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]]> l e „Deutsche Rundschau" veröffentlicht Auszüge aus einem Tage¬
buche, welches der verewigte Kaiser Friedrich während des Feld¬
zuges in Frankreich geführt hat, und welches dem Einsender von
diesem selbst, wir vermuten, als er noch Kronprinz war, mitgeteilt
worden ist. Wir zweifeln nicht, wie andre, an der Echtheit des
Gebotenen im ganzen und ebensowenig an der Berechtigung des Einsenders, sich
Auszüge daraus zu machen und sie drucken zu lassen, wohl aber daran, daß
seine Arbeit dem Andenken des dahingeschiedenen Fürsten in andern Kreisen als
denen gewisser Parteien besonders dienlich sein wird. Wir glauben dem Ver¬
fasser der Auszüge gern, daß ihn bei der Auswahl Gründe der Diskretion
geleitet haben, meinen aber, er hätte wohl gethan, wenn er noch diskreter ver¬
fahren wäre. Im Hinblick auf die Begabung, die wir dem Kaiser Friedrich in der
Presse nachrühmen hörten, scheint es dagegen fast, daß der Bearbeiter des Tagebuches
originelle, tiefe und weitblickende Gedanken des letztern weggelassen hat, wenigstens
vermögen wir in den 32 Seiten der Auszüge durchaus nicyts der Art aufzufinden,
vielmehr haben dieselben nur wegen der Stellung des Verfassers des Originals einige
Bedeutung. Zweierlei Beweggründe können dem Herausgeber der Auszüge bei
seiner Entscheidung über das Aufzunehmende vorgeschwebt haben, das Interesse der
Partei, der er vermutlich angehört, und das Interesse der Geschichte, welche volle
Wahrheit fordert. Im erstern Falle ist er einer von den Freunden, vor denen man
sich mehr hüten soll als vor Feinden, im andern sagen wir ihm trotz allem, was sich
an seiner Unterlassungssünde aussetzen läßt, Dank für die Bestätigung und Ergän¬
zung eines Urteils, welches nach andern Quellen sich bereits gebildet hatte. Um¬
stände verbieten weitere Ausführung dieser Bemerkungen, auch sind sie überflüssig,
wenn wir im folgenden einen Auszug aus den Auszügen geben, der das uns
wichtige aus dem herausgreift, was dem Verfasser derselben auch wichtig erschienen
ist. Wir senden noch voraus, daß das Tagebuch mit dem 11. Juli 1870 beginnt
und mit dem 12. März 1371 schließt. Bald nach der Abreise auf den Kriegs¬
schauplatz, noch in Karlsruhe, am 29. Juli, schreibt der Kronprinz in sein
Tagebuch: „Unser Hauptgedanke ist, wie man nach erkämpftem Frieden den frei¬
sinnigen Ausbau Deutschlands weiterführe." — Am 6. September, in Rheims,
ein ähnlicher Eintrag. „Meine Hoffnung auf den Ernst des Volkes, Pflicht
freisinnigen Ausbaues des staatlichen und nationalen Lebens; wird jetzt in der
Aufregung der rechte Augenblick verfehlt, so treten mit der Unthätigkeit die
Leidenschaften auf Abwege." — „18. Oktober. Diese einzige Feier meines Ge¬
burtstages sin Versailles^ weist mich ganz besonders auf den Ernst der Aufgabe,
die ich einst auf deutsch-politischem Gebiete lösen muß; denn ich hoffe, in Zukunft
keine Kriege mehr zu erleben ... Unverkennbar blicken viele mit Vertrauen auf
die Aufgabe, die einst, so Gott will, in meinen Händen ruhen wird, und ich
empfinde für die Lösung derselben auch eine gewisse Zuversicht, weil ich weiß,
daß ich mich des in mich gesetzten Vertrauens würdig erweisen werde... Ich
entdecke, daß man Übles gegen England im Schilde führte, das ist vorüber,
aber ob die Vorliebe für Rußland und Amerika lohne Zweifel ist dabei an
Bismarck gedachtj nicht doch einmal dem Hasse gegen England Luft macht, kann
kein Mensch wissen." —
Höchst charakteristisch ist die Aufzeichnung eines Gespräches, das der Kro n-
prinz am 16. November mit dem damaligen Bundeskanzler über die deutsche
Frage hatte. „Er will zum Abschlüsse kommen," schreibt der Verfasser des
Tagebuches, „entwickelt aber achselzuckend die Schwierigkeiten. Was man denn
gegen die Süddeutschen thun solle? Ob ich wünsche, daß man ihnen drohe?
Ich erwidere: „Ja wohl, es ist gar keine Gefahr, treten wir fest und gebietend
auf, so werden Sie sehen, daß ich Recht hatte, zu behaupten, Sie seien sich
Ihrer Macht noch gar nicht genügend bewußt." Bismarck wies die Drohung
weit ab und sagte, bei eventuellen äußersten Maßregeln dürfe man am wenigsten
damit drohen, weil das jene Staaten in Österreichs Arme treibe. So habe er
bei Übernahme seines Amtes den festen Vorsatz gehabt, Preußen zum Kriege
mit Österreich zu bringen, aber sich wohl gehütet, damals oder überhaupt zu
früh mit Sr. Majestät davon zu sprechen, bis er den Zeitpunkt als dafür
geeignet angesehen. So müßte man auch gegenwärtig der Zeit anheim stellen,
die deutsche Frage sich entwickeln zu sehen. Ich erwiderte, solches Zaudern könne
ich, der ich die Zukunft reprüsentire, nicht gleichgiltig ansehen; es sei nicht
nötig, Gewalt zu brauchen, man könne es ruhig darauf ankommen lassen, ob
Bayern und Württemberg es wagen würden, sich Österreich anzuschließen. Es
sei nichts leichter, als von der hier versammelten Mehrzahl der deutschen Fürsten
ses handelte sich nicht um die Mehrzahl, wie bei einem Parlamente, sondern
um alle, wenigstens um alle mächtigern^ nicht bloß den Kaiser proklamiren,
sondern auch eine den berechtigten Forderungen des deutschen Volkes entsprechende
Verfassung mit Oberhaupt genehmigen zu lassen, das würde eine Pression sein,
der die Könige fanden in einem noch unentschiedenen und nur mit ihrem fernern
Beistande mit voller Sicherheit siegreich zu entscheidenden Kriege?) nicht wider¬
stehen könnten. Bismarck bemerkte, mit dieser Anschauung stehe ich ganz allein;
um das gewollte Ziel zu erreichen, wäre es richtiger, die Anregung aus dem
Schoße des Reichstages kommen zu lassen. Auf meinen Hinweis auf die Ge¬
sinnungen von Baden, Oldenburg, Weimar, Koburg deckte er sich durch den
Willen Sr. Majestät. Ich erwiderte, ich wisse sehr wohl, daß sein Nichtwollen
allein genüge, um eine solche Sache auch bei Sr. Majestät unmöglich zu machen.
Bismarck entgegnete, ich mache ihm Vorwürfe, während er ganz andre Personen
wisse, die jene verdienten. Hierbei sei die große Selbständigkeit des Königs in
politischen Fragen zu berücksichtigen, der jede wichtige Depesche selbst durchsehe,
ja korrigire. Er bedaure, daß die Frage des Kaisers und Oberhauses über¬
haupt diskutirt sei, da man Bayern und Württemberg dadurch vor den Kopf
gestoßen. Ich bemerkte, Dalwigk habe sie ja angeregt. Bismarck meinte, meine
Äußerungen müßten nachteilig wirken, er finde überhaupt, der Kronprinz dürfe
dergleichen Ansichten nicht äußern. Ich verwahrte mich sofort aus das Bestimmteste
dagegen, daß mir in solcher Weise der Mund verboten werde, zumal bei solcher
Zukunftsfrage; ich sähe es als Pflicht an, bei niemandem Zweifel gerade über
meine Ansicht zu lassen. Überdies; stehe nur bei Sr. Majestät, mir über die
Dinge, welche ich besprechen dürfe oder nicht, Weisungen zu geben, wenn man
überhaupt annehme, daß ich noch nicht alt genug sei, um selber ein Urteil zu
haben. Bismarck sagte, wenn der Kronprinz befehle, so werde er nach diesen
Ansichten handeln. Ich protestirte dagegen, weil ich ihm gar keine Befehle
zu erteilen habe, worauf er erklärte, er werde seinerseits sehr gern jeder andern
Persönlichkeit Platz machen, die ich zur Leitung der Geschäfte für geeigneter
als ihn halte, ^wobei er an Noggenbach denken konnte) bis dahin aber müsse
er seine Prinzipien nach seinem besten Wissen und der ihm beiwohnenden
Kenntnis aller einschlagenden Verhältnisse festhalten."
Wieder recht bezeichnend für die Denkweise des Kronprinzen ist die Stelle
im Tagebuchsblatte vom 18. November, wo es heißt: „Ich freue mich über
den Artikel der .Times' über meinen Dankbrief an Lindsay; möge es mir ge¬
lingen, nach den Grundsätzen meines unvergeßlichen Schwiegervaters eine Kette
zwischen beiden so ganz aufeinander angewiesenen Ländern ^Deutschland und
England) zu schmieden."
Ohne Schaden und mit Nutzen hätten folgende Stellen der Aufzeichnungen
wegbleiben können: „23. November. Augenblick spannender Kombinationen.
Moltke trägt die Sachlage stets mit der größten Klarheit, ja Nüchternheit vor,
hat immer .alles bedacht, berechnet und trifft den Nagel stets auf den Kopf,
aber Roons Achselzucken und Spucken und Podbielskis olympische Sicherheit
influiren oft auf den König." — „30. November. Ein Konzept Bismarcks
für den Brief des Königs fLudwig II. von Bayerns Mgen der Kaiserwürde an
Se. Majestät ist nach München abgegangen; der Großherzog >von Badens
sagt mir, man habe dort nicht die richtige Fassung zu finden vermocht und sich
dieselbe von hier erbeten, der König von Bayern hat den Brief wahrhaftig
abgeschrieben . . . Holnstein ^der Oberstallmeister König Ludwigs, dem er das
Konzept und ein Begleitschreiben des Bundeskanzlers nach Überwindung großer
Schwierigkeiten in der Einsamkeit von Schloß Berg zugestellt^ ist ^mit der
königlichen Abschrift des Konzeptes^ zurückgekommen, Prinz Luitpold muß das
Schreiben auf besondern Befehl dem Könige überreichen. Nach Tische Vortrag
Bismarcks, der den Brief vorliest, welchen der König so zur Unzeit wie möglich
findet, worauf Bismarck bemerkt, die Kaiserfrage habe nichts mit den augen¬
blicklichen Kämpfen zu thun. Als wir das Zimmer verließen, reichten Bismarck
und ich uns die Hand; mit dem heutigen Tage sind Kaiser und Reich unwider¬
ruflich hergestellt, jetzt ist das 65jährige Interregnum, die kaiserlose, die schreck¬
liche Zeit vorbei, schon dieser stolze Titel ist eine Bürgschaft, wir verdanken
dieß wesentlich dem Großherzog von Baden, der unausgesetzt thätig gewesen ist."
Am 6. Dezember schreibt der Kronprinz u. a. in sein Gedenkbuch: „Der
König ist sehr betroffen, daß Delbrück dem Reichstage den Brief des Königs von
Bayern vorgelesen hat," am 9.: „Ich erfahre Delbrücks Vordringen der Kaiser¬
frage, das über alles Maß schwach, matt und trocken; es war kläglich, als ob er
^ein treffendes Bild!^ die Kaiserkrone in altes Zeitungspapier gewickelt aus der
Hosentasche gezogen hätte, es ist unmöglich, in diese Leute Schwung zu bringen.
Man fragt, ob dieser Bund das Resultat aller Opfer sein solle, ein Werk, das
nur den Männern passe, für welche und von denen es gemacht worden. Ich
bin mir wohl bewußt, welche unendliche Mühen und Beschwerden mir dereinst
die heutigen Unterlassungssünden bringen werden . . . Der König ist erregt
über Delbrücks Verfahren, der König von Sachsen habe seine Überraschung aus¬
sprechen lassen; er fürchtet die Neichstagsdeputation, weil es aussehe, als ob
die Kaisersache vom Reichstage ausgehe, und will sie nicht empfangen, bis er
die Zustimmung sämtlicher Staaten durch den König von Bayern hat." —
Noch am 15. Dezember notirt sich der Kronprinz: „Der König will nichts
vom Empfange der Abgeordneten wissen, lebt sich jedoch mehr in die Sache
ein; schlimm ist, daß gerade jetzt Bismarck fußleidend ist, der Großherzog von
Baden wirkt wie ein guter Genius."
Am 17. wird es besser für die Wünsche des Tagebuchsverfassers und
er schreibt: „Ich höre vom Hofmarschall des Prinzen Karl, daß morgen bei
Sr. Majestät Diner für die Abgeordneten sei. Bismarck sagt, der König
wolle sie vorher empfangen. Lange Unterhaltung mit Simson, der korrekt und
logisch. Graf Perporcher sagt zu Adalbert: ,Wir werden doch dieses Kaisertum
nicht für gewöhnlich, sondern nur bei großen Hoffesten und Feierlichkeiten an¬
legen', worauf Adalbert erwidert: ,Wenn der König Sie in den Fürstenstand
erhöbe, würden Sie dann auch nur bei Ausnahmegelegcnhciten den Titel führen?'
Boyen fragt, was unser König thun werde, wenn ihm der preußische
Landtag die Annahme der Kaiserkrone weigere? Du gleichst dem Geist den
Du begreifst." Die Frage war aber doch nicht ohne Grund; es gab und
giebt in Berlin sicher genug freisinnige Demokraten, Leute, welche den Kronprinzen
zu den ihrigen zählen zu dürfen meinten, und die auf die Frage geantwortet
hätten: Selbstverständlich habe der König die Krone dann zurückzuweisen. —
Auf dem Tagebnchblatte vom 18. Dezember endlich finden wir den Eintrag:
„Tief bewegt vom Empfange, würdig und gut. Die Predigt von Rogge ließ
mich schon merken, daß dem Empfange Gewicht beigelegt werde, Fürsten und
Generale baten mich, dabei sein zu dürfen, was ich sofort nach der Kirche dem
Könige mitteilte, der ganz erstaunt darüber schließlich sagte, daß, wenn wirklich
jemand von den Genannten dabei zu sein Lust habe, er nichts dawider haben
würde. So erschienen alle, obwohl der König seine Überraschung darüber
äußerte, nur Luitpold fehlte . . . Simsons Meisterrede entlockte mir helle
Thränen, es ist eigentlich kein Auge dabei trocken geblieben ^das ist auch
bei Leistungen andrer Rhetoren der Fall gewesen, ohne daß viel darin gelegen
hätte oder dabei herausgekommen wäre, z. B. bei RadowiA Dann Verlesung der
Adresse. Die Antwort des Königs erfolgte mit einigem Stocken, da er nicht
mehr leicht ohne Brille liest, aber auch vor Rührung mußte er einige Male
innehalten. Dann folgte die Vorstellung der Abgeordneten. Während der
ganzen Feier schoß der Mont Valerien. Draußen stand alles in hellen Haufen.
Der König war nachher heiter, schien erleichtert und befriedigt."
Von dem Inhalt der Tagebuchsblättcr ans dem Jahre 1871 teilen wir
nach den Auszügen der „Deutschen Rundschau" nachstehendes als unserm Zwecke
dienlich mit: „1. Januar. Der König begrüßt mich ernst und freundlich be¬
wegt mit dem Wunsche, daß es mir einst vergönnt sein möge, die Friedens¬
saat der jetzigen Arbeit zu erleben. Er könne sich freilich nicht denken, daß die
dauernde Einigung Deutschlands bestehen bleiben werde, da leider die wenigsten
Fürsten so handelten und gesonnen seien, wie es zu wünschen wäre, und denen
der Großherzog ein so edles Beispiel gebe. — Ich frage Delbrück, wie Marine,
Telegraphen-, Zoll- und Postwesen bezeichnet würde? .Kaiserlich/ Und das Heer?
,Ja, das sei so eine Sache.' Worauf ich Delbrück zu dem kunstvoll gefertigten
Chaos Glück wünsche."
„12. Januar. Ich mache den König darauf aufmerksam, daß Schleinitz
über Kaiser und Reich gehört werden müsse ^ob als Vorgänger, ob als stiller
Gegner Bismarcks oder als was sonst, ist uns unklar^ er antwortet, er sehe
im Kaiser nur eine Umänderung des Präsidiums des Bundes und würde
sich am liebsten König von Preußen, erwählter Kaiser von Deutschland'
nennen, worin ich eine förmliche Beleidigung der Fürsten wie des Volkes erblicken
würde."
„17. Januar. Nachmittags demi Könige eine Sitzung von Bismarck, Schleinitz
und mir... überTitel, Thronfolge u.s.w. Bei Beratung des Titels bekennt Bismarck,
daß bereits bei Beratung der Verfassung die bayerischen Bevollmächtigten das
.Kaiser von Deutschland' nicht hätten zulassen wollen, und daß er endlich ihnen
zu Liebe, aber allerdings ohne Se. Majestät vorher zu fragen, die Formel
.Deutscher Kaiser' zugestanden habe. Diese Bezeichnung mißfiel dem König
ebenso wie mir, aber vergeblich. Bismarck suchte zu beweisen, daß Kaiser von
Deutschland' eine Territorialmacht bedeute, die wir über das Reich gar nicht
besäßen j^gewiß nicht, abgesehen von der größern preußischen Hälfte), während
.Deutscher Kaiser' die natürliche Konsequenz des Imperator RornanuZ sei Wir
mußten uns fügen, jedoch soll im gewöhnlichen Sprachgebrauch das .von Deutsch¬
land' zur Anwendung kommen, die Anrede sein ,Ew. Kaiserl. und Königl. Majestät,'
niemals das K. K. gebraucht werden. Da wir also bekennen, keine Territorialmacht
über das Reich zu besitzen, so ist der Träger der Krone nebst seinen Erben
gewissermaßen aus der königlichen Familie von Preußen allein herausgenommen,
und dadurch wird meine Ansicht hinfällig, daß unsre ganze Familie den kaiser¬
lichen Titel erhalten solle. Nun lange Debatte über das Verhältnis von Kaiser
zu Kaiser, weil Se. Majestät der alten preußischen Tradition zuwider einen
Kaiser höher stellt. Beide Minister wiedersprechen mit mir unter Berufung auf
die Archive, .. . und endlich hob Bismarck hervor, daß Friedrich Wilhelm IV.
nur aus der bekannten, ihm persönlich eigentümlichen Demut vor Österreich das
Prinzip der Unterordnung unter das erzherzogliche Haus jenes Kaiserstaates ein¬
geführt habe. Der König aber erklärte, daß, da Friedrich Wilhelm III. bei
Begegnung mit Alexander I. bestimmt habe, daß letzterm als Kaiser der Vorrang
gebühre, auch gegenwärtig der Wille des königlichen Vaters für ihn maßgebend
sei. Als indeß im Laufe der Verhandlung bestimmt wurde, daß unsre Familie
ihre gegenwärtige Stellung behalten solle, sprach der König doch wieder das Ver¬
langen aus, die Gleichstellung derselben mit den kaiserlichen Häusern auszu¬
drücken. .. Von Neichsministern war keine Rede ^„wofür ich", sagt ein spätres
Tagebuchsblatt, „Noggenbach empfohlen hätte"), Bismarck wird Reichskanzler...
Die Reichsfarben machten wenig Bedenken, da, wie der König sagte, sie nicht
aus dem Straßenschmutz entstiegen, doch werde er die Kokarde nur neben der
preußischen dulden, er verbat sich die Zumutung, von einem kaiserlichen Heere
zu hören, die Marine aber möge kaiserlich genannt werden. Man sah, wie
schwer es ihm wurde, morgen von dem alten Preußen, an dem er so festhält,
Abschied nehmen zu müssen. Als ich auf die Hausgeschichte hinwies, wie wir
vom Burggrafen zum Kurfürsten und dann zum Könige gestiegen seien, wie
auch Friedrich I. ein Scheinkönigtum joie das nunmehrige Scheinkaisertum ist
wohl hinzuzudenken?) geübt und dasselbe doch so mächtig geworden, daß uns
jetzt die Kaiserwürde zufalle, erwiderte er: Mein Sohn ist mit ganzer Seele
bei dem neuen Stande der Dinge, während ich mir nicht ein Haar breit dar¬
aus mache und zu Preußen halte.' Ich sage, er wie seine Nachkommen seien
berufen, das gegenwärtig hergestellte Reich zur Wahrheit zu machen."
„18. Januar. Meine und meiner Frau Aufgabe ist doppelt schwer
geworden, aber ich heiße sie darum auch doppelt willkommen, weil ich vor
keiner Schwierigkeit zurückschrecke, ferner weil ich wohl fühle, daß es mir an
frischem Mute nicht fehlt, furchtlos und beharrlich einst die Arbeit zu übernehmen,
und endlich, weil ich der Überzeugung bin, daß es sich nicht umsonst so
fügte, daß ich zwischen dreißig und vierzig Jahren wiederholt berufen war, die
allerwichtigsten Entschlüsse zu fassen und, den damit verknüpften Gefahren ins
Antlitz schauend, dieselben anch durchzuführen."
„23. Januar. Abends erhalte ich eine Kabinetsordre über meinen Titel.
Das ist Nebensache neben seiner innern Bedeutung; ich fühle mich nur noch
als Deutscher, kenne keinen Unterschied mehr zwischen Bayer, Badenser und wie
sich sonst die Bewohner der dreiunddreißig Vaterländer nennen, will mich aber
keineswegs in die innern Angelegenheiten derselben mischen oder dieselben ihrer
Eigentümlichkeiten berauben. Möchten alle Deutschen mich und meine Frau ^
als die ihrigen und nicht als norddeutsche Aufdringlinge betrachten!"
Wir schließen unsre Mitteilungen aus den Auszügen mit einem ganz
besonders charakteristischen Blatte des kronprinzlichen Kriegstagebuchs. Es
datirt sich „Ferneres, am 7. März" und lautet: „Auch der größte Unverstand
wird nicht mehr das Erreichte rückgängig machen. Ich zweifle an der Auf¬
richtigkeit »essen? ergiebt sich aus dem Spätern^ für den freiheitlichen Ausbau
des Reiches und glaube, daß nur eine neue Zeit, die einst mit mir rechnet,
solches erleben wird. Solche Erfahrungen, wie ich sie seit zehn Jahren gesammelt,
können nicht umsonst gewonnen fein. In der nunmehr geeinten Nation werde
ich einen starken Anhalt für meine Gesinnungen finden, zumal ich der erste
Fürst sein werde, der, den verfassungsmäßigen Einrichtungen ohne allen Rückhalt
ehrlich zugethan, vor sein Volk zu treten hat. Mehr als je gedenke ich in
diesen Tagen des Spruches: ,Wer den Sinn auf das Ganze hält gerichtet, dem
ist der Streit in der Brust schon längst geschlichtet/ Ich bringe nicht Gesinnungen
des Hasses gegen die Franzosen mit, vielmehr Streben nach Versöhnlichkeit."
Wir haben dazu nichts zu bemerken. Nur zwei Fragen drängen sich uns
noch auf. Wäre der Vorgänger dieses Fürsten der Zukunft den verfassungs¬
mäßigen Einrichtungen erst Preußens, dann des Norddeutschen Bundes etwa
nicht ehrlich und rückhaltslos zugethan gewesen? Oder verstand der Verfasser
des Tagebuches unter „verfassungsmäßigen Einrichtungen" das, was die Demo¬
kraten der Konfliktszeit, die Fortschrittspartei der Jahre nach 1866 darunter
verstanden wissen wollten, die Herrschaft des Parlamentes, zuletzt ihrer Partei?
eit sich die deutsche Ncichsregung mit der Verkündigung der kaiser¬
lichen Botschaft in der Arbeiterfrage auf den Boden der sozialen
Reform gestellt hat, und mit der Einführung des Krankcnver-
sicherungs- und Unfallgesetzes die zwei ersten wichtigen Ziele
ans dem betretenen Wege erreicht worden sind, hat sich auch in
immer weiteren Kreisen das Interesse für diese Fragen gehoben, und die
lebhafte Beteiligung, die sich gegenwärtig allerseits in der Frage der Alters¬
und Jnvalidenversvrguug kundgiebt. ist ein neues Zeugnis dafür, wie sehr
unsre leitenden Kreise den Nagel auf den Kopf getroffen haben, indem sie
diesen weiteren Gesetzgebuugsstoff in Angriff nahmen. Hoffentlich gelingt es
recht bald, diese Frage in einer Weise zu lösen, die den berechtigten Wünschen
der beteiligten Kreise möglichst gerecht wird. Daß mit der Durchführung dieses
dritten Teiles der durch die kaiserliche Votschaft vorgezeichneten Sozialreform
die Frage noch lange nicht zum Abschluß gebracht, daß damit vielmehr nur
der Boden zu einem planvollen Weiterbau auf dem Gebiete der Arbeitcrfürsorge
geebnet worden ist, wird kaum bezweifelt werden können, und so ist es vielleicht
nicht ganz verfrüht, jetzt schon an dieser Stelle auf einen weiteren Punkt der
Arbeiterfrage hinzuweisen, der der gesetzlichen Ordnung dringend bedarf und
wohl als einer der ersten Gegenstände in Betracht gezogen zu werden verdient,
sobald die Alters- und Jnvalidcuversorgung vollends ihre gesetzliche Regelung
gefunden hat. Die bisher geschaffenen oder in der Schaffung begriffenen
Einrichtungen sorgen nur für deu beschäftigten Arbeiter, der unbeschäftigte
kommt dabei nicht in Betracht. Mit der Stellung verliert nach der heutigen
Sachlage der Arbeiter auch größtenteils das Recht auf die Wohlthaten, die
ihm die neuen Gesetze im Fall der Erkrankung u. s. w. gewährleistet haben.
Er steht hilflos da, bis es ihm gelingt, eine neue Stellung zu finden. Es
wird sich also darum handeln: Wie ist für den unbeschäftigten Arbeiter zu sorgen?
Die Antwort fällt verhältnismäßig einfach aus. Man wird sehen müssen, einmal,
daß er nicht ganz mittellos dastehe, bis er wieder eine Stellung gefunden hat,
sodann, daß er möglichst rasch und leicht wieder eine neue Stellung finde.
Man wird sich ferner sagen müssen, daß zunächst der Arbeiter selbst die
Aufgabe hat, für sich zu sorgen, indem er sich nach Kräften um eine neue
Stellung unebne. Wo das nicht in vollstem Maße geschieht, bedarf es auch
keiner Unterstützung. Um aber eine Stellung zu finden, wird der Arbeiter sich
in der Regel zunächst an Ort und Stelle umthun, da für ihn hierdurch keine
weiteren Unkosten erwachsen. Ist dies umsonst, so wird er sich um einen aus¬
wärtigen Posten bemühen müssen, was entweder schriftlich geschehen kann oder
dadurch, daß der Arbeiter auf Reisen geht, sich persönlich umsieht und sich den
Arbeitgebern vorstellt. In beiden Fällen den Arbeitern, so weit es irgend
möglich ist, an die Hand zu gehen, wird die Aufgabe der staatlichen Fürsorge
bilden müssen.
Vor allem ist es hierbei die Frage des Wandergesellentums, die
dringend der Ordnung bedarf. Wer hat nicht schon die vielen Klagen in den
Zeitungen gelesen über die zunehmende Verrohung und Verlumpung eines großen
Teiles der wandernden Arbeiter? In allen Blättern findet man nahezu täglich
Berichte über die frechen Thaten der sogenannten Strömer, über den Bettel¬
unfug derselben, über die Gefahren, denen die Bevölkerung, zumal die ländliche
vielfach durch derartiges Gesindel ausgesetzt ist. Hier gilt es, Ordnung zu
schaffen, hier muß die Spreu vom Weizen gesondert werden, indem der Staat
sich bemüht, denjenigen Wandergesellen, denen es wirklich um Arbeit zu thun
ist, solche auf die denkbar einfachste Weise zu verschaffen. Ist dies der Fall,
dann wird der Staat auch in der Lage sein, gegen jenen andern Teil des
Wandergesellentums kräftig und mit ganzer Schärfe einzuschreiten, dem das
Wanderleben Selbstzweck ist, der sich lediglich aus Faulheit auf den Straßen
und in den Schänken herumtreibt und das Volksleben vergiftet. Als Mittel
zur Erreichung dieser Zwecke können dienen eine korporative Gestaltung
des Herbcrgswesens auf Grund der Berufsgliederung und die Einrichtung
von Zwangskassen zur Unterstützung der wandernden Arbeiter. Hand in
Hand damit wäre eine möglichst praktische Einrichtung zur Stellenvermitt¬
lung zu schaffen, die es dem Arbeitgeber wie dem Arbeiter gestattete,
jederzeit einen klaren Blick über Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkte
zu gewinnen, jederzeit zu wissen, wo Arbeiter gesucht werden und wo solche zu
finden sind. Wie ich mir die Lösung dieser Fragen ungefähr denke, möchte ich
in den folgenden Zeilen dem Leser in kurzen Zügen vor Augen führen.
Träger der ganzen Einrichtung müßten die auf Grund des Unfallgesetzes
geschaffenen Berufsgenossenschaften sein. An jedem Orte, wo sich ein zu einer
Berufsgenossenschaft gehörender Betrieb befindet, wird ein Ortsverband des¬
selben errichtet. Vorstand desselben ist ein durch Wahl der Arbeitgeber bestellter
Arbeitgeber. Ihm zur Seite steht ein aus Arbeitgebern und Arbeitern zu
gleichen Teilen bestellter Ausschuß, der sich in die Geschäfte des Schriftführers,
des Kassierers u. s. w. teilt. Mitglieder des Ortsverbandes sind sämtliche Arbeit¬
geber und Arbeiter der Berufsgenossenschaft. Aufgabe des Ortsverbandes ist
zunächst Regelung des Herbergswcsens für die durchreisenden Arbeiter der
Genossenschaft, indem der Ausschuß mit einem hierzu geeigneten Gastgeber oder
einer sonstigen Anstalt (Herberge zur Heimat, Gesellenvereinshaus u. s. w.) einen
Vertrag abschließt, nach welchem sich der betreffende Wirt verpflichtet, zu bestimmten
Sätzen an die zureisenden und vrtsanwcsenden Arbeiter der Genossenschaft gutes
Nachtquartier sowie entsprechende Speisen und Getränke zu verabfolgen. Der
betreffende Vertrag ist dem Genossenschaftsvvrstande mitzuteilen, und dieser hat
sodann in bestimmten Zeiträumen ein gedrucktes alphabetisches Verzeichnis aller
Ortsverbände mit Angabe der Herbergen und ihrer Preise herauszugeben und
an die Ortsverbände zu verschicken. Auch ist dieses Verzeichnis allen Arbeitern
gegen billigen Preis käuflich zu überlassen, damit sie es auf der Wanderschaft
als Reiseführer benutzen können. Ein dem Ausschuß angehörender, hierzu geeigneter
Arbeiter hat die Aufgabe, dem fremden Genossen mit Rat und That an die
Hand zu gehen. Jeder zugereiste Arbeiter erhält von jedem Ortsverbande bei
seiner Ankunft eine von der Genossenschaft festzustellende Reiseunterstützung
in Gestalt einer Anweisung auf die Herberge zugestellt, darf aber diese Unter¬
stützung, die ihm in einem hierzu eingerichteten Genosfenschaftswcmderbuch unter
Stempelung durch den Ortsverband vermerkt wird, in einem bestimmten Zeit¬
raume nicht öfter als einmal erheben. Zur Auszahlung der Beträge ist von
feiten des Ortsverbandes ein entsprechender Kasfenvorrat durch Vorschüsse der
Arbeitgeber zu bilden. Nach Ablauf des Rechnungsjahres werden die Auslagen
zusammengezählt und bei der Genossenschaft flüssig gemacht, die sodann ihrer¬
seits wieder den ganzen Betrag der für Neiseunterstutzungen in dem betreffenden
Rechnungsjahr ausgegebenen Gelder bei den einzelnen Betrieben nach Maßgabe
des Unfallversicherungskatasters erhebt. Von der ausgelegten Summe können
sodann die Arbeitgeber die Hälfte durch regelmäßige Lohnabzüge sich von den
Arbeitern ersetzen lassen. Etwaige Kosten des Ortsverbandes für Verwaltung u. s. w.
sind von diesem selbst zu tragen, wozu eine besondre Kasse für Vereinszwecke
gebildet wird. Die Genossenschaftsherberge könnte dabei zugleich der natürliche
Mittelpunkt für das gesellige Leben der Arbeiter werden; die ledigen Leute
könnten hier Mittagstisch nehmen oder am Abend sich einfinden, sodaß die
fremden Gesellen auch eine Ansprache hätten, Leseabende, Gcsangsvereine könnten
an größeren Plätzen sich bilden, im Sommer Ausflüge, im Winter Tanz¬
belustigungen und Weihnachtsfeste veranstaltet, Arbeiterjubiläen entsprechend
begangen werden. Tüchtigen Ausschußmitgliedern würde sich hier ein weites
Feld für eine dankbare Thätigkeit eröffnen, die den Geist der Berufszusammen¬
gehörigkeit unter den Arbeitern, aber auch zwischen Arbeitgebern und Arbeitern
heben und sogar manches zur Ausgleichung der sozialen Gegensätze beitragen
könnte. Sogar die Bildung von Konsumvereinen zu gemeinsamem Einkauf von
Lebensmitteln, Brennmaterial, Kleiderstoffen u. s. w. für die Arbeiter wäre
nicht ausgeschlossen.
Ich komme nunmehr zum zweiten Punkte unsrer Aufgabe, zur Stellen-
Vermittlung. Auch diese könnte in einfachster Weise den Berufsgenossenschaften
zugewiesen werden. Jede Genossenschaft hätte mindestens jede Woche einmal
ein Blatt herauszugeben, das kostenfrei an alle Ortsverbände, Arbeitgeber
und Genossenschaftshcrbergcn verschickt würde. Dieses enthielte zunächst alle
amtlichen Erlasse der Genossenschaft und ihrer etwaigen Abteilungen, Mit¬
teilungen der Ortsverbände u. f. w.; sodann aber ein Verzeichnis aller der
Redaktion von den Arbeitgebern mitgeteilten offenen Arbeitsstellen und aller
von den unbeschäftigten Arbeitern eingeschickten Stellengesuche. Die Veröffent¬
lichung derselben in dem hierzu bestimmten amtlichen Teile des Blattes hätte
kostenfrei zu erfolgen; weitere Beisatze wären nach einem billigen Zeilenpreis zu
berechnen. Die Mitteilung an die Genossenschaft könnte auf Postkarten mit
aufgedruckten Schema nach Art der Buchhändlerbestellkarten zum gleichen Preis¬
satz wie diese (3 Pfennige) durch die Post erfolgen. Daneben wäre das Gcnossen-
schaftsblcitt ein geeignetes Mittel zur Veröffentlichung von Anzeigen aller Art,
zur Vermittlung von Geschäftsverkäufen. Maschinenempfehlungen u. f. w. Auch
einen belehrenden Teil mit Fachartikeln könnte man beifügen; politische
Artikel wären strengstens auszuschließen. Arbeiter der Genossenschaft und sonstige
Interessenten könnten das Blatt zu billigem Preise durch die Post beziehen,
und da es in jeder Herberge aufliegen würde, hätte auch jeder zugereiste Arbeiter
Gelegenheit, es täglich zu lesen und sich nach offenen Stellen darin umzusehen.
Für die weitesten Kreise ergäbe diese amtliche Gliederung der Stellenvermittlung
und der Wandergescllenuuterstützung äußerst schätzbaren Zahlenstoff zur fort¬
währenden Beurteilung der Frage, welche Berufe an Arbeiterüberfülluug oder
Arbeitermangel leiden, und damit zu einer bessern Übersicht über die heute so
brennend gewordene Berufswahl- und Lehrliugsfrage. Daß auch in dieser
Sache noch vieles zu geschehen hat und geschehen kann, daß auch hier gut ein¬
gerichtete Ortsverbände der einzelnen Genossenschaften außerordentlich viel leisten
könnten, ist außer Frage.
Ich bitte, diese Gedanken so aufzunehmen, wie sie gemeint sind, als
Rohmaterial, das nach den verschiedensten Seiten noch der Bearbeitung bedarf,
ehe es brauchbar ist. Aber zeitgemäß ist es gewiß, wenn man jetzt schon beginnt,
auch diese Fragen zur öffentlichen Besprechung zu bringen und nach ihren
verschiednen Seiten zu betrachten. Diese Fragen sind eben Fragen ersten Ranges,
und der Staat wird nicht damit zur Ruhe kommen, als bis er sie in möglichst
befriedigender und zweckentsprechender Weise gelöst hat.
eit kurzem liegen die Ergebnisse der deutschen Strafrechtspflege
für das Jahr 1886 vor. Mit gewohnter Umsicht und
Sorgfalt haben sich das Rcichsjustizamt und das Statistische
Amt des Reiches bemüht, diese neueste Veröffentlichung ihren
Vorgängern würdig an die Seite zu stellen. Wer das Leben
des deutschen Volkes beobachten will, wird nicht umhin können, die Fülle
von Zahlen und Mitteilungen, welche uns hier entgegentreten, in ausge¬
dehntesten Maße zu berücksichtigen; in dem toten Zahlengewirre ist eine Summe
sozialen Elends, sozialer Entartung verkörpert, die die tiefsten Aufschlüsse über
unsre Zeit und ihre Krankheiten giebt. Wer, dem die Besserung der gesell¬
schaftlichen Zustände wahrhaft am Herzen liegt, könnte gleichgiltig an diesen
Rechenschaftsberichten des Lasters und Verbrechens vorübergehen, welcher
Staatsmann, welcher Volkswirt könnte die Ergebnisse derselben bei seinen Be¬
mühungen, die Wohlfahrt zu heben, als nicht vorhanden betrachten? Mit
vollem Rechte steigert sich das Interesse der weitesten Kreise unsers Volkes an
ihnen von Jahr zu Jahr. Zwei Punkte beanspruchen aber die Aufmerksamkeit
des Rechtsgelehrten und Volkswirtes gleichmäßig, die fortwährende Vermin¬
derung der Diebstähle und die fortwährende Vermehrung der Körperverletzungen
und einiger verwandten Strafthaten.
Seit dem Jahre 1882, wo die Ergebnisse der Strafrechtspflege von Reichs
wegen zuerst veröffentlicht wurden, ist die Zahl der Diebstähle, und zwar sowohl
der einfachen wie der schweren, fortwährend gesunken. Wenn man den Bestand,
den diese strafbaren Handlungen 1882 erreichten, mit der für das Jahr 1886
festgestellten Zahl vergleicht, so erhält man das Ergebnis, daß der Unterschied
zwischen dieser und jenem nicht viel weniger als 15,000 beträgt. Es wurden also im
Jahre 1886 bei den Gerichten des deutschen Reiches fast 15,000 Personen weniger
als im Jahre 1882 wegen Verübung eines Diebstahls verurteilt. Da wir nun
als zuverlässig voraussetzen dürfen, daß die Energie der Strafverfolgungs¬
behörden in dem erstern Jahre dieselbe war wie in dem letztern, da während
der dazwischen liegenden Zeit weder das Strafrecht noch das Strafverfahren
eine auf die Aufspürung der Verbrechen einflußreiche Aenderung erlitten hat,
so muß dieser bedeutende Rückgang der wichtigsten aller Verletzungen des
Eigentumes in den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zuständen seine Ursache
haben. Es ist nun durch die Strafstatistik schon seit langer Zeit festgestellt,
daß die Bewegung der Ziffern der Diebstähle mit den Preisen der Lebensmittel,
namentlich der für die Ernährung der Massen maßgebenden ursachlich zusammen-
hängt. Je höher die Lebensmittelpreise, um so häufiger die Verletzungen des
Eigentumes, je niedrige jene, um so seltener diese. Wenn man unter einem
„Gesetz" des Gesellschaftslebens nichts weiter versteht, als den Ausdruck einer
regelmäßig wiederkehrenden, jedoch durchaus nicht unabänderlichen oder unter
allen Umständen notwendigen Erscheinung, so kann man es getrost als ein
gesellschaftliches oder statistisches Gesetz bezeichnen, daß die Bewegung der Dieb-
stähle in umgekehrtem Verhältnis zur Höhe der Lebensmittelpreise steht. Über
die Richtigkeit dieses Satzes besteht eigentlich kein Streit, und es braucht in
dieser Beziehung nur daran erinnert zu werden, daß bei Gelegenheit der Er¬
höhung der Getreidezölle im Reichstage wiederholt als Gegengrund angeführt
wurde, die Maßregel werde eine beträchtliche Vermehrung der Diebstähle zur
Folge haben. Wenn nun die Statistik seit 1882 ein stetiges Sinken der Dieb¬
stähle erkennen läßt, so muß hieraus mit Notwendigkeit geschlossen werden,
daß die Lcbensmittelpreise in dieser Zeit nicht nur keine Erhöhung, sondern
eine Verminderung erfahren haben, trotz der wiederholten Erhöhung der land¬
wirtschaftlichen Zölle. Der Diebstahl ist das durch die Notlage hervorgerufene
Verbrechen; sein gewöhnlicher Beweggrund liegt in dem Mangel an den für die
Lebensunterhaltung notwendigen Mitteln; wenn er von Jahr zu Jahr seltener verübt
wird, so beweist dies, daß die Massen leichter in der Lage sind, auf erlaubtem
Wege für ihren Bedarf Sorge zu tragen, als vormals. Nicht mit Unrecht
hat der französische Statistiker A. Come den Satz aufgestellt, daß die Hoff¬
nungslosigkeit der Massenarmut die hauptsächliche Quelle für Laster und Ver¬
brechen sei. Wir wenden diesen Ausspruch auf die Bewegung der Diebstahls¬
ziffern im Deutschen Reiche seit 1882 unmittelbar an. Die hoffnungslose
Massenarmut, die sich nur durch die strafbare Antastung des Eigentums die
Unterhaltsmittel verschaffen kann, besitzt nicht mehr den Umfang, wie vor fünf
Jahren, die Zustünde haben sich gebessert. Die Gesundung des deutschen Er¬
werbs- und Wirthschaftslebens hat langsame, aber stetige Fortschritte gemacht,
die Unternehmungslust und die Thatkraft des deutschen Volkes hat sich reger
entfaltet, und wir haben die Folgen der furchtbaren Krisis der siebziger Jahre
überwunden. Diese erfreuliche Thatsache, mit der sich auch die verbissene
Nörgelei und die berufsmäßige Schwarzmalerei wohl oder übel abfinden muß,
läßt sich auch durch gekünstelte und weit hergeholte Erklärungen der statistischen
Ergebnisse nicht aus der Welt schaffen, sie zeigt, was es mit der Redensart
von der Vertheuerung des Brodes seit 1879 auf sich hat.
So groß aber nun die Genugthuung ist, die jeder Vaterlandsfreund
hierüber empfinden wird, so groß ist die Trauer, welche die zweite der oben
erwähnten Thatsachen bei ihm hervorrufen muß. Die Abnahme der Diebstähle
hält gleichen Schritt mit der Zunahme der Körperverletzungen, der Wider-
standsleistungen gegen die Staatsgewalt, der thätlichen Beleidigungen, ge¬
wisser Vergehen gegen die öffentliche Ordnung, mancher Verbrechen gegen
die Sittlichkeit, mit einem Worte d^r Noheits- und Geivaltthätigkcitsverbrcchen.
Dabei ist es genau genommen unrichtig, von einem gleichen Schritt der Be¬
wegung dieser und jeuer zu sprechen, denn die Vermehrung der wichtigsten
aller Nvheitsverbrcchcn, der Körperverletzungen, ist noch viel bedeutender als die
Verminderung der Diebstähle. Sittlich ist deshalb der Wert dieser Ver¬
minderung sehr zweifelhaft, ein Volk, welches sich von Jahr zu Jahr in stürkerm
Maße der strafbaren Äußerung eiues unbändigen, dem Gesetze und der allge¬
meinen Ordnung Hohn sprechenden Roheitstriebes zuwendet, steht nicht nur
nicht höher, sondern wesentlich tiefer, als das Volk, bei dem die Diebstahls-
ziffcr alljährlich anschwillt. Für die Häufigkeit der Verletzungen des fremden
Eigentums kann die Notlage eine gewisse Entschuldigung bieten; Hunger thut
weh, und wer zu Hause ein darbendes, frierendes Weib hat, wer das Jammern
seiner hungernden Kinder nach Brot vernimmt, wird stets auf ein menschliches
Mitgefühl rechnen dürfen, auch wenn die gesetzliche Strafe über ihn verhängt
werden muß. Für die Verübung der Roheitsverbrechen fehlt es aber an jeder
Entschuldigung, denn glücklicherweise haben wir doch wenigstens den Fortschritt
gemacht, daß die Trunkenheit nicht mehr so allgemein als Entschuldigung auf¬
gefaßt wird wie früher, wenn es auch jetzt noch nicht an Richtern fehlt, die
in dieser Beziehung einer verdammcuswerten sittlichen Schwäche huldigen.
Was soll aber aus unserm Volksleben werden, wenn diese Vermehrung der
Nvhcitsverbrecheu fortdauert, wohin soll es mit unsrer Gesittung, mit der
öffentlichen Sicherheit, mit der Achtung vor dem Leben der Nebenmenschen
kommen?
Es ist lui Laufe der letzten Jahre schon öfters auf diese beklagenswerte
Erscheinung aufmerksam gemacht worden, aber trotz aller Erörterungen, trotz
aller Klagen hat man bis heute noch nicht die Hand gerührt, um diesen Krebs¬
schaden in unserm Volke zu beseitigen! Im Gegenteil, fort und fort ver¬
hängen viele unsrer Gerichte gegen die mit dem Messer umgehenden Schnaps¬
lumpen Strafen von einer Wirkungslosigkeit, die Erstaunen hervorrufen müßte,
Hütte man nicht auf diesem Gebiete das Erstaunen längst verlernt, fort und
fort werden die nichtswürdigsten Unholde des neuzeitlichen Verbrechertums,
die Dirnenzuhälter, mit unbegreiflicher Milde behandelt. Kann es da Wunder
nehmen, wenn die Unsicherheit in den größern Städten täglich zunimmt, wenn
wir täglich in den Zeitungen von nächtlichen Überfällen, von barbarischen Mi߬
handlungen und Raufhändeln lesen. Wahrlich, die Gesellschaft ist zu bitterer Klage
gegen den Staat und seine Rechtspflege berechtigt ob des ungenügenden Schutzes
gegen das verrohte Gesindel unsrer Tage, und wir halten es für eine schwere
Unterlassungssünde, die sich jetzt schon empfindlich rächt, daß man diesen
Zuständen so lange zugesehen hat, ohne mit den wuchtigsten Abwehrmitteln dagegen
vorzugehen. Oder ist wirklich die Rüstkammer der Strafgesetzgebung erschöpft?
Wir glauben das nicht, zum Glücke ist das neue Reich uoch nicht auf dem
Standpunkte altersschwacher und absterbender Staaten angelangt, die dem ersten
aller Staatszwecke, der Verwirklichung des Rechtsschutzes, nicht mehr genügen
können. Der deutsche Staat ist noch kräftig genug, um die Messerhelden im
Zaume zu halten, er muß nur von seiner Kraft den entsprechenden Gebrauch
machen, unbekümmert um die Vorurteile, die ihm vielleicht bei mattherziger
Menschen noch entgegenstehen, und wir meinen, daß es dazu die höchste Zeit sei.
Die Reichsgesetzgebung hat das große Werk der Sozialreform durch ihre
unermüdliche Thätigkeit soweit gefördert, daß Wohl nach Abschluß der Alters¬
und Invalidenversicherung für einige Zeit Halt gemacht werden wird. Die
Militär- und Steuergesetzgebung ist durch die in den letzten Jahren erlassenen
Gesetze gleichfalls so ausgebaut worden, daß große, die Kraft der gesetzgebenden
Gewalten ganz in Anspruch nehmende Gesetze für die nächsten Jahre kaum zu
erwarten sind; es ist deshalb für die Abänderung der Strafgesetzgebung und
die hiermit in engstem Zusammenhange stehende Regelung des Strafvollstreckungs¬
wesens Zeit genug vorhanden, und es wäre bedauerlich, wenn sie nicht benutzt
würde, um das Verbrechertum in wirksamerer Weise zu bekämpfen. Bei Ab¬
fassung des Strafgesetzbuches für das deutsche Reich stand man noch vielfach
unter der Herrschaft einer Schule, die in der Festsetzung milder Strafen nicht weit
genug gehen konnte; die Erfahrungen, die man seitdem gemacht hat, lassen
hoffen, daß man den damals begangenen Fehler nicht wiederholen werde.
Möchte aber die Gesetzgebung nicht vergessen, daß auch für den Rechtsschutz
der Gesellschaft das alte Sprichwort gilt: Lif etat. <M vno äg.t.
and in Hand mit der Umgestaltung, die das ganze deutsche Reich
in jeder Beziehung hat durchmachen müssen, geht die Gebiets-
entwicklnng der Einzelstaaten, aus denen unser Vaterland zu¬
sammengesetzt ist. Erst wenn man sich von der letztern ein hin¬
reichend klares Bild gemacht hat, kann man die erstere völlig
verstehen und sich ein sicheres Urteil darüber bilden. Auf den Landerwerbungen
der Einzelstaaten. auf der Vergrößerung und Verminderung ihres Gebietes be¬
ruht nicht nur wesentlich ihre Macht, die politische Bedeutung, die sie in Fragen
der innerdeutschen und der großen europäischen Politik beanspruchen durften,
sondern diese Gebictscntwicklung hat auch in hervorragendem Maße die Ent¬
scheidung der Frage über die Führerschaft in Deutschland mit herbeigeführt.
Alle nur einigermaßen mächtigen Fürstenhäuser haben darnach gestrebt, diese
Führerschaft in einem möglichst großen Teile unsers Vaterlandes an sich zu
bringen; manche erlauchten Geschlechter haben in diesen Bestrebungen mehr oder
weniger bedeutende Erfolge zu verzeichnen gehabt. In den Jahrhunderten, die
auf den Sturz der Hohenstaufen, der zugleich den Verfall der Macht des mittel¬
alterlichen Reiches bezeichnete, folgten, geschah das meistens in der Weise, daß
die Kaiser, die man mit Vorliebe aus den kleinen Häusern wühlte, ihre Stellung
benutzten, um sich eine möglichst große Hausmacht zu schaffen, mit der sie dann
auf die schwächern Fürsten einen thunlichst starken Druck ausüben konnten.
Die meisten Kaiser haben jedoch mit dieser Politik weder etwas Bedeutendes,
noch namentlich etwas Dauerndes für ihr Haus und ihre Stammlande erreicht,
so z. V. Adolf von Nassau und Ludwig von Baiern. Zeitweilig blendend waren
die Erfolge dieser Politik bei dem Hause Luxemburg-Böhmen; Ungarn, Böhmen,
Mähren, Schlesien, die Niederlausitz, die Mark Brandenburg und zeitweilig die
Oberpfalz waren in rascher Folge an dieses Haus gefallen. Aber seine Größe
verschwand ebenso schnell wieder, wie sie entstanden war. Einen dauernden
Erfolg bei solchen Bestrebungen hatte nur die zähe Politik des Hauses Habsburg.
Die Habsburger vereinigten nicht nur mit dem Stammbesitze ihres Hauses
fast das ganze Erbe der Lützelburger, mit Ausnahme der Mark Brandenburg,
sondern zweimal waren sogar Fürsten dieses Hauses nahe daran, sich zu wirk¬
lichen Alleinherrschern im Reiche zu macheu. Als Karl V. den schmalkaldischen
Bund niedergeworfen und zersprengt hatte, schien für eine Zeit lang die Selbstän¬
digkeit der Reichsfürsten gebrochen und die Kaisermacht fast unbeschränkt geworden
zu sein. Als Ferdinand II., durch die siegreichen Truppen Wallensteins auf den
Gipfel der Macht erhoben, das Restitntionsedikt erließ, als sein Feldherr die
bekannten Aussprüche that, man müsse den Kurfürsten ihre „Gasthütel" abziehen,
und gleichwie in Spanien und Frankreich nur ein König sei, so solle hinfort
in Germanien auch nur Einer herrschen, da schien dem Hause Habsburg das
große Werk, Deutschland ganz unter sein Szepter zu bringen, gelungen zu sein.
Welche Umstände beide Male diese hochfligenden Pläne scheitern machten,
ist aus der allgemeinen Weltgeschichte bekannt genug. Dennoch war die Stellung,
die das ErzHaus dem Reiche gegenüber erlangt hatte, stark und mächtig genug,
um zu bewirken, daß die Leitung Deutschlands, insoweit von einer solchen bei
einem so schwerfälligen Körper, wie das alte Reich und wie später der
deutsche Bund es war, überhaupt die Rede sein kann, noch mehr als zwei Jahr¬
hunderte lang fast stets in den Händen Österreichs lag. Wenn schließlich jedoch
Österreich ganz aus Deutschland ausscheiden mußte, so wurde dieses Ausscheiden
nicht etwa durch die willkürliche Politik eines einzelnen Staates, nicht durch
die wenn auch uoch so feinen Berechnungen eines Staatsmannes, nicht durch
die glänzenden Waffenerfolge Preußens im Jahre 1866 allein herbeigeführt
sondern es war wesentlich mit eine Folge der Gebietsentwicklung des Kaiser¬
staates. Die Lösung des Bandes, welches diesen Staat mit dem übrigen Deutsch¬
land verband, war ja schließlich eine gewaltsame; aber man darf wohl mit Recht
sagen, Österreich wäre niemals mit Gewalt aus Deutschland hinausgedrängt
worden, wenn es nicht schon vorher in Bezug auf sein Gebiet mehr oder weniger
aus Deutschland „hinausgewachsen" gewesen wäre, wie es H. v. Treitschke sehr
treffend bezeichnet.
Alle auch nur einigermaßen bedeutenden übrigen Fürstenhäuser Deutschlands
haben in gleicher Weise darnach gestrebt, ihre Länder zu vergrößern und die
durch solche Vergrößerungen erlangte Machterwciterung dann zu benutzen, um
die schwächer» Nachbarn, namentlich die teuern Vettern, in eine möglichst
große Abhängigkeit von sich zu bringen. Der Erfolg war sehr verschieden. Die
glänzendsten Ergebnisse in dieser Beziehung erzielte das Haus Wittelsbach.
Seine Machtstellung war daher eine bedeutende, namentlich in den Zeiten des
Rheinbundes und des Wiener Kongresses. Noch im Jahre 1866, kurz vor
Ausbruch des Krieges, bot Preußen Baiern eine führende Stellung in Süd¬
deutschland an. Von den andern kleinern Dynastien war keine mächtig genug,
eine solche Stellung, uach der doch alle trachteten, auch nur in sehr beschränktem
Maße einzunehmen.
