Ich will ans das Sachliche der Gesetzvorlage, die uns beschäftigt, nicht ein¬
gehen, sondern das meinem Kollegen, dem Herrn Kultusminister, überlassen. Ich
werde überhaupt mehr in meiner Eigenschaft als Mitglied dieses Hanfes wie in
meiner Eigenschaft als Mitglied des Staatsministeriums das Wort ergreifen. In
beiden Eigenschaften aber kann ich mir nicht versagen, den Ausdruck herzlicher
Freude darüber laut werden zu lassen, daß ich endlich einmal von der konserva¬
tiven Seite dieses Hauses her ein freies, fröhliches Bekenntnis zu unserm Evan¬
gelium der Reformation vernommen habe. Wäre dieses Bekenntnis schon vor Jahren
mit derselben Bestimmtheit hier ausgesprochen worden, hätte dasselbe die Beschlüsse
dieses Hauses, seiner evangelischen konservativen Stützen, geleitet schon bei dem ersten
schmerzlichen Beginnen des Bruches zwischen den Konservativen und mir, bei Ge¬
legenheit des Schulaufsichtsgesetzes,") so wäre auch der Kampf mit der katholischen
konservativen Partei, auch selbst mit der katholischen Revolution nicht so heftig
geworden, wie er thatsächlich geworden ist, wenn mir damals die Evangelisch-
Konservativen im Sinne des Protestantischen Evangeliums zur Seite gestanden
hätten. . - - Dieses Bekenntnis zum Evangelium hat uns gefehlt. Ich danke dem
Herrn Vorredner, daß er demselben heute Ausdruck gegeben hat, er hat mir herz¬
liche Freude damit gemacht. Es ist das eine Brücke für mich, um alte Beziehungen,
die nicht Ä)ne schmerzliche Verletzungen für mich haben zerrissen werden müssen,
Wieder anzuknüpfen. Ich kann mich nicht mit jemand politisch befreunden, ihn
nicht als Bundesgenossen betrachten, der sein evangelisches Bekenntnis seiner Politik
unterordnet, für den es hier nur eine einzige Kirche, die Kirche, giebt. Gewiß,
wir haben eine allgemeine christliche Kirche, aber mit Rücksicht auf den Kampf,
um welchen es sich bei unserm Gesetzentwürfe handelt, ist es etwas sehr gefähr¬
liches, wie der Herr von Kleist-Retzow thut, nur von Einer Kirche zu sprechen,
wo in dem Gesetze von der evangelischen gar nicht die Rede ist. Für ihn ist
damit die eine Kirche die katholische — ich betone das ausdrücklich. Viele meiner
alten Freunde, die unbewußt, ich möchte sagen aus zorniger Unzufriedenheit mit
den weltlichen Dingen, handeln, kommen dahin, in krypto-katholisirender Richtung
alles, was unserm vorwiegend evangelischen Staate feindlich geworden oder ge¬
blieben ist, als Freund und Bundesgenossen zu betrachten — alles, was dem
Staate entgegensteht. . . . Wie ist denn die Kirche von der katholischen Seite zu
betrachten? Die katholische Kirche ist heutzutage der Papst und niemand weiter
als der Papst, und wenn Sie von den Rechten der katholischen Kirche sprechen,
so würden Sie sich zutreffender ausdrücken, wenn Sie sagten: die Rechte des
Papstes. Früher, vor dem Vatikanum, konnte man sich noch der Anschauung hin¬
geben, die bei der Herstellung der Verfassung vorgeschwebt hat, der nämlich, daß
man die Rechte, welche man der katholischen Kirche bewilligte, den katholischen
Preußen zugestehe. Jetzt liegt zu tage, daß dies ein Irrtum geworden ist. Wir
alle sind in der katholischen Dogmatik oder in der katholischen Instruktion soweit
vorgeschritten, um zu wissen, daß für die katholische Kirche die Gemeinde der
preußischen Staatsbürger, welche sich zur katholischen Konfession bekennen, nicht
existirt. Die Gemeinde ist allenfalls in jedem ihrer Glieder immer der Stein in
dem Pflaster, auf welchem der Priester steht, aber sie hat mit dem Hochbau der
Kirche keine Beziehung und keine Verbindung. Das ist ein himmelweiter Unter¬
schied von unsrer evangelischen Auffassung, allein wir konnten uns früher, vor dem
Vatikanum, mit der Idee schmeicheln, daß wenigstens sechs oder acht preußische
Unterthanen, die Bischöfe, für Preußen die Kirche vertreten, der wir Rechte ein¬
räumten. Seit dem Vatikanum aber hat sich der Papst an die Stelle aller Bischöfe
gesetzt. Es ist kein Zweifel, die Bischöfe sind jetzt nur noch Präfekten des Papstes;
er kann sich lokal an die Stelle eines jeden setzen, er kann einen jeden versetzen,
beziehentlich absetzen. Wir haben gefunden, daß die Bischöfe ihre als christliche
Wahrheit erkannte Ueberzeugung auf Befehl des Papstes bereitwillig geopfert
haben; sie haben gar nicht einmal das Recht, etwas andres zu denken als der
Papst. Ein Soldat hat doch das Recht, wenn ihm „halbrechts" befohlen wird,
bei sich zu denken: Das ist ein thörichter Befehl. Der Bischof darf dies nicht
einmal.
Tags darauf ergänzte der Kanzler diese Erklärung im Abgeordnetenhause
durch eine Rede, in der er u. a. sagte:
Seit dieser Umwälzung, dieser Verwandlung der Episkopalkirche in die ab¬
solute Herrschaft des Papstes, hat sich bei uns ein Staat im Staate gebildet, an
dessen Spitze der Papst mit autokratischen Rechten steht. . . . Dieser Monarch ge¬
bietet außerdem bei uns über eine geschlossene Partei, die nach seinem Willen wählt
und abstimmt, welcher durch die von ihm abhängigen, nie anders als er zu denken
berechtigten Priester kundgegeben wird. Er ist mit seiner offiziösen Presse, mit
dem Netze von Kongregationen, mit dem er das Land überspannt hat, imstande,
mächtiger als irgend ein Inländer auf unsre Verhältnisse einzuwirken, und er ist
ein Ausländer und hat ein Programm, welches dem des Staates schurstracks wider¬
spricht, und nach welchem der Papst, wenn er bei uns zur vollen Herrschaft ge¬
langte, die Pflicht haben würde, mit der Mehrheit der Preußen, den evangelischen,
vollständig aufzuräumen.
Ich kann mich nicht mit jemand politisch befreunden, ihn nicht als Bundes¬
genossen betrachten, der sein evangelisches Bekenntnis seiner Politik unterordnet,
für den es hier nur eine einzige Kirche giebt. — Viele meiner alten Freunde kommen
dahin, in krypto-katholisirender Richtung alles, was unserm vorwiegend evan¬
gelischen Staate feindlich geworden oder geblieben ist, als Freund und Bundes¬
genossen zu betrachten. — Endlich, wie Bismarck in der teilweise zitirtcn Herren¬
hausrede über Kleist-Retzow sagte: Wenn jemand die Institutionen der katho¬
lischen Kirche kennt, wie ich sie schildere, und die katholische von seinem evan¬
gelischen Standpunkte aus in dem Kampfe Preußens mit ihr immer noch als
„die Kirche" vertritt, so sagt er sich, soweit er das thut, von seiner Treue gegen
König und Vaterland los.
Die Gefolgschaft der Kreuzzeitung möge sich diese Worte Vismarcks noch¬
mals gesagt sein lassen, ehe sie, ihrem Blatte gehorsam, sich anschickt, nach dem
Lager Windthorsts abzuschwenken.
ach mehr als dreizehnjähriger Arbeit hat die zur Ausarbeitung
eines bürgerlichen Gesetzbuches berufene Kommission ihr in erster
Lesung vollendetes Werk dem Reichskanzler überreicht. Es besteht
aus einem Gesetzentwürfe, der 2164 Paragraphen umfaßt. Be¬
gleitet ist er von Motiven in fünf starken Bänden. Der Entwurf
eines Einführungsgesetzes steht noch in Aussicht.
Das Gesetzbuch nebst Motiven ist veröffentlicht und der allgemeinen Be¬
urteilung anheimgegeben worden. Eine Besprechung desselben in seinen Einzel¬
heiten ist hier nicht beabsichtigt. Eine solche würde für das nichtjuristische
Publikum in den meisten Punkten unverständlich sein. Wohl aber dürfte auch
der Laie an der allgemeinen Sachlage, wenn sie ihm zum Verständnis gebracht
Wird, Interesse nehmen. Handelt es sich doch um eine für unser ganzes Volk
hochwichtige Angelegenheit. Aus diesem Gesichtspunkte ist der gegenwärtige
Aufsatz geschrieben worden.
Seit dem Ende des Mittelalters ist in Deutschland das römische Recht
eingeführt. Im zwölften Jahrhundert waren in Italien die Rechtsbücher
Justinians wieder aufgefunden und zum Gegenstande eifrigen Studiums gemacht
worden. Von dort verbreitete sich der Ruhm des römischen Rechtes auch nach
Deutschland. Viele Deutsche zogen nach Bologna, um dort römisches Recht
zu studiren. Auch auf die damals neu entstehenden deutschen Universitäten
wurden Lehrstühle des römischen Rechtes verpflanzt. So gelangte dieses auch
in Deutschland zur Geltung, nicht durch einen Akt der Gesetzgebung, sondern
durch die gemeinsame Überzeugung von einer inneren Notwendigkeit.
Es ist ein alter Streit, ob in dieser Aufnahme des römischen Rechtes für
Deutschland ein Glück oder ein Unglück gelegen habe. Thatsache ist, daß man
bis zu der Zeit, wo diese Aufnahme erfolgte, in Deutschland nicht vermocht
hatte, ein Recht auszubilden, das nur annähernd an innerer Vollendung dem
römischen Rechte gleichgekommen wäre. Nur aus diesem Notstände, nicht aus
dem mystischen Gedanken von der Fortsetzung des römischen Reiches in dem
Reiche deutscher Nation ist es zu erklären, daß das römische Recht trotz viel¬
fachen Widerstandes, der sich im Volke dagegen regte, die Herrschaft gewann.
Dieser Widerstand war nicht ohne Berechtigung. Blindlings wollten die
Oootoi'68 ^'uris ihr römisches Recht auf die deutschen Verhältnisse anwenden,
auch wo in diesen mit den römischen Satzungen unvereinbare Rechtsgedanken
lebendig waren. Nur mit Mühe vermochte eine gewisse Reaktion dagegen aus¬
zukommen. In manchen Ländern machten die Landesherren Gebrauch von ihrer
heranwachsenden Verordnungsgewalt, um durch Landesordnungen wenigstens
einen Teil deutscher Rechtsinstitute dem römischen Andrange gegenüber zu
retten. Auch in der Rechtswissenschaft wurde es nach und nach in gleicher
Richtung lebendig. Es entstand die Lehre des sogenannten deutschen Privat¬
rechts, welche eine Anzahl Rechtsinstitute umfaßte, in denen nach gemeinsamer
Rechtsüberzeugung das deutsche Recht dem römischen gegenüber die Herrschaft
bewahrt oder wiedergewonnen hatte. Auch noch in den nachfolgenden Jahrhun¬
derten griffen die Landesgesetzgebnng.er vielfach ordnend und verbessernd in die
Rechtslehren ein. So bildete sich in den deutschen Ländern das sogenannte gemeine
Recht aus. Seine Grundlage ist das römische Recht, das formell unsre gesamte
Rechtsbildung beherrscht. Durchbrochen aber ist dieses vielfach durch deutsche
Rechtsgedanken, die teils in der allgemeinen Rechtsüberzeugung wurzeln, teils
in einzelnen Landesgesetzen ihren Ausdruck gesunden haben.
Als nach langen Jahren des Unheils und der Not seit dem Ende des sieb¬
zehnten Jahrhunderts wieder geistiges Leben in Deutschland erwachte, regte sich
auch der Gedanke, ob nicht die Herrschaft eines fremden, in fremder Sprache
geschriebenen Rechtes durch die Schaffung einheimischer Gesetzbücher gebrochen
Werden könne. Man nennt solche Gesetzbücher, die nicht bloß einzelne Rechts-
lehrer, sondern das Recht in seiner Gesamtheit umfassen sollen, Kodifikationen.
Der Gedanke, eine solche Kodifikation zu schaffen, trat zunächst in Preußen und
dann auch in Österreich auf, ward aber in Preußen unter der Regierung Friedrichs
des Großen eifriger gefördert. Es ist charakteristisch, welche Anschauung dieser
hochragende Geist von dem hatte, was sich mittels eines solchen Gesetzbuches
erreichen lasse. „Wenn ich meinen Endzweck erlange — schrieb er im Jahre
1780 —, so werden freilich viele Rechtsgelehrten bei der Simplifikation der
Sache ihr geheimnisvolles Ansehen verlieren, um ihren ganzen Subtilitätenkram
gebracht und das ganze Korps der bisherigen Advokaten unnütz werden."
Anderseits aber glaubte er, daß, um dieses Ziel zu erreichen, verhältnismäßig
geringe Mittel nötig seien. Als im März 1785 ihm ein Teil des von Svarez
entworfenen Gesetzbuches vorgelegt wurde, schrieb er darauf: „Es ist aber Sehr
Dicke und gesetze müssen kurtz und nicht Weitläuftig seindt." Er meinte also,
mit einem Gesetzbuch von mäßigem Umfange ließe sich alles so ordnen, daß
das Recht für jedermann leicht verständlich sei und Prozesse nicht mehr vor¬
kommen würden. Die Männer, die an dem Gesetzbuche arbeiteten, waren nicht
ganz dieser Meinung. Zwar glaubten auch sie, ein Recht schaffen zu können,
das für jedermann verständlich sein würde und das der Richter ohne viel
Nachdenken anwenden könne. Sie hielten dazu aber eine große Anzahl bis ins
einzelne gehender Vorschriften für notwendig. So entstand das preußische
Landrecht mit seinen etwa 19 000 Paragraphen. Es trat am I.Juni 1794
in Kraft — ein damals vielbewundertes und hochgepriesenes Werk.
In Frankreich hatte die Revolution so unendlich vieles geändert, daß, als
auf den Trümmern des alten Rechtszustandes Napoleon zur Herrschaft gelangte,
er das Bedürfnis empfand, auch durch ein neues Zivilgesetzbuch seine Herrschaft
zu befestigen. So entstand unter seinen Auspizien der Qoäs vivit, ein flüch¬
tiges Machwerk, wenn auch mit dem den Franzosen eigentümlichen Geschick
bearbeitet. Er wurde nicht allein in ganz Frankreich, einschließlich der mit
demselben vereinigten Rheinlande, Gesetz, sondern er wurde auch in das Herz
Deutschlands hineingetragen, indem er im Königreich Westfalen eingeführt
wurde. Wie wenig er aber hier in das Blut des Volkes drang, dafür mag
folgende Thatsache zeugen. Der Code weiß nichts von einem Gutsansatzver-
trage. Trotzdem wurden während der westfälischen Herrschaft von den hessischen
Bauern Gutsansatzverträge nach wie vor abgeschlossen, als ob es keinen Code
in der Welt gäbe.
Während dieser Periode kam endlich auch (1812) in Österreich das „all¬
gemeine bürgerliche Gesetzbuch" zu stände. „In der ganzen Form und Anlage
ist das Werk einem etwas ausführlichen Jnstitutionenkompendium sehr ähnlich"
(Savigny).
Als die französische Herrschaft in Deutschland gestürzt war, wußten die
Rheinland? ihr französisches Recht, das die rheinischen Juristen auch heute noch
wie einen Fetisch verehren und das allerdings von manchen Schwächen des da¬
maligen altländischen Rechtes frei war, sich zu erhalten. Auch Baden behielt
die unter dem Namen „Badisches Landrecht" veröffentlichte Bearbeitung des Code
bei. Die altpreußischen Provinzen hatten ihr Landrecht, das auch in den neuen Er¬
werbungen Preußens, mit Ausnahme der Rheinlande, eingeführt wurde. Österreich
hatte sein Gesetzbuch. In den übrigen deutschen Landen (in welchen der Code, wo er
gegolten hatte, wieder beseitigt wurde) galt gemeines Recht. Bei dieser Sach¬
lage regte im Jahre 1814 Professor Thibaut in Heidelberg den Gedanken an,
ein gemeinsames Gesetzbuch für ganz Deutschland zu schaffen. Er vertrat sein
Streben mit großer Wärme und erfreute sich lebhafter Zustimmung in den
Kreisen der Vaterlandsfreunde. Ihm trat damals Savigny in seiner bekannten
Schrift „Vom Berufe unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft"
entgegen. Savigny erachtete die Zeit nicht für reif zu einer Kodifikation. Er
verlangte vor allem erst größere Vertiefung der Rechtswissenschaft auf dem Wege
historischer Forschung.
Es mag sein, daß in diesem bedeutungsvollen geistigen Kampfe Savigny
nicht bloß deßhalb den Erfolg für sich hatte, weil man seine juristischen Be¬
denken für überwiegend hielt, sondern auch deshalb, weil bereits die traurige
Periode begonnen hatte, die jedem Streben des deutschen Volkes nach einheit¬
lichen Institutionen sich feindlich erwies. Auch läßt sich mit vollem Rechte
bezweifeln, ob die historische Rechtsschule, wie sie aus Savignys Bestrebungen
hervorgegangen ist, wesentlich zur Verbesserung der deutschen Rechtszustände
beigetragen hat. Aber man kann doch wohl heute die Frage stellen: Wäre
denn, wenn man damals nach Thibauts Rat ein Gesetzbuch geschaffen Hütte,
daraus ein guter Rechtszustand für Deutschland hervorgegangen? Schwerlich
dürften Urteilsfähige den Mut haben, diese Frage zu bejahen.
Savigny war damals schon in der Lage, auf die Mißerfolge der be¬
stehenden drei Kodifikationen hinzuweisen. Der Code und das österreichische
Gesetzbuch sind Werke, die jeder wissenschaftlichen Tiefe entbehren. Aber auch
das preußische Landrecht, auf das so viel Geist und pflichttreue Arbeit ver¬
wendet worden war, hatte, wie man schon damals nach zwanzigjährigen Bestände
deutlich erkannte, nicht den gehofften Erfolg. Bereits im Jahre 1817 wurde
in Preußen ein „Revisionsminister" ernannt, der sich mit der Revision der
großen Gesetzbücher des vorigen Jahrhunderts befassen sollte. Diese Stelle hat
mit Unterbrechungen bis zum Jahre 1843 fortbestanden. Im Jahre 1842
wurde Savigny selbst Revisiousminister. Sein damaliges Ministerprogramm,
das erst seit kurzem öffentlich bekannt geworden ist,*) begann mit folgender
charakteristischen Schilderung: „Nachdem vor etwa fünfzig Jahren unsre neue
allgemeine Gesetzgebung eingeführt war, erhielt sich geraume Zeit hindurch die
Meinung, daß der durch sie begründete Rechtszustand nichts zu wünschen übrig
lasse. Allmählich aber machten sich große Mängel fühlbar. Der wichtigste
unter jenen Mängeln bestand in einer gänzlich fehlgeschlagenen Erwartung.
Der wünschenswerte Zustand der Rechtspflege zeigt sich in dem wissenschaft¬
lichen Geiste, welchen die Richter in ihr Geschäft legen und wodurch sie ihren
Beruf heben und veredeln. Auch wurde die Beförderung eines solchen Geistes
als Folge der neuen Gesetzgebung mit Sicherheit erwartet; es zeigte sich aber
gerade der entgegengesetzte Erfolg, ein stets zunehmender Mechanismus des
Geschäftsbetriebes." An späterer Stelle wird dann noch weiter gesagt: „Das
Landrecht erschien zunächst als ein durchaus heilsames, wohlthätiges Werk, indem
es durch die deutsche Sprache, durch seine Popularität und durch mäßigen Umfang
auch dem Laien zugänglich war, welchem bisher die Rechtswissenschaft mit ihren
lateinischen Gesetzbüchern von großem Umfange ein unheimliches Grauen erweckt
hatte. Es blieb dabei fast unbemerkt, daß der große Zusammenhang mit der
allgemeinen Rechtswissenschaft mit einemmale zerstört war. Zwar hoffte man
auf die Entstehung einer neuen, einheimischen Rechtswissenschaft, allein diese
blieb gänzlich aus, und in Ermangelung derselben mußte unvermeidlich die buch¬
stäbliche, oft sehr zufällige und willkürliche Benutzung einzelner Sätze des
Landrechts eintreten, ganz gegen den Sinn und die Absicht des Gesetzgebers.
Es ist nicht zu bezweifeln, daß auch jetzt die bessern Richter mit Erfolg in den
Geist des Gesetzes einzudringen suchten, aber es fehlte ihrem Bestreben an der
Läuterung und Vereinigung, die nur aus einer fortschreitenden wissenschaftlichen
Litteratur hervorgehen kann. In dieser Beziehung muß man dem Landrecht
einen großen Einfluß auf den zunehmenden mechanischen Betrieb des Richter¬
geschäfts zuschreiben. Sehr bezeichnend ist das Urteil, welches ein preußischer
Staatsminister gleich nach der Einführung unsrer allgemeinen Gesetzgebung aus¬
gesprochen haben soll: »Das Landrecht ist eine schöne Blume, die vom Stock
abgeschnitten und in ein Glas Wasser gestellt worden ist.«"
Mag man immerhin die eigne Befähigung Savignys für Gesetzgebung
deshalb bezweifeln, weil er aus seiner sechsjährigen Thätigkeit als Nevisions-
minister keine Erfolge aufzuweisen hatte, so ist doch undenkbar, daß er sich über
die Wirksamkeit des Landrechts in dieser Weise ausgesprochen haben würde,
wenn sein Ausspruch nicht eine weit verbreitete Überzeugung für sich gehabt hätte.
Um dieselbe Zeit regte sich nun aber in Deutschland das Bedürfnis nach
einheitlichen Rechtsinstitutionen in gewisser Richtung so stark, daß die Regie¬
rungen nicht umhin konnten, etwas zu thun. Noch vor dem Jahre 1843 ward
eine gemeinsame Wechselordnung vereinbart und in den meisten deutschen Ländern
als Gesetz verkündigt. In den fünfziger Jahren wurde ein gemeinsames deutsches
Handelsrecht geschaffen. Beide Werke kann man als wohlgelungen bezeichnen.
Sie haben durch die Wissenschaft eine günstige Ausbildung erfahren und für
das praktische Bedürfnis sich wohlthätig erwiesen. Beide sind aber auch keine
Kodifikationen. Die Wechselordnung umfaßt ein einzelnes Rechtsinstitut, das
zufolge des im Wechsel vorherrschenden formalen Elements sich vorzugsweise
zur Ordnung durch positives Gesetz eignet. Auch das Handelsgesetzbuch, obwohl
es ein weit umfassenderes Gesetz ist, lehnt doch durch Artikel 1, worin es heißt,
daß in Handelssachen neben den Bestimmungen dieses Gesetzbuches die Handels¬
gebräuche und das allgemeine bürgerliche Recht Anwendung finden sollen, den
Charakter einer Kodifikation bestimmt ab. Betrachten wir heute Entscheidungen
aus dem Gebiete des Handelsrechts, so werden wir finden, daß in solchen das
gemeine Recht kaum eine geringere Rolle spielt als die Bestimmungen des
Handelsgesetzbuches.
Aber auch der Gedanke an Kodifikation des gesamten Zivilrechts trat wieder
auf, zunächst nur als ein Ziel für die Gesetzgebung der Einzelstaaten. In
Sachsen, Baiern und Hessen-Darmstadt wurden Entwürfe zu Zivilgesetzbüchern
ausgearbeitet, die mehr oder minder weit gediehen und auch an die Öffentlichkeit
gelangten. Dann aber wurde im Jahre 1861 von einer Anzahl deutscher
Staaten — Preußen beteiligte sich nicht dabei — eine Kommission zu Dresden
niedergesetzt, die ein gemeinsames deutsches Obligationenrecht schaffen sollte. Von
allen diesen Entwürfen ist nur ein einziger Gesetz geworden. Für das König¬
reich Sachsen ist im Jahre 1865 ein vollständiges Zivilgesetzbuch ins Leben
getreten. Über die Wirksamkeit desselben ist außerhalb Sachsens wenig bekannt
geworden, da namentlich auch die sächsische Regierung dadurch, daß sie für
Sachsen nur ein einziges Oberlandesgericht schuf, ihrem Lande für die auf das
Zivilgesetzbuch sich gründende Rechtsprechung die Immunität von der Revisions¬
instanz des Reichsgerichts zu bewahren gewußt hat. Die thüringischen und
anhaltischen Staaten, die an der Beratung des sächsischen Zivilgesetzbuches teil¬
genommen hatten, haben es bei sich nicht eingeführt.
Als nach dem großen Umschwunge der deutschen Verhältnisse der nord¬
deutsche Bund geschaffen wurde, gehörte es zu den Wünschen der national¬
gesinnten Parteien, daß die Zuständigkeit des Bundes auf die Gesetzgebung für
das gesamte Zivilrecht ausgedehnt werden möge. Da diese Ausdehnung nicht
gleich zu stände kam, so ging die Frage auf das deutsche Reich über und bildete
noch zu Anfang der siebziger Jahre den Gegenstand wiederholter Verhandlungen
im Reichstage. Niemals ist bei diesen Verhandlungen die Frage zum Austrag
gekommen, ob diese Ausdehnung der Zuständigkeit darauf abziele, daß mit Einzel¬
gesetzen vorgegangen werde oder daß eine Kodifikation geschaffen werden solle.
Nur einzelne Redner sprachen sich gelegentlich darüber aus, wie sie sich die
Sache dachten. Die weitaus überwiegende Zahl derselben erklärte sich dahin,
daß sie nur ein Vorgehen mit Einzelgesetzen im Auge hätten. So z. B. sagte
am 30. März 1867 der Abgeordnete von Gerber (jetzt sächsischer Kultusminister):
„Ich glaube, die einzelnen Gebiete des Rechts liegen verschieden; ich würde gar
kein Bedenken haben, in Bezug auf den Prozeß und das Strafrecht sofort zu
einer Gesamtkodifikation zu schreiten. Was dagegen das Privatrecht betrifft,
so würde ich etwas derartiges durchaus nicht befürworten, sondern ich glaube,
wir müssen uns hier in die Lage eines Mannes versetzen, der einen Kultur¬
plan — möchte ich mich ausdrücken — wie für einen Forst entwirft. Bei
einem so großen Rechtsgebiete, wie es Deutschland ist, können wir nicht auf
einmal durch eine doktrinäre Kodifikation alle hierbei denkbaren Interessen wahren
und decken. Ich glaube, wenn man morgen eine Kommission niedersetzte mit
dem Auftrage, eine Gesamtkodifikation des deutschen Privatrechts zu machen,
sie würde ein Werk liefern, bei dem man uns höchst wahrscheinlich zwingen
müßte, darin einen Ausdruck des wirklichen deutschen Rechts zu verehren. Ich
meine, man müsse stückweise vorschreiten. Überall wo im Privatrecht bei einem
einzelnen Gebiete des wirtschaftlichen oder des gesellschaftlichen Lebens oder
sonstiger auf das Privatrecht wirkenden Interessen das Bedürfnis auftritt, etwas
Gemeinsames zu schaffen, da sollte unsre Bundesgewalt vorschreiten. So kommen
wir allmählich auf einem äußerst naturgemäßen Wege zu einem einheitlichen
Rechte, und unsre deutsche Jurisprudenz ist in der Lage, stückweise den Boden
zu ebnen und stückweise das Material vorzubereiten." In gleichem Sinne sprach
sich bei den spätern Verhandlungen die Mehrzahl der Redner aus; und selbst
diejenigen, welche die Schaffung eines allgemeinen Zivilgesetzbuches nicht ganz
ablehnten, wollten diese doch einer fernern Zukunft vorbehalten haben.
Es war daher höchst überraschend (wenigstens für alle die, welche nicht
schon insgeheim in den Plan der Regierungen eingeweiht waren), daß bei der
erneuerten Verhandlung am 2. April 1873 gleich eingangs Präsident Delbrück
erklärte: „Die Schwierigkeiten, welche bisher einer Ausdehnung der Zuständig¬
keit des Reiches entgegenstanden, sind nun im Bundesrate überwunden. Gleich¬
zeitig mit Verkündung der Verfassungsveränderung beabsichtigen die Regierungen,
eine Kommission zur Ausarbeitung eines bürgerlichen Gesetzbuches zu berufen,
indem sie davon ausgehen, daß die Einheit des bürgerlichen Rechtes das wesent¬
lichste Ziel des vorliegenden Antrages sei." Bei der sich anschließenden Be¬
ratung war nun von der Frage, ob Einzelgesetzgebung oder Kodifikation, gar
nicht weiter die Rede; sie bewegte sich bloß in politischem Gezänk. Nur der
Abgeordnete Laster erklärte als Antragsteller am Schlüsse, auch die Schritte
zur Herstellung eines Zivilgesetzbuches „aufs freudigste zu acceptiren." Jedoch
solle damit, wie er ausdrücklich betonte, auf das einstweilige Vorschreiten auf dem
Wege der Einzelgesetzgebung nicht verzichtet sein. „Man soll uns auch nicht
einmal eine Konnivenz durch Stillschweigen in Zukunft vorwerfen können."
Schon früher (am 29. Mai 1872) hatte Laster auf die Notwendigkeit eines
Vorschreitens mit Einzelgesetzen hingewiesen, „da wir von einem Gesetzbuche
kaum vor fünf Jahren den letzten Abschluß würden erhalten können." So eilig
hatte man es damals mit einer einheitlichen Zivilgesetzgebung.
Das Gesetz wegen Ausdehnung der Reichszuständigkeit wurde am 20. De¬
zember 1873 erlassen. Die Kommission zur Ausarbeitung eines Zivilgesetzbuches
wurde berufen, und zwar nach streng föderalistischen Grundsatze. Jeder größere
Staat war mindestens durch ein Mitglied darin vertreten. Anscheinend wurden
nach gleichem Grundsatze auch die Arbeiten darin verteilt. Von einem Vor-
schreiten mit Einzelgesetzen war nun nicht weiter die Rede. Das Wort Lasters
blieb völlig uncingelöst. Der Reichstag (und vielleicht auch der Bundesrat)
mochte im Stillen herzlich froh sein, der moralischen Verpflichtung, von dem so
dringend begehrten Zuständigkcitsgesctze auch Gebrauch zu machen, durch Ein¬
setzung der Kommission sich vorläufig überhoben erachten zu können. Denn
unsern Politikern sind alle Justizgesetze, wenn sie nicht einen politischen Bei¬
geschmack haben, im Grunde ihrer Seele ein Greuel. Die Kosten der eingesetzten
Kommission figurirten alljährlich auf dem Etat. Aber von den Arbeiten der¬
selben erfuhr man nichts. Sie wurden streng geheim gehalten.
Endlich im Jahre 1888 ist der Entwurf im ersten Abschluß — unter
merklicher Überschreitung der von Laster für den letzten Abschluß als nötig
vorausgesagten fünf Jahre — ans Licht getreten. Wie er seine weitern
Stadien — die zweite Lesung, die Beschlußfassung des Bundesrates und des
Reichstages — durchlaufen soll, ist eine Frage, die hier dahingestellt bleiben
mag. Es ist kaum zu denken, daß der Entwurf innerhalb absehbarer Zeit
Gesetz werden könnte, wenn nicht die Faktoren unsrer Gesetzgebung auf eine
sachliche Mitwirkung bei demselben zum wesentlichsten Teile verzichten sollten.
Umsomehr ist anzunehmen, daß der Entwurf, so wie er gegenwärtig vorliegt,
im wesentlichen unverändert erhalten bleiben wird, und wir können daher schon
jetzt die Frage stellen: Welchen Einfluß wird er auf das Rechtsleben des
deutschen Volkes üben?
Wenn manche heute noch den Glauben haben (den ja auch der große
Friedrich hegte), daß, sobald man nur ein deutsches Gesetzbuch schaffe, damit
dem Volke das Recht unmittelbar verständlich sein werde, so können sie sich
darüber, daß dies eine Täuschung ist, aus dem vorliegenden EntWurfe genügend
belehren. Ich bin persönlich der Ansicht, daß ein Gesetzbuch, welches den fein¬
gegliederten Organismus des Zivilrechts unserm Volke zur unmittelbaren An¬
schauung brächte, überhaupt nicht geschaffen werden kann. Jedenfalls aber ist
der vorliegende Entwurf nach seiner ganzen Sprachweise nicht dazu geeignet.
Es ist ja möglich, daß über die eine oder andre einfache Frage auch der ge¬
bildete Laie sich daraus unterrichten kann. Im großen und ganzen aber wird
das Recht des Entwurfes dem Laien gerade so unverständlich bleiben, wie das
des ^jures. Wer sich davon überzeugen will, braucht bloß einige Blätter
des Entwurfs zu lesen.
Eine weitere Täuschung würde es sein, wenn jemand glauben wollte, daß
durch den Entwurf, wenn er Gesetz würde, eine größere Sicherheit des Rechts
eintreten und deshalb die Prozesse sich vermindern würden. Manche Streit¬
fragen, die zur Zeit im Rechte bestehe», würden allerdings durch das Gesetz
entschieden sein. Es würden aber noch weit mehr Streitfragen neu entstehen
dadurch, daß überall die Rechtsgedanken unter die Herrschaft neuer Wortformeln
gestellt werden. Als Beispiel kann uns der Zivilprozeß dienen. Die Zivil¬
prozeßordnung ist ein mit großer Sorgfalt abgefaßtes Gesetz. Seitdem sie aber
in Übung ist, wimmelt es in unsrer Rechtsprechung von streitigen Prozeßfragcn.
Es bleibt hiernach nur noch die Frage: Wie wird der Entwurf, wenn er
Gesetz geworden ist, auf die Rechtsprechung wirken? Wird er ihr einen neuen,
bessern Geist einflößen? Oder wird er uns wenigstens das Gute, das wir
besitzen, erhalten? Ohne auf die juristischen Einzelheiten des Entwurfes ein¬
zugehen, will ich die Frage hier nur aus einem allgemeinen Gesichtspunkte be¬
sprechen. (Schluß folgt.)
och ein Unwesen mag geschildert werden, das mit dem Spezialistcn-
tume zusammenhängt. Hat sich jemand auf einem gewerblichen
Gebiete zum Großindustriellen emporgearbeitet, so ist er bestrebt,
es zu beherrschen und fremden Wettbewerb zu erdrücken. Genau
das Gleiche bietet nicht selten die Wissenschaft: der Großindustrielle
ist hier die Autorität. Im weitesten Umfange sucht sie Geltung zu gewinnen; ist
sie z. B. Autorität in Kaiserurkunden, so gälte sie auch gern dafür in Papst¬
urkunden, gern im ganzen Umkreise des betreffenden Faches, sie wünscht das Fach
zu monopolisiren. Da dies unmittelbar nicht möglich ist, so wird es mittel¬
bar besorgt. Die Bücher müssen womöglich mit der Formel auotors, oura,
„unter Leitung" u. s. w. als Geleitsstempel der Autorität versehen sein, oder
sie sollen ihr gewidmet sein oder doch wenigstens ihren Namen in der Ein¬
leitung enthalten. Wenn der Genannte nun wirklich Leiter, Mitarbeiter oder
dergleichen ist, so verzeichnet ihn ja das Buch mit Recht; aber von Selbstthätig¬
keit der Autorität findet sich bisweilen nichts oder doch fast nichts, und
so läuft das Ganze auf wissenschaftlichen Frondienst des Jüngeren zu Nutz
und Frommen beider hinaus. Die Autorität vermehrt sachlich ihren Ruhm,
persönlich ihren Anhang und setzt die Reklame in Bewegung, der Jüngere ge¬
winnt die Gunst des Mächtigen und mit ihr über kurz oder lang ein Ämtchen.
Wagt jemand außerhalb des Ringes zu arbeiten, so kann er sicher sein, daß
dieser ihn ebenso behandelt und ebenso niederzuschlagen sucht, wie der Gro߬
industrielle seinen Konkurrenten. Man sieht, wie jedes Geschäft seine Technik
erzeugt: Zuckerbäcker und Bücherschreiben.
Bedroht der Spezialismus zunächst den Forscher, so gilt die Gefahr
des vorgefaßten Standpunktes mehr dem Darsteller. Wir meinen, daß jemand
die Geschichte in bestimmter Weise auffaßt, sie in gewisser Art beleuchtet und
färbt. Die „schönen Geister" des vorigen Jahrhunderts schrieben vom Stand¬
punkte der Aufklärung, Rotteck von dem der Freiheit, Janssen von dem des Ka¬
tholizismus, Treitschke von dem des evangelisch-preußischen Staates, Dahlmann
mehrfach von dem der konstitutionellen Rechtschaffenheit, und so weiter. Als
höchster und reinster erscheint wohl der der Sittlichkeit, und doch birgt er die¬
selben Unzulänglichkeiten wie die andern.
Betrachten wir ihn näher. Zunächst ist Sittlichkeit kein absoluter, sondern
ein historischer und sozialer Begriff. Wohl kann man philosophisch ein Ideal
von Sittlichkeit gestalten, nach dem sich abmessen läßt, wie weit die einzelnen
Menschen davon entfernt geblieben sind, aber erstens würde das Ideal schwerlich
in allen Köpfen gleich ausfallen, und zweitens wäre die Thätigkeit eine philo¬
sophisch-moralische, keine historische. Gewisse sittliche Grundsätze mögen bei
allen Kulturvölker» und in allen Jahrhunderten ziemlich gleich gewesen sein,
aber auch nicht mehr. Zu verschiednen Zeiten hielt man verschiedne Dinge
für erlaubt, ja zu ein- und derselben Zeit erachtete man bei verschiednen Völkern
und in verschiednen Volksklassen auch Verschiednes für sittlich und unsittlich;
und noch mehr: einzelnen Menschen erscheinen ihrem Naturell und ihrer Er¬
ziehung uach Sachen zulässig, die der abweichend geartete glaubt verdammen
zu müssen. Sicher dünkt uns unmoralisch, wenn Kimvn seine Halbschwester
freite, wenn man zur Zeit des dreißigjährigen Krieges Gebäck von unzüchtigen
Formen auf die Tafel setzte, oder wenn ein bluträchender Germane den Mörder
seines Bruders rücklings niederstieß, wenn einem Menschen der Renaissance
nur das Streben nach Ruhm und Größe heilig war, jedes Mittel dazu erlaubt
schien, wenn im Mittelalter mit Heiligengebeinen frommer Betrug getrieben
wurde, man sie nicht nur fälschte, sondern sogar ack rng-MSin äei ZIorig.ro. stahl
und sich dessen rühmte ?c. Und doch, zu den betreffenden Zeiten sah man
nichts Anstößiges darin. Dinge, die ein Romane für zulässig erachtet, er¬
scheinen dem Deutschen verwerflich, und umgekehrt; ist dieser gegen Trunkenheit
nachsichtig, so jener in Frauenliebe. Sachen, die der Offizier einer Großstadt
treibt, dünken dem Kaufmanne einer Kleinstadt vielleicht haarsträubend, und was
der letztere als selbstverständlich, als Geschäftssache thut, geht dem Offizier
wider die Ehre; ein wohl erzogenes Mädchen besserer Stände lebt in An-
schauungen, die ihre Magd teilweise kaum versteht; was jene als kostbares
Gut zu hüten sucht, giebt diese ohne Gewissensbisse hin. Visweilen, doch nicht
immer, hängt Moral mit Bildung zusammen, sie kann durch sie gestärkt und
geschwächt werden. Seinen gebildeten, aber entarteten Römern durfte Tacitus
den Spiegel der barbarischen Germanen vorhalten, wohl nie sind alle Bande
der Zucht so gelockert gewesen, wie in der geistig- hohen Renaissance und der
Aufklärungsperiode Ludwigs XV. Ein Zeitalter kann hochgebildet und doch
verwildert sein, und umgekehrt: unter einfachen Leuten kann reine Sittlichkeit
herrschen, freilich ebensogut volle Verrohung, Menschen und Völker handeln
eben oft nach irriger oder doch mangelhafter Erkenntnis. Mit einem Ka¬
non von Sittlichkeit kommen wir demnach nicht aus, ohne andern Geschöpfen
und Zeiten Gewalt anzuthun, wir müßten uns denn stets in die besondre
Sittlichkeit und Zeit versetzen, und dafür genügen meistens die Hilfsmittel
nicht, von andern? zu schweigen. Wie schnell hat sich der große historische
Moralist, hat sich Schlosser überlebt, wie viel Unrecht hat gerade er gethan,
der das lautere Recht zu vertreten glaubte! Etwas Richtiges ruht natür¬
lich in dem „Dcmtischen Elemente" der Geschichtschreibung; dies: daß Erben¬
größe nicht blenden darf, daß der König vor dem Richter der Vergangenheit
dasteht wie der Bettler, der Glückliche wie der Verfolgte mit gleichem Maße
gemessen wird. Man darf aber anch hier nicht zu weit gehen und muß stets
die Gesamtumstände vor Augen behalten, einen Despoten zur Zeit des Abso¬
lutismus z. B. anders beurteilen, als in der konstitutionellen Monarchie, einen
Mörder im frühern Neapel anders als im heutigen Basel, ein Mädchen, das
aus Not sündigt anders als eine Kaiserin Elisabeth von Rußland. Gar oft
läßt sich sagen, was besser und schlechter, aber selten, was gut und böse ist.
Noch handgreiflicher tritt uns das Mangelhafte eines Standpunktes in
andern, weniger zarten Fragen entgegen. Schon Raumer bemerkte, daß die
Italiener den lombardischen Städten Recht geben, die Deutschen ihren Kaisern.
Der Kommunist preist Se. Just und Robespierre, der Royalist schilt sie Ver¬
brecher, den Abschaum der Menschheit; der englisch-liberale Mcicaulay schilderte
Friedrich Wilhelm I. als einen halb Verrückten, der konservative preußische
Historiker erkennt einen tüchtigen Regenten in ihm; der italienische Novellist
Giraldi erzählte die Liebesgeschichten seiner Herzöge bei deren Lebzeiten in einer
Weise, die spätern Jahrhunderten als Gipfel aller Indiskretion, damals aber
als harmlose Verbindlichkeit erschien. Ungescheut besangen Dichter der Re¬
naissance die zarten Verhältnisse ihrer hohen rechtmäßig verheirateten Herren
und erwarben dafür Gunst und Lohn. Sugenheim läßt alles Schlechte mög¬
lichst durch Priester in die Welt gekommen sein, Gfrörer alles Gute; dem Kleri¬
kalen ist die katholische Kirche das Höchste, dem evangelischen Geschichtschreiber
der Staat; ein frommer Christ hält Muhammed, für einen Betrüger,
Christus als Gottmenschen, der Muhammedaner sieht in jenem den Propheten,
in dem Nnzareuer einen Religionsphilosophen, wie es deren auch andre ge¬
geben habe, nur daß er mehr Glück gehabt habe, vielleicht weil er Jude
.gewesen.
Aber nicht nur, daß verschiedne Menschen so verschieden urteilen und
denken, jeder fußt womöglich auf Quellen und liest seine Ansicht aus ihnen
heraus. Wie weit Voreingenommenheit hier wirkt, ist gar nicht abzusehen;
so erscheinen z. B. die deutschen Kaiser Heinrich II. und Heinrich IV. in allen
Farben schillernd, und jede Darstellung entnahm die ihrigen dem nämlichen
Materiale. Ein katholisches Geschichtswerk, gestutzt auf fulminante Sach¬
kenntnis, unternahm den Nachweis, daß die gedeihlichen Keime in Deutschland
durch die Reformation verkümmert oder erdrückt wurden; mancher evangelische
Schriftsteller sieht umgekehrt in der Reformation den Urquell und Durchbruch
des echt germanischen Wesens, die Entfesselung des Geistes aus den Banden
des Mittelalters.
Mit den Strömungen der Zeit ändert sich der Standpunkt, weshalb man
durch ihn nur Tageslitteratur schafft, mag sie zunächst noch so wirkungsvoll sein.
Selbst die Wirkung wird einseitig ausfallen, oder richtiger zweiseitig: es wird
gelobt und getadelt. An Stelle reinen Genusses tritt leicht Leidenschaft und
Parteilichkeit.
Sehr richtig äußerte vor kurzem Lord Acton in seiner Geschichtswissenschaft:
„Die ethische Einsicht der Menschheit ändert sich und schreitet fort; was hente
Tugend ist, war ehedem Verbrechen, und das Gesetzbuch wechselt mit dem
Breitengrade. Wenn König Jakob Hexen verbrannte, wenn Macchiavelli den
Mord als eine Kunst lehrte, wenn fromme Kreuzfahrer friedliche Juden hin¬
schlachteten, wenn Odysseus Lug und Trug trieb, so sollen wir uns der Zeit
erinnern, wo sie lebten und sie dem Urteil von ihresgleichen überlassen." Es
kann wohl keinen handgreiflicheren Beweis für die wechselnden Auffassungen
geben, als die stets sich ändernden Satzungen des Strafgesetzes.
Ein vorgefaßter Standpunkt benimmt Freiheit und Unbefangenheit, zerstört
das Grunderfordernis der Geschichte: Wahrheit und Treue. Umso gefährlicher
kann er wirken, je weniger der Betreffende weiß, daß er ihm inne wohnt, je
stärker er von der eignen Objektivität überzeugt ist — und wie viele sind
das nicht!
Nach meinem Dafürhalten soll der Historiker sich auch hüten, zuviel
Gewicht auf die Wertergebnisfe zu legen; er ist zunächst weder Moralist noch
Philosoph, sondern Geschichtsforscher und -Darsteller; abweichend geartete Köpfe
rechnen auch abweichende Werte heraus, die Quellen sind innerlich und äußer¬
lich nicht selten so verschieden, daß sie kein zuverlässiges Maß zulassen. Außer¬
dem sind geistige Werte bei weitem schwerer erweisbar als materielle und bieten
stets dem Meinen und Vermuten Raum, sie bleiben schwankend und unbestimmt.
Bisweilen läßt sich mit bester Absicht nicht sagen, was zeitgemäß wert war
und was nicht. Das fingerfertige Beurteilen ist geradezu eine Krankheit vieler
Modernen, die Zahl ist zwar mächtig, doch nicht allmächtig. Die Lehre vom
steten Fortschritt der Menschheit klingt so schön, daß sie schon deswegen nicht
richtig sein kann.
Wie schwer und wechselnd ist schon das Urteil bei objektiven Werken des
Geistes, wo es auf der Hand liegen sollte: Schillers wirkungsvollstes Stück,
Kabale und Liebe, wurde von der Kritik schonungslos heruntergerissen, und
Neben hielt Rankes Bücher nicht für geeignet, in der Marburger Universitäts¬
bibliothek angeschafft zu werden. Manches Werk, das in Leipzig gelobt wird,
wird in Berlin getadelt, und doch ist es so nahe von Leipzig bis nach Berlin.
Bei Griechen und Römern hat die Geschichte viel stärkern Einfluß gehabt
als jetzt. Die Wirkung Luteus war wesentlich größer als die Giesebrechts,
obwohl das Werk Giesebrechts dem Ludenschen durchaus überlegen ist, und
seine Verbreitung reicht noch weit im Vergleiche mit der der Jahrbücher des
deutschen Reiches. So verhält sichs trotz der Thatsache, daß von Luden bis
auf die Jahrbücher die Zahl der Fachmänner für Geschichte ungemein an¬
gewachsen ist, man also ein gesteigertes Interesse erwarten sollte. Wie mag
sich das erklären? Teilweise dadurch, daß Luden in einer Zeit patriotischer
Aufregung ein patriotisch durchwärmtes Buch schrieb, Giesebrecht in einer op¬
positionell frondirenden ein romantisches; teilweise wird die Beantwortung aber
doch auch wohl lauten müssen, daß wir noch an dem Übel kranken, welches
schon Lessing rügte, daß wir zu sehr in gelehrte Fachleute und in Darsteller
fürs Volk zerfallen. Jene, dem Drange deutscher Natur auf Zunftumgrenzung
nachgebend, arbeiten rein für die Wissenschaft ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse
der Menge, durch die ihre Thätigkeit doch erst wirklichen Wert erhielte und
vom Sport zum Erziehungsmittel werden könnte. Auf der andern Seite stehen
Darsteller „fürs Volk," für dessen halb- und mittelgebildete Klassen, häufig
Dilettanten und Litteraten, Leute, die zwar ihren Doktortitel ergatterten, die
unendlich viel schreiben, aber keine oder doch nur eine blasse Ahnung von ernsten
Studien besitzen, denen solche Dinge auch viel zu unbequem sind. Es konnte
dahin kommen, daß sich Wissenschaft und Darstellung bisweilen auf ganz ver¬
schiedener Stufe befanden, daß die wichtigsten Ergebnisse der erstem für die
letztere nicht vorhanden waren.
Auch die Frage ist schon aufgeworfen worden, ob man nicht im Aufstöbern, im
Herausgeben jedes Wahns- und Kehrichtzettels zu weit gehe? Jakob Burckhardt
sagte einmal: „Anstatt dem Himmel zu danken, wenn man nicht zu erforschen
braucht, wie und mit welchen Kämpfen ein Dichter das Unvergängliche aus
seiner Umgebung und aus seinem armen Leben heraus ins Sichere brachte, hat
man gleichwohl auch für Petrarca aus den wenigen »Reliquien« solcher Art
eine Lebensgeschichte zusammengestellt, welche einer Anklageakte ähnlich sieht.
Übrigens mag sich der Dichter trösten; wenn das Drucken und Verarbeiten
Von Briefwechseln berühmter Leute in Deutschland, Frankreich und England
noch fünfzig Jahre so fortgeht, so wird die Armesünderbank, auf welcher er
sitzt, allgemach die erlauchteste Gesellschaft enthalten." Wir befinden uns augen-
blicklich in einer Übergangs-, einer Sammelperiode, zusammenhängend mit vielen
andern Erscheinungen. Aber selbst in unsre erzählenden Werke ist der Mangel
an Enthaltsamkeit übergegangen; sie sind öfters breit als tief.
Es ist etwas Großes, und doch nimmt es sich eigenartig aus, wenn unsre
Wissenschaft Buch auf Buch in den Verkehr wirft: sechs Bände vom Leben
Steins und drei Dutzend deutscher Jahrbücher, wobei gerade solche ausbleiben,
wie der Gebildete, ja selbst der Gelehrte sie begehrt. Wir besitzen keine halb¬
wegs bessere, zusammenfassende Geschichte des Mittelalters, keine genügende
deutsche Geschichte, vielfach nicht einmal die einzelner Perioden, denn Giesebrechts
Kaisergeschichtc, so hoch ihr Verdienst sein mag, kann man hierher nicht zählen,
schon wegen ihrer fünf wohlbeleibten Bände. Darf da Zurückhaltung und Ent¬
wöhnung des Publikums Wunder nehmen? Es mag die Thätigkeit anstaunen,
lesen aber wird es solche Erzeugnisse nicht. Wir leben in dem leidigen Zustande,
wo Angebot und Nachfrage auseinander streben.
Nun braucht nicht verkannt zu werden, daß es eine wichtige Gruppe von
Männern gab und giebt, die nicht auf dem rein gelehrten Standpunkte ver¬
blieben, „die sich nicht zu gut gehalten haben, ihren Reichtum als frucht¬
bringendes Kapital in den Verkehr der Menschen, in den des Vaterlandes zu
werfen." Die Zahl dieser Männer nimmt zu; während der letzten Jahre hat
ein bedeutender Wandel in den Anschauungen über Geschichtschreibung be¬
gonnen. Fast will es uns dünken, als ob der Tod von Waitz hier einen
äußern Wendepunkt bezeichnete. In seiner herben, vornehmen Art hielt er die
Zügel der Quellenhistorik fest in der Hand, abgeneigt allem „Popularisiren."
Unzählige Kräfte zog er, bisweilen fast wider ihren Willen, in seinen Gedanken¬
kreis, der den untersuchend gelehrten Teil der Wissenschaft zur Mode, fast zum
Kanon machte; er bildete einen Damm gegen die ihm unliebsame Richtung,
welche schon bei seinen Lebzeiten emporzustreben begann. Kaum war er ge¬
storben, so hörten die „Forschungen" auf, die Zeitschrift seines Geistes.
Es bleibt jedoch zu beachten, daß der Umschwung nicht immer, ja vielleicht
nicht einmal wesentlich von den Gelehrten ausging, sondern daß ein andres
Element eintrat: unternehmende Buchhändler. Sie waren es, die die Lücke
am empfindlichsten in ihrem Geldbeutel verspürten, die deshalb ergiebigeren Boden
erstrebten und die populär-wissenschaftliche, meistens elegant und anmutend aus¬
gestattete Geschichtslitteratur einführten, der ein gutes Stück der Zukunft gehört.
Der Thatsache entspricht leider oft das Wesen. Wie früher bei einer „Schule,"
so erachten sich hier die gemeinsam arbeitenden nicht selten mehr oder weniger soli¬
darisch, sie loben sich gegenseitig und sind den Teilnehmern von Konkurrenznnter-
nehmungcn abgeneigt. Das Ganze wird durch den Buchhändler oder den Chef-
redakteur, durch den persönlichen Vorteil zusammengehalten. Veröffentlicht der
Buchhändler zugleich periodische Blätter, so sind seine Mitarbeiter ziemlich sicher,
darin gelobt oder doch mehr oder weniger gegen ungünstige Beurteilungen geschützt
zu werden, denn mit solchen thäte er sich geschäftlich Abbruch. Es kann Reklame
für und wider entstehen, bei denen der Verfasser zwar genannt, aber der Geldbeutel
gemeint ist. namhafte Kräfte halten sich vielfach zurück; Männer, welche in
Fachsachen solide arbeiten, lassen es hier bei geringer Mühe bewenden und
suchen auf nur halbwegs anständige Art viele Bogen voll zu bringen, eine erbau¬
liche, fadenscheinige Breite, ja eine große Liederlichkeit der Arbeit, eine fatale Kunst
des Buchmachens, die Sucht nach Erwerb drängen sich vor: das Ganze trägt
bisweilen das Brandmal der Gewcrbsmüßigkeit und geringer Achtung. Hierunter
haben in erster Linie die Buchhändler, die Unternehmer des Ganzen, zu leiden,
zu deren Ehre gesagt werden muß, daß sie gar manchen Verfasser an Anstand
übertreffen. Groß ist das Angebot, das Gute gering. Und doch gälte es hier
gerade, nicht mit leichter, kecker Hand hinzuwerfen, sondern Werke zu erstreben,
die dem Kenner genügten, den Gebildeten erfreuten, die Menge anzögen und
belehrten, worin Forschung und Verarbeitung sich deckte», Höhe und Bedeutung,
kurz, der Stand der Wissenschaft vergegenwärtigt würde. Unverkennbar ist schon
die Wendung zum Bessern eingetreten.
Die Spczialarbeit braucht darum nicht aufzuhören oder nur nachzulassen,
der Drang nach Erkenntnis darf das Geringste nicht verschmähen, aber er soll
sich nicht im Kleinkram überschätzen, soll das Bedeutende, das Wirkende, das
vielleicht Wichtigste nicht versäumen, soll das, was in stillem Fleiße und mühe¬
voller Anstrengung aus Staub und Schutt zu Tage gefördert worden ist, nutz¬
bringend verwerten, es „in den Verkehr der Menschen, in den Verkehr des
Vaterlandes werfen."
o scharf ausgeprägt demnach die Gegensätze in Jena wie überall sich
gegenüber standen, ging doch der Sommer (1848) ohne auffällige
Vorkommnisse vorüber. Die verschiednen Parteien arbeiteten, den
Blick nach Frankfurt, weiterhin nach Berlin und Wien gerichtet,
jede in ihrer Weise und warteten das übrige ab. Auch in Jena
hatte sich, wie anderwärts überall, eine Bürgerwehr gebildet, in der sich die
verschiednen Richtungen, mit Ausnahme etwa der extremsten, vertreten fanden.
Kommandant derselben war der preußische Oberst von Paschwitz, der, um seine
alten Tage in Ruhe zu genießen, sich hierher zurückgezogen hatte, dem dieses
Amt nun aber manche unruhige Stunde bereitete. Neben ihm stand der Major
von Knebel d. I., ein Sohn von Goethes bereits genanntem Freunde. Der
„Major" hatte früher, wie man erzählte, als Höchstkommandirender in fürstlich
reußischen Diensten gestanden und lebte nun, nachdem er aus irgend welchen
Gründen diese Stellung verlassen hatte, mit Pension in Jena, wo er das oft
genannte, am Paradiese gelegene Knebelsche Gartenhaus bewohnte. Eine leicht
aufbrausende Natur, im übrigen gutmütig und leicht wieder zu beruhigen, genoß
er eine ziemliche Popularität und war daher insofern an seiner Stelle. Als
einer der Hauptleute fungirte der Geheime Justizrat Professor Gujet, ein äußerst
freundlicher, wohlwollender Mann, der Sohn eines Soldaten, und diese seine
Eigenschaft muß es neben seiner persönlichen Beliebtheit gewesen sein, die diesen
Menschenfreund zu einer wenigstens möglicherweise kriegerischen Stellung berief.
Denn das war sie, wie wir bald hören werden; die Verhältnisse nahmen in
Jena, im Zusammenhang mit der allgemeinen Entwicklung der Dinge in Deutsch¬
land und dank den fortgesetzten Wühlereien der Demagogen und der Ohnmacht
der Regierungen, allmählich eine so drohende Gestalt an, daß ein feindlicher Zu¬
sammenstoß kaum lange mehr ausbleiben konnte.
Ehe es aber so weit kam, trat in den Tagen vom 21. bis zum 24. Sep¬
tember in Jena eine Versammlung friedlicher, wenngleich reformirender Natur
zusammen, nämlich der sogenannte Universitätsreformkongreß. Es lag nahe, daß
in einer Zeit, in der an alle Einrichtungen des nationalen Lebens die neuernde
und umgestaltende Hand angelegt wurde, in den Kreisen der Universitäten, deren
Einrichtungen seit Jahrhunderten eine so zähe Beharrungskraft bewährt hatten,
sich das Verlangen nach Verbesserung lebhaft regte. Namentlich die aufstre¬
benden Lehrkräfte, die ihr Ziel noch nicht erreicht hatten, waren es, die ein
solches Bedürfnis überall aufs stärkste empfunden hatten, und Jena war in
dieser Richtung mit vorangegangen. Es hatte sich hier ein sogenannter Reform-
Verein gebildet, der die Mehrzahl der jüngern Lehrer in sich aufgenommen und
sich mit den Gesinnungsgenossen an den übrigen deutschen Hochschulen in Ver¬
bindung gesetzt hatte. Von welcher Seite der entscheidende Anstoß zu einem
solchen Kongresse ausgegangen ist, wüßte ich nicht zu sagen, aber gewiß ist, der
Vorschlag fand fast allgemeinen Beifall und Jena wurde, zunächst seiner mitt¬
leren Lage wegen, als Ort der Versammlung ausgewählt. Alle deutschen Uni¬
versitäten wurden eingeladen, den Kongreß, der einen repräsentativen Charakter
haben sollte, mit Abgeordneten zu beschicken, aber auch jeder andre Universitäts¬
lehrer sollte als Gast willkommen sein. Die meisten Hochschulen gaben der Ein¬
ladung Folge, nur Berlin und die ordentlichen Professoren von Halle lehnten
dankend ab. Der Kongreß endigte schließlich ergebnislos, ein anziehendes Schau-
spiel bot er aber doch. Eine Reihe bedeutender, ja berühmter Gelehrten fand sich
hier zusammen. Der Tübinger Kanzler von Wächter wurde zum Präsidenten des
Professorenparlaments gewählt und rechtfertigte das in ihn gesetzte Vertrauen mit
vollendeter Meisterschaft. Besondre Aufmerksamkeit erregten die Abgeordneten der
österreichischen Universitäten, darunter Männer wie Hye und Endlicher; sie waren
die Schoßkinder der Versammlung, ließen es aber auch an nachdrücklicher Be¬
tonung ihrer deutschen Gesinnung nicht fehlen. Die Wiener Hochschule hatte
neun Vertreter gesandt, darunter einen, der unmittelbar aus den Hallen der
„Aula" zu kommen schien und in seiner malerischen Tracht und seinem klir¬
renden Schleppsäbel aller Augen auf sich zog. Freilich war es ein ominöses
Zusammentreffen, daß schon in der nächsten Zeit die tumultuarische Thätigkeit
der „Aula" einen tragischen Abschluß fand und die so warm verkündigte Zu¬
sammengehörigkeit mit Deutschland in den Händen von Windischgrätz und
Schwarzenberg eine so blutige Beleuchtung erhielt. Bei den Verhandlungen des
Kongresses wurde das Programm zu Grunde gelegt, das der Jenaer Reform-
Verein ausgearbeitet hatte; die wichtigsten Fragen der Aufgabe und der Orga¬
nisation der Universitäten wurden der Reihe nach durchgesprochen und durch¬
greifende Beschlüsse gefaßt, die zuletzt und nachträglich freilich alle wirkungslos
geblieben sind. Unter den Rednern der Versammlung zeichnete sich der be¬
rühmte Pandektist Vangerow aus, er trat den radikalen Forderungen der linken
Seite der Versammlung mit zermalmender Beredsamkeit entgegen, deren gewal¬
tiger Eindruck nicht leicht zu überwinden war. Freilich gingen einige Anträge
weit über das Vernünftige und Zweckmäßige hinaus, ein gründlicher und un¬
bedachter Radikalismus machte sich bemerklich, ein vollständiger Neubau wurde
gefordert, wo höchstens einzelne Verbesserungen am Platze waren, und alles
dieses nach den beliebten nivellirenden Lehren der allgemeinen „Freiheit und
Gleichheit." Alle herkömmlichen Unterschiede innerhalb der Korporation sollten
aufhören, selbst die Studirenden sollten ihre Vertreter in den Senat schicken
und dergleichen höherer Unsinn mehr. Einen komischen Eindruck machte es, zu
sehen, daß ein achtungswerter Mann wie der greise Thiersch, aus offenbarem
Popularitätsbedürfnisse, für die radikalsten Forderungen eintrat und langatmige
Reden hielt. Doch behauptete zuletzt in den meisten Fällen der Geist der Be¬
sonnenheit und Erfahrung die Oberhand. Ein Beschluß ging dahin, daß diese
Versammlungen sich von Zeit zu Zeit wiederholen sollten; es wurde ein ge¬
schäftsführender Ausschuß gewählt, der auch einmal zusammentrat, aber damit
erreichte dies ganze Beginnen sein Ende. Es wurde unter den Trümmern der
zusammenbrechenden deutschen Bewegung begraben, nur daß diese gleichwohl eine
fruchtbare Saat ausgestreut hat, deren Wachsen und Reifen wir erlebt haben,
während der so hitzig betriebene Versuch einer Umgestaltung der Universitäten'
wohl oder übel, völlig im Sande verlief. Die eifrigen Reformer jener Tage
haben eben doch die wahre Natur dieser Anstalten nicht immer erkannt und die
wohlverstandenen Bedürfnisse derselben manchmal mit ihren eignen persönlichen
Wünschen verwechselt.
Unmittelbar an das Profcssorenparlament schloß sich ein Unternehmen des
Jenaer konstitutionellen Vereins an, das ich noch ans dem Grunde erwähnen
will, weil einige der noch anwesenden Kongreßgäste daran teilnahmen. Der
Verein hatte nämlich die unliebsame Wahrnehmung gemacht, daß, während er
in der Stadt noch die Mehrheit für sich hatte, auf dem flachen Lande die fort¬
gesetzte demagogische Wühlerei ihm vollständig zuvorgekommen war. In
Erwägung dieser Thatsache wurde beschlossen, dem nicht länger unthätig zu¬
zusehen und von Zeit zu Zeit zunächst in den umliegenden Ortschaften Ver¬
sammlungen abzuhalten, um für die gute Sache zu wirken. Der Vorschlag an
sich ließ sich hören, hätte aber um ein halbes Jahr früher gemacht werden
sollen. Man dachte jedoch: besser spät als gar nicht. Als der erste Angriffs¬
punkt des beschlossenen Experiments wurde das Städtchen Dornburg am linken
Ufer der Saale, ein paar Stunden nördlich von Jena gelegen, ausersehen. Es
ist mit seinem reizenden Schlosse weithin sichtbar; der weimarische Hof hat sich
früher zeitweise im Sommer gern dort aufgehalten, und Goethe u. a. sich nach dem
Tode des Großherzogs Karl August für mehrere Tage dahin zurückgezogen,
um seinem Schmerze um den geschiedenen fürstlichen Freund ungestört nachzu¬
hängen. So machten wir uns denn zur bestimmten Zeit — es war ein Sonn¬
tag — auf, um unsre Fahrt dahin anzutreten; an unsre wenigen Gesinnungs¬
genossen im Städtchen und an die Ortschaften der Umgegend war eine recht¬
zeitige Mitteilung ergangen. Bei unsrer Ankunft ging es schon ziemlich lebhaft
her; die gegnerische, demokratische Partei hatte unser Vorhaben nicht übersehen
und ebenfalls ihre Getreuen aufgeboten. Ihre Absicht war offenbar, die ge¬
plante Versammlung gar nicht zu stände kommen und in Wirksamkeit treten zu
lassen. Und es sehlte nicht viel, so wäre ihr das auch gelungen. Dreimal
zwangen sie uus durch ihr tumultuarisches Gebahren, den Standpunkt zu
wechseln, ehe endlich unsre Aktion beginnen konnte. Zum dritten male nahmen
wir auf dem Marktplatze Stellung und wandelten eine alte Postkutsche, die zu¬
fällig dort stand, zur Rednerbühne um. Ein Teil der konservativen Bürger-
Wehr Dornburgs stellte sich zum Schutze um sie auf. da die Demokraten uns
gefolgt waren und in benachbarten Wirtshäusern johlend Posto gefaßt hatten.
Immerhin, unsre Versammlung konnte zu Ende geführt werden. Der „alte
Frommann" präsidirte, als Redner traten n. a. auf: Geh. Kirchenrat Ednard
Schwarz aus Jena, der Professor der Theologie Ilr. Fricke ans Leipzig, der
aus Veranlassung der Profcssorcnvcrsmnmlung herübergekommen war, und end¬
lich ein Pastor Büttner aus der Nähe von Neustadt a. d. Orla, der mehrere
Jahre in der neuen Welt gelebt hatte und nun auf Grund seiner Erfahrungen
ein nicht gerade schmeichelhaftes Bild der nordamerikanischen Freiheit entwarf.
Ob er und die übrigen Redner einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben,
muß freilich dahin gestellt bleiben. Zufolge einer Mitteilung, die uns hinterher
gemacht wurde, war es hohe Zeit, daß wir die Versammlung schlossen, weil
unsre Widersacher angeblich den Vorsatz gefaßt hatten, unsre Rednerbtthne,
d. h. die alte Postkutsche, auf der ein Teil von uns sich niedergelassen hatte,
zu überfallen und sie samt ihrer Besatzung in einen in der Nähe, auf dem
Marktplatze befindliche» Tümpel zu befördern. Diese Mitteilung klang gar nicht
unglaublich, ja es ist sogar wahrscheinlich, daß wir ohne die angedeutete Sicher-
hcitswehr der uns zugedachten demokratischen Wiedertaufe schwerlich entgangen
wären.
Wie dem aber sei, dieser erste Versuch einer konservativen Propaganda
blieb zugleich der letzte von unsrer Seite. Es hing das hauptsächlich mit der
fast gleichzeitig eintretenden Wendung der allgemeinen Verhältnisse und der sich
daran schließenden Niederlage der thüringischen Demokratie, deren Schauplatz
Jena wurde, zusammen. Ein kurzer Bericht über diese Vorgänge, soweit sie in
meinem Gedächtnisse haften geblieben find, mag die Erinnerungen aus jenen
Tagen beschließen.
Wie erwähnt, hatte sich die demagogische Agitation und Wühlerei den
ganzen Sommer über unbehindert fortgesetzt und die populäre Gährung dem¬
gemäß eine nicht unbedenkliche Gestalt angenommen. Dr. Lafauries Verbin¬
dungen reichten, wie man wohl nicht ohne Grund vermutete, über Thüringen
hinaus, und man traute ihm zu, daß er mit Struve im Einverständnis stehe.
Die Ereignisse der nächsten Tage legten die Annahme mit fast zwingender Ge¬
walt nahe, daß er jetzt die Stunde der Entscheidung für gekommen hielt und
einen Aufstand vorbereitete. Eine ruhige Erwägung, deren der Fanatiker freilich
niemals fähig gewesen war, hätte ihm sagen müssen, das der thüringische Bauer
mit gewissenlosen Versprechungen leichter aufzuregen als in das Feuer zu jagen sei.
Die Lage der Bauern ließ zwar vielfach vieles zu wünschen übrig, war aber doch
nirgends so drückend, daß sie eine verzweifelte Selbsthilfe hätte rechtfertigen können.
Eine Zurückverweisung auf den Bauernkrieg war unter allen Umständen eine Thor¬
heit und Dr. Lafaurie trotz allem kein Thomas Münzer. Der Aufstand in Frank¬
furt vom 18. September, durch die scheußliche Ermordung des Fürsten Lich-
nowski und des Herrn von Auerswald gebrandmarkt, hatte seine Funken über
die Berge Thüringens herüber geworfen und die Gemüter noch mehr erhitzt.
Die Niederwerfung desselben galt für den Anfang der Reaktion, und dem sollte
bei Zeiten vorgebeugt werden. An einen größern oder einigermaßen nachhal¬
tigen Erfolg eines „Putsches" war nun freilich in keinem Falle zu denken, aber
ein hübsches Stück Verwirrung hätte doch herbeigeführt werden können, wenn
die Widerstandskraft der Kleinstaaterei auf sich selbst angewiesen blieb, denn
Lafaurie und seine Genossen hatten bereits angefangen, sich in die Herzen der
Garnisonen von Weimar und Eisenach den Weg zu bahnen. Da griff endlich
das Reichsministerium ein und erließ die Anordnung, die Herzogtümer mit'
Reichstruppen zu besetzen und die einheimischen Garnisonen zu verlegen. Die
Entscheidung fiel in dem sonst so friedlichen Jena, das jetzt der Mittelpunkt
der aufrührerischen Bewegung geworden war. Der erste Anlauf, den noch am
4. Oktober die Staatsgewalt mit einheimischen Truppen gegen die Partei der
Unordnung nahm, wurde übrigens nicht ganz geschickt ausgeführt. Wenn auch
fürs erste die Ordnung wieder zurückkehrte, so fühlten sich doch die Demagogen
durch diesen Angriff nichts weniger als eingeschüchtert. Ihre Zuversicht hob
sich sogar in dem Maße, daß sie durch eine rasch zusammengetrommelte Volks¬
versammlung jenes bewaffnete Eingreifen für ungesetzlich erklären ließen und auf
Sonntag den 8. Oktober eine bewaffnete allgemeine Volksversammlung nach
Jena ausschrieben. Eine möglichst großartige Kundgebung des beleidigten souve¬
ränen Volkswillens sollte in Szene gesetzt werden. Aber schon Freitag den
6. Oktober veränderte sich plötzlich die Szene. Eine erkleckliche Anzahl „Reichs-
truppen" — man sprach von ein paar tausend Mann —, königlich sächsische
und altenburgische Infanterie und Reiterei nebst entsprechender Artillerie, er¬
schien vor den Thoren der überraschten Stadt und pflanzte ihre Kanonen im
sogenannten „Paradiese" auf. Von der geplanten demokratischen „Demonstra¬
tion" konnte unter diesen Umständen keine Rede mehr sein; doch erschienen am
Sonntage nachmittags eine ziemliche Masse Bauern und Arbeiter, zum Teil
mit Stöcken ausgerüstet, und hielten uuter den Augen der aufmarschirten Bürger¬
wehr, in hinlänglich herausfordernder Haltung, ihren Einzug in Jena. Es kam
nun zu verschiednen verwirrenden Auftritten, bis endlich die Linientruppen da¬
zwischen traten, die Stadt besetzten und sich der dreistesten Aufwiegler bemäch¬
tigten, unter denen der weimarische Litterat Jacke, Lafauries Gehilfe, der ver¬
wegenste war; aber auch dieser selbst, gegen den schon vordem ein Haftbefehl
wegen Hochverrats ergangen war und der sich jetzt wieder aus seinem Schlupf¬
winkel hervorgewagt hatte, fiel bei dieser Gelegenheit in die Hände der Ver¬
folger. Blut floß übrigens auch jetzt nicht; die „Reichstruppen" benahmen sich
taktvoll, und das verführte Landvolk zeigte wenig Neigung, sich an den „ver¬
tierten Söldlingen" zu versuchen. Schon Tags darauf zogen diese in der Rich¬
tung gegen Weimar wieder ab und führten die verhafteten Aufwiegler mit sich.
So viel ich weiß, ließ man gegen diese bald genug Gnade für Recht ergehen.
Die Hauptsache blieb: die Niederlage der thüringischen Demokratie, insoweit sich
diese mit republikanischen und anarchischen Tendenzen befreundet hatte, war mit
den Vorgängen des 8. Oktober vollendet; was noch weiter erfolgte, waren ver¬
einzelte Zuckungen, die keine weitere Bedeutung mehr gewannen.
Die gute Stadt Jena erhielt nun ihr altes friedliches Aussehen wieder zurück,
wenn auch vorläufig die Bürgerwehr noch bestehen blieb. Die Vorlesungen an
der Universität wurden eröffnet, die Frequenz wies freilich, und wie viele
meinten, nicht ohne Schuld der geschilderten Vorgänge, eher eine Verminderung
als eine Steigerung auf. Der „demokratische" Verein, der in jenen Tagen mit
seiner Halbheit sichtlich ins Gedränge gekommen war, löste sich auf, der „kon¬
stitutionelle" Verein bestand noch eine geraume Zeit fort und beschloß sein Da¬
sein erst mit dem Scheitern der nationalen Bewegung, beziehentlich mit dem
Ende der Frankfurter Nationalversammlung. Ich erinnere mich nicht ohne Ge¬
nugthuung, wie in einer der letzten Sitzungen des Vereins, in welcher die
Heimkehr eines unsrer geschätztesten Freunde, der den Wahlkreis Neustadt a. d. Orla
vertreten hatte, des Professors Gustav Eduard Fischer, gefeiert wurde, der Vor¬
sitzende uns mit der Erwägung zu trösten suchte, daß das erste deutsche Par¬
lament sicher nicht das letzte bleiben werde, daß die aufgewandte Zeit und Kraft
trotz des scheinbaren Mißlingens gewiß nicht verloren sei, und daß die bren¬
nende Frage der Gründung eines neuen deutschen Reiches, sei es heute oder
morgen, auf einer ganz andern Stelle als am grünen Tische und der Redner¬
bühne, daß sie auf dem Schlachtfelde ihre nächste Lösung finden müsse und werde..
Mit dieser Zuversicht im Herzen gingen wir der Zukunft entgegen, die
dann wenigstens die jüngern unter uns, wie weit auch unsre Lebenswege aus
einander liefen, um die stolze Verwirklichung jener Hoffnungen nicht getäuscht hat.
>le Zeit der Ausstellungen ist wieder einmal über uns hereinge¬
brochen, und neben vielen erfreulichen ihrer Art, über deren an¬
genehmen Eindruck kein Meinungsstreit besteht — ich nenne nur
eine der „süßesten" der letzten Zeit, die sicherlich geschmackbildende
! Zuckcrbäckerausstellung in Berlin, sowie die „wohlriechende" der
Barbiere und Parfümeure ebenda —, müssen wir auch die vielbeleumdeten Kunst¬
ausstellungen, trotz des Mahnwortes so manches um das Wohl der Kunst besorgten
Mannes, an uns vorübergehen lassen. Mit den Kunstausstellungen erwachen
natürlich auch die Ausstellungen an der Kunst zu neuem Leben, die ihrerseits
wiederum zu Ausstellungen Anlaß geben. Ist doch unser „Publikum" nicht mehr
so einfältig, an der Kunst selbst Gefallen zu finden; den wahren Feinschmecker,
der sich eines geläuterten Kunstsinnes in unsern Tagen rühmen darf, ergetzt erst
die Kritik der Kritik. Selbst unsre Künstler sind von dieser hyperkritischen Nei¬
gung nicht völlig freizusprechen. Wenn sie sich über das leichtsinnige Urteil der
Zeitungsschreiber beklagen oder über das tiefsinnige der Kunstgelehrten lustig
machen, so wird man ihnen ein gewisses Recht dazu von ihrem Standpunkte
aus einräumen müssen. Auch daß man sich gegen die offizielle Kunstkritik des
Staatsanwalts und ihre Konsequenzen gelegentlich gesträubt hat, bedarf keiner
besondern Erklärung. Wohl aber entsteht unwillkürlich die Frage, warum
unsre Künstler am liebsten überhaupt jegliche Kritik aus der Öffentlichkeit ver¬
bannt wissen möchten. Unsre Werke sind, so werden uns die Künstler ant¬
worten, heute einer Beurteilung — zumal einer anerkennenden — gewiß eben so
würdig wie nur jemals, aber durch die kunstkritischen Schwätzereien wird das
Publikum von einer gebührenden Würdigung derselben abgehalten. Denn schon
muß auch der bildende Künstler mit dem Volksgeiste rechnen, den Altmeister
Goethe so treffend in zwei Versen schildert:
Zwar sind sie an das Beste nicht gewöhnt,
Allein sie haben schrecklich viel gelesen.
Ja, diese fatale Belesenheit unsrer Zeit! Und nicht nur die Tageskritik
liest man, nein, was noch viel schlimmer ist, kunstgeschichtliche Werke, welche
die alleinseligmachende Kunst vergangner Zeiten predigen und für die Meister
der Gegenwart kein Wort der Anerkennung übrig haben.
Wenn einer unsrer Maler vor nicht langer Zeit einmal den Vorschlag
machte, zur Hebung der zeitgenössischen Kunst alle Museen und alten Bilder¬
galerien niederzubrennen, so dürfte er doch vielleicht bei einigen minder radikal
gesinnten Genossen auf Widerspruch stoßen; volle Beistimmung aber — dafür
möchte ich Gewähr leisten — fände in unsern Künstlerkreisen sicherlich der Vor¬
schlag, die gesamte Kunstlitteratur, mit Einschluß ihrer lebenden Vertreter, in
einem prächtigen Autodafe — etwa als wirkungsvolles „pyrotechnisches Schlnß-
tableau" eines der jetzt so beliebten Künstlerfeste — dem verdienten Feuertode
zu weihen. Wären erst einmal diese unseligen Bücher und ihre Verfasser un¬
schädlich gemacht, wer würde dann noch in die Galerien gehen und an den
Bildern der alten „Meister" seinen unbefangenen Geschmack verderben!
Die Künstler, die so sprechen — und es giebt deren, wie ich versichern kann,
eine ganze Reihe —, haben bis zu einem gewissen Grade nicht so Unrecht, und
ein Einsichtiger wird das Körnchen Wahrheit aus dieser etwas drastischen Opposition
gegen die Kunstwissenschaft herauszufinden wissen. Wer indessen glaubt, die Feind¬
schaft zwischen Gelehrten und Künstlern entstamme erst unsern Tagen und sei
wirklich eine Folge der in immer breitere Schichten eindringenden kunstgeschicht¬
lichen Erkenntnis, befindet sich doch in argem Irrtume. Zum Beweise, daß
auch frühere Zeiten ähnliches gekannt haben, will ich einige Beispiele von Kunst¬
kritik aus der Zeit vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert vorführen,
um beiden Parteien zu Nutz und Frommen und wohl auch zum Ergetzen ihr
Spiegelbild aus einer Zeit vorzuhalten, der man kunstgeschichtliche Kenntnisse
im heutigen Sinne gewiß am wenigsten vorwerfen kann. Wenn das Bild
etwas verzerrt erscheint, mag man von diesem Eindrucke den Maßstab entnehmen,
den kommende Geschlechter vielleicht an die verwandten Erscheinungen unsrer
Tage legen werden.
An sich ist es nichts neues, daß Leute, die außerhalb der kunstübenden
Kreise stehen, sich anmaßen, diesen Kreisen Vorschriften zu erteilen. Erachtete doch
das frühe Mittelalter selbst Kirchensynoden zu solchem Amte für berechtigt, ja ver¬
pflichtet. Der aus Byzanz im achten Jahrhundert nach dem Abendlande verpflanzte
Vilderstreit kann also schon als Urbild unbefugter Kuustrichterei gelten, vom
klassischen Altertume ganz zu schweigen. Am Hofe Karls des Großen befaßte
sich ein Mann wie Alcuin, dessen Vielseitigkeit sich vielleicht nicht unpassend mit
der eines Du Bois-Reymond vergleichen ließe, mit offizieller Kunstkritik. In den
I^ibri «üarolmi, deren Urheberschaft man ihm zuschreibt, führt er gar zornige Reden
wider die unfrommen Künstler, die allerhand heidnisches Wesen in ihre Dar¬
stellung hineinziehen, das doch in der heiligen Schrift gar keinen Grund habe.
Der damaligen Zeit galt eben die Bibel auch als Kodex ihrer ästhetischen An¬
schauungen, oder die Kunst nur als Hilfsmittel, um die Erzählungen der Evange¬
listen und Propheten auch den Schriftunkundigen in des Wortes eigentlicher
Bedeutung „s.ä ovulos zu demonstriren." Wir wissen indes aus den Kunstwerken,
daß oft genug auch in jener Zeit sich der Widerspruch gegen solche Vorschriften
bei den Künstlern regte, und im dreizehnten Jahrhundert bekennt sich sogar schon
ein Vertreter jener theologischen Kunstkritik, Durandus von Meute, resignirt zu
der Anschauung des alten Horaz:
?ivtoMus s,tMv xostis
HuMidot) imäsQÄi ssinxor 5uit g,s<i>la, potsstas.
Diese liberale Auffassung von künstlerischer Freiheit ist freilich in den folgenden
Jahrhunderten nicht allen seinen gottesgelahrten Kollegen eigen gewesen, aber man
darf auch nicht vergessen, daß die Künstler seiner Zeit keinen Gebrauch von der
ihnen eingeräumten Freiheit machen konnten, weil sie materiell und ideell von
der Kirche durchaus abhängig waren und blieben.
Erst mit dem Erwachen des Individualismus und der „freien Künste" im
heutigen Wortsinne beginnt auch die Selbständigkeit der Künstler auf diesem
Felde sich mehr geltend zu machen. Albrecht Dürer spricht gelegentlich die be¬
merkenswerten Worte, die in dem heißen Streite „Künstler vontrg, Kunstschreiber"
von der erstgenannten Partei zu meinem Verwundern noch niemals als Wahl- .
Spruch benutzt worden sind: „dy Kunst des malens kan nit woll geurteilt werden
dann alleyn durch dye da selbs gut Moler sind, aber vyrwor den andern ist
es verporgen wy dyr am fremde Sprach." Und doch standen wohl selten
Künstler so sehr unter der Vormundschaft der gelehrten Bildung wie die der
Renaissance, und derselbe Dürer, der die Einmischung der Laien in die Kunst¬
kritik so stolz ablehnt, fügte sich willig dem Programm eines Stadius und
eines Pirkheimer bei der Anordnung der Triumphwagen sür Kaiser Max, und
empfing sicherlich auch die Anregung zu vielen andern seiner uns heute oft nur
schwer verständlichen Allegorien aus den gelehrten Kreisen seiner Umgebung, genau
so, wie Naffael in Rom sich die Ideen zu seinen vatikanischen Fresken von den
Gelehrten des päpstlichen Hofes souffliren ließ. Ja, der „Fürst unter den
Malern," Tizian, mußte sich bei Ausmalung der Decke des Kommunualpalastes
von Brescia die kleinlichsten Vorschriften und Anweisungen bis in die Einzel¬
heiten der Farbengebung hinein von der vorgesetzten Behörde gefallen lassen
und bedankte sich dafür noch dazu in aller Devotion, während wir von
seinem Lehrer Bellini allerdings erfahren, daß er in derartigen Dingen ein pein¬
licheres künstlerisches Ehrgefühl hatte. Aber litt denn darunter der künstlerische
Ruf dieser Meister? Blieb ihnen nicht genug Raum, ihre Schöpferkraft zu be¬
thätigen? Schämten sie sich dieser Beziehungen zu den Vertretern der geistigen
Kultur? Durchaus nicht. Anderseits verschmähten auch die Gelehrten, welche
sich auf das Gebiet der Kunstwissenschaft wagten, die Belehrung von feiten der
Künstler nicht, sei es, daß sie, wie Pomponius Gauricus, sich selbst praktisch in
die Kunst einführen ließen, der sie ihre theoretischen Studien zugewandt hatten,
sei es, daß sie in regem freundschaftlichen Verkehr mit den ausübenden Künst¬
lern gegen ihre Theoreme praktische Winke eintauschten. Heute halten beide
Kreise eine solche Annäherung für ihrer unwürdig, sie würde auch kaum von
ähnlicher Fruchtbarkeit sein, da die Gedankenwelt der einen derjenigen der andern
im Laufe der Zeiten nicht wenig entfremdet worden ist.
Benedetto Varchi, zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, wußte, als
ihm die Frage nach dem Rangverhältnisse zwischen Malerei und Skulptur auf¬
stieg, nichts besseres zu thun, als bei den besten Künstlern seiner Zeit Umfrage zu
halten, worauf er von verschiednen, so auch von Michelangelo Antworten erhielt.
Andre, wie Francesco d'Ollcmda, kleideten ihre ästhetischen Abhandlungen in
Dialogform, wobei sie die tüchtigsten Meister ihrer Zeit das Wort führen lassen.
Lodovico Dolce, der auch diese Form wählte, läßt durch den Mund des damals
hochgeachteten, weil ängstlich gefürchteten Pietro Aretino, von dem sein vialo^o
ästig, xitturs. den Namen führt, die Anschauungen Tizians und seiner Kreise über
die Kunst verkünden; aber er fühlt die Notwendigkeit, sich gegen den Einwurf zu
verteidigen, „ob jemand, der kein Maler ist, fähig sei, über Malerei zu urteilen."
Aretino faßt seine Ansicht dahin zusammen: „Allerdings leugne ich nicht, daß
der Maler von gewissen Einzelheiten Kenntnis haben dürfte, die jemand, der
kein Maler ist, kaum je erfassen wird; aber so wichtig diese auch für das Schaffen
sein mögen, so unwichtig werden sie zum Abgeben eines gesunden Urteils er¬
scheinen. Ich glaube durch diese wenigen Worte zur Genüge nachgewiesen zu
haben, daß jedermann von Verstand, der Thätigkeit und Erfahrung in sich ver¬
einigt, über Malerei urteilen könne; besonders wenn er sich mit der Antike und
den Bildern guter Meister vertraut gemacht hat, weil es ihm dann bei einer ge¬
wissen Vorstellung des Vollkommenen, die er sich im Geiste eingeprägt haben
mag, ein Leichtes sein muß, zu urteilen, inwieweit die vorliegenden Werke jener
Vorstellung nahe kommen oder nicht." Das klingt, zumal aus dem Munde
eines Arelim, hinlänglich bescheiden und sachgemäß.
Aber schon der venezianische Arzt Michael Angelo Biondo zeigt in seinem
1549 erschienenen „Werke von der hochedeln Malerei und ihrer Kunstübung,"
daß es ihm mehr um die Verherrlichung seiner schriftstellerischen Fähigkeiten
als um den Gegenstand zu thun ist, und neben aufdringlich schwülstiger Ge¬
lehrsamkeit nehmen wir bei ihm zum ersten male die Anmaßung wahr, die
Kunst ihren eignen Meistern zu erklären und den Malern ungebeten von seinem
Geiste vorzuschießen. Seine große Anmaßung, der nur seine Unkenntnis künstle¬
rischer Dinge einigermaßen gleichkommt, mögen die Schlußworte seines zweiten
Kapitels kennzeichnen: „Ich ermahne deshalb jeden, der ein guter Maler werden
will, daß er diese meine Erörterung und Unterredung von der Malerei öfter
lese und mit Eifer und Fleiß durchgehe, bis er diese Lehre wohlverstanden und
später auch gut in Übung gesetzt habe; auf solche Weise wird er leicht ein voll¬
kommener, ergötzlicher und lieblicher Maler werden, weil dieser Weg der kürzeste,
der nutzreichste und ferner der notwendigste ist." Was würden unsre Künstler
Wohl zu solcher Mahnung sagen? Ihre italienischen Kollegen des sechzehnten
Jahrhunderts — schwiegen und kümmerten sich nicht weiter um den ästhetisirenden
Medicus. Und wir müssen ihnen dankbar dafür sein, denn man stelle sich
einmal vor, ein Maler folgte der nachstehenden Anweisung, die wir nur ihrer
Kürze wegen aus der Zahl der übrigen zehn durchaus auf gleicher Hohe stehenden
herausheben: „Ich möchte, daß das vierte Gemälde bedeckt sei mit Sonnen¬
strahlen, die meinen Blick gänzlich blenden, nur daß man ein wenig vom Firma¬
ment sehe und insbesondre die Erde, die wir bewohnen. Dann soll man auf
der einen Seite Bacchus erblicken, wie er von Ägypten mit seinen Weinreben
auszieht, auf der andern Seite stelle man dar, wie Narcissus vor Echo flieht
und wie er gewesen, als sie sich in ihn verliebte; die dritte Seite enthalte die
verliebten Tauben der Ägina, die vierte Seite, wie Thisbe beim Schein des
Mondes vor der Löwin flieht und wie Pyramus sich mit dem eignen Schwerte
den Tod giebt, dann, wie seine Geliebte, wie sie mit ihm sterben will, die
Brust mit demselben Eisen durchstößt. Schließlich wünsche ich, daß die Ge¬
schichte des Kadmus alle diese Dinge rings umgebe, aber in der Mitte soll
Merkur Trismegistos mit seiner Lehre dargestellt werden. Alles übrige von dem
Bilde soll mit schön grünem Buxbaum und heiligen Oliven geziert sein." (Über¬
setzung von A. Jlg; Wien. 1873.) Liest man dazu das Datum dieser Phan¬
tasien am Schluß des Werkchens: „Aus dem Häuschen des Biondo zur Zeit
der Erneuerung seiner Leiden," so ist man versucht, diese Leiden besonders im
Hirn des Verfassers zu vermuten. Und doch galt er seinen Zeitgenossen als
geistig normal, ja sogar als ein sehr bedeutender — Arzt.
Diesem kunstschriftstellernden Arzte will ich noch einige Theologen des
siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts gegenüberstellen, die sich mit der
ganzen Würde und Wucht ihrer Gottesgelahrtheit wider die „Irrtümer derer
Maler" wandten. Als durch die Reformation der Bilderstreit wieder ausgelebt
war und teilweise in sehr handgreiflicher Weise, nämlich durch Verbrennen und
Zerschlagen der kirchlichen Bildwerke, geführt wurde, bemächtigte sich natürlich
auch die Streittheologie dieses Gebietes, und sowohl zwischen Protestanten und
Katholiken als auch innerhalb der protestantischen Kreise selbst wurde so manche
Disputation lebhaftester Art darüber ausgefochten. Bei dieser Gelegenheit nahm
der Erzbischof von Mailand Federigo Borromäo Veranlassung, in seinem 1648
erschienenen Buche: I>e xiowm saers. die Maler zur richtigen und schicklichen
Darstellung der heiligen Personen und Vorgänge anzuleiten. Am Schlüsse des
Jahrhunderts dann, als der Naturalismus der Neapolitaner Schule in Italien
wie in Holland und Deutschland sich in höchst unerquicklicher Verwilderung
auflebte und die künstlerische Darstellung der heiligen Dinge noch weit über
Rembrandts nach theologischen Urteil „plebejische" Auffassung sich hinauswagte,
bildete sich ein ganz eigner Litteraturzweig über die Irrtümer und Fehler der Maler,
„so sie in Entwerfung der biblischen Geschichten zu begehen pflegen." Man glaubte
die heilige Schrift gegen die Künstler in Schutz nehmen zu müssen, wagte sich
aber fast niemals aus dem Nahmen einer rein theoretisch-litterarischen Er¬
örterung heraus. Einer der ersten unter diesen Kämpfern in Deutschland war
Johann Friedrich Jünger, der am 6. April 1678 in Leipzig mit einem unga¬
rischen Theologen Johann Ferber as eng-nidus xioturis disputirte. Den Malern
wird hier namentlich vorgehalten, daß sie sich in heiligen wie profanen Dingen
aus schlechten Quellen unterrichteten oder gar aus Bosheit Fehler gegen besseres
Wissen begingen. Die Riesengestalt des heiligen Christoph, der Panzer des
heiligen Georg und andre ähnlich wichtige Dinge müssen für die Kritik herhalten;
neben vielem Lächerlichen, das nur vorgebracht wird, um die Gelehrsamkeit
und Belesenheit (die erstere deckte sich damals meist mit der letzteren) der Dis¬
putanten in Helles Licht zu setzen, finden wir aber doch auch gesunde Kritik:
so z. B. betreffs der sogenannten Lukasbilder, die in manchen Gegenden und
schlimmer noch in der Litteratur auch heute noch nicht völlig ausgerottet sind.
Derartige Fragen beschäftigten aber nicht nur die theologischen Fakultäten
von Leipzig, Wittenberg und Jena, auch im Auslande fand man an dem er¬
giebigen Diskussionsstoff Gefallen. In den Nsmoirss as rrsvoux erschien
1704/5 eine Reihe von Aufsätzen Lur Iss srrsurs ach xsintrss äg-us 1a rs-
xrössntMcm as nos wüsteres se äg,n8 Iss sujsts dirs?: as 1'lliswirs Sö-orss,
die 1772 auch ins Deutsche übersetzt wurden. Der Verfasser, Pelletier, trägt
kein Bedenken, in seiner Vorrede auch Naffael schwerer Vergehen wider die
heilige Schrift zu zeihen. In der Abgeschmacktheit und Anstößigkeit der nieder¬
ländischen Bilder des sechzehnten Jahrhunderts sieht er eine Hauptveranlassung
zu der Vilderstürmerei der Reformationszeit. Aber auch zu des Verfassers
Zeit staken die Kirchenbilder voller Irrtümer, die durchaus vermieden werden
müßten. Gleichwohl schimmert bei Pelletier bereits etwas von kritischem Billig¬
keitsgefühl durch, indem er sich selbst den Einwurf macht, daß der Künstler doch
Wohl für das Studium der Theologie nicht gar so viel Zeit übrig haben könne:
„die Natur bildet die Künstler, aber nicht die Gelehrten, und noch weniger die
Theologen." In merkwürdigem Gegensatz hierzu lautet der Schlußsatz seiner
Vorrede: „Ich suche den Malern Erläuterungen über die Wahrheit der Geschichte,
der Sätze der Religion, der Sitten und des Kostüms zu geben. Ich zeige
ihnen nicht nur, was die bisherigen Maler gewagt haben, vorzustellen, sondern
bei Gelegenheit auch, wie sie sich dabei hätten verhalten sollen." Darauf werden
die einzelnen Szenen und Darstellungen des neuen Testaments der Reihe nach
durchgesprochen und mit ebenso ausführlichen wie überflüssigen Erörterungen über
die Trachten und einzelnen Lebensgewohnheiten der orientalischen Völker begleitet.
Daß den Künstler irgendwelche andern Absichten leiten können, als solche Ver¬
nünftelei, scheint Pelletier nicht einzuleuchten. Das „einzige Mittel, um den Beifall
der Nachwelt zu erhalten," sieht er darin, daß „der Maler Werke liefere, die ganz
mit der Wahrheit übereinkommen." Ein Wereschagin würde sich also wohl
seines Beifalls erfreut haben, während sich im neunzehnten Jahrhundert be¬
kanntlich die Geistlichkeit Wiens nicht zu solcher Auffassung aus der Zeit der
Allongeperücken bekennen wollte.
Italien und Spanien steuerten zu der Diskussion ebenfalls das ihre bei,
namentlich das spanische Werk Ayalas ?1ot>or onristiMus kruäitus (Madrid,
1730), welches den ganzen christlichen Bilderkreis umfaßt, muß hier erwähnt
werden.
Daß auch die Künstler selbst sich mit der Frage nach dem „Lokal¬
kolorit" in den biblisch-historischen Darstellungen — wie es in unserm Kunst¬
jargon heißen würde — befaßten, beweisen uns einzelne ^onKrönokZ Ah l'^o^
avais roznle ac xöiuwrg et Ä6 sorüvwrö in Paris, die zeitweise einen so
stürmischen Charakter annahmen, daß man die Sitzungen einstellen mußte.
Freilich zog man es hier, wo die Künstler unter sich waren, vor, seine Kritik
an den älteren Meistern zu üben. So beanstandete man namentlich die Dar¬
stellung heiliger Szenen in der spätern venezianischen Schule, die übrigens schon
1573 Paolo Veronese vor die Schranken des venezianischen Jnquisitions-
tribunals gebracht hatten. Es sei doch, meinte in einer Sitzung Louis Bou-
logne, höchst bedenklich, wenn im Hintergrunde der vierZs M 1s,M von Tizian
sich Renaissancebauten erhöben, deren Stil zur Zeit und Gegend der dargestellten
Szene durchaus nicht passen wollten. Glücklicher Alma Tadema und Genossen,
die ihr solchen Vorwürfen den blanken Schild eurer archäologischen Gewissen¬
haftigkeit entgegenhalten könnt, wo ein Tizian wehrlos vor dem Richterstuhl
der gelehrten Kunstkritik stehen mußte!
Gegenüber diesen Beispielen von Urteilslosigkeit der Mediziner und Theo¬
logen in Sachen der Kunst — welchem Kenner der gegenwärtigen Kunstlitte¬
ratur fielen nicht zahlreiche Epigonen eines Biondo und Jünger ein! — wird
man sich mit den gleichzeitigen Leistungen der philosophischen Fakultät auf
diesem Gebiete, wie etwa mit Diderots Rezensionen der Pariser Salons von
1737 bis 1766, schon eher befreunden können. Daß Winckelmann dann den
Künstlern seiner Zeit und ihrem welschen Ungeschmack energisch den Standpunkt
klar 'wachte, ist den Jüngern seiner Wissenschaft, den Kunstgelehrten, namentlich
in Deutschland, ein verhängnisvolles Erbe geworden. Der Gegensatz zwischen
„Kunstschreibcrn und Künstlern" ist seitdem nie wieder ganz von der Bildfläche ver¬
schwunden, nur daß in jüngster Zeit die Künstler auch zur Feder gegriffen
haben, statt ihre Gegner mit dem Pinsel aus dem Felde zu schlagen. Schon
1833 erschienen „Drei Schreiben ans Rom gegen Kunstschreiberei in Deutsch¬
land," und ein so thörichtes Pamphlet wie Karl Hoffs „Künstler und Kunst¬
schreiber" erlebte noch vor fünf Jahren zwei Auflagen. Wenn wir auch nicht
mehr ganz das Wort des Altdorfer Professors Diltherr aus dem siebzehnten
Jahrhundert auf unsre Tage anwenden können: Hmsyuis xiotorum nostro-
rum ruäitatöm volusrit oorriAero, is xroteoto otium üksvöravkrit omniun»: acleo
insrucliti sunt xlsriciuo, acloo ovAnitionsin oinnsin anticiuitatis turviter ad-
^'se-srunt, so besteht doch auch heute noch der Ausspruch des alten kunsterfahrenen
Cassiodor zu Recht: NaZvg, g.rs est, contra artilloes locM et axuä illos all^uta
rlcmben Sie mal: Rom ist untergegangen, aber nicht am Kaisertum.
Was diese römische Republik angeht — mein Gott, das waren keine
großen Zeiten. Dieser alte Cicero kommt mir vor wie einer unsrer
guten Revolutionäre der achtundvierziger Schule, der über die beste
der Staatsformen leitartikelt. Fragen Sie Mommsen. Nein, mein
Lieber, Roms Blüte beginnt mit Augustus und der Errichtung des
Reiches — schade, daß wir nicht auch einen Kanzler in Parallele zu stellen haben.
Rom ist nicht an diesem Reiche, sondern an den Nerven untergegangen. Wahr¬
haftig. Verbrauchte, nervös ruinirte Leute und unsre Naturmenschen von Ger¬
manen, das giebt ungleichen Kampf und bedeutet das Ende vom Liede.
Und passen Sie mal ans, uns wirds gerade so gehen. Eugen und Konsorten
werden das Reich weder retten noch stürzen, aber die verfluchten Nerven. Daran
gehen wir zu Grunde. Unsre Zeit ist groß, aber mit den Nerven kommen wir
alle Jahre mehr herunter.
Sie meinen, ich übertreibe. Nicht die Idee! Die Nervosität ist nicht mehr
eine Krankheit einzelner alter Damen, die nichts zu thun haben, es ist eine Volks-
krcmkheit geworden. Wenn einer seine guten Nerven rühmt, so bedeutet das nur,
daß er bessere schlechte Nerven hat als andre. Seinen Knax hat er auch. Mehr
oder weniger zerrüttete Nerven finden Sie von allerhöchster Stelle bis „zum
Künstler abwärts," von Bismarck bis zum letzten Vorstadtbriefträger. Männer
und Frauen, Kinder und Greise, alles nervös! Wo sie Hinsehen: Ischias, Hysterie,
Migräne, Neuralgie und weiß der Kukuk, wie das Zeug alles heißt. Die alten
Jungfern sind natürlich alle — von Berufswegen — nervös, und wir alten Jung¬
gesellen, wir verdienten, weiß Gott, alte Jungfern zu sein. Wissen Sie, die tollen
Jahre beim Regiment, das hängt einem an; man wird die Juden und die Nerven
nicht wieder los. Apropos. Volk Israel! Die Gesellschaft ist nervös vom Mil¬
lionenbaron bis zum letzten Schnorrer. Und sie sind in einer Weise nervös, daß
alles aufhört. Sehen Sie, das freut mich. Das ist die gerechte Strafe.
Das möchte nun alles noch sein, aber hier in der xi» wate-r, da sitzt des
Pudels Kern. Sagen Sie kein Wort! Verrückt sind wir alle mit einander.
Sehen Sie bloß diese Irrenhäuser. Wachsen sie nicht wie Pilze aus der Erde?
Und dahin kommen doch nur die, die Unfug machen und die der Herr Bezirks¬
arzt „für im höchsten Grade gemeingefährlich" erklärt. Nehmen Sie dazu diese
Pensionen, diese Sommerfrischen, diese klimatischen Kurorte, diese Nervenanstalten
— was weiß ich —, das wird noch so allgemein werden wie die allgemeine
Dienstpflicht. Schöner Gedanke, beim Ball zu fragen: Gnädiges Fräulein waren
auch in Görlitz, nicht wahr? Sehr nett da.
Was ist Genialität? Methodischer Wahnsinn. „Des Dichters Aug in schönem
Wahnsinn rollt." Was ist das Herauf und Herunter an der Börse, die Befürch¬
tungen und Erwartungen, das ganze Spiel der Werte? Die reine Verrücktheit.
Was ist die Hetzerei und Schererei im Dienst und Amt und Gewerbe? Eine
Nervosität, die an der Grenze der reinen Vernunft bereits angekommen ist. Ich
gebe Ihnen mein Wort, es hat jeder seinen Sparren, eine oder zwei Schrauben
sind bei jedem locker. Der Unterschied ist nur, daß es der eine weiß und der
andre nicht.
Was wollen Sie! Sobald wir die Augen zumachen und zu träumen an¬
fangen, geht die Verrücktheit los. Es braucht einer nur auszusprechen, was er
eine Stunde vorher im Traume für richtig und vernünftig angesehen hat, so winkt
man ihn beiseite und läßt ihn verschwinden. Wir sind alle von Natur verrückt
und stellen uns nur vernünftig. Unsre Gedanken sind wie eine Herde Schaafe,
die von einigen Schäferhunden im Zaume gehalten werden. Sobald einer dieser
Wächter einmal faul wird, gehts über die verbotene Grenze, so ein bischen, das
kommt alle Tage vor, es darf nur nicht zu unverschämt werden. Man nennt das dann
Zwangsvorstellungen. Haben Sie auch, mein Lieber, hat jeder! Man wills nicht,
und man muß es denken, z. B. bei gegebener Gelegenheit einen Strohfeimen an¬
zünden, oder von einem Felsen in die Tiefe springen, oder jemand auf den Kopf
spucken. Man thuts nicht, aber man muß es denken. Kenne da einen Prediger,
ganz verständigen Mann, ist noch heute im Amte, der muß bei jedem Begräbnis
denken: Wenn du jetzt eine geistliche Bombe losließest, etwa zu einem dicken Leid¬
tragenden sagtest: Und Sie, alter Freund, sind der nächste, der drankommt! das
müßte eine großartige Wirkung thun. Er brauchte das nur wirklich zu thun, was
er denkt, welcher Aufstand! Ist denn nun der Unterschied zwischen Denken und
Reden so groß? Ich finde nicht. Es ist mit der Verrücktheit wie mit dem
Kneipen; ein anständiger Mensch geht über eine gewisse Grenze nicht hinaus. Dar¬
über hinaus fällt man ab. Das ist das Kunststück, diese Grenze zu kennen.
Und die Marotten! Man hält sich für vollständig berechtigt, Marotten zu
haben. Das heißt, man kann nicht umhin, gewissen Unsinn zu machen, alle
Tage eine neue auffallende Kravatte zu tragen, oder eine Sammlung von Westen-
knöpfeu anzulegen, oder die Suppe zuletzt zu essen — ganz harmlos, aber offenbar
ein maniakalisch - reizbarer Zustand.
Woher ich das alles weiß? Liebhaberei; habe aber ein Haar drin gefunden.
Hören Sie mal zu, habe da eine ausgezeichnete Geschichte erlebt. Sie wissen
doch, daß ich vorm Jahre in den bairischen Alpen war. Ich fahre also mit dem
Zweiuhrzuge aus München. Fuhr da — nebenbei bemerkt — mit einem Herrn
aus Leipzig, sehr netter Herr. Buchhändler, giebt eine alte berühmte Zeitschrift
heraus. Denken Sie mal, der Herr fuhr nach dem Starnberger See, um für
seine Mitarbeiter eine Villa zur Sommerfrische zu kaufen — oder zu mieten —
oder anzusehen, ich weiß nicht mehr. schneidiger Gedanke! Was? Lasse ich mir
gefallen. Ich kriegte wahrhaftig selber Lust, unter die Litteraten zu gehen.
Ja, was wollte ich denn erzählen? Richtig, vom Starnberger See. Wie ich
ins Dampfschiff trete und mich umdrehe, sehe ich Frau Geheimrätin Stern. Sie
erinnern sich doch von Gastein her. Dieselbe; mit ihrer Stütze, sehr nettes junges
Mädchen. Ein bischen verdreht. Ich führe also die Damen unters Zelt; wir
setzen uns und warten auf die Abfahrt. Sie läuten bereits, da kommt Justizrat
Heunig an. Ich erkenne ihn von weitem und rufe: Schnell, schnell, Justizrätchen,
die Karre wird gleich losgehen. Da tanzt er auf der Landungsbrücke herum und
kommt nicht vorwärts. Die Leute auf dem Boote werden ungeduldig; zuletzt er¬
wischt ihn ein Kofferträger, der führt ihn hinüber. Kaum aber ist er im Schiffe
und will quer über den freien Platz zur ersten Kajüte schreiten, geht die Wackelei
wieder los, kaum daß er an Stühlen und Geländern vorwärts kommt. Was? noch
ein bischen wackelig? rufe ich. Frühmaß im Hofbräu getrunken? Er entschuldigt
sich bei den Damen und gesteht es einigermaßen verlegen zu, daß er das Bier
nicht vertragen könne und daß er im Hofbräu durch gute Bekannte festgehalten
worden sei. Es war aber alles nicht wahr. Ich war selbst im Hofbräu gewesen
und hatte ihn da nicht gesehen. Er hatte überhaupt kein Bier getrunken, sondern
litt an Platzfurcht. Was das ist? Eine reizbare Schwäche, ein nervöser Zustand.
Denken Sie mal den Zustand, Sie sind nicht imstande, über einen freien Platz zu
gehen. Sie kriegen Herzklopfen, Angstzustände, kommen nicht von der Stelle, bis
sie jemand führt. Will zuviel Bier getrunken haben. Unsinn! Mir muß mau
das nicht vormachen. Uebrigens ist Hennig ein Manu in den besten Jahren; hätte
nicht gedacht, daß er schon angekäntert sei. Aber kolossale Praxis, schwere Zigarren,
verbrauchte Nerven. VoilK.
Na ja; also wir sitzen da und haben uns ein Glas Bowle einschenken lassen,
da erscheint Kaselitz auf der Bildfläche. Sie kennen doch Louis Kasclitz, den Be¬
sitzer vom „Prinzen Albrecht." Gleich links an der Fricdrichstraßen-Ecke. An¬
ständiges Hotel, famoser Frühstückstisch. Also der alte Schwede hat auch schon
sogenannte Nervenzufälle gehabt. Wissen Sie, so was wie Delirium trsmons.
Es hat seine Gefahren, Restaurateur zu sein, wenn man an seinen schnapsen nicht
vorüber kann, ohne mal zu revidiren. Absynth und andre Kleinigkeiten. Trau¬
rige Sache übrigens. Ich habe es manchmal mit angesehen, daß der Alte im Hinter¬
grunde herumschlich und die Kellner um spirituösen anbettelte, bis der Sohn er¬
schien, den Alten unter den Arm nahm und spurlos mit ihm verschwand.
Also der war es mit seiner Tochter, einem bildschönen Frauenzimmer. Sie
hatte aber auch so was im Gesichte, was wie Neuralgie aussah. Und besonders
die Augen! Wenn die so scheu und unsicher sind, kaun man allemal auf Morphium
schließen. Mein Louis Kaselitz bestellt sich schleunigst ein halbes Dutzend Schnäpse,
Fräulein Tochter bestellt sie wieder ab. Hierauf erscheint er mit einer Flasche
Notspohn unterm Arme. Die wird ihm auch wieder abdividirt. Zuletzt erblickt
er unsre Bowle und ist nicht mehr zu halten, kommt augesegelt, stellt sich vor,
beruft sich auf alte Bekanntschaft; was Wollen wir machen, wir laden ihn ein und
geben ihm sein Glas, Fräulein Doris — übrigens ein sehr nettes Mädchen, durch¬
aus anständig — war es nicht gerade recht. Es machte sich aber.
Nun waren wir schon ein ganz hübscher Kreis. In Seeshanpt kamen wieder
Viel Passagiere dazu. Denken Sie mal, wieder Bekannte! Nicht von mir, sondern
vom Justizrat, Konsul Waldenburg aus Palermo oder sonstwo in Italien und
eine Freiin von Wrede aus Westpreußen. Hatten sich am Walchensee kennen ge¬
lernt. Das hätten Sie mit anhören sollen, diese beiden! Der Konsul log, daß
sich die Balken bogen, oder vielmehr er phantasirte, die Wrede wollte sich zu
Tode wundern und fiel aus einem Schrecken in den andern, und die Stern er¬
innerte sich an alles, was sie nie gehört und gesehen hatte und was es überhaupt
nicht giebt. Wenn man das so hört, lacht man über die wunderlichen Leute, oder
man ärgert sich, macht den Leuten im Stillen Vorwürfe und übersieht, daß dies
alles Krankheitssymptome sind: niedergedrückte Stimmung, melancholisch-reizbare
Schwäche, Erinnerungstäuschungen. Es giebt Menschen, über deren Leichtsinn
oder Verschwendungssucht man Zeter Mordio schreit. Man nennt es unbegreiflich,
wie sie allen Ermahnungen und Vernunftgründen unzugänglich bleiben, und es ist
doch so einfach. Partieller Blödsinn! Die Denkmaschine setzt aus. Kennen Sie
Leutnant von Staate? Was hat der für Schande über sich und seine Familie
gebracht. Jetzt sitzt er im Gefängnis, man hätte ihn lieber zur rechten Zeit ins
Irrenhaus bringen sollen.
Wo war ich denn stehen geblieben? Richtig, bei der Stern. Ja, nun noch
eins. Wie ich so dabei sitze und mich amüsire, höre ich auf dem zweiten Verdeck
einen Spektakel. Man will einen arretiren. Ich frage, was es giebt. Ein Herr
habe Gepäckstücke stehlen wollen. Man hat ihn gerade beim Kragen, und wie
er sich umdreht — ich denke, mich soll der Schlag rühren —, ist es der Pro¬
fessor Glimmer aus Bonn. Ich springe dazwischen und höre, er habe alle Koffer
umgedreht. Er sagt, er habe nur die aufgeklebten Zettel lesen wollen. Das glaubt
ihm natürlich kein Mensch. Sehen Sie, wenn mans nicht besser wüßte! Mania-
kalisch-reizbare Schwäche! Lesemarotte. Müssen alles lesen, jeden Zettel um¬
drehen. Sind sonst ganz vernünftige Leute.
Den holten wir uns denn auch ran. Es war nicht schwer, den Kapitän auf¬
zuklären. Inzwischen kamen wir an Schloß Berg vorüber. Man konnte die Fahne
im See, wo König Ludwig ertrunken ist, ganz deutlich sehen. Alles tritt an die
Brüstung und macht ein trübseliges Gesicht. Und die Stütze seufzt und sagt halb¬
laut: Wer so glücklich wäre!
Hols der Teufel! Ich gebe einen Korb Sekt, wenn wir nicht alle denselben
Gedanken gehabt haben. Wissen Sie, Goethes Fischer muß auch so einer gewesen
sein, da braucht es nicht viel Nachhilfe.
Endlich kommen wir wieder in Starnberg an. Kaum liegt das Boot an der
Brücke, da springt ein Hund aufs Verdeck. Schrimspepel! ruft Fräulein Doris
und wird Puterrot, und am Professor springt der Hund in die Höhe, und vor der
Frau Rätin wedelt er mit dem Schwänze und begrüßt alle als Bekannte. Haben
Sie je schon einen Hund gekannt, der Schrimspepel hieß? Schwerlich. Die ganze
Gesellschaft aber kannte ihn, denn es war des Doktors Hund. Ich meine natürlich
den Doktor Grotjahn in Buchenheil. Kennen Sie den nicht? Er hat ja die be¬
kannte Nervenheilanstalt. Da kam nun die erbauliche Thatsache zu Tage, daß die
ganze Gesellschaft zu verschiednen Zeiten in Buchenheil gewesen war.
Ob ich auch dagewesen bin? Natürlich. Köstlich amüsirt da. Fideles Ge¬
fängnis. Warum? Ich hatte die Marotte, alle Leute für verrückt zu halten und
nur mich für gesund. Als man mir beigebracht hatte, daß ich auch verrückt sei,
wurde ich als geheilt entlassen.
Wo Schrimspepel ist, ist auch der Doktor nicht fern. Richtig, da stand er
mit einer Dame am Ufer. Er machte gerade seine Hochzeitsreise. Wen hatte er
geheiratet? Natürlich eine seiner Patientinnen. Ich gratulire zur Nachkommen¬
schaft! erstens wegen der Frau und zweitens auch des Doktors wegen, der, wie
alle Nervenärzte, seinen richtig ausgebildeten Sparren hat.
Das gab nun ein fideles Wiedersehen. Wir blieben ein paar Stunden bei¬
sammen und erzählten uns Anstaltsgeschichten, als wenn wir alle Portenser ge¬
wesen wären. Als wir uns trennten, war Louis Kaselitz nicht zu finden. Zuletzt
entdeckte ihn jemand in irgend einem Winkel. Der hatte die günstige Gelegenheit
benutzt, sich furchtbar zu betrinken.
Sehen Sie, das ist Jungdeutschland.
Nun denken Sie wohl, ich wäre der Meinung, daß einmal die Slawen unsre
Erbschaft antreten werden? Gott bewahre. Diese liederliche, verschnapste Gesell¬
schaft wird noch eher fertig werden als wir. Aber China. Wenn erst einmal
Rußland an China kaput gegangen ist, werden wirs mit China zu thun kriegen.
Chinesischer Krieg! kolossaler Gedanke! Was? Unsre pommerschen Jungen und
diese Mongolen! Nicht wahr, schneidiger Gedanke!
Wenn es dann noch unsre pommerschen Jungen giebt!
Man sollte die Ehe verstaatlichen und nur solche zusammen thun, von denen
ein gutes Züchtungsresultat zu erwarten ist. Nein, wirklich! Sie können das in
allem Ernste in Doktor Scholz seinem Buche lesen. Wird sich Wohl nicht durch¬
führen lassen. Aber, im Ernste geredet, man sollte die Freizügigkeit beschränken.
Wer einmal in der Stadt ist, der ist verloren. Man sollte mit dem Nachschub
gesunder Kräfte, die wir auf dem Lande haben, sparsamer umgehen.
Ich war unfreiwilliger Zuhörer eines Gespräches, das ich nur zu derjenigen
Hälfte hörte, die in dem bekannten anspruchsvollen Tone vorgetragen wurde,
in dem sich gewisse Offiziere gefallen. Diese Hälfte habe ich möglichst treu wieder¬
gegeben. Ich frage aber, hat der Herr nicht riesig übertrieben, oder sollte vielleicht
an der Sache mehr Wahres sein, als man gern zugeben möchte?
^«
^^^T,bwohl Eriks Arbeiten hauptsächlich darin bestanden, daß er in
seinem Atelier auf dem Sofa lag und Shag rauchte und Mar-
ryat las, so fesselte es ihn doch für eine Zeit sehr ans Haus,
zwang sie dadurch zu neuer Vorsicht und machte neue Vorwände
und neue Lügen notwendig.
Daß Fennimore so erfinderisch in dieser Hinsicht war, schuf die erste
Wolke am Himmel. Es war im Anfang so gut wie nichts, nichts weiter als
ein flüchtig an Ricks vorbeiziehender Zweifel, ob seine Liebe nicht edler sei als
der Gegenstand derselben. Aber er war nicht klar und rein, dieser Gedanke,
nur eine flüchtige Ahnung, die nach diesem Wege hindeutete, ein undeutliches
Schwanken seines Sinnes, das nach jener Seite hinzog.
Aber es kam wieder, und zwar in verstärktem Maße, zuerst noch unbe¬
stimmt, dann von einem male zum andern schärfer und schärfer. Und es war
entsetzlich, mit welch rasender Hast es untergraben konnte, erniedrigen, den
Glanz verringern. Ihre Liebe ward nicht geringer, im Gegenteil, je mehr sie
herabsank, desto leidenschaftlicher, glühender wurde sie, aber dieses verstohlene
Händedrücken unter der Tischdecke, diese Küsse im Vorzimmer und hinter den
Thüren, diese langen Blicke, unmittelbar unter den Augen des Betrogenen,
das beraubte ihre Liebe des Erhabenen. Das Glück stand nicht mehr still über
ihren Häuptern, sie mußten das Lächeln, das Licht derselben erHaschen, wo sie
nur konnten, und List und Schlauheit waren nicht länger eine traurige Not¬
wendigkeit, sondern ein ergötzlicher Triumph; die Falschheit wurde ihr wahres
Element und machte sie klein und schlecht. Es gab auch entwürdigende
Geheimnisse, über die sie früher, jeder für sich, getrauert hatten, indem sich
jeder in den Augen des andern unwissend stellte; diese mußten sie jetzt teilen,
denn Erik war keine verschämte Natur, und es konnte ihm oft in den Sinn
kommen, in Ricks' Gegenwart zärtlich gegen seine Frau zu sein, sie zu küssen,
sie auf den Schoß zu nehmen, sie zu umarmen, und Fennimore durfte diese
Liebkosungen nicht abweisen, wie früher, oder es fehlte ihr vielmehr der Mut
dazu; das Bewußtsein ihrer Schuld machte sie unsicher und bange.
So sank das hohe Schloß ihrer Liebe mehr und mehr herab, das Schloß,
von dessen Zinnen herab sie so erhaben über die Welt hinausgeschaut und
worin sie sich so stolz und groß gefühlt hatten.
Aber sie waren glücklich zwischen den Ruinen.
Wenn sie jetzt im Walde spazieren gingen, so geschah es meist an dunkeln
Tagen, wo der Nebel in den braunen Zweigen hing und sich zwischen den
nassen Stämmen verdickte, sodaß sie niemand sehen konnte, wenn sie sich hier
küßten und sich dort umarmten, und niemand sie hören konnte, wenn ihre
leichtsinnige Rede in ausgelassenem Gelächter erklang.
Das Gepräge der Ewigkeitsmelancholie, das über ihrer Liebe gelegen hatte,
war verlöscht; eitel Lachen und Scherzen herrschte jetzt zwischen ihnen, und es
war eine wahre Fieberhast über sie gekommen, eine Gier nach den eilenden
Sekunden des Glückes, als müßten sie sich beeilen mit ihrer Liebe, als hätten
sie nicht das ganze Leben mehr vor sich.
Es änderte nichts in ihrem Verhältnis, daß Erik nach Verlauf eines
Monats seiner Idee müde ward und von neuem seine Fahrten begann, und
zwar mit einem solchen Eifer, daß er nur selten zwei Tage hinter einander zu
Hause blieb. Wohin sie im Laufe der Zeit gesunken waren, dort blieben sie.
Vielleicht daß sie hin und wieder in einsamen Stunden mit Wehmut zu der
Höhe hinaufstarrten, von der sie herabgestürzt waren, vielleicht daß sie sich
auch nur wunderten, wie anstrengend es doch gewesen sein müsse, sich dort oben
festzuhalten, daß sie sich sicherer da gebettet fühlten, wo sie jetzt waren. Es
trat keine Veränderung ein. Nicht in Bezug auf die alten Tage, sondern in
Bezug auf die schlaffe Gemeinheit, die darin bestand, daß sie weiter lebten, wie
sie sonst gelebt hatten, ohne doch mit einander fortzulaufen — dies ward ihnen
mehr und mehr fühlbar, und verkettete sie enger und tiefer mit einander in
dem gemeinsamen Gefühl ihrer Schuld. Denn keines von ihnen wünschte die
Dinge anders, als sie waren; auch verbargen sie es nicht vor einander, denn
es war eine cynische Vertraulichkeit zwischen ihnen entstanden, wie sie gewöhnlich
zwischen Mitschuldigen zu entstehen pflegt, und da war nichts in ihrem Ver¬
hältnis, was sie sich gescheut hätten mit Worten zu berühren. Sie nannten
die Dinge mit einem traurigen Mut beim rechten Namen und sahen ihnen in
die Augen, so wie sie einmal waren.
Es hatte im Februar den Anschein gehabt, als sollte der Winter schon
ein Ende nehmen. Dann aber kam der März mit seinem weißen Mantel und
dessen losem Futter, und ein Schneegestöber nach dem andern bedeckte die Erde
mit einer dichten Schicht. Späterhin trat Stille ein mit Hellem Frost, und
der Fjord lag unter einer dichten Eisdecke da> die sich lange hielt.
Gegen Ende des Monats, eines Abends nach dem Thee, saß Fennimore
allein in ihrem Wohnzimmer und wartete.
Es war sehr hell drinnen, das Klavier stand offen, die Lichter darauf waren
angezündet, und von den Lampen waren die Schleier abgenommen, sodaß die
Goldleisten und alles, was an den Wänden hing, deutlich und klar hervortrat.
Die Hyazinthen waren von den Fensterbrettern genommen und auf den Schreib¬
tisch gestellt und standen nun da, ein Haufe scheinender Farben, die Luft mit
ihrem reinen, starken Duft erfüllend. Im Ofen brannte das Feuer mit ge¬
dämpftem, vergnüglichen Summen.
Fennimore ging im Zimmer auf und ab, auf einem der dunkelroten Streifen
des Teppichs fast balancirend. Sie trug ein etwas altmodisches, schwarzes
seidnes Kleid, das schwer von den vielen Garnirungen hinter ihr herschleppte
und sich, so wie sie ging, von der einen Seite auf die andre legte.
Sie summte eine Melodie vor sich hin und hatte mit beiden Händen in
die mattgelbe Kette von großen Bernsteinperlen gefaßt, die sie um den Hals
trug, und wenn sie auf ihrem roten Streifen schwankte, hielt sie mit der Me¬
lodie inne, hielt sich aber noch immer an der Kette fest. Vielleicht war ihr
ihre Wanderung eine Vorbedeutung, daß, wenn sie so und so viele male im
Zimmer ans und abgegangen sei, ohne vom Streifen herunter zu kommen und
ohne die Kette loszulassen, dann Ricks kommen würde.
Er war am Vormittage dagewesen, als Erik fortfuhr, und war bis gegen
Abend geblieben, doch hatte er versprochen, wiederzukommen, sobald der Mond
aufginge und es hell genug wäre, um sich über den durch Waaken gefährdeten
Fjord zu wagen.
Fennimore war mit ihrem Orakel fertig, welcher Art auch das Ergebnis
geworden sein mochte, und trat nun ans Fenster.
Es sah gar nicht aus, als wenn der Mond heute Abend noch durch¬
kommen würde, so schwarz war der Himmel, und es war noch viel dunkler da
draußen auf dem graublauen Eise, als hier am Lande, wo der Weiße Schnee
lag. Es war wohl das Vernünftigste, wenn er wegblieb. Und sie setzte sich
mit einem resignirten Seufzer ans Klavier, stand aber wieder auf, um nach
der Stutzuhr zu sehen. Dann kehrte sie zurück und setzte entschlossen ein großes,
dickes Buch mit Noten vor sich hin, aber sie spielte doch nicht, sie blätterte wie
geistesabwesend in dem Buche und verfiel in Gedanken. Wenn er nun doch jetzt
drüben an dem andern Ufer stünde und seine Schlittschuhe anschnallte, und dann
in wenigen Minuten hier wäre! Sie sah ihn so deutlich vor sich, er atmete
ein wenig schwer nach dem schnellen Lauf und blinzelte mit den Augen bei
dem hellen Licht hier drinnen nach all der Dunkelheit. Es kam so eine Kälte
mit ihm herein, und sein Bart war ganz voller kleiner, blitzender Tropfen.
Dann würde er sagen — ja was würde er wohl sagen?
Sie lächelte und sah an sich nieder.
Und noch immer war der Mond nicht zum Vorschein gekommen.
Sie trat wieder ans Fenster, blieb dort stehen und sah in das Dunkel
hinaus, bis kleine Funken und regenbogenfarbene Ringe vor ihren Augen tanzten.
Aber sie waren nur so unbestimmt da. Sie hätte es gern gesehen, wenn da
draußen ein Feuerwerk gewesen wären, Raketen, die in einem langen, langen
Streifen in die Luft aufstiegen und dann zu kleinen Würmern würden, die sich
in den Himmel einbohrten und mit einem Knall verschwänden, oder auch eine
große, große matte Kugel, die zitternd in die Höhe schwebte und dann langsam
in einem Regen von tauscndfarbigen Sternen herabsänke. Sieh, sieh doch!
so weich und rund wie ein Neigen, ganz wie ein Goldregen, der sich herab¬
neigt. Lebt wohl! Lebt wohl! Das waren die letzten. Du großer Gott, daß
er auch nicht kam! Und sie wollte nicht spielen.
In demselben Augenblicke wendete sie sich nach dem Klavier um, schlug
eine Oktave hart an und hielt die Tasten so lange fest, bis der Ton ganz er-
storben war, und das wiederholte sie wieder und wieder. Sie wollte nicht
spielen, nein, nicht spielen, aber tanzen! Einen Augenblick schloß sie ihre Augen
und brauste in Gedanken dahin durch einen unermeßlichen Saal von Rot, Weiß
und Gold. Wie herrlich wäre es, zu tanzen, warm zu werden und Champagner
zu trinken! Dann mußte sie daran denken, wie sie einmal, als sie noch in die
Schule ging, zusammen mit einer Freundin Champagner aus Sodawasser und
Eau de Cologne gemacht hatte, und wie sie beide so krank von dem Getränk
geworden waren.
Sie richtete sich auf und ging durchs Zimmer, instinktmäßig ihr Kleid nach
dem Tanze ordnend.
Ja wenn wir nun endlich vernünftig würden! sagte sie halblaut, nahm
ihre Arbeit und setzte sich in den großen Lehnstuhl bei der Lampe.
Aber sie konnte nicht fleißig sein, die Hände sanken ihr bald in den Schoß,
und ganz allmählich, mit kleinen Bewegungen, machte sie es sich in dem großen
Stuhle behaglich, sich darin zurückkehrend, das Kinn in die Hand gestützt und
das Kleid über die Füße gezogen.
Sie dachte neugierig darüber nach, ob die andern Frauen auch wohl so
wären wie sie, ob auch sie sich geirrt hätten und unglücklich gewesen wären
und dann einen andern geliebt hätten. Sie nahm die Damen von Fjordby
eine nach der andern durch, dann dachte sie plötzlich an Frau Boye; sie war
immer ein peinigendes Rätsel für sie gewesen, diese Frau, die sie haßte und von
der sie sich gedemütigt fühlte.
Erik hatte auch einmal gesagt, daß er rasend in Frau Boye verliebt ge¬
wesen sei.
Wer doch alles über sie wüßte!
Sie lachte bei dem Gedanke» an Frau Boyes neuen Mann.
Und die ganze Zeit, während sie mit all diesen Gedanken beschäftigt war,
sehnte sie sich, lauschte sie nach Ricks. sie dachte sich ihn kommend, immer
kommend, da draußen über das Eis her. Sie ahnte nicht, daß sich nun schon
seit zwei Stunden ein dunkler, kleiner Punkt aus der entgegengesetzten Richtung
über die schneeweißen Felder mühsam vorwärts gearbeitet hatte, um ihr eine
ganz andre Nachricht zu bringen als die, die sie von jenseits des Fjordes er¬
wartete. Es war nur ein Mann in einer Friesjacke und Schmierstiefeln, und
jetzt klopfte er an das Küchenfenster und flößte dem Mädchen einen tötlichen
Schreck ein.
Es sei ein Brief gekommen, sagte Trine, als sie zu ihrer Herrin ins
Zimmer trat.
Femnmore nahm das Papier; es war ein Telegramm. Ruhig reichte sie
dem Mädchen die Bescheinigung und ließ sie gehen; sie war nicht im geringsten
besorgt. Erik hatte ihr in letzter Zeit mehrmals telegraphirt, daß er am nächsten
Tage einige Gäste mit nach Hause bringen würde.
Und dann las sie.
Sie schrie plötzlich laut auf, fuhr entsetzt von ihrem Stuhle auf und starrte
mit namenloser Angst auf die Thür.
Sie wollte es nicht hier im Zimmer haben, sie wagte es nicht, und mit
einem Satze war sie an der Thür, stemmte ihre Schulter dagegen und drehte
an dem Schlüssel, bis ihr die Hand schmerzte. Aber er wollte nicht schließen,
wie sehr sie sich auch bemühte. Dann ließ sie die Hand sinken. Es war ja
auch richtig, es war gar nicht hier, sondern weit fort von ihr in einem fremden
Hause.
Sie fing an zu zittern, ihre Kniee trugen sie nicht mehr, sie glitt an der
Thür herab auf den Fußboden.
Erik war tot. Die Pferde waren durchgegangen, hatten den Wagen an
einer Straßenecke umgeworfen, und Erik war mit dem Kopfe gegen die Mauer
geschleudert worden. Nun lag er tot in Aalborg. So hatte sich die Sache
zugetragen, und das meiste davon stand in dem Telegramm. Außer ihm war
nur der weißhalsige Hauslehrer, der Araber, auf dem Wagen gewesen, der hatte
auch das Telegramm geschickt.
Sie lag am Boden und jammerte leise vor sich hin; die beiden Hände
hatte sie flach gegen den Teppich gepreßt, den Blick zu Boden gesenkt, aus¬
druckslos und starr, hilflos wiegte sie den Oberkörper von einer Seite zur
andern.
Noch vor wenig kurzen Augenblicken war es so hell und duftig um sie
her gewesen, sie konnte es nicht sofort alles aufgeben und in die pechschwarze
Nacht des Kummers und der Reue hüllen, wie sehr sie sich auch bemühte. Es
war nicht ihre Schuld, aber durch ihr Bewußtsein zuckte noch ein unsicher blen¬
dender Strahl von Liebesglück und Liebeslust, und starke, thörichte Wünsche
wollten sich vordrängen, sich nach einer Seligkeit des Vergessens sehnend oder
sich bemühend, mit krampfhaft wilden Griffen das rollende Rad der Begeben¬
heiten zurückzudrehen.
Aber das war bald vorüber. In dunkeln Scharen aus allen Ecken kamen
die finstern Gedanken geflogen gleich Raben, die der Leichnam ihres Glückes
herbeigelockt hatte, und die nun Schnabel neben Schnabel einhackten, während
die Lebenswärme den Körper noch nicht verlassen hatte. Und sie zerfetzten und
zerhackten ihn und machten ihn völlig unkenntlich, jeder Zug war entstellt und
verzerrt, bis das Ganze ein widriger Haufe, ein Gegenstand des Ekels und
Abscheus geworden war.
Sie erhob sich und ging umher, indem sie sich wie eine Kranke an Stühlen
und Tischen hielt, und sie blickte verzweifelt auf, als suchte sie ein Spinngewebe
von Hoffnung, nur einen Blick des Trostes, ein kleines Zeichen des Mitleids.
Aber ihr Auge begegnete nur den hellbeleuchteten Familienporträts, allen diesen
Fremden, die Zeugen ihres Falles und ihres Verbrechens gewesen waren;
schläfrige alte Herren waren es und gezierte Matronen, und dann dies unver¬
meidliche Gnomenkind, welches sie überall hatten, das Mädchen mit den großen
runden Augen und der aufgeschwollenen Stirn. An all dies fremde Eigentum
hatten sich allmählich Erinnerungen genug geknüpft, der Tisch dort, der Stuhl,
der Schemel mit dem schwarzen Pudel darauf und diese schlafrockscirtige Por¬
tiere, das alles hatte sie mit Erinnerungen gesättigt, mit buhlerischen Erinne¬
rungen, die es jetzt von sich spie und ihr nachwarf. O, es war unerträglich,
mit allen diesen Gespenstern der Sünde und mit sich selber obendrein hier ein¬
geschlossen zu sein; sie schauderte vor sich selber, sie drohte ihr, dieser ehrlosen
Fennimore, die sich zu ihren Füßen wand, sie entzog ihren flehenden Händen
den Saum ihres Kleides. Gnade! Nein, da war keine Gnade, wie konnte es
wohl Gnade geben vor jenen gebrochenen Augen in der fremden Stadt, die
jetzt, nachdem sie sich geschlossen hatten, sehen konnten, wie sie seine Ehre in
den Schmutz getreten, wie sie ihm ins Gesicht gelogen, wie sie sein Herz ver¬
raten hatte?
Sie konnte es fühlen, wie sie auf sie gerichtet waren, diese gebrochenen
Augen, sie wußte nicht, weswegen sie sich von ihnen wenden sollte, um ihrem
Blicke zu entgehen, aber sie folgten ihr unaufhörlich, wie zwei eiskalte Strahlen
über sie hingleitend; und während sie so niederstarrte und jeder Faden des
Teppichs, jeder Stich auf den Schemeln in der starken, scharfen Beleuchtung
unnatürlich deutlich vor ihren Augen ward, da merkte sie, wie es mit den.
Schritten eines Verstorbenen um sie herum ging, wie es ihr Kleid streifte,
sodaß sie entsetzt aufschrie und zur Seite wich; aber baun stand es vor ihr wie
mit Händen, und es waren doch auch wieder keine Hände, es war etwas, das
langsam nach ihr faßte, das höhnend und lauernd nach ihrem Herzen griff,
nach diesem Wunder von Falschheit, dieser gelben Perle der Treulosigkeit! Und
sie wich zurück, bis sie an den Tisch stieß, aber da war es noch immer, und
ihre Brust konnte sie nicht dagegen schützen, es griff durch Haut und Fleisch
hindurch wie — — Sie verging beinahe vor Angst, wie sie dort stand, sich
wehrlos rückwärts über den Tisch krümmend, während sich alle Nerven in Er¬
wartung strammten und das Auge starrte, als ob es in seiner Höhle gemordet
werden sollte.
Und dann war es auf einmal vorüber. Sie schaute mit einem unsichern
Blicke um sich, sank dann auf die Kniee nieder und betete lange. Sie bereute
und bekannte wild und rücksichtslos in stets wachsender Leidenschaftlichkeit mit
demselben fanatischen Haß gegen sich selber, der die Nonnen dazu treibt, ihren
nackten Körper zu geißeln. Sie suchte begeistert nach gemeinen Worten und
berauschte sich in Selbsterniedrigung und in Demut, die nach Niedrigkeit lechzte.
Endlich erhob sie sich. Ihre Brust bewegte sich stark und unruhig, und
es lag ein matter Glanz auf ihren bleichen Wangen, die, unter dem Gebet,
voller geworden zu sein schienen.
Sie sah sich mit einem Blicke im Zimmer um, als gelobte sie sich etwas
im Stillen, dann ging sie in das dunkle Nebenzimmer, schloß die Thür hinter
sich, stand einen Augenblick still, um sich an das Dunkel zu gewöhnen, und
tastete sich dann zu der Thür, die zu der geschlossenen Glasveranda führte, auf
die sie hinaustrat.
Dort war es Heller. Der Mond war jetzt aufgegangen und schien durch
die Krystallblumen der Glaswände, gelblich durch die Scheiben selbst, rot und
blau durch das farbige Glas, das den Nahmen der Fenster bildete.
(Fortsetzung folgt.)
Verbesserte Ausstellungskataloge. Es gab einmal eine Zeit, in der
— was das neue Geschlecht schwer glauben wird — eine Industrieausstellung nicht
nur in den Programmen und Festreden, sondern allgemein und in vollem Ernst
als ein Patriotisches Unternehmen „von großer Tragweite" angesehen wurde, und
jedermann gern dem idealen Zwecke uneigennützig seine Kräfte widmete. Wie be¬
kannt, ist man längst viel praktischer geworden. Geschäft ist alles. Der eine will
seine Ware verkaufen, wie nicht mehr als billig, der andre sein Knopfloch versorgen,
der dritte in den Zeitungen genannt sein, und der vierte fühlt sich für seine Mühe
belohnt, wenn er hohe Besuche empfangen und begleiten darf. Und das Geschäft
der drei letztern Kategorien ist gewöhnlich viel sicherer als das, welches den Vor-
Wand hergeben muß. Natürlich konnte auch der Ausstellungskatalog nicht auf dem
veralteten Standpunkte eines Begleiters stehen bleiben, der alle wünschenswerte Aus¬
kunft über die ausgestellten Dinge erteilt. Rüstig fortschreitend, ist er zu einer Art
Litfassäule geworden. Was sonst seinen Inhalt bildete, versieht nur noch die
Stelle eines Gelöstes, an welchem Ankündigungen aller Art befestigt werden können.
Bisher erschienen solche Anzeigen als Anhang, den der erfahrene Ausstellungsgast
sofort abzulösen und wegzuwerfen pflegte. Das war für ihn bequem, denn so
wurde aus dem dicken Bande ein mäßiges, in der Rocktasche unterzubringendes
Heft. Aber den Absichten der Jnscrirenden entsprach dieses Verfahren keineswegs.
Hohe Einrückungsgebühren und dann „nicht einmal gelesen!" wie Gräfin Orsinci
sagt — das war kein Geschäft. Die Beseitigung dieses Mißverhältnisses ist, wie
es scheint, Herrn Mosse in Berlin zu danken, der, ein begeisterter Anhänger des
Systems der Monopole, nach und nach den Druck und Vertrieb aller Ausstellungs¬
kataloge besorgt. Ueberall trifft man ihn an, von Trieft bis Kopenhagen: Mosses
ist die Adria, Mosses ist das Kattegat! Der „Jllustrirte Führer durch die nordische
Ausstellung in Kopenhagen" ist nun ein wirkliches Meisterstück. Wer da die An¬
kündigungen los sein wollte, müßte das ganze Buch auflösen, die Karten und Pläne
zerreißen. Und mit welchem Witze sind die Anzeigenblätter namentlich in den
„Führer durch Kopenhagen" eingeteilt! Amalienborg, Residenz des Königs,
gegenüber ein Lager von Grabsteinen; Frauenkirche — Konfektionsgeschäft; Petri-
kirche — Schuhlager; Garnisonkirche — Waschsoda; Oehlenschlägers Grab —
Centrifugen; gelehrte und wissenschaftliche Anstalten — Trikotwaren; Universität —
königliches Brauhaus; Studentenverein — Dampfsenffabrik und Essigbrauerei; Bi¬
bliothek und Archiv — Zahnärzte; Thorwaldsens Grab — Chemische Zcugreinigung;
Glyptothek — Guttapercha- und Gummiwaren; historische Museen — Normalwäsche;
Antikensammlung — Korsetmagazin; Schloß Rosenborg — Fettwaren; Zoologisches
Museum — abermals Korsets u. f. w. Allerdings durchschaut man nicht in jedem
Falle die satirische Absicht des Schäkers von Redakteur, doch immer muß mau die
Kunst bewundern, mit der er ein Anzeigcnbuch zu einer humoristischen Lektüre zu
machen und nebenher die Aufmerksamkeit des Lesers auf nichtkäufliche Herrlich¬
keiten Kopenhagens zu lenken gewußt hat. Ohne Zweifel wird diese Erfindung¬
weiter ausgebildet werden. So könnten beispielsweise die klassischen Dichtungen
für Handel und Verkehr nutzbar gemacht werden. Ein Pferd, ein Pferd, ein
Königreich für ein Pferd! Dazu in Klammern: N. N, Pferdehändler. Du stehst
mir in der Sonne, Clarence — Sonnen- und Regenschirme. Falsche, heuchlerische
Krokodilenbrut — Aquarien in allen Größen. Umgürte dich mit dem ganzen
Stolze u. s. w. — Das Neueste in Damengürteln. Ellende Wolken, Segler der
Lüfte — Segelboote werden vermietet. Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den
schickt er in die weite Welt — Stangens Reisebüreau. Doch wozu der vielen
Worte, die litterarische Industrie ist gewiß schon selbst darauf verfallen und wird
die Sache mit gewohnter Energie in die Hand nehmen.
Obwohl ein begeisterter Platoniker, ist Sybel doch nicht von dem Vorwurfe
freizusprechen, daß er in seinen Plato mehr hincininterpretirt, als andre Leser
in ihm zu finden vermögen. Wenn Plato schon deswegen die moderne Agrikultur-
„chemie" (!) vorgeahnt haben soll, weil er die Hoffnung aussprach, daß der Landbau
einmal rationeller als zu der Zeit, wo er sprach, werde gepflegt werden, so ist das
Mißtrauen gegen die Konstruktionen des auch sonst mit auffallender Vorliebe moderne
Vergleiche, Analogien in die Antike hincintragendeu Kommentators wohl gerecht¬
fertigt. Darum bedürfte es nicht der mit Stolz im Vorwort gegebenen Versiche¬
rung, daß der Verfasser nicht als Philosoph, sondern als Philolog seinen Plato
auslege. Dieses Durcheinanderwerfen historisch streng geschiedener Anschauungen
Pflegen ja die Philologen umgekehrt den Philosophen vorzuwerfen. Die Absicht
der ganzen Gratulationsschrift hat Sybel schon auf dem Titelblatte ausgesprochen.
Es soll der Nachweis geführt werden, daß Platos „Symposion" eine Programm¬
schrift der von ihm gebildeten Akademie sein soll. Zu diesem Zwecke stellt Sybel
das Gastmahl des Dichterphilosophen als historische Thatsache hin, giebt eine Skizze
der Zustände Athens um 390, und diese Darstellung ist kulturhistorisch uicht un¬
interessant. Für jeden unbefangenen Leser des „Symposions" wird nun zwar
von einer programmatischen Absicht desselben kaum etwas zu erkennen sein; aber bei
der hohen sittlichen Bedeutung des Eros in der platonische» Philosophie ist die
Auffassung des Dialogs zugleich als eines Entwurfs zur Erziehung der männlichen
Jugend wohl nicht unzulässig. Als höchste Liebe wird in der That die Liebe
des Schülers zum Lehrer gepriesen und bewiesen. Das „Programm" auch als
solches im streng historischen Sinne zu beweise», ist Sybel nicht gelungen, ist auch
nicht möglich. Am ansprechendsten ist seine Darstellung der platonischen Lehre
vom Eros.
Die große Beachtung, welche gegenwärtig der äußerst fruchtbare Würzburger
Meister findet, ist wohlverdient. Wenn im größern Publikum noch vielfach die
Ansicht verbreitet ist, die deutsche Bildnerei um die Wende von Mittelalter und
neuer Zeit sei einzig in Nürnberg zu suchen, so erfahren doch in den Kreisen der
Fachmänner längst Ulm und Würzburg gleich hohe Schätzung, und jeder Beitrag,
der den früher übersehenen Künstlern zu allgemeinerer Würdigung verhilft, ist
dankenswert. So gebührt auch Weber alle Anerkennung für das Bemühen, voll¬
ständigere und sichere Nachrichten über die Lebensumstände und die Werke Riemen-
schneiders zusammenzutragen. Er zeigt jetzt dessen nicht immer ersprießliche Thätig¬
keit in der Verwaltung der Stadt, seine Teilnahme am Bauernkriege und deren
Folgen im Zusammenhange, und führt über hundert Arbeiten teils noch an ihrem
ursprünglichen Bestimmungsorte, teils in Sammlungen ans. Wie weit er zu den
Zu- und Aberkennungen Grund hat, muß dahingestellt bleiben. Bei Kunstwerken,
welche aus einer großen Werkstatt hervorgegangen sind, mit solcher Sicherheit zu
entscheiden, ob und in welchem Umfange die Hand des Meisters daran thätig ge¬
wesen sei, behält immer etwas mißliches. Einerseits Pflegen begabte Schüler sich
wohl derart in die Weise des Meisters einzuleben, daß der Vielbeschäftigte später
selbst nicht mehr imstande ist, Eigenes und Fremdes zu unterscheiden — Beispiele
solcher Art sind auch heutzutage nicht selten —, und anderseits ist auch der Meister
von Stimmungen, dem größern oder geringern Interesse an der Aufgabe, dem
Stoffe und den Werkzeugen abhängig. Der scharfe Ton, den der Verfasser gegen
Vorgänger anschlägt, nicht nur wo diese sachlich geirrt haben, sondern auch wo
ihr kritisches Urteil von dem seinigen abweicht, scheint uns daher wenig am Platze.
Ueber Becker, der vor vierzig Jahren den Würzburger Bildhauer sozusagen ent¬
deckte, heute abfällig zu sprechen, ist vollends kein Kunststück. Aber Weber ist
fast immer gereizt, wenn er andre Forscher erwähnt, während er doch selbst sich
von gewagten Hypothesen nicht frei hält. So wenn er S. 11 schreibt: „Da Dill
wohl einsah, daß ihm in Nürnberg wegen der Eifersucht und des größeren Ruhmes
andrer Künstler keine glänzende Zukunft winke, ließ er sich dauernd in Würzburg
nieder." Woher kennt er diesen Beweggrund? Es liegt gar kein Anzeichen dafür
vor, daß Riemenschneider an Nürnberg gedacht habe. Auch sonst fehlt es nicht
an Absonderlichkeiten. Nachdem erzählt worden ist, daß Tylmanns Sohn Jörg
ein hohes Alter erreicht habe, wird fortgefahren: „Von nun an bestieg der kern¬
hafte Meister, eine Kraftnatur, auch alle Stufen der bürgerlichen Ehren" — der
Vater nämlich. S. 12: „Jugendliche Köpfe, die er mit einem Schwalle von Haaren
und tiefem Sinnen der Wehmut umspielt" — beiläufig bemerkt, eine verunglückte
Umschreibung einer Phrase, die, wenn wir nicht irren, Lübkes Eigentum ist. An
dem Christuskinde in der Neumünsterkirche zu Würzburg wird die naive Bewegung
gerühmt, daß es aber mit den Zehen spielt, „ist nicht zu rechtfertigen." Die in
das Leben Riemenschneiders eingreifenden Politisch-religiösen Wirren werden nur
vom katholischen Parteistandpunkte aus betrachtet. Und nun noch ein Wort über
„Dill." Daß der neue Katalog der Wiener Gemäldegalerie die Meister nicht unter
den der ganzen Welt geläufigen Atelicrncimen, sondern unter den Familiennamen
(insofern dieser Ausdruck in der italienischen Frührenaissance zulässig ist) aufführt,
ist allseitig als eine überflüssige Pedanterie angesehen worden. Doch ist es noch
viel nutzloser, aus einem halben Dutzend oder mehr gleichbeglaubigten Schreibweisen
eines und desselben Namens eine beliebig herauszugreifen und an die Stelle der
bisher üblichen setzen zu wollen, wie jetzt mehrfach „Jamitzer" anstatt „Jamnitzer"
beliebt wird; ein dritter könnte mit demselben Rechte „Gcnnitzer" und ein vierter
,,Jemnitzer" sagen. So möchte jetzt Weber den Vornamen Tilmann, der in den
meisten Aktenstücken vorkommt, durch die Abkürzung „Dill" verdrängen, obgleich
er selbst angiebt, daß die Zunftmeister von 1600 bereits mit diesem Namen „nichts
anzufangen wußten." Was soll nun damit anders erreicht werden als Verwirrung? —
Die zwanzig Holzschnitte bilden eine willkommene Beigabe, wenn auch einige gar zu
klein ausgefallen find.
Der dichterische Ertrag des freundlich-bescheidenen und natürlich nicht un-
geplackten Daseins eines Deutschböhmcn mit einleitenden Versen seines Sohnes, in
denen beiläufig sehr gut ein wutschnaubender Ibrahim Baffa des Dramas des
siebzehnten Jahrhunderts reden könnte. Anmutige Verse, in denen der österreichische
Kanzlciausdruck und eine wissenschaftliche Bezeichnungsweise an unrechter Stelle
nicht allzuoft stören. Gedanken, wie sie in Deutschland glücklicherweise nicht aus¬
sterben: Auseinandersetzungen mit der Welt, mit der Gesellschaft, die dem Dichter
das Streben nach dem Einen nicht zu rauben vermag, Zurückweisung lärmender
und seichter Tagesmeinung. Dazwischen freundliches Familienleben, auch wohl
manches rein übungsmäßige Schulstllck. Wer sich an wohlmeinender Bekräftigung
guter Gesinnung, besonders an schlichter, oft wohl genug bedrängter Lebensstelle
erfreut, wird das Heftchen nicht ohne Rührung lesen.
aß wir an den Hohenzollern eine Dynastie haben, die stets ein
offenes Auge und Verständnis hatte für die Aufgabe ihres Staates,
lehrt die ganze Geschichte desselben; daß wir an ihnen auch ein
Geschlecht haben, das gern Seeluft atmet, lehrt die Geschichte
unsrer jungen Flotte, die uns ein Landsoldat, Wilhelm I,, ge¬
schaffen und zu einem Glänze entwickelt hat, der den Neid der seefahrenden
Nationen, besonders Englands, erregt und schon oft in recht kleinlicher Weise hat
hervortreten lassen. Ohne diese große Schöpfung des großen Kaisers, unsre
Flotte, wäre Bismarcks Telegramm an den deutschen Generalkonsul in Kapstadt
eine Unmöglichkeit gewesen, jenes Telegramm, das uns, die wir doch vieles
Staunenswerte gesehen hatten, immerhin wie ein Märchen vorkam: „Sie
wollen amtlich erklären, daß er sLüdeM und seine Niederlassungen unter dem
Schutze des Reiches stehen." Da leuchtete in der Seele des ganzen Volkes ein
Heller Strahl der Hoffnung auf, es könnte doch das, was bisher nur eine
unfruchtbare Sehnsucht zu sein schien, ein deutscher Kolonialbesitz, der unserm
Volke neue politische und Kulturaufgaben stellte, noch zur Wirklichkeit werden.
Und diese Hoffnung ward zur Wirklichkeit in einer Weise, wie sie sich in den
wenigen Jahren, die seit jenem Telegramm dahingegangen sind, gar nicht er¬
warten ließ. Sind wir doch, was den Umfang unsrer überseeischen Besitzungen
betrifft, plötzlich die drittgrößte Kolonialmacht geworden.
Leider war es auch hier den Deutschfreisinnigen vorbehalten, den großen
Gedanken Bismarcks, so viel sie nur konnten, hindernd in den Weg zu treten;
auch jetzt noch können sie es nicht lassen, die großen Erfolge unsrer Kolonial¬
politik mit hämischer Kritik herunterzuziehen. Es ist traurig, zu sehen, wie
diese Partei alles Herrliche, was dem deutschen Volke unter Kaiser Wilhelm
geworden ist, mit ihrem Gifte begeifert. Als neulich der Kyffhäuserverband des
Vereins deutscher Studenten dem unter dem Präsidium von Dr. Karl Peters
stehenden Allgemeinen deutschen Verbände „zur Förderung überseeischer Inter¬
essen" beigetreten war, brachte die Volkszeitung in Ur. 171 diese Nachricht
mit der Frage als Zusatz: „Vielleicht zu Gunsten der durch etwaige Examina
gefallenen und deshalb zur Auswanderung geneigten Mitglieder?" Und dies
litterarische Jobbcrtum, das allerdings sehr viele schon auf dem Gymnasium
durch gefallene in sich zählt, nennt sich deutsch freisinnig!
Doch lassen wir das und wenden wir uns zu einer erfreulicheren Er¬
scheinung, die uns bei dem Aufbau unsers deutschen Kolonialreiches nutzbringend
und hilfreich entgegenkommt. Das ist der Chor der deutschen Landsleute, die,
ehe an deutsche Kolonien zu denken war, überall draußen in der fremden Welt,
sei es im Dienste der Wissenschaft, sei es auch, was schmerzlicher war, im
Dienste andrer Völker, als Pioniere für deren kolonisatorische Arbeit, auf ihren
einsamen Posten standen. So ist es lange gewesen; sie thaten vielfach eine
Arbeit, die unserm Volke verloren ging. Jetzt, wo wir eigne Kulturarbeit zu
thun haben in West- und Ostafrika, in Neu-Guinea und Polynesien, kommen
diese wackern Männer uns zu gute mit ihren Erfahrungen wie mit ihren
Opfern. Lehrgeld werden wir freilich noch genug zahlen müssen, an Menschen
wie an Vermögen, aber die Summe desselben ist doch um ein Beträchtliches
geringer anzuschlagen, jetzt, wo wir uns auf die in schwerer Arbeit gesammelten
Kenntnisse solcher bisher in fernen Gebieten auf eigne Thatkraft gestellten deutschen
Forscher und Praktiker verlassen können.
Unter diese wackern Männer gehört Hermann Soyaux, der uns in einem
kürzlich erschienenen Buche seine Erfahrungen und auf diese gestellten Betrach¬
tungen über das äquatoriale Afrika gegeben hat.*) Hermann Soyaux redet aus
reicher Erfahrung, zu der er, wie aus seinem Buche hervorgeht, ein tüchtiges
theoretisches Wissen mitgebracht hat. Er hat einen zehnjährigen Aufenthalt
voll praktischer Arbeit und reich an zielbewußter Beobachtung im tropischen
Afrika gehabt und ist zuletzt Begründer und Leiter der Woermannschen Kaffee¬
plantage in Gabun gewesen, während er das äquatoriale Afrika zuerst als
Mitglied der Loango-Expedition kennen lernte. So hat er denn ein Recht zu
dem, was er will, als ein begeisterter Anhänger deutscher Kolonisation aufzu-
zuklären und anzuregen und so mitzuhelfen an dem Aufbau eines überseeischen
Deutschlands.
Wenn wir nun von den sieben Kapiteln des wertvollen Buches, in welchem
Soyaux seine Erfahrungen und Betrachtungen niedergelegt hat, das erste aus¬
führlicher besprechen, so geschieht es deshalb, weil der Verfasser hier einen
Vorschlag macht, der für unsre in kolonialen Dingen maßgebende Behörde eine
gewisse Bedeutung zu haben scheint. Dieses erste Kapitel handelt über „Unsre
geographischen und wissenschaftlichen Kenntnisse von Deutsch-Afrika."
Da weist nun Soyaux zunächst auf die Thatsache hin, daß bei unsern
deutschen Besitzungen und Interessensphären in Afrika fast überall die geogra¬
phische Erkenntnis sich kaum über die Kttstenzonen erstreckt und vielerorten weniger
weit in die binnenländischen Gebiete hineinragt, als das in Kolonialgebieten
andrer europäischer Völker der Fall ist, die an jenen Gestaden Fuß gefaßt
haben. Das ist eine Sache, die auch Vismarck einmal berührte in seiner Rede
im deutschen Reichstage am 10. März 1887, wenn er sagte: „Merkwürdiger¬
weise ist hinter unsern Küstenkolonien gerade das Land unbekannter als z. B.
am Kongo. Ich habe das Gefühl, daß es geradezu ehrenrührig für unsre
Leistungen auch auf dem Gebiete der Wissenschaft sein würde, wenn wir über
das Gebiet hinter unsern Besitzungen keine Auskunft geben könnten, sobald es
eine Tagereise von der Küste entfernt ist. Mit den großen Länderstrecken, wo
wir weder englische noch französische Konkurrenz zu fürchten haben, sind wir
viel unbekannter, als mit dem Kongogebiet." Wundern darf man sich nun
nicht, wenn ein Aufschließen dieser dunkeln Gebiete immer nur laugsam vor
sich geht; es geschieht doch bei uns in der Hauptsache immer nur noch mit
Privatmitteln, im günstigsten Falle mit Geldern, die von Gesellschaften zu¬
sammengebracht sind, und der Opfer an Menschenleben werden dabei genug
gebracht; ist doch erst vor wenig Wochen einer der vortrefflichsten, kundigsten
und unternehmendsten Reisenden in Afrika seinem Forschungstricbe erlegen,
Heinrich Semler, und Kund und Tappenbeck sind nur eben mit dem Leben
davon gekommen; die koloniale Bewegung hat aber den Geist des deutschen
Volkes so mächtig gefaßt, daß die Lücken immer wieder ausgefüllt werden;
und so wird ja wohl auch das Dunkel, welches noch auf unsern binnenländischen
Besitzungen in Afrika meist liegt, mehr und mehr schwinden. Wenn aber Fürst
Bismarck von großen Länderstrecken sprach, wo wir weder englische noch fran¬
zösische Konkurrenz zu fürchten hätten, so hat er die Chikanen unsrer eng¬
lischen Vettern damals noch nicht so gekannt, wie er sie heute wohl kennen
wird. England gönnt uns unsre Hinterländer ebensowenig als unsre Küsten¬
strecken, und wird, soviel es kann, uns das Aufschließen und Ausnutzen der¬
selben hindern. Erst jüngst brachte die norddeutsche Allgemeine Zeitung die
Nachricht, daß im Kap-Parlament, augenscheinlich infolge eines Auftrags, der
Abgeordnete Osthuizen an die Kapregierung die Anfrage gestellt habe, ob sie
sich durch Vermittlung der königlich großbritannischen Regierung an Deutsch¬
land mit dem Ersuchen um Aufhebung des deutschen Protektorats über Damara-
land und über das Hinterland von Walfischbai wenden wolle. Der Premier¬
minister Sir Gordon Sprigg machte seinem Ärger über die deutschen Besitzungen
in Südwestafrika Luft und sprach sein großes Bedauern darüber aus, daß die
kaiserlich deutsche Regierung überhaupt Rechte und Jurisdiktion in der Gegend
von Walfischbai erworben habe, mußte freilich auch hinzufügen, daß ein Auf¬
geben jener Rechte nach der Entdeckung von Goldminen in dem deutschen Schutz¬
gebiete wenig wahrscheinlich sei. Also die Konkurrenz in und an unsern Hinter¬
ländern ist da, wie hier in der Nähe der Kapkolonie, so überall auf den ver¬
schiedenen Gebieten unsrer Kolonien. Es sei nur daran erinnert, wie es wieder
England ist, das trotz der die Gebiete des Niger und Berne der Wettbeteiligung
aller Nationen freigebenden Nigerakte faktisch diese Gebiete andern, und hier
sind wir Deutschen vornehmlich beteiligt, zu verschließen droht dadurch, daß es
der RoM MZgr Loinrmr^ einen Freibrief gab, wodurch diese es vollständig
in ihrer Hand hat, den Händlern den Aufenthalt am Niger unerträglich zu
machen. Die Kompagnie legt in einem offnen Hcmdelsgcbicte ganz ungesetzlicher¬
weise exorbitante Zölle auf und schneidet uns dadurch den Zugang zum deutschen
Teile des Berne vollständig ab. Dann ist das ganze Werk Dr. Flegels wertlos
und verloren. Ebenso ist uns dadurch das Hinterland von Kamerun zum
großen Teil verschlossen, und dem englischen Einfluß stehen bis zum Shadsee
Thür und Thor offen. So werden uns unsre Besitzungen in Südwestafrika
durch englische Polizeimacht verkümmert, und in Ostafrika hat die englische
Regierung die Schaffung einer englischen Interessensphäre sogar dort zugelassen,
wo schon Verträge abgeschlossen und deutsche privatrechtliche Ansprüche vor¬
handen waren. England scheut sich nirgends, das Recht mit Füßen zu treten,
wo es kann, sobald der große Handel in Frage gestellt wird, und so schnürt es
überall unsre West- und ostafrikanischen Besitzungen ein. Wie es jüngst mit
den kleinen Königreichen am Niger Verträge schloß oder geschloffen zu haben
vorgiebt, um die Märkte am Niger und deren Gebiet den andern Nationen zu
verschließen, so nimmt es auch keinen Anstoß, unsre Hinterländer seinem Ein¬
flüsse zu unterwerfen. Auf diese Konkurrenz müssen wir uns überall bei unsern
Kolonien gefaßt machen; hoffentlich hat Bismarck aber doch Recht, wenn er
sagt, wir brauchten sie nicht zu fürchten; vor allem ist da allzu große Nach¬
giebigkeit nicht am Platze, England hat zu viel wunde Stellen, wo es getroffen
werden kann.
Wir wollen aber jetzt in Soyaux' Betrachtungen über unsre Kenntnisse
von Deutschafrika fortfahren. „Was wissen wir — fragt er — über Togoland
und das, was dahinter liegt? was über Kamerun? was an Details über die
ausgedehnten Gebiete Südwestafrikas?" Abgesehen vom deutschen Wituland,
das in seiner Oberflächengestaltung doch einigermaßen befriedigend dargestellt
ist, hat die Forschung noch in allen andern Deutschafrikagebieten ein weites
Arbeitsfeld vor sich. Indessen darf doch auch hier manche schöne Hoffnung
gehegt werden. Nicht nur, daß unsre Kenntnisse fast von Monat zu Monat
auf geographischem Gebiete durch das bereichert werden, was einzelne für das
Kolonialwesen begeisterte Männer thun, wie z.B. erst kürzlich wieder Henrici
seine Forschungen über das Togoland kundgegeben hat, nicht nur, daß Gesell-
schaften, wie die Ostafrikanische Gesellschaft in Deutschland, manche schöne Frucht
vom Baume der geographischen Erkenntnis Afrikas bisher gepflückt haben und
weiter pflücken werden, es beabsichtigt auch die Reichsregierung selbst die Er¬
forschung der deutschafrikanischen Herrschafts- und Interessensphären in den
Bereich ihrer amtlichen Thätigkeit zu ziehen.
Aber es kommt nicht allein darauf an, zu wissen, „wie jene Länder aus¬
sehen, sondern zu erkennen, was sie hervorbringen," und darum weist Soyaux
darauf hin, daß uns außer der geographischen auch die naturwissenschaftliche
Erforschung unsers Besitzes notthut. Aus dieser Erforschung werden wir erst
erfahren, was dieser Besitz hervorbringen kann. Der Handel in unsern deutschen
Kolonien hat sich bisher mit den Produkten begnügt, die ihm von den Ein-
gebornen in die Strandfaktorei gebracht wurden. Damit werden aber natürlich
die verborgenen Schätze des Landes nicht im entferntesten genügend ausgenutzt.
Darum, wenn auch Soyaux der Überzeugung ist, daß der Hauptreichtum unsrer
überseeischen Gebiete in der Arbeit liegt, zu der wir insonderheit die Eingebornen
anregen müssen (wie das anzufangen ist, hat der Verfasser besonders im fünften
Kapitel, wo er über die Erziehung afrikanischer Eingebornen redet, ausführlicher
behandelt), so wird doch ein eingehenderes Studium der Natur uns von wesent¬
lichem Nutzen sein und sich zunächst am meisten lohnen. Es werden sich da
viele verwertbare Stoffe an Hölzern, Droguen, Pflanzensäften, Pflanzenfasern,
Früchten mannichfacher Art finden. Zur geographischen Erforschung muß vor
allem die botanische kommen. Gerade die Erkenntnis der kolonial-afrikanischen
Flora wird uns die gewichtigsten Fingerzeige für die wirtschaftliche Ausnutzung
des schwarzen Deutschlands geben. Gerade in botanischer Beziehung wissen
wir vom westafrikanischen Deutschland noch fast nichts, vom ostafrikanischen
nicht viel mehr als nichts. Soyaux hält die Einführung neuer Kulturen ohne
eine gleichzeitige Erforschung der Naturmaterialien für einen Mißgriff; die ein¬
heimische Pflanzenwelt berge wohl unerforschte Gewächse, die als Kulturpflanzen
behandelt werden könnten, welche dann unsern kolonialen Gesellschaften eine viel
vorteilhaftere und sichere Rente ergeben würden. Darum sollte das theoretisch¬
botanische Studium, aus welchem hier sofort eine praktische Nutzanwendung zu
ziehen sei, ernsthaft in unsern kolonialen Gebieten selbst betrieben werden. In
den Gebieten selbst, an Ort und Stelle darum, weil die Prüfung auf die
Verwendbarkeit der Pflanzenschätze an den frischen Naturobjekten, an den
Säften, Harzen, Fasern, Rinden, Früchten, Blüten, Blättern, Wurzeln u. s. w.,
vorzunehmen ist. Am getrockneten Material lassen sich nicht die Ergebnisse er¬
zielen, wie am Stammgewächs. Was hier für Pflanzen hauptsächlich zu be¬
nutzen und zu kultiviren sein möchten, darauf giebt besonders das sechste Kapitel
des Buches Aufschluß, das über „Produkte der Gegenwart und Zukunft" handelt.
Mit der botanischen, pflanzengeographischen Erforschung ist dann die Kenntnis
der Technik und der Chemie zu vereinigen. Der botanisch gebildete Chemiker
und Techniker erst wird den Wertpflanzen, die für den Welthandel Bedeutung
haben, den notwendigen, besondern Fleiß zuwenden und die Nntzstoffe entdecken,
aus denen Handelsartikel zu schaffen sind.
Das Ergebnis dieser Betrachtungen ist also die Notwendigkeit einer unver¬
züglichen Erforschung unsrer afrikanisch-kolonialen Gebiete in den erwähnten
Beziehungen, und zwar so und zu dem Zwecke, daß die Forschung der Gelehrten
unmittelbar in den Dienst praktischer Anwendung in den kolonialen Gebieten
gestellt werde. Hieraus kommt Soyaux zu einer Forderung und zu einem
Vorschlag, auf den wir oben schon hinwiesen und um deswillen wir uns hier aus¬
führlicher mit dem besprochenen Kapitel beschäftigten. In den britischen Kolonien
sehen wir überall „königliche Botaniker" angestellt, die durch ihre Studien das
Gedeihen der Kolonien fördern, Altes verbessern, Neues anregen. Ihre Studien¬
ergebnisse, die den unmittelbar interessirten Kreisen der Pflanzer und Kolonie¬
bewohner zur Verfügung gestellt sind, laufen in einer Zentralstelle zusammen,
von welcher jene Beamten abhängen, in Xe^v <Ag.rÄ6us in London. Von da
aus werden sie den Industriellen, Kaufleuten und Handelskammern mitgeteilt.
Dabei wird bald auf ein neu entdecktes Kolonialprodukt hingewiesen, bald auf
eine neue Methode, ein älteres Erzeugnis billiger und vollkomner herzustellen,
kurz, die Wissenschaft regt an, und die Praxis setzt diese Anregungen in baare
Münze um. Soyaux verlangt nun ein ähnliches Institut, wie das in Xev
(?g,räem8, eine Anstalt, durch welche die Ergebnisse der Forschung in unsern
Kvlonialgebieten den praktisch interessirten Kreisen des Vaterlandes, den Kauf¬
leuten und Gewerbtreibenden, zugänglich gemacht werden. Und zwar will er,
daß es die Reichsregierung schaffe; denn als eine allen Kreisen nützliche Anstalt
darf ein solches Institut nicht in Privatbauten ruhen. Schon die Gründung
einer Forschungsstation sei mit Jubel begrüßt worden. „Möge jene Station
— sagt er — bald nicht mehr die einzige sein — sie ist in der That schon
nicht mehr die einzige —; als logische Weiterentwicklung und notwendige Krönung
des Gedankens, welcher diese amtliche Stationsgründung veranlaßte, möchte
ich aber die Schaffung eines wie oben erwähnten Zentralinstituts bezeichnen,
welches ... die Forschungsarbeit leitet, verwertet, den praktisch arbeitenden
Kreisen zur Verfügung stellt und in einem unausbleiblich zu erwartenden Ko¬
lonialamt einer Abteilung für Kultivation zu unterstehen hätte."
Eine besondre Empfehlung des erwähnten Buches braucht wohl nach den
hier gegebenen Mitteilungen nicht erst noch ausgesprochen zu werden.
le Väter des demokratischen Sozialismus der Gegenwart, Marx
und Engels, treten bekanntlich mit dem Ansprüche auf, die sozia¬
listische Lehre von der Form und Hülle der Utopie befreit und
auf die Höhe einer Wissenschaft erhoben zu haben. Ihren Jüngern
wird daher auch nicht mehr gestattet sein, der Frage nach dem
Hauptprinzip ihrer Lehre mit einer bequemen Ausflucht zu entgehen, wie sie
dem letzten der bekannteren Utopisten noch offen stand. Als man Cabet den
Vorwurf machte, daß seine „Reise nach Jkarien" keine zusammenhängende wissen¬
schaftliche Theorie des Sozialismus enthalte, gab er in seiner Monatsschrift
Ils ?oxulM6 zur Antwort: „Wenn man uns fragt, was unsre Wissenschaft ist,
so antworten wir: Die Brüderlichkeit! Was ist euer Prinzip? Die Brüder¬
lichkeit. Was ist eure Lehre? Die Brüderlichkeit. Welche Theorie habt ihr?
Die Brüderlichkeit. Welches System? Die Brüderlichkeit." Sehr schön gesagt
und auch völlig genügend, wenn es sich darum handelt, Phantasie und Gemüt
müßiger Leser mit einem romanhaften Zukunftsbilde zu vergnügen, worin dar¬
gestellt wird, wie menschliches Zusammenleben sich ausnehmen könnte unter der
Voraussetzung, daß alle Beteiligten von brüderlichen Gefühlen gegen einander
beseelt wären. Bei sämtlichen sozialistischen Parteien handelt es sich aber um
etwas ganz andres: um Einführung des Prinzips der Gleichheit und Brüder¬
lichkeit in die Rechtsordnung, nötigenfalls mit Gewalt. Dieses Verfahren hat
mehr als fünfzig Jahre vor Cabet bereits Champfort kurz mit den Worten
gekennzeichnet: „Sei mein Bruder, oder ich schlage dich tot."
Wer in dieser Weise zur Brüderlichkeit aufgefordert wird, dürfte doch wohl
das Recht haben, vorher zu fragen: Aber, mein Lieber, der du mich im Nicht-
Verbrüderungsfalle totschlagen willst, möchtest du mir nicht vorher genauer sagen,
wozu mich die verlangte Brüderlichkeit verpflichtet und was ich, da es sich doch
einmal um Pflicht und Recht handelt, unter dieser Forderung eigentlich zu ver¬
stehen habe? Jeder großen geschichtlichen Umwälzung liegt ein mystischer Zug
zu Grunde, denn sie kann nur zu stände kommen, wo breite Volksmassen im
tiefsten Innern ihres Gemütes von neuen Idealen ergriffen sind. Bis in diese
Tiefe Pflegt aber der Strahl bewußten Erkennens nicht zu dringen. So werden
wir auch keine juristische Bestimmtheit der Begriffe verlangen, wenn auf dem
Banner der Revolution von 1789 die Dreizahl der Worte prangte: I,ibkrt6,
6Muth, tratsmits. Wenn wir die „Rechtsphilosophie der Revolution" näher
betrachten, wie sie namentlich in des Abbe Sieyds bekannter Broschüre vom
dritten Stande und i» der Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt,
so sehen wir, daß die Losung: „Freiheit und Gleichheit" vollständig genügend
ist, um die Quintessenz der Nevvlutionsgedanken in kurzen Schlagwörtern zu¬
sammenzufassen. Die „Brüderlichkeit" ist hinzugefügt worden in einem dunkeln
Drange, das Wesen der zu erstrebenden Gleichheit näher zu bestimmen. Es
sollte ausgesprochen werden, daß das Ideal, welches vorschwebte, nicht die
Gleichheit des einsam irrenden Wilden sei, sondern die soziale Gleichheit, nicht
die Gleichheit im Naturzustande, sondern Gleichheit in enger Kulturgemeinschaft.
Damit ist freilich ein großes Wort ausgesprochen, und voraussichtlich werden
noch Jahrhunderte harten Ringens vergehen, ehe die Realdialektik der Geschichte
in befriedigender Weise über den Widerspruch hinwegkommt, der in den Worten
liegt: „Gleichheit in der Kulturgemeinschaft." Denn das innerste Wesen aller
Kulturentwicklung ist ein Herausarbeiten der Ungleichheit.
Indessen, so mächtig auch der Drang sein mag, individuelle Kräfte zu ent¬
falten, nicht minder stark und untilgbar waltet der Trieb, im Geltendmachen
der Persönlichkeit es jedem gleichzuthun, freiwillig hinter keinen zurückzutreten.
Hierauf beruht der demokratische Zug der Zeit, dessen siegreiches Vordringen,
als Thatsache, auch von den konservativsten Beurteilern nicht bezweifelt wird.
„Einer bin auch ich" hatte zu Anfang des Jahrhunderts Ludwig Uhland mit
dem Trotz des Schwaben und des Demokraten gerufen, und heute macht das
allgemeine Stimmrecht dem Reichsbürger zur Pflicht, dieses politischen Waid¬
spruches eingedenk zu sein. Wenn auf der Tribüne des deutschen Reichstages
ein Drechsler oder Zigarrenmacher das Wort ergreifen kann, während Barone,
Kommerzienräte und Professoren aufmerksam zuhören, so bedarf es weiter keines
Beweises, daß die Ungleichheit, die sich als notwendige Folge aus gesteigerter
Kulturentwicklung ergiebt, von einer siegreichen Tendenz der Gleichheit über¬
wogen wird.
Welcher Art ist nun die Gleichheit, die in dem Jahrhundert, seit die Ba¬
stille dem Erdboden gleichgemacht worden ist, so gewaltige Fortschritte gemacht
hat? Welches sind die charakteristischen Züge derjenigen, welche als Idealbild
gesellschaftlicher Zukunft heute so manchem aus dem Volke verlockend erscheint?
Gehen wir auf 1789 zurück, als das Jahr, da zum erstenmale neben der Freiheit
die Gleichheit als oberstes Prinzip staatlicher Ordnung öffentlich ausgerufen
und anerkannt wurde. Im Artikel 1 ihrer Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte verkündet die verfassunggebeude Versammlung: I^Sö lloinmes
NÄissMt et äsen<zur«zue Ubres se eZaux en äroits. In Artikel 2 wird die Er-
Haltung der „natürlichen und unverjährbaren" Menschenrechte als oberster
Staatszweck bezeichnet, und als solche Rechte werden dann aufgezählt: Freiheit,
Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung. Nach der An¬
schauung der Konstituante, d. h. also im wesentlichen des Bürgerstandes von
1789, sollte die Gleichheit der Grundrechte ihre Grenze finden an dem ebenso
„natürlichen und unverjährbaren" Rechte des Eigentums. Auf diese Weise
schrumpft die Gleichheit der Rechte zusammen zur gleichen Rechtsfähigkeit, auf
das Recht, in Staat und Gesellschaft überall hin zu gelangen, vorausgesetzt,
daß man die Mittel besitzt oder erwirbt, seinen Anspruch durchzusetzen. Wenn
die Demokratie so klug ist, sagte später Napoleon, sich auf die gleiche Erreich¬
barkeit des Zieles zu beschränken, so kann ihr die Herrschaft nicht fehlen. Im
ersten Konsul und in der von ihm entworfenen Verfassung findet sich der
bürgerliche Gleichheitsgedanke von 1789 am glänzendsten verkörpert, am wirk¬
samsten gesichert. Und das war es, warum der Name Napoleon noch in spä¬
terer Zeit auch außerhalb Frankreichs auf das liberale Bürgertum eine be¬
zaubernde Wirkung üben konnte. Freilich hatte in den Jahren, wo der
Liberalismus noch andächtig seine Blicke nach Paris richtete als dem Mekka des
Freiheits- und Gleichheitsglaubens, der preußische Staat durch die großartig
demokratischen Einrichtungen der allgemeinen Wehrpflicht und der allgemeinen
Schulpflicht auf dem Wege des Fortschrittes zu bürgerlicher Gleichheit that¬
sächlich längst den Vortritt genommen. Dagegen sollte es in Deutschland noch
geraume Zeit anstehen, bis die wirtschaftliche Entwicklung auf einem Punkte an¬
gelangt war, wo größere Massen des Volkes sich empfänglich zeigten für eine
Gleichheitslehre, die die vermögensrechtlichen Verhältnisse miteinbegreift.
In Frankreich hatte schon bei Beratung der Verfassung vom Jahre 1793
Robespierre versucht, dem gesetzlich ausgesprochenen Grundsatze der Gleichheit
auch einen vermögensrechtlichen Inhalt zu geben, indessen ohne Erfolg. Die
Praxis der Terroristen griff sodann zu Maßregeln, welche thatsächlich das
Vermögen der besitzenden Klasse den Führern des zur Herrschaft gelangten
Proletariats zur Verfügung stellten. Doch wurden Maßnahmen wie das
Konventsdekret vom 29. September 1793, welches den Höchstpreis der wich¬
tigsten Unterhaltsmittel festsetzt, auch von ihren Urhebern als Kampfgesetze
eines vorübergehenden Ausnahmezustandes betrachtet; ein dauerndes Prinzip
der Gesellschaftsordnung sollte darin nicht zum Ausdruck kommen. Unter dem
Direktorium wurde der erste Versuch gemacht, mit dem Hinweis auf die ewige
Gerechtigkeit, welche neben der politischen Gleichheit auch die wirtschaftliche er¬
heische, diese letztere thatsächliche Gleichheit (össalits as kg.it, öKg.1it,6 röslls) zur
Grundlage einer neuen gesellschaftlichen Ordnung zu machen. Es geschah dies
in der Verschwörung des Gracchus Babeuf und feiner Genossen. Von hier
hat die ganze sozialistisch-kommunistische Bewegung unsers Jahrhunderts ihren
Ausgang genommen.
Durch Reybauds Ltuciss sur los R6korin,a,tsur8 on LoviÄistös inoäsruss
ist die Bezeichnung „Sozialisten, Sozialismus" in Aufnahme gekommen. Unter
diesem Namen pflegte man nun alles zu begreifen, was irgendwie den Be¬
strebungen verwandt schien, die dnrch Reform gesellschaftlicher Anschauungen
oder Einrichtungen eine Verbesserung in der Lage der zurückgesetzten und not¬
leidenden Klassen herbeiführen wollten. Über Goethes Sozialismus, der an¬
geblich im „Wilhelm Meister" stecken soll, sind Bücher geschrieben worden. Ein
sozialer Verbesserungsgedanke, irgend eine Reformphantasie bedürfte höchstens
noch eines gewissen utopischen Anstriches, um sofort als sozialistisch klassifizirt
zu werden. Da ist es denn kein Wunder, daß der rote Faden eines gemein¬
samen Prinzips, der durch das unabsehbare Labyrinth der sozialistischen Litteratur
hindurchführen konnte, mehr und mehr den Blicken entschwand, oft ganz ver¬
loren ging. Man hielt oft für Hauptsache, was nur Beiwerk oder Verbrämung
war. Der Sozialismus trat in poetischem Gewände auf und versprach „Zucker¬
erbsen für jedermann, sobald die Schoten platzen." Einem spekulativen So¬
zialismus huldigte unsre Philosophie in Fichtes „Geschlossenem Handelsstaat."
Die humanitäre Spielart vertrat in Deutschland schon in den dreißiger Jahren
der Schneider Weitling, dessen Schrift: „Die Menschheit, wie sie ist, und wie
sie sein sollte" im Jahre 1838 erschien. Die große sozialistische Gedankenfabrik,
die auch für den Export arbeitete, stand freilich nicht auf deutschem Boden,
sondern in Frankreich, in Paris. Das „Gehirn der Welt" widmete sich eine
Zeit lang mit Vorliebe der Erzeugung sozialistischer Ideen oder auch Phan¬
tastereien. Die Februarrevolution von 1848 hat das Verdienst, wenigstens
gezeigt zu haben, welche von diesen Ideen man ernsthaft genug nahm, um
zur Durchsetzung oder Verteidigung derselben die Flinte zu ergreifen und auf
die Barrikade zu steigen. Es war vor allem das „Recht auf Arbeit," dessen
Anerkennung das für einen Augenblick siegreiche Proletariat erzwang. Das
ökonomische Grundrecht, das durch die berühmte Proklamation vom 25. Februar
1848 der besitzlosen Klasse zugesprochen wurde, war in folgender Fassung aus¬
gedrückt: „Die provisorische Regierung der französischen Republik verpflichtet
sich, die Existenz des Arbeiters durch die Arbeit zu gewährleisten; sie ver¬
pflichtet sich, allen Bürgern Arbeit zu garantiren." Scheinbar war auch hier
die französische Gesetzgebung von der preußischen längst überholt. Das preußische
Landrecht bestimmt in Teil II, Tit. 19 ZZ 1 und 2: „Dem Staate kommt es zu,
für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren
Unterhalt nicht selbst verschaffen, ihn auch nicht von andern Personen, welche
nach besondern Gesetzen dazu verpflichtet sind, erhalten können. Denjenigen,
welchen es nur an Mitteln und Gelegenheit, ihren und der Ihrigen Unterhalt
zu verdienen, mangelt, sollen Arbeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten an¬
gemessen sind, angewiesen werden." Die Verpflichtung des Staates zur Armen¬
unterstützung ist hier in Worten ausgedrückt, die, wenn sie im Sinne der
heutigen sozialistischen Forderungen ausgelegt werden dürsten, noch weit über
das hinausgehen würden, was die provisorische Regierung Frankreichs im
Jahre 1848 zugestanden hat. Aber eine derartige Auslegung ist eben ganz
und gar unstatthaft, da der unbefangene Gebrauch von Wendungen, die an
sozialrevolutionäre Formeln einer viel späteren Zeit anklingen, gerade den
Beweis liefert, wie fern dem Gesichtskreise der preußischen Gesetzgeber alle die
Gedanken lagen, die sich uns aufdrängen, wenn von mangelnden Produktions¬
mitteln oder von einer den „Kräften und Fähigkeiten des Individuums an¬
gemessenen" Arbeitsgewährung die Rede ist. Die Berufung auf das preußische
Landrecht benimmt auch einer bekannten Äußerung des Fürsten Bismarck in
der Sitzung des deutschen Reichstages vom 9. Mai 1884 jede Tragweite im
Sinne eines Zugeständnisses an sozialistische Rechtsforderungen. Der Reichs¬
kanzler sagte: „Ja, ich erkenne ein Recht ans Arbeit unbedingt an und stehe
dafür ein, so lange ich auf diesem Platze sein werde. Ich befinde mich dabei
nicht auf dem Boden des Sozialismus, der erst mit dem Ministerium Bismarck
seinen Anfang genommen haben soll, sondern auf dem Boden des preußischen
Laudrechts." Aus den folgenden Worten des Fürsten Bismarck geht hervor,
daß er nicht einmal so weit gehen will, als der Wortlaut des preußischen
Landrechts reicht. „Wenn ähnliche Notstände eintreten, wie im Jahre 1848...,
so läßt der Staat Aufgaben ausführen, die sonst aus finanziellen Bedenklich¬
keiten vielleicht nicht ausgeführt werden würden; ich will sagen, große Kanal¬
bauten, oder was dem analog ist." Das sozialistische Verlangen nach Recht
auf Arbeit ist auf etwas ganz andres gerichtet, nämlich auf Staatsbürgschaft
für Beschäftigung des Arbeiters in seinem Berufszweige oder wenigstens auf
Gewährleistung eines Arbeitslohnes, welcher dem in der Berufsarbeit zu er¬
reichenden entspricht. Das preußische Landrecht, und also auch Fürst Bismarck,
der sich ausdrücklich ihm anschließt, haben nur Armenpflege im Auge. Von
hier aber zum „Recht auf Arbeit" im sozialistischen Sinne ist ein weiter Sprung.
Nach sozialistischer Auffassung hat dieses Recht den Charakter einer vermögens¬
rechtlichen Verbindlichkeit des Staates; daher wird dem Staat auch keinerlei
Dank geschuldet für Mildthätigkeit oder „praktisches Christentum." Der Staat
hätte ganz einfach den Arbeiter zu bezahlen, wie er jetzt seine Beamten bezahlt,
für Leistung, nicht um Gotteslohn. Somit müßte auch jede Rücksicht auf be¬
sondre Dürftigkeit des Berechtigten in Wegfall kommen. Ebensowenig dürfte
die Erfüllung des Anspruches, der das Recht auf Arbeit gewährt, irgendwie
unter verletzenden Formen stattfinden, wie solche bei der Armenunterstützung
herkömmlich sind, oder gar mit Rechtsnachteilen verknüpft sein, wie Entziehung
des Wahlrechts und dergleichen.
Herstellung thatsächlicher Gleichheit war das Losungswort gewesen für die
Verschwörung des Babeuf. Welcher Fortschritt zur Klärung der Idee oder
zur Ausgestaltung derselben in praktisch durchführbarer Form ist nun bis zum
Jahre 1848 gemacht worden? Mit großer Klarheit und juristischer Schärfe
ist zuerst von Professor Anton Menger („Das Recht auf den vollen Arbeits¬
ertrag," Stuttgart, 1886) ausgeführt worden, daß die sämtlichen aus dem
Drange nach Ausgleichung des Lebensgenusses herrührenden Forderungen des
Sozialismus sich in zwei Grundgedanken zusammenfassen lassen. Es wird be¬
ansprucht entweder das Recht auf Existenz oder das Recht auf den vollen
Arbeitsertrag, in neuerer Zeit meistens eine mehr oder minder glückliche Ver¬
bindung von beiden. Das Recht auf Arbeit ist eine Vermittlung zwischen dem
sozialistischen Rechte der Existenz, nach welchem das Bedürfnis zum Maßstabe
der Güterverteilung gemacht werden soll, und der Güterverteilung auf Grund
des heutigen Privatrechts. Babeuf war ganz allgemein vom Rechte der Existenz
ausgegangen. Er pflichtet dem Satze bei, daß der Kodex des bürgerliche»
Gleichheitsrechtes su xarlg-vt 8M8 vösss an äroit, as xroxrists nous g. ravi
oelrä ä'exi8ehr. Die ausschließende Geltendmachung des Eigentumsrechtes beraubt
den Besitzlosen sogar des Rechtes zu leben. Die Aufhebung dieser, bekannt¬
lich von Malthus in schroffster Weise ausgesprochenen Folge des schrankenlos
waltenden Privateigentumsrechtes könnte bewirkt werden durch ein staatlich
gewährleistetes „Existenzminimum." Ein Gesetz gegen das Verhungernlassen,
das den in unsern heutigen Kulturstaaten bestehenden Unterstützungsgesetzen zum
Verwechseln ähnlich sehen würde, genügt aber den Babouvisten, deren Absehen
auf „thatsächliche Gleichheit" gerichtet ist, bei weitem nicht. Schon einige Jahre
vor der Revolution hatte Brissot, der spätere Girondistenführer, in einer Schrift
„Über Eigentum und Diebstahl" gesagt: „Wenn vierzig Thaler zureichen, um
unser Dasein zu erhalten, so ist es offenbarer Diebstahl, zweihundert zu besitzen."
Diesen Gedanken nimmt Babeuf in seinem Tribun an, xsuxls auf, indem er
ausführt: „Alles, was ein Mitglied des gesellschaftlichen Körpers besitzt über
die zur Befriedigung seiner täglichen Bedürfnisse zureichende Summe hinaus,
ist das Erzeugnis eines an den übrigen Gesellschaftsgliedern begangenen Dieb¬
stahls, wodurch notwendigerweise eine größere oder geringere Anzahl ihres
verhältnismäßigen Anteils an der gemeinsamen Gütermasse beraubt wird."
Offenbar eine ganz roh kommunistische Auffassung, welche die große Frage der
Produktion und ihres Verhältnisses zur Konsumtion ganz außer Acht läßt, in
der vorhandenen Gütermasse nur Verbrauchsgüter erblickt, und die Bedürfnisse
des Lebensunterhaltes nach Art und Umfang als feststehend a»nimmt. Bei
solcher Rohheit der Anschauung konnten die Nachfolger nicht stehen bleiben.
Sobald diese, wie die Anhänger Saint-Simons thaten, den Fortschritt in ihren
Gedankenkreis aufnahmen, konnte unmöglich mehr das Bedürfnis als feststehende
Größe angenommen und zum Maßstabe des Anspruches gemacht werden. Ist
es doch eine zu augenfällige Thatsache, daß die steigende Entwicklung der Ge¬
sellschaft auch die Bedürfnisse teils vermehrt, teils verfeinert. Die Saint-
Simonisten fanden daher den Maßstab gleichmessender Gerechtigkeit nicht in
dem Durchschnittsbedürfnis der Einzelnen, sondern in deren Rechtsanspruch,
von der Gesellschaft nach den persönlichen Fähigkeiten verwendet, nach den per¬
sönlichen Leistungen belohnt zu werden. Bei diesem Gedanken ist denn auch
Louis Blanc, welcher auf die Formulirung der sozialistischen Forderungen von
1848 den größten Einfluß geübt hat. im wesentlichen stehen geblieben. Die
Gleichheit, sagt Louis Blanc, ist nichts andres als die Verhältnismäßigkeit,
l'öMlitö u'oft Hus 1a xroxortionuMtv. Sie besteht in Wirklichkeit da, wo
jeder entsprechend dem von Gott selbst gewissermaßen in seine Organisation
eingeschriebenen Gesetze seinen Fähigkeiten gemäß produzirt, seinen Bedürfnissen
gemäß am Güterverbrauch teilnimmt. Also die wahre Gleichheit wäre nicht
zu suchen in einem gleich bemessenen Anteil an den Verbrauchsgütern, die der
Gesellschaft zur Verfügung stehen, die wahre Gleichheit wäre die Annahme des
für jeden gleichmäßig geltenden Grundsatzes, daß eine Verhältnismäßigkeit
stattfinden müsse zwischen Fähigkeiten und Leistung, zwischen Bedürfnis und
Genuß. Wie immer das Urteil ausfallen möge über die Berechtigung dieser
Wendung des Gleichheitsgedankens, so ist jedenfalls sicher, daß sie ganz un¬
geeignet ist, unmittelbar die praktische Norm abzugeben für eine Gestaltung der
Staats- und Gesellschaftsverhältnisse, woraus sich eine mehr oder minder be¬
friedigende Erfüllung jenes idealen Anspruches ergeben müßte. Auf der andern
Seite drängt sich aber auch sofort die Wahrnehmung auf, daß der Gesellschafts¬
zustand, wie er aus der großen Umwälzung der neunziger Jahre hervorgegangen
ist, in weit höherem Maße als irgend ein früherer den persönlichen Fähigkeiten
Spielraum, dem Genußbedürfnis des Einzelnen Mittel zur Befriedigung gewährt.
Wenn es sich also darum handelt, daß, nach dem Ausdruck der Saint-Simo-
nistischen Schule, „die Menschheit auf den Weg gebracht werde zu dem Ziele,
wo alle Einzelnen ihre Stellung in der Gesellschaft gemäß ihren Fähigkeiten,
ihre Belohnung gemäß ihren Leistungen" erhalten werden, so ist zu praktischen
Zwecken ein Kompromiß zwischen der idealen Ordnung der Gesellschaft, die dem
Samt-Simonistischen Gleichheitsprinzip am besten entsprechen würde, und der
Rechtsordnung der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft ein sehr nahe liegender
Gedanke. Das am 2S. Februar 1848 von der provisorischen Regierung zu
Paris anerkannte „Recht auf Arbeit" stellt einen solchen Kompromiß dar; seine
Ausführung hätte der Gedanke erhalten sollen in der von Louis Blanc beab¬
sichtigten „Organisation der Arbeit."
Zu einem aufrichtigen und ernsthaften Versuch mit dieser Organisation ist
es bekanntlich nie gekommen. Die für Paris und Umgegend geschaffenen Na¬
tionalwerkstätten sind gerade das Gegenteil von dem gewesen, was nach dem
Prinzip Louis Blancs und der Saint-Simonistischen Schule gefordert wurde.
Nicht nach seinen Fähigkeiten, zum größten Teil nicht einmal nach seinem Beruf
wurde hier der Arbeiter beschäftigt; der Zweck war, das Almosen durch Schein¬
arbeit anständig zu verhüllen. Zugleich bestand die Absicht, die Ideen Louis
Blaues durch die Mißerfolge, die eine verkehrte Anwendung rasch herbeiführen
mußte, um den Kredit zu bringen. Die französische Nationalversammlung be¬
schäftigte sich in ihren Sitzungen vom 12. bis zum 16. September und am
2. November 1848 mit dem „Recht auf Arbeit," und die Verhandlung drehte
sich namentlich um die Frage, ob ein dem Staat gegenüber zu bestimmten For¬
derungen berechtigendes äroit, an travail oder nur das Recht auf Unterstützung
anzuerkennen sei. Thatsächlich hat dann die Verfassung vom 4. November 1848,
ähnlich wie die Konstitution von 1793, nur das Recht auf Unterstützung, etroit
a 1'g,88i8t>g,n<zö, gewährleistet.
Als zu Anfang der sechziger Jahre für Deutschland Ferdinand Lassalle
den Anstoß zu einer sozialistischen Bewegung gab, bezeichnete er den 24. Fe¬
bruar 1848 als den Ausgangspunkt für einen neuen Abschnitt der Kultur¬
entwicklung. Mit diesem Tage sei an die Stelle der Privilegienherrschaft, der
des Feudalismus sowohl als des Bourgeviskapitals, die Herrschaft des vierten
Standes getreten, der an sich kein Privileg mehr kenne und der dieses Prinzip
der absoluten Privilegienlosigkeit, des Wegfalls jeder Bevorzugung rechtlicher
oder thatsächlicher Art, durch die Einrichtungen der Gesellschaft hindurch führen
werde. Obwohl dieses „Arbeiterprogramm" in seiner Abstraktheit so dehnbar
ist, daß sogar der Zweifel entstehen kaun, ob damit in der That die Aufhebung
der bisherigen auf dem Privateigentum ruhenden Rechtsordnung verkündet sein
soll, so hat es doch vor den bis dahin in England und Frankreich aufgestellten
den großen Vorzug, daß es nicht an naturrechtliche, also willkürliche Voraus¬
setzungen anknüpft, sondern mit einer ohne Frage sehr scharfsinnig durchgeführten
geschichtsphilosvphischen Begründung auftritt. In drei großen Kulturperioden
löse» sich Grundbesitz, Kapital, Arbeit in der Herrschaft ab, jedes dieser drei
Prinzipien drückt dem Gesellschaftszustande, dessen leitende Idee es bildet, das
Gepräge auf. Der Übergang von dem einen zum andern ist Revolution im
geschichtlichen Sinne. Die Revolution wird niemals gemacht, sie vollzieht sich
selbst im Innern der Gesellschaft; der große Staatsmann erkennt den Augen¬
blick, wo die Geburt einer neuen Zeit sich vollziehen muß, er verkündet im
Gesetz, daß das neue Prinzip Leben gewonnen habe, und daß sich fortan die
ganze Entwicklung ihm untergeordnet habe. Dieses Vorwalten der geschichts¬
philosvphischen Betrachtungsweise unterscheidet die Gleichheitslehre Lassalles auch
durchaus von der sozialistischen Agitation, wie sie nach seinem Tode sich in
Deutschland gestaltet hat. Diese schloß sich mehr an Marx an, der in charak¬
teristischem Gegensatze zu Lassalle sein erstes publizistisches Auftreten damit
gekennzeichnet hatte, daß er mit beinahe närrischer Wut jede geschichtliche Auf¬
fassung des Staatslebens bekämpfte.
Wie bereits angedeutet, muß dahingestellt bleiben, ob Lassalle, wenn er
als Ergebnis weiterer Entwicklung in Aussicht nahm, daß das zur Herrschaft
gelangte Prinzip des Arbeiterstandes jede rechtliche und thatsächliche Bevor-
zugung entfernen würde, eine völlige Aufhebung des Privateigentums oder nur
die gänzliche Beseitigung seines politischen Einflusses im Auge gehabt hat.
Jedenfalls waren die praktischen Maßregeln, die er empfahl, um dem Privilegium
des Kapitalbesitzes ein Ende zu machen, in keiner Weise dazu angethan, die
bestehende privatrechtliche Ordnung zu zerstören. Mit staatlicher Unterstützung
gegründete Produktivgenossenschaften sollten den unter dem Joch des „ehernen
Lohngesetzes" schmachtenden Sklaven der Arbeit aus seinem Elend und aus
seiner Knechtschaft befreie», indem sie ihn zum freien, gleichberechtigten Mit¬
besitzer genossenschaftlicher Unternehmungen machten. Ist es denn aber unter
der Herrschaft der „kapitalistischen" Rechtsordnung irgend jemand verwehrt,
sich mit einer größern oder geringern Anzahl von Berufsgenossen zusammen
zu thun, um irgendwelche Produktion gemeinsam zu betreiben? Und wenn
durch Vervielfältigung derartiger Unternehmungen die mit der Anhäufung großer
Massen von Lohnarbeitern in den Jndustriemittelpunkten unleugbar verbundenen
Mißstünde gemildert oder beseitigt werden könnten, wäre es da nicht ganz ge¬
rechtfertigt, wenn sich der Staat die Förderung solcher Assoziationen angelegen
sein ließe? Wenn es aber gelingen sollte, die Zahl dieser selbständig produ-
zirenden Arbeitergruppen in die Hunderte und Tausende zu bringen, wäre damit
das Geringste geändert an der Vertragsfreiheit, an der freien Bestimmung der
Preise, an allen den Rechten, die die Grundlagen unsrer bürgerlichen Gesell¬
schaftsordnung bilden? Übrigens legte Lassalle selbst auf diese ganze ökono-
nomische Verbrämung seiner Agitation geringen Wert. Er befaßte sich mit ihr,
weil man „dem Mob etwas bieten müsse." Zu klar stand vor seinem hellen
Geiste die Erkenntnis, daß der Kern aller dieser als sozialistisch verschenken
Bestrebungen ein staatsrechtlicher Gedanke, also eine politische, eine Macht¬
frage sei.
Der Verteidigung der bestehenden Ordnung wäre sicherlich ein großer Dienst
geleistet, wenn diese Wahrheit mehr ins Licht gesetzt und ihr im allgemeinen
Bewußtsein mehr Eingang verschafft würde. Unsre nationalökonomischen Pro¬
fessoren haben über die „Quintessenz" des Sozialismus viel Zutreffendes und
Aufklärendes gesagt, die Hauptsache aber haben sie nicht erwähnt, daß nämlich
der Sozialismus an sich mit der Nationalökonomie gar nichts zu schaffen hat.
^alle^ as es.it ist und bleibt das Ziel aller sozialistischen Bestrebungen, mögen
sie auch zunächst diese oder jene Forderung, die mehr einen wirtschaftlichen
Charakter an sich zu tragen scheint, in den Vordergrund stellen. Wer aber die
thatsächliche Gleichheit, die Gleichheit des Lebensgenusses, als oberstes Grund¬
recht der staatlich verbundenen Gesellschaft aufstellt, sei es, daß er ihm eine
naturrechtliche oder eine geschichtsphilosophische Begründung giebt, der kann
gar keine andre Absicht haben, als sich der Staatsgewalt zu bemächtigen und
jenes Grundrecht praktisch zum Staatszweck zu machen. Wie bei jeder tiefer
greifenden Umgestaltung staatlicher Einrichtungen kommen hier natürlich auch
eine Menge wirtschaftlicher Fragen in Betracht. Aber es ist ganz augenfällig,
daß die Sozialdemokratie selbst — und in ihr allein haben wir einen Sozia¬
lismus, der nicht gänzlich mit der Stange im Nebel herumfährt —, es ist
augenfällig, daß die Sozialdemokratie sich um den allergelehrtesten Professoren¬
streit über die größeren oder geringeren Aussichten der Kollektivproduktion nichts,
aber auch rein gar nichts kümmert. Warum? Einfach deshalb, weil der Kern
der sozialdemokratischen Bestrebungen von dieser ökonomischen „Quintessenz"
ganz unberührt bleibt. Dieser Kern aber ist ein rein politischer, der Besitz der
Staatsgewalt, um nach irgendeinem Maßstabe oder allgemeinen Gesichtspunkte
— der wird sich dann schon finden! — die thatsächliche Gleichheit zum Vorteil,
wenigstens zum augenblicklichen Vorteil des Proletariats durchzuführen. Und
die Sozialdemokraten haben Humor genug, auf alle Einwendungen gegen die
angeblich von ihnen vertretenen Wirtschaftsprinzipien zu antworten: Laßt uns
nur erst wirtschaften! Wie wirs dann treiben, ist unsre Sache. Sollten wir
ja bankerott machen, so bezahlt doch ihr die Zeche, nicht wir, die wir nichts
haben!
Es ist es eine schmerzliche Genugthuung für uns Deutsche, daß wir selbst
in unsern Verkehrtheiten den andern Nationen voraus sind. Wie überlegen an
Geist und wissenschaftlicher Einsicht steht Lassalle da im Vergleich mit den
gedankenreichsten unter den sozialistischen Schriftstellern Englands oder Frank¬
reichs! Keinen Augenblick hält er sich auf mit naturrechtlichen Doktorfragen:
ob wir ein Recht haben aufs Leben? ob nicht die Erde, wie Luft und Sonnen¬
licht, eigentlich allen zu gleichem Genuß zustehen muß u. dergl. Von ver¬
zehrenden Ehrgeiz beseelt, ist er entschlossen, eine Arbeiterbewegung ins Leben
zu rufen, sich von ihr emportragen zu lassen. Mit genialen Instinkt erspäht
er den Punkt, wo eine Agitation einzusetzen hat, um möglichst wirksam zu
werden. Er erhebt sich gegen das „eherne Lohngesetz," verspricht der Lohn¬
sklaverei ein Ende zu machen und das arbeitslose Einkommen, diesen Dorn im
Auge des Proletariats, aus der Welt zu schaffen. Bei utopischen Schilderungen
des zu erstrebenden Gesellschaftszustandes zu verweilen, ist auch nicht seine Sache.
Wenn erst die Kugel ins Rollen gekommen ist, wenn, unter zweckbewußter
Führung weiter schreitend, das Proletariat dem Endziel, der Herrschaft über
Staat und Gesellschaft, näher kommt, wird sich aus der Entwicklung der Dinge
das Mögliche und Notwendige von selbst ergeben. Den beiden Hauptformen,
unter denen sich das sozialistische Gleichheitsstreben Geltung zu verschaffen
sucht, dem Recht der Existenz und den. Recht auf den vollen Arbeitsertrag, hat
Lassalle in gleichem Maße Rechnung getragen. Der volle Arbeitsertrag für
den Arbeiter, ohne Abzug für den Kapitalisten und Unternehmer, sollte erreicht
werden durch die Produktivgenossenschaft; die Forderungen des Existenzrechtes
waren mit inbegriffen in dem Agitationsprogramm, welches Verbesserung der
Lage der untern Klassen als Zweck aussprach.
Die neueste Entwicklung des Sozialismus steht vorherrschend unter dem
Einfluß der Schriften von Marx und Engels. Die zur Regelung der Kollektiv¬
produktion notwendige Auffindung eines außerhalb des freien Tauschvertrages
zu ermittelnder Wertmessers ist damit in den Vordergrund der den Anregungen
des Sozialismus folgenden ökonomischen Debatte getreten, da die Beseitigung
des „Mehrwertes" durch Kollektivproduktion die schriftstellerische Besonderheit
von Karl Marx bildet. Indessen gilt von Ziel und Taktik der neueren Sozial¬
demokratie in erhöhtem Maße das, was von Lassalle gesagt ist. Marx und Engels
bezeichnen es übereinstimmend als einen überwundnen Standpunkt, zu welchen der
zur „Wissenschaft" ausgebildete Sozialismus nicht zurückkehren dürfe, von dem
zukünftigen Sozialstaat ein Bild entwerfen zu wollen; es genüge, das Ziel, worüber
kein Streit entstehen kann, fest im Auge zu behalten: die Herrschaft des Proletariats
Die „wissenschaftliche" Aufgabe des Sozialisten bestehe darin, die Lage zu er¬
kennen und nach Kräften vorzubereiten, in welcher das Proletariat von der öffent¬
lichen Gewalt Besitz ergreifen kann. Marx glaubt dabei die Zukunft so weit
enthüllen zu können, daß er einen Augenblick voraussieht, wo sich die Aufhäufung
der Produktionsmittel in den Händen weniger Reichen so weit vollzogen haben
wird, daß eine revolutionäre Schilderhebung des Volkes mit leichter Mühe
und in einfacher Weise die Expropriation vornehmen könnte. Engels pflichtet
dieser Ansicht bei und bezeichnet es als eine Notwendigkeit, daß das Prole¬
tariat nach Eintreten der ökonomischen und sonstigen Vorbedingungen die Staats¬
gewalt ergreift und die Produktionsmittel in Staatseigentum verwandelt.