Wenn Preußen allein fähig und imstande war, die Leitung Deutschlands,
die es seit mehr als zwanzig Jahren errungen hat, in seine starke Hand zu
nehmen, so haben natürlich eine Menge Umstände zusammenwirken müssen,
um das herbeizuführen. Von unberechenbarer Wichtigkeit dabei waren die
Persönlichkeiten, die Fürsten, Feldherren, Staatsmänner, die für die Größe
dieses Staates gearbeitet haben; nicht unberücksichtigt dürfen auch die Vorgänge
bleiben, die man als Zufälligkeiten oder als Schickungen der göttlichen Vorsehung
auffassen kann. Aber von ganz besondrer Bedeutung für den Verlauf der
preußischen Geschichte ist die eigentümliche Gebietsentwicklung, welche der Hohen-
zollernstaat in der verhältnismäßig kurzen Zeit seines Bestehens durchgemacht
hat. Ohne diese hätte Preußen niemals seinen deutschen Beruf erfüllen können.
Es war in Deutschland, besonders in den Mittelstaaten, lange Zeit Gebrauch,
immer nur von den verschiedenen deutschen Stämmen und von ihren berechtigten
Eigentümlichkeiten zu reden. Der letztere Ausdruck findet sich zum erstenmale
amtlich in den von Schloß Babelsberg am 3. Oktober 1866 datirten Besitz¬
ergreifungspatenten, durch die Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt dem
preußischen Staate einverleibt wurden und ist dadurch geradezu ein geflügeltes
Wort geworden. Zu den Zeiten des Rheinbundes und nach den Befreiungs-
kriegen war man sogar noch weiter gegangen und hatte aus den Stämmen
gleich verschiedne Nationen gemacht. Bekannt ist ein Ausspruch des Königs
Friedrich von Württemberg, der zwischen der bairischen und preußischen „Nation"
keinerlei Zusammenhang finden konnte. Jene Könige und Fürsten von Napoleons
Gnaden liebten es sogar, ihre Länder als Reiche zu bezeichnen und bezeichnen
zu hören; noch heute heißt in Vaiern die gesetzgebende Körperschaft, die dem
Oberhause oder dem Herrenhause des Landtages entspricht, die Reichsratskammer.
Solche Bezeichnungen nimmt heutzutage auch wohl der eingefleischteste Parti¬
kularist nicht mehr ernsthaft. Aber über die „Stämme" und ihre „berechtigten
Eigentümlichkeiten," mit denen namentlich in den sechziger Jahren ein so heilloser
Unfug getrieben wurde, herrschen in unzähligen Köpfen noch die wunderlichsten
Begriffe, die unklarsten Vorstellungen. Es ist das auch gar nicht so überraschend,
wie man auf den ersten Blick glauben möchte. Denn eine geraume Zeit hindurch
war es fast offen ausgesprochener Grundsatz der Regierungen in den Mittel-
und Kleinstaaten, den Untertanen weiß zu machen, daß die Bevölkerung jedes
noch so kleinen Ländchens einen eignen deutschen Stamm vorstelle. Hierauf
begründeten die kleinen Dynastien nicht bloß ihre Berechtigung zur Existenz,
zur Selbständigkeit ihrer Staaten, zur völligen Souveränität, sondern sie wiesen
sogar daraus nach, daß ihr Vorhandensein für das Heil Deutschlands notwendig
sei, daß es auf einem tiefgefühlten Bedürfnisse des ganzen Vaterlandes beruhe.
Was man dem guten deutschen Michel, groß und klein, Menschenalter hindurch
so einpaukte, was er in der Jugend in hohen und niedern Schulen lernen mußte,
was ihm in reiferen Alter in Zeitungen, Reden, Loyalitätsadressen als unum¬
stößliche Wahrheit hingestellt wurde, das glaubte er anstand- und kritiklos. Die
Notwendigkeit der vielen Fürstenhäuser und der dadurch herbeigeführten Zersplit¬
terung des Ganzen wurde in Tausenden von Köpfen gewissermaßen Glaubenssatz.
Schiller und Goethe führten hierauf die Verbreitung von Kunst und Wissenschaft
in Deutschland zurück. Große Gelehrte und kleine Köpfe bewiesen die Wahrheit
dieser grundverkehrten Anschauung durch das Beispiel Griechenlands, dessen
Zerstückelung auch so segensreiche Folgen gehabt haben sollte. Die unbestreit¬
bare Folge, welche die Zerrissenheit jenes sogenannten klassischen Landes für
feine Bewohner hatte, daß die Griechen nämlich mehr als zweitausend Jahre
lang mißhandelte Sklaven fremder Nationen gewesen sind, durfte natürlich nicht
erwähnt werden. Daß es den Partikularistischen Interessen der Dynastien ent¬
sprach, solche Anschauungen unter dem Volke zu verbreiten, läßt sich erklären;
daß es aber Leute giebt, die auf eignes Urteil und selbstständiges Denken
Anspruch machen und doch solche Behauptungen noch heute nachsprechen, läßt
sich schwer begreifen.
Nichts ist ungeschichtlicher als die Ansicht, daß das Entstehen, die Bildung
und die Entwicklung der Einzelstaaten Deutschlands und damit ihre Daseins¬
berechtigung auf der uralten Teilung der deutschen Nation in Stämme beruhe.
Daß die Deutschen von jeher in Stämme geteilt gewesen sind, und daß diese
ihre Besonderheiten gehabt haben, ist richtig. Die Grenzen der von ihnen
eingenommenen Landgebiete lassen sich bis auf den heutigen Tag noch durch
die Begrenzung der verschiednen Dialekte wenigstens annähernd nachweisen und
feststellen. Ebenso ist es richtig, daß es einst eine Zeit gegeben hat, wo die
von Einzelfttrsten beherrschten Gebiete sich mit den Wohnsitzen der Einzelstämme
einigermaßen deckten. Unter den Kaisern aus dem sächsischen und dem saal¬
fränkischen Hause spricht man ja mit einem gewissen Rechte von den großen
Stammesherzogtümern Sachsen, Franken, Baiern, Schwaben und Lothringen.
Bei dieser Einteilung sind jedoch z. B. die Alemannen, die Thüringer, die Hessen,
die Friesen, die doch unzweifelhaft uralte Sonderstämme waren, ohne weiteres
andern Stämmen zugezählt; die Bewohner des Herzogtums Lothringen dagegen
können unmöglich als ein einheitlicher Stamm angesehen werden. Zu der Zeit
jedoch, als das erlauchte Kaisergeschlecht der Staufer unterging, waren diese
Stammesherzogtümer sämtlich zertrümmert, zerstückelt und in eine zahllose Menge
kleiner Gebiete auseinandergefallen. Außerdem hatten sie doch nur den Teil
Deutschlands umfaßt, der westwärts von der Elbe und Saale lag. Die weiten
Lande jenseits der Elbe, an der Oder und der Weichsel, bis über die Memel
hinaus, die in der Völkerwanderung von den Germanen geräumt und von den
nachdringenden Slawen eingenommen waren, und die dann mit Schwert und
Pflugschar für das Deutschtum zurückerobert wurden, finden bei dieser Stammes¬
einteilung einfach keinen Platz. Die durch Krieg und Arbeit abgehärteten und
gestählten kerndeutschen Bewohner von Brandenburg und Schlesien, Mecklenburg,
Pommern und Preußen, die in der Zeit der schwersten Not unser Volkstum
hochgehalten und gerettet haben, würden dann eigentlich und richtig gar nicht zu
Deutschland gehören. Derartige Ansichten, die namentlich das im Jahre 1820
auf Betreiben des Königs Wilhelm von Württemberg erschienene „Manuskript
aus Süddeutschland" in der schroffsten Weise aussprach, spuken noch heutzutage in
manchen Schwaben- und andern Köpfen. Berechtigt und begründet sind sie
aber in keiner Weise.
Die Entwicklung der Einzelstaaten Deutschlands in der Neuzeit hat mit
der alten Scheidung der germanischen Stämme gar nichts zu thun. Von allen
den Staaten, die jetzt das deutsche Reich bilden, ist nicht einer, der sich mit
Recht als den Vertreter einer der uralten Völkerstämme Germaniens ausgeben
könnte. Die größern Staaten sind aus mehreren Stämmen zusammengesetzt,
und die kleinern sind höchstens Bruchstücke irgend welcher Stämme. Bei der
Bildung derselben haben altberechtigte Stammeseigentümlichkeiten so gut wie
gar keine Rolle gespielt. Dynastische Interessen in erster Linie, Erbschaften,
Heiraten, Zufälligkeiten aller Art, nicht am wenigsten die nackte Gewalt haben
die Zusammensetzung der deutschen Staaten herbeigeführt. Das durfte man
aber doch den „Unterthanen" nicht sagen; darum suchte man die klägliche Blöße
mit jenem geschichtlich sein sollenden Mäntelchen von uralten, berechtigten Eigen¬
tümlichkeiten der Stämme zu decken. Daß Lippe-Detmold und Schaumburg-
Lippe, Reuß ni. L. und Reuß j. L. verschiedne Gesetze und Verwaltungs¬
einrichtungen haben, ist richtig. Aber daß man diese Besonderheiten mit der
pietätvollen Ehrfurcht ansehen soll, die man allem entgegenbringt, dem die Ge¬
schichte ihre Weihe gegeben hat, ist doch zu viel verlangt. Die Bewohner des
bairischen Regierungsbezirkes Schwaben und Neuburg, des größten Teiles von
Württemberg, der Fürstentümer Hohenzollern sind zwar eines Stammes, aber
darum sind sie doch zunächst Baiern, Württemberger und Preußen.
Wie schnell oder wie langsam sich dieses Gefühl der politischen Zusammen¬
gehörigkeit, das Bewußtsein, Glieder eines und desselben Staates zu sein, in
den Bevölkerungen der willkürlich zusammengewürfelten Gebiete ausgebildet hat,
dafür ist wieder die Gemeinsamkeit oder die Verschiedenheit der Stämme nicht
im geringsten maßgebend gewesen. Die Schwaben am Lech und die Franken
in den Landen am Main haben sich willig und ruhig und fast ohne jedes
Widerstreben der bairischen Regierung gefügt und sind sehr rasch mit der alt-
bairischen Bevölkerung verwachsen. Die rheinfränkischen Bewohner der Pfalz
sind bis auf den heutigen Tag noch keine richtigen Baiern. Hierbei darf jedoch
der Einfluß der geographischen Lage nicht unterschätzt werden. Die Bewohner
der zahlreichen Gebiete und Gebietsfetzen, aus denen das heutige Königreich
Württemberg zusammengesetzt ist, gehörten zum weit überwiegenden Teile sämt¬
lich dem schwäbischen Stamme an. Das hinderte aber durchaus nicht, daß
Jahrzehnte hindurch endlose Zänkereien und Streitigkeiten zwischen Alt- und
Neu-Württembergern, gewaltige Stürme, wenn auch nur Stürme im Glase
Wasser, alles öffentliche Leben im „schwäbischen Reiche" ausfüllten. Sogar
Uhland nahm bei diesen Katzbalgereien, die den übrigen Deutschen ziemlich un¬
bedeutend, fast lächerlich erscheinen mußten, so leidenschaftlich Partei, daß man
fast glauben mußte, das Heil des ganzen, großen Vaterlandes hätte von dem
„guten, alten Rechte" der altwürttembergischen Schreiberznnft abgehangen.
Schließlich trug doch überall der Staatsgedanke, die Staatseinheit den Sieg
davon, wenn auch die Gegensätze im einzelnen noch bis auf den heutigen Tag
fortdauern.
Daß z. B. die Franken in den alten Hohenzollernlanden Ansbach und
Baireuth und in der vormaligen Reichsstadt Nürnberg ebenso zu Baiern gehören,
wie die Franken in den frühern Krummstabslanden Bamberg, Würzburg und
Aschaffenburg, ist der Bevölkerung bekannt genug. Die Gemeinsamkeit des
Stammes ist aber, trotzdem daß diese Gebiete jetzt seit mehreren Menschen¬
altern demselben Staatswesen angehören, nicht imstande gewesen, die Gegen¬
sätze zu verwischen, welche die Verschiedenheit der Religion, der frühern
Regierungsform u. s. w. den Bewohnern jener Bezirke aufgeprägt hat. Daß
aber gar diese unter bairischen Szepter lebenden Franken mit den rheinischen
Franken gleichen Stammes sind, davon findet sich im Volksbewußtsein keine
Spur. Das wissen nur Geschichtskenner. Die politische Zusammengehörigkeit,
auch wenn sie schon geraume Zeit gedauert hat, hat zwar gewisse Besonder¬
heiten und Gegensätze, die auf Stammeseigentümlichkeiten beruhen, nicht
ausgleichen und verwischen können; das schlagendste Beispiel im ganzen Reiche
ist dafür wohl die auffallende Verschiedenheit zwischen den Bewohnern der
Rheinprovinz und Westfalens, die doch so unmittelbar benachbart sind und so
ungeheuer viele gemeinsame Interessen haben. Aber eben so wenig wie die
Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Staate die Stammesverschiedenheiten auf¬
gehoben hat, eben so wenig hat das Bewußtsein der Stammesgcmeinsamkeit
jemals lange Stand gehalten gegen eine politische Trennung, die durch irgend
welche Ursachen herbeigeführt wurde. Das schlagendste Beispiel dafür bieten
wohl die ehemals kursächsischen Bewohner der preußischen Provinz Sachsen
und die des jetzigen Königreichs Sachsen. Die Gemeinsamkeit des Stammes
hindert durchaus nicht, daß die einen sich völlig als Preußen, und nur die
andern sich als Sachsen fühlen.
Eine Darstellung der Gebietsentwicklung der wichtigern Staaten Deutsch¬
lands in der Neuzeit, d. h. in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten, fällt
also wesentlich zusammen mit der Geschichte der wichtigern Fürstenhäuser, die
an der Spitze von mehr oder weniger großen Teilen unsers Vaterlandes und
unsrer Nation gestanden haben und noch stehen. Ihr Emporkommen, ihr
Sturz oder ihr Aussterben, Heiraten und Erbverbrüderungen, glückliche oder
unglückliche Kriege mit ihrem Gefolge von Eroberungen oder Landverlusten,
die mehr oder weniger große Geschicklichkeit und Thatkraft von Fürsten, Diplo¬
maten und Gesandten bei Verträgen und Friedensschlüssen, Gunst- und Gnaden¬
bezeugungen, Launen und Willkürlichkeiten der Kaiser und andrer Macht¬
haber, Vergewaltigungen aller Art, Mediatisirungen, Säkularisirungen, In-
korporirungen, Annexionen, diese Dinge hauptsächlich und daneben tausenderlei
andre Umstände und Zufälligkeiten, welche fast in jedem Falle auf die wirk¬
lichen und vermeintlichen Interessen der Dynastien zurückzuführen sind, haben
ausschlaggebend auf die Gebietsentwicklung der deutschen Staaten eingewirkt.
Die geschichtlich begründete Verschiedenheit der einzelnen Stämme unsrer großen
Nation und ihre berechtigten Eigentümlichkeiten haben in den großen Umge¬
staltungen, die unser Vaterland in dieser Beziehung durchgemacht hat, in den
letzten drei Jahrhunderten kaum in irgend einem Falle eine auch nur nennens¬
werte oder gar eine bedeutende Rolle gespielt. Als Aushängeschild, als faden¬
scheiniger Vorhang, hinter dem sich der kleinlichste und engherzigste Partikula¬
rismus, die nackteste Selbstsucht und der rücksichtsloseste Eigennutz bequem
verbergen ließen, haben sie lange und oft genug dienen müssen. Solche Schlag¬
wörter ließen sich gut gebrauchen, wenn es galt, im Interesse der regierenden
Häuser die einzelnen Zweige unsers großen Volksstammes gegen einander zu
verhetzen und zu Streit und Krieg anzuspornen. Es ist wirklich die höchste
Zeit, daß diese hohlen Redensarten von den verschieden deutschen Stämmen
und ihren uralten, geschichtlich berechtigten Besonderheiten und Gegensätzen, die
längst jeden Sinn und jede Bedeutung verloren haben, und die auf die Ent¬
wicklung Deutschlands in der Neuzeit kaum eine Spur von Einfluß gehabt
haben, einmal ganz aufhören oder wenigstens doch nicht mehr von Männern
gebraucht werden, die darauf Anspruch machen, Verständnis für geschichtliche
Vorgänge und eignes politisches Urteil zu haben. Wenn Polen, Dänen und Fran¬
zosen, ich meine wirkliche, echte, nicht jene albernen und verächtlichen Thoren
oder abtrünnigen Verräter mit gut deutschem Namen und von gut deutscher Ab¬
stammung, die es lieben, ihrer jämmerlichen Persönlichkeit durch slawischen,
skandinavischen oder gallischen Firniß einen vermeintlichen Glanz zu geben, wenn
jene Fremden, die in unsern Reichsgrenzen leben, auf Grund ihrer Nationalität
Gegner des Reiches sind, so läßt sich das verstehen und begreifen, ja von ihrem
Standpunkte ans gewissermaßen begründen und rechtfertigen. Nicht etwa als
ob einem ehr- und vaterlandsliebenden Deutschen jemals der Gedanke kommen
könnte, den sogenannten nationalen Ansprüchen jener Ausländer auch nur um
eines Fingers Breite nachzugeben. Daß solche Angehörige fremder Nationali¬
täten auf unserm heimatlichen Boden wohnen, beruht auf geschichtlichen Ereig¬
nissen und Umständen, an denen das jetzt lebende Geschlecht nichts ändern
kann; ihre Zugehörigkeit zum Reiche, ihr Verbleiben dabei ist eine politische
Notwendigkeit. Bei dem Ringen der Völker um politisches Dasein, um natio¬
nale Selbständigkeit gilt es, entweder Hammer oder Ambos sein. Unser Vater¬
land hat Jahrhunderte lang die letztere Rolle spielen müssen und unsäglich
schwer gelitten unter den Schlägen des auswärtigen Hammers. Es war wirklich
die höchste Zeit, daß die Rollen einmal vertauscht wurden, und daß man den
Fremden gegenüber, die sich auf unserm heimatlichen Boden eingenistet haben,
nach dem Grundsatze verfuhr, den ein Spottvers aus der Zeit der Befreiungs¬
kriege, der sich auf Napoleon bezieht, kurz in folgenden Worten zusammenfaßt:
Du hast uns nun genug geknufft;
Man wird dich wieder knuffen, Schuft!
Wollen aber die Ausländer, die früher stets unsre Nationalität mißachtet
und mißhandelt haben, sich der Herrschaft des deutschen Geistes und des
deutschen Schwertes nicht fügen, wollen sie nicht deutsche Gesittung und Ge¬
sinnung annehmen, so kann man ihnen nur wohlmeinend anheimgeben, andre
Länder aufzusuchen, wo sie die Befriedigung ihrer angeblich berechtigten natio¬
nalen Ansprüche und Forderungen finden. Deutschland kann ihrer entraten und
wird es gern thun.
Doch, wie gesagt, das Pochen der Angehörigen fremden Nationen auf ihr
eignes, gesondertes Volkstum läßt sich erklären und würdigen. Wenn aber
Leute, die sich zu Vertretern kerndeutscher Volksstämme aufwerfen und sich stets
dafür ausgeben, die gern die „reindeutschen" Bevölkerungen der Mittel- und
Kleinstaaten in schroffen Gegensatz stellen zu dem eigentlich slawischen und nur
oberflächlich germanisirten Osten, wenn bairische, schwäbische, sächsische und
welfische Partikularisten immer und immer wieder das „uralte, historisch be¬
gründete, unveräußerliche" Recht der einzelnen deutschen Stämme auf Ab¬
sonderung, auf Selbständigkeit im Munde führen, nur um das Gefüge des
jungen Reiches zu lockern und den führenden Staat zu verdächtigen und zu
schädigen, so verdient ein solches Verhalten eine ganz andere Beurteilung. Daß
die Zerrissenheit und Zersplitterung unsers Vaterlandes unsre ganze Nation
dem Verderben und dem Untergange nahe gebracht hat, ist zweifellos. Daß
diesen. Zustande, der unser Volkstum der Vernichtung entgegenzuführen drohte,
ein Ende gemacht werden mußte, und zwar um jeden Preis, nötigenfalls auch
mit Gewalt, mit Blut und Eisen, das kann eben so wenig jemand leugnen, der
ein Herz für sein Land und einen offenen Sinn für seine Daseinsbedingungen
hat. Wenn wirklich die deutschen Stämme zu diesem Zwecke einige ihrer
Eigentümlichkeiten und Besonderheiten auf dem Altare des Vaterlandes hätten
opfern müssen, nun, so mußte eben dieses Opfer zum Heile des großen Ganzen
gebracht werden. Aber das ist niemals und von keiner Seite verlangt worden.
Daß die Aufrechterhaltung und Währung der Stammeseigentttmlichkeiten, so
weit sie berechtigt, d. h. so weit sie geschichtlich begründet sind, sich sehr wohl
mit einer straffen Staatseinheit verträgt, dafür giebt es keinen schlagenderen
Beweis als die mehr als zweihundertjährige Geschichte des brandenburgisch-
preußischen Staates. Die Brandenburger, die Pommern, die Schlesier, die
Westfalen und die Rheinländer, die Bewohner der Provinzen Preußen und
Sachsen und der neuen Provinzen haben durchaus und in jeder Weise un-
beeinträchtigt ihre Stammeseigentümlichkeiten behalten können und dürfen,
aber das hat niemals gehindert, daß sie echte Preußen und zugleich treue
Deutsche waren und sind. Den Fürstenhäusern, die durch ihren „gott-
und rechtlosen Souveränitätsschwindel," um einen Ausdruck Bismarcks
zu gebrauchen, unser Vaterland so lange und so schwer geschädigt haben,
sind allerdings nach dieser Richtung hin einige Opfer zum Besten des Vaterlandes
zugemutet worden, aber auch keine schwereren, als unumgänglich notwendig
waren, und als sie recht wohl bringen konnten. Die Behauptung aber, daß
Preußen die einzelnen deutschen Stämme sämtlich vergewaltigen, knechten, borussi-
fiziren, uniformiren wolle, und wie die Schlagwörter alle weiter heißen, ist
einfach eine entweder bewußte oder unbewußte Unwahrheit. Die Zahl derer,
welche sich durch diese völlig unbegründeten Stichwörter blenden lassen, ist ja,
Gott sei Dank, nicht mehr groß, sie verringert sich immer mehr, und die meisten
von ihnen, die diese hohlen Redensarten gedankenlos nachsprechen, darf man
nicht in zu hohem Maße dafür verantwortlich machen: sie plappern eben ge-
bauten- und kritiklos das nach, was man ihnen in ihrer Jugend, zu den
Zeiten des seligen Bundestages, vorgeredet hat. Nicht vielen kräftigen Geistern
ist es gegeben, die Fesseln, die Unverstand und vielleicht absichtliche Fälschung
der Geschichte dem jugendlichen Geiste angelegt haben, ganz abzuwerfen. Das
Gcbcchren aber jener Hetzer und Treiber, jener verbissenen Partikularisten, jener
offenen Preußen- und verkappten Reichsfeinde, die um kleinlicher Interessen
willen oder vielleicht gar aus Haß und Bosheit immer von neuem die alte
Zwietracht unter den Deutschen anzufachen streben, kann nicht scharf genng ge¬
brandmarkt werden. Jeder Vaterlandsfrcund kann nur wünschen, daß diese
würdigen Herren samt ihren polnischen, dänischen und französischen Freunden,
deren Genossenschaft sie hinreichend kennzeichnet und richtet, ihren Wohnsitz nach
irgend einer überseeischen Küste verlegen. Das Vaterland kann auch sie ent¬
behren. Denn wer nicht treu zu Preußen hält, dem Kerne, der Grundlage und
der Stütze der neugeeinten Nation, der hält anch nicht treu zum Reiche, nicht
treu zu Deutschland.
Derjenige Staat, der von 1815 bis 1366, zu den Zeiten des seligen Bun¬
destages, es liebte, den höchst uneigennützigen Beschützer der sogenannten
Einzelstämme und ihres berechtigten Sonderlebens bis zu den kleinen und
allerkleinsten hinab zu spielen, d. h. der in Wirklichkeit sich bemühte, die Zer¬
splitterung und die Uneinigkeit der Einzelstaaten, diesen Fluch unsers Vater¬
landes, aufrecht zu erhalten und zu verewigen, war Osterreich. Allerdings
hatte Österreich in seiner eignen Politik niemals auch nur die geringste Rück¬
sicht auf die widerstrebendsten Nationalitäten, ihre Gegensätze und ihre Bedürf¬
nisse genommen, geschweige denn, daß es sich um solche Kleinigkeiten wie
Stammescigcntümlichkeiten hätte kümmern können. Wo die Interessen Österreichs,
d. h. die Interessen der Dynastie und der herrschenden Kasten, nämlich des
hohen Adels und der Geistlichkeit, in Frage kamen, da hatten die tiefsten na¬
tionalen Interessen, die höchsten nationalen Güter der Völker niemals auch nur die
geringste Rolle spielen dürfen, und wenn sich einmal eine Stimme dafür erhoben
hatte, so war sie immer sofort mit Gewalt zum Schweigen gebracht worden,
so lange die Gewalt vorhanden gewesen war. Das hätte eigentlich jeder den¬
kende Geschichtsforscher, jeder scharfblickende Politiker wissen müssen, und diese
Kenntnis der altüberlieferten Habsburg-lothringischen Haus- und Staatspolitik
hätte besonnene Männer eigentlich schwankend machen müssen in dem festen
Glauben an die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit dieser Beschützcrrolle, hätte auch
vertrauensselige Leute etwas kopfscheu und unsicher machen sollen in der Über¬
zeugung, daß Österreich diese Rolle als Beschützer des berechtigten Sonder¬
lebens der einzelnen deutschen Stämme nur aus reiner Uneigennützigkeit und aus
deutschem Patriotismus übernommen habe. Dennoch erhob sich Menschenalter
hindurch in Deutschland kaum eine einzige Stimme in diesem Sinne, in den
Mittel- und Kleinstaaten gar nicht, aber auch in Preußen eigentlich erst dann,
als die Vorgänge in Warschau, bei Bronzell und in Olmütz wenigstens einer
Reihe von urteilsfähigen Persönlichkeiten gerade in den maßgebenden Kreisen die
Augen geöffnet hatten.
Wie mögen die Fürsten Wolfgang Klemens von Metternich und Felix von
Schwarzenberg, die Grafen von Nechberg und von Mensdorff-Pouilly und
hundert andre minder hervorragende Minister und Diplomaten der Hofburg
sich ins Fäustchen oder anch nach römischer Augurenart einander angelacht
haben, wenn immer aufs neue der deutsche Michel auf diese mit echt-österreichischem
Biedersinn hingehaltene Lockspeise hineinfiel, wenn immer aufs neue die deutsche
Nation mit echt wienerischer Gemütlichkeit über den Löffel barbiert wurde, ohne
anch nur das Gesicht dabei zu verziehen. Der höchste Triumph der schlauen
k. k. Staatskunst war aber der, daß sogar Preußen fast ein halbes Jahrhundert
lang, abgesehen von einer kurzen Unterbrechung, sich von dieser Politik hatte
nasführen lassen, und daß diese systematische Majorisirung von vielen Kreisen,
besonders von der konservativen Partei, in der damals doch das alte Preußentum
am reinsten vertreten war, als höchste Weisheit gepriesen wurde.
Thatsächlich hat Osterreich, von den Zeiten des Wiener Kongresses an bis
zu der „großen preußischen Woche" im Jahre 1866, in der die Krieger Preußens
auf den blutigen Gefilden Böhmens das Band, das zum Schaden beider Reiche
den Kaiserstaat allzu enge mit Deutschland verband, mit blankem Stahle durch¬
hieben, nichts gethan, als eine Einigung Deutschlands auf jede mögliche Weise
und durch alle denkbaren Mittel verhindert. Zum Heile des deutschen Vol¬
kes hat der Staat, dessen Fürsten Jahrhunderte lang als des heiligen römi¬
schen Reiches Oberhäupter die Krone Karls des Großen getragen hatten, nie¬
mals auch nur das Geringste gethan, aber stets das, was von andrer Seite,
namentlich von seiten Preußens, zum Besten der Nation geplant war, ge¬
hindert, so lange es in seiner Macht stand. Der einzige Anlauf, den Österreich
scheinbar gemacht hat, um eine größere Einigung des zerfahrenen und jammer¬
vollen Bundes herbeizuführen, der Frankfurter Fürstentag von 1363 mit dem
Entwürfe einer angeblichen Bundesreform, hatte in Wirklichkeit nur den Zweck,
die Leitung der deutschen Angelegenheiten noch mehr in seine Hand zu bringen,
Preußen noch mehr in die zweite Stelle zu drängen, die Abhängigkeit der
Mittel- und Kleinstaaten noch zu vergrößern und dadurch die Macht Deutsch¬
lands noch mehr für das habsburgische Sonderinteresse auszunutzen, als es
bisher schon der Fall gewesen war. Wie kläglich dieser Versuch scheiterte, ist
an einer andern Stelle geschildert worden.*)
Dagegen hatte sich Österreich und das Haus Habsburg unleugbare Ver¬
dienste um die Dynastien der Einzelstaaten erworben, die Hohenzollern natürlich
ausgeschlossen. Es hatte im Vertrage zu Ried (8. Oktober 1813) Baien
nicht nur seine volle Souveränität gewährleistet, sondern auch alle die Gebiete,
die der Preis des schmählichen Bündnisses mit Frankreich gewesen waren, oder
es hatte ihm doch für alle etwaigen Abtretungen gleichwertige Entschädigungen
zugesichert. Nach diesem Muster waren auch die Verträge mit den meisten
übrigen Rheinbundsstaaten abgeschlossen worden. Hierdurch hatte Österreich
zwar schon im voraus eine wirkliche Einigung Deutschlands verhindert, wie
das in dem Buche, auf das eben hingewiesen ist, näher dargelegt ist; aber
hierdurch hatte es den Fürsten der Mittel- und Kleinstaaten das Kleinod
gerettet, um deswillen so viel Treulosigkeit, so schwarzer Verrat am Vater-
lande, so beschämende Niederträchtigkeiten, so rechtswidrige Vergewaltigungen
vorgekommen waren, nämlich die unbeschränkte Souveränität. Noch größere
Verdienste hatte es sich um die Erhaltung der albertinischen Wettiner in dem
frühern Kurfürstentums, dem jetzigen Königreiche Sachsen erworben. Es ver¬
hinderte auf die Gefahr eines großen Krieges hin (Kaiser Franz wollte ja
lieber schießen lassen, als die Entsetzung dieser Dynastie zugebe«), daß an dem
Könige von Sachsen die gerechte Strafe vollzogen wurde, die der Aufruf von
Kalisch den Nheinbundsfürsten angedroht hatte, welche noch fernerhin auf
feiten des Erbfeindes kämpfen würden. Darin, daß der sächsische König wenig¬
stens mit dem Verluste etwa der Hälfte seines Landes gestraft wurde, willigte
Kaiser Franz auch nur in der festen, allerdings fehlgeschlagenen Erwartung,
daß die getrennten Teile dieses Landes bald wieder vereinigt werden würden.
Gegenüber einem auswärtigen Diplomaten, der mit der Teilung nicht einver¬
standen war, that er ja den Ausspruch in seinem „gemütlichen" Deutsch: „Nu,
was bruddeln S' mit'in Kopp? Wird es getrennt, kommt es halt zuerst wieder
z'sammt"
Den Dank, auf den das ErzHaus dafür Anspruch machen konnte, daß es
ihr Bestehen und ihre Souveränität gerettet hatte, bewiesen die deutschen Fürsten
durch eine unbedingte Nachgiebigkeit, Willfährigkeit und Gefolgschaft, unbedingt
natürlich nur so weit, wie ihre Sonderinteresscn, namentlich die unbeschränkten
Rechte ihrer Kronen, nicht angetastet wurden. Von Übergriffen Österreichs in
dieser Beziehung hatten sie nicht viel zu fürchten; die Zeiten des vorigen Jahr¬
hunderts, in denen die unruhige, ländergierige Politik Kaiser Josefs II. alles
aufgeboten hatte, um namentlich Baiern, wo möglich auch noch Württemberg
dem Kaiserstaate einzuverleiben, waren vorüber, und es war nicht so leicht zu
befürchten, daß sie jemals wiederkehren würden.
Die Kreise der klein- und mittelstaatlichen Beamten folgten dem An¬
triebe, der von feiten der Höfe gegeben wurde, und zeigten meist eine aus¬
gesprochene Vorliebe für Österreich, schon um sich nach oben hin beliebt zu
machen, während es in den meisten dieser'Hof- und Regierungskreise geradezu
zum guten Tone gehörte, von Preußen möglichst geringschätzig und mißachtend
zu reden, es zu verkleinern und herabzusetzen und ihm überall entgegen¬
zuarbeiten, so weit die gewöhnlich ziemlich beschränkten Mittel es gestatteten.
Diese preußenfeindliche und österreichfreundliche Strömung wurde nach Kräften
gefördert, verstärkt und vertieft durch die ultramontan gesinnte katholische
Geistlichkeit, und darüber wird man sich gar nicht sehr verwundern, wenn man
sich in ihre Anschauungen hinein zu denken vermag und sich auf ihren Stand¬
punkt stellt. Viel wunderbarer, ja fast unbegreiflich ist es, daß auch die ortho¬
doxe evangelische Geistlichkeit, namentlich gerade die, die es stets liebte, mit
ihrem reinen, unverfälschten Luthertums zu prahlen, besonders in Sachsen,
Hannover, Mecklenburg, Meiningen u. s. w., eine so entschiedne und völlig
blinde Parteinahme für den Kaiserstaat an der Donau hegte und zeigte. Diese
Erscheinung, die bis auf den heutigen Tag noch hie und da fortdauert, und
für die es keinerlei Rechtfertigung giebt, man mag sich nun auf den theo¬
logischen Standpunkt stellen oder auf den politischen, insofern er echt evangelisch
und gut deutsch ist, läßt sich nur durch den allereinseitigsten, kurzsichtigsten und
verranntesten Partikularismus erklären.
Alle diese bezeichneten Kreise wirkten zusammen, um unter der großen
Masse der Deutschen, die Gebildeten nicht ausgeschlossen, und zwar nicht bloß
in den Kleinstaaten, sondern zum Teile selbst in Preußen, über Österreich Vor¬
stellungen zu verbreiten, die nichts weniger als der Wirklichkeit entsprechend
waren. Da diese irrigen und verkehrten Vorstellungen noch jetzt in manchen
Köpfen spuken, so ist es auch heute noch, obwohl sich alle Verhältnisse so sehr
geändert haben, vielleicht nicht zwecklos, einige Worte darüber zu sagen.
(Fortsetzung folgt.)
MMHnsre Universitätsgeschichte ist fast ohne Ausnahme — und mit
Recht — Spezial- und Lokalgeschichte. Die örtlichen Schicksale
sind in ihr die Hauptsache, die Charakteristik der Zustände und
die Motivirung der allgemeinern Grundlage derselben tritt da¬
gegen zurück. Und wir dürfen nicht sagen, daß die Verfasser der
Spezialgeschichten diese als bekannt voraussetzten und mit Fug und Recht
voraussetzen durften; vielmehr müssen wir bekennen, daß ein umfassendes
und völlig adäquates Bild der mittelalterlichen Universitätsverhältnisse von
der Forschung noch nicht wieder hervorgerufen ist." Diese Worte, mit denen
Zarncke vor Jahrzehnten seine Beiträge zu einer Universitätsgeschichte im
Mittelalter einleitete, galten bis auf den heutigen Tag. Die einzelnen
Universitäten fuhren fort mit fleißiger und übergenauer Zusammenstellung
ihrer Jahrbücher und Aktenstücke, aber eine Geschichte der Universität blieb
trotz oder vielleicht wegen der vielen Geschichten der Universitäten ungeschrieben.
Die großen Universitätsjubiläen der letzten Jahre scheinen nun das Augen¬
merk ganz besonders auf diesen Punkt gelenkt zu haben. 1885 erschien
der erste Teil der gelehrten Arbeit Dcnifles über die Universitäten des Mittel¬
alters bis 1400; in diesem Jahre, dem Jahre der ehrwürdigsten Jubelfeier
einer Universität, der Universität Bologna, und ihr zugeeignet, führt sich
der erste Band eines Werkes ein, das auf Anregung und mit Beihilfe
des preußischen Kultusministeriums unternommen, auf breitester Grund¬
lage eine „Geschichte der deutschen Universitäten" zu geben verspricht.*) Der
Verfasser, Georg Kaufmann, Professor in Straßburg, scheint berufen, diese Lücke
in der geschichtlichen Litteratur auszufüllen. An umfassenderen historischen Vor¬
würfen bereits bewährt, besitzt er die nicht allzuhäufigen Vorbedingungen für
die vorliegende Aufgabe: Weite des Überblickes und eine dem Begriff der
univorLiws entsprechende, verhältnißmüßige Allseitigkeit des Jnteressenkreises.
Auch die für kulturgeschichtliche Darstellungen ganz besonders nötige Gabe an¬
ziehenden Vortrciges, geschickter Anordnung, verbunden mit der Fähigkeit, die
Massen des Stoffes nach entscheidenden Grundsätzen zu bewältigen, zeichnen
ihn in nicht gewöhnlichen Grade ans.
Wie schon die Widmung andeuten kann, befinden wir uns in diesem Etn-
leitungsbande noch nicht bei unserm Thema, noch nicht ans deutschem Boden.
Die mittelalterliche Universität ist zwar in ihrem gesellschaftlichen Zusammen¬
hange eine wesentlich germanische Schöpfung. Aber ihre bis in die ersten Zeiten
unsers Jahrtausends zurückreichenden Anfänge fallen außerhalb Deutschlands.
Die Namen zweier deutschen Kaiser, Karls des Großen und Friedrich Barba¬
rossas, bilden die Marksteine für die Entstehungsgeschichte der Universitäten, die
man früher gern in unvordenkliche Zeiten zurücklegte. Dadurch treten sie in
eine eigenartige Beziehung zu den staatlichen Anfängen des Volkes, dessen Geistes¬
leben später am innigsten mit ihnen verwachsen sollte. Karls Verdienste um das
gesamte verfallene Schulwesen seiner Zeit sind allbekannt. In seinen energi¬
schen Bemühungen um die wissenschaftliche Ausbildung der Geistlichkeit liegen die
treibenden Keime, aus denen unmittelbar die Universitäten hervorwuchsen. Diese
Bemühungen setzten unter seinen Nachfolgern nicht aus. Allgemeine Verord¬
nungen der Kaiser, Gründungen von Schule», die von ihnen ausgehen, beweisen
das Interesse des Staates an gelehrter Bildung, welches damals, als im wesent¬
lichen der Geistlichkeit zu gute kommend, sich noch durchaus in Harmonie mit
den kirchlichen Obergewalten befand. Schon früh hebt sich der bedeutendere
Kopf, das Lehrtalent, im allgemeinen der berühmte Name in weitem Umkreise
heraus. Ein gefeierter Lehrer eines Klosters wirbt in allen Landen für dessen
Schule. Dem Andrange zu genügen, wird die Einrichtung einer äußern Kloster¬
schule für Fremde, neben der innern für die künftigen Mönche und Kanoniker,
nötig. Sehr bald emanzipiren sich solche Lehrkräfte. Sie werden gesucht, sie
versammeln außerhalb des Nahmens der festen Kloster- oder Kirchenschule Schüler
für ihre freien Vorträge, sie gründen schließlich auf ihren Namen ganze Schulen.
Das Geschäft ist ein ausschlaggebender Faktor für die äußere Organisation auch
der wissenschaftlichen Studien. „Die Universitäten sind aus keiner Art der
mittelalterlichen Schulen direkt hervorgegangen, sondern aus dem teilweise aller¬
dings in Anlehnung an Kirchen- und Klosterschulen entwickelten Treiben eines
Standes von Gelehrten, die aus dem Lehren und Lernen einen Lebensberuf
machten." Ihre Schulen waren oft reine Privatunternehmungen in beliebigen,
oft abgelegenen Orten auf dem Lande. Allein die durch Pfründen gesicherten
Kirchen- und Klosterschulen boten doch einen natürlichen Anhalt. Ein hier
angestellter berühmter Magister oder MwlWtivus fand die Grundlage vor und
hatte nur Schwung in das gesamte wissenschaftliche Treiben zu bringen. Junge
Dozenten wurden ausgebildet und versuchten sich in und neben der Schule, wie
es in den alten Rechtsschulen Italiens üblich war. Der Titel Magister war
kein Diplom, er galt lediglich der Beschäftigung. In Italien war diese Art
der Lehrthätigkeit seit der Blüte der Grammatiker- und Rhetorcnschulen des
Altertums nie abgerissen. Nun verbreitete sie sich (im elften und zwölften
Jahrhundert) über den gesamten höher entwickelten Kontinent, und gewisse
Mittelpunkte, auch für die Richtung der Studien, machten sich bald geltend.
„Siehe, da lernen die Kleriker in Paris die freien Künste, in Orleans die Auto¬
ren, in Bologna den Kodex, in Salerno Medizin, in Toledo die Dämonen
(Astrologie?) und nirgends gute Sitten," so klagt der französische Abt Helinand.
Aus der großen Zahl der wissenschaftlichen Zentralstätten aber — wir nennen
nur Se. Gallen und Reims — die es zu großem Ruf und einer durch Geschlechter
dauernden Blüte brachten — ragen früh jene beiden hervor, die das aka¬
demische Leben des Mittelalters zu dem unsrigen in Beziehung setzen: Bologna
und Paris. Sie zeigen die ersten Ansätze zu fester Organisation, sie erhalten
die ersten Privilegien und werden dadurch Muster und Anlchnungspunkte für
das gesamte Universitätsleben, wie es sich nunmehr entwickelt.
An den Namen des zweiten der genannten deutschen Kaiser knüpft sich
wiederum dieser Anfang. Auf dem berühmten Reichstage auf den Roncalischen
Feldern 11S8, der so bedeutungsvoll für den jungen deutschen Reichsgedanken
ist, erließ sein verkörpertes Symbol, Kaiser Friedrich der Rotbart, das Gesetz
über die^uttiMtiog,, nach dem Anfangsworte Havitg, genannt, die erste Universitäts¬
akte. Sie nimmt alle diejenigen, welche og-usel Lwäiorura xöroZriuÄuwr.
d. h. alle, welche „Studirens halber" an fremdem Orte leben, wo sie nicht heimats-
berechtigt (ohne Bürgerrechte) sind, in des Kaisers besondern Schutz. Namentlich
bezieht sich dies auf Haftbarmcichung der Scholaren, d. i. Studenten oder
Professoren, für Schulden oder Vergehen ihrer Landsleute. Bologna, die alte
Rechtsschule, rühmte sich, dem Kaiser, als er 1155 vor ihrer Stadt lagerte, die
Anregung zu diesem bedeutungsvollen Schritte gegeben zu haben. In der That
lassen sich dessen Wirkungen, obwohl auf alle Schulen gehend, zunächst und
am bedeutendsten in Bologna spüren. Das kaiserliche Privileg gab dort zu¬
gleich den Antrieb zur Bildung von Genossenschaften, um seinen Genuß zu
sichern und seiner Anerkennung bei den städtischen Behörden gegebenen Falls
den nötigen Nachdruck zu verschaffen. So tritt der rmivsrsitg.8 oivwra, wie
sich die mittelalterliche Stadtgemeinde bezeichnet, nunmehr geschloffen eine
uvivöiÄtW selrolarwin gegenüber. Man sieht, daß der Name Universität in
seiner jetzigen Bedeutung als Gesamtheit der Wissenschaften mit seinen Anfängen
wenig zu thun hat. Wie wichtig er aber damals erschien, lehren die
unaufhörlichen Reibungen und Kämpfe, mit deuen die neuen Körperschaften ins
Leben traten. Kurz nach diesen Anfängen Bolognas, im Beginn des dreizehnten
Jahrhunderts, organisirt sich Paris, d. h. es bietet eine nicht abreißende Reihe
von Skandalen zwischen Studentenschaft und Bürgerschaft, in die der Hof ver¬
wickelt wird. Die Drohungen der Studentenschaft gegen die Stadt, die in
einer förmlichen Auswanderung gipfeln, lehren, wie die junge Macht sich zu
fühlen beginnt. Und auf diesem akademisch-republikanischen Wege entstehen wirklich
bereits neue Universitäten, Padua von Bologna aus, wie später in Deutschland
Leipzig von Prag. Die Auswanderung der Pariser auf Anlaß einer Vorstadtschlägerei
in der Fastnacht 1229 (bei der den Studenten auf königlichen Befehl von der
Polizeigewalt übel mitgespielt worden war) wird eine weltbewegende, inter¬
nationale Angelegenheit. König Heinrich III. von England ladet die Aus¬
wanderer förmlich ein und stellt ihnen alle Städte seines Gebietes mit der denk¬
barsten Freiheit zur Verfügung. Der Papst Gregor IX. muß sich ins Mittel
legen. Seine Bulle Garens soigntiÄrum 1231 ist für Paris von ähnlicher
Wichtigkeit, wie die ^ntdsnticZÄ UMtg, für Bologna. Sie regelt die Verhältnisse
der Universität zum Kanzler des Bischofs, dein geistlichen Vorstände jener Uni¬
versitäten in Frankreich und England, die man im Gegensatz gegen die Stadt¬
universitäten Italiens darnach Kanzlernniversitüten nennen kann. Sie ist für
die akademische Gerichtsbarkeit im allgemeinen ebenso bedeutungsvoll, wie Kaiser
Friedrichs Erlaß für die akademische Freiheit.
Paris und Bologna zeigen die Grundtypen, aus denen das akademische
Leben erwachsen ist. In Bologna die republikanische Scholarenverfassung, in
Paris das Magisterregimcnt, dort der Rektor ein vornehmer Student, der als
oberster Ausschuß die Leitung der Studentenschaft übernimmt, sie zu vertreten
hat, hier ein Magister, der ihre Geschäfte beamtenmäßig besorgt. Die Aus-
bildung des Rektorats im heutigen Sinne sowie der „Fakultäten", des Lehrer¬
kollegiums übernimmt die französische Universität, die Gestaltung der Studenten¬
schaft, ihre Einteilung und Stufenfolge in akademischen Graden geht auf ita¬
lienische Muster zurück. Es ist merkwürdig, daß auch in Paris die Rektorwürde
von unten heraufwächst. In den dreißiger Jahren des dreizehnten Jahrhunderts
erscheint sie zum erstenmale verknüpft mit dem Vorstande der Artistenfakultät.
Die Artistenfakultät, die der freien Wissenschaften (artss), die heutige „Philo¬
sophische," galt als Voraussetzung der andern, der Geschüftswisscnschaften,
eine Einteilung, aus der sich die wunderliche Vorstellung der philosophischen
Fakultät als „unterer" im Gegensatz zu den drei „oberen" festsetzte. Noch am
Ende des vorigen Jahrhunderts hat Kant in seinem „Streit der Fakultäten" mit
launigen Tiefsinn darauf Bezug genommen. Nichts destoweniger gab die untere
Fakultät der Universität ihren Rektor. An Zahl sowohl der Magister als der
Studenten die bedeutendste, lag ihr die Vertretung der Universitätsintcressen
am meisten ob. Sie setzte sich also in eins mit der ganzen Körperschaft, und
ihr Vorstand war eben der Rektor, während die andern Fakultäten, trotz ihrer
wenigen Magister, besondre Vorstände, die Dekane, hatten. Die Wichtigkeit
des Nektoramtes, das lange Zeit dem der Dekane der obern Fakultäten an
Rang nachstand, trat aber immer mehr hervor, je mehr sich die Universitäts-
cinrichtung zusammenschloß, je mehr sie sich gegen die geistlichen Eingriffe,
gegen das alte Aufsichtsamt des bischöflichen Kanzlers zu wehren hatte. Das
gemeinsame Oberhaupt, das sich im Rektorat ausgebildet hatte, trug mit
der Behauptung der Unabhängigkeit von selbst den Sieg in dem Rangstreite
innerhalb der Universität davon. „Außer dem Rektor haben wir kein andres
Haupt als den Papst," heißt es bereits 1283. Was die Verhältnisse der
Studentenschaft betrifft, so gruppirte sie sich im Gegensatz zu den Magistern,
nicht nach Fakultäten, sondern nach Nationen; der persönliche, nicht der wissen¬
schaftliche Charakter war das Ausschlaggebende. Der alte italienische Gegensatz
zwischen „Citramontancn und Ultramontanen" lag hier zu Grunde, und an allen
Universitäten, nach den örtlichen Verhältnissen verändert, hat er sich, wie man
sich erinnert, bis in die neuere Zeit erhalten. Nach der Entdeckung Amerikas
eröffnete das kosmopolitische Bologna feierlich eine neue „Nation" für das
nunmehr akademisch nicht mehr abgeschlossene „Indien." Die Fakultäten hatten
auf die landsmannschaftliche Gliederung der Studentenkorporation keinen Einfluß.
Als es ums Jahr 1300 in Bologna zu einem Bruche der übrigen Fakultäten
mit der überhcrrschenden Juristenfakultät kam, der zu einer Absonderung der
Mediziner, Artisten und Theologen von den Kanonisten und Legisten als be¬
sondre uolvea-Liws mit besondern, Rektor führte, da teilten sich beide Parteien
wiederum jede für sich in Nationen. Das Prinzip der Fakultäten lag der
Trennung hierbei nicht zu Grunde. Wohl aber hatte es natürlich Bedeutung
für den Lehrgang und die Prüfungen. Hier hatte jede Fakultät ihre besondern
Vorschriften. Die Abstufungen der Prüfungen und der davon abhängenden
akademischen Grade kamen zwar an den verschiedenen Universitäten zu ver¬
schiedenartigem Ausdruck, beruhten aber doch wohl auf dem gleiche« Prinzip
der Zweiteilung. Das Baccalareat (nicht Baccalaureat; das Wort hat mit
limrus, Lorbeer, kaum etwas zu thun) ging dem Doktor vorher, es entspricht
dem heute üblichen Kandidaten. In den Universitäten des Bologneser Typus
bezeichnete es auch im wesentlichen dasselbe, während es auf den Kanzler¬
universitäten des Pariser Musters mit einer scharfen Prüfung (gegen Weih¬
nachten) verbunden war. Bologna kannte nur das Doktorexamen, und zwar
mit privatem und öffentlichem Mus, wie es noch heute üblich ist. Der
akademische Entwicklungsgang war hier weniger langwierig, wohl auch freier.
Der Doktor war hier die übliche Bezeichnung bei den Juristen, der Magister
bei den Artisten. Auch das hat noch Anwendung auf neuere Zeiten. Fausts
„Magister und Doktor gar" mag sich, wie wir annehmen, wohl auf seine Zu¬
gehörigkeit auch zur oberen Fakultät beziehen, oder es mag wenigstens ein ähn¬
liches Gefühl in der Wertschätzung der beiden Titel bei Goethe zu Grunde
gelegen haben. Die Prüfungen waren streng, namentlich die des Baccalareus
in Frankreich und England, der hier in der Novellenlitteratur so charakteristisch
ist. Sie berechtigten ursprünglich nicht zu Staatsämtern, aber nicht wenige
Graduirte, die dann die öffentliche Prüfung als lästig empfanden, wandten
sich ihnen zu. Namentlich in Italien griff bald die Erwerbung des Titels um
des Titels willen um sich. Da es hier mit großem Aufwand verknüpft war,
so erklärt es sich, daß auch die Prüfungspraxis sich sehr bald darnach einrichtete.
Bei dem spektakelsüchtigen Volke ward die Promotion rein zur prunkvollen
Szene. Schon Petrarca kann den Doktorhut, der einen Thoren im Nu zum
Weisen verwandelt, verspotten.
Mit diesen grundlegenden Organisationen war die Ausgestaltung der Uni¬
versität (Mitte des dreizehnten Jahrhunderts) im wesentlichen abgeschlossen,
mindestens nach Geist und Form entschieden. Den an den Brennpunkten der
mittelalterlichen Wissenschaft (der theologischen in Paris, der juristischen in
Bologna) bewährten Mustern beugten sich alle Universitäten, mochten sie sich
organisch gebildet haben, wie die alten englischen Schulstätten Oxford und
Cambridge (bis auf die Beibehaltung des Kanzleramtes), oder von staatlicher
Seite aus mit bewußtem Zweck (aus territorialen Rücksichten) gegründet worden
sein, wie bereits Neapel (von Kaiser Friedrich H.), in Spanien Lerida (von
Jakob von Arragonien) und die berühmten castilischen Universitäten. Die später
gegründeten deutschen Universitäten hielten sich besonders an das Pariser Muster.
Es ist damit nicht gesagt, daß bei dieser Bildung der Universitäten riva-
lisirende Einflüsse ausgeschlossen gewesen seien. Bereits mehr als drei Jahr¬
hunderte vor dem gewaltigen Vorstoß der Jesuiten gegen die Universitäten in
der Zeit der Gegenreformation hatte ihre Bildungsstätte Paris einen ähnlichen,
durch seine möglicherweise ausschlaggebende Bedeutung viel gefährlichern Kampf
zu bestehen. Die grosze, in ihren Anfängen sehr segensreiche Macht der Bettel¬
orden (der Dominikaner und Franziskaner) im wissenschaftlichen Leben des
Mittelalters ist allgemein bekannt. Ebenso aber auch die haßerfüllte Opposition,
die starre Negation, die sie schließlich dem Fortgange der Wissenschaften ent¬
gegensetzten. Aus der löblichen Erkenntnis der Verrottnng des durch die gre¬
gorianischen Siege grenzenlos übermütigen Klerus hervorgegangen, hatten diese
Orden von Anfang an ihre besondre Pflege der von ihm vernachlässigten
Wissenschaft zugewandt. Die Universität Paris ermunterte sie in diesem Be¬
streben und schenkt ihnen ihr erstes Ordenshaus, das in der Weltgeschichte
noch später so traurig berühmte Kloster Se. Jakob, das ihnen ihren Namen
gab. Aber die mittelalterlichen Jakobitcn oder Jakobiner waren nicht minder
gefährliche Freunde der akademischen Freiheit, als die neuzeitlichen Freunde
der politischen. Aus den freundlich geförderten Mitarbeitern wurden sehr
bald gefährliche und erdrückende Konkurrenten. Wenn es auch hier mit
Hilfe der sich bald den Machtgelüsten der Orden entgegenwerfenden Strö¬
mung gelang, ihrer Herr zu bleiben und das Aufgehen der Universität in
Ordenscmstaltcn zu verhüten, ein wichtiger Faktor im Universitätsleben blieben
sie doch. Man muß die Vorteile berücksichtigen, welche die Orden im
Universitätsleben doch unzweifelhaft auch boten. Der freie Student und
Magister stand für sich allein, den Stürmen des Lebens preisgegeben, bei
wissenschaftlichen Angriffen auf sich selbst angewiesen. Der kongregirte Ordens¬
mann fand sich schon als Schüler in einer gesicherten Stellung, in einer
Umgebung, die allerdings für ihn dachte, die sich aber auch für ihn interes-
sirte, ihn vor Not und Sorgen und als Lehrer vor Mißerfolgen möglichst
sicherte, auf deren Deckung er, wissenschaftlich angegriffen, rechnen konnte, und
was der Vorteile mehr sind, die sich jede Zeit aus ihrem eignen wissenschaft¬
lichen Leben wird abziehen können. „Alles das macht keinen großen Gelehrten,
aber es hilft dem, der sonst dazu beanlagt ist, über die größten Schwierig¬
keiten hinweg, es befreit die Seele von demjenigen Druck, dem nicht selten
gerade die tiefer angelegten Naturen erliegen, weil sie neben dem treibenden
Gefühlen ihrer Gaben und ihrer Kraft auch die Unruhe empfinden, welche die
unlösbaren Rätsel erwecken, an die die Forschung hinführt." Diese Vor¬
teile, welche die Magister und Scholaren der Ordenshäuser vor den übrigen
hatten, traten zu deutlich hervor, als daß man sich dem hätte verschließen
können, und um ihnen entgegen zu wirken, griff man nach dem besten Mitttel,
das sich bot, indem man ähnliche Einrichtungen ohne Ordenscharakter für die
freien Scholaren traf. Es sind die Kollegien, von denen manche so bedeutungs¬
voll werden sollten. Die erste und zugleich berühmteste Stiftung dieser Art ging
von einem Privatmanne, dem Kanonikus Robert von Sorbon, aus; es war
die durch ihre Einrichtung, ihre Bibliothek, den Eifer und die Erfolge ihrer
Mitglieder zu wissenschaftlichem Weltruf gelangende Pariser Sorbonne (1257)
gegründet in der Zeit des heftigsten Kampfes zwischen der Universität und den
Bettelmönchen.