Dies ist der Weg, den der Gedanke der ^alle-s as- eg.it>, der thatsächlichen
Gleichheit, als staatsrechtlich konstruktives Prinzip in den nicht ganz hundert
Jahren von Babeuf bis heute durchlaufen hat. Während er vor dem Jahre
1848 eine vorwiegend litterarische Existenz führte, zeigt er sich seitdem als
bedeutendstes Element in der Gährung der Volksmassen, die wiederholt zu
revolutionären Ausbrüchen geführt hat. Eine Kritik desselben vom sittlichen,
rechtsphilosophischen und politischen Standpunkte aus ist hier nicht beabsichtigt.
Nur die eine hinsichtlich der Zukunft beruhigende Erfahruugsthatsache sei hervor¬
gehoben, daß sich auch hier zeigt, wie sich jede Übertreibung ihre eigne Be¬
schränkung schafft. Gleichheit müßte eigentlich verlockend klingen für jeden, der
findet, daß sein Gedeck beim Gastmahl des Lebens unter dem Durchschnitt
bleibt. Und dies wäre die große Mehrheit. Indem aber die sozialistische
Agitation der Gleichheit zuliebe mit dem Eigentuni jede selbständige und eigen¬
artige Existenz zu vernichten droht, kann sie nur Anklang finden bei solchen,
die an Wahrung selbständiger Existenz von vornherein kein Interesse haben.
So lange die sozialistische Theorie die materielle Gleichheit als ihr oberstes
Prinzip anerkennt, wird sie als Gesellschaftsphilosophie notwendig beschränkt
bleiben auf verhältnismäßig enge Kreise der industriellen Lohnarbeiter.
W«'MMi^i>F
Z^WMMW^M-M er Entwurf ist eine Kodifikation im strengsten Sinne des Wortes.
Der Eingang desselben lautet: „Auf Verhältnisse, für welche das
Gesetz keine Vorschriften enthält, finden die für rechtsähnliche Ver¬
hältnisse gegebenen Vorschriften entsprechende Anwendung. In
Ermangelung solcher Vorschriften sind die aus dem Geiste der
Rechtsordnung sich ergebenden Grundsätze maßgebend. Gewohnheitsrechtliche
Normen gelten nur insoweit, als das Gesetz auf Gewohnheitsrecht verweist."
Darnach giebt es also fortan für das bürgerliche Recht in Deutschland keine
andre Rechtsquelle mehr als dieses Gesetzbuch und der aus ihm sich ergebende
„Geist der Rechtsordnung." Alles übrige ist erloschen. Auch ein Gewohnheits¬
recht soll daneben weder fortbestehen, noch neu entstehen können. Wie wird nun
diese gänzliche Umwandlung alles bestehenden Rechtes in ein neues oder doch
neu formulirtes Recht auf die Rechtsprechung wirken?
Hier muß ich zunächst einen landläufigen Irrtum bekämpfen. Viele Laien
stellen sich das Recht als eine Sammlung von Vorschriften vor, nach denen
jeder einzelne Rechtsfall ungefähr so entschieden werden könne, wie der Stuben¬
maler nach einer Schablone Figuren an die Wand malt. Die Juristen wissen
freilich, daß die Sache nicht so einfach ist. Aber viele haben doch auch von dem
Rechte keine andre Vorstellung, als daß die Rechtsregeln willkürliche Schöpfungen
seien, auf die man, so wie sie lauten, übereingekommen sei. Nun ist es ja
richtig, daß viele unsrer Rechtsvorschriften durchaus positiver Natur sind und
ein gewisses Maß von Willkür in sich tragen. Wollte man den Rechtsgedanken,
der ihnen zu Grunde liegt, ohne positive Begrenzung lassen, so würde das Recht
an einer unerträglichen Unbestimmtheit leiden. Hier vor allem hat das Gesetz
die Aufgabe, positiv einzugreifen und dem Rechtsgedanken bestimmtes Maß und
bestimmte Form zu geben. Es ist z. V. ein in der Natur der Verhältnisse
begründeter Ncchtsgedauke, daß Ansprüche nicht in alle Ewigkeit fortbestehen
können, sondern an eine gewisse Zeitdauer geknüpft sein müssen. Wollte man
aber diese Zeitdauer unbestimmt lassen, so würde dadurch die größte Unsicherheit
des Rechtes entstehen. Das Gesetz greift also ein und bestimmt Fristen, inner¬
halb deren jeder Anspruch verfolgt werden muß — die Verjährungslehre. Es
ist ein natürlicher Rechtsgedanke, daß jeder befugt sei, für den Fall seines
Todes über sein Vermögen Verfügung zu treffen. Aber wie soll festgestellt
werden, was er gewollt hat, wenn er selbst nicht mehr Zeugnis darüber geben
kann? Auch hier greift das Gesetz ein und ordnet bestimmte Formen an, unter
denen letztwillige Verfügungen getroffen werden können — die Testamenten¬
ordnung. Es ist ein natürlicher Gedanke, daß derjenige, welcher nicht letzt¬
willig verfügt hat, sein Vermögen seinen nächsten Angehörigen habe hinterlassen
wollen. Aber wer sind die nächsten Angehörigen? Um darüber jeden Zweifel
abzuschneiden, bestimmt das Gesetz eine feste Ordnung für die Jntestaterbfolge.
So giebt es noch eine Menge von Vorschriften, durch die das Gesetz mit
einer gewissen Willkür dem Rechte eine feste Gestalt gegeben hat. Hier ent¬
scheidet also auch der Buchstabe des Gesetzes. Weil man nun vielen solchen
Vorschriften im Rechte begegnet, glaubt man, daß alles Recht auf solchen
Vorschriften beruhe. Darin liegt aber ein Irrtum. Noch keine juristische Kunst
und keine menschliche Sprache hat es vermocht, ein das menschliche Bedürfnis
befriedigendes Recht dergestalt auf feste Regeln zurückzuführen, daß sich mit
solchen mechanisch, nur nach dem Buchstaben, operiren ließe. Zwar suchen wir
alles Recht in Regeln zu fassen, und in dieser Form wird uns die Rechts¬
wissenschaft gelehrt. Aber viele solcher Regeln haben nicht die Natur einer
positiven Feststellung oder Begrenzung des Rechtsgedankens, sondern sie wollen
nnr den Rechtsgedanken selbst, der einer positiven Feststellung weder fähig noch
bedürftig ist, zum Ausdruck bringen. In diesen Rechtsregeln ist also nicht der
Buchstabe das Entscheidende, sondern das geistige Element, das sie in sich tragen
und das für ihre Anwendung auch wieder geistig erfaßt sein will. Auch er¬
schöpfen ja die so aufgestellten Rechtsregeln nicht das Recht. Immer neue
Regeln leiten sich ab aus der Konsequenz des Rechtsgedankens und aus der
Natur der Sache. Das Recht bildet ein geistiges Fluidum, einen Körper, dessen
innere Substanz durchdrungen sei» will, während die Rechtsregel nur eine
Außenfläche desselben bloßlegt. In dieser Weise die Rechtsregeln in ihrer
Wahrheit zu erkennen, ist die Aufgabe der Rechtswissenschaft. Während diese
da, wo sie mit Vorschriften rein positiver Natur zu thun hat, nur eine unter¬
geordnete Thätigkeit übt, erwächst ihr auf dem Gebiete der Rechtsregeln letzt¬
gedachter Art eine höhere geistige Aufgabe. Man kann ihre Übung eine Kunst
nennen, in gleichem Sinne, wie Fürst Bismarck ausgesprochen hat, daß die
Politik eine Kunst sei.
Schafft man nun aber ein Gesetzbuch, welches das gesamte Recht in sich
aufnehmen foll, so werden in dieses die Rechtsregeln ohne Unterschied in Reih
und Glied gestellt. Daraus erwächst der Schein, als ob alles Recht positiver
Natur sei. Es führt dies zu einer falschen Auffassung vom Wesen des Rechtes.
Man hält es durchweg für eine willkürliche Schöpfung. Überall tritt in erster
Linie der Buchstabe auf und verlangt respektirt zu werden. Die geistige Auf¬
fassung der Rechtsregeln tritt mehr und mehr zurück, und eine mechanische tritt
an die Stelle. Man gewöhnt sich daran, es gleichgiltig zu finden, ob man Ver¬
standiges oder Unverständiges aus dem Gesetze herausliest. Die Rechtswissen¬
schaft verkümmert. Die Rechtsprechung wird zum bloßen Handwerk.
Ich will hier einige Vergleiche ziehen, von denen ich jedoch von vornherein
zugestehe, daß sie nicht in vollem Maße zutreffen. Gesetzt, es sagte jemand:
Wir haben es jetzt in der ärztlichen Kunst so herrlich weit gebracht, daß wir
über alle Krankheiten einen Kodex aufstellen wollen, nach dem sämtliche Ärzte
verpflichtet werden, ihre Kranken zu behandeln. Was würde man dazu sagen?
Und was würde man sagen, wenn jemand vorschlüge, eine Akademie der bil¬
denden Künste solle einen Kodex aufstellen, wonach alle Künstler ihre Bildwerke
schaffen müßten? Diese Vergleiche hinken allerdings insofern, als, wie ich bereits
anerkannte, das Recht bis zu einem gewissen Maße der positiven Gestaltung bedarf.
Aber für gewisse Teile des Rechtes paßt der Vergleich, weil für sie die Auf¬
stellung von Regeln mit dem Scheine absoluter Geltung ganz so wirkt, als ob
man für die ärztliche Wissenschaft oder für die bildende Kunst absolute Regeln
aufstellen wollte. Man könnte die Sache auch damit vergleichen, daß jemand
auf den Gedanken käme, um der zoologischen Wissenschaft aufzuhelfen, eine große
Anzahl Tiere einzufangen und in Küsten zu sperren, dergestalt, daß nun die
Zoologen auf diese Tiere ihr Studium zu beschränken hätten. Ein Gesetzbuch
ist eine solche Sammlung eingefangener Rechtsgedanken, die man in Paragraphen
gesperrt hat, und in manchem derselben sitzt vielleicht nicht einmal ein lebendiges
Tier, sondern nur ein ausgestopftes.
Das Gesagte wird noch klarer werden, wenn wir einen Blick auf die bei
uns bestehenden Rechtszustände werfen.
Das römische Recht, das vor Zeiten in ganz Deutschland galt und auch
jetzt noch in einem erheblichen Teile unsers Vaterlandes die unmittelbare Grund¬
lage der Rechtsprechung bildet, hat den großen Vorzug, daß es keine Kodi¬
fikation im modernen Sinne ist. Der umfangreichste und wichtigste Teil der
römischen Rechtsbücher, die Pandekten, ist eine Sammlung von Aussprüchen
römischer Rechtsgelehrten, welche mit einer bewunderungswürdigen Kunst es
verstanden, mit verhältnismäßig wenigen Grundsätzen ein das Leben in hohem
Maße befriedigendes Recht zu entwickeln. Ein weiterer Teil, der Kodex, ent¬
hält vorzugsweise Kaiserreskripte, d. h. Entscheidungen einzelner Rechtsfälle, und
bildet so eine Art Präjudiziensammlung. Die Institutionen sind ein kurzgefaßtes
Lehrbuch des Rechtes, vom Standpunkte der Zeit Kaiser Justinians geschrieben.
Eigentliche Gesetze, Kaiserkonstitutionen, die im Kodex und in den Novellen ent¬
halten sind und meist positive Rechtsbildungen zum Gegenstande haben, bilden
den geringsten und am wenigsten wertvollen Teil der ganzen Zusammenstellung.
In dem römischen Rechte ist uns hiernach weniger ein Gesetzbuch, als eine leben¬
dige Rechtswissenschaft erhalten geblieben und zum Gebrauche überliefert worden,
und wir müssen uns zu einer geistigen Verwertung des uns Überlieferten umso
mehr aufgefordert fühlen, als ja die veränderten Verhältnisse eine wörtliche An¬
wendung desselben vielfach unmöglich machen.
Die römischen Juristen waren sich auch bewußt,' daß die von ihnen auf¬
gestellten Regeln keine absolute Natur haben. Gleich im Eingange des Titels
„Von den Rechtsregeln" findet sich ein hierauf bezüglicher Ausspruch von dem
geistvollsten römischen Juristen, Julius Paulus. Eine Nechtsregel, sagt er, will
nur das kurz ausdrücken, was im Rechte besteht. Wir müssen also nicht das
Recht aus der Regel, sondern die Regel aus dem Rechte erklären. Und daraus
folgt, daß die Regel ihre Bedeutung verliert, sobald sie im Sinne des ihr zu
Grunde liegenden Rechts geocinkens nicht mehr paßt.
Gleichwohl ist nicht zu leugnen, daß seit Eindringen des römischen Rechtes
in Deutschland bis heute in dessen Anwendung zwei verschiedne Richtungen sich
geltend gemacht haben; Richtungen, die ich hier in ihrem Gegensatze scharf
zeichnen will, obgleich sie, wie ich ausdrücklich betonen muß, im wirklichen Leben
nicht in dieser vollen Schärfe auseinandergehen.
Die eine dieser Richtungen geht dahin, die römischen Rechtsbücher ganz
wie ein paragraphirtes Gesetzbuch zu behandeln. Was sagt diese Stelle? Was
jene? Wie ist dieses Wort, wie jenes zu verstehen? So wird aus den einzelnen
Sätzen und Worten mühsam, wie ein Geduldspiel, das Recht zusammen¬
gelegt. Ein weiteres Recht als das, was aus den Buchstaben des Lorxus
^uris herausgelesen werden kann, giebt es nicht. Für die Praktiker, die dieser
Richtung angehören, tritt an die Stelle des Oorxus ^uri8 meist irgend ein Lehr¬
buch (in neuerer Zeit „Windscheid"), dessen Sätze das Alpha und Omega ihrer
Weisheit sind. Man kann sie deshalb die Lehrbuchsjuristen nennen. Die Be¬
thätigung dieser Richtung ist es gewesen, was seit der Zeit, wo Goethe seinen
Olearius reden läßt, bis auf den heutigen Tag die Juristen in der Volks-
meinung vielfach fatal gemacht und die Annahme verbreitet hat, daß die Ein¬
führung des römischen Rechtes in Deutschland ein nationales Unglück gewesen
sei. Leider neigt auch Windscheid selbst, weniger seinem Herzen als seinen
geistigen Regungen nach, dieser Richtung zu. Und deshalb hat sein sonst so
verdienstliches Lehrbuch für die Praxis nicht den Wert gehabt, den man ihm
gewöhnlich beilegt. Es ist das Orakel der geistlosen Mittelmäßigkeit geworden.
Dieser Richtung steht eine andre gegenüber, die nicht minder zahlreiche
Vertreter hat. Es sind das diejenigen Juristen, welche das römische Recht
seinem geistigen Inhalte nach zu erfassen und diesen, frei von Wortklauberei,
den heutigen Verhältnissen entsprechend anzuwenden bestrebt sind. Daß eine
solche Anwendung möglich ist, dafür kann ich mich auf eine Autorität ersten
Ranges berufen. Schon vor länger als siebzig Jahren schrieb Savigny*):
„Wir sollen uns in die alten Schriftsteller hineinlesen und denken, wie in andre
mit Sinn gelesene Schriftsteller, sollen ihnen ihre Weise ablernen und so dahin
kommen, in ihrer Art und von ihrem Standpunkte aus selbst zu erfinden und
so ihre unterbrochene Arbeit in gewissem Sinne fortzusetzen. Daß dies möglich
ist, gehört zu meinen lebendigsten Überzeugungen." Auch ich teile diese Über¬
zeugung und bin der Ansicht, daß in der That der bessere Teil der gemein¬
rechtlichen Theorie und Praxis, teilweise vielleicht nur unbewußt, dieser Richtung
folgt. Auf theoretischem Gebiete hat Savigny selbst in dem Werke seiner reifern
Jahre, dem „System," eine mustergiltige Leistung dieser Art geliefert. Auch
andre Theoretiker arbeiten in diesem Sinne, und ihnen sind vorzugsweise die
Fortschritte, die im Laufe dieses Jahrhunderts die Wissenschaft gemacht hat,
zu danken. Aber auch in der Praxis ist diese Richtung vielfach lebendig. Was
dem Praktiker dabei an theoretischer Kenntnis fehlt, das ersetzt er durch eine
andre Eigenschaft, die ihm über die Schwierigkeiten der Theorie vielfach hinweg¬
hilft und ihn nur selten ganz fehlgehen läßt, das ist sein praktischer Takt.
Hierdurch wird recht eigentlich der Wert unsrer Rechtsprechung getragen. Diese
Eigenschaft kann sich aber nur vollständig entwickeln, wo dem juristischen Denken
eine gewisse Freiheit bewahrt ist. In dieser geistigen Freiheit, die es der Recht¬
sprechung gewährt, liegt der große Vorzug des gemeinen Rechts.
Blicken wir nun auf den Rechtszustand in den Gebieten des kodifizirten Rechts,
vor allem des preußischen Landrechts, so ist ja nicht zu bezweifeln, daß unter
den dortigen Juristen gerade so gut gesunder Rechtssinn zu Hause ist, wie unter
den Juristen andrer Länder. Ich selbst habe mehrfach altpreußische Richter
kennen gelernt, die in ihren persönlichen Eigenschaften mir als Muster aller
richterlichen Tugenden vor Augen stehen. Auch ist der geistige Inhalt des
Landrechts durchaus nicht gering anzuschlagen. Seine Schöpfer waren geist¬
reiche Männer, mit einem hervorragenden gesunden Rechtssinn begabt. Dennoch
muß man sagen: auf die preußische Rechtswissenschaft ist ein Mehlthau gefallen.
Der preußische Jurist ist von vornherein auf den Standpunkt des gemeinrecht¬
lichen „Lehrbuchsjuristen" gestellt, nur daß sein Lehrbuch seit Ende des vorigen
Jahrhunderts preußisches Landrecht heißt. Wo er sich in freier, geistiger Thätig¬
keit ergehen, wo er in seinem natürlichen Rechtssinne die Glieder regen möchte,
da schlottern ihm stets die Paragraphen seines Landrechts um die Beine. Man
lese nur solche Rcchtserörterungen. Was sagt dieser Paragraph? Was jener?
Steht der und der Paragraph nicht im Wege? Das ist ihr regelmäßiger
Inhalt. Einer Entwicklung aus der Natur der Sache ist nirgends Raum ge¬
lassen. Die damit gegebene Geistesrichtung hat sich auch nicht etwa im Laufe
der Jahre gehoben. Sie ist naturgemäß fortgeschritten. Nach der Absicht der
Verfasser des Landrechts sollte der Richter des eignen Denkens so viel wie
möglich überhoben werden; er sollte nur noch mechanisch das Gesetz anwenden.
Die natürliche Folge war, daß er sich des juristischen Denkens entwöhnte und
daß sein natürlicher Rechtssinn verkümmerte. Damit war der Rechtsprechung
ihre beste Grundlage entzogen. Ohne juristisches Denken mußte selbst das viele
Vortreffliche, was das Landrecht enthält, unverstanden bleiben und in der An¬
wendung schwinden. Die Anwendung des Landrechts steht sicherlich nicht auf
der Höhe der Geisteskraft seiner Verfasser. Auch wird es einem lcmdrechtlicheu
Juristen schwer, sich überhaupt nur in eine Rechtsprechung hineinzudenken, bei
der man sich nicht stets am Leitseil des geschriebenen Buchstabens bewegt.*)
Täusche ich mich nicht, so hängt es auch mit einem Mangel an tieferer
juristischer Bildung zusammen, daß auf politischem Gebiete die preußische Recht¬
sprechung hie und da Verirrungen und der Richterstand so exzentrische Persön¬
lichkeiten auszuweisen gehabt hat, wie sie meines Wissens im übrigen Deutsch¬
land nicht vorgekommen sind. Die Folge davon ist gewesen, daß man alle das
öffentliche Interesse berührenden Angelegenheiten mehr und mehr der Zuständig¬
keit der ordentlichen Gerichte entzogen hat. Auch auf die gesamte Verwaltung
ist der Standpunkt der preußischen Rechtswissenschaft nicht ohne Einfluß ge¬
blieben.
Nun sagt man freilich, der Mißerfolg des Landrechts sei eine Folge der
verfehlten Methode, für jeden einzelnen Fall eine Vorschrift geben zu wollen,
eine Folge der sogenannten Kasuistik. Daran ist nur so viel wahr, daß
die Verfasser des Landrechts und ihre Zeitgenossen gerade von dieser Methode
einen großen Erfolg erwarteten, der gänzlich ausgeblieben ist. Aber der Grund
des Mißerfolges liegt ja weit tiefer. Er liegt darin, daß man überhaupt glaubte,
durch Aufstellung von Regeln durchweg mit formeller Gesetzeskraft ein gutes
Recht schaffen zu können. Geht man bei einer solchen Aufstellung kasuistisch zu
Werke, so liegt die Gefahr darin, daß in der Fülle der Einzelheiten der geistige
Zusammenhang verloren geht. Stellt man abstrakte Sätze auf, so geht nur
allzu leicht die Anschauung für die konkreten Erscheinungen und damit der
praktische Boden verloren. Wie man auch die Sache macht, stets droht der
herrschende Buchstabe seine verknöchernde Wirkung zu üben. Denn der Buch¬
stabe tötet, und nur der Geist macht lebendig. Wir haben ja Gesetzbücher vor
Augen, denen man den Vorwurf der Kasuistik nicht machen kann. Läßt sich
denn nun behaupten, daß aus ihnen ein gesundes Rechtsleben sich entwickelt
habe? Wäre dem so, so wäre nichts verständiger, als ein solches bereits
bewährtes Gesetzbuch ganz so, wie es ist, oder doch mit möglichst wenigen
Abänderungen auch bei uns einzuführen. Warum thut man denn das
nicht?
Natürlich hat auch die gemeinrechtliche Wissenschaft dadurch, daß ihr die
reichen Kräfte der preußischen Rechtsprechung entzogen wurden, schwere Einbuße
erlitten. Gleichwohl wird unbedenklich behauptet werden dürfen, daß das gesundeste
Leben der deutschen Rechtswissenschaft noch auf dem Gebiete des gemeinen Rechtes
liegt. Seinem Fortbestande ist es zu danken, daß auf den Universitäten allgemein
noch römisches Recht als Grundlage unsrer gesamten Rechtsbildung gelehrt wird
und damit der belebende Geist der römischen Rechtswissenschaft uns erhalten ge¬
blieben ist. Von der gemeinrechtlichen Wissenschaft sind alle Fortschritte aus¬
gegangen, die im Laufe dieses Jahrhunderts im Rechte gemacht worden sind.
Hie und da haben diese Fortschritte selbst bis in die Gebiete des kodifizirten
Rechtes ihre Wirkung geübt. Charakteristisch ist es, daß alle diejenigen, welche
in neuerer Zeit das preußische Landrecht wissenschaftlich bearbeiteten (Borne¬
mann, Förster, Ennius, Dernburg), eine gemeinrechtliche Schule durchgemacht
haben. Hat doch selbst das erste umfassende biographische Denkmal, das dem
Schöpfer des Landrechts, Svarcz, gesetzt worden ist, auf einen gemeinrechtlichen
Juristen (stützet) warten müssen. Das gemeine Recht ist bis auf den heutigen
Tag die Rechtsschule für ganz Deutschland geblieben.
Diese Rechtsschule wird, sobald Deutschland ein allgemeines Gesetzbuch er¬
hält, für immer geschlossen sein. Die Wirkung davon wird weit tiefer greifen,
als die bisherigen Beschränkungen des gemeinen Rechts auf engere Gebiete.
Es wird sich damit ähnlich verhalten wie bei einer Sonnenfinsternis, bei der
die tiefen Veränderungen in der Natur erst in dem Augenblicke eintreten, wo
die Sonne ganz den Blicken verschwindet. Alle übrigen juristischen Disziplinen
sind bereits kodifizirt. Wird nun auch das gesamte Zivilrecht unter den Bann
der Kodifikation gebracht, so hat das freie juristische Denken keine Stätte mehr.
Die Frage, ob etwas gerecht, ob es verständig sei, tritt fortan für den Juristen
ganz in den Hintergrund gegen die Fragen: Was steht geschrieben? Was mögen
diejenigen, die es geschrieben, wohl dabei gedacht haben? Auch wenn sie gar
nichts dabei gedacht haben sollten, muß doch das Gedachte herausgebracht
werden.
Es ist eigentümlich, daß jede Zeit auf die Schwächen früherer Zeiten mit¬
leidsvoll zurückblickt, aber selbst über solche erhaben zu sein glaubt. Wir erkennen
an, daß die früheren Kodifikationen keine gelungenen Werke seien. Wir erkennen
auch an, daß man im Jahre 1814 schwerlich ein gutes Zivilgesetzbuch geschaffen
haben würde. Aber heute— heute sind wir dazu imstande! Auch darin
liegt eine Täuschung. Wir sind durchaus nicht so weit, daß wir die Rechts¬
wissenschaft vollkommen beherrschten. Unsre Theorien sind noch vielfach un¬
vollkommen und lückenhaft. Das wissen wir Praktiker am besten, die wir so
oft bei unsern Entscheidungen uns von der Theorie gänzlich im Stich gelassen
finden, ja mitunter nur dadurch zu verständigen Entscheidungen gelangen, daß
wir uns über die Theorie hinwegsetzen.
Es führt dies unwillkürlich auf die Frage, wie denn nun der uns vor¬
liegende Entwurf beschaffen sei. Ein näheres Eingehen auf diese Frage würde
so juristisch ausfallen, daß es für die Leser dieser Blätter nicht paßte. Aber
wir können doch so viel sagen, daß gewiß nur wenige, die überhaupt ein Urteil
haben, in dem EntWurfe das gefunden haben werden, was sie von einem deutschen
Zivilgesetzbuch erwarteten. Wertvoll darin ist vieles von dem Positiven, was der
Entwurf, meist unter Benutzung schon bestehender deutscher Landesgesetze, neu ge¬
ordnet hat. In seinem ganzen Aufbau aber ist der Entwurf, trotzdem daß vor¬
zugsweise Praktiker an ihm gearbeitet haben, ein doktrinäres Werk geworden,
das in seiner gekünstelter Sprache nicht nur jeder Volkstümlichkeit entbehrt,
sondern auch für deu Juristen schwer verständlich ist, und das auch nicht auf
der Höhe praktischer Rechtswissenschaft steht. Man könnte zu seiner Recht¬
fertigung sagen, daß er aus den bestehenden Theorien ungefähr das Mittel
ziehe, und daß daher die Rechtsprechung so ziemlich die nämliche bleiben werde,
wie sie jetzt ist. Darin dürfte aber eine Täuschung liegen. Eine Rechtsprechung,
die nicht mehr über den Wert eines gegebenen Gesetzbuches steigen kann, muß
naturgemäß unter den Wert desselben heruntergehen. Es ist ein großer
Unterschied, ob eine falsche Lehre oder eine Lücke im Rechte sich nur in den
Lehrbüchern findet oder ob sie im Gesetze enthalten ist. Die Lehren der
Lehrbücher sind wandelbar und lassen der freien Forschung noch Raum neben
sich. Vielfach durchbricht die Praxis sie mit ihrem natürlichen Rechtssinn. Und
wenn auch heute ein Richter fehl geht, so darf man doch hoffen, daß morgen
sein Nachfolger besser erkennen werde. Das alles ändert sich, sobald Irrungen
des Gesetzes den Richter fesseln. Wo das Gesetz spricht, da ist der freien
Forschung, dem lebendigen Gedanken die Welt mit Brettern zugenagelt. Jeder
denkende und strebsame Jurist könnte deshalb als Motto auf sein Zivilgesetzbuch
schreiben: Vol vno mei-g-es, 1g,8<zig,es vAui 8xsrim?A.
Es ist dem EntWurfe mehrfach der Vorwurf gemacht worden, daß er bei
seinen Aufstellungen allzusehr römisches Recht bevorzuge und das deutsche Recht
hintansetze. Wie man auch darüber denken mag, so könnte man doch daraus
die Folgerung ziehen, daß der Entwurf, der ja (nach K 1) aus dem „Geiste der
Rechtsordnung" ergänzt sein will, mittelbar auf das belebende Studium des
römischen Rechtes zurückführe. Das trifft aber doch nicht zu. Hinter dem
Entwürfe lagern sich, breit und anspruchsvoll, zunächst die „Motive," die ohne
Zweifel in erster Linie als „Geist der Rechtsordnung" gelten und deshalb vor
allem studirt und respektirt sein wollen. Leider aber sind diese Motive nicht durch¬
weg von der Art, daß man sie als „Geist" anpreisen könnte. Dafür enthalten
sie zu viel unwissenschaftlich Gedachtes. Der Entwurf mit seinen Motiven ist
nicht geeignet, eine neue Wissenschaft zu erzeugen. Nur das dürftige Bacillen-
leben der Kommentare wird reichlich in ihm Nahrung finden.
Voraussichtlich wird hiernach bei Einführung des Gesetzbuches auch das
ganze Universitätsstudium sich ändern. Das römische Recht, auf dessen Fort¬
bestand als Grundlage der Wissenschaft wohl manche Rechtslehrer gehofft haben,
wird aus dem Studium verschwinden. Es wird keine Zeit mehr dafür übrig
bleiben. Ein kodifizirtcs Recht nimmt in erster Linie das Gedächtnis in An¬
spruch. Schon jetzt stellen Handelsrecht, Wechselrecht, Strafrecht und die Neichs-
prozeßgesetze dem Studirenden die Aufgabe, den Inhalt von 3678 Paragraphen
zu erlernen. Tritt das Zivilgesetzbuch mit seinem Einführungsgesetze noch hinzu,
so werden das zusammen mehr als 600V Paragraphen allein im Reichsrecht
sein, die der Studirende sich aneignen muß. Wie kann man ihm, wenn man
ihm so viel auswendig zu lernen zumutet, auch noch zumuten, juristisch denken
zu lernen? Um sich Paragraphen einzuprägen, braucht man auch keinen Pro¬
fessor, sondern nur noch einen Einpauker. Das ganze Rechtsstudium wird hiernach
anderer Art werden. Es wird mehr auf ein mechanisches Lehren und Lernen
hinauslaufen. Wer aber nur mechanisch das Recht erlernt hat, wird es später
im Leben auch nur mechanisch anwenden.
Vielleicht werden manche sagen: Was ist wohl an der Wissenschaft gelegen,
wenn wir nur ein gutes Recht haben! Ganz dieser Ansicht würde ich auch
sein, wenn die Sache so wäre. Unter der Wissenschaft aber, der ich hier das
Wort rede, verstehe ich nicht gelehrten Krimskrams, sondern eine lebendige Er¬
kenntnis der Lebensverhältnisse, die das Recht bedingen. Ohne eine solche
wird niemals eine gute Rechtsprechung bestehen. Sie geht aber unter, wenn
man nur noch mechanisch Gesetze anwendet.
Nun wird man freilich den gewichtigen Einwand erheben: „Soll denn die
jetzt in Deutschland bestehende Buntscheckigkeit des Rechtes ewig fortbestehe»?
Das deutsche Volk verlangt nach Einheit des Rechtes, und diese muß ihm
gewährt werden." Gewiß besteht in dem deutschen Volke dieses Verlangen und
ist auch vollkommen berechtigt. Es war ein schwerer Fehler Savignys, daß er,
als er gegen die Kodifikation auftrat, dies verkannte. Die Frage ist nur die:
In welcher Weise wird dieses Verlangen am besten befriedigt? Hier muß ich
nun zurückverweisen auf die Stimmen derjenigen im Reichstage, welche begehrte»,
daß auf dem Wege der Einzelgesetzgebung vorgeschritten werde. Das waren nicht
minder patriotisch gesinnte Männer, als die, welche heute für Kodifikation
schwärmen. Sie wollten nur nicht eine Einheit auf Kosten des materiellen
Wertes der Rechtspflege schaffen. Es ist eine schlimme Verirrung mancher
unsrer Politiker, daß sie meinen, wenn man nur Einheit schaffe, so komme es
gar nicht darauf an, ob das Geschaffene gut oder schlecht sei. Das deutsche
Volk erwartet von der Einheit gute Einrichtungen, nicht aber schlechte. Wir
haben das lebendige Beispiel vor Augen an unserm Zivilprozeß, der nur dazu
dient, das Recht dem Volke zu verkümmern. Glaubt man etwa, daß, wenn
ein Frankfurter Bürger an einer leidigen Zustellungsfrage seinen Prozeß ver¬
loren hat, man ihm sagen könnte, es müsse ihm doch zum Troste gereichen,
daß dasselbe auch einem Bürger von Konstanz und von Gumbinnen alle Tage
begegnen könne? Als verständiger Mann wird er antworten: Umso schlimmer,
wenn man solche schnöde Einrichtungen, welche die Menschen um Geld und Gut
bringen, für ganz Deutschland geschaffen hat.
Hätte man sich entschlossen, auf dem Wege der Einzelgesetzgebung vorzu¬
schreiten, so hätte man zunächst Gegenstände auswählen können, bei denen vor¬
zugsweise ein Bedürfnis für einheitliche Rechtsgestaltung vorliegt. Es würden
dies voraussichtlich auch gerade solche gewesen sein, die sich vorzugsweise zur
positiven Ordnung durch Gesetz eignen. Hätte man alljährlich ein oder zwei
Gesetze dieser Art bearbeiten lassen, so würden auch die Faktoren unsrer Gesetz¬
gebung eine wirklich nutzbringende Thätigkeit bei ihnen auszuüben imstande ge¬
wesen sein. Unser Volk, und namentlich auch unser Juristcnstand, würden dann nach
und nach in die Einheit hineingewachsen sein, was weit wohlthätiger gewirkt hätte,
als wenn man ihnen jetzt ein ganzes neues Gesetzbuch über den Kopf gießt. Wäre
in dieser Weise in den fünfzehn Jahren, seit denen das Gesetz vom 2V. Dezember
1873 besteht, vorgegangen worden, so könnten wir jetzt schon die Hälfte von dem,
was in dem Entwürfe wirklich von Wert ist, als einheitliches Recht besitzen.
Auch heute noch ließen sich ganze Kapitel aus dem Entwürfe herausschneiden,
um als Spezialgesetze verwendet zu werden. Wenn dann neben diesem Vor¬
schreiten der Reichsgesetzgebung zugleich die Landesgesetzgebungen sich die Mühe
hätten geben wollen, in den aus früherer Zeit überkommenen, teilweise recht
wüsten Rechtszuständen ihrer Länder einigermaßen aufzuräumen, so würden wir
auf diese Weise zu einer vernünftigen Rechtseinheit gekommen sein, ohne so
vieles Wertlose, dessen Folgen sich gar nicht überblicken lassen, mit in den Kauf
nehmen zu müssen. Eine wirkliche Rechtseinheit, d. h. eine volle Übereinstimmung
der Rechtsanwendung in allen Teilen des Reiches, ist ohnehin eine Ideal, das
sich nie verwirklichen wird. Namentlich wird mindestens noch ein Menschenalter
hindurch auch das einheitliche Zivilgesetzbuch von dem landrechtlichen Juristen
ganz anders verstanden werden, als von dem gemeinrechtlichen, und wieder
anders von dem Juristen des französischen Rechtes. Auch darin haben wir
an dem Zivilprozeß das lebendige Beispiel.
Statt in der gedachten Weise zu verfahren, hat man — gleichsam ü, könnts
xsrcw — zur Anfertigung eines Zivilgesetzbuches Auftrag gegeben. Nach einer
langen Reihe von Jahren liegt jetzt — ich glaube, daß dies wohl ziemlich allgemein
anerkannt werden wird — ein wenig ansprechendes Werk vor. Soll dieses nun
doch zum Gesetze erhoben und damit die ganze Rechtsentwicklung in Deutschland
zum Abschluß gebracht werden? Dann würden wir neben dem übel ausgefallenen
Zivilprozeß auch noch ein unbefriedigendes materielles Recht haben. Für den
Mißerfolg der Zivilprozeßordnung kann es noch zur Entschuldigung dienen, daß
sie zur Zeit ihrer Einführung fast allgemein für ein Mustergesetz gehalten wurde.
Für das Zivilgesetzbuch würde diese Entschuldigung nicht zutreffen. Denn unsre
juristisch gebildeten Staatsmänner können schon jetzt nicht darüber zweifeln, daß
dasselbe für die Rechtsprechung keine wünschenswerte Errungenschaft sein wird.
Sonderbar! Während auf allen andern Gebieten des öffentlichen Lebens das Reich
unserm Volke Gutes, ja zum Teil Vortreffliches gebracht hat, scheinen ihm
auf dem Gebiete der Privatrcchtspflege, die man in frühern Zeiten als die erste
Aufgabe des Staates betrachtete, nur Fehlgriffe beschieden zu sein!"')
uf dem engen und zusehends sich verengernden Boden der Dorf¬
geschichte, insbesondre der bairischen „Hochlandsgcschichte," wie sie
eigens benannt wurde, bieten Ludwig Ganghofer und Maxi¬
milian Schmidt, derzeit die einzigen Pfleger dieser Gattung
von Erzählungen, deutlich erkennbare Gegensätze. Der ältere,
Schmidt, zugleich der gelehrtere und der, der ständig in Baiern lebt, hat seine
Stellung zum Hochlande Bayerns als Patriot, als Kulturhistoriker, als Ethno¬
graph gewonnen; der jüngere, der feit bald zehn Jahren nur zeitweilig, zur
sommerlichen Ferienzeit oder bet einer verheißungsvoller Jagd, seine bairische
Heimat besucht, im übrigen aber sich vielfach an Wien gebunden hat, ist unmittel¬
barer, unbefangner, frischer, frei von jenen an sich löblichen Tendenzen, er schildert
das Hochgebirgsvolk und das Bauerntum, weil es sein Naturell man möchte sagen
wahlverwandt anspricht und seiner dichterischen Gestaltungskraft sich am bequemsten
anpaßt. Maximilian Schmidt will als Lokalpatriot bei der Unterhaltung auch
die Kenntnis seines Gebirgswinkels in jeder Beziehung verbreiten: er flicht histo¬
rische Mitteilungen, Kostümstudien, wirtschaftliche Bemerkungen, philologische
Glossen in seine Erzählungen ein; Ganghofer will nur unterhalten. Jedenfalls
gewinnt dieser durch sein frisches Zugreifen die Leser mehr, als jener durch
seine wohlmeinende Gelehrsamkeit. Ganghofer hat aber noch mehr voraus: weil
er dichterisch ursprünglicher und stärker ist, setzt er sein ganzes Können an die
Ausbildung der Charaktere, auf die Erfindung drastischer Szenen, und er ist in
dieser Richtung glücklich genug. Schmidt ist mehr sentimental, seine Menschen
haben etwas Mollnskenhciftes, seine Erfindungen sind ohne rechten Reiz, selten ist er
spannend, zuweilen hat man Mühe, ihm aufmerksam zu folgen. Am bezeichnendsten
drückt sich dieser Gegensatz zwischen den zwei Erzählern in ihrer sehr verschiednen
Behandlung des Dialekts aus, der für diese Gattung von Erzählungen doch sehr
wichtig ist. Schmidt bestrebt sich, ihn mit peinlichster Treue zu schreiben; Gang-
hofer hat sich eine Art von süddeutschem Messingsch zurechtgelegt. Durch diese
Vermittlung zwischen Dialekt und Schriftsprache kommt er einem größern Leser¬
kreise entgegen. Die Färbung des Hochdeutsch genügt gerade, um bäurisch derbe
Art und Urwttchsigkeit zu charakterisiren; die pedantische Treue Schmidts wird
nur von dem engern Kreise der Landleute dankbar gewürdigt werden. Auch
im Humor ist Ganghofer dem ältern Erzähler zweifellos überlegen; die „Fuhr¬
männin" wird ihm Schmidt nicht nachschreiben. Der Dramatiker in Ganghofer
kommt seinen Erzählungen jedenfalls zu Gute. Freilich hütet er sich nicht vor
Übertreibung: er opfert dem überraschenden Effekt, der Verblüffung, der atemloser
Spannung in der Handlung leicht die Wahrscheinlichkeit derselben, und weit
mehr ein Naturell, ein Phantasiemensch als ein tiefer Denker, gerät er wohl auch
in Verlegenheit, die heraufbeschworenen Schicksale und Verwicklungen in ebenso
großem sittlichen Geiste befriedigend zu ordnen und zu lösen, als seine Phantasie sie
farbenprächtig darzustellen vermocht hat. Bei Schmidt gewinnt man das Gefühl,
daß er sich in der Dorfgeschichte selbstgenügsam wohl fühle, ohne das Bedürfnis,
den Kreis seiner epischen Kunst auf eine größere Welt zu erweitern; kaum ragen
Motive aus dem Verkehr zwischen Dorf und Stadt in seine Erzählungen hinein.
Ganghofer rüttelt an den Stangen seines Käfigs. Er hat sich schon einmal
an einem sozialen Romane versucht, freilich mit sehr geringem Erfolge, er ist ge¬
schwind wieder zu seiner erprobten Dorfgeschichtschreibung zurückgekehrt. Aber
man wandelt nicht ungestraft unter den Arkaden der Wiener Kaffeehäuser und
nimmt selbst als Hochländler von der bewegtem Großstadtluft etwas an. Er
wird doch nach und nach die Lodenjoppe mit dem Salonrock vertauschen.
Anlaß zu diesen allgemeinen Betrachtungen gab uns die Lektüre der neuesten
Bücher der zwei genannten Erzähler.*)
„Der Musikant von Tegernsee" hat eigentlich einen humoristischen Kern,
allein die vielen häßlichen Szenen, Handlungen und Charaktere, die Schmidt
um diese gruppirt hat, lassen den Humor nicht recht aufkommen, und der Held
selbst, der Musikant, ist zu brav, zu nüchtern, um ästhetisch zu fesseln. Er steht
im Mittelpunkt mit der Almerin Cilli; sein Porträt hat Mathias Schmidt vor
dem Buche als Titelbild gezeichnet: ein hübscher Bursch, der aber die Augen
so weinerlich verdreht, daß er ganz andre Vorstellungen erweckt, als sie die
Erzählung fordert. Cilli ist aus wohlhabenden Bauernhause; nur die schlechte
Behandlung, die sie durch ihre Stiefmutter erlitt, zwang sie, in fremde Dienste
zu treten. Auf der Alm lernt sie der Jäger Franz kennen und verliebt sich in
sie. Er ist aber eine Art von Dorfstreber, möchte bald Förster werden und
bedarf also einer bessern Frau, einer „gebildeten." Darum bemüht er sich, die
schöne, aber sonst ganz urwüchsige Dirne zu erziehen. Um sie im Zitherspielen
auszubilden, bestellt er seinen Freund Baptist, den Musikanten von Tegernsee,
ein musikalisches Dorfgenie, das alle Instrumente zu spielen versteht, wegen
seiner harmlosen Gutmütigkeit auch überall beliebt ist. Nun verliebt sich aber
Cilli in den Musiklehrer (wie jeder städtische Backfisch); den Franz hat sie
eigentlich nur als guten Freund um sich gelitten. Baptist geht seitdem kopf¬
hängerisch umher; seiner guten Seele widerstrebt der Verrat am Freunde.
Allein die Liebe ist doch stärker, und Cilli giebt ihm klare Zeichen ihrer Nei¬
gung. In dieser Not findet Baptists Mutter ein Auskunftsmittel. Dem Streber
Franz will sie weißmachen, daß die alte närrische Jungfer Urschi, die mit ihrer
im Dienste der hohen Herrschaften in München erworbenen Bildung auf dem
Lande großthut, eigentlich besser zu ihm passe, als die Magd Cilli. Und wirk¬
lich, Franz geht auf den Leim, läßt sich von der Jungfer herumkriegen, sagt
der Cilli ab und tritt sie förmlich dem Freunde Musikus ab. Damit hätte die
Geschichte ein Ende, ein allzu frühes freilich für einen starken Band, der ge¬
schrieben werden muß; sie hätte gerade nnr für eine heitere Blüette hingereicht.
Da setzt aber Schmidt mit einer andern Wilddieb- und sonstigen Kriminal¬
geschichte ein, die im Grunde nichts mit dem gegebenen Hauptmotiv zu thun
hat und auch den Musikanten in den Hintergrund drängt. Diese Geschichte
wiederzugeben, können wir füglich unterlassen, sie ist recht unerquicklich. Genug,
daß sie nicht dazu dient, den Charakter Baptists weiter zu entwickeln, vielmehr
wird Franz ihr wankelmütiger Held; er hat schnell bereut, sich von Cilli los¬
gesagt zu haben, besteht auf seine vermeintlichen Liebhaberrechte, und die andern
Beteiligten sind merkwürdigerweise zu schwach und zu feig, sich seiner zu erwehren.
Auch in der sentimentalen, an Handlung weit ärmern „Erzählung vom
Ammersee" spukt das Kriminal überall herum. Wie in der erster» die Ge¬
schichte Tegernsees ausführlich von den alten Zeiten her berichtet wird, so müssen
im „Liserl" die Legende der heiligen Elisabeth, die Geschichte des Klosters
Andechs, der Wartburgkrieg, der Sängerstreit mit Klingschor und ausführliche
Mitteilungen über die „Devotions"-, Stroh- und Holzindustrie der Gegend
die Lücken der Handlung füllen, was weder geschmackvoll noch besonders kurz¬
weilig ist. Auch hier stehen ideale Seelenreinheit und realistische Bauernrohheit
unvermittelt nebeneinander; auch hier ist das Mädchen eine große Schönheit,
fabelhaft treu und ebenso dumm. Auch hier werden uns Wandlungen von
Charakteren als glaubhaft zugemutet, die wir höchst unwahrscheinlich finden;
und natürlich finden sich auch hier die Liebenden, nachdem sie sich gegenseitig
alle möglichen Opfer gebracht haben, und nachdem der ungeliebte, aber zudring-
liebe Freier abgefertigt worden ist. Der Held ist hier auch ein Kunstgenie.
Hans hat in seiner Jugend nicht gut gethan; er wurde sogar in die Zwangs¬
arbeitsanstalt zu Andechs gesteckt, um nicht ganz verwahrlost zu werden. Das
Liserl aber weiß dem Buben Dank, weil er ihr einmal, als sie im Kindesalter
am See waren und sie ins Wasser fiel, das Leben gerettet hat. In Wahrheit
pflegen Kinder für dergleichen Erlebnisse kein Gedächtnis zu haben. Das Liserl
hat nun seinerseits einmal Gelegenheit, den Hans vor Verbrechen und Zucht¬
haus zu bewahren, und damit wären sie nun quitt, wenn sie nicht, so jung sie
auch sind, in einander „für Leben und Ewigkeit" verliebt wären. Hans bessert
sich in der That in der Zwangsarbeitsschule; König Ludwig I. muß komme»,
sein Talent für bildende Kunst zu entdecken und ihm aus seiner höchsteignen
Privatschatulle die Mittel zur vollen Ausbildung in München zu geben. Nach
acht Jahren, indessen Hans an kein andres Mädel als an das Liserl und sie
an keinen andern Buben als an ihn gedacht hat, kommt er als fertiger, tüch¬
tiger Ciseleur ins Heimathdorf zurück, obwohl er doch wissen muß, daß die Er¬
innerung an seine Jugendstreiche ihm dort wenig Freundschaft gewinnen kann.
Und er kommt gerade dazu, als die Eltern Liserls, eigennützige, beschränkte
Krämerseelen, das Liserl, ohne sie auch nur zu fragen, mit dem dummen, aber
reichen Sohne eines Geschäftsfreundes öffentlich „versprechen." Hans benimmt
sich dabei sehr dumm. Von der Großmutter Liserls läßt er sich nasführen und
mit guten Worten zum Verzicht auf die Geliebte bewegen. Nun tritt wieder
ein Zuchthäusler in Aktion u. s. w. Schließlich kriegen sie sich doch noch, der
Hans und das Liserl.
Wenn Maximilian Schmidt auf den Titel seines Buches die Bemerkung
geschrieben hätte: „Erzählung für die reifere Jugend," so hätten wir vielleicht
den richtigen Gesichtspunkt für die Beurteilung derselben finden können; wir
hätten schließlich zugestanden, daß es eine nicht unpassende Jugendlektüre sei.
Für ältere Leser ist sie aber doch gar zu simpel.
Ganghofer hat in seinem „Unfried," dem ersten Dorfroman, den er ge¬
schrieben, einen tüchtigen Schritt vorwärts gemacht. Läuft auch die Erzählung
fatalerweise wieder einmal in eine Kriminalgeschichte aus, so ist sie doch zum
größern Teile ein wahres Charakterdrama. Es stehen da Menschen in kräftiger
Leiblichkeit, in scharfer Individualisirung überzeugungsvoll und liebenswert,
jeder in seiner Art, vor unsrer Phantasie, sie fesseln uus persönlich, nicht bloß
durch die Handlung. Darin liegt der große künstlerische Wert der bedeutenderen
ersten Hälfte des Buches. Dabei ist die Komposition klar, übersichtlich, fein
berechnet, Schritt für Schritt wohl abgewogen, einzelne Szenen sind schon
pantomimisch von großer Beredsamkeit, Knotenpunkte der Handlung. Freilich
läßt sich das Bedenken nicht unterdrücken, daß gerade der „Unfried," die schöne
Kuni — eine Schwester oder mindestens Base der Sternsteinhosbäuerin von
Ludwig Anzengrnber —, nicht ganz widerspruchsfrei charakterisirt worden ist; es
Werden ihr Eigenschaften beigelegt, die psychologisch nicht ganz zusammenstimmen
wollen.
Der Pointnerhof in irgend einem bairischen Gebirgsdorfe ist die Stätte
des schönsten Friedens und satter Zufriedenheit für alle Insassen. Der alte
Pointner, ein guter Mensch, ist seit einigen Jahren verwitwet, aber noch nicht
so alt, um nicht seine harmlose Freude am guten Leben, am Wein, am Essen
und an der Bequemlichkeit zu haben. Er hat es auch nicht nötig, zu arbeiten,
denn sein Großknecht Götz besorgt die Wirtschaft in musterhafter Weise, und
unter dessen Augen wächst der junge Pointner, der kürzlich vom Militärdienst
als Reservist heimgekehrt ist, zum tüchtigen Hoferben hoffnungsvoll heran. Die
kleine, schwärmerische Liebe, die der Karli für ein armes hübsches Mädchen, die
sauri, im Herzen trägt und die von Götz gebilligt wird, trägt auch nur dazu
bei, den jungen Mann vor Abwegen zu bewahren. Viel empfänglicher für
schöne Weiblichkeit, freilich auch in aller Harmlosigkeit, ist der alte Pointner;
schön müssen die Mägde auf seinein Hofe sein, seitdem die gestrenge Gattin
dahingegangen ist. In diese wolkenfreie Idylle tritt mit dem zufälligen und
plötzlichen Erscheinen der schönen Kellnerin Kuni aus Rosenheim der Unfried ins
Haus. Kuni hat ihre Stelle aufgegeben, ist auf der Wanderung in die Heimat
begriffen, und indem sie im Dorfe rasten will, kommt sie am Pointnerhof vorbei.
Der alte Hofbauer sieht sie vom Fenster aus ratlos den Weg suchen und bietet
der schönen, schmuck und fesch gekleideten Fremden gastlich einen Imbiß. Kuni
nimmt das Angebot an, und es dauert nicht lange, so hat der Bauer ihre
Lage erfahren; eine sympathische Haushälterin hat er sich schon längst gewünscht,
lind leicht hat er die Landfahrerin, die seine Schwächen mit der geübten Männer¬
kenntnis der Kellnerinnen durchschaut hat, dazu bestimmt, in seinen Diensten zu
bleiben. Götz und Karli erfahren nur die vollzogene Thatsache, und wenn sie
auch mißtrauisch gegen die hergelaufene Dirne sind — Kellnerinnen stehen
auf dem Lande nicht in gutem Rufe —, so lassen sie doch dem Bauer ohne
viel Widerspruch sein Vergnügen. Der alte Pointner äußert dieses auch in
sanguinischer Lebhaftigkeit vor allen Leuten. Seitdem die Kuni auf deu Hof
gekommen ist, dünkt der ihm doppelt so schön, die Sonne ist ihm neu auf¬
gegangen. Kuui ist auch eine fleißige und kluge Wirtin, die sich Respekt zu
verschaffen versteht, und weder Götz noch Karli können ihr was nachsagen.
Allein sie ist ehrgeizig, und in den jungen Hoferben hat sie sich verliebt. Warum
soll sie nicht seine Bäuerin werden können? Sie hat wohl gemerkt, daß er
eine andre im Herzen trägt, sie hat die kleine, schwächliche sauri schon gesehen —
diese aber wird sie doch ausstechen können? Gegen die verliebte Zärtlichkeit
des alten Pointner ist Kuni von artiger Kühle, aber Karli kommt sie überall
entgegen, obgleich er unempfindlich bleibt. In diese Lage bringt die Einberufung
Karlis zu den Manövern eine entscheidende Wendung. Den Abschied seines
abgöttisch geliebten Sohnes feiert der alte Pointner durch ein üppiges Essen
und Trinken auf seiner Stube mit ihm und Kuni; Götz, der sich immer vor
Kuni zurückhält und sein Mißtrauen nicht verbergen kann, kommt nur ab und
zu einmal dahin. Der alte Pointner wird gegen Kuni in seinem Rausche immer
zärtlicher, Karli immer kühler, Kuni ist entschlossen, den Jungen im Sturme
zu nehmen. Allein mit ihm, rechnet sie auf seine im Rausche unbewachte Sinn¬
lichkeit, sie geht so weit, als es überhaupt möglich ist — jedoch, die sauri im
Herzen, bleibt Karli der keusche Josef vor dieser ländlichen Potiphar und reist
am folgenden Morgen, nicht ohne Kuni zu verspotten, nach München ab. Diese
aber hat in derselben Nacht aus Rache gegen Karli einen andern Streich verübt,
der zur Folge hat, daß sich sein Vater, der alte Pointner, mit ihr noch am selben
Tage verlobt. Die wilde Szene nun zwischen Vater und Sohn, unmittelbar
vor der Abreise, ist höchst merkwürdig. In München, wo er es im Kreise der
alten Kameraden so lustig haben könnte, verbringt Karli eine traurige Zeit:
daß sich sein Vater mit der hergelaufenen Kellnerin vermählen sollte, drückt ihn
ganz darnieder. Er zieht Erkundigungen nach Kuni ein, sie lauten nicht er¬
baulich. Zwar ihr persönlich kann man in der Frauenehre nicht nahetreten,
allein ihre Herkunft ist dunkel. Sie ist ein uneheliches Kind, vom Vater weiß
man nichts, er gilt als verschollen. Ihre Mutter war dann an einen Wirt
verheiratet, der sie roh behandelte, die jüngern Stiefbruder haben sie auch,
so lange sie im Hause war, mißhandelt. Das ist alles, was Karli erfährt, es
genügt, um ihm die Verbindung seines Vaters mit der Haushälterin als sehr
unpassend erscheinen zu lassen. Er schreibt auch in diesem Sinne an den Vater.
Von großer Schönheit ist es dabei, daß nicht eigennützige Beweggründe, wie
etwa die Furcht um das bedrohte Erbteil, in Karli wirken, sondern bloß die
Liebe um den in Ehren grau gewordenen Vater, der noch in seinen alten
Tagen vor einem dummen Streiche bewahrt werden muß. Der Pointner schreibt
auch trotz jener Rauschszene einen liebevollen, ja heitern Brief an seinen guten
Karli in München (dieser Brief ist ein Meisterstück). Darnach wäre die Kuni
aus dem Haus in ihre Heimat abgegangen, und der Friede wäre gesichert. Doch
wer beschreibt die Überraschung Karlis, als er, voller Zufriedenheit ins Dorf
zurückkehrend, gerade dazu kommt, wie sich der Hochzeitszug seines Vaters und
der Kuni unter lärmender Musik von der Kirche zum Wirtshaus bewegt! Karli
ist außer sich. Er eilt zu Götz, um sich Aufklärung zu holen — der treue
Diener seines Hauses zuckt nur die Achseln, er habe nichts verhindern können.
Ja, jener Brief des Alten war schon richtig gewesen, Kuni war einige Tage
wirklich weg, aber sie ist wieder gekommen, mit Dokumenten wahrscheinlich, die
den Bauern beruhigten. Was ihn beruhigte, das erfährt Karli jetzt und auch
später ebenso wenig als der Leser — eine der Lücken in der Motivirung. Man
muß annehmen, daß der Pointner eben zu schwach gewesen sei, der Koketten zu
widerstehen. Aber die Hochzeit selbst hat ihn doch herabgestimmt; vor dem eignen
Sohne schämt er sich, und merkwürdig ist es zu sehen, wie er um Karlis An-
Wesenheit beim Festessen bettelt, wie er ihn triumphirend ins Wirtshaus bringt,
wie er den Sohn mehr feiert als die neue Gattin: Szenen tief rührenden Hu¬
mors, welche die lautere Herzensgüte, die gepaart ist mit reuevoller Willens¬
schwäche im alten Pointner, in wahrhaft dichterischer Weise darstellen.
Auf diesem Höhenpunkte der Handlung tritt der Umschlag auch in künstle¬
rischer Beziehung ein. Ihre Vergangenheit wird Kuni zum Verhängnis. Daß sie
selbst als gänzlich unschuldig daran geschildert wird, und daß dennoch hier Mächte
eintreten, die ihr Leben zerstören, daß demnach zwischen ihrer wahren Schuld
(der Verführung) und jener Vergeltung nur das äußerliche Band des Zufalls
besteht, ist der Fehler der Handlung. Auch fällt Kuni von da ab aus ihrem
Charakter. Ein Widerspruch ist es schon, daß von ihr als Kellnerin behauptet
wird, sie wäre abweisend kalt und spröde gewesen, und dennoch benimmt sie
sich mit dem Eintritt auf dem Pointnerhof wie eine erfahrene, raffinirte Kokette.
Wie hat sie diese Künste sich erworben? Anderseits hat sie sich bisher klug,
entschlossen, energisch benommen; jetzt verliert sie plötzlich alle diese Tugenden.
Warum? Weil sich einer ihrer Stiefbruder, ein Taugenichts und Strömer, bei
ihr einfindet und sie dadurch, daß er mit dem Verrat ihres Geheimnisses droht,
zwingt, ihm in ihrem Hause Unterkunft und Kost zu gewähren. Sie war
glücklich, ihr Dasein endlich gesichert zu haben; jetzt ist es plötzlich dnrch diesen
schlechten Kerl bedroht. Und ihr Geheimnis? Es besteht darin, daß ihr leib¬
licher Vater wegen eines Mordes ins Zuchthaus gekommen war. Den Vater
kennt man nicht; aber die Schande ruht auf der Tochter, die jetzt Pointner¬
bäuerin geworden ist. Es kommt nun so weit, daß Gregor, der Strömer, am
Hofe aller Welt das Leben verbittert und ganz besonders mit Götz in Streit
gerät. Und es gelingt dem rachsüchtigen Strömer, zu entdecken, daß Götz, der
Mustermensch, die Säule des Hofes, selbst zwölf Jahre im Zuchthause gesessen
hat, eines Mordes wegen. Diese Entdeckung hat zur Folge, daß der zer¬
schmetterte Götz sein ganzes Leben, bevor er Abschied nimmt, enthüllt, wobei
offenbar wird, daß er selbst Kumis Vater ist. Karli, der in Götz seinen Meister
verehrt, will ihn um keinen Preis ziehen lassen, lange Jahre rechtschaffenen
Lebens hätten eine That der Liebeseifersucht vollauf gesühnt; der alte Pointner,
der in voller Logik seines schwachen Charakters das Gerede der Leute fürchtet,
ist weniger dankbar — Götz entflieht in dunkler Nacht mit Kuni, die in über¬
raschender Sentimentalität glücklich ist, den nie gekannten Vater gefunden zu
haben. Nach einem Jahre stirbt sie im Gebirge, und Götz begräbt sie. Karli
heiratet seine sauri, und der Friede kehrt wieder ein.
Dies die phantastisch endigende Haupthandlung. Daneben läuft die tragi¬
komische Geschichte des Bygotters, des Vaters der sauri: die Schilderung eines
religiös Wahnsinnigen, seiner Narreteien und des Unheils, das er anrichtet.
Der Bygotter ist ein aus Amerika zurückgekehrter Dorfinsasse. Von drüben hat
er mit der Not auch den Wahnsinn heimgebracht. Er schwört nur aufs alte
Testament, predigt gegen Kirche und Pfarrer, quält die kindlich ergebene sauri,
und schließlich will er sie Gott in gleicher Weise opfern, wie Abraham den
Jsacck opfern wollte. Der rettende Schutzengel ist natürlich Karli. Eine phan¬
tastische Geschichte, die aufregend, romantisch, ergötzend wirken soll und den
Roman von der edlern Höhe des Charakterspieles herabzieht. Man darf indes
hoffen, daß Ganghofer bei seiner großen Gestaltungskraft nach und nach auf
solche romantische Zugaben verzichten und als Dorfgeschichtenschreiber jene Bahn
verfolgen wird, die Anzengruber mit seinem „Sternsteinhof" eröffnete und die
Ganghofer selbst im „Unftied" teilweise wenigstens mit Glück betreten hat: die
Bahn der großen Kunst, welche alles menschliche Schicksal nur als das Er¬
zeugnis des eignen Willens und Charakters erkennt.
s giebt zwei Dinge auf dem Gebiete der deutschen Politik, die
wir mit aller Bestimmtheit als der Unmöglichkeiten unmöglichste,
als vanitatum vkmitÄtsin bezeichnen dürfen, und die gleichwohl
von dem dabei beteiligten Auslande immer wieder im Lichte des
Möglichen gesehen und darnach behandelt werden: die freiwillige
Rückgabe Elsaß-Lothringens an Frankreich und die Wiedervereinigung Nord¬
schleswigs mit Dünemark auf Grund einer von uns gestatteten Abstimmung
der dortigen Bevölkerung. Mit dem letztern Verlangen haben wir es hier
zunächst zu thun, da es vor kurzem wieder einmal gestellt und, allerdings ohne
unmittelbare Nennung der Sache, aber sehr verständlich und entschieden abge¬
wiesen worden ist, gestellt zwar nicht vom offiziellen Dänemark, aber von einem
andern guten Freunde des deutschen Reiches, dem offiziösen Nußland, und ab¬
gewiesen mit der kräftigsten Redewendung von keinem geringeren als vom
deutschen Kaiser selbst.
Wenige Tage nach der Begegnung des letztern mit dem Zaren, an die sich,
soweit es auf den guten Willen der beiden Herrscher ankommt, mit Recht allerlei
Hoffnungen knüpften, begannen sich unsre Feinde in der moskowitischen Presse
von neuem zu regen und, wenn auch nicht mit der frühern bittern Bosheit,
doch deutlich genug ihre tiefwurzelnde Abneigung vor uns und das, was sie
infolge derselben wünschen und nicht wünschen, kundzugeben. Es bekümmerte
uns das wenig; denn es waren ja nur Privatstimmen, die sich in dieser Weise
vernehmen ließen, obgleich es bedenklich scheinen kann, daß man ihnen auch nur
diese Friedensstörung erlaubte. Sehr auffällig dagegen war es, wenn dann
der halbamtliche Roral in Brüssel den Besuch Kaiser Wilhelms in Kopenhagen
benutzte, um die für uns längst nicht mehr vorhandene oder doch nur in dä¬
nischen Zeitungen zuweilen noch spukende nordschleswigsche Frage wieder aufzu¬
rühren, als ob sie noch der Erörterung unterläge und in dänischen Interesse
gelöst werden könnte. Jeder einigermaßen eingeweihte weiß indessen, daß in
dem Brüsseler Organe der russischen Diplomatie der Baron Jomini seine Pfeile
gegen Deutschland zu verschießen Pflegt, der als Staatssekretär im Petersburger
auswärtigen Amte schon unter Gortschakoff in dieser Weise thätig war. (Der
ebenfalls offiziöse „Herold" in Petersburg hat zwar inzwischen bemerkt, der
Artikel des Roral gehöre auf eigne Rechnung der Redaktion des Blattes, es
ist aber nicht Jominis Stimme, die das erklärt.) Jomini gehört zu unsern
bittersten und eifrigsten Gegnern und ist umso gefährlicher, als er sich nicht,
wie seine panslawistischen Freunde, mit seiner Persönlichkeit hervordrängt, sondern
versteckt, gleichsam unterirdisch nach seinen Zielen hinarbeitet, und als er sich
dabei auf staatsmännische Erfahrung und Übung in diplomatischen Kunstgriffen
stützt. Nichts charakterisiert die russischen Negierungszustcinde mehr als die That¬
sache, daß ein uns wohlwollender und friedliebender Staatsmann wie Giers diesen
Maulwurf und seinesgleichen neben sich dulden muß, und man darf wohl sagen,
daß, so lange Jomini im Amte bleibt, sein Einfluß es zu keiner dauernden Verstän¬
digung Rußlands mit Deutschland und zu keiner Befestigung des Weltfriedens
kommen lassen wird. Als selbstverständlich ist anzunehmen, daß Giers mit dem
Artikel des Mrä nichts zu thun hatte, aber man merkt daraus, daß die
Unterströmung, die während der Kaisertage in Peterhof gestaut war und nur
schwach floß, wieder Kraft und Fülle gewinnen will, und wenn wir uns auch
mit dem im Grunde festen Charakter und der aufrichtigen Friedensliebe des
Kaisers Alexander einigermaßen über sie getröstet finden, so sind wir doch keines¬
wegs ganz sicher, daß sie ihn nicht einmal zu Entschlüssen fortreißen wird, die
ihm gegenwärtig fern liegen.
Der Roral glaubte, darauf hinweisen zu müssen, daß der fünfte Artikel
des Prager Friedensvertrages, wonach eine Abstimmung der Bevölkerung Nord¬
schleswigs über dessen Schicksal endgiltig entscheiden solle, ausgeführt werden
müsse, da dies die unumstößliche Bedingung einer wahren Versöhnung Däne¬
marks mit Deutschland sei. Man könne demzufolge behaupten, daß, wenn die
Reise Kaiser Wilhelms nach Kopenhagen auch eine gewisse Annäherung zwischen
dem Berliner Hose und dem dänischen hervorgerufen habe, durch jenen Besuch
anderseits, indem er die Schleswig-holsteinische Frage wieder in den Vordergrund
gezogen habe, die alte nationale Zwietracht zwischen Deutschland und Dänemark
von neuem angefacht worden sei. Das Organ des deutschen Reichskanzlers ent¬
nahm daraus, daß diejenigen russischen Politiker, welche hinter jenem belgischen
Blatte stehen, noch immer die Absicht verfolgen, uns bei Gelegenheit eines et-
waigen Krieges im Verein mit Frankreich einen möglichst großen Teil von
Schleswig wieder abzunehmen. Das ist ohne Zweifel richtig, nur bleibt abzu¬
warten, ob die Absicht zu einem Versuche, sie auszuführen, werden und ob in
solchem Falle der Versuch gelingen wird. Es wäre das eine bloße Machtfrage.
Die Rechtsfrage ist schon lange aus der Welt geschafft, auch hatte der Artikel 5
niemals ganz die Bedeutung, welche ihm von den Gegnern Preußens und
Deutschlands beigelegt wurde. Er lautete: „Seine Majestät der Kaiser von
Österreich überträgt auf Seine Majestät den König von Preußen alle seine im
Wiener Frieden vom 30. Oktober 1864 erworbenen Rechte auf die Herzogtümer
Holstein und Schleswig mit der Maßgabe, daß die Bevölkerungen der nörd¬
lichen Distrikte von Schleswig, wenn sie durch freie Abstimmung den Wunsch
zu erkennen geben, mit Dänemark vereinigt zu werden, an Dänemark abgetreten
werden sollen." Das ist alles. Wann die Abstimmung stattfinden, wann ihr
die Abtretung folgen sollte, welche nördlichen Distrikte, ob die bis zur Gjenner-
bucht oder die bis an die Flensburger Föhrde oder die bis zur Schlei und
zum Dannewerke, war nicht gesagt, man konnte bloß an einen schmalen Land¬
streifen längs der jütischen Grenze, man konnte auch an Einschluß Angelus,
Nordfrieslauds und der Inseln Alsen und Föhr denken. Ferner hatte Däne¬
mark mit dem Prager Frieden nichts zu schaffen, er wurde nicht mit ihm,
sondern einzig und allein zwischen Preußen und Österreich abgeschlossen, und
nur diese Mächte erwarben durch ihn Rechte und Ansprüche. Nicht gegen
Dänemark oder eine andre am böhmischen Kriege unbeteiligt gewesene Macht,
sondern nur gegen Österreich verpflichtete sich Preußen in örtlich und zeitlich
so wenig bestimmter Weise Vorkommendenfalls zur Abtretung eines Teiles von
Schleswig an den König von Dänemark. Außer Österreich, das als früherer
Mitbesitzer des im deutsch-dänischen Kriege durch Eroberung erworbenen Schleswig-
Holstein wenigstens einigen Anlaß hatte, in der deutsch-dänischen Nationalitäts¬
frage gehört zu werden, hatte kein andrer Staat die völkerrechtliche Befugnis,
auf die Ausführung des Artikels 5 des Prager Friedens zu dringen. Österreich
bediente sich derselben niemals, ja es schloß am 11. Oktober 1378 mit Preußen
einen Vertrag ab, worin es ausdrücklich auf sein Recht verzichtete und ein¬
willigte, daß Artikel 5 des Prager Friedens „außer Giltigkeit gesetzt" werde.
Niemand also ist gegenwärtig befugt, vom deutschen Reiche die Ausfüh¬
rung des Artikels 5, den der Uorck ausgegraben und künstlich wieder zu be¬
leben versucht hat, zu verlangen, auch Dänemark nicht, und noch viel weniger
die russische Diplomatie. Daß wir aber nicht von freien Stücken an einen
solchen reaktionären Akt in unsrer auswärtigen Politik denken, und daß wir
uns von keiner Macht der Welt mit den Waffen dazu oder zu einem andern
Opfer an unsern notwendig gewesenen und gerecht erworbenen heutigen Grenzländern
zwingen lassen werden, daß wir dieselben vielmehr mit Einsetzung aller Kräfte
der Nation verteidigen werden, hat Kaiser Wilhelm als der berufene Wortführer
der letztern in seinem Trinksprüche bei der Enthüllung des Frankfurter Stand¬
bildes Prinz Friedrich Karls nach Osten und nach Westen hin unzweideutig
und entschlossen verkündet. Seine Worte enthielten keinerlei Bedrohung des
Friedens, aber eine eindringliche Warnung für Störer des Friedens. Deutsch¬
land hat im Norden, dann im Westen Kriege führen müssen, aber nur, um sich
einen festen Frieden zu sichern. Es hat gesiegt und erobert, aber nur, um
die Grenzen zu gewinnen, die ihm bleibende Ruhe vor dem Erbfeinde im Westen
und dessen wahrscheinlichem Bundesgenossen im Norden für den Fall eines An¬
griffes von Westen her verbürgten. Auch an den Osten war damals zu denken,
als wir uns die transalbingischcn Herzogtümer angliederten, und es wird noch
heute daran gedacht, wenn wir sie „op ewig ongedeelt" behalten wollen. Nie¬
mand bei uns verlangt, so stark er sich auch fühlt, irgend welche weitere Er¬
werbung. Unsre Nachbarn sind vor uns sicher, so lange sie uns bei der so
lange ersehnten und endlich errungenen Sicherheit vor ihnen belassen wollen.
So faßt, soweit sich in diesem Augenblicke sehen läßt, auch das Ausland,
namentlich die öffentliche Meinung in Österreich und England, die denkwürdige
Kaiserrede auf, und wenn Organe derselben in Paris sie anders deuten, so können
wir nicht dafür, und ihr großsprecherischer Verdruß läßt uns kalt. In England hält
die Presse, wie es scheint, die kaiserliche Erklärung für lediglich gegen Frankreich ge¬
richtet, sonst wird sie von ihr richtig verstanden und günstig beurteilt. Ein paar
Beispiele werden genügen. Vg.i1^ Ah>of meint, die Rede Kaiser Wilhelms des
Zweiten könne nicht verfehlen, Aufsehen zu erregen, und sagt dann: „Es würde
im Interesse Frankreichs und ganz Europas tief zu beklagen sein, wenn franzö¬
sische Staatsmänner sich für diese Worte zu empfindlich zeigen sollten. Im
Grunde hat der Kaiser ihnen nichts gesagt, als was sie nicht vorher gewußt
haben müssen. Vom Schlüsse des Krieges zwischen Deutschland und Frankreich
gestaltete sich der Einfluß des erstem unzweifelhaft zu Gunsten des Weltfriedens.
Deutschland hat keinen Anlaß, eine auf Abenteuer ausgehende und angriffs¬
lustige Macht zu sein. Es giebt einige Dinge, für die es kämpfen wird, und
das allein ists, was uns der Kaiser gesagt hat. Die Enthüllung des Denk¬
mals für den kriegerischen Prinzen Friedrich Karl gab den geeigneten Anlaß
zu einer Erklärung, die nicht hervorgerufen zu sein schien und in einigen Kreisen
sogar als Herausforderung betrachtet werden dürfte. Die Welt weiß jedoch
nunmehr aus bester Quelle, wofür, wie der Kaiser glaubt, sein Volk kämpfen
wird. Wir können nicht einsehen, weshalb die Verkündigung das Ergebnis haben
sollte, die einzige europäische Großmacht, welche sie berührt, zu einem voreiligen
Unternehmen anzuspornen." Auch der NoriüvK ^ävertissr läßt sich über die
Rede nicht pessimistisch vernehmen, wenn er schreibt: „Die Äußerungen des
Kaisers werden allenthalben auf dem Festlande geprüft und sorgfältig abgewogen
werden, aber niemand überraschen. Überraschung würden nur weniger nach¬
drückliche und entschlossene Gesinnungen und Anschauungen hinsichtlich der Be-
hcmptung jenes Gebietes, welches mit so großen Opfern von Frankreich ge¬
wonnen wurde, als eines Teiles des deutschen Reiches hervorgerufen haben, . . .
Die vom Kaiser kundgegebenen Gesinnungen sind unstreitig die der gesamten
Nation, und der Umstand, daß sie so kurze Zeit nach dem Besuche des deutschen
Kaisers beim Zaren zum Ausdrucke gebracht wurden, hat eine Bedeutung, welche
die Franzosen wahrzunehmen nicht ermangeln werden. Der Kaiser bezeichnete
die Gegenwart als eine ernste Zeit, und das war gewiß auch ernstlich überlegt
worden. Die beabsichtigte Wirkung war ohne Zweifel die eines Beitrages zur
Eharltung des Friedens, und diese kann nur durch ein einiges, starkes und ent¬
schlossenes deutsches Reich verbürgt werden."
Es war selbstverständlich, daß die Enthüllung des Denkmals in der bran¬
denburgischen Stadt Frankfurt dem Kaiser Gelegenheit gab, an sie seine An¬
erkennung der unter Führung des Prinzen Friedrich Kiirl von Brandenburgern
verrichteten Heldenthaten in der Schlacht bei Vionville auszusprechen, zumal da
die Enthüllung mit einem Jahrestage dieser Schlacht zusammenfiel. Aber unsers
Wissens geschah es zum ersten male, daß bei einer solchen Feier der Bereit¬
willigkeit der gesamten Armee und des ganzen großen Volkes der Deutschen,
sich für erkämpften Besitz nötigenfalls rücksichtslos zu opfern, gedacht wurde.
Die kaiserlichen Worte mit ihrer zuversichtlichen Entschlossenheit konnten auf¬
fallen, da sie in eine Zeit hineinschallten, über der seit den Tagen von Peterhof
die Sonne des Friedens Heller denn seit Jahren zu lächeln schien. Die ge¬
waltige Erklärung hat folglich Gründe, die nicht auf der Oberfläche liegen.
Sie wendet sich zunächst gegen die neuerdings von Feinden Deutschlands wieder
angestellten Versuche, für immer gelöste Vesitzfragen der Deutschen als noch in
der Schwebe befindlich darzustellen, und ruft ihnen, die hier noch eine Änderung
zu Ungunsten Deutschlands empfehlen, hoffen oder androhen, im Namen eines
wohlgerüsteten, zur Verteidigung seines Eigentums mit eisernem Willen ent¬
schlossenen Volkes von zweiundvierzig Millionen sein „Unabänderlich," sein
„Nimmermehr, beim Leben der Nation!" zu. Nach Dänemark, nach Nußland
und nach Frankreich hin hat der Hüter des Reiches, der den Frieden anstrebt,
aber den Krieg nicht fürchtet, mit den denkbar stärksten Ausdrücken darauf hin¬
gewiesen, daß Heer und Volk im deutschen Staate mit ihrem gekrönten obersten
Führer einig sind in dem Glauben, daß unser Bedürfnis wie unsre Ehre uns
die Pflicht auferlegen, für die ungeschmälerte Erhaltung der Errungenschaften
Wilhelms des Siegreichen bis zu unserm letzten Manne einzustehen. Was
unser jugendlicher Monarch in Frankfurt so energisch verkündete, war sein Re¬
gierungsprogramm nach außen hin. Durch seine Fahrten nach Petersburg und
Kopenhagen hat er bekundet, daß er, so viel an ihm ist, den Frieden erstrebt,
durch seine Frankfurter Rede hat er dem Auslande die Stellen bezeichnet, wo
dieses Streben seine Schranken hat, und wir hoffen, daß sein Huos KM für ge¬
raume Zeit seine Wirkung thun wird.
Zum Schlüsse noch ein Wort über unsre gegenwärtige Stellung zu Rußland,
das mit dem Gesagten zusammenhängt. Diese Stellung könnte besser sein, und
es sind Anfänge dazu vorhanden, denen wir aus hundert Gründen von Herzen
guten Fortgang wünschen, und die, wie wir fest überzeugt sind, von der deutschen
Politik auf jede nur mögliche Weise gefördert werden. Aber die Möglichkeit
hat ihre Grenze, die hier nicht bloß durch das Interesse gezogen wird. Noch
immer üben auf die russische Politik unberechenbare Gefühle Einfluß, noch immer
regieren in hohen Sphären abwechselnd zwei Seelen. Politiker, die an einen
vollständigen Umschwung in dem bisherigen Verhältnisse Rußlands zu Deutsch¬
land, der infolge des Besuches unsers Kaisers beim Zaren eingetreten sein sollte,
nicht glauben konnten, hegten wenigstens die Hoffnung, daß die Zusammenkunft
einige Ergebnisse auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik erzielt haben könnte.
Aber auch diese bescheidne Erwartung scheint sich als Täuschung herauszustellen.
Nicht einmal geringe Transporterleichterungen, geschweige denn einen Handels¬
vertrag scheint man uns russischerseits zugestehen zu wollen. Das Organ unsers
Reichskanzlers erklärt gegenüber der „Moskaner Zeitung," die sich gegen einen
Handelsvertrag mit dem deutschen Reiche mit Eifer verwahrte, ein solcher sei
unserseits nicht angeregt worden und werde auch nicht angeregt werden; denn
die wirtschaftliche Freiheit, welche Rußland nach der Meinung des Moskaner
Blattes gegen deutsche Angriffe verteidigen müsse, sei für die deutsche Wirt¬
schaftspolitik gerade den Russen gegenüber ein Erfordernis von höchster Wichtig¬
keit. Man erinnert sich bei dieser Erklärung an früher erfolgte Andeutungen,
nach welchen der wirtschaftliche Krieg, den Rußland gegen uns führt, durch
Auflegung von Differentialzöllen auf russisches Getreide, den Hauptausfuhr-
artikcl des Zarenreiches, erwiedert werden sollte, eine Maßregel, die, wenn ein
Handelsvertrag bestünde, unmöglich sein würde, und obwohl die Drohung nicht
ausgeführt worden ist und die Ausführung Wohl noch geraume Zeit auf sich
warten lassen dürfte, liegt es doch auf der Hand, daß der deutschen Regierung
schon die bloße Möglichkeit eines gelegentlichen Gebrauches dieser Waffe von
hohem Werte sein muß. Es ist also nichts mit den optimistischen Erwartungen
einer Verständigung zwischen Deutschland und Rußland auf dem Gebiete der
Wirtschaftspolitik, und auch aus den angekündigten Zollerleichterungen wird
selbst in demi bescheidenen Umfange, von dem zuletzt die Rede war, kaum
etwas werden. Übrigens, wenn die Russen nicht nachgeben, so folgen wir ihren:
Beispiele in andrer Beziehung. Bald nach der Zusammenkunft der beiden
Kaiser wurde angekündigt, die Reichsbank werde den russischen Fonds wieder
die Beleihungsfähigkeit zusprechen. Seit vielen Wochen aber hat man vergebens
die Erfüllung dieser Meldung erwartet, und jetzt kann mitgeteilt werden, daß
an maßgebender Stelle niemals auch nur entfernt an diese Maßregel gedacht
worden ist.
fiMW»
.vennimore thciute mit ihrer Hand ein Loch in das Eis und trocknete
das Wasser dann sorgfältig mit dem Taschentuche ab.
Noch war draußen auf dem Fjrod niemand zu sehen.
Dann sing sie an, in ihrem Glaskäfig auf und ab zu gehen.
!Es standen keine andern Möbel draußen als ein Sofa aus ge¬
bogenem Holz, und das lag voll von welken Epheublättern, die von den
Ranken oben an der Decke abgefallen waren. Jedesmal, wenn sie daran vor¬
überkam, raschelten die Blätter leise im Luftzug, und hin und wieder fand ihr
Kleid auch ein welkes Blatt auf dem Boden, das es mit kratzenden Laut über
die Dielen nach sich zog.
Auf und nieder ging sie, ihre traurige Wacht haltend, die Arme über die
Brust gekreuzt, sich hart machend gegen die Kälte.
Endlich kam er.
Mit einem Ruck riß sie die Thür auf und trat mit ihren dünnen Schuhen
hinaus in den eisigen Schnee. Sie gönnte es sich, sie hätte barfuß zu diesem
Stelldichein gehen können.
Ricks hatte beim Anblick der schwarzen Gestalt, die sich gegen den hellen
Schnee abhob, gestutzt, und näherte sich langsam mit zögernden, forschenden
Bewegungen dem Lande.
Es war ihr, als verbrenne ihr diese schleichende Gestalt die Augen. Jede
Bewegung, jeder Zug, den sie wiedererkannte, traf sie wie eine schamlose Ver¬
höhnung, gleichsam, als wollte sie mit dem entwürdigenden Geheimnis prahlen.
Sie zitterte vor Haß, ihr Herz schwoll von Verwünschungen, sie konnte ihren
Sinn kaum beherrschen.
Ich bin es, rief sie ihm höhnend entgegen, Fennimore, die Metze!
Aber um Gotteswillen, Geliebte? fragte er verwundert, jetzt nur noch
wenige Schritte von ihr entfernt.
Erik ist toll
Tot? Wann? Er mußte mit seinen Schlittschuhen in den Schnee treten,
um nicht zu fallen. Aber so sag mir doch! Und er näherte sich ihr hastig.
Sie standen jetzt einander gegenüber, und sie mußte sich Zwang anthun,
um ihm nicht mit der geballten Faust in die bleichen, verzerrten Züge zu schlagen.
Du sollst es alles hören, sagte sie, er ist tot, wie ich dir schon gesagt
habe. Die Pferde gingen in Aalborg mit ihm dnrch, und sein Kopf zer¬
schmetterte gegen eine Mauer, während wir ihn hier betrogen.
Es ist entsetzlich! stöhnte Ricks und griff sich mit den Händen nach den
Schläfen. Wer Hütte das auch ahnen können! Ach wären wir ihm doch treu
gewesen, Fennimore! Erik, armer Erik! Wäre ich es doch gewesen! Und er
schluchzte laut und krümmte sich in wildem Schmerz.
Ich hasse dich, Ricks Lyhne!
Ach, was liegt denn an uns! stöhnte Ricks ungeduldig. Wenn wir ihn
nur wieder hätten! Arme Fennimore, verbesserte er sich dann. Kümmre dich
nicht um mich. Du hassest mich, sagst du? Das kannst du gern thun. Denn
raffte er sich Plötzlich auf. Laß uns hineingehen, fuhr er fort. Ich weiß nicht,
was ich sage. Wer hat dir telegraphirt?
Hineingehen, schrie Fennimore, empört, daß er ihre feindliche Stimmung
so wenig zu beachten schien. Dahinein? Niemals sollst du deinen ehrlosen
Fuß wieder über diese Schwelle setzen! Wie wagst du es nur, daran zu denken!
du Elender! du falscher Schuft, der, sich hier einschleichend, die Ehre seines
Freundes stahl, weil sie nicht genügend gehütet ward. Was, hast du sie ihm
nicht vor seinen eignen Augen gestohlen, weil er glaubte, daß du ehrlich seist,
du Hausdieb!
Bist du von Sinnen! Was geht mit dir vor? Was für Worte nimmst
du da in den Mund! Er erfaßte sie hart beim Arme und zog sie näher an
sich heran und sah ihr verwundert ins Gesicht. Du mußt dich fassen, fuhr er
in milderem Tone fort, was kann es helfen, Kind, daß du mit so häßlichen
Worten um dich wirfst?
Sie riß ihren Arm los, sodaß er auf seinen Schlittschuhen schwankte.
Kannst du es denn nicht begreifen, daß ich dich hasse? Hast du nicht so
viel von einem ehrlichen Manne in dir, daß du das begreifen kannst? Wie
blind muß ich nicht gewesen sein, als ich dich, Betrüger, liebte, während ich
ihn, der so tausendmal besser war als du, an meiner Seite hatte! Ich werde
dich hassen und verachten bis an mein Lebensende. Damals, als du kamst,
war ich rechtschaffen, ich hatte niemals etwas Schlechtes begangen, aber nun
kamst du und rüstest nicht, als bis du mich zu dir in den Kot herabgezogen
hattest. Was hatte ich dir gethan, daß du mich nicht in Frieden lassen konntest,
mich, die ich dir doch vor allen andern hätte heilig sein sollen? Tag für Tag
muß ich nun mit dem Schandfleck auf meiner Seele weiter leben, und niemals
werde ich jemand begegnen, er sei noch so gering, ohne mir sagen zu müssen,
daß ich noch weit geringer bin. Alle meine Jugenderinnerungen hast du ver¬
giftet. An was könnte ich auch jetzt noch zurückdenken, das rein und gut
wärel Du hast es besudelt, alles, alles! Nicht er allein ist gestorben, nein
alles, was je zwischen uns an Gutem und Lichten gewesen ist, ist jetzt tot
und verwest. Du großer Gott, hilf mir doch! Ist es etwa gerecht, daß ich
keine Rache an dir nehmen kann, trotz allem, was du mir zu leide gethan?
Mache mich wieder ehrlich, Ricks Lyhne, mache mich makellos und rein! Nein,
nein, aber es geschähe dir nur Recht, wenn du so lange gefoltert würdest, bis
du dein Unrecht wieder gut gemacht hättest. Kannst du, kannst du es wieder
zurechtlügen? Steh doch nicht so da und verkrieche dich unter deine eigne
Hilflosigkeit, leide hier vor meinen Augen, krumme dich vor Pein und Ver¬
zweiflung und sei elend! Mach ihn elend, mein Gott, laß ihn mir nicht anch
noch die Rache stehlen! Geh, du Elender, geh, ich stoße dich von mir, aber
ich schleppe dich mit mir, darauf kannst du dich verlassen, ich ziehe dich durch
alle Martern, die ich durch meinen Haß aus dich herabbeschwören kann!
Sie hatte den Arm drohend nach ihm ausgestreckt, jetzt wandte sie sich ab
und ging, und die Verandathür fiel hinter ihr ins Schloß. Ricks stand da
und verfolgte sie mit starren, fast ungläubigen Blicken; es war ihm, als stünde
sie noch vor ihm mit dem bleichen, rachgierigen Gesicht, das so wunderbar
niedrig und roh in seiner Leidenschaftlichkeit, völlig seiner sonstigen edelgeformten
Schönheit beraubt war, als hätte eine rohe, grausame Hand alle Linien des¬
selben aufgepflügt.
Er ging vorsichtig auf das Eis zurück und fing langsam an zu laufen in
der Richtung nach dem offnen Meere zu, den Mondschein vor sich, den Wind
im Rücken. Allmählich, je mehr die Gedanken seine Aufmerksamkeit von den
Umgebungen ablenkten, lief er schneller, und die Eisspalte, die seine Schlitt¬
schuhe ablösten, raschelten klirrend mit ihm über die blanke Fläche, von dem
stetig wachsenden Frostwind getrieben.
Das also war das Ende. So also hatte er diese Frauenseele erlöst, sie
gehoben und ihr das Glück verschafft! Wie schön doch sein Verhältnis zu dem
toten Freunde gewesen war, zu dem Kindheitsfreunde, für den er Zukunft,
Leben und alles hatte opfern wollen: er mit seinem Opfern und seinem Erlösen!
Himmel und Erde sollten auf ihn hinschauen, um einen Mann zu erblicken,
der sein Leben auf den Höhen der Ehre hielt, ohne Fleck und ohne Makel, der
keinen Schatten auf die Idee werfen wollte, der er diente, und die zu verkünden
er berufen war.
Und er sauste dahin.
Das war nun auch einer seiner großsprecherischer Gedanken, daß sein be¬
sudeltes Leben die Sonne der Idee beflecken könne! Großer Gott, er mußte
nun einmal alles so hochtrabend auffassen, das lag ihm so im Blute; konnte
er nichts Besseres werden, so wollte er doch wenigstens ein Judas sein und sich
in seiner großartigen Gemeinheit Jschariot nennen. Das klang doch nach etwas.
Mußte er denn stets einhergehen und sich geberden, als sei er der verantwort¬
liche Minister der Idee und Mitglied ihres geheimen Staatsrates, der alles,
was die Menschheit anlangte, aus erster Hand hätte! Sollte er es denn niemals
lernen, in aller Einfachheit darnach zu streben, als gemeiner Soldat der Idee
seine untergeordnete Pflicht zu thun?
Draußen auf dem Eise brannten bengalische Flammen, und er kam so
nahe daran vorüber, daß einen Augenblick lang ein riesengroßer Schatten unter
seinen Füßen hervorschoß, sich nach rückwärts zu bewegte und verschwand.
Er dachte an Erik, und welch ein Freund er ihm gewesen sei. O Erik!
Kindheitserinnerungen rangen die Hände über ihn, Jugendträume verhüllten
ihre Häupter und weinten über ihn, die ganze Vergangenheit starrte ihm mit
einem einzigen langen, vorwurfsvollen Blicke nach. Er hatte das alles treulos
im Stich gelassen um einer Liebe willen, die so klein, so niedrig war wie er
selber. Und doch, es war Hoheit in der Liebe gewesen; und auch dieser war
er untreu geworden. Wohin sollte er fliehen vor diesen Anläufen, die doch
stets im Graben endeten? Sein ganzes Leben war nichts weiter gewesen, und
auch in Zukunft würde es damit nicht anders werden, er wußte das, er fühlte
es so sicher, und er verging schier bei dem Gedanken an alle diese vergebliche
Mühe, er wünschte von ganzem Herzen, daß er entfliehen und sich von diesem
zwecklosen Dasein befreien könne. Wenn nur das Eis unter ihm brechen
wollte, während er so darüber hinglitt, und alles in einem Zucken, einem Ringen
nach Luft dort unten in dem kalten Wasser abgethan sein könnte!
Ermattet vom schnellen Laufe hielt er inne und blickte zurück. Der Mond war
verschwunden, und die Eisfläche hob sich dunkel und langgestreckt von den weißen
Höhen des Ufers ab. Dann wendete er um und kämpfte gegen den Wind an.
Dieser war inzwischen sehr stark geworden, und Ricks war müde. Er bemühte
sich, in den Schutz der hohen Küste zu gelangen, aber während er sich so
vorwärts kämpfte, kam er auf eine Windwake, die durch den von den Höhen
kommenden Zug gebildet war, und das dünne Eis gab mit einem zähen, tril¬
lernden Knacken unter ihm nach.
Wie war es ihm aber trotzdem leicht ums Herz, als er wieder auf sicheres
Eis gekommen war! Die Müdigkeit hatte sich durch die Angst fast völlig ver¬
loren, und er flog mit neuer Kraft dahin.
Während er so da draußen kämpfte, saß Fennimore enttäuscht und vergrämt
in dem erleuchteten Zimmer. Sie fühlte sich um ihre Rache betrogen, sie
wußte nicht, was sie erwartet hatte, aber es war doch etwas ganz andres
gewesen; ihr hatte etwas Mächtiges vorgeschwebt, etwas Erhabenes, etwa wie
ein Schwert und rote Flammen! Etwas, das sie hoch erhob und sie auf einen
Thron setzte, und nun war es so kleinlich ausgefallen, so alltäglich, und sie
hatte das Gefühl, als habe sie ihn mehr ausgeschimpft, als sie ihn verfluchte.
Sie hatte doch etwas von Ricks gelernt!
Am nächsten Morgen, in aller Frühe, während Ricks noch schlief, über¬
wältigt von Müdigkeit, reiste Fennimore ab.
Während der beiden nun folgenden Jahre streifte Ricks rastlos im Aus¬
lande umher.
Er war sehr einsam. Er hatte keinen Verwandten, keinen Freund, der
seinem Herzen nahe gestanden hätte. Aber eine weit größere Einsamkeit als
diese bedrückte ihn. Denn Wohl kann der klagen und sich verlassen fühlen, der
auf der ganzen weiten Erde keinen Fleck hat, den er segnen, auf den er Gutes
herabflehen kann, wohin sein Herz sich wendet, wenn es einmal übervoll ist,
wonach es sich sehnen kann, wenn die Sehnsucht ihre Schwingen ausbreiten
will; weiß er aber nur den klaren, unwandelbaren Stern eines Lebenszieles
über sich funkeln, so ist ihm keine Nacht so einsam, daß er sich ganz allein
fühlte. Aber Ricks Lhhne hatte keinen Stern. Er wußte nicht, was er mit
sich selber und mit seinen Gaben anfangen sollte. Es war ja ganz schön, daß er
Talent besaß, er konnte es nur nicht verwenden; er ging umher mit dem Gefühl,
als sei er ein Maler, dem die Hände fehlten. Wie beneidete er nicht die andern,
die Großen und die Kleinen, die, wohin sie im Leben auch greifen mochten, stets
irgend einen Anhaltepunkt fanden! Ach, er konnte keinen Anhaltepunkt finden!
Er konnte, so schien es ihm, nur die alten, romantischen Lieder nachsingen, und
alles, was er geschaffen hatte, war auch weiter nichts gewesen. Es war, als
sei sein Talent etwas in ihm Verborgnes, ein stilles Pompeji, oder gleichsam
eine Harfe, die er aus einem Winkel hervorholen konnte. Es war nicht all¬
gegenwärtig, begleitete ihn nicht auf die Straße hinab, saß ihm nicht in den
Augen, kribbelte ihm nicht in den Fingerspitzen, es hatte keine Gewalt über ihn,
sein Talent. Zuweilen schien es ihm, als wäre er ein halbes Jahrhundert zu
spät geboren, zuweilen glaubte er, er sei viel zu früh gekommen. Sein Talent
wurzelte in etwas Längstvergangenem und lebte nur darin, konnte keine Nahrung
aus seinen Ansichten, seiner Überzeugung, seinen Sympathien saugen, konnte
das alles nicht in sich aufnehmen und umgestalten; sie flössen auseinander, diese
zwei Dinge, wie Wasser und Öl, wohl konnte man sie zusammenschütteln, aber
sie konnten nicht vermischt, konnten niemals zu einem Ganzen werden.
Allmählich sing er an, das einzusehen, und es stimmte ihn grenzenlos mi߬
mutig, sodaß er bitter und mißtrauisch aus sich und seine Vergangenheit blickte. Es
müsse ein Fehler in ihm sein, sagte er sich, ein unheilbarer Fehler im innersten
Mark seines Wesens, denn ein Mensch müßte sich doch sonst zusammenleben
können! Solche Gedanken und Stimmungen beherrschten ihn immer noch, als
er sich im zweiten Jahre seines Aufenthalts im Auslande anfang September
an den Ufern des Gardasees in dem kleinen Riva niederließ.
Unmittelbar nachdem er gekommen war, schloß sich das Land rings umher
mit einem Wall von Schwierigkeiten und Reisebeschwerlichkeiten, die alle Fremden
fernhielten. In Venedig war die Cholera ausgebrochen, ebenso nördlich in der
Gegend von Trient und südlich in Desenzcmo. Unter diesen Umständen wurde
Riva nicht sonderlich lebhaft, die Hotels hatten sich bei den ersten Gerüchten
geleert, und die nach Italien reisenden gingen einen andern Weg. Umso enger
schlössen sich die wenigen zurückgebliebenen an einander an.
Die bemerkenswerteste Persönlichkeit unter diesen war eine gefeierte Opern-
säugerin, deren wirklicher Name Madame Otero war; der Name, unter dem
sie auf der Bühne auftrat, hatte einen weit berühmteren Klang. Sie und ihre
Gesellschaftsdame, Ricks sowie ein tauber Arzt aus Wien waren die einzigen
Gäste im Hotel zur „Goldner Sonne," dem hervorragendsten der Stadt.
Ricks schloß sich mehr und mehr un die Sängerin an, und sie gab der
Herzlichkeit nach, die in seinem ganzen Wesen lag, wie das so oft bei Leuten
der Fall ist, die mit sich selber im Unfrieden leben, und die deswegen darauf
angewiesen sind, bei andern in Sicherheit zu kommen. (Fortsetzung folgt.)
Zur baltischen Frage liegen wieder zwei Schriften vor, beide im Verlage von
Duncker und Humblot in Leipzig erschienen. Die erste, „Rechtskraft und Rechtsbruch
der lip- und estlcindischen Privilegien," führt zunächst unter Mitteilung dieser Privi¬
legien den Beweis, daß diese sowie die der Städte Riga und Neval vermöge ihrer
Natur und nach der Beschaffenheit ihrer Quellen einer einseitigen Aufhebung oder
auch nur Abänderung durch die russische Regierung nicht unterliegen dürfen und
einer solchen auch nicht durch amtlichen Akt ausdrücklich unterzogen worden sind,
also rechtlich noch bestehen. Dann wird gezeigt, daß sie thatsächlich teils ver¬
nichtet, teils mit baldiger Vernichtung bedroht sind. Endlich widerlegt der Ver¬
fasser, offenbar ein Mann der Wissenschaft, die Behauptung, daß die bei einzelnen
Bestätigungsurkunden hinzugefügten Klauseln die Unabänderlichkeit des verfassungs¬
mäßigen Rechtes der genannten Provinzen und Städte irgendwie zu schmälern ge¬
eignet seien. Wir empfehle» die Schrift allen, die der traurigen Angelegenheit
ihre Teilnahme zugewendet haben, als eine durch Klarheit und Vollständigkeit aus¬
gezeichnete Arbeit mit dem Wunsche, daß sie an der Stelle, welche den vorliegenden
Rechtsbruch allein ungeschehen zu machen vermag, in nicht zu später Zukunft die
Ueberzeugung erwecken möge, daß auf dem betretenen und seit Jahrzehnten schon
verfolgten Wege umzukehren ein Gebot sowohl der Gerechtigkeit als der Stants-
klugheit ist.
Die zweite Schrift, in deren Verfasser wir den bekannten federfertigen und
fast unerhört fruchtbaren Julius Eckart vermuten, den man als den „baltischen
Archivarius" bezeichnen könnte, führt den Titel: „Dcutschprotcstantische Kämpfe in
den baltischen Provinzen Rußlands," entspricht diesem aber nur in der zweiten
Hälfte der einzelnen Abhandlungen, aus denen das Ganze sich zusammensetzt. Die
erste ist ein Sammelsurium zur Verwertung von allerhand Studien des Verfassers
über die russische Geheimpolizei, die zum Teil interessant sind, aber zu der Sache,
um die sichs handeln soll, in gar keiner oder nur sehr entfernter Beziehung stehen.
Was hat z. B. der verrückte Baron Asch, der 1777 bis 1796 als Staatsgefangner
in Dünamünde saß, weil er den rechtmäßigen Kaiser nicht anerkennen wollte, was
hat die Verhaftung des schwedischen Pastors Gedner in Reval, der 1804 sich des
Landesverrats verdächtig machte, was hat das Kapitel über das Treiben der Ba¬
ronin Krüdener, der Prophetin der heiligen Allianz, in Kur- und Livland, was
hat der Abschnitt „Zur Geheimgeschichte des Krieges von 1812" und nun gar,
was hat „das geheimnisvolle Grab in der Kirche von Goldenbeck" (die Geschichte
einer Prinzessin, die von ihrem Gemahl, der sie prügelt, geschieden wird und dann,
auf dem Lande lebend, durch ihren Beaufsichtiger in die Wochen kommt), und was
haben die komischen Histörchen und Charakterbilder aus der „dritten Abteilung"
mit den kirchlichen Kämpfen der Ballen zu schaffen? Ueber die letztern und über
die Russifiziruug des Schulwesens in den russischen Ostseeprovinzen erfolgen von
Seite 141 an allerdings lesenswerte Mitteilungen, doch wäre die breite Ausführ¬
lichkeit, mit der dabei Verfahren wird, nicht notwendig gewesen, eine kürzere Dar¬
stellung der Thatsachen würde nicht bloß genügt haben, sondern auch von Vorteil
für den Zweck des Buches gewesen sein.
Auch ohne die Andeutung auf dem Titelblatte würde der Leser in dem Ver¬
fasser sofort den geschulten Redner erkennen, der nicht nnr durch das Gewicht seiner
Gründe zu überzeugen, fondern zugleich dnrch die Form, in der er sie vorbringt,
zu gewinnen wünscht. Dem Hörer mag es wohl ein Vergnügen sein, diesen kunst¬
voll gebauten Perioden zu lauschen, ans den Leser, der zu deren Abwicklung ge¬
wissermaßen den eignen Atem leihen muß, wirkt die Manier etwas ermüdend. Es
ist also ratsam, das Buch nicht in einem Zuge zu lesen. Lesenswert ist es. Der
Deutsche kann bei aller herzlichen und schmerzlichen Teilnahme an den Schicksalen
des verbündeten Staates, und vor allem an der Lage der Stammesbrüder in dem¬
selben, unmöglich das unablässige Aufundab und Hinundher in dem Politischen
Wellenspiel im einzelnen verfolgen und sich über die Ursachen, die Luftströmungen
und die Bewegungen in der Tiefe Rechenschaft geben. Uebersichten und Rückblicke,
wie sie das vorliegende Buch gewährt, sind daher eine Notwendigkeit und umso
nützlicher, wenn aus ihrem Parteicharakter kein Hehl gemacht wird. Der unge¬
nannte Verfasser gehört der „deutschösterreichischen," d. h. derjenigen Partei an,
welche zweimal am Ruder gestanden, aber es beidemale nicht verstanden hat, diese
Stellung zu behaupten. Bekanntlich bedeutet aber in Oesterreich ein Wechsel des
Ministeriums viel mehr als in andern konstitutionellen Ländern; er stellt jedesmal
die Verfassung in Frage. Dem Namen nach besteht allerdings die in der Haupt¬
sache wenigstens zentralistische Verfassung immer noch, allein fort und fort sind dem
föderalistischen Prinzip Zugeständnisse gemacht worden, und die eigentlich treibende
Kraft in der jetzigen Mehrheit, das Tschechentum, leugnet keineswegs die Absicht,
auch die Form zu zerbrechen, sobald sich ein günstiger Augenblick finden sollte.
Diese Partei arbeitet unverdrossen und mit unleugbaren Geschicke daran, Stein für
Stein aus dem Bauwerk zu lösen, das, wie sie hofft, endlich von selbst zusammen¬
brechen muß. Der deutsche Staat Oesterreich soll verschwinden, der slawische er¬
stehen. Diese Minirarbeit und die gelegentlichen Sturmversuche bespricht derWer-
fasser auf den verschiednen Gebieten des Staatslebens und hebt nachdrücklich die
Unvereinbarkeit der auswärtigen Politik Oesterreichs mit dem maßgebenden Ein¬
flüsse einer Nationalität hervor, welche Deutschland als „den allergrößten Feind"
und dessen Niederlage in einem Kriege mit Nußland und Frankreich als die
„Rettung" Oesterreichs ansieht („Hiäh," Organ der feudal-klerikalen Fraktion des
Tschechentums). Daß diesen unseligen Verhältnissen nicht durch Berufung eines
deutschliberalen Ministeriums, sondern dnrch eine von altösterreichischen Geiste er¬
füllte, nicht ans dem Parteitreiben hervorgegangene Regierung, ein sogenanntes
Beamtenministerium, ein Ende gemacht werden könne und müsse, erkennt auch der
Verfasser, und er verheißt einem solchen Kabinet die Unterstützung seiner Partei.
Hoffentlich ist er zu solcher Erklärung von seinen Politischen Freunden ermächtigt,
und hoffentlich werden diese auch das Wort einlösen. Um der Versicherung vollen
Glauben schenken zu können, müßten wir freilich die Partei nicht sich an unheil¬
volle Vorurteile klammern sehen. Wenn das rettende Beamtenministerium dauernde
Zustände begründen soll, so wird es nicht nach der liberalen Schablone wirtschaften
dürfen; die Tschechen wird es in die gebührenden Schranken weisen, aber den be¬
rechtigten Forderungen der deutschen Katholiken Genüge leisten müssen. Von dieser
Erkenntnis ist aber der Verfasser noch weit entfernt. Wenn ein so wohlwollender
und bedächtiger Mann noch an dem Lehrsatze festhält, daß für Oesterreich kein
Heil sei, wenn nicht jeder Bauernbursche acht Jahre lang die Bänke einer kon¬
fessionslosen Schule gedrückt habe, was soll man da von seinen leidenschaftlicheren
Genossen erwarten? Wir fürchten, die Deutschösterreicher werden noch lange in
der jetzigen politischen Schule bleiben müssen, bis sie Realpolitiker werden.
Wie die meisten Arbeiten des bekannten Verfassers eine geschickt gemachte Zu¬
sammenstellung von mehr oder minder bekannten Dingen, für den Tag geschrieben,
auf das große Publikum berechnet, für die Geschichte von geringem Werte. Diesmal
hatte man es mit der Sache sogar so eilig, daß man die letzten Wochen der kurzen
Regierung des verewigten Fürsten, die doch besonders charakteristisch waren (Batten-
berger, Puttkamer, Fünfjahrbill) ganz verschweigen zu dürfen meinte. Indes ist
ja von einer tieferen Charakteristik des Fürsten hier überhaupt uicht die Rede.
^--^MZ5
^KWer Tod des ersten deutschen Kaisers hat, wie es zu gehen pflegt,
bei der Betriebsamkeit unsrer Schriftsteller- und Buchhändlerkreise
eine ganze Reihe von mehr oder minder umfangreichen Lebens¬
beschreibungen des Verewigten hervorgerufen, die mehr oder minder
in den Bereich der Fabriklitteratur gehören und von denen sich
in den bessern Fällen nur sagen läßt, daß sie gut gemeint sind. Hierher ge¬
hören u. a. die populären Schriftchen von Ernst Scherenberg und G. Egelhaaf,
die beide unter dem Titel „Kaiser Wilhelm" erschienen sind, hierher auch die
ausführlichere Arbeit des bekannten Kompilators auf dem Gebiete der neuern
preußischen Geschichte, Ludwig Hahn: „Wilhelm, der erste Kaiser des neuen
deutschen Reiches." Keine von diesen Schriften sagt uns etwas neues, keine
macht Anspruch darauf, ihren Gegenstand nach der oder jener Seite mehr aus
der Nähe zu betrachten und zu schildern, in keiner wird eine Charakteristik ver¬
sucht, die über die Oberfläche hinaufginge.
Wesentlich anders verhält es sich mit dem dreibändigen Buche, worin uns
der verstorbene Louis Schneider seine Erlebnisse und Beobachtungen in lang¬
jährigem Verkehre mit dem Heimgegangenen Fürsten mitteilt, und das unter dem
Titel: Aus dem Leben Kaiser Wilhelms, geschmückt mit einem Bildnisse und
einem Autograph des Kaisers, im Verlage vou Otto Janke in Berlin erschienen
ist. Der Bildungsgrad des Verfassers ist allerdings kein sehr hoher, sein Stil
äußerst mangelhaft, sein politischer Standpunkt, seine Denkart überhaupt, seine
Liebhabereien sind nicht von der Art, daß wir uns in jeder Hinsicht von ihm
angezogen und ihm geistig verwandt fühlen könnten; aber eins müssen ihm auch
seine Gegner lassen, wenn sie ihn sonst auch ziemlich tief stellen: er besitzt die
Gabe, so weit sein Verständnis und sein Interesse reicht, vortrefflich zu beob¬
achten, er hat reichlich Gelegenheit gehabt, diese Fähigkeit zu benutzen, und er
hat sie mit unendlichem Fleiße und so gutem Erfolge benutzt, daß seine Mit¬
teilungen bei weitem zum größern Teile geeignet sind, das Charakterbild des
Kaisers, wie es nach andern Berichten vor uns steht, zu ergänzen und ihn uns
namentlich als Menschen wesentlich näher zu bringen. Wenn sein Buch an
manchen Stellen aussieht, als erzähle es uns nicht sowohl aus dem Leben des
Kaisers Wilhelm, als vielmehr aus dem Leben des Hofrates Schneider, so
nehmen wir das im Hinblick auf seine andern guten Eigenschaften gern mit in
den Kauf, zumal da dies teilweise kaum zu umgehen war; seine wiederholt sich
andeutende Abneigung gegen Fürst Bismarck, seine starke Vorliebe für russische
Dinge und Persönlichkeiten, die uns nicht sympathisch sind, sein Ordensbedürfnis
zieren ihn nicht, aber es muß am Ende auch solche Käuze geben. Noch manches andre
ließe sich aussetzen, aber wir ziehen es vor, die Schattenseiten zu verschweigen
und uns an das viele Gute zu halten, das wir in dem Werke vor uns haben.
Schneider hat dem Kaiser sehr nahe gestanden, wenn auch in untergeord¬
neter Stellung, so doch in einer solchen, in der ihm auch in Bezug auf höhere
Angelegenheiten bisweilen Vertrauen geschenkt wurde. Durch seinen strammen
preußischen Patriotismus und seine eifrige Königstreue mitten in der demokra¬
tischen Sintflut, noch mehr aber dnrch sein starkes Interesse an militärischen
Angelegenheiten und dessen Bethätigung im „Soldatcnfreund" und in der „Wehr¬
zeitung" empfahl er sich dem Kaiser schon, als dieser noch Prinz von Preußen
war, so sehr, daß er ihn gelegentlich benutzte, seine Ansichten unter die Leute
zu bringen. Später kam er als sein Vorleser und Privatbibliothelar ständig
in seine Umgebung und hatte das Glück, ihm zu den Feldzügen in Böhmen und
Frankreich folgen zu dürfen, was ihn in den Stand setzte, eine größere Anzahl
von Äußerungen und Gewohnheiten des Monarchen als Augen- und Ohrenzeuge
oder sonstwie zuverlässig zu erfahren und für die Geschichte zu sammeln. Aus
diesem Notizenschatze ist das vorliegende Buch entstanden, und aus diesem wieder
entnehmen wir mit Hinweglassun g alles minder Wichtigen und bereits sattsam
Bekannten, sowie mit Zusammenziehung weitschweifiger Stellen und Glättung
des unbeholfenen, oft liederlichen Vielschreiberstils die folgenden Mitteilungen.
Es sind, wie man sehen wird, lediglich solche, die den Kaiser selbst zeichnen.
Den übrigen Inhalt mögen unsre Leser in dem Buche selbst nachsehen; es be¬
findet sich noch viel Wissenswertes und Hübsches darunter, wir wollen aber
nicht unbescheiden sein und uns innerhalb des Nahmens halten, der mit der
Überschrift des Berichtes gegeben ist.
Nach einer Audienz, die Schneider während der Beratungen über die an¬
geblich endgiltige preußische Verfassung mit dem damaligen Prinzen von Preußen
hatte, äußerte jener im Hinblick auf die weitgehenden Forderungen der Oppo-
sition Bedenken gegen ein sofortiges Beschwören dieses Grundgesetzes durch den
König und den Prinzen als dessen voraussichtlichen nächsten Nachfolger und
fragte, ob man die Eidesleistung nicht erst nach einigen Jahren der Erfahrung
eintreten lassen könne. Der Prinz, meinte er dann, könne sich allerdings nicht
weigern, die Verfassung zu beschwören, da er sich dazu durch den bekannten
Brief an den König, datirt Brüssel, 30. Mai 1848, gewissermaßen im voraus
verbindlich gemacht habe. Darauf sagte der Prinz: „Dieser Brief verpflichtet
mich zu nichts. Lesen Sie ihn nur aufmerksam. Es heißt darin: »Ich werde der
Entwicklung dieser freien Institutionen mit Zuversicht und Treue alle meine Kräfte
widmen und sehe dem Augenblicke entgegen, wo ich der Verfassung, welche Eure
Majestät mit Ihrem Volke nach gewissenhafter Beratung zu vereinbaren im
Begriffe stehen, die Anerkennung erteilen werde, welche die Verfassungsurkunde
für den Thronfolger festsetzen wird.« In den Worten »nach gewissenhafter Be¬
ratung« liegt die Möglichkeit meinerseits, diese Anerkennung zu verweigern, wenn
ich Dinge darin aufgenommen finde, die sich nach meiner Überzeugung mit dem
Wohle des Staates für die Zukunft nicht vertragen. Denn die Beurteilung,
ob gewissenhaft beraten worden ist, steht mir allein zu, wenn etwas von mir
verlangt wird, und bis jetzt wenigstens ist von selten der Nationalversammlung
nicht gewissenhaft, sondern nur leidenschaftlich beraten worden." So bedenklich
aber der Prinz bei der Vereinbarung auch war, und so sehr er sich die Mög¬
lichkeit wahren wollte, seine Anerkennung zu versagen, so treu und gewissenhaft
hielt er später, als die Eidesleistung seines Bruders, die auch ihn verpflichtete,
stattgefunden hatte, sein Wort und sprach bei seiner Thronbesteigung nicht einmal
einen Vorbehalt aus, wie sein Vorgänger in der Rede bei der Eidesleistung vom
6. Februar 1850, in der er erklärte: „Die Lebensbedingung der Verfassung ist,
daß mir das Regieren mit diesem Gesetze möglich gemacht werde."
Sehr interessant ist großenteils die Korrespondenz des Prinzen mit Schneider
als dem Herausgeber der genannten militärischen Blätter. Im Dezember 1848
übergab der Prinz letzterm eine von ihm verfaßte Kritik des von einer besondern
Militärkommission des deutschen Bundes ausgearbeiteten Entwurfs zu einer
deutschen Heerverfassung zu dem Zwecke, sie durchzusehen und für den Druck
vorzubereiten. Später, als Befehle zu einer neuen Einteilung der Kavallerie-
und Jnfanteriebrigaden ergingen, sandte der Prinz für die „Wehrzeitung" Ge¬
danken zu einem Artikel über die Sache ein, der, als er erschienen war, den
Kriegsminister veranlaßte, sich beim Könige über solche Opposition zu beklagen.
Im Jahre 1851 waren die Militärkonventionen Preußens mit den kleinern
deutschen Staaten Gegenstand vielfacher Erörterungen, und wieder ließ der Prinz
den Vertrauensmann in der Presse seine Ansicht über den Gegenstand ver¬
breiten, indem er ihm folgenden Entwurf zuschickte: „Diese Konventionen dürfen
von Preußen unter keiner Bedingung aufgegeben werden. Die alte Korps¬
formation des deutschen Bundes ist als wiederhergestellt zu betrachten. Wenn
nun feststeht, daß alle Kontingente eines deutschen Armeekorps möglichst gleiche
Organisation, Formation und Reglements haben sollen, so steht doch nicht fest,
daß diese Gegenstände von dem größten Kontingente den kleinern aufgezwungen
werden sollen. Die genannten Kleinern haben dieselben von Preußen ange¬
nommen, weil sie sich bei einer Großmacht bewährten. Preußen muß sie also
MÄintemrM, wenn ihnen zugemutet wird, die preußischen Institutionen wieder
aufzugeben, um sie mit den minder guten des größten Kontingents zu vertauschen.
Hier muß Preußen ein ernstes Wort sprechen und seine militärischen In¬
stitutionen hervorheben und jenem größten Kontingente nicht nur sehr bestimmt
vorschlagen, sondern dies verlangen. . . . NL. Das Militärbudget muß künftig,
wie in England, on dlcxz eingebracht werden, um von den Kammern divo
angenommen zu werden. Eine Diskussion ästail ist Unsinn, weil kein Mensch
in den Kammern etwas vom Militär versteht." Nach den Erfahrungen, die
man in der Pfalz und in Baden sowie bei der damaligen Mobilisirung gemacht
hatte, wurde viel über eine vollständige Umgestaltung der Landwehr gesprochen.
Der Prinz aber wollte nur Verbesserungen im einzelnen, über die er Schneider
seine Weisungen zugehen ließ. Im Eingange derselben schreibt er: „Alle öffent¬
lichen Besprechungen dieses Gegenstandes müssen auf das sorgfältigste vermeiden,
glauben zu machen, das Landwehrinstitut habe sich bei der Mobilmachung als
unhaltbar erwiesen, welche Ansicht bereits durch einige unvorsichtige Zeitungs¬
artikel Platz greift. Dieser Ansicht muß sehr bestimmt entgegengetreten werden.
Verbesserungen ergeben sich bei jedem Institut von Zeit zu Zeit, also bei dem
vorliegenden auch. Meine Ansicht: eine totale Reform erscheint nicht notwendig,
und wenn sie selbst nötig wäre, so wäre der jetzige Moment nicht der zeit-
gemäßeste, weil von einem Augenblicke zum andern ein Aufgebot der Armee
möglich, also eine totale Reorganisation uns unschlagfertig finden würde." Die
Adlerzeitung (ein Regierungsblatt) hatte 1852 am 18. Dezember am Schlüsse
eines Artikels über das Heeresbudget bemerkt, die dreijährige Dienstzeit, die man
damals abschaffen wollte, könne nur wieder eingeführt werden, wenn man zwei
Drittel der Staatseinnahmen auf die Armee verwenden wolle, und Schneiders
„Wehrzeitung" hatte bald darauf einen Aufsatz aus dem Kriegsministerium
gebracht, worin behauptet wurde, der dreijährigen Dienstzeit trete das Militär¬
budget nicht als ein Gespenst, sondern als traurige Wirklichkeit entgegen, was
die nun folgenden Gehaltskompetenzen beweisen sollten. Darauf Bezug nehmend,
schrieb der Prinz an den Herausgeber des letztem Blattes: „Diese Kompetenzen
schließen dann mit der Bemerkung, daß jenes Gespenst 600000 Thaler kosten
würde. Wahrlich ein Gespenst, vor dem ein preußisches Budget mit 94 Mil¬
lionen zu erschrecken hat!!! Letzterer Artikel trägt das Gepräge, aus dem Kriegs¬
ministerium gekommen zu sein. Beide zusammen genommen haben die Aktion,
zu verblenden und das Vertrauen in der Armee gänzlich sinken zu lassen. Da
Sie aber verblendet haben, so hoffe ich, werden Sie einen Artikel schreiben, der
jene beiden in ihr wahres Licht stellt, nämlich, daß sie ein Abtrumpfen der
Wiederherstellung der dreijährige» Dienstzeit sein sollen, denn die Hälfte des
Staatsbudgets wären 47 Millionen, zwei Drittel desselben sind 62 Millionen.
Jeder Kriegsschiiler aber kann nachrechnen, daß die Etatserhöhung bei allen
Waffen durch die dreijährige Dienstzeit noch nicht eine Million macht, also
1 ^. 27 — 28 Millionen. Und behaupten zu wollen, daß Preußen nicht
000000 Thaler aufbringen könne, und diese Summe ein Gespenst zu nennen,
beweiset doch auch augenscheinlich niMvglso volovtv in dieser Lebensfrage der
Armee. Also schreiben Sie etwas der Art." Der König war für die kürzere
Dienstzeit durch den Kriegs- und den Finmizminister bereits gewonnen, und
man wollte sich keiner Verweigerung in den Kammern aussetzen. Für Schneider
war infolge dessen guter Rat teuer. Ihm war befohlen, im Sinne des Königs
und der Minister zu schreiben, und jetzt verlangte der Prinz bestimmt das
gerade Gegenteil. Er that in seinem Blatte, was er unter solchen Umständen
thun konnte. Darauf erhielt er vom Prinzen folgende Zuschrift: „Ihre Artikel
in dem morgenden Blatte werde ich abwarten. Gegen das zweieinhalbjährigc
Dicnstzcitsprojckt habe ich mich auf das allerbestimmteste gegen den König aus¬
gesprochen. Man steht an der Schwelle, alles haben zu können, was uns Not
thut, und trifft eine halbe Maßregel, um — 500000 Thaler nicht zu ver¬
langen. Das ist nicht zu dulden. ?. 8. Die übrigen Punkte sind gut, nur
zu wenig Offizier."
Im Jahre 1853 gab es in der zweiten Kammer lange Debatten über die
Giltigkeit der Wahl eines Landwchrrittmeisters v. Puttkamer, weil dieser einige
Tage darnach militärisch befördert worden war. In Bezug hierauf schrieb der
Prinz an Schneider: „Ich bin begierig auf Ihre verheißene Abfertigung der
v. Puttkamerschen Angelegenheit in der Wehrzeitung. Die grundfalsche Land¬
rechtbczeichnung der Offiziere als Staatsbeamte ist mir väl»s! und ist am
besten mit dem Hinblick auf den Fahneneid für den Kriegsherrn abzufertigen."
Als der Prinz Regent wurde und bald den Thron besteigen sollte, hofften
viele Einfluß auf ihn zu gewinnen und so für sich und andre allerlei durch¬
setzen zu können. Er war indes für dergleichen unzugänglich und hörte zwar
gern den Rat Sachverständiger, hatte aber nur in geschäftlichen Dingen Ver¬
traute und nie einen Günstling der Art wie Friedrich Wilhelm II. in Wollmar,
Bischofswerder und Ritz, Friedrich Wilhelm III. in Witzleben und Friedrich
Wilhelm IV. in Stolberg, Radowitz und Gerlach gehabt hatten. Jeder, der
in seine Nähe kam, empfand bald, daß es vergebliche Mühe war, mit ihm über
Gegenstände zu sprechen, über die er keine Meinung verlangte. Zu wohlwollend
und freundlich, um einen solchen Versuch zu verbieten, hörte er wohl ruhig zu,
wußte aber das Gespräch sehr bald auf etwas andres zu leiten. Schneider
„unterstand sich" einst, am 25. Juli 1865 in Babelsberg, ihn zu fragen, ob
er nie einen Freund gehabt habe. Der König sah ihn lange prüfend an, schien
die Frage aber nicht übel zu deuten. Dann sagte er: „O ja, ich habe zwei
Freunde im Leben gehabt, und zwar in meinen frühesten Mannes- oder eigentlich
Jünglingsjahren: den Obersten, spätern General v. Brause, den mir mein Vater,
noch 1815, zum militärischen Gouverneur gab, und dann Noeder,*) der mit mir
gleichzeitig bei denselben Truppenteilen stand, über den ich weg avancirte, wobei
er dennoch stets mein militärischer Lehrer und Vorbild blieb. Beide haben
nie etwas von mir gewollt und waren vortreffliche Männer. An Rveder habe
ich sehr gehangen." Schneider fragte weiter: „Ist es denn wahr, daß Eure
Majestät noch nie mit dem Generalleutnant v. Manteuffel von politischen Dingen
gesprochen haben? Das glaubt doch alle Welt. Aber er selbst und seine Gattin
haben mir einmal gesagt, daß Eure Majestät uur mit Herrn v. Bismarck über
politische Angelegenheiten sprächen, mit ihm nur über militärische." Der König
erwiederte: „Das ist vollkommen richtig, außer in den Fällen, wo ich Man-
teuffel zu politischen Sendungen gebrauchte. Beide Männer, welche mir jetzt
mit ihrem Rate am nächsten stehen, werden nicht sagen können, daß ich mit
ihnen von Gegenständen gesprochen hätte, die nicht direkt zu ihrem Ressort ge¬
hörten, und für welche sie mir später nicht hätten verantworlich sein müssen.
Mit Bismarck spreche ich nie über militärische, mit Manteuffel nie über Poli¬
tische Dinge."
Wir können dazu bemerken, daß Ausnahmen von dieser Regel vorgekommen
sind, wo Kenntnis des augenblicklichen militärischen Standes der Dinge für
richtiges politisches Verfahren und Einwirkung auf militärische Maßregeln für
diplomatische Arbeit erforderlich waren, und daß Bismarck eine solche Ausnahme
in Nikolsburg durchsetzte und es in Versailles, als keine gemacht wurde, so
schwer empfand, daß er mit einem Abschiedsgesuche umging. Beides ist voll¬
kommen verbürgt, doch muß hier die bloße Andeutung genügen.
In zwei Dingen ertrug der König kein Besserwissenwollen oder Vermitteln,
gleichviel, wie gut es gemeint war: in Aufrechterhaltung der Würde seiner Krone,
die er von ruhmreichen Ahnen geerbt hatte, und in Heeresangelegenheiten, die er
besser als jeder andre verstand. In allen andern Sachen hörte er ruhig und
unermüdlich zu, wenn Fachleute Ansichten äußerten, die der seinen entgegenliefen;
aber in diesen beiden Punkten wagte es wohl niemand, dem Könige zum zweiten
male mit einer andern Meinung zu kommen. Immer war es das unbedingte
Pflichtgefühl, der „Dienst," wenn er in jenen beiden Beziehungen auf nichts
hören wollte, in andern aber Sachverständigen gern das Ohr für ihren Wider¬
spruch lieh. Ohne es ausdrücklich zu sagen, betrachtete er sich als den ersten
Diener des Staates, aber auch als dessen ersten Soldaten. Ein Beispiel dafür,
daß er in den wichtigsten Augenblicken seines Lebens durchaus selbständig han¬
delte und nur seiner eignen Eingebung folgte, ist der Entwurf des Regierungs-
Programms, das er bei der Übernahme der Regentschaft und Berufung des
Ministeriums Hohenzollern-Auerswald-Schwerin verkündigte. In konstitutio¬
nellen Staaten pflegt ein neu eintretendes Kabinet dem Monarchen ein Pro¬
gramm vorzulegen und von dessen Gutheißung seine Übernahme der Geschäfte
abhängig zu machen. Die damals zu Minister» gewählten Herren mögen daher
nicht wenig erstaunt gewesen sein, als König Wilhelm am Tage nach ihrer Er¬
nennung sie zusammenrief und ihnen das Programm vorlas, nach welchem er
regieren wollte. Er hatte es ganz allein, ohne allen Beirat und ohne jemandes
Zustimmung niedergeschrieben, unterwarf auch jetzt die darin ausgesprochenen
Grundsätze keiner Erörterung und ließ es sogar ohne die Vermittelung der
neuen Minister veröffentlichen. In einem Ministerrate, der um dieselbe Zeit
abgehalten wurde, sagte der König: „Meine Herren, ich mache es Ihnen zur
heiligen Pflicht, in jedem Falle, wo es sich um meine Unterschrift unter ein
Todesurteil handelt, mich auch auf den kleinsten Umstand hinzuweisen, durch
den die Hinrichtung vermieden und eine Milderung der Strafe herbeigeführt
werden kann. Nur Sie, Herr Justizminister ^damals Simons^ entbinde ich
davon, da Ihr Amt Ihnen nicht gestattet, etwas andres als den Lauf der
Gerechtigkeit zu befürworten." Und so wurde es denn auch später gehalten.
Der König las nicht bloß in jedem Falle die umfangreichen Untersuchungsakten
und die Gründe für das Urteil gewissenhaft durch, sondern ließ sich auch darüber
erst durch den Kabinetsrat, dann im Plenum des Ministerrates ausführlich Vor¬
trag erstatten, und selbst dann unterschrieb er nicht sofort, sondern legte sich das
Urteil beiseite, um irgeud ein frohes Ereignis abzuwarten, das ihm Gelegenheit
bieten konnte, Gnade zu üben. Bei solchen Ereignissen kamen dann die Todes¬
urteile oft in großer Anzahl an das Justizministerium in lebenslängliche Zucht¬
hausstrafe verwandelt zurück. Am 1. Oktober 1861 war ein Tischler in Trebbin
wegen Mordes zum Tode verurteilt worden, und der Justizminister hatte am
13. Januar darauf beim König beantragt, „der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen."
Die darin liegende königliche Bestätigung war aber bis zum 19. August nicht zu
erlangen und erfolgte erst, als sich beim Vortrage der Sache im Ministerrate
keine einzige Stimme zu Gunsten des Mörders erhob. Die Hinrichtung des¬
selben wurde daun auf den 9. September anberaumt; da aber an demselben
Tage der Prinz Heinrich getauft werden sollte, so nahm der Justizminister daraus
Anlaß, dem Könige nach Baden zu melden, die Exekution sei, um die Festfreude
in der königlichen Familie nicht zu stören, auf den 16. verlegt worden. Darauf
antwortete der Monarch mit folgender Randbemerkung zu dem Berichte: „Liegen
denn gar keine Milderungsgründe vor, die zur Begnadigung auf lebenslängliches
Zuchthaus führten? Wenn es übrigens irgend möglich ist, so wäre ein andrer Tag
als der 16. zu bestimmen, da ich niemals den Tag einer Exekution kennen will."
Ganz außerordentlich war noch im hohen Alter die Rüstigkeit und dieser
entsprechend die körperliche und geistige Unermüdlichkeit des Königs bei den
Arbeiten seines hohen Berufs. Die wenigen Minuten, wo er des Morgens
Kaffee trank, waren stets die einzige Zeit am Tage, wo er sich nicht in an¬
strengender Thätigkeit befand, und selbst dabei beschäftigte er sich noch mit dem
Durchsehen von Berichten und Telegrammen. Abends spät, oft erst nach ein
Uhr, von einer Festlichkeit zurückgekehrt, bei der er in der Regel nur nährend
des Essens saß, fuhr er am nächsten Morgen mit dem ersten Zuge nach Pots¬
dam, um ausgebildete Erscchmannschaftcn zu besichtigen; dann kehrte er nach
Berlin zurück, um Vorträge anzuhören, Audienzen zu erteilen und bei Konseil¬
sitzungen den Vorsitz zu führen. Schon während der Hin- und Rückfahrten
nach Potsdam ließ er sich allerlei Vorträge halten. Auch die nächsten Diener
sahen ihn nie ohne Beschäftigung stillsitzen. In seinem Arbeitszimmer befand
sich nur ein Stuhl, den er zum Schreiben gebrauchen konnte, alle andern, auch
das Sofa, waren mit Papierrollen, Karten, Aktenstücken und Büchern voll¬
gepackt. Nur wenn er wichtige Denkschriften, diplomatische Berichte und andre um¬
fangreiche Schriftstücke studirte, bediente er sich eines hohen Neitbockes ohne Lehne,
auf dem er wie zu Pferde vor einem in die Höhe geschraubten Pulte saß. Von
irgend welcher Bequemlichkeit, von Anlehnen oder Ausstrecken war keine Rede.
Es war immer, als befände sich der König im Dienste, stets bereit und ge¬
wärtig, mit angestrengten Kräften sich einem neuen Gegenstande zuzuwenden.
Aerztlicher Mahnung, sich zu schonen, folgte er nur, wenn er sich wirklich
schon unwohl fühlte. Obwohl die Karlsbader Kur gebieterisch Unterbrechung
der gewöhnlichen Thätigkeit fordert, nahm er jedesmal das ganze Zivil- und
Militärkabinet nach der böhmischen Brunnenstadt mit und ließ sich Vorträge
halten, als ob für ihn keine Kurregeln bestünden, und wagte dann seine Um¬
gebung einmal, ihn auf die Folgen aufmerksam zu machen, so bekam sie zur
Antwort: „Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Ich fühle mich ganz wohl in
meiner gewohnten Beschäftigung."
eit dem Erlaß des Gesetzes über die Polizeiverwaltung vom
11. März 1850 herrscht in Preußen eine ungleiche Verteilung
der für die Ortspolizeiverwaltungen aufzubringenden Kosten.
Diejenigen Städte, welche königliche Polizeiverwaltung haben,
tragen nur einen Teil dieser Kosten, in den alten Provinzen die
sächlichen, während dem Staat die persönlichen Kosten zufalle», in den neuern
Provinzen gemäß der dem Gesetze vom 11. März 1850 im wesentlichen nachge¬
bildeten Verordnungen vom 20. September 1867 und 7. Januar 1870 bei
weitem weniger. Die Städte, welche eigne Polizeiverwaltung haben, müssen
sämtliche Kosten dafür aufbringen. Zur Polizeiverwaltung auf dem platten
Lande erhalten die Provinzen zwar neben der Unterstützung durch die staatlich
besoldete Gendarmerie eine nicht unerhebliche Dotation, müssen aber doch den
dritten Teil der Kosten für die wesentlich der Polizeiverwaltung dienenden
Amtsbezirke selbst zahlen und die Amtsvorsteher im Ehrenamt stellen, mit Aus¬
nahme der Provinz Hannover, innerhalb deren die Polizei von den königlichen
Landräten gehandhabt wird, die Dotation daher zu andern Zwecken flüssig ist und
auch für die Amtsbezirke nichts aufgebracht zu werden braucht. Posen mit seinen
besondern Verhältnissen übergehe ich hier.
Schon lange, namentlich seit 1869, hat diese Angelegenheit auch den Land¬
tag beschäftigt, bis endlich am 16. April 188S das Abgeordnetenhaus auf
Antrag des Abgeordneten von Eyncrn die Staatsregierung ersuchte, zur Besei¬
tigung der ungerechtfertigten Bevorzugung der mit königlicher Polizeiverwaltuug
versehenen Städte die Beitragspflicht dieser Städte zu den Kosten der Polizei-
Verwaltung anderweit zu regeln. Diesem Antrage, der 1886 wiederholt wurde,
kam die Staatsregierung nach, indem sie dem Abgeordnetenhaus im Februar
1888 eine entsprechende Vorlage machte, die nach der Generaldebatte einer Kom¬
mission überwiesen, von dieser aber nicht fertig beraten wurde. Da diese Ange¬
legenheit aber bei ihrer Wichtigkeit sicher den Landtag bald wieder beschäftigen
wird, so lohnt es sich, dieselbe hier kurz, wie es der Raum dieser Blätter erfordert,
nach zwei Richtungen hin zu erörtern, nämlich: 1. was der Gesetzentwurf
bezweckt, und 2. was gegen denselben vorgebracht worden ist.
Der Gesetzentwurf will nur, entsprechend den verschiednen Resolutionen
des Abgeordnetenhauses, den Beitrag der mit königlichen Polizeidirektionen ver¬
sehenen Städte zu den Kosten dieser Behörden anderweit und zwar dahin regeln,
daß Staat und Gemeinde diese Kosten je zur Hälfte tragen. Diese Kosten
sollen durch den Voranschlag zum Staatshaushalt festgesetzt werden, während die
Verteilung der Kosten einer für mehrere Gemeinden zusammen bestellten Po¬
lizeiverwaltung auf die einzelnen Gemeinden, sowie der für die von einer Orts¬
polizeibehörde gleichzeitig wahrzunehmenden landespvlizcilichen Geschäfte zu be¬
rechnende Teil der für diese Behörde aufzubringenden Kosten vom Minister des
Innern bewirkt oder bestimmt werden soll.
Gegen diesen Entwurf sind im Landtage selbst und in Adressen beteiligter
Städte verschiedene Einwände erhoben worden. Vor allem wurde eine voll¬
ständige Auseinandersetzung zwischen Polizei und Verwaltung im engern Sinne
begehrt, ein Verlangen, das bei der sür einen beschränkten Zweck berechneten
Gesetzesvorlage nicht zum Austrag gebracht werden konnte. Ich kann diese
Frage daher hier als nicht zur Sache gehörig übergehen, behalte mir aber vor
sie an einem andern Orte unter Benutzung auch der bei der Beratung des Ge¬
setzentwurfes gemachten, zum Teil sehr schätzbaren Bemerkungen ausführlicher
zu behandeln.
Ein zweiter Einwand richtet sich gegen die vorgeschlagene Teilungssumme,
wie ich glaube, ebenfalls mit Unrecht. Die Verhandlungen ergaben zur Genüge,
daß alle Versuche, eine andre als die von der Negierung vorgeschlagene Teilung
zu begründen, fehlgeschlagen sind; es ist eben thatsächlich unmöglich, eine Teilung
der Thätigkeit der Polizei nach Vernunft und Billigkeit dahin aufzustellen, in¬
wieweit sie im Interesse der Stadt und inwieweit sie im Interesse des Staates
geleistet wird. Es bleibt deshalb nur übrig, anzunehmen, daß die Thätigkeit
für beide Rechtssubjekte in gleichem Maße geschieht, was auch im allgemeinen
den Verhältnissen entspricht, und damit ergiebt es sich ganz von selbst, ohne
daß man dies eine rein mechanische, durchschneidende Arbeit zu nennen braucht,
die Kohle» der Polizei ebenfalls jedem Teile zur Hälfte aufzuerlegen. Wenn
man sagt, daß damit die bisher von den Polizeikosten mehr oder weniger be¬
freiten Städte gegen ihre bisherigen Verhältnisse zu sehr belastet würden, so
ist dagegen auch mit Recht hervorgehoben worden, daß diese Städte bisher auf
Kosten der übrigen Steuerzahler im Lande zu gut weggekommen sind, sodaß
also nicht von der Auflage einer neuen Last, sondern nur von der Beseitigung
einer ungerechtfertigten Befreiung zu reden sein würde. Eine Entlastung dieser
Städte hat der Entwurf auch gar nicht beabsichtigt, er will sie im Gegenteil,
den Wünschen des Abgeordnetenhauses entsprechend, durch Beseitigung ihres
bisherigen Vorrechtes belasten. Ob es mit Rücksicht auf die finanziellen Ver¬
hältnisse dieser Städte zweckmäßig wäre, die Sache nicht auf einmal, sondern
allmählich innerhalb einer Übergangsperiode durchzuführen, darüber ließe sich
vielleicht reden, obwohl es ebenso gut angeht, die Sache auf einmal durchzu¬
führen, da das Gesetz ja nicht alsbald, sondern erst mit Beginn des nächsten
oder vielleicht erst zweitnächsten Etatsjahres nach seiner Verkündigung in Wirk¬
samkeit treten kann. Natürlich müssen vor der Halbirung der Kosten der Orts-
polizei die Kosten der Landespolizei abgezogen werden, und diese können sich in
manchen Städten, namentlich in Berlin, recht hoch belaufen.
Ein Punkt ist freilich bei der Debatte über die Höhe des Beitrages zur
Sprache gebracht worden, der eine andre Lösung verdient, als es von der Staats¬
regierung vorgesehen war, dies ist die Berechnung der Pensionen, der Warte¬
gelder, der Witwen- und Waisengelder. Die hierfür nötigen Beträge darf man
nicht von derjenigen Stadt fordern, in deren Dienst ein Beamter pensionirt oder
gestorben ist, denn es wurde mit Recht darauf hingewiesen, wie dadurch infolge
von Versetzungen leicht Ungleichheiten entstehen können, welche sicherlich nicht
beabsichtigt waren. Es muß vielmehr eine Generalpensionskasse gebildet werden,
in die für jede einzelne Polizeiverwaltung ein zu berechnender Durchschnitts¬
betrag jährlich einzuzahlen ist. Die Höhe dieser Einzahlung läßt sich ohne
Schwierigkeiten feststellen, und es würde bei einer einigermaßen vorsichtigen
Verwaltung der Kasse sich bald ein Reservefonds bilden, der zu Ausgleichungen
benutzt werden könnte.
Beachtung verdient der Einwand bezüglich der von der Regierung vorge¬
schlagenen Art und Weise der Festsetzung der zu halbirenden Polizeikosten,
obwohl die in dieser Richtung laut gewordenen Bedenken übertrieben sein dürften.
Die Begründung des Gesetzentwurfs besagt ausdrücklich, daß die Gemeinden in
der Regel über die in dem Etat einzustellenden Ausgaben zunächst gehört werden
sollen, glaubt aber, daß dies nicht in das Gesetz gehöre, sondern durch eine
entsprechende Anweisung an die Provinzialbchörden geordnet werden könne.
Vom Regierungstisch aus ist ferner gesagt worden, daß die Entscheidung des
Ministers, welcher Teil der Polizeikostcn als Kosten der Landespolizei ab¬
gezogen werden solle, vor Aufstellung des Etats erfolgen müsse, sodaß diese
Entscheidung zum Gegenstande der Verhandlung im Landtage gemacht werden
kann. Damit wird die Stellung der Gemeinden gegen den bisherigen Zustand
nicht wesentlich verändert, da auch jetzt schon die Aufsichtsbehörden das Recht
haben, auch gegen den Willen der Gemeinde Posten zwangsweise in deren Etat
einzustellen, während die hiergegen zulässige Klage bei den Verwaltungsgerichten
um deswillen keine große Bedeutung hat, weil diese Gerichte über die Bedürfnis¬
frage nicht entscheiden, die Entscheidung darüber vielmehr zur Zuständigkeit der
Verwaltungsbehörden gehört. Es liegt deshalb ein genügender Schutz der Ge¬
meinden gegen etwaige Übergriffe des Ministers — wenn man denn nun einmal
stets von solchen und nicht auch von (vielleicht nicht immer gerechtfertigten)
Weigerungen der Gemeinden zur Aufbringung notwendiger Kosten reden will —
darin, daß die Angelegenheit im Landtage zur Sprache kommt. Daß dadurch der
Abgeordnete der betreffenden Stadt in die Lage käme, das Interesse seiner Stadt
gegenüber der Allgemeinheit zu vertreten, würde nicht mehr der Fall sein, als
es dies schon jetzt ist, wenn es sich um Anlage einer Eisenbahn oder die Be¬
willigung irgend sonst einer Summe handelt, woran der Wahlkreis der Ab¬
geordneten Interesse hat; auch da pflegt er das Interesse seiner Stadt zu ver¬
treten, und ich glaube, man darf sagen, er hat dies Interesse warm, wenn auch
von einem höhern Gesichtspunkte aus zu vertreten. Der Minister wird aber
sicher, schon aus persönlichen Rücksichten, wegen der Verhandlung im Landtage
bei Aufstellung des Etats alles vermeiden, was zu vertreten er nicht vollständig
in der Lage ist. Das freilich kann zur Vermeidung von Zweifeln verlangt
werden, daß die Bestimmung, es solle der für die landespolizeiliche Thätigkeit
zu berechnende Betrag vor Aufstellung des Etats stattfinden und es sollen die
Gemeinden über den Etat vor dessen Feststellung gehört werden, in das Gesetz
aufgenommen wird, was ohne Schwierigkeit geschehen kann. Dann, meine ich,
sind diese Bedenken gehoben. Ebenso wenig Bedenken möchten bezüglich der
etwa vorkommenden Etatsüberschreitungen begründet sein, bei denen die Behörden
UM so vorsichtiger zu Werke gehen werden, als sie sich bewußt sind, möglichen¬
falls, bei Verweigerung der nachträglichen Bewilligung, selbst für die ausgegebenen
Beträge aufkommen zu müssen.
Den wichtigsten Einwand gegen den Gesetzentwurf erblicke ich jedoch darin,
daß auch nach Durchführung des Entwurfes immer noch eine grundlose Bevor¬
zugung der mit königlicher Polizeiverwaltung versehenen Städte vor den übrigen
bestehen bleibe, da erstere nur zur Hälfte, letztere ganz zu diesen Kosten heran¬
gezogen würden, und ich stehe nicht an, diesen Einwand für vollkommen be¬
gründet zu erklären. Mag die Polizeiverwaltung durch staatliche oder städtische
Behörden geführt werden, sie wird im Namen des Königs gehandhabt, und sie
besorgt, wie schon gesagt, gleichmäßig Angelegenheiten des Staates und der
Gemeinden. Es ist im Laufe der Landtagsverhandlungen betont worden, daß
die Neigung der Städte, eigne Polizeiverwaltung zu besitzen, wesentlich gegen
früher nachgelassen hat, zum Teil Wohl wegen der Kosten, zum Teil auch aus
innern Gründen; denn die Selbstverwaltung. d. h. die selbständige Verwaltung
der eignen Angelegenheiten, schließt keineswegs die mindestens zum guten Teil
wesentlich andern Zwecken als der Kommunalverwaltung dienende, ja diesen
häufig entgegentretende Polizeiverwaltnug unbedingt in sich. Nun liegt kein
genügender Grund vor, eine Anzahl Städte, darunter gerade die größten und
leistungsfähigsten oder solche, denen man aus politischen Gründen die Polizei-
Verwaltung nicht überlassen kann, auf Kosten der übrigen zu bevorzugen, die
auch, wie wir gesehen haben, gegenüber dem Platten Lande im Nachteil sind.
Es muß deshalb der Betrag, der an den königlichen Polizeiverwaltungen
erspart wird, dazu verwandt und, wenn er nicht genügt, um so viel erhöht
werden, als nötig ist, um in allen Städten, in denen eine selbständige Polizei¬
verwaltung besteht, die Hälfte dieser Kosten für diese Verwaltung auf den Staat
zu übernehmen. Aus dem EntWurfe eines Gesetzes betreffend die Kosten könig¬
licher Polizeiverwaltungen in Stadtgemeinden würde dann ein Entwurf be¬
treffend die Kosten der Polizeiverwaltung in den Stadtgemeinden werden; damit
wäre alle Ungerechtigkeit ausgeglichen.
Damit würde auch der § 2 sowohl des Gesetzes vom 11. März 1850 als
der Verordnung vom 20. September 1867 über die Polizeiverwaltung zu voller
Giltigkeit gelangen. Darnach soll der Minister des Innern unter gewissen Be¬
dingungen die Ortspolizei in den Städten für den Staat übernehmen können.
An der Ausübung dieser Befugnis ist er aber zur Zeit gehindert, da er dazu
wegen der dadurch entstehenden Kosten der Genehmigung des Landtags bedarf.
Entstünden dadurch keine Kosten für den Staat, so könnte der Minister von
diesem Rechte wirklich Gebrauch machen, wo es ihm gut scheint, während er
deshalb immerhin mindestens im Landtage seine Kontrole fände.
Man sagt nun freilich, daß die Verwaltung der Polizei durch den Staat
teurer sei als die durch die Gemeinden; aber es beruht dies doch vielleicht auf
einem Irrtum, oder es wird die größere Billigkeit, wie dies im Abgeordneten¬
hause namentlich von dem jetzigen Minister des Innern in nicht mißzuver¬
stehender Weise angedeutet wurde, auf Kosten einer energischen Polizeiverwaltung
erzielt, deren Notwendigkeit doch selbst von fortschrittlicher Seite anerkannt
wurde. Man kann auch gar nicht allgemein sagen, wie viel Mark auf den
Kopf der Ortseinwohner die Polizeikosten betragen müssen, denn dies kann sich
nur nach den Verhältnissen eines jeden einzelnen Ortes bemessen lassen; es kann
sein, daß eine kleine Fabrik- oder Hafenstadt bei weitem mehr Polizeikosten ver¬
ursacht als eine weit größere Stadt, in der vorzugsweise Landwirtschaft be¬
trieben wird oder zahlreiche Beamten und Pensionäre leben. Es fehlt uns
auch, wie schon angedeutet, bis jetzt an einer allgemein anerkannten Begriffs¬
bestimmung darüber, was zur Polizei zu rechnen sei. Da nun aber der Fiskus
sich bekanntlich auch einer sehr lobenswerten Sparsamkeit befleißigt, so würde
sich Wohl schon dahin eine Einigung erzielen lassen, daß die Kosten der staat¬
lichen oder städtischen Polizei verhältnismäßig immer die gleichen sein würden.
Wie ich im Eingang sagte, nehme ich an, daß die hier besprochene Frage
den Landtag bald wieder beschäftigen wird, und ich hoffe, daß sie dann eine
allseitig befriedigende Lösung finden wird. Daß Städte, wie z. B. Kassel,
deren Beiträge zu den Polizeikosten vertragsmäßig festgesetzt sind, nur nach dem
Verhältnis dieser Vertragsbestimmungen herangezogen werden können, wenn ihre
Rechte nicht abgelöst werden sollen, würde keine Ausnahme von der Regel
bilden, sondern nur dem Artikel 9 der Verfassung entsprechen. Die Behauptung,
daß der Zeitpunkt zur Erledigung dieser Frage nicht richtig gewählt sei, hat
der Finanzminister bei den Verhandlungen treffend mit der Bemerkung wider¬
legt, daß zu einem gerechten Unternehmen immer die rechte Zeit sei.
in großer Teil der Fortschritte, welche die Menschheit von den
ersten Anfängen ihrer Geschichte an gemacht hat, führt auf die
Überwindung von Entfernungen zurück. Die dem Naturmenschen
ursprünglich von dem Gesichtskreise seiner Insel, seines Jagdgebietes,
seines Fischereigrundes umschlossene Welt ist immer größer, ihre
Vorstellung immer geistiger geworden. Noch in dem, was wir geschichtliche
Zeit nennen, war die homerische Welt viel kleiner als die Herodots. welche ihrer-
seits mit einem Fünfzigste! der uns bekannten Erdoberfläche reichlich bemessen
sein dürfte. Ptolemäus ging darüber hinaus, indem er, wenn auch nicht immer
sicher, den Teil der Erde überblickte, der zwischen den Glücklichen Inseln und
der Küste des Seidenlandes (Südchinas) gelegen ist. Wenn er den Kreis seines
geographischen Wissens bis an die Grenze des Vermuteten oder Geahnten aus¬
dehnte, schloß dieser die Hälfte der Erde in sich. Was Vasco de Gama, Ko¬
lumbus, Mcigalhaens und ihre Nachfolger für die Hinausrückung der Grenzen
des geographischen Gesichtskreises gethan haben, hält man mit vollem Rechte
für wichtig genug, um den Höhepunkt dieser die Welt erweiternden Entdeckungs¬
epoche gleichzeitig einen Scheidepunkt der geschichtlichen Zeitalter bilden zu
lassen. Viel Großes drängte sich auf der Grenze mittlerer und neuerer Zeit
zusammen, es hat besonders die Erfindung der Buchdruckerkunst allen geistigen
Regungen und Äußerungen der Menschen eine ganz andre Energie, Wirksam¬
keit und Dauerhaftigkeit verliehen; aber die Entdeckung Amerikas hat den Boden
der Geschichte erweitert, neue Völker auf den Schauplatz geführt, neue politische
Mächte geschaffen und einen großen Teil der Menschheit ein neues geschicht¬
liches Leben von den Anfängen an beginnen lassen. Man scheint darüber einig
zu sein, daß die damit gegebene Schaffung einer zweiten Welt, die gegenüber
der ersten oder alten im politischen Sinne wie im Sinne der Kultur neu ist, die
wichtigste der Errungenschaften jener an großen Menschen und Dingen reichen Zeit
sei. Geistige Schöpfungen können verblassen, ja absterben, jene große Erfindung
kann durch eine größere übertroffen werden, aber das neuentdeckte Land und
Meer können die Menschen nicht verlieren, es müßte denn von einer Erdum¬
wälzung verschlungen werden.
Und wenn wir fragen, wodurch die Geschichte der letzten beiden Menschen¬
alter einen von allem Vorherigen so durchaus abweichenden Charakter erhalten
habe, so ist es doch wohl im tiefsten Grunde wieder der räumliche Unterschied;
denn so weit die Geschichte zurückreicht, hat sie niemals, so wie heute, die ganze
Erde, soweit diese bewohnbar ist, zum Boden gehabt. Vor dem, was wir heute
Weltmacht nennen, sinkt Rom in den Staub, und die weitesten Wege des Alter¬
tums schrumpfen in der Länge mit denen der Gegenwart verglichen ebenso zu¬
sammen, wie der Betrag der einst zu ihrer Zurücklegung erforderlichen Zeit
uns, an dem Maßstabe des jetzt geforderten gemessen, fast unerschwinglich er¬
scheinen will. Wohl verwirklicht sich dadurch in immer mehr Geistern, was
schon Kolumbus ahnungsvoll ausgesprochen hat, daß die Erde eigentlich sehr
klein sei, aber diesem Gedanken verneinender Haltung gegenüber steht die für
den Gang der Geschichte in den nächsten Jahrzehnten hauptsächlich bestimmende
Thatsache, daß der für die Menschheit auf der Erde verfügbare Raum immer
näher an die alten Mittelpunkte der Kultur, an die Trennpunkte des geschicht¬
lichen Lebens herangezogen wird, daß seine Bewohner denen Europas immer
verwandter werden, daß die geschichtliche Bewegung, an Länderräumen und Volks-
zahlen gemessen, immer umfassender, immer großartiger wird. Erscheint die
Erschließung neuer Länderräume zur Bewohnung und neuer Meeresstrecken
zum Verkehr als stofflich greifbarster der Gewinne, welche Menschen als Lohn
ihrer Kulturarbeit zufallen konnten, so wird das allmähliche Fortschreiten dieses
Prozesses durch die Verbindung mit der Entwicklung des Wissens von der
Erde und vom Himmel zu einem der wichtigsten Abschnitte der Geistesgeschichte
der Menschheit. Mit der Erde gestaltete sich der Himmel um. Der Ausfassung,
die eine Scheibe im weiten Ozean schwimmen sieht, über welche sich der eherne
Hohlraum des Firmaments wölbt, tritt die einer Erdkugel, welche konzentrisch
von der Kugelschale des Himmels umgeben wird, berichtigend gegenüber. Je
mehr man von der Erde wußte, d. h. je mehr man Entfernungen auf der Erde
beherrschte, desto weniger blieb die Scheibenform möglich, je weitere Wege man
aber auf der Kugel zurücklegte, desto sicherer mußte auch die Orientirung am
Himmel werden, denn in den Gestirnen lesend findet der Wanderer seine Wege
auf der Erde. Es giebt einen körperlichen und einen geistigen Besitz an diesem
Planeten, und beide sind nicht von einander zu trennen. Ein neues Land bringt
demjenigen Reichtümer, welcher zuerst den Weg nach ihm erschließt, indem er
Schranken durchbricht, vor welchen seine Zeitgenossen träge, unwissend oder
ängstlich stehen geblieben waren. So ist jedes Volk des Mittelmeer-Gestades und
des ferneren Europas jeweils reicher als alle andern gewesen, welches Indien, die
Quelle des ergiebigsten Handels, auf nächstem Wege zu erreichen, seine Schätze
am sichersten den Warmhäusern seiner Heimat zuzuführen wußte. Doch hat
es in jedem Falle allen andern Völkern Wege gewiesen, Küsten und Inseln
entdeckt, Karten und Berichte hinterlassen, die vorher nicht vorhanden gewesen
waren. Indem es sich bereicherte, vermehrte es den geistigen Besitz der Mit¬
bewohner der Erde. Im glücklichsten Falle lehrte es so folgenreiche Dinge,
wie die Regelmäßigkeit der Monsunwinde oder das hartnäckige Deuten der
Magnetnadel.
Es gehört zu dem auszeichnenden Besitz, der ein Volk vor andern
groß macht, dieses Wissen von näheren oder sichreren Wegen, oder auch die
Beherrschung derselben. Der Wege zwischen zwei Punkten auf der Erde sind
es selbstverständlich, denn wir leben auf einer Kugel, immer mehrere, von denen
aber in der Regel nur einer der kürzeste oder sicherste, bequemste und daher
wichtigste, gesuchteste, in Krieg und Frieden heiß umworbene ist. Man kann
nach Indien um das Kap der guten Hoffnung und durch den Suezkanal fahren;
aber man braucht von Trieft nach Bombay dreiundzwanzig, von Plymouth nach
der Kapstadt vierundzwanzig Tage. Es versteht sich daher von selbst, daß der
Suezkanal ein Objekt von der größten Wichtigkeit für die Mächte ist, welche Inter¬
essen in Indien und im ferneren Asien haben, weshalb Großbritannien zuerst die
Herstellung dieses Kanals mit französischem Kapital und Geist als unmöglich
bezeichnete, dann zu hemmen, endlich, als er vollendet war, seiner sich zu be-
mächtigen suchte. Man kann vom Atlantischen Ozean in die Nordsee durch
den Ärmelkanal und auch um Schottland bei Kap Race herumkommen, jenes
ist der kürzere, daher durch mehrere Seefcstungen der stärksten Art, besonders
Brest und Cherbourg, Portsmouth und Plymouth geschützte, beziehentlich be¬
drohte Weg. Schon das Altertum hat sich Mühe gegeben, Umwege zu kürzen;
die alten Ägypter sind aus dem Mittelmeer ins Rote Meer gefahren, und die
Griechen erwogen den Plan der Durchstechung des Isthmus von Korinth. Die
ganze weltgeschichtliche Bedeutung der Kürzung der Entfernungen prägt sich aus
in der dauernden Bedeutung, die solchen Arbeiten beigemessen, in den Opfern,
die ihrer Ausführung gebracht wurden. Der Suezkanal hat das Gewicht der
europäischen Interessen in Asien vervielfacht, indem er die entlegensten Teile
der alten Welt um das Doppelte einander näher brachte. Der Panamakanal
wird noch viel wichtiger werden, er wird den Unterschied zwischen alter und
neuer Welt mindern, indem er der Weltgeschichte, die, seitdem sie das Mittel¬
meer verlassen hat, hauptsächlich atlantisch geworden war, den pazifischen Schau¬
platz erschließt und allen Ländern und Inseln auf der östlichen Seite der Halb¬
kugel einen erhöhten wirtschaftlichen, politischen und damit, wie sicher zu hoffen
ist, auch Kulturwert verleiht.
Die Fähigkeit der Bewältigung von Entfernungen gehört also zu den
Mitteln, durch welche die Völker sich Reichtum und politischen Einfluß sichern
und zugleich die geistigen Besitztümer der ganzen Menschheit vermehren. Es
ist daher für die Charakteristik der Völker und Zeitalter die Bestimmung des
Maßes dieser Fähigkeit von der größten Bedeutung. Überblicken wir die
Geschichte ihrer Entwicklung, so treten die großen Völker und die großen Epochen
deutlicher vor uns hin, und wir glauben dem Strome der Zeit bis auf den
Grund zu schauen, dessen Abschnitte den ewig gleichen Lauf der aufeinander¬
folgenden Geschlechter unterbrechen und teilen. Homer bezeugt es, daß die
Phöniker von Kreta nach der ägyptischen Küste in fünf Tagen fuhren. Der
Weg ist rund achtzig Meilen lang. Aber Tenophon berichtet uns von einem
phönikischen Piraten, der im fünften Jahrhundert die fast hundert Meilen lange
Strecke Rhodus-Tyrus in drei Tagen und Nächten zurücklegte. Von griechischen
Fahrten erfahren wir in der Odyssee, daß der Weg von Lesbos nach Argos
in drei Tagen zurückgelegt wurde, was täglich zwanzig Meilen oder etwas
darüber macht. In der Zeit der Blüte der athenischen Schisffcchrt wurde»
siebenundzwanzig bis achtundzwanzig Meilen in Tag und Nacht, am Tage allein
fünfzehn Meilen zurückgelegt. Xenophon führt als Beispiel großer Fahr¬
geschwindigkeit die Reise eines milesischen Schiffes an, das den zweiundsicbzig
bis fttnfundsiebzig Meilen langen Weg von Lampsakus nach der Küste von
Sparta in drei Tagen durchfuhr. Von der Puniern haben wir anzunehmen,
daß sie an der atlantischen Küste der Pyrenäenhalbinsel die zweiundfünfzig Meilen
nach dem Kap Vincent in drei, die dreißig Meilen von da nach der Tajo-
Mündung in zwei, nach Galicien in sechs Tagen zurücklegten. Die Römer
machten im Mittelmeer durchschnittlich einundzwanzig bis zweiundzwanzig Meilen
im Tage, eine Geschwindigkeit, die im frühern Mittelalter, trotz der jetzt in Be¬
nutzung tretenden Bussole, auf achtzehn bis zwanzig Meilen herabsank. Die
Spanier und Portugiesen erreichten Geschwindigkeiten von dreißig bis vierund¬
dreißig Meilen, hinter denen sie aber oft zurückblieben, bei den Fahrten im
Atlantischen Ozean während des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts. Fuhr
doch Kolumbus schon bei seiner zweiten Fahrt (1493) in einundzwanzig Tagen
von Ferro nach Dominica, Hojeda 1499 von Cadiz nach der Küste von Guyana
in fünfundzwanzig Tage»; die Rückreise gegen den Nordostpassat erforderte aber
viel mehr Zeit, durchschnittlich machte man nur zwanzig Meilen täglich und
brauchte daher sieben Wochen von den Antillen nach Spanien. Für die jährlich
wiederholte Fahrt Manila-Acapulco quer durch deu Stillen Ozean brauchten die
Spanier hundertzehn bis hundertzwanzig Tage. Die Erfindung des Fernrohres
(1608), die schon im sechzehnten Jahrhundert angebahnte Verbesserung der in immer
allgemeinere Benutzung übergehenden Karten, die Fortschritte in der Längen¬
bestimmung durch Mondtafeln (17S5) und Chronometer (1764) sicherten die
Erreichung der Ziele, ohne die Geschwindigkeit höher als unter günstigen Um¬
ständen vierzig Meilen auf den Tag zu steigern. Den großen Fortschritt
darüber hinaus bewirkte von 1819 an die Einführung der Dampfboote, die
heute als Lastschiffe sechzig, als Postschiffe fünfundsiebzig Meilen unter weit
größerer Sicherung sowohl gegenüber Gefahre» als bezüglich der Einhaltung
der Fahrzeit zurücklege». Mit Eisenbahn und Dampfboot ist die Reise um die
Welt in zweinndsiebzig bis dreiundsiebzig Tagen möglich geworden, welche Zeit
die Zukunftsbahn Moskau-Peking um zehn Tage abzukürzen vermöchte, und
zwar in der Folge Hamburg-Brindisi drei, Bombay siebzehn, Madras zwei,
San Francisco siebenunddreißig, New-Dort sechs, Hamburg sieben Tage: alles
im günstige» Falle; also elf Tage Land- und einundsechzig Tage Seefahrt.
Wir schweigen weislich von Möglichkeiten rascherer Beförderung, die das Reich
der Luft zu bieten schiene. Über das Maß der Bcflügelmig, das der Telegraph
unsern Gedanken erteilt, wird ja doch der günstigste Höhenwind und die kräf¬
tigste Batterie den Ballon nie Hinanstreiben. Es genügt zunächst für die
größten Zwecke, daß ein Gedanke in wenige» Stunde» um deu Erdball eilt.
Nicht das höchste Ziel zu erreichen, sondern die vorhandenen Mittel am zweck¬
mäßigsten auszunutzen, scheint die Kunst der politischen Verwertung des Wissens
einer Zeit, auch des Wissens von Wegen und ihrer Benutzung zu sein.
Das römische Reich bietet das erste Beispiel einer Weltmacht von einer
Lebenskraft, die viele Stürme überdauerte. Die Vorgänger waren an der Un¬
möglichkeit, weite Räume zu umfassen, gestorben. Der Straßenbau ist für Rom
eine Bedingung der Existenz des Reiches gewesen, das früh unter der Schwierig¬
keit litt, die entfernteren Provinzen vom Mittelpunkte aus festzuhalten. Der
technische Fortschritt, vielleicht von den Etruskern herübergenommen, gemauerte
Straßenkörper herzustellen, die von außerordenlicher Dauerhaftigkeit sind, hat
die politischen Fortschritte Roms ungemein begünstigt. Noch ehe Rom ganz
Italien gewonnen hatte, wurden solche Straßen gebaut. Die appische Straße
von Rom nach Capua ist 312 (442 der Stadt) gebaut worden, und zur Zeit
Cäsars Ware» alle wichtigen Städte Italiens mit der Hauptstadt durch ähnliche
Straßen verbunden. In der Kaiserzeit mündeten deren sechzehn in oder nahe
bei Rom. Diese Straßen von vier bis achtzehn Meter Breite, die, i» einer aus¬
gehobenen Vertiefung fnndirt, aus Schichten von durch Mörtel verbundenen Stein¬
platten, Kieseln und Zement zusammengefügt sind, gewähren bis auf den heutigen
Tag den Eindruck meisterhafter Werke. Wo sie, wie die Regel, durch ein er¬
höhtes Mittelstück gegliedert und in der Nähe der größern Städte mit Stein¬
platten gleichmäßig belegt sind, ist ihr Eindruck, verglichen mit dem einer
heutigen Landstraße, sogar schön zu nennen. Der Zweck, kürzeste Ver¬
bindungslinien bei bequemen Profilverhältnissen zu schaffen, wurde energisch ver¬
folgt. Wo Kürzungen gewonnen werden konnten, sparte man nicht an Geld
und Arbeit. So ließ noch Vespasian, um der wichtigen, nach der Adria bei Färö
führenden Via Flaminia im Apennin einen Umweg zu sparen, einen dreihundert
Meter langen Einschnitt aus dem Felsen meißeln. Man kann dies römische
Straßenwesen nur würdigen, wenn man sich erinnert, daß die Straßen für
Rom von ebenso großer politischer und wirtschaftlicher Bedeutung waren, wie
die Eisenbahnen es heute für unsre Großstaaten sind. Nach Anlage und Zweck
finden die Römerstraßen ihr genauestes Analogon in den strategischen Eisen¬
bahnen. Wie, mit welchen Mitteln, zu welchen Zwecken die Römer ihre Straßen
bauten, das alles findet wohl Analogie und Erklärung in einer rein militärischen
Eisenbahn, wie die Russen sie in den letzten Jahren von Krasnowodsk nach
Merw, die Engländer von Shikarpur über den Bolcmpaß nach Quella in der
Richtung auf Kandcchar gebaut haben. Dem entspricht dann auch die Ein¬
richtung des zunächst rein politischen und speziell militärischen Kursus xudlivus,
dessen Abart Oursus vslox ein beschränkter Eilwagendienst war. Cäsar, der
römischste aller römischen Staatsmänner, der die Schnelligkeit als militärisches
und politisches Werkzeug vortrefflich zu handhaben wußte, bediente sich bei seinen
eiligen Reisen des Lursus vslox. Er fuhr im pompejanischen Kriege in sieben¬
unddreißig Tagen von Rom nach Obelco, das in der Nähe des heutigen Cor-
dova lag; das bedeutet eine Tagesleistung von dreizehn Meilen, die besonders
im Hinblick auf die körperliche Ausdauer, welche man voraussetzen muß, sehr
respektabel ist. Es sind das nun freilich noch lange nicht die zwanzig Meilen
täglich, an welche uns Sueton, der den Cäsar hundert mitten durcheilen läßt,
glauben machen möchte, noch weniger die fünfundzwanzig, die er auf der Fahrt
von Jllyricum nach Gallien täglich zurückgelegt haben soll. Das waren un¬
gewöhnliche, vielleicht nicht vollkommen glaubhafte Leistungen, die viele Jahr-
Hunderte hindurch nicht mehr erreicht worden sind. 238 n. Chr. wird ganz
besonders hervorgehoben die Schnelligkeit eines reitenden Boten, der am vierten
Tage von Aquileja nach Rom die Nachricht von dem Ableben des Kaisers
Maximinus Thrax brachte. Der Weg ist vierundachtzig Meilen lang, das sind
mindestens ungewöhnliche Leistungen. In der Regel machte man wohl nicht
viel über sechs oder sieben Meilen am Tage; von Rom aus wurde Mailand
in elf, Verona in zehn, Brindisi in sieben Tagen erreicht. Heute fährt der
Courierzug von Rom nach Verona in sechzehn, nach Mailand in achtzehn Stunden,
d. h. mau legt die Strecke funfzehnmal schneller zurück, als die Römer es ver¬
mochten. Die Wege Rom-Paris in einunddreißig Tagen (heute neunundzwanzig
Stunden), Rom-^.uAustg. Vinäslioorum in fünfundzwanzig Tagen (heute zwei-
unddreißig Stunden) zeigen noch schärfer den Unterschied zwischen dem höchsten
Maße der Wegzeiten im Altertum und in der Zeit der Eisenbahnen.
Wir haben Cäsar genannt. Dieser große Mann erinnert an Alpenüber¬
gänge und Rheinüberschreitungen, an eilige Märsche in Gallien und Spanien,
er erinnert daran, daß ein weiter Raum, auf dem sich geschichtliche Ereignisse
abspielen, immer über alles Maß den Ruhm der Männer erhöht hat, die darin
einen leitenden Anteil nahmen. Vorzüglich gilt dies von der Kriegsgeschichte.
Der Zug Alexanders des Großen nach Indien, der Marsch Hannibals aus
Spanien nach Italien sind klassische Beispiele. Aus einem an großen Leistungen
reichen Leben wie dem Friedrich Barbarossas, strahlt doch der Kreuzzug mit
unvergänglichstem Glänze, ebenso wie aus Napoleons mannichfaltigen Kriegs¬
zügen der ägyptische Feldzug vielen als der anziehendste entgegentritt. Ein so
ruhiger Beurteiler der Menschen und Dinge wie Ranke nennt den Marsch
Hannibals über die Alpen „seine große Handlung in der Geschichte." Worin
liegt das Große? Die Alpen sind vorher wegsam gewesen. Hannibal erkundigte
sich bei den Abgesandten eisalpinischer Stämme darnach und erhielt ermutigende
Antwort. Den Mons Poeninus krönte ein keltischer Tempel, Zeugnis genng
für älteren Verkehr über ihn. Ob Hannibal den kleinen Se. Bernhard oder
den Monte Genevre überschritt, ob er nun das Thal der Jsere oder das der
Durance hinaufrückte, Bahnbrecher war er hier nicht. Das Jmvonirende und
in der That höchst Folgenreiche seiner That liegt in der militärischen Leistung
und dem, was politisch sich daran knüpfte. Von diesem Marsche Hannibals an
konnten Alpen und Pyrenäen kein Hindernis mehr sein, Italien, Gallien und
Spanien als eine politische Einheit aufzufassen. Der später» Vereinigung dieser
Länder als Provinzen des römischen Reiches hat Hannibal den Weg gebahnt.
Mag der kommerzielle Gesichtskreis einzelner Etrusker, Punier oder Griechen
über diese Gebirge hinaufgereicht haben, in den politischen hat Hannibal West¬
europa erst hereingezogen. Wer Wert auf sichere Daten legt, kann sagen:
Vom Jahre 218 v. Chr. an giebt es eine westeuropäische Geschichte die Be¬
schränkung der Geschichte auf das Mittelmeer hört auf, man rückt an die lange
Küstenlinie des Atlantischen Ozeans vor. Wer weitsichtig ist, sieht beim Alpen-
übergange Hannibals die neuere Geschichte aufdämmern, die immer mehr wcst-
und mitteleuropäisch geworden ist, bis sie, übers Weltmeer wandernd, sogar den
atlantischen Charakter annahm.
Das Ringen der Völker um Macht oder auch bloß um Leben kennt den
außerordentlichen Einfluß, deu die Bewältigung der Entfernungen im entscheiden¬
den Kampfesaugenblicke gewinnt. Oft entscheidet ein Zeitgewinn bei Zurücklegung
der Wege auf ein von beiden Seiten gleichmäßig angestrebtes Ziel. Die Krieg¬
führung sucht schon beim Aufmarsch dem Gegner zuvorzukommen, es ist eine
Frage der Geschwindigkeit, welche von zwei Mächten der andern den Krieg ins
Land spielt. Eine rastlose Beweglichkeit, die zuerst fertig am Platze ist und
dem Gegner keine Ruhe läßt, hat 1814 und 1866 in Frankreich und Böhmen
auf preußischer Seite weltgeschichtliche Fragen rasch zur Lösung gebracht. 1756
handelte es sich um die Existenz Preußens, als Friedrich II. in Eilmärschen
die sächsische Grenze überschritt. Wo stünde» wir möglicherweise, wenn Blücher
und Gneisenau am 18. Juni 1815 ein paar Stunden mehr gebraucht hätten,
um die Entfernung von Ligny nach Belle Alliance zurückzulegen, oder wenn
es Napoleon I. möglich geworden wäre, im März 1814 Blücher auf seinem
Marsche nach Paris, der durch die Stationen Trohes, Laon und Montmartre
bezeichnet wird, zu überholen? Die Siege von Königgrätz, von Sedan sind
nicht bloß durch Geist, Disziplin und Mut entschiede» worden, sondern auch
durch die prompte Überwindung der räumlichen Entfernungen. Wellingtons
Wort in der Schlacht bei Belle Alliance: Ich wollte, es wäre Nacht oder die
Preußen kämen, ist typisch für die entscheidende Bedeutung des Raumes. Mit
Änderung der Zeit und des Ortes hat mancher große Feldherr in Augenblicken
der Entscheidung ähnlich gedacht oder gesprochen.
Die vorstehenden Betrachtungen knüpfen an ein Buch an, welches das Wachs¬
tum der Fähigkeit, Entfernungen zu bewältigen, unter dem Gesichtspunkte der
engen Zusammengehörigkeit des Menschen mit dem Boden, auf dem er lebt, zu
schildern unternimmt.*) Dabei ist der friedliche Verkehr, der seine Strahlen von
den großen Plätzen des Handels nach deu Stätten der Erzeugung und des Ver¬
brauches wichtiger Waren zieht, in den Vordergrund gestellt, ohne daß indessen,
wie natürlich, die politischen Mitursachen und Folgen der damit gegebenen Er¬
weiterung des geographischen Gesichtskreises vernachlässigt werden. Es ist das ein
gelehrtes Buch, insofern es aus einer Fülle von Thatsachen schöpft, wie sie nur im
eindringenden Studium der ersten Quellen oder einer ebenso reichen wie zerstreuten
und stellenweise geradezu verborgenen Litteratur gewonnen wird. Es ist aber zu¬
gleich ein Buch für ungelehrte, freilich gebildete Leser, da der Stoff ungewöhnlich
großartig und mit der Geschichte der Menschheit eng verflochten ist, und da der
Verfasser durch klare, geistreiche und eigenartige Darstellung fesselt. Die in jeder
der Perioden dieser Entwickelungsgeschichte wiederkehrenden Erörterungen über
Wege und Ziele des Handels, Mittel und Methoden des Verkehres berühren
eine Fülle der verschiedenartigsten Probleme. Wir finden hier Bernstein und Zinn,
welche die Phöniker nach Norden lockten, dort das Gold Australiens oder die
Diamanten Südafrikas behandelt. Der Elephant und das Kamel, das Dampfboot
und der Telegraph werden als Werkzeuge des Reifens und des Warenverkehres
gewürdigt. Bei den ersten noch kurzen Straßen des Verkehres zwischen den
großen Mittelpunkten semitischer und hamitischer Kultur in Westasien und im
Nillaude beginnen wir den Überblick, der mit dem Panamakanal und der sibirischen
Eisenbahn in die Zukunft hinein abschließt. Wir sehen endlich, um mit dem Schlu߬
worte des Verfassers zu reden, „die durch weite Räume von einander getrennten
Teile der Erdoberfläche und ihre gegenseitig beziehungslosen Bewohner zu einem
zirkulirenden Vcrkehrsganzen werden." Das Buch entläßt uns mit dem Eindruck,
daß die Beachtung der Entfernungsverhältnisse von größtem Werte für das
Verständnis geschichtlicher und geographischer Erscheinung ist. Möge dieser
Eindruck in Forschung und Lehre lebendig werden.
er einstige Geschichtschreiber der letzten Jahrzehnte des neunzehnten
Jahrhunderts wird neben vielen andern in dieser Zeit neu auf-
tauchenden Erscheinungen besonders einer nicht vergessen dürfen,
die mit ihren Folgen und Wirkungen eine hervorragende Rolle in
unserm öffentlichen Leben spielt — des sogenannten Nationalitäts¬
prinzips. Das Wort, zum erstenmale ausgesprochen von Napoleon III. und in der
Einigung Italiens und Deutschlands, seines erbittertsten Gegners und Veran-
lassers seines Sturzes, zum ersten male Fleisch geworden, ist freilich nur als Wort
betrachtet eine Erfindung unsrer Zeit, sein Begriff war zu allen Zeiten vorhanden
und in keiner so scharf empfunden wie in der Blütezeit des Hellenentums, wo das
Stmnmcsbewußtsein der siegreichen Überwinder aller NichtHellenen in der ein¬
seitigsten Verachtung der „Barbaren" gipfelte. Dessen ungeachtet dürfte es schwer
sein, solche Erscheinungen, wie sie unser jetziges Stammesgefühl gezeitigt hat,
in andern chauvinistischen Zeitläuften nachzuweisen. Dies gilt ganz insbesondre
von dem Gedanken der sogenannten „Schulvereinc."
In ihnen hat die Liebe zum eignen Volkstum und die Schwärmerei für
dessen wichtigstes Kennzeichen, die Sprache, den lebhaftesten Ausdruck gefunden.
Nachdem man erkannt hatte, daß die immer ungeheuerlicher sich dehnenden
Staatengcbilde der Neuzeit mit Riesenschritten sich einer Grenze nähern, bei der
nicht mehr Politik gegen Politik, sondern Volk gegen Volk, Nasse gegen Rasse,
Kultur gegen Kultur zum Vernichtungskampfe bereit stehen würden, begann man
die wahrscheinlichen Streitkräfte des künftigen Völkerkriegcs nach Köpfen zu
zählen, und nahm hierbei nicht etwa politische Bündnisse von jetzt oder künftig
bestehenden Staaten, sondern die natürliche Scheidung durch die Sprache zum
Maßstabe. Nur sie schien zuverlässig auch für die Zukunft zu sein, während
die täglich wechselnde Gestaltung der politischen Karte Europas und ganz be¬
sonders die hauptsächlichste Ursache dieser Veränderungen, das Nationalitätsprinzip
innerhalb der noch nicht sprachlich geeinigten Staaten, die von Sprachkämpfen
entweder akut oder schon chronisch durchzuckt werden, für die obige Berechnung
keine dauernde Grundlage verhieß. War es da ein Wunder, daß eine allgemeine
Bewegung entstand, um die Zahl der eignen Volksgenossen straff bei einander
zu halten, Zersplitterungen vorzubeugen, sie vielleicht sogar durch künstliche
Adoptionen und Zuchten zu vermehren?
Eine der merkwürdigsten Erscheinungen, die schon viele Jahrhunderte dauert,
ist es nun, daß von den Völkern, die bei einem solchen Wettstreite als
kämpfende Gegner in Betracht kommen können, kein einziges der Ehre so vieler
Feinde sich rühmen darf, wie das deutsche. Ob diese Thatsache rein aus der mitt¬
leren Lage unsers Volkes erklärt werden muß, die es mit sich brachte, daß Gesamt¬
deutschland von allen europäischen Staaten die meisten Staaten und die meisten
Völkerschaften zu Grenznachbarn hat, oder ob nicht vielleicht doch die deutsche
Kultur oder wenigstens die Art und Weise der Übertragung derselben ein herbes,
unverdauliches Etwas in sich birgt, das auf die Dauer dem selbständig gewordenen
Kostgänger nicht behagen kumm, diese Frage will ich hier nicht untersuchen, ob¬
wohl sie des Fleißes und der Denkkraft des größten Forschers wert wäre. Die
Thatsache ist aber da und zeigt sich nicht nur in den Vorländern, die sich um
das jetzige deutsche Reich lagern, besonders in Österreich, sondern auch in Deutsch¬
land selbst, in den polnischen Landesteilen und selbst bei einem so unbedeutenden
Völkchen, wie es die Wenden sind. Faßt man den Begriff der germanischen
Länder noch weiter, so erblicken wir sogar dieselben heftigen Kämpfe auch inner¬
halb der deutschen Völkerfamilie, nicht nur zwischen Vetter und Vetter, nämlich
Deutschland und Dänemark, sonder» auch zwischen leibhaftigen Brüdern,
Schweden, Norwegen und Dänemark.
Gesetzt aber den Fall, die Allmutter Germania hätte ihre Kinder bloß
gegen die wirklichen äußern Feinde zu verteidigen, wie weit und schier unerme߬
lich dehnt sich auch da der Kampfplatz ausi Keine andre Mutter hat so viele
kräftige Söhne in fremdem Hause in Diensten, keiner werden sie so erbittert
verfolgt und entrissen wie ihr! Im Nordosten des Reiches fängt die Drangsal
bei den Russen an und setzt sich durch Polen und Litauen bis nach Österreich
fort, wo die Tschechen, Slovenen, Magyaren und Italiener um die Wette den
großen Nachbar zerzausen. Den Franzosen im Westen ist zwar seit 1870 eine
derbe Lektion geworden, aber es scheint noch lange nicht, als ob diese für ewige
Zukunft genügenden Schutz gewährte. Brauche ich «och zu erwähnen, das;
deutsche Landeskinder auch außerhalb dieses riesigen Kreises, in Siebenbürgen,
Groß- und Kleinrußland, in beiden Amerika, kurz überall, wo überhaupt nur
Menschen leben können, in achtunggebietender, zugleich aber auch ausgiebigen
Schutz rechtfertigender Anzahl zerstreut sind, und brauche ich, als Deutscher zu
Deutschen sprechend, erst gründlich zu beweisen, daß wir keinen von diesen auf¬
geben dürfen?
Welches gesetzlich erlaubte Mittel könnte aber die Rettung und Erhaltung
dieser vom Schicksale der Entdeutschuug bedrohten so gründlich und doch so
schnell, so energisch und doch so sanft, so leicht und — so billig bewerkstelligen
wie die Gewährung des deutschen Schulunterrichtes? Gerade die fremd¬
sprachige» Schulen, in welche die Kinder von Tausenden unsrer deutschen Aus¬
wanderer geschickt werden mußten, haben in Amerika und anderswo die er¬
schreckend schnelle Entfremdung der zweiten Generation herbeigeführt, sodaß der
Sohn eines deutschen Ansiedlers sich schon nicht mehr als Deutscher, sondern
als Angloamerikaner fühlte und gelten wollte. Millionen sind uns dadurch
verloren gegangen und andern zugewachsen. Es war die höchste Zeit, daß wir
anfingen, uns dieses Nachteiles bewußt zu werden und dieselbe Erfahrung einmal
zu Gunsten unsers Volkstumes zu verwerten. Hierzu wurde in Österreich, und
zwar im deutschen Teile dieses Landes, der erste bewußte Schritt gethan durch
die Gründung des „Deutschen Schulvereins."
Ich sage, der erste Schritt, und bin mir dabei wohl bewußt, daß schon
früher gerade auch in Österreich Kaiser Josef II. die deutsche Sprache ge¬
waltsam und überall zur Herrschaft bringen wollte, daß der ganze Nordosten
Deutschlands nichts andres als germanisirtes Land ist, von ähnlichen Wand¬
lungen bei andern Völkern ganz zu schweigen. Solche Thatsachen vollzogen
sich aber entweder ganz unbewußt, als einfache Folgen der Überlegenheit deutscher
Gesittung, oder sie wurden zwar von den Fürsten mit vollem Bewußtsein ins
Werk gesetzt, gingen aber aus bloßen Verwaltungsrttckstchten hervor. Eine
volkstümliche, von den Regierungen nicht nur unabhängige, sondern von ein¬
zelnen sogar angefeindete Bewegung, welche aus der reinsten Schwärmerei für
den Wert, die Schönheit und Würde des angebornen Volkstumes hervorgegangen
ist und schließlich wegen ihrer hohen politischen Bedeutsamkeit auch die kühleren
Stammesgenossen fortgerissen hat, ist erst durch die Gründung dieses ersten
Schulvereines entstanden, und gerade Österreich bot die Bedingungen für
eine begeisterte Teilnahme sämtlicher deutschen Volkskreise, so weit sie nicht
durch höfische Furcht oder pfäffischen Sinn für das Deutschtum verloren ge¬
gangen sind.
Denn in Österreich sind es nun schon neun Jahre her, daß eine Mehrheit,
bestehend aus der Verbindung aller deutschfeindlichen Elemente, das Nuder des
Staates im Besitze hat und im Vollgefühle der Macht lustig darauf hin¬
arbeitet, daß die Steuer- und geisteskräftige Minderheit der liberalen Deutschen ans
ihrer gebietenden Stellung für immer verdrängt werde, was erstere, mit bitterstem
Schmerze sei es gesagt, niemals erreichen könnte, wenn nicht auch ein großer
Teil der Deutschen selbst, die Ultramontanen, und einige „Auchdeutsche" zur
Bekämpfung des eignen Volkes hilfreiche Hand böten. So ist im Laufe der
Jahre ein Bollwerk nach dem andern in die Hände der Gegner gefallen, Land¬
tage, Handelskammern, Wahlbezirke, Rechtspflege und viele kleinere, aber nicht
minder wichtige Stellungen der Deutschen sind den Tschechen, Slovcnen und
Italienern überliefert worden. Vor allem aber soll die Jugend, wo immer sie
in gemischten Bevölkerungen aufwächst, zum Dienste des künftigen Slawenreiches
tauglich gemacht werden. Kein einziges Kind, dessen Eltern nicht ausgesprochen
deutsch fühlen, soll dem „Mütterchen" Slavia entzogen werden. Daher die un¬
zähligen tschechischen und slowenischen Schulgründungen mitten im deutschen Ge¬
biete, die auf Kosten der deutschen Gemeinden gesetzlich errichtet werden mußten,
sobald ein fünfjähriger Durchschnitt ergeben hatte, daß von mindestens vierzig
Kindern die Eltern, in den meisten Fällen freilich die terroristischen Beherrscher
derselben, den Unterricht in tschechischer u. s. w. Sprache erteilt wissen wollen.
Eine friedliche und für die „armen Opfer" selbst nur ersprießliche Kulturmission
der deutschen Schule wurde hiermit lahm gelegt. Die letztere hatte aber auch
bald ihren eigensten Besitz gegen wütende Angriffe zu verteidigen.
Wie es nämlich im geschlossenen Sprachgebiete der Deutschen zahlreiche
Niederlassungen tschechischer u. s. w. Handwerker und Arbeiter giebt, so sind auch,
und zwar in noch höherm Grade, die Deutschen als Ärzte, Lehrer, Fabrikanten
und in andern hervorragenden Stellungen über das ganze nichtdeutsche Land
zerstreut, bilden hier ganze Sprachinseln, wie Iglau in Mähren, Gottschee in
Krain, und dort wieder, besonders in den Städten, kleinere oder größere deutsche
Gesellschaftskreise. Während diese nun in früherer Zeit ganz selbstverständlich
die geistige Führerschaft besaßen und trotz ihrer geringeren Zahl in Schule und
Amt deutsche Sprache und deutschen Geist walten ließen (was, beiläufig gesagt,
für Österreich das einzige staatserhaltende Mittel bedeutet), sahen sie sich durch
das neu erwachte nationale Leben der Gegner um allen Einfluß gebracht, ohne
daß sie an allen Orten Einrichtungen geschaffen hätten, die ihnen die Pflege
ihrer deutscheu Stammesangehörigkeit auf die Dauer gesichert hätten, besonders
also festbegründete deutsche Schulen. Da aber der Terrorismus einer slawischen
Mehrheit viel heftiger und roher auftritt als in rein deutschen Gemeinden, da
ferner die slawisch gewordenen Lcmdesschulrüte, z. B. in Böhmen, nicht immer
deutschen Schnlforderungen gegenüber dasselbe Entgegenkommen bewiesen wie
etwa slawischen, und da es auch viele deutsche Niederlassungen giebt, die, aus
armen Gewerbsarbeitern oder Ackerbürgern bestehend, für die Mittel zur
Gründung und Erhaltung einer Schule gar nicht aufkommen können, so war
eine große Anzahl von deutschen Mitbrüdern der Gefahr des Aufgehens in
fremden Nationalitäten umso mehr ausgesetzt, als wir Deutschen ja leider in
solchen Lagen viel eher unterliegen als andre. So war denn die Zeit reif ge¬
worden, wo ans dem Volke selbst der Ruf nach Hilfe erklang und gehört wurde.
Im Sommer 1880 wurde der „Deutsche schütteren" ins Leben gerufen, mit
dem Zwecke, der deutschen Jugend auch in sprachlich gemischten Ländern, ins¬
besondre an den deutschen Sprachgrenzen, deutsche Art und Sitte durch das
Mittel einer deutschen Schule zu bewahren.
Den riesigen Aufschwung, den dieser Verein trotz aller Anfeindungen bei
Hoch und Niedrig in wenigen Jahren genommen hat, brauche ich nicht näher
zu beleuchten, denn er ist weltbekannt. Es genüge die Thatsache, daß er am
Ende des Jahres 1887 an 1200 Ortsgruppen mit ungefähr 120 000 Mit¬
gliedern zählte, daß er seit seiner Gründung die Summe von mehr als 1200000
Gulden im Interesse der deutschen Schule ausgegeben und außerdem ein Stamm-
Vermögen von 170000 Gulden angesammelt hat. Wie viel Gutes er schon ge¬
schaffen hat, läßt sich gar nicht ermessen, denn dies gehört ja seiner Natur
nach zu den „Imponderabilien"; aber es ist doch noch eine weite Strecke bis
zu dem idealen Ziele zurückzulegen, welches erst dann erreicht sein wird, wenn
von den acht Millionen Deutschen der westlichen Reichshälfte ein jeder seinen
Pflichtguldeu als Mitglied entrichtet. Dann wird der Verein auch eine Macht
sein, mit welcher der Staat und seine Lenker zu rechnen haben, mehr noch als
jetzt, wo es Hindernisse über Hindernisse zu überwinden giebt, die meistens auf
vermeintliche politische Regungen des Vereins, welche ihm gesetzlich verboten
sind, gegründet werden. Allerdings sollte die Thätigkeit des Schulvereins nur
eine bildende sein, und im Lichte reiner Menschlichkeit betrachtet, ist sie auch
nichts andres; wie aber kann in einem Staate, dessen Politik mit dem Dilemma:
„Deutsch sein oder slawisch sein" gekennzeichnet ist, von einem Vereine verlangt
werden, daß er irgend eine nationale Maßregel treffe, die nicht zugleich eine
Politische ist? Es ist wahrhaftig ein Glück, daß die Oberleitung des „Deutschen
Schulvereins" seit Jahren von Männern geführt wird, die Weisheit und Be¬
sonnenheit nicht minder besitzen als glühende Liebe zum deutschen Volke, sonst
wäre das unbequeme „Ncbenkultnsministerium" wohl schon längst seiner Wirk¬
samkeit beraubt worden.
Eine echt deutsche Eigentümlichkeit ist es, daß auch in dieser so notwendigen
und ersprießlichen Vereinigung die Eintracht, die gerade jetzt für die Deutschen
in Österreich erstes Erfordernis sein sollte, in der mutwilligsten Weise gestört
wurde durch die Sezession eines großen Bruchteiles der Mitgliedschaft die'
es mit ihrem Antisemitismus nicht für vereinbar hielten, daß der Schulverein
seine Unterstützung auch einzelnen jüdischen Privatschulen angedeihen läßt, weil
gerade diese, zumal in Mähren, mitten unter slawischen Bevölkerungen die ein¬
zigen Bewahrer deutscher Sprache und Bildung von altersher sind. Die Anti¬
semiten bildeten einen eignen „Schulverein für Deutsche," der satzungsgemäß
dieselben Ziele anstrebt wie der Musterverein, von seinen Wohlthaten aber, wie
auch von seinen Pflichten, jeden Nichtarier ausschließt. Die Hauptmasse der
Anhänger des neuen Vereins ist in den Alpenländern, besonders in Steiermark,
zu finden, dessen Hauptstadt Graz auch der Sitz der Hauptleitung ist; schon
aus dieser geographischen Lage erhellt, daß seine Thätigkeit hauptsächlich dem
südslawischen Boden gewidmet sein muß, und das ist eine Entlastung für den
alten Verein, der nunmehr umso kräftiger die nördlichen Gebiete beschützen
kann. Der „Schulverein für Deutsche" wurde im Jahre 1886 gegründet, zählt
jetzt an dreihundert Ortsgruppen mit einer Einnahme von 25000 Gulden,
von welchen aber nach den letzten Ausweisen nur etwa 5000 Gulden für Schul¬
zwecke ausgegeben werden.
Noch wäre ein älterer Verein in Österreich zu erwähnen, der zwar nur
einen beschränkten Wirkungskreis gewählt, in diesem aber schon seit Jahrzehnten
viel segensreiches geschaffen hat, nämlich die „Deutsche Schulgesellschaft" in
Innsbruck, begründet im Jahre 1867 auf Anregung des gelehrten Professors
Dr. Ignaz Zingerle. Trotz geringer Hilfsmittel ist es dieser Gesellschaft ge¬
lungen, der zunehmenden Verwälschung in Südtirol durch unermüdete Förderung
des Deutschtums in den hier merkwürdig zersplitterten Grenzgebieten Einhalt
zu thun, und der einsichtsvolle Berechner zukünftiger Staatenverhältnisse wird
die Wichtigkeit gerade dieser deutschen Vorwande an der Adria (bekanntlich sind
Neste deutscher Bevölkerung noch auf italienischem Gebiete bei Treviso u. s. w.
vorhanden) nicht verkennen und jenen vaterlandsliebenden Männern den Dank
des ganzen Volkes in Aussicht stellen können.
Der „katholische Schulverein" ist nicht unter die nationalen Verteidigungs¬
anstalten zu rechnen, denn er verfolgt ausschließlich römisch-klerikale Zwecke.
Ich nenne ihn hier nur deswegen, weil ich des alten Elendes unter den Deutschen
gedenken muß, daß sie von jeher ihre Haut für andre zu Markte getragen
haben. Mit seinem stattlichen Vermögen von mehr als 20000 Gulden, welches
aus den Taschen deutscher Alpenbewohner entnommen ist, könnte so manche
gute nationale That verrichtet werden, während es leider nur allzu wahr ist,
daß der freisinnige deutsche Bürger in Österreich mit seinen nationalen Feinden
noch eher Pallirer kann als mit dem eignen, dieselbe Sprache redenden Klerus.
Umso jubelnder wurde daher die Nachricht begrüßt, die im Sommer des
Jahres 1881 in die Ostmark getragen wurde. Durch die Bemühungen einiger
edeln Patrioten war der „Allgemeine Deutsche Schulverein" ins Leben gerufen
worden, und zwar im Haupt- und Stammlande der Deutschen selbst, wo vier-
undvicrzig Millionen Deutsche nebeneinander wohnen, und wo deutsch fühlen
und deutsch sprechen nicht nur nicht für staatsgefährlich angesehen wird, sondern
sogar die einfachste und erste Pflicht jedes Staatsbügcrs ist. Erst hier wird
es also möglich werden, dem Schulvereinsgedauken eine solche Tragweite zu
geben, daß große und dauernde Ergebnisse aus ihm hervorsprießen können;
denn indem er die Zahl der Beisteuernden um das Fünffache erhöht, wovon er
freilich jetzt uoch entfernt ist, erweitert er das Gebiet der Unterstützungs¬
bedürftigen höchstens um das Doppelte. Er kann daher, sobald er die ideale
Größe erreicht hat, mit Grund hoffen, daß auch wirklich kein einziges ver¬
sprengtes Glied des großen deutschen Volkes seiner Mutter verloren gehen wird.
Welche Früchte hätten solche Bestrebungen schon jetzt getragen, wenn sie schon
seit Jahrzehnten über dem ganzen Erdkreise wirksam gewesen wären! wie mancher
so schnell verlorene Pionier bildete jetzt, mit andern um das deutsche Schul¬
haus geschart, den hoffnungsvollen Keim für künftiges Reichsland, während er
jetzt entweder schon selbst oder in seinen Kindern zum Russen, Engländer,
Ungar u. s. w. geworden ist, vielleicht sogar zum schnödesten Hasser des eignen
Vaterlandes!
Die bisherigen Erfolge des Vereins sind schon sehr achtungswerte zu
nennen, denn die Mitgliederzahl hat schon längst 20 000 überschritten, und die
Jahreseinnahme der Zentrale weist etwa 40000 Mark auf, wozu noch die
Unterstützungen der Ortsgruppen selbst mit 60000 Mark gezählt werden müssen.
Allerdings sind das kleine Zahlen im Verhältnisse zu dem großen deutschen
Volke, aber sie wachsen mit jedem Jahre in geometrischer Progression, besonders
durch das glänzende Beispiel des Königreichs Sachsen, dessen Landesverband
beinahe die Hälfte sämtlicher Mitglieder und Beiträge aufweist. Die akademische
Jugend hat dem Schnlvereine besonders Fürsorge zugewendet, und wer
könnte da zweifeln, daß dieser edeln Sache noch eine reichere Zuknifft erblühen
werde?
Unter den Ländern, welche der Schulverein mit seinem mütterlichen Schutze
bedenkt, ragt natürlich Österreich-Ungarn und in diesem Reiche wieder das Volk
der siebenbürger Sachsen und Banaler „Schwaben" hervor. In den russischen
Ostseeprovinzen ist ein unmittelbares Eingreifen leider unmöglich; dagegen sind
in Finnland und England, Bosnien, Bulgarien, Serbien, der Türkei, Rumänien,
Kleinasien, Ägypten, Kapland, Brasilien und Australien wirksame Schritte ge¬
than worden. Und wenn die genannten Schulvereine bisher nur das eine Er¬
gebnis aufzuweisen hätten, daß, durch ihr Beispiel angeregt, ähnliche Vereinigungen
in allen Teilen der Welt entstanden sind, so wäre dies schon eine rühmliche
That zu nennen. Welch hoffnungsfreudiger Blick eröffnet sich da dem Vater¬
landsfreunde!
Im Jahre 1881 entstand der Münchner „Verein zum Schutze deutscher
Interessen im Auslande," und bald darauf folgte ein zweiter mit gleichem Ziele
zu Würzburg. In derselben Zeit wurde in Frankfurt ein „Verein zur Unter¬
stützung deutscher Schulen im Auslande" begründet, im Jahre 1882 der
„Schweizerische Schulverein" zu Zürich, im Jahre 1885 der „Nationale deutsch-
amerikanische Schulverein" in Chicago, 1886 der Newyvrker „Verein zum
Schutze deutscher Kultur," der „Deutsche Schulverein" zu Porto Alegre in
Brasilien und wohl noch andre mehr, deren Namen ich bisher nicht habe er¬
fahren können. Es schwellt uns die Brust mit hoher Freude, wenn wir lesen,
daß der deutsch-amerikanische Lehrertag die Zahl sämtlicher deutscheu Schulen
in den Vereinigten Staaten mit 2364, die der Lehrer mit 6779 und der Schüler
mit 430465 angiebt! Dazu die unzähligen deutsche» Gesangs- und Gcselligkeits-
vereine, die Turnvereine, Auskunftsvereine, deutsche Spitäler und so viele andre,
hier gar nicht aufzuzählende Anstalten! Wahrlich, der große deutsche Krieg der
Heilsjahre 1870/71 ist unberechenbar in seinen Wirkungen gewesen, und allent¬
halben reift aus dem kostbaren Blute seiner Toten die herrlichste Saat.
Kamerun, Guinea und das Hinterland von Sansibar sind kleine, kleine Stationen
gegen das, was noch die Zukunft birgt, wenn wir sie weise vorzubereiten ver¬
stehen. Und hierzu gehört vor allen Dingen die werkthätige Unterstützung der
Bemühungen unsrer Schulvereine. (Schluß folgt.)
in vortreffliches Buch, das an einen bedeutenden und trotz seiner
Irrtümer vorzüglichen und liebenswürdigen Menschen erinnert,
ein Lebensbild, das zugleich das Bild einer Zeit und einer Ent¬
wicklung heraufbeschwört, die wir glücklich überwunden haben,
aber nicht vergessen wollen und sollen, liegt in Theodor Alt¬
haus, einem Lebensbilde von Friedrich Althaus (Bonn, Emil Strauß, 1888)
vor uns. Das Buch erscheint insofern zur rechten Stunde, als, wie die Vor¬
rede richtig hervorhebt, „die Größe des in unserm Vaterlande vollzogenen
Umschwunges dem Rückblick ans die Ereignisse und die Vertreter jener früher
durchlaufenen vorbereitenden Entwicklungsphasen ein neues Interesse verleiht.
Und einen würdigenden Rückblick scheint Theodor Althaus in jedem Siime zu
verdienen, denn er war zugleich ein völlig moderner und ein von Grund aus
deutscher Charakter. Theolog, Dichter, Politiker, Patriot, Märtyrer für seine
Überzeugung, tritt er hervor als eine der interessantesten Charaktergestalten
der merkwürdigen Übergangsepoche der Hoffnung, der Erfüllung, der Enttäuschung,
Welche durch die Jahre 1840—50 bezeichnet wird, während die Tiefe seines
Wesens in Ideen wurzelte, die an keine Grenze der Zeit gebunden sind." Ob¬
wohl es die Pietät eines überlebenden Bruders, des Verfassers der Biographie,
ist, welche diese Worte diktirt. so wird doch niemand, der sich von dem klar,
maßvoll und vornehm geschriebenen Buche anziehen läßt und aus den Schilde,
rnngen, die Friedrich Althaus entwirft, aus den Briefen und Briefbruchstücken,
die er mitteilt, einen lebendigen Eindruck von dem Wesen des früh verstorbenen
Theodor Althaus empfängt, der Grundcharaktcristik widersprechen. Eine der
interessantesten und, setzen wir hinzu, eine der edelsten, gewinnendsten Cha¬
raktergestalten der vormärzlichen Zeit und der revolutionären Gährung der
letzten vierziger Jahre, eine Natur, der es wohl zu gönnen gewesen wäre, daß
sie ungebrochen durch Schicksale, unverbittert und unverkümmert durch ein Exil
in England oder Amerika, die großen Ereignisse von 1866 und 1870 erlebt
hätte. Es zienit sich nicht, in die Seele und die Bildung eines längst ge¬
schiedenen eigne Überzeugungen und die Anschauungen unsrer Tage hineinzutragen.
Aber dies gilt nach beiden Seiten, und so wenig der national gesinnte Konser¬
vative von heute einen unmittelbaren Anspruch auf Theodor Althaus erheben
kann, so wenig hat der „Fortschritt" von heute ein unmittelbares Anrecht ans
ihn. Wenn wir uns Abstammung, Entwicklungsgang, ethische Lebenshaltung,
innerstes Wollen dieses eigentümlichen Schriftstellers, die verheißungsvolle, tragisch
schöne Laufbahn des als Dreißigjähriger in ein frühes Grab gesunkenen ver¬
gegenwärtigen, so überkommt uns dennoch die Zuversicht, daß dieser ernste Geist
heute die Hauptsehnsucht seines Lebens nach der Einheit Deutschlands erfüllt
sehen und an der ernsten Arbeit für den Ausbau des Geschaffenen willigen
und treue» Anteil nehmen würde. Doch das alles dürfen wir dahingestellt
sein lassen. In Theodor Althaus, wie er war, haben wir einen der Ausnahme-
menschen vor uns, die in allen Perioden selten, durch den Ernst, die Tiefe,
die Reinheit und den Schwung ihres Wesens auch ihren politischen oder litte¬
rarischen Gegnern Achtung, ja Bewunderung abnötigen. Frei von aller Eitel¬
keit, Selbstsucht, Frivolität, frei von dem einseitigen Fanatismus der achtund-
vierziger Demokratie, frei von der Lust am Zerstören und von jener wilden
Verachtung der Bildung, durch die sich ein großer Teil seiner Partei hervor¬
zuthun vermeinte, war Theodor Nlthaus eine durchaus ideale, eine lautere Natur,
die durch die Verkettung der Verhältnisse in die revolutionären Bewegungen von
1849 hineingezogen ward. Als Herausgeber der „Zeitung für Norddeutschland"
zu Hannover erließ er im Mai 1849 einen Aufruf zur bewaffneten Erhebung
für die von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossene, von einem großen
Teile der deutschen Regierungen schon anerkannte Reichsverfassung. Er genügte
damit einem innern Drange seines Wesens, die Dinge zum Abschluß zu bringen.
Auch wäre der „Abschluß" — ein Jahr und ein Tag Staatsgefängnis für
diesen Akt des Hochverrats — noch eine verhältnismäßig leichte Buße ge-
Wesen, wenn der jugendliche Mann nicht aus dem Gefängnis eine Schädigung
seiner durch Arbeit und leidenschaftliche Anspannung schon zuvor geschwächten
Gesundheit davongetragen hätte, die nicht ganz zwei Jahre später seinen
Tod herbeiführte. Den Entschluß, die Althaus nach seiner Freilassung für sich
gefaßt hatte: in ernster wissenschaftlicher Thätigkeit das nächste Jahrzehnt zu
verbringen, würde er durchgeführt haben, und nur der Zweifel könnte uns be-
schleichen, ob man ihm irgendwo unter den unglücklichen Umständen der Zeit
die Ruhe zu solcher Thätigkeit gegönnt haben würde. Denn zum Fluch so
leidenschaftlicher Kämpfe, wie der damaligen, gehört es ja auch, daß die siegende
Partei — zunächst wenigstens — die Unterscheidung bei ihren Gegnern ver¬
lernt und blindlings dreinfcihrt.