Man muß aber nicht glauben, daß durch diese Unterschiede und Sonderlingen
auch entschieden trennende Gegensätze im Äußern des Universitätsbaues hervor¬
gerufen worden wären. Das akademische Leben des Mittelalters war im Gegen¬
teil durchaus einheitlich. Vom Garigliano bis nach Schottland galt derselbe
Schülergruß, erschollen dieselben Gesänge, deren ehrwürdigste schon ebenso ver¬
nehmlich durchs zwölfte Jahrhundert hallen, wie durchs neunzehnte. Ja es ist
sicher keine bedeutungslose Erscheinung und keine geringe Ehre für diesen köstlichen
Sang, der schon deu jungen Gymnasiasten so kräftig zu den Bächen des Wissens
lockt und dem greisen Gelehrten noch einzig das Herz mit Jugendlust zu erfüllen
vermag, lange bevor es Universitäten gab, d. h, „lange ehe es zur Ausbildung
der Formen und Einrichtungen der Universitäten kam," gab es schon Studenten-
lieder. Das zwölfte Jahrhundert ist die Blütezeit jenes wandernden Schüler-
tums, dessen Konsolidirung die Organisation der Universitäten förmlich heraus¬
forderte. Das waren die Wanderjahre, um ein einschlägiges Bild zu ge¬
brauchen, die goldene Muluszeit der akademischen Freiheit. Und diese Werde¬
lust, dieser knospende Drang, der eine so edle, reiche Frucht im Schoße trägt,
das ist es ja, was diese Lieder so unnachahmlich, so anziehend, so herzerquickend
macht. Und ob sie gleich durch alle Lande wandern, den Sänger bald über¬
mütig in die Siebenhügelstadt, in den Palast des heiligen Vaters, bald minne¬
trunken in die Arme der schönen Königin von Frankreich versetzen, ihre
Heimat ist vorzugsweise Deutschland, ist der Rhein. Da lassen sie, wie später
Jena, das ehrwürdige Trier leben und mischen die ersten zarten Töne des
deutschen Minnesangs mit ihren unübersetzbaren lateinischen Reimen. Auch
das ist ein Merkmal, wo eigentlich die geistige Wiege der Universitäten steht,
wenn auch der Wandertrieb der deutschen Jugend ihre sichtbare Wiege ins
Ausland verlegte. Deutsche sind es, die nach den Berichten bei einem Skandal
voran sind, aber sie sind zugleich berufen wegen ihres wissenschaftlichen (histo¬
rischen) Sinnes. Man darf sich das mittelalterliche Studentenleben nicht als
seine wüsteste Periode vorstellen. Dies ist sicherlich das siebzehnte Jahr¬
hundert, von dessen akademischen Leben Tholuk eine ebenso anschauliche als
anwidernde Schilderung entworfen hat. Namentlich hatte sich der den ganzen
Stand schauderte „Pennalismus," die unwürdige Sklaverei der Neulinge unter
den Senioren, damals noch nicht entwickelt. Was die mittelalterlichen Scho¬
laren gerade besonders auszeichnet, ist ihre akademische Gleichheit. Alte, bemooste
Häupter mit Familie stellte da der gleiche Lerntrieb neben junge Burschen von
fünfzehn Jahren, unbefangen — oft allzusehr, wie die Skandalberichte melden —
stand der Professor (Magister) mitten unter seinen Schülern, deren keiner
sich schenen durfte zu opponiren und selbst das Katheder zu besteigen, vor dem
er lernend saß. Kein Abschließen, kein der Jugend und der Wissenschaft
fremdes Zünftler- und Kastenwesen läßt sich spüren- Selbst aus den Convikten
der Dominikaner schollen leider ost aus ganz besonders feuchten Kehlen die
allgemeinen Trinklieder. Gerauft wurde viel, aber nach allen Universitäts¬
berichten fast ausschließlich mit dem feindlichen, gewinnsüchtigen Bürger (der
Ausdruck „Philister" ist uach Wort und Sinn später), dem eifersüchtigen Bauern,
nicht mit den Genossen. Bei aller Lüderlichkeit machte sich „der Segen einer
auf geistiger Arbeit beruhenden Gemeinschaft immer wieder geltend." Rührend
ist der Lerneifer, die Hingebung an die allgemeine Wissenschaft, die keine Pfründen
zu vergeben hat, „keine Schätze wie Galenus, keine Ehren wie Justinian." Ver¬
söhnend wirkt die überlegene Selbstironie des ausgesogenen armen Teufels, der
„den Rock vertrunken und das Hemd verspielt" hat, der sich elend und verstoßen
in einem großen Orden fühlt, welcher alle aufnimmt, auch die ärmsten, die
verachtetsten. Das alles macht das mittelalterliche Studentenleben einheitlicher,
namentlich das Schüler und Lehrer gleichermaßen umspannende Scholarentum
macht es charakteristischer als das unsre.
Fragt man nun nach der geistigen Macht, die im Stande war, dies
neue und eigentümliche gesellschaftliche Gebilde zu erwecken, die den großen
allgemeinen Studentenorden zusammenhielt, so wird man wieder einmal auf
einen jener Widersprüche geführt, an denen das geistige Leben so reich ist und
die sich nur ungenügend auf materielle Grundlagen zurückführen lassen. Die
Scholastik (wie diese geistige Macht in engster Beziehung zu dem Schülerwesen
des Mittelalters heißt) ist in der gesellschaftlichen Umgebung ihrer Zeit ein
Rätsel. Viel besser würde die Mystik zu ihr passen, und dennoch ist jene in
ihr das Ursprüngliche und diese erst der Gegenschlag. Man wird es daher dem
Verfasser Dank wissen, daß er seinem Werke über die Scholaren des Mittel¬
alters eine orientierende Einleitung über die Scholastik als besonders Kapitel
voranstellt. Die Scholastik ist sehr lange Zeit, seit ihrer Überwindung durch
Humanismus und Naturforschung, der Popanz des geistigen Lebens und in der
Folge das besondre Stiefkind der Geistesgeschichte gewesen. Das ist nach und
nach anders geworden. Erst gemahnte eine weit berühmte und einflußreiche
Philosophie, die Hegelsche, in unserm Jahrhundert wunderlich wieder an ihre Ten¬
denzen. Dann folgte, erst widerwillig, aber mit pflichtmäßiger Gründlichkeit
die Geschichtswissenschaft. Als ein Beleg für beides wird der künftigen Zeit
noch lange die schwergelehrte „Geschichte der Logik im Abendlande" des soeben
allzufrüh verstorbenen Prantl vor'Augenstehen. Man ist nun gerechter auch
gegen diese verschrieene Periode des Menschengeistes geworden, und bequem ab¬
sprechende Urteile, wie die aus Schopenhauer und Dühring geholten, sollten
heute nicht mehr möglich sein. Kaufmann zeigt in geschmackvoller Zusammen¬
stellung ihre hauptsächlichen Lebenskräfte, er zeigt, daß die Scholastik nicht tot,
sondern oft nur allzusehr mit dem Leben, dem politischen (im Kampf zwischen Kaiser
und Papst) und dem kirchlichen (in der Dogmenentwicklung) verquickt war, er
zeigt die ewige Gleichheit der gesellschaftlichen Grundkräfte im Geistesleben auch
dieser Zeit, und weist auf ihre Beziehung zu den modernen sozialen und rechtlichen
Fragen hin. Sehr schön hebt er ihr Grundprinzip heraus, jene naive Freude
geistig frischer Nationen, ihre Kraft an der Bewältigung des für sie unermeßlichen
Einzelnen zu bewähren; wie sie da in dem vom philosohpischen Altertum über¬
kommenen logischen Begriff ein Zaubermittel gefunden zu haben wähnten, gleichsam
ein Amulet gegen die anstürmende Fülle der Anschauung. Denn das Mittelalter
geht sonst auf in rein sinnlicher Auffassung der Dinge, ganz in der gleichen Weise,
wenn auch nicht in demselben Grade wie jene Jägerstämme in der „neuen Welt",
die den Vogel nicht kennen, aber den Adler und den Geier, nicht einmal die Eiche,
sondern diese und jene Eiche auf ihrem Pfade. Man versteht von diesem Gesichts¬
punkte die heißen Kämpfe dieser Zeit um die uinvsrsMg., daß Jahrhunderte
nötig waren, um hinter den eigentlichen Sinn der Begriffe zu kommen, daß
nicht etwa das „Tier an sich" als „Realität" irgendwo in der Welt her¬
umlaufe.
Der Erörterung bedürfen ferner in diesem Kapitel die örtlichen Be¬
dingungen der geistigen Mittelpunktsbildung. Paris, die mator 8wäivrum,
steht hier für alle, die frühe Großstadt, bei der wie heute die Reize des
Lebens nicht der kleinste Grund für die Anziehung auch der Wissenschaft
gewesen sein mögen. Und jene feine französische Kunst der Jnszenirung, ist
sie nicht auch hier in Anschlag zu bringen? Das auszeichnende Hui ?s,ri,8Ü8
Lvnolas rexit (Vorsteher einer Schule in Paris) des mittelalterlichen Scholaster,
der Ng-Fistsr LollsZü LordoQivi sind sie nicht die Vorläufer des spätern
Nvilidrs as 1'In8elwe, des Ah l'acÄäviniö kiM^iss u. s. w.? Haben nicht alle
Völker die Formen und Urformen ihres gloirs auf allen Gebieten aus Paris
bezogen? Aber sehr zu berücksichtigen ist doch neben diesen Aeußerlichkeiten des
französischen Einflusses der wissenschaftliche Eifer im ganzen Frankreich zur Zeit
der Gerbert und Abcilard, der damals unter den Nationalitäten den Franzosen das
Studium zuerteilte und den Italienern das Papsttum, den Deutschen das
Kaisertum überließ;*) ebenso der doch nicht bloß im schlimmen Sinne, in der
Gallischen Neuerungssucht, offene Blick für das Neue, der, wie noch in den neuern
Zeiten, alles nach Paris wies, was sich Bahn zu brechen hatte in Wissenschaft und
Kunst. Das übermütige Wort „Paris ist die Welt" darf zum mindesten auf
eine lange Geschichte hinweisen, in der es geglaubt wurde.
Aber was machte auf der andern Seite gerade Bologna zum Mittelpunkt
des gelehrten Italiens?*) Was schob die Gründung der deutschen Universitäten
so lange hinaus? Das bleibt eine offene Frage, wie doch so manches in der
Universitätsgeschichte des Mittelalters.
Der Verfasser hat bereits mit diesem Bande seines Werkes einen glück¬
lichen Griff gethan. Er hat mit dieser „Urgeschichte der deutschen Universitäten"
zugleich ein abgeschlossenes Bild der Entstehung der Universitäten im allgemeinen
gegeben und damit die reichen Forschungen der letzten Zeit, dnrch die eignen vervoll¬
ständigt und berichtigt, mit seinem Stempel gemünzt und in Umlauf gesetzt. Ohne
Polemik geht es dabei freilich nicht ab, und wie er sie reichlich (an seinem gleich¬
zeitigen Partner Denifle) geübt hat, so wird sie sich auch sein Werk gefallen zu lassen
haben. Doch kann dies seinen Wert nicht beeinträchtigen und seinem energischen
Fortgange höchstens zu gute kommen. Daß das besondre Thema: Die deut¬
schen Universitäten in ihrer fortlaufenden Entwicklung nicht schon in diesem
Bande in einem Schlußkapitel hinkend einsetzt, war nicht nur durch den Gesamt¬
charakter des Werkes, sondern schon aus einfachen architektonischen Rück¬
sichten geboten; es kann jetzt auf der Grundlage dieses ersten Bandes nun in
der Fortsetzung um so rascher von der Stelle rücken. Der Verfasser wird
somit bald an eine gleichfalls höchst umfassende, durch reiche Bearbeitung und
bedeutenden Inhalt schwer zu bewältigende und wirklich noch nicht bewältigte
Aufgabe kommen: Die Universitätsgeschichte der Reformationszeit. Ob es ihm
wirklich möglich sein wird, den dritten Band bereits mit Halle und Göttingen,
d. h. mit der jüngsten Universitätsperiode zu beginnen? Erstrebenswert für die
Wirkung des Ganzen wäre es, und wir wünschen ihm zu der gewaltigen Arbeit
des Zusammenfassens in diesem zweiten Bande Glück und Gelingen. Als An¬
hang soll schließlich „eine kritische Überschau über die seit Kant und Schleier¬
macher sich immer erneuernden Reformvorschläge beigegeben werden," die
als Ertrag der vorausgehenden Geschichte zugleich eine praktische Mahnung zur
steten Fortführung in dem idealen Sinne ihres Ursprunges darstellen möge.
u
r die dritte Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft hatte
Kuno Fischer den Festvortrag übernommen; er galt einer der am
meisten besprochenen und die reinste Wirkung dauernd ausübenden
Dichtungen Goethes. Allgemein gespannt war man auf die neuen
Gesichtspunkte, die Fischer der „Iphigenie" abgewinnen würde,
manche hofften auch wohl auf neue Mitteilungen ans dem Goethearchiv.
Aber nicht allein die letztere Erwartung sollte unerfüllt bleiben (das noch
Unbekannte wird der Weimarischen Ausgabe des Stückes zu Gute kommen),
der Festvortrag war auch so weit entfernt, den künstlerischen Wert des Dra¬
mas zu erleuchten, daß er der herrlichen Dichtung vielmehr Gewalt anthat
und, statt uns den Herzschlag derselben fühlen zu lassen, in ihr inneres
Leben einzuführen, von der lebendigen Auffassung durch Winkelzüge ableitete.
Ich bin mir der Tragweite dieses scharfen Urteiles über den jetzt in zweiter
Auflage als erstes Heft von Fischers „Goetheschriftcn" vorliegenden Festvortrag
wohl bewußt, aber, seit einem halben Jahrhundert redlich bemüht, das Ver¬
ständnis Goethes zu fordern, muß ich mich um so bestimmter gegen diese neue
Auffassung erklären, je leichter das Ansehen Fischers und seine selbstbewußte Dar¬
stellung irre führen können.
Der Festredner war nicht abgeneigt, in der Grundidee der Dichtung
eine Verwandtschaft mit der ernsten Stimmung zu finden, in welche seine „große
und heilsame Mission" den Dichter in Weimar versetzt hatte. Mit solchen geist¬
reichen Blicken, die sich um die thatsächliche Wahrheit wenig kümmern, wird
vielfach ein leichtes, ja loses Spiel getrieben. Der Boden, in welchem unser Drama
wurzelt, ist nicht so allgemeiner Art, die Dichtung sollte der Herzogin von
Weimar, die eben nach langer Erwartung das Land mit der Geburt einer Prin¬
zessin erfreut hatte, Goethes Verehrung ihrer hehren, jeder Unreinheit unzu¬
gänglichen Weiblichkeit bezeigen, die er vertraulich so oft ausgesprochen, die ihn
auch bestimmte, in seinen Tagebuchbemerkungen, wo er die Namen der be¬
deutendsten Personen durch Sternzeichen andeutete, ihr das Pentagramm zuzu¬
leiten, das im Altertum Heil und Segen bezeichnet, in den mittlern Zeiten als
Abwehr von allem Bösen galt. Hatte er in den beiden frühern Jahren den
Geburtstag der Fürstin durch dramatische, mit reichem Pomp ausgestattete Spiele
gefeiert, deren Inhalt eine Seelenheilnng war, so wollte er jetzt, wo die nahe
Entbindung eine theatralische Feier ausschloß, der glücklich genesenen seine Hul¬
digung in würdiger Weise zollen, indem er die alles Böse heilende Gewalt
reiner Weiblichkeit in einer die Seele tief ergreifenden, den klassischen Ton an¬
schlagenden, allen theatralischen Prunk ausschließenden Dichtung zur Anschauung
brachte, und zu diesen, Zwecke beschloß er des Euripides Drcnncitisirung der
rohen Tempelsage von dem Raube des in Tauris vom Himmel gefallenen Bildes
der Göttin Artemis und seiner Rettung nach Athen oder vielmehr Brcmron
zu vergeistigen. Demnach sollte diese Festdichtung die reine, milde Weiblichkeit
Jphigeniens im Gegensatz zu der leidenschaftlichen Gier der kein Mittel zu ihrem
Zwecke scheuenden Männer anschaulich entwickeln. Freilich sind alle Personen
des Dramas in ihrer Art edle Menschen, die deshalb auch sämtlich unsern
Anteil erregen (die wilde Gier wird nur als vergangen geschildert), aber alle
überstrahlt Jphigeniens heilige Reinheit, vor der die übrigen sich verehrungs-
vvll beugen. Fischer dagegen betrachtet als Grundzug das Religiöse (warum
nicht lieber, zur Ausschließung der Beziehung auf eine bestimmte Religion, das
Fromme?), ja er bezeichnet als Ziel seiner Rede die Beleuchtung dieses religiösen
Charakters. Die Erfüllung der religiösen Sendung, von der sich Iphigenie
getragen fühle, bilde den Inhalt des Stückes. Die von der Göttin wunderbar
gerettete Tochter Agamenmons fühle sich berufen, die Retterin ihres Hauses zu
werden, was nur dann möglich sei, wenn sie rein und schuldlos bleibe. Aber
Goethes Heldin ist keineswegs so beschränkt, daß sie mit Beziehung auf ihre
geheimnisvolle Sendung sich von aller Schuld frei hielte, die Reinheit ist die
Luft, in welcher ihre Seele sich allein leicht und wohl fühlt.
Mit Fischers Annahme einer religiösen Sendung stimmt es wenig, wenn
es gleich darauf heißt, „das ganze Thema der Dichtung und auch deren Glie¬
derung" lasse sich in die Antwort auf die Frage fassen, ob Jphigeniens Ver¬
trauen zu den Göttern, das sich in dem Gebete an ihre Göttin I, 4 (doch nicht
dort allein) ausspricht, oder das grause Parzenlied am Ende des vierten Aus¬
zugs Recht behalte. Davon kann gar keine Rede sein, da Iphigenie selbst die
Götter anruft: „Rettet euer Bild in meiner Seele!" Die Handlung ist durchaus
menschlich; sie spielt in Jphigeniens von arger Not bedrängten Gemüte. Weiter
wird als Grundthema des Stückes die Entführung eines fluchbeladenen Ge¬
schlechts angegeben. Doch der Gedanke an Entführung, nicht des Geschlechts,
sondern des Hauses, tritt erst im vierten Aufzug hervor, beseelt Iphigenien
keineswegs von Anfang an. Auch ist es nicht wahr, wenn behauptet wird, sie
allein fühle sich zur Entführung ihres Hauses berufen, welche Fischer hier mit
der Heilung des Orest von seinem Schuldbewußtsein verwechselt.
Diese sich widersprechenden Auffassungen waren nicht möglich gewesen, wenn
Fischer die dramatische Entwicklung der Handlung verfolgt hätte, statt sie sich
stückweise zurechtzuschueiden und von dem Vorurteile einer religiösen Sendung
sich den Blick trüben zu lassen. Da hat er denn einzelne Stellen des Stückes zum
Beweise seiner Ansicht angeführt, ohne deren Veranlassung und eigentliche Be¬
ziehung zu berücksichtigen. Was wir Iphigenie im vierten und fünften Aufzuge,
nachdem so manches ihre Seele erschüttert hat, äußern hören, kann nichts für
ihre Anschauung im ersten beweisen. Von der leider sehr verbreiteten Unart,
herausgerissene Stellen ohne weiteres als Beweismittel zu verwenden, sollte ein
Mann von Fischers klarer Anschauung und scharfer Unterscheidung sich frei halten.
Zum Beweise, daß Iphigenie von der Sendung, die Retterin ihres Hauses
zu werden, erfüllt sei, führt Fischer den Schluß ihres ersten Selbstgespräches
an, wo sie ihre Göttin bittet, sie endlich den Ihrigen wiederzugeben. Von der
Rettung ihres Hauses ist dort so wenig die Rede, daß sie hofft, bei ihrer Rück¬
kehr Vater, Mutter und Geschwister unversehrt wiederzufinden, was sie auch
Thoas gegenüber äußert. Fischer schließt unmittelbar daran ihre Bitte im
fünften Aufzug, der König möge sie mit reiner Hand und reinem Herzen zurück¬
kehren lassen, damit sie ihr Haus entführe. Von einer Entführung ihres
Hanfes kann sie freilich jetzt sprechen, nachdem sie Agamenmons und Klytäm-
nestrens Ermordung durch die nächsten Verwandten vernommen hat, aber nicht
am Anfang, wo sie davon noch nichts ahnt. Schon im vierten Aufzuge
gedenkt sie ihrer Hoffnung, „dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen die
schwerbefleckte Wohnung zu entsühnen." Freilich ist es ein kleiner Widerspruch,
wenn sie hier bemerkt, sie habe diese Hoffnung schon diese Jahre über gehegt.
Dieser Widerspruch ist aber erst durch die letzte Bearbeitung hineingekommen,
man kann wohl sage», dem Dichter entschlüpft.
Verfolgen wir die weitere Entwicklung nach Jvhigeniens erstem Selbstge¬
spräche, das nur von ihrer Hoffnung spricht, dem Vater wiedergegeben zu werden;
denn mir so gewinnen wir das geistige Band, das bei der Weise, wie Fischer
die abgerissenen und dann wieder zerstückelten Stücke, den Charakter der Iphi¬
genie, die Schuld des Tantalus und die Erlösung des Orestes, auf seinem
philosophischen Sezirtisch einzeln behandelt, ganz verloren geht. Das erste,
was Jphigcniens Seele lebhaft aufregt, ist des Königs Bewerbung, die ihr
Herz ablehnen müßte, wenn sie auch nicht sich auf ihr Vertrauen, die Göttin
wolle sie ihrem Vater und den Ihrigen wiedergeben, als entscheidenden Grund
berufen könnte. Und leider sieht sie sich genötigt, wie tief sie auch davon
ergriffen wird, ihm die Greuel ihres Hauses zu offenbaren. Freilich hat er
ihr schon vorher die Rückkehr zur Heimat, wenn sie solche hoffen könnte, aus¬
drücklich zugesichert, aber ihr Vertrauen mißbraucht der aufgebrachte König auf
die verletzendste Weise, und er schließt mit dem Befehle, das bisher durch sie
abgestellte Blutopfer an zwei eben gefangenen Fremden vollziehen zu lassen.
In der gräßlichen Not, daß ihre Hemd sich mit Blut beflecken solle, fleht sie
ihre Göttin an, dies von ihr abzuwenden; fühlt sie doch in ihrem reinen Herzen,
daß die Götter Menschenopfer verabscheuen. Unmittelbar nach dieser Aufregung
wird ihre selige Hoffnung, dem Vater und den Ihrigen wiedergegeben zu werden,
grausam zerstört durch den Bericht des einen Gefangnen, Agamemnon sei durch
die Hand seiner Gattin mit Hilfe ihres Buhlen gefallen. Sehr weise läßt der
Dichter sie den Schmerz über diese neue Unthat ihres Hauses, die ihre schönste
Hoffnung vernichtet, nur durch ihre sichtbare Erregung. Verhüllung ihres Ge¬
sichtes und rasche Entfernung verraten. Mit seliger Freude erfährt sie sodann
von dem zweiten Gefangnen, daß ihre Geschwister leben. Die Kunde, daß
Orest, von Elektra gereizt, die Mutter getötet habe, läßt sie tief bedauern, daß
so viele Greuel noch zuletzt ihr Vaterhaus verwüstet haben, aber sie empfindet
es dankbar, daß die Götter die neue Schuld ihres Hauses ihr so lange verborgen
gehalten haben, wenn diese jetzt auch umso schrecklicher von ihr empfunden werde.
Nicht die geringste Aeußerung berechtigt zu Fischers Ausdeutung ihrer An¬
rede an die Götter: „Es scheint, daß sie nach dem Willen der Götter nicht
ihr Haus entsühnen i>avon ist bisher gar keine Rede gewesen), sondern nur
die Ernte der verjüngten Drachensaat erleben soll." Nur einen Augenblick
erschüttert sie die Kunde, daß der Bruder die unausbleibliche Rache an der
Gattenmörderiu, ihrer Mutter, vollzogen habe. Ja als sie erfährt, der Ge¬
fangne sei ihr Bruder Orest, dankt sie in begeisterter Freude den Göttern, daß
auf so ungeahnte Weise ihre Sehnsucht nach der Heimat erfüllt werden soll;
denn im ersten Augenblick erkennt sie, daß die Himmlischen ihren Bruder nur
deshalb nach Tauris gesandt haben, daß er sie heimführe, wie wenig sie
auch ahnt, auf welche Weise dies geschehen könne. Von ihrer religiösen Sen¬
dung, von einer Entführung ihres Vaterhauses ist noch immer keine Rede.
Freilich erregt die Mitteilung der Priesterin, sie sei Orests Schwester, in diesem
den grimmigsten Ausbruch seines verzweifelnden Schuldbewußtseins, ihre Rein¬
heit und herzliche Neigung wecken die Furien seines Gewissens noch einmal
schrecklich auf, um für immer auszutoben. Wie sehr auch Iphigenie davon er¬
schüttert wird, sie zweifelt nicht, daß der Bruder in ihren Armen wieder genesen
werde, daß die Götter in dieser Absicht ihn gesandt, daß sie seine Heilung und
ihre Rückführung auf wunderbare Weise verbunden haben. Als er ermattet
niedergesunken ist, eilt sie zu Pylades, da sie allein „dieses Glück und Elend" nicht
zu ertragen vermöge. Das Mysterium von dem stellvertretenden Leiden, die
„Christusthat," die Fischer hier aufspürt, erinnert nur zu sehr an weiland
Göschels christliche Verbalhornungen Goethes. Wie konnte Fischer übersehen,
daß Orest von allen Qualen des Gewissens, von dem argen Greuel des Mutter¬
mordes so schrecklich in Gegenwart der reinen Schwester durchschauert wird,
daß es zu seiner Erlösung (wie Fischer absichtlich statt Heilung sagt) wahr¬
haft keines „stellvertretenden Leidens" bedürfte, keiner Seele, die seine Schuld
für ihn fühlte, was Iphigenie auch wirklich nicht thut, vielmehr bedauert sie
den Unglücklichen.
Wir verzichten auf die Darlegung der meisterhaften Entwicklung der beiden
letzten Aufzüge, in denen Iphigenie den Kampf mit der Versuchung, den Betrug
als Rettungsmittel zu ergreifen, heldenhaft besteht. Fischer selbst muß es gestehen
(S. 35), daß seit ihrer Kunde von der Ermordung Agamenmons „ihre Sendung
den Geschwistern gehört." Aber dennoch ist ihm der Inhalt des Dramas ihre
religiöse Sendung. Und wie vermag er zu beweisen, daß ihre Sendung von
Anfang an eine religiöse gewesen, da die einzige Äußerung, welche sie vorher
über ihren Glauben thut, nur die Überzeugung ausspricht, die Göttin habe sie
deshalb gerettet, daß sie ihren Vater mit ihrer Rückkehr erfreue. Erst in den
beiden letzten Aufzügen, wo von ihrer nahen Rückkehr die Rede ist, wird
auch der Entführung des Hauses von den Greuelthaten gedacht, von denen
Iphigenie erst im zweiten und dritten Kunde erhält. Somit ist Fischers „reli¬
giöse Sendung" ein Wahngebilde des philosophischen Erklärers.
Uns war es nur darum zu thun, mit Übergehung von vielem andern,
womit wir nicht einverstanden sind, entschieden Verwahrung dagegen einzulegen,
daß man ein Drama nicht als dramatisches Kunstwerk begreifen will, sondern
aus ihm durchaus fremde, seinem innersten Leben widersprechende Absichten sich
philosophisch abstrcchirt, was umsomehr zu bedauern ist, wenn es an einer
der ersten Kunstschöpfungen unsers größten Dichters verbrochen wird. Gewiß
würde der alte Goethe, wenn er in der vollen Kraft seines Geistes dem Fest-
vortrage beigewohnt Hütte, an manchen Stellen wie Tantalus sein Haupt ge¬
schüttelt haben, besonders bei der Betonung der religiösen Absicht. Als Goethe
nach der Rückkehr aus Italien sich realistisch gestimmt fühlte, widerstand ihm
der „zarte Sinn" seiner „Iphigenie," über die er sich auf so derbe Weise gegen
Jacobi aussprach, daß dieser sich dadurch verletzt fühlte. Im Jahre 1802, wo
es sich um eine Bearbeitung des Stückes für die Bühne handelte, fand er es
„ganz verteufelt human," nicht religiös, und dem letzteren Urteil müssen wir zu¬
stimmen, wenn wir uns erlauben, sein „teuflisch" in „himmlisch" zu verbessern, im
Einklang mit seiner eignen, dem Schauspieler Krüger eingeschriebenen Widmung.
er Name Theodor Fontanes gehört zu den wenigen, die an und
für sich Bürgschaft für ein ernstes Wollen und eine unter allen Um¬
ständen mehr oder minder wertvolle Leistung gewähren. Was auch
der Balladendichter und vortreffliche Erzähler geben möge, es
wird nie gehaltlos oder formlos sein, es wird immer fesseln
und einen starken, eigentümlichen und nachhaltigen Eindruck hinterlassen.
Nur will uns bedünken, daß der Dichter der „Schönen Rosamunde," des
Romans „Vor dem Sturm" und der Prachtnovelle „Grete Minde", in
neuester Zeit zu genügsam mit der Gewißheit sei, daß seine poetischen Ge¬
bilde lebendige Anziehungskraft besitzen und den oben angedeuteten Eindruck
poetischer Kraft und Eigenart, tieferer Lebenskenntnis und gereifter Darstellungs¬
kunst bei jedem ernsten Leser hinterlassen. Fontane weiß, wie jeder echte
Dichter, daß es darüber hinaus Eindrücke des Schönen, weihevoll Erhebenden, des
tragisch Erschütternden und stimmungsvoll Anmutigen giebt, aber er scheint sie
nicht mehr zu erstreben. Hat es ihm der Zauber der äußern Mannigfaltigkeit der
großen Reichshauptstadt angethan, die er besser kennt, als die Mehrzahl derer,
welche sie zum Vorder-, Mittel- oder Hintergrunde ihrer Darstellungen nehmen ?
Reizt es ihn nur noch die kleinen Welten innerhalb dieser Welt zu schildern?
Oder ist er gegen die Phrase, die sich für Poesie geben mochte, in dem Grade
mißtrauisch geworden, daß er auch der wirklichen Poesie, die erhöhten Ausdrucks
bedarf, aus dem Wege geht? Oder will er gar, wie gewisse Kritiker behaupten
(die dabei Wohl mehr die Erzählung „Unter dem Birnbaum" als den neuesten
Roman im Auge hatten), mit den Naturalisten des jüngsten Schlages und
Stiles um die Wette laufen? Im Ernst dürfte ihm dabei der Atem rasch aus¬
gehen, denn was hätte ein Schriftsteller von Fontanes Art, eine dichterische
Natur, die nach innern: Zwang das Reizvolle und Liebenswürdige, das Edle
und Feine.selbst in den unscheinbarsten Gestalten sehen muß, was hätte ein irener
Beobachter der ganzen Natur, für den das Wirkliche nicht erst mit dem Schmutz
oder der Krankheit anhebt, mit den Wahrheitsschilderern gemein, die wie die
apokalyptischen Reiter den Hunger, den Krieg, die Pest und den Tod in die
Litteratur tragen möchten, in Wahrheit aber ganz andre Dinge hereintragen?
Sicher nichts, und doch macht sich in Fontanes neuesten Werken, wie in denen
manches andern Schriftstellers, eine gewisse Einwirkung, nicht der naturalistischen
Schule, aber der Zeitstimmung geltend. Ein beinahe unwiderstehlicher Zug
führt die Poeten von den Hauptwegen der Dichtung hinweg auf Nebenpfade,
bei denen das Ziel in Dunkel oder Dämmerung liegt. In dem Drange nach neuen
Motiven, nach Offenbarung seither nicht beachteter Vorgänge und Stimmungen/
in der Sehnsucht nach frischen Wirkungen, in einem stillen Verlangen nach
Gerechtigkeit für Tausende von unpoetischen Lebenserscheinungen sind die
Schlüssel sür gewisse Erzählungen und Schauspiele vorhanden, denen wir mit
sehr geteilter Empfindung gegenüberstehen. Gewiß müssen Neuheit, Frische und
das poetische Licht über den Dingen zuerst und zuletzt immer aus der Seele des
Dichters kommen aber schlechthin verwerfen läßt sich der erhöhte Trieb des
Beobachters und Vergleichens eben auch nicht, welcher durch unsre realistische
Erzählungskunst geht und ein Werk wie Irrungen^— Wirrungen von
Theodor Fontane (Leipzig, F. W. Steffens Verlag 1838) allzustark erfüllt.
Die kurze Geschichte spielt im heutigen Berlin, und zwar auf dem Hinter¬
grunde gesellschaftlicher Zustände, die allbekannt sind, an die sich aber noch wenige
Darsteller, am allerwenigsten poetisch befähigte, menschlich billige und mit den
Erscheinungen wirklich vertraute, gewagt haben. In zahlreichen Kolportage-'
und gelegentlich auch in Gartenlaubenromanen spielt der Gardeoffizier, der als
Zerstörer bürgerlichen Glückes, als Verführer vertrauender UüschUld vorgeführt
Wird, eine Rolle. Die Abgeschmacktheit der Erfindung hält in der Regel mit-
ihrer Gehässigkeit Schritt, lind jedenfalls verrät die beständige Wiederholung
derselben eine recht dürftige Lebenskenntnis. Fontane schildert umgekehrt eines
jener Verhältnisse, welche sich aus den Versuchungen der Großstadt, des Reichtums
und der bevorzugten Lebensstellung von selbst ergeben. Ein junger Gardereiter¬
offizier, aus guter altmärkischer Familie, eine im innersten Kern vortreffliche
Natur, ritterlich, offen, ehrenhaft und gemütvoll, ist ein Liebesbündnis mit einem
Mädchen der untern Stände, einer jungen Arbeiterin eingegangen, die stolz
auf die Neigung des Edelmanns ist und ihrerseits wahre Liebe für ihn empfindet.
Lene, wie sie schlichtweg gut berlinisch genannt wird, ist von ihrem Geliebten
weder getäuscht worden, noch giebt sie sich thörichten Hoffnungen auf Bestand
oder glücklichen Ausgang dieses Verhältnisses hin. Sie weiß, daß Botho in
Anschauungen aufgewachsen ist. Verpflichtungen gegen seine Familie, seine
Lebensstellung hat, die ihm jeden ernsten Gedanken an eine Ehe mit ihr
verbieten. Er hat ihr obenein gesagt, daß er eines Tages Abschied auf Nimmer¬
wiedersehen nehmen müsse, und alle ihre Umgebungen sorgen dafür, ihr den
schmerzlich-klaren Blick für die Kluft noch zu schärfen, welche sie von ihrem
Geliebten trennt. Das arme Mädchen will auf das kurze, bittre Glück, das
sie mit ihrer Hingebung erkauft, eben nicht verzichten, will sich eines kurzen
Lenzes freuen, komme darnach, was immer mag. Und der feinühlige, im
innersten Kern gute Botho beginnt zu empfinden, daß er in diesem ganzen
Verhältnis unendlich mehr empfängt, als giebt, daß Lene Eigenschaften
besitzt, die auch ein dauerndes, die Seele erfüllendes Glück verbürgen würden.
Er verspürt den gefährlichen Reiz eines echten Idylls gegenüber der großen,
anspruchsvollen, dabei mannichfach zerklüfteten Welt, in der er lebt. Er kann im
Ernst nicht daran denken, sich aus eben dieser Welt loszureißen und zu verbannen,
aber er spielt doch in Gedanken mit der ihn beschleichenden Versuchung.
Rascher, als er selbst geglaubt hat, tritt die Notwendigkeit eines Abschiedes
von Lene an ihn heran. Botho ist mit einer entfernten Verwandten, einem
liebenswürdigen, sehr reichen Mädchen, zwar nicht verlobt, aber die beiderseitigen
Familien haben die Heirat mit Käthe als wünschenswert und erfreulich längst
geplant, und sowie der junge Offizier sich eingesteht, daß eine Heirat mit seiner
bürgerlichen Geliebten unmöglich sei, hat er gegen die Verbindung mit Käthe
nichts einzuwenden. Der schmerzliche Tag und Abend der Trennung von Lene
wird, so gut es gehen will, überwunden, die Gewohnheit des Offiziers, sich
gemeinsamen Anschauungen streng unterzuordnen, kommt Botho zu Hilfe, ein
paar Wochen nach der Trennung ist er Bräutigam und nach einem Vierteljahr
der Gemahl seines reizenden, hocharistokratischen Väschens. Daß er im Grunde
eine doppelte Schuld auf sich lädt und der Braut sein ganzes Herz nicht
geben kann, kommt ihm zunächst nur halb zum Bewußtsein. Aber noch in den
Flitterwochen und stärker noch in der folgenden Zeit erkennt er, was er sich
bereitet hat, erfaßt ihn die Erinnerung an das schlichte, ernste Kind aus
dem Volke, das seiner eignen schlichten, ernsten Nawr so viel näher gestanden hat;
mit immer wachsender Wehmut vergleicht er in den stillsten Stunden Vergangen¬
heit und Gegenwart. Als echter Dichter hat Fontane der warmherzigen Ber¬
liner Arbeiterin nicht etwa eine widerwärtige Natur gegenübergestellt; Bothos
junge aristokratische Frau ist eine reizende, neckische, koboldartige Erscheinung,
gutherzig-oberflächlich, von der Familie und im Schoße des Reichtums ver¬
wöhnt, voll naiven Selbstbewußtseins, nicht ungebildet, aber ohne besondre
Lust an der Bildung, eine Frau, welche die Mehrzahl von Bothos Kameraden
beglücken würde, deren Vorzügen er alle Gerechtigkeit widerfahren läßt, deren
beste Eigenschaften aber einen Mißklang mit seinem ernsten und schlichten Wesen
geben. Sie „dalbert ein bischen zu viel," sagt einer der in Bothos Hause
verkehrenden Offiziere und trifft damit den wunden Punkt in der Seele des
Freundes, wenn er auch nicht ahnen kaun, daß es die Gestalt des ehedem
geliebten und verlassenen Kindes aus dem Volke ist. die in Bothos Träume tritt.
Indes sich Botho solchergestalt mit Gespenstern der Vergangenheit herum¬
schlägt, hat auch Lene bitteres zu durchleben. Sie hat alles vorher gewußt,
aber doch ihre Stärke, es zu tragen, überschätzt, für sie ist es ein Glück, daß
sie von früh bis spät arbeiten muß. Schließlich nähert sich ihr ein wackerer
Mann, ein tüchtiger Maschinenbauer, der nebenbei ein wenig Sektirer, einer
von den vielen Aposteln im Werkkittel ist, welche neben und trotz den sozia¬
listischen Agitatoren auf Berliner Arbeiterkreise wirken. Gideon Franke weiß
wohl und erfährt es zum Überfluß von Lene selbst, in welchem Verhältnis sie
zu dem jungen Gardeoffizier gestanden hat, die ehrliche Wahrheit und trotz
allem die Bravheit in dieser Natur überwindet seine Gewissensbedenken und rührt
ihn. Er will Lene heiraten, aber sich zuvor mit dem Baron auseinandersetzen,
von ihm vernehmen, was dieser über die ehemalige Geliebte zu sagen hat.
Ein wackerer Mensch, wie anch er ist, wartet er geduldig, bis ihm eine Bade¬
reise der jungen Freifrau Käthe die erwünschte Unterredung mit deren Gemahl
gestattet. Denn der fromme Maschinenbauer beabsichtigt nichts Unliebsames
und vergewissert sich in der einen Unterredung, welche er mit Botho hat,
daß auch der ehemalige Geliebte über Lene nur Gutes, nur das Verheißungs¬
vollste zu sagen hat. Gideon Franke entscheidet sich rasch und heiratet die Ver¬
lassene. Der junge Offizier aber, welcher fühlt, daß er dem neuen Paare, seinem
eignen Weibe und sich selbst etwas schuldig sei, verbrennt das letzte äußere An¬
denken an sein ehemaliges Verhältnis, die wenigen Briefe der armen Lene,
die er bisher noch im geheimsten Fach seines Schreibtisches heilig aufbewahrt
hatte, und nimmt sich vor, zu vergessen. Allein wie ein Klang, der noch lange
nachzittern wird, berührt uns die Schlußszene des Romans. Botho und seine
anmutige junge Frau sitzen mit den Morgenzeitungen beim Frühstück, Käthe
findet in den Zeitungen eine Heiratsanzeige, die ihr auf die Namen hin höchst
komisch erscheint: „Gideon Franke, Magdalene Franke." „Gideon — welch tacher-
lieber, seltsamer Name!" — „Was hast du nur?" entgegnet ihr Gemahl.
„Gideon ist besser als Botho!"
Die kurze Skizze des Hauptinhalts von „Irrungen—Wirrungen" genügt
schon, um zu erraten, daß es ein mehr interessantes als erquickliches Stück
Leben ist, welches Fontane ergriffen hat, daß es wohl geeignet erscheint, beim
ernsten Leser Nachdenken über gewisse alltägliche Vorkommnisse zu erwecken,
tiefere Spuren zu hinterlassen, als die herrschende flach frivole Auffassung des
Alltags zugiebt. Fontane selbst reflektirt nicht über das Dargestellte, aber
ein Held, der junge Offizier, hat reichliche Gelegenheit dazu, und in der Aus¬
einandersetzung mit einem jüngern Kameraden, der gleich ihm eine Art wilder
Ehe eingehen will, findet Botho Anlaß, sich über die Schwere und die lang-
dauernde Nachwirkung solcher Irrungen, wie sein Verhältnis mit Magdalene
eine war, aufs nachdrücklichste auszusprechen. Daß Zustände und Verhältnisse
wie die hier geschilderten mit dem gewaltigen und für alle geltenden Gebote:
„Du sollst nicht ehebrechen!" nicht aus der Welt geschafft werden und der
Dichter ein Recht, ja unter Umständen eine Pflicht hat, sie darzustellen, soll
keineswegs geleugnet werden. Auch wird wohl schwerlich jemand, der sich den
Roman mit all seinen Episoden gegenwärtig hält, Fontane beschuldigen, er
habe bedenkliche Verhältniße idealisiren, eine häßliche Wirklichkeit verschönern
wollen. Das Verhältnis zwischen Botho und Lene ist freilich durch wirkliche
Empfindung, durch einen Überschuß von redlichem, einfachem Sinn in Botho,
von selbstvergessener Hingebung in Lene poetisch geadelt, allein der Erzähler
vergißt nicht, welche Gestalt derlei Verhältnisse in der Regel haben. Die Gärtners¬
frau Dörr, welche der armen Magdalene fortgesetzt von „ihrem Grafen" erzählt,
die „Damen" der Offiziere, welche Botho und Magdalene auf ihrer letzten
Landpartie überraschen und von denen die beste nichts andres will, als mit
ihrem Liebeslohn eine Destillation errichten und einen Witwer heiraten, die
beste der armen Lene sagt: „Sie thun es aus Liebe, Kind — dann ists schlimm!"
bilden insgesamt eine böse Folie für das Paar, dessen selbstheraufbeschworenes
Geschick uns Anteil einflößen soll und wirklich einflößt. In dem Bewußtsein,
alle Berliner Kreise und Zustände besser zu kennen als die Dutzenderzähler,
mit einer virtuosen Sicherheit ausgerüstet, die ein Frühstück von Gutsbesitzern
und Gardeoffizieren im elegantesten Weinhause Berlins eben so leicht und
lebendig vorführt, als die Unterhaltungen von Berliner Droschkenkutschern und
Marktweibern, von dem geheimen Reiz des Enthüllens und Vorführens unbekannter
Momente gestachelt, thut Fontane in der Schilderung der Wirklichkeit entschieden
zu viel, indem er nicht bloß charakteristische, für das Verständnis der Handlung
und der Menschen wichtige Züge wiedergiebt, sondern in episodischen Szenen
Beobachtungen aller Art verwertet. Die ehelichen Auseinandersetzungen zwischen
dem geizigen Gemüsegärtner Dörr und seiner Ehehälfte, die endlose Droschken¬
fahrt Bothos zum Kirchhof am Kreuzberge, eine ganze Reihe andrer feinkolorirter
Beigaben können höchstens von dem Standpunkte aus belobt werden, daß sie
die Atmosphäre wiedergeben helfen, innerhalb deren die Handlung vor sich geht
und möglich ist. Aber die Atmosphäre ist ein vieldeutiges und namentlich
vom Naturalismus mißbrauchtes Wort, und jeder gestaltungskräftige Dichter
von künstlerischem Sinn und Gepräge, wie Fontane unzweifelhaft einer ist, sollte
sich wohl hüten, der „Luft" allzugroße Wichtigkeit beizulegen und jede Beob¬
achtung, jedes Stück Schilderung, das sich zufällig mit seiner Geschichte ver¬
binden läßt, für Luft zu halten, die zur vollen Realität gehöre. Wohin sollen
wir kommen, wenn das schlechthin Nichtige, platt Äußerliche, gemein Alltägliche
immer breiteren Raum in der Darstellung erlangt, wenn sich die Trivialität
der Schnellphotographie auf Schriftsteller von Fontanes Geist und Meister¬
schaft berufen kann? Gewiß wird alles, was von dieser Art in „Irrungen-^
Wirrungen" enthalten ist, durch die gehaltvollen und künstlerisch berechtigten
Teile des kleinen Romans aufgewogen, gewiß versteht Fontane selbst die häßlichen,
staubigen Episoden durch seine Kunst des Vortrags und namentlich durch die
Kunst der Wiedereinfugung in das Ganze annehmbar zu machen. Doch wird
uns jeder Leser beistimmen, daß von diesen Episoden bis zur wahlloser Wirklichkeits¬
schilderung nur noch ein Schritt, nicht einmal ein besonders großer Schritt sei.
Daß es sür Fontane ein Kinderspiel ist, Paul Lindau nach der einen und Max
Kretzer nach der andern Seite hin zu übertrumpfen, glaubt ihm ohnehin jeder¬
mann. Daß er hierin eine poetische Aufgabe und ein künstlerisches Ziel
finden könnte, wird er selbst nicht glauben, und so hoffen wir, daß uns
der Wunsch erfüllt werde, ihm bald in einer Schöpfung wieder zu begegnen, die
alle Vorzüge von „Irrungen — Wirrungen" ohne die häßlichen und unerquick¬
lichen Beifügungen dieses Romans aufweisen möge.
Geschichte der französischen Kolonie von Magdeburg. JubWumSschrift von Henri
Tollin. Zwei Baude. Halle a. d. S., Max Niemeyer, 1886 und 1337.
Zur Jubelfeier des Potsdamer Edikts war dem durch seine umfangreichen
Server-Studien bekannten Verfasser, der früher bereits die Geschichte der Kolonien
von Frankfurt a. d. O., Rheinsberg und andern Städten geschrieben hatte, von
seiner eignen Gemeinde der Auftrag geworden, die zweihundertjährige Geschichte
der Magdeburgischen Kolonie zu beschreiben. Die Arbeit war als Festschrift von
geringem Umfange gedacht worden, aber die überreich fließenden Quellen zwangen
zu einer Erweiterung des ursprünglichen Planes und verlockten zu einer Breite
und Ausführlichkeit, die weit über den durch den Titel bezeichneten Nahmen hin-
ausgehen. Bei Abschluß des ersten. 47 Bogen starken Bandes hoffte der Ver¬
fasser noch, in einem zweiten den Stoff bewältigen und damit die Arbeit voll¬
enden zu können; aber selbst dieser zweite Band führt erst bis an die Schwelle
der eigentlichen Aufgabe, die Geschichte der Magdeburgischen Kolonie, deren
eingehende Darstellung erst einem dritten und letzten Buche vorbehalten ist. Vor¬
teile und Nachteile eines solchen Werdeprozesses liegen auf der Hand: so sehr wir
auf der einen Seite an Fülle des Stoffes und interessanten Einzelheiten gewonnen
haben, so sehr mußte auf der andern Seite bei diesen über der Arbeit anschwellen¬
den und die Grenzen des Planes fortwährend verschiebenden Stoffmassen die Klar¬
heit und Anschaulichkeit der Darstellung leiden. Der Verfasser selbst ist sich dieses
letzteren Uebelstandes wohl bewußt; wenn er aber etwaige Einwände dagegen damit
abzuweisen sucht, daß er bemerkt, er habe nicht gelernt, für das große Publikum
zu schreiben, und auch bei dieser Arbeit hätten ihm, außer den Mitgliedern seiner
Gemeinde, vornehmlich die Männer der Wissenschaft vorgeschwebt, so ist diese
Rechtfertigung doch einigermaßen bedenklich. Denn die Zeiten, wo verworrene Form
und Mangel an klarer Gestaltung als vvllgiltige Zeichen der Wissenschaftlichkeit
galten, sind doch glücklicherweise vorüber, und gerade bei jeder geschichtlichen Arbeit
gilt als Grundbedingung die richtige Wertmessung, der sichere Blick für die Höhen
und Tiefen, das Gefühl für Abstufung. Die scharf betonte Anschauung des Ver¬
fassers, daß es ihm als „gewissenlos" erschienen wäre, wenn er von dein Detail,
das er sich durch drei Jahre Quellenstudium errungen, etwas hätte abbröckeln sollen,
hat ihn zu einer verhängnisvollen Ueberschätzung der Einzelheiten verleitet und ihn
veranlaßt, jeden Fund mit gleich liebevoller Ausführlichkeit vor dem Leser auszu¬
breiten; dadurch ist das Buch natürlich mit einem gewaltigen Ballast überladen
und im wesentlichen nur eine reichhaltige Stoffsammlung geworden, die erst durch
das mit dem dritten Bande zu erwartende Register nutzbar gemacht werden wird.
Anderseits ist das Buch freilich gerade durch diese Fülle neu erschlossener Quellen
für die Geschichte des Rcfuge von grundlegender Bedeutung. Nun erst kann die
Einzelforschung, der dieses Buch die Wege gewiesen hat, kräftig einsetzen. Auch
manche bisher dunkle oder nündestens unklare Abschnitte der Kolonistengeschichte
fällt, dank der gründlichen Forschungen Tollins, ein völlig neues Licht. Mit einer
erfreulichen Unbefangenheit lehnt er sich gegen die gedankenlose Abhängigkeit von
der hugenottischen Ueberlieferung und das vielfach beliebte System der Vertuschung
und Mythenbildung auf und zeigt überall das Bestreben nach einer echt wissen¬
schaftlichen Geschichtschreibung. Daß dieses Ideal nicht erreicht worden ist, liegt
im wesentlichen an dem Mangel einer festen künstlerischen Richtschnur, deren auch
der nur für Männer der Wissenschaft schreibende Historiker nicht entraten kann.
och in der neuesten Ausgabe der Histoirv alö 1a Seismos xolitiauö
von Paul Janet wird der Ausspruch wiederholt, Friedrich der
Große würde in einer Geschichte der politischen Theorieen nicht
zu nennen sein, wenn es nicht von Interesse wäre, von seinem
„Antimachiavel," als der schriftstellerischen Jugendarbeit eines be¬
rühmten Feldherrn und Regenten, kurz Notiz zu nehmen. Dem gegenüber hebt
I. C. Bluntschli an verschiedenen Stellen seiner Schriften die Reichhaltigkeit
der Belehrung hervor, die für eine richtige theoretische Erfassung von Staat
und Staatsleben ans den Schriften des großen Königs zu schöpfen sei. In
seiner „Geschichte des Allgemeinen Staatsrechts" äußert er: „Hätte die deutsche
Staatswissenschaft auf der Grundlage, die Friedrich der Große gelegt hatte,
fortgebaut, so wäre sie zugleich theoretisch gesünder und praktisch nützlicher
geworden. Aber sie ließ sich durch die französische Doktrin auf Abwege ver¬
leiten und durch die französische Revolution wieder abschrecken, konsequent zu
bleiben." Diese Worte enthalten zugleich eine Andeutung der Gründe, aus
denen dem Staatstheoretiker Friedrich die seinem Verdienst entsprechende Aner¬
kennung nicht ganz und allseitig zu teil geworden ist. Friedrichs Ansicht vom
Staate widersprach den zu seiner Zeit und noch geraume Zeit nachher herr¬
schenden französischen Anschauungen, und die deutsche Wissenschaft, d. h. die Uni¬
versitätsgelehrsamkeit, zog es vor, statt der Prinzipien des großen Preußenkönigs
Doktrinen des revolutionären Frankreichs für den Ausbau ihrer Systeme als
Grundlage zu wühlen. Allerdings hatte Friedrich auch nicht für die Bedürf¬
nisse des Katheders gearbeitet; seine philosophischen Gedanken, insbesondre auch
die staatsphilosophischen, finden sich entweder zerstreut in geschichtlichen Werken,
in Briefen und Gedichten, oder sie sind dargelegt in einzelnen Abhandlungen,
in „Versuchen", die zuweilen unleugbar ein dilettantisches Gepräge tragen.
Die schriftstellerische Form und Fassung wenigstens entspricht nicht immer der
Strenge der Anforderungen, die wir an wissenschaftliche Arbeit zu stellen ge¬
wohnt sind. Diese Ausstellung wäre freilich an mancher Seite der politischen
Schriften Rousseaus und Montesquieus ebenfalls zu machen. Wo aber Friedrich
der Große vom Staate redet, da spricht er von dem, was den ernstesten und
tiefsten Inhalt seines Lebens ausmacht, da spricht, in welcher Form es auch
sein möge, der König von der Wissenschaft der Könige. Und die größten
Eigenschaften des Schriftstellers verleugnen sich ebenfalls bei dem königlichen
Autor niemals: der tiefe Blick in das Wesen der Sache, die Wahrhaftigkeit sich
selbst und dem Leser gegenüber, der Ernst des Strebens, über eine für die
Menschheit wichtige Angelegenheit Licht und Klarheit zu verbreiten.