Aus dem besten Kern des deutschen Wesens und der deutschen Bildung
war der jugendliche Schriftsteller erwachsen, dessen kurze Entfaltung und Wirk¬
samkeit uns der überlebende Bruder schildert. Wer die Schicksale von Theodor
Althaus und die wenigen Bücher desselben von obenher und obenhin betrachtet,
mag leicht aburteilen: ein Tendenzdichter und Tendenzlitterat der vierziger Jahre.
Seine Gedichte, seine „Märchen aus der Gegenwart," sein Buch „Aus dem
Gefängnis" passen unter den Begriff der damaligen Tendenzschriftstellerei. Und
doch lebte und lebt ein Etwas in ihnen, ist ein Zug in diesen Schicksalen,, ein
geistiger Hauch in diesen Büchern, der sie von dem erwähnten Gesamtbegriff
scheidet. Das Rätsel erklärt sich, sowie wir Althaus durch seine Knaben- und
Studentenjahre begleiten. Geboren zu Detmold im Oktober 1322, war er
der erste Sohn des Predigers und nachmaligen Generalsuperintendenten des
Fürstentums Lippe Georg Friedrich Althaus aus dessen Ehe mit Julie Drösele,
der Tochter des gefeierten protestantischen Kanzelredners, des Hauptpastors an
Se. Ansgarii in Bremen und spätern Bischofs der Provinz Sachsen. Er besaß
ein Elternhaus, in dem es weder an der äußern Enge, um idyllischem Be¬
hagen, noch an weitem Wcllhorizont fehlte, er empfing früh unvergeßliche Ein¬
drücke der Liebe, der Tüchtigkeit, der reinsten Bildung. Beide Eltern waren
tief religiöse Naturen, der Vater mit frei aufgeschlossenem Sinn, die Mutter
mit gläubig hingebender Wärme des Gefühls. Jeder Tag hatte seine Morgcn-
nndacht. Festtage in stiller Sammlung waren besonders die Sonnabende und
Sonntage, wenn der Vater mit der Vorbereitung zur Predigt beschäftigt war
und die Mutter sorgte, daß so viel als möglich jeder störende Lärm in und
außer dem Hause vermieden wurde. Ebenso war sie stets liebevoll bemüht, das
Bild ihres eignen verehrten und geliebten Vaters bei ihren Kindern lebendig
zu halten. Ihre Erzählungen von dem Leben des Großvaters Drciseke, be¬
sonders aus den frühern Zeiten, als er in Mölln und Ratzeburg Prediger
war, aus den Zeiten nach der Schlacht bei Jena, als sein Haus geplündert
wurde und er selbst von einer Abteilung Franzosen, die von Hamburg abge¬
schickt war, um den kühnen Prediger gegen die Unterdrücker des Vaterlandes
zu verhaften, die Flucht ergreifen mußte, dann feine Übersiedelung nach Bremen,
seine großartige Wirksamkeit dort, endlich seine Ernennung zum Bischof der
Provinz Sachsen — alles dies gestaltete sich zu einer bilderreichen Familien-
legendc, einem nie versiegenden Quell des Interesses für das heranwachsende
Geschlecht. Unter diesen Einwirkungen war es natürlich, daß Theodor Alt¬
haus den Entschluß faßte. Theologie zu studiren, daß er diesen Vorsatz, wissen¬
schaftlich glänzend und vielseitig befähigt, beharrlich durchführte, obschon bereits
während der Universitätszeit starke Zweifel an seinem besondern theologischen
Beruf in ihm aufstiegen. Seine Studentenbriefe aus Bonn, Jena, wiederum
Bonn und endlich Berlin legen ebenso Zeugnis für die Redlichkeit seines Sinnes,
die männliche Offenheit seiner Natur, die entschlossene Arbeitskraft und die er¬
folgreiche Hingebung an seine Studien, als davon ab, daß der junge Mann von
den Bewegungen und der Gührung der Zeit mehr und mehr ergriffen ward.
Er vermochte sich der Überzeugung nicht zu erwehren, daß er kein gläubiger
Kandidat mehr sei, doch konnte er sich noch eine Wirksamkeit als Prediger auf
einem abgeschiedenen Dorfe denken, „um in die Herzen zu säen, die offen sind."
Als er jedoch Ostern 1844 in das väterliche Haus nach Detmold zurückkehrte
und die Zeit des Wartens auf eine solche Stellung mit Studien und litte¬
rarischen Arbeiten nutzbar und fruchtbar zu machen begann, mußte er sich offen
bekennen, daß er weiter und weiter nach links gegangen und dem Boden des
positiven Christentums weit entrückt sei. Ein Mensch wie er, vermochte niemals
zum flachen Religionsspötter, zu einem der damals auf allen Gassen pfeifenden
äußerlichen Nachbeter Heines oder Herweghs zu werden. Er war sich bewußt,
nach der Wahrheit zu trachten, und erkannte, daß Wahrheit nur in tiefster,
selbstlosester Hingebung an ein Ideales gewonnen wird. Er schrieb mit blutender
Seele in sein Tagebuch: „Es lautet für ein junges Menschenohr vortrefflich und
richtet das Haupt empor und gießt aus der tiefsten Seele einen Strahl ins
Auge, der Vorsatz: stets nach der Wahrheit zu suchen. Aber es ist etwas
Fürchterliches um den Zwiespalt, um die Angst in schlechten Momenten für den,
der die Wahrheit, die Wahrheit verkünden soll, und etwas mehr als Geist,
allgemeinen Gehalt, Liebe u. s. w. vorbringen muß. Wie unendlich glücklich
steht einem solchen, wenn er noch sucht, noch die feste Form und den harten
Kern nicht konsolidirt hat, der Mann des entschiednen Prinzips gegenüber, der
Mann des Glaubens, der nicht mehr zweifelt, sondern ein Ja und Amen ist!"
Da er dieser Mann nicht war, that er entschieden auf die Kanzel Verzicht und
widmete sich ausschließlich der Litteratur. Wenn zwei dasselbe thun, ist es
bekanntlich nicht dasselbe. Die Art, wie Theodor Althaus die gefährliche Lauf¬
bahn des Berufsschriftstellers betrat, entsprach dem innern Gehalt seines Wesens
und sicherte den auf seine Feder angewiesenen davor, ein Lohnknecht litterarischer
Industrie zu werden. Als sein Entschluß feststand, ging er Mitte 1847
nach Leipzig. Es war die Zeit, wo Leipzig vorübergehend ein Mittelpunkt der
liberalen politisch-litterarische» Zeitbewegung war, wo die von I. Kuranda be¬
gründeten „Grenzboten" die österreichischen Zensnrflüchtlinge um sich sammelten,
wo in Kühnes „Europa" das junge Deutschland noch einmal das große Wort er¬
griff, wo das Leipziger Stadttheater unter I)r. Schmidts Direktion, Laubes und
Marrs dramaturgischer Mitwirkung, einen außergewöhnlichen Aufschwung nahm
und die wichtigsten Dramen der Zeit in Szene setzte, wo die Sehnsucht uach
neuen Zuständen noch als eine einheitliche erschien und die großen Gegensätze,
die sie in sich barg, erst für sehr scharfblickende zu Tage getreten waren. Der junge
Detmolder empfand die Macht wie das Bedenkliche dieses geräuschvollen, viel¬
seitig angeregten Lebens. „Man steht hier — schrieb er seinem jüngern Bruder
Friedrich (dem Biographen) — einer ernsten Wirklichkeit gegenüber, in der es
doppelt wohlthut, das ewige Sein festzuhalten und den innern Kern des Lebens
nicht zersplittern zu lassen. Man sagt sich wohl manches voraus, aber wenn
es als Gestalt entgegentritt, ist der Eindruck doch ein andrer; man kann gegen
ihn zwar nur dieselben Mächte aufbieten, aber man muß es in einer durch die
Wirklichkeit bestimmten Weise thun. Hier ist viel Bewegung, aber noch mehr
Konkurrenz; viel Umgang, aber noch mehr Egoismus; viel Anregung, aber noch
mehr Zersplitterung. Ich weiß, ich werde mich retten aus dem Strome und werde
meinen Weg gehen, wie ich ihn als notwendig erkenne; er ist fürerst nicht der
der Poesie, sondern der des Studiums und des Lebens mit Menschen. Aber
das sag' ich dir: trotzdem, daß ich die Pforten jenes Tempels hier wohl schließen
werde, trotzdem, daß ich vor mir fürs erste eine entschieden praktische, von den
wirklichen Verhältnissen bestimmte Bahn sehe, du kannst nichts Besseres thun,
als das Beste, was du erkannt hast, was du glaubst, und selbst dein Heiligtum
des Geistes und der unendlichen, schrankenlos fordernden Liebe und Freiheit in
dir bauen und pflegen, dein Leben darin finden, diese Flamme nähren und
reinigen zum kühnste» Ideal, sodaß dies dir ewig unverlierbar bleibt. Es ist
der einzige Halt in diesem Wirbel, und wer ihn nicht hat, wer nicht mehr in
schweigendem Lapidarstil das Wort: Entsagung, Selbstüberwindung, in diesem
Tempel schreiben kann, der geht unter, wie unendlich viele untergehen, weil Er¬
werb und Genuß sie locken."
In der That gemahnen die feste Sicherheit, mit der Theodor Althaus sich
unter den Schriftstellern des damaligen Leipzigs auf die eignen Füße stellte,
die Frugalität und kluge Ruhe, mit der er seine volle Unabhängigkeit wahrte,
etwas an den jugendlichen Lessing. Das Jahr 1847 ging nicht zu Ende, ohne
daß Althaus seine „Märchen aus der Gegenwart" veröffentlicht hatte, ohne daß
er es in fleißiger Arbeit unternahm, einen gedrängten Abriß der Weltgeschichte
unter neuen Gesichtspunkten zu schreiben, und den ersten Teil dieses Buches ab¬
schloß. Aber die Zeit war gewitterschwül, und das Jauchzen, mit dem im Vor¬
jahre Theodor Althaus gleich Millionen die Erhebung der Sicilianer gegen den
wirklich grausamen bourbonischen Despotismus begrüßt hatte, weissagte die
Stellung, die er in den kommenden Monaten einnehmen sollte. Die Februar¬
revolution fand den jungen Schriftsteller bereit zur Arbeit und zu jedem Opfer
für seine Sache. Noch im März entschied sich, auf welchem Felde er seinen
feurigen Sinn und seine Hingebung an die Ideen der deutschen Einheit und der
Politischen Freiheit bewähren sollte. Ältere Verbindungen mit der „Weserzei¬
tung" und der „Bremer Zeitung" führten ihn nach Bremen und stellten ihm
die mißliche Aufgabe, inmitten der zwar republikanischen, aber im Grunde ge¬
nommen gut konservativen Hansestadt für das Programm der modernen Demo¬
kratie zu wirken. Als Redakteur der „Bremer Zeitung" trat er rttckhaltslos
und rücksichtslos, doch ohne einen Anhauch demokratischer Rohheit oder Läster¬
sucht, für die Souveränität der Frankfurter Nationalversammlung ein.
Um Althaus' ganze Entwicklung und sein Verhalten in dieser Zeit richtig
zu beurteilen, muß man sich nicht bloß der Gährung und elementaren Er¬
regung der Geister, sondern auch der Thatsache erinnern, daß er durch Geburt
und Erziehung einem der dürftigsten Kleinstaaten des alten deutschen Bundes
angehörte. Kein Bewußtsein, mit einem Staate verwachsen zu sein, der selbst
bei Schwachheit oder Thorheit seiner Regierung seine historische Stellung und
historische Aufgabe behielt, gab ihm im Sturme der Revolution Halt. Keine
nüchterne Erfahrung hielt den jugendlichen Politiker zurück, mitten im Kampfe
erst gewann er Einsichten und Aussichten, die ihm künftig hätten zu gute kommen
können. Nachdem auf seinen Rat und Betrieb die „Bremer Zeitung" zu Neu¬
jahr 1349 nach Hannover als „Zeitung für Norddeutschland" übergesiedelt
war (wo und unter welchem Namen sie bekanntlich noch jetzt fortbesteht), er¬
gaben sich die unvermeidlichen Konflikte zwischen dem Neichsgedanken und der
Zähigkeit des hannöverschen Partikularismus. Wie einsichtig, fest und klar,
man möchte sagen unbarmherzig klar, er zu dieser Zeit bereits geworden war,
verraten gewisse Vriefstellen aus dem Frühling 1849. „Am Dienstag sprechen
sie vielleicht noch über Deutschlands Schicksal in der Paulskirche. Auch dort
ist ein Todeskrampf, und ich bin ruhig wie der Arzt, der das hippokratische
Gesicht sieht, während der Kranke noch immer seine Hoffnung nicht aufgeben
mag. Wir haben diese Enttäuschung nötig, und da wir unser Herz ja am Ende
nicht an die Poesie des raschen Werdens, sondern an das Werden der Sache
gehängt haben und kein Strohfeuer auf unserm Herde brennt, so können wir
ja unsre Seelen in Geduld fassen. Wenn ich sehe, wie wenig Tüchtiges ge¬
schieht, habe ich mir schon oft gesagt, es wäre doch gut, hätten wir noch so
ein paar Jahre das langsame, geistige Wühlen forttreiben können; die Sache
ist uns zu rasch gekommen, und die Gebildeten sind noch zu roh. Nun werden
wir die Muße ja bald auf eine Zeit haben, wenn nicht noch einmal von außen
das Unbercchnete und Unerhörte geschieht." Und noch glücklicher als diese Er¬
wägung lautet die Erkenntnis: „Vielleicht wirst du in den nächsten Tagen
in meiner Zeitung lesen, was nun aufgegangen ist. Es ist ein neues Leben
in Preußen, das seine Muskeln reckt und seine Hand ausstreckt nach dem Nuder
der Macht. Die Rede des Grafen Dyhrn ist sein — vielleicht nicht ganz be¬
wußtes — Programm. Der Trieb nach dem neuen Erkennen lenkt meinen
Blick jetzt zuerst nach Berlin, und nach Frankfurt ist es nur ein Rückblick."
Diese Einsicht hinderte jedoch nicht, wie schon erwähnt, daß Althaus es
als eine Pflicht ansah, Mitte Mai 1849 in seiner Zeitung zu bewaffnetem Ein¬
stehen für die Frankfurter Reichsverfassung aufzufordern. Ihm war ein Ab¬
schluß Bedürfnis — ein Abschluß auch mit den Träumen des Nevolutionsjahres.
Und wenn man nicht sagen kann, daß er sich in dem — wie er gern anerkannte —
überaus milden hannöverschen Staatsgefängnis selbst wiederfand (denn er
hatte sich, seine edle und reine Natur in allen Kämpfen und Krümpfen der
Zeit nicht verloren), so wirkte die verhältnismäßige Ruhe, die er in dem Jahre
seiner Haft gewann, die Rückkehr zu ernsten Studien und einem Lebensplan,
der seinen ursprünglichen Anlagen gemäßer war, durchaus günstig. Durch sein
Buch „Aus dem Gefängnis" zitterten wohl noch die Irrlichter des revolutio¬
nären Jahres, aber zugleich strahlt ein ruhig glänzendes Licht gerechter Hu¬
manität, reifer Anschauung und eines unverwüstlichen Glaubens an die Lebens¬
kraft des deutschen Volkes hindurch. Von der Verachtung, in der sich die zu
dreiviertel französisch gebildeten und in der demütigster Franzosenbewunderung
erwachsenen Jünger Börnes gefielen, ward ein Mann wie Althaus, eine so
echt deutsche Natur, kaum vorübergehend angefochten. Er hätte, wie gesagt,
eine reiche und große Zukunft haben können, wenn er gesund aus der Über¬
anstrengung des Revolutionsjahres und der allzu gegensätzlichen Enge des Ge¬
fängnisses hervorgetreten wäre. Er kehrte, noch der besten Hoffnungen und
Vorsätze voll, in das Vaterhaus nach Detmold zurück, wo er leider die geistes¬
klare und liebevolle Mutter nicht mehr vorfand; sie war Anfang 1849 gestorben.
Als er seines Zustandes inne wurde, galt natürlich seine nächste Sorge der
Wiedergewinnung der Verlornen Gesundheit. Aber weder die Seebäder von
Ostende noch die Kuren, die er in Gotha brauchte, hatten den gewünschten Er¬
folg, er schied aus dem Leben, ehe er in dessen Mitte angelangt war. Seine
„Gedichte," die edelsten und schönsten Zeugnisse seines Geistes und Wesens,
sammelte die Familie und ließ sie als Manuskript drucken, eine kleine Auswahl
daraus gelangte durch Adolf Sterns Sammelwerk „Fünfzig Jahre deutscher
Dichtung" in die Öffentlichkeit und aus diesem vielgeplünderten Buche heraus
in andre Anthologien. Es wäre an der Zeit, daß jetzt, wo eine liebevoll ein¬
gehende Lebeusdarstelluug erschienen ist und die Blicke wenigstens einer großen
Gemeinde auf Theodor Althaus zurücklenkt, diese eigentümlichen, vielfach an
Hölderlin und seine elegische Gedankendichtung erinnernden Gedichte nicht länger
zurückgehalten würden. Auch die „Märchen aus der Gegenwart" sind ein Buch,
das nicht vergessen werden darf. Dem Wesen und der Gesamterscheinung des
frühgeschiednen Dichters aber glauben wir schließlich nicht besser gerecht werden
zu können, als indem wir ein paar Stellen aus dem Briefe hierhersetzen,
mit welchem Theodor Althaus seiner frommen Mutter die „Märchen aus der
Gegenwart" sandte, einem Briefe, den Friedrich Althaus seinem ganzen Wort¬
laute nach mitteilt und von dem er ganz richtig sagt, daß wohl selten ein
schönerer, weihevollerer Brief von einem Sohne an seine Mutter geschrieben
worden sei. Er hätte hinzufügen können, daß eben dieser Brief eine unbeab¬
sichtigte Selbstcharakteristik des Schreibers einschließt, die ihn in ein verklärendes
und dennoch wahres Licht rückt: „Nimm mich in diesem Buch, liebste Mutter,
wie ich werde und wie ich lebe. Unsre Gemeinschaft ist darum mehr geworden
und geblieben als das Naturgefühl von deiner Seite und dankbare Erinnerung
von meiner Seite, sie ist mehr, inniger und echter dadurch geworden, daß du
es verstandest, aus meinen Worte», aus dem, was ich dachte und dichtete, den
einen Ton zu erkennen und in dich aufzunehmen, der dir und allen guten Herzen
verwandt und befreundet klingt. Und laß es mich jetzt wiederholen, wie froh
und dankbar ich stets das Glück empfinde, daß unser Verhältnis aus jener be¬
schränkten Sphäre, der die Welt und dein Sohn mehr und mehr entwachsen,
sich gehoben hat in die helleren, geistigen Kreise; daß die ewigen Gedanken,
welche die Menschheit bewegen, trennen und vereinigen, auch uns bewegt haben,
zwischen uns lebendig gewesen sind, auch uns getrennt und vereinigt haben.
Ich gebe wenig auf jene romantische Poesie, die in Momenten der Verlassen¬
heit sich mit Thränen und Träumen an das Mutterherz zurücksehnt, denn
es sind nur Momente und nicht das Leben, Momente der Schwachheit und
nicht der Kraft. Zu dir aber, du weißt es, komme ich nicht in solchem Sinn,
sondern dir teile ich mit, was mein Leben füllt, was kräftig in ihm ist; wenn
dein Bild vor mir steht, so empfinde ich neu, daß die Liebe die größte ist,
denn sie, und sie allein, hat dich den neuen Gedanken vertraut gemacht, hat
dir gegeben, was so vielen versagt ist: das Edle und Ewige in ihnen zu er¬
kennen und zu lieben. Meine ganze Seele lebt in dem großen Pulsschlag der
Geschichte dieser Gedanken in der Menschheit und ihrer Zukunft; aber wie schön
ist es auch, im engsten Kreise, in der häuslichen Umschränkung, in der Geschichte
der Eltern und der Kinder, im Verhältnis der Mutter zu ihrem Sohne ein
Moment aus diesem Weltleben zu empfinden, ein Spiegelbild des werdenden,
aufstrebenden Alls! Die Liebe zu dir hält das in mir wach und lebendig,
was andre in dem schweren Drange der Zeit so rasch vergessen: die Sanftmut'
die Freiheit, welche anerkennen kann, den milden Blick, der in so vielen Gestalten
und Welterscheinungen gern den Zug sieht, welcher das Gute und Wahre will
und auch aus Quellen, zu denen wir nicht mehr gehen, Wasser des Lebens und
der Liebe schöpft."
adame Otero verbrachte schon den siebenten Monat in Riva, um
sich in völliger Ruhe von den Nachwehen eines Halsleidens zu
erhole», das ihre Stimme bedroht hatte. Der Arzt hatte es ihr
streng befohlen, ein ganzes Jahr lang nicht zu singen, ja er
hatte ihr sogar jegliche Musik verboten, um sie nicht in Ver¬
suchung zu führen. Erst wenn das Jahr verstrichen wäre, wollte er ihr ge¬
statten, einen Versuch zu machen, und wenn sich dann herausstellte, daß sich
nicht die geringste Müdigkeit darnach bemerkbar machte, sollte sie als völlig
geheilt zu betrachten sein.
Ricks gewann eine Art bildenden Einflusses auf Madame Otero, die eine
heftige, feurige Natur war.
Es war ja für sie ein furchtbarer Schlag gewesen, als sie erfuhr, daß sie
ein ganzes Jahr in aller Stille hinleben sollte, fern von Bewunderung und
Vergötterung. Im Anfange war sie ganz verzweifelt gewesen und hatte wie
gelähmt vor Schreck in diese vor ihr liegenden zwölf Monate hinaus gestarrt,
als wären sie ein tiefes, schwarzes Grab, in das sie lebendig gelegt werden
sollte, sie hatte geglaubt, von allen Menschen darauf angesehen zu werden.
Das hatte sie nicht ertragen, und eines schönen Morgens war sie plötzlich nach
Riva entflohen. Sie hätte ebenso gut einen lebhafteren, besuchteren Ort wählen
können, aber das wollte sie gerade nicht. Sie schämte sich, wie gesagt, und es
war ihr zu Mute, als hätte sie ein äußeres Gebrechen, wegen dessen die Leute
sie bemitleideten und von dem sie mit einander sprächen. Darum hatte sie an
ihrem neuen Aufenthaltsorte jeglichen Umgang vermieden und meistens auf
ihren Zimmern gelebt, deren Wände viele Verwünschungen hinnehmen mußten,
Wenn ihr dies freiwillige Gefängnis allzu unleidlich wurde. Jetzt, wo die Ge¬
sellschaft auseinander geflohen war, tauchte die Dame wieder auf und kam so
mit Ricks Lyhne in Berührung, denn den einzelnen Menschen gegenüber war
sie durchaus nicht scheu.
Man brauchte nicht gar lange mit ihr zusammen zu leben, um sich darüber
klar zu werden, ob sie den Betreffenden gern hatte oder nicht, denn sie gab das
deutlich genug zu verstehen. Ricks Lyhne gegenüber war ihr Benehmen sehr
ermutigend, und beide hatten nur wenige Tage allein mit einander in dem
Prächtigen Hotelgarten mit seinen Granaten und Myrten, seinen Lauben von
blühenden Oleandern und seiner herrlichen Aussicht verlebt, als sie auch schon
recht vertraut geworden waren.
Von einem Verliebtsein war nicht die Rede, oder jedenfalls war es nicht
von Belang; es war eines jener unbestimmten, angenehmen Verhältnisse, die
zwischen Männern und Frauen entstehen können, die über die erste Jugend
hinaus sind, über das Aufflackern derselben, über ihr Sehnen nach dem unbe¬
kannten Glücke. Es ist eine Art fliegender Sommer: man lustwandelt zierlich
nebeneinander, sammelt sich selber die Blümchen seines Gemütsgärtchens zu
einem Strauße, streichelt sich selber mit der Hand eines andern, bewundert sich
selber mit den Augen eines andern. Alle die schönen Geheimnisse, die man
hat, alle die niedlichen, gleichgiltigen Dinge, die man aufbewahrt hat, alle die
Nippsachen der Seele werden hervorgeholt und gehen von Hand zu Hand und
werden prüfend in einem künstlerischen Suchen nach dem besten Lichte in die
Höhe gehalten, während man vergleicht und erklärt.
Natürlich hat man nur in den guten Stunden des Lebens Ruhe zu der¬
artigen Sonntagsverhältnissen, aber hier an dem herrlichen See hatten sie ja
Zeit genug. Ricks hatte das Verhältnis eingeleitet, indem er Madame Otero
durch Worte und Mienen mit einer kleidsamen Melancholie umgab. Im An¬
fange war sie mehrmals im Begriff, sich den ganzen Staat abzureißen und als
die Barbarin, die sie war, zum Vorschein zu kommen; als sie aber einsehen
lernte, daß die Melancholie sie vornehm kleide, ging sie darauf ein wie auf eine
Rolle und beschränkte sich nicht allein darauf, das Schlagen mit den Thüren
zu unterlassen, sondern sie forschte in sich selber nach solchen Stimmungen und
Rührungen, die zu dem neuen Gewände paßten, und es war erstaunlich, wie
sie nach und nach zu der Einsicht kam, daß sie sich selber doch nur unendlich
wenig gekannt habe. Ihr Leben war ja zu bewegt, zu wechselvoll gewesen, als
daß sie früher Zeit gesunden hätte, in sich selber aufzuräumen, und eigentlich
näherte sie sich ja auch erst jetzt dem Alter, wo die Frauen, die viel erlebt und
viel von der Welt gesehen haben, damit anfangen, ihre Erinnerungen zu be¬
wahren, auf sich selber zurückzublicken und sich eine Vergangenheit zusammen¬
zustellen.
Von dieser Einleitung aus entwickelte sich das Verhältnis schnell und be-
stimmt, und sie wurden einander ganz unentbehrlich. Man fühlte sich nur
halb, wenn man allein war.
Da geschah es eines Morgens, als Ricks aussegeln wollte, daß er Madame
Otero im Garten singen hörte. Er beabsichtigte im ersten Augenblicke umzu-
kehren und sie zu schelten; ehe er sich aber noch recht besonnen hatte, war er
schon außer Hörweite gelangt; außerdem war der Wind so verlockend zu einer
Fahrt nach Limone, und zu Mittag wollte er ja wieder zurück sein. So segelte
er denn davon.
Madame Otero war ungewöhnlich früh in den Garten gekommen. Der
frische Duft, der draußen herrschte, die runden Wellen, die so glasklar und blank
unter der Gartenmauer stiegen und sanken, und die ganze Farbenpracht auf
allen Seiten, der blaue See, sonnenbeleuchtete Berge, und Segel, die über die
Wasserfläche dahinschossen, und rote Blumen in Unmenge über ihrem Haupte,
alles das und dann ein Traum, den sie nicht vergessen konnte, der noch immer
in ihrem Herzen wogte — sie konnte nicht schweigen, sie mußte ihr Teil bei¬
trage» zu all diesem Leben.
Und so sang sie.
Voller und voller erklang der Jubel ihrer Stimme, sie berauschte sich an
ihrem Wohllaut, sie erzitterte in einem wohligen Gefühl ihrer Macht; und sie
sang weiter, sie konnte nicht inne halten, dazu trug es sie viel zu schön dahin
durch wunderbare Träume von zukünftigen Triumphen.
Es stellte sich auch keine Müdigkeit ein, sie konnte reisen, gleich reisen, die
ganze Nichtigkeit dieser Monate abschütteln und vorwärts kommen und leben!
Schon am Nachmittage waren alle Vorbereitungen zur Abreise getroffen.
Als der Wagen bereits vor der Thüre hielt, kam ihr plötzlich der Gedanke
an Ricks Lyhne. Sie zog ein kleines Schreibebuch, das sie in der Tasche trug,
hervor und schrieb es voll Abschiedsworte an Ricks Lyhne, denn die Blätter
waren so klein, daß auf einem jeden nur drei bis vier Worte stehen konnten.
Dann legte sie das Ganze in ein Kouvert und fuhr davon.
Als Ricks am Nachmittage — er war von der Gesundheitspolizei in
Limone aufgehalten worden — heimkehrte, war sie längst in Mori und auf der
Eisenbahn.
Er wunderte sich nicht, er war nur traurig, nicht im geringsten ärgerlich,
er hatte sogar ein leichtes, resignirtes Lächeln für diese neue Feindseligkeit des
Geschickes. Als er aber am Abend in dem leeren, mondhellen Garten saß und
dem kleinen Sohne des Wirtes die Geschichte von der Prinzessin erzählte, die
ihr Federgewand wiedergefunden hatte und damit fortflog, weit fort von dem
Geliebten, in das Land der Feen, da erfaßte ihn eine unsagbare Sehnsucht nach
Lönborggaard, nach einem Heim, das ihn umschließen, das ihn an sich ziehen
und ihn halten könnte, gleichviel wie. Er konnte die Gleichgiltigkeit des Daseins
nicht länger ertragen, das Gefühl, stets losgelassen, stets auf sich selber zurück
gewiesen zu werden. Kein Heim auf Erden, keinen Gott im Himmel, kein Ziel
draußen in der Zukunft! Ein Heim wollte er doch wenigstens haben; er konnte
durch Liebe zu seinem Eigentums sich ihn schaffen, diesen Fleck Erde, im großen
wie im kleinen, jeden Stein, jeden Baum, das Leblose wie das Lebende, sein
Herz zwischen dem allem teilen, sodaß es ihn nie wieder losließe.
Ungefähr ein Jahr lang hatte Ricks Lyhnc auf Lönborggaard gewohnt
und sein Gut, nach besten Kräften und soweit sein Verwalter ihm freie Hand
ließ, verwaltet. Er hatte sein Schild herabgenommen, die Devise ausgelöscht
und verzichtet. Die Menschheit mußte sich ohne ihn behelfen; er hatte das Glück
kennen gelernt, das die rein körperliche Arbeit gewährt, das Glück, ein Vor¬
haben unter den Händen wachsen zu sehen, wirklich fertig zu werden, sodaß man
fertig ist, und, wenn man ermüdet von bannen geht, zu wissen, daß die Kräfte,
die man zugesetzt hat, in einer Arbeit hinter einem liegen, daß die Arbeit
Bestand haben wird, daß kein Zweifel der Nacht sie verzehren, keine Kritik
einer nüchternen Morgenstunde sie vernichten kann. Bei der Landwirtschaft
gab es keinen Sisyphusstein zu wälzen.
Und dann das Gefühl, den Körper müde gearbeitet zu haben, der Genuß,
sich zur Ruhe zu legen und im Schlafe neue Kräfte zu sammeln, um sie wieder
bei der Arbeit zuzusetzen, regelmäßig wie Tag und Nacht auf einander folgen,
ohne daß die Launen des Gehirns störend dazwischen treten können, ohne mit
sich selber so vorsichtig umgehen zu müssen wie mit einer gestimmten Guitarre,
deren Schrauben abgenutzt sind.
Er war still glücklich, und oft konnte man ihn auf einem Zaune oder
einem Grenzsteine sitzen sehen, wie sein Vater einst gesessen hatte, und über den
goldnen Weizen oder den schweren Hafer hinstarrcn.
Noch hatte er keinen weitern Verkehr mit den Familien in der Umgegend
angeknüpft; das einzige Haus, wo er häufiger verkehrte, war das des Kanzlci-
rats Skinnerup in Varde. Der Kanzleirat war schon zu Lebzeiten von Ricks
Lyhncs Vater in die Stadt gekommen, und da er ein alter Universitätsfreund
desselben war, hatten beide Familien viel mit einander verkehrt. Skinnerup,
ein sanfter, kahlköpfiger Mann mit scharfen Zügen und sanften Augen, war jetzt
Witwer und hatte das Haus mehr als voll von vier Töchtern, von denen die
älteste siebzehn, die jüngste zwölf Jahre alt war.
Ricks unterhielt sich gern mit dem sehr belesenen Kanzleirat über allerhand
ästhetische Gegenstände, denn hatte er auch angefangen, seine Hände zu ge¬
brauchen, so war er doch deshalb nicht plötzlich zum Bauer geworden.
Er konnte auch die etwas komische Vorsicht wohl leiden, mit der er sich
notgedrungen ausdrücken mußte, sobald die Rede ans einen Vergleich zwischen
der dänischen und der ausländischen Litteratur kam, wie überhaupt wenn Däne¬
mark mit etwas verglichen werden sollte, das nicht dänisch war; denn es war
ganz notwendig, vorsichtig zu sein, der sanfte Kanzleirat war nämlich einer von
den guten, begeisterten Patrioten, die es damals gab, Menschen, die es mit ge¬
nauer Not eingestanden, daß Dänemark nicht die bedeutendste Großmacht sei,
die sich aber auf nichts einließen, was das Land selbst oder alles sonst irgend
dazu Gehörige auf einen andern Platz als an die Spitze hätte stellen können.
Was er bei diesen Unterredungen auch sehr gern hatte, jedoch ganz unbewußt
und ohne das geringste Gewicht darauf zu legen, das war, die strahlende Be¬
wunderung zu sehen, mit der ihm die Augen der siebzehnjährigen Gerda folgten,
sobald er sprach, und sie bemühte sich, jedesmal zugegen zu sein, wenn er da
war, und nahm so lebhaft Teil an allem, daß er häufig sehen konnte, wie sie
vor Entzücken errötete, sobald er etwas gesagt hatte, das ihrer Ansicht nach
besonders schön war.
Er war nämlich ohne jegliches Dazuthun von seiner Seite das Ideal
dieser jungen Dame geworden,' im Anfang wohl hauptsächlich deshalb, weil er,
wenn er in die Stadt ritt, einen ausländischen grauen Radmantel von ziemlich
romantischem Schnitt trug. Dann kam aber dazu, daß er immer Milano sagte
und nicht Mailand, und daß er so allein in der Welt dastand und einen so
schwermütigen Ausdruck hatte. Es war so vielerlei, worin er sich von allen
andern Menschen sowohl in Varde wie in Ningkjöbing unterschied.
An einem heißen Sommertage kam Ricks durch die kleine Straße, die
hinter dem Garten des Kanzleirats lag. Die Sonne brannte auf die kleinen
ziegelsteinbraunen Häuser herab, die kleinen Kutter, die im Fluß lagen, waren
mit Matten behängt, damit das Pech nicht aus den Fugen schmelzen sollte,
und rings umher waren alle Fenster geöffnet, um die Kühlung einzulassen, die
draußen nicht vorhanden war. Vor den offnen Hausthüren saßen die Kinder
und lernten ihre Lektionen laut und summten um die Wette mit den Bienen
oben im Garten, und ein Volk Sperlinge schwirrte schweigend von Baum zu
Baum, alle auf einmal hinauf und alle auf einmal wieder herab.
Ricks trat in ein kleines Haus, das an den Garten grenzte, und wurde
von der Frau, die zum Nachbar lief, um ihren Mann zu holen, in eine kleine,
zierliche Stube geführt, in der es nach Steifzeug und Goldlack roch.
Als er mit den Bildern an der Wand, den beiden Hunden auf der Kom¬
mode und den Muscheln auf dem Deckel des Nähkastens fertig war und ans
offne Fenster trat, hörte er Gerdas Stimme dicht neben sich, und siehe, da
standen die vier Fräulein Skinnerups in geringer Entfernung von ihrem Hause,
draußen auf dem Bleichenplatz des Kauzleirats.
Die Balsaminen und die andern Blumen vor dem Fenster verbargen ihn,
und er schickte sich an, zu lauschen.
Offenbar war eine Neckerei im Gange, und die jünger» Schwestern schienen
gemeinsame Sache gegen Gerda gemacht zu haben. Sie hatten alle zitronen¬
gelbe Ningspielstöcke in den Händen, und die jüngste hatte sich drei bis vier
von den rotumwundenen Reifen wie eine Art Turban auf den Kopf gesetzt.
Sie war es auch, die jetzt sprach.
Er sieht wie Themistokles auf dem Ofen im Bürau aus, sagte sie mit
schwärmerischen, Antlitz und mit zum Himmel gewandten Augen zu ihren Mitver-
schwornen.
Ach wast erwiederte die Mittlere, eine mokante, kleine Dame, die im
Frühjahr konfirmirt worden war. Ob Themistokles auch wohl einen so runden
Rücken hatte? Und sie ahmte Ricks Lyhncs ein wenig vornüber gebeugte Haltung
»ach. Themistokles, das fehlte noch!
Es ist etwas so Männliches in seinem Blick, er ist ein ganzer Mann, zi-
tirte die Zwölfjährige.
Der? Das war wieder die Mittelste. Der gebraucht ja Parfüms, ist das
etwa männlich? Neulich lagen seine Handschuhe da und rochen in der Ent¬
fernung dermaßen nach Millefleur —
Alle Vollkommenheiten! rief die Zwölfjährige in schmachtenden Entzücken
dazwischen und schwankte ganz ergriffen einen Schritt rückwärts.
Alle diese Äußerungen richteten sie scheinbar an einander und nicht an
Gerda, die glühend rot etwas abseits stand und mit ihrem gelben Stocke in
die Erde bohrte. Plötzlich richtete sie sich auf. Ihr seid ungezogene Mädchen,
so über jemand zu sprechen, der viel zu gut ist, um euch überhaupt anzusehen!
Er ist doch auch nur ein Mensch wie wir andern, versetzte die älteste von
den dreien in mildem Tone, als wollte sie vermitteln.
Nein, das ist er ganz und gar nicht! erwiederte Gerda.
Er hat aber doch auch seine Fehler, fuhren die Schwestern fort, indem sie
sich den Schein gaben, als hätten sie gar nicht gehört, was Gerda gesagt hatte.
Nein!
Aber, liebste Gerda, du weißt doch, daß er niemals in die Kirche geht!
Was sollte er auch da? Er ist viel, viel klüger als der Prediger!
Ja, aber er glaubt doch, leider, nicht an Gott, Gerda!
Ach du kannst überzeugt sein, mein Kind, daß er, wenn er das nicht thut,
auch seine guten Gründe dafür hat.
Pfui, Gerda, wie kannst du das nur sagen!
Man sollte fast glauben — unterbrach sie die Ebenkonsirmirte.
Was sollte man fast glauben? fragte Gerda erregt.
Nichts, nichts, beiß mich nur nicht! antwortete die Schwester und that auf
einmal ungeheuer friedlich.
Willst du mir gleich im Augenblick sagen, was es war?
Nein, nein, nein; ich kann doch wohl meinen Mund halten, wenn ich will.
Sie ging von dannen in Begleitung der Zwölfjährigen, die in schwestcr-
licher Eintracht ihren Arm um sie gelegt hatte, Ihnen folgte die älteste, höchst
entrüstet. Gerda blieb allein zurück und sah trotzig vor sich hin, während sie
mit dem gelben Stocke in der Last hin und her schlug. Dann währte es eine
kleine Weile, da ertönte von dem andern Ende des Gartens die heisere Sing¬
stimme der Zwölfjährigen:
Und fragst du mich, mein Schatz,
Was soll das welke Veilchen —
Ricks verstand die Neckerei wohl; er hatte neulich Gerda ein Buch ge¬
schenkt, worin ein getrocknetes Weinblatt lag, das er in dem Garten zu Verona
gepflückt hatte, wo sich Juliens Grab befindet. Er konnte sich kaum halten
vor Lachen. Dann kam die Frau mit ihrem Manne zurück, den sie endlich
gefunden hatte, und Ricks gab ihm den eine Tischlerarbeit betreffenden Auftrag,
um deswillen er gekommen war.
Von diesem Tage an achtete Ricks fleißiger auf Gerda, und mehr und mehr
ward er sich bewußt, wie gut und lieblich sie sei, und allmählich schweiften
seine Gedanken öfter zu diesem vertrauensseligen kleinen Mädchen hinüber.
Sie war auch wirklich reizend und hatte so viel von jener sanfte», rüh¬
renden Schönheit, die uns unwillkürlich die Thränen in die Augen lockt. Über
ihre ganze früh entwickelte Gestalt war noch etwas kindlich Unschuldiges ver¬
breitet. Ihre kleinen, weichgcformten Hände, die im Begriff waren, die rosen¬
rote Farbe der Übergangszeit abzulegen, waren so unschuldig und hatten so
gar nichts von der nervösen, zitternden Neugierde dieses Zeitpunktes an sich.
Sie hatte einen starken, kleinen Hals, volle, runde Wangen, eine jener niedrigen,
träumerischen Frauenstiruen, in denen große Gedanken so ungewohnt, ja fast
schmerzhaft siud, daß sich dabei die vollen Brauen unwillkürlich zusammenziehe«.
Und nun gar das Auge! so dunkelblau und tief, aber nur so tief wie ein
Wasser, dessen Grund man sehen kann. Und dieses Auge lag zwischen vollen,
weichen Augenwinkeln, in denen das Lächeln wohnte und wohl geschützt unter dem
Lide wohnte, das sich verwundert hob. So sah sie aus, die kleine Gerda, weiß
und rot und blond, mit all ihrem kurzen, goldig schimmernden Haar, das im
Nacken zu einem zierlichen Knoten verschlungen war.
Sie sprachen oft mit einander, Ricks und Gerda, und er ward immer
mehr von ihr eingenommen; ruhig, fein und offen im Anfang, bis sich eines
Tages eine Veränderung in der Luft, die sie umgab, bemerkbar machte, ein
kleiner Funke von einem Gefühl, für das Sinnlichkeit ein zu starker Ausdruck
war, obgleich es doch im Grunde nichts weiter war. Es treibt die Hände, den
Mund und die Augen, nach dem zu greifen, was das Herz nicht nahe genug
ans Herz ziehen kann. Und dann eines Tages, bald darauf, ging Ricks zu
Gerdas Vater, weil Gerda so jung war und weil er sich ihrer Liebe sicher
fühlte. Und der Vater gab sein Jawort, und Gerda gab das ihre.
Im Frühjahr fand die Hochzeit statt. (Fortsetzung folgt.)
Es ist bei Besprechung dieses Werkes, das alle Jahre ein neues Glied ansetzt,
wiederholt in diesen Blättern darauf aufmerksam gemacht worden, daß eine Geschichte
der Gegenwart eigentlich ein Widerspruch ist, wenn Geschichte die wissenschaftlich beur¬
teilte und geordnete Wiedergabe geschehener Dinge sein soll. Die Gegenwart wird
niemals imstande sein, die Forderungen, welche die Wissenschaft an eine solche
Arbeit stellt, zu erfülle», sie wird niemals sich selbst erzählen und beschreiben
können, wenigstens niemals genügend und für die Dauer. Sie wird immer, wenn
derartiges versucht wird, zu befürchten haben, durch die Zukunft in wesentlichen
Stücken des Irrtums und der UnVollständigkeit geziehen zu werden, durch die Zukunft,
welche durch Oeffnung jetzt verschlossener Quellen und durch Beseitigung der Partei¬
leidenschaften, die auch gute Augen verblenden, das rechte Verständnis der Ereignisse
und der durch sie geschaffenen Zustände ermöglicht. Geschichte der Gegenwart schreiben
nur die Zeitungen, und man weiß, was das für Geschichte ist. Indes richten sich solche
Bemerkungen nur gegen den Titel derartiger Werke wie das vorliegende, und die
Verfasser erheben wohl selbst nicht den Anspruch, als Geschichtschreiber betrachtet
zu werden. Sie liefern, was sie können, Rückblicke, die, nach Zeitungsberichten
zusammengestellt und vorzüglich für Zeitungsleser bestimmt, bis auf weiteres hin¬
reichen, wenn sie mit Geschick angefertigt sind und nicht gar zu sehr die Farbe
der Partei tragen, welcher der Verfasser angehört. Diese Eigenschaften lassen sich
dem Sammelwerke nachrühmen, mit dem wir es hier zu thun haben. Der neue
Band berichtet über das Jahr 1837, das zu den inhaltsreichsten Abschnitten unsrer
Zeit zählt, namentlich, soweit es sich um das handelt, was uns am nächsten liegt.
Die Auflösung des deutschen Reichstages, mit dessen aus Demokraten und klerikalen
Neichsfeinden zusammengesetzter Opposition sich nicht mehr regieren ließ, der Um¬
schwung, welchen die Wahl einer nntionalgesinnten Mehrheit im Reichstage herbei¬
führte, die nun rasch erfolgende Erledigung der dringend notwendigen Militär¬
vorlage, die Bewilligung der dazu erforderlichen finanziellen Mittel, das umsichtige
und kraftvolle Auftreten des Reichskanzlers in den Parlamenten und in der Diplo¬
matie für die Erhaltung des Friedens, der sowohl von Westen als von Osten her
»niederholt gefährdet erschien, alles das lenkte die Aufmerksamkeit ganz Europas
auf sich und trug erheblich dazu bei, die Verteidigungsstellung des Reiches zu
verstärken und zu befestige», und da das Reich zum Grund- und Eckstein des
Weltfriedens geworden ist, so kau» man das Jahr 1837 als Jahr der Beruhigung
bezeichnen. Blicken wir auf die mit uns zur Erhaltung des Friedens verbündeten
Mächte zurück, so hatte Oesterreich-Ungarn noch von der slawisch-magyagarischen Hoch¬
flut zu leiden, welche von der Regierung entfesselt worden ist, ihr aber jetzt wohl
in dem Lichte erscheint, in welchem der Zauberlehrling die von ihm gerufenen
Geister zuletzt erblickte. Italien dagegen hatte mit den Verlegenheiten zu kämpfen,
in die es seine Politik in Ostafrika verwickelt hatte. Rußland war ohne Erfolg
im Innern mit der Ueberwindung finanzieller Schwierigkeiten, nach außen hin mit
Versuchen beschäftigt, die Mißerfolge seiner Politik in den Balkanländern auszu¬
gleichen Frankreich rückte, wie ihm mit seinem Parlamentarismus von Anfang
an geweissagt worden ist, auch in diesem Jahre weiter nach links, es erlebte wieder
ein Paar Ministerkrisen und sogar einen Wechsel der Präsidentschaft. Das britische
Reich mühte sich wie seit Jahren mit der brennend gewordenen irischen Frage ab,
mit der auch die jetzt regierende konservative Partei nicht fertig werden kann, und
suchte sich weiter gegen die Bedrohung Indiens durch Rußland zu rüsten. Ueber
alles das und die kleineren Staaten berichtet der Verfasser, soweit sich nach
verständiger Lektüre der Zeitungen berichten läßt. Hätten wir daran etwas aus-
zusetzen, so wäre es nur die Stellung, die er zu der in Bulgarien herrschenden
Partei einnimmt und die kein Kenner der Verhältnisse als richtig bezeichnen kann.
Diese Schrift unterscheidet sich von mancher andern verwandter Richtung da¬
durch, daß es dem Verfasser darum zu thun ist, die Bedingungen zu ermitteln,
unter denen das Aufgehen der Juden in dem deutschen Volke möglich wäre. Er
führt — leider ziemlich weitschweifig — den Nachweis, daß uicht die Religion
Ursache der allgemeinen Abneigung gegen das Judentum ist, und daß nicht die „Unter¬
drückung im Mittelalter" die dem Arier anstößigen Eigenschaften des Semiten ver¬
schuldet hat, daß vielmehr das Trennende und das für Staat und Kirche Gefähr¬
liche in sittlichen und rechtlichen Anschauungen liegt, die sich von den Tagen des
Erzvaters Jakob her bis auf die unsrigen erhalten haben. Das sind nun zwar
Wahrheiten, die mir der nicht sieht, der sie nicht sehen will. Doch ist es gegen¬
über der Einmütigkeit und Ausdauer, mit welcher Juden und Juoeugeuosseu in der
Presse bemüht sind, den Sachverhalt zu verdunkeln, immerhin notwendig, die eigen¬
tümliche Moral der jüdischen Gesetze hervorzuheben. Nadenhausen entnimmt die
Beweisstellen dem Pentatcuch und dem im sechzehnten Jahrhundert verfaßten Aus¬
zug aus dem Talmud „Schnlchan Armes." Bekanntlich wollen die Anwälte der
Juden die Berufung auf den Talmud niemals zulassen, weil er in seiner echten Gestalt
nichts Unmoralisches enthalte, die Zusätze solcher Natur aber nicht das Ansehen von
Gesetzen oder Vorschriften genössen. Schulchau Aruch aber soll in vielen Auflagen
verbreitet und seiue Lehren sollen derart in das Volk gedrungen sein, daß ein
Rabbiner selbst erklärt hat, es gebe nur noch Schulchan-Aruch-Juden, d. h. solche,
die sich für Mitglieder eines auserwählten Volkes halten u. s. w. Daß das nicht
richtig ist, daß es überall Juden giebt, welche wenigstens einen großen Teil der
nationalen Vorurteile abgestreift haben, das erkennt auch der Verfasser an; da sie
jedoch durchaus in der Minderzahl sind, war es ein Irrtum der Gesetzgebung, die
ganze Masse als cmcmzipationsreif anzusehen. Seine Vorschläge zur allmählichen
Beseitigung des Mißstandes sind wenigstens zum Teil einer Erörterung wert.
Nur fürchten wir, daß er sich gerade die wichtigste Maßregel als zu einfach vor¬
stellt. Durch staatliche Anordnungen allein wäre selbstverständlich nicht zu helfen,
das Judentum selbst müßte entscheidende Schritte thun. Deshalb wird S. 204
die Einberufung einer Versammlung aller Oberrabbincr und Thoragelehrten des
deutschen Reiches gefordert zum Zwecke der Ausmerzung aller den Gesetzen des
Staates und der (arischen) Moral widersprechenden Lehren des Talmud. Nun
würden aber, soviel bekannt, die rechtgläubigen Juden irgend eine Reform nur an¬
erkennen, wenn diese von einem Sanhedrin nicht eines, sondern aller von Juden
bewohnten Länder beschlossen wäre. Um sich darüber hinwegzusetzen, müßten also
die Juden Deutschlands sich von dem internationalen auf den nationalen Standpunkt
begebe», sie müßten in Wahrheit werden, was sie wohl gelegentlich zu sein de-
Häupten: jüdische Deutsche anstatt deutschsprechende und in Deutschland lebende Juden.
Das ist schwer denkbar, wie jeder unbefangene Beurteiler zugeben wird. Seit einem
halben Jahrhundert oder länger giebt es ja ein Reformjudentum, allein dessen An¬
hänger gelten der großen Masse als Abtrünnige, sind ohne Einfluß auf diese.
Ebenso scheint der Verfasser bei seinem günstigen Urteil über Mischehen die weit¬
reichende Vererbung semitischer Eigenschaften, die ihm nicht unbekannt ist, außer
Rechnung gelassen zu haben, sowie eine Zusammenstellung der Verteilung der jü¬
dischen Rasse in Europa (wobei sich folgende Reihe ergiebt: England ^0,12 Prozent
der Gesamtbevölkerung), Italien, Frankreich, Schweiz, europäische Türkei, Deutschland
1^1,27 Prozent'!, Niederlande, Rußland, Oesterreich-Ungarn, Rumänien, Russisch-
Poleu, Galizien ^14.60 Prozeß) doch wohl auf der Statistik der Bekenntnisse be¬
ruht und daher nicht genau sein kann. Von Staat und Gemeinde fordert Raden¬
hausen u. a. als Schutzwehren Beaufsichtigung der jüdischen wie andrer Schul¬
bücher; Untersagung der Verwendung christlicher Arbeiter und Arbeiterinnen in
jüdischen Geschäften, Fabriken und Haushaltungen; Bestrafung aller Spielgeschäfte;
Nichtzulassung zu deutschen oder gar christlichen Eiden; Unterdrückung der Pfand¬
geschäfte im fünfmeiligen Umkreise eines öffentlichen Pfandlcihhauses, beziehentlich
Auferlegung derselben Bedingungen, welche für die letztern gelten; Beschränkung
der gerichtlichen Befugnisse, Beschränkung der Einwanderung.
Ein wertvoller Beitrag zur Geschichte des siebenjährigen Krieges, verfaßt ans
Grund bisher uoch unveröffentlichter russischer Dokumente, die Oberst Maßlowski
als Beigabe zu seinem groß angelegten Werke „Die russische Armee im sieben¬
jährigen Kriege" vor kurzem herausgegeben hat, und die in der hier vorliegenden
Bearbeitung derartig gruppirt sind, daß sich daraus ein übersichtliches Gesamtbild
der großen Operationen dieses Feldzuges ergiebt. Wer mit den Vorgängen des¬
selben einigermaßen vertraut ist, wird sein Urteil über sie in wesentlichen Be¬
ziehungen geklärt und berichtigt finden, wenn auch nicht in dein Umfange und zu
dem Grade, den der russische Herausgeber im Auge hat. Maßlowski lehrt uns
die Verhältnisse, unter denen die russische Armee im Verein mit der österreichischen
wirkte, vollständiger kennen, er weist darauf hin, daß die Politische und strategische
Lage der beiden verbündeten Mächte sehr verschieden war, und zeigt, daß die
russischen Generale Ursache hatten, den Oesterreichern mit Mißtrauen zu begegnen.
Daraus erklären sich uach ihm der ganze Gang des Krieges und viele einzelne
Ereignisse. In den ersten Jahren der gemeinsamen Kriegführung blieben alle
Versuche der Wiener Diplomatie, die russischen Heerführer unter österreichische
Leitung zu bringen, erfolglos, die Russen operirten selbständig und lösten die ihnen
gestellten strategischen Aufgaben trotz einzelner Unfälle befriedigend. Im Jahre 1759
aber erreichte Kemnitz sein lange erstrebtes Ziel, einen beträchtlichen Teil der
russischen Strcitkrcifte dem Oberbefehle des Grafen Dann unterzuordnen: die ganze
Armee Saltykows stand völlig diesem zur Verfügung. Auf blutigem Wege, nach
zwei großen Siegen (bei Kap oder Züllichau und bei Kunersdorf) vereinigte sie
sich mit den Oesterreichern; statt nun aber durch eine letzte gemeinsame Anstrengung
den Gegner vollständig niederzuwerfen, begnügte man sich mit einigen Hin- und
Hermärscheu, der geniale königliche Feldherr ging aus verzweifelter Lage siegreich
hervor, und die Geschichte verwies Saltykow in die Reihe der unfähigen Generale.
Maßlowski erblickt darin eine auf durchaus falscher Auffassung beruhende Auge-
rechtigkeit und legt, um auch andre zu seiner Ueberzeugung zu bringen, seine Doku¬
mente vor, die hauptsachlich in vertraulichen Weisungen und Berichten bestehen.
Er will damit darthun: 1. daß der spät erfolgende Beginn der Operationen durch
den langsamen Gang der Verhandlungen über den gemeinsamen Feldzugsplan ver¬
schuldet worden sei, 2. daß Dann von Anfang an sich bemüht habe, die russische
Armee im einseitigen Interesse Oesterreichs ausmachen, 3. endlich, daß es unbe¬
gründet sei, wenn man Saltykow die Schuld darau beimesse, daß nach der Schlacht
bei Kunersdorf Preußen nicht gänzlich niedergeschlagen wurde. So interessant
und dankenswert vom unparteiischen Standpunkte der Kriegswissenschaft die Gabe
des russischen Obersten ist, wird er doch schwerlich bei Sachkennern seine Absicht
erreichen, die russische Kriegführung jenes Jahres ganz zu rechtfertigen oder gar
zu verherrlichen. Der eigentliche Wert seiner Mitteilungen liegt überhaupt nicht
in thatsächlichen Angaben über ausgeführte Operationen und Aktionen, sondern
darin, daß sie uns Einblicke in die Borgeschichte und Entwicklung verschiedner
Entschlüsse gestatten, die von den obern Heeresleitungen gefaßt wurden.
Wir werden nachgerade daran gewöhnt, den poetischen Geist nur in Jahr-
hnndcrtfciern bei uns wiedererstehen zu sehen. Leider geschieht dies zum großen
Teil in der Tagespresse, deren weit geöffnete Spalten selbst den ihr so wenig ge¬
mäßen Einsiedler von Nenses merkwürdig umgänglich und allerweltsinteressnnt ge¬
funden haben. Das trägt nicht dazu bei, die Wirkung eines Denkmals, das diesen
Namen verdient, zu erhöhen. Bei der Betrachtung eines solchen, wie des vor¬
liegenden, stört wirklich nur der Gedanke, daß es nicht möglich ist, die so vielfach
geteilte Aufmerksamkeit auf die wirklich Berufenen zu vereinigen. Als Hüter des
Goethehortcs in Weimar hat Suphcm Gelegenheit genommen, den Begleitbrief zu
den „östlichen Rosen" mitzuteilen, mit dem sich Rückert im Jahre 1827 Goethe
vorstellte, ein Schriftstück, bescheiden, stolz und voll ruhigen Selbstgefühls, wie der
vorangehende Vortrag den kindlichen Weisen, den unbekümmert für sich selbst dich¬
tenden Vcrsvirtuosen schildert.
Es wird jetzt sehr viel aus dem Russischen übersetzt; die großen Geister Tur¬
genjew, Tolstoi, Dostojewski haben den andern russischen Dichtern Eingang auch
in Deutschland geschafft, und von Zeit zu Zeit wird ein neues russisches Genie ent¬
deckt, damit die Uebersetzer zu thun haben. Die Bedingung des Erfolges eines
fremden Schriftstellers wird aber dabei nur zu leicht übersehen, und daher kommt
es, daß jene neuen Entdeckungen wieder bald verschwinden und ihr Werk, mag es
in der Heimat noch so berühmt sein, in der Fremde uicht Wurzel fassen will. Diese
Bedingung besteht aber darin, daß der Verfasser neben seiner politisch kühnen Ge¬
sinnung und neben seinem Mute, dem Absolutismus zu opponiren, auch noch rein
dichterische Eigenschaften besitze, die allein ihm in der Fremde Leser zu schaffe«
imstande sind. Dostojewski hätte politisch noch so interessant sein können, die
deutscheu Nomcmleser hätten sich sicherlich wenig um ihn gekümmert, wenn er nicht
das dichterische Talent wäre, das man überall bewundern muß, und so erging es
mit Turgenjew, mit Tolstoi, wogegen Gontscharow nicht durchgegriffen hat, noch
weniger Fürst Meftscherski u. a. in. Wir fürchten, es wird ebenso mit Schtschedrin
gehen. Er ist ohne Zweifel ein interessanter Schriftsteller, wert genug, daß man
ihn kennen lerne, aber wichtig doch nnr für den Kreis derjenigen Leser, die sich
überhaupt für russische Kultur- und Litteraturzustande interessiren. Hat der Ueber¬
setzer auf ein größeres Publikum gerechnet, so wird er wahrscheinlich Enttäuschungen
erleben. Denn — wenigstens nach diesem einen, seinem jüngsten, auch erst 1887
in Rußland erschienenen Werke zu urteilen — Schtschedrin ist nichts mehr als ein
guter, realistischer Feuilletonist, der die suoit Stör? pflegt, politische Spitzen hinter
seiner scheinbar rein der Beobachtung gewidmeten Darstellung verbirgt, aber größerer
Poetischer Kraft entbehrt. Pitane berührt die nur zwischen den Zeilen verratene
Opposition gegen den büreaukratischen Absolutismus, der Rußland zu Tode regirt.
Aus all seinen Bildern spricht der tiefe, unsägliche Schmerz über die trostlose
Lage seines Volkes, das von oben keinerlei Impuls zum Fortschritt und in sich
selbst, überlassen seiner Trägheit und Trunksucht, auch keine Kraft zur Erhebung
aus der tiefen sittlichen und materiellen Not findet. Diese Liebe Schtschedrins
adelt einigermaßen die trostlosen Bilder der Armut und Verlotterung, der Charakter¬
losigkeit und Rohheit, die er von Stadt- und Landbewohnern Rußlands entwirft.
Sonst spräche die bare Verzweiflung aus diesen Skizzen, umso furchtbarer und
aufreizender, als Schtschedrin ein Erzähler von großer Objektivität ist, der sich jeder
Glosse enthält, mit klarer Einsicht die Thatsachen aneinanderreiht und für sich
sprechen läßt. So führt er uns den „arbeitsamen" Bauer vor, der mit aufreibender
Lebensarbeit es doch zu nichts mehr bringen kann, als seiner Tochter ein Kattun¬
kleid und einige Rubel Aussteuer mitzugeben; den Dorfpriester, der so wenig Ein¬
kommen hat, daß er sich nicht satt essen kann und seine Kinder mit Kummer und
Not in der Stadt erziehen läßt u. dergl. in. Am liebsten verweilt Schtschedrins
Phantasie in der Zeit des Regierungsantrittes Kaiser Alexanders II., der die Bauern
emanzipirte und die Leibeigenschaft aufhob. Zunächst wurde dem Volke ein zweifel¬
hafter Dienst erwiesen. Es war zur freien Arbeit ja noch gar nicht erzogen worden!
Der Bauer befand sich als leibeigner Sklave, für den sein Herr die Nahrung be¬
sorgte, besser, denn als freier Mann, der selbst nach Arbeit und Verdienst suchen
mußte. Und der Gutsbesitzer seinerseits mußte zunächst lernen, nicht mit Fron-
arbeitern, sondern mit Knechten zu wirtschaften, die mit barem Gelde bezahlt werden
sollten, worauf er auch nicht eingerichtet war. Das alles brachte die Verhältnisse
in eine ungeheure Verwirrung, und in dieser blieb Schtschedrins Phantasie pessi¬
mistisch stecken. Ob Ordnung seitdem eingetreten ist oder nicht, erfahren wir aus
seinen Skizzen nicht. Eine unerquickliche Art von Poesie demnach, aber freilich
auch eine echt russische, denn sie wühlt im eignen nationalen Schmerz, hält die
Wunden offen und verzweifelt an der Möglichkeit, jemals einen Arzt dafür zu
finden.
Dostojewski, dem psychologischen Kriminalisten von „Raskolnikow," dem mysti¬
schen Religionsphilosophen der „Brüder Karamasow," dem tiefsinnigen Grübler und
Dialektiker, auf den Pfaden der humoristischen Erzählung zu begegnen, dürfte vielen
Lesern, die sich für ihn interessiren, überraschend sein. Und doch muß man den
kurzen Roman „Der Hahnrei." der uns jetzt durch die bewährte Uebersetzungskunst
von August Scholz vermittelt ist, als humoristische Erzählung bezeichnen, wenn
auch die Heiterkeit darin nur an einigen Stellen ganz ungebunden durchbricht, da
der russische Dichter die schweren Fesseln seines vielgeprüften Gemütes nicht ganz
abzustreifen vermocht hat. Der „Hahnrei" ist eine Charakterstndie. Dostojewski
stellt in Pawel Pawlowitsch Trussozki einen zum Hahnrei von. Haus aus geschaffenen
Menschen dar: das ist doch wahrlich ein humorvolles Problem. Trussozki hat
lange Jahre mit seiner Frau in der Provinz, als Staatsbeamter, bescheiden aber
sicher versorgt, dahin gelebt; der Pantoffel, nnter dem er stand, war ihm gerade
recht, denn er ist eine unselbständige Natur und bedarf der Stützen, um sich an¬
zuschmiegen und sich leiten zu lassen. In seiner ganzen Ehe merkte er nicht, daß
seine Fran nach einander verschiedene Liebhaber hatte; ja sein Töchterchen Lisawetta
hat einen Fremden zum Vater. Erst nach dem Tode seiner Frau merkte er den
Betrug, unverbrannte Briefe wurden zu Verrätern. Gemein, wie er ist, will er
sich zunächst durch eine zügellose Genußsucht in Petersburg für die langjährige Ab¬
hängigkeit rächen. Sein Kind behandelt er in der rohesten Weise. Und nun ein
feiner Kunstgriff Dostojewskis: in der Residenz kommt Trussozki mit Weltschaninow,
gerade jenem Liebhaber seiner Frau zusammen, der in Wahrheit Lisas Vater ist.
Die ganze Handlung des Romans beschränkt sich nun eigentlich auf das Gegenspiel
dieser zwei grundverschiednen Männercharaktere. Weltschaninow, der leichtlebige
Weltmann von der Zehe bis zum Scheitel, elegant, gewinnend, ohne Absicht die
Weiber fesselnd, Trussozki ungeschickt, brutal, täppisch, lächerlich. In der feinsten
Weise wird die Handlung mit der Schilderung hypochondrischer, reuevoll selbst¬
quälerischer Stimmungen bei dem leichtlebigen Weltschaninow eröffnet: der echte
Dostojewski! Nur diese Hypochondrie des einen ermöglicht nämlich überhaupt den
Verkehr zwischen beiden Männern. Dann die tragische Episode von Lisas Tod in
den Armen des tief erschütterten, reuevollen Weltschaninow — ein Glanzpunkt.
Dann die burlesk-brutalen Versuche Trussozkis, sich an dem einstigen Räuber seines
Eheglückes zu rächen: kriminalistische Lieblingsmotive des Dichters. Den Höhepunkt
erreicht die ergötzliche Komödie darin, daß Trussozki eben denselben Weltschaninow
dazu Preßt, ihm bei der Wahl seiner neuen Ehefrau behilflich zu sein. In dem
heitern Bilde russischen Familien- und Mädchenlebens kommt der Kontrast der
beiden Männer zur vollsten Geltung. Dostojewski schließt damit, daß er beide
einige Jahre später zufällig einander begegen läßt: Trussozki hat eine junge schöne
Frau, die einen verliebten, hübschen Leutnant mit sich schleppt und in aller Eile
auch mit dem ritterliche» Weltschaninow kokettirt, den ihr sogenannter Gatte aufs
angelegentlichste einlädt, ihn zu besuchen. Weltschaninow thut aber nicht mehr mit
und fährt weiter — andern Abenteuern ucich, denn alle Hypochondrie ist von ihm
gewichen.
Zu empfehle» sind für Militärs zwei in Artarias Verlag
zu Wien soeben erschienene Kartenwerke: „Dislokationskarte der russischen Armee
im europäischen Reichsteile nebst tabellarischer Uebersicht der Ordre de Bataille
und der Armeeverhältnisse im Frieden, in der Mobilisirung und im Kriege" und
„Universal-Administrativkarte der österreichisch-ungarischen Armee mit der Einteilung
des Reiches in die Territorial- und Ergänzungsbezirke des k. k. Heeres und der
Kriegsmarine." Der letzter» Karte ist eine Uebersicht über die regelmäßigen Er¬
gänzungen an Truppen beigegeben, welche die bestehenden Stellungsbezirke Oester¬
reich-Ungarns für das stehende Heer, die Kriegsflotte, die Landwehr und den Land¬
sturm zu leisten, haben.
ehr charakteristisch für die Denkart des Königs ist ein Brief von
ihm aus der Konfliktszeit, der von Schneider zufällig aufgefunden
und hier zum ersten male veröffentlicht worden ist. Der Oberst¬
leutnant von Vincke auf Olbendorf hatte 1863 zum Neujahrstage
ein Schreiben mit warmen Glückwünschen an den König gerichtet,
dabei aber zum Schlüsse gesagt:
Mit schwereren Herzen als je sehe ich in die Zukunft. Eure Königliche
Majestät wage ich nicht weiter mit meinen Ansichten zu belästigen, weil ich doch
die Allerhöchste Zustimmung nicht finden würde. Nur eins kann ich nicht unter¬
lassen auszusprechen, weil es meinerseits eine Untreue gegen Eure Majestät sein
würde, wenn ich es hier verschwiege: ich fürchte, Eure Majestät sind über die
Stimmung des bei weitem größten Teils des Volkes getäuscht. Das Volk hängt
treu an Eurer Majestät, aber es hält auch fest an dem Rechte, welches ihm der
Artikel 99 der Verfassung unzweideutig gewährt. Möge Gott die unglücklichen
Folgen eines großen Mißverständnisses in Gnaden abwenden. In tiefster Ehrfurcht
ersterbend u. s. w.
Der König antwortete darauf am 2. Januar:
Für Ihre freundlichen Glückwünsche beim Jahreswechsel danke Ich Ihnen
bestens. Daß der Blick in das neue Jahr nicht freundlich ist, bedarf keines Be¬
weises. Daß aber auch Sie in das Horn stoßen, daß Ich nicht die Stimmung
des bei weitem größten Teils des Volkes kenne, ist Mir unbegreiflich, und Sie
müssen Meine Antworten an die vielen Loyalitätsdeputationen nicht gelesen haben.
Immer und immer habe Ich es wiederholt, daß Mein Vertrauen zu Meinem
Volke unerschüttert sei, weil Ich wüßte, daß es Mir vertraue; aber diejenigen,
welche Mir die Liebe und das Vertrauen desselben rauben wollten, die verdamme
Ich, weil ihre Pläne nur ausführbar sind, wenn dieses Vertrauen erschüttert wird.
Und daß zu diesem Zwecke jenen alle Wege recht sind, weiß die ganze Welt,
denn nur Lüge und Trug und Lug kann ihre Pläne zur Reife bringen.
Sie sagen ferner: Das Volk verlange die Ausführung des Z 99 der Ver¬
fassung. Ich möchte Wohl wissen, wie viele Menschen im Volke den Z 99 kennen
oder ihn je haben nennen hören!!! Das ist aber einerlei und thut nichts zur
Sache, da für die Regierung der Z existirt und befolgt werden muß. Wer hat
denn aber die Ausführung des Paragraphen unmöglich gemacht?? Habe Ich nicht
vor der Winter- zur Sommersession die Konzession von vier Millionen gemacht
und danach das Militärbudget — leider! — modifizirt? Habe Ich nicht mehrere
andre Konzessionen — leider! — gemacht, um das Entgegenkommen der Regierung
dein neuen Hause zu beweisen? Und was ist die Folge gewesen?? Daß das
Abgeordnetenhaus gethan hat, als hätte Ich nichts gethan, um entgegen zu kommen,
um nur immer neue Konzessionen zu erlangen, die zuletzt dahin führen sollten,
daß die Regierung unmöglich würde. Wer einen solchen Gebrauch von seinem
Rechte macht, das heißt, das VuclAöt so reduzirt, daß alles im Staate aufhört,
der gehört ins Tollhaus! Wo steht es in der Verfassung, daß nur die Regierung
Konzessionen machen soll und die Abgeordneten niemals??? Nachdem ich die
meinigen in unerhörter Ausdehnung gemacht hatte, war es am Abgeordnetenhause,
die seinigen zu machen. Dies aber wollte es unter keiner Bedingung, und die
sogenannte Episode bewies wohl mehr wie sonnenklar, daß uns eine Falle nach
der andern gelegt werden sollte, in welche sogar Ihr Vetter Patow und Schwerin
fielen durch die Schlechtigkeit des Bockum-Dolffs. 234 000 Thaler sollten noch pro
1862 abgesetzt werden, um das lZuäMt annehmen zu können, während der Kern
der Frage erst 1863 zur Sprache kommen sollte. Dies lag gedruckt vor, und als
ich auch darauf eingehe, erklärt nnn erst B.-D, daß ihrerseits, d. h. seitens seiner
politischen Freunde, dies Eingehen nur angenommen werden könne, wenn sofort
in der Kommission die Zusage und andern Tags im ?Isnum das Gesetz einer
zweijährigen Dienstzeit eingebracht werde. Und als ich darauf nicht eingehe, ver¬
höhnt uns B.-D. durch seine Presse! „nun sollte man sich die Unverschämtheit
der Regierung denken, dem Hause zuzumuten, um> 234 000 Thaler Frieden anzu¬
bieten." Und doch lag nur ein Anerbieten seitens des Hauses vor! Ist jemals
eine größere Infamie ausgeführt worden, um die Regierung zu verunglimpfen
und das Volk zu verwirren?
Das Abgeordnetenhaus hat von seinem Rechte Gebrauch gemacht und das
Vnclxst reduzirt. Das Herrenhaus hat von seinem Rechte Gebrauch gemacht und
das reduzirte Luchse su divo verworfen. Was schreibt die Verfassung in einem
solchen Falle vor? Nichts! — Da, wie oben gezeigt, das Abgeordnetenhaus sein
Recht zur Vernichtung der Armee und des Landes benutzte, so mußte Ich wegen
jenes „Nichts" suxxlÄrön und als guter Hausvater das Haus weiterführen und
spätere Rechenschaft geben. Wer hat also den § 99 unmöglich gemacht??? Ich
In der That, ein hochinteressantes Aktenstück, für dessen Veröffentlichung
die Biographen des Kaisers dem Sammler dieser Materialien, der sich die Er¬
laubnis verschaffte, es in seine Mappe aufzunehmen und später drucken zu
lassen, großen Dank schuldig sind.
Als 1866 der Krieg mit Österreich und seinen Verbündeten bevorstand,
scheint der König anfangs nichts weniger als einen so raschen Erfolg, wie er
ihn später errang, erwartet, vielmehr an einen Rückzug der preußischen Armee
und an eine Verteidigungsschlacht derselben gegen die bis in die Mark vorge¬
drungenen Feinde, ja sogar an die Möglichkeit des Eindringens der Feinde in
Berlin gedacht zu haben. Als Schneider ihn fragte, ob er den Feldzug mit¬
machen dürfe und in welcher Weise dies geschehen solle, erhielt er die Antwort:
„Wozu? Sie werden doch von Potsdam nach Großbeeren hinüberreiten können."
Der König sah also damals die Österreicher aus Böhmen durch Sachsen und
die Lausitz vormarschircn und die Preußen vor ihnen bis vier Meilen vor der
Hauptstadt zurückweichen; er sah den Feldzug mit der Defensive beginnen, einer
Kampfweise, die der preußischen Armee noch niemals günstig gewesen ist. „Un¬
gefähr eine Woche vor dem Abgange des großen Hauptquartiers — erzählt
Schneider — bemerkte ich in der Bibliothek eine große Kiste aus starkem Holze
und nichts weniger als elegant gebaut, mit Eisenblech beschlagen und in Form
und Umfang einer Marktkiste ähnlich. Ich erkundigte mich bei dem Kammer¬
diener, was sie an dieser Stelle zu bedeuten habe, und hörte, daß der König
schon wiederholt allerlei Papiere da hinein gepackt habe. Er traf also Vor¬
sorge für den Fall, daß ihm das launenhafte Glück der Schlachten den Rücken
kehrte; denn wahrscheinlich waren seine wichtigsten Papiere in der Kiste, die bei
ihrem unscheinbaren Aussehen leicht beiseite gebracht werden konnte. Er war
aber seinem ganzen Charakter nach fern von Selbstüberhebung und Gering¬
schätzung andrer und er hatte in seiner Jugend erfahren, was es heißt, wenn
eine Königsfamilie sich zur Flucht gezwungen sieht." Bald jedoch änderte sich
diese Stimmung. Als Schneider am 14. Juni beim Könige war, äußerte
dieser, der soeben die Nachricht erhalten hatte, daß der Bundestag feindliche
Beschlüsse gegen Preußen gefaßt habe, daß die Österreicher aus Schleswig-
Holstein abgezogen und daß die Konzentration der ersten und der Elbarmee
ausgeführt worden sei: „Ich gehe einen Tag nach der Kriegserklärung ins
Hauptquartier ab. Die Herren werden sich wundern, wenn sie mich anzugreifen
denken. Wir sind fertig und sie nicht." — „Also geht es nun nicht nach Gro߬
beeren?" — „O nein." Als am 29. das Telegramm über den Sieg der Armee
des Kronprinzen bei Skalitz eingelaufen war und Schneider es dem Könige vor¬
gelesen hatte, war dieser hocherfreut und sagte: „Mein Sohn ist glücklicher als
ich in meinen jungen Jahren. Mir war ein solches Kommando und ein solcher
Erfolg nicht beschieden." Dann aber fügte er hinzu: „Das geht ja im An¬
fange alles zu gut; wenn es nur so weiter geht. Wir sind noch lange nicht
über den Berg." Dann folgte er auf den über die Tische des Arbeitszimmers
ausgebreiteten Karten den Bewegungen der Truppen. „Es war — berichtet
Schneider — wunderschönes Wetter, die Fenster standen offen, und ich sah drüben
am Denkmale Friedrichs des Großen meine Frau, welche aus Potsdam mit nach
Berlin gekommen war, um den König vor seinem Abgange zur Armee, wenigstens
aus der Ferne, noch einmal zu sehen. Ich winkte ihr, etwas mehr auf die
Seite zu treten, weil sie dann den König über seinen Karten bemerken konnte.
Meine Bewegung mußte gesehen worden sein, denn der König blickte mich be¬
fremdet an. Als ich ihm aber erklärte, weshalb meine Frau dort war, trat
er an das Fenster, rief sie herbei, lehnte sich weit hinaus und sagte: „Gute
Nachrichten! Mein Sohn hat einen glänzenden Sieg erfochten. Soll alles
gleich bekannt gemacht werden. Geht alles nach Wunsch. Hoffentlich bringe
ich Ihnen Ihren Mann gesund wieder."
Aus den Tagen des böhmischen Feldzuges, an dem Schneider als Bericht¬
erstatter teilnahm, teilen wir noch folgende für den Charakter des Königs sprechende
Äußerungen mit. Am Tage nach der Schlacht bei Königgrätz sagte der König
zu ihm: „Berichten Sie nur Thatsachen. Keine Bemerkungen, namentlich nichts,
was den Feind erniedrigen könnte. Auch was Sie von unsern Verlusten er¬
fahren, geben Sie nur in Zahlen, keine Namen. Die können später kommen
und kommen doch immer noch zu früh." Schneider fragte: „Darf ich mir
noch eine Notiz erbitten? Eure Majestät sind mehrmals im Granatfeuer ge¬
wesen. Wo war das? Das muß die Armee am Main wissen." Er bekam
die Antwort: „Im Granatfeuer? Daß ich nicht wüßte! In einer so aus¬
gedehnten Schlacht fallen überall Granaten. Wie ich auf dem Hügel von Sadowa
über die Chaussee ritt, sah ich wohl einige fallen, und nachmittags bei dem Reiter¬
gefecht foci StreseW schlugen auch Granaten um uns her ein. Das versteht
sich aber ja ganz von selbst und braucht nicht besonders beschrieben zu werden."
In Brünn erschien ein Graf von der Recke-Volmarstein, der die Ab¬
sicht hatte, in Berlin für den Krieg eine Frcischar zu errichten, dabei auf
Schwierigkeiten gestoßen war und sich nun vom Könige selbst die Vollmacht
dazu erbitten wollte. Ob er überhaupt vorgelassen wurde, erfahren wir nicht,
bezweifeln es aber, da er im Frcischärlerkostüm, mit Revolvern im Gürtel und
sonst mit allem „volkstümlichen Zubehör" ausgestattet erschien. Sicher ist,
daß der König „offenbar nicht geneigt war, dergleichen zu gestatten. Er sprach
seine Verwunderung darüber aus, wo der Graf denn die Leute für ein solches
Korps hernehmen wolle, und betonte bei dieser Gelegenheit, anscheinend mit
besondrer Genugthuung, daß die gänzliche Abwesenheit aller Freiwilligkeit,
aller Begeisterung und aller abnormen Formationen ein charakteristisches Zeichen
dieses Krieges und der Vorbereitungen dazu sei. Weder Turner-, Schützen- und
Sänger- noch Handwerkervereine hätten sich zu Freischaren zusammengethan;
im Gegenteile, man hätte Petitionen um Erhaltung des Friedens unterschrieben,
Es wäre das Verdienst der preußischen Heeresvrganisativn, daß jeder Frei¬
willigkeit, jedem anerkennenswerten guten Willen schon im voraus der rich¬
tige Platz im Heere angewiesen und vorbereitet sei.. . . Gerade in der un¬
leugbaren Erscheinung, daß das Gefühl der Pflicht in ganz Preußen so fest
wurzele, daß trotz allgemeiner Unlust sich ein solches Heer ohne Lärm und
Gesang, ohne Gedichte und Reden habe aufstellen lassen, beruhe die Kraft des
Staates. Kein Strohfeuer eines gelegentlichen guten Willens habe man gebraucht,
sondern Pflichttreue, Ausdauer und Zucht, und alles das habe sich in diesem
Kriege bewährt u. s. w.
Erstaunlich war die Ruhe, welche der König sich inmitten der in Nikolsburg
beginnenden Friedensverhandlungen bewahrte. „Während in den verschiednen
Kreisen des Hauptquartiers alles in Unruhe durcheinander wirbelte, Projekte, Nach¬
richten und Vermutungen einander jagten und namentlich durch den Siegesjubel ans
der Hauptstadt sich schon ein gewisser Übermut zeigte, blieb er anscheinend ohne
alle Erregung, immer das Ganze im Auge behaltend, sich nicht jedem Eindrucke
hingebend, obgleich Günstiges wie Ungünstiges ihn doch am tiefsten berühren mußte."
Wieder nach Berlin zurückgekehrt, rief der König eines Tages, am 25. August,
Schneider, als er ihn verlassen hatte und in die Bibliothek gegangen war,
wieder in sein Arbeitszimmer und sagte: „Ich habe noch einen Auftrag für
Sie, den ich schon seit meiner Heimkehr mit mir herumtrage, für den ich aber
nicht die rechte Form finden konnte. Es ist mir unter all dem Jubel und der An¬
erkennung ungemein peinlich ... daß in der jetzigen Zeit gar nicht daran ge¬
dacht wird, wie mein Bruder das alles, was gegenwärtig errungen worden ist,
auch schon gewollt und erstrebt hat. Wäre die rohe Hand des Aufruhrs nicht
dazwischen gefahren, so würde mir vielleicht wenig zu thun übrig geblieben sein.
Das müssen Sie den Leuten sagen, gerade jetzt sagen, damit sie nicht ver¬
gessen, was sie meinem Bruder schuldig sind." Wir glauben es Schneider
gern, wenn er versichert: „Selten ist mir eine Arbeit so schwer geworden wie
diese." Er leistete sie indes, und sogar in zwei Leitartikeln, einem beim Onkel
Spener und einem in der Kreuzzeitung.
Wir machen noch darauf aufmerksam, daß der erste Band des Werkes gegen
den Schluß hin vier interessante Schriftstücke bringt, die bisher noch nicht ver¬
öffentlicht waren: einen Brief des Kölner Erzbischofs Melchers und einen des
bekannten Ministers a. D. v. Bethmann-Hollwcg, beide kurz vor Ausbruch des
Krieges von 1866 an den König gerichtet und beide gegen diesen Krieg, der
zweite auch voll bitterer Anklagen Bismarcks, dann die Antworten des Königs
darauf. Wir haben hier nicht Raum, sie ganz mitteilen, und ein Auszug würde
ihnen ihr Kolorit nehmen.
Auch in Betreff dessen, was der Verfasser über seine Erlebnisse und Be¬
obachtungen im Verlaufe des Feldzuges in Frankreich mitteilt, müssen wir uns
kurz fassen und auf das Buch selbst verweisen. Doch wollen wir folgendes
herausgreifen. Nach Schneider hätte der König am Abende der Schlacht bei
Sedan zu Bismarck gesagt: „Dieses welthistorische Ereignis, fürchte ich. bringt
uns den Frieden noch nicht." Unsers Wissens nahm er bei dieser Gelegenheit
das gerade Gegenteil an, und der Bundeskanzler erlaubte sich eine andre Mei¬
nung auszusprechen. In Reims kam es zu einem Konflikte zwischen Bismarck
und den Militärs, wobei der König sich auf die Seite der letztern gestellt zu
habe» scheint. Der Maire von Reims hatte auf die Nachricht von den Vor¬
gängen, die am 4. September in Paris stattgefunden hatten, sein Amt nieder¬
gelegt, zugleich aber eine Kommission aus zehn Mitgliedern des Stadtrates ein¬
gesetzt, die unter seinem Vorsitz die Verwaltung fortführen sollte. Das sah, als
es von den dortigen Blättern veröffentlicht wurde, wie eine Anerkennung der
in Paris aufgerufenen Republik aus und konnte für andre Städte in den be¬
setzten Teilen Frankreichs Anlaß werden, ähnlich zu verfahren. Bismarck be¬
fahl deshalb Stieber, dem Direktor der Feldpolizei, dagegen einzuschreiten, und
das geschah, indem Stieber dem Maire erklärte, die Ereignisse in Paris gingen
ihn nichts an. Im Generalstabe nahm man das sehr übel, indem man hier
der Ansicht war, dergleichen Maßregeln dürften nur vom militärischen Ober¬
kommando verfügt werden, und keine nicht militärische Behörde oder Person sei
befugt, selbständig in den Gang der Dinge einzugreifen. Als Schneider am
nächsten Morgen dem Könige von dem Vorgehen gegen den Maire, wobei er
als Dolmetscher und Protokollführer gedient hatte, erzählte, fragte ihn der
König, ob ihn der Bundeskanzler oder Stieber dazu aufgefordert habe, und als
er antwortete, der letztere, von dem ihm jedoch bekannt sei, daß er stets im Auf¬
trage des Kanzlers handle, äußerte er nur ein „Hin!" Die Sache wurde da¬
mals von den Militärs und den Beamten Bismarcks vielfach und ungenirt be¬
sprochen. „Im Generalstabe schien man die Anwesenheit des Bundeskanzlers
im Hauptquartiere, in täglicher Berührung mit dem königlichen Oberfeldherrn
und sogar beim Generalsvortrage, nicht allein für überflüssig, sondern sogar für
hinderlich zu halten. Es spreche sich das, so behauptete man, schon in der
offiziellen Liste des großen Hauptquartiers aus, wo das gesamte Bundeskanzler¬
amt unter der Rubrik »Außerdem« verzeichnet sei. In der That könne ein fort¬
dauernder politischer Beirat die Kraft und Schnelligkeit der militärischen Aktion
nur hemmen und dem raschen Entschlüsse durch langsames Erwägen die Spitze
abbrechen. Habe Politik und Diplomatie einmal erklärt, nicht weiter zu können,
und dem Kriege die Entscheidung überlassen, so müsse ihre jeden Schritt be¬
gleitende Einwirkung auch aufhören. Der Soldat habe nur die Aufgabe, den
Feind zu überwinden und ihn so gebunden der nun wieder eintretenden poli¬
tischen Aktion zu Füßen zu legen, daß diese nach ihren Interessen mit ihm
schalten könne.... Im Bnndeskanzleramte hieß es dagegen, der Krieg sei doch
nie Selbstzweck, sondern nur eins der Mittel für die Politik, dürfe sich also
ihrer Leitung nicht entziehen. Sei er vorüber, so stecke der Soldat den Degen
ein, die Orden vor die Brust, die Dotation in die Tasche, und der Generalstab
habe nur noch die Aufgabe, sich für den nächsten Krieg vorzubereiten. Die Po¬
litik aber überdauere den Krieg, sie müsse mit dem überwundenen Nachbar
weiter leben, aus dem gedemütigten werde sehr bald wieder ein gleichberech¬
tigter Faktor in der> Familie der Staaten, und die Politik könne sich durch den
Krieg keine Verantwortlichkeiten aufbürden lassen, bei deren Herbeiführung sie
nicht gehört worden sei. ... Beide Parteien hatten von ihrem Standpunkte aus
unstreitig recht, und so lange sie Hand in Hand gingen ^wie es Bismarck wolltej,
wirkten sie vortrefflich. Wie peinlich aber mußte die Lage des Entscheidenden
werden, hier also des Königs, wenn sie in Konflikt mit einander gerieten." Wir
fügen hinzu, daß der Kanzler sich von da ab längere Zeit von den Generals-
vortrügcn fernhielt, und daß später, in Versailles, wieder ein Streit zwischen
ihm und dem Generalstabe ausbrach, der ihm ein Abschiedsgesuch nahe legte,
da der König dabei nicht für ihn Partei nehmen wollte.
Am 3. Mürz 1871, dem Tage der großen Parade der preußischen Garde
und eines Teiles der bairischen Truppen, die im Bois de Boulogne stattfand
und dem Einmärsche in Paris voranging, schien der Kaiser sehr bewegt darüber,
daß die Dinge sich so ganz anders gestaltet hatten, als er mit Vorliebe bedacht
^das foll vermutlich heißen, daß Bismarck aus Gründen weiser Politik auf eine
Besetzung nur eines Teiles von Paris, die überdies nur einige Tage dauern
sollte, eingegangen war, während der König und das Heer mehr gewünscht und
gehofft hatten^, und äußerte, als ihm ein Pariser Blatt vorgelegt wurde, das
dem Unvermeidlichen gegenüber zur Vernunft und Ruhe riet und die Hoffnung
aussprach, es werde nichts geschehen, was den Zorn der Preußen reizen könnte:
„Das habe ich ja immer gesagt, daß es so kommen und nicht das Geringste ge¬
schehen würde. Gott verzeihe denen, die es anders gemacht haben, als ich ge¬
wollt." Über die abscheuliche Gemeinheit und den Blutdurst, der sich in dem
ultraradikalen Blatte I,s ?örs DuvQssno aussprach, war der Kaiser empört und
meinte: „Wenn das so fortgeht, werden die Franzosen bald wünschen, daß wir
noch in den Forts wären." Von der bevorstehenden Parade sagte er: „Es
wird heute das erste mal sein, daß ich das ganze Gardekorps mit seiner Land¬
wehr beisammen sehe. Während meiner langen Dienstzeit hat sich das nie so
treffen wollen, und ich freue mich sehr aus den Anblick, der gewiß auch auf die
Truppe selbst einen großen Eindruck machen wird." Dann sprach er von seiner
baldigen Abreise, aber auch von vorheriger Besichtigung der sächsischen und
wttrttembergischen Truppen auf der Ostseite von Paris, da diese ja durch die
„neuen Arrangements" ^Bismarcks) um den Einmarsch in die Hauptstadt ge¬
kommen wären, und er ihnen doch seinen Dank aussprechen müsse.
Am 4. früh bat Schneider den Kaiser, ihm den Inhalt der Anrede, die er
nach Beendigung der Parade an die Generale und Stabsoffiziere gerichtet hatte,
zu diktiren, da es wünschenswert sei, daß man ihn genau und bald in der ge¬
samten Armee erführe, und dabei kam es zu einem charakteristischen Vorgange.
„Der Kaiser war sogleich damit einverstanden — erzählt Schneider —, und
diktirte mir wie gewöhnlich rasch aus dem Gedächtnisse, sodaß ich nur einzelne
Worte und Sätze notiren konnte, deren Zusammenstellung er mir dann überließ.
Der Schluß lautete nach dem Diktat: »Vergessen wir aber nicht, daß wir alle
der Vorsehung unsern Dank schuldig sind, welche es gewollt hat, daß wir das
Werkzeug waren, um so große welthistorische Ereignisse herbeizuführen.« Da
es noch früh war und genug Zeit bis zum Anfange der Vorträge übrig blieb,
so ging ich in das Nebenzimmer, um sofort das Diktat ins Reine zu schreiben
und es dann gleich zur Genehmigung vorzulegen. Während ich damit beschäf¬
tigt war, kamen mir Bedenken gegen die Fassung. »Die Vorsehung hat es ge¬
wollt, daß wir das Werkzeug warm.« Es schien mir nicht gerechtfertigt, daß
der Mensch, und sei es auch der mächtigste, sich mit solcher Bestimmtheit für
eingeweiht in den Willen der Vorsehung und für ihr Werkzeug erklärt. Ich
erlaubte mir daher die Änderung: »Die Vorsehung hat es gestattet, daß wir
ihr Werkzeug sein durften,« und ging ganz stolz auf meine Verbesserung in das
Arbeitszimmer zurück, um mir die Genehmigung zu erbitten. Als ich an die
fragliche Stelle kam, unterbrach mich der Kaiser mit den Worten: »Das habe
ich nicht gesagt. Ich habe gesagt: Die Vorsehung hat es gewollt.« — »Ich
hatte es auch so mit Bleistift niedergeschrieben — antwortete ich —, aber bei
der Fassung kamen mir Bedenken, ob auch jeder der Leser den Gedankengang
Eurer Majestät sofort richtig erkennen werde. Was die Vorsehung gewollt hat,
kann der Mensch nicht wissen.« — »Glauben Sie denn — erhielt ich da zur
Antwort —, daß ich die schwere Last dieses Krieges Hütte tragen können, oder
daß solche Erfolge möglich gewesen wären, wenn ich nicht fest überzeugt wäre,
daß die Vorsehung gewollt und uns zu ihrem Werkzeuge ausgewählt hat?
Schreibe» Sie genau, wie ich es Ihnen diktirt habe.« — »Zum erstenmale
stimmt meine Auffassung nicht mit der Ausdrucksweise Eurer Majestät überein«,
wagte ich zu bemerken. »Ich bitte daher, Eure Majestät wollen die Gnade
haben, das Wort gestattet in gewollt abzuändern und dann das ganze Schrift¬
stück zu unterzeichnen.« — »Was das für ein Eigensinn ist! Geben Sie her.
So — jetzt werden Ihre Bedenken wohl gehoben sein.«" So entstand ein
Dokument, welches höchst interessant ist, insofern es zeigt, daß Kaiser Wilhelm
daran nichts ändern ließ, „weil er eben damit den innersten Gedanken seines
Herzens aussprechen wollte: Nicht uns, nicht uns! Ihm allein die Ehre!"
n einer ernsten Zeit, wie es die unsrige ist, dürfte es auch wohl
dem, der nicht gewohnt ist, mit der Feder im Dienste der Öffent¬
lichkeit zu arbeiten, gestattet sein, sein Scherflein beizutragen,
wenn es darauf ankommt, eine Notlage und deren mögliche Abhilfe
zu erörtern. Ich stehe an der Grenze des Lebens, wo man für
seine Person nicht mehr vorwärts, sondern rückwärts sieht, wo man mit
seiner eignen Thätigkeit abgeschlossen hat und hinter sich blickt auf ein langes,
arbeitsvolles Leben. Es hat ein halbes Jahrhundert im Dienste der Landwirt¬
schaft umfaßt, und mehr als vier Jahrzehnte davon waren der Bewirtschaftung
großer Pachtgüter für eigne Rechnung gewidmet. Mit frohem Mute und unter
günstigen finanziellen Verhältnissen begann ich. Die allerschwersten, ja beinahe
vernichtende Unglücksfälle, wie Mißernten, furchtbare Wasserschäden, großes
Viehheerden, Brandschäden u. s. w., führten aber binnen kurzem zur drangsal¬
vollsten Not, ans der nächst Gottes Hilfe nur durch eine mir unvergeßliche
Beihilfe mir ganz fernstehender Personen herauszukommen war. Dann endlich,
nach langen Jahren des Fleißes, gestaltete sich das wirtschaftliche Erträgnis
günstig, und ich kann jetzt beim Abschluß meines Lebens wohl sagen, es ist
mühselig und voll schwerer Arbeit, aber doch voll reichen Segens gewesen. Ich
schicke das voraus, um damit zu beweisen, daß ich wohl eigentlich wenig be¬
rechtigt bin, über die derzeitige Notlage unsrer Landwirtschaft und die Mittel zu
deren Abhilfe ein Urteil abzugeben. Es entspringt das aber auch einem ge¬
wissen Drange zur Dankbarkeit gegen das Fach selbst, dem ich von Geburt und
Familie fern stand, dem ich aber mit der Arbeit meine Befriedigung und in
rastloser Hingebung meine Erfolge verdanke. Ich stelle ferner, wie jeder vor¬
urteilsfrei denkende Mann, das landwirtschaftliche Gewerbe so überaus hoch,
daß ich es nicht für einen Schaden erachte, wenn ein Baustein, der zur
Befestigung desselben bestimmt ist, auch einmal unnötigerweise herzugetragen
werden sollte.
Des ganzen Staates Macht und Allgewalt, seine gesicherte Fortdauer be¬
ruht vorzugsweise auf dem Landbau, auf der von ihm in Anspruch genommenen
Bevölkerung und ihrer auskömmlichen Existenz. Militär und Beamtenstand
gehen meist aus ihm hervor und fußen auf ihm. Bei einem auf eigner Scholle
seßhaften oder auch erbpcichterisch befestigten, selbstthätig wirtschaftenden Grnnd-
besitzerstande, der alle Klassen vom kleinsten Häuslerstellenbesitzer bis zum größten
Großgrundbesitzer in auskömmlichen Verhältnissen gleichartig umfaßt, haben wir
die Sozialdemokratie nicht zu fürchten; namentlich dann nicht, wenn der va-
girendc ländliche Arbeiterstand und der leider auch einem fortwährenden Wechsel
unterliegende Pächterstand mit der Zeit zum Verschwinden gebracht werden
könnte. Einer Befestigung in den landwirtschaftlichen Verhältnissen bedarf es
aber dringend. Wenn eine solche erst erreicht sein wird und die ländliche Kultur
durch Kinder und Kindeskinder auf eigner Scholle munter fortgeht, dann haben
wir, bei einer sonst weisen gesetzgeberischen Fürsorge, keine andre Not zu er¬
warten, als solche, die in vorübergehender Heimsuchung von Gott kommt. Der
Staat und die gesamte bürgerliche Gesellschaft darf also den Landbau nicht
sinken lasten.
Es ist im allgemeinen und vorzugsweise in den beteiligten Kreisen selbst
wenig Neigung vorhanden, das Gewerbe von der Person zu trennen. Und doch
ist diese Scheidung ein dringendes Erfordernis, um zur Erkenntnis zu kommen.
Was der Grundbesitzer an Not und Schaden trägt, so weit dergleichen nicht
aus der allgemeinen Lage des Gewerbes stammt, muß er als eigne Verschuldung
auf sich nehmen. Es ist seine Sache, die außerhalb des Faches liegenden
Übel zu heben, oder wenn dies nicht möglich ist, von einer weiteren Führung
desselben zurückzutreten. Die Landwirtschaft ist Industrie wie jede andre ge¬
werbliche Thätigkeit. Wie allgemein in den Gewerben die Person und die
Ausstattung des Industriellen alles zusammenfaßt, was das Gedeihen der Unter¬
nehmung nach Zeit und Verhältnissen zu begründen vermag, so ist auch der
Landwirt nach seiner Person, seiner Tüchtigkeit, Thätigkeit und Intelligenz,
nach seinem Kapital seines Glückes Schmid. Der Industrielle wie der Land¬
wirt sind Künstler, die sich ihr Instrument unter den eignen Händen gestalten,
und die bei hervorragender Begabung und Ausbildung anch eine mangelhafte
Konstruktion desselben zu überwinden vermögen. Beim einsichtigen Fachmann
erregt es Erstaunen, wenn die Produktionskosten und Erträgnisse der Land¬
wirtschaft allgemein festgestellt und zur Begründung von seiner und seines
Gewerbes Notlage klar dargelegt werden sollen. Sie sind so verschieden, wie
es Güter und Landwirte sind; wenigstens so verschieden als andersartiger
Boden, andre Gegenden und so viele darauf Einfluß habende Verhältnisse es
mit sich bringen. Man nehme vergleichsweise einen Kurszettel zur Hand; man
wird daraus ersehen können, daß sich unter den Brauereien einzelne Aktien¬
gesellschaften befinden, die ein Jahreserträgnis von 4 Prozent, andre bis
hinauf zu 43 Prozent zur Auszahlung bringen, daß ihre Aktien einen Kurs¬
wert von 85 bis über 700 Prozent haben. Das Gleiche gilt von der Land¬
wirtschaft. Wie bei den Brauereien Wasser, Malz und Hopfen, auch die Fabrik¬
anlage überall einen ziemlich gleichen Wert haben und sich nur in den Diri¬
genten unterscheiden, so auch die Landgüter mit ihren verschiedenwertigcn
Wirtschaftern, Pächtern und Besitzern. Es kommt vielfach, ja meist nicht auf
die Unterlage des Gewerbes, sondern auf das Leistungsvermögen des einzelnen
Dirigenten an.
Will man sich eine Kenntnis von den Erträgnissen der Landwirtschaft,
ihrem Stande, ihrem Auf- und Niedergange verschaffen, so gewährt eine solche
der Pachtertrag der Güter. Leider ergiebt sich aber diese Erkenntnis aus dem
Ertrage von Privatpachtungen sehr schwer, und zwar wegen der Verschiedenheit
der ihnen zu Grunde liegenden Kontrakte. Nur aus dem Pachtertrage unsrer
preußischen Staatsdomänen kann sie mit möglichst zuverlässiger Sicherheit ge¬
schöpft werden. Diese haben gleichlautende Bestimmungen, wo der in Rücksicht
zu nehmende Teil aller Gutslasten schon auf den Pächter abgewälzt ist. Es
geht das so weit, daß selbst die Wiederherstellung abgebrannter Gebäude nach
ihrem Neubauwerte auf alleinige Kosten der Pächter, also ohne Beihilfe der
Verwaltung, in Aussicht genommen ist. Die allgemeine Domänen-Feuerschaden-
Versicherung nimmt nämlich die Gebäude der königlichen Domänen nach ihrem
Neubauwerte bei gegenseitiger Verbindlichkeit aller Pächter unter entsprechender
Prämie in Versicherung und hält damit das Kapital für den Fiskus bereit,
das zu ihrer Wiederaufrichtung erforderlich ist.
Unbezweifelt haben wir daher in den Staatsdomänen und deren Pachtertrag
den geeignetsten Wertmesser für den Stand des landwirtschaftlichen Gewerbes.
Es ist deshalb zu beklagen, daß das preußische Landwirtschaftsministerium sich
bisher nicht veranlaßt gesehen hat, eine Zusammenstellung von dem Ergebnis
der ausgeschriebenen Verpachtungstermine dem sich dafür lebhaft interessirenden
Publikum zu geben. So gut das Ministerium ein paar Jahre vorher durch
die landwirtschaftlichen Blätter eine genane Zusammenstellung aller demnächst
pachtfrei werdenden Domänen bringt, und zwar genau nach ihrer Größe, Zu¬
sammensetzung, Grundstenereinschützung und ihrem bisherigen Pachtertrage, unter
Namhaftmachung der derzeitigen Pächter, ebenso müßte es auch nach Ablauf
jeden Jahres eine Zusammenstellung der neuerzielten Verpachtungscrgebnisse der
Öffentlichkeit übergeben. Die Termine dafür sind öffentlich, der ganze Ver¬
lauf derselben und die Verpachtungsergcbnisse sind nach Höhe der erreichten
Pachtquote und dem Namen der neuen Pächter der Kenntnisnahme gar nicht
zu entziehen; es ist deshalb der Grund für eine solche Zurückhaltung des Mi¬
nisteriums schwer zu erklären. Eine Deklaration über die erzielten neuen Pachter
ist aber nicht bloß sür denjenigen wünschenswert, der selbst auf eine Pachtung
ausgeht, sondern auch für den. der zeitgemäß verpachten oder verkaufen will,
und ebenso für alle diejenigen, welche sich über den Stand des landwirtschaft¬
lichen Gewerbes unterrichten wollen. Aus diesem Grunde kann es denn anch
nicht hoch genug geschätzt werden, daß der preußische Staat im Besitze so vieler
kleiner und großer Domänen ist, die über alle Gegenden und unter die ver¬
schiedensten Verhältnisse des Staates verteilt sind. Unter gewissen Umständen,
auf die ich später noch kommen werde, dürfte es sogar angemessen erscheinen,
diesen Güterbesitz des Staates weiter auszudehnen. Einen Maßstab muß die
Staatsverwaltung haben, um in Recht und Billigkeit ihre gesetzgeberischen Wege
zu gehen.