In der unbefangenen Weise der Alten teilt Friedrich die Gedanken mit,
die ihm aufsteigen bei Betrachtung des Gegenstandes, der sein Interesse in An¬
spruch nimmt. Sich aufzuhalten bei Auseinandersetzungen mit dem, was andre
über dasselbe Thema behauptet, ausgeführt oder systematisirt haben mögen, kommt
ihm nie in den Sinn. Nur etwa ein klassisches Citat findet hier und da seine
Stelle oder der Vers eines Poeten aus dem Zeitalter Ludwigs XIV. Im
übrigen wird nichts gegeben als des Königs eigne Gedanken in seiner eignen
Sprache. Der Quell, aus dem sie fließen, ist die eigne unmittelbare An¬
schauung.
Den Mittelpunkt aller staatlichen Betrachtung bildet daher für Friedrich
sein eigenes persönliches Verhältnis zu seinem brandenburgisch-preußischen Staate.
Seinen Begriff vom Staatswesen entnimmt er dem Staate, den seine Vorfahren
geschaffen haben, mit dem äußere und innere Erfahrung ihn frühzeitig vertraut
gemacht hat. Die Betrachtung wird dadurch von vornherein eine erfcchrnngs-
mäßige und geschichtliche im geraden Gegensatz zu der naturrechtlichen Methode,
die durch Rousseau und seine Schüler eine auch für die staatliche Praxis so
verhängnisvolle Weiterbildung erfuhr. Friedrich sucht zu begreifen, wo diese
konstruiren. Die Wissenschaft wird es hier mit dem Könige halten. Die
organische Natur des Gemeinwesens wird von ihm in klassischen Worten gekenn¬
zeichnet. „Vergleichen wir," sagt er (Oeuvres IX, 222), „den Staat im all¬
gemeinen und welches immer seine Form sei, mit dem menschlichen Körper.
Nur aus dem einheitlichen Zusammenwirken, aus der übereinstimmenden Thätig¬
keit aller seiner Teile ergiebt sich seine Gesundheit, seine Kraft und Stärke.
Das ganze Geflecht der Adern und Nerven hat den Zweck, das Dasein des
Lebewesens zu ermöglichen und zu verbürgen. Wenn die einzelnen Glieder
ihren Dienst versagen wollten, so müßte der ganze Körper ermatten und allmählich
zerfallen. Die Unthätigkeit seiner Teile würde zur Zerstörung des Ganzen
führen. Ein ebensolcher Körper ist der Staat. Glieder desselben sind alle
Bürger, die ihm angehören, keinen einzigen ausgenommen." Der König verfehlt
auch nicht, aus diesen Sätzen, die das Wesen des Staates feststellen, sofort
die praktische Nutzanwendung zu ziehen. Den Schüler Epiknrs widerlegend,
der es als Grundsatz der Lebensklugheit preist, sich der Übernahme staatlicher
Pflichten zu entziehen, schreibt er: „Ist es nicht klar, daß jeder Einzelne die
ihm zufallende Aufgabe erfüllen muß, wenn die Gesamtheit gedeihen soll?
Was wird also aus der glücklichen Unabhängigkeit, zu deren Lobredner du dich
machst? Sie macht dich zu einem lahmen und unnützen Gliede des Körpers,
dem du angehörst." Die Sprache, in der ja die instinktive Weisheit eines
ganzen Volkes nicht selten den Schatz ihrer tiefsten und feinsten Erkenntnis
niederlegt, hat sich das Bild vom Staatskörper längst angeeignet und bezeichnet
den Fürsten als Staatsoberhaupt. Friedrich erläutert dies kurz dahin: „Der
Fürst ist das oberste Prinzip der Thätigkeit im Staatskörper." (Oeuvres VIII, 71.)
Bei aller Neigung Friedrichs für theoretische Auseinandersetzung überwiegt
doch bei ihm der Herrscher den Forscher. Unterscheidungen und Untersuchungen,
die nicht zu einer klarern Erfassung der Gegenwart und ihrer Aufgaben führen,
reizen ihn nicht. Er überschaut die ganze Fülle verschiedenartigster Staats¬
formen, welche die Geschichte ausweist, aber sein Denken bleibt vorzugsweise auf
die absolute Monarchie gerichtet. Namentlich an der Feudalverfassung geht er
kurz vorüber. Sie ist ihm barbarisch, polnisch. Das Recht der Souveränität
ergiebt sich für einen Staat, also namentlich auch für den brandenburgisch-
preußischen, aus der eignen Natur desselben. Wo ein Staatswesen thatsächlich
seine Unabhängigkeit behauptet, da ist es berechtigt, als souverän zu gelten.
Den grundwesentlichen Unterschied der dem preußischen Staate eigenen
und noch weiter zu verwirklichenden Souveränität von der Scheinsouveränität
der Kleinstaaten mit voller Klarheit erfaßt zu haben, war unter den politischen
Einsichten, die sich dem Geiste des jungen Fürsten erschlossen, die folgenreichste.
Wahrheit an Stelle des Scheines zu setzen, wurde für ihn Aufgabe des Lebens.
In den Lehrbüchern, welche die allgemeine Lehre vom Staate vortragen, pflegt
hervorgehoben zu werden, daß zum Begriffe desselben ein bestimmt abgegrenztes
Land gehöre. Friedrich fügt treffend hinzu, daß ein wahrer und wirklicher
Staat nur der Großstaat sei. Welcher Umfang für einen solchen erfordert
wird, beimißt sich allerdings nicht ein für allemal nach der Quadratmeilenzahl,
sondern hängt wesentlich ab von der Größe der übrigen Staaten, die mit ihm
zu einem politischen System verflochten sind. „Krieg führen, Schlachten liefern,
Festungen angreifen oder verteidigen, das ist ausschließlich Sache der großen
Souveräne. Wer sie nachahmen will, ohne dazu die Macht zu haben, gleicht
dem Manne, der das Geräusch des Donners nachmachte und sich dann ein¬
bildete, Juppiter zu sein." (Oeuvres VIII, 96.)
In dem fast gleichzeitig mit seiner Thronbesteigung veröffentlichten „Anti-
machiavel" wird Friedrich nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, daß
die Kleinstaaterei kein normaler oder etwa gar ein idealer Zustand sei, sondern
ein Übel, ein Zeichen politischer Zerrüttung. Die kleinstaatliche Zersplitterung
Italiens hat wesentlich jenen Zustand sittlicher Verwilderung und Verkommen¬
heit herbeigeführt, aus dem allein die lasterhaften Züge erklärt werden, wodurch
die politischen Lehren des Macchiavelli verunstaltet sind. Der Verfasser des
„Antimachiavcl" neigt sogar der Ansicht zu, daß der Geist des florentinischen
Staatsmannes gelitten habe unter dem Einflüsse der Kleinstaaterei: „Macchia¬
velli," sagt er (Oeuvres VIII, 105), „schrieb nur für kleine Fürsten, und ich
gestehe, daß ich bei ihm fast nur kleine Ideen erblicken kann." Der kleinfürst¬
liche Dünkel aber, der die Blöße seiner politischen Unmacht durch prahlerische
Nachäffung der Formen des Königstums Z. 1». Louis XIV. zu bedecken suchte,
ist von niemand beißender verspottet und unbarmherziger bloßgestellt worden
als von Friedrich. „Die meisten Kleinfürsten", schreibt er (Oeuvres VIII, 95),
„und besonders die deutschen, ruiniren sich durch einen zu ihren Einnahmen
außer Verhältnis stehenden Aufwand, zu dem sie veranlaßt werden durch das
schwindelnde Bewußtsein ihrer eingebildeten Größe; sie richten sich zu Grunde,
um die Ehre ihres Hauses aufrecht zu erhalten, und aus Eitelkeit schlagen sie
einen Weg ein, der sie ins Elend und an den Bettelstab bringt. Jeder Sproß
eines fürstlichen Hauses, bis herab zum jüngern Sohn einer apanagirten Seiten¬
linie, bildet sich ein, etwas in der Art Ludwigs XIV. zu sein: er baut sein
Versailles, er hat seine Mätressen, er unterhält seine Armeen."
Die Ansicht des großen Königs von der Stellung des Monarchen seinem
Volke gegenüber ist vielleicht derjenige Punkt seiner Staatslehre, der es am
meisten bedauern läßt, daß ihr von feiten der Fachwissenschaft so lange nicht
die verdiente Beachtung zu teil geworden ist. Das theokratisirende Königtum
Ludwigs XIV. hatte sich eine Stellung über dem Staate gegeben, das Volk war,
dieser Auffassung zufolge, für seinen Beherrscher da, Staatszweck war der Fürst.
Nach der entgegengesetzten Seite hin ausschweifend, machte die revolutionäre
Staatslehre, die Doktrin von 1789, die Obrigkeit zur Dienerin des herrschenden
Volkes. Diesem kommt von Rechts wegen die Souveränität zu, die Regierenden
handeln nur als seine Beauftragten und nach Maßgabe des ihnen gewordenen
Auftrages. Die von der neuern Staatswissenschaft erst mit vieler Mühe wieder
zur Geltung gebrachte Wahrheit hat schon bei Friedrich ihren klassischen Aus¬
druck gefunden. Die Obrigkeit ist das herrschende Glied im Organismus des
Staates. Der Staat ist der umfassende Zweck, der beides in sich begreift:
Obrigkeit und Unterthanen, Fürst und Volk. Der Fürst ist der erste Diener
des Staates.
Erst einer Zeit, die den Zusammenhang der Rousseauschen Theorie mit
der Praxis der Guillotine kennen gelernt hatte, ist in seiner ganzen Schärfe
der Gegensatz klar geworden, in welchem die sogenannte naturrechtliche Erklärung
der Entstehung des Staates sich jeder historischen Begründung desselben gegen¬
überstellt. So ist es kein Wunder, wenn Friedrich der Große sich arglos
Wendungen und Redeweisen der revolutionären Naturrechtslehre aneignete, wäh¬
rend in Wahrheit sein grundsätzlicher Standpunkt diesem ganzen Gedankensystem
widerspricht. Welches ist das oberste Prinzip, aus dem das Naturrecht seine
Sätze ableitet? Das Zusammenleben gleichberechtigter Lebewesen. Wo findet
Friedrich das gestaltende Prinzip staatlicher Ordnung? In der natürlichen
Autorität. Von Jean Jacques Rousseau kannte der König den Omnis, über
den er sich in verschiedenen Stellen seiner Briefe sehr abfällig äußert; gegen
Rousseaus Anpreisung der Gleichheit im Naturzustande richtet sich eine am
27. Januar 1772 in der Berliner Akademie verlesene Abhandlung Friedrichs,
in der er den Genfer Philosophen einen Wahnwitzigen nennt. Des Rousseauschen
volitrat sooial hat er nirgends Erwähnung gethan. Der Ausdruck „Gesell¬
schaftsvertrag"— und zwar unterschiedslos x^öls soviel oder eontrg.ti soviel—
findet sich in den Werken des Königs äußerst selten; außer in dem 1777 ver¬
faßten „Versuch über die Regierungsformen", wo er einmal vorkommt, besonders
in den „Briefen über die Vaterlandsliebe", wo man ihm siebenmal begegnet. Nichts
ist klarer, als daß Friedrich weit entfernt war von jeder Ahnung, daß er in
dem Ausdruck „Gesellschaftsvertrag" das Stichwort einer großen sozialen und
politischen Revolution vor sich habe. Aus der gleichen Arglosigkeit erklärt es
sich, wenn er (Oeuvres VHI, 66) ohne weiters von den Völkern spricht, die
sich Souveräne gegeben haben, um von ihnen beschützt zu werden, und nur
unter dieser Bedingung sich ihnen unterworfen haben. Haben sich die Kinder
einen Vater gegeben? Von der väterlichen Autorität und Gewalt leitet aber
Friedrich an verschiedenen Stellen seiner Werke die Zwangsgewalt her, die der
Obrigkeit zusteht, wenn auch gewöhnlich nicht mit dem vollen Bewußtsein des
Gegensatzes gegen die naturrechtliche Doktrin. „Das Bedürfnis, Ordnung zu
schaffen in ihren Häusern, hat die Familienväter ohne Zweifel genötigt, feste
Regeln aufzustellen für das häusliche Verhalten der Familienmitglieder.
Dieses Bedürfnis wiederholte sich in erweitertem Maße: man veröffentlichte Ge¬
setze, man setzte Obrigkeiten ein, um für Beobachtung derselben zu sorgen." Wie?
mit welchen Mitteln? Von der durchschlagenden Wichtigkeit gerade dieser Frage
hat sich Friedrich offenbar nicht volle Rechenschaft gegeben, er nennt an ver¬
schiedenen Orten das allgemeine Vertrauen als die notwendige Vorbedingung
für eine zweckentsprechende Ausübung der obrigkeitlichen Gewalt. Das allgemeine
Vertrauen kann aber selbstverständlich nur demjenigen entgegengebracht werden,
der durch gemeinnützige Thätigkeit und Bewährung darin sich bereits Autorität
erworben hat. Im Eingange des „Antimachiavel" ist gesagt, daß „es die
Völker für ihre Ruhe und ihre Erhaltung nötig fanden, Richter für die Schlich¬
tung ihrer Streitigkeiten, Schirmherren zur Verteidigung von Hab und Gut
gegen ihre Feinde, Herrscher für die Vereinigung ihrer Sonderinteresfen zu
einem Gemeininteresse zu haben; daß sie aus ihrer Mitte diejenigen zu Regenten
wählten, die sie für die weisesten, unparteiischsten, uneigennützigsten, menschen-
freundlichsten und tapfersten hielten." Was der Schriftsteller hier betont, ist
offenbar nicht die Freiheit der Wahl, die in der naturrechtlichen Theorie in
den Vordergrund tritt, sondern der Zweck, der das Recht des Herrschers schuf,
und die Eigenschaften, die ihn als solchen bezeichneten. Wenn das Volk wirk¬
lich zum Herrscher den weisesten, tapfersten u. s. w. haben wollte, so hatte es
ja keine freie Wahl, denn dieser alle andern übertreffende könnte ja nur einer sein.
Wie weit Friedrich entfernt war, mit wirklicher Annahme der obersten Grundsätze
des Naturrechtes auch deu Folgerungen derselben beizupflichten, erhellt am deut¬
lichsten daraus, daß er bald dem Herrscher, bald den Gesetzen die Aufgabe zu¬
weist, die Sonderinteressen zu einem Gemeininteressc zu vereinigen. Wo das Natur-
recht eine Gewalt übertragen läßt, beschränkt es diese auf die aus dem Bedürfnis
des Zusammenlebens hervorgehende Befugnis zur Sicherung der Person, des
Eigentumes und der Verträge. Von einem „Gemeininteresse," vom „Vaterland
als dem Asyl unsrer Wohlfahrt" ist da keine Rede. Wenn der König einmal
sagt: „Der Gesellschaftsvertrag ist eine stillschweigende Übereinkunft aller unter
derselben Negierung stehenden Bürger, durch die sie sich verpflichten, mit dem
gleichen Eifer an dem allgemeinen Wohle des Gemeinwesens mitzuarbeiten," so
schwebt ihm offenbar daS Ideal einer Volksgemeinschaft vor, wie er sie sich
wünschte, an die Stelle des schlichten Ausdruckes „Vaterlandsliebe" ist der
modisch-wissenschaftliche „Gesellschaftsvertrag" geschoben und von diesem ausge¬
sagt, was jener zukommt. Wo Friedrich seine eigne Sprache redet, ist ihm
die organische Natur des Staates niemals zweifelhaft, und eine Übertragung
der obrigkeitlichen Gewalt an deren Inhaber durch das Volk, in welchem sie
ursprünglich allein ruhte, hätte ihm ebenso seltsam vorkommen müssen, als
etwa die Behauptung, die Fähigkeit zum Denken habe ursprünglich bei dem
Rumpfe des Menschen geruht, sei aber dann dem Gehirn übertragen worden.
Wie oben bemerkt, war Friedrichs wissenschaftliches Denken wesentlich
darauf gerichtet, ihm Aufklärung zu verschaffen über die Fragen, von denen
sein Handeln, die Erfassung seiner Lebensaufgabe abhing. Was darüber hinaus
in das Gebiet der reinen Theorie hineinreichte und andrerseits durch keine
Thatsachen der Erfahrung mehr erwiesen oder widerlegt werden konnte, war
weniger geeignet, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Eigenen und reifen Gedanken
werden wir in seinen Werken vorzugsweise da begegnen, wo die absolute Mo¬
narchie der Neuzeit, ihre Einrichtung und die Art und Weise, wie sie ihre
Aufgabe erfüllt, Gegenstand der Betrachtung ist. Von vornherein weist der
fürstliche Autor (Oöuvrss VIII, 25) mit aller Energie die Vorstellung zurück,
daß das Volk einzig und allein um des Fürsten willen da sei. „Es ist dies,"
sagt er, „ein Irrtum, von dem die Mehrzahl der Fürsten beherrscht ist. Sie
glauben, Gott habe ausdrücklich und infolge einer besondern Aufmerksamkeit
für ihre Größe, ihr Glück und ihren Stolz diese Menge von Menschen geschaffen,
deren Wohlfahrt ihnen anvertraut ist, sie wähnen ihre Unterthanen nur dazu
bestimmt, die Werkzeuge und Diener ihrer ungeordneten Leidenschaften zu sein.
Sobald der Grundsatz, von dem man ausgeht, falsch ist, müssen auch die
Folgerungen bis ins Unendliche fehlerhaft sein. Daher dieser Hang nach falschem
Ruhm, daher dieses unersättliche Verlangen, alles an sich zu bringen, daher die
Hurte der Abgaben, mit denen das Volk beladen ist, daher die Trägheit der
Fürsten, ihr Hochmut, ihre Ungerechtigkeit, ihre Unmenschlichkeit, ihre Tyrannei
und alle die Laster, die die menschliche Natur entwürdigen."
Aus dem Satze, daß der Fürst das zum Herrschen berufene Organ, der
erste Diener des Staates sei, ergiebt sich, daß alle seine Handlungen geleitet
werden müssen von der Pflicht, die seine Stellung ihm auferlegt. Mit andrer
und, setzen wir hinzu, wissenschaftlich haltbarerer Begründung kommt Friedrich
so im wesentlichen zu Kants kategorischem Imperativ. Dem widerspricht nicht,
daß er in einer besondern Abhandlung die Selbstliebe als Prinzip der Moral
nachzuweisen sucht. Die Tugend ist dort erkannt als une neureuse äisvosition
ac 1'esxrit <mi nous xorre g. remxlir iss äevoirs Ah 1a soviele xour uotro
xroxre avant^e. Setzen wir an Stelle des unglücklich gewählten Ausdruckes
ÄVMtaM das zutreffendere Wort Befriedigung, so kann jede ideelle Befriedigung,
also auch die aus dem Walten des Triebes der Pflichterfüllung hervorgehende,
als eine die Selbstliebe affizirende Empfindung aufgefaßt werden. Pflicht¬
trieb ist eine teils charakterologisch gegebene, teils durch Erziehung entwickelte
Anlage. Der innere und äußere Beruf aber ist es, der jedem die Art der
Befriedigung desselben zuweist. „Der gute Bürger," heißt es Oeuvres IX, 215,
„ist ein Mann, der es sich zur unwandelbaren Regel gemacht hat, so viel an
ihm liegt, der Gesellschaft, deren Mitglied er ist, nützlich zu sein." Der Citoyen-
Roi, das zum Herrschen berufene Mitglied der Staatsgemeinschaft, wird vor
allen Dingen sich Rechenschaft davon zu geben haben, welche Pflichten seine
besondre Stellung an der Spitze des besondern Staatswesens, dessen Wohl ihm
anvertraut ist, ihm auferlegt. Glückliches Preußen, dessen König so dnrch und
durch ein Preuße war! Glücklicher König, dem die Vorsehung im höchsten
Maße gerade die Anlagen zugeteilt hatte, die der Augenblick des Staatslebens,
wo er die Zügel ergriff, vor allen andern erforderte! Das Zusammenfallen
des innern und äußern Berufes ist das höchste Gnadengeschenk, das der Sterb¬
liche vom Schicksal sich erbitten darf. Dann kann die Pflicht zur Seligkeit,
zur höchsten Befriedigung des eignen Selbst werden.
Erstaunlich ist es zu nennen, mit welchem freien Blick der König, dessen
Denken so ganz auf Erkenntnis seiner Stellung und Pflicht gerichtet war, doch
geschichtliche Erscheinungen zu beurteilen vermochte, die seinem eignen Streben
ganz entgegengesetzt waren. Er selbst arbeitete sein Leben lang daran, seinen
Staat wie eine Maschine einzurichten, die dem Druck seines Fingers gehorchte.
Dabei kann er aber im „Antimachiavel" (Oeuvres VIII, 101) schreiben: „Man
hat mehr als einmal bemerkt, daß die Staaten, die eben einen Bürgerkrieg
durchgemacht hatten, ihren Gegnern außerordentlich überlegen waren, weil in
einem Bürgerkriege alles Soldat ist, weil das Verdienst sich unabhängig von
der Gunst geltend machen kann, weil alle Talente zur Entwicklung kommen
und die Menschen die Gewohnheit annehmen, zu entfalten, was sie an Mut
und Klugheit besitze»." Damit soll freilich nicht gesagt sein, daß ein Bürger¬
krieg immer von so annehmbaren Folgen begleitet sein müsse. Die Dinge dieser
Welt weisen überall die größte Verschiedenheit auf, und wenn man auf die
Einzelheiten eingeht, wird man finden, daß die Unterschiede staatlicher Formen
und staatlicher Zustände ins Unendliche gehen. Daher ist es kaum möglich,
allgemeingiltige Regeln für das staatliche Handeln zu geben, allgemeine poli¬
tische Lehren aufzustellen, die sich freihalten würden von dem Vorwurfe, für die
Praxis wenig brauchbare Gemeinplätze zu sein. Ein verhältnismäßig kurzer
Zeitraum ist verflossen seit der Zeit, wo Macchiavelli sein Buch vom Fürsten
schrieb, und doch hat sich inzwischen die Welt so sehr geändert, daß sie kaum
wiederzuerkennen ist. Eine Reihenfolge geschichtlicher Vorgänge hat eine so
allgemeine und tiefgreifende Umgestaltung herbeigeführt, daß auch von den
Sätzen, die zu Macchiavellis Zeiten ihre Wahrheit gehabt haben mögen, die
meisten auf unsre moderne Politik nicht mehr anwendbar sind. Wie die Menschen
geboren werden, eine Zeit laug leben und dann an Alter oder Krankheit sterben,
so haben die Staaten ihre bestimmte Lebenszeit. Die größten Monarchieen
sind davon nicht ausgenommen. Wenn gewaltige Reiche zu gründe gehen, so
ist die erste Ursache davon immer in der Schwächung der Institutionen zu
suchen. Die Geschichte lehrt, daß diejenigen Grundgesetze der Staaten am längsten
bestanden haben, die sich das allgemeine Wohl zum Ziele gesetzt haben und
am meisten dem Geiste des Volkes entsprechen, dessen staatliches Leben sie
regeln. Der oft bis zu blinder Verehrung gehende Respekt, den die Menschen
dem Althergebrachten widmen, die Achtung vor dem, was die Probe bestanden
hat, machen, daß erbliche Monarchien am leichtesten zu regieren sind. Die im
eigentlichen Sinne monarchische Negierung, die unumschränkte Alleinherrschaft,
ist (Osuvros IX, 198) die schlechteste oder die beste aller Staatsformen, je nach
der Beschaffenheit ihrer Anwendung. Die Ursachen, die eine monarchische Ne¬
gierung zu einer schlechten machen, mögen verschiedenartig sein, sie entspringen
aber schließlich immer dem Charakter des Fürsten. In dieser Abhängigkeit von
der Persönlichkeit des Regierenden liegt eine unbestreitbare Schwäche der Re-
gierungsform.
Hier stellt sich die Frage ein, ob es denn dem Scharfblick des großen
Königs ganz entgangen sei, daß eben diese Schwäche des von ihm gehandhabten
Systems die Aufgabe stelle, irgendwie eine Abhilfe zu schaffen, oder wenigstens
die mit dem Absolutismus verbundenen Unzuträglichkeiten zu mildern, ohne
die Vorzüge desselben zu beeinträchtigen, die namentlich in der sichern und schlag¬
fertigen Zusammenfassung aller staatlichen Machtmittel im gegebenen Angen-
blicke bestehen. In den „Briefen über die Vaterlandsliebe" aus dem Jahre
1779 (Oeuvre IX, 216) äußert der König: „Die guten Monarchien, deren
Negierung weise und mild ist, bilden heutzutage eine Staatsform, die der
Oligarchie näher steht als dem Despotismus; die Gesetze allein sind es, die
in ihnen regieren. Denke man sich die Zahl der Personen, die im Rate des
Fürsten, in der Justiz- und Finanzverwaltung, im auswärtigen Dienste, im
Handels- und Verkehrswesen, im Heere, in der innern Verwaltung angestellt
sind; nehme man die dazu, die in den Provinzialstü'nden Sitz und Stimme
haben, sie alle haben teil an der Staatsgewalt (xsi-tieixsut g, l'autorit-6 sou-
verein«?). Der Fürst ist daher kein Despot, der bloß seiner Laune folgen dürfte.
Man muß ihn als den Mittelpunkt betrachten, in den alle vom Umkreis aus
gezogenen Strahlen einmünden." Der König gesteht also hier den Beamten
einen gewissen Anteil an der Regierungsgewalt zu, und mit Recht. Wenn der
Fürst der oberste Beamte des Staates ist, so sind die übrigen Staatsbeamten
zwar seine Untergebenen, aber nicht bloß seine persönlichen Diener. In der
Vertretung der verschiedenen Volks- und Staatsinteressen durch das Beamtentum
mochte man bis auf weiters eine Einrichtung erblicken, die im wesentlichen die
Dienste einer konstitutionellen Volksvertretung ersetzen konnte, vorausgesetzt,
daß der König und seine Beamten immer von einem gleich lebendigen Pflicht¬
gefühl beseelt waren, und daß überdies die Verwaltung eine den fortschreiten¬
den Bedürfnissen der Zeit jeweils entsprechende Organisation besaß. , .
Nicht bloß straffe Zusammenfassung, sondern auch höchste Anspannung
aller Kräfte ist besonders dem preußischen Staate Vonnöten, der unter den
Großstaaten Europas seinen Platz genommen hat und doch verhältnismäßig
klein ist. „In Frankreich ist jeder Minister gewissermaßen König in seinem
Departement, in den Finanzen, im Kriegswesen, in den auswärtigen Angelegen¬
heiten. Aber es fehlt die Hand, die das Ganze zusammenfaßt und alle ihre
Arbeiten auf ein bestimmtes Ziel hinlenkt. Wenn etwas Ähnliches im preußischen
Staate begegnete, so wäre er verloren. Die großen Monarchien erhalten sich
trotz der Mißbräuche, ihr Gewicht und die innewohnende Kraft hält sie auf¬
recht, während kleinere Staaten bald erdrückt werden, wenn nicht alles in ihnen
Kraft, Nerv und energischer Wille ist (Ä tont <zux n'est toros, mert et
viZusur)." (Oeuvres IX, 191.) Seele Wachsamkeit ist daher Lebensbedingung
für den preußischen Staat. „Solange er," heißt es ebenda, „nicht größere
Festigkeit und bessere Grenzen gewonnen haben wird, muß er Regenten haben,
welche immer auf Wache stehen (<M soisnt toujours W veclöttö)."
Die geschichtlichen und geographischen Bedingungen des Bestehens und
des Wachstumes des preußischen Staates, die Friedrich mit schärferem Blick als
irgend jemand erfaßte, macheu diesem Staate und seinem Fürsten den militäri¬
schen Charakter zur Notwendigkeit. In dem Mxoss co Aouvm-nsmout ^russien
sagt der König kurz und bündig: „Wenn der Souverän sich des Militärwesens
nicht selber annimmt und allen mit seinem Beispiel vorangeht, so ist es aus
mit uns (Wut «se lini)." (Osuvre-s IX, 186). Die Notwendigkeit für den
preußischen Adel, im Waffendienste seine Hingebung an König und Vaterland
zu erproben, wird in so derber Weise ausgesprochen, daß es schade wäre, durch
Übersetzung den klassischen Ausspruch irgendwie abzuschwächen. Er steht in
der dem Major Borcke für die Erziehung des Thronfolgers gegebenen In¬
struktion (IX, 39): 1out as naisLÄnoo <^ni n'ost soläg-t, n'ö8t
qu'rin in,i,8<5rM6.
Trotz alledem war sich Friedrich bewußt, daß der Fürst nicht im Soldaten
aufgehen dürfe, und daß die Armee wohl der starke Arm des Staates sei, die
dauernde Kraft desselben aber im Gedeihen und in der Vaterlandsliebe aller
Bevölkerungsklassen ruhe. „Ein gut regiertes Königreich," erklären die „Briefe
über Vaterlandsliebe", „muß einer Familie gleichen, deren Vater der Fürst ist,
die Unterthanen seine Kinder (also nichts von Gesellschaftsvertrag, sondern sitt¬
liches Verhältnis!); sie teilen gutes und böses, denn der Fürst kann nicht
glücklich sein, wenn sein Volk im Elend lebt. Ist diese Verbindung Wohl
gekittet, so erzeugt die Pflicht der Dankbarkeit gute Bürger, weil sie mit dem
Staate zu innig verbunden sind, um sich von ihm trennen zu können. Sie
hätten dabei alles zu verlieren und nichts zu gewinnen." (Osuvi'of IX, 216).
Besonders muß dem Herrscher das Wohl der ärmeren Klassen am Herzen
liegen. „Der Souverän muß oftmals der Lage des armen Volkes gedenken,
sich an die Stelle eines Bauern oder Handwerkers setzen und sich dann sagen:
Wenn ich in der Klasse dieser Bürger geboren wäre, deren Kapital ihre Arme
sind, was würde ich dann vom Herrscher verlangen? Was dann der gesunde
Menschenverstand dem Fürsten als zweckmäßig bezeichnet, das auszuführen wird
er sich zur Pflicht machen." (IX, 205).
Aus der pflichtmäßigen Fürsorge des Fürsten für sein Volk, aus der ver¬
trauensvollen Hingebung des Volkes an den Fürsten erwächst die wahre Vater¬
landsliebe, die Friedrich mit schönem Ausdruck (II, 6) die bürgerliche Religion
des Landes nennt. In echter Vaterlandsliebe geeint, werden Fürst und Volk
stark sein, ohne daran zu denken, die Macht des Staates zu mißbrauchen, um
Eroberungen zu machen, die nicht dem Ganzen frommen, sondern nur eitle
Ruhmsucht vergnügen würden. Da der Staat aber zur Erfüllung seiner Auf¬
gaben vor allem der Macht bedarf, so wird allerdings sein Oberhaupt darauf
bedacht sein müssen, mit weitschauendem Blick teils die Gelegenheit zu erspähen,
wo ohne Verletzung des Rechtes ein Machtzuwachs sich ermöglichen läßt,
namentlich aber Vorsorge zu treffen, daß man der eifersüchtigen Gegnerschaft
andrer Mächte womöglich niemals allein entgegenzutreten habe. Das schwierige
Kapitel der Bündnisse ist vom König öfter und eingehend behandelt
worden. Sein eignes Verhalten mit Bezug auf Vundestreue ist von
manchen bemängelt worden. Das Prinzip desselben hat er schon im
„Antimachiavel" mit klaren Worten ausgesprochen. „Ich gestehe," heißt es
da (VIII, 122), „daß es fatale Notwendigkeiten geben kann, die einen
Fürsten in die Lage versetzen, seine Verträge und Bündnisse zu brechen. Aber
er muß sich von seinen Verbündeten als ehrlicher Mann trennen, indem er
ihnen bei Zeiten offen seinen Entschluß 'mitteilt, namentlich aber darf man es zu
einem derartigen äußersten Schritte niemals kommen lassen, ohne daß dringende
Notwendigkeit und die Rücksicht auf die Rettung des eignen Volkes ihn fordern."
Für die Pflege dauernder freundschaftlicher Beziehungen giebt der König
folgendes als Gesichtspunkt an (IX, 187): „Einer der obersten Grundsätze
der Politik besteht darin, daß man suchen muß, mit demjenigen seiner Nach¬
barn verbündet zu bleiben, der gegen den Staat die gefährlichsten Schläge
führen könnte. Aus diesem Grunde sind wir mit Rußland verbündet, weil
wir auf diese Weise den Rücken frei haben nach der Ostgrenze des Staates hin.
Die Zeiten können sich ändern, und die Seltsamkeiten der Konjunkturen können
uns veranlassen, andre Verpflichtungen einzugehen, aber bei keiner Macht
wird uns ein freundschaftliches Verhältnis so viele Vorteile bringen, wie bei
Rußland." Da zwischen Preußen und Osterreich, auch abgesehen von der
Erinnerung an Schlesien, die Eifersucht mit Bezug auf die Stellung in Deutsch¬
land kein rechtes Vertrauen aufkommen lassen konnte, so bemerkt Friedrich kurz:
„Ich spreche nicht von Osterreich, mit dem ein festes Band zu knüpfen beinahe
ein Ding der Unmöglichkeit zu sein scheint."
Was den Schriftsteller wie den Politiker Friedrich in so ganz einziger
Weise auszeichnet, das ist die großartige Unbefangenheit, die, unbeirrt von aller
Phrase, von allem Pomp und Schein des Herkommens, die Dinge so nimmt
und so nennt, wie sie in Wirklichkeit sind. Österreich wird in seinen politischen
Beziehungen zu Deutschland jeder andern fremden Macht vollkommen gleich
gestellt. In den politischen Fingerzeigen, die der König zu Anfange des Jahres
1744 unter dem Namen „Fürstenspiegel" dem zum Antritt der Negierung
nach Stuttgart abreisenden Herzog Karl Eugen von Württemberg mit auf den
Weg gab, wird dem jungen Fürsten folgendes zur Nachachtung empfohlen:
„Die Lage Deines Landes, das zugleich an Frankreich und an die Staaten
des Hauses Osterreich grenzt, nötigt Dich, diesen beiden mächtigen Nachbarn
gegenüber eine nach beiden Seiten hin wohl abgemessene, gleichmäßige Haltung
zu beobachten. Zeige keine Vorliebe weder für das eine, noch für das andre
der beiden Reiche, daß ihre Beherrscher Dir niemals Parteilichkeit vorwerfen
können. Denn je nachdem sich das Glück auf die eine oder auf die andre
Seite neigt, würden sie nicht verfehlen, abwechselnd Dich büßen zu lassen für
das, was jeder glauben würde mit Recht Dir schuld geben zu können."
Das Verhältnis Frankreichs zu Deutschland findet sich schon in dem ersten
politischen Aufsatze, der uns von dem jugendlichen Kronprinzen von Preußen
aus dem Jahre 1738 aufbewahrt ist, mit kurzen Worten so treffend charakterisirt,
daß noch heute, nachdem 150 Jahre seit der Niederschrift dieser Zeilen ver¬
flossen sind, kein Jota daran zu ändern sein dürfte. Nur daß eben, Dank
dem großen Nachfolger des großen Friedrich, dem ersten deutschen Kaiser im
neuen Reiche, die beiden Voraussetzungen für die Furchtbarkeit der französischen
Macht, der Besitz Straßburgs und die politische Zersplitterung Deutschlands,
nicht mehr in der Wirklichkeit, sondern nur noch in den Wünschen der Fran¬
zosen vorhanden sind. Was aber die Franzosen stets zu thun bereit wären,
wenn sie nur könnten, und was wir zu thun und zu meiden haben, um ihren
Absichten einen Riegel vorzuschieben, das kann nicht klarer und schöner gesagt
werden, als es von Friedrich gesagt worden ist. Die Stelle findet sich in den Leu-
8in1eraticm8 8ur xresent an eorxs xolitique cis l'IZuroxe (Oeuvres II, 20 f.).
Der Verfasser erinnert an König Philipp von Makedonien, der sich mit Gewalt
in den Besitz von Phokis setzte und die Thermopylen wegnahm, wodurch er
den Schlüssel Griechenlands in seine Hände bekam und in der Lage war, zu
jeder Zeit, die ihm gelegen erscheinen mochte, mit Waffengewalt ins Innere von
Griechenland vorzudringen. Dann heißt es weiter: „Die Geschichte Frankreichs
liefert uns ein Beispiel, das ganz und gar an den eben angeführten Vorgang
aus der alten Geschichte erinnert. Jedermann versteht, daß ich von der Er¬
werbung Straßburgs und des Elsasses spreche. Diese uns jetzt verloren ge¬
gangenen Gebiete waren einst die Thermopylen oder das Bollwerk Deutsch¬
lands, und Lothringen, das vor kurzem vom Reiche abgerissen wurde, entspricht
durch seine Lage dem alten Phokis. Die Art, wie die Franzosen sich dieser
deutschen Länder bemächtigt haben, ist so übereinstimmend mit dem Vorgehen
des Makedoniers Philipp, daß auf eine vollkommene Übereinstimmung auch in
den Absichten geschlossen werden muß. Philipp blieb nicht bei den Thermo¬
pylen stehen, er ging weiter. Was die Griechen betrifft, so bildeten sie sich
über die Fortschritte des Makedoniers ein sehr oberflächliches Urteil. Sie
meinten thörichterwcise, wenn der Tod sie von diesem gefährlichen Feinde be¬
freite, so wäre damit jede Gefahr beseitigt. Ganz ebenso kannegießert man
jetzt in Europa: wenn der oder der Minister stürbe, so könne man wieder
ruhig sein. Als ob nicht bei jedem seiner Nachfolger sich dieselben Absichten,
dieselben Entwürfe einstellen würden. Man tröstet sich so mit kleinen Hoff¬
nungen, wie es schwache Seelen und kleine Geister im Brauche haben. Man
erlaube mir aber hier anzuführen, was Demosthenes in seiner ersten Philippika
seinen Athenern vorhielt: „Philipp ist tot, wird der eine sagen. Nein, wird
der andre erwidern, aber er ist krank... El, sei er tot oder sei er noch am
Leben, was macht das aus? Wenn ihr Athener diesen Philipp nicht mehr
habt, so werdet ihr euch bald einen andern gemacht haben, falls ihr nicht euer
ganzes Verhalten ändert. Denn Philipp ist das geworden, was er ist, nicht
sowohl durch eigne Kraft, als durch eure Fahrlässigkeit."
Vielleicht hat Paul Janet Recht, wenn er dem großen Friedrich unter
den reinen Theoretikern keinen Platz gönnen will, d. h. unter denen, mit deren
Theorie die Praxis nichts anzufangen weiß. Mag der Staatslehre des Königs
die durchgebildete Systematik fehlen, an Fülle klarer, wahrer und großer Ge¬
danken ist sie unübertroffen.
'MMkn Nummer 14 und 16 dieses Jahrganges der Grenzboten findet
sich ein von kundiger Hand geschriebener Aufsatz: Verabschiedete
Offiziere, der sich mit dem wenig beneidenswerten Lose dieser
Herren befaßt und ihre Verwendung in bürgerlichen Stellen
befürwortet. Er geht dabei von der Ansicht aus, daß in Preußen
die Übernahme von Offizieren außer Dienst in Zivilstellen regelmäßig erfolge
und deshalb die Aufmerksamkeit in dieser gewiß wichtigen Angelegenheit sich
wesentlich auf nicht preußische deutsche Staaten zu lenken habe. Diese Ansicht
ist jedoch irrig, weil auch in Preußen die Anstellung von frühern Offizieren
im Zivildienste, selbst für solche Stellen, die besonders gut für sie geeignet
sind, und die ihnen bestimmungsmäßig offen stehen, viel seltener erfolgt, als
man annimmt. Zu solchen Stellen gehören die der höhern Polizeiexekutiv¬
beamten, welche in Berlin Polizeihauptleute und Polizeileutnants, in den Pro¬
vinzen Polizeiinspektoren und Polizeikommissare heißen. Obwohl durch die
ministeriellen Bestimmungen vom 9. Mai 1837 und 23. Juni 1841 vor¬
geschrieben ist, daß zu Polizeikommissaren verabschiedete Offiziere oder Referen¬
dare genommen werden sollen, finden sich erfahrungsmäßig bei den Polizeibehör¬
den in Preußen, das Polizeipräsidium in Berlin ausgenommen, fast keine Offi¬
ziere, sondern überwiegend frühere Unteroffiziere oder Feldwebel in den Exe-
kutivstellen. Eine uns vorliegende Fachschrift: Die bestehende Organisation
und die erforderliche Reorganisation der preußischen Polizeiverwaltung (Berlin,
Friedrich Luckhardt) beleuchtet auf Grund statistischer Ermittelungen die Ver¬
hältnisse der kommunalen Polizeiverwaltungen in den preußischen Städten
über 25000 Seelen. Sie stellt neben andern, geradezu verblüffenden Mit¬
teilungen, wie ein hochangesehener rheinischer Bürgermeister sich ausdrückt, fest,
daß in diesen wenigen Städten 11 Polizeiinspektoren und 75 Polizeikommissare
und 457 Schutzleute fehlen, und daß von den zur Zeit angestellten Polizeiinspek¬
toren keiner dem Offizierstande angehört hat. Auch bei den Polizeikommissaren
verhält es sich so, und nicht bloß bei den kommunalen, sondern auch bei den könig¬
lichen Polizeiverwaltungen. Der Grund zu dieser Erscheinung mag teilweise
darin liegen, daß die Benennung Polizeiinspektor und Polizeikommissar den aus¬
geschiedenen Offizieren nicht standesgemäß erscheint und zu der Annahme Veran¬
lassung giebt, es stehe eine solche Stelle unter der eines Polizeileutnants in Berlin.
Der wesentliche Grund aber liegt nicht in den mangelnden Meldungen außer¬
dienstlicher Offiziere, sondern in der Abneigung vieler Behörden gegen sie und in
der unzureichenden Kontrolle der austeilenden Behörden und Beamten. Die er¬
wähnten ministeriellen Bestimmungen treffen auch für die heutige Zeit vollständig
zu, ja in höherm Grade als früher, da die heutige, mehr zum Gemeingute ge¬
wordene Bildung höhere Ansprüche an die Beamten stellt. Es unterliegt keinem
Zweifel, daß der Unteroffizierstand der preußischen Armee — Ausnahmen sind
selbstverständlich — im allgemeinen nicht die Bildung hat, die zu einem Polizei¬
kommissar (Polizeileutnant) und Polizeiinspektor (Polizeihauptmann) heutzutage
unbedingt nötig ist. Die allmähliche und gründliche Anleitung der Schutzleute,
sowie die Stellung zu diesen, das Studium und die Anwendung der zahlreichen
und oft verwickelten Strafgesetze (Gewerbeordnung, Strafprozeßordnung 2c.),
der Gebrauch der unzähligen Ortspolizeiverordnungen, die bei den heutigen
Verkehrsverhältnissen nötige Kenntnis fremder Sprachen erfordern eine gute, über
das Gebiet der Volksschule hinausgehende Schulbildung und eine hinreichende
Aneignung guter gesellschaftlicher Formen, wie man sie in dem Unteroffizier¬
stande nicht erwarten kann, wohl aber bei den Offizieren findet. Der Mangel
solcher Elemente in dem Exekutivpersonal verschuldet in nicht geringem Grade
die ungenügende Ausbildung der Schutzleute, Polizeisergeanten und Polizei¬
diener und das oft bemerkte unsichere öffentliche Auftreten derselben. Daß
bei solchen Gelegenheiten nicht wieder gut zu machende Fehler vorkommen, ist
schon hieraus leicht erklärlich. Liegt aber die Notwendigkeit vor, gebildetere
Elemente im Polizeidienste zu verwenden, so möge man nicht länger zögern, die
vorerwähnten Anstellungsbestimmungen von neuem wieder und zwar dauernd zur
Anwendung zu bringen. Sehr ratsam erscheint es übrigens, daß tüchtige, aus dem
Offizierstande hervorgegangene Exekutivbeamte auch in höhere Polizeistellen be¬
fördert werden, da diese ihrer Natur nach nicht dazu bestimmt sind, Durch¬
gangsstationen zu sein, auf denen Lehrgeld bezahlt werden muß, sondern erst
dann zum Vorteile des betreffenden Verwaltungsbezirkes ausgefüllt werden können,
wenn die Beamten sich genaue Orts- und vielfache Personenkenntnis angeeignet
haben. Die bei den preußischen Offizieren verlangte Schulbildung der Real¬
gymnasien macht sie zu dergleichen Stellen sehr geeignet.
Die obenerwähnte Zahl der fehlenden höhern Exckutivbeamten in den
preußischen Städten über 25000 Seelen mit kommunaler Polizeiverwaltung
erhöht sich noch ganz erheblich durch Hinzurechnung der königlichen Polizei¬
verwaltungen. Von ganz besondrer Wichtigkeit dürfte aber der Umstand sein,
daß jede auch weniger als 26 000 Seelen zählende städtische wie ländliche Ge¬
meinde auf je 10000 Seelen erfahrungsmäßig mindestens einen Polizeikommissar
und auf mehr als zwei Polizeikommissare einen Polizeiinspektor erfordert. Wie
wenig aber dieser Anforderung genügt wird, zeigt unter anderm die obener¬
wähnte Fachschrift. Es würde bei Zusammenstellung des Bedarfs sich eine
Zahl von mehreren hundert Stellen ergeben, die ebensovielen außerdienstlichen
Offizieren eine bessere Lebensstellung gewähren würden, als Agentenstellen für
Versicherungsanstalten u. tgi.
Bei dieser Gelegenheit möge die Frage gestreift werden, ob nicht die Zeit-
Verhältnisse eine Vermehrung der Exekutivbeamten erfordern. Diese Frage würde
durch Revisionen der örtlichen Pvlizeiverwaltungen, die in Preußen durch die
ministeriellen Verfügungen vom 16. Februar 1831 und 22. April 1831 vor¬
geschrieben sind, jetzt aber nicht mehr zur Ausführung kommen, unbedingt in
bejahendem Sinne entschieden werden müssen, da die in der Polizeiverwaltnng
Preußens sich zeigenden Fehler großenteils durch Beamtenmangel verschuldet
werden. Wenn man bedenkt, daß z. B. in der Stadt Mona ein Polizeiinspektor,
6 Polizeikommissare und 21 Schutzleute, in Barmer 4 Polizeikommissare und
27 Schutzleute, in Düsseldorf 4 Polizeikommissare und 20 Schutzleute, in Elber-
feld 5 Polizeikommissare und 26 Schutzleute, in Krefeld 3 Polizeikommisfare und
26 Schutzleute, in Dortmund 4 Polizeikommisfare und 25 Schutzleute, in Essen a. R.
3 Polizeikommisfare und 16 Schutzleute, in Kiel 4 Polizeikommisfare und 13
Schutzleute, in Görlitz ein Polizeiinspektor, ein Polizeikommissar und 15 Schutz¬
leute, in Münster in Westfalen zwei Polizeikommisfare und 15 Schutzleute, in
Duisburg 3 Polizeikommissare und 11 Schutzleute, in Remschcid ein Polizei-
inspektor, 2 Polizeikommissare und 16 Schutzleute, in Flensburg ein Polizei¬
inspektor, 2 Polizeikommissare und 9 Schutzleute fehlen, so ist es erklärlich, daß
die Kriminalpolizei in diesen Städten überhaupt mangelhaft ist, eine ordentliche
Steckbriefkontrole in den meisten Fällen nicht geführt wird, photographische
Sammlungen der Gewohnheitsverbrecher und Prostituirten vielfach nicht vor¬
handen und die Hehler und Prostituirten nicht ordentlich beaufsichtigt sind, die
Vorschriften über Behandlung der Bettler und Vagabunden unausgeführt bleiben,
die Handhabung der Gesundheits-, Bau- und Feuerpolizei eine geradezu un-
bezeichenbare ist, die wenig vorhandenen Polizeiposten auf den Straßen und
Bahnhöfen nicht ordentlich kontrolirt werden, kurzum, daß die Unsicherheit der
Person und des Eigentums sehr groß ist.
Die Kölnische Zeitung schrieb unter dem 19. Juli dieses Jahres aus
Westfalen: In dem Jndustriebezirke nehmen die Verbrechen gegen das Leben
in letzter Zeit in geradezu erschreckender Weise überHand. Vor kurzem wurde
in Dortmund ein Fuhrunternehmer mit Namen Brinckmann von nutzlosen
Burschen erstochen, vor acht Tagen fand man in Lütgen-Dortmund die Leiche
eines erstochenen Bergmanns; in der Nacht zum Sonntag wurde in Marien
ein Maurerpolier derart mit dem Messer bearbeitet, daß an seinem Aufkommen
gezweifelt wird; er war mit einer andern Person verwechselt worden. In der¬
selben Nacht wurde zu Brake! ein Bergmann erstochen. Dergleichen Hilferufe,
deren die Presse gewiß noch manche veröffentlichen könnte, fordern zu energischer
Abwehr auf. Kann auch nicht jede Unsicherheit durch die Polizei abgewendet
werden, so kann doch durch gute Erziehung und strenge Pflichterfüllung der
Exekutive vieles verhindert werden.
Mit dem Verfasser des Eingangs erwähnten Aufsatzes sind wir vollständig
darin einverstanden, daß es sehr zweckmäßig sein würde, einen auf Anstellung
verabschiedeter Offiziere zielenden Antrag im Reichstage einzubringen; aber noch
besser scheint es uns, daß die Regierungen die Sache ohne Antrag in die Hand
nehmen, und daß die preußische Regierung vorangehe. Es ließe sich hierbei die
Anforderung des Staates mit dem Bedürfnis einzelner Teile, nämlich der Ge¬
meinden, und dem Glücke vieler tüchtiger Leute in Übereinstimmung bringen.
l
e dritte Abteilung des kürzlich in Stettin abgehaltenen deutschen
Juristentags hat sich unter anderm mit der Frage beschäftigt,
ob es angemessen erscheine, die Prinzipale Privatklage auf die
Körperverletzungen des Z 223a, des Strafgesetzbuchs, sowie auf
Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch auszudehnen. Nach län-
germ Hin- und Herreden gelangte folgender Antrag des Kammergerichtsrath
Dr. Olshausen in Berlin zur Annahme: Der Juristentag wolle beschließen:
„Eine spezielle Bezeichnung einzelner Delikte, auf welche die Prinzipale Privat¬
klage auszudehnen sei, empfiehlt sich nicht. Die Frage, welche Ausdehnung
dem Privatklagevcrfahren bei einer etwaigen Reform des Strafprozesses zu geben
sei, erheischt vielmehr eine prinzipielle Lösung." Man sieht, der Beschluß trägt
allen Anschauungen etwas Rechnung, indem er einerseits eine Ausdehnung des
Privatklageverfahrens nicht geradezu von der Hand weist, anderseits aber diese
Ausdehnung nur bei einer etwaigen Reform des ganzen Strafprozesses erwogen
wissen will. Unsers Erachtens wäre es gut gewesen, wenn der deutsche Juristen¬
tag sich mit voller Entschiedenheit gegen jede Ausdehnung des Privatklagever¬
fahrens ausgesprochen, wenn er klar gesagt hätte: Wir wollen das Privatklage¬
verfahren nicht abschaffen, da wir es für notwendig halten, wir halten es aber
für sehr verbesserungsbedürftig und müssen jeder Ausdehnung desselben auf
andre Strafthaten als Beleidigungen und leichte Körperverletzungen entschieden
widerraten. Ein solcher Beschluß wäre wohl den meisten der praktischen Juristen,
die mit der Privatklage zu thun haben, aus der Seele gesprochen gewesen.
Nach Z 404 der Strafprozeßordnung können jetzt Beleidigungen und Körper¬
verletzungen, soweit die Verfolgung nur auf Antrag eintritt, von dem Verletzten
ans dem Wege der Privatklage verfolgt werden, ohne daß es einer vorgängigen
Anrufung der Staatsanwaltschaft bedarf. Der Entwurf zur Strafproze߬
ordnung hatte neben dieser sogenannten Prinzipalen Privatklage, die jedem Ver¬
letzten ganz unabhängig von einer vorherigen Anrufung der Staatsanwaltschaft
in den bezeichneten Fällen gegeben ist, noch die sogenannte subsidiäre Privat¬
klage in sein System aufgenommen. Die letztere sollte bei allen Antragsdelikten,
soweit sie nicht mit der Prinzipalen Privatklage verfolgbar sind, statthaft sein.
Die mit der Beratung des Entwurfes betraute Reichstagskommission beseitigte
indessen die subsidiäre Privatklage. Während der Entwurf durch Aufnahme der
subsidiären Privatkiage bei Antragsdelikten jedem Verletzten das Recht gewährte,
dann, wenn die vorher anzugehende Staatsanwaltschaft die Strafverfolgung
abgelehnt hatte, selbständig auf dem Wege der Privatklage vorzugehen, beschränkte
die Rcichstagskommission das Anklagerecht des Verletzten auf die Fälle der
Prinzipalen Privatklage und erweiterte dementsprechend das Anklagemonopol der
Staatsanwaltschaft, das jetzt, abgesehen von Beleidigungen und leichten Körper¬
verletzungen, grundsätzlich ganz uneingeengt besteht. Um jedoch den Verletzten,
die bei der Strafverfolgung der gegen sie verübten Missethaten oft wesentlich
beteiligt sind, nicht ganz von der Entschließung der zuständigen Staatsanwalt¬
schaft abhängig zu machen, um ihm eine Einwirkung auf diese Entschließung zu
sichern, nahm man in das Gesetz die §Z 169 und 170 auf. Hiernach hat die
Staatsanwaltschaft, falls sie das Verfahren einstellt oder einem bei ihr ange¬
brachten Antrage auf Erhebung der öffentlichen Klage keine Folge giebt, den
Antragsteller unter Angabe der Gründe zu bescheiden. Ist der Antragsteller
zugleich der Verletzte, so steht ihm gegen diesen Bescheid binnen zwei Wochen
nach der Bekanntmachung die Beschwerde an den vorgesetzten Beamten der Staats¬
anwaltschaft, und gegen dessen ablehnenden Bescheid binnen einem Monat nach
der Bekanntmachung der Antrag auf gerichtliche Entscheidung zu. Erachtet das
Gericht den Antrag für begründet, so beschließt es die Erhebung der öffentlichen
Klage. Die Durchführung dieses Beschlusses liegt der Staatsanwaltschaft ob.