Aus dem Rückgänge der Pachterträgnisse hat denn auch die Staatsver¬
waltung den allgemein herrschenden Notstand in der Landwirtschaft erkannt
und ist dem Weilern Niedergange ihrer Erträgnisse durch Einführung von
Schutzzöllen bereitwilligst entgegengekommen. Ob solcher Schutz aber für eine
längere Zeit aufrecht zu erhalten möglich sein wird, ist doch die Frage. Die
Landwirtschaft muß sich auf eine Herabsetzung, vielleicht gar einmal auf den
Wegfall derselben gefaßt machen. Er wird kommen, wenn schlechte Ernten im
Inlande hohe Preise bringen, und wir der allgemeinen Notlage der Gesamt¬
bevölkerung nicht die gesonderte der Landwirtschaft gegenüber zu halten be¬
rechtigt sind. Daß dann aber der Ausfall nicht allzu vernichtend werde, muß
das Gewerbe bei Zeiten sich angelegen sein lassen. Es gewährt dafür Trost,
die gewaltigen Fortschritte zu überschauen, die der landwirtschaftliche Betrieb in
den letzte» Jahrzehnten gemacht hat, wie rüstig und emsig daran weiter gear¬
beitet wird, und welcher Ausdehnung die Produktion bei intensiver Kultur noch
fähig ist. Und gerade auf solche weitere Ausdehnung, wie auf Moorboden
und in wenig entwickelten Gebieten, kommt es für unser reichbevölkertcs Vater¬
land wesentlich an, das mit allen Mitteln billigen Kapitals und hoher In¬
telligenz aufs beste ausgestattet ist.
Ein schwerwiegendes Hindernis, das sehr deutlich eine mit der gröszern
Produktion nicht Schritt haltende Konsumkraft bekundet und damit einem gleich¬
mäßigen Fortschritte entgegensteht, ist der Niedergang in den Erträgnisse» unsrer
Viehzucht. Wenn man ins Auge faßt, wie innig ein blühender Landwirtschafts-
betrieb mit der Entwicklung der Viehzucht, insbesondre der Aufzucht und
Mästung, zusammenhängt, so ist dieser Übelstand tief beklagenswert; denn nur
eine reichliche und billige Düngerproduktion ermöglicht anch wieder auskömm¬
liche, reiche Ernte». Gehen aber die Preise für die Produkte der Viehzucht
derartig zurück, wie es in den letzten Jahren der Fall ist, dann erscheinen die
Aussichten für eine Besserung der landwirtschaftlichen Zustände sehr getrübt.
Ich mag hierbei noch gar nicht des unrettbar verloren gegangenen wichtigsten
Zweiges derselben, der Schafzucht, dieses bedeutenden Gliedes der Viehhaltung
auf leichtem Boden, besonders Erwähnung thun. Sie ist zu Grabe gegangen,
wenigstens mit ihrer Rentabilität, durch die Konkurrenz des Auslandes in der
Wollproduktion, und findet auch kein Auferstehen wegen der geringen Neigung
des deutschen Volkes für den Verbrauch von Schaffleisch. Würde der Ver¬
brauch von Schaffleisch größer sei», so wie beim Engländer, so würden wir
wenigstens auf leichtem Boden, der ganz wohl dafür geeignet ist, eine Fctt-
vder Fleischschafzucht betreiben können.
Die Hebung einer durch ihre mangelhafte Verwertung im Inlande be¬
schränkten Produktion durch den Export allein ist auf die Dauer nicht möglich;
es muß zu einer Hebung des inländischen Verbrauchs kommen. Und daß eine
solche in einem selbst bedeutenden Umfange für den Fleischverbrauch zu er¬
möglichen wäre, läßt sich bei allseitig thatkräftiger Unterstützung gewiß nicht in
Abrede stellen. Es ist eine bekannte Thatsache, daß der zur Zeit so sehr aus¬
gedehnte Zwischenhandel ganz unerhörte Vorteile in Anspruch nimmt und die
Preise, welche der Produzent löst, für den kleinen Konsumenten nahezu ver¬
doppelt. Noch mehr aber als beim Fabrikanten ist dies beim Landwirt der
Fall, dem nicht wie jenem so vielfache Hilfsmittel zur Seite stehen, die ihm
Kenntnis und Wege zur bessern Verwertung an die Hand geben. So ist es
z. B. beim Mastvieh. Welche unermeßlichen Werte bleiben da von: Ursprungs-
orte bis zum kleinen Haushalte in den Taschen der zahlreichen Mittelspersonen
zurück! Wenn des Arbeiters Hausstand das Fleisch nur annähernd zu dem
Preise bekäme, den der Landwirt erzielt, wie viel billiger und besser würde der
Arbeiter leben, wie viel mehr würde er leisten, wie viel zufriedener würde er
sein können! Die Annahme, daß die Konkurrenz allein, oder anch nur vor¬
zugsweise, die Preise billiger zu gestalten vermöge, ist irrig, auch der befangenste
muß davon zurückkommen; im Gegenteil, schlechter und erheblich teurer als ohne
sie, die sich häufig sogar noch zur Erstrebung höherer Preise vereinigt, gestaltet
sich dnrch sie der Umsatz.
Ob es nun da nicht angebracht wäre, wenn einmal vorübergehend ein Keil
eingeschoben würde und die städtische» Verwaltungen, vielleicht auch eine Ver¬
einigung von größern Fabriken und Werken, sich herbeiließen, die notwendigsten
Nahrungsmittel an Fleisch und Brot dein Arbeiterstande ohne gewerbsmäßigen
Zwischeunutzcn zum Verkauf zu bringe», muß einer ernsten Erwägung anheim¬
gestellt werden. Eine Vereinigung von Produzenten, der Landwirte und Vieh-
mäster für diesen Zweck, dürfte wohl nicht ganz der Aufgabe entspreche». Sie
würde sich mehr oder minder, jedenfalls aber mit der Zeit, treiben lassen, in
die altgewohnten Reihen einzutreten, und dann mitzunehmen, was sie an Ge¬
winn sich schaffen kann. Sie würde keinesfalls andauernd auf eine erhebliche
Ermäßigung der Einzelpreise einwirken. Villige Preise aber nur vermögen den
bei uns so sehr darniederliegenden Fleischverbrauch zu heben und ihn bis in
die niedersten Schichten zu Nutz und Segen der Arbeiterbevölkerung auszu¬
dehnen. Wie von staatlichen Mvnopolverwaltnngen es gerühmt wird, daß sie
ohne große Erschwernisse bedeutende finanzielle Mittel schaffen, so könnten
anderseits wohl einmal die städtischen Verwaltungen sich dem allgemeine» Nutzen
förderlich erweisen, wenn sie dem Arbeiterstande sein Hauptnahrungsmittel billig
und doch gut in kostenloser Vermittlung zu beschaffen suchten. Polizeiliche
Taxen sind anerkanntermaßen dafür ungenügend.
Die Landwirtschaft hat nun aber nicht allein mit den für sie äußerst
niedrig stehenden Preisen ihrer Produkte zu kämpfen, mich deren Erzeugung
wird ihr erschwert, wenigstens sehr erheblich verteuert. Am einschneidendsten
ist in dieser Beziehung die mehr und mehr um sich greifende Entvölkerung des
platten Landes und der gewaltige Umzug, der von dort in die Städte hinein
stattfindet. Er entzieht der Landwirtschaft den bei ihrem Fortschritt zur intensiven
Kultur so dringend nötigen kräftigen Arbeiterstand und häuft auf die Städte
eine immer mehr zunehmende Last von Sorgen, Ärger, Plant und Qual. Endlich
schwellen durch ihn auch die für eine ruhige Entwicklung des Staates so ver¬
derblichen Massen einer unsteten Bevölkerung immer gewaltiger an.
Die Landwirtschaft ist in so manchen Provinzen neuerdings vielfach ge¬
nötigt, sich die erforderlichen Arbeitskräfte aus weniger kultivirten Gegenden
kommen zu lassen. Dieses Übel ist schon so weit vorgeschritten, daß selbst das
ländliche Dienstgesinde, wie z. B. im Königreich Sachsen, aus andern Ländern
beschafft werden muß. Wenn man bedenkt, welche großen Werte, namentlich
im Vieh, der sorgsamen Pflege des Gesindes überwiesen werden müssen, wie
abhängig Kultur und Ertrag überhaupt von einem auf der Scholle eingelebten
Gesinde- und Arbeiterstande sind, dann wird man den schweren Druck dieses
Übels ermessen können. Dieses Übel entspringt nun aber nicht bloß daraus,
daß der erwähnte Umzug in der Hoffnung auf bessere Löhne und die größern
Annehmlichkeiten des Lebens in der Stadt gemacht wird — denn die erstern
sind bei genauer Erwägung aller Umstände nicht mehr so verschieden zwischen
Land und Stadt, als sie es in frühern Zeiten waren, und die letztern, die er¬
träumten Annehmlichkeiten, gehen mit dem Zuwachs der Familie gar bald ver¬
loren —, sondern das Übel kommt hauptsächlich daher, daß dem jungen, kräftigen
Arbeiter, der es durch Arbeit und Dienst, auch durch Erheiratung :c. zu etwas
Vermögen gebracht hat, nicht ermöglicht ist, sich auf dem Lande in eigner kleiner
Wirtschaft seßhaft zu machen. Wäre dem fleißigen Arbeiter die Gelegenheit
mehr geboten, sich, wenn auch nur im bescheidensten Maße, auf kleiner Scholle
selbständig zu machen, so würde der arge, immer mehr zunehmende Übelstand
zum Aufhören kommen.
Staat, Städte und Landwirtschaft haben die allerdringendste Veranlassung,
hierfür Hilfe zu schaffen. Der Staat, indem er sich eine körperlich und geistig
kräftige Bevölkerung auf dem Lande erhält, die ihm einen allezeit tüchtigen
Stamm für das Militär und seine monarchische Zukunft abgiebt; die Städte,
um ihr immer mehr anschwellendes Armenbudget zu vermindern; die Landwirt¬
schaft, indem sie sich unabhängig von den äußern Verhältnissen stellt und sich
stützt auf eine Bevölkerung, die ihr durch Erziehung und Ausbildung nahe steht.
Wir müssen nun einmal erkennen und daran festhalten, daß wir einer ganz
neuen Zukunft entgegentreiben, und daß wir mit allen Mitteln nicht mehr im¬
stande sind, die altgewohnten Verhältnisse andauernd aufrecht zu erhalten. Zu
solchen gehört unzweifelhaft dasjenige unsers Dienstpersonnls. Es werden die
Zeiten kommen, und sie sind vielfach schon vorhanden, wo der Grundbesitzer
sein Gesinde sich nur aus dem Arbeiterstande seines Ortes beschaffen kann, wo
dasselbe in der elterlichen Familie bleibt, wo also elterlicher Zwang und der
Drang des Familienlebens in Anspruch genommen werden muß, um das jüngere
Glied desselben an Haus und Ort festzuhalten.
Hat der Grundbesitzer tüchtige Arbeiterfamilien in auskömmlichen Woh¬
nungen, so ist er in der Lage, sich sein Gesinde angemessen zu beschaffen. Es
gehört freilich dazu, daß er eine Kleinigkeit mehr an Kosten aufwende als
bisher, damit auch Eltern und Angehörige von dem dienstlichen Einkommen
Nutzen ziehen. Gewöhnlich genügt es aber schon, daß man dem unverheirateten
Gesinde dasselbe an Lohn, Kost und andern Einkünften gewährt, was sonst
nur das verheiratete Gesinde bekommen würde. Dadurch fällt für Eltern und
Angehörige so viel ab, um diese zu bestimmen, ihre Kinder von anderweitiger
Vermietung und namentlich dem für die Mädchen häufig so verderblichen Abzug
in die Städte zurückzuhalten. Der höhere Betrag für eine derartige Gesinde¬
beschaffung wird reichlich aufgewogen durch die Erhaltung der auf ihre An-
stelligkeit erprobte» Personen und die Zufriedenheit, die sich auf die gesamte
Arbeiterwelt des Gutes übertrüge.
Eine befriedigende Beseitigung des herrschenden ländlichen Arbeitermangels
ist meiner Ansicht nach allein durch eine gründliche innere Kolonisation zu er¬
reichen mittels Schaffung kleiner, ja kleinster Hänslerstellen. Es wären dafür
Stellen zu gründen, deren mäßige Größe und bescheidner Ertragswert nötigt,
einen wesentlichen Teil von seinem und seiner Familie Lebensbedarf aus dem¬
jenigen Einkommen zu ziehen, das ihm diese Beschäftigung außerhalb, aber doch
am Orte seiner kleinen Wirtschaft gewährt. Diese Arbeiterivirtschaften dürften
daher nur einen Ertragswert von 200 bis etwa 300 Mark haben, und sollten
deshalb nicht größer sein, als daß sie 2, höchstens 3 Hektaren Acker- und viel¬
leicht i/z Hektar an Wiesenland umfaßten, so, daß kein andres Zugvieh als die
beiden Nutzkühe deS Besitzers gehalten werden könnte. Ferner sollte bei der
Herrichtung derselben darauf Rücksicht genommen werden, daß Wohnung, Stallung
und Scheunenraum nach niederdeutscher Art unter einem Dache bereitet würden,
und endlich, daß die kleinen Arbeiterstellen, namentlich mit den Gebäuden, aber
auch mit dem Lande derartig gestellt würden, daß dereinst zwei oder drei derselben
vereinigt werden könnten. Es würde damit einer spätern Bildung von eigent¬
lichen Bauernwirtschaften vorgearbeitet werden, denn das Größere erbaut sich
demi Bedarf entsprechend zweckmäßig immer erst aus dem Kleinen heraus.
Bei der Neugestaltung derartiger Wirtschaften würde es ferner angemessen
sein, eine gewisse Fürsorge zu treffen, daß sie nicht etwa die Grundlage für ein
späteres Proletariat abgeben. Es müßte zu diesem Zwecke jeder Stelle außer
ihrer Unteilbarkeit die Verpflichtung auferlegt sein, daß sie nur von einer
Familie und deren Angehörigen in Anspruch genommen, daß also niemals noch
einer andern Familie das Recht zum Wohnsitze darauf gewährt werden dürfe.
Ich verkenne es nicht, daß mir von seiten des Staates der Vorwurf einer
spätern Bildung von ländlichem Proletariat gemacht werden kann und daß
deshalb dem Projekt nicht ausreichend beigetreten werden möchte. Aber eine
reiche und langjährige Erfahrung hat mir dargethan, daß dem nicht so ist, daß
vielmehr Wohlstand und Zufriedenheit in die ländlichen Arbeiterkreise damit
einkehren.
Ich hatte in meiner Jugend eine größere Pachtung mit dürftigem Boden,
in armer Gegend, wo ein nicht unerheblicher Teil der Äcker wegen tiefer, un¬
entwässerbarer Lage nicht von mir selbst bebaut werden konnte. Er wurde
von mir an die kleinen Leute und Arbeiter des Ortes in Afterpacht ge¬
geben, und dies war nun die Veranlassung, daß auf diesen mir und meinen
Vorgängern nicht nutzbaren Flächen sich eine Kultur entwickelte, die, ähnlich der
belgischen, meine höchste Achtung herausforderte. Bei meinem Abschiede wurde
mir damals, im Gegensatze zu einer von höherer Seite kommenden Verurteilung
dieses Systems, von dem Vormäher, einem sehr tüchtigen Manne, mit dem
ich sonst wohl manche» Strauß auszufechten hatte, der unvergeßliche Dank
zu Teil, daß ich aus ihnen, den Arbeitern, durch diese Landvcrpachtung erst
glückliche Menschen geschaffen und sie zu erträglichem Auskommen und einem
gewissen Wohlstande gebracht hätte. Es ist dies Verfahren von meinem Nach¬
folger zu seinem und der Leute Vorteil auch weiter beibehalten worden.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich davor warnen, sich von der Einführung
eines Systems von Anteilwirtschaft Erfolge zu versprechen. Dieses wird beim
Landbau in größerer Ausdehnung niemals Erfolg haben. Dafür sind die An¬
sprüche, die an Charakter, Intelligenz und Kapitalkraft des Landwirtes gestellt
werden, auch diejenigen Einwirkungen, welche Zeit- und Witterungsverhnltnisse
auf die Erträgnisse ausübe», allzu gewaltig, um von der geringen Bildung und
der Kraft des Arbeiters überwunden werden zu können. Nur in freier, unein¬
geschränkter Wirtschaft, mit freiem, auf der Scholle fest wurzelnden Arbeiter¬
stande, vermag der Landwirt den vielfachen Unbilden seines schweren Berufes
zu begegnen. Er lebt nun einmal streng genommen in einem dauernden, all¬
seitigen Kriege.
Mit der Schaffung kleiner Wirtschaften und der Möglichkeit, daß der kleine
Mann seine Ersparnisse zu seinem und der Seinigen dauernden Nutzen in
Grund und Boden anlegen kann, wie es sein höchster Wunsch ist und sich auch
schon in der Anlegung seiner Gelder auf kleine Hypotheken ausspricht, dürfte
auch die Auswanderung mehr eingeschränkt werden. Denn nicht etwa um der
Militärpflicht — dem Blutzoll, wie eine frivole Presse sagt — zu entgehen,
wendet der Deutsche seinem Vaterlande den Rücken. Der militärische Dienst
ist dem Landmann kein Opfer, sondern eine von ihm wohl gewürdigte gute
Schule, die ihm zu körperlicher und geistiger Ausbildung dient, ihm Achtung
und Ansehen giebt und ihm angenehme Erinnerungen für sein ganzes Leben
zurückläßt. Daß die großen Güter im Norden und Osten Deutschlands ge¬
schlossen sind, AbVerkäufe nur unter den erschwerendsten Umständen gemacht
werden können, hat die Auswanderung aus diesen aus früher» Kriegszeiten an
und für sich schon dürftig bevölkerten Provinzen zur Folge gehabt. Wenn die
preußische Domäuenverwaltung mit der Parzellirung von Domänen in diesen
Teilen der Monarchie keine Erfolge erzielte, so lag das daran, daß es den
zu schaffenden Bauernwirtschaften an dem notwendigen Arbeiterstande fehlte. Es
ist ja dem Bauer nicht zu verargen, daß er sich sträubt, die gesamte schwere
Wirtschaftsarbeit allein auf seine und seiner Familie Schultern zu nehmen. Er
kennt die großen, stets gefüllten Bierpaläste der Städte und möchte mich
einmal, wenigstens am Abend, seine Pfeife Tabak in Ruhe genieße».
Die innere Kolonisation kommt jedem zu Gute. Und wie wir ausreichende
Kraft an Leuten und Geldmittel zu ihrer Ausführung haben, so fehlt es anch
nicht an Raum und Boden dafür. Wir sollten doch jeden geeigneten Umstand
nützen, unsre Bevölkerung nutzbringend zu mehren. Die Zeit der Auseinander¬
setzung mit unsern mißgünstigen Nachbarn, auf die sich unsers Staates weise
Führer so mächtig vorbereiten, wird früher oder später kommen; möchten wir
dann nicht bloß gewappnet, sondern auch zahlreich genug sein, um dem allseitig
gewaltigen Andrange mit Erfolg widerstehen zu können.
Die Verwaltung der preußischen Staatsdomänen sollte den Bau von eigent¬
lichen Arbeitcrwohnhäusern auf ihren Gütern aufgeben und an deren Stelle mit
der Errichtung kleiner Wirtschaften vorgehen, sich also vorläufig nur auf die
Herrichtung von Wohnungen für das wirkliche Dienstgesinde beschränken. Der
Übergang zur Beschaffung des Dienstgesindes aus den neu gewonnenen Kolo¬
nistenfamilien wird sich für spätere Zeiten von selbst ergeben.
(Schluß folgt.)
WM
Mönnte es jemanden geben, dem die weittragende Bedeutung des
Schulvereinsgedankens nicht sofort einleuchtete, dem müßte das
Verhalten unsrer nationalen Gegner die Augen gewaltsam öffnen.
Was in den russischen Ostseeprovinzen seit Jahrzehnten gegen das
dortige zähe Deutschtum geübt wird, spottet jeder Beschreibung und
bedarf auch wohl keiner solchen, denn es „schreit zum Himmel um Rache." Da
aber diese Gewaltthaten von einer uns „befreundeten" Regierung ausgehen, so
werden die baltischen Deutschen wohl noch lange auf Selbsthilfe angewiesen sein
und diese hoffentlich so kräftig und so lange ausüben, bis andre Zeiten gekommen
sind. Die polnischen und wendischen Landesteile Preußens sind durch ihre
Staatsangehörigkeit in die bloße Verteidigung geworfen, wehren sich aber hart¬
näckig gegen die unabweisliche Germanisation. In diesen Gebieten ist es Sache
der preußischen Regierung, für das Deutschtum zu wirken.
Um so ärger ist aber der Streit in Österreich ausgebrochen, wo ein
slawenfreundliches Regiment dem Schulverein kühl bis ans Herz hinan gegen¬
übersteht. Kaum war von feiten der Deutschen nicht etwa ein Angriffskampf,
sondern nur eine ehrliche Verteidigung organisirt, als auch mit einem Schlage
die Gegenrüstung begann. Nie ward über einen Verein so viel Zeter ge¬
schrieen, so viel verleumdet, verdächtigt und Lärm geschlagen wie über diesen
„Deutschen Schulverein," dessen gesunde Kraft hiermit glänzend anerkannt
war. Wenn ich die wichtigsten Schöpfungen, die von unsern Gegnern zur
Abwehr ersonnen wurden, aufzählen will, muß ich gleich vorausschicken, daß über
die innere Einrichtung derselben nichts zu sagen übrig bleibt, weil sie überall
der des „Deutschen Schulvereins" nachgebildet ist. Auch der Zweck aller dieser
Vereinigungen ist mit dem einzigen Worte „Paralysirung des schädlichen, ent¬
setzlichen, ja grausamen und gottlosen Schulvereins" erschöpft, mag man nun
die genannten fürchterlichen Einflüsse von tschechischen, slovakischen, slovenischen
oder italienischen Kindern abwehren wollen.
Weitaus die wichtigste Gegenmaßregel ist die Ilsttoäiu og-tief slmlskä
in Prag, deren Gründung dem „Deutschen Schulvereine" fast auf dem Fuße
folgte. Mit einem jährlichen Aufwands von fast 200 000 Gulden unterhält sie
Gymnasien, Realschulen, Volksschulen, Kindergärten u. s. w. in allen drei Ländern
der ehemaligen Wenzelskrone (Böhmen, Mähren und Schlesien) und hat in
einer bedeutenden Anzahl von Fällen den großen Erfolg zu verzeichnen, daß
ihre Schulgründungen schon nach kurzer Zeit von den betreffenden Gemeinden
auf eigne Kosten übernommen werden mußten, wodurch bedeutende Mittel wieder
für andre „bedrohte" Punkte frei wurden. An Opferwilligkeit leuchtet das
tschechoslawische Volk dem deutschen weit voran, da es, obwohl ärmer und
minder zahlreich, fast dieselbe Höhe der Zuflüsse an Geldmitteln erreicht.
Man hat berechnet, daß 15 000 Tschechen für ihren Schulverein dasselbe
leisten wie 85 000 Deutsche in Österreich, und das Verhältnis würde noch
zehnmal ungünstiger sein, wenn Gesamtdeutschland in Rechnung käme. Die
Ursache liegt teils in der größern Thatkraft, welche den Minderheiten stets
innewohnt, teils in dem Entgegenkommen der leitenden Kreise, teils in der
ausgiebigen Teilnahme des tschechisch gewordenen Hochadels, teils aber auch in
der nie erlöschenden Liebe dieses slawischen Stammes zu seiner schönen Heimat,
einer Liebe, die sogar von Amerika herüber bedeutend einwirkt und in den be¬
kannten Wallfahrten, welche die amerikanischen Tschechen zum Prager National¬
theater unternommen haben, ihren Gipfelpunkt findet.
Ein zweiter tschechischer Schulverein, welcher den Namen des berühmten
landsmännischen Pädagogen Comenius (eigentlich Komensky) führt, hat seinen
Sitz unter den zahlreichen Böhmen in Wien und soll allmählich auch diesen die
Wohlthat eigner Nationalschulen überall zukommen lassen. Obwohl bisher
nur in dem Arbeiterviertel Favoriten eine solche Schule besteht, so ist doch auch
dieser Verein nur zu sehr geeignet, die bis dahin, wie alle Einwohner des viel¬
sprachigen Wiens, kosmopolitischen Schuster und Schneider zu fanatischen Hussiten
zu machen und auf diese Weise ein müheloses Werk der Germanisirung zu ver¬
nichten. Daneben giebt es noch Provinzialverbände nach Art des „Deutschen
Böhmerwaldbundes" oder des „Bundes der Nordmährer," von denen nicht
bloß die Schule, sondern mehr noch die materiellen Interessen der betreffenden
Landschaften, Industrie, Landwirtschaft u. s. w. aus den Geldern der Volks¬
genossen unterstützt werden sollen und auch der nationale Geist belebt werden
soll. Diese tschechischen Schöpfungen sind fast überall als trotzige Antwort auf
vorangegangene deutsche Schutzvereine entstanden und bestehen daher für den
Böhmerwald, das nördliche Böhmen und andre Orte mehr. Zu erwähnen ist
auch der alte Verein Kg-tief kiau, für die Volksbildung berechnet, jedoch immer
mehr in eine einseitig nationale Richtung hineingedrängt.
Von den Polen läßt sich so viel Rührigkeit nicht berichten. In Deutsch¬
land dürfen sie nicht, wie sie gern möchten, und in Österreich brauchen sie,
wenigstens den Deutschen gegenüber, keine große Verteidigung. Die Polen
haben zu jeder Zeit eine exklusive Stellung eingenommen, spielen im öster¬
reichischen Parlamente das Zünglein an der Wage und im eignen Landtage
die unbeschränkten Herren. Eine nationale Schulbewegung, die gegen die Deutschen
gerichtet wäre, kann hier schon deswegen nicht leicht organisirt werden, weil
das gemeinsame Grenzgebiet nur äußerst klein ist und nicht einmal das kleine
Herzogtum Teschen vollständig umfaßt. Außerdem ist die polnische Kultur in
den Kreisen, die der Volksschule bedürftig sind, gegenüber der deutschen so
weit und so offenbar zurück, daß sie es nur mit Freuden begrüßen kann, wenn
irgendwo ein deutscher Schulmeister sich niederläßt. Solche vereinzelte Bildungs¬
inseln kommen über das ganze Kronland Galizien zerstreut vor und werden be¬
sonders von den unzähligen Juden dieses Landes aus praktischen Rücksichten
begünstigt. Wenn also ein polnischer Schulverein, etwa die OLviatg, luäova,
Schulen und sonstige Anstalten errichtet, so geht er hierbei wohl nicht als
Kämpfer gegen andre Stämme, sondern nur als friedlicher Kulturträger vor.
Kampf, und zwar der Kampf des Unterdrückers, wird höchstens gegen ein
Brudervolk geführt, gegen die russenfreundlichen Nuthenen.
An der östlichen Sprachgrenze heruntergehend, begegnen wir dem harm¬
losen Völkchen der Slowaken, deren Nationalgefühl allerdings auch einige Hei߬
köpfe hervorgebracht hat, bei den meisten Angehörigen dieses Stammes aber,
den weltbekannten Topfbindern und Kesselflickern, sich nur in süßen und schwer¬
mütigen Heimatsliedern äußert. Ferner den Magyaren, die leider keinen Schul¬
verein nötig haben, um alles Deutsche, was sich bei ihnen findet, unbarmherzig
zu magyarisiren. Gegen diesen Widersacher wird sich so lange nichts ausrichten
lassen, als die westliche Reichshälfte von der östlichen in allen möglichen Dingen
bevormundet wird. Die Magyaren haben die schon angedeutete Periode des
künftigen Völkerkampfes am frühesten vorausgesehen und ihre kleine Schar am
genauesten berechnet; sie fanden aber in dem Dualismus der Monarchie, durch
den sie, obwohl sie selbst im eignen Lande die Minderheit bilden, zu unbe¬
schränkter Herrschaft gelangten, das kräftigste Hilfsmittel zur Züchtung eines
ungarischen Patriotismus, und wehe dem Deutschen oder Rumänen aus Sieben¬
bürgen oder dem Banate, der diesen nicht auch magyarisch zu beteuern vermöchte!
Die weit gedehnte Südgrenze des deutschen Sprachgebietes ist nicht minder
scharf bewacht und eifrig befehdet. Ganze Kronländer, wie das naturschöne
Kram, sind in den letzten Jahren fast über Nacht dem Deutschtume entrissen
worden, und Natiönchcn, wie die Slovenen oder Winden, von deren Litteratur
ein österreichischer Abgeordneter mit Recht sagt, daß sie in der Westentasche zu
tragen sei, haben mit zwei uralten Kulturvölkern einen erfolgreichen Kampf auf
allen Linien eröffnet, und diese letztern selbst, die Deutschen und Italiener,
machen einander jeden Quadratfuß Erde streitig. Welch ein erbittertes Auf-
einanderplatzen der Gegensätze in jenem Völkerwinkel der Adria! Kampf ist
Leben. Ja freilich, aber welches Leben bringt er hier zu stände I Das Denkmal
eines der edelsten deutschen Dichter muß in Laibach von der Polizei bewacht
werden, damit es nicht gemeine Gassenjungen besudeln, und in Trieft jubelte
man offen dem Andenken des Meuchelmörders Oberdank!
Der slovenische Schulverein hat sich einen Namen gewählt, der allein schon
ein mächtiges Agitationsmittel ist. Indem der südslawische „Cyrill- und Method¬
verein" in den schützenden Falten des Talars jener hochberühmten Slawen¬
apostel einherwandelt, hat er mit schlauer Berechnung der Bigotterie seiner meist
bäuerischen Volksgenossen einen Verbündeten gewonnen, der auch bei den Nord¬
slawen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Während der deutsche Priester
mit wenigen Ausnahmen seinem eignen Volke als Römling fremd gegenüber¬
steht, ist sein slawischer Amtsbruder der zuverlässigste und durch seinen Einfluß
auch wichtigste Vorkämpfer des Nationalismus, und so manche Errungenschaft
des Gegners wäre ohne ihn gar nicht möglich gewesen.
Von ebenso sichern Erfolgen ist auch die Arbeit des italienischen Rivalen
gekrönt. Schon die stolze Aufschrift desselben: ?ro Mria läßt durchblicken,
für welche Zukunft er vorbereitet, und da die Italiener eine offen ausge¬
sprochene Jrredcnta mit unzweideutigen Programm besitzen, so darf es uns nicht
Wunder nehmen, wenn bei allen politischen Verhaftungen, die in jenem Grenz¬
gebiete mit der heißen Sonne und den noch heißern Köpfen so häufig vor¬
genommen werden, die Personalien des Verhafteten auch seine Mitgliedschaft
bei diesem Bunde erweisen. Daten zu geben ist dem Verfasser dieser Zeilen
nicht möglich geworden; es scheint fast, als hütete sich der über ganz Jstrien,
Dalmatien und Südtirol ausgebreitete Verein, von seinem Gebühren öffentlich
statistische Rechenschaft zu geben. Leider ist seine deutschfeindliche Thätigkeit
auch ohne diese an dem steten Zurückweichen der deutschen Stellungen deutlich
zu erkennen.
Das Schweizergcbiet, das bekanntlich von Deutschen, Italienern und Fran¬
zosen bewohnt ist, vermag unser Interesse nicht in demselben Grade zu fesseln
wie die deutsche Grenzlinie in Osterreich. Einerseits liegt es in der Natur
eines von hohen Bergen und tiefen Thälern erfüllten Landes, daß seine Be¬
wohner an den alten Sitten, der altererbter Sprache mit Zähigkeit festhalten,
anderseits hat die eigentümliche Regierungsform der Republik, die den ein¬
zelnen Kantonen und Gemeinden fast gänzliche Selbständigkeit überläßt, weit¬
gehende Verschiebungen der Nationalgrenzen hinangehalten. Zudem ist bekannt,
daß jeder echte Schweizer sich als Schweizer fühlt und von dem Zusammen¬
hange mit andern großen Völkern blutwenig weiß. Wie könnten da hitzige
Sprachenkämpfe entstehen, solche, die eine beträchtliche Veränderung für die
Zukunft erwarten ließen? Daß es an kleinen Schulzwistigkeiten nicht fehlt,
beweist allerdings das Vorhandensein des „Schweizerischen Schulvereins in
Zürich," der im Jahre 1882 gegründet wurde. Er sucht hauptsächlich der
Verwälschung der südlichen Kantone vorzubeugen, in denen ein langsames, aber
stetiges Zurückdrängen des Deutschtums schon seit längerer Zeit beobachtet
werden kann.
Nun gelangen wir zu einem ganz besonders wichtigen Grenznachbar, der
sich bis vor gar nicht langer Zeit im Besitze zwei deutscher Provinzen befand
und noch immer nicht daran glauben will, daß ihm diese auf ewige Zeiten ent¬
rissen sind. Die Sprachgrenze ist seit 1871 im ganzen und großen auch die
politische Grenze geworden und begünstigt eher das siegreiche Deutschland. Wer
wüßte nicht, wie tief sich der Groll darüber in alle französischen Herzen ein¬
gefressen hat, und wie mächtig der Ruf nach „Revanche" immer wieder erschallt,
wenn irgend ein Fünkchen aufblitzt, das bei gehöriger Schürung zum großen
Weltbrande auflodern könnte? Aber Deutschland ist weise, mächtig und groß,
und die französischen Staatsmänner sind vorsichtig geworden; so ist es denn
wahrscheinlich, daß das Elsaß und Lothringen schon längst wieder auch dem
Herzen nach zu Deutschland vollständig gehören werden, wenn Frankreich endlich
den „Befreiungskampf" vornimmt.
Bei so feindseligen Beziehungen ist es aber auch ganz unmöglich, daß in
diesen Grenzgebieten heftige Schulkämpfe entstehen könnten, oder daß irgend ein
Privatverein gegen die Oberhoheit des Staates sich auflehnte. Hier wie auf
der ganzen westlichen Grenzlinie wahrt sich Deutschland sein gutes Recht und
lenkt die Schulen nach eignem Gutdünken, nur von dem einzigen Streben beseelt,
ein an Kenntnissen tüchtiges und in der Liebe zum deutschen Vaterlande reiches
Volk heranzuziehen. Jede Gegenbestrebung muß als staatsfeindlich verfolgt
werden. Das begriffen schließlich auch die Franzosen und suchten auf andre
Weise Entschädigung. Sie begründeten einen Schulverein, der die ganze Welt
umspannen soll, in allen Erdteilen französische Sprache und Sympathien gro߬
zieht. Er besteht jetzt schon seit dem Jahre 1883.
Die ^lliWvö trg.neM8«z ist offenbar als Konkurrenz und Nachahmung der
deutschen Schulvereine gedacht worden und verfehlt daher bei keiner Gelegenheit,
in Hauptversammlungen, in propagandistischen Reden u. s. w. auf das Beispiel
Deutschlands hinzuweisen, als wirksamstes Mittel zur Anwerbung der noch
Unschlüssigen, denen vielleicht der kleinste Jahresbeitrag von sechs Franks noch
immer zu hoch erscheint. Trotz der eifrigen Thätigkeit der Hauptmacher hat die
Mitgliederzahl erst das dreizehnte Tausend erreicht, aber es läßt sich voraus¬
sehen, daß in kurzer Zeit diese Vereinigung, die von der Regierung im In-
lande und von ihren offiziellen Vertretern im Auslande aveo uns forts <Zv
üövrö unterstützt wird, über bedeutende Summen zu verfügen haben wird, da
sie mit einem Umstände rechnen kann, der bei den Deutsche glücklicherweise
vollständig fehlt, mit der steigenden Angst der Franzosen vor dem gänz¬
lichen Aussterben ihres Volkes. In der That sind derartige Befürchtungen,
so übertrieben sie auch erscheinen mögen, bei den Gebildeten wie bei dem
gemeinen Manne in Frankreich gäng und gäbe geworden. Die Statistik er¬
zählt ihm mit unerbittlicher Regelmäßigkeit, daß die Bevölkerung Frankreichs
nur ganz verschwindenden Zuwachs durch natürliche Vermehrung aufweise,
während die benachbarten Deutschen, Engländer, die Russen u. a. zu bedroh¬
lichen Völkerkolossen heranwachsen. Wie wird es nun den Franzosen ergehen,
wenn einst im großen Riesenkampfe die zehnmal überlegenen Feinde über das
arme Frankreich herfallen werden, um es zu zerstückeln? Auf dem Verordnungs-
wege läßt sich eine größere Fruchtbarkeit nicht erzielen, und so bleibt denn nur
das Mittel der langsamen Gallisirung übrig, welche ganz richtig von der Er¬
lernung der Sprache ausgeht und darauf rechnet, daß diese Kenntnis genügen
werde, um sofort auch an französischen Schriften, Sitten, Anschauungen
und — Exportwaren Gefallen zu finden. Ganz besonders das letztere wird
von den praktischen Rechnern an der Seine als sicher erwartet und als kräf¬
tiges, gesperrt zu drückendes Schlagwort bei der Agitation verwertet; es verrät
auch, bei wem die Lockungen der ^Illanos trsiieÄiso, die natürlich mehr
zum Angriff als zur Verteidigung gegründet wurde, zunächst verfangen sollen,
nämlich bei allen den Völkern, die sich noch halb oder zum dritten, vierten,
fünften u. s. w. Teile im Naturzustande befinden. Ein kurzer Einblick in die
zuletzt ausgegebenen „Bülletins" der Gesellschaft zeigt dies am besten.
Nach diesen betrug die Mitgliederzahl im Jahre 1887 ungefähr 12 000
und die Einnahme rund 90 000 Franks, wovon aber nicht viel mehr als der
dritte Teil zu Unterstützungen verwendet werden konnte. Außerdem bezieht
die ^llisnoo durch die Freigebigkeit der Verleger einen ansehnlichen Wert in
Büchern und sonstigen Schulbcdürfnissen, die bis in die entferntesten Gegenden
der Welt verschickt werden, nach der Türkei, auf den Libanon zu den Ma-
roniten, nach Griechenland zu den Cykladen, Syrien, Algerien, Arran, Tonking,
Westafrika, aber auch nach Spanien, Holland und Böhmen. Mit besondrer
Rührung gedenkt der Bericht der Unterstützungen für letzteres Land, dessen
tschechische Bewohner bekanntlich für Frankreich, als den Erbfeind der verhaßten
Deutschen, ebenso schwärmen wie für das heilige Mütterchen Nußland. In
Böhmen haben sich auch einige Zweigvereine zur Pflege der französischen
Freundschaft gebildet, die zwar mit dem Pariser Hauptverein gesetzlich nicht
verbündet sein dürfen, umso mehr aber von dem deutschfeindlichen Geiste durch¬
tränkt sind, und von der Gelegenheit, billige französische Bücher zu lesen, den
eifrigsten Gebrauch machen.
Wollen die Franzosen mit ihrer Schulpropaganda auch der Politik die
Wege vorbereiten? Das „Bulletin," welches über sämtliche irgendwo abge¬
haltenen Vereinsversammlungen und die dabei gesprochenen Reden genan Buch
führt, giebt auch darüber genaue Auskunft. Die zahlreichen Schulen in Syrien
dienen dem ganz bestimmten Zwecke der Einführung des französischen Geistes
in diese türkische Provinz, weil „Frankreich — wie es in einem dieser Berichte
heißt — sich rüsten muß gegen die Möglichkeit, daß England auch Syrien dem
kranken Manne entreiße." Die Länder französischer Zunge, Belgien, die Schweiz,
Kanada, Mauritius u. s. w., sollen durch die Thätigkeit der ^Ilianoe immer von
neuem daran erinnert werden, daß sie zum großen Mutterlande gehören und
von diesem nicht vergessen worden sind. Nur ein einziges Land ist von der
Wirksamkeit des Vereins ausgeschlossen: „denn wozu würde sie nützen? Es
liebt uns genug, um sich selbst zu bewahren. Auf welche Liste würden wir es
mich schreiben? Es giebt keinen Platz dafür unter den andern Ländern; es
steht abseits, unberührbar, im tiefsten Grunde unsrer Herzen. Es weiß und
sieht dies und täuscht sich nicht über die Bedeutung unsres Schweigens und
unsrer Enthaltsamkeit."
Noch eine Festrede möchte ich zum Schlüsse berühren, weil sie in nicht
wenigen Stellen dasselbe Land „Rührmichnichtan," wie es von Deutschen und
Franzosen, allerdings von beiden mit anderm Sinne, genannt werden könnte, in
aller Zartheit berührt. Die ^IliMLe- hat das Glück, daß gerade die größten
Männer Frankreichs zu ihren eifrigsten Anhängern gehören (Lesfeps ist z. B.
ihr erster Präsident, die Universitätsprofessoren, wie ausdrücklich hervorgehoben
wird, sind ihre thätigsten Werber und Förderer), und so hat denn auch der
greise Renan einem Gesellschaftsabende dieses Vereins dadurch einen besondern
Glanz verliehen, daß er eine an und für sich geistvolle und mit schelmischer
Grazie erfüllte, aber auch den alten Deutschenhaß verratende Ansprache hielt,
aus der ich nach dem Texte des ^ouriM ach vsbat« vom 3. Februar 1838
nur folgende Stellen herausheben will. Er spricht von dem Zuge nach Freiheit,
dem die Franzosen und ihre Sprache stets als Vorkämpfer gedient haben, und
fährt dann fort: „Nun aber hat sich ein so wenig liberaler Hauch erhoben
in der ganzen Welt, daß man beinahe als einen Beweis gegen uns ausgenützt
hat, was doch so hohes Lob verdient hätte. Man hat ohne viele Umstünde
ein Land weggenommen, welches wir, wie sie sagen, nicht zu assimiliren ver¬
standen hätten. Aber die Welt liebt den Starken. Kümmern wir uns nicht
um sie; bald wird sie anders denken. Ich habe stets jene Antwort so schön
gefunden, die Abraham dem Könige von Sodom, seinem Verbündeten, gab:
midi lmimas, oaetsra totis tibi." Im folgenden scherzt er: „Geben Sie Acht,
meine Herren! Es giebt besonders einen Tag, wo der Gebrauch des Fran¬
zösischen recht notwendig sein wird: das ist der Tag des Thales Josaphat.
O, verlängern Sie das Leben der französischen Sprache bis zum jüngsten
Tage! Ich versichere Ihnen, wenn man an jenem Tage deutsch spricht, so wird
es Verwirrung und Irrtum ohne Zahl geben. Alle Entdeckungen, alle guten
Dinge werden von Deutschen hervorgebracht sein müssen. Meine Herren, ich
bitte Sie nochmals, wirken Sie dahin, daß man im Thale Josaphat nicht
deutsch spreche." In diesem kleinen Scherze liegt doch auch recht viel Ernst;
er besagt, daß die Franzosen, auch ein Renan, das. baldige Aussterben ihrer
Sprache befürchten, er sagt aber auch noch deutlicher, daß dieses Volk noch
immer nichts von seinem Dünkel und Gottähnlichkeitsglauben eingebüßt hat.
Einer Antwort aus deutschem Munde ist die zuletzt genannte geplauderte Ge¬
meinheit nicht wert. —
Auf solche Weise ist das deutsche Volk, rings um seine ungeheure Grenz¬
schranke, von grundverschiedenen, aber im Hasse gegen das Deutschtum geeinten
Feinden belagert und in seinen heiligsten Besitztümern, in Sprache, Lied, Sitte
und Gesinnung, an manchen Orten auch in seinem Glauben und, versteckt oder
offen, auch in seinem verbrieften und mit kostbarem Blute errungenen Besitze
bedroht. Überdies muß es auch in fremden Landen, an der Maros, in
Afrika, auf fernen Meereilanden einem rücksichtslosen Entdeutschungskampfe ent¬
gegentreten.
Ist es nicht merkwürdig, daß nur das deutsche Volk den Zielpunkt so
heftiger und erbitterter Schulkämpfe, hinter denen die Politik begehrlich lauert,
abgeben muß, während von andern Völkern nichts ähnliches bekannt ist? Es
muß doch eine gewaltige Macht in dem „deutschen Schulmeister" wohnen,
weil man sich gerade vor ihm so entsetzlich fürchtet, gerade gegen ihn so leiden¬
schaftlich wehrt! Wie verblendet sind aber die Thoren, die seine milden
und nützlichen Gaben verschmähen! Eins sein mit der deutschen Bildung, mit
deutscher Gesittung, das heißt wenigstens geistig zu einem Volke von siebzig
Millionen gehören, dem die Weltherrschaft noch lange nicht entrissen ist, das sie
vielmehr erst noch in sicggckröntem Laufe erstürmen wird. Gegen diesen Ge¬
danken kann auch das eifrigste Sträuben nicht siegreich bleiben, mag es nun
von französischen Träumern oder tschechischen Moskaupilgern ausgehen. Ehre
aber jenen rastlosen und vaterlandsliebenden Männern, die durch die deutschen
Schulen die Größe Deutschlands geistig vorbereiten helfen!
och wird zur Zeit auf keiner deutschen Universität eine Vor¬
lesung angekündigt über die Wissenschaft des gesellschaftlichen Be¬
nehmens. Daß aber dem Gegenstande eine Behandlung zu Teil
werden kann, die ihn für philosophische Betrachtung der Welt
und der Menschen außerordentlich fruchtbar macht, ist zur Ge¬
nüge erwiesen, seit uns der zweite Band von R. von Iherings „Zweck im
Recht" vorliegt. Was ist der vornehmste Zweck der Wissenschaft? Das Wesen
des Menschen zu erkennen. Zwischen dem Wesen aber, das seinen Charakter
ausmacht, und dem Wesen, das in der Redensart gemeint ist: „Sie hat etwas
so Anziehendes in ihrem ganzen Wesen," besteht ein inniger Zusammenhang.
Vielleicht, wenn wir versuchen, dem auf den Grund zu kommen, was uns äußer¬
lich als das Wesen des Menschen entgegentritt, kann es uns auch gelingen,
manches Interessante zu erfahren und nicht unwichtige Aufschlüsse zu erhalten
über unser inneres Wesen, das für uns ebenso rätselhaft wie geheimnisvoll ist.
Mit dieser Aussicht und Aufgabe befinden wir uns aber schon mitten in der
Philosophie.
In der Philosophie des Komplimentirbuches — wendet vielleicht jemand
spöttisch ein. Die Franzosen, die den alten Ausspruch des Aristoteles, daß der
Mensch ein für Gesellschaft bestimmtes Wesen sei, ihrer nationalen Anlage ent¬
sprechend mit besondrer Betonung hervorzuheben pflegen, haben es längst ver¬
standen, ihrer reichen Litterattnr über die Formen des gesellschaftlichen Um¬
ganges durch eingestreute feine Bemerkungen und Betrachtungen einen Wert zu
verleihe», der das Lesen solcher Schriften auch zu einem geistigen Genusse macht.
Das läßt sich freilich Albertis Komplimentirbuch und ähnlichen in Deutschland
öfter augeführten Hilfsbüchelchcn dieser Gattung nicht nachsagen. Dem lang¬
weilig braven Alberti und seinen Nachtretern stand eben nicht das Ange eines
La Bruyere zu Gebote, um die Sitten der Gesellschaft zu beobachten, auch nicht
La Bruyercs Sprache, um sie zu schildern. Übrigens ist die Zeit der Kompli-
meutirbücher auf schmutzig grauem Löschpapier auch für Deutschland vorüber,
man lehrt uns heute den „guten Ton" auf Velinpapier mit Goldschnitt. Auch
die Darstellung sucht meist den größern Ansprüchen gerecht zu werden, die wir
an litterarische Erzeugnisse stellen, die gesellschaftsfähig sein wollen. Wenn
indes ein gebildeter Leser, Mann oder Frau, ein solches Buch durchblättert, ehe
er es als Geschenk weiter giebt, so wird ein Gefühl der Nichtbefriedigung und
Enttäuschung selten ausbleiben. Woran liegt dies?
Eben an der Verkennung der Wahrheit, daß jede Belehrung, die Frucht
tragen soll, in gewissem Betracht eine philosophische sein muß. Mit andern
Worten: jede Unterweisung, die bestimmt ist, den Geist zu bilden, muß aus¬
gehen von sorgfältiger Beobachtung der Thatsachen und einzudringen suchen in
den innern, tiefern Sinn derselben. Der gute Ton aber muß offenbar geistig
vermittelt sein, wenn er den Eindruck einer wirklich zum Wesen der Persönlich¬
keit gehörenden Eigenschaft machen soll. Man wird vielleicht einwenden, daß
der gesellschaftliche Takt, worauf alles ankommt, sich überhaupt nicht lehren
lasse, sondern nur äußere Gebräuche. Das ist aber falsch. Auch die äußer¬
lichsten Formen verlangen immer noch, daß man wisse, wo sie hingehören. Es
kann aber niemand in den Sinn kommen, in kasuistischer Weise alle Lebenslagen
aufzählen zu wollen, in der sich Bildung und Unbildung durch das Benehmen
unterscheidet, mit jedesmal hinzugefügter Anweisung: hier gilt die und die Regel.
Und wenn es möglich wäre, für die Schwierigkeiten, die im gesellschaftlichen
Verkehr auftreten können, stets im Gedächtnisse das Rezept bereit zu halten,
wie sie zu heben seien, so würde doch noch das Wort La Bruyere's Geltung
behalten: Ein Dummkopf tritt nicht ins Zimmer, steht nicht, setzt sich nicht wie
ein Mann von Verstand. Das bloß äußere Umlernen vermag am Dummkopf
nichts zu ändern. Takt aber kann, wenn nicht gelernt, so doch bis zu einem
hohen Grade ausgebildet werden, und wäre es auch uur der Takt des Schwei¬
gens, der oft so viel und noch mehr wert ist, als die köstlichsten Eigenschaften
des Geistes.
Eine Zusammenstellung des Brauches der gebildeten Gesellschaft bei Be¬
grüßungen, bei Besuchen, beim Essen und Trinken u. s. w. hat an sich einen
Wert; in praktischer Hinsicht wird dieser umso größer sein, je sorgfältiger das
Allgemein giltige hervorgehoben, je knapper die Regel gefaßt ist. Aber eine
solche Darstellung muß sich bewußt bleiben, daß damit noch lange nicht der
gute Ton, das korrekte und empfehlende Betragen in guter und gebildeter Ge¬
sellschaft gelehrt wird. Dem Bedürfnis einer Unterweisung, die über die
Wissenschaft der Handhabung von Messer und Gabel hinausgeht, wird jedoch
dann am wenigsten entsprochen, wenn nun als „guter Ton" alles Mögliche
angepriesen wird, was an allgemeinen Lebens- und Klugheitsregeln, an haus¬
wirtschaftlichen Erfahrungssätzen, an modischen Vorschriften über Vriefkvuvcrts
und Namenszüge zusammengerafft werden kann. Die Brücke, welche hinüber¬
führt von einer rein äußerlichen Kenntnis der gesellschaftlichen Gebräuche zu einer
praktischen Philosophie des Umgangs mit Menschen, besteht in einer methodischen
Anleitung zum Selbstauffinden des gesellschaftlich Zweckmäßiger. Goethe sagt
im „Faust": So bald du dir vertraust, so bald weißt du zu leben. Selbst¬
vertrauen ist allerdings erste Bedingung eines vorteilhaften Auftretens. Wie
sollen andre dem trauen, der nicht vermag, zu seiner Persönlichkeit selbst sich
ein Herz zu fassen? Aber es genügt daran nicht. Noch zwei andre Eigen¬
schaften, die dem Selbst entspringen, sind nicht minder erforderlich: Selbst¬
denken und Selbstbeherrschung. Wer nicht stets die Augen offen hält, wer
glaubt, er könne, wenn er in Gesellschaft geht, den Verstand zu Hause lassen,
dem dürfte sein Selbstvertrauen möglicherweise nur allzu bald einen bösen
Streich spielen. Selber denken ist für den Geist, was selber essen für den
Körper ist. Daß man den Maßstab für den Wert eines schriftstellerischen Er¬
zeugnisses in dem darinliegenden Anreiz zu eignen Gedanken suchen müsse,
wird namentlich von französischen Schriftstellern in unzähligen Wendungen
wiederholt: Hu von livrs «zst eslui <M kalt xenssr.
Eine praktische Denklehre für den geselligen Verkehr wäre das erste Er¬
fordernis einer Belehrung über den guten Ton, die sich an Leser wendet,
welche Bildung besitzen oder solche erwerben wollen. Daß Bildung vor allem
in einem Betragen besteht, das den gesellschaftlichen Anforderungen entspricht,
drückt die französische Sprache unmittelbar dadurch aus, daß sie den gebildeten
Mann un Iioinilis oominv it kaut nennt. Wie wünscht sich die Gesellschaft
den Mann und sein Betragen? Kurz gesagt: ihren Zwecken entsprechend. Die
Frage nach dem Zweck wird also den Wegweiser bilden für ein Verhalten, das
als <Z0min6 it kaut Anerkennung finden soll.
Die menschliche Gesellschaft ist das erstaunlichste Wunderwerk, das der
weite Kreis der Schöpfung unserm Auge darbietet. Hier feiert die göttlich¬
menschliche Vernunft ihren höchsten Triumph, indem sie den Egoismus des
persönlichen Willens, der alle gegen alle in den Kampf hetzt, in einer Weise zu
bändigen, zu diszipliniren und dem Gemeinintercsse dienstbar zu machen versteht,
daß aus dem chaotischen Widerstreit sich das Bild einer friedlichen Interessenhar-
monie erhebt. Herstellung der Interessenharmonie ist der umfassendste Ausdruck
für die Aufgabe des Gesellschaftslebens, insbesondre also auch für den geselligen Um¬
gang. Jeder erscheint da auf dem Markte, um seine Persönlichkeit zur Geltung
zu bringen. Pflicht eines jeden ist es, darauf zu fehen, daß die eigne Person
nicht, wie der populäre Ausdruck lautet, sich in einer Weise breit mache, daß
dadurch den andern ihr Spielraum in ungebührlicher Weise beengt und ver¬
schränkt wird. Besondern Beifall aber wird derjenige erlangen, der nicht bloß
sich hütet, andern im Wege oder im Lichte zu stehen, sondern auf feine Weise
und unmerklich jedem, mit dem er in Berührung tritt, Gelegenheit zu verschaffen
weiß, mit sich selbst zufrieden zu sein. Denn auf Selbstbefriedigung ist jeder
persönliche Wille gerichtet. Der Virtuose des geselligen Umganges wird er¬
finderisch fein in den Mitteln zur Erreichung des angegebenen Zweckes der
Selbstbefriedigung aller, welche zum geselligen Tauschverkehr zusammen¬
getreten sind.
Aber mag auch das Selbstdenken keinem zu ersparen sein, das Selbst¬
erfinden ist nicht jedem zuzumuten. Und so arbeitet denn die Gesellschaft in
Bezug auf ihre Art, sich zu unterhalten, sich gegenseitig zu genießen, wie in
jedem andern Betracht, wesentlich „nach berühmten Mustern." Maßgebend ist
die Autorität des erfahrungsmäßig als zweckdienlich erkannten. Auch der
schöpferische Geist muß zuerst lernen, und erzeugt Wertvolles nur unter der
Bedingung, daß er sich zuerst in Zucht begiebt bei ander». Daher ist Er¬
ziehung eine Notwendigkeit sür alle. Die gebildete Erziehung aber ist ein
Einleben in die Formen, in denen der Egoismus des Einzelnen am vortcil-
haftesteu in Gemeinschaft tritt mit dem Egoismus aller. Erziehung ist Bildung
für die Gesellschaft. So ist es der Zweck, welcher nach wunderbar waltenden
Gesetz bewirkt, daß der Egoismus in unmerklichen Uebergang sich seiner eignen
Grundlage entfremdet, einen staunenswerten Wandel seiner selbst vollzieht und
den natürlichen Trieb zum sittlichen veredelt. Hier liegt das große Geheimnis
der sittlichen Weltordnung.
Bis hierher, bis zu dem Wendepunkte, wo die Vernunft den natürlichen
Egoismus hinüberleitet in die Sphäre der sittlichen Selbstverleugnung, hat der
„gute Ton" den Menschen, dem es um Erziehung zu thun ist, zu begleiten. Fort¬
schreiten in selbständigem Gebrauch der durch Sitte, Herkommen, ja selbst durch
die Mode als nachahmenswert bezeichneten Formen des geselligen Verkehrs
wird das Ziel sein, Sicherheit in Geltendmnchung der eignen Persönlichkeit
der Lohn.
Zwei der berühmtesten unter den neueren Moralisten, Larochefoucauld und
Franklin, stimmen in dem Ausspruch überein, die höchste Weihe der Bildung
bestehe darin, daß man den Preis der Dinge kenne, also den wahren und wirk¬
lichen Wert dessen, was die Welt uns bieten kann. Eine Lebensphilosophie, die
das Dasein vorzugsweise von feiten des Genusses betrachtet, wird also nicht
umhin können, eine nach dem Maßstabe des Durchschnittsegoismus einer be¬
stimmten Kulturepvche bemessene Güterskala aufzustellen, deren sorgfältiges Be¬
achten Grundbedingung eines dauernden Glückes wäre. Schopenhauer hat für
unsre Zeit etwas derartiges versucht in seinen „Aphorismen zur Lebensweis¬
heit" (Parerga und Parcilipomena, Band I). Eine Betrachtung, die umgekehrt
vorzugsweise unsre Leistung an die Gesellschaft ins Auge faßt und uns darüber
belehren will, wird ebenfalls in einer richtigen Reihenfolge dessen, was als Ver¬
pflichtung uns auferlegt wird, ihre Hauptaufgabe zu erblicke» haben. Das
Gebot der guten Sitte ist ein grundwesentlich andres, als das der Mode. Den
Maßstab der Beurteilung liefert das Gesamtinteresse der Gesellschaft. Was
schreibt das Gesamtinteresse der Gesellschaft vor als Sitte, als Herkommen,
als allgemeinen Brauch? Wenn nur auch so leicht auszumachen wäre, welcher
Ausschnitt der großen Kulturgemeinschaft, die wir mit dem Namen der Ge¬
sellschaft bezeichnen, in jedem einzelnen Falle die Autorität gewesen ist, die vom
Standpunkt ihres Interesses aus das Urteil über das der Gesamtheit dienende
maßgebend bestimmt hat. Neben der Sittlichkeit, die wir für alle Menschen
verbindlich erachten, besteht die Sitte, die sich zur Nachachtung empfiehlt als
das von der „Gesellschaft" als zweckdienlich und richtig bezeichnete, wir haben
aber auch noch besondre Landes- und Standessitten. Wo die Stände sich
unter einander streng abscheiden, so mag leicht — man denke nur an das Duell! —
in dem einen gesellschaftlichen Kreise als Verpflichtung und Ehrensache er¬
scheinen, was anderen Kreisen, vielleicht selbst dem Gesetz, als Verbrechen gilt.
Diese Beschaffenheit des Tribunals, das über gut und schlecht in der Sitte
entscheidet, berechtigt auch den Einzelnen, gewisse Anforderungen derselben nur
mit Vorbehalt zuzulassen, möglicherweise sogar ihnen energischen Widerstand
entgegenzusetzen. Auch vom Standpunkte des Gemeininteresses aus könnte der
Einzelne einmal Recht haben gegen alle.
Die Erzichungslitteratur, die mit Sitte, Herkommen und Brauch bekannt
zu machen unternimmt, pflegt den angedeuteten Schwierigkeiten dadurch aus¬
zuweichen, daß die Vildungsbegriffe einer bestimmten Volksschicht, die mit dem
Namen „Gesellschaft" bezeichnet wird, als normgebend vorausgesetzt werden. Aber
auch in dieser Beschränkung tritt sogleich die Abstufung hervor des unter An¬
drohung sozialer Strafnachtcile gebotenen, des herkömmlicherweise beobachteten,
des vorübergehend modischen, sowie der Gegensatz zwischen dem vom Zwecke der
Gesamtheit und dem durch den Zweck einzelner Kreise geforderten. Da die
Eitelkeit und die Sucht, sich zu unterscheiden, ebenfalls ein gesellschaftliches
Interesse bildet, und zwar ein sehr bedeutend wirkendes, so erscheint es keines¬
wegs als verwunderlich, daß die Stnndessitte und das Standesherkommen oft
in viel strengerer und schrofferer Weise der Nachachtung sich empfehlen, als
Sitte und Brauch der Allgemeinheit. Und doch ist die besondre Standessitte
großenteils, die Mode ganz der Ausdruck des Bestrebens, das Auszeichnende
der eignen sozialen Stellung vor der der andern äußerlich in möglichst auf¬
fallender Weise hervorzuheben. Deswegen kann ein allzu modisches Erscheinen
den Eindruck des anmaßenden, für andre geradezu beleidigenden machen. Des¬
wegen auch kennt der Cyniker und der Puritaner, die von der Nichtigkeit alles
Irdischen überzeugt sind, keine Mode, obwohl für die Eitelkeit, die hier als
Eitelkeit der Weltverachtung auftreten mag, eine besondre Tracht dieselben
Dienste leisten kann.
So müßte denn eine Psychologie der Gesellschaft im Lichte der gesellschaft¬
lichen Zwecke die Grundlage bilden für nutzbringende Behandlung irgendwelchen
Abschnittes der Gesellschaftswissenschaft, wozu auch die Lehre vom „guten Ton"
gehört. Die Einsicht in die verschiednen gesellschaftlichen Zwecke, das ver¬
gleichende Studium der Zwcckvcrwirklichnng bei verschiednen Völkern und Rassen,
in den verschiednen Ständen, zu verschiednen Zeiten, eröffnen ein weites, un¬
endlich ergiebiges Feld für die Kenntnis des Menschen als gesellschaftlichen
Wesens. Ueberraschende Schlaglichter fallen auf Fragen, deren Zusammenhang
mit dein „Komplimcntirbuch" bisher kaum geahnt wurde. So ist mau gewohnt,
in der jüngst wieder vielfach erörterten Fremdwörterfrage vorzugsweise eine
Reaktion des nationalen Sinnes zu erblicken. Es steckt aber ebenso viel soziale
Opposition in dem Protest gegen die Fremdwörter. Wenn der übermäßige Ge¬
brauch derselben einerseits Mangel an nationalem Selbstgefühl zu bekunden
schien, so war anderseits unverkennbar, daß das Fremdwort ganz vorzugsweise
seine Verwendung fand im Dienste aristokratischen Hochmuts, der seine eigne
nichtplebejische Sprache haben wollte. Das Gemeindeutsch unsers Volkes ist
dem Dünkel des sozial privilegirten allzu gemeines Deutsch. Ganz französisch
zu sprechen und zu schreiben, wie noch im vorigen Jahrhundert, geht heutzutage
nicht mehr an, aber man spickt seine Rede wenigstens Z. Ja Pückler mit fremd¬
sprachigen Wendungen. Aber auch hiergegen wehrt sich der demokratische Zug
der Zeit. Wie er jeden Zivilisten in den schwarzen Frack steckt, verlangt er
allgemeine Gleichheit in Wörterbuch und Grammatik. So öffnet der „gute
Ton" auch Ausblicke aufs politische Leben. Wenn irgendwo, gilt hier das
Wort des Dichters:
Greift nur hinein ins volle Menschenleben;
Ein jeder lebts, nicht jedem ists bekannt,
Und wo ihrs packt, da ists interessant.
s wollte Ricks scheinen, als sei das Dasein so unendlich klar und
einfach geworden, das Leben so leicht zu leben, und das Gluck so
nahe und so mühelos zu gewinnen, wie die Luft, die er mit
einem Atemzuge einsog.
Er liebte sie, die junge Frau, die er gewonnen hatte, liebte sie
mit all der Feinheit der Gedanken und des Herzens, mit der ganzen, großen, zärtlich
tiefen Fürsorglichkeit, die einem Manne innewohnt, der der Liebe Hang zum Sinken
kennt und an der Liebe Fähigkeit zu steige» glaubt. Er ging so behutsam um
mit dieser jungen Seele, die sich in namenlosem Vertrauen zu ihm hinneigte,
die sich an ihn schmiegte mit derselben zärtlichen Zuversicht, mit derselben festen
Überzeugung, daß er nichts wolle, als was gut und edel sei, wie es jenes
Lamm im Gleichnis zu seinem Hirten hatte, das aus dessen Hand aß und aus
dessen Becher trank. Er wagte es nicht, ihr ihren Gott zu nehmen, alle jene
Scharen von weißen Engeln zu vertreiben, die den Tag über singend durch
den Himmel schweben und gegen Abend zur Erde herabsteigen und von Lager
zu Lager schreiten, treue Wacht haltend und das Dunkel der Nacht mit einem
unsichtbaren Lichte erfüllend.
Er wollte so ungern, daß seine schwerfälligerem, bilderlosen Lebensan¬
schauungen sich zwischen sie und das milde Blauen des Himmels drängten und
ihr dadurch ein Gefühl der Unsicherheit und des Verlassenseins gäben. Aber sie
wollte es anders haben, sie wollte alles mit ihm teilen; es sollte keinen Platz
im Himmel noch auf Erden geben, wo sich ihre Wege trennten, und alles, was
er sagte, um sie zurückzuhalten, verscheuchte sie, alles, wenn auch nicht mit den
Worten des moabitischen Weibes, so doch mit demselben unbiegsamen Gedanken,
der in den Worten lag: dein Volk mein Volk, dein Gott mein Gott! Und
nun fing er ernstlich an, sie zu belehren, und er entwickelte ihr, wie alle Götter
nichts seien als Menschenwerk, wie sie gleich allem, was von Menschen stammt,
nicht für ewige Zeiten bestehen könnten, sondern verfallen mußten, Götter-
geschlecht auf Göttergeschlecht, weil sich die Menschheit ewig fortentwickle und
stets um ihre Ideale herum wachse. Und ein Gott, in den die Edelsten und
Größten nicht ihren reichsten, geistigen Inhalt niederlegten, ein Gott, der sein
Licht nicht von der Menschheit erhielt, sondern der aus sich selber leuchten
sollte, ein Gott, der keine natürliche Folge war, sondern erstarrt in dem histo¬
rischen Kalk der Dogmen, war nicht länger ein Gott, vielmehr ein Abgott, und
darum war das Judentum in seinem vollen Rechte einem Baal und einer
Astarte gegenüber, und auch das Christentum war in seinem vollen Rechte einem
Juppiter und einem Odin gegenüber, denn ein Abgott ist nichts in der Welt.
Von einem Gotte zum andern war die Menschheit vorgeschritten, und deswegen
konnte Christus auf der einen Seite gegen den alten Gott gewendet sagen, daß
er nicht gekommen sei, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu vervollkommnen,
konnte er auf der andern Seite, über sich hinaus, auf ein noch höheres Gottes¬
ideal zeigen durch seine mystischen Worte von der Sünde, die nicht verziehen
werden könne, nämlich die Sünde wider den heiligen Geist.
Und weiter lehrte er sie, wie der Glaube an einen persönlichen Gott,
der alles zum Besten lenkt und in einem andern Leben straft und belohnt,
nichts sei als ein Entfliehen vor der rauhen Wirklichkeit, ein ohnmächtiger
Versuch, der trostlosen Willkür des Daseins den Stachel zu nehmen. Er wies
ihr nach, wie es das Mitleid der Menschen mit den Unglücklichen abschwächen
und sie weniger bereit machen müßte, alle Kräfte anzuspannen, um zu helfen,
wenn sie sich mit dem Gedanken beruhigen könnten, daß alles, was hier in
diesem kurzen Erdenleben erlitten wird, den Leidenden den Weg zur Ewigkeit
in Herrlichkeit und Freuden bahne.
Er hob hervor, welche Kraft und Selbständigkeit es dem Menschengeschlecht
verleihen müsse, wenn es im Glauben an sich selber sein Leben im Einklang
mit dem zu leben suche, was der Einzelne von allem, was in ihm lebe, in
seinen besten Augenblicken am höchsten stelle, statt es außerhalb seiner selbst
auf eine kontrolirte Göttlichkeit zu übertragen. Er machte seinen Glanben so
schön, so segensreich, wie er nur konnte, aber er verbarg ihr auch nicht, wie
erdrückend schwer, wie trostlos die Wahrheit des Atheismus in Zeiten des
Leidens zu tragen sei, im Vergleich mit jenem lichten, glücklichen Traume von
einem himmlischen Vater, der lenkt und regiert. Aber sie war mutig. Wohl
erschütterten sie viele seiner Lehren bis ins innerste Mark ihrer Seele, und
am häufigsten gerade die, von denen man es am wenigsten hätte glauben sollen,
aber ihr Vertrauen zu ihm kannte keine Grenzen, ihre Liebe zog mit ihm, alle
Himmel hinter sich lassend, und sie liebte sich in seine Anschauungen hinein
Und nachdem ihr im Laufe der Zeit das Neue heimisch, geläufig geworden war,
wurde sie in hohem Grade unduldsam und fanatisch, wie es stets mit den jugend¬
lichsten Jüngern zu gehen Pflegt, die ihren Meister am glühendsten lieben.
Ricks tadelte sie oft, aber das konnte sie nun einmal nicht begreifen, wenn das
Ihre das Wahre sei, daß dann das der andern nicht abscheulich und lasterhaft sei.
Drei Jahre lang lebten sie ein glückliches Leben mit einander, und ein
gutes Teil des Glückes strahlte aus einem kleinen Kinderantlitz, dem Antlitz
eines kleinen Knaben, den sie im zweiten Jahre ihrer Ehe bekommen hatten.
Das Glück macht die Menschen im allgemeinen gut, und Ricks strebte
ehrlich und nach besten Kräften, ihr Leben so edel, so schön und so nützlich zu
gestalten, daß niemals ein Stillstand eintreten möchte in dem Wachstum ihrer
Seelen zu jenem Menschenideal, an das sie beide glaubten. Aber es war bei
ihm nie mehr die Rede von dem Gedanken, die Fahne der Idee unter die
Menschheit hinaufzutragen, es genügte ihm, ihr zu folgen. Es konnte wohl
hin und wieder einmal vorkommen, daß er die alten Versuche wieder hervor¬
holte, aber er wunderte sich stets darüber, daß wirklich er es war, der alle
diese schönen kunstfertigen Dinge geschrieben hatte, und regelmäßig traten ihm
beim Lesen seiner eignen Werke die Thränen in die Augen. Er hätte aber nicht
um alle Schätze der Welt mit dem Ärmsten tauschen mögen, der sie ge¬
schrieben hätte.
Da plötzlich, im Frühling, erkrankte Gerda so heftig, daß jede Hoffnung
auf Genesung ausgeschlossen war.
Eines Morgens in der Frühe — es war ihre letzte Nacht — wachte
Ricks an ihrem Bette. Die Sonne war im Aufgehen begriffen und warf einen
rosigen Schimmer auf die weißen Rouleaus, während das Morgenlicht, das
an der Seite durch die Gardinen drang, noch blau war und den Schatten
zwischen den weißen Falten des Bettes und unter Gerdas weißen, schmalen
Händen, die gefaltet vor ihr auf dem Betttuchs lagen, blau färbte. Die Nacht¬
haube war ihr heruntergeglitten, und sie lag mit dem Kopfe weit hintenüber-
gclehnt da, völlig verändert, wunderbar vornehm durch die scharfen, spitzen
Züge, die ihr die Krankheit verliehen hatte! Sie bewegte die Lippen, als wollte
sie sie netzen, und Ricks griff nach dem Glase mit dem dunkelroten Trank; sie
aber schüttelte verneinend ihr Haupt. Dann wandte sie plötzlich ihr Antlitz
nach ihm um und starrte angestrengt in seine kummervollen Züge. Je länger
sie den ganzen, tiefen Kummer ansah, den diese Züge ausdrückten, die ganze
Hoffnungslosigkeit, die sich in ihnen abspiegelte, desto mehr verwandelten sich
ihre schrecklichen Ahnungen in furchtbare Gewißheit.
Sie bemühte sich, sich aufzurichten, es war ihr aber nicht möglich.
Ricks beugte sich hastig über sie, und sie ergriff seine Hand.
Ist das der Tod? fragte sie, ihre schwache Stimme dämpfend, wie um es
nicht allzu deutlich auszusprechen.
Er sah sie mir an, indem er einen klagenden Seufzer ausstieß.
Gerda umklammerte seine Hand fest und warf sich in ihrer Angst über
ihn. Ich kann nicht sterben, sagte sie.
Er sank vor dem Bette auf die Kniee und schob seinen Arm unter ihr
Kopfkissen, sodaß er sie fast an seiner Brust hielt. Die Thränen standen ihm
in den Augen, sodaß er sie nicht sehen konnte, sie liefen eine nach der andern
an seiner Wange herab. Er führte ihre Hand rin einem Zipfel des Tuches
an seine Augen, dann gewann er wieder Macht über seine Stimme. Sage mir
alles, teure Gerda, begann er. Kehre dich an nichts. Willst du den Pfarrer
haben? Er konnte nicht recht glauben, daß es das sei, und es lag ein wenig
Zweifel in seiner Stimme.
Sie antwortete nicht, sie schloß ihre Augen und zog den Kopf ein wenig
zurück, als wollte sie mit ihren Gedanken allein sein.
Es währte eine Weile. Das langgezogene, weiche Flöten einer Drossel
ertönte unter dem Fenster, dann flötete eine zweite und eine dritte; eine ganze
Reihe von Flötentönen drängte sich in das Schweigen im Zimmer.
Dann blickte sie wieder auf. Wenn du mit mir kommen könntest! sagte
sie und lehnte sich schwer gegen das Kissen, das er stützte. Es lag eine Lieb¬
kosung darin, das fühlte er. Wenn du mit mir gehen könntest! Aber so ganz
allein! und sie nahm leise seine Hand in die ihre und ließ sie dann wieder
fallen. Ich wage es nicht! Ihre Augen nahmen einen ängstlichen Ausdruck
an. Du mußt ihn holen, Ricks, ich wage es nicht, allein dahinauf zu kommen —
und so! Wir haben ja niemals daran gedacht, daß ich znerst sterben könnte,
wir waren so fest überzeugt, daß du vorausgehen müßtest. Ich weiß ja freilich —
aber wenn wir uns nun doch geirrt Hütten, Ricks, es könnte doch möglich sein,
Ricks, nicht wahr? Du glaubst es nicht; aber es wäre doch wunderbar, wenn
sich alle Menschen geirrt haben sollten, wenn da gar nichts wäre, alle die
großen Kirchen — und wenn sie sie begraben — die Glocken — Sie lag
regungslos da, als lauschte sie auf die Glockentöne.
Es ist unmöglich, Ricks, daß es mit dem Tode vorbei ist, du kannst es
nicht so fühlen, du bist ja gesund; du meinst, der Tod müsse uns völlig ver¬
nichten, weil man so matt ist und weil alles hinschwindet; aber das ist nur
für die Außenwelt. Hier drinnen ist ebensoviel Seele wie vorher, glaube mir
es, Ricks, ich habe es alles hier drinnen, was ich bekommen habe, dieselbe un¬
endliche Welt, nur stiller, nur mehr für mich allein, gerade so, als wenn man
seine Augen schließt. Es ist nur wie ein Licht, das von dir fortgeht, fort von
dir, ins Dunkle hinein, und es wird für dich schwächer und schwächer, und du
kannst es nicht sehen, und doch leuchtet es noch ebenso hell, dort, wo es jetzt
ist, weit fort von dir. Ich habe immer geglaubt, ich würde eine alte, alte
Frau werden, ich würde hier bei euch allen bleiben, aber nun darf ich nicht
länger, sie reißen mich fort von Haus und Herd und lassen mich ganz allein
gehen. Ich fürchte mich, Ricks! Dort, wohin ich nun kommen werde, dort
regiert der Herr, und der kümmert sich nicht um unsre Klugheit hier auf Erden,
er will das Seine haben und weiter nichts, und alles, was sein eigen ist, das
liegt mir so fern, so fern! Ich habe nicht viel Böses gethan, nicht wahr?
Aber darauf kommt es ja nicht an — hol mir den Pfarrer, Ricks, ich möchte
so gern mit ihm reden!
Ricks stand auf und schickte sich an, den Pfarrer zu holen; er war dank¬
bar, daß dies nicht im allerletzten Augenblicke gekommen war.
Der Pfarrer kam und blieb allein mit Gerda.
Er war ein hübscher Mann mittlern Alters, mit feinen, regelmäßigen
Zügen und großen braunen Augen. Natürlich kannte er sowohl Ricks Lyhncs
als auch Gerdas Stellung zur Kirche, ihm waren auch wohl hin und wieder
verschiedne kirchenfeindliche Äußerungen der jungen Frau zu Ohren gekommen,
aber es fiel ihm jetzt nicht ein, zu ihr wie zu eiuer Heidin oder einer Ab¬
trünnigen zu reden, er verstand es nur zu gut, daß ihre große Liebe allein
sie auf die Irrwege geführt hatte, und er verstand auch das Gefühl, das sie
jetzt, wo die Liebe sie nicht weiter geleiten konnte, dazu veranlaßte, sich in ihrer
Herzensangst nach einer Versöhnung mit dem Gotte zu sehnen, den sie früher
gekannt hatte, und er bemühte sich deshalb, in seiner Rede hauptsächlich ihre
schlummernden Erinnerungen zu wecken und ihr solche Stellen aus dem Evan¬
gelium und aus dem Gesangbuche vorzulesen, von denen er annehmen konnte,
daß sie sie noch am besten kannte.
Und darin irrte er sich nicht. Wie klangen sie nicht heimatlich und festlich,
diese Worte, gleich dem Läuten der Glocken am Weihnachtsmorgen, wie lag es
nicht auf einmal wieder vor ihrem Blick, das Land, in dem ihre Phantasie zu
allererst heimisch gewesen war, das Land, in dem Josef träumte und David
sang, wo die Leiter steht, die vom Himmel bis zur Erde reicht! Mit Feigen
und Maulbeerbäumen lag es da, und der Jordan schimmerte silberhell durch
den Morgennebel, Jerusalem lag rot und trauernd im Strahl der Abendsonne,
aber über Bethlehem breitete sich eine herrliche Nacht aus mit großen Sternen
am dunkelblauen Himmel. Wie sprudelte nicht der Kinderglaube wieder ge¬
waltsam hervor! Sie wurde wieder zu dem kleinen Mädchen, das an der Hand
der Mutter zur Kirche ging und dasaß und fror und sich darüber wunderte,
weswegen die Menschen eigentlich so viel sündigten. Dann wuchs sie heran
unter den hohen Worten der Bergpredigt, und als der Pfarrer von den heiligen
Mysterien sprach, von den Sakramenten der Taufe und des Abendmahls, da
lag sie als kranke Sünderin du. Da gewann das wahre Bedürfnis ihres
Herzens die Oberhand, jenes tiefe Knieen vor dem allmächtigen, richtenden
Gotte, jene bittern Thränen der Reue über den verratenen, bespotteten, leidenden
Gott, und jenes demütige und doch so kühne Sehnen, durch Wein und Brot
einen neuen Vertrag zu schließen mit dem geheimnisvollen Gotte.
Der Pfarrer ging. Am Vormittage kehrte er zurück und bereitete sie zum
Tode vor.
Die Kräfte nahmen, seltsam auflodernd, schnell ab, aber noch in der Däm¬
merung, als Ricks sie zum letzten mal in seine Arme schloß, um Abschied von
ihr zu nehmen, ehe die Schatten des Todes sich gar zu tief gelagert hatten,
war sie bei vollem Bewußtsein. Aber die Liebe, die das höchste Glück seines
Lebens gewesen war, war in ihrem Blick erloschen, sie war nicht mehr die
Seine, schon jetzt nicht mehr, die Schwingen hatten bereits angefangen zu
wachsen, sie sehnte sich nur nach ihrem Gott.
Um Mitternacht starb sie.
Es waren schwere Zeiten, die nun folgten. Die Zeit schwoll zu etwas
Ungeheuern, Feindlichem an; jeder Tag war eine unendliche Wüste von In¬
haltslosigkeit, jede Nacht eine Hölle von Erinnerungen. Erst nach Monaten,
als der Sommer zur Neige ging, hatte der schäumende, reißende Strom des
Kummers sich ein Flußbett in seiner Seele geschaffen, sodaß er dahinrinuen
konnte wie ein murmelnder, schwerwogender Strom des Entbehrens und der
Schwermut.
Da, eines Tages, als er vom Felde heimkehrte, fand er seinen kleinen
Knaben schwer erkrankt vor. Der Kleine hatte in den letzten Tagen ein wenig
gekränkelt und war in der vorhergehenden Nacht unruhig gewesen, niemand
hatte jedoch geglaubt, daß es etwas zu bedeuten habe; jetzt lag er fieberheiß
und sieberkalt in seinem kleinen Bette und stöhnte vor Schmerz.
Der Wagen wurde sofort nach Varde geschickt, um den Arzt zu holen,
aber keiner von den Ärzten war zu Hause, und er mußte viele Stunden warten.
Zur Schlafcngehenszeit war er noch nicht zurück.
Ricks saß am Lager des Knaben; jede halbe Stunde wenigstens sandte er
jemand hinaus, um zu lauschen und zu spähen, ob der Wagen noch nicht käme.
Ein reitender Bote wurde dem Wagen entgegen geschickt. Aber er begegnete
keinem Wagen und ritt bis nach Varde.
Dies Warten auf eine Hilfe, die nicht kommen wollte, machte es noch un¬
erträglicher, Zeuge der Leiden des kranken Kindes zu sein. Und die Krankheit
machte reißende Fortschritte.
Bald nach ein Uhr kam der reitende Bote mit dem Bescheid zurück, daß
der Wagen fürs erste nicht zu erwarten sei, da, als er die Stadt verlassen hatte,
noch keiner der Ärzte nach Hause gekommen war.
Da brach Ricks zusammen. Er hatte, so lange noch ein Hoffnungsfunke
vorhanden gewesen war, mutig gegen die Verzweiflung angekämpft, jetzt konnte
er nicht länger. Er ging in die dunkle Stube, die »eben dem Krankenzimmer
lag, und starrte durch die dunkeln Fensterscheiben, während seine Nägel sich in
das Holz des Fensterrahmeus gruben; seine Augen fraßen sich gleichsam durch
das Dunkel hindurch nach Hoffnung, sein Hirn krümmte sich zum Sprunge,
einem Wunder entgegen, dann ward es einen Augenblick klar und still, und in
dieser Klarheit trat er vom Fenster und warf sich über einen Tisch, der dort
stand, und brach in Schluchzen aus, ohne jedoch eine einzige Thräne hervor¬
zubringen.
Als er wieder in das Krankenzimmer kam, hatte das Kind Krämpfe. Er
sah es an, als wollte er sich damit töten. Es war entsetzlich, und doch war
es noch nicht das Schlimmste. Als der Krampf nachließ und der Körper wieder
weich und biegsam wurde, und sich dem Glücke, weniger Schmerzen zu em¬
pfinden, hingab, da die Angst zu sehen, die der Blick des Kindes annahm, als
es in der Ferne bemerkte, daß der Krampf wieder kam, dies steigende Flehen
um Hilfe, je näher die Pein kam, nein, das ansehen zu müssen und nicht helfen
zu können, nicht mit dem eignen Herzblute, nicht mit allem, was er besaß, was
er hatte — er erhob seine geballten Hände drohend gen Himmel, er griff in
dem wahnsinnigen Gedanken an eine Flucht nach dem Kinde, und dann warf
er sich auf die Erde, auf seine Kniee und betete zu dem Gott da droben im
Himmel, der das Erdreich durch Prüfungen und Züchtigungen in Angst erhält,
der Not und Krankheit, Leiden und Tod sendet, der da will, daß sich alle Kniee
zitternd vor ihm beuge» sollen, und vor dem kein Entfliehen möglich ist, weder
ans äußerste Meer noch in die tiefsten Tiefen hinab, der, wenn es ihm ge¬
fällt, den, welchen dn am heißesten auf der ganzen Welt liebst, mit Füßen
treten und ihn zu dem Staube zermalmen wird, woraus er selber ihn ge¬
schaffen hat.
Mit solche» Gedanken betete Ricks Lyhne zu Gott, warf sich in seiner
Ohnmacht vor dem Himmelsthrone nieder und bekannte, daß die Macht sein
sei, sein alleiniges Eigentum.
Aber das Kind litt nach wie vor. Gegen Morgen, als der alte Sanitäts¬
rat, der Hausarzt, durch das Hofthor fuhr, war Ricks Lyhne allein.
(Schluß folgt.)
Anknüpfend an einen Fall, wo ein einfacher Prozeß, der ledig¬
lich die Rückzahlung von 20 Mark betraf, zu seiner Erledigung nahezu ein Dutzend
Termine und anderthalb Jahre Zeit gebraucht und 25 Mark Änwaltsgebühren ge¬
kostet haben soll, urteilt der Verfasser eines in Ur. 30 der Grenzboten enthal¬
tenen Aufsatzes „Ein Notschrei" über den amtsgerichtlichen Zivilprozeß in einer
Art und Weise, die einer Berichtigung bedarf, um dieses Institut bei den nicht-
juristischen Lesern der Grenzboten nicht in Mißkredit zu bringen. Gehört doch
gerade der aintsgerichtliche Zivilprozeß mit zu dem Besten, was uns die Justiz¬
reorganisationsgesetze gebracht haben.
Ans den Vorwurf der Verschleppung und Verteuerung des Mnsterprozesscs,
der dem Verfasser vorgelegen hat, läßt sich nur dann etwas erwiedern, wenn er
genau augeben wollte, wodurch dieser Prozeß, der sich bei so einfacher Sachlage
gewiß in drei Terminen, also in sechs bis acht Wochen, hätte erledigen lassen, zu
einer solchen Länge und Breite gediehen ist. Was er hierfür angiebt, trifft
gewiß nicht das vorgeschriebene Verfahren. Der Vertreter eines Urwalds konnte
auch nach dem frühem Verfahren auf Grund mangelhafter Notizen falsche Angaben
machen und dadurch einen Prozeß in falsche Bahnen bringen. Dann ist in einem
Termine eine Partei nicht vertreten gewesen, deshalb gab es Versäumuisurtcilc,
Einsprüche dagegen, neue Termine und unendliche Verschleppungen der Sache, wie
der Verfasser sagt. Wir meinen, es gab ein Versäumuisurteil, einen Einspruch,
die Zahl der Termine wurde um einen vermehrt, der Prozeß wurde um die
Zeit von einem Terminstage zum andern verlängert. Weitere Gründe der Ver¬
schleppung, die in dem jetzigen Verfahren liegen sollen, giebt der Verfasser nicht
an. Wenn er den altpreußischen Bagatellprozeß als einfach, kurz und billig rühmt,
so dürfen die beiden ersten Eigenschaften ans den jetzigen amtsgerichtlichen Zivil¬
prozeß noch vielmehr angewendet werden, ein einfacheres Verfahren läßt sich über¬
haupt wohl kaum denken. Es ist geradezu unverständlich, wie von Mängeln, die
jahraus jahrein gerügt werden, gesprochen werden kann, wie behauptet werden
kann, „man habe sich an der Hand grundstürzender Doktrinen in eine Sackgasse
verrannt, aus der man vergeblich herauszukommen suche." Welches sind diese
Mängel, wo liegt die Sackgasse?
Was die in dem betreffenden Prozesse bezahlten Anwaltsgcbühren anlangt,
so scheinen 25 Mark, also 12 Mark 50 Pfennige für jeden Anwalt allerdings eine
hohe Summe zu sein. Das dem Anwälte zustehende Panschquantnm würde V Mark
betragen, der Rest von 6 Mark 50 Pfennig ist also entstanden durch Schreib¬
gebühren, Zustellungskosten und Portoauslagcn; diese Nebenkosten fallen natürlich
bei kleineren Prozeßobjekten verhältnismäßig schwerer ins Gewicht, aber 6 Mark
als geringste Gebühr für Führung eines Prozesses mit Beweisaufnahme wird man
einem Anwalt doch wohl zubillige» dürfe». Richtig ist, daß oft in einfachen Sachen
von den Anwälten weniger geschrieben werden könnte, womit sich die Schreib¬
gebühren vermindern würden.
Die verwickelten und umständlichen Formen des jetzigen Verfahrens sollen
mittelbar zu dem Ergebnis geführt haben, daß die Parteien genötigt sind, mich
den amtsgerichtlichcn Prozeß einem Anwälte zu übergeben. Welches diese Formen
sind, wird nicht erwähnt, es können vielleicht die in Z 230 der Zivilprozeßord¬
nung für Erhebung der Klage vorgeschriebenen Formen gemeint sein, diese sind
aber sehr einfach, die Bestimmung der angegebenen Gesetzesstelle ist leicht ver¬
ständlich, sie verlangt für die Klageschrift nur die Bezeichnung der Parteien, einen
bestimmten Antrag, die Ladung und die bestimmte Angabe des Gegenstandes und
des Grundes des erhobenen Anspruchs. Wenngleich nun in der Theorie anzu¬
nehmen ist, daß der Prozeßbetrieb lediglich in den Händen der Parteien liegen
soll, so zeigt doch die Praxis, daß er anch jetzt der vermißten „bewährten Leitung
des Gerichts" noch unterliegt. Der in der Praxis in dieser Beziehung hervor¬
tretende Unterschied gegen das frühere Verfahren ist sehr gering. Mehr noch, als
dieses früher vorgeschrieben war, hat der Richter bei der Leitung der Verhandlung
dahin zu wirken, daß die Parteien über alle erheblichen Thatsachen sich vollständig
erklären und sachdienliche Anträge stellen.
Der dem Richter gemachte Vorwurf, daß die Partei, wenn sie neben dem
Anwälte den Termin wahrnehme, kaum zum Worte gelassen und die Wahrneh¬
mung des Termins durch sie als etwas Ueberflüssiges angesehen werde, bedarf
des Beweises. Richtig ist allerdings, daß es dem Richter oft zu viel wird, wenn
die Partei nach sachgemäßem Vortrage durch den Anwalt den Prozeß nochmals
wieder vollständig vortragen will und Sachen einmischt, auf deren Unerheblichkeit
sie vom rechtskundigen Anwalt längst aufmerksam gemacht worden ist.
Besteht hiernach für die Partei kein auch nur mittelbarer Zwang, sich bei
der Prozcßfnhrung eines Urwalds zu bedienen, so glauben wir noch hinzufüge»
zu dürfen, daß wohl die meisten Prozeßrichter wünschen werden, die Parteien
möchten ihre amtsgcrichtlichen Prozesse viel mehr selbst führen, als es bisher ge¬
bräuchlich ist. Die Prozesse würden durchweg wesentlich schnellere Erledigung
finden.
Hiernach wird das Ergebnis dieser Besprechung doch wohl das sein, daß es
gewagt ist, aus einem einzelnen, nicht einmal genau dargelegten Falle gleich ans
die Unzweckmäßigkeit eines ganzen Instituts zu schließen. Auf den in jenem Auf¬
satze erwähnten ernsten sozialpolitischen Hintergrund der Mängel des jetzigen Ver¬
fahrens noch einzugehen, wird darnach wohl nicht mehr nötig sein. Ein Gesetz
herzustellen, welches in einzelnen Fällen nicht auch einmal eine scheinbare Härte
bieten kann, ist unmöglich. Das amtsgcrichtlichc Zivilprozeßvcrfahren ist nicht
darnach angethan, das Rechtsbewußtsein des Volkes zu zerstören und als mit¬
wirkende Ursache für das Wachsen der Sozialdemokratie angesehen zu werden. Wem?
die Tagespresse die Besprechung einzelner Fälle zurückweist, so verkennt sie ihre
Aufgabe nicht; gegen richterliche Urteile und Beschlüsse giebt es das Rechtsmittel
der Berufung oder Beschwerde, die Tagespresse, beziehentlich das aus derselben
sich unterrichtende Publikum ist uicht die Beschwerdeinstanz für die richterliche Thä¬
tigkeit, die vom Laien, wenn ihm nach seiner Ansicht Unrecht geschehen ist so oft
In einem frühern Hefte der Grenzboten
ist auf den Umstand hingewiesen worden, daß die christliche Bevölkerung einzelner
Gegenden und Städte eine große Portion Gutmütigkeit oder sagen wir lieber
Schwäche und Charakterlosigkeit dem hie und da recht aufdringlichen und an¬
maßend anspruchsvollen Judentum gegenüber an den Tag lege. Es konnte dabei
der Blick auf eine Stadt an der Lahn (Universitätsstadt) gelenkt werden, die sich
dazu versteht, das gesamte Fleisch, das von ihrer Bevölkerung verzehrt wird, durch
das Messer des Juden Schächten zu lassen. Jener Artikel der Grenzboten ist in
der betreffenden Stadt auch wohl beachtet und gelesen worden. Aber eine Widerlegung
etwa von feiten der Behörden durfte schon darum nicht versucht werden, weil
man eingestehen mußte, die Thatsachen seien genau der Wirklichkeit gemäß dar¬
gestellt. Nur dies und nichts anderes sollte geschehen. Nun darf aber gefragt
werden, ob denn mit der Unsitte des Schächters in jener Stadt, seitdem man sich
an das christliche Ehrgefühl gewandt hat, aufgeräumt worden sei, oder ob etwa
noch heute die alte» Zustände herrschend geblieben sind, wodurch der gesamte
Fleischbedarf einer Stadt von 20 000 Einwohnern, gleichviel ob das Fleisch an
Christen oder an Juden (die kaum der Bevölkerung bilden) abgesetzt wird, dnrch
die Hände des jüdischen Schächters geht. Nach unsern Erkundigungen ist man
einfnch bei der bisherigen Sitte des allgemeinen Schächters verblieben. Die
Christen insgesamt halten es also mit ihrer Würde und Ehre vereinbar, daß sie
der wenigen jüdischen Mitbürger halber ihren ganzen Fleischbedarf aus der Hand
des Schächters empfangen.
Es will uns scheinen, als ob sie wegen dieser freiwilligen Unterordnung unter
einen jüdischen Ritus, der uns sehr anfechtbar erscheint, nicht zu beneiden
wären. Schärfere Beurteiler werden ihre Auffassung dahin kundgeben, daß man
heutzutage kaum für möglich halten sollte, daß dergleichen thatsächliche Zustände
in einer Stadt bestehen, die doch sonst mit Eifersucht darüber zu wachen scheint,
daß man sie, mindestens der Mehrheit der stimmberechtigten Bürger nach, zur
„Fortschrittspartei" zähle. Die zugestandene Thatsache beweist, daß man sehr
„fortgeschritten" denken und stimmen und sich doch hinsichtlich humaner Anschauungen
und bezüglich eines allseitig entwickelten Selbst- und Ehrgefühls entschieden in der
Rückwärtsbewegung begriffen zeigen kann.
Wohl ist die Angelegenheit zur Debatte gestellt worden, anch, wie bekannt
geworden, auf Grund jenes ersten Aufsatzes innerhalb des Ticrschutzvcrcins; denn
man war deutlich genug auf das Mückenseihen und Kameeleverschlnckcn hingewiesen
worden. Diesen Vorwurf wollte man nicht auf sich sitzen lassen, und was brachte
man, selbst aus deu Reihen der Fleischer, zur Entschuldigung in Sitzungen, die
deshalb gehalten wurden, vor? Man ließ sich Vorreden, gerade diese Schlachtweise
(das Schächten) bewirke, daß das Fleisch besonders schmackhaft und gut zu genießen
sei, denn es sei am meisten vom Blute entleert, was ja der Jude gerade mit
seinem Schächten bezwecken wollte. Zudem könne kaum von Tierquälerei geredet
werden, denn im ganzen sei doch in nicht allzu langer Zeit das geschlichtete Tier
zum Verenden gebracht, und es sei nicht inhuman, auf einen jüdischen Ritus
Rücksicht zu nehmen und hierbei denn auch einem Tiere wohl einige Qual zu¬
zumuten.
Da uns die gesamte Frage lebhaft beschäftigt hat, haben wir uns bei einem
älteren, anerkannt sehr tüchtigen und sehr erfahrenen Kreistierarzt einer großen
rheinischen Handelsstadt mündlich Aufklärung geben lassen, sind aber durch die
uns sehr bestimmt und mit aller Entschiedenheit mitgeteilten Auffassungen jenes
Mannes einfach in den früher vorgetragenen Meinungsäußerungen bestärkt worden.
Es gilt uns heute, das, was wir gehört haben, anch andern — auch deu Vätern der
hessischen Universitätsstadt — an diesem Orte weiter zu geben. Lächerlich geradezu
und in keiner Weise zutreffend fand es jener in einem sehr umfangreichen Wir¬
kungskreise stehende verdiente Tierarzt, daß man sage, je blutleerer das Fleisch,
desto besser sei es. Er war geneigt, gerade das Gegenteil anzunehmen, und wies
auf die Sitte andrer Nationen hin, gerade mit Vorliebe das mit Blut noch durch¬
zogene Fleisch zur Verwendung in die Küche gelangen zu lassen. Die Behauptung,
das geschächtete Fleisch sei der Gesundheit zuträglicher und genußreicher, wies mein
Gewährsmann als durchaus unbegründet mit aller Entschiedenheit zurück. Er fand
nicht den mindesten Grund, sie in irgend einer Beziehung für zutreffend zu halten,
b'.'kannte sich auch auf Grund seiner mehr als vierzigjährigen Erfahrung — in-
mitten einer großen, viel Fleisch verbrauchenden Stadt — als entschiedener Gegner
der Schächtmethode, die kaum für die Juden selber, aber in keiner Weise für die
Tiere, die zum Zwecke des Fleischgeuusses in christlichen Häusern und Familien
geschlachtet werden müssen, sich mit gutem Gewisse» rechtfertigen lasse. Jener
Tierarzt hatte die Qualen der Tiere, die zum bequemen Schächten in schmerzhafte
Zwangslagen gebracht werden, beim Niederwerfen zuweilen einzelne Körperteile
brechen und so eine Zeit lang ausharren müssen, öfter mit angesehen; auch war er
voller Entrüstung wider die Verteidiger der von ihm gemißbilligteu Schlachtweise.
Nur wer gar keine Barmherzigkeit mit einem gequälten und geknebelt zu Boden
geworfenen Tiere habe, das ohne jede vorherige Betäubung zu Tode gebracht werde,
könne die Art des jüdischen Schlichtens billigen oder sich selber weiß zu waschen
versuchen. Die mannichfachen Versuche, die Tiere möglichst schnell und ohne un¬
nötige Quälerei zu Tode zu bringen, seien Zeugnisse einer humanen Zeit und An¬
schauung, und deshalb sei jedes Beginnen, zur frühern Barbarei zurückzukehren,
und sei es auch „aus Furcht vor deu Juden," aufs höchste zu mißbilligen und
zu bekämpfen. Es sei fraglich, ob den Juden für sich selber das bisherige Zu¬
geständnis wider alle Humanität noch länger zu machen sei.
In jedem Betracht empfehlenswert erscheint uns ein Vortrag des Krcistier-
arztcs C. Banwerker in Kaiserslautern (Kaiserslautern, Aug. Gotthold, 1832), ge¬
halten im dortigen wissenschaftlich-litterarischen Vereine, der mit den Worten schließt:
„In der öffentlichen Meinung kann das Judentum ganz sicher nicht gewinnen, wenn
es an einer Schlachtart festhält, die als eine Tierquälerei bezeichnet werden muß
und als solche öffentliches Aergernis erregt." Ganz dasselbe gilt aber auch von
einer Stadt, wenn sie an derselben Schlachtweise und noch dazu für das gesamte
zum Verbrauch bestimmte Vieh festhält. Wir geben uns der bestimmten Erwartung
hin, daß auch in Gießen die bisherigen greuelhaften Zustände ins Weichen kommeu
werden, wenn man nur den Mut gewinnt, nicht bloß im Stillen die Faust zu halten,
sondern öffentlich sich von zugelassenen Mißstünden loszusagen, die geradezu ein
Skandal in unserm „nnfgeklärten" neunzehnten Jahrhundert sind. Mögen sich
dazu die Männer finden!
Als der allgemeine deutsche Sprach¬
verein die verstreuten Kämpfer für die Reinheit unsrer Muttersprache unter seiner
Fahne vereinigte und den gesamten Bestrebungen einen Mittelpunkt und ein festes
Gefüge gab, da lächelten wohl viele und zweifelten, ob die Sache sich halten würde.
Nun sind ein paar Jahre drüber hingegangen, die Sache hält sich, und mancher,
der erst aus lieber Bequemlichkeit nichts von der „Fremdwörterjagd" wissen wollte,
ist jetzt, wenn nicht ein Freund des Sprachvereins, so doch vorsichtiger in seinem
Urteil über ihn und seine Arbeit geworden. Die Zeitschriften nehmen natürlich
je nach der Person und Gesinnung ihrer Leiter einen sehr verschiednen Standpunkt
zu der Frage ein. Die Grenzboten haben lange vor der Gründung des Sprach¬
vereins bereits seine Grundsätze vertreten, nicht immer zur Freude ihrer Mit¬
arbeiter, die sich oft ungern die „Brillanten" aus ihren Aufsätzen herausbrechen
ließen. Riegels erste Aufsätze erschiene» in diesen Blättern (Jahrgang 1833), und
da Riegels Buch, das aus diesen Arbeiten hervorging, „Ein Hauptstück von unsrer
Muttersprache," gewissermaßen die Gründuugsurkunde des Vereins wurde, so haben
sie sozusagen Patenstelle vertreten bei dem jungen Kindlein. Wir sind uns auch
treu geblieben, haben immer etwas auf unsre Sprache gehalten, ohne zu peinlich
zu werden, und wolleus auch künftighin so halten.
Andre Zeitschriften haben ihren Standpunkt, zum Teil mehrmals, gewechselt.
Das Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes z. B. erklärte in seiner
Nummer vom 1. August 1885, daß es fortan nur in reinem Deutsch geschriebene
Beiträge aufnehmen werde, hielt aber an diesem Grundsätze so wenig fest, daß es
im Jahre 1887 sogar einem erbitterten Gegner das Wort gestattete. Es brachte
einen Aufsatz vou Flach zu der Frage, der dem Namen seines Verfassers in jeder
Weise Ehre machte; nebenher war er freilich auch grob. Neuerdings, seit Kirch¬
bach die Leitung des Blattes hat, geht das Magazin wieder so kräftig mit dem
Kehrbesen vor, daß man sogar gewichtige Bedenken gegen diese Art von Sprach¬
säuberung haben muß.