Man sieht, das Anklagemvnopol steht, obwohl es grundsätzlich durchgeführt ist,
in seiner Ausübung unter richterlicher Aufsicht, ja noch mehr, es unterliegt
der richterlichen Entscheidung, es ist alle nur mögliche Bürgschaft gegen eine
mißbräuchliche Anwendung desselben gegeben. Wenn trotzdem die Ausdehnung
der Privatklage, und zwar der Prinzipalen, auf noch andre Strafthaten als
Beleidigungen und leichte Körperverletzungen, insbesondre auf Sachbeschädigung,
Hausfriedensbruch und gar auf die sogenannte gefährliche Körperverletzung des
Z 223 a, angestrebt wird, so kann das nur auf einer vollständigen Verkennunq
der Pflichten des Staates auf dem Gebiete der Strafrechtspflege beruhen. Es
läßt sich aus der Praxis, wenn auch nicht aus rechtlichen und sittlichen Grün¬
den rechtfertigen, wenn die Motive der Strafprozeßordnung bei Begründung
der Aufnahme des Privntklageverfahrcns für Beleidigungen und leichte Körper¬
verletzungen sagen: „Beleidigungen und leichte Mißhandlungen sind alltägliche
Vorkommnisse; sie berühren das allgemeine Wohl der bürgerlichen Gesellschaft
meistens wenig, und selbst für die Beteiligten haben sie in der Regel eine viel
zu geringe Bedeutung, als daß ein rechtliches oder sittliches Bedürfnis vorläge,
stets eine Bestrafung herbeizuführen." Allein diese Geringschätzung der Bedeutung
der genannten Strafthaten — sie hat schon zu vielen Klagen Anlaß gegeben
und wird nicht immer als berechtigt anerkannt — auch noch auf andre Delikte
auszudehnen, scheint doch sehr bedenklich. Die Pflicht des Staates, zur Auf-
rechthaltung der Rechtsordnung dem Einzelnen, dessen Recht verletzt wird, seinen
Arm zur Wiederherstellung dieses Rechtes zu leihen, ist heute allgemein aner¬
kannt. In gleicher Weise ist anerkannt die Pflicht des Staates, diejenigen
Zuwiderhandlungen gegen die Rechtsordnung, die von dem Gesetze als solche
bezeichnet sind, gleichviel ob sie gegen einen Einzelnen oder die Allgemeinheit
verübt werden, Mit Strafe zu bedrohen und im Falle ihres Vorkommens zu
bestrafen Empfiehlt es sich wohl da, einzelne mit Strafe bedrohte Thaten als
minderwertig zu behandeln und ausdrücklich zu erklären, man überlaste es dem
Einzelnen, die Bestrafung derartiger Eingriffe in seine Rechtssphäre selbst herbei¬
zuführen? Warum soll ein Angriff gegen den Körper, die Gesundheit einer
Person oder gegen ihre Ehre der Staatsgewalt weniger Anlaß zur Verfolgung
des Angreifenden geben, als ein Angriff gegen das Eigentum? Ist wirklich —
abgesehen vielleicht von dem sittlichen Werte des Thäters — ein Eingriff in das
Eigentum, verübt durch Diebstahl, vom Standpunkte der Rechtsordnung und
des Verletzten, etwas so wesentlich andres, als ein solcher Eingriff, verübt
durch Sachbeschädigung? In beiden Fällen wird die Rechtsordnung durch
einen Eingriff in das Eigentum des Einzelnen verletzt. Das Recht und die
Pflicht des Staates auf Strafverfolgung gründet sich aber lediglich auf sein
Recht und seine Pflicht, die Rechtsordnung aufrecht zu erhalten. Ist diese
verletzt, so muß er strafen, und es geht nicht an, einzelne Zuwiderhandlungen
mit Rücksicht auf hergebrachte Anschauungen als minderwertig auszuscheiden,
ihre Verfolgung lediglich dem Verletzten zu überlassen. Es mag ja zweckmäßig
sein, in einzelnen Fällen das Vorgehen der staatlichen Strafgewalt von dem
Vorgehen des Verletzten abhängig zu machen, allein dem wird durch Auf¬
nahme der sogenannten Antragsdelikte in das Strafgesetz vollständig Rech¬
nung getragen. Hat in solchen Fällen der zunächst Betroffene seinen Willen,
Bestrafung herbeizuführen, zu erkennen gegeben, dann muß auch der Staat die
gegen den Einzelnen verübte Verletzung der Ordnung durch Strafung des Thäters
sühnen. Es darf dem Einzelnen niemals zukommen, diese Sühne selbst, wenn auch
durch die Organe des Staates, herbeizuführen. Aber auch abgesehen von diesem
allgemeinen Gesichtspunkte, der vielfach Anfechtung erfahren dürfte, spricht noch
gegen das Privatklageverfahren, daß es einen sehr verschiedenen Schutz gewährt.
Der geistig oder wirtschaftlich schwache wird in diesem Verfahren im Nachteile
sein gegenüber dem geistig oder wirtschaftlich starken. Der geistig gewandte oder
der für sein Geld durch eiuen geschickten Rechtsanwalt vertretene Angeklagte
wird nach dem ganzen Aufbau des Privatklagcverfahrens, wie er grundsätzlich
kaum zu ändern ist, fast immer einem weniger gewandten Privatkläger, der sich
eines Anwaltes der Kosten wegen nicht bedienen kann, die angestrebte Sühne
der Rechtsverletzung sehr erschweren, wenn nicht unmöglich machen, und umge¬
kehrt wird unter Umständen ein geistig oder wirtschaftlich starker Privatkläger
eine größere Sühne erlangen können, als es der Lage des Falles entspricht.
Daß ein solches Ergebnis nicht die Ansprüche erfüllt, die man an ein Straf¬
verfahren macht, bedarf wohl keiner weitern Ausführung. Man wende nicht
ein, daß auch beim ordentlichen Strafverfahren eine derartige Überlegenheit des
Angeklagten von Einfluß auf den Ausgang des Strafprozesses sein könne. Es
mag das ja sein und wird sich auch beim besten Strafverfahren niemals ver¬
meiden lassen, allein dort ist doch in andrer Weise und insbesondre auch durch
die Person des Staatsanwalts dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den
Himmel wachsen, während im Privatklageverfahren die schwächere Partei, mag
sie auch die berechtigtere sein, oft schutzlos dasteht. Jeder, der das Privatklage¬
verfahren aus der Praxis kennt, weiß wohl, wie nicht selten derjenige, der einen
Angriff auf seine Ehre durch Erhebung einer Privatklage zurückweisen will, in
der Hauptverhandlung durch seineu Gegner oder dessen geschickten Verteidiger
noch weitere versteckte und offene Angriffe erfährt, die er sich gefallen lassen
muß, und die oft bitterer sind, als der erste Angriff, der zum ganzen Verfahren
Veranlassung gab.
Man sieht, es sprechen gewichtige Gründe gegen das Privatklageverfahren
überhaupt. Sie gelten naturgemäß auch gegen eine weitere Ausdehnung noch
auf andere Strafthaten. Nur die, die dem Staate überhaupt das Recht ab¬
sprechen, der alleinige Hüter der Rechtsordnung zu sein, können sich für ein Ver¬
fahren begeistern, das, nicht Fisch, nicht Fleisch, Strafprozeß und Zivilprozeß
verquickt und — alle Wissenden werden das bezeugen — nicht selten einen förm¬
lichen Handel mit Geld und angeblicher Schädigung zur Folge hat. Bezahlst
du zwanzig Mark und trägst die Kosten, so nehme ich die Privatklage zurück —
so hört man es häufig in und vor den Gerichtssälen. Ist solcher Handel nicht
widerwärtig, und wirft nicht schon der Umstand, daß er überhaupt möglich ist,
einen Makel auf das ganze Verfahren?
Dies möge hier genügen. Nur noch ein Punkt soll aus den Verhand¬
lungen des Juristentages hervorgehoben werden. Im Jahre 1876 haben Reichs¬
tag und Bundesrat des Reichs beschlossen, mit Rücksicht auf die zunehmende
Häufigkeit der betreffenden Strafthaten und die dadurch herbeigeführte Ge¬
fährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, neben dem die leichten
vorsätzlichen Körperverletzungen mit Strafe bedrohenden Z 223 des Strafgesetz¬
buches noch einen besondern s 223» einzuschalten, der mit Gefängnisstrafe nicht
unter zwei Monaten die sogenannten gefährlichen Körperverletzungen bedroht,
die verübt werden von mehreren gemeinschaftlich, durch hinterlistigen Überfall,
mit Messern und dergleichen. Es entsprach dieser neue Paragraph einem in
der damals erst kurzen Zeit seit der Einführung des Strafgesetzbuches scharf
hervorgetretenen Bedürfnis; man fühlte dieses Bedürfnis so sehr, daß man weiter
noch die Strafverfolgung aus Z 223 a von der Stellung eines Antrages des Ver¬
letzten unabhängig machte und im Gegensatze zu Z 223 sie von Amts wegen ein¬
treten ließ. Der H 223a hat sich seitdem wohl bewährt. Er ist geeignet, alle» grobe»
Ausschreitungen, die nicht selten zu Körperverletzungen führen, scharf zu begegnen.
Nun, nach kaum zwölf Jahren, und nachdem alle Welt — die jeweils beteiligten
Angeklagten natürlich ausgenommen —mit dem Z 223«. zufrieden ist und es
nur billigt, daß solche Körperverletzungen unabhängig von dem Willen des
Verletzten verfolgt werden, will man nicht etwa wieder die Strafverfolgung in
diesen Fällen von einem Antrag abhängig machen und damit zu dem frühern
so sehr beklagten Zustande zurückkehren, sondern man will sogar die Strafver¬
folgung dieser gemeingefährlichen Strafthaten dem Privatklageverfahren über¬
lassen. Das verstehe, wer kann.
area zu zweifeln
, daß der österreichische Kaiserstaat ein echtes,
gutes, kerndeutsches Land sei, würde in München und Stutt¬
gart, in Dresden und Hannover, und nun gar erst in Kassel
und Wiesbaden, nicht bloß als eine böswillige Verleugnung
aller Wahrheit, als eine Verhöhnung alles gesunden politi¬
schen Verstandes angesehen worden sein, sondern die maßgebenden Kreise
dort hätten derartige ketzerische Ansichten als eine Art von Verbrechen und
Hochverrat betrachtet. Daß Österreich ganz und gar zu Deutschland gehöre
und den wichtigsten Bestandteil desselben bilde, galt als ganz selbstverständlich.
In allen Schulen, die hohen und höchsten nicht ausgenommen, wurde gebauten-
los vorgetragen, nachgesprochen und auswendig gelernt: Deutschland enthält
ein Kaisertum, fünf Königreiche u. s. w. Ich erinnere mich aus meiner Jugend¬
zeit noch sehr genau, wie vieles Kopfzerbrechen mir als Knaben das allerdings
nicht leicht zu lösende Problem machte, wie es möglich sei, daß das zu Deutsch¬
land gehörende Kaisertum allein über 12 000 Quadratmeilen umfaßte, während
ganz Deutschland, das doch noch fünf Königreiche, ein Kurfürstentum, so und
so viele Großherzogtümer, Herzogtümer u. s. w. enthielt, nur eine Größe von
11600 Quadratmeilen hatte. Dagegen erinnere ich mich nicht, daß irgend einer
unsrer Lehrer auch nur einmal versucht hätte, diese Verhältnisse etwas auf¬
zuklären. Ich habe auch nie gehört, daß meine Altersgenossen, Universitäts-
freunde u. a. in dieser Beziehung etwas klarere Anschauungen gehabt hätten.
Vielleicht haben unsre Lehrer bei diesem heikeln Punkte nach dem bekannten
Worte des Mephistopheles gehandelt:
Das Beste, was du wissen kannst,
Darfst du den Buben doch nicht sagen.
Aber ich glaube den gelehrten, klassisch gebildeten Philologen, die damals viel
mehr noch als heute für den höhern Unterricht ausschlaggebend waren, kein
Unrecht anzutun, wenn ich annehme, daß die meisten unter ihnen über die ver¬
zwickten politischen Verhältnisse des deutschen Bundes nicht viel klarer waren
als die heranwachsende Jugend. Was wir in den fünfziger und sechziger Jahren
nicht gelernt haben, wird man den Leuten, die in den zwanziger, dreißiger und
vierziger Jahren ausgebildet wurden, erst recht nicht eingepaukt haben. Und
über das, was auf Schulen und Universitäten nicht gelehrt wird, durch eignes
Studium, durch selbständiges Nachdenken sich Klarheit zu verschaffen, das ist
von jeher die Sache nur weniger gewesen. Die grundverkehrte Auffassung,
die Österreicher im allgemeinen schlechtweg und unbesehen für Deutsche zu halten,
führte natürlich auch vielfach zu einer ganz falschen Darstellung der Geschichte.
Daß z. B. Johann Huß kein Deutscher, sondern ein fanatischer Tscheche war,
daß bei der ganzen Hussitenbewegung der wütende Deutschenhaß jenes uns
nicht gerade sehr sympathischen Slavenstammes mindestens eine eben so große
Rolle spielte wie die Religion, habe ich erst im reifern Alter lernen müssen.
In der Jugend wurde uns dieser Deutschenfeind nur dargestellt als der Vor¬
läufer Luthers und der Reformation, als Vorkämpfer des Evangeliums, als
Märtyrer der reinen Lehre, und die wüsten tschechischen Räuber-, Brandstifter¬
und Mörderbanden waren begeisterte Glaubenskämpfer. Derartige falsche
Darstellungen und Auffassungen der Geschichte sind übrigens nicht neu und
stammen nicht etwa erst aus diesem Jahrhundert, und die Leute, die sie vor¬
gebracht haben und zum Teil noch vorbringen, können sich dafür auf berühmte
Muster berufen. Schiller z. B., sowohl in seinen dramatischen Dichtungen über
Wallenstein, wie in seiner Geschichte des dreißigjährigen Krieges, nimmt alle
Österreicher, die nicht gerade Welsche, d. h. Italiener oder Spanier waren, ohne
Weiteres für Deutsche; daß der Terzky, richtiger Trzka, „des Herzogs Schwager,"
kein Deutscher war, ist ihm offenbar nie zum Bewußtsein gekommen, ebensowenig,
daß, wenn Wallenstein überhaupt daran gedacht hat, Böhmen von den Habsburgi¬
schen Erbländer loszureißen, er das nur konnte, wenn er den nationalen Gegensatz
der Tschechen gegen die Deutschen ausnutzte. In den österreichisch gesinnten
Kreisen wurde zwar nicht geradezu abgestritten, daß in dein Kaiserstaate auch
noch einige nichtdeutsche Völkerschaften vorhanden waren; aber dagegen führte
man dann an, daß es ja in Preußen auch Polen und Litthauer gebe. Im
allgemeinen aber galt es als eine Art von Glaubenssatz, daß die Österreicher
im ganzen und großen Deutsche wären, wenn auch in Wirklichkeit bei drei
Vierteln von ihnen das Deutschtum nur durch „das deutsche Kommando und
den deutschen Haselstock in der Armee" vertreten war, durch die ja, nach einem
bekannten Ausspruche Schwarzenbcrgs, die Staatseinheit allein aufrecht erhalten
wurde. Wenn auch die k. k. Besatzungen in der ehemaligen Bundesstadt und
in den frühern Bnndcsfestungeu aus magyarischen, polnischen, slavonischen,
kroatischen oder italienischen Regimentern bestanden, so wurde dadurch doch
diese künstlich genährte Einbildung nicht erschüttert. Die aus den verschiedensten
Nationalitäten zusammengesetzten österreichischen Truppen fanden bei den Preußen-
feindlichen Bevölkerungen der deutschen Bundesstaaten die ungeteiltesten und
lautesten Sympathien. Diese und namentlich Wohl die ausgezeichnete Ver¬
pflegung in Hamburg veranlaßte 1864 einen tschechischen oder slowakischen
„Vrnder uusriges" auf dem dortigen Berliner Bahnhofe zu dem klassischen
Ausrufe: „Es lebe das ganze deutsche Bündel!" Dieser Vorgang, der damals
durch alle Blätter lief, fand allen Ernstes in der partikularistischen und demo¬
kratischen Presse die unbedingteste Billigung als ein Ausfluß der unverwüst-
lichen österreichischen Gemütlichkeit im Gegensatze zu der Zugeknöpftheit, dem
Dünkel und der Schroffheit der Preußen. Sogar der damals noch gut
fortschrittliche Kladderadatsch wagte kaum darüber zu spotten, und erst
später, dicht vor Ausbruch des sechsundsechziger Krieges, als er wieder einen
preußischen und nationalen Standpunkt gefunden hatte, bekannte er: „Wir
haben uns mit den Österreichern auf dem Hamburger Bahnhofe zu ge—-nau
bekannt gemacht."
Zu den Zeiten der großen Kaiserin Maria Theresia hatte sich deutsche
Sprache und Sitte in den kaiserlichen Erbländer in einem solchen Maße ver¬
breitet, daß man vielleicht hätte glauben können, daß die meisten Besitzungen
des Hauses Habsburg mit der Zeit wenigstens im ganzen und großen germcmisirt
werden würden. Seit jener Zeit aber ist das Deutschtum im Kaiserstaate
immer mehr zurückgegangen und zurückgedrängt worden, und zwar nicht am
wenigsten durch die bewußte, planmäßige Politik der Regierung, namentlich des
Fürsten Metternich, und dieser Rückgang des deutschen Elements dauert bis
auf den heutigen Tag fort. Seit zweiundzwanzig Jahren ist Österreich ganz
aus dem engeren politischen Verbände mit Deutschland ausgeschieden. Wir
dürfen aber nicht etwa glauben, daß wir aus diesen beiden Gründen es uns nun
sparen könnten, die Gebietsentwicklung dieses Reiches in den Kreis unsrer
Betrachtung zu ziehen. Denn, wie schon angedeutet, diese beiden Thatsachen
selbst lassen sich erst völlig erklären und begreifen aus der eigentümlichen Um¬
wandlung der Gebietsverhältnisse, die dieser Staat durchgemacht hat. Ferner
hat Österreich doch allzulange zu Deutschland gehört, Und zwar nicht bloß
als Glied, sondern als Haupt des deutschen Rcichskörpers, sein Einfluß in
jeder Beziehung ist gar zu groß und nachhaltig gewesen, als daß wir es über¬
gehen könnten. Drittens aber ist die Gebietsentwicklung der wichtigsten
deutschen Staaten, Preußens, Baierns, Sachsens, Württembergs, Badens, so
sehr durch diejenige Österreichs beeinflußt worden, daß, ohne eine genauere
Kenntnis der letztern, auch die erstere nicht völlig verstanden werden kann.
Wir wollen jedoch bei diesem Staate ebensowenig, wie bei den andern,
die in Frage kommen, allzuweit in die Vergangenheit zurückgreifen. Der Grund
zu dem Reiche der Habsburger, zu der Macht dieses Hauses wurde gelegt auf
jenem weiten Blachfelde zwischen March und Donau, wo im Jahre 1278 am
26. August der tschechische König Ottokar von Böhmen aus dem Hause der
Przemysliden gegen den deutschen König Rudolf I. Krone und Leben verlor,
Infolge dieses Sieges kamen Österreich, Steiermark, Krain und die windische
Mark an das Haus Habsburg, und der Anfall von Kärnthen und Tirol wurde
damals bereits gesichert. Kärnthen fiel schon 1335 an Österreich mit dem Tode
des letzten Herzogs Heinrich; der Anfall von Tirol erfolgte im Jahre 1363,
als die letzte selbständige Gräfin dieses Landes, die Tochter jenes Herzogs
Heinrich, Margaret«, von einem Schlosse in der Nähe von Terlan Margaret«
Maultasch genannt, sie an Österreich abtrat; damit zugleich vermachte sie dem
Hause Habsburg ihre Ansprüche auf die Grafschaft Görz. Die Versuche der
Fürsten dieses so rasch emporgestiegenen Hauses, die schweizerischen Urkantone,
über die ihren Vorfahren schon seit alters die Reichsvogtei zugestanden hatte, sich
ganz zu unterwerfen, mißlangen völlig. Die ältesten Stammlande des Geschlechts
im Kanton Aargau, der Wülpelsberg mit den Trümmern des Schlosses Habsburg
(Habichtsburg, oder nach einer andern Erklärung Burg in der Habe, im Eignen)
gingen ebenfalls an die Eidgenossen verloren. Dennoch gab das Gebiet, das dieses
Fürstengeschlecht beherrschte, Österreich mit den oben bezeichneten Nebenländern,
die sogenannten vorderösterreichischen Lande in der oberrheinischen Tiefebene,
die Besitzungen in Schwaben und dem heutigen Baiern, ihm eine so bedeutende
Machtstellung, daß der Herzog Rudolf (f 1365) seit dem Jahre 1359 den
Titel Erzherzog (ArolMux) annahm. Der Anspruch auf diesen einzig dastehenden
Titel wurde hergeleitet aus einem angeblichen Ausspruche Kaiser Friedrichs I.
Barbarossa aus dem Jahre 1156, wodurch die Herzöge von Österreich den
Kurfürsten des Reiches gleichgestellt worden wären. In der That übertrafen
damals die österreichischen Lande (etwa 1600 Quadratmeilen) an Größe jedes
Kurfürstentum, abgesehen von dem Königreiche Böhmen.
Die deutsche Kaiserkrone, die Rudolf I. und Albrecht I. getragen hatten,
schien allerdings für das Haus Habsburg verloren zu sein, als das Haus
Luxemburg gleich einem strahlenden Meteor an dem deutschen und europäischen
Fürstenhimmel emporstieg. Aber dieses Haus erlosch eben so rasch, wie es zu
Glanz und Macht gelangt war. Als Albrecht II. die Erbtochter des Kaisers
Sigismund heiratete, als nach dessen Tode zum erstenmale die Kronen von
Ungarn und Böhmen an das Haus Habsburg kamen, als die Krone Karls
des Großen sein Haupt schmückte, die bis zur Auflösung des heiligen römischen
Reiches mit einer einzigen kurzen Unterbrechung (Karl VII. von Baiern) seinen
Nachkommen verblieb,*) da schien es, als sollte das ErzHaus alle Fürsten¬
geschlechter Europas an Macht und Ansehen übertreffen. Sein Sohn und
Nachfolger, Friedrich III. (oder IV., wenn Friedrich der Schöne mitgezählt
wird) schien wohlberechtigten Grund zu haben, als seinen Wahlspruch die
Buchstaben anzunehmen: ^. D. I. 0. II., deren gewöhnliche Auslegung ist:
^ustrias ost imxerarg c>M univorso (Osterreich steht es zu, den ganzen Erd¬
kreis zu beherrschen). "*) Dieser stolze Sinnspruch paßte jedoch für niemand
weniger, als für Friedrich III.; er hatte zwar die längste Regierungszeit unter
sämtlichen deutschen Kaisern, 53 Jahre, aber der Volkswitz sagte damals schon,
er habe in dieser ganzen Zeit nichts gethan, als auf dem Throne geschlafen.
Die Böhmen und die Ungarn schüttelten seine Herrschaft wieder ab und erhoben
nationale Fürsten auf den Thron; die Magyaren rissen sogar große Stücke
der Habsburgischen Erdtaube an sich. Andrer Provinzen bemächtigten sich
der Vetter und der Bruder des Kaisers, die diesen sogar in Wien in seiner
eignen Hofburg belagerten. Aus dieser Not rettete ihn der Böhmenkönig Georg
Podiebrad. Später geriet er in Krieg mit Matthias Corvinus von Ungarn
und wurde von diesem zeitweilig ganz aus Österreich verjagt und erst von
seinem Sohne Maximilian wieder zurückgeführt.
Diesem, dem „letzten Ritter," war es gelungen, die Hand der vielbegehrtcn
und vielumworbenen, schönen Maria von Burgund zu erringen. In glücklichen
Kämpfen gegen Frankreich hatte er nach dem Tode des Vaters seiner Gemahlin,
Karls des Kühnen, das burgundische Erbe behauptet, bis auf das Herzogtum
Burgund (ig. Leni-AOANö), das Ludwig XI. an sich riß. Beim Tode Friedrichs Hi.
waren, außer jenen schönen und reichen Provinzen im Westen des Reiches,
alle Erdtaube des ErzHauses in den Händen seines Sohnes und Nachfolgers
vereinigt.
Die Gebiete, welche Maximilian durch diese Heirat mit Maria an sich
und sein Hans brachte, waren sicherlich allein schon bedeutend genug, um das
fortan so oft auf Österreich angewandte Wort zu rechtfertigen:
ZZollg, gMWt alii, w, doux ^UZtria, nudo!*)
Eine noch glänzendere Partie machte jedoch der Sohn, der dieser Ehe ent¬
sproß, Philipp der Schöne von Österreich. Er vermählte sich mit Johanna,
die wegen ihrer später ausbrechenden unheilbaren Geisteskrankheit die Wahn¬
sinnige genannt wurde. Diese, die Tochter Ferdinands des Katholischen von
Aragonien und der Königin Jsabella von Castilien, brachte ihrem Gatten als
Mitgift die Anwartschaft auf die Erbschaft der eben vereinigten spanischen
Reiche und der unermeßlichen überseeischen Lande mit ihren fabelhaften Schätzen.
Die Ehe selbst war allerdings nichts weniger als glücklich; der junge, lebens¬
lustige Erzherzog, gewöhnt an die fröhlichen und ungebundenen Sitten der
Niederlande, langweilte sich zu sehr in dem steifen, bigotten Spanien; seiner
Gemahlin, die den Mangel an allen Vorzügen des Körpers und des Geistes
nicht durch die geradezu überschwängliche Zärtlichkeit und Vergötterung, die
sie ihm entgegenbrachte, ersetzen konnte, scheint er überreichlicher Grund zur
Eifersucht gegeben zu haben. Auch sonst behandelte er sie kalt und rücksichtslos.
Als er wider den Wunsch seiner Gattin, die der Geburt ihres zweiten Kindes
entgegensah, und wider den Wunsch ihrer Eltern plötzlich allein nach den Nieder¬
landen reifte, zeigte sich bei der unglücklichen Johanna zum ersten Male jene
entsetzliche Krankheit, die erst nachließ, als sie ihrem angebeteten Gemahl nach
Brüssel folgen konnte. Philipp selbst trat eigentlich gar nicht in den Besitz
des reichen Erbes seiner Gattin; zwar führte er zwei Jahre lang, nach dem Tode Jsa-
bellas, den Titel eines Königs von Castilien; aber die eigentliche Regierungsgewalt
lag mehr in den Händen des überlebenden Ferdinand von Aragonien als in
den seinigen. Dann raffte ihn ein plötzlicher Tod dahin, der seine Gattin,
welche sich nicht einmal von der Leiche des schönen Toten trennen wollte, in
die düsterste Geistesumnachtung versetzte, die durch keinen Lichtstrahl mehr erhellt
wurde. Dem ältesten Sohne aus dieser Ehe, Karl, dem nachmals so berühmten
Karl V., sielen nach dem Tode seines Großvaters Ferdinand (1516) die Kronen
von Kcistilien und Leon, von Aragonien und seinen Nebenländern, Neapel,
Sizilien und Sardinien, und dazu die reichen Besitzungen in beiden Indien als
einzigem Erben zu. Als drei Jahre später (1619) sein Urgroßvater väterlicher-
seits, Kaiser Maximilian, starb, ging die Herrschaft über Österreich und seine
Nebenländer und über Burgund gleichfalls auf den jugendlichen Fürsten über.
Noch in demselben Jahre wählten ihn die deutschen Kurfürsten zum Kaiser,
nachdem Friedrich der Weise von Sachsen die Wahl abgelehnt hatte, und am
22. Oktober 1520 empfing er in Aachen die Krone des heiligen Reiches. Damit
hatte er die höchste Würde in der Christenheit erlaugt, die sein ehrgeiziger und
ritterlicher Nebenbuhler Franz I. so gern mit der Krone von Frankreich ver¬
einigt hätte. Obwohl bereits durch den Kurverein zu Reuse die Giltigkeit der
Kaiserwahl auch ohne die päpstliche Genehmigung ausgesprochen war, und obwohl
auch sein Vorgänger den Titel: Msows Nom^uorum Jux<zrg,lor feierlich ange¬
nommen hatte, wollte er es dennoch nicht an der geistlichen Weihe fehlen lassen.
Vielleicht dachte er: Luvöi-llua non noosut, und empfing am 24. Februar 1530
zu Bologna die römische Kaiserkrone auch aus den Händen des Papstes, der
letzte unter den deutschen Kaisern, an dem diese Feierlichkeit vollzogen wurde.
So viele Kronen wie er hat vor ihm und nach ihm niemals ein Monarch
getragen, und mit Recht hieß es von dem Reiche, das er beherrschte, daß in
ihm niemals die Sonne untergehe. Mit ihm hatte das Haus Habsburg den
höchsten Gipfel seiner Macht und seines Glanzes erreicht.
Dieses ungeheure Weltreich Karls V. ging jedoch weit über die weitesten
Grenzen hinaus, die das deutsche Reich jemals gehabt hat; seine Zusammen¬
setzung kann daher hier einer eingehenderen Betrachtung nicht unterzogen werden.
Als der gewaltige Monarch, der es beherrscht hatte, gegen das Ende seines
Lebens, verzweifelnd an dem Gelingen seiner weitfliegenden Pläne, alle die
Kronen, die er getragen hatte, freiwillig niederlegte, um den höchsten Platz auf
Erden, den er eingenommen hatte, mit der Stille des Klosters zu vertauschen,
da teilte er seine Lande zwischen seinem Sohne und seinem Bruder. Der erstere,
Philipp, erhielt, außer Spanien und Indien, die oben erwähnten spanischen
Nebenländer in Italien, zu denen unter der Negierung seines Vaters noch
Mailand hinzugekommen war, und Burgund, d. h. die ganzen Niederlande und
die Freigrafschaft Burgund, 1a ?rg,ne.Kö tüonM. Diese letztern Gebiete wurden
damit allerdings noch nicht förmlich von dem Verbände des deutschen Reichs
abgelöst, sondern gehörten dem Namen nach noch lange dazu. Das Band, das
sie mit Deutschland verknüpfte, wurde aber durch diese Verfügung des Kaisers
derartig gelockert, die Entfremdung zwischen den Bewohnern dieser Provinzen
und dem Mutter- und Stammlande infolge der politischen Ereignisse der nächste»
Jahrhunderte so groß, daß man mit Recht behaupten kann, daß damals bereits
fast der ganze burgundische Kreis vom deutschen Reiche thatsächlich abgetrennt
worden sei. Auch als der südliche Teil der Niederlande, das heutige Belgien,
beinahe für ein Jahrhundert unter die Herrschaft der deutschen Linie des Hauses
Habsburg zurückkehrte, wurde an diesem thatsächlichen Verhältnisse im wesent¬
lichen nichts geändert.
Wenn unter der Regierung Karls V. die drei lothringischen Bistümer
Metz, Toul und Verdun nebst den gleichnamigen freien Städten dem Reiche
verloren gingen, so darf man die Verantwortung dafür nicht dem Kaiser aufbürden.
Die Hauptschuld daran trägt die treulose Politik des Kurfürsten Moritz von
Sachsen, der abwechselnd alle Parteien, seine Glaubensgenossen, seinen Vetter,
seinen Kaiser und sein Vaterland verraten hat. Von einer Mitschuld kann
man auch die protestantischen Glieder des Reiches nicht freisprechen. Der
Kaiser bot alles auf, das Verlorene wieder zu gewinnen, und wahrlich, es
war nicht seine Schuld, wenn nicht jenes starke Bollwerk des Reichs, die
jungfräuliche Festung Metz, wieder zu Deutschland zurückgebracht wurde. Statt
aber das Neichsoberhaupt in diesem patriotischen Unternehmen zu stützen, ver¬
höhnten und verspotteten die Protestanten den Fürsten, der in diesem Falle
unzweifelhaft das deutsche Nationalinteresfe vertrat. Zum Beweise dafür
seien nur zwei Spottverse aus jener Zeit angeführt, die damals im evangelischen
Deutschland allgemeinen Anklang fanden, ein deutscher und ein lateinischer:
Die Metz und die Magd (Magdeburg)
Haben dem Kaiser den Tanz versagt.
Nsroulis oxtasti IollAg,s transirs ec>Iurliiii>.s:
Li3es Arackura! Atolls ki^vo tibi msts, äatar.*)
So sehr hatte damals bereits Religions- und Parteihaß alles gesunde und
richtige Nationalgefühl erstickt, daß der größere Teil der Nation es nicht
einmal mehr beklagte, daß „des Reiches westliches Horn" in die Hände des
Erbfeindes fiel."
Ganz anders aber lagen die Verhältnisse in Beziehung auf die Nieder¬
lande. Gerade so, wie die selbstsüchtige und ländergierige Politik der frühern
Habsburger die Entfremdung und damit die spätere unvermeidliche, vollständige
Abtrennung der Schweiz von dem Körper des deutschen Reichs verschuldet
hatte, ebenso war es Habsburgische Hauspolitik, die immer nur die eignen
Interessen, niemals die des Reichs und der Nation gekannt und verfolgt hat,
welche zunächst die Verbindung des burgundischen Kreises mit Deutschland lockerte
und schließlich seine gänzliche Ablösung herbeiführte. Den Grund zu der un-
verholener Abneigung, welche die uns stammverwandten Holländer allen Deutschen
entgegenbringen, legte Karl V. in jenen glänzenden und feierlichen Versammlungen
zu Brüssel (26. October 1658 und 15. Januar 1666), in denen er freiwillig
allen seinen Kronen entsagte. Die engherzige und fanatische Politik seiner Nach¬
folger erweiterte den Riß zwischen Deutschen und Niederländern und machte ihn
unheilbar. Bekannt ist, daß die Holländer förmlich eine Art von Nationalhaß
gegen die Deutschen hegen, und daß sie sie als „Muffers" zu bezeichnen lieben.
Der Bruder des Kaisers Karl, Ferdinand I., der Stammvater der deutschen
Linie des Hauses Habsburg, erhielt die Besitzungen seines Geschlechts in
Deutschland, deren Negierung er thatsächlich schon lange geleitet hatte, da die
weltumspannenden Pläne des Kaisers und seine häufige Abwesenheit diesen
hinderten, sich persönlich darum zu kümmern. Seit 1531 war er erwählter
Römischer König und hat als solcher auch in den Reichsangelegenheiten regel¬
müßig seinen Bruder vertreten. Vermähle war Ferdinand mit Anna, der
Schwester Ludwigs II., des Königs von Böhmen und Ungarn. Es ist dies
die vierte der Heiraten, die auf die Geschicke der tslix ^.ustrig. einen so ge¬
waltigen Einfluß geübt haben. Allerdings hatte das Haus Habsburg die Erb¬
ausprüche auf die beiden Königreiche, die es durch die Heirat Albrechts II. mit
Maria, der Tochter des Kaisers Sigismund, erworben hatte, niemals auf¬
gegeben, und Maximilian hatte sich diese 1506 ganz ausdrücklich vorbehalten
und gewahrt. Aber wann und ob ohne diese Heirat Ferdinands jene Anwart¬
schaft zu einem greifbaren Erfolge geführt hätte, ist nicht zu sagen. Als
Ludwig II. auf dem blutigen Felde von Mohacz am 29. August 1527 im
Kampfe gegen die Erbfeinde der Christenheit sein junges Leben eingebüßt hatte,
wurde Ferdinand am 16. Dezember desselben Jahres zum Könige von Ungarn
und Böhmen gewählt.
Die Krone des heiligen Stephan und die angebliche Wenzelskrone, welche
tschechische Heißsporne in der Neuzeit erfunden haben, sind seit jener Zeit, ab¬
gesehen von kurzen Unterbrechungen, bei den Habsburgern und deren Nach¬
folgern, den Lothringern, dauernd verblieben. Die Wahlfreiheit der böhmischen
Krone, die Schiller in den „Piccolomini" von dem Kellermeister so begeistert
preisen läßt, hörte bald auf. Da die Protestanten in Böhmen während des
schmalkaldischen Krieges ihre Glaubensgenossen in Deutschland unterstützt hatten,
wenn auch nicht kräftig und nachhaltig genug, so hob Ferdinand diese Freiheit
nach Unterdrückung eines Aufstandes auf und erklärte Böhmen für ein Erd¬
reich. Der Versuch der böhmischen Stände, diese Freiheit bei der Thron¬
besteigung Kaiser Ferdinands II. wiederzugewinnen, die Berufung des Pfalz¬
grafen Friedrichs V. auf den Thron der sagenhaften Libussa führten zu Er¬
eignissen, die aus der allgemeinen Geschichte bekannt genug sind. Mit der
Schlacht auf dem weißen Berge fand das Winterkönigtum ein jähes Ende mit
Schrecken; Böhmen wurde zum zweiten Male für ein Erdreich des Hauses
Habsburg erklärt, und alle Versuche, dieses Verhältnis zu Österreich zu lösen,
sind stets erfolglos gewesen.
Auch die Krone des heiligen Stephan, die jeder Ungar als unschätzbares
und unersetzbares Nationalheiligtum mit einer unbegrenzten, mit Scheu ge¬
mischten Ehrfurcht betrachtet, wurde erst in der neuesten Zeit, und zwar für
nicht lange den Fürsten des Hauses Habsburg — genommen, kann man eigent¬
lich nicht sagen, aber doch wenigstens vorenthalten. Das Stirnband dieser in
jeder Beziehung höchst merkwürdigen Krone war dem Herzog Geisa aus dem
Stamme Arpads, dem ersten Ungarnfürsten, der das Christentum annahm, von
dem byzantinischen Kaiser Dukas geschenkt worden. Die sich kreuzenden
Bogen der obern Hälfte sind Bruchstücke einer Krone, die Papst Silvester H.
dem heiligen Stephan, dem Sohne jenes Geisa, im Jahre 1000 gesandt hat.
Nach andern Berichten soll Silvester dem neuen christlichen Herrscher nur
den Titel „Apostolischer König", aber erst Papst Benedikt VIII. die heilige
Krone verliehen haben. Der Reichstag zu Debreczin hatte im Jahre 1849
die Absetzung des Hauses Habsburg-Lothringen feierlich ausgesprochen, haupt¬
sächlich auf Betreiben Kossuths. AIs dieser gewaltige Agitator wenige Monate
später von seinem vaterländischen Boden flüchten mußte, nahm er die ungarischen
Reichsinsignien mit sich. Am 3. September 1853 wurden sie im Banat, in
einem Felde vergraben, wieder aufgefunden. Am 8. Juni 1867 setzte sich zu
Ofen der Kaiser Franz Joseph die Krone des heiligen Stephans feierlich aufs
Haupt.
Doch dauerte es lange, und vieles Blut mußte noch fließen, bis alle die
Lande, die wir jetzt als die der Stephanskrone bezeichnen, auch wirklich dem
Szepter der österreichischen Fürsten gehorchten. Fast zwei Jahrhunderte lang
hatten sie um den Besitz des Landes zu kämpfen, teils mit einheimischen Großen,
z. B. Zapolya, Bethlen Gabor, den verschiedenen Mitgliedern der Familie
Rakoczy, die entweder Stücke von Ungarn oder gar das ganze beanspruchten
und zeitweise auch besaßen, teils aber auch mit den Türken, die jene Rebellen
unterstützten, dabei festen Fuß im Lande faßten, dieses zeitweilig völlig be¬
herrschten und ihre Heere sogar zweimal vor die Kaiserstadt an der Donau führten.
Diese Kämpfe gegen den Erbfeind der Christenheit gehören mit zu den glän¬
zendsten Abschnitten der Geschichte Österreichs. Doch war dieser Staat nicht immer
allein im Stande, sich jener kriegerischen und fanatisirten Scharen zu erwehren.
Bei den beiden Belagerungen Wiens bedürfte es auswärtiger Hilfe, um die
Hauptstadt vor dem Untergange zu retten. Namentlich bei der zweiten,
schlimmsten Belagerung, 1683, wurde die schwer geängstete Stadt nur durch
rechtzeitiges Eintreffen eines deutschen Neichsheeres unter Karl von Lothringen
und eines Polenheeres unter Johann Sobiesky vor unvermeidlich scheinenden,
grausamem Verderben gerettet. Im Jahre 1686 rissen deutsche Krieger mit
stürmender Hand die Halbmondsfahne herab, die 145 Jahre, von 1541 bis
1686, auf den Wällen von Ofen geweht hatte. Bekannt ist, welch glänzenden
Anteil die Brandenburger unter Hans Adam von Schöning an dieser ruhm¬
reichen Waffenthat hatten. Nachdem im folgenden Jahre auf derselben Wal¬
statt bei Mohacs, auf der 1526 Ludwig II. und der größte Teil des hohen
Adels von Ungarn im Kampfe gegen Sultan Soliman II. den Heldentod er¬
litten hatten, Karl von Lothringen einen glänzenden Sieg davongetragen hatte,
übertrug der ungarische Reichstag die erbliche Thronfolge dem Mannesstamme
des Hauses Habsburg, 1687. Mit wechselndem Glück wurde der Krieg noch
viele Jahre fortgeführt, bis endlich „Prinz Eugen der edle Ritter" durch den
entscheidenden Sieg bei Zerda den Frieden zu Karlowitz (1699) erzwang. Erst
seit dieser Zeit befindet sich Ungarn thatsächlich im Besitze der österreichischen
Kaiser. An Aufständen hat es freilich auch später nicht gefehlt; am bekanntesten
ist der, an dessen Spitze Franz II. Ncikoczy stand, nach dem noch heute der
ungarische Nationalmarsch benannt wird. Im Jahre 1723 wurde durch die
pragmatische Sanction Karls VI. die Erbfolge auch auf die weibliche Linie des
Hauses Habsburg ausgedehnt, und der Friede von Belgrad, 1799, stellte die
Grenze zwischen Ungarn und der Türkei so fest, wie sie bis in die allerneueste
Zeit (Erwerbung von Bosnien und der Herzogowina) bestanden hat.
(Fortsetzung folgt.)
cum
s man in Deutschland von Frauenfrage und Frauenbewegung
pricht, so Pflegt man in der Negel an jene mehr und mehr
an Boden gewinnende Bewegung zu denken, die den unversorgten
Frauen des Mittelstandes eine passende Verwendung ihrer Kräfte
und somit die Sicherung ihres Lebensunterhaltes zu verschaffen
bezweckt und zum nicht geringen Teile von einer Erwägung der Thatsachen aus¬
gegangen ist, daß das weibliche Geschlecht das männliche an Zahl übertrifft,
daß die Neigung und wirtschaftliche Fähigkeit der den mittlern und bessern Ständen
angehörenden Männer, Ehen zu schließen, in fortwährendem Abnehmen be¬
griffen ist und infolgedessen die Zahl der auf eignen Erwerb angewiesenen, un¬
verheiratet bleibenden Frauen immer größer wird. In dem Verlangen nach
Arbeitsgelegenheit liegt der Kernpunkt der in Deutschland fast ausschließlich
beachteten und geförderten Frauenfrage des dritten, des Mittelstandes.
Anders steht es um die Frauenfrage des vierten Standes. Weit weniger
haben die den untern Klassen angehörenden Frauen und Mädchen unter
Arbeitsmangel zu leiden. Im Gegenteil, Arbeitseinschränkung wäre durchaus
am Platze und würde von den Arbeiterinnen in jeder Beziehung dankbar em¬
pfunden werden, wenn mit dieser Einschränkung nicht eine weitere Herabsetzung
der heutigen Löhne, die mit vollem Rechte als „Hungerlöhne" bezeichnet werden
müssen, verknüpft sein würde. Damit ist gesagt, daß die Frauenfrage des
vierten Standes in erster Linie eine Lohnfrage ist.
Es verbietet sich aus mancherlei Gründen, an dieser Stelle eingehende
statistische Mitteilungen über die Höhe der Arbeiterinnenlöhne zu geben. Nur
so viel sei bemerkt, daß diejenigen Frauen und Mädchen, welche Wochenlöhne
von drei bis fünf Mark (!!) erhalten, namentlich in unsern Großstädten nach vielen
Tausenden zählen.*) Daß aber Wochenlöhne von drei bis fünf Mark, ja selbst höhere
von fünf bis zehn Mark und mehr, nicht ausreichen, den naturgemäßen Lebens¬
unterhalt einer alleinstehenden Person zu decken, bedarf wohl eines Beweises
ebensowenig, wie die traurige Erscheinung einer Erklärung bedarf, daß diejenigen,
welche von ihrer Hände Arbeit nicht leben können und nicht verhungern wollen,
entweder auf die Bahn des Verbrechens gedrängt werden oder einen ergänzen¬
den Erwerbszweig in der Prostitution, in der Preisgebung ihrer Ehre und
ihrer Person zu suchen gezwungen sind. Solchen Zuständen ein Ende zu machen,
ist eine Aufgabe, deren Lösung mit allen Kräften angestrebt werden sollte.
Der ursächliche Zusammenhang zwischen Arbeiterinnenlöhnen und Prostitution
und, wie es neuerdings scheint, zwischen Arbeiterinnenlöhnen und der Zunahme
von Eigentumsvergehen weiblicher Personen bildet einen Schandfleck der
Gegenwart, der mit energischen Mitteln beseitigt zu werden verdient. Staat
und Gesellschaft müssen vereint die Schäden, für deren Bestehen sie verant¬
wortlich zu machen sind, zu heilen suchen. Vor allen Dingen aber mögen
jene Frauen, die mit Wort und Schrift eifrig für Frauenrechte und Frauen-
emanzipation kämpfen, also insbesondre Angehörige der sogenannten bessern
Stände, bei sich selbst Einkehr halten und ihren Schwestern niedern Standes
nach jeder Richtung hin Unterstützung und Hilfe angedeihen lassen. Nur wenn
dies geschieht, wenn die Frau des bessern und des Mittelstandes fernerhin
nicht mehr als gefährliche Konkurrentin der armen Arbeiterin auftritt, vielmehr
den Wert der Arbeit schätzen lernt und den Preis derselben in richtiger Weise
zu bestimmen versteht, nur dann läßt sich eine Besserung der heutigen Mi߬
stände erwarten.
Daß die Lösung der Lohnfrage sehr schwierig ist und nicht etwa in der
Weise erfolgen kann, daß nach sozialistischen Muster vom Staate Minimal¬
löhne festgesetzt werden, bedarf wohl keiner Ausführung. Ebenso leuchtet ein,
daß nur das Aufhören einer starken Volksvermehrung einerseits und eine den
Forderungen der Gerechtigkeit entsprechende Bemessung des Verhältnisses der
Lohnhöhe zur Arbeitsleistung anderseits durchgreifenden Wandel schaffen wird.
Eine Anbahnung der Lösung der Lohnfrage muß aber davon ausgehen, daß
die Unternehmer auf die sittlichen Pflichten, die sie ihren Arbeiterinnen gegen¬
über zu erfüllen haben, in deutlicherer Weise als bisher hingewiesen werden,
daß die Frauen und Mädchen der niedern Stände in der Forderung höherer
Löhne von allen Gebildeten und namentlich von passend organistrten Ver¬
einigungen, insbesondre auch solchen der Frauen höhern Standes, kräftig
unterstützt werden, und endlich, daß die besser gestellten Frauen es verschmähen,
in das Erwerbsgebiet der den untern Volksklassen angehörenden Arbeiterinnen
in einer Weise, welche die letztern schädigt, einzugreifen. Es berührt in der
That befremdend, wenn „Damen" der bessern Kreise, die sonst nur hochmütig
auf die armen Arbeiterinnen herabzusehen Pflegen, mit diesen Arbeiterinnen
koukmriren, nicht etwa um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sondern um eines
Nebenverdienstes willen, ans welchem Luxusartikel und Toiletteugegeustände
beschafft, Ausgaben für Vergnügen, für Konzerte und Bälle bestritten werden.
Es ist nicht in Abrede zu stellen und für eine Reihe von Orten sogar nach¬
gewiesen worden, daß die Löhne gewisser Klassen von Arbeiterinnen in den
letzten Jahren deshalb erheblich gefallen sind, weil neuerdings die weib¬
lichen Angehörigen wohlhabender Familien den auf Erwerb angewiesenen Frauen
und Mädchen des Arbeiterstandes in höherm Maße Konkurrenz machen, als
es vordem der Fall war. Eine derartige Entwicklung der Dinge, die im
Interesse von Staat und Gesellschaft tief bedauert werden muß, ist natürlicher¬
weise von niemand freudiger begrüßt worden, als von den Arbeitgebern, die
nunmehr in die Lage gekommen sind, den Lohn der an sich schon erbärmlich
bezahlten eigentlichen Arbeiterinnen noch mehr zu schmälern. Es verdient gewiß
Anerkennung, wenn die Frauen und Mädchen aus dem wohlhabenden Mittel¬
stände ein Verlangen nach Beschäftigung und Erwerb bekunden; aber in gleichem
Maße verdient der Beweggrund Verurteilung, dem jenes Verlangen meist
entspringt. Zu wünschen und zu fordern wäre, daß die den bessern Ständen
angehörenden Mädchen eine gründlichere und umfassendere Ausbildung als
bisher erhielten und zu berufs- wie standesgemäßer Arbeit erzogen würden;
es ist zu verlangen, daß auch in wohlhabenden Familien auf die Hausfrau
die Schilderung aus der Glocke passe:
Und herrschet weise
Im häuslichen Kreise,
Und lehret die Mädchen
Und wehret den Knaben,
Und reget ohn' Ende
Die fleißigen Hände,
Und mehrt den Gewinn
Mit ordnenden Sinn.
Heute aber liegen die Dinge so, daß die feinere „Dame" es einerseits ver¬
schmäht, sich mit der Führung des Haushaltes und den Sorgen der Kinder¬
erziehung abzugeben, das alles fremden Händen überläßt, anderseits aber sich
nicht schämt, als Konkurrentin ihrer ärmern Schwestern weibliche Arbeiten zu
wahren Schundpreisen auszuführen, um einen Fonds zur Deckung von Luxus¬
bedürfnissen zu gewinnen. Einem derartigen Unwesen sollte mit allen Kräften
gesteuert werden. Namentlich liegt es den Frauenvereinen ob, in diesen
Dingen Wandel zu schaffen. Daß dies möglich sein wird, bezweifle ich keines¬
wegs, und um so weniger, als ich der festen Überzeugung bin, daß es bei uns
zur Genüge edle Frauen giebt, denen das Wohl ihrer Schwestern niedern
Standes am Herzen liegt. Trotz alledem kann ich aber die Befürchtung nicht
unterdrücken, daß der Mehrzahl jener Frauen das Verständnis für eine richtige
Erkenntnis und Lösung der „Frauenfrage des vierten Standes" fehlt. „Logik
giebts für keine Frau," sagt Mirza-Schafft) und hat hiermit im großen und
ganzen nicht Unrecht. Daher ist ein kräftiges Eintreten und eine Unterstützung
der gebildeten Männer durchaus notwendig, wenn in Bezug auf die in Rede
stehenden Dinge etwas Befriedigendes erreicht werden soll.
Nachahmung verdient gewiß das Vorgehen einer Reihe von Frauen und
Mädchen aus den beste» Gesellschaftskreisen Wiens, die sich zusammengethan
haben, um eine „Produktivgeuossenschaft für Frauenhaudarbeit" ins Leben zu
rufen, deren Aufgabe darin bestehen soll, unter Beseitigung des Zwischen¬
händlers den Arbeiterinnen den für ihre Arbeit thatsächlich gezählten Waaren¬
preis zuzuführen, dadurch, daß die Genossenschaft in ihren eignen Verkaufs-
lokalen den unmittelbaren Absatz der von ihren Mitgliedern gelieferten Pro¬
dukte an Kaufleute und Publikum besorgt. Mit Recht bemerkt das Wiener
Komitee, das in einem Aufrufe zur Gcldmittelbeschaffung für diese (übrigens be¬
reits sicher gestellte) Genossenschaft auffordert: „Nicht von den Arbeiterinnen
selbst kann die Initiative zu diesem Hilfsunternehmen ausgehen. Sie sind
gänzlich außer stände, die Mittel zur Einrichtung einer solchen Genossenschaft
aufzubringen, auch wenn es denkbar wäre, daß diese armen, durch Überarbeitung,
Sorge und Entbehrung niedergedrückten, aller Teilname am geistigen Leben gänz¬
lich beraubten, oft bis zu vollkommenem moralischen Unvermögen herabgekommenen
Wesen Kraft und Mut zu einer solchen Agitation gewännen. Aber das eben
ist es, was wir Wollen: ihnen durch die erste Hilfe die weitere Selbsthilfe
ermöglichen." Weiterhin heißt es: „In der Organisirung und Verwaltung
des Unternehmens wird die Genossenschaft von einigen außerhalb der Arbeiter¬
kreise stehenden Personen so lange unterstützt werden, bis das Werk dauernd
gefestigt und die Mitglieder eben durch die neugeschaffne bessre Lage dahin
gelangt sein werden, die selbständige Führung der Geschäfte übernehmen zu
köunen. Dann werden die Arbeiterinnen, einmal auf ihre eignen Füße gestellt,
zu einer selbständigen, sich selbst verwaltenden Körperschaft vereinigt, in ihren
materiellen Lebensbedingungen erhoben, auch in geistiger und sittlicher Hinsicht
tüchtiger werden und vor den mannigfaltigen Gefahren bewahrt bleiben, denen
jede von materieller Sorge bedrängte, nun gar die im Elend dahin lebende
Frau ausgesetzt ist." Es ist zu wünschen, daß das Unternehmen von Erfolg
begleitet sein möge.
Die von den Wiener Frauen bethätigte Fürsorge für das Wohl der
Arbeiterinnen kommt nun aber nur einer Klasse der letztern, den Handarbeiterin¬
nen, die für die mit Bestellungen der Kaufleute ausgerüsteten Zwischenhändler
um Stücklohn zu arbeiten Pflegen, zu gute. Auch ist mit der Gewährung
höherer Löhne die „Frauenfrage des vierten Standes" keineswegs ans der
Welt geschafft; es bedarf vielmehr weiterer Maßregeln, die teils im Zusammen¬
hange mit der Lösung jener Frage, teils ohne einen solchen Zusammenhang
durchgeführt werden müssen.
Eine bekannte Thatsache ist es, daß die Arbeiterinnen ihren Bedarf nach
jeder Richtung hin in einer unbefriedigender Weise decken. Insbesondre wird
der Wohnbedarf unzweckmäßig befriedigt, da die alleinstehenden weiblichen An¬
gehörigen der untern Stände sich mit Wohnungen begnügen müssen, die nicht
allein in gesundheitlicher und sittlicher Beziehung (Schlafstellenwesen!) viel oder
alles zu wünschen übrig lassen, sondern auch zu Preisen vermietet werden, die
dem Werte der betreffenden Räumlichkeiten nicht entsprechen. Es würde zu
weit führen, auf diese Dinge hier näher einzugehen; nur so viel sei bemerkt,
daß die Wvhimngsvcrhältnisse der Arbeiterinnen in den meisten Städten geradezu
grauenhaft sind, eine Thatsache, die insbesondre dnrch die auf Veranlassung
des Vereins für Sozialpolitik veranstalteten Untersuchungen über die Woh¬
nungsnot der ürinern Klassen in deutschen Großstädten bestätigt wird. Diesem
Mangel an zweckentsprechenden Wohnungen für unverheiratete Arbeiterinnen
wird zunächst dadurch abgeholfen werden müssen, daß sich gemeinnützige Vereine
bilden, die die Unterbringung alleinstehender Mädchen in geeigneten Familien
zum Zwecke haben. Da aber voraussichtlich die Zahl dieser Familien sehr
beschränkt sein wird, ist entweder durch gemeinnützige Gesellschaften oder durch
die Arbeitgeber oder aber dnrch die vereinte Thätigkeit beider für die
Schaffung besondrer Arbeiterinncnwohnhänser Sorge zu tragen. In dieser
Richtung ist bisher so gut wie nichts geschehen. Ein „Daheim für Arbei¬
terinnen", das gemeinnützigen Streben sein Dasein verdankt und ans Mitteln
der bessern Gesellschaftskreise begründet ist, ist, so weit mir bekannt, nur in
Leipzig errichtet worden und wirkt auch hier unter sehr beschränkten Ver¬
hältnissen. Es besteht seit siebzehn Jahren (seit zwölf Jahren nnter Leitung
von Fräulein Emilie schillert) und hat bis zum Jahre 1887 562 Mädchen
aufgenommen; die Durchschnittszahl der in dem Hause sich aufhaltenden beläuft
sich auf vierundzwanzig, während die Einrichtung für dreißig Personen vorhanden
ist. Gewährt wird den Mädchen Wohnung und Frühstück für 1 Mark, Mittag¬
essen für 1 Mark SS Pfennige wöchentlich, zudem ein annäherndes Familien¬
leben und, wo es nötig ist, Rat und That. Einen Einblick in die Organisation
des „Daseins für Arbeiterinnen" giebt folgende kurze Übersicht der Haupt-
posten des für das Verwaltungsjahr 1886 — 188? veröffentlichten Kassen¬
berichtes. Nach letzterem betrugen die
Diese Zahlen reden deutlicher als Worte und lassen erkennen, mit welchen
Schwierigkeiten das „Daheim" zu kämpfen hat. Diese Schwierigkeiten werden
aber erhöht durch die Stellung, welche die Arbeitgeber dazu einnehmen; der
Verwaltnngsbcricht sagt hierüber folgendes: „Luft und Liebe zu fortgesetzter
Thätigkeit fehlt uns nicht, und die Menschenfreunde haben uns ihren Beistand
noch nicht entzogen. Aber ein, und zwar der wichtigste Faktor versagt: Die
Arbeitgeber verhalten sich bis jetzt nur ablehnend gegen uns. Dankbar em¬
pfangen wir die Beiträge, womit sie uns erfreuen, aber die wertvollere mora¬
lische Unterstützung durch ihre Autorität wird uns nicht zu Teil, und unsre
Anstalt ist ihnen noch so gut wie unbekannt. Wir wissen recht gut, daß ein
nach dieser Richtung gethaner Schritt weitere Schritte zur Folge haben würde;
eher oder später aber müssen dieselben mit Notwendigkeit, der Strömung der
Gegenwart folgend, geschehen. Ein Zeitalter, welches schon den Säugling an
der Schwelle des Daseins mit Sorge umgiebt, welches auf die frühe Kindheit
einzuwirken sucht, sogar die Schüler in ihren freien Stunden überwacht, es
kann nicht das Auge schließen oder die Hand zurückziehen, wenn seine Un¬
mündigen in eine Welt voll Versuchungen und verderblicher Einflüsse eintreten."
Diesen Ausführungen kaun man sich nur anschließen. Auch ich bin der
Überzeugung, daß eine weitere Gleichgiltigkeit der Arbeitgeber nur durch Zwang,
durch die Autorität des Staates gebrochen werden kann. Und meiner Meinung
nach liegt es bezüglich der Wohnungsfrage sogar im öffentlichen Interesse, die¬
jenigen Arbeitgeber, die eine größere Zahl von Arbeiterinnen beschäftigen,
zur Beschaffung geeigneter Wohnungen zu verpflichten. Selbstverständlich würden
dann auch alle diejenigen Arbeiterinnen angehalten werden müssen, in den von
den Arbeitgebern gewährten Wohnungen Aufenthalt zu nehmen, welche nicht in
der eignen oder einer fremden, besonders geeigneten Familie Unterkommen finden
können. Durch diese Maßregel würden übrigens keineswegs Neuerungen ge¬
schaffen werden; es sei nur daran erinnert, daß z. B. in Leipzig bezüglich
eines einzelnen Gebietes des Schlafstellenwesens, desjenigen der Kellnerinnen,
eine Verordnung besteht, derzufolge in Gast- und Schankwirtschaften, Wein-
schänken, Kaffceschänkeu und Konditoreien Kellnerinnen nur unter der Voraussetzung
beschäftigt werden dürfen, daß sie bei den betreffenden Wirten wohnen und die
Wirte den Besitz der hierfür erforderlichen Räume nachweisen. Mit den „er¬
forderlichen" Räumen ist es freilich allein nicht gethan; diese müssen auch zum
Wohnen geeignet sein und in gesundheitlicher Beziehung allen Anforderungen
entsprechen.
Daß aber neben der Beschaffung billiger und geeigneter Wohnung auch für
billige und geeignete Beköstigung der Arbeiterinnen gesorgt werden muß, darf
wohl als selbstverständlich betrachtet werden. Die Logirhäuser eignen sich er¬
fahrungsgemäß gleichzeitig vortrefflich als Kosthäuser, wenn an ihrer Spitze
geeignete weibliche Kräfte stehen. Um aber denjenigen Arbeiterinnen, die in den
Logirhäusern keine Verpflegung finden können, gute und billige Kost zu liefern,
ist die Gründung von Speiseanstalten durch gemeinnützige Vereine, die Ein¬
richtung von Fabrikküchen u. s. w. dringend notwendig. Und ebenso not¬
wendig erscheint die Errichtung von Konsumanstalten, die als Anstalten größerer
Arbeitgeber oder gemeinnütziger Vereine dem Unwesen der die Arbeiterinnen
ungebürlich übervorteilenden Kleinhändler in wirksamer Weise entgegentreten
können. Auf die zweckmäßigste Organisation dieser Wohlfahrtseinrichtungen
hier näher einzugehen, würde zu weit führen; nur darauf sei aufmerksam ge¬
macht, daß die Konsumanstalten, Speisehäuser n. dergl. nur dann den Interessen
der Arbeiterinnen in vollem Maße Rechnung tragen können, wenn die Waren
lediglich unter Zuschlag der Verwaltungskosten oder zum Selbstkostenpreise ab¬
gegeben werden und die Leiter der Anstalten aus dem Einkäufe der Waren
keinen Gewinn zu ziehen suchen.
Neben der Sorge für das körperliche Wohl der Arbeiterinnen ist aber auch
für deren allgemeine wie wirtschaftliche Ausbildung und Erziehung zur künf¬
tigen Hansfrau Fürsorge zu treffen; ja es erscheint gerade nach dieser Rich¬
tung hin ein Beistand für die meist von der Familie abgelösten und auf eignen
Füßen stehenden Frauen und Mädchen der untern Klassen in erhöhtem Maße
am Platze. In welcher Weise dieser Beistand geleistet werden soll, hierüber
gehen die Ansichten freilich sehr auseinander. Von einer Seite wird behauptet,
daß es am zweckmäßigsten sei, wenn die den niedern Ständen angehörenden
Mädchen zunächst zwei oder mehrere Jahre eine Stelle als Dienstmädchen be¬
kleideten und sich dort die für eine künftige Hansfrau erforderlichen Kenntnisse
und Tugenden verschafften. Nun läßt sich zwar nicht leugnen, daß ein Dienst-
mädchen in einem bessern Haushalte Gelegenheit finden wird, sich den Sinn für
Ordnung und Reinlichkeit anzueignen; dagegen erscheint es doch sehr fraglich,
ob die gerade für Ärmere so wichtige Kunst des Sparens und die richtige Ver¬
wendung des Einkommens, kurz Wirtschaftlichkeit selbst in einem solchen Haus¬
halte erlernt wird, dessen Vorsteherin überdies in vielen Fällen keine Neigung
verspürt oder vielleicht unfähig ist, das Mädchen für ihren künftigen Haus¬
frauenberuf vorzubereiten. Meist liegt die Sache so, daß das den untern Stünden
angehörende dienende junge Mädchen in Verhältnisse tritt, die ihm fremd sind,
in dem Hauswesen einer bemittelten Familie nach mancher Richtung hin ver¬
wöhnt wird und niemals die Kenntnisse erwirbt, die zur Führung des einfachen
Haushaltes einer Arbeiterfamilie notwendig sind. Es sei nur darauf verwiesen,
daß das Dienstmädchen eines wohlhabenden Hauses von ihrer Dienstherrin in
den seltensten Fällen, vielleicht niemals mit dem Kochen einer einfachen, kräftigen
Hausmannskost, wie sie ein Angehöriger der arbeitenden Bevölkerung verlangt,
vertraut gemacht werden wird. Dadurch aber, daß die künftige Arbeiterfrau nicht mit
den Verhältnissen rechnen lernt, unter denen sie einst zu wirtschaften hat, bleibt
sie trotz ihrer Erziehung im Dienste einer Familie schließlich ohne die erforder¬
lichen häuslichen Kenntnisse.
Abgesehen von alledem verdient auch beachtet zu werden, daß trotz Dienstboten¬
mangels die Zahl der Familien, die weiblicher Dienstboten bedürfen, immerhin
beschränkt und infolgedessen die große Masse der Arbeiterinnen überhaupt an¬
gewiesen ist, die Ausbildung in wirtschaftlicher Beziehung in einer andern
Stellung als der eines Dienstmädchens sich anzueignen. In welcher Weise das
geschehen kann, darauf soll im folgenden kurz hingewiesen werden.
Da die junge Arbeiterin meist nicht Gelegenheit findet, Wohnung und Be¬
köstigung in einer Familie ihres Standes zu nehmen, in welcher sie gleichzeitig
in geeigneter Weise auf den Beruf der Hausfrau vorbereitet wird, so hat die
Fürsorge der Arbeitgeber und die Vereinsthätigkeit, insbesondre der Frauenvereine,
einzugreifen.
Am zweckmäßigsten würde jedenfalls die Ausbildung der jungen Mädchen
in den Logir- und Kosthäusern der Arbeitgeber erfolgen. Da in diesen ein
größeres Wirtschaftspersonal sowieso erforderlich ist, kann dieses in der Weise
beschafft werden, daß alle Arbeiterinnen unter Aufsicht einer geeigneten Per¬
sönlichkeit abwechselnd, etwa in regelmäßigem Wechsel von je vierzehn Tagen,
zu den Arbeiten herangezogen werden, welche (wie z. B. Kochen, Reinigen,
Flicken, Bügeln u. dergl.) für die Anstalt auszuführen sind. Auf diese Weise
leidet weder der Gewerbebetrieb der Unternehmer, noch der Betrieb des Logir-
und Kosthauses Schaden; der Vorteil für die, Arbeiterinnen dagegen wird,
wenn gleichzeitig deren allgemeine Bildung durch Unterricht in den verschie¬
densten wissenswerten Dingen (z. B. in den Elementen der Gesundheits- und
Krankenpflege) u. s. w. ergänzt wird, sehr bedeutend sein.
Die Versuche der Arbeitgeber, welche auf dem Gebiete der Fürsorge für
die wirtschaftliche Ausbildung ihrer Arbeiterinnen liegen, sind bisher leider sehr
vereinzelt und ungenügend; meist erstrecken sie sich nur auf den Handarbeits¬
unterricht. Einrichtungen der Unternehmer, welche Erlernung des gesamten
Haushaltes zum Ziele haben, bestehen in. W. in Gladbach, Würzburg. Linden,
Nevigcs. Wiesenthal bei Heilbronn und Sontheim. Inwieweit diese ihren
Zweck bisher erreicht haben, vermag ich freilich nicht zu beurteilen; auch liegt
mir eine Kritik dieser Einrichtungen, die ihr Dasein humanen Bestreben ver¬
danken, fern. Wohl aber sei es mir gestattet, einiges über jene Einrichtungen
mitzuteilen, insbesondere darüber, in welcher Weise der Kochunterricht in dem
Nrbeiterinnenhospiz des Herrn Fabrikbesitzer Brand in Gladbach erteilt wird.*)
Statutengemäß werden zur Teilnahme an dem Unterrichte, der in viertel¬
jährigen Kursus für je sechs Fabrikarbeiterinnen Sonntags in den Vormittags¬
stunden von sechs Uhr an in der Lehrküche unter Oberleitung der Hospiz-Vor¬
steherin von einer Lehrköchin erteilt wird, nur Zöglinge des Hospizes und
Mitglieder des Arbeiterinncnvereins zugelassen, nachdem sie mindestens ein Jahr
lang am Unterrichte in der Handarbeit teilgenommen haben. Die Teilnehme¬
rinnen am Unterrichte zahlen zu den Kosten des von ihnen bereiteten und ver¬
zehrten Mittagessens jedesmal zwanzig Pfennige, Zöglinge des Hospizes zehn
Pfennige; die übrigen Kosten werden aus der Haushaltungskasse des Hospizes
bestritten. Dein Unterrichte wird das von einer Kommission des Verbandes
„Arbeiterwohl" herausgegebene Buch „Das häusliche Glück" (M.-Glcidbach und
Leipzig, A. Riffarth) zu Grunde gelegt; die Teilnehmerinnen haben es mitzu¬
bringen und müssen bestimmte Kapitel, deren Inhalt während der praktischen
Übungen erklärt wird, vorher durchgelesen haben. Die Lehrküche selbst ist mit
allem versehen, was in die gut eingerichtete Küche einer Arbeiterfamilie gehört;
das Verzeichnis aller vorhandnen Gerätschaften und Geschirre nebst Preisangabe
hängt an der Wand, ebenso ein Verzeichnis der in den Schränken stets vor¬
ratigen Spezereiwaaren mit Preistabclle und eine Schiefertafel zum Berechnen
der bereiteten Mahlzeiten. An jedem Sonntag wird in den Unterrichtsstunden
ein vollständiges Mittagsmahl für sieben Personen zubereitet. Die Teilnehme¬
rinnen müssen alle zugehörigen Arbeiten selbst besorgen, also z. B. Fleisch ein¬
kaufen, die aus der Lehrküche entnommenen Spezereiwaaren abwiegen und nach
dem Ladenpreis notiren, Gemüse und Kartoffeln reinigen, Brennmaterial und
Wasser herbeiholen, Feuer einlegen und reguliren, Speisen kochen und anrichten,
die Kosten der Mahlzeit berechnen, die gebrauchten Geschirre spülen, die Küche
auskehren und dergleichen. Jede der Teilnehmerinnen am Unterrichte erhält
beim Beginn eines neuen Kursus eine bestimmte Nummer, die ihr anzeigt,
welche Arbeiten sie am ersten Unterrichtstage zu verrichten hat; am zweiten
und den folgenden Sonntagen erhält jede die folgende Nummer, so daß jede
mit allen zugehörigen Arbeiten bekannt wird.
Ob die Ausbildung an zwölf Unterrichtstagen, wie sie im Arbeitcrinncn-
hvspiz zu Gladbach stattfindet, genügt, um die Kenntnisse und Tugenden
zu erwerben, die einer Hausfrau zur Begründung „häuslichen Glückes" nötig
sind, überlasse ich erfahrenen Hausfrauen zur Beurteilung. Dagegen möchte
ich noch aus folgendes verweisen.
Ein keineswegs unerheblicher Teil der Arbeiterinnen wird nicht in der
Lage sein, eine hauswirtschaftliche Ausbildung in Arbeiterinncnhospizen sich
anzueignen. In diesem Falle müssen in erster Linie die Frauenvereine ein¬
greifen und die Erziehung und Ausbildung der Arbeiterinnen zu Hausfrauen
in die Hand nehmen und leiten. Ja es erscheint mir sogar als eine Frage,
die sehr der Erwägung wert ist, ob es nicht zweckmäßig sei, die Arbeitszeit
der jugendlichen Arbeiterinnen, d. h. derjenigen im Alter von 14—16 Jahren,
gesetzlich noch weiter zu beschränken und diese Klasse der Arbeiterinnen (wie
vielleicht alle Mädchen gleichen Alters!) zum Besuche eines theoretisch-praktischen
Arbeitsunterrichts in allen das Hauswesen betreffenden Dingen zu verpflichten.
In dem Falle hätten allerdings der Staat oder die Gemeinden, insoweit sich
ein entsprechendes Bedürfnis geltend machen würde, die Einrichtung geeigneter
Erziehungs- und Bildungsanstalten ins Auge zu fassen; die Arbeitgeber selbst
würden bis zu einem gewissen Grade vielleicht nach Zahl der beschäftigten
Arbeiterinnen zu den Kosten heranzuziehen sein.
Soviel über die „Frauenfrage des vierten Standes". Die Frage ist
freilich mit dem bisher gesagten bei weitem nicht erschöpft; allein es kam nur
darauf an, kurz die wichtigsten Maßregeln zu besprechen, die zur Besserung
der Lage unsrer Arbeiterinnen zu ergreifen sind. Es wäre zu wünschen, daß
die Arbeitgeber sowohl, wie die bessern Gesellschafts-, insbesondre Frauenkreise
überhaupt, zu der Auffassung gelangten, es sei eine sittliche Pflicht, die
arbeitenden Frauen und Mädchen der unter» Klassen so zu stellen, daß sie ein
menschenwürdiges Dasein zu führen in der Lage und nicht genötigt sind, zur
Bestreitung des Lebensunterhaltes einen ergänzenden Erwerbszweig in der
Preisgabe ihrer Ehre zu suchen. Erhalten die unverheirateten Arbeiterinnen
höhere Löhne und wird ihnen gleichzeitig die Gelegenheit zur Ausbildung als
künftige Hausfrauen geboten, so unterliegt es keinem Zweifel, daß durch diese
Maßregeln ein großer Schritt zur Lösung der gesamten „sozialen Frage" gethan
wird. Nicht zum geringsten Teile wird heute in Arbeiterkreisen Unzufriedenheit
dadurch hervorgerufen, daß die Frau häuslich ungeschult und ohne Kenntnisse
ist, dem Manne kein freundliches Heim zu bereiten versteht und ihn infolgedessen
schließlich immer mehr zu jener Verbitterung bringt, die im Kampfe gegen die
bestehende Ordnung ihren Ausdruck findet. Eine zur Arbeit erzogne Frau
erhöht, wie Hahn in seiner Schrift „Die Frau auf dem Gebiete der Arbeit"
(Neutlingen 1884) treffend bemerkt, „die Arbeitskraft des Mannes, indem sie
ihm wirklich eine Erholung geben kann: sie nimmt ihm einen großen Teil der
Sorgen ab, erhält, was er erarbeitet hat; ihr Umgang fördert in ihm Ge¬
danken zutage, welche sonst nie gekommen wären, sie ist ein Talisman gegen
das Schlimme, mit ihr entsteht für den deutschen Mann ein wahres deutsches
Heim; dieses aber allein ist imstande, über die größte Untugend des Deutschen,
den Hang zum Wirtshaus, aus welchem dann auch der Zuvielgenuß geistiger
Getränke und die Verschwendung folgt, endlich Meister zu werden." Lösen
wir die „Frauenfrage des vierten Standes", dann wird es auch gelingen, der
„sozialen Frage" Herr zu werden. Verharren aber die bessern Gesellschafts¬
kreise ferner in ihrer Gleichgiltigkeit, treten die Frauen und Mädchen der bessern
Stände noch länger als Konkurrentinnen der armen Arbeiterinnen auf, und
bleiben endlich die Arbeitgeber auf dem engherzigen Standpunkte, den sie bisher
in der Arbeitcrinnenfragc eingenommen haben, so darf es nicht wunder nehmen,
wenn die Staat und Gesellschaft bedrohenden Bestrebungen auch in Frauen-
kreisen tiefere Wurzeln fassen, in bedrohlicherer Gestalt auftreten und von Übeln
Folgen begleitet sind. Daß das geschehe, muß mit allen Kräften verhütet
werden.
in vierten Buch der zahmen Xenien hat Goethe der Kritik und
Litteraturgeschichte einen Wink gegeben, der in vier Verszeilen
für mehr als ein Jahrhundert Weisheit enthält:
Wohin wir bei unsern Gebresten
Uns im Augenblick richten sollen?
Denke nur immer an die Besten,
Sie mögen stecken, wo sie wollen.
Ein leider nur kleiner Teil unsrer zeitgenössischen Kritik läßt sich noch
von diesem Satze leiten, der größre Teil ist ihm untreu geworden. Eine
besondre Gruppe kennt nur die „Besten," die zur Schule oder, wie es gut
Kölnisch heißt, zum „Klüngel" gehören; die Masse der Schriftsteller und Urteiler
sucht eifrig den Glauben zu verbreiten, daß es keine „Besten" gebe, und daß
die geringern Unterschiede, die sich zwischen den zeitgenössischen Talenten ent¬
decken lassen, gar nicht erst der Mühe der Unterscheidung lohnten. Die herr¬
schende Tendenz unsrer Kritik geht dahin, alles litterarische Leben und Streben
der Gegenwart als einen Urbrei zu betrachten, aus dem von Zeit zu Zeit
einzelne Erfolgsblasen aufsteigen, um demnächst wieder zu platzen. Wenn diese
anmutige Auffassung in den Tageszeitungen vorherrscht (denen zu neun Zehnteln
die Litteratur und alle Bildungsinteressen das Gleichgiltigste von der Welt sind)
und wenn man zugeben muß, daß die kritiklose Reklame der Zeitungen schon
ein Gewohnheitsübel geworden ist, das man mehr oder minder willig erträgt,
so ziemt es sich doch, ernste Verwahrung einzulegen gegen die Ausbreitung dieses
Übels auch in Büchern, die mit ernstem Ansprüchen auftreten. Schon Franz
Brummers „Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten des neunzehnten Jahr¬
hunderts," das demnächst in dritter Auflage erscheint, eine fleißige und
sorgfältige Arbeit, krankt an der Kritiklosigkeit, mit der das bedeutendste und
das nichtigste als völlig gleichwertig behandelt wird, an der Ungleichheit, mit
der wirklich hervorragende und schöpferische Naturen in ein paar Zeilen abge¬
fertigt werden, während den hohlsten Dilettanten der dreifache und zehnfache
Raum für ihre Schicksale und die Listen ihrer Versuche gegönnt ist. Gleichwohl soll
gern eingeräumt werden, daß das Brümmcrsche Lexikon doch einen festen Kern, ein
deutliches Gepräge hat. Die Aufnahme aller im laufenden Jahrhundert ge-
bornen, gleichviel ob sie leben oder todt sind, die strenge Begrenzung auf die
poetischen (belletristischen) Schriftsteller in Vers und Prosa, die Ausscheidung
alles Selbstlobes und aller Polemik aus den einzelnen Artikeln (die sich zum
großen Teil auf persönliche Mitteilungen der Aufgenommenen stützen), die Zu¬
verlässigkeit der Angaben verleihen dem Brümmerschen Lexikon einen bestimmten
Charakter. Es ist ein Nachschlagebuch, will nicht mehr sein. Ganz anders
steht es um ein pomphaft angekündigtes Werk, das laut seiner Vorrede viel Höheres
erstrebt: Das litterarische Deutschland von Adolf Hinrichsen mit einer
Einleitung von Professor Doktor C. Beyer (Berlin und Rostock, Verlag
der Album-Stiftung). Der Herausgeber erklärt in der Vorrede. „Manches
Jahr schon trug ich mich mit dem Plane des Litterarischen Deutschlands. Ich
empfand es stets als eine große Lücke in unsrer nationalen Litteratur, daß
sie nicht ein Werk aufzuweisen hatte, das die Geistesschätze des Volkes der
Denker und Dichter (nicht solche der letztern allein) zusammenfaßt, seien es
auch nur die einer bestimmten Zeitepoche: eine Art Momentphotographie, die
unsre deutschuationaleu Errungenschaften und Bestrebungen wiederzuspiegcln
imstande ist. Und doch hege ich den Stolz, nicht nur eine solche durch das
erdrückende Morgen bereits verwischte in dem Litterarischen Deutschland zu lie¬
fern, sondern gedenke mein hiermit begonnenes Werk fortzusetzen: viele Moment¬
photographien zu schaffen und das ewig neue Werden in solchen festzubannen,
soweit meine Kraft reicht." Hiernach muß jedermann glauben, daß es sich
in dem 724 doppelspaltige Seiten starken Werke um eine ausgedehnte Antho¬
logie oder etwas dem ähnliches handeln müsse. Denn unter Geistesschützen,
die man „zusammenfaßt", hat man bisher, soweit die deutsche Zunge klingt, die
Werke der Denker und Dichter, ihre Leistungen, aber nicht ihre Namen verstanden.
Auch unter den „deutschnationalen Errungenschaften" wird sich jeder vernünftige
Mensch etwas andres denken, als die Biographien und Autobiographien von viel¬
leicht anderthalb tausend Schriftstellern, unter denen viele Hunderte sich befinden,
die nicht in ein litterarisches, sondern in irgend ein Fachlexikon gehören. Herr
Hinrichsen hat zwar nirgends erklärt, was er unter Denkern versteht, und zählt,
wie es scheint, alle auf irgend einem wissenschaftlichen Gebiete arbeitenden zu
diesen Denkern. Auch können wir ihm nicht bestreiten, daß man, um zur Aus¬
zeichnung im Gebiete des katholischen Kirchenrechts, der Ornithologie oder der
technischen Chemie zu gelangen, um ein „Handbuch der pharmazeutischen Rezeptir-
kunst" oder einen „Grundriß der Eisenhüttenkunde" oder eine Preisschrift
über Maul- und Klauenseuche, Abhandlungen wie „Über die Milben der Bier¬
filze" oder „Über das Vorkommen der schwarzen Hausratte um Greiz" oder
„Über die Deklination des Substantivs im niederösterreichischen Dialekt" oder
über „Das Flügelgeäder der Psociden und seine systematische Bedeutung" zu
schreiben, denken muß. Der allgemeine Sprachgebrauch aber versteht unter
„Denkern" etwas andres als noch so verdiente Spczialisien; die bloße Auf¬
nahme einiger hundert Fachschriftsteller, denen gegenüber viele hundert andre,
nicht minder hervorragende vermißt werden, stempelt dies „Litterarische Deutsch¬
land" von vornherein zu einem verfehlten Werke. Denn zu befriedigender Lösung
der Aufgabe gab es nur zwei Wege. Entweder faßte Herr Hinrichsen den Be¬
griff der Litteratur im weitesten Sinne, wonach dieser die gesamten Schrift¬
werke in deutscher Sprache in sich begreift, und machte den Versuch, das gesamte
schreibende Deutschland zu vertreten, in welchem Falle das Werk zehnfach
umfangreicher sein würde und müßte, oder er hielt an dem Begriff National¬
litteratur fest, wonach in erster Reihe nur die Schöpfungen der Poesie, in
zweiter diejenigen Werke der Beredsamkeit und der wissenschaftlichen Darstellung
zu berücksichtigen waren, welche sich durch Vollendung der Form, Vorzüge des
Stils dazu eignen. Wer da weiß, daß die Auswahl dieser Werke für jede
literarhistorische Darstellung die größten Schwierigkeiten bietet, die schärfste
Urteilskraft erfordert, wer weiß, daß ganze Reihen geschichtlicher und andrer
Schriften hart auf der Grenze zwischen bloßen Forschungen und litterarischen,
künstlerische Vollendung erstrebenden Werken stehen bleiben, wird auch gern
zugeben, daß hier ein Mehr oder Minder für die Auswahl sehr wohl möglich
ist. Aber Hinrichsen scheint völlig prinziplos verfahren zu sein, einfach alle
diejenigen aufgenommen zu haben, die sich mit Material, das heißt mit
langer Erzählung ihrer Lebensschicksale und breiter Aufzählung ihrer litterarischen
Arbeiten einstellten. Er hat die Einsendungen durch Hinzufügung einer Reihe
von anerkannten und gefeierten Namen ergänzt und auf das Prinzip irgend
welcher Vollständigkeit ruhig Verzicht geleistet. Die Zahl der im „Litterarischen
Deutschland" aufgeführten Fachschriftstellcr steht zu der Zahl der wirklich vor-
handelten in einem geradezu lächerlichen Mißverhältnis, die Bedeutung des
einzelnen kann, wie der flüchtigste Vergleich zeigt, nicht zum Maßstabe gedient
haben, und so muß man von vornherein die Aufnahme ganzer Reihen von
Namen als eine nur zufällige oder vollkommen willkürliche erachten.
Eine gewisse, aber mit der des Brümmcrschen Dichterlexikons nicht zu ver¬
gleichende Vollständigkeit versucht der Herausgeber auf dem Gebiete der schönen
Litteratur zu erzielen. Das „Litterarische Deutschland" mit seiner Flut von
„Dichtern" und „Dichterinnen", die von Jugend auf den „Drang" gespürt haben,
wird jene naiven Gemüter höchlich befriedigen, die den Quell der Poesie in
unsrer Zeit vertrocknet und das heilige Feuer erloschen wähnten. Bei ernstern
und am Leben und Gedeihen unsrer Litteratur, namentlich unsrer poetischen
Litteratur, wahren Anteil empfindenden Menschen können dreiviertel der von
Eitelkeit und Selbstgefälligkeit strotzenden, das nichtige zum wichtigen, das
einfache Erlebnis zum Ereignis aufbauschenden autobiographischen Aufzeich¬
nungen nur ein Kopfschütteln hervorrufen, und man muß über eine Redaktion
erstaunen, die sich in der Vorrede darauf beruft, daß sie „den gebotenen Stoff
selbstverständlich nicht stets in seiner ganzen oft unmöglichen Breite habe ver¬
wenden können," aber dabei Dinge stehen läßt, die im Interesse der Berücksich¬
tigten in den Papierkorb gehört hätten. Der Herausgeber erblickt eine „reizvolle
Mannigfaltigkeit" in den grundverschiedenen Mitteilungen und hat es nicht als seines
Amtes erachtet, „eingehende Kritik zu üben." Da liegt denn die Frage nahe,
ob Herr Hinrichsen in der That glaubt, daß literarhistorische Hand- und Nach-
schlagebüchcr, auch wenn sie „Momcutsphotographicn" sind, der Selbstüber¬
schätzung, der blöden Urteilslosigkeit dilcttirender Versmacher und Blaustrümpfe
zu dienen haben, ob er meint, daß der Herausgeber eines Werkes wie das
„Litterarische Deutschland," schlechthin gar keine Verantwortlichkeit trage? Unsre
Litteratur krankt an nichts Schlimmerem, als an der Verwischung aller Unter¬
schiede, an der völligen Gleichstellung origineller schöpferischer Kraft und arm¬
seliger Nachahmung, ernster künstlerischer Arbeit und flacher Vielschreiberei, und
dies Unheil soll nun nicht bloß durch das Vermischte der Zeitungen schwirren,
sondern an Stellen verewigt werden, die wenigstens das Aushängeschild ernster
Absicht und ernster Kritik tragen!
Es ist schier unglaublich, was nach der bezeichneten Richtung hin uns alles
in diesem Buche aufgetischt wird, was der Herausgeber hat durchgehen lasse».
Da wird von einem Herrn Angelrodt in Nordhausen erzählt, daß er, weil
Freunde seine Feldpostbriefe veröffentlichen ließen, „unwillkürlich mit der Presse
in Bertthrnng gekommen" sei und „die Kritik" der öffentlichen Theatcraufführungen
übernommen habe! Da wird von der Freifrau Karolina von Bartenstein, die zwei
kleine Novellen und ein Gedichtbändchen „Seelenblicke" verfaßt hat, wörtlich be¬
richtet: „Mit Karolina von Bartenstein erlischt ihr Name, da sie die (!) letzte weib¬
liche Sprosse (!) des Geschlechts ist, der letzte männliche Sproß warder verstorbene
Hausprälat Sr. Heiligkeit des Papstes A. Reichsfreiherr von Bartenstein, ein
Bruder der Dichterin, nunmehr Ehrendame am hochadligen Damenstift zu
Troppau." Da sagt eine Frau Emilie Busse wörtlich: „Obwohl ich von Jngend
auf das lebhafteste Interesse für unsre deutsche Litteratur hatte, so würde ich
es damals doch nicht gewagt haben, selbst mit litterarischen Versuchen an die
Öffentlichkeit zu treten. Erst als Witwe eines höhern Beamten griff ich zur
Feder. Meine Bemühungen wurden anch bald insofern belohnt, als kleine
Geistergeschichten in Zeitschriften freundliche Aufnahme fanden." Da „singt"
Herr Karl Nikolaus von Gerbel-Einband:
Im Innern Rußlands kam ich auf die Welt,
Doch bin von deutschen Eltern ich entsprossen.
In Tübingen einst promovirte ich
Als Doktor der Philosophie. In Dresden
Daun fand ich spiiter eine neue Heimat,
Wo ich in diesen: Augenblick noch lebe.
Von Liebe sang ich, sang auch fromme Lieder,
Schrieb andres noch in Poesie und Prosa
Und hoff' auch manches noch zu produziren.
Da entwirft Herr Wilhelm Grothe ein Lebensbild, das sich ganz wie ein
Leihbibliotheksroman aufnimmt, da erfahren wir, daß Frau Mary Graf-
Bartholomew „vorzugsweise lyrisches Talent" besitzt und sich besonders be¬
kannt gemacht hat „durch ihre Kochrezepte in Versen, die sie nach den bekann¬
testen und beliebtesten Volksmelodien gedichtet hat," da finden wir einen Friedrich
Emanuel Heino, der sich resignirt, „ganz seinen schriftstellerischen Arbeiten zu
leben" und von dessen Arbeiten nicht eine einzige genannt wird, da berichtet ein
Herr Heinrich Helmers wörtlich, daß er in früher Jugend von einer für Poesie
und Kunst begeisterten Mutter in das Reich der Musen geleitet worden sei und
in seinen Knabenjahren schon die Freude gehabt habe, daß die Tagesblätter seiner
Vaterstadt (die uns unenthüllt bleibt) unter einem Pseudonym kleinere Gedichte,
Nätselaufgaben von ihm zum Abdruck brachten, da gesteht ein Herr Konrad Hermann
ein, daß er „leider bei Begründung eines eignen Geschäfts sein mühsam Erspartes
wieder einbüßte. Das hinderte ihn aber nicht, weiter zu dichten und zu singen."
Da berühmt sich Herr Karl Kösting, den Plan zu einem „gigantischen" (!)
Bühnenwerke, der Pentalogie: „Das gelobte Land, Das Himmelreich, Die neue
Welt, Ein Weltgericht, Edentraum," geschmiedet zu haben, da erzählt Fräulein
Auguste Pulvermacher: „Jetzt bin ich Mitarbeiter (I) von verschiedenen in- und
ausländischen Blättern und Journale (!). Doch meine alte Vorliebe fürs Theater
ließ mich nicht ruhen, und da ich nicht Theater spielen konnte, begann ich Theater
zu schreiben," da versichert Wilhelm Nessel, auch Wilhelm von Bergen und
Ludwig Schwarz genannt, daß er „fest auf dem Pegasus saß und wußte ihn
trefflich zu lenken," Herr Paul von Schönthan, der Bruder des Lustspiel-
dichters, der übrigens ehrlich eingesteht, daß er viel, vielleicht manchmal zu
Viel geschrieben habe, und der seit 1887 ein neues Berliner Witzblatt redigirt, hat
„die Genugthuung zu sehen, daß Segen auf seiner Arbeit ruht," was wohl
heißen soll, daß sie ihm viel Geld einbringt. Da versichert der Rechtsanwalt
August Sturm in einer wunderlichen Selbstkritik, daß seine „Gedichte" und sein
Buch „Auf Flügeln des Gesanges" seine tiefste Eigenart wiedergeben, und daß er
sein „Thüringer Waldmärchen" für mehr als einen Versuch halte, während
Herr Heinrich Weber in Zürich meint, daß in seinen religiösen Gedichten
„Lieder eines Suchenden" „der ideale Flug bisweilen die Klarheit verhülle."
In diesem Tone könnten wir noch seitenlang fortfahren, es ist geradezu
unglaublich, welche Fülle von Naivitäten, aber auch von Geschmacklosigkeiten,
von unberechtigten Ansprüchen aus dem Rahmen des „Litterarischen Deutsch¬
lands" herausschaue. Man fühlt sich ordentlich erlöst, wenn einmal einer der
berühmten Poeten, wie Fritz Bärwinkel, mit einer gewissen Ironie von sich sagt:
Jetzt kitzelt nichts mehr. Ich bin taub
Für der Versuchung Locken,
Ich rechne mich doch nur zum Staub,
Erwart' (!) nicht Nachruhms Glocken.
Übrigens erfordert die Gerechtigkeit, zuzugestehen, daß mitten unter dem nicht
redigirten Wüste aller erdenklichen Notizen über Dichter und Dichterlinge, über
Schrifsteller jeder Art und jeden Ranges sich einzelne vortreffliche Mitteilungen
befinden. Die in schicklichen und würdigem Tone gehaltenen Selbstbiographien
und Biographien von Franz Nissel, Karl Koberstein, Ernst Eduard Evers,
Konrad Zitelmann, sowie manche kleinere, stechen in angenehmer Weise hervor,
wenn sie auch in ihrer Ausführlichkeit in einem entschiedenen Mißverhältnis zu
den Artikeln über die namhaftesten und wirklich bedeutendsten poetischen Schrift¬
steller der Gegenwart stehen.
Herr Hinrichten hat selbst gefühlt, daß dies Mißverhältnis durch sein
ganzes Buch hindurch vorhanden ist. Seine Vorrede bemerkt, daß ihm „viel¬
fach eine kurze kritische Bemerkung am Platze erschienen sei, schon um derjenigen
willen, deren Erlebnisse gering (bez. ihm in geringem Maße kundgegeben),
während ihre litterarischen Leistungen groß waren, so daß durch die Länge der
einen Biographie im Verhältnis zur andern leicht ein irrtümliches Vorurteil
erweckt werden könnte, ein Fall, der bei Kennern natürlich nicht eintreten
wird." Als ob dergleichen Bücher zumeist in die Hände von Kennern gerieten!
Der Herausgeber hat sich also verpflichtet gefühlt, in den Fällen, wo er über
wahrhaft litterarische Talente nur das beizubringen hat, was sich auch in jedem
Konversationslexikon findet, durch eine Kritik ausgleichend zu wirken. Leider
ist diese Kritik so ausgefallen, daß sie Nichts ausgleicht, sondern den Eindruck
unerquicklicher Unzulänglichkeit stärken hilft. Die Urteile des Herrn Hinrichsen
sind durchgehends wohlwollende, ja lobpreisende, aber es bedarf nur der Auf¬
zählung einiger Beispiele, um zu erkennen, wie flach, allgemein, uncharakteristisch
seine kritischen Bemerkungen sind. Wenn wir über Rudolf Baumbach lesen,
daß seine „Lieder und Sänge die Welt durchwandert haben," daß der Dichter
ausgezeichnet sei „durch einen vornehmen Zug, der ihm niemals gestattete, seine
Feder in den Dienst der Tagesgötzen zu stellen," wenn von Bodenstedt ver¬
sichert wird, daß er „einer der talentvollsten deutschen Sänger sei, dessen lieder¬
süßer Mund Unvergängliches gesungen," von Felix Dahn, er sei „allgemein
als formgewandter Meister auf dem Gebiete der Neimkunst und gleichzeitig als
der vornehmste Autor auf demjenigen der belletristischen Germanistik (belle¬
tristische Germanistik! Dahn mag sich für das Kompliment bei Herrn Hinrichsen
bedanken!) anerkannt," von Marie Ebner-Eschenbach, daß „ihrem Streben reiche
Erfolge erwuchsen, und daß sie nunmehr als (!) eine der talentirtesten lebenden
Schriftstellerinnen gilt," von Theodor Fontane, „daß er einer der angesehensten
Berliner Kritiker sei, sich durch Feinheit und Schärfe der Auffassung auszeichne"
und außerdem „verdientermaßen allgemein anerkannte" Werke geschrieben habe,
von Karl Emil Franzos, daß „durch seine Dichtungen ein vornehmer Hauch
zieht" und daß er gerade in den höhern Schichten der Gesellschaft sich
großer Beliebtheit erfreue, von Wilhelm Imsen, daß er „die Novelle meister¬
haft beherrscht," von Graf Schack, daß seine Dichtungen „sehr verschiedenen
Inhalts und die großangelegten Lebenserinnerungen von höchster allgemeiner
Bedeutung sind," von Adolf Stern, daß seine poetischen Werke „ihrer edlen
Eigenart und Tiefe wegen großen Beifall und weite Verbreitung fanden und
daß er außerdem eine Reihe von hochbedeutenden litterar-historischen Schriften
erscheinen lassen," von Ernst Wichert, daß ihm „sowohl auf dem Gebiete der
Novelle als auf dem des Dramas reiche Erfolge erwuchsen," so wird kein
Mensch auch uur den schattenhaftesten Begriff von der Eigentümlichkeit und
dem innern Wesen der genannten Dichter und Schriftsteller bekommen, alles
ist so nichtssagend, unbezeichnend und äußerlich als möglich. Schlimmer noch
steht es um eine ganze Reihe von andern „Charakteristiken," in denen geradezu
Heller Unsinn zu Tage gefördert wird. Von Gottfried Keller wird erzählt, daß
ihn „die Schriftstellern zu ihren berühmtesten und vornehmsten Jüngern der
Neuzeit zählt. Außer als Novellist gilt Keller besonders auf dem Gebiete
der Lyrik als einer unsrer größten Meister — seine Lieder sind in allen Landen
verbreitet und im Munde jedes ihrer Sänger." Sollte man nach der letzten
Phrase nicht geradezu meinen, Herr Hinrichsen verwechsle Keller mit Geibel,
mit Hoffmann von Fallersleben oder gar mit Müller von der Werra? Auch
wir halten Keller für einen echten Meister auf dem Gebiete der Lyrik, aber wir
fordern den Herausgeber des „Litterarischen Deutschlands" auf, die „Lieder"
Kellers, die im Munde der Säuger leben, zu nennen — wir kennen nicht ein einziges.
Gleichermaßen wird von Paul Heyse behauptet, daß er auf dem Gebiete des Dramas
wie auf dem der Novelle, gleichzeitig als Lyriker, als eiuer der vornehmsten
Meister der Gegenwart gelte. „Seine Dramen haben alle Bühnen sich erobert
und seine Lieder sind in jedes Sängers Mund." Heyse ist in der That einer
der vornehmsten Meister, über die „Eroberung aller Bühnen" aber wird er selbst
lächeln, sie ist sehr oum g-rauo salis zu verstehen, und von den Liedern, „die in
jedes Sängers Mund leben," haben wir noch kein einziges gehört. Von Julius
Wolff behauptet Herr Hinrichsen in einem Atem, daß er ein gottbegnadeter
Dichter sei, daß es aber „beim Vermeiden alles Schablonenhaften schier un¬
möglich sein mag, der Manierirtheit auszuweichen." Herr Hinrichsen muß
wunderbare Begriffe von einem „gottbegnadeter" Dichter haben. Von Otto
Roquette wird behauptet, daß er „mit seinen spätern Schöpfungen zweifellos
auf der Höhe des Parnaß stehe", aber niemals wieder die Poesie von „Wald¬
meisters Brautfahrt" erreicht habe. Hier wird frischweg der Wert und der
Erfolg verwechselt; wenn Roquettes spätere Schöpfungen nicht festern Kern
und echteres Leben aufwiesen als sein reizendes Jugendmärchen, stünde es schlimm
um ihn. Vom Erfolg ist überhaupt Herrn Hinrichsens Urteil kläglich abhängig;
es hilft einem Dichter wie Theodor Storm wenig, daß er sich unablässig ver¬
tieft hat und seine Gestaltungskraft überraschend gewachsen ist, die Arabesken-
Novelle „Jmmensee" bleibt für Herrn Hinrichsen „die feinste und künstlerisch
vollendetste von Storms Leistungen." Der wackere und idealistisch angehauchte
Otto von Leixner wird als ein Nachahmer Lindaus bezeichnet und muß sich
gefallen lassen, zu vernehmen, daß er „weit hinter seinem geistreichen Vorbild
zurückbleibt." ^
Doch es lohnt nicht, alle diese Unbegreiflichkeiten aufzuzählen, ja es wird
sinnlos, so bald wir die Urteile über die bedeutender» und eruststrebenden
Schriftsteller der Gegenwart mit andern vergleichen. Welchen Wert hat auch
das höchste Lob, das Hinrichsen an Ernst von Wildenbruch, Hermann Lingg,
Konrad Ferdinand Meyer mit gutem Recht und zum Teil mit glücklicheren Aus¬
druck spendet, wenn anderseits der Herausgeber des „Litterarischen Deutsch¬
lands" für die platteste und wüsteste Vielschreiberei Worte braucht, die nur dem
echten, künstlerisch gesinnten Talent gebühren. Von dem Romanfabrikanten Franz
Lubojcchky, der ein halbes Jahrhundert lang die Leihbibliotheken versorgte und
der seine Schriftstellern schwerlich je anders denn als einen Broterwerb
angesehen hat, dessen Romane keine ernsthafte Kritik je in ihren Vereich ge¬
zogen hat, beteuert Herr Hinrichsen, er sei „einer unsrer fruchtbarsten Autoren
gewesen, ohne daß er sein dichterisches Können je verbraucht habe; dieselbe
ungewöhnliche Gestaltungskraft, welche seine ersten Schöpfungen belebt, thut
sich auch in den letzten kund." Angesichts dieser äußersten Leistung an Kritik¬
losigkeit dürfen wir über ganze Reihen andrer Urteile nicht erstaunen. Höchstens
darüber ließe sich noch ein Befremden ausdrücken, wie der Herausgeber des „Lit¬
terarischen Deutschlands," der sich doch auf seiue patriotischen Gesinnungen beruft,
dazu kommt, dem umstürzlerischeu Kosmopolitismus der Herren Löwenthal und
Genossen so ausgiebigen Raum zu gönnen. Doch auch das ist überflüssig.
Herr Hinrichsen ladet alle diejenigen aus unserm großen Kreise, die in
diesem Buche noch fehlen, in seinen noch höher zu türmenden Tempel der Un¬
sterblichkeit. Wir fürchten, daß der Tempel mit seinen Lehmwänden und Dach¬
pappen den Eintretenden über dem Kopfe zusammenstürzen wird.
Beuen. In dem von Paul Heinze herausgegebenen „Deutschen Dichterheim",
in der ersten Nummer des neuen Jahrganges (September 1838), veröffentlicht Herr
Georg Ebers folgenden „Spruch":
Das schwerste Leid hab' ich in stillen Stunden
Am besten stets mit mir allein verwunden,
Doch kam das Glück, mir frohe Lust zu beuen,
Braucht' ich Genossen, um mich recht zu freuen.
Schwerlich ist in der neuhochdeutschen Litteratur jemals ein häßlichere sprach¬
liche Mißgeburt ans Licht getreten als dieses beuen, und wenn sie durch den Reim
noch ausgezeichnet wird, wie hier, so macht sie einen um so widrigeren Eindruck.
Die heutzutage gewählt, unter Umständen geziert klingenden Formen denkst,
beut, fieng, fleugst, fleugt ;c. sind sprachgeschichtlich begründet. Das en ist
das in des althochdeutscher Präsensstammes dieser Zeitwörter; dieses geht aber
durch sogenannte Brechung in is (früher lo) über, wo immer die alte Personal¬
endung mit a, beginnt, also im Plural des Indikativs und im Infinitiv.
Der Ebers'sche Infinitiv „beuen" hat aber nicht bloß ein unmögliches en, es
fehlt ihm auch, was noch schlimmer ist, das Wurzel- und wesenhafte t; er ist
ein doppeltes Mondkalb. Natürlich wird es nicht an weisen Leuten fehlen, die
sagen: Ach was, richtig oder nicht, sprachgcschichtlich begründet oder nicht, die Schul¬
meister sind es nicht, die die Sprache machen, sondern die „großen Schriftsteller".
Wenn ein großer Schriftsteller, wie Herr Georg Ebers, mit sprachschöpferischem
Genie die Form beuen erzeugt, so haben die kleineren Geister eben die Er¬
laubnis, sie ihm uachzubrauchen. Mit dieser Weisheit werden wir aber allmählich
dahin kommen, daß uns Lessings Deutsch wie eine fremde Sprache erscheint.
^?M.<urch allerhöchste Entscheidung ist endlich eine Angelegenheit zum
Abschlüsse gebracht worden, die seit längerer Zeit die weitesten
Kreise aufs lebhafteste beschäftigt hat. Seit Monaten war der
„Fall Harnack" ein stehendes Thema in den politischen wie in
den kirchlichen Blättern. Für den Lehrstuhl der Kirchengeschichte
an der Universität Berlin hatte die dortige theologische Fakultät als einzigen
Kandidaten den Marburger Kirchenhistoriker Adolf Harnack, anerkanntermaßen
eine wissenschaftliche Kraft ersten Ranges, dem Kultusminister in Vorschlag
gebracht. Dieser, welcher erst vor zwei Jahren Harnacks Berufung von Gießen
nach Marburg bewirkt hatte, nahm den Vorschlag der Fakultät an. Nun
räumt eine königliche Kabinetsordre von 1855 der obersten Behörde der
preußischen Landeskirche, d. h. der unirten Kirche der alten Provinzen,
dem Ev. Oberkirchenrat, das Recht ein, bei der erstmaligen Anstellung von
Professoren der evangelischen Theologie an den preußischen, d. h. also jetzt
den altpreußischen Universitäten, über Lehre und Wandel derselben sich gutacht¬
lich zu äußern. Ein Einspruchsrecht, von dem öfter in der Presse die Rede
gewesen ist, ist ihm damit keineswegs verliehen worden. Der Oberkirchen¬
rat sprach sich nun in seinem motivirten, mit der Mehrheit von vier gegen
drei Stimmen zu stände gekommenen Gutachten gegen Harnacks Berufung aus.
Der Kultusminister sah sich durch dieses Gutachten nicht bewogen, von seiner
Absicht abzustehen, da seine auch bei angesehenen kirchlichen Instanzen eingezo¬
genen Informationen über Harnacks theologische Bedeutung und Stellung, über
den Charakter seiner Wirksamkeit in praktisch-kirchlicher Hinsicht und über die
Art der kirchlichen Stellung und Thätigkeit seiner Schüler anders laute¬
ten als das Gutachten des Oberkirchenrath. Da erneute Verhandlungen mit
dem letztern zu keinem andern Ergebnis führten, so versicherte er sich der
Übereinstimmung des gesamten Staatsministeriums mit dem von ihm gefaßten
Beschlusse, ungeachtet des entgegenstehenden Gutachtens des Oberkirchenrath
Harncick nach Berlin zu berufen und unterbreitete schließlich die Angelegenheit
Sr. Majestät dem Könige zur Entscheidung. Diese Entscheidung ist jetzt zu
Gunsten Harnacks ausgefallen.
Die außergewöhnlichen Maßnahmen des Kultusministers, der, obwohl er
die Versetzung eines Professors von einer preußischen Universität an die andre
selbständig zu vollziehen berechtigt ist und sonst auch stets selbständig vollzogen
hat, in diesem Falle sich veranlaßt sah, sich nicht nur der Übereinstimmung des
gesamten Staatsministeriums mit seinem Vorgehen zu versichern, sondern sogar
die Entscheidung in die Hände des Königs zu legen, weisen schon darauf hin,
daß der „Fall Harnack" keine bloße Personenfrage, sondern eine sehr bedeut¬
same Prinzipienfrage war. Und als solche ist er auch überall aufgefaßt wor¬
den, wie die immer wieder sich erneuernde ernste Erörterung in der Presse be¬
zeugt. Freilich hat die letztere nicht dazu beigetragen, die Frage, um welche
Prinzipien es sich dabei gehandelt hat, zur Klarheit zu bringen. Nicht nur
haben sich untergeordnete Gesichtspunkte vorgedrängt, wie der, daß es ein Wider¬
sinn sei, wenn der Minister in Berlin durch den Oberkirchenrat gehindert sein
soll, zu thun, was er in Marburg oder Kiel oder Göttingen unbeanstandet
habe thun dürfen, oder daß eine doch immerhin königliche, vielleicht sogar als
staatlich zu bezeichnende Behörde wie der Oberkirchenrat dem Minister ent¬
gegentrete. Unzuträglichkeiten der Verwaltungspraxis, wie groß sie auch sein
mögen, können gegen Prinzipien nicht aufkommen. Daß nun der Kultusminister
formell in seinem Rechte war, wenn er einen Professor der Theologie ungeachtet
des entgegenstehenden Votums der obersten Kirchenbehörde anstellte, ist zweifel¬
los. Die innere Berechtigung dieses Verfahrens ist es, die von der einen Seite
ebenso leidenschaftlich bestritten, wie von der andern behauptet wird.
Nun sind die streitenden Parteien vielfach über die Fragestellung einig,
daß es sich um einen Prinzipienkampf zwischen den Rechtsansprüchen der Kirche
auf der einen und des religionslosen Staates und der freien Wissenschaft auf
der andern Seite handle. So begreift es sich, daß auch solche Zeitungen sich
Harnacks angenommen haben, für die ein Unterschied zwischen der Theologie
Harnacks und des Oberkirchenrath im Grunde gar nicht besteht, weil sie eben
überhaupt auf antikirchlichen Standpunkte stehen und sich deshalb alles dessen
freuen, worüber die lautesten Stimmen aus der Kirche am meisten jammern.
Aber auch bessere Zeitungen haben die von der Kreuzzeitung, dem Neichsboten,
der Stöckerschen Kirchenzeitung u. a. formulirte falsche Fragestellung sich an¬
geeignet. Die falsche Fragestellung. Denn der Gegensatz zwischen Kirche auf der
einen, Staat und Wissenschaft auf der andern Seite ist eine falsche doktrinäre
Abstraktion, deren Verbreitung sich nur daraus begreift, daß die katholische Auf-
fassung der Kirche diesen Gegensatz zu Staat und Wissenschaft mit sich führt,
und daß man diesen Gegensatz fälschlich verallgemeinert hat. Die Wissenschaft
erschafft ihre Gegenstände nicht, sondern sucht sie zu verstehen. Liegt ihr Gegen¬
stand aber auf dem Gebiete des höhern Geisteslebens, wo es sich um die höchsten
Güter des persönlichen Menschen handelt, da setzt das Verständnis, das die
Wissenschaft erstrebt, voraus, daß der Forscher mit seiner Person, mit seiner
Gesinnung, seiner Empfindung an der geistigen Bewegung, deren Wesen er er¬
forschen will, innerlich teilnimmt. Wem Musik ein störendes Geräusch ist, der kann
kein Musikforscher sein. Wer kein höheres Gut kennt, als das sinnliche Behagen
des Einzelnen, ist unfähig als Historiker die Kämpfe der Menschheit um ideale
Güter zu begreifen. Ohne solchen liebevollen persönlichen Anteil an dem Gegen¬
stande kann man nur Kärrnerarbeit an seiner wissenschaftlichen Erforschung thun.
So kann auch nur der ein evangelischer Theologe sein, der sich in seinem in¬
nersten Leben als Glied der evangelischen Kirche weiß und will. Die Freiheit
der Wissenschaft aber schließt nicht die innere Gebundenheit durch ihren Gegen¬
stand, sondern die Gebundenheit durch äußere Gesetze aus. Und wenn der
Staat die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre auch in den Fällen schützt,
wo jene innere Gebundenheit offenbar fehlt, so thut er es deshalb, weil der
Schaden, den eine falsche Wissenschaft möglicherweise anstiftet, gegen den Segen
nicht aufkommen kann, den die wahre Wissenschaft mit sich führt, und weil für
diese die Freiheit von äußern Gesetzen die Lebensluft ist. Um des höhern Gu¬
tes willen wird das geringere Übel ertragen. Wenn aber der Staat die Wissen¬
schaft an seinen Universitäten pflegt, so thut er es, oder soll er es thun, um
das vorhandene Kulturleben des Volkes, dessen rechtliche Ordnung er selbst ist,
in seiner gesunden Selbstbewegung zu fördern, nicht um es künstlich erst zu er¬
zeugen oder es willkürlich in fremde Bahnen zu lenken. Darum wird er bei
der Anstellung der Universitätslehrer in einer Reihe von Fächern nicht bloß
auf ihr technisches Wissen und Können, sondern auch darauf Rücksicht nehmen,
ob sie jenes innerliche Verständnis für den Gegenstand ihrer Wissenschaft be¬
sitzen. Und wo er an seinen Universitäten theologische Fakultäten einrichtet,
an denen die künftigen Geistlichen einer Kirche gebildet werden, so thut er es,
weil er die bestimmte Religion als eins der hauptsächlichsten Kulturgüter seines
Volkes, und die kirchliche Gemeinschaft als die Trägerin dieses Gutes schätzt,
und weil er ihnen hierdurch Förderung zu Teil lassen werden will. Wie ver¬
kehrt es unter unsern heutigen Verhältnissen wäre, eine Staatsreligion künstlich
erzeugen oder die innere Entwicklung der Kirche willkürlich nach fremden Ge¬
sichtspunkten bestimmen zu wollen, das hat die Erfahrung zur Genüge gezeigt.
So wird denn bei der Anstellung theologischer Professoren nicht bloß ihre Be¬
gabung und Gelehrsamkeit, sondern auch die kirchliche Rücksicht entscheidend in
die Wagschale fallen, die Rücksicht darauf, ob sie befähigt sind, ihre Schüler
in einer ihrem künftigen Berufe entsprechenden Weise zu bilden. Und der Mi-
nister, der vor der Frage der Berufung in eine theologische Professur steht,
wird sich von sachverständiger Seite Informationen über die kirchliche Quali¬
fikation des Kandidaten verschaffen, wie auch der Decernent im Ministerium für
die theologischen Professuren ein Sachverständiger ist. Gegenwärtig ist das ein
Mann, der Professor der Theologie ist und zugleich die kirchliche Vertrauens¬
stellung des Vorsitzenden des Zentralausschusses für innere Mission bekleidet.
Das ist also die Prinzipienfrage, um die es sich in dem „Falle Harnack" han¬
delt, ob durch das Vorgehen des Ministers die durch die Idee der Sache ge¬
forderte kirchliche Rücksicht, die freilich weder mit der Idee des Staates, noch
mit der der Wissenschaft streitet, sondern mit beiden eins ist, verletzt oder ge¬
wahrt worden ist.
Aus einem Teile der obigen Prämissen ziehen nun die Gegner der Beru¬
fung Harnacks den Schluß, daß das Votum der „Kirche" wenigstens soweit
unbedingt entscheiden müsse, daß wider dasselbe kein theologischer Lehrer ange¬
stellt werden dürfe. Die Kirche sei aber in ihrer obersten Behörde vertreten,
während der Minister ihnen im Gegensatze zu dem Ausgeführten den „religions¬
losen" Staat vertritt. Daß dieselben Stimmen sonst die Verstärkung der Kirchen¬
behörde durch den Synodalausschuß fordern, damit sie wirklich die Vertretung
der Kirche werde, mag unerörtert bleiben. Zur Begründung der Gerechtigkeit
ihrer Forderung verweisen diese Stimmen unablässig auf das entgegenkommende
Verfahren des Staates gegenüber der römischen Kirche, das mit seiner ableh¬
nenden Stellung zu berechtigten Forderungen der evangelischen Kirche in so trau¬
riger Weise kontrastire. Nun ist es gewiß tief zu beklagen, wenn der Staat der ka¬
tholischen Kirche gegenüber entgegenkommender ist, als der evangelischen. Aber
es wäre doch bei der gänzlichen Verschiedenheit beider Kirchen überaus verkehrt,
wenn man meinen wollte, daß dieselben Zugeständnisse, die der Staat der rö¬
mischen Kirche macht, regelmäßig auch für die evangelische Kirche eine Forde¬
rung bedeuten würden. Das gilt nun besonders von unserm Falle. In der
katholischen Kirche steht es allerdings so, daß nach ihrer Lehre die amtlichen
Träger der kirchlichen Rechtsordnung, die Bischöfe, beziehungsweise der Pabst,
vermöge der apostolischen Succession die Kirche unfehlbar vertreten, daß ihre
Stimme die Stimme der Kirche ist, daß ihrem Urteile sich die Glieder der Kirche
einfach ohne Prüfung zu unterwerfen haben, daß es außerhalb des Gebietes
ihrer Herrschaft kirchliche Organe gar nicht giebt. In der evangelischen Kirche
dagegen vertreten erstlich die Kirchenbehörden oder die kirchlichen Organe die
Kirche genau so weit, wie ihr kirchliches Handeln den aus dem Wesen des Evan¬
geliums sich ergebenden Anforderungen entspricht und die Prüfung an diesem Ma߬
stabe besteht. Zu solcher Prüfung ist aber jedes Glied der Kirche nach Ma߬
gabe seiner Befähigung in dem besondern Falle berechtigt. Das ist eine solche
Binsenwahrheit, daß es schwer begreiflich ist, wie man für die oberste Behörde
der evangelischen Kirche die Prärogative der Bischöfe in Anspruch nehmen
kann, daß, wenn sie gesprochen haben, die Kirche gesprochen hat. Zweitens ist die
Stellung der obersten Behörde einer evangelischen Kirchengemeinschaft der des
katholischen Episkopats darin ganz unähnlich, daß sie gar nicht die Gesamtheit
der kirchlichen Thätigkeit in sich vereinigt. Die freie Vereinsthätigkeit der
innern Mission z. B. ist trotzdem kirchliche Thätigkeit, und ihre Organe sind
trotzdem kirchliche Organe, obwohl sie nicht unter der Disziplin der kirchlichen
Behörde stehen. Obwohl die theologischen Fakultäten vom Staate begründet
und besetzt werden und die Kirchenbehörde kein Aufsichtsrecht über sie hat, sind
sie trotzdem kirchliche Organe. Denn die Vereinsarbeit der innern Mission wie
der Betrieb der Theologie auf der Universität sind Thätigkeiten, die für das
Leben der Kirche unentbehrlich sind. Von wein ihre Organisation in die Hand
genommen wird, ob von freien Vereinen oder vom Staate, das trägt nach
evangelischen Grundsätzen für den kirchlichen Charakter dieser Organisation nichts
aus. Er ist vorhanden, wenn die betreffende Aufgabe für die Kirche gilt und
wenn sie in geordneter Weise zum Segen der Kirche gelöst wird. Und daß
alle kirchlichen Thätigkeiten in der Hand einer Person oder eines Kollegiums
auch nur in Hinsicht der Aufsicht vereinigt würden, ist nur soweit etwas Wün¬
schenswertes, als es der Kirche frommt. Das heißt aber, es ist nicht wünschens¬
wert, weil sonst die Gefahr einer Mechanisirung des kirchlichen Lebens nach katho¬
lischem Muster drohen würde. Die oberste Kirchenbehörde hat auf evangelischem
Boden nur einen beschränkten Umfang von Aufgaben und demgemäß von Rechten,
nämlich zunächst die Aufsicht über das kirchliche Leben der Gemeinden, die zu
einer Landeskirche verbunden sind. Wenn man nicht zuerst die evangelischen
Grundanschauungen über Kirche, kirchliche Thätigkeit, kirchliche Verfassung ver¬
leugnen will, darf man sich also beim Falle Harnack auf die Analogie der katho¬
lischen Kirche nicht berufen. So einfach, wie der katholischen Kirche gegenüber,
ist es für den Minister nicht das Urteil der „Kirche" festzustellen. Wenn er
auf Grund des Vorschlages einer theologischen Fakultät einen Professor der
Theologie anstellt, gegen den die oberste Kirchenbehörde protestirt, so braucht
das so gewiß keine Vergewaltigung der Kirche zu sein, als auch die theologische
Fakultät ein Organ der Kirche ist so gut wie die oberste Kirchenbehörde.
Es fragt sich nun, welches von beiden Organen die Annahme für sich
hat, daß es zur Wahrung der kirchlichen Interessen in diesen<Falle berufener
sei. Nach einer Seite hin kann eine Kirchenbehörde vermöge ihrer besondern
Arbeit an der Kirche wohl in der Lage sein, über die kirchliche Qualifikation
eines theologischen Lehrers ein Urteil abzugeben. Wenn Schüler des Betreffen¬
den in ihrem Aufsichtsgebiete kirchlich thätig sind, so kann sie an ihnen den
Geist erkennen, mit dem ihr Lehrer sie erfüllt hat, ob sie durch ihn unlustig
und ungeschickt für die schweren Aufgaben des Pfarramts geworden sind, oder
ob sie Liebe zum Evangelium und Freudigkeit zur kirchlichen Arbeit beweisen.
Die Presse, die für den Oberkirchenrat eintrat und seine Anstöße verbreitete,
hat nichts davon verlauten lassen, daß dieser etwa bei den leitenden Organen
der Landeskirche des Großherzogtums Hessen, deren theologischer Nachwuchs
sieben Jahre lang durch Harnacks Schule gegangen ist, Erkundigungen einge¬
zogen, oder daß er etwa in Hannover oder Württemberg, wo zahlreiche Anhänger
der Theologie, die auch Harnack vertritt, im Pfarramte stehen, angefragt habe.
Vielmehr hat der Oberkirchenrat es dem Minister überlassen, das Votum der
theologischen Fakultät durch Informationen zu ergänzen, die er bei maßgebenden
Instanzen über die praktisch kirchlichen Früchte der Lehrthätigkeit Harnacks einge¬
zogen hat. Und auf Grund eben dieser Zeugnisse ist der Minister bei seinem
Entschlüsse, den Vorschlag der theologischen Fakultät anzunehmen, geblieben.
Der Oberkirchenrat hat sein ablehnendes Votum darauf gestützt, daß Harnacks
aus seinen Schriften zu erkennender theologischer Standpunkt ihn zum Lehrer
künftiger Geistlichen der evangelischen Landeskirche Preußens ungeeignet mache.
Es ist aber sehr die Frage, ob zur Abgabe eines solchen Urteils ein aus
Juristen und praktischen Theologen bestehendes Kollegium mehr berufe» sei als
eine theologische Fakultät. Der kirchliche Beruf der Theologie besteht in der
evangelischen Kirche nicht wie in der katholischen darin, die im Laufe der
Geschichte festgesetzte Summe vou Dogmen zur unantastbaren Voraussetzung
zu nehmen und die Wahrheit der autoritätsmäßig übernommenen Überlieferung
hinterher zu beweisen, wobei den geschichtlichen Thatsachen Gewalt angethan
wird und die Wissenschaft zur Advokatenkunst herabgewürdigt wird, sondern
darin, die Überlieferung daraufhin zu prüfen, ob in ihr das Evangelium seinen
zutreffenden Ausdruck gefunden habe, und diesen immer besser zu finden. Und ein
wesentliches Mittel hierfür ist die geschichtliche Erforschung nicht nur der kirch¬
lichen Entwicklung, sondern auch der Geschichte des Urchristentums, deren Urkunden
im Neuen Testament vorliegen, und der Religion Israels, deren Urkunde das Alte
Testament ist. Dabei ist es unvermeidlich, daß Vorstellungen zerstört werden,
die manchen infolge ihrer Erziehung oder theologischen Bildung mit dem
religiösen Leben untrennbar verknüpft erscheinen, obwohl sie dies keineswegs
sind. Auch die orthodoxesten Theologen können sich diesem Flusse der theologischen
Forschung so wenig entziehen, daß sie heute zu Ergebnissen gelangt sind, die
noch vor zwanzig Jahren von den damaligen Wortführern der Orthodoxie als
die Ausgeburten des krassesten Unglaubens gebrandmarkt wurden. So gewiß
nun auch der einfache Christ etwa über eine Predigt urteilen kann, ob sie das
Evangelium enthält oder nicht, so schwer ist es, ein gerechtes Urteil darüber
zu fällen, ob eine neue theologische Richtung der Kirche schädlich oder segens¬
reich sei. Und wer durch seinen praktischen Beruf daran gehindert wird, der
Bewegung der theologischen Wissenschaft wirklich zu folgen, der soll mit solchem
Urteil sehr zurückhaltend sein. Denn von der jedesmal herrschenden Richtung
ist noch immer jedes Neue, das später als segensreicher Fortschritt sich heraus¬
gestellt hat, als Abfall vom Glauben gebrandmarkt worden. Darum sind die
theologischen Fakultäten und nicht die mit praktischen Arbeiten überlasteten
Kirchenbchörden die berufenen Organe der Kirche, über den kirchlichen Wert
theologischer Forschungen zu urteilen.
Es kommt dazu, daß nach den Angaben der für den Oberkirchenrat ein¬
tretenden Blätter dieser gar nicht einmal weder Harnacks spezielle theologische
Leistung, seine Neugestaltung des Bildes der kirchlichen Entwicklung der ersten
Jahrhunderte, noch den allgemeinen theologischen Standpunkt, den er vertritt, im
ganzen beurteilt hat, wie es hätte geschehen müssen, um über die kirchliche
Qualifikation seiner Theologie und Geschichtsforschung zu urteilen, sondern daß
er sich begnügt hat, einzelne Anstöße hervorzuheben. Das ist eine Handhabung
des Bekenntnisses wie eines Gesetzbuches, die jeder auch ohne theologische Bil¬
dung und ohne persönliches religiöses Verständnis üben kann. So darf man
in der katholischen Kirche urteilen, nicht aber in der evangelischen, und man
darf es um so weniger, als an dem so aufgefaßten Bekenntnis gemessen auch
die Richter oder ihre nächsten Freunde nicht bestehen würden. Nimmt man
noch hinzu, daß die Anstöße des Oberkirchenrates an Harnacks Theologie einzelne
Negationen betreffen, die er mit vielen andern Theologen teilt, auch mit
solchen, die der preußischen Landeskirche angehören, und vergegenwärtigt man
sich die leidenschaftliche Agitation, die gewisse Blätter in Szene gesetzt haben,
so erkennt man, daß der Oberkirchenrat sich einer Partei, welche die kirchliche
Alleinherrschaft beansprucht, dienstbar gemacht hat. Die Prinzipienfrage, um
die es sich in dem „Falle Harnack" gehandelt hat, ist die, ob die Gegensätze innerhalb
der größten evangelischen Landeskirche Deutschlands durch Bötticher in gemein¬
samer praktischer Arbeit und durch geistigen Kampf oder durch den schließlich
doch fruchtlosen Versuch gewaltsamer Unterdrückung des einen Teiles überwunden
werden sollen. Der „Fall Harnack" war eine Machtprobe. Nicht der Ober¬
kirchenrat, sondern der Staatsminister, der alle formell und materiell berechtigten
Instanzen gehört und sich dem Urteil der materiell berufenen angeschlossen hat,
ist in diesem Falle der Vertreter der wahren Selbständigkeit der evangelischen
Kirche gewesen. Denn ein Bestandteil der letztern ist die Selbständigkeit der
evangelischen Theologie gegenüber dem Kirchenregimcnt, die auch nach dem
Urteil eines sogenannten konfessionellen Theologen wie des verstorbenen Erlanger
Hofmann für sie zur Erfüllung ihres kirchlichen Berufes notwendig ist. Gegen
den Oberkirchenrat aber konnte der Minister gar nicht loyaler handeln, als er
es gethan hat, indem er sich der Übereinstimmung des gesamten Staatsmini¬
steriums mit seiner Auffassung versicherte, daß das Votum des Oberkirchenrates
ihn nicht der Verantwortung entlaste, dasselbe auf seine kirchliche Berechtigung zu
prüfen, und indem er die Endentscheidung mit allem Material für und
wider in die Hände des Staatsoberhauptes und des Summepiskopus legte.
Der Ausgang des „Falles Harnack" wird segensreiche Folgen haben und
hat schon jetzt angefangen, sie bei der Partei hervorzubringen, die mit ihren
exklusiven Ansprüchen nicht durchgedrungen ist. Eins ihrer einflußreichsten
Organe hat angesichts dieses Ausganges die „positive" Theologie zur geistigen
Überwindung der „ungläubigen" Theologie aufgerufen. Wenn die erstere diesem
Rufe folgt und, anstatt zu denunzieren, zu widerlegen beginnt, so ist für die
Zukunft das Beste zu hoffen.
er Bestand der österreichischen Erdtaube, die zum deutschen Reiche
gehörten, obgleich ihr Verband mit ihm zum Teil ziemlich lose
war, da Böhmen und seine Nebenländer bekanntlich von der
Kreiseinteilung ausgeschlossen waren, blieb unverändert von der
Regierungszeit Ferdinands I. bis zum Ausbruche des dreißig¬
jährigen Krieges. Spaltungen und Teilungen des ausgedehnten Gebiets
kamen allerdings vor, aber doch nur unter den Mitgliedern des ErzHauses.
So zwang Matthias seinen Bruder, Kaiser Rudolf II., den großen Gelehrten
und Pferdekenner, aber schlechten Regenten, ihm nicht nur Ungarn, Mähren
und Österreich, sondern schließlich, gegen Ende seines Lebens, auch noch Böhmen
zu überlassen. Solange dann Matthias regierte, standen Steiermark, Kärnthen
und Kram unter der Herrschaft seines Vetters, des Erzherzogs Ferdinand, des
nachmaligen Kaisers Ferdinand II. Dieser wurde endlich von dem kinderlosen
Matthias wieder zum Erben der gesamten österreichischen Erdtaube eingesetzt.
Wie der Versuch, beim Regierungsantritte dieses Fürsten, Böhmen mit
seinen Nebenländern, Mähren, Schlesien und der Lausitz, von dem österreichischen
Gesamtstaate loszureißen, mißlang und nur dazu führte, daß alle im Majestäts-
bricfe gewährten Freiheiten und Rechte aufgehoben wurden, ist schon oben
erwähnt worden. Dieser Aufstand der Böhmen bereitete aber dennoch den
dauernden Verlust einer Provinz vor, die mehrere Jahrhunderte lang unter der
Herrschaft der Könige von Böhmen gestanden hatte, nämlich der Lausitz, oder
genauer zu reden, der beiden Markgrafentümer Nieder- und Ober-Lausitz. Diese
Lande waren, nach verschiedenen Besitzwechseln in älterer Zeit, teils durch Heirat,
teils durch Kauf unter die Herrschaft der brandenburgischen Markgrafen aus
dem Hause Askanien gekommen. Nach dem Aussterben dieses Heldenge-
schlechts hatte König Johann von Böhmen die Oberlausitz besetzt, und die
Sechsstädt< wie man damals sagte, Bautzen, Görlitz, Lauban, Löbau, Zittau,
Kamenz. hatten freiwillig seine Oberhoheit anerkannt (1320) und waren später
(1355) ganz dem böhmischen Staatsverbande eingefügt worden. Die eigentliche
Lausitz, später Niederlausitz genannt, war von Otto dem Faulen aus dem
bairischen Hause zunächst pfandweise (1361), dann endgiltig (1368) an die
Luxemburger abgetreten worden. Das Land war mit Böhmen an die Habsburger
gefallen. Die Versuche des zweiten Kurfürsten von Brandenburg, Friedrichs II.,
diesen alten Besitz der Askanier wieder mit der Mark zu vereinigen, waren im
ganzen fehlgeschlagen und hatten nur den dauernden Erfolg gehabt, daß einige
lausitzische Herrschaften, Kottbus, Pelz, Teupitz und Bärwalde, Zosfen, die
Anwartschaft auf Beekow und Storkow u. s. w., den Kurfürsten von Branden¬
burg überlassen wurden, und zwar wurden diese Gebiete nur als böhmische Lehen
abgetreten. Dieses Lehensverhältnis zu Böhmen wurde erst vollständig gelöst
nach Beendigung des ersten schlesischen Krieges durch den Präliminarfrieden zu
Breslau und den endgiltigen Frieden zu Berlin 1742.
^ Nach der Schlacht am weißen Berge besetzte Kurfürst Johann Georg I-,
der während des ganzen dreißigjährigen Krieges eine höchst schwankende Rolle
spielte und bald auf Seiten des Kaisers stand, bald gegen ihn kämpfte, die
beiden Lausitzer für das Haus Österreich. Seit 1623 behielt er sie mit Be¬
willigung Kaiser Ferdinands II. als Pfand für die von ihm aufgewandten
Kriegskosten, die auf 72 Tonnen Goldes berechnet wurden. Der Kaiser war
auch wegen der Notlage, in die ihn die reißenden Fortschritte des Schwedenkönigs
versetzten, nicht im Stande, an diesem Verhältnisse etwas zu ändern, als der
Kurfürst von Sachsen, zwar nur widerstrebend und halb gezwungen, ein Bündnis
mit Gustav Adolf abschloß und aus Seiten der Schweden am Kriege thätigen
Anteil nahm. Dieses Bündnis lockerte sich jedoch bald nach dem Tode Gustav
Adolfs, und in dem Sonderfrieden zu Prag (30. Mai 1635) trat Sachsen
wieder offen zum Kaiser über und verpflichtete sich, zur Vertreibung der Schweden
und Franzosen aus Deutschland mitzuwirken. Hierfür übertrug Ferdinand II.
die beiden Lausitzer endgiltig auf den Kurfürsten von Sachsen; das Lehnsver-
hältnis zu Böhmen wurde aber dem Namen nach beibehalten. Die weiteren
Schicksale dieses Landes sind dann mit denen von Kursachsen verknüpft. Öster¬
reich hatte eine Provinz abgetreten, die damals allerdings keineswegs von einer
Bevölkerung bewohnt war, welche auch nur in ihrer überwiegenden Mehrheit
deutsch gewesen wäre, welche auch heutzutage noch nicht einmal rein deutsch ist;
aber die geographische Lage dieses Landcsteiles, der sich bis in die Mitte
Deutschlands herein erstreckt, ist derart, daß durch seinen Besitz Österreich not¬
wendiger Weise in einem engern Zusammenhange mit dem eigentlichen Deutsch¬
land bleiben und durch dessen Interessen in einem weit höhern Maße berührt
werden mußte, als das später infolge der geographischen Lage seiner Pro-
vinzen der Fall war. Die Abtretung der Lausitz ist ein wichtiger Schritt auf
der Bahn der Gebietsentwicklung des Kaiserstaates, welche diesen immer mehr
auf die südöstlichen Grenzgebiete des alten Reichs beschränkte.
Die Verluste, die das deutsche Reich im westfälischen Frieden erlitt, der
endlich dem grausigen Morden und Verwüster ein Ende machte, durch welches
unser unglückliches Vaterland fast entvölkert worden war, waren zum großen
Teile durch die kaiserliche Hauspolitik verschuldet. Die vereinigten Provinzen
oder die freien Niederlande und die Gebiete der Eidgenossenschaft wurden als
selbständige und unabhängige Staaten anerkannt. Das sehr lose Band, das sie
bisher, mehr dem Namen als der Wirklichkeit nach, mit dem heiligen römischen
Reiche verknüpfte, war damit gänzlich durchschnitten. Inwiefern die Habsburger zu
dieser völligen Absonderung von zwei wichtigen Gliedern des Neichskörpers Ver¬
anlassung gegeben hatten, ist schon oben kurz dargelegt worden. Der gänzliche und
unbestrittene Besitz der drei lothringischen Bistümer und der drei gleichnamigen
Reichsstädte, Metz, Toul und Verdun, welche die verräterische Staatskunst des
sächsischen Moritz dem Könige von Frankreich in die Hände gespielt hatte, wurde
diesem Lande endgiltig bestätigt. Aber auch ein Teil der kaiserlichen Erdtaube fiel
dem unersättlichen Nachbarn im Westen zu. An Frankreich wurden abgetreten,
und zwar mit voller Souveränität, die österreichische Landgrafschaft Oberelsaß,
der sogenannte Sundgau, mit der Hauptstadt Ensisheim; die österreichische
Landgrafschaft Unterelsaß, auch die Landvogtei Hagenau genannt, ursprünglich
das in der Nähe von Hagenau (die Stadt gehörte nicht dazu) gelegene Gebiet
der über die zehn Reichsstädte des Elsaß gesetzten Neichsvögte; endlich der feste
Platz Breisach, der schon zu den Römerzeiten als Nein8 Lrisiaeus für einen mili¬
tärisch höchst wichtigen Punkt gegolten hatte, und dem man damals eine solche
Bedeutung beilegte, daß man die Festung als den „Schlüssel von Deutschland"
und „des heiligen römischen Reichs Kissen" bezeichnete. Die Stadt war bis in
die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts reichsfrei gewesen, war dann an Österreich
gefallen und gehörte damals zum Breisgau. Später, nachdem die Franzosen
ungefähr gegenüber an der linken Seite des Rheins die Festung Neubreisach
und den dazu gehörigen Brückenkopf, Fort Mortier, angelegt hatten, bezeichnete
man den Ort gewöhnlich als Altbreisach. Ferner wurde an Frankreich abge¬
treten die bisher dem Kaiser zustehende Landvogtei über die sogenannten zehn
freien Reichsstädte im Elsaß (krastve.to.rg, xrovillLialis ckoc-vro. vivitatuiu iro-
xorialmui). Von diesen zehn Reichsstädten liegen im Oberelsaß vier, nämlich
Kolmar, Münster im Gregorienthale, Kaisersberg, Türkheim; im Unterelsaß
sechs, nämlich Hagenau (wohl zubenannt an der Moder oder Moller), der
alte Lieblingsplatz Friedrich Barbarossas, der in der Stadt „im heiligen Forst"
eine prachtvolle Kaiserpfalz aufführen und dort die Reichskleinodien verwahren
ließ, Rosheim, Oberehnheim, Landau, Weißenburg an der Lauter, auch wohl
Kronweißenburg genannt, früher eine Benediktinerabtei, in der der fromme
Mönch Otfried seinen „Krist" gesungen hatte, bis in die neueste Zeit bekannt
durch die blutigen Kämpfe, die zwischen Deutschen und Franzosen bei und in der
Nähe dieser Stadt ausgefochten worden sind, und Schlettstadt. Daß diesen Städten
ihre bisherige Freiheit und ihr Verband mit dem Reiche gewahrt wurde, war
natürlich bloß ein Vorbehalt auf dem Papiere. Endlich erlangte Frankreich
noch das Besatzmigsrecht in der damals zum Hochstifte Speier gehörigen Festung
Philippsburg. Das war der zweite feste Platz auf der rechten Seite des Rheins,
der in die Gewalt des Erbfeindes kam.
Damit hatte Österreich seinen am weitesten im Westen gelegenen Besitz auf¬
gegeben; seine Gebietsentwicklung hatte in ihrer stetigen Bewegung nach Süd¬
osten hin einen weitem Schritt gethan. Damit hatte Osterreich aber auch zugleich
den Verlust des ganzen Elsaß für das Reich vorbereitet. Freilich waren in dem
Friedensinstrumente von Münster den übrigen Ständen jener Landschaft, nament¬
lich der „semper-freien" Reichsstadt Straßburg, alle ihre Freiheiten gewährleistet.
Aber welchen Wert hatte eine solche Gewährleistung gegenüber einem Ludwig XIV.
bei der Schwäche und Zerfahrenheit des Reiches, bei der Gleichgiltigkeit und
Teilnahmlosigkeit des Kaisers und Österreichs?
Dieser Staat besaß, abgesehen von den Waldstädten, dem Frickthale und einigen
kleinern Gebieten im Süden des Rheins, die jetzt zur Schweiz gehören, keinen
Fußbreit Landes, keinerlei Hoheitsrecht mehr auf der linken Seite des deutschen
Stromes. Ein Hausinteresse hatte der Kaiser im Elsaß Frankreich gegenüber
nicht mehr zu vertreten, und die Reichsinteressen spielten für die Habsburger
meistens gar keine, immer aber nur eine höchst untergeordnete Rolle. Diese auf
engherzigen Eigennutze beruhende Gleichgiltigkeit des Neichsoberhauptes gegen
die Verstümmelung des Reiches, dessen Mehrer allezeit zu sein er doch geschworen
hatte, verbunden mit der kleinlichen und neidischen Eifersucht auf den einzigen
Fürsten des Reiches, der gewillt und fähig war, den Gewaltübergriffen des Fran¬
zosenkönigs kräftig entgegenzutreten, den großen Kurfürsten, hat wesentlich, ja
fast allein den Verlust des gesamten Elsaß verschuldet.
Der übermütige französische Gewaltherrscher, der im Gefühle seiner ge¬
kränkten Allmacht den im großen Saale zu Versailles prangenden Wahlspruch
führte: lip Ro^ Kouvsrv.6 xg.r 1ni-in,LMS, der es liebte, sich den Sonnenkönig,
16 Ro^-LolmI, zu nennen und nennen zu lassen, hatte seinen ersten Raubkrieg
auf Grund des sogenannten Davolutionsrechtes begonnen. Für seine Räu¬
bereien im Elsaß und den angrenzenden Gebieten des Reiches erfand er die so
harmlos und unschuldig klingenden Namen der Reunionen. Da der 6rg,M
Uonaraus sich bei diesen Rennionen dnrch etwaige kleinliche Rücksichten und
durch Bedenken des bisher giltigen Völkerrechtes in keiner Weise beirren ließ, und
da sie außerdem durch die erforderliche Menge von Infanterie. Kavallerie und
Artillerie unterstützt wurden, so hatten sie einen geradezu glänzenden Erfolg, natürlich
von französischem Standpunkte aus betrachtet. Der schamlos brutale Überfall
Von Straßburg, der „wunderschönen Stadt" am Rheine, der Verrat, durch den
dieses Bollwerk des Reiches, das noch Kaiser Karl V. für wichtiger erklärt hatte
als selbst Wien, krönte diese in tiefem Frieden begangenen Räubereien, bei denen,
gleichsam zum Hohne, zu der nackten Gewaltthat noch eine Rechtsform hinzugefügt
wurde. Am 28. September 1681") wurde die alte Reichsstadt gewaltsam Frank¬
reich einverleibt, um erst genau 199 Jahre später, am 28. September 1870,
wieder ihre Thore den deutschen Siegern zu öffnen. Die Besetzung weiterer
deutscher Lande, Luxemburgs, Lothringens, Triers, folgte, und 1684 wurde
zu Regensburg vor Kaiser und Reich mit Frankreich ein Waffenstillstand
auf zwanzig Jahre abgeschlossen, nach welchem alle reunirten Gebiete mit
Einschluß von Straßburg Frankreich verbleiben sollten. Der dritte Raubkrieg,
in welchem die Werkzeuge des französischen Despoten, die Loureis, Mont-
clar, Melac, fast sich selbst an Barbarei übertrafen (Verwüstung der Pfalz), wurde
durch den Frieden zu Ryswik beendet. Ludwig gab die dem Reiche entrissenen
sonstigen Gebiete wieder heraus, behielt aber alle Neunionen im Elsaß und behielt
das geraubte Straßburg. Der Herzog von Lothringen, dessen Land bereits zweimal
in den Händen der Franzosen gewesen war, wurde wieder eingesetzt, und Österreich
erlangte für sich selbständige Vorteile. Im Frieden von Nymwegen, 1678, hatte
Frankreich auf sein Besatzungsrecht in Philippsburg verzichtet und sich dafür Frei¬
burg im Breisgau abtreten lassen. Diese Stadt sowohl wie Breisach wurden
jetzt zurückgegeben und traten von neuem unter die österreichische Herrschaft.
Auch für das Reich war es unstreitig von großem Nutzen, daß der Erbfeind
wenigstens keinen Waffenplatz als Stützpunkt für erneute Räubereien und Gewalt«
thaten auf dem rechten Ufer des Rheins mehr besaß.
Der spanische Erbfolgekrieg brach zwar das drückende Übergewicht Lud¬
wigs XIV., unter dem fast ganz Europa so schwer zu leiden gehabt hatte.
Frankreich war für lange Zeit militärisch und finanziell völlig erschöpft und
entkräftet. Aber der Hauptzweck der riesenhaften Anstrengungen und Kämpfe
war dennoch nicht erreicht. Spanien und seine überseeischen Besitzungen ver¬
blieben dem Hause Bourbon. Trotzdem hatte Österreich einen erheblichen
Länderzuwachs. Die sogenannten spanischen Nebenländer in Europa, mit Aus¬
nahme von Sizilien, fielen ihm zu: Neapel, Mailand und der südliche Teil der
Niederlande, die man bisher als die spanischen bezeichnet hatte, und die fortan
die österreichischen genannt wurden, etwa das heutige Belgien. Das war der
Nest des einst so großen und bedeutenden burgundischen Reichskreises. Von diesem
Neichskreise hatten sich zunächst die sieben durch die Utrechter Union verbundenen
Provinzen abgesondert; sie hatten in den folgenden Kämpfen einen Teil von
Brabant, Limburg, Flandern und von dem Obcrquartier von Geldern und die
Stadt Maastricht an sich gerissen, und der Besitz dieser Gebiete wurde ihnen
unter dem Namen „Generalitätslande" im westfälischen Frieden bestätigt. Durch
den sogenannten Barrisre-Vertrag von 1715 hatten sie noch eine Reihe von
festen Plätzen in ihre Gewalt gebracht. Andre Bundesteile hatte Frankreich
an sich gerissen: einen Teil von Luxemburg, die Grafschaft Artois, Teile von
Flandern, Hennegau und Namur. Der größere Teil des Oberquartiers von
Geldern war im Utrechter Frieden an Preußen gekommen. Der österreichische
Anteil bestand daher nur noch aus einem Teile des Herzogtums Brabant,
der Herrschaft Mecheln und aus Teilen von Limburg, Luxemburg, Geldern,
Flandern, Hennegau und Namur. Das Gebiet umfaßte immerhin noch 469
Quadratmeilen. Der Zusammenhang dieses Landes mit dem Reiche bestand
im vorigen Jahrhunderte thatsächlich noch darin, daß der burgundische Kreis
noch einen Assessor für das Reichskammergericht stellte. Auch die Verbindung
mit Österreich war höchst locker. Die Fürsten dieses Staates legten keinen Wert
auf einen Besitz, der ihnen die Last der Grenzhut gegen Frankreich aufer¬
legte; mehrfach versuchten sie sich desselben ganz oder teilweise zu entäußern.
Karl VI., der letzte männliche Sproß der deutschen Linie des Hauses Habs¬
burg und somit, da die spanische Linie bereits 1700 mit Karl II. ausgestorben
war, dieses Gesamthauses, richtete sein politisches Hauptstreben darauf, alle
die Länder, die die österreichische Monarchie bildeten, ungeteilt auf seine älteste
Tochter Maria Theresia übergehen zu lassen. Zu diesem Zwecke erließ er
eine neue Erbfolgeordnung, die allerdings in vielen Ländern dem bisher giltigen
Staatsrechte widersprach, unter dem Namen der pragmatischen Sanktion. Der
Kaiser setzte alles daran, diesem neuen Hausgesetze die Anerkennung womöglich
aller europäischen Mächte zu verschaffen. Das war aber bei der damaligen
politischen Stellung der Mächte unter einander nicht leicht. Zunächst schloß
Österreich zur Aufrechterhaltung jener Sanktion ein Bündnis mit Spanien.
Das rief das Gegenbüudnis von Herrenhausen zwischen England, Frankreich
und Preußen hervor. Preußen trennte sich bald davon und trat durch den
Vertrag von Wusterhausen wieder auf die Seite des Kaisers. Dann traten
die Wirren und Streitigkeiten über die polnische Thronfolge ein, die schließlich
zu einem mehrjährigen Kriege führten. Auf Betreiben Frankreichs hatte nach
dem Tode Augusts II. von Sachsen die Mehrheit des polnischen Adels den
frühern, entsetzten König Stanislaus Lesczynsky, der inzwischen Schwiegervater
Ludwigs XV. geworden war, gewählt. Osterreich und Rußland veranlaßten
die Wahl Augusts III. von Sachsen durch eine Minderheit. Nachdem der
Krieg von 1733 bis 1736 gedauert hatte, wurden im letzteren Jahre die Friedens¬
präliminarien eröffnet; es dauerte volle drei Jahre, bis diese endlich zu dem
Frieden von Wien führten, 1738. Stanislaus verzichtete zu Gunsten Augusts III.
auf den polnischen Thron und wurde entschädigt mit den zum deutschen Reiche
gehörigen Herzogtümern Lothringen und Bar. Diese Länder waren während
des Krieges von Frankreich besetzt worden, zum drittenmale in Verlauf von
etwa sechzig Jahren. Nach dem Tode des Exkönigs Stanislaus sollten die beiden
Herzogtümer endgiltig an Frankreich fallen. Dies trat im Jahre 1766 ein. Der
letzte Herzog von Lothringen, Franz Stephan, der ehemalige römische Kaiser Franz I.,
der inzwischen, den 12. Februar 1736, Gemahl der Maria Theresia geworden war,
erhielt als Ersatz Toskana, das durch das Aussterben des Hauses Medici, 1737,
erledigt war. Das Reich wurde bei diesen ganzen Verhandlungen, die eines
seiner Gebiete dem Reichsfeinde in die Hände spielte, nicht einmal befragt. Der
Kaiser opferte unbedenklich ein deutsches Land seiner Hauspolitik und seinem
Familieninteresse. Österreich gab wiederum ein Gebiet im Westen des Reiches
auf. Und was gewann der Kaiser, was gewann Österreich dabei? Dafür
verbürgte Frankreich die pragmatische Sanktion, eine Bürgschaft, die, wie sich
zwei Jahre später auf klarste herausstellte, nicht das Papier wert war, worauf
sie geschrieben war. Österreich behielt sich das höchst wichtige Recht vor, das
alte lothringische Votum am deutschen Reichstage weiterzuführen, das unter dem
Namen „Nomeny" aufgerufen wurde. Der Verlust von ganz Elsaß und ganz
Lothringen für das deutsche Reich durch die Habsburgische Hauspolitik war
damit vollendet worden.
Kaum hatte Karl VI. die Augen' geschlossen, als sich auch sofort zeigte,
welchen Wert jene mit so vieler Mühe zu fast allgemeiner Anerkennung gebrachte
pragmatische Sanktion thatsächlich hatte. Sofort traten drei Bewerber auf, die
entweder auf die ganze Erbschaft dieses Kaisers oder doch auf bedeutende Teile
derselben Anspruch machten. Das waren der Kurfürst Karl Albert von Baiern,
Philipp V. von Spanien und August III. von Sachsen. Nur die Ansprüche
des ersten Fürsten, der zudem niemals die pragmatische Sanktion anerkannt
hatte, waren nicht ganz unbegründet und wurden mit Ernst und Nachdruck
zur Geltung gebracht. Nach dem Testamente Ferdinands I., des Stammhauptes
der deutschen Habsburger, war seiner Tochter Anna, deren Nachkomme der
Kurfürst Karl Albert war, das Erbrecht auf die österreichischen Lande zuge¬
sichert für den Fall, daß die männliche Nachkommenschaft ihrer Brüder aus¬
stürbe. Der damals mit dem Kurfürsten von Baiern abgeschlossene Heiratsvertrag
stimmte hiermit überein. Von jenem Testamente hatte man in München jedoch
nur die Abschrift; in der zu Wien aufbewahrten Urschrift aber stand, statt
„männlicher," „eheliche Nachkommenschaft." Nun ist wohl durch die gründlichen
Forschungen Rankes unbestreitbar festgestellt, daß eine Fälschung in dem Originale
der Urkunde nicht vorgenommen worden ist. und an einen Schreibfehler in einem
so hervorragend wichtigen Schriftstücke darf man doch kaum denken. Aber dem
einfachen gesunden Menschenverstande muß der Text des Wiener Testamentes
immer ziemlich widersinnig erscheinen; denn da die etwaige außereheliche Nach¬
kommenschaft offenbar überhaupt nicht in Frage kommen konnte, und da durch
den betreffenden Zusatz die etwaigen Sprößlinge aus einer nicht standesgemäßen,
sogenannten morganatischen Ehe wohl schwerlich für erbfähig und erbberechtigt
erklärt werden sollten, so läßt sich überhaupt nicht begreifen, was der Zusatz
„ehelich" bedeuten soll, und welchen Zweck er hat. Jedenfalls darf man wohl
behaupten, daß der Kurfürst selbst fest davon überzeugt war, daß sein Erbrecht
völlig begründet war, und diese Überzeugung war nichts weniger als vereinzelt.
Dauernde Gebietsverluste brachte dieser Krieg Österreich jedoch nicht; allerdings
war der Kurfürst mit einem französisch-bairischen Heere in Oberösterreich und
dann in Böhmen eingedrungen und hatte sich in Linz und in Prag huldigen lassen;
auch hatten die Franzosen zeitweilig den größten Teil der österreichischen Nieder¬
lande besetzt. Aber bald gewannen die Heere der schönen Königin, für deren Auf¬
stellung die Ungarn in ihrer Begeisterung — man denke an das Noriairmr
xr» rexs nostro UÄrig. I^örssig, auf dem Reichstage zu Preßburg — die
größten Opfer brachten, wieder die Oberhand. Karl VII., wie er jetzt hieß,
wurde aus seiner Hauptstadt und seinem Lande verjagt und starb fast in Dürftig¬
keit. Sein Sohn, Maximilian Joseph, entsagte im Frieden zu Füssen allen
Erbansprüchen auf Österreich. Im Frieden zu Aachen wurden schließlich alle
Eroberungen gegenseitig zurückgegeben, und Maria Theresia verzichtete nur auf
den Besitz der italienischen Länder Parma, Piacenza und Gucistalla, aus denen
eine Secundogenitur für die spanischen Bourbonen geschaffen wurde.
Viel wichtiger und einschneidender, nicht nur für die Gebietsentwicklung
der kaiserlichen Erdtaube, sondern fast noch mehr für diejenige Preußens, und
somit auch für die gesamte Gestaltung der territorialen und politischen Ver¬
hältnisse in Deutschland und in Europa, war die gewaltsame Losreißung
Schlesiens von der Monarchie der Habsburger und die Vereinigung dieser herr¬
lichen Provinz mit dem machtvoll aufstrebenden Staate der Hohenzollern.
Durch welche Kriege der gewaltige Gegner Maria Theresias dieses schöne Land
eroberte und behauptete, die verschiedenen Friedensschlüsse, die ihm seinen Besitz
gewährten und bestätigten, sind aus der allgemeinen Geschichte zu bekannt, als
daß sie hier erwähnt zu werden brauchten. Über die Berechtigung der Erb¬
ansprüche Preußens auf Landesteile in Schlesien soll später das Nötige gesagt
werden. Österreich hatte damit ein Gebiet von fast 700 Quadratmeilen mit
etwa 1,400,000 Einwohnern dauernd eingebüßt. Es behielt von Schlesien nur
das Fürstentum Teschen, den südwestlichen Teil der Fürstentümer Reiße, Troppau
und Jägerndorf und einige kleinere Herrschaften, im ganzen etwas über 90 Quadrat¬
meilen. Als Joseph II. zum ersten Male diese Landesteile besuchte, bemerkte
er treffend: „Ich sehe, Preußen hat den Garten, und wir haben den Zaun
behalten." Außerdem mußte die Grafschaft Glatz, die zu Böhmen gehört hatte,
abgetreten werden, und mit ihr kam die damals für sehr wichtig geltende Festung
gleichen Namens in die Hände Preußens. Die Bevölkerung des für Österreich
verlorenen Gebietes war zwar keineswegs rein deutsch; in Oberschlesien, dem
heutigen Regierungsbezirke Oppeln, wohnten Polen in großer Anzahl, die so-
genannten Wasserpolaken; dazu kamen dann noch Tschechen und Hannccken,
jedoch nur in geringer Anzahl. Auch hatte Schlesien immer nur in einer ziem¬
lich lockern Verbindung mit dem deutschen Reiche gestanden, und zwar infolge der
Habsburgischen Hauspolitik, die dahin strebte, möglichst viele Erdtaube den,
wenn auch noch so geringen Beschränkungen zu entziehen, welche die verrottete
Verfassung des alten Reiches seinen Mitgliedern auferlegte, damit die Willkür
der Regenten in keiner Weise eingeengt würde. Einem der vormaligen Neichs-
kreise hat Schlesien ebenso wenig wie Böhmen jemals angehört; es bildete jedoch
staatsrechtlich einen integrirenden Bestandteil der Lande der Krone Böhmen,
und dieser Krone stand eine Kürstimme zu; das war alles, was Schlesien mit
dem Reiche verknüpfte, und das war nicht viel. Aber dennoch waren drei Viertel
der Bevölkerung dieser Provinz gute, echte und treue Deutsche, wie sie es noch
heute sind. Wie eng diese auch unter österreichischer Herrschaft mit dem Deutsch¬
tum zusammenhingen, wie fest Bildung und Gesittung unsrer Nation in ihnen
wurzelte, wie innig sie an dem Geistesleben derselben teilnahmen, das würden,
wenn es nicht sonst schon über jeden Zweifel erhaben wäre, allein schon die
beiden schlesischen Dichterschulen unwiderleglich beweisen. Diese deutschen Be¬
wohner Schlesiens bildeten, einerseits durch ihre Beteiligung an dem Geistes¬
und Kulturleben unsers Volkes, anderseits aber auch durch die geographische
Lage ihres Landes, gewissermaßen das Mittelglied, das die Verbindung Öster¬
reichs mit Mittel- und Norddeutschland aufrecht erhielt. Als dieses Mittelglied
aus dem bisherigen Verbände mit den kaiserlichen Erbländer völlig gelöst war,
hörte auch der Zusammenhang des Staates der Habsburger mit dem Teile
unsers großen Vaterlandes, der in jeder Beziehung, in politischer, militärischer,
wissenschaftlicher, gewerblicher u. s. w., fortan immer mehr und mehr die füh¬
rende Stellung einnahm, fast vollständig auf. Ein höchst wichtiger Schritt auf
der Bahn der Gebietsentwicklung, die Österreichs „Hinauswachsen" aus Deutsch¬
land herbeiführte, war vollzogen. Freilich kann man in diesem Falle nicht
behaupten, daß der Schritt freiwillig und ohne Widerstreben oder gar gern
gethan worden sei. Der endliche Wiedergewinn Schlesiens war in der kaiser¬
lichen Hofburg, bis in die allerneuste Zeit (1866) ein Lieblingsgedanke, dessen
Verwirklichung jetzt freilich wohl endgiltig aufgegeben ist. Über die Berechti¬
gung der Erbansprüche, die das brandenburgisch-preußische Haus auf schlesische
Lande hatte, kann man ja verschiedener Ansicht sein; die Thatsache, daß diese
Ansprüche schließlich mit den Waffen durchgesetzt worden sind, daß Österreich
mit Gewalt aus seinem bisherigen Besitze verdrängt worden ist, läßt sich jeden¬
falls nicht bestreiten. Daß aber Friedrich der Große diesen Ansprüchen that¬
sächlich Geltung verschaffte, wenn auch durch Berufung an die Ultimo ratio
rsssis, ist, vom deutsch-nationalen Standpunkte ausgesprochen, hocherfreulich; denn
durch eine dauernde Verbindung Schlesiens mit dem österreichischen Staate würde
das deutsche Element in dieser Provinz immer mehr bedrückt und zurückgedrängt,
geschwächt und beschränkt und endlich in seiner ganzen Existenz bedroht und
gefährdet werden. Das beweist ganz unwiderleglich die Umgestaltung des Ver¬
hältnisses der unter einander streitenden Nationalitäten, der Deutschen und der
Slaven, welche Böhmen, Mähren und Osterreichisch-Schlesien seit hundert Jahren
durchgemacht haben, und welche sich unter unsern Augen, wie es scheint un¬
widerstehlich, weiterhin vollzieht. Schlesien würde ganz unzweifelhaft das
Schicksal dieser Länder, mit denen es staatsrechtlich verknüpft war, geteilt haben,
nämlich die allmähliche Zurückdrängung und das, soweit Menschen urteilen können,
endlich unvermeidliche Verschwinden des Deutschtums.
Die Erwerbung weiter Gebiete der vormaligen Republik Polen bei der
ersten und dritten Teilung dieses unglücklichen Landes, nämlich der Königreiche
Galizien und Lodomerien, des Großherzogtums Krakau, der Herzogtümer Ausch-
witz (polnisch Oswiecim) und Zator für Osterreich, ebenso die Erwerbung der
Bukowina hatten auf das Verhältnis des Kaiserstaates zu dem eigentlichen
Deutschland keinen unmittelbaren Einfluß ausgeübt und sollen hier daher nur
kurz erwähnt werden. Das Reich des Doppelaars war dadurch bedeutend ge¬
wachsen, aber die Millionen von neugewonnenen Unterthanen (die Bevölkerung
jeuer Lande beträgt jetzt mehr als 6 Millionen) waren fast ausschließlich
Pole«, Ruthenen und Rumänier. Das Übergewicht der nichtdeutschen über
die Deutschen im Kaiserstaate, das vorher schon groß genug gewesen war, wurde
hierdurch bedeutend erhöht. Die Deutschen wurden immer mehr in die Minder¬
heit gedrängt, und so haben diese Erwerbungen mittelbar ungeheuer viel dazu
beigetragen, das Band zwischen Deutschland und Österreich zu lockern und das
gänzliche Ausscheiden des letzern aus ersterem vorzubereiten.
Während die Beziehungen der Lande des Kaisers zu Mittel- und Nord¬
deutschland sich immer mehr auf ein bloßes Ancincmdergrenzen beschränkten,
war seine Stellung zu den Staaten Süddeutschlands eine ganz andre, eine
wesentlich großartigere und einflußreichere. Dabei wirkten allerdings verschiedene
Gründe mit. Die Bevölkerungen der zahllosen, größtenteils jämmerlich unbe¬
deutenden Staatsgebilde in Oberdeutschland stimmte durch ihre Stammes- und
Wesenseigentümlichkeiten viel mehr mit den Deutschen in den kaiserlichen Staaten,
namentlich in den vorderösterreichischen Besitzungen, überein, als das bei den
ruhigeren, verschlosseneren, kühler denkenden, aber auch mit nachhaltigerer Energie
handelnden Norddeutschen der Fall sein konnte. Die meisten Fürsten mit ihren
winzigen, zum großen Teile sehr verarmten Gebieten, die verrotteten und in jeder
Beziehung zurückgegangenen Reichsstädte mußten in ihrer erbärmlichen Ohnmacht
und Hilflosigkeit irgend eine Stütze haben und klammerten sich daher krampf¬
haft an den Kaiserstaat an. Der im Süden unsers Vaterlandes so zahlreiche
Reichsadel, der trotz seiner ausgedehnten Besitzungen meistens ziemlich mittellos
und verschuldet war, stellte dem Kaiser den größern Teil seiner Minister, Diplo¬
maten und Heerführer; die jüngern Söhne dieses Adels dienten fast ausschließlich
im kaiserlichen Heere. Mehr noch als diese kleinen „Dynasten" gingen aber
die vielen geistlichen Fürsten und Herren mit Österreich, ihrer einzigen Stütze,
durch dick und dünn; sie gerade hatten durch ihr immer gleichmäßiges Ab¬
stimmen am Reichstage zu Regensburg: das „In omvibus Siout. ^.ustria" im vorigen
Jahrhundert geradezu sprichwörtlich gemacht. Alle diese Gründe aber erklären
noch nicht genügend, warum in allen wichtigen Fragen die meisten Länder
und Ländchen fast unbedingt, ohne Bedenken und Erwägen der österreichischen
Leitung folgten.
(Schluß folgt.)
as erste Haus, in das Goethe seine Christiane als Frau Geheim-
rätin von Goethe einführte, war das der Romanschriftstellerin
Johanna Schopenhauer. Ihr traute er die Größe der Gesin¬
nung und den Takt zu, als freiwillige Vermittlerin der Neuver¬
mählten die Aussöhnung mit der aristokratischen Gesellschaft
Weimars zu erleichtern. Johanna Schopenhauer war die Witwe eines Dan-
ziger Kaufherrn, der, als seine Vaterstadt 1793 preußisch wurde, alle Vorteile
eines festgegründeten Geschäftes und einer angesehenen Stellung aufgegeben hatte
und nach Hamburg übergesiedelt war, um reichsfreistädtischer Bürger bleiben
zu können. Hier war er im Jahre 1805 durch den Sturz aus einer hohen
Speichervffuung in den Kanal plötzlich ums Leben gekommen, und es ging das
Gerücht, daß er in einem Anfalle von Geistesstörung sich selbst den Tod ge¬
geben habe. Johanna hatte dem zwanzig Jahre älteren Gemahl nicht das junge,
warme Herz, sondern die Empfänglichkeit des jungen Verstandes entgegengebracht,
sie hatte ihn wohl verehrt, aber nicht geliebt. Als sie durch den Wegzug von
Danzig dem heimatlichen Boden entrissen wurde, drängte ihre geistige Beweg¬
lichkeit all ihr Sinnen und Denken immer mehr nach außen; der jungen, reichen
Frau war nur wohl auf Reisen. Da ihr Gemahl, um ihr gefällig zu sein und
weil auch er die alte Heimat vermißte, ihrer Neigung bereitwillig nachgab,
so verbrachte die Familie den größten Teil der zwölf Jahre, die ihr Ham¬
burger Leben ausmachten, auf der Wanderung durch England, Frankreich,
die Schweiz, Österreich, Preußen. Auch nach dem Tode ihres Mannes wechselte
Johanna ihren Wohnsitz so oft, daß sie immer auf Reisen zu sein schien. Ihr
außerordentliches gesellschaftliches Talent, ihre weit ausgebreitete Kenntnis der
Welt, ihre Sicherheit im Gebrauche fremder Sprachen machten ihr diesen
Wechsel des Wohnortes zum Bedürfnisse. Am längsten und am liebsten weilte
sie in Weimar, wo fortwährend eine Menge geistiger Größen auf kleinem
Raume wie im Kreuzungspunkte ihrer Bahnen zusammentrafen. Im Jahre 1819
verlor sie durch den Bankerott eines Danziger Handelshauses, dem sie nach dem
Tode des Gatten ihr Vermögen anvertraut hatte, zwei Drittel ihrer Einkünfte,
was einer vollständigen Verarmung ziemlich gleichkam, da sie zur Fortsetzung
einer kostspieligen Lebensweise und in der Bedrängnis der Kriegsjahre ihr
Stammkapital bereits stark vermindert hatte. Aber sie half sich, indem sie mit
aller Entschiedenheit und dem besten Erfolge die schriftstellerische Laufbahn
betrat. Die Weimarer rühmten die Eleganz ihres Auftretens in der Gesellschaft,
ihren klaren Verstand und ihre hohe Begabung, aber sie glaubten auch zuweilen
eine gewisse Härte in ihrem Urteil zu erkennen. Schön war sie nicht, aber
höchst anziehend, selbst im Alter, als ihr braunes Haar erbleicht, ihre blauen
Augen erkaltet und ihre schlanke Gestalt durch eine hohe Schulter entstellt war.