Die leidenschaftlichsten Angriffe schleuderte wohl seiner Zeit Hans Delbrück
in den „Preußischen Jahrbüchern" gegen die „Puristen" (April 1887). Sein
Ton war unhöflich bis zur Ungezogenheit. Das mußte auffallen, denn die gut-
deutsche Gesinnung der Jahrbücher ist außer Zweifel, und das gute Deutsch ihres
ersten Herausgebers, Heinrich von Treitschke, nicht minder. Delbrück wandte sich
vorzugsweise gegen die seiner Meinung nach tolle Anmaßung, die nationale Frage
mit der Frage der Sprachreiniguug zu verquicken, er behandelte die Bemühungen
des Sprachvereins sehr von oben herab als eine Karikatur des um erwachten
Nationalbewußtseins, als die kleinliche Verzerrung und Ausartung des großen
vaterländischen Gedankens. Auch in der „Post" ließ sich Delbrück damals ver¬
nehmen; hier unterzog er in seiner Eigenschaft als Mitglied des deutschen Reichs¬
tages die Verdeutschungen der soeben erschienenen Felddienstordnung für die Fuß-
truppen einer „sachverständigen" Beurteilung und erteilte unsrer Heeresverwaltung
den wohlmeinenden Rat, sich doch ja nicht in diese einseitige Strömung hinein¬
ziehen zu lassen, die von kleinen Geistern ausgehe und uur für beschränkte Köpfe
etwas Verlockendes haben könne. Der Rat ist nicht befolgt worden, auch auf dem
Gebiete des Heerwesens gewinnt die deutsche Sprache laugsam, aber regelmäßig
Boden, und überhaupt wächst die Zahl der Freunde eiuer maßvollen und ver¬
nünftigen Sprachreinigung stetig.
Das neueste Heft der Preußischen Jahrbücher (September 1888) enthält an
erster (!) Stelle einen Aufsatz: Ein Ausweg aus der Fremdwörteruot von Dr. Robert
Hessen. Nach der Ueberschrift möchte man glauben, die Jahrbücher hätten sich
nunmehr eines Bessern besonnen und sich überzeugt, daß diese von selbst ge¬
wordene, starke Zeitströmung sich nicht einfach durch vornehmes Naserümpfen ans
der Welt schaffen lasse. Es wäre ja gar nicht undenkbar gewesen, daß Treitschke,
der — das merkt man jedem seiner Worte an — ein starkes Gefühl für die Würde
unsrer Sprache hat, einen Wink in dieser Richtung gegeben hätte. Allein schon
der Name des Verfassers mußte uns belehren, daß das eine trügerische Hoffnung
sei. Hatten uns doch selbst seiner Zeit Aufsätze dieses Herrn tüchtige Arbeit für
den Rotstift gegeben, und wir kennen seine Meinung, daß man „temperamentvoll"
nur mit Hilfe eines starken Zusatzes von Fremdwörtern zu schreiben vermöge. Dieser
Ansicht huldigt denn der Verfasser auch heute noch. Zwar einige magere Brocken
der Anerkennung spendet er den Sprachreinigern. „Es wird mit bessern Kennt¬
nissen wie früher (richtiger Wohl: als früher) der großen Fremdwörterfrage näher
getreten; viele Geschmacklosigkeiten werden aufgedeckt, selbst die alten Puristen werden
nicht geschont, und im einzelnen ist vieles erfreulich und lehrreich." Und ferner:
„Bei den Puristen liegt zur Zeit der Schwerpunkt der Frage, weil bei ihnen das
größte Interesse und die größte Rührigkeit vorhanden sind, d. h. — bis auf weiteres —
die größte Wahrscheinlichkeit, nach irgend einer Seite hin zu wirken. Ich ver¬
kenne ihre Verdienste nicht. Vor allem haben sie die ganze Frage in Fluß ge¬
bracht, sie haben das versumpfte deutsche Sprachgewissen aufgerüttelt, sie haben
endlich eine höchst achtbare Gelehrsamkeit in den Dienst ihrer Sache gestellt." Aber
im übrigen geht es den Sprachreinigern doch herzlich schlecht. Ihr gröbster Fehler
ist nach Herrn Dr. Hessen, daß sie „zu ungeschichtlich denken, um die Fremdwörter als
etwas Gewordenes anzusehen. Denn es ist eine Narrheit, unsrer Sprache diesen
Reichtum (!) wieder abzujagen und die Dürftigkeit an Stelle der Fülle (!) zu
setzen. Hier liegt der zweite Fehler: die Puristen wollen unsre Bildung zurück¬
dämmen; sie wollen ein Gleichmaß für die Schreibenden festsetzen, und nehmen
dazu nicht die höchste Stufe, auf der sich die erlesenen Geister der Nation be¬
wege», sondern die niedrigste, auf welcher Leute schreibe«, die gleich ihrem Publikum
zu ungebildet sind, um Fremdwörter richtig zu verstehen und richtig anzu¬
wenden." Bescheiden ist das gerade nicht, aber deutlich. Und was berechtigt nun
den Verfasser dieses Aufsatzes, sich so vornehm als Bilduugswächter und „erlesener
Geist" vor der Nation zu geberden? Er macht den Vorschlag, allen Fremd¬
wörtern, die in Schreibung oder Aussprache ihr undeutsches Wesen verraten, ent¬
weder ein deutsches Gewand zu geben oder sie so auszusprechen, wie uns der
Schnabel gewachsen sei: dann sei mit einem male, die Einheitlichkeit der Sprache
gewahrt und die unselige Frcmdwörterhetze gegenstandslos und überflüssig geworden.
Wie wenig ist doch Herr Dr. Hessen in die Tiefe der Frage eingedrungen,
um die es in dem Kampfe gegen die Verwelschung unsrer Muttersprache, der alten
deutschen Haupt- und Heldensprache, wie sie Leibniz nannte, sich handelt, daß er
glauben kann, die Sache liege so einfach! Nur den Abschnitt über die Fremd¬
wörter in dem herrlichen Buche von Hildebrand: „Vom deutschen Sprachunter¬
richt" hätte er zu lesen brauchen, und er hätte sich Wohl gehütet, mit so un¬
fertigen, oberflächlichen Ansichten hervorzutreten.
Es ist übrigens ein großer Irrtum des Herrn I)r. Hessen, daß er meint, dieser
hochweise Vorschlag sei etwas neues. Daß er sich so aufbläst und seinen Gedanken
als das El des Kolumbus hinstellt, beweist eben wieder nur, wie wenig er in der
Sprachreinigungslitteratur zu Hause ist. Schon I. H. Campe (die einschlägigen
Bücher nennt z. B. Dünger, Einleitung zum Verdeutschungswörterbuche, S. 37)
verfocht den Grundsatz: Alle entbehrlichen Fremdwörter, welche der Sprachähnlich¬
keit (Analogie) unsrer Sprache widerstreben, sind zu verbannen, anders gesagt:
Was unentbehrlich scheint und sich unsern Laut- und Betonungsgesetzen fügt, das
mag erhalten bleiben. Und in den Kreisen des Sprachvereins weiß und beachtet
man das längst.
Aber die Hauptfrage für uns ist: Wann ist ein Fremdwort so unentbehrlich,
so schwer ersetzbar, so wesentlich für die besondre Färbung des Gedankens, daß
diese Regel in Kraft zu treten hat? Und über diese Frage sind wir völlig andrer
Meinung als Herr Dr. Hessen. Ihm genügt es vollauf, für Chevauxlcgers zu
schreiben Schwolescheh — dann ist das Wort deutsch, ist es kein Fremdwort mehr!
Da ziehen wir denn doch vor, zu sagen leichte Reiterei.
Die Frage, ob die Aussprache oder die Schreibung nachgeben soll, ob also
z. B. Plcmgtasche geschrieben oder Plantage (^- Lage, Plage) gesprochen werden soll,
die Frage soll von einer königlichen Kommission entschieden werdeu, deren baldiges
Zusammentreten Herr Dr. Hessen hofft. Nun, damit wird es wohl auch gute Wege haben.
Vorläufig zeigt die Negierung in verschiednen Verwaltungsgebieten den besten
Willen, im Sinne des Sprachvereins fäubernd vorzugehen, sie setzt z. B. in der
neuen Exerzirvrdnung statt chargiren das gut deutsche Wort feuern ein. In
andern Fällen wird auch der von Herrn Dr. Hessen nen entdeckte Weg eingeschlagen,
so wenn man jetzt vielfach statt des nun einmal fest eingewurzelten Secondelientenant
schreibt Sekondleutncmt. So geht es langsam, aber sicher vorwärts, und die bos¬
haften Ausfälle gegen die Beschränktheit der Sprachreiniger beweisen weiter nichts,
als daß man ihre Erfolge nicht mehr verkennen kann und — sich vor ihnen
fürchtet.
Bezeichnend dafür sind ein paar Stellen in dem Aufsatze des Herrn Dr, Hessen.
Er sagt (S. 210): „Der richtige Purist, wenn er Redccktör ist, fährt mit seinein
fanatischen Rotstift ganz unbekümmert umher, und der gute Geschmack scheint ihn
vollkommen zu verlassen. Er verwässert volle Bezeichnungen, er Schindel die deutschen
Wurzeln geradezu ad und gefällt sich in den widerwärtigsten und eintönigsten Wort-
znsnmmenkleistcruugen, an denen ohnehin schon unsre Sprache einen unangenehmen
Ueberfluß hat, ja er streicht schließlich ganz unverzagt, wenn er sich anders nicht
zu helfen weiß." Gegen diese „philiströse Beaufsichtigung und Hudelei" erhebt
Herr Dr. Hessen entschiednen Einspruch. „Die Unsicherheit, die den Schreibenden heute
peinigt, als ob nun wieder wie in deu Tagen der Jugend ein böser Mann mit
dein Billet hinter ihm stehe, um ihm fortwährend auf die Finger zu klopfen, diese
Unsicherheit ist unwürdig, und sie muß umso eher wieder aufhören, als persönliche
Willkür allein doch schließlich hier entscheiden will."
Wir bekennen aufrichtig, daß wir diese geharnischte Erklärung des Herrn Dr.
Hessen mit großem Behagen gelesen haben. Er mag von unserm mangelnden Sprach¬
sinne und schlechten Geschmacke halten, was er will; wir sind der Meinung, daß
für Leute seines Schlages die verhaßte Unsicherheit und Angst vor dem Bakel sehr
heilsam sei. Vielleicht bekommt er doch eine gewisse Meinung von unserm Ge¬
schmacke, wenn wir noch sagen: Es ist für die Preußischen Jahrbücher keine Ehre,
in ein und demselben Bande mit der nach Sprache und Inhalt so vornehmen
Arbeit von Heinrich von Treitschke (Zwei Kaiser. 15. Juni 1L88) ein Machwerk
abgedruckt zu haben wie den Aufsatz des Herrn Dr. Hessen.
In einer „Sommerfrische" eingefroren, lernt
man erst recht die Wohlthat eines Lesezimmers schätzen und greift dankbar auch
nach Drucksachen, die nnter andern Verhältnissen die Hand kaum berühren würde.
Und dciuu kann es sich ereignen, daß man voll Beschämung seinen Leichtsinn er¬
kennt, nicht früher schon an solche Quellen der Belehrung gegangen zu sein. Solch
ein Moment wars, als ich erfuhr, die Universität Berlin sei so tief gesunken, daß
sie — wenigstens ein Trost! — nicht mehr tiefer sinken könne. Da hingen neben
einander dicke Hefte von berühmten Zeitungen, und welches ich aufschlagen mochte,
stets fiel mein Auge auf eine strenge Straf- und Bußpredigt. Die einst hoch¬
gefeierte Stätte der Wissenschaft ist zur Brutanstalt des Servilismus geworden,
die freie Forschung wird geächtet, die einstigen Zierden der Hochschule müßten sich
im Grabe umdrehen, wenn sie das liebedienerische Treiben ihrer Nachfolger sehen
könnten. So urteilt man in Berlin, in Frankfurt, in Wien, in Breslau :c. Das
muß also doch die öffentliche Meinung sein. Ja die Uebereinstimmung ist so groß,
daß die so weit von einander wohnenden gerechten Richter genau dieselben Argu¬
mente anführen, dieselben Persönlichkeiten aus der Vergangenheit und ans der
Gegenwart einander gegenüberstellen, sogar, wie eine genauere Vergleichung ergiebt,
dieselben Redewendungen gebrauchen. „Das deutsche Volk," in dessen Namen und
besonderen Auftrage bekanntlich die freisinnigen Zeitungen immer spreche«, scheint
nicht nur einmütig, sondern zugleich einmündig zu sein. Und was man so die
Volksmeinung heißt, ist bei Lichte besehen eines Herrn Meinung, der dem Volke
gütigst die Mühe abnimmt, sich eine Meinung zu bilde».
Der Grund des Jammers ist, daß die Universität nicht Virchow, sondern
Gerhardt zum Rektor gemacht hat, und gleich schwer wiegt die Begehungs- wie
die Unterlassungssünde. Virchow nicht zu wählen, weil er zur politischen Oppo¬
sition gehört, das war schon schlimm genug, aber an seiner Stelle einen Mitarbeiter
an der Anklageschrift gegen den großen Mackenzie, das war zu viel auf einmal,
da fährt auch die freisinnige Geduld dahin. Und nun wird keine Schonung mehr
geübt, nun herunter mit den Masken, damit die Nation die Männer, die jetzt an
der Berliner Universität das große Wort führen, in ihrer ganzen abschreckenden
Häßlichkeit erblicke, die das Signal zur Ausrottung des Idealismus gegeben haben
und in der akademischen Jugend das Strebertum züchten. Wer diese Männer sind?
Nun „ein Treitschke," der sich so oft herausgenommen hat, die Gebote des Frei¬
sinns zu übertreten, noch jüngst in der Charakteristik der beiden Kaiser, und um
der Verworfenheit die Krone aufzusetzen, das Vorhandensein einer Judenfrnge an¬
erkennt; „ein Gneist," der den Adel angenommen hat und in Vorlesungen über
Verfassungsrecht die Doktrin zu kritisiren sich erlaubt, auf die jeder Freisinnige
eingeschworen ist; „ein Grimm," welcher ausgesprochen hat, dem deutschen Volke
zieme es nicht, Heine ein Denkmal zu setzen; „ein Brunner," der —ja was denn? —
der ein Oesterreicher ist; „ein Gerhardt, ein Bergmann" n. s. w.
In ähnlichem Tone wenigstens wagt „ein Porkcles" oder Silberpappel oder
Opodeldok oder wie er sonst heißen mag, die genannten abzukanzeln. Deutschen
Lesern kann ein solches Gerede kaum gefährlich werden, da sie Zeile für Zeile den
Verfasser auf seiner Unwissenheit ertappen werden. Denn wer müßte nicht lachen,
wenn, nachdem die Brüder Grimm, Lachmann, Ranke u. a., sogar Niebuhr deu
«numehr vervehmten vorgehalten worden sind, keck die Behauptung auftritt,
Mommsen habe so wenig wie Virchow seine Wissenschaft mit Politik vermengt?
Es mag ja sein, daß der letztere nicht dem Beispiele des Freundes Vogt gefolgt
ist, nicht pathologische Anatomie der Politik vorgetragen hat, aber Mommsen, dessen
Römische Geschichte schon eine politische Parteischrift ist, hätte der Herr, dem es so
sehr um den Leumund der Universität bangt, besser aus dem Spiele gelassen. Und
dergleichen sagt sich jedermann selbst, daß ohne Zweifel die ungeschickten Trabanten
Virchows das ihrige dazu gethan haben, die Wahl Virchows zu verhindern.
Denn das steht fest: hätte mau sich über seiue politische Verblendung hinweggesetzt,
die traurig-lächerliche Rolle vergessen, die er als Parlaments- und Volksredner
spielt, so würde urbi et ordi verkündet worden sein, daß die Universität für den
fortschrittlichen Liberalismus Zeugnis abgelegt habe, wie man ihr jetzt reaktionäre
und servile Gesinnung unterschiebt. Sie aber hatte ein Recht, solcher Mißdeutung
vorzubeugen, mögen übrigens die Gründe der Mehrheit gewesen sein, welche sie
wollen.
Das leuchtet, wie gesagt, jedem vaterländisch gesinnten Deutschen ein. Be¬
dauerlicher ist es, daß das angesehenste Blatt Oesterreichs in das freisinnige Ge¬
schrei einstimmt. Noch immer haben wir gefunden, daß die „Neue Freie Presse"
in deu Angelegenheiten Oesterreich-Ungarns und auch andrer Staaten einen Stand¬
punkt einnimmt, der konservativ-liberal genannt werden kann; nur wenn das deutsche
Reich in Frage kommt, macht sie sich zum Ablageruugsplatzc der Ansichten, die ihr
durch die bekannten Berliner . . . kanäle zufließen. Natürlich muß der österreichische
Leser, der diese« Zusammenhang nicht kennt, nur das eine Blatt zu Gesichte be¬
kommt, glaube», in Deutschland herrschten beklagenswerte Zustände, da ein so ge¬
mäßigtes, jeder Uebertreibung abholdes Organ sie so hart beurteilt. Den Leitern
kann der grelle Widerspruch uicht verborgen sein, daher bleibt nur die Erklärung
übrig, daß anch sie von dem beschränkten jüdischen Liberalismus beeinflußt sind.
Indessen lieferte die Zeitungsschau auch Heiteres. Das „Berliner Tageblatt"
hat aus M. Meyers „Geschichte der preußischen Handwerkerpolitik," vielleicht sogar
schon aus den Publikationen des Archivs erfahren, daß König Friedrich Wilhelm I.
nicht nur Soldaten gedrillt, sondern mit dem größten Ernst und unermüdlichem
Fleiße sich bemüht hat, Kultur und Wohlstand Preußens zu heben. Daß er darin
nur dem Beispiele der meisten seiner Vorfahren folgte, ist, wie es scheint, dein
ehrenwerten Blatte entgangen, denn es nennt ihn schlechthin „den ersten Volkswirt
auf dem Throne der Hohenzollern." Diese Begeisterung rührt daher, daß der König
sich gegen Mißbräuche des Zunftwesens ausgesprochen und den Satz aufgestellt hat:
„Wer gut arbeitet, wird verdienen, und wer schlechte Arbeit macht, wird nichts
verdienen." Daß die Kritik von Mißbräuchen in einer Zeit der allgemeinen Ver¬
armung, des Verfalls der Gewerbe und der ohnmächtigen Bemühungen derselben,
durch starre Abschließung sich zu retten, nun gegen das Zunftwesen überhaupt
ausgespielt wird, kann nicht überraschen. Doch fällt zweierlei auf. Der Irrtum
in den angezogenen Worten des Königs wurde vor und uach ihm Vou edeln und
großen Geistern geteilt, jetzt erkennt man ihn, denn jedermann hat erfahren und
erfährt, daß da, wo keinerlei Organisation dem Verfertiger und dem Abnehmer Schutz
gewährt, nicht derjenige, welcher das Beste, sondern derjenige, welcher das Meiste
fürs Geld, das Wohlfeilste, wenn anch noch so schlecht, liefert, am meisten verdient.
Und daß davon gerade das „Berliner Tageblatt" noch nichts bemerkt zu haben scheint,
ist sehr merkwürdig. Zweitens: sollte dem Verfasser des Lobpsalms ans den „Sol¬
datenkönig" dabei gnr nicht der Gedanke gekommen sein, was wohl geschehen würde,
wenn dieser mit dem bekannten Rohrstock einmal wieder durch die Straßen Ber¬
lins wandern und vou dem Treiben einer gewissen Tageslittcratnr Kenntnis nehmen
könnte? Wenn er z. B. sähe, wie sein Name gemißbraucht wird, oder wie Männer,
gleich hochachtbar als Charaktere wie als Gelehrte und Lehrer, begeifert, dem Pöbel
denunzirt werden, weil sie nicht nach dem Herzen eines Herrn Pvrkeles oder dergl.
sind? Und Wenn der „erste Volkswirt ans dem Throne der Hohenzollern" in seiner
etwas entschiedenen und wenig umständlichen Weise Ordnung machen wollte? Ge¬
sänge würde man auch dann wohl vernehmen, aber schwerlich Jubellieder.
Seitdem Hugo Grotius durch sein unsterbliches Buch vom Rechte des Krieges
und des Friedens pas Völkerrecht zu einer selbständigen Wissenschaft erhoben hat,
ist eine sehr reiche Litteratur darüber entstanden, in der sich vorzüglich zwei Rich¬
tungen unterscheiden lassen, die naturrechtliche, die vou der Thatsache oder Annahme
eines der menschlichen Natur eingepflanzten Vernunftgesctzes ausgeht, welcher sich
kein Staat entziehen könne, und der Hobbes, Pufendorf, Thomasius und der
Franzose Bvnald angehören, und die der Positivisten, die nur ein dnrch Herkommen
oder Verträge gegebnes internationales Recht anerkennen und das Naturrecht ent¬
weder gar nicht anerkennen oder nur als Aushilfe für Fälle betrachten, wo Schlüsse
aus dem Historisch-Praktischen Rechte nicht ausreichen. Der letztem Richtung
folgen Vattel, Bynkcrshoek, Kinder, Mariens, Pölitz, Zacharici und der Amerikaner
Whcaton. Auch Heffter gehört in diesen Kreis von Gelehrten. Der außerordent¬
liche Erfolg seines Buches aber, dessen erste Auflage 1844 erschien, beruht vor¬
züglich darauf, daß es in knapper Form und mit juristischer Präzision ein Bild
des wirklich geltenden Völkerrechtes giebt. Zwar verkennt er nicht, daß es Lücken
und Mängel hat, aber er hütet sich vor dem Versuche, es in der Weise Blunt-
schlis zu ergänzen, in dessen Rechtsbuchc das anerkannte Recht vermischt mit dem
erscheint, was nach der Meinung des Verfassers Recht sein sollte. Gewiß darf
und soll die Wissenschaft die Unvollkommenheiten des bestehenden Rechtes be¬
leuchten und auf Vertiefung und Erweiterung desselben hinwirken, dagegen ist sie
nicht befugt, dem Augenblicke vorzugreifen, wo eine Rechtsansicht durch die Ueber¬
einstimmung der Völker zum Rechtssätze geworden ist. Denn auf solchen! Wege
läuft man stets Gefahr, das nur von dem Einzelnen oder auch vou Viele» ge¬
wünschte mit dem Wirkliche» und Möglichen zu verwechseln und dadurch deuen in
die Hände zu arbeiten, welche im Hinblicke auf derartige persönliche und häufig
unerfüllbare Forderungen behaupten, es gebe allerdings ein internationales Her¬
kommen, aber kein solches Recht, kein Völkerrecht. Bei der Darstellung des letzter»
hat man sich folglich streng und ausschließlich an das zu halten, was wirklich all¬
gemein als Recht anerkannt ist, und sorgfältig davon zu trennen, was nur wün¬
schenswerte Reform und vielleicht oder sicher für die Zukunft zu hoffen ist. Darauf,
daß Heffter diese Notwendigkeit erkannt hat, gründet sich der Hauptwerk seines
Werkes. Es wird dadurch zu einem zuverlässigen Führer. Im übrigen ist die
Anordnung des Stoffes uicht überall besonders geschickt. Doch thut das der Arbeit
keinen wesentliche» Eintrag, und so köunen wir es nur billigen, wenn der Bear¬
beiter von einer gründlichen Umgestaltung derselben abgesehen und sich darauf be¬
schränkt hat, im einzelnen zu ändern und zu ergänzen. Vergleichen wir die sechste
Auflage mit der jetzige», so sind zunächst nur einige in der Zeit seit Heffters Tode
veraltete Paragraphen gestrichen oder ungeschrieben worden, dem» hat der Be¬
arbeiter eine Anzahl vou Zitaten aus Werken, die niemand mehr liest, entfernt
und damit Raum zu Ausführungen gewonnen, welche die Ereignisse und die wissen¬
schaftlichen Schriften der neuesten Zeit forderten, wenn das Buch den Ansprüchen
der Gegenwart genügen sollte. Es ist dabei, so weit wir sehen können, nichts von
Erheblichkeit vergessen worden. Daß der Abschnitt „Die diplomatische Kunst," der
in den frühern Ausgaben enthalten war, weggefallen ist, bedauern wir, obwohl zu¬
gegeben werden muß, daß er uicht eigentlich in ein Werk über Völkerrecht gehört.
Schließlich bemerken und billigen wir noch, daß der Bearbeiter seine Zuthaten im
Text und in den Anerkennungen durch ein 6 kenntlich gemacht hat. Man muß
wissen, mit wem mau zu thun hat, und suum ouicM.
Ist diese Schrift zunächst auch nur als Doktor-Dissertation verfaßt, so kann
sie doch ein allgemeineres Interesse in Anspruch nehmen. Sie behandelt die Für¬
sorge für die Arbeiter, einen Gegenstand, der augenblicklich die Gesetzgebung in
Deutschland lebhaft beschäftigt, und der Verfasser war, wie kaum ein andrer, zur
Abfassung dieser Schrift berufen; denn während er den behandelte» Gegenstand
theoretisch vollständig beherrscht, stehe» ihm auch die reiche» praktische» Erfahrungen
zur Seite, die er sich durch zwölfjährige Thätigkeit als Beamter und Leiter be¬
deutender technischer Betriebe und ebenso lange Mitwirkung bei der Direktion der
Unfallversicherungsgesellschaft zu Leipzig erworben hat. Der Verfasser weist, zum
Teil mit schlagenden Beispielen, nach, warum das Neichshaftpflichtgesetz vom 7. Juni
1871 nicht günstig wirken konnte, sondern geradezu entsittlichende Folgen nach sich
ziehen mußte, giebt dann eine genaue Uebersicht über die Reformbewegung, die
zum Erlaß des Unfallversicherungsgcsetzes vom 6. Juli 1884 geführt hat, und weiter
schätzbare Winke über die Anwendung und Verbesserungsbedürftigkeit des letztern.
Für alle Beteiligten vou höchstem Interesse werden die Materialien sein, die der
Verfasser zur Beurteilung des Unfallrisikos und der praktischen Unfallverhütung
mitteilt. Möge das Werkchen allen, die Anteil an der sozialen Gesetzgebung nehmen,
warm empfohlen sein.
Dieses kleine Bändchen, bescheiden in der Form, spottwohlfeil im Preise bei
seiner Reichhaltigkeit (50 Pf.) bietet eine nach dem Datum fortlaufende Uebersicht
des Lebens und der Wirksamkeit unsers großen Kanzlers und damit ein RnhmeS-
buch der deutscheu Geschichte in den letzten Jahrzehnten, das in seiner Aufführung
der reinen Thatsachen uns recht zum Bewußtsein bringt, wie viel das deutsche
Volk dem Fürsten Bismarck zu verdanken hat. In kürzester Fassung verzeichnet
das Büchlein alle wichtigen Ereignisse ans dem häuslichen und politischen Leben
unsers Reichskanzlers, die Reihenfolge aller seiner Reden im Land- und Reichstage,
seiner diplomatischen Depeschen, Staatsschriftcn und Gesetzentwürfe Dieses umfang¬
reiche Material hat der Verfasser mit größter Sorgfalt, mit wissenschaftlicher Zu¬
verlässigkeit und Objektivität zusammengetragen und damit eine Grundlage geschaffen,
auf der alle künftigen Biographen Bismarcks sicher werden süßen können. Auf
den beiden ersten Seiten, welche die Jugendzeit behandeln, tritt natürlich das Po¬
litische noch in den Hintergrund; aber schon am Schluß der zweiten Seite kündigt
es sich in dem Satze an: „1845, Oktober. Bismarck tritt in den Provinzial-
Lcmdtag von Pommern ein"; dann mehren sich in rascher Folge die Anführungen
über seine Thätigkeit in dem Vereinigten Landtage, in der Zweiten Kammer des Land¬
tages von 1349, in dem Volkshaufe des Erfurter Unionsparlaments von 1850,
bis mit der Ernennung zum preußischen Gesandten am deutschen Bundestage zu
Frankfurt (1851) jene seitdem ununterbrochene Thätigkeit im Dienste des Vater¬
landes beginnt, die so schön ausgedrückt ist in Bismarcks Wahlspruch: l^eins in-
Mrvicmäo ocmsnmor. In der That handgreiflicher und durch die einfache» Thatsachen
überzeugender kann uns das Bild von der bewunderungswürdigen Wirksamkeit des
großen Staatsmannes nicht vorgeführt werden als dnrch die chronologischen An¬
gaben dieses Büchleins. Angefügt sind fünf Beilagen: 1. zwei Handschreiben Kaiser
Wilhelms I. an Bismarck und der Trinkspruch unsers jetzigen Kaisers Wilhelm II.
zur Feier des 73. Geburtstages des Reichskanzlers; 2. ein Verzeichnis der Orden
und Titel des Fürsten Bismarck; 3. ein Verzeichnis der 29 Städte, welche dem
Fürsten Bismarck das Ehrenbürgerrecht verliehen haben; 4. eine Uebersicht der
reichen Bismarck-Litteratur; 5. eine Zusammenstellung der Bismarck-Bilder.
Ein vorzüglicher Kenner der russischen Zustände, der Geschichte Rußlands, des
russischen Nativualchcirakters hat diese Schilderungen aus Rußland entworfen. Wie
groß die Barbarei dieses „heiligen" Reiches noch ist, wird man sich hier mit
Schaudern bewußt. Fränkel erzählt uns, wie rücksichtslos in den russischen Ostsee-
Provinzen das Deutschtum und der Protestantismus, alten, verbrieften Rechten
hohnsprechend, unterdrückt worden sind. Die Ordnung und der Wohlstand dieser von
Deutschen bewohnten Landstriche waren den slawischen Fanatikern ein Dorn im
Auge: lieber sahen sie eine Wüste, als die Deutschen. Dann erhalten wir eine
Reihe von wahrhaft erschrecklichen Bildern aus der Regierungszeit Nikolaus' I.
und Alexanders II. In Rußland giebt es keine Gerechtigkeit. Der Zar ist weit,
und die Polizei ist Alleinherrschern:; der Rubel allein schützt den Bürger vor
Willkür und Gewaltthätigkeit. Das glänzendste Kapitel des Buches ist das letzte:
der russische Nationalcharakter und seine Wirkungen auf das russische Leben. „Nit-
schewv! Es macht nichts!" In diesen: Lieblingswort aller Volksklassen spiegelt
sich die Volksseele ab. Der Russe ist im Durchschnitt wenig ausdauernd in der
Arbeit, darum bringt er es bei aller Vielseitigkeit zu keiner Meisterschaft und ist
in allem Handwerk vom Auslande abhängig. Seine Sorglosigkeit hängt mit seiner
praktischen Begabung für alles Mögliche zusammen, aber sie führt ihn auch zur
Genußsucht, Verschwendung, Unzuverlässigkeit, Zeitvergeudung, Trunksucht. Er hat
eine außerordentliche Lebhaftigkeit der Empfindung, aber Wankelmut und Mangel
an Beharrlichkeit stehen mit ihr in Verbindung. Er ist der gutmütigste und liebens¬
würdigste Mensch, ein zärtlicher Familienvater, offenherzig, zutraulich, zugleich aber
auch geschwätzig, unklug. Die maßlose russische Gastfreundschaft ist ebenso bekannt,
wie russische Grausamkeit, Rohheit (z. B. bei Behandlung von Gefangenen). Das
Volk ist unterwürfig bis zur Kriecherei, der Behörde gegenüber hat es gar kein,
weder männlich-persönliches, noch bürgerliches Selbstgefühl. Woher auch? Das
rauhe Klima hat den russischen Soldaten zwar abgehärtet gegen jede Strapaze,
aber seine Schwermut macht ihn auch langsam in allen körperlichen Bewegungen.
Damit hängt seine geistige Trägheit zusammen. Die Treue im Kleinen kennt der
Russe nicht. Statt originalen Unternehmungsgeistes besitzt er nur das Talent der
Nachahmung. Die russischen Romane, die ja meist realistische Erzählungen sind,
bestätigen nur dieses Charakterbild.
wir machen unsre Leser aus die Rubrik des Umschlags „Neues vom Büchermarkt" aufmerksam.
s gehört zu dem tragischen Geschick, das Kaiser Friedrich gehabt
hat, daß ihn eine Partei für sich allein beanspruchte und ihm
das Ansinnen stellte, ihr verderbliches Programm zu verwirklichen.
Auch jetzt noch thut sie das. Die Volkszeitung, dieses neben
der Freisinnigen Zeitung rücksichtsloseste Blatt des Fortschritts,
schrieb noch jüngst in ihrem Artikel': „Zum Sedantage," indem sie die anredete,
die nicht ins deutschfreisinnige Horn blasen: „Auch ihn laßt uns, den ihr ge¬
schmäht und verketzert habt"; sie ahnt gar nicht, daß es die größte Schmähung
für einen Hohenzollern ist, ihn einer Partei zu überlassen, und nun vollends
einer Partei, die unter Freiheit nie etwas andres verstanden hat, als Beschneidung
der Rechte, die die Krone hat.
Wilhelm II. hat beim Beginn seiner Regierung einen Armeebefehl erlassen,
kraftvoll und herzlich zugleich. Wie man dem Erlaß anmerkt, daß er aus tief
bewegtem Herzen kam, so ist er auch ein Zeugnis von festem Willen. Der
junge Kaiser verweist auf seinen Großvater, „das Bild des glorreichen und
ehrwürdigen Kriegsherrn," auf seinen teuern Vater, auf die lange Reihe ruhm¬
voller Vorfahren, deren aller Herzen warm für die Armee geschlagen, und fährt
dann fort: „So gehören wir zusammen, Ich und die Armee, so sind wir für
einander geboren, und so wollen wir unauflöslich fest zusammenhalten, möge
nach Gottes Willen Frieden oder Sturm sein." Gleicher Ernst und gleiche
Jugendkraft spricht aus dem an demselben Tage gegebenen Erlaß an die Marine:
„Die Zeit ernster und wahrhafter Trauer stärkt und festigt den Sinn und die
Herzen der Menschen, und so wollen Wir, das Bild Meines Großvaters und
Meines Vaters treu im Herzen haltend, getrost in die Zukunft sehen. ... Ich
weiß, daß jeder öder der Marine angehört^ bereit ist, mit seinem Leben freudig
für die Ehre der deutschen Flagge einzustehen, wo immer es sei, und so kann
Ich es in dieser ernsten Stunde mit voller Zuversicht aussprechen, daß wir fest
und sicher zusammenstehen werden in guten wie in bösen Tagen, im Sturm
wie im Sonnenschein, immer eingedenk des Ruhmes des deutschen Vaterlandes
und immer bereit, das Herzblut für die Ehre der deutschen Flagge zu geben."
Wenn in dem ersten Erlaß mehr der Hohenzoller hervortritt, der zu seinem
Heere sagen darf: „Wir sind für einander geboren," so läßt der zweite Erlaß
an die Marine, wie es sich gebührt, mehr den deutschen Kaiser sprechen, der
„immer eingedenk ist des Ruhmes des deutschen Vaterlandes." Wohl alle
patriotischen Herzen schlugen höher bei diesen Worten.
Dagegen wurde gleich in dem Leitartikel der Volkszeitung vom 17. Juni,
„Der Thronwechsel," die neue Regierung angezapft wegen der Verordnung einer
sechswöchentlichen Landestrauer. Diese Verordnung wurde dem Erlaß von
San Remo über Freilassung der Landestrauer gegenüber gestellt, um daun die
Bemerkung vom Stapel zu lassen: „Diese Vorschrift, welche polizeilich befehlen
will, was nur als freie Kundgebung der Herzen wirklichen Wert hat, wird
gleichwohl erreichen, was sie bezweckt, sei es auch auf einem Umwege; sie wird
von neuem die Empfindung dessen schärfen, was die deutsche Nation an Kaiser
Friedrich verloren hat." So wurde das neue Regiment wegen eines Aktes
begrüßt, dessen Unterlassung wenige Monate vorher als sehr unzweckmäßig er¬
funden worden war.
Die Proklamation „An mein Volk" erfolgte am 18. Juni. Der junge
Kaiser gedachte zuerst in tief gefühlten Worten seines in Gott ruhenden Gro߬
vaters und seines Vaters, „des königlichen Dulders, dessen unvergänglicher
Ruhm seine ritterliche Gestalt in der Geschichte des Vaterlandes verklären wird";
dann gelobt er Gott, nach dem Beispiel seiner Väter seinem Volke ein ge¬
rechter und milder Fürst zu sein. Frömmigkeit und Gottesfurcht zu Pflegen,
den Frieden zu schirmen, die Wohlfahrt des Landes zu fördern, den Armen
und Bedrängten ein Helfer, dem Reiche ein treuer Wächter zu sein.
Durch diese drei Erlasse geht ein Ton, der die Weissagung des Menschen¬
kenners Bismarck zu rechtfertigen scheint: „Wenn Prinz Wilhelm einmal den
Thron besteigen wird, so wird er Kaiser und Kanzler in einer Person sein!"
Man hat mit Recht gesagt, daß diese Erlasse kein Programm geben; aber sie
geben mehr: sie knüpfen eine persönliche Beziehung zwischen Armee und Führer,
zwischen Volk und König. Das ist auch noch deshalb von großer Bedeutung,
weil an diese so warmen und doch so klaren Worte, die, wie gesagt, kein Pro¬
gramm, aber Grundsätze enthalten, eine unehrliche Auslegungskunst der Parteien,
die die Worte so lange herumzerrt, bis sie ihnen passen, gar nicht hinan kann.
Eine SophiM, wie sie z. B. dem durch die ganze Geschichte der Hohenzollern
hinreichend verständlichen, in das Programm Friedrichs aufgenommenen Satze
von der religiösen Duldung sowohl von seiten der Irreligiosität wie von selten
des Ultramontanismus zu teil ward, die für die ungemessensten Bestrebungen
nun breiten Boden zu haben glaubten, kann an diesen aus dem Herzen quellenden
Worten ihr Spiel schwerlich treiben. Auch gegenüber dem Auslande waren die
Worte des neuen Herrschers ebenso klar und bestimmt als sicher. Bei dieser
Sicherheit unsrer politischen Leitung war die Versicherung des N6ro.orig,1 clixlo-
niÄtiqns fast possirlich, daß „der Prinz von Wales einen vorherrschenden Einfluß
auf die politischen Kreise Berlins übe und daß seine Anwesenheit in der Reichs¬
hauptstadt unbedingt notwendig sei vom Standpunkte der kaiserlichen Familie
aus wie von dem der gegenwärtigen Politik und der zukünftigen Ereignisse."
Dit lieber Gott! der Prinz von Wales, dem „die Kleider nicht mehr fesch
sitzen," wie er neulich seinem „Tailleur" selbst gestanden hat, weil er zu dick
geworden ist!
Den Tag der Beisetzung Kaiser Friedrichs benutzte das Hauptorgan der
Fortschrittspartei, um wahre Orgien voll wütenden Preußenhasses zu begehen.
Die Volkszeitung brachte einen Artikel: „Kaiser Friedrichs Leichenfeier." Darin
heißt es: „Es ist der Tag von Kollin und der Tag von Waterloo, an welchem
Kaiser Friedrich zur ewigen Ruhe gebettet wird, ein Tag, wie kein andrer
geeignet, an die Vergänglichkeit aller irdischen Herrlichkeit zu denken." Daß es
auch der Tag von Fehrbellin war, mußte verschwiegen werden; es konnte das
ja vielleicht auch patriotische Erhebung mit hervorrufen. Kollin aber, das demütigt;
denn daß auf Kollin Roßbach und Leuthen folgt, daran braucht ja nicht
erinnert zu werden. Aber was thut man mit Waterloo? O, Waterloo paßt
ganz gut zu Kollin; denn „die beiden größten Eroberer und Kriegshelden,
welche die beiden letzten Jahrhunderte gesehen haben, fanden an diesem Tage
die schwere Züchtigung des Übermutes, der auf die Macht der Waffen als auf
die einzige Quelle des Rechtes pocht." Waterloo mahnt den Preußen nicht
etwa daran, daß sich hier die edelste Kraft des Preußenvolkes in seinem tod¬
müden und doch noch todesmutigen Heere in wunderbar stolzer Herrlichkeit zeigt,
sondern der Tag von Waterloo war „ein Tag der ewigen Verdammnis für die
Liebe zum Kriege, welche die edelste Kraft der Völker unter gleißend leeren
Schlagworten von Ehre und Ruhm in Molochs unersättlichen Rachen
schleudert." Und diese Lehre sollen „unsre Väter und Großväter noch am
eignen Leibe erfahren" haben. Aus diesem kraftlosen Geschreibsel kann nur
entnommen werden, daß dieser Molochhasser an Väter und Großväter denkt,
die am Tage von Waterloo vielleicht ihr Geschäftchen noch in Russisch-Polen
gemacht haben.
Am 25. Juni begrüßte Kaiser Wilhelm, umgeben von den deutschen Fürsten,
den deutschen Reichstag mit einer Ansprache, die einerseits eine starke Friedens¬
kundgebung, anderseits die festeste Entschlossenheit zeigte. Nachdem die Rede
pietätsvoll des entschlafenen Vaters gedacht hat, weist sie in wenigen, aber
viel sägenden Worten auf das Vorbild hin, das sich Wilhelm II. vor Augen
gestellt hat, das Vorbild, das Kaiser Wilhelm nach schweren Kriegen in
friedliebender Regierung seinen Nachfolgern hinterlassen und dem anch seines
hochseligen Herrn Vaters Regierung entsprochen hat, so weit die Bethätigung
seiner Absichten nicht durch Krankheit und Tod verhindert worden ist. Von
seinen Aufgaben nach außen und im Innern spricht der Kaiser ebenso aufrichtig
als klar und eignet sich insbesondre die am 17. November 1881 erlassene
Botschaft seines Großvaters an; Bestrebungen aber, die auf Zerstörung der
staatlichen Ordnung ausgehen, will er mit Festigkeit entgegentreten. Das
Bündnis mit Österreich-Ungarn und Italien wird als Grundlage des europäischen
Gleichgewichts und Friedens hingestellt, die persönliche Freundschaft mit dem
Kaiser von Rußland sowie die seit hundert Jahren bestehenden friedlichen
Beziehungen zu diesem Reiche werden erwähnt. Wenn dann der Kaiser am
Schlüsse die Zuversicht ausspricht, daß es uns für absehbare Zeiten vergönnt
sein werde, in friedlicher Arbeit zu wahren und zu festigen, was unter der
Leitung seiner beiden in Gott ruhenden Vorgänger kämpfend erstritten worden,
so hatte er dem deutschen Volke aus der Seele gesprochen. Es war ein dankens¬
wertes, ernstes Wort, das hier vor den Vertretern der deutschen Nation und
vor ihren Fürsten erklang, die sich zum erstenmale vor ihrem Kaiser scharten
und ihm in Anerkennung des Hvhenzollernerbrechts vor dem gesamten Aus¬
lande huldigten. Nach der Rede begrüßte der Kaiser seinen Kanzler in einer
so herzlichen Weise, daß der ganze Reichstag in eine freudige Erregung geriet.
Die Rede wurde durch eine Adresse, die in allen Punkten dem Kaiser beistimmte
und die einstimmig und debattelos angenommen wurde, beantwortet. Hierauf
wurde die Session im Auftrage des Kaisers sofort geschloffen.
Am 27. Juni wurde der Landtag eröffnet und vernahm die Thronrede
des Königs, die oft von lautem Beifall begleitet wurde. Sie enthielt das Vcr-
fassungsgelöbnis und entwarf dann in kurzen, markigen Zügen ein Regiernngs-
programm, worin die Regierung Wilhelms I. von König Wilhelm II. als Vorbild
aufgestellt wird. Von Bedeutung war die ausdrückliche Erklärung, daß der
König weit davon entfernt sei, das Vertrauen des Volkes auf Stetigkeit der
gesetzlichen Zustände durch Bestrebungen nach Erweiterung der Kronrechte
beunruhigen zu wollen. „Der gesetzliche Bestand meiner Rechte genügt, um
dem Staatsleben das Maß monarchischer Einwirknng zu sicher«, welches Preußen
nach seiner geschichtlichen Entwicklung bedarf. Ich bin der Meinung, daß unsre
Verfassung eine gerechte und nützliche Verteilung der zur Mitwirkung berufenen
verschiedenen Gewalten im Staatsleben enthält." Weiter will der neue König
dem Vorbilde seiner Ahnherren darin folgen, daß er allen religiösen Bekenntnissen
in seinem Lande bei freier Ausübung des Glaubens seinen königlichen Schutz
angedeihen läßt. Die Beziehung des Staates zur katholischen Kirche betrachtet
er als für beide Teile in annehmbarer Weise gestaltet. Den kirchlichen Frieden
im Lande will er zu erhalten bemüht sein. Nachdem in kurzer und treffender
Weise noch über die innere Verwaltung und das Finanzwesen des Staates
gesprochen worden ist, sagt der König am Schlüsse, daß er das Vertrauen habe,
es werde auch in der künftigen Legislaturperiode die Wohlfahrt des Landes
in gemeinschaftlicher Arbeit gefördert werden. An seine ihm nach Gottes Fügung
gestellte Aufgabe tritt er mit der Zuversicht des Pflichtgefühls heran und hält
sich „das Wort des großen Friedrich gegenwärtig, daß in Preußen der König
des Staates erster Diener ist." Auch in dieser zweiten Rede fand die Pietät
des Sohnes gegen den Vater einen schönen Ausdruck, und wenn schon Kaiser
Friedrich darauf hingewiesen hatte, daß Preußens und Deutschlands Geschicke
durch die Thaten Wilhelms I. unauflöslich mit einander verbunden seien, sodaß
man den Kaiser von Deutschland und den König von Preußen nicht trennen
könne, so wurde derselbe Gedanke in dieser zweiten Rede König Wilhelms
kräftig hervorgehoben. Auch das preußische Abgeordnetenhaus beantwortete die
Thronrede mit einer Adresse, die einstimmige Genehmigung fand. Nach zwei¬
tägigem Zusammensein erfolgte der Schluß des Landtags.
Nicht sonderlich erbaut von den beiden Thonreden waren die Freisinnigen.
Wenn man Blättern wie der Volkszeitung glauben wollte, so wurde „nur der
alte Faden in einer neuen Nummer fortgesponnen," weil sich die Rede an den
Reichstag darüber deutlich genug ausdrücke, daß der Schutz der Schwachen sich
nur auf eine andere Art Armenpflege beschränke, dagegen dem Arbeiter die
Mittel der politisch sozialen Freiheit versagt blieben; dies sei der Fall,
wenn einerseits der bisherigen Auslegung der Botschaft von 1881, anderseits
der bisherigen Handhabung des Sozialistengesetzes zugestimmt werde. Die
Volkszeitung wird deshalb sehr besorgt; das immer auf Frieden bedachte
Blatt sieht Erschütterungen für unser Vaterland kommen, „wie sie noch kein
Staat in der geschichtlich bekannten Vergangenheit jemals zu bestehen gehabt
hat." Es gebe nur „einen Weg zur Sicherstellung unsrer nationalen Zukunft,
nämlich den, daß das Volk zu seinen Vertretern in die gesetzgebenden Körper¬
schaften Politiker wähle, welche mit der Sozialpolitik des letzten Jahrzehnts
rücksichtslos zu brechen gewillt sind." Da haben wir denn das heilende Kräut¬
lein der ^Freisinnigen. Hoffentlich wird die bisherige Mehrheit der Mittel¬
parteien dadurch bestimmt, von gewissen Absichten zu lassen, die vielfach auf¬
getaucht sind. Konservative wie Nationalliberale haben sich dahin vernehmen
lassen, das Kartell in der Weise, daß es in jedem Wahlkreise verpflichtende
Wirkung habe, für die bevorstehenden preußischen Landtagswahlen zu lösen.
Wir halten das entschieden für unheilvoll. Ohne Frage liegt diesen Absichten
von feiten der Nationalliberalen die Befürchtung zu Gr«nde, daß möglicher¬
weise die konservative Partei zu einer Selbständigkeit komme, die ihr allein
durch Unterstützung der Nationalliberalen die Mehrheit verschaffe und damit
zugleich erlaube, von jeder Rücksicht auf die Nationalliberalen abzusehen. Leugnen
ließ sich außerdem nicht, daß die Klerikalkonservativen nach den liberalen Sitzen
in Hannover schielten und sogar mit den Welsen Fühlung suchten; dagegen
nahmen die Nationalliberalen aber die Miene an, als wollten sie in den öst¬
lichen Provinzen für sich Eroberungen machen. Alle solche Streifereien, die
das Aufgeben des Kartells zur Folge haben, sind gefährlich; es hat weiter
niemand Nutzen davon, als die Deutschfreisinnigen, die von dem Streite der
Mittelparteien Stärkung erfahren würden. Auch für den kommenden Landtag
mit seiner fünfjährigen Dauer ist noch immer eine gegen den Fortschritt ge¬
richtete Kartellpartei das beste. Hoffentlich trägt die Ernennung Bennigsens
zum Oberpräsidenten von Hannover zur Erhaltung der Kartcllmehrheit bei;
sie beweist den Hochkirchlichen, daß sie die Sehne nicht zu straff spannen
dürfen, umso mehr, als sie aus der eigensten Initiative des Kaisers hervor¬
gegangen ist. Demselben Zwecke der Dauer der bisherigen Mehrheit muß
auch die Ernennung des gemäßigten Bestrebungen zugethaner Ministers Her-
furth dienen.
Am 14. Juli trat der Kaiser seine Nordlandsfahrt an; er traf früh
neun Uhr in Kiel ein und begab sich sofort an Bord des „Hohenzollern."
Um elf Uhr stach die Kaiserjacht an der Spitze einer stolzen Armada in See.
Die stattliche Flotte bestand aus elf der schönsten Schiffe unsrer Marine, die
mit 102 schweren Geschützen und 3398 Köpfen bemannt waren. Auf dieser
Fahrt durchschnitt der Kaiser die Ostsee ihrer ganzen Breite nach, indem er
damit gewissermaßen von unserm Meere Besitz nahm. Vor allen andern deutschen
Kaisern, ja auch vor allen andern Hohenzollernfürsten liebt es dieser Kaiser,
Seeluft zu atmen; er weiß auch, was die See für die Entwicklung eines Volkes
zu Macht und Reichtum ist. Schon seine persönlichen Beziehungen, die er als
Prinz zur Flotte hatte, zeigten, daß er einst auch dieses Erbe des großen
Wilhelm, mit dem erst eine Kolonialpolitik möglich wurde, mit leidenschaftlicher
Liebe antreten würde. Und als Kaiser zeigte er seine Liebe zum Seewesen so¬
fort durch sein Wort an die Marine, wie dnrch die Berufung eines Fachmanns
an ihre Spitze. Wie nun jetzt der junge Kaiser in der Uniform eines Kontre-
admirals sein stolzes Geschwader durch die Fluten der Ostsee führte, da mußten
wir Treitschke Recht geben, wenn er in dem schönen Denkmal, das er den
beiden toten Kaisern gesetzt hat, sagt, daß die Nation mit hoffenden Vertrauen
ihre Augen auf ihren jungen kaiserlichen Herrn wende. „Alles, was er bisher
zu seinem Volke sprach, atmete Kraft und Mut, Frömmigkeit und Gerechtig¬
keit. Wir wissen jetzt, daß der gute Geist der Wilhelminischen Zeiten dem Reiche
unverloren bleibt." Schon setzte sich das Wort des jungen Monarchen in
Thaten um. Mit hoher Freude sah das ganze deutsche Volk seinen Kaiser dem
Zaren seinen Gruß bringen; es hoffte, daß es ein Friedensgruß sein werde.
Hüben und drüben, in Deutschland und in Nußland, gab es freilich Leute
genug, denen diese Aussicht nicht erfreulich war. Freisinn und Panslawismus
versuchten alles mögliche, die Tragweite dieser Kaiserbegegnung abzuschwächen,
den Frieden als im Grunde aussichtslos hinzustellen. Aber auch hier, als der
junge Kaiser sein Freundeswort dem Zaren rief, sprach er aus der Seele seines
Volkes.
Und das ist derselbe Kaiser, von dem die „Historisch-Politischen Blätter"
in einem Aufsatze vom 24. Juni, aus dessen Sätzen überall der Fuchsschwanz
von Tücke und Heuchelei herausguckt, zu berichten wußten, daß „der stumme
Kaiser vor drei Monaten in seinen Manifesten eingehender und deutlicher ge¬
sprochen, als jetzt der redende," und als Ergebnis von der ganzen politischen
Veränderung das herausfand, daß „einfach der preußische Konstitutionalismus mit
der Eigenart eines inamoviblen Herrliches Wort!) Ministers wiederhergestellt" sei.
„Ein Kaiser und König herrscht, der Kanzler regiert; hier der Körper, dort der
Schatten. Hat sich der siegreiche Kaiser Wilhelm I. in weit vorgerückteren
Jahren aus freien Stücken und wohlgemut in das Verhältnis gefügt, warum
sollte sich der blutjunge Kaiser Wilhelm II. nicht auch in diesem Punkte nach
dem Vorbilde des Großvaters, nicht bloß aus politischer Berechnung, sondern
sogar aus Herzensbedürfnis, gerichtet haben? Die schweren Stunden, aber
auch klare Stellungen werden erst kommen und kommen müssen, wenn weitere
zwei greise Augen sich schließen." So der Jesuit in den gelben Blättern. Es
hilft euch alles nichts, ihr Herren mit dem Fuchsschwänze! Auch wenn die
zwei Augen sich schließen, werden sie noch fortleuchten, lange, lange, wie des
großen Friedrich Augen fortleuchteten bis zu König Wilhelm und bis zu Otto
von Bismarck. Solche Augen erlöschen nicht; auch machen sie die Stellungen klar
für Jahrhunderte, sodaß nicht erst klare Stellungen „kommen und kommen
müssen" bei ihrem Abscheiden, das die Herren so schmerzlich ersehnen, als
wären sie Patrioten Dvroulödes. Die Römlinge auf deutschem Boden sollen
sich wohl gerade so täuschen über die Stellungen, die „kommen müssen", wie
sie sich getäuscht haben in den Hoffnungen, die sich „überall im In- und Aus¬
lande regten," als Kaiser Wilhelm starb. „Wer immer — so schrieb das Je¬
suitenblatt — von der erdrückenden Stickluft unsrer Tage den Atem beschwert
fühlte, hat den Blick unverwandt auf Kaiser Friedrich gerichtet. Es waren
unbestimmte und unklare Hoffnungen; aber tröstliche Hoffnungen waren es,
und sie sind mit dem hohen Dulder dahingeschieden." Man sieht, was für
Genossen an diesen Römlingen die Freisinnigen hatten. Ganz wie die fort¬
schrittlichen Blätter, sahen auch diese ultramontanen in dem Kaiser Friedrich
den, „der trauernd über sich ergehen lassen mußte, was er nicht verhindern
konnte." Aber „nicht alles, was geschehen ist, ist unveränderlich und nicht
mehr gut zu machen." Ja ja, was soll doch alles gut gemacht werden, wenn
sich „weitere zwei greise Augen schließen!" Da soll wahrscheinlich angefangen
werden mit dem, worauf die Recht und Wahrheit liebenden gelben Blätter
hinweisen, wenn sie sagen, daß „der stumme Kaiser gerade an dem Tage zu
Grabe getragen wurde, an welchem vor zweiundzwanzig Jahren sein Vater,
König Wilhelm, den Aufruf an das preußische Volk erlassen hat, der den
Bruch des funfzigjährigen völkerrechtlichen Bundesvertrages und den deutschen
Bruderkrieg ankündigte." Vor einem neuen Bruderkriege, wenn er nur den alten
Bundestag wieder herstellte, würden diese deutschen Römlinge gar keine Scheu
haben. Wir aber wollen uns den lustigen Vers merken, der am Tage des
Einmarsches der Preußen in Frankfurt von einem Schauspieler auf einer Ber¬
liner Bühne improvisirt wurde:
Es zog zu Frankfurt an dem Main
Das tapfre Heer der Preußen ein;
Was that der edle deutsche Bund?
Er drückte sich und er verschonnt.
Während der Nordlandsfahrt des Kaisers machte der Prinzregent von
Baiern dem Könige von Württemberg einen Besuch in Friedrichshafen. Das
war für die Ultramontanen, die so sauer zur Begrüßung des Kaisers durch
sämtliche Reichsfürsten gesehen hatten, eine gefundene Sache. Die beiden
deutschen Fürsten sollten flugs eine Gegendemonstration gegen das Berliner
Ereignis machen. Als ob es nicht nahe genug gelegen hätte, daß der bairische
Fürst den durch lange Krankheit von seinem Lande entfernt gehaltenen Nachbar
seinen Gruß entbot, zumal da ein früherer Besuch des württembergischen Königs¬
paares in München von König Ludwig II. unerwiedert geblieben war. Was
somit nur das Abtragen einer alten Schuld war, das wird für die Römlinge
ein Versuch, die süddeutschen Staaten aufs neue gegen Preußen zu vereinen
und die Triasidee aufleben zu lassen. Aber so gottverlassen, auf diese Hetze
hin zu laufen, ist kein deutscher Fürst mehr. Auch das ist ein Segen, den Kaiser
Wilhelm durch Errichtung des Reiches uns hinterlassen hat. Die Fürsten
Deutschlands wissen am besten, daß ihre Stellung noch nie so gesichert war
als im neuen Reich; sie wissen auch, daß ein Sonderbund darin niemandem
mehr schaden würde als ihnen selbst. Aber man sieht doch aus solcher er¬
bärmlichen Hetzerei, was den Ultramontanen das liebste wäre.
Am 24. Juli lichtete der „Hohenzollern" wieder die Anker auf der Rhede
von Kronstäbe. Kaiser Wilhelm stand auf der Kommandobrücke und winkte
der abdämpfenden „Alexandra," an deren Bord die russischen Herrschaften waren,
den Abschiedsgruß zu. Die ganze russische Flotte und sämtliche Forts gaben
Salutschüsse, und vom Ufer her erscholl tausendfaches Hoch. Von der russischen
Flotte her ertönte die preußische Nationalhymne, und während jene, so lange
Kaiser Wilhelms Armada in Sicht war, in Paradestellung lag, gaben eine
Menge Privatdampfer dem „Hohenzollern" das Geleite. Die Beweise von
Sympathie, die Kaiser Wilhelm dem russischen Kaiserpaare zu geben beabsichtigte,
indem er dem russischen Hofe zuerst den Besuch machte, waren in so herzlicher
Weise erwiedert worden, daß man annehmen muß, daß die vertrauensvollsten
Beziehungen zwischen beiden Höfen hergestellt sind. Ein Zeichen und ein Er¬
folg dieser freundschaftlichen Beziehungen ist wohl auch die Verlobung der Prin¬
zessin Sophie mit dem griechischen Thronfolger, die ohne die Reise des Kaisers
schwerlich zu stände gekommen wäre. Sie kann nur dazu dienen, das Band
der Freundschaft zwischen dem deutschen, dem russischen und dem dänischen Hofe
enger zu knüpfen. Und diese Freundschaft der Herrscher wird ihren Reichen
zu statten kommen. Nach allem, was wir bis jetzt erfahren und trotz der
hämischen Bemühungen etlicher deutschfeindlichen Zeitungen in Rußland, die
Freundschaft zu stören, wird doch das Journal as Le. l?stsrLl)0ur^ Recht be¬
halten, wenn es nach diesem Besuche des deutschen Kaisers das Vertrauen auf den
europäischen Frieden befestigt sah. und zwar auf einen Frieden für lange Jahre.
Dann aber hat Kaiser Wilhelm sein Ziel erreicht. Ihm kam es schlechterdings
nur auf die Gewinnung gegenseitigen persönlichen Vertrauens an, damit für
alle Zukunft Einflüsterungen und Fälschungen, wie sie 1887 stattgefunden hatten,
unmöglich wären. Und dies Ergebnis liegt vor. Unsers Kaisers „einfache
Würde, sagte die Nationalzeitung, seine jugendliche, dennoch gehaltene Heiterkeit,
sein lebhaftes Interesse, die Freundlichkeit und Lebhaftigkeit seines Wesens haben
den Hof in Petersburg und dessen Publikum für Kaiser Wilhelm gewonnen,
und es zeigt sich, daß der junge Herrscher gar keinen bessern Hintergrund für
seine Erscheinung haben konnte, als ihm die Gehässigkeit jener Berichte bereitet
hatte." Die Nationalzeitung meint die Berichte jener schändlichen Preßver-
schwörung, in denen lange Monate vor seiner Thronbesteigung der künftige
Herrscher dem Auslande in verzerrtem Bilde dargestellt wurde, um ihn der Ab¬
neigung und dem Mißtraue» Europas zu empfehlen. Wenn Hinzpeters
Schilderung von der Entwicklung des jungen Kaisers ein andres Bild „treu
nach der Natur" aufzustellen versucht hatte, ein Unternehmen, das gut gemeint,
auch den Verhältnissen entsprechend, nur leider einigermaßen geschmacklos aus¬
gefallen war, so verwischte die Erscheinung des jungen Kaisers mit einem male
und für immer die häßlichen Züge, die seine Feinde sogar in Damenadressen
seinem Bilde aufgetragen hatten. Und das ist bis jetzt überall, wo sich der
Kaiser hat sehen lassen, so gewesen, wie da in Rußland vor einem keineswegs
günstig voreingenommenen Publikum. Mochte nun auch die ^AsnW Hs.of.8
sich aus Petersburg melden lassen, daß eine Regelung der schwebenden Fragen
nicht herbeigeführt worden sei. so war eine solche Vereinbarung, die diplomatische
Abmachungen zur Folge hätte haben müssen, gar nicht beabsichtigt gewesen.
Es war alles gewonnen, wenn das Vertrauen gewonnen war. Wo das ist,
da werden diplomatische Einzelfragen bei einigem Geschick immer von Kabinet
zu Kabinet zu lösen sein; und das ist hier, wo von Rußland die Rede ist, bei
der bulgarischen, überhaupt bei der Balkanfrage der Fall. Dies Vertrauen
aber wird auch die ^siuZö Savas und werden alle böswilligen französischen
Blätter nicht mehr zerstören. Im Gegenteil, je mehr dort gehetzt wird, desto
mehr wird Frankreich als der eigentliche Störenfried der europäischen Verhält¬
nisse dastehen, was ihm in der Massauafrage deutlich genug gesagt worden ist.
Es war nur die Angst, daß ihm das Handwerk gründlich gelegt werden könnte,
die ans dem französischen Geschwätz sprach, daß Herbert Bismarck nach Paris
kommen und die Entwaffnung Frankreichs binnen zehn Tagen fordern werde.
Diese Forderung könnte wohl noch einmal kommen, aber nicht vor, sondern nach
einem Kriege, den wir erst aufnehmen werden, wenn es sein muß. Hoffentlich
können wir die „große Nation" mit ihrem Hexenkessel Paris noch recht lange
sich selber und ihrem Schicksal überlassen.
in weiterer Übelstand, der die ungehinderte Entfaltung der Ar¬
beitskraft des Landwirtes sehr erschwert und der dringend eine
vorurteilsfreie Erwägung erheischt, ist die dein Grundbesitzer
auferlegte ländliche Polizciverwaltung. Wer weiß, welche stetig
angespannte Hingebung, welche Aufopferung der mühevolle Be¬
trieb der Landwirtschaft vom Dirigenten und allen seinen Beamten fordert,
der kann sich nicht darein finden, daß die ehrenamtliche Verwaltung einer allge¬
meinen Staatsangelegenheit noch so viele Freunde und Verteidiger, selbst in den
Kreisen der Großgrundbesitzer, findet. Zum allergrößten Teile haben diese sie
freilich bereits in die Hände ihrer Stellvertreter und Beamten übergehen lassen.
Aber dennoch bleibt die große Belastung für sie bestehen und wird dadurch nicht
vermindert.
Die Zeitverhältnisse verlangen genaue Zusammenraffung aller Kräfte; unser
Gewerbe verträgt am allerwenigsten eine Zersplitterung derselben. Die Anfor¬
derung, die eine ordnungsmäßige Führung der ländlichen Polizei bei dem wach¬
senden Verkehre und der Überbürdung mit schriftlichen Arbeiten an Zeit, Ar¬
beitskraft und Studium mit sich bringt, taugt nicht für den mit ausreichenden
Sorgen in der eignen Wirtschaft schwer bedachten Landwirt. Die Polizei¬
verwaltung allein erfordert schon eine ununterbrochene Hingebung und eine dafür
ausgebildete ganz tüchtige Kraft. In der Erkenntnis seiner schwierigen Lage
und der Verantwortung, die das Ehrenamt mit sich bringt, sollte der Landwirt
dahin streben, diese Bürde loszuwerden, und zwar umsomehr, als sie sür den
größern Grundbesitzer eine ihm wohl nicht zukommende untergeordnete Stellung
herbeiführt. Eine Beteiligung und damit die gewünschte freie gemeinnützige
Thätigkeit in allgemeinen Angelegenheiten findet er, und zwar weit angemessener,
in der Kreis- und Provinzialverwaltung, und darin, wie in dem eignen Amts¬
ausschusse, ist sein Einfluß auf die ländliche Polizeiverwaltung ausreichend ge¬
wahrt. Er sollte die besondre Führung derselben anstandslos dem Staate über¬
lassen, und dieser wiederum müßte sie im allgemeinsten Interesse auf sich nehmen,
wo seine führende Hand in Friedens-, noch mehr aber in Kriegszeiten so wichtig
ist, er auch aus seinem Militärstande heraus tüchtige Kräfte hat, diese Stellen
ähnlich denen der posenschen Distriktskommissarien würdig zu besetzen. In einem
Kriegsfalle dürften die Unzuträglichkeiten unsrer heutigen ländlichen Polizei¬
verwaltung sehr verderblich werden können.
Der im Verlaufe der Zeiten mehr hervortretende Wechsel im Grundeigen¬
tum« kann von verschiednen Standpunkte ans sowohl für einen glücklichen Um¬
stand als auch für ein recht bitteres Leidwesen angesehen werden. Nach meiner
Ansicht giebt er ebenfalls eine Ursache zu der heutigen Notlage. Ich möchte
ihn mit seinen Ergebnissen denjenigen Ergebnissen gleichstellen, welche, freilich
in anderm Maßstabe, die gewaltsame Revolution gegenüber der friedlichen Re¬
form herbeiführt. Der letztern wohlthätige Folgen kommen beim befestigten
Familienbesitze und in dessen geordnetem Erbgange zu nutzbaren Austrag, wäh¬
rend der wirkliche Wechsel im Besitz und ganz vorzugsweise in der Pachtung
all das Böse im Gefolge hat, was ein plötzlicher Umsturz des Bestehenden mit
sich bringt.
An sich ist dem ländlichen Besitzwechsel eine gewisse wohlthätige Einwirkung
auf die Kultur, durch die Gewinnung einer neuen Kraft mit vielleicht mehr zu¬
sagenden Mitteln, nicht ganz abzusprechen. Da nun aber der Landbau seinen
Segen nicht in bloß vorübergehenden Erfolgen finden, sondern ihn nachhaltig
wirkend sich erringen soll, derart, daß die gesamte staatliche Gesellschaft sich auf
ihn stützen kann, so muß man wohl eine allgemeine Schädigung durch den gar
zu häufigen Besitzwechsel anerkennen. In der Landwirtschaft gehören viele
Jahre, ich möchte sagen Jahrzehnte dazu, um nennenswerte Erfolge herbei¬
zuführen. Es ist keine Möglichkeit, solche bei derartigem Wechsel zu erreichen;
noch weniger aber in den so überaus kurz bemessenen Pachtperioden. Man
denke nur an die Viehzucht. Wie viele Generationen müssen aufgezogen
werden, um nur erst zu einer gewissen Stetigkeit in der erstrebten Zucht zu
kommen! Aber auch beim Grund und Boden gehen Jahre vorüber, ehe der
neue Besitzer oder Pächter dazu gelangt, sich ein sicheres Urteil über die beste
Nutzbarmachung seines Landes für die verschiednen Feldfrüchte bei den so
mannichfachen klimatischen Verhältnissen zu beschaffen. Gewöhnlich ist deshalb
bei den Pachtungen, mit der mühselig zu einer gewissen Blüte gebrachten Kultur,
die Zeit herangekommen, wo der Wechsel wieder eintritt und der alte Pächter,
oft selbst bei gutem Willen und nach bestem Vornehmen, aus seiner mühsam
aufgebauten Unternehmung herausgedrängt wird. An dem verschiedensten Ein¬
flüsse von Thorheit, Unverstand und Besserwissenwollen, selbst von Mißgunst
und Habsucht, fehlt es dabei nicht. Dann bricht vieles Gute rettungslos zu¬
sammen, namentlich aber, was gerade den Volksfreund so schmerzlich berührt,
alles das, was man sich in seinem Gesinde, seinen Arbeitern und seinem per¬
sönlichen Hilfspersonal unter mancherlei Selbstverleugnung herangezogen hat.
Das geht wie das gewöhnliche Gutsinventar wieder hinaus ins Weite, sinkt
auf tiefere Stufen hinab und verkommt vielfach.
Es ist unfaßbar, daß die nicht hoch genug zu schätzende monarchische
Staatsidee sich nicht thatkräftig gegen den Wechsel im Gutsbesitz, namentlich
gegen das immer mehr um sich greifende Verpachtmigssystem wendet. Wo der
Grund und Boden, seine Bewirtschaftung und seine Bevölkerung des ganzen
Staates sicherste Grundlage ausmacht, sollte man meinen, daß für deren Ver¬
fassung die eingehendste und allgemeinste Berücksichtigung obwalten müßte. Es
ist doch keine Kleinigkeit, wenn der Teil der staatlichen Bevölkerung, den das
konservative Element sein eigen nennen sollte, in einem steten Wechsel hin- und
hergeschleudert wird, wie das die notgedrungene Folge eines Verpachtungs¬
systems auf kurze Zeitfristen und zum alleinigen Zwecke des höchsten Gelder¬
trages ist. Der Staat, der einen so hohen Wert auf die Schaffung eines
seßhaften Bauernstandes legt, müßte so viel als möglich dagegen eintreten,
umso mehr, als selbst auch der wirkliche Gutsertrag hierbei geschmälert wird.
Bei den kurzen achtzehnjährigen Pachtfristen kommt der vierte Teil dieser
Jahre nicht zu seiner vollen Ausnutzung. Der abgehende oder nur in seinem
Verbleiben schon unsichere alte Pächter wird in den letzten zwei Jahren seiner
Pachtzeit nicht mehr so thatkräftig wirtschaften wie in dem frühern Zeitraume;
er wird z. B. schon trachten, sein angelegtes Düngerkapital möglichst heraus¬
zuziehen; daher denn auch die neue Pachtperiode mit einem auf mindestens
die gleiche Zeit stark verminderten Ertrage anfängt. Pächter und VerPächter,
schließlich aber auch das gesamte Volk, haben infolge dieser Verkümmerung
von möglichen Ernteergebnissen sichern Nachteil.
Dieses Mißverhältnis war denn auch der Grund, daß bis in die neuere
Zeit herein die Pachtungen in ihrer Rente niedriger standen als der feste Besitz.
Jetzt dagegen, wo der Eigentümer den Vorteil eines erheblich niedrigeren Zinses
seiner Hypvthekenschuld genießt, den er gegen früher auf reichlich ein Prozent
anschlagen kann, steht der Pächter sehr viel ungünstiger mit seiner alten, den
Zeit- und Geldverhältnissen nicht entsprechend umgeänderten Pachtquvte. Was
das bedeutet, wolle man daraus entnehmen, daß die allgemeinen Produktions¬
kosten beim Landbau wohl überall um 30 Prozent und mehr gestiegen sind,
die Unterhaltungskosten des Gesindes um 76, ja 100 Prozent, die Arbeits¬
löhne um 25 bis 40 Prozent, wogegen die Produkteupreise um 30 bis 40
Prozent gefallen sind.
Unser landwirtschaftliches Gewerbe beweist seine Tüchtigkeit, wenn es der¬
artige traurige Verhältnisse immer noch zu überwinden versteht. Aber das
Angebot von so vielen und namentlich kleinenPachtungen wird ein Stand ge¬
schaffen, der nicht ausreichend genug mit Kraft und Mitteln ausgestattet ist,
um dem allseitigen Andrange der bösen Verhältnisse widerstehen zu können.
Der so achtungswerte, aber heut gerade tief unglückliche Stand der kleinern
Pächter würde weit besser thun, seine Dienste, wenn auch in untergeordneter
Stellung, dem Großgrundbesitzer zu widmen, und dabei sein beschränktes Ver¬
mögen bescheiden, aber doch sicher zu nützen. Es würden damit unsrer Land¬
wirtschaft sehr tüchtige Kräfte zur Beihilfe gewonnen und so manche Klage auf
ihr angemessenes Maß zurückgeführt werden.
Die richtige, für Staat und Gesellschaft einzig wertgebende Art des Land¬
baues ist nur diejenige, worin er vom tüchtig vorgebildeten Besitzer ausgeübt
wird. Deshalb sollte auch der Staat seine Domänen in auskömmlicher
Größe in freies Eigentum übergehen lassen; aber nicht in unvermitteltem
Übergange durch Verkauf auf dem Wege des Meistgebots, sondern ganz all¬
mählich auf dem Wege des bisherigen Verwaltnngsverfahrens durch langjährige,
weit über das einzelne Menschenalter hinausgehende Verpachtung, unter Zu¬
schlag einer kleinen Amortisationsquote.
Wer wie ich lange Zeit Pächter königlicher Staatsdomänen gewesen ist
und in einem funfzigjährigen Zeitraume alle die gewaltigen Wechsel durchgemacht
hat, die der landwirtschaftliche Betrieb umschließt, der hat sich Wohl ein Urteil
über sein Fach bilden können. Darnach darf ich auch wohl behaupten, daß die
preußische Domänenverwaltung wie vielleicht keine andre Verwaltung oder Ge¬
sellschaft geneigt ist, die Interessen des Landbaues wahrzunehmen,, so weit es
das Pachtsystcm zuläßt. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß das Pacht¬
system überhaupt wenig geeignet erscheint, wie die allgemeinen staatlichen Inter¬
essen so auch die des landwirtschaftlichen Gewerbes zum vollen Ausdruck zu
bringen. Es ist das nur möglich bei eiuer gewissen Ausgleichung der Vor¬
züge dieses Systems unter der strengen, mitunter wohl auch harten, aber doch
anerkannt gerechten Verwaltung mit denjenigen Vorteilen, die der befestigte,
wirklich dauernde Besitz herbeiführt. Zu diesem Zwecke mußte die Domänen-
Verwaltung damit vorgehen, ihre Güter derartig in ein festes Eigentum
abzugeben, daß sie dieselben unter einer geringen Amortisationsquote, etwa
mit ^ Prozent vom fünfundzwanzigfachen Kapitalbetrage der Pachtratc, da¬
hin überleitet. Es wäre dabei nicht nötig, daß die einzelnen Domänen bis
zur gänzlichen Abwicklung der Amortisation in der Hand der Domänenver¬
waltung verblieben, sondern nur bis zum Ablauf des sechsundfünfzigsten Jahres,
womit die Hälfte des Kapitalwertes amortisirt wäre. Darnach könnten die Güter
unter Beihilfe der bestehenden Pfandbriefinstitute in den uneingeschränkt freien
Besitz übertreten.
Nehmen wir eine Pacht- oder Rcntendauer von 60 Jahren statt der rech¬
nungsmäßig erforderlichen S6 Jahre, weil doch immer größere Meliorations-
kapitalieu für jede Domäne zur Verwendung gelangt sein werden, deren Ver¬
zinsung zwar alljährlich abgetragen wird, deren Kapitalsabstoßuug aber doch
immer erst beim Aufhören der größern Zinsen- und Zinseszinsenlast erfolgen
kann, so würde schon mit diesen 60 Jahren ein fester, mit aller Vorliebe für
Gewerbe und Scholle ausgestatteter Großgruudbesitzerstand geschaffen sein. Würde
ferner die Domänenverwaltung für den Betrag der Amortisationsraten und
deren Zinsen und Zinseszinsen, vielleicht auch in dem Falle eines anerkannt
größern Bedürfnisses unter Zuhilfenahme anderweitiger Geldmittel, Landgüter
in größerer Zahl zu dem gleichen Zweck der alsbaldigen Verpachtung auf Eigen-
tumserwcrb ankaufen, so hätte sie es in der Hand, sogleich einen befestigten
Großgrundbesitzerstand zu schaffen oder dessen Schaffung anzubahnen, der für
so manche Notlage Abhilfe brächte. Auch der derzeitige Stand der Gutsbesitzer
würde durch die Konkurrenz im Güterverkauf und die entsprechenden Güter¬
preise auf einen angemessenen Stand nur gewinnen können.
Man darf überzeugt sein, daß bei der jetzt schon bestehenden Schärfe der
kontraktlichen Pachtbestimmuugen und der strengen Aufsicht, welche die preußische
Domänenverwaltung durch die alljährlichen Revisionen der Güter ausübt,
sie keine Gefahr für die Kapitalsanlage läuft. Das einer jeden Domäne
zukommende Inventar an Bestellungsarbeit und Saatfrucht, sowie das an¬
gemessen festgesetzte lebende wie tote Inventar hat der Pächter aus seinen
Mitteln zu decken. Die Belastungen, wie schon angeführt, selbst die Brand¬
schäden sind auf den Pächter abgewälzt. Dieser steht demnach schon jetzt
fast nicht anders, wenigstens in allen Lasten, Leistungen und Beschränkungen
da, wie der Eigentümer. Er entbehrt nur viele von den Vorteilen, die der
Eigentümer genießt.
Wenn die Domänenverwaltungen einige nicht sehr ins Gewicht fallende
Abänderungen ihres bisherigen Verfahrens vornimmt, darf sie den fünfund¬
zwanzigfachen Betrag der erzielten Jahrespacht unter Zurechnung der aus
Mitteln des Pächters beschafften Jnventarienwertc als denjenigen Kapitalswert
ihrer Güter annehmen, der für den Augenblick Geltung hat und auch fernerhin
Geltung behält, und wenn dazu der Staat seiner Pflicht für eine allgemein
auskömmliche Ertragsfähigkeit des landwirtschaftlichen Gewerbes gesetzgeberisch
Sorge zu tragen entspricht. Es ist das wichtig, weil die Überzeugung davon
den Anlaß geben darf zu einem größern Domänenbesitz und zu weitern Ankäufen
überzugehen.
Die Verpachtung unsrer preußischen Domänen in neuester Zeit hat er¬
wiesen, daß diese trotz der hohen Schutzzölle reichlich 10 Prozent weniger ein¬
tragen als vor 18 Jahren. Sie hätten aber bei dem gewöhnlichsten Kultur¬
fortschritt mehr einbringen müssen. Der Rückgang beruht auf der Ermäßigung
der Rente, die das Kapital abwirft, und die sich in den allgemeinen Zins-
rückgängen ausspricht. Durch sie hat der Gutsbesitzerstand eine sehr erhebliche
Aushilfe und einen gewissen Ausgleich mit den anderweitigen wirtschaftlichen
Verhältnissen gefunden. Nach billigem Ermessen hätte sie auch der Pächterstand
erhalten müssen, weil ja der Besitzer an seinen Hypothekenzinsen so viel erspart
und selbst der Staat seineu Gläubigern gegenüber in die Konvertirungen eintritt.
Viele Privatpersonen haben sie auch gewährt.
Dieser der Ermäßigung im Zinsfuße entsprechende Niedergang der Güter¬
pachten zeigt, wie notwendig der Landwirtschaft der ihr durch die Getreide¬
zölle zu teil gewordene Schutz gewesen ist, und welch eine ungeheure Kalamität
hereingebrochen wäre, wenn diese Zölle nicht eingeführt worden wären. Es
wird damit aber auch ferner erwiesen, wie allein schon auf Grund des Pacht¬
erträgnisses von dem doch nur sehr mäßigen Domänenbesitz und ohne auf
andre, immerhin leicht zu färbende Berichte sich stützen zu müssen, das Land-
wirtschaftsministcrium, das Staats- und das Neichsministerium die Lage unsrer
Landwirtschaft beurteilen können. Diese Einsicht wird noch klarer werden, wenn
erst erheblich mehr Landgüter, und zwar in den allerverschiedensten Gegenden
und Verhältnissen, durch die Hände der Domänenverwaltung gehen werden.
Daher erscheint es denn auch erwünscht, daß das landwirtschaftliche Ministerium
und nicht etwa eine größere Gesellschaft oder Genossenschafr. mit dem Ankauf
von preiswürdig zu erwerbenden Gütern und deren, wie der bisherigen Staats¬
domäne», Überführung in befestigten Familienbesitz betraut werde. Das Ministe¬
rium ist auf eine sachkundige Verwaltung schon eingerichtet und hat die aus¬
reichenden Kräfte dafür. Es bedarf nur weniger Maßnahmen, um ohne jeg¬
liche Gefährdung der allgemeinen Staatsinteressen die Leitung auch in weitester
Ausdehnung zu allseitiger Anerkennung zu übernehmen.
Zu diesen veränderten Maßnahmen der zur Zeit geltenden Verwaltungs¬
grundsätze rechne ich: 1. Strenge Forderung nicht bloß einer ausreichenden
Intelligenz, sondern ganz besonders auch genügende Kapitalkraft bei der Zu¬
lassung zum Angebot für den neuen Nentenerwcrb der Staatsgüter. Ich möchte
in dieser Beziehung darauf Wert legen, daß der Vermögensnachweis schärfer
als bisher, namentlich in eigner schriftlicher, auch eidlich beglaubigter Kund-
gcbnng erfolge. 2. Hinterlegung einer Kaution, die der Hälfte einer Jahres¬
pacht oder -Rente entspricht. 3. Hinterlegung einer Lebensversicherung, die
einer vollen Jahrespacht gleichkommt, und über deren pünktliche Prämienzahlung
Ausweis zu erfordern ist. 4. Zahlung der Gutsrente, beziehentlich der Pacht,
und des Amortisationsbeitrages in halbjährigen Raten. Bei der Festhaltung
von derartig sichernden Bedingungen glaube ich nicht, daß die Verwaltung, ab¬
gesehen von Kriegszeiten und verheerenden Naturereignissen, in die Lage kommen
dürfte, in der Beitreibung von Renten gefährdet zu werden.
Dagegen möchte ich nun auch im Interesse der ErWerber Vorschlagern
1. Daß ein zur Hälfte vom Ministerium, zur andern Hälfte von den Domänen-
Pächtern erwählter Ausschuß derselben alljährlich zur Beratung wichtiger
Fragen berufen wird. 2. Daß von den auf die Dauer vou sechzig Jahren ab¬
zuschließenden Kontrakten der Pächter nach den ersten zwanzig Jahren unter
vorhergehender zweijähriger Aufkündigung zurücktreten kann, wobei er dann nur
den Anspruch auf die Verzinsung seines eingezahlten Amortisationskapitals ver¬
liert, dieses selbst aber zurückerhält. 3. Daß der Pächter ebenso unbehindert
nach vierzig Jahren vom Kontrakte zurücktreten darf, wogegen ihm dann die
Rückerstattung der eingezahlten Amortisationsbeiträge, einschließlich der einfachen
Zinsen, also ohne eine Zinseszinsvergütung, zustehen soll. Endlich 4., daß die
Familie eines verstorbenen Pächters nicht verpflichtet ist, den Kontrakt über
die Zeitdauer von zwei Jahren nach erfolgtem Todesfall fortzusetzen. Sie
tritt dann in die angeführten Wohlthaten der frühern Auflösung des Kontraktes
ein, wenn auch die bezüglichen zwanzig oder vierzig Jahre nicht ganz ver¬
strichen sind.
Diese Maßnahmen entspringen der gerechtfertigten Rücksicht ans Familien-
Verhältnisse, die zu überblicken und ganz zu würdigen der Pächter beim Abschluß
des Kontraktes nicht in der Lage ist. Dagegen müßte aber auch anderseits
jede Zession bedingungslos verboten sein.
Erwünscht dürfte es endlich noch sein, daß dem Pächter das Recht ge¬
währt würde, bei den alljährlichen Gnterrevisionen einen Sachverständigen ans
dem Kreise des Ausschusses mit zuzuziehen, der in Gemeinschaft mit dem
Regierungs- oder Ministerialkommissar über wünschenswerte Einrichtungen zu
befinden und beim Mangel einer Verständigung einen entscheidenden Obmann
zu wählen hätte.
Die Überführung der Domäne in das Eigentum macht es durchaus not¬
wendig, dem Pächter eine größere Freiheit zu gewähren, als sie der gewöhnliche
Pachtkontrakt geben konnte. Es muß daran gelegen sein, die Vorzüge des alten
Systems, die Unterwerfung unter eine gewissermaßen strenge, aber immerhin doch
nnr zu billigende Kontrole und die Entscheidung der Verwaltung über erforder¬
liche Meliorationen, Bauten :c. nicht durch Einseitigkeit aufzuheben. Nur durch
eine möglichst liberale Gründung dürfte die anzustrebende größere Ausdehnung,
der Übertritt so vieler tüchtiger, aber für die bisherigen Besitzverhältnisse kapi¬
talistisch nicht genügend ausgestatteter Eigentümer und damit anch der staatliche
Zweck erreicht werden.
Ich bin mit nieinen Auslassungen über die wichtigsten Notstände der heu¬
tigen Landwirtschaft und die mir dagegen wirksam erscheinenden Mittel zu Ende.
Mögen sie eine wohlwollende Beachtung finden. Sie kommen ans dem Leben
und sind fürs Leben geschrieben. Wohl weiß ich, daß es unsrer Zeit noch an
dem richtigen Verständnis für die Aufgabe und den Endzweck des Landbaues
sehr fehlt; aber dieser Endzweck ist gerade für unser deutsches Vaterland so
überaus wichtig, daß man sich wohl des Glaubens getrösten darf, die erforder¬
liche Einsicht werde zum Durchbruch kommen. Die gesamte staatliche Gesell¬
schaft ist bei uns sehr wesentlich am Landbau beteiligt, wenn auch nicht in un¬
mittelbarer Arbeit, so doch rin der Zinsnutzung der dabei angelegten Kapi¬
talien, der Staat durch die Beschaffung seiner Militärkraft, und dann auch
wieder im Kriegsfall durch die bereite Deckung seiner allergewöhnlichsten Lebens¬
bedürfnisse. Wir können nicht dahin geführt werden, wohin es in England
kommt, welches keine Schulden und Hypotheken bei seinem Grundbesitze kennt,
und wo das Einkommen aller Staatsbürger, auch des höchsten Adels, ans
Handel und Gewerbe gezogen wird. Dort ist es wohl gerechtfertigt, wenigstens
erklärlich, wenn das Land brach gelegt wird und die Güter in Parks und Jagd¬
gründe umgewandelt werden. In Deutschland kann die Landwirtschaft der all¬
seitige» Fürsorge nicht entbehren. Die Zeiten sind vorüber, wo man sagen
durfte, daß auf dem Lande jeder mit einer Handvoll Glück und Verstand aus¬
komme. Zur Ansammlung von Reichtümern wie in der Industrie gelangt man
da nicht. Es ist schon hoch genug zu schätzen, wenn Kräfte angesammelt werden,
um den unabwendbaren Heimsuchungen widerstehen zu können.
Ein sicheres Zeichen des Niederganges unsrer Landwirtschaft ist es deshalb,
wenn aus altem, befestigtem Grundbesitze, der solche Kräfte im Laufe der Jahre
aufzuspeichern vermochte, Klagen über schwere Notstände kommen. Gerade der
ausgedehnte, umfassende Großgrundbesitz, der intelligent und damit auch ren¬
tabel verwaltet wird, hat den Vorzug, daß er für die Versorgung der Märkte
durch eine seinen Wirtschaftsbedarf überschreitende Produktion arbeitet und, wie
z. B. die preußische Pferdezucht es darthut, zu einzelnen wichtigen Bedürfnissen
des Staates hervorragend beiträgt. Es ist ungerechtfertigt gegen ihn und unsre
Adelsgeschlechter, denen wir geschichtlich so viel verdanken, die leichtfertige An¬
klage geringer landwirtlicher Leistungsfähigkeit zu erheben. Sollte sich erst das
Kapital an seine Stelle setzen, wie kommen zu wollen es den Anschein hat,
dann könnten wir nur mit unsern nationalen Erfolgen und Aufgaben abschließen
und die Vorwürfe unsrer Nachkommen auf uns nehmen, die dann mit Recht
dahin lauten würden, wir seien uns unsrer Macht und der Kraft, den Verfall
der gesamten staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse aufzuhalten, nich;
bewußt gewesen.
Deshalb vorwärts zur Wahrung des befestigten Grundbesitzes! Fort mit
aller Güterverpachtnng auf Zeit! Seßhaftmcichung des gesamten ländlichen
Arbeiterstandes! Der Besitzende, der auch nur im kleinsten Maßstabe Besitzende,
hat ein Interesse an Aufrechterhaltung des Eigentums und der staatlichen Ord¬
nung, er dient ebenso treu Gott wie seinem irdischen Herrn.
le Gattin des berühmten Leipziger Professors Johann Christoph
Gottsched war eine Frau, die in ihrer Jugend ganz den Bil¬
dungsgang genommen hatte, der für Töchter der bessern Stände
im achtzehnten Jahrhundert der gewöhnliche war, die aber später
an Bildung und geistiger Reife weit über den Frauen ihrer Zeit
stand, und die daneben allezeit, in der Jugend wie im Alter, ein Muster edler
Weiblichkeit war. Wenn sie in allzu großer Bescheidenheit meinte, daß ihr
Name nur dadurch auf die Nachwelt kommen würde, daß sie des berühmten
Mannes Gattin gewesen sei, so hat sie darin geirrt. Sie schreibt in einem
Gedichte zu ihres Gatten Geburtstage im Jahre 1737:
Mein Gottsched, du allein
Und daß du mich geliebt, das soll mein Lorbeer sein.
Daß du mich hast gelehrt, daß du mich unterwiesen,
Das wird der Nachwelt noch durch manches Blatt gepriesen,
Wer solchen Meister hat, da stirbt der Schüler nicht,
Wenn ihm gleich das Verdienst zur Ewigkeit gebricht.
So les' ich denn durch dich! Wie könnt ich schöner leben?
Dein Ansehn wird mir schon Ruhm, Lob und Ehre geben.
Die Nachwelt urteilt anders. Wenn sie nicht mehr in das einseitige Ver¬
dammungsurteil einstimmt, das seiner Zeit über Gottsched ergangen ist, in jenes
Urteil, das Gottsched auch seiner wahrsten Verdienste um deutsche Sprache und
Litteratur, um Hochhaltung des deutsche» Namens und der deutschen Ehre
beraubte, so kann sie anderseits sich auch nicht mehr damit begnügen, seine
Gattin als geistreicher und feinfühlender ihm gegenüberzustellen. Die Nach¬
welt hat vor allem anzuerkennen, daß Frau Gottsched wohl eine gelehrte und
geistreiche Frau war, aber eine solche, die daneben mit all den Tugenden geschmückt
war, welche man deutschen Frauen so oft als ihren besondern Schmuck nach¬
gerühmt hat, welche aber an gelehrten Frauen auch in Deutschland so oft zu
vermissen gewesen sind. Frau Gottsched war nicht nur eine geistreiche Schrift¬
stellerin, sondern auch eine ehrsame, bescheidene, echt deutsche Hausfrau,
Luise Adelgunde Viktoria Gottsched war die am 11. April 1713 zu Danzig
geborne Tochter des königlich polnischen Leibarztes Dr. Johann Georg Kulmus.
Das neugeborne Kind hatte einen auffallend großen Kopf, und die Gevattern
und Muhmen behaupteten, es sei ein „Poetenkasten," eine Weissagung, die später
nicht unbestätigt blieb.
Adelgunde — mit diesem Namen, den sie nach der Sitte der Zeit von der
Großmutter erhalten hatte, wurde das Mädchen meist gerufen — zeigte sich
bald als ein geistig gewecktes Kind, und die Mutter, die selber eine große Lieb¬
haberin der schönen Wissenschaften war, ließ es daher ihre vornehmste Aufgabe
sein, die Anlagen ihres Kindes auszubilden.
Wie es damals in den bessern Familien Sitte war, lehrte die Mutter
ihre Tochter schon von frühester Kindheit an das Französische. Als die Tochter
deutsch lesen und schreiben und französisch sprechen und lesen konnte, erhielt sie
Privatunterricht in den Regeln des deutschen Stils und im Englischen, das in
den norddeutschen Seestädten meist neben dem Französischen, zuweilen sogar in
noch höherm Grade als dieses zur feinern Bildung gehörte. Um die Tochter
auch im Schreiben des Französischen zu üben, gab ihr die Mutter oft viele
Seiten aus französischen Büchern abzuschreiben. Natürlich erhielt Adelgunde
auch Unterricht in der Religion. Diese wurde im Hause erteilt, doch mußte
sie vom achten bis zum zwölften Jahre auch allsonntägig die öffentlichen
Katechisationen besuchen, die von den Geistlichen der Se. Johanniskirche ge¬
halten wurden. Es wird berichtet, daß sie dort selbst den Knaben oft als ein
Beispiel des Fleißes vorgestellt worden sei, und daß man sich über die „Hurtig¬
keit" ihres Geistes gewundert habe.
Auch Musik wurde zeitig getrieben. Vater und Mutter liebten sie, und
oft wurden kleine musikalische Abende veranstaltet, in denen Freunde des Hauses
mitwirkten. Der Vater spielte selbst die Laute, die Mutter das Klavier. Auf
dem Klavier erhielt auch die Tochter regelmäßigen Unterricht, während für den
Unterricht auf der Laute nur einige Monate lang ein Lehrer zu haben war,
der dem Mädchen kaum mehr als die Namen der Saiten und etliche Griffe
beibringen konnte. Doch genügte das der fleißigen Schülerin, sie half sich selbst
weiter fort, sah sich von einem Freunde des Vaters, der bei den musikalischen
Abendunterhaltungen die Laute spielte, manches ab und ließ sich von ihm mit
leichten Stücken versehen, die sie ebenso selbst abschrieb, wie alle die Noten,
deren sie zum Klavierspielen bedürfte. Sie brachte es nach und nach auf der
Laute zu einer solchen Fertigkeit, daß sie auch schwerere Stücke vom Blatte
spielen konnte.
In ganz verständiger Weise hielt aber die Mutter darauf, daß die Zeit
nicht allein durch Lesen, Übersetzen und Musiziren ausgefüllt wurde. Die
Tochter wurde auch zu Handarbeiten, namentlich zum Nähen und Spitzen¬
klöppeln, angehalten, und daß sie auch in der Hauswirtschaft mit zugreifen mußte,
darf man voraussetzen, wenn man von der spätern Hausfrau rühmen hört, daß
sie trotz der angestrengtesten Beschäftigung mit Wissenschaft und Kunst doch mit
ebensoviel Sorgfalt als Verständnis sich auch um ihr Hauswesen gekümmert habe.
Als Adelgunde älter wurde, hatte sie neben besondrer Anweisung zur
deutschen Poesie mich noch Privatunterricht in Geschichte, Geographie und
Zeichnen. Johann Christoph Reinholds „Perspektiv-Reißkunst" schrieb sie sich
vollständig ab, wie sie denn auch alle dazu gehörigen Risse abzeichnete. Für
ihren Vater schrieb sie sogar ein lateinisches Kollegienheft über Pathologie ab,
obgleich sie nichts davon verstand. Als eine Frucht ihrer Mußestunden entstand
die deutsche Übersetzung eines französischen Romans, die man später veröffent¬
lichen wollte, wozu sie aber nie ihre Einwilligung gab. Lieber als Romane
waren ihr französische Werke moralischen Inhalts. So las sie besonders gern
den Telemach des Fenelon und die von Dacier in Französische übersetzten Be¬
trachtungen Marc Aurels.
Auch dichterisch bethätigte sich Adelgunde frühzeitig. Erhalten sind uns
aus ihrem zwölften Jahre eine Ode auf den Namenstag ihrer Großmutter,
aus dem vierzehnten eine Elegie auf den Namenstag der Mutter. Im fünf¬
zehnten Jahre dichtete sie eine Ode auf den Sturz des russischen Ministers
Menschikoff. Sie spricht da von dem Ruhme der Welt:
Wenn er sich nur auf Glück, nicht auf Verdienste gründet,
Was Wunder, daß er auch so bald wie dies verschwindet?
Es sind wenigstens Gedanken in der Ode, wenn auch die Form mancherlei zu
wünschen übrig läßt. Aber es giebt in den Gedichtsammlungen der anerkanntesten
Dichter jener Zeit Gedichte, die um keinen Grad besser sind.
Die dichterischen Versuche des Mädchens gelangten durch Vermittlung eines
Freundes zur Kenntnis des Professors Gottsched in Leipzig, der davon ganz
entzückt war und am 19. Oktober 1727 an das vierzehnjährige Mädchen ein
poetisches Sendschreiben voll überschwänglicher Lobeserhebungen richtete. Es
beginnt:
Poetin, zürne nicht, daß sich ein Fremder wagt
Und dir den treusten Dank in schlechten Reimen sagt,
Den dein Geschenk verdient. Die allerliebsten Zeilen,
Die du durch unsern Freund mir neulich zu erteilen
Geneigt beliebet hast, erfordern zweifelsfrei,
Daß ich dir, schönes Kind, dasür erkenntlich sei.
Allein, wie stell' ichs an? Was giebt dein Knecht dir wieder?
Ich lese ganz entzückt die geisterfüllten Lieder,
Die du mir zugesandt, und seufz' in meinem Sinn:
Ach schade, daß ich doch so weit von Danzig bin!
Wie zärtlich wollt' ich dir allein zu danken wissen,
Wie zärtlich wollt' ich nicht die schönen Hände küssen,
Die ein so muntrer Geist belebt, bewegt und rührt,
Wann er den Dichtcrkiel trotz allen Männern führt.
Besonders erfreut ist Gottsched, daß sein engeres Vaterland Preußen durch die
Dichterin geehrt werde, und er hofft, daß man einst die Kulmus aus Danzig
ebenso hoch schätzen werde, wie die Gertrud Möller aus Königsberg, deren 1675
veröffentlichte „Geistliche und weltliche Oden" sich damals noch großen Ansehens
erfreuten. Daß die jugendliche Dichterin die „Nymphen an der Pleiße" schon
jetzt besiegt habe, ist Gottsched zweifellos.
Denn sind dieselben gleich
An Geist und Artigkeit, Verstand und Schönheit reich,
So ist doch keine dir, so viel ich weiß, in Sachsen,
So jung und zart du bist, im Dichten recht gewachsen.
Du ehrst dein Vaterland durch deinen schönen Kiel,
Dein Preußen wird dereinst dein reines Saitenspiel
Aus Stolz verewigen. Drum fahre fort im Singen,
Die Muse deiner Zeit! Denn deine Lieder klingen
So rein, so angenehm, so munter und beliebt,
Daß jeder, der sie hört, dir Kranz und Lorbeer giebt.
Was sonst die Möllerin in Königsberg gewesen,
Das wird dein Danzig einst von seiner Kulmus lesen.
Das Mädchen mag sich über eine solche Zuschrift nicht wenig gefreut haben.
Der Vater freilich dachte kühler. Er dankte zwar Gottsched für die Zusendung
gelehrter Abhandlungen und poetischer Schriften an seine Tochter, wünschte aber
zugleich, daß der vermittelnde Freund nicht mit so leuchtenden Farben gemalt
haben möchte, und bittet, „eine so große Poetin nicht eben aus ihr zu machen,"
Im Jahre 1729 reiste Gottsched zum erstenmale wieder in seine Heimat,
aus der den außerordentlich körpergroßen Mann die Furcht vor den preußischen
Werbern vertrieben hatte. Dem Mitgliede der Leipziger Universität konnten
diese jetzt nichts mehr anhaben, ohne das Völkerrecht zu verletzen. In Königs¬
berg begrüßte er die Eltern und Jugendfreunde, auf der Rückreise aber kehrte
er in Danzig im Hause des Doktor Kulmus ein. Ein junges, sechzehnjähriges,
mit äußern und innern Reizen geschmücktes Mädchen trat ihm in Adelgunde
entgegen; diese aber schaute in Ehrfurcht zu dem schon berühmten Gelehrten
empor, der ihr so viel Ehre erwiesen hatte. Ihr angenehmes Äußere, ihre
artigen Sitten, ihr in der der Unterhaltung sich bewährender feiner Witz, ihre
musikalischen Leistungen entzückten ihn, und so bat er die Eltern, mit der Tochter
im Briefwechsel bleiben zu dürfen, was ihm gern gestattet wurde.
Nun flogen der Briefe und Gedichte viele zwischen Leipzig und Danzig hin
und her; auch allerlei deutsche und französische Bücher langten in Danzig an, mit
deren Hilfe das junge Mädchen sich weiterbilden sollte. Zur Beurteilung aber sandte
Adelgunde Kulmus einige Übersetzungen aus dem Französischen an Gottsched,
die dieser alsbald veröffentlichte, wodurch er, wie er selbst sagt, „Deutschland
zuerst eine Feder bekannt machte, die ihm so viel nützliche und sinnreiche Werke
liefern sollte." Im Jahre 1734 erschien die Übersetzung von Frau Lamberts
„Betrachtungen über das Frauenzimmer," im nächsten Jahre der „Sieg der
Beredsamkeit" von Frau von Gomez. Das letztere Werkchen bestand eigentlich
aus sechs Reden, in denen die Philosophie, die Geschichte, die Dichtkunst und
die Beredtsamkeit von ihren Vertretern um die Wette gepriesen werden, bis der
als Richter herbeigerufene Kritolaus der Beredsamkeit den Sieg zugesteht. In
einem Anhange zu diesem Schriftchen veröffentlichte Gottsched auch einige Ge¬
dichte der Übersetzerin.
Aus den beiden Briefschreibern waren nach und nach im Einverständnis
mit den Eltern Verlobte geworden. Dem Leipziger Gelehrten mußte eine
Gattin sehr erwünscht erscheinen, die das Ideal verwirklichte, welches er in
seiner moralischen Wochenschrift: „Die vernünftigen Tadlerinnen" oft genug
gezeichnet hatte. Er forderte von der Fran vor allem Bildung, und für die
Gattin eines Gelehrten hielt er einen gewissen Grad von Gelehrsamkeit für
unerläßlich. Er hatte einst geschrieben: „Ich ergötze mich, so oft ich daran ge¬
denke, wie der berühmte Dacier mit seiner Frauen gelebt haben müsse. Ich
stelle mir zum Exempel vor, wie beide Ehegatten zusammensitzen und die weisen
Sprüche des großen Kaisers Antonius aus dem Griechischen ins Französische
übersetzen. Welch ein angenehmer Streit ist dieses, da der Mann es der
Frauen, die Frau aber dem Manne in der Gelehrsamkeit zuvor thun will."
Was er hier schildert, das sollte er später in der That in Gemeinschaft mit
seiner Gattin selbst erleben. Die Jungfrau Kulmus aber dachte schon damals,
wie sie später in einem Gedichte zum Geburtstage ihres Gatten sang:
Freund, schenke ferner mir das Glücke deiner Lehren,
Ich will dein Strafen mehr als jenes Loben hören,
Und wenn dein treuer Mund einst meine Schrift erhebt,
So hat mein Eifer sich den schönsten Lohn erstrebt.