An der Seite dieser merkwürdigen Frau lebte eine der edelsten und anziehend¬
sten weiblichen Gestalten jener Zeit, ihre Tochter Adele. Solange die Mutter noch
in dem glücklichen Bewußtsein einer gesicherten Existenz glänzend von Ort zu Ort
zog, war sie sinnend und lernend gefolgt, hatte alle Keime vornehmer Welt¬
bildung aufgenommen und mit scharfem Verstände jede Faser ihres Wesens bis
zur höchsten Ausdauer und Feinheit angespannt. Als ihre Mutter verarmte
und sie selbst bei dem Danziger Bankerott den größten Teil ihres Erbes ver¬
lor, wandte sich die ganze Energie ihres Geistes auf die Ausgestaltung ihres
an sich schon durchgebildeten Charakters. Mit gewaltigem Flügelschlage erhob
sich ihr Denken über das Scheinwesen der Welt, aber ihr Herz löste sich nicht
los von der Erde. „Mein Herz ist schwer," schreibt sie an ihren Bruder, „aber
mein Sinn ist klar, ich weiß was ich will und was ich soll. Ich bin heiter,
denn die Natur hat mir unendlichen Trost gegeben." Selten ist so viel Selb¬
ständigkeit und so viel Weichheit der Empfindung in einem weiblichen Herzen
vereinigt gewesen. Sie konnte nicht heiraten, weil sie die Menschen'zu klar
durchschaute, aber sie war licbebedürftig wie ein Kind; sie verachtete das Leben
und sehnte sich nach dem Tode, aber sie benutzte jede ungetrübte Stunde, um
sich an dem Spiele des Lebens zu ergötzen. Selbst die Fehler ihrer Mutter,
deren Lust zur Verschwendung, deren schrankenlose Geselligkeit, deren Neigung,
sich nach der Mode jener Zeit in freundschaftlichen Beziehungen zu Männern
zu gefallen, hatten sie geläutert, sie war sparsam, zurückhaltend, selbständig.
Nur eine Freundin hatte sie, der sie ganz angehörte, Goethes Schwiegertochter
Ottilie. „Mein Weg ist hart und rauh," schreibt sie 1320 an den Bruder,
„aber meine Seele ist klar, und gewiß, mein Freund, ich werde nicht unglücklich
sein. Gebe nur Gott, daß ich bei Ottilien bleiben kann." So lange sie in
Weimar war, verkehrte sie viel in Goethes Haus, mußte ihm regelmäßig über
gelesene Bücher Bericht erstatten und gehörte zu seiner Mittwochsgesellschaft.
Aber gemütlich näher scheint sie dem Dichter nicht getreten zu sein.
Zu diesen Frauen gehörig und doch von ihnen durch eine tiefe Kluft ge¬
trennt war der Mann, dem diese Zeilen vorzugsweise gewidmet sind, der
Philosoph Arthur Schopenhauer. In den Jahren, wo der Knabe gewöhnlich
an die Schulbank des Heimatsdorfes oder der Heimathstadt gefesselt ist, durch¬
reiste er mit Vater und Mutter die meiste» Länder Europas, um „in dem Buche
der Welt lesen zu lernen," wie sein Vater sagte. Die nötigen litterarischen
Kenntnisse sammelte er gleichsam im Vorübergehen erst in einer französischen,
dann in einer deutschen Erziehungsanstalt. Dabei sog er die republikanische
Unabhängigkeit des Denkens und Handelns, der sich seine Eltern auf Reisen
gewiß mehr noch als daheim überließen, mit vollen Zügen ein. Als ein Zeichen
dieser innern Selbständigkeit darf es angesehen werden, daß der durch Reich¬
tum verwöhnte Knabe auf seinen Wanderungen über nichts eifriger grübelte,
als über das Elend der Menschen. Bis zum siebzehnten Jahre genoß er die
goldene Freiheit des Kindes, dann mußte er in Hamburg in die kaufmännische
Lehre treten. So wollte es sein Vater, der einen Erben und Nachfolger für
sein Geschäft brauchte. Aber als der Vater gestorben, die Hinterlassenschaft
geordnet war und der Jüngling auf einen beträchtlichen Vermögensanteil rech¬
nen konnte, regte sich in ihm die Lust zu studiren. Erst in Gotha, dann in
Weimar, wo seine Mutter wohnte, bereitete er sich auf die Universität vor.
In Weimar blieb er ein und dreiviertel Jahr, von Anfang 1808 bis zum
Oktober 1809. Es konnte nicht ausbleiben, daß er im Hause seiner Mutter
mit Goethe zusammentraf, aber nur an Gesellschaftsabenden unter vielen; näher
trat der Zwanzigjährige dem vielbegehrten reifen Manne noch nicht. Dazu
trug auch das unerquickliche Verhältnis bei, in dem er schon damals zu seiner
Mutter stand. Diese fühlte sich durch sein schroffes, rechthaberisches Auftreten
so sehr in ihrem vornehmen Behagen gehemmt, daß sie ihn nicht in ihr Haus
aufnahm, sondern ihn nur während des Mittagsmahles und an ihren Gesell¬
schaftsabenden bei sich duldete. Erst nachdem er in Göttingen und Berlin seine
Studien vollendet und auf Grund seiner Abhandlung: „Über die vierfache
Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde" zum Doktor der Philosophie
promovirt wordeu war, im November 1813, kehrte er zu einem länger»
Aufenthalte nach Weimar zurück, nicht um seiner Mutter nahe zu sein, von
der er sich innerlich immer mehr entfernte, sondern ohne Zweifel, um sich des
Umganges mit Goethe zu erfreuen. Bis zum Mai 1814 genoß er dieses Glück,
denn als ein solches erschien ihm schon der Anblick des großen Mannes.
Goethe war durch die Doktorschrift auf ihn aufmerksam geworden; besonders
hatte ihn das Kapitel über den Seinsgrund angesprochen, worin die Demon¬
stration der geometrischen Sätze durch bloße Anschauung gefordert wird. Die
Anschauung, das Experiment galt ja auch Goethe für den besten Beweis. So
knüpfte dieser denn gern mit dem jungen Philosophen einen innigen Austausch
der Gedanken an, und zwar weihte er ihn in seine Farbenlehre ein. War
diese doch das Gebiet, auf dem der Dichter zu einer sichern Methode der
wissenschaftlichen Forschung zu gelangen suchte und auf dem ihm gleichgesinnte
Denker sehr willkommene Weggenossen waren. Schopenhauer überließ sich mit
jugendlicher Begeisterung der Führung des geliebten Meisters und hat ihm
diese Verehrung trotz späterer Meinungsverschiedenheiten treu bewahrt bis zum
Tode. Goethe war einer der wenigen, die er nicht schmähte, und dies ist um
so merkwürdiger, als Goethe später sich ziemlich kalt und ablehnend gegen ihn
verhielt. Zum Teil läßt es sich freilich daraus erklären, daß Schopenhauer
großen Dichtern gegenüber sich nicht leicht zur Kritik hinreißen ließ. Auch
Shakespeare und Byron führt er nur an, wenn er ihnen beistimme. Aber
Goethe ist wie Kant und Plato und vielleicht mehr noch als diese ein Leit¬
stern seines Lebens, ihm fühlt er sich geistesverwandt, zu ihm kehren alle seine
Betrachtungen immer wieder zurück, wie zu einem Universalbeweise. Nur darf
man ihn nicht als Goethes Schüler und seine Philosophie nicht als eine Frucht
der Goethischen Forschungsmethvde hinstellen, wie es Hcirpf in seinem Aufsatze
„Schopenhauer und Goethe" (Philosophische Monatshefte von Schaarschmidt,
21. Band, 8. Heft, 1885) gethan hat. Sie berührten sich in ihrem Anschauen
und Denken, in Methode und Ergebnissen vielfach, aber sie wichen in den
wichtigsten Dingen auch sehr weit von einander ab. Vor allem war Goethe
nichts weniger als ein geschulter Philosoph. „Von der Philosophie habe ich
mich selbst immer frei erhalten, der Standpunkt des gesunden Menschenverstandes
war auch der meinige," sagte er drei Jahre vor seinem Tode zu Eckermann.
Und anderseits stand Schopenhauer in Bezug auf Feinheit der Beobachtung
der Natur sowohl, als auch des Menschenlebens weit hinter Goethe zurück.
Daran wird man sich immer erinnern müssen, wenn man beide vergleicht.
Als Schopenhauer Weimar verließ, schrieb ihm Goethe ins Stammbuch:
Willst du dich deines Wertes freuen,
Dann mußt der Welt du Wert verleihen.
Also gerade das Gegenteil dessen, was später den ethischen Kern von Schopen¬
hauers Philosophie ausmachte. Im metaphysischen Sinne ist allerdings eine
Berührung der beiderseitigen Grundansichten unverkennbar. Der Spruch streift
sehr fühlbar die idealistische Weltanschauung überhaupt, aber er streift sie nur,
den sichern Boden der Realität verläßt er nicht. So drückt schon diese Sen¬
tenz die Stellung Goethes zu Schopenhauer mit überraschender Deutlichkeit
aus. Ohne Zweifel waren über metaphysische und ethische Fragen zwischen
ihnen bereits Verhandlungen gepflogen worden.
Schopenhauer wandte sich nach Dresden. Hier schlössen sich die optischen
Studien, die er unter Goethes Leitung in Weimar gemacht hatte, zu einem
selbständigen und eigenartigen Endergebnis zusammen, das er in der AbHand-
lung „Über das Sehen und die Farben" niederlegte. Goethe hatte ihn zu
überzeugen gesucht, daß die Lehre Newtons, der weiße Lichtstrahl sei aus sieben
farbigen zusammengesetzt, die sich durch das Prisma auseinanderlegen und an
ihrer verschiedenen Brechung als besondre Strahlen erkennen ließen, einen
groben Irrtum enthalte. Eine wahrhaft unbefangene Forschung gelange viel¬
mehr zu dem Ergebnis, daß die physischen Farben einfach durch die Mischung
von hell und dunkel zu erklären seien, daß der weiße Sonnenstrahl eine
bestimmte Farbe annehme, wenn er durch ein trübes Mittel in ein klares oder
durch ein klares in ein trübes übergehe. So sei z. B. das Blau des Himmels
ein UrPhänomen, weil es zeige, wie der finstere Hintergrund und die erleuchtete
Atmosphäre zusammenwirkten, um eine reine Farbe hervorzubringen. Schopen¬
hauer ging auf diese Neukonstruirung der Farbenlehre bereitwillig ein, allein
er glaubte nicht daran, daß sich darauf ein haltbares System gründen lasse,
sondern fühlte sich durch alle die Goethischen Beobachtungen nur aufgefordert,
zu einer neuen Hypothese fortzuschreiten. Für ihn als echten Idealisten konnte
es nur eine physiologische oder psychologische Lösung des Problems geben,
und so fand er denn, daß das Sehen außer uns befindlicher Gegenstände sich
hauptsächlich durch die Thätigkeit des Verstandes vollziehe, ferner daß die
Farben im Auge durch eine qualitativ und quantitativ verschiedene Reizbarkeit
der Netzhaut entstehen; er stellte sogar eine in Zahlen ausgedrückte Skala auf,
welche zur Erklärung der einzelnen Farben dienen sollte. Newtons sieben¬
teiliges Farbenspektrum verwarf er, gab aber zu, daß aus der vollkommenen
Deckung zweier komplementären Farben, z. B. des Blauen und Gelben, Weiß
hervorgehe. Im Herbst 1816 war die Arbeit vollendet, und Schopenhauer
schickte das Manuskript an Goethe, der es auf einer Rheinreise, in Wiesbaden,
erhielt. Es läßt sich denken, daß Goethe nicht sonderlich davon erbaut war.
Die Verlegung des gegenständlichen Sehens in die Verstandesthätigkeit, sowie
die ausschließlich physiologische Erklärung der Farben ließen ihn kalt, die
nachträgliche Annäherung an Newton verletzte ihn, doch ermutigte er in höf¬
lichen, ja herzlichen Worten den jungen Freund zu fortgesetztem Studium der
Farbenlehre. Seine große Empfindlichkeit gegen jeden Widerspruch hat er in
zwei Epigrammen zum Ausdruck gebracht, die wahrscheinlich auf Schopenhauer
Bezug haben:
Truge gern noch länger des Lehrers Bürden,
Wenn Schüler nur nicht gleich Lehrer würden.
und:
Dein Gutgcdachtes in fremden Adern
Wird sogleich mit dir selber hadern.
Anfangs versuchte er brieflich den jungen Freund zu bekehren; als ihm dies
nicht sogleich gelang, schrieb er ihm, er sehe nur allzudeutlich, „wie die Menschen
zwar über die Gegenstände und ihre Erscheinung vollkommen einig sein können,
daß sie aber über Ansicht, Ableitung, Erklärung niemals überein kommen
werden, selbst diejenigen nicht, welche in Prinzipien einig sind, denn die An¬
wendung entzweit sie sogleich wieder." Damit schickte er das Manuskript zurück,
das dann zur Ostermesse 1816 im Druck erschien. Als Goethe das gedruckte
Exemplar vor sich hatte, schrieb er an Staatsrat Schulze: „Dr. Schopenhauer
ist ein bedeutender Kopf, den ich selbst veranlaßte, weil er eine Zeit lang sich
in Weimar aufhielt, meine Farbenlehre zu ergreifen, damit wir in unsern
Unterhaltungen einen quasirealen Grund und Gegenstand hätten, worüber wir
uns besprachen, da ich in der intellektuellen Welt ohne eine solche Vermittlung
gar nicht wandeln kann, es müßte denn auf poetischem Wege sein, wo es sich
ohnehin von selbst giebt. Nun ist dieser junge Mann, von meinem Stand¬
punkte ausgehend, mein Gegner geworden. Zur Mittelstimmung dieser Differenz
habe ich auch wohl die Formel, doch bleiben dergleichen Dinge immer schwer
zu entwickeln."
Weder die Goethische noch die Schopenhauersche Theorie sind zu allge¬
meiner Anerkennung in fachgelehrten Kreisen gelangt. Fast drei Viertel eines
Jahrhunderts sind verflossen, seit Goethe sich über Schopenhauer beklagte, und
noch immer behauptet Newton das Feld.
In Dresden begann und vollendete Schopenhauer das Hauptwerk seines
Lebens „Die Welt als Wille und Vorstellung."*) Er war achtundzwanzig
Jahre alt, als diese gewaltige Schöpfung aus dem tiefsten Grunde seines
Geisteslebens hervortrat. Nicht plötzlich, nicht zufällig, nicht willkürlich und
künstlich zusammengesetzt. Die Elemente seines Systems waren „gewissermaßen
ohne sein Zuthun, strahlenweise wie ein Kristall zu einem Zentrum konvergi-
rend zusammengeschossen." Mit Recht wird Schopenhauer der letzte große
Philosoph seit Kant genannt. Er allein hat es vermocht, die Lehre Kants in
ihrer ganzen Erhabenheit, befreit von allen An- und Vorhanden zu zeigen, er
allein ist einen Schritt weiter gegangen, ohne in Phrasen und abstrakten Wort¬
kram zu versinken. Freilich ist er dogmatisch wie irgend einer, seine Lehre ist
Hypothese wie die Darwins, aber sie hat ebensoviel Überzeugungskraft wie
diese. Raum und Zeit, hatte Kant gesagt, sind Formen unsrer Anschauung,
die wir aller Erfahrung erst entgegenbringen und unabhängig von den Dingen,
Ä xriori in einer besondern Wissenschaft, der Mathematik, konstruiren können,
die aber auch eben deshalb nichts mit dem Urwesen der Welt, dem „Dinge an
sich" zu thun haben; dasselbe gilt von Ursache und Wirkung, denn auch diese
Begriffe sind Denkformen, die nie zur Ruhe kommen und nie zu einem Ruhe¬
punkte gelangen können. Schopenhauer geht noch weiter. Raum, Zeit, Zahl,
Ursache und Wirkung sind ihm uur die Formen unsers Gehirndenkens, Formen
eines körperlichen Organes gleich denen des Sehens, Hörens, Fühlens, Schmeckens
und Riechers, Formen, die dem Menschen von der Natur gegeben sind, damit
er sich in der Welt zurecht finde, seine Bedürfnisse befriedige und sein Geschlecht
fortpflanze; alle Versuche, über diese einzige Bestimmung der Gehirnthätigkeit
hinauszugehen, führen nie zu einem Endresultate, alles Forschen, Glauben,
Meinen, alle metaphysischen, ästhetischen, wissenschaftlichen Spekulationen, die
das Maß des Bedürfnisses überschreiten, sind strenggenommen schon ein Mi߬
brauch dieser Denkkraft, die nichts als ein Mittel zur Orientirung ist. Aber
liegt nicht dem Denken das Selbstbewußtsein, das unsterbliche Menschen-Ich
zu Grunde? Gewiß, aber das Leben, das dem Selbstbewußtsein vorangeht und
dieses erst erzeugt, ist nicht an das Denken gebunden, es wohnt dem Brausen
des Sturmes, dem Wogen des Meeres, dem Züngeln des Feuers, dem Lispeln
der Blätter, dem Ächzen des Holzes, dem Glänze des Metalles, der stillen
Schönheit der Blume, dem Knurren unsers Magens und der unbestimmten
Angst unsers Herzens ebenso inne, als dem Notschrei des Tieres und der
logisch geordneten Rede des Menschen. Nur die Form ist verschieden. Aber
in der Individualität, im Ich, vom pedantisch regelmäßigen Krystall bis zum
freiwaltendeu Machtbcwußtsein des großen Staatsmannes, Helden und Ge¬
lehrten, ist der Weltknoten, die wunderbare Verknüpfung von Wollen und
Erkennen, der Pol im ewigen Flusse des Werdens, der mathematische Punkt,
in dem Ruhe und Bewegung in eins zusammengehen. Dieses Ich, dieses Alles
ist trotzdem ein Nichts, denn es existirt nicht für sich, sondern für die Gattung.
Von dieser wird es getragen, geschmückt, erhalten, gesteigert, so lange es ihr
dienen kann, und aufgegeben, sobald es diesen Dienst geleistet hat oder sobald
mechanische, chemische, psychische Mächte es energisch bekämpfen. Für die
Gattung lebt das Individuum, für diese pflanzt es sich fort in der Zeugung,
in diese versinkt es im Tode, freilich nur scheinbar, denn auch die Gattung ist
nichts ohne die Individuen, und der sinkende Tropfen berührt nur die Ober¬
fläche der wallenden Flut, um sich sogleich wieder zu erheben, ein andrer und
doch derselbe, ohne Bewußtsein des Vergangenen und doch ohne Unterbrechung
mit ihr verbunden, wie das Heute mit dem Gestern durch den erquickenden
Schlaf. Denn was ist, kann nicht vergehen. Im Lichte des allen Scheines
entblößten Seins giebt es nur Gegenwart, nicht Vergangenheit und Zukunft.
Alle diese Gedanken haben, so scheint es, eine stark materialistische Färbung,
aber es scheint nur so, in Wahrheit deute« sie bereits auf den idealen Kern¬
punkt der Schopenhcmerschen Metaphysik hin. In aller Erkenntnis, beziehe sie
sich nun auf die äußere oder die innere Erfahrung, lassen sich zwei Faktoren
unterscheiden, das Erkennende und das Erkannte, Subjekt und Objekt. Diese
Bestandteile aller Erkenntnis sind aufs engste verbunden, sie sind untrennbar.
Aber im Selbstbewußtsein entdecken wir noch etwas, das aus derselben dunkeln
Tiefe hervortritt, wie . das erkennende Subjekt, ja das mit diesem in einem
Punkte zusammentrifft, den Willen. Jede Bewegung unsers Körpers ist ein
Willensakt, unser ganzer Körper nichts als der sichtbare Ausdruck des Willens
in uns, die Grenze desselben in der Erscheinung. Und was wir in und an
uns wahrnehmen, warum sollte es sich nicht ebenso im Tiere, in der Pflanze,
im Steine, in den physikalischen und chemischen Gesetzen, in den Elementen
offenbaren? Ohne Zweifel deutet der in unserm Bewußtsein vorhandene Wille
nicht nur vorwärts in die Welt der Erscheinungen hinaus, sondern auch rück¬
wärts in die Welt des wahren Seins, die hinter dem Weltknoten des indivi¬
duellen Bewußtseins liegt. Der Mensch selbst ist nur eine Stufe der Objek-
tivation, d.i. der Verkörperung, der Offenbarung des Urwillens, eine andre
ist das Tier, eine andre die Pflanze, eine andre der Stein, der Weltkörper,
das Licht, die Physische und chemische Kraft. Auf allen diesen Stufen offen¬
bart sich der eine Wille zugleich, auf jeder ganz, in jedem Individuum unge¬
teilt. In der unorganischen Welt gefällt er sich in den Qualitäten der Materie,
die selbst nichts ist als die Grenze des Willens in der Erscheinung überhaupt;
in der organischen Welt spielt er mit der Form; in den physikalischen und
chemischen Prozessen legt er sich die strengste gesetzliche Gebundenheit auf, in
den höher organisirten waltet er in immer größerer Freiheit. Eins ist ihm
so wichtig wie das andere, jedes Wesen, jede Kraftäußerung, jeder Vorgang
ist seine Erscheinung. Aus dem Urnebel ballt er sich zu Weltenkörpern zu¬
sammen, durchdringt sie als Wärme, bricht als Licht daraus hervor und um¬
kreist die Licht- oder Wärmequelle, die er selbst ist, als eine Schar von Planeten.
Er steigt als Berg aus der Erde hervor und erfüllt die Tiefe mit Wasser,
um zu fließen. Er verwittert zu Humus, um die abgekühlte Erdrinde zu
seinem Tummelplatze zu machen. Er sproßt als Pflanze daraus empor, um
alle Elemente zugleich zu genießen, Erde, Wasser, Licht und Luft, er wird
ganz Gefühl des Weichen als Wurm, ganz Behagen im Luftmeer als Vogel,
er taucht in die Flut als Fisch, jagt jauchzend über die weite Erdfläche als
Roß, klettert an sich selbst empor als Eichhörnchen und schreitet als Mensch
durch die irdische Schöpfung, um sich wie in einem Spiegel selbst zu betrachten.
Der UrWille kennt kein Werden, kein Vergehen, er ist, und darum ist er un¬
veränderlich, unvergänglich. Von der Wurzel bis zur Blüte bleibt sich die
Pflanze gleich in ihrem Wesen, das Tier stirbt, so wie es geboren wird, und
der kleinste Charakterzug im Kinde ist unverändert im Greise wiederzufinden.
Die Zwecke mögen sich ändern, die Mittel auch je nach den Wechselfällen und
dem Zwange des Lebens, aber das Wesen des Individuums ändert sich ebenso
wenig wie das Wesen der Gattung. Das ist der intelligible Charakter, von
dem schon Kant überzeugt war, wohl zu unterscheiden von dem empirischen,
der sich dadurch ausbildet, daß das Individuum die Mittel und Wege den
Verhältnissen anpaßt, aber ohne von seinem innersten Wollen auch nur ein
Haar breit abzuweichen. Und unvergänglich ist der Wille. Er ist da, solange
er will. Er hat eine Ewigkeit hinter sich und eine Ewigkeit vor sich, wenn er
erscheint; er überdauert den Tod, wie er den Schlaf überdauert, und die un¬
nützeste Sorge, die sich ein Mensch machen kann, ist die, daß er untergehen
konnte, solange er leben will. Aber wo liegt die Wurzel des UrWillens, wie
er sich in der Natur darstellt, wo ist das UrWesen? Auf diese Frage schweigt
Schopenhauer, er will das undurchdringliche Dunkel, aus dem unser selbst¬
bewußter Wille wie ein leuchtender Diamant hervorragt, nicht durch müßige
metaphysische Gcdankenspielereien zu lüften versuchen, er begnügt sich damit,
den Willen entdeckt zu haben.
Aber was er auf metaphysischen Wege verschmäht, versucht er doch noch
auf ethischem Gebiete. Hier waren die indischen Weisen seine Lehrer und ihre
Schriften, 0vxn6kath.t und die Neben, seine heiligen Bücher. Die Welt in
Raum und Zeit, die Welt der Erscheinungen ist zugleich die Welt des
Scheines, der trügerische Schleier der Maja. Alle Freuden sind Täuschung, real
ist nur das Elend. Und das Elend ist die notwendige Folge der Schöpfung
in Raum und Zeit, denn auf jeder Stufe der Wesen und in jedem Indi¬
viduum kann das eine Urwesen seinen Willen nur durchsetzen, indem es andre
Willensakte beschränkt, d. h. sich selbst verzehrt oder verdrängt. Daher der
fortwährende Streit um die Materie. Schon daß ich bin, verkümmert andern
den Spielraum des Lebeus; im fortwährenden Kampfe muß ich mich erhalten
und wofür? Für den Tod, d. h. für den Untergang meines individuellen Be¬
wußtseins. Dies ist der berühmte und berüchtigte Pessimismus Schopenhauers.
Die einzige Rettung des denkenden Menschen in dieser Welt trügerischer
Hoffnung und grenzenlosen Elends ist das Mitleid mit allen Geschöpfen. Dieses
Mitleid ist der Wurzelstock aller Sittlichkeit und der deutlichste Beweis für
die Einheit des Weltwillcns, denn für etwas, was mit mir selbst im innersten
Grunde nicht wesensgleich wäre, könnte ich kein Mitleid haben. I'vüirr g.si,
das bist du, ist die Lehre der Brahmanen über das Verhältnis des Menschen
zu allen Geschöpfen. Aber das Elend der Welt hat seinen letzten Grund im
UrWesen selbst, das aus seinem Jndisfercnzpunkte, dem „Nirwana" — dem
„Nichts" nach unsrer oberflächlichen Ausdrucksweise, die übersieht, daß es ein
Nichts gar nicht geben kann — herausgetreten ist und sich durch Polarisation
in Ruhe und Bewegung mit sich selbst entzweit hat. Diese Selbstentzweiung
des Urwesens kommt in den Individuen am empfindlichsten zum Ausdruck.
Der Wille zum Leben drängt in unersättlicher Hast von Wunsch zu Wunsch
und muß sich mit dem Schein begnügen, der nie befriedigt, nie beruhigt. Da
auch der Tod, obgleich er reinigt, führt und zur Verjüngung überführt, diesen
Willen zum Leben nicht bewältigen kann, nur eine kurze Pause in der Jagd
nach dem Glücke ist, so bleibt nichts übrig als den Willen zum Leben selbst
zu überwinden. Dies ist Schopenhauers berühmte „Verneinung des Willens
zum Leben." Sie wird erlangt durch die Einsicht, daß die Schöpfung in
Raum und Zeit ein sinnliches Gaukelspiel, das individuelle Leben wertlos und
die ewige Ruhe im indifferenten Gründe des Seins, im „Nirwana," das einzig
Wünschenswerte sei. Sie wird vollzogen durch eine ascetische Überwindung der
Welt, durch Verzichtleistung auf alle irdischen Wünsche, durch freiwillige Über¬
nahme aller Leiden der Erde. Der Weltüberwinder stirbt, ehe der leibliche
Tod eintritt und sinkt für ewig hinab in den von allem Streben und allem
Schein abgewandten Urgrund der Wesen. Es liegt auf der Hand, daß diese
ascetische Seite der Schopenhauerschen Ethik verwandt ist mit der weltent¬
sagenden Tendenz des neuen Testaments. Daher ist ihm auch Christus, der
menschgewordene Gott, der leidende Überwinder der Sünde und der Not, wohl
verständlich. Aber was ist für ihn die Gottesidee, wo bleibt der schaffende,
erhaltende, rettende Gott? Schopenhauer verweist die Idee des persönlichen
Gottes kurzer Hand in das Glaubensgebict, man könnte auch sagen, in das
Gebiet der Mythologie, verwahrt sich aber entschieden dagegen, daß dieser
Begriff auf eine metaphysische Giltigkeit Anspruch machen könne. Der Begriff
des persönlichen Gottes sei jüdischen Ursprunges und im neuen Testamente nur
unter Akkomodation an die jüdische Auffassung festgehalten worden, leide aber
an innern Widersprüchen, die weder die Autorität der Kirche noch die grübelnde
Dogmatik zu lösen vermöge. Ein allmächtiger Schöpfer, der aus eignem
Antriebe eine Welt voll sündlicher Triebe und unverschuldeter Not ins Dasein
gerufen habe, könne unmöglich seine eignen unvollkommnen Geschöpfe verant¬
wortlich machen und dem grenzenlosen Elend ruhig zusehen, ohne mit seinen
übrigen göttliche» Eigenschaften, der Allweisheit, Allgüte, Allgerechtigkeit in
Konflikt zu gerate». Die biblische Erklärung der göttlichen Vorsehung: Meine
Gedanken sind nicht eure Gedanken und meine Wege sind nicht eure Wege,
sind für ihn, den Kritiker und MetaPhysiker, nur die Bloßlegung, nicht die
Lösung des Rätsels. Deshalb weist er die Idee des persönlichen Gottes aus
der Philosophie hinweg und lobt die Buddhisten, welche von dem jüdisch¬
christlichen Gotte nichts wissen wollen.
Und doch hätte Schopenhauer, der der christlichen Weltanschauung so nahe
steht, wie kaum ein andrer Philosoph, die Gottesidee sehr leicht anch auf seinem
Wege finden können. Zwischen die beiden Pole des Weltganzen, die ewige
Nuhe und den ruhelosen Willen zum Leben setzt er als Mittler und Ausgleichcr
die Platonischen Ideen, d. i. die Gattungsbegriffe als reine Anschauungsformen,
die Urbilder der Wesen. Es sind die Pforten, durch die hindurch der zügel¬
lose Wille zum Leben ans dem Grunde des Seins in die Welt der Erschei¬
nung hinaus stürmt, und unverrückbar stehen sie über dem Strome des Werdens
wie der Regenbogen über dem Wasserfalle, wie der Lichtstrahl, der auf ein
rollendes Rad fällt. Nur dem Auserwühlten, dem es gelingt, mittels eines
hochgesteigerten geistigen Lebens oder in der weihevollen Stimmung kindlicher
Naivität alle irdischen Wünsche, alle Beziehungen der Dinge auf seine enge
Persönlichkeit zum Schweigen zu bringen, ist es vergönnt, diese Urbilder arm-
schauen: dem wahren Künstler, dem Andächtigen, dem Mitleidigen. An ihnen
bewährt es sich: Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott
schauen. Nun ist aber das höchste dieser Urbilder die Idee der Menschheit,
oder sagen wir besser die Idee der vernünftigen Wesen, alle andern sind ihr
untergeordnet und so abhängig von ihr, daß, wenn die Menschheit unterginge,
alle andern Naturreiche nachfolgen müßten, wie der Mystiker Angelus Silesius
in seiner unheimlichen Überschwenglichkeit selbst Gott vom Menschen abhängig
macht:
Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben:
Werd ich zu nicht, er muß vor Not den Geist aufgeben.
Erwägt man ferner, daß Schopenhauer jeder Offenbarung des UrWesens das
volle, ganze und ewige Sein zuschreibt, so steht nichts im Wege, seine Idee
der vernünftigen Wesen mit der Gottheit gleichzusetzen, der die Gestaltung,
Erhaltung und Leitung der Menschheit und damit die Herrschaft über die sicht¬
bare Welt zufiele. Diese Gottheit wäre nicht verantwortlich für die Sünde
und die Not der Welt, sie wäre darüber erhaben und stellte dem blinden Willen
zum Leben das Ideal der Vernunftwesen entgegen. So zöge sie den strauchelnden
und leidenden Menschen von der Welt ab und zu sich hinan. Damit wäre
aber auch der Pessimismus vernichtet, denn in der erziehenden Thätigkeit der
Gottheit läge die Bürgschaft für eine allmähliche Vervollkommnung der Welt.
Schopenhauer ist nicht bis zur Gottesidee vorgedrungen, es erging ihm
vielmehr wie meist den Dogmatikern: er sprach den Grundgedanken aus und
lehnte die Folgerungen ab. Aber demungeachtet ist seine Philosophie ein ge¬
waltiger Bau, der immer von neuem Anlaß zu ernsten Forschungen geben
wird, und dies um so mehr, als der Unterbau auf dem Boden einer außer¬
ordentlich scharfen Kritik steht, die das für wahr erkannte ohne Zögern und
ohne Vorbehalt ausspricht.
Nach mehr als zweijähriger angestrengter Arbeit war das große Werk
vollendet, noch vor dem Ende des Jahres 1818 konnte es veröffentlicht werden.
Schopenhauer wartete die letzten Aushängebogen nicht ab, er eilte nach Italien, um
sich zu erholen. In Neapel erhielt er (März 1819) einen Brief von seiner
Schwester Adele. „Nun laß uns von Deinem Werke reden," schreibt sie.
„Goethe empfing es mit großer Freude, zerschnitt gleich das ganze dicke Buch
in zwei Teile und fing augenblicklich an, darin zu lesen. Nach einer Stunde
sandte er mir beiliegenden Zettel und ließ sagen: er danke Dir sehr und glaube,
daß das ganze Buch gut sei. Weil er immer das Glück habe, in Büchern
die bedeutendsten Stellen aufzuschlagen, so habe er denn die bezeichneten Seiten
(S. 320 u. 21, S. 440 u. 41) gelesen und große Freude daran gehabt. Wenige
Tage darauf sagte mir Ottilie, der Vater sitze über dem Buche und lese es
mit einem Eifer, wie sie noch nie an ihm gesehen. Er äußerte gegen sie: auf
ein ganzes Jahr habe er nun eine Freude; denn nun lese er es von Anfang
zu Ende und denke wohl soviel Zeit dazu zu bedürfen. Dann sprach er mit
mir und meinte, es sei ihm eine große Freude, daß du noch so an ihm hingest,
da ihr euch doch eigentlich über die Farbenlehre veruneinigt hättet, indem dein
Weg von dem seinen abginge. In diesem Buche gefalle ihm vorzüglich die
Klarheit der Darstellung und der Schreibart, obschon Deine Sprache von der
der andern abweiche und man sich erst gewöhnen müsse, die Dinge so zu nennen,
wie Du es verlangst. Habe man aber einmal diesen Vorteil erlangt und wisse,
daß Pferd nicht Pferd, sondern vadMo, und Gott etwa alö oder anders heiße,
dann lese man bequem und leicht. Auch gefalle ihm die ganze Einteilung gar
wohl. Nächstens hoffe ich ihn wieder allein zu sprechen; vielleicht äußert er
etwas Befriedigenderes. Wenigstens bist Du der einzige Autor, den Goethe
auf diese Weise mit diesem Ernste liest; das, dünkt mich, muß Dich freuen."
Es scheint aber nicht, daß Goethe etwas „Befriedigerendes" geäußert
habe. Die Kapitel, die er mit glücklicher Hand aufgeschlagen und sogleich ge¬
lesen hatte, waren die herrliche Auseinandersetzung über das Objekt der Kunst
(das Schöne) im dritten Buche, ß 43 und die psychologisch feine Untersuchung
über den empirischen Charakter im vierten Buche, A 55. Im ersten Abschnitte
fand Goethe übrigens eine Anerkennung seiner Metamorphose der Pflanzen*)
und eine bejahende Antwort auf die Frage, ob Natur sich nicht selbst ergründen
werde, nämlich die, daß dies allein der Kunst vorbehalten sei. Kein Wunder,
wenn er dadurch gleich anfangs für das Werk gewonnen ward. Ohne Zweifel
hat er oft und viel darin gelesen, man erkennt dies deutlich an den Wider¬
spiegelungen Schopenhauerscher Gedanken, die sich seitdem in Wort und Schrift
bei ihm wahrnehmen lassen. Aber der siebzigjährige wurde damit keineswegs
Schopenhcmerianer, ja er vermied sogar, wie es scheint absichtlich, von Schopen¬
hauer zu sprechen. Nur als der Philosoph, aus Italien zurückkehrend, wieder
einmal (und zwar zum letzten Male) in Weimar eingekehrt war und Goethen
besucht hatte, schrieb dieser in seine Annalen: „Ein Besuch Dr. Schopenhauers,
eines meist verkannten, aber auch schwer zu lernenden verdienstvollen jungen
Mannes, regte mich auf und gedieh zur wechselseitigen Belehrung." Dies ist
die letzte Äußerung Goethes über Schopenhauer. Merkwürdig sind die Schlu߬
worte, sie bezeichnen sein Verhältnis zu dem großen Denker vortrefflich. Es ist
wohl anzunehmen, daß ihn die Schopenhcmersche Philosophie „aufgeregt" hatte,
ohne ihn zu befriedigen. Seine Abneigung gegen die Philosophie überhaupt,
den Pessimismus insbesondre, und sein Alter hielt ihn ab, tiefer in den Ge¬
dankengang Schopenhauers einzutreten. Er war im Laufe eines langen Lebens
mit mehreren philosophischen Systemen in nahe Berührung gekommen. Der
Lehrer seiner Jugend war Spinoza gewesen, dessen Pantheismus seinem grübeln¬
den Skeptizismus in wohlthuender Weise ein vorläufiges Ziel setzte. „Gott in
der Natur und Natur in Gott" wurde fortan die philosophische Triebfeder und
der Endzweck seiner Naturstudien. Er beobachtete die Erscheinungen in der
Natur als die Äußerungen einer schaffenden und allwaltenden Gottheit, und so
nur glaubte er sie annähernd begreifen zu können. „Die Natur," sagte er 1829
zu Eckermann, „versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer
strenge, sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des
Menschen. Den Unzulänglichen verschmäht sie, und nur dem Zulänglichen,
Wahren und Reinen ergiebt sie sich und offenbart ihm ihre Geheimnisse. Der
Verstand reicht zu ihr nicht hinauf, der Mensch muß fähig sein, sich zur höchsten
Vernunft erheben zu können, um an die Gottheit zu rühren, die sich in Ur-
phcinomenen, physischen und sittlichen, offenbart, hinter denen sie sich hält und
die von ihr ausgehen." Dies ist Wort für Wort und Zug um Zug der Spino-
zismus, wie er in Goethe Gestalt, Leben und praktische Bedeutung gewonnen
hatte. Und wie Spinoza, so war anch Goethe die Liebe zur Natur eins mit
der Liebe zu Gott. Neben Spinoza war es Leibniz, der das Interesse Goethes
dauernd in Anspruch nahm. Von dessen Monaden sprach er noch im hohen
Alter mit Vorliebe, nur nannte er sie lieber Entelechieeu, d. h. Seelen, unzer¬
störbare Kräfte der Einzelwesen. „Das Höchste," sagt er in dem Nachtrage zu
den „Maximen und Reflexionen," „was wir von Gott und der Natur erhalten
haben, ist das Leben, die rotirende Bewegung der Monas um sich selbst, welche
weder Rast noch Ruhe kennt; der Trieb, das Leben zu hegen und zu Pflegen,
ist einem jeden unverwüstlich eingeboren, die Eigentümlichkeit desselben jedoch
bleibt uns und andern ein Geheimnis." Aus der Monaden- oder Entelechieen-
lehre ging sür ihn der Glaube an die Unsterblichkeit der Individuen hervor, doch
zögerte er, sie allen Wesen in gleicher Weise zuzugestehen und ließ die Form
derselben im Ungewissen „Ich zweifle nie an unsrer Fortdauer, denn die Natur
kann der Entelechie nicht entbehren. Aber wir sind nicht ans gleiche Weise un¬
sterblich, und um sich künftig als große Entelechie zu manifestiren, muß man auch
eine sein", belehrte er Eckermann. Seine abgeschiedenen großen Freunde vermochte er
sich wohl als Sterne vorzustellen. Im allgemeinen aber lehnte er alles Grübeln
über die philosophischen Probleme ab, um sich desto unbefangener der liebevollen
Betrachtung des Endlichen hinzugeben, herrlich drückt er dies aus in der Maxime:
„Das schönste Glück des denkenden Menschen ist. das Erforschliche erforscht zu
haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren." Zu Kant trat Goethe in kein in¬
nigeres Verhältnis, obgleich er die Werke desselben eifrig studirte und mit Be¬
wunderung von ihm sprach. Die abstrakte, schulgerechte Denkweise und der schwere
trockne Stil des Königsberger Weisen waren kompakte Massen, die die dichterische
Phantasie nicht so durchglühen und durchleuchten konnte, wie Goethe es forderte.
Interessant ist, was er selbst von seinem Verhältnisse zu Kant sagt (zu Ecker¬
mann 1827): „Kant hat nie von mir Notiz genommen, wiewohl ich aus eigner
Natur einen ähnlichen Weg ging als er. Meine Metamorphose der Pflanzen
habe ich geschrieben, ehe ich etwas von Kant wußte, und doch ist sie ganz im
Sinne seiner Lehre. Die Unterscheidung des Subjektes vom Objekt und ferner
die Ansicht, daß jedes Geschöpf um sein selbstwillen existirt und nicht etwa der
Korkbaum gewachsen ist, damit wir unsre Flaschen pfropfen können, dieses hat
Kant mit mir gemein, und ich freute mich, ihm hierin zu begegnen. Später
schrieb ich die Lehre vom Versuch, welche als Kritik von Subjekt und Objekt
und als Vermittlung von beiden anzusehen ist. Schiller pflegte mir immer das
Studium der Kantschen Philosophie zu widerraten. Er sagte gewöhnlich, Kant
könne mir nichts geben. Er selbst studirte ihn dagegen eifrig, und ich habe
ihn auch studirt und zwar nicht ohne Gewinn." Also die große Entdeckung
der Idealität von Raum und Zeit, die Kritik der Beweise für das Dasein Gottes,
der kategorische Imperativ, alles das, was man als das eigentlich Kantische be¬
zeichnen möchte, erwähnt Goethe nicht, und doch hatte er die Kritik der Urteils¬
kraft mit vielem Anteile gelesen, die Kritik der reinen Vernunft studirt, und
selbst seine Freundinnen plagten sich damit ab. Freilich darf man nicht ver¬
gessen, daß er sich selbst Eckermann gegenüber sehr vorsichtig in seinen Äuße¬
rungen verhielt, und daß die Verlegung von Raum und Zeit in den Intellekt
seiner plastischen Weltanschauung gerade entgegengesetzt war. Doch hatte er bei
der Beschäftigung mit Kant Philosophiren gelernt. Er philosophirte viel mit
Schiller, Wilhelm Humboldt, Niethammer und Reinhold, und zwar im Interesse
seines Faust. Die Jenaer Universität brachte ihn in unsanfter Weise in Berüh¬
rung mit der idealistischen Weltanschauung; Fichte, Schelling, Hegel stürmten
nach einander auf ihn ein. Goethe hat in einem besondern Aufsatze über sein
Verhältnis zur uachkantischen Philosophie gesprochen, auch sonst giebt er ge¬
legentlich zu erkennen, wie sehr ihn die Idealisten in seiner Freude ein der Welt
stören und wie er ihnen doch gerecht zu werden sucht. Im Briefwechsel mit
Schiller (6. Januar 1798) spricht er sich ausführlich darüber aus: „Bei Gelegen¬
heit des Schcllingschen Buches (Ideen zu einer Philosophie der Natur) habe
ich auch wieder verschiedene Gedanken gehabt, über die wir ausführlich sprechen
müssen. Ich gebe gern zu, daß es die Natur nicht ist, die wir erkennen, sondern
daß sie nur nach gewissen Formen und Fähigkeiten unsers Geistes von uns auf¬
genommen wird. Von dem Appetite eines Kindes zum Apfel am Baum bis zum
Falle desselben, der in Newton die Idee zu seiner Theorie erweckt haben soll,
mag es freilich sehr viele Stufen des Anschauens geben, und es wäre wohl zu
wünschen, daß man uns diese einmal recht deutlich vorlegte und zugleich begreif¬
lich machte, was man für die höchste hält. Der transseendentielle Idealist glaubt
nun freilich ganz oben zu stehen; eins will mir aber nicht von ihm gefallen,
daß er mit den andern Vorstellungsarten streitet. Wer will gewissen Menschen
die Zweckmäßigkeit der organischen Naturen nach außen ausreden, da die Er¬
fahrungen selbst täglich diese Lehre auszusprechen scheinen und man mit einer
scheinbaren Erklärung der schwersten Phänomene so leicht wegkommt. Sie wissen,
Wie sehr ich am Begriffe der Zweckmäßigkeit der organischen Naturen nach innen
hänge, und doch läßt sich ja eine Bestimmung nach außen und ein Verhältnis nach
außen nicht leugnen, wodurch man mehr oder weniger sich jener Vorstellungsart
wieder nähert, sowie mau sie im Vortrage als Redensart nicht entbehren kann.
Ebenso mag sich der Idealist gegen die Dinge an sich wehren, wie er will, er
stößt doch, ehe er sichs versieht, an die Dinge außer ihm, und wie mir scheint,
sie kommen ihm immer beim ersten Begegnen in die Quere. Mir will immer
dünken, daß, wenn die eine Partei von außen hinein den Geist niemals erreichen
kann, die andre von innen heraus wohl schwerlich zu den Körpern gelangen wird,
und daß man also immer wohl thut, in dem philosophischen Naturstande zu
bleiben und von seiner ungetrennten Existenz den besten möglichen Gebrauch zu
machen, bis die Philosophen einmal übereinkommen, wie das, was sie nun ein¬
mal getrennt haben, wieder zu vereinigen sein möchte." Es wird Goethe später
nicht entgangen sein, daß Schopenhauer diesen Versuch gemacht hat. Der Aus¬
fall, den Goethe im zweiten Teile des Faust (2. Akt) auf die Idealisten macht,
ist bekannt. Mit dem Fichteschen Ich und Nichtich konnte er sich am wenigsten
befreunden, Schillings Weltseele war ihm sympathischer, er schätzte diesen Denker
hoch und fand im Gespräch mit ihm manchen Berührungspunkt. Auch Hegels
Absolutes erschien ihm begreiflich. „Vom Absoluten im theoretischen Sinne
wage ich nicht zu reden," sagt er in der dritten Abteilung der „Maximen", „be¬
haupten aber darf ich, daß, wer es in der Erscheinung anerkennt und immer
im Auge hat, sehr großen Gewinn davon erfahren wird." Nur tadelt er, daß
Hegel die Religion in sein System hineingezogen habe. „Die christliche Reli¬
gion," sagt er zu Eckermann 1829, „ist ein mächtiges Wesen für sich, woran
die gesunkene und leidende Menschheit sich immer wieder emporgearbeitet hat,
und indem man ihr diese Wirkung zugesteht, ist sie über alle Philosophie er¬
haben und bedarf von ihr keine Stütze. So auch bedarf der Philosoph nicht
das Ansehen der Religion, um gewisse Lehren zu beweisen, z. B. die einer
ewigen Fortdauer." Im Alter näherte sich Goethe zusehends der positiven
Religion, besonders betont er den Gottesglauben gern bei passender Gelegenheit,
freilich auch gleichzeitig die Unerforschlichkeit des göttlichen Wesens.
Dies war ungefähr die Summe philosophischer Erfahrung, die Goethe im
Laufe der Jahre, widerstrebend fast, hatte in sich anwachsen sehen. Zu ihr trat
nun, wenn auch nicht plötzlich, doch in ihrer ganzen Gewalt sich unmittelbar
aufdrängend, die Schopenhauersche Weltanschauung. Sie regte ihn auf, sie er¬
schreckte ihn vielleicht, denn der darin enthaltene Pessimismus, die scharfe Ab¬
weisung des Glaubens an einen persönlichen Gott, die konsequente Durchführung
des idealistischen Prinzips, die Belastung des Willens mit einer in die Ewigkeit
zurück und hinausreichenden Verantwortlichkeit, dies alles hatte für den ma߬
vollen Geist Goethes nichts Versöhnliches, nichts Anmutendes. Und doch fand
er darin eingehüllt eine Menge seiner eignen Gedanken, und er fand sie in un-
mittelbarer Beziehung zu einem großartigen System, er mußte darin, wie
befremdlich ihm dies auch scheinen mochte, die „gegenseitige Belehrung" an¬
erkennen. Was Schopenhauer von Goethe entlehnt hat, ist deutlich erkennbar
und von Schopenhauer selbst in seinen Werken als entlehnt bezeichnet. Es ist,
wie Harpf (in der oben angeführten Abhandlung) es sehr gut entwickelt hat,
vor allem die Methode der zusammenhängenden unmittelbaren Anschauung, die
schon in der Verbindung der zweifellosen Phänomene oder Experimente das hin¬
reichende Wissen, man könnte sagen den „zureichenden Grund" setzt, dann die
hohe Bedeutung der Idee oder des Typus der organischen Wesen für die Natur¬
forschung. Ebenso interessant ist es aber auch, wie bei Goethe die Gedanken
Schopenhauers nachklingen und bald mehr, bald weniger deutlich zu Tage treten.
Eine kleine Blumenlese solcher Anklänge darf in dem Jahre, wo die litterarische
Welt den hundertsten Geburtstag Schopenhauers gefeiert hat, seinem Andenken
nicht fehlen und wird auch der Goethegemeinde nicht unwillkommen sein.
(Schluß folgt.)
em Versuche, drei neue zusammenfassende Darstellungen der deut¬
schen Kunstgeschichte bei dem Leserkreise dieser Blätter einzuführen,
müssen wir einige Worte vorausschicken, die uns in den Stand
setzen sollen, einen gerechten Maßstab an die drei schon äußerlich
ungleichartigen Arbeiten zu legen.
Die auch ihrem Erscheinen nach zuerst zu nennende Geschichte der deut¬
schen Kunst, die im Verlage von Grote in Berlin erscheint, und die wir daher
schlechtweg die „Grotische" Kunstgeschichte nennen wollen, behandelt die Entwick¬
lung der einzelnen bildenden Künste in Deutschland getrennt, und zwar ist für
jede einzelne Abteilung ein bewährter Fachmann gewonnen worden. Die Ge¬
schichte der deutschen Baukunst von R. Dohme und die der Plastik von
Wilhelm Bode liegen bereits in abgeschlossenen Bänden vor, während die der
Malerei von Hubert Janitschek, sowie die Darstellungen des Kunstgewerbes
und des Kunstdruckes noch ihrer Vollendung harren. Eine Verzögerung der
beiden letztgenannten Abteilungen hat das Zurücktreten Julius Lessings und
Friedrich Lippmanns von dem Unternehmen hervorgerufen. An ihre Stelle
werden aber Jakob von Falke und Karl von Lützow treten, so daß die
Fortsetzung des Werkes auch auf diesen Gebieten gesichert ist. Unsre Besprechung
kann sich natürlich nur an die bisher erschienenen Lieferungen halten, da jeder
Abteilung ihre Selbständigkeit bis auf die gleichartige äußere Ausstattung ge¬
wahrt ist.
Wenn wir uns daher über die Grotische Kunstgeschichte im allgemeinen
ein Urteil bilden wollen, werden wir der buchhändlerischen Ausstattung des
Unternehmens gebührende Aufmerksamkeit zuzuwenden haben. Man hat oft
über die in unsern Tagen so beliebt gewordenen „authentisch" illustrirten Werke
gespottet, und in der That schien beinahe Kants Kritik der reinen Vernunft
vor einer solchen „authentischen" Illustration nicht mehr sicher zu sein. Das
in seinen Auswüchsen oft lächerliche und den schriftstellerischen Wert vieler Werke
äußerlich zurückdrängende Verfahren darf indes als Leistung des Buchge¬
werbes seine selbständige Würdigung beanspruchen. Unsre von Tag zu Tag
sich vervollkommnenden ReProduktionsverfahren sollen nicht ausschließlich der
streng wissenschaftlichen Forschung zu gute kommen, auch weitere Kreise ver¬
folgen diese Entwicklung mit Interesse und steigern ihre Ansprüche mit den
ihnen gebotenen Leistungen. Mehr als jede andre Wissenschaft fordert aber die
Kunstwissenschaft die Beihilfe treuer Abbildung, und so bedarf es denn, zumal
bei einer Darstellung der auch in dieser Hinsicht bisher so gar stiefmütterlich
behandelten deutschen Kunstgeschichte keiner besondern Rechtfertigung oder Ent¬
schuldigung , wenn man ans diese hier eben nicht lediglich äußerliche Ausstattung
Nachdruck und Wert legt. Die bisher vorliegenden Proben bewähren den Ruf,
den sich die Verlagshandlung namentlich im Laufe der letzten Jahre durch ihre
umfangreiche illustrierte Weltgeschichte erworben hat, in vollem Maße. Als
eine besonders anerkennenswerte und gelungene Leistung mögen die Holzschnitte
der Geschichte der deutschen Plastik hervorgehoben werden, die mit einer oft
über photographische Treue hinausgehenden Schärfe und Klarheit die charak¬
teristischen Züge der Originale wiedergeben. Daß vereinzelt Minderwertiges
uns in diesem Gesamturteil nicht beirren kann, ist bei einem Werke, das
durchweg neue, eigne Aufnahmen bietet, selbstverständlich. Gegenüber den
Clichvpublikationen manches Verlegers, der sich das Monopol für kunst¬
geschichtliche Werke gesichert zu haben glaubt und fremde wie eigne Werke
in augenfälligster Weise plündert, ist diese vornehme Gediegenheit doppelt hoch
anzuschlagen. Gleichwohl dürfen wir ein Bedenken nicht unterdrücken, das sich
gegen die farbigen Steinbrücke richtet. Daß mau hie und da dem Leser eine
lebendigere Anschauung von dem Wesen farbiger Plastik und Architektur des
deutschen Mittelalters zu geben versucht, ist durchaus gerechtfertigt, und für
diesen Zweck sind die Farbendrucke (von Hülcker und Kurth) — wir nennen nur
die besonders gelungene Wiedergabe der schwäbischen Madonnenstatuette des
Berliner Museums — ausreichend. Auch einzelne Drucke mehr dekorativer mittel¬
alterlicher Miniaturen geben in ihrem bunten Gewande zur Not die Originale
wieder. Als einen Mißgriff aber müssen wir es bezeichnen, wenn man Bilder
wie die Kölner Madonna des Meister Wilhelm in Buntdruck dem — Spott
des Kenners und der Verwunderung des Laien preisgiebt. Ein Leser, der sich
ein die „Authentizität" solcher Abbildungen hält, wird zu einem argen Irr¬
glauben verleitet, der weder der Kunstgeschichte noch dem Verleger zu gute
kommt. Wir meinen auch, daß die mit den heutigen Mitteln vielleicht an¬
nähernd erreichbare wirklich treue Wiedergabe der Farbenwirkung bedeutender
Denkmäler der Malerei weit über den Nahmen der Buchillustration hinaus¬
geht. Wenn man die Opferwilligkeit des Verlegers für selbständige Publikationen
einzelner Kunstwerke der Art in Anspruch nähme, wäre das weit eher zu recht¬
fertigen, als bei der Illustration eines kunstgeschichtlichen Handbuches, dessen
Preis eine mäßige Höhe nicht übersteigen darf.
Ob freilich die Popularität solcher Werke lediglich durch niedrigen Preis
zu erreichen ist, wie dies die beiden andern Verlagsfirmen anzunehmen
scheinen, die der „gebildeten Familie" die ganze deutsche Kunst „von den frühesten
Zeiten bis zur Gegenwart" für 16—20 Mark „liefern" wollen, mag dahin¬
gestellt bleiben. Jedenfalls verbieten solche Preisunterschiede einen Vergleich
der drei Kunstgeschichten in Bezug auf ihre Ausstattung von vornherein.
Die billigste Deutsche Kunstgeschichte, die von Wilhelm Lübke (im
Verlag von Ebner und seubert in Stuttgart) ist begreiflicherweise