An Verehelichung war freilich noch nicht zu denken. Die Familie Kulmus
verfügte nicht über Reichtümer, und Gottsched war zwar seit 1730 außerordent¬
licher Professor der Poesie an der Leipziger Universität, erhielt aber als solcher
keinen Gehalt und war ans die Erträgnisse seiner schriftstellerischen Arbeiten, ja
sogar auf die „Schuldigkeiten" für bestellte Gelegenheitsgedichte angewiesen.
Der Braut wurde die Zeit ihres Vrantstandes verkümmert durch den Tod
beider Eltern, von denen der Vater 1731, die Mutter 1734 starb. Auch Ver¬
stimmungen zwischen den Verlobten kamen während der Zeit des Brautstandes
vor; aber man muß zugestehen, daß dabei die Braut eine viel würdigere Rolle
spielt als der Bräutigam. Adelgunde war von den Masern befallen worden
und hatte dies ihrem Bräutigam mitgeteilt. Dieser aber hatte gehört, nicht
an den Masern, sondern an den Blattern sei seine Braut erkrankt. Er war
taktlos genug, ihr zu schreiben, wie er namentlich fürchte, daß ihr Gesicht da¬
durch entstellt werde. Darauf erhielt er von ihr einen herrlichen Brief, in
dem sie u. a. schrieb: „Sie waren nicht nach Danzig gekommen, schöne Ge¬
sichter und schöne Körper zu suchen; diese hatten Sie in Sachsen näher. Oder
hätten Sie diese auch hier verlangt, so würde Ihre Wahl nicht auf mich ge¬
fallen sein. Gesetzt auch, daß ich jetzt die Blattern gehabt hätte, gesetzt, daß
mich diese sehr übel zugerichtet, so hätte ich Ihrer Standhaft,gien doch so viel
zugetraut, daß Sie die treue Beschreibung meines narbigen Gesichts ohne
widrigen Eindruck würden gelesen haben. Ich glaube, ich hätte die Gruben
gezählet, um Ihnen alles genau zu melden." Auf diesen Brief leistete Gott¬
sched reumütige Abbitte, mußte sich aber in dem nächsten Schreiben seiner Braut
neben der Verzeihung, die er erhielt, doch die folgende wohlverdiente Zurecht¬
weisung gefallen lassen: „Glauben Sie. liebster Freund, daß ich Ihnen lieber
meine gute Eigenschaften (wenn ich deren besäße) verhehlen würde, als meine
Fehler. Nach meiner Denkungsart wünsche ich geliebt zu sein, so wie ich bin
und nicht wie ich sein sollte."
Endlich war Gottsched im Jahre 1734 ordentlicher Professor der Logik
und Metaphysik mit Gehalt geworden, und er konnte nun an die Heimholung
der Braut denken. Am 19. April 1735 fand in Danzig die Hochzeit statt, die
nach dein Willen der Braut möglichst einfach gefeiert werden sollte; doch waren
achtzehn Hochzeitsgäste geladen worden, und als nicht zu überschreitende Summe
der Kosten hatte die Braut hundert Thaler festgesetzt.
?im 14. Mai kam das junge Paar über Stargard, Berlin und Witten-
berg glücklich in Leipzig an, empfangen wie ein Fürstcnpaar von dem Kreise
der zahlreichen Freunde und Verehrer des Bräutigams. Gottscheds Zuhörer
in seinem Kolleg über die Redekunst empfingen das Paar mit einer Abendmusik,
deren Text Gottsched später nebst einer großen Anzahl der bei dieser Gelegen¬
heit überreichten und^übersandten, meist gedruckten Bewillkommnungsgedichte und
Begrüßungsreden in einem Anhange zu der von ihm verfaßten Lebensbeschreibung
seiner Gattin wieder abdrucken ließ. Da finden wir natürlich zunächst die
Deutsche Gesellschaft in Leipzig, deren Vorsteher Gottsched war, mit einem Ge¬
dichte vertreten. Es fuhrt die Überschrift: ,.Bei dem Gottsched- und Kulmu-
sischen Hochzeitfeste bezeigt gegen den Herrn Bräutigam ihre Ergebenheit die
deutsche Gesellschaft in Leipzig durch Johann Friedrich Mayen." Die montäg-
liche Predigergesellschaft zu Leipzig überreichte ein Gedicht durch Magister
Gotthilf Schönfeld. Auch einzelne der Zuhörer des Professors entrichteten der
Sitte der Zeit ihren Zoll, indem sie gedruckte Glückwünsche überreichten. Eins
dieser Gedichte trügt die Überschrift: „Bey der glücklichen Ankunft Sr. Hoch-
edelgeboren Herrn Professor Gottscheds mit Seiner geliebten Kulmus in Leipzig
bezeigteir ihr Vergnügen zween ergebenste Diener, Peter Stuart, Rha. 8wä.,
und Johann Theodor Grade, L. rirsoloA. 8WÄ." Manche der von Freunden
und Freundinnen dargebrachten Dichtungen beginnen bereits in der Aufschrift
mit Reimen, z. B. „Da Gottsched seine Kulmus liebt und Herz und Hand Ihr
übergiebt, besingt das Band, das sie vereint, ein wahrer und ergebner Freund,
Lamprecht"; oder: „Da Professor Gottscheds Mund die berühmte Kulmus küßt
welche eine Meisterin schöner Wissenschaften ist, da sich Gleich und Gleich gesellet,
hat dieß Carmen aufgesetzt eine Freundin edler Musen, die die Dichtkunst auch
ergötzt, Anna Helena Volkmannin, geb. Wolffermannin." Unter den übrigen
Glückwünschenden finden wir auch den Leipziger Juristen Corvinus, als Dichter
..Amaranthes" genannt, den Magister Johann Daniel Heyde, Korrektor des
Gymnasiums zu Gera, den Magister Nikolaus Kelz, ein Mitglied der Gottsched-
schen Rednergescllschaft, Martin Knocher, el» Mitglied der Deutschen Gesellschaft,
den Pfarrer Adam Bernhard Pantke, ferner von Auswärtigen noch Johann
Vermehre» aus Lübeck und die Erfurter Dichterin Jungfrau Sidonia Hedwig
Zäunemann, an die Gottscheds Braut schon früher ein poetisches Sendschreiben
gerichtet hatte, das nach Gottscheds Versicherung ,,sehr nützliche Lehren für
dieselbe in sich hielt." Man sieht, die Sitte der Zeit hatte dafür gesorgt, daß
es dem jungen Paare später nicht an Gelegenheit fehlte, bei Hochzeitsfesten,
Todesfällen, Amtsveränderungen u. dergl. die dichterischen Schwingen zu
entfalten, um Gleiches mit Gleichem, Gelegenheitsgedicht mit Gelegenheits¬
gedicht zu vergelten.
In Leipzig ließ die junge Frau Professorin es sich vor allem angelegen
sein, ihre Bildung noch zu vervollkommnen. In ihrem Zimmer saß sie hinter
der Thür, die zu dem Hörsäle ihres Gatten führte, und hörte da alle Vor¬
lesungen, die er über die einzelnen Teile der Philosophie, über Beredsamkeit
und Dichtkunst hielt, mit an. Auch bei den Redeübungen, die Gottsched mit
deu besten seiner Zuhörer jahraus jahrein Mittwochs und Sonnabends ver¬
anstaltete, und den darauf folgenden Beurteilungen der gehaltenen Reden war
sie stets in derselben Weise unbemerkt ZuHörerin.
Daneben nahm sie bereits im ersten Jahre ihrer Ehe Privatunterricht in
der lateinischen Sprache bei Gottscheds Freund und Anhänger Johann Joachim
Schwabe, der später die in Gottscheds Sinne geleiteten und von seinen Anhängern
geschriebenen „Belustigungen des Verstandes und Witzes" herausgab. Von dein
Erfolge dieses Unterrichts urteilt Gottsched, daß sie es in kurzem so weit
gebracht habe, einen leichten Schriftsteller zu verstehen, und sowohl im Reden als
im Schreiben mit lateinischen Wörtern so richtig zu verfahren wie ein Gelehrter.
Auch in der Musik suchte sie sich noch weiter auszubilden. Sie nahm
Unterricht bei den, Musiker Krebs, einem Schüler Bachs; und wie sie es
überall bis zu eignen Geisteserzeugnissen zu bringen suchte, wie sie z. B. das in
den Redeübungen ihres Gatten gelernte in selbstausgcarbeiteten Reden zu ver¬
werten sich bemühte, so drang sie auch in ihren musikalischen Studien bis zur
Kompositionslehre vor, und der von ihrem Gatten veranstalteten Sammlung
ihrer Gedichte ist (Seite 178 bis 192) eine von ihr komponirte, aus Arie,
Rezitativ und Arie bestehende Kantate beigefügt, die nicht nur von tüchtiger
Beherrschung der musikalischen Formen, sondern auch, namentlich in der letzten
Arie, von echter musikalischer Empfindung Zeugnis ablegt.
Als Schriftstellerin entfaltete Frau Gottsched eine fast unglaubliche Thä¬
tigkeit. Es würde jedoch hier zu weit führen, alle ihre selbständigen Werke, ihre
Übersetzungen, Kritiken u. s. w. aufzuzählen. Zunächst nahm ihr Gatte ihren
Fleiß und ihr Geschick in Anspruch zur Förderung der Arbeiten, durch die er
auf die Entwicklung der deutscheu Litteratur einzuwirken suchte. Als er den
außerordentlich reichen Bildungsstoff, der in dem Wörterbuche des französischen
Gelehrten Bayle vorlag, auch den Deutschen zugänglich mache» wollte, zog er
neben andern Mitarbeitern auch seine Gattin mit heran. Nicht nur hat sie
einzelne Artikel des Wörterbuches ganz selbständig übersetzt, sondern sie beteiligte
sich auch bei der Durchsicht der eingegangenen Übersetzungen und bei der Über¬
wachung des Druckes. Wenn Beitrüge der Mitarbeiter eingegangen waren, so
las sie sie vor, während ihr Gatte den französischen Text vor sich liegen hatte.
Notwendig erscheinende Abänderungen wurden dann gemeinsam beraten, und
gar oft ging der bessere Vorschlag zu solchen von der Frau Professorin ans.
Bei der Durchsicht der Druckbogen wurden die Rollen vertauscht; Gottsched las
die Bogen, und die Gattin verfolgte daneben den Grundtext.
Ganz selbständig übersetzte Frau Gottsched die in Paris in elf Bänden
erschienene Geschichte der königlichen ^.v^äsinie ä«zö M8orivtions se dsllss lottrss,
sowie eine zweibändige Ausgabe größerer selbständiger Schriften dieser Akademie.
Länger als nenn Jahre hat diese Arbeit sie beschäftigt; man darf aber nicht
meinen, daß sie dabei eine große innere Befriedigung gehabt habe. Sie wurde
dadurch zur Beschäftigung mit Gegenständen veranlaßt, die ihrem Gesichtskreise
und ihrem Interesse oft gleich fern lagen, und in vertrauten Briefen klagt sie
über die Last dieser Arbeit, die sie vorzugsweise nur dem Gatten zu Gefallen
übernommen hatte.
In einem Briefe an Frau Nunkel, eine ihrer besten Freundinnen, schreibt
sie am 24. März 1764 u. a.: „Nein, beste Freundin! Ich kann mich nicht
überwinden, Ihnen den Sokrates und Plato, die mich bisher in der Geduld
geübet, zuzuschicken. Sollte ich Sie mit zwey und dreyßig gedruckten Bogen ,
Plagen? So viel beträgt meine Arbeit von der Neujahrsmcsse bis hierher.
Ich will Ihnen den ganzen Inhalt sagen. Er betrifft lauter griechische, römische,
egyptische und. kurz zu sagen, barbarische Alterthümer, das ganze Werk ist
voller kritischer Grillen. Mitten unter denselben finden Sie etwa auf dreh
Bogen ein trockenes metaphysisches Gespräch des Sokrates mit seinem Schüler
Thcätetus. die mit einander zanken, was das Wissen ist und ob es etwas
anderes als empfinden sey. Nein, ich verehre Sie viel zu sehr, und Ihre Zeit
ist mir viel zu schätzbar, um Sie mit Lesung einer Schrift zu plagen, die mir
selbst zum Ekel geworden ist. Nie habe ich einen ärgeren Sophisten und einen
dünneren Lehrling gesehen. Lassen Sie uns lieber freundschaftliche Briefe
wechseln."
Mehr Freude gewährte ihr die Übersetzung zweier englischen moralischen
Wochenschriften, des „Zuschauers" (Lxsetawr) und des „Aufsehers" (SnMäikm).
Addisons Kxsvt^lor, der von Gottsched in seinen „Vernünftigen Tadlerinnen"
und dann in unzähligen andern moralischen Wochenschriften nachgeahmt wurde,
der damals das Lesebuch aller derer war, die Englisch verstanden, den Frau
Gottsched schon im Elternhause mit großem Vergnügen gelesen und der auf
ihre ganze Richtung wesentlichen Einfluß erlangt hatte, erscheint uns jetzt unbe¬
deutend; aber gerade der Mangel an Tiefe, der seine Ausführungen kennzeichnet,
gerade der Umstand, daß er nur den gesunden Menschenverstand allen Thor¬
heiten und Zierereien gegenüber in seine Rechte einsetzt, gerade das hat ihm
seinen unermeßlichen Einfluß auf die Menschen und namentlich auch auf die
Frauen des achtzehnten Jahrhunderts gesichert, das moralisirende Element in
Frau Gottscheds Schriften und ihre hausbackene, aber liebenswürdige Komik
haben ihren Grund vorzugsweise im LxöotÄtor und im (?ug.rann.
Die Übersetzung des (AuaräiW lieferte Frau Gottsched allein in der kurzeu
Zeit vom Herbst 1744 bis zum Frühjahr 1745. Die Arbeit am Kxkvwtor
war anfangs so verteilt, daß von je drei Stücken desselben allemal eins Frau
Gottsched, das andre ihr Gatte und das dritte ein ungenannter Freund über^
setzen sollte. Gottsched war aber gewöhnlich nicht fertig, wenn wieder Manuskript
an die Druckerei abgeliefert werden sollte, und dann mußte immer seine fleißige
Gattin für ihn eintreten. Er schreibt selbst: „So oft es mir an Muße fehlte,
mein Stück zu liefern, übernahm sie dasselbe an meiner Stelle. So hat ihr
denn wirklich unser Vaterland den größten Teil des verdeutschten Zuschauers
zu danken."
Aus dem Englischen übersetzte Frau Gottsched auch Addisons Trauerspiel
„Cato", das ihr Gatte später neben dem französischen Stücke von Deschamps
zu seinem „Sterbenden Cato" so ausgiebig benutzte, und ein komisches Epos,
den „Lockenraub" von Pope. Es ist ein sprechendes Zeugnis für die damaligen
Zustände des deutschen Buchhandels, daß Frau Gottsched den Urtext des
letztern Werkes lange Zeit nicht erhalten konnte. Sie entschloß sich daher zur
Übertragung einer ihr allein zugänglichen französischen Übersetzung. Während
der Arbeit aber kam ihr mancher Zweifel an der Zuverlässigkeit des französischen
Übersetzers, und sie fuhr in ihrer Arbeit nicht weiter fort Als es ihr endlich
nach vielen Mühen gelungen war, ein englisches Exemplar zu erlangen, fand
sie ihre Befürchtungen vollauf bestätigt. Rasch entschlossen, begann sie eine
neue Übersetzung, bei deren Herausgabe sie in der Vorrede mit dem französischen
Übersetzer sehr streng ins Gericht ging. Man merkt in dieser Vorrede,
wie wenig gut Frau Gottsched auf die Franzosen überhaupt zu sprechen war,
und namentlich richten sich ihr Eifer und ihr scharfer Witz gegen die an Fried¬
richs des Großen Hofe lebenden Franzosen. So schreibt sie u. a.: „Vielleicht
wird mein Eifer gegen den gewissenlosen französischen Übersetzer des Locken¬
raubes, so klein er auch ist, einigen Herren wieder zu stark vorkommen, die,
ob sie gleich unter deutschem Schutze stehen, den ihnen ihr Vaterland versagt,
dennoch eine Ehre darin suchen, Frankreich groß zu machen und alle anderen
Völker dagegen zu verkleinern." Gegen den Franzosen Maupertuis in Berlin
richtet sich die boshafte Bemerkung, daß er auf seiner mathematischen Expedition
nach dem Norden nur die alten Lehren von Huyghens und Newton bestätigt
gefunden und höchstens mehr gefroren habe als seine Vorgänger, was freilich
für einen Franzosen schon sehr viel sei.
Übrigens war Frau Gottsched auch mit den englischen Schriftstellern ihrer
Zeit keineswegs in allen Stücken einverstanden. Tiefe Blicke in Geist und Herz
der Frau Gottsched läßt uns die Vorrede zu ihrer Übersetzung des 6uMäiaii
thun, wo sie erklärt, daß es ihr darauf angekommen sei, den Religion und
Moral untergrabenden Schriften etlicher englischen Schriftsteller entgegenzu¬
wirken. „Man kennt die Freyheit einiger britischen Schriftsteller zur Genüge,
womit sie das Ansehen der sittlichen und göttlichen Wahrheiten zu untergraben
bemüht gewesen und zum Theil noch sind. Dieses Gift hat bey einigen, und
vielleicht nur bey gar zu vielen Gemüthern unter uns einen schnelleren Eingang
gefunden, als zum besten der zukünftigen Zeiten zu wünschen wäre. Es giebt
viele junge und bereits erwachsene Leute, welche glauben, ein großer Geist und
ein Freygeist, ein witziger Kopf und ein Religionsspötter, ein geistreicher Mann
und ein Wollüstling, das wäre einerley; und es ist zu bedauern, daß dieser
Irrtum nur gar zu oft solche Köpfe einnimmt, von denen das Vaterland außer
diesen die größten Vorteile und alle Ehre zu hoffen hätte. Dergleichen Leute
nun werden allhier einen Schriftsteller oder vielmehr einige der besten eng¬
lischen Schriftsteller erblicken, die alles ihr Vermögen anstrengen, diesem Un¬
heile zu steuern. Es sind tiefsinnige Weltweise, die sichs für keinen Schimpf
halten, Christen zu sein. Es sind witzerfüllte Männer, die diese Gabe nicht
zur Verachtung der Diener des Herrn anwenden. Es sind Leute, die den
feinsten Spott in ihrer Gewalt haben und dennoch damit weder der Unschuld
noch den guten Sitten zu nahe treten. Es sind Leute, welche die Welt, ja
die große und reizende Welt gesehen haben und dennoch nicht glauben, daß es
ein Übelstand sey, mäßig, bescheiden und keusch in Thaten und Ausdrücken zu
seyn. Es sind Personen, die gewiß unter den Geschöpfen ihrer Art im ersten
Range stehen und dennoch keinen Ruhm der Tiefsiunigkeit darinnen suchen,
an dem Daseyn ihres große» Urhebers zu zweifeln. Es sind endlich große
Geister, die es für kein Zeichen der Dummheit halten, eine ewige Glückseligkeit
oder Unglückseligkeit zu glauben. Wer weiß nun, ob ein solcher Anblick nicht
einige von unseren neuern Freygeistern auf bessere Gedanken bringt?"
Fleißig beteiligte sich Frau Gottsched auch an den Arbeiten ihres Gatten,
die ans Förderung der deutschen Litteratur und auf die Geschichte derselben
gerichtet waren. Die Bände der drei kritischen Zeitschriften, die Gottsched nach
einander herausgab, der „Beyträge zur kritischen Historie der deutschen Sprache,
Poesie und Beredtsamkeit," des „Neuen Büchersaales der schönen Wissenschaften
und freyen Künste" und des „Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit," ent¬
halten zahlreiche Beiträge von seiner Gattin. So besprach sie z. B. in der
erstgenannten Zeitschrift Johanna Maria Maxens Vorschläge zur Verbesserung
des Schulwesens, ferner die Fabeln von Stoppe und von Hagedorn, Glafeys
Übertragung der Fabeln von La Motte, Neukirchs Telemach, Trillers Prinzen-
raub, Bodmers Übersetzung eines Stückes aus dem Telemach und andre neuere
Erscheinungen.
Als Gottsched seine „Deutsche Sprachkunst" herausgab, war seine Gattin
seine unermüdliche Mitarbeiterin. Er selbst sagt: „Sobald ich ein Verzeichnis
von Wörtern, die von diesem oder jenem Geschlechte, von dieser oder jener
Abwandlung oder sonst in eine Klasse gehörig waren, nöthig, aber es selbst aus-
zusinnen keine Zeit hatte, war sie die sicherste Zuflucht ihres Gatten. Ja bei
allen folgenden Ausgaben hat sie mir dieselben nicht nur fleißig ergänzet, sondern
auch die hinten angeheulten Sprichwörter und Kern-Nedensarten der Deutschen
ausgezogen und gesammlet, so daß ich darinnen keine geringe Erleichterung von
ihrer Feder erhalten habe."
Ebenso war sie Mitarbeiterin an dem „Nöthigen Vorrath zur Historie
der deutscheu dramatischen Dichtkunst," einem Buche, das dem Forscher in litte¬
rarischen Dinge» noch heute Dienste leistet und ein Jahrhundert lang geradezu
unentbehrlich gewesen ist. Gottsched selber bekennt, daß er durch den Eifer
seiner Gattin „fast den ganzen Stoff in die Hände bekam."
Auch an den Sammlunge» für Gottscheds „Kritische Historie der deutschen
Sprache, Poesie und Beredtsamkeit" beteiligte sie sich mit Auszüge» aus älteren,
seltene» Schriften u. dergl. So reichlich floß das, was sie beisteuerte, daß der Gatte
endlich Bedettkcn trug, so viel Fremdes in sein Werk einzuschalten und für seine
Arbeit auszugeben. Er machte ihr daher den Vorschlag, selbst eine Geschichte
der lyrischen Dichtkunst in Deutschland zu schreiben, und sie ging voll Freude
und Eifer auf diesen Vorschlag ein. Leider ist uns ihre Arbeit nicht erhalten
worden. Gottsched schreibt: „Es wuchs ihr Vorrat dergestalt unter ihren
Hände», daß sie etliche Jahre vor ihrem Tode eine Geschichte der lyrischen
Dich!k»» se von Otfrieds Zeiten an bis auf das Ende des vorigen Jahrhunderts
mit den Vorreden und Einleitungen ganz zum Druck fertig hatte, und ich der
Welt schon etlichemal Hoffnung machte, selbige bald ans Licht treten zu sehen.
Allein leider umsonst! Und diese schöne Hoffnung ist nun auf ewig verloren.
Warum? Der Geschmack der Verleger ist dem Gutachten der Schriftsteller
nicht allemal gemäß. Ein Buch, welches so viele Liebhaber sehnlich wünschten,
und das den Verdienste» unserer Alten ein sehr Helles Licht versprach, war
keinem Verleger reizend genug, seine Kosten daran zu wenden. Wie oft habe
ichs nicht den besten unter ihnen angepriesen und dargeboten! Allein jederzeit
umsonst. Diese Kaltsinnigkeit und Unmöglichkeit um, es in so vielen Jahren
unterzubringen, hat die Selige kurz vor ihrem Ende so aufgebracht, daß sie
ohne mein Wissen es einmal im Zorne den Flammen aufgeopfert." Wir
dürfen in diesem Vrandopfer gewiß einen Verlust für die deutsche Litteratur¬
forschung beklagen. Was Gottscheds „nötiger Vorrat zur Historie der dra¬
matischen Dichtkunst" den Litteraturforschern und Litteraturfreunden gewesen
ist, das wäre ihnen für ein andres Gebiet die „Geschichte der lyrischen Dicht¬
kunst" wahrscheinlich auch geworden. Frau Gottscheds Eifer in Durchforschung
alter, seltener Schriften hätte vielleicht im Verein mit ihrem reifen, feinsinnigen
Urteil ein Buch dargeboten, das vor dem des Gatten noch manche» Vorzug
gehabt hätte. Manchem Literarhistoriker wäre vielleicht dnrch das Buch
seine Arbeit wesentlich erleichtert, manche Mühe erspart worden, und wir ver¬
ehrten darin vielleicht noch heute Frau Gottscheds Hauptwerk.
Aber nicht nur Mitarbeiterin auf dem Gebiete der Wissenschaft war sie
ihrem Gatten, sie war auch seine Gehilfin in kleineren Dingen. So war es
u. a. ihre Aufgabe, die Bibliothek des Gatten in Ordnung zu halten und
bei den neu hinzukommenden Büchern die Rückenschilder mit zierlichen Titel¬
aufschriften zu versehen.
Für die Entwicklung der deutschen Litteratur am bedeutungsvollsten und
einflußreichsten ist ihre Mitarbeit an Gottscheds „Deutscher Schaubühne." Gott¬
scheds erst in neuerer Zeit vollkommen gewürdigte Verdienste um das deutsche
Theater bestanden zunächst darin, daß er die Nenbersche Schauspielertruppe
dahin brachte, an die Stelle der regellosen Stücke, bei denen die Schauspieler
ihre Rollen aus dem Stegreif sprachen, regelmäßige und von den Schauspielern
wörtlich eingelernte Stücke zu setzen. Er selbst sagt, daß ans seine Veranlassung
„Herr Johann Reuber angefangen, anstatt der sonst gewöhnlichen Haupt- und
Staatsaktionen, mit Harlekins Lustbarkeiten untermengt, wahrhafte Trauer¬
spiele nach Art der Alten und der neueren Franzosen aufzuführen. . . Von
der Komödie ist so viel zu merken, daß auch diese ganz von dem alten Wüste
gereiniget und so weit gebracht worden, daß man auf der Ncuberschen Bühne
weder den Harlekin, noch Scaramutz, noch die andern Narren der Welschen
mehr sieht oder nötig hat." Er beklagt sodann, daß durch die Berufung der
Ncuberschen Truppe an den kaiserlichen Hof zu Petersburg „Deutschland die
einzige kluge und wohleingerichtete Schaubühne verloren, die es in seinen
Grenzen gehabt hat," und fügt hinzu, daß er sich „entschlossen, zur Erhaltung
des guten Geschmacks und zur Aufmunterung junger Dichter eine deutsche
Schaubühne im Drucke herauszugeben." Waren also die regelmäßigen Stücke,
die Gottsched und seine Gehilfen bis jetzt teils übersetzt, teils selbständig ge¬
dichtet hatten, alleiniges Eigentum der Ncuberschen Truppe gewesen, so sollten
sie nun durch den Druck allen Schauspiclertrnppen zugänglich gemacht werden
Von 1740 bis 1745 erschienen sechs Bände, und in ihnen wurden 37
Dramen, Trauer- und Lustspiele veröffentlicht. Es waren darunter Dichtungen
und Übersetzungen von Gottsched, Elias Schlegel, Gottfried Lange, von Strande,
Dotharding, Pitschel, Quistorp, Mich, Frh. von Glaubitz und von Benj.
Ephraim Krüger. Die größte Anzahl der gelieferten Stücke aber rührte von
Frau Gottsched her, drei Trauer- und neun Lustspiele, sieben Übersetzungen
und fünf eigne Dichtungen. Unter den Trauerspielen ist eine eigne Dichtung,
die Panthca, die ihren Stoff aus der Cyropädie des Xenophon schöpft, die beiden
andern sind die Übertragungen der „Alzire" von Voltaire und der „Cornelia"
von Mademoiselle Barbier. Unter den Lustspielen finden sich folgende Über¬
setzungen: Molieres Menschenfeind, die Widersprecherin von Dufresny, der
Verschwender und der poetische Dorfjunker von Destouches, das Gespenst mit
der Trommel, ebenfalls von Destouches, der aber seinerseits hier wieder ein
Lustspiel von Addison benutzt hatte. Gelegentlich der Aufführung des letzt¬
genannten Lustspiels in Hamburg erkennt Lessing in seiner Dramaturgie an,
daß Frau Gottsched einige feine Züge des englischen Originals, die in der
französischen Bearbeitung verloren gegangen waren, in ursprünglicher Frische
wiederhergestellt habe.
Wichtiger noch als diese Übersetzungen aus dem Französischen waren Frau
Gottscheds eigne Versuche auf dem Gebiete des deutschen Lustspiels. Man
darf wohl sagen, daß sie zu dem regelmäßigen deutschen Lustspiele in ähnlicher
Weise den Grund gelegt hat, wie ihr Gatte zu dem heroischen Trauerspiel.
Als Gottsched 1740 die erste Vorrede zu seiner „Deutschen Schaubühne" schrieb,
sah er sich zu der Erklärung veranlaßt, daß er wohl wegen regelmäßiger Trauer¬
spiele nicht in Verlegenheit sei, aber umso mehr wegen regelmäßiger Lustspiele.
„Wo hätte ich Komödien hergenommen, die regelmäßig gewesen wären, da man
uns dergleichen noch gar nicht hat drucken lassen?" Und zwei Jahre später
muß er sich immer noch mit der Hoffnung trösten, daß „wir mit der Zeit
eigene komische Poeten bekommen werden, die was Gescheites machen können;
denn was manche Komödianten selbst zusammenstümpeln, das ist nichts besser,
als die Geburten der italienischen Schaubühne."
Merkwürdigerweise nahm Gottsched eine sehr tüchtige Arbeit seiner Gattin,
die schon 1736, aber freilich ohne Namen erschienen war, nicht in seine Schau¬
bühne auf. Die Gründe dafür waren nicht litterarische; die Rücksicht auf den
Stoff des Lustspiels gebot diese Vorsicht, wie früher die Verschweigung des
Namens. „Die Pietisterei im Fischbeinrocke oder die doktormäßige Frau" war
mehr eine Nachdichtung als eine Übersetzung von des französischen Jesuiten
Bougeant Lustspiel Ils tsnuns ävetsur, in welchem die jansenistische Sekte
in Frankreich verspottet wurde. Frau Gottsched hatte das Stück ganz auf
deutsche Verhältnisse übertragen, Namen und Umstände dergestalt geändert,
daß die Nachahmung, wie ihr Gatte sagt, „ein auf deutschem Boden gewachsenes
Original zu sein schien." Statt Jesuiten und Jansenisten hatte sie Orthodoxe
und Pietisten einander gegenüber gestellt.
Ganz freie Erfindungen waren ihre in der „Deutschen Schaubühne" ver>
öffentlichem Lustspiele: „Die ungleiche Heirat," „Die Hausfrnnzösin," „Das
Testament" und „Der Witzling." Das letzte war eigentlich nur ein kurzes
Nachspiel, mit dem sie die Verfasser der sogenannten „Bremer Beiträge" ver¬
spotten wollte, oder wie Gottsched sagt, „worin die Selige allerley kleine
Kritiken wider die Schaubühne, die damals von vielen jungen Dichtern gemachet
worden, abfertigte und diesen eingebildeten Kunstrichtern glücklich das Maul
stopfte." Von einer Wirkung auf dem Theater konnte bei diesem Nachspiel
nicht die Rede sein. Umso öfter erschienen die drei andern Lustspiele auf der
Bühne, und vorzugsweise die beiden erstgenannten.
Heutzutage sind Frau Gottscheds Lustspiele ungenießbar und in einzelnen
Stellen abstoßend geworden, aber sie waren ihrer Zeit die ersten, die genießbar
erschienen, und an Beifall hat es ihnen nicht gefehlt. Von ihnen aus geht
eine ununterbrochene aufsteigende Linie bis zu den Lustspielen der Gegenwart,
und in der Zeit ihres Erscheinens läßt sich ihr anregender und maßgebender
Einfluß an den Lustspieldichtungen eines Elias Schlegel. Krüger, Mylius, ganz
besonders aber an den Lustspielen Gellerts leicht nachweisen, und wie Gellerts
Lustspiele außerordentlich viele Berührungspunkte mit denen der Frau Gottsched
ausweisen, so finden sich solche sogar in Lessings Jugendtraum. Wenn Lessing
spater scharfen Tadel über die Lustspiele der Frau Gottsched aussprach, so
beweist das nur, wie hoch Lessing später über seinen eignen Anfängen stand,
aber es kann die Bedeutung nicht mindern, die jene Lustspiele für ihre Zeit
gehabt haben.
Als im Juni 1767, fünf Jahre nach der Dichterin Tode, die „Haus¬
französin" in Hamburg aufgeführt wurde, und Lessing in der Dramaturgie
darüber berichtete, schrieb er: „Man sagt, es sei dieses Stück zur Zeit seiner
Neuheit hier und da mit Beifall gespielt worden. Man wollte versuchen, welchen
Beifall es noch erhalten würde, und es erhielt den, den es verdient, gar keinen.
Das »Testament« von eben derselben Verfasserin ist noch so etwas, aber die
»Hausfrauzösiu« ist ganz und gar nichts. Noch weniger als nichts, denn sie
ist nicht allein niedrig und platt und kalt, sondern obendarein schmutzig, ekel
und im höchsten Grade beleidigend. Es ist mir unbegreiflich, wie eine Dame
solches Zeug schreiben können."
Lessing hat mit diesem harten Urteile der Dichterin keineswegs Unrecht
gethan. Ein neuerer Beurteiler, Johannes Crüger, nennt die Lustspiele der
Frau Gottsched „wimmelnd von den verfänglichsten Zweideutigkeiten" und fügt
hinzu: „Wenn solche Stücke der gereinigten Bühne angehörten, wie schmutzig
müssen erst diejenigen gewesen sein, die vor der Bühnenreinigung die Lachmus-
keln des deutschen Publikums in Bewegung setzten." Sehr richtig. In diesem
letzten Satze ist aber auch ein durch Frau Gottsched angebahnter Fortschritt
anerkannt. Und so sieht sich denn derselbe Beurteiler bezüglich des „Testaments"
genötigt, sein Urteil in die Worte zusammenzufassen: „Kurzum, kein Lustspiel,
das unsern heutigen Anforderungen entspräche, aber historisch, auch nur als
Vorstufe zur „Minna von Barnhelm" angesehen, gewiß interessant und lehrreich."
Paul Schlenther, der neueste Biograph der Frau Gottsched, findet die
Erklärung für die befremdliche Thatsache, daß uns so viel Grobes und Rohes
in ihren Lustspielen überrascht, zum Teil in Gottscheds Natürlichkeits- und
Abschreckungstheorie, In der „Ungleichen Heirat," welche in Adelskreisen spielt,
hatte Frau Gottsched treu nach der Regel die gewöhnliche Umgangssprache ge¬
wählt. Da nun die Handlung der „Hausfranzösin" in ein Bürgerhaus verlegt
wird, so erschien es wünschenswert, den Ton um einiges niedriger zu stimmen.
Da aber die Sprache das vorwiegendste Mittel der Darstellung war, und damit
die Franzosen recht abscheulich erscheinen konnten, mußten sie vor allem nicht
nur selbst recht abscheulich reden, sondern auch von den andern mit den ab¬
scheulichsten Bezeichnungen bedacht werden. Da Fran Gottsched einmal sich vor¬
genommen hatte oder verleitet worden war, eine Schwutzwirtschaft zu schildern,
so glaubte sie auch an einer naturalistischen Schilderung derselben es nicht fehlen
lassen zu dürfen. Je ferner und unbekannter ihrem Gefühl und ihrer Erfahrunug
solche Zustände waren, desto mehr mußten sie Ton und Farbe der Schilderung
verfehlen, und sie half sich, wie alle Unkundigen sich helfen: sie übertrieb und
machte Ausschreitungen."
Wer Frau Gottsched gerecht beurteilen will, muß sich mit Schlenther ver¬
gegenwärtigen, daß sie an der Wiege eines großen Dichterzeitalters stand. „Das
Jahr 1744, wo die Hausfwnzösin erschien, zeigt uns Klopstock und Lessing im
Werden. Goethe wird ein halbes Jahrzehnt später geboren. Diese werdende
Poesie der Großen folgt auf die emsigen Bemühungen unsrer Dichterin, wie
der feste Mannesschritt sich allmählig herausbildet aus dem vierfüßigen Tasten
und Tappen des Kindes. Wie sich Kinder zu Erwachsenen verhalten, so verhält
sich Frau Gottscheds Stil zum Stile der Lessingschen Minna von Barnhelm."
Und wer das ganze Wesen Frau Gottscheds erkennen will, der darf sich
nicht bloß an ihre für den Druck bestimmten Werke halten, der muß namentlich
ihre Briefe in Betracht ziehen, von denen ein großer Teil nach ihrem Tode
dnrch ihre Freundin, Frau von Ruukel, ein kleinerer Teil auch durch ihren Gatten
in der ihren Gedichten vorgesetzten Lebensbeschreibung veröffentlicht worden ist
Auch ihre von Gottsched veröffentlichten Gelegenheitsgedichte lassen manchen
lehrreichen Blick in ihren Geist und ihr Herz thun. Gottsched meint, daß seine
Gattin in Elogien auf den Tod geliebter Freunde von keinem Dichter über¬
troffen worden sei. Das ist etwas viel gesagt; immerhin darf man zugeben,
daß überraschend geistvolle Gedanken und Töne echter Empfindung oft in diesen
Gedichten zu entdecken sind, während geistlose Spielereien mit Namen, barocke
Einfälle und Zweideutigkeiten, an denen andre Gelegenheitsgedichte jener Zeit so
reich sind, sich bei ihr nicht finden. Sie schrieb auch solche Gedichte nur, wenn
das Herz, wenn ein weiches Empfinden sie dazu drängte, während ihr Gatte
Gelegenheitsgedichte auf Bestellung für Geld verfaßte. Frau Gottsched hielt
das Schreiben von Gelegenheitsgedichten „für Verschwendung ihrer Zeit und
ihrer Einfälle"; als Braut freilich hatte sie es dem Erwählten ihres Herzens
nicht abschlagen können, ein Glückwunschgedicht an Frau Marianne von Ziegler
zu richten, die als die erste Frau unter die Mitglieder der Gottschedischen
Deutschen Gesellschaft aufgenommen worden war; aber leicht mag ihr diese Arbeit
nicht geworden sein. Wie richtig sie den Unterschied zwischen einer wirklichen
Dichtung und einem auf Bestellung gefertigten, nur einer .Höflichkeitsform ge¬
nügenden Gelegenheitsgedichte ahnte, zeigt ein die Sendung des Gedichts be¬
gleitender Brief. Sie schreibt an den Bräutigam: „Kein Gedicht kann ich es
nicht nennen, denn es sind lauter Wahrheiten von der einen Seite und Empfin¬
dungen von der andern, obwohl sehr schwach ausgedrückt. Ich werde auch nie
ein Gedicht verfertigen. Ein Dichter muß reich an Erfindungen sein und muß
vieles schön zu sagen wissen, was er nicht empfindet." Sie glaubt also keine
Dichterin zu sein, weil sie nur sagen kann, was wahr ist und was sie empfindet;
sie weiß recht wohl, daß ihre Zeit von einem Dichter und namentlich von
einem Gelegenheitsdichter verlangt, daß er schön zu sagen wisse, was er nicht
empfindet.
Frau Gottsched steht unter dem Einflüsse der Dichterregeln ihrer Zeit und
ihres Gatten, und so kann es uns kaum wundern, wenn wir sie in ihren
Briefen, wo sie sich ganz giebt, wie sie ist, wo Verstand und Herz sich nicht
von Regeln einengen lassen, oft mehr als Dichterin erkennen, als in ihren
Dichtungen. Es mögen daher hier noch einige Stellen aus ihren Briefen mit¬
geteilt sein, Stellen, aus denen ihr ganzes Wesen am besten erkannt wird.
Wie sparsam muß die Frau mit ihrer Zeit umgegangen sein, die neben
ihren eignen Werken und neben den gelehrten Handlangerdiensten, die sie ihrem
Gatten zu leisten hatte, noch so viel ausführliche und herzliche Briefe schreiben
konnte, und die doch daneben auch in ihrem Hauswesen alle einer Hausfrau
zukommenden Sorgen auf sich nahm! Gottsched schreibt: „Ihre Wirtschafts¬
angelegenheiten an Küche. Wäsche und Kleidung besorgte sie ohne alles Geräusch
aufs ordentlichste. Ihre Ausgabe und Einnahme hat sie die ganze Zeit ihres
Ehestandes durch von selber zu Pfennig aufgeschrieben und jedes Jahr richtig
geschlossen. Ja von allen Arbeiten mit der Nadel, die in einem Hauswesen
vorkommen können, hat sie sehr wenig durch fremde Hände besorgen lassen;
wenn sie nämlich nicht einträglichere Arbeiten unter der Feder hatte, die keinen
Aufschub litten."
Solchem Fleiße war jede Stunde teuer, und eine Stunde ohne Arbeit er¬
achtete sie als verloren. Auf einer Reise, die sie mit ihrem Gatten an den
Kaiserhof nach Wien unternahm, schrieb sie über eine langwierige Donaufahrt
am 9. September 1749 von Passau aus an ihre Freundin Fräulein Thomasius:
„Den ersten Tag fuhren wir sechs Meilen, den andern wegen widriger Winde
gar nur vier, und heute haben wir acht Meilen gemacht. Das sind also in
drey Tagen achtzehn Meilen. Wahrlich eine sehr langsame Post! Großer
Gott! mein Leben ist mir von Kindheit an so kurz vorgekommen, daß ich nie
Zeit genug vor mir zu haben glaube; und jetzo muß ich sie mit vollen Händen
zum Fenster hinauswerfen! Sechs Wochen bin ich von zu Hause, und in der
ganzen Zeit habe ich nur fünf Tage gelebt, die übrigen muß ich auf ewig für
verloren schätzen. Wie wird es nicht erst in Wien gehen? Der Schiffer tröstet
uns, daß wir dennoch den 12. September in Wien seyn sollen. Ich wünsche
es von Herzen aus keiner andern Ursache, als daß wir desto eher wieder nach
Leipzig kommen, und ich meine vertrauten vier Wände wieder sehen möge, denen
ich hunderttausend Dinge zu sagen habe."
Der Gatte scheint die unermüdliche Thätigkeit seiner gelehrten Gehilfin
und die treue Sorge der wackeren Hausfrau nicht immer mit Rücksicht und
Anerkennung gelohnt zu haben. Wenigstens scherzt Frau Gottsched einmal in
einem Briefe an ihre Herzensfreundin: „Meinen Mann habe ich niemals frömmer
gesehen, als er das Podagica hatte. Ich möchte wohl wissen, ob dieses Übel
bei allen Männern gleiche Wirkung thut? In diesem Falle könnte manche Frau
verleitet werden, diese Prüfung der Geduld ihrem Manne zu wünschen, die
ihrige würde zugleich mit bewährt und doppelter Nutzen aus einem einfachen
Übel entstehen."
In demselben Briefe, den sie am 19. September 1753 nach der Rückkehr
von einer Reise an den Hof von Kassel schrieb, spricht sie über ihre Stellung
zu den Großen der Erde: „Sie haben gefürchtet, mich auf dieser Reise zu
verlieren? Und wem haben sie mich zugedacht? Wenn irgend eine von denen
fürstlichen Personen, die ich auf dieser Reise gesprochen, mir eine Lust zur
Sclaverey des Hoflebens erwecken könnte, so wäre es die Herzogin von Braun¬
schweig. Allein ich wünsche mir nie, einen Hof genauer als aus der Beschrei¬
bung oder höchstens einem kurzen Aufenthalte zu kennen." Und in einem an¬
deren Briefe an dieselbe Freundin schreibt sie: „Wie unvollkommen sind die
Freuden der Großen, die mit allen Vorzügen oft viel Unannehmlichkeiten aus¬
gesetzt sind! Wer möchte sie wohl beneiden? Nein,
Das was allein mit Recht beneideuswürdig heißt,
Ist die Zufriedenheit und ein acschter Geist.
Mit solchen Ansichten stand sie freilich im Gegensatz zu ihrem Gatten, der
sich gar zu gern in den Strahlen der Hofgunst sonnte. Als Gottsched von
Friedrich dem Großen eine goldene Dose geschenkt erhaltet, hatte, schrieb seine
Gattin an Frau von Nunkel: „Beste Freundin, die Ode aus dem Horaz, die
mein Freund übersetzt und dem Könige nach Breslau geschickt, hat Beyfall ge¬
funden. Ich soll Ihnen noch mehr sagen, daß sie sehr gnädig aufgenommen
und der Übersetzer königlich belohnet worden. Eine goldene Dose ist der Be-
weis von des Monarchen Zufriedenheit gewesen und hat meinen Mann in Ent¬
zückung gesetzt. Lassen Sie sich alles dieses von seiner Feder viel weitläufiger,
viel prächtiger erzählen; darzu bin ich nicht geschickt genug; wissen Sie doch
nun das Wesentlichste." Sie hatte ganz recht; Gottsched würde in ganz an¬
deren Ausdrücken über ein solches Geschenk berichtet haben. Frau Gottsched
aber konnte mit umso besserm Rechte über des Gatten Eitelkeit scherzen, als
sie selbst sich ganz frei davon wußte.
Sie wußte sehr wohl den hohen Beweis kaiserlicher Gnade zu schätzen,
als sie an dem Hofe Maria Theresias als „die gelehrteste Frau Deutschlands"
gefeiert wurde, und der Kaiserin huldvolle Worte hat sie stets in dankbarem
Andenken behalten; aber bei der Vorstellung am Hofe selbst war sie bescheiden
und zum Schrecken ihres Gatten offen genug, seiner ihre Sprachkenntnisse auf¬
zählenden Beantwortung der Fragen, wie viel Sprachen Frau Gottsched ver¬
stehe, die Bemerkung hinzuzufügen: „Eigentlich keine recht!"
Gewiß hielt Frau Gottsched das Geschenk der Kaiserin, eine „brillantne
Prunknadel von besonderer Erfindung, die von Kennern auf die tausend Thaler
geschätzet ward," in großen Ehren, aber mit dieser „Prunknadel" zu prunken,
lag ihr ganz fern. Der Gatte berichtet: „Der weiblichen Neigung zu kost¬
barem Putze, vielem Geschmeide und prächtigen Kleidern war sie gar nicht er¬
geben; ja selbst das Kleinod aus den Händen der Kaiserin, womit sie billig
hätte prangen können, hat sie in ihrem Leben kaum drei oder vier mal an das
Haupt gestecket. Nichts war ihr lieber, als eine ungekünstelte, einfache und
reinliche Tracht."
Wie sehr sich ihre Bescheidenheit mit einem berechtigten Selbstgefühl ver¬
trug, zeigte Frau Gottscheds Verhalten gegen Voltaire. Eine Freundin der
Franzosen war sie ja überhaupt nicht, und wie sie insbesondre über die Fran¬
zosen an König Friedrichs Hose dachte, das hat schon oben eine Stelle aus
der Vorrede zu ihrer Übersetzung des „Lockenraubes" gezeigt. Wie sie aber
bei einem Besuche Voltaires in Leipzig sich diesem gegenüber benommen hat,
das muß jedem guten Deutschen noch heute eine patriotische Freude bereiten.
Wir hören sie darüber am besten selbst berichten in zwei Briefen an Frau
vou Nunkel.
Am 4. April 1763 schreibt sie: „Aber etwas ganz Neues. Voltaire ist
hier; er ist selbst hier, ganz gewiß! Er stieg bei dem Herrn Breitkopf ab. Ich
wußte es, wollte mich aber nicht sehen lassen, weil mein Freund ^so nennt Frau
Gottsched ihren Gatten sehr oft) ausgegangen war und ich seinen Entschluß
erwarten wollte. Er kommt, Herr Vreitkopf führet ihn zum Voltaire hinein;
dieser fraget, ob es in Leipzig bequeme Zimmer gäbe. Oui, Nonsisur, js Vou8
MönsrN äWS uns audsrAö, on Vous se-rW xaMitsinsut visu . . . Man
ging hierauf mit dem ganzen Gefolge fort; der blaue Engel hatte die Ehre,
diesen Gast aufzunehmen. Voltaire hätte vielleicht lieber bei einem Dichter
geherberget; allein es war allerlei dabei zu bedenken, davon mein Herr und
seine Frau schon lange vorher geredet hatten. Er ist krank, und ob er gleich
nicht so krank, als er sich stellet, so ist er doch eine gebrechliche Maschine, un,
Iroininö eiisss, <mi g. 1s MÄlusrir ä'avoir 60 ans. Ich habe ih» noch nicht
gesehen; er geht nicht aus, weil er kränker thut, als er ist, und ein Buch wider
Maupertuis und wider die ganze Welt will drucken lassen. Mein Mann besucht
ihn täglich und findet mehr Tugend, Gelehrsamkeit, Gründlichkeit und Billigkeit
gegen die Deutschen bei ihm, als er gedacht hätte. Wo ich ihn nicht eher sehe,
so geschieht es künftigen Donnerstag, da wir zusammen nach Meuselwitz swohin
Voltaire von dem Grafen von Seckendorff eingeladen war^ fahren, tout VoItsM
<zu'i1 oft>, weis; ich wohl, mit wem ich unendlich lieber dahin führe."
Am 18. April berichtet sie weiter: „Alles ist zu seiner Abreise von hier
veranstaltet, ich habe ihn noch nicht gesehen, und das geht so zu: er hat bisher
noch immer den Kranken vorgestellt, und ich eine Person, die eigensinnig genug
ist, diesen Kranken in seinem Quartiere nicht zu besuchen. Sein Sekretair ver¬
trat also die Stelle eines Gesandten. Er bekam allemal ebensoviel Klagen über
den Unstern, daß ein paar so außerordentliche Leute einander nicht kennen
lernen sollten — dieses war sein Ausdruck — mit zurücke, als er mir über¬
bracht hatte. Endlich bestimmte ich diesem eingebildeten Kranken den Tag, wenn
ich wollte gesehen seyn und ihn bey mir sehen. Lachen Sie nicht über diesen
verwegenen Ausdruck! Ich mußte bey dieser Gelegenheit die Ehre der Deutschen
behaupten, denen die Franzosen alle Kraft zu denken absprechen, und ich wollte
den Stolz eines Voltaire nicht vermehren. Eine ausgesuchte Gesellschaft sollte
diesen Tag bey uns speisen, und ich hatte mich gefaßt gemacht, ihn mit fran¬
zösischer Höflichkeit zu empfange». Wer aber außenblieb, war der Herr von
Voltaire, und wer über diesen Eigensinn böse ward, bin ich. Nunmehr setzte
ich mir vor, mich nicht sehen zu lassen, er möchte kommen, wenn er wollte.
Dieses habe ich gehalten, und bey seinem Abschiede, den er in aller Form ge¬
nommen hat, bin ich nicht zum Vorschein gekommen. So bin ich denn wie
viele Adamskinder Schuld an meinem Verlust, einen Voltaire nicht gesehen zu
haben."
Die letzten Lebensjahre der Frau Gottsched waren leider trübe und kummer¬
voll. Ihre Gesundheit war durch ihren rastlosen Fleiß erschüttert, und wenn
sie, die überarbeitete und geistig abgespannte, Schwermutsanfällen zur Beute
wurde, so verordnete ihr der kurzsichtige Gatte als Heilmittel neue Arbeit.
Immer wußte er ihr neue Aufgaben zu stellen, und man erstaunt, wenn man
nach ihrem Tode erzählen hört, welche riesenhaften Aufgaben sie für ihn auf
sich genommen hatte, ohne daß ihm auch nur der Gedanke kommt, daß sie durch
so übermäßiges Arbeiten ihre Gesundheit untergraben habe. So nennt er es,
ohne sich die geringsten Bedenken zu machen, nur eine „Probe ihres unsäglichen
Fleißes, die allen, so sie sehen, als ein Wunder vorkommen muß," als er sie
veranlaßt hatte, ein Goldastische Abschrift der jetzt in Paris befindlichen Minne¬
sängerhandschrift, die er nur für kurze Zeit aus der Bremer Stadtbibliothek
geliehen bekam, für ihn abzuschreiben. Er rühmt, daß sie „diesen stattlichen
Folianten mit aller kritischen Richtigkeit" abgeschrieben und „diese mühsame
Arbeit vom 23. März 1734 bis zum 11. Mai desselben Jahres, also inner»
halb sechs Wochen und drei Tagen," vollendet habe.
Frau Gottscheds Gemüt niederzudrücken, vereinigten sich aber mit der
geistigen Übermüdung noch gar andre Umstände. Zunächst empfand sie aufs
schmerzlichste die Plagen, mit denen der siebenjährige Krieg Leipzig und Sachsen
überhaupt heimsuchte. Sie haßte Preußen und den König Friedrich den Großen
ebenso sehr, wie sie die Kaiserin Maria Theresia verehrte und liebte. Selbst
eine Anerkennung ihrer Leistungen von feiten des großen Königs konnte ihren
Sinn nicht ändern, ihr Gemüt nicht erheitern.
Im Jahre 1767 hatte Gottsched auf Verlangen des Königs diesem auch
Proben von den Arbeiten seiner Gattin vorlegen müssen. Wie sie aber die
anerkennenden Urteile des Königs aufnahm, berichtet Gottsched mit folgenden
Worten: „Als ich des folgenden Tages die vorteilhaften Urteile dieses Monarchen,
darauf jeder andere witzige Kopf stolz geworden seyn würde, mit nach Hause
brachte, nahm sie dieselben doch sehr kaltsinuig auf und änderte ihre Gesin¬
nungen im geringsten nicht. Alles, was preußisch war, floh und haßte sie aufs
äußerste."
Und an Frau von Nunkcl schrieb sie am 4. Februar 1768, nachdem ihr
Gatte die schon erwähnte Dose geschenkt erhalten hatte: „Es gab eine Zeit, da
mich die Huld der Großen auch rührte. Wie viel empfand mein Herz beym
Anblick der Kaiserin? Wie viel bey ihren Gnadenbezeigungen? Wie stolz
war ich damals auf das Glück, die Kaiserin zu sehen? Wie gerührt war ich
bey der Unterredung, welcher mich diese über ihre Kronen erhabene Frau
würdigte! Mit eben dem lebhaften Gefühl der Dankbarkeit würde ich einen
ledernen Handschuh von der schönsten Hand, die jemals Zepter geführt, ange¬
nommen und als ein Heiligtum verwahrt haben, als ich nachher die prächtige
Haarnadel empfing, darüber ich meine Empfindungen auszudrücken nicht ver¬
mögend war. Jetzt rührt mich nichts mehr. Selbst Geschenke der Großen
würden mir jetzt wenig oder gar keine Freude verursachen. So schüchtern hat
mich der Krieg, der unselige Krieg, gegen alle dergleichen Gnadenzeichen gemacht.
Was für Vorgänge könnte mir z. B. eine goldene Dose aus der Hand eines
Monarchen erwecken, der meinen Mitbürgern ebenso furchtbar als groß ist?
Aber was hilft mir mein Patriotismus? Er trägt meinem Arzt und dem
Apotheker mehr von mir ein, als er mir selbst Nutzen bringt."
Ein andrer Gram zehrte im Stillen an Frau Gottscheds Herzen; sie
wußte seit 1763, daß sie gegründete Ursache hatte, an der Treue ihres Gatten
zu zweifeln. Nur ihrer besten Freundin, der Frau von Runkel, hat sie ihr
Herz ausgeschüttet, diese aber hat bei der Veröffentlichung der Briefe ihrer
Freundin gerade die betreffenden Briefe weggelassen.
So lohnte ihr ein Mann, dem sie in ihrer Treue Gesundheit und Leben
aufgeopfert, für dessen Ruhm sie gearbeitet, für dessen Ruhm sie gezittert hatte,
als sie sah, daß seine litterarischen Gegner immer mehr Einfluß gewannen,
während ihr Gatte von der hohen Stellung, die er in Gelehrten- und Dichter¬
kreise eingenommen, immer tiefer herabsank. In zärtlicher Sorgfalt hatte sie
Schriften, in denen ihr Gatte angegriffen wurde, ihm verheimlicht, um ihm
Kummer zu ersparen; umso größer war ihr Kummer, als sich nichts mehr
verheimlichen ließ. Einen tiefen Blick in ihr sorgengequültes, nur auf das Wohl
und die Ehre des Gatten bedachtes Herz gewährt einer ihrer Briefe an den
Grafen Manteuffel, wo sie von einer erst nach Überwindung zahlreicher Hin¬
dernisse durchgesetzten Beförderung des Professor Winkler in Leipzig berichtet.
Sie schreibt da: „Die ganze Akademie beneidet Professor Winklern den mäch¬
tigen und fast unerhörten Beystand, den er in dieser Sache bei den Großen
erhalte. Ich beneide nicht ihn, sondern seine Frau. Es muß unfehlbar ein
großes Vergnügen seyn, einen Gatten zu haben, dessen Verdienste um das
gemeine Wesen wider alle Anfälle so gewaltig beschützet werden, und ich wüßte
sehr wohl, wem ich ein gleiches Glück wünschen würde, wenn nicht schon seit
langer Zeit die billigsten Wünsche die fruchtlosesten wären."
Am 26. Juni 1762 starb Frau Gottsched nach langem Leiden. Der Tod
kam ihr erwünscht. Noch am 10. Juni hatte sie Frau Runkcl durch ihre Nichte
schreiben lassen: „Liebste Freundin, diesesmal muß ich mich einer fremden Hand
bedienen, um Ihnen zu sagen, daß ich zu allem untüchtig bin. Erschrecken Sie
nicht; freylich bin ich matt, sehr matt, aber nach Aussage des Arztes soll ich
meinem Ende noch nicht so nahe sein, als ich es wünsche."
Und wer wollte ihr verdenken, daß sie sich nach ihrem Ende sehnte! Ihre
Krankheit war so wenig zu heilen, wie die Ursachen derselben ungeschehen zu
machen. Von diesen Ursachen aber sagt sie selbst in einem Briefe an die ver¬
traute Freundin: „Sie fragen nach der Ursache meiner Krankheit? Hier ist
sie. Achtundzwanzig Jahre ununterbrochener Arbeit, Gram im Verborgenen
und sechs Jahre lang unzählige Thränen sonder Zeugen, die Gott allein hat
fließen sehen."
Gottsched schloß die 1763 veröffentlichte Lebensbeschreibung seiner Gattin
mit den Versen:
Du hast mein ganzes Herz besessen:
Hinfort besitzt es keine mehr.
Das hielt ihn aber nicht ab, sich am 1. August 1765 wieder zu vermählen,
und zwar mit Ernestine Susanne Katharine Neueneß, „einer Jungfer Oberst¬
leutnantin," wie der Student Goethe schreibt.
ur noch wenige Woche» trennen uns von den Urwcihlcn für den
Landtag, und die Parteien haben begonnen, ihre
Stellung dazu deutlicher kundzugeben. Zunächst haben die Deutsch-
konservativen, bei denen die Hochkirchlichen den rechten Flügel
einen Wahlaufruf veröffentlicht, von dem man sagen
muß, daß er sich geschickt mit der gegebenen Lage der Dinge abzufinden weiß.
Er spricht zuvörderst die Befriedigung der Partei über die Verheißung des
Kaisers und Königs aus, nach welcher er im Geiste seines verewigten Gro߬
vaters zu regieren beabsichtigt, und wendet sich dann zu unsrer großen Freude
an die Parteien, die zur Erhaltung eines starken monarchischen Regiments, zur
Pflege der Vaterlandsliebe und zur Wahrung christlicher Zucht und Sitte (bei
dem Worte „christlich" darf man wohl an den sehr zeitgemäßen Artikel denken,
den die Kreuzzeitung vor kurzem über den bedenklichen Einfluß des Judentums
auf unsre Zustände brachte) zusammengetreten waren. „Deutschlands Fürsten,
welche sich bei der Thronbesteigung einmütig um Kaiser Wilhelm II. scharten,
mögen den preußischen Wählern ein leuchtendes Vorbild rücksichtsloser Hin¬
gebung an das Vaterland auch bei der bevorstehenden Wahl sein." Das so¬
dann entwickelte Programm erklärt die Gewerbesteuer für veraltet und erhebt
gegen die Grund- und Gebändesteuer den Vorwurf, sie wirkten umso drücken¬
der, als der Grundbesitz immer geringere Erträge abwerfe. Die Frage über
die Reform der Klassen- und Einkommensteuer wird nur mit der Bemerkung
berührt, daß sich das Einschätzungsverfahren als unzureichend erwiesen habe.
Dagegen wird eine weitere Entlastung der gemeindlichen Verbände durch Reichs¬
hilfe verlangt. Für den Erlaß einer Landgemeindeordnung soll kein Bedürfnis
vorliegen. „Die Freiheit der Entwicklung unsrer ländlichen Verhältnisse ist
gegenwärtig in keiner Weise behindert; sie ruht vielmehr auf gesunder Grund¬
lage; jedoch soll da, wo Landgemeinden und selbständige Gutsbezirke örtlich
gemeinsame öffentliche Aufgaben zu erfüllen haben, die Möglichkeit geboten
werden, auch bei Widerspruch der Beteiligten statutarisch gemeinsame Einrichtungen
ins Leben zu rufen." Mit besondrer Spannung erwarteten wir die Auslassungen
der konservativen Partei in Bezug auf die Volksschule und die Macht der Kirche.
Der Aufruf sagt in diesen Beziehungen: „Die konservative Partei tritt im
Interesse der religiös-sittlichen Jugenderziehung und im Anschlusse an die ge¬
schichtliche Entwicklung für die konfessionelle Volksschule ein, sie kann aber zu
einer gesetzlichen Regelung des Verhältnisses der Kirche zur Schule, wie sie
der Antrag der Zentrumspartei fordert, die Hand nicht bieten. Das Verlangen
der evangelischen Kirche nach einer Dotation halten wir, wiederholten Zusagen
entsprechend, für ein gerechtes. Ebenso glauben wir, daß der Staat in der
Lage ist, solche Wünsche der evangelischen Kirche nach freier Bewegung zu
erfüllen, welche durch deren geordnete Organe ausgesprochen worden und ein
Zusammenwirken von Staat und Kirche zu fördern geeignet sind." Das
deutschkonservative Wahlprogramm ist also gemäßigter, als viele erwartet habe»
werden, und keineswegs von der Art, daß es nicht zur Partei gehörige Wähler
abschrecken müßte, dem konservativen Kandidaten seines Wahlkreises, wenn die
eigne Partei keine Aussichten hat, seine Stimme zu geben. Überdies soll es
den nationalliberalen Wählern in einzelnen Bezirken auch sonst erleichtert werden,
für den konservativen Bewerber um das Mandat zu wirken.
Was die Aussichten der Partei betrifft, so scheinen sie in den östlichen
Provinzen gut zu sein. Doch wird ein kleiner Ausfall von Stimmen, der hie
und da von Wichtigkeit werden kann, wahrscheinlich eintreten, wenn die Ber¬
liner Börsen-Zeitung mit der Nachricht Recht hat, daß die Berliner Leitung der
antisemitischen Partei beschlossen habe, ihren Mitgliedern in den verschiedenen
Wahlkreisen zu empfehlen, sich bei den Abgeordnetenwahlen der Abstimmung
zu enthalten. Das Blatt will die Sache „ aus einer in diesen Angelegenheiten
stets aufs beste unterrichteten Quelle" haben, giebt aber keinen Grund für
diesen Beschluß an, und auch wir vermögen uns ihn nicht zu erklären. Nehmen
wir die Nachricht aber als Thatsache an, so hätte sie immerhin einige Be¬
deutung, wenigstens für die großen Städte. Mögen die Antisemiten, wenn sie
als selbständige Partei auftreten und ihre eignen Kandidaten aufstellen, keinen
sehr imponirenden Eindruck machen, so können sie da, wo sie sich einer andern
Partei anschließen, deren Wählerzahl bedeutend verstärken, ja ihr unter Um¬
ständen zum Siege verhelfen. Im sechsten Berliner Wahlkreise z. B. gaben sie über
4000 Stimmen ab, mehr als die hier allerdings schwachen Kartellparteien
zusammengenommen, die, wenn die Antisemiten mit ihnen gestimmt hätten,
wenigstens stärker gewesen wären als die Deutschfreisinnigen. Bei den vorher¬
gehenden Wahlen standen nun die Antisemiten immer auf der Seite der Kon¬
servativen, und es darf vermutet werden, daß deren Kandidaten in einigen
Fällen ihren Erfolg ihnen zu verdanken hatten, und so wäre es hier, wenn sie
jetzt nicht zur Urne gingen, nicht unmöglich, daß die Gegenkandidaten siegten,
zumal da das Kartell mit den Nationalliberalen zwar nicht geradezu aufge¬
hoben ist, aber doch einigermaßen gelockert erscheint. Es ist also thörichter
Parteigeist, wenn die Antisemiten eigne Kandidaten aufstellen, es ist dieselbe
Thorheit, wenn sie ihr Wahlrecht nicht benutzen; sie müssen sich am Tage der
Wahl, wenn sie verständige Leute sein wollen, einer der großen Parteien
anschließen, und von diesen steht ihnen die konservative unbestreitbar am
nächsten. Wir empfehlen ihnen daher, wenn jener Beschluß der Führer, sich
der Wahl zu enthalten, wirklich gefaßt und als Weisung an die Parteigenossen
im Lande ergangen ist, sich die möglichen Folgen desselben ernstlich zu über¬
legen und sich nicht an ihn zu kehren, sondern wie früher mit den Konserva¬
tiven zu stimmen.
Wir haben uns in der letzten Zeit vorzüglich mit der Stellung der Mittel-
Parteien, namentlich mit der der Nationalliberalen, zu den Konservativen
beschäftigt. Werfen wir jetzt auch einen Blick auf das Verhältnis der poli¬
tischen Freunde Bennigsens und Miquels zu den Deutschfreisinnigen, so ist das
Auftreten der letztern von Anfang an derart gewesen, daß von einem Zu¬
sammenwirken der beiden Parteien niemals die Rede sein konnte. Die bis zur
äußersten Erbitterung gesteigerte Gegnerschaft derselben hatte ihre letzten Gründe
aber nicht so sehr in persönlicher Abneigung als in der gänzlich verschiedenen
Stellung, die sie zur praktischen Politik und insbesondre zum Fürsten Bismarck
einnahmen, indem die Nationalliberalen den Fürsten im Verein mit den Kon¬
servativen unterstützten, die Deutschsreisinnigen ihn im Bunde mit andern
Gegnern, selbst mit dem Zentrum, nach Kräften befehdeten und hinderten. Jetzt
scheint sich Nachrichten und Andeutungen zufolge, die sich wiederholen, inner¬
halb des deutschfreisinuigen Lagers ein Prozeß vorzubereiten oder bereits zu
vollziehen, der zu einer Scheidung der in ihm vereinigten Elemente führen
könnte. Es ist nicht unbekannt, daß die ehemaligen Sezessionisten, als sie sich
der Richterschen Partei anschlössen, nicht völlig in ihr aufgingen, und es ist
ebensowenig ein Geheimnis, daß die Führer derselben nicht daran dachten,
die Rolle systematischer Opposition für alle Zeiten zu übernehmen, vielmehr
der Hoffnung lebten, binnen kurzem an die Regierung zu kommen, Minister,
Staatssekretäre, Oberpräsidenten u. s. w. zu werden. Mit andern Worten: wenn
sie sich in die Gesellschaft des Führers der grundsätzlichen Bekämpfung der Negie¬
rung, sei sie, wie sie wolle, begaben, so geschah es nur auf Zeit, mit stillschwei¬
gendem Vorbehalt und in der Voraussetzung, daß dies nichts als ein Über¬
gangszustand sein werde. Diese Hoffnung, die von den Wählern der betreffenden
Abgeordneten geteilt wurde, indem sie von ihrer Erfüllung ebenfalls Vorteile
Beförderung im Amte, sonstige Begünstigung persönlicher Interessen, etwa durch
Weiterführung der Laskerschen Gesetzgebung u. a. erwarteten, erlosch mit dem
Ableben Kaiser Friedrichs für absehbare Zeiten, und so ist es nicht unnatürlich,
wenn, wie versichert wird, „zahlreiche Wähler (von den Führern ist noch nicht
die Rede) sich die Freiger vorlegen, ob sie es unter den veränderten Umständen noch
verantworten können, eine Partei zu unterstützen, welche die Regierungspolitik in
Verbindung mit dem Zentrum immer nur bekämpfen wird, oder ob es ihren Über¬
zeugungen (nach dem Obigen richtiger, ihrem persönlichen Bedürfnisse und Vor¬
teile) nicht besser entspricht, wenn sie sich der gemäßigt liberalen Partei zuwenden
und dadurch das Gewicht verstärken, welches diese für die parlamentarische Beein¬
flussung der Negierung in die Wagschale zu werfen vermag." Derartige Betrach¬
tungen scheint man n, a, in verschiednen Kreisen der deutschfrcisinnigen Partei in den
östlichen Provinzen angestellt zu haben, und in Königsberg ist man bereits zu darauf
gegründeten Beschlüssen hinsichtlich der bevorstehenden Landtagswahl gediehen.
Dort vereinigten sich im Februar des letztverflossenen Jahres schon Konservative,
Nationalliberale und eine ansehnliche Zahl verständiger Wähler, die weiter
links standen, zur Beseitigung der sozialdemokratischen Vertretung der alten
Krönnngsstadt, und der Zweck der Verständigung wurde erreicht. Im preußischen
Landtage saßen seit lange als Vertreter der Stadt zwei Angehörige der
Richterschen Genossenschaft und ein Nationalliberaler. Der letztere, Herr Kieschke,
begann in der Zeit, wo sich die Fusion vollzog, zu schwanken und trat schließlich
aus dem Verbände der nationalliberalen Partei aus, um sich bald nachher dem
der deutschfreisinnigen zuzuwenden. Vor einigen Wochen hat er auch dieser
wieder den Rücken gekehrt — wohl ein Zugeständnis, das der offenkundig
gewordenen Veränderung in den Meinungen seiner Wähler gemacht worden ist.
Jedenfalls wirkte dieser Schritt als abfällige Beurteilung der Partei, welcher
der Herr Abgeordnete im Landtage zuletzt angehört hatte, und wurde Ver¬
anlassung, daß andre, die an dem radikalen Liberalismus ebenfalls den Ge¬
schmack verloren hatten, sich vereinigten und auf die Sammlung von Ge¬
sinnungsgenossen zu praktischen Zwecken Bedacht nahmen. Je mehr dies gelang,
desto mehr wuchsen Selbstgefühl und Entschlossenheit, und anderseits, je
mehr die Führer der Deutschfreisinnigen ihre Stützen zusammenschmelzen sahen,
desto eigensinniger hielten sie an ihren Ansprüchen fest — eine Erscheinung,
die beiläufig bei dieser Partei so oft beobachtet worden ist, daß sie als Regel
zu gelte» hat. Damit ist wohl die Thatsache genügend erklärt, daß in der
„Königsberger Allgemeinen Zeitung" jetzt bekannt gemacht wird, die Ver¬
handlungen zwischen den gemäßigten und den radikalen Liberalen seien ohne
Ergebnis geblieben, und die andern beabsichtigten angesichts des deutschfrei¬
sinnigen Parteitags, der am 8. und 9. d. M. in Königsberg abgehalten werden
sollte, demnächst für die Stadt drei Wahlkandidaten ihres politischen Glaubens¬
bekenntnisses aufzustellen. Das hat gewiß nicht bloß sür die Hauptstadt Ost-
Preußens, sondern auch für viele andre Orte der Provinz, denen sie bisher
Muster und Vorbild war, seine Bedeutung. Zum erstenmale seit Herr Rickert
die Nationalliberalen dieser Gegend zum Abfalle, zum Radikalismus bewogen
hat, geschieht es, daß der Rückweg in das alte Lager ins Auge gefaßt, und daß
öffentlich ausgesprochen wird, er solle angetreten werden. Der Terrorismus
Richters, der die Partei bisher zusammenhielt, wird weiter geübt, aber nicht
mehr, wie bis jetzt, von allen Mitgliedern weiter ertragen werden. Auf alle
Fälle ist ein Anfang zum Bessern zu bemerken, der Fortgang hoffen läßt und
der nationalliberalen Partei die Aussicht eröffnet, ihre Stützen auch im Osten
mit der Zeit wieder in wünschenswerten Maße zu verstärken. Das ist an
sich sicherlich recht erfreulich, wenigstens für die Partei als solche: sie gewinnt
Stimmen und Mandate und mit diesen äußerlich an Macht und Einfluß.
Aber die Sache hat auch ihr Bedenken. Nicht immer ist Wachsen der Zahl
auch wahre Stärkung. Die anscheinend Bekehrten, welche zu dem alten Panier
zurückzukehren Anstalt machen, mögen wirklich ihren Irrtum eingesehen haben,
sie können aber auch nur den veränderten Umständen, die sich wieder einmal
ändern können, Rechnung getragen haben und, wie man zu sagen pflegt,
unsichere Kantonisten sein, mit denen für die Dauer weniger gewonnen als
verloren ist, insofern sie die Einheit der Partei stören können, die durch sie
allmählich wieder in einen rechten und einen linken Flügel zerfallen kann. Jeden¬
falls sind sie lange genug in schlechter Gesellschaft gewesen, um solche Befürchtung
zu rechtfertigen. Es ist zwar mehr Freude im Himmel über einen Sünder,
der Buße thut, als über neunundneunzig Gerechte, und wir wollen uns mehr
den Vater als den Bruder des Verlornen Sohnes zum Muster nehmen. Die
Nationalliberalen mögen den Zurückkehrenden den Heimweg möglichst er¬
leichtern, aber nicht vergessen, daß Vorsicht geboten ist, und daß keine Opfer an
Überzeugungen gebracht werden dürfen. Die wiederkehrenden Sezcssionistcn
werden sich, mag ihre Zahl auch noch so groß sein (wir erwarten für die
nächste Zeit nicht, daß sie bedeutend sein wird), der nationalen Idee mit ihren
Folgerungen streng unterordnen müssen und nichts von ihrem bisherigen Glauben
mitbringen und beibehalten dürfen, wenn sie als nützliches Element wieder in
die Partei aufgenommen werden sollen. Ohne Erfüllung dieser Bedingung
besser draußen als drinnen. Das verlangt schon die Betrachtung der Sache
vom Standpunkte des Partciinteresses. Noch mehr aber gebietet es das Be¬
dürfnis des Staates und der Nation, denen die Partei, wie sie sich in der letzten
Zeit gestaltet hat, mit Aufgebung früherer Ansprüche zu dienen entschlossen ist.
Ein Wahlprogrcimm hat die Partei bis zu dem Augenblicke, in dem wir schreiben,
noch nicht veröffentlicht, doch ist der Oberbürgermeister Miquel, jetzt nachdem
Bennigsen infolge seiner Ernennung zum Oberpräsidenten von der Parteileitung
selbstverständlich zurückgetreten ist, der erste Führer der Genossenschaft, mit der
Abfassung eines solchen beschäftigt. Diese Arbeit scheint nicht leicht zu sein.
Man befindet sich offenbar in Verlegenheit, für welche Marschrichtung bei der
Wahlbewegung man sich entscheiden soll, man ist sich nicht recht klar darüber,
welche die meisten Vorteile verheißt und die wenigsten Verluste befürchten
läßt, man weiß nicht ganz sicher, ob Bennigscns Beförderung zu einem der
höchsten Ämter der Verwaltung den Beginn einer neuen liberalen Ära
bezeichnet, und man ist wohl nicht einmal darüber völlig im Klaren, ob die
Negierung, deren Wohlwollen für die Förderung der Zwecke der Partei nicht gut
zu entbehren ist, ein selbständiges Auftreten, wodurch die deutschkouservative
Partei Verluste erleiden könnte, billigen würde. Von dem Hauptblatte der
halbamtlichen Presse ist allerdings zwischen den Konservativen, die aus der
Kreuzzeitung und dem Reichsboten reden, und den übrigen ein Unterschied ge¬
macht und erstem vorgeworfen worden, sie hätten für das nationale Bedürfnis
keinen Sinn und deshalb keinen Anspruch auf die Leitung der Partei. Indes
sind diese Elemente dadurch nicht hinausgedrängt worden, und wenn von Rauch¬
haupt, der das Kartell mit den Nationalliberalen für überflüssig erklärte, und
von Hammerstein, der die evangelische Kirche vom Staate ablösen möchte, den
Wahlaufruf der Deutschkvnservativen unterschrieben haben, so wissen die National¬
liberalen in der That nicht, wie sie mit der Partei als Ganzes daran sind.
Jedenfalls hat sie zwei Seelen, und darnach werden die Nationalliberalen wahr¬
scheinlich ihr Verhalten einrichten.
Die Deutschfreisinuigen haben schon am 28. August etwas vom Stapel
gelassen, was wie ein Wahlprogramm aussieht, aber ein so schwächliches Mach¬
werk ist, daß es nicht lohnt, es auch nur mit einigen Zeilen zu charakterisiren,
zumal da Eugen Richter selbst kurz vorher in seiner Zeitung selbst zugegeben
hatte, seine Partei habe im preußischen Landtage nicht viel Ansehen mehr zu
verlieren. Ist also die unmittelbar bevorstehende Veröffentlichung des Wahl¬
aufrufs der gemäßigten Liberalen erfolgt, so ist nnr noch die Partei mit dem
ihrigen im Rückstände, welche die Fraktion des Zentrums ins Abgeordnetenhaus
sendet. Sie hat es erfahrungsmüßig mit solchen Dingen nicht eilig, da ihre
Losungsworte auf den Katholikentagen und im Verkehr der Pfarrer und Kapläne
mit ihren Gemeinden ausgeteilt werde». Ob die große Masse sich dabei etwas
denkt und die letzten Zwecke, die der leitende Politiker der Partei im Auge hat,
begreift, ist diesem und seinem engern Rate gleichgiltig. Wenn nur in seinem
Sinne gewählt wird, und das geschieht und wird so lange geschehen, als es
eine im Reiche geeinigte Nation geben wird. Zuni Glücke hat diese aber einen
breiten Rücken, mit dem sich die Sache ohne viel Not ertragen läßt, wenn die
übrigen Parteien fest zur Regierung halten.
le alte Hauptstadt Rom, die dem Reiche seinen Namen ver¬
liehen hat, besaß ein natürliches Recht auf Herrschaft, auf
weltliche, so lange das Staatswesen vorwaltete, auf geistliche, als
dieses zerfiel, als die Kirche zum Mittelpunkte des Lebens wurde
und die Einheit von Kultur und Gesittung darstellte. Weltliche
und geistliche Überlieferung wirkten zusammen, denn Rom galt nicht nur als
Stadt des Romulus und Remus, sondern ebenso als erster Apostelsitz, geheiligt
durch den Martertod des Petrus und Paulus,
Nicht hoch genug ist die Bedeutung des Ortes für die Entwicklung der
geistlichen Oberhirten anzuschlagen. Nachdem der Zauber seiner Weltstellung
erloschen und der altehrwürdige Senat zu einer Gesellschaft biederer Stadt¬
räte hinabgesunken war, blieb Rom doch immer noch ideeller und geographischer
Mittelpunkt Italiens, eine der volkreichsten Gemeinden, prangend im bau-
künstlerischen Schmuck einer vergangenen Größe, die durch das Ruinenhafte und
durch christliche Umdeutung nur umso ehrwürdiger erschien. Nirgends trat
das Nömertum, das allmählich mit der Rechtgläubigkeit zusammenzufallen begann,
überwältigender zu Tage. Hier thronte die kaiserliche Gewalt oder hatte hier
gethront, stummberedt klang rings die Erinnerung, nach Rom kamen die reg¬
samsten Köpfe, und wer etwas zu genieinsamer Kenntnis bringen wollte, hatte
es von dort zu verkünden. Die Bauthätigkeit der alten Welt erreichte mit den
Mauern Aurelians und den Thermen Diokletians und Konstantins ihr Ende,
wofür sich jetzt Kirchen und Kapellen erhoben, anfangs einfach und dürftig,
allmählich reich und prunkhaft; vor allen die berühmten Basiliken Se. Johanns
vom Lateran, Se. Peters vom Vatikan und Se. Pauls vor den Mauern. Die
aufkommende Heiligen- und Märtyrerverehrung mehrte ihre Zahl außerordentlich,
und in den Katakomben, den snburbikarischen Grabstätten, erwuchs ein zweites
unterirdisches, rein christliches Rom, das sich in einem Kreise von fünfzehn bis
dreißig italienischen Meilen um die Stadt erstreckte, vom dritten Meilensteine
gerechnet, gelehnt an die Land- und Heerstraßen. Unzählige Bekenner und
Gläubige lagen dort begraben, ein Anziehnngsgrund für fromme Pilger, die
bald aus der weiten Welt nach Rom zusammenströmten, jeder bestrebt, kostbare
Reliquien heim zu bringen. Als echte oder für echt gehaltene nicht nichr
genügten, wurden andre untergeschoben; der Reliquienhandel, und zwar mit
durchweg gefälschter Waare, kam so in Aufschwung, daß gesetzlich dagegen ein¬
geschritten werden mußte. Immerhin war es wichtig, daß die Heiligenver¬
ehrung die ewige Stadt zum Mittelpunkte machte, und sie die Möglichkeit
besaß, den Ansprüchen zu genügen.
Schon an ihre ersten Apostel hat sich der Zweifel geheftet. Vielen erscheint
nur der Aufenthalt des Paulus verbürgt, der des Petrus bloß möglich oder
wahrscheinlich. In der Wirkung blieb es gleich, denn bald lebte man der
Gewißheit, daß die römische Gemeinde von Petrus und Paulus begründet sei
und beide unter Nero den Tod erlitten hätten. Spätere Jahrhunderte (zuerst
Paschalis II. um 1000) versetzten die Köpfe derselben als Wahrzeichen in die
Siegel der Päpste, ihrer Nachfolger, oder richtiger der des Petrus, denn er
galt als erster Bischof. Kraft des Wortes Christi im Evangelium: „Du bist
Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen" barg er die Fülle
apostolischer Gewalt und überlieferte sie den Trägern seiner Würde, obwohl
der Heiland die gleiche allen Jüngern zugesprochen hatte.
Jene Stelle bildete den Ausgangspunkt für die Meinung, daß ein innerer
Unterschied bestehe zwischen dem Bischof von Rom und den übrigen, daß ihm
Befugnisse zustünden, die andern fehlten, daß er einen Vorrang besitze, einen
Primat. Freilich die Patriarchen von Antiochien, Alexandrien und Jerusalem
konnten denselben Anspruch erheben, aber sie wirkten im Morgenlande ohne
die politische Bedeutung Roms. Dazu kam die Ausdehnung seines Sprengels.
Das römische Metropolitanrecht umfaßte die zehn Provinzen, die dem Vivariu3
urbis untergeben waren, d.h. die Inseln, Süd- und einen Teil von Mittel¬
italien. In den sonstigen Landschaften, dem der Vikarius von Italien gebot,
übte die zweite Stadt, die zeitweise Hauptstadt war, Mailand, seit dem heiligen
Ambrosius (374—397) eine ähnliche Gewalt, ohne sie behaupten zu können.
Denn im Laufe des „fünften Jahrhunderts zweigte sich der dritte Vorort
Ravenna ab mit der Ämilia. und schließlich auch Aquileja samt Venetien und
Jstrien. Der Gewinn solcher Schwächung Mailands kam natürlich Rom zu
gute, besonders als Mailand den Langobarden erlag, während man am Tiber
sich ihrer erwehrte. Trotzdem erhielt sich Mailand und zäher Ausdauer eigen¬
artig, denn noch im zehnten Jahrhundert wagte sein Hirt, sich den Titel
„Papst" beizulegen, und selbst die andern beiden Metropolen stellten sich
wiederholt neben, statt unter Rom.
Für Roms Kirchengeschichte bieten zu Ende des ersten Jahrhunderts die
Briefe des Clemens an die Korinther zuverlässigen Boden, und da bestand
noch kein Bistum. Erst siebzig Jahre später, unter Anicetus (155(?)—166),
findet es sich skizzirt, um dann beispiellos glücklich emporzuwachsen. Der
Drang nach Einheit, der monarchische Zug des Katholizismus, das Bedürfnis
eines entscheidenden Oberhauptes wirkten für Rom. Noch lag das Schwer¬
gewicht in der weltlichen Macht des Kaisertums, aus der Anbetung der heid¬
nischen Staatsreligion nahm es die Beherrschung der Kirche herüber, und nicht
das Abendland, sondern der Orient stand an der Spitze der religiösen Be¬
wegung. Fast alle Schlagworte der theologischen Kämpfe älterer Zeit sind
griechisch, während das Heidentum sich am Tiber geschichtlich festgewurzelt
behauptete. Aber gerade dieser erhaltende Grundzug lenkte die Angen dorthin,
umsomehr, als die geistliche Wärme der Orientalen mit verhängnisvoller
Neigung zu Hader und theologischer Spitzfindigkeit zusammenfiel. Sie zerrieben
sich dadurch und verloren an Wucht. Anders Rom, in ihm waltete weniger
der Trieb, die Lehre weiter- und umzubilden, als sie zu bewahren und nutzbar
zu gestalten. Nicht ein einzig wirklich dogmatisches Dekret der Päpste ist aus
den ersten vier Jahrhunderten überliefert. Dort im Orient herrschten Unruhe,
Mangel an Sicherheit, ein leidenschaftliches Tasten, Streben und Suchen; hier
in Rom Stetigkeit, durchweg kluge Benutzung der Umstände und eine wachsende
Fülle von Ansprüchen.
Unter diesen war schon früh der wichtigste, den höchsten geistlichen Rang
und als erstes Bistum Gewalt über die Christen zu gewinnen. Im Abendlande
bestand kein gleichwertiges, und so fand der Gedanke hier zuerst Anerkennung;
am wenigsten bei den Afrikanern, doch gerade sie bezwang der vandalische Feind.
Um die Zeit, als der römische Primat sich auszubilden begann, erklärte Kon¬
stantin der Große die Kirche zur Staatsreligion und verlegte seinen Herrschersitz
nach Byzanz, Das politische Schwergewicht kam damit an den Osten, doch
Rom wurde von der erdrückenden Uebermacht befreit, der päpstliche Heiligen¬
schein verblaßte nicht mehr vor dem Diadem des Imperators. Mehr und
mehr sonderten sich am Ende des vierten Jahrhunderts Abend- und Morgen¬
land, wobei jenes sich aus seiner theologischen Abhängigkeit zu lösen begann;
Hieronymus vermittelte ihm durch Uebersetzungen einen großen Teil der geist¬
lichen Schriften und ermöglichte dadurch Lehrentwicklung auch ohne Kenntnis
des Griechischen. Ambrosius und Augustin überragten alle Zeitgenossen, und
Augustin erklärte in kühner Gedankenfolge, daß die Kirche höher stehe als der
Staat, der Kaiser Diener und nicht Herr der Kirche sei. Freilich in Wirk¬
lichkeit nahm es sich anders aus.
Das Edikt des Kaisers. das 325 die Väter zum Konzil nach Nikäa
berief, stellte die Bischöfe von Rom, Zllexandrien und Antiochien auf gleiche
Stufe. Doch auch das wandelte sich, die alten Patriarchenstühle des Orients
wurden von der neuen Hauptstadt am Bosporus überholt. Wie Rom die
Hauptkirche des Abendlandes war, erwuchs Konstantinopel zu der des Ostens,
nur daß sie, emporgekommen durch den Kaiser, auch von ihm abhängig blieb.
Der römische Vorrang barg keine Befugnisse, sondern war rein moralischer
Art. Erst das Konzil von Sardika hat 343 diese Befugniß eingeleitet, und
zwar so recht heraus aus dem Gedanken des zuverlässigen, des ruhig thronenden
Felsen Petri. In den heftigen dogmatischen Kämpfen wurden zahlreiche
Bischöfe ungerecht beschuldigt und verdächtigt. Da sollte nun laut Konzil¬
beschluß jeder Verurteilte sich nach Rom wenden dürfen, das die Sache unter¬
suchen und der Synode einer Nachbarprovinz zu neuer Beratung anheimgeben
konnte. Das Konzil von Sardika wurde nicht allgemein anerkannt; um es
in Afrika durchzusetzen, berief man sich auf eine Abschrift der Beschlüsse von
Nikäa, der die von Sardika ohne Unterscheidung beigefügt waren. Diese
Vermischung scheint ursprünglich nicht auf bewußter Fälschung beruht zu haben,
aber als ihr Nutzen einmal vorlag, behielten die Päpste sie bei und gaben
ihr im Abendlande Verbreitung. Zu Hilfe kam ihnen die weltliche Macht.
Aus politischen Gründen gebot 380 Kaiser Theodosius, daß das Reich dem
Glauben anhangen solle, welchen der heilige Petrus den Römern verkündet
habe, ein Gesetz, das für Bekenntnis und Lehramt entscheidend wurde. Mehr
und mehr begann die dogmatische Thätigkeit der römischen Bischöfe; in den
heftigen Streitigkeiten über die Lehre Augustins von der Prädestination wurden
sie um Entscheidung angerufen. Sie gaben kluge Urteile mit Betonung ihrer
Pflicht für die Gesamtiirche. Schnell erweiterte sich der Geschäftskreis;
Damasus I. (366—384) und Innocenz I. (401—417) waren hervorragende
Männer. Nur noch ein Schritt verblieb bis zu dem Edikt Valentinians III.
(445), welches dem apostolischen Stuhle höchste gesetzgebende und richterliche
Befugnis überwies.
Wo waren jetzt die Zeiten, da ein Bischof von Korinth daran erinnern
durfte, auch seine Gemeinde sei gleich der römischen von Petrus und Paulus
gepflanzt, wo der Papst die Entscheidung über eine Irrlehre ablehnte, weil
er kein Recht zu selbstherrlichen Urteile besitze, wo karthagische Synoden ihn
an geziemende Demut erinnerten, sich alle Einmischung verbaten und die von
ihm gebilligte Erbsündenlehre feierlich verwarfen, wo ein Cypricin allen Aposteln
dieselbe Macht und Ehre zusprach wie Petrus, alle Bischöfe als gleichstehende,
gemeinsame Träger der unteilbaren Kirchengewalt bezeichnete, wo Sulpicius
Severus, ein geistlicher Eiferer, in seiner Kirchengeschichte nichts vom Primat
des römischen Bischofs wußte, und eine ökumenische Synode gehalten wurde,
die das Dogma vom heiligen Geiste feststellte (331), ohne daß der apostolische
Stuhl auch nur vertreten war. Ein neuer Abschnitt hatte begonnen: von
440—461 waltete Leo I., der früheste Papst von weltgeschichtlicher Bedeutung,
den die Kirche zugleich den Großen und den Heiligen nennen konnte.
Als die kaiserliche Macht in Italien zusammenbrach, als Hunnen und
Wandalen vorstürmten, trat Leo ihnen entgegen als Beschützer des Landes, als
Hort des Glaubens, richtete er an Stelle der weltlichen Gewalt helfend und
lindernd die väterlich geistliche empor, stellte er diese in den Mittelpunkt der
Ereignisse. In ihm sammelten sich die Strahlen, die bisher vereinzelt von
Rom her geleuchtet hatten. Seit dem 8. Oktober 451 tagte fern im Orient
die Synode von Chalkedon, deren Entscheidung wesentlich in päpstlichen Sinne
auffiel, selbst in der vielumstrittenen Frage nach der Person Christi. Die
Synode gestaltete sich dadurch zu einer Vereinigung von Abend- und Morgen¬
land, der Nachfolger Petri war maßgebend geworden auch am Bosporus; er
durfte wagen auszusprechen, daß er die Beschlüsse zu Gunsten der geistlichen
Gleichstellung Konstantinopels kraft der Autorität des Apostelfürsten kassire,
durfte den Patriarchen mit dem Banne bedrohen, wenn er nicht zurücktrete.
So war der Boden gegeben für den Riesenbau des Katholizismus.
ctzt ist es Herbst. Auf den Gräbern da oben auf dem Friedhofe
blühen keine Blumen mehr, und das Laub liegt braun und modernd
auf den nassen Wegen und unter den Bäumen im Garten zu Lön-
borggaard.
In den leeren Stuben geht Ricks Lyhne in bitterer Schwer¬
mut umher. In ihm ist etwas gebrochen, in jener Nacht, als das Kind starb; er
hat das Zutrauen zu sich selber verloren, seinen Glauben an die Macht des
Menschen, das Leben zu ertragen, das man ja leben muß. Das Dasein war ihm
schal geworden, und der Inhalt desselben stob zwecklos davon, nach allen Seiten hin.
Es konnte nichts nützen, daß er das Gebet, was er gebetet hatte, den
wahnsinnigen Hilfeschrei eines Vaters für sein Kind nannte. Er hatte es
gewußt, was er in seiner Verzweiflung gethan hatte. Er war versucht worden
und war gefallen; es war ein Sündenfall, ein Abfallen von dem eignen Ich,
von der Idee. Es kam vielleicht daher, daß die Tradition in seinem Blute zu
stark gewesen war; das Menschengeschlecht hatte in so viel tausend Jahren stets
in seiner Not den Himmel angerufen, und jetzt hatte er diesem ererbten Drange
nachgegeben. Aber er hatte dagegen losgehen müssen wie gegen einen bösen
Instinkt, er wußte ja doch bis in die innersten Fibern seines Hirnes, daß alle
Götter nichts sind als Träume, und daß er zu einem Traume Zuflucht ge¬
nommen hatte, sobald er betete, ebenso wie er in alten Tagen, wenn er sich
der Phantasterei in die Arme geworfen hatte, genau gewußt hatte, daß es
Phantasterei war. Er hatte das Leben, so wie es war, nicht ertragen können,
jetzt hatte er Teil genommen an dem Kampfe um das Höchste und war in der
Hitze des Kampfes der Fahne untreu geworden, zu der er geschworen hatte;
denn das Neue, der Atheismus, die heilige Sache der Wahrheit, welchen Zweck
hatte das alles, was war das alles? Nichts als ein Flittergoldname für das
eine Einfache: das Leben so zu ertragen, wie es nun einmal war, und das
Leben sich nach den eignen Gesetzen des Lebens bilden zu lassen.
Es war ihm, als habe sein Leben in jener qualvollen Nacht abgeschlossen;
das, was nachher kam, konnte niemals etwas andres werden als gleichgiltige
Szenen, die an den fünften Akt angeklebt waren, nachdem die Handlung schon
zu Ende gespielt worden. Er konnte ja immerhin seine alte» Lebensanschauungen
wieder aufnehmen, wenn er Lust dazu hatte, aber er war nun doch einmal ge¬
fallen, und ob sich der Fall später wiederholen würde, oder ob er sich nicht
wiederholen würde, das bleibt ganz gleichgiltig.
Das war die Stimmung, in der er am häufigsten einherging.
Und dann kam der Novembertag, an dem der König starb und die Kriegs¬
wolke immer drohender heraufzog.
Schnell ordnete er seine Sachen auf Lönborggaard und meldete sich als
Freiwilliger.
Die Langeweile der Ausbildungszeit ertrug er mit Leichtigkeit, es war ja
so unsäglich viel, nicht länger ein überflüssiger Mensch zu sein, und als er
dann zur Armee stieß, der ewige Kampf gegen Kälte, gegen Ungeziefer und
Unbequemlichkeiten jeder Art, das alles drängte die Gedanken zurück, die sich
mit dem Zunächstliegenden beschäftigen konnten, das machte ihn beinahe heiter
und seine Gesundheit, die sehr unter dem Kummer der letzten Jahre gelitten
hatte, wurde wieder ganz vorzüglich.
An einem trüben Märztage wurde er dann durch die Brust geschossen.
Hjerrild, der Arzt im Lazarett) war, sorgte dafür, daß er in einen kleinern
Saal gelegt wurde, worin sich nur vier Betten befanden. Der eine von denen,
die drinnen lagen, war dnrch das Rückgrat geschossen und lag ganz still, der
zweite hatte eine Wunde in der Brust, er hatte schon mehrere Tage dort ge¬
legen und phantasirte ununterbrochen, stundenlang mit hastig ausgesprochenen,
abgerissenen Worten; der letzte endlich, der Ricks Lyhne zunächst lag, war ein
großer, starker Bauerbursche mit dicken, runden Backen; er hatte eine GeHirn¬
verletzung durch einen Granatsplitter erlitten, und unablässig den ganzen Tag
hob er ungefähr zweimal in der Minute gleichzeitig den rechten Arm und das
rechte Bein in die Hohe, ließ sie dann wieder fallen und begleitete die Bewegung
jedesmal mit einem lauten, aber dumpfen, tonlosen: Höh, hob. stets in dem¬
selben Takt, stets genau mit demselben Tonfall.
Da lag nun Ricks Lyhne. Die Kugel war in seine rechte Lunge gedrungen und
wär dort sitzen geblieben. Im Kriege können nicht viele Umstände gemacht werden,
und so erfuhr er denn, daß er nicht viel Aussicht habe, am Leben zu bleiben.
Das wunderte ihn, denn er fühlte sich durchaus nicht sterbenskrank und
seine Wunde schmerzte ihn nicht sehr. Bald aber stellte sich eine Mattigkeit
ein, die ihm sagte, daß der Arzt recht habe.
Das also sollte das Ende sein. Er dachte an Gerda, er dachte den ersten
Tag viel an sie, aber immer störte ihn der wunderbar kühle Blick, den sie ge¬
habt hatte, c^s er sie zum letzten male in die Arme schloß. Wie schön wäre
es nicht gewesen, wie schmerzlich schön, wenn sie sich bis zuletzt an ihn ge¬
klammert und ihn nicht aus den Augen gelassen hätte, ehe der Tod es matt
gemacht, wenn es ihr genügt hätte, ihr Leben bis zum letzten Atemzuge an dem
Herzen zu Leben, das sie so sehr liebte, statt sich in der letzten Stunde von
ihm abzuwenden, um sich noch mehr Leben zu sichern, noch mehr Leben.
Den zweiten Tag im Lazarett) wurde Ricks schwermütiger infolge der
dumpfen Atmosphäre, die die Sehnsucht nach frischer Luft und
der Wunsch zu leben waren in s^n Gedanken seltsam mit einander verwoben.
Das Leben hatte doch viel Schönes gehabt, dachte er, wenn er sich die frische
Brise am heimatliche» Strande zurückrief, das leise Säuseln in Seelands
Buchenwaldungei^ die reine Bergluft in Clarens und die weichen Abendwinde
am Gardasee. Aber sobald er an die Menschen dachte, ward ihm wieder elend
zu Mute, Er rief sie sich einzeln ins Gedächtnis, und alle gingen sie an ihm
vorüber und ließen ihn allein; auch nicht einer blieb bei ihm zurück. Aber
wie hatte denn er a« ihnen festgehalten, war er denn etwa treu geMsen? Da
war nur der eine Unterschied, daß er sie langsamer hatte fällen lassen. Nein,
das war es nicht. Es war das unsäglich Traurige, daß eine Seele stets allein
ist. Jeder Glaube an ein Zusammenschmelzen zweier Seelen war eine Lüge.
Nicht die Mutter, die uns auf dem Schoße., gehalten, nich^der Freund, nicht
die Gattin, sie an unserm Herzen^Heruht —
'
Gegen Abend-wunde er unruhig, und die Schmerzen in der Wunde
nahmen^u. »
Hjerrild kam und saß am Abend einen Augenblick neben ihm; gegen
Mittemack^kam er wrdder und saß lange da. 5Hicks litt sehr und stöhnte vor
Schmerzen. ,^ . ,
5
Ein Wort in aAem Ernst, Lhhne^. sagt^Hjerrild, wünschen Sie nM einem
Pfarrer zu sprechen? ' "5 " .«
'
Ich hab^nicht mehr mit«ties?n Leuten zu thun,^tvie Sie, stöhnte Ricks
erbittert. ' > , ^ ^
Von mir ist »jetzt^licht die Ne^e, ich lese uno^bH, gesjMH. Quälen'Sie
sich doch jetzt nicht mit Ihren AAischMungen^ »LeM, M haben
keine Anschauungen in^hrjAtind A ist auch einerlei' 'ob Sie«'fiB haben; An¬
schauungen sind nur daz»'da, um"8arnach zu. leben; ^im Le^en, ^i»ä ^hab^sie
einen Ziveck. Kann es -ivohl-^tHem ^einzigen Menschen- nützen^aß^r ^in dieser
oder in jener Anschauung»»stMbt? Glauben Sie nHr nur^, wir haben ja- alle
lichte, weiche ErinneMngeir aus unsrer Kinderzeit; ich habe die, Menschen in
Dutzenden sterben sehen, es ist inMßr^ein Tr^ost, die. ajtÄi Erinnerungen, hervor¬
zuholen. Laß uns ehrlich gegen einander sein, wir mögen nun> seist ^Me wir
wollen, wir können doch niemals den Gott ganz aus dem HirKmel verbannen;
unser Gehirn hat ihn sich zu ost da oben vorgestellt, es ist mit ihm ein¬
gesungen, als wir ganz klein waren.
Ricks nickte. Hjerrild beugte sich über ihn, um zu hören, ob er etwas
sagen wolle.
Sie meinen es gut, flüsterte Ricks, aber — und er schüttelte energisch
den Kopf.
Es blieb lange still drinnen; nur das ewige Höh, hob des Bauerburschen
zerhackte die Zeit langsam in Stücke.
Hjerrild erhob sich: Lebe wohl, Lyhne, sagte er, es ist doch ein schöner
Tod, für das arme Vaterland sterben zu können.
Ja, antwortete Ricks, aber eigentlich war unser Traum von dem, was
wir ausrichten wollten, damals, vor langen, langen Jahren, ein ganz andrer.
Hjerrild ging. Als er in sein Zimmer kam, stand er lange am Fenster
und sah zu den Sternen auf. Wenn ich Gott wäre, murmelte er und fügte
in Gedanken hinzu: dann würde ich weit lieber den selig machen, der nicht in
seiner letzten Stunde noch umkehrt.
Ricks' Schmerzen wurden heftiger und heftiger, es hämmerte unbarmherzig
in der Brust, ohne aufzuhören. Es wäre so schön gewesen, wenn er nun einen
Gott gehabt hätte, zu dem er hätte klagen, zu dem er hätte beten können.
Gegen Morgen sing er an, zu phantasiren; die Entzündung war in vollem
Gange.
Und so ging es noch zwei Tage und zwei Nächte weiter.
Das letzte mal, als Hjerrild Ricks Lyhne sah, lag er da und phantasirte
von seiner Rüstung, und daß er stehend sterben wolle.
Und endlich starb er denn den Tod, den schweren Tod.
Prozeß kosten. Die Auslassungen, welche das letzte Heft der Grenzboten
über diesen Gegenstand gebracht hat, sind durch ein Mißverständnis ohne jede
redaktionelle Bemerkung abgedruckt worden, wodurch der Anschein erweckt werden
konnte, die Grenzboten hätten den Standpunkt, den sie seit längerer Zeit einge¬
nommen haben, verlassen oder hielten ihn für kontrovers. Es sei deshalb nach¬
träglich zunächst ausdrücklich bemerkt, daß dies nicht der Fall ist, daß die Grenzboten
vielmehr an den Anschauungen durchaus festhalten, die auch in dem „Notschrei"
in Heft 30 zum Ausdruck gelangen. Auf den Gegenstand wird später noch weiter
eingegangen werden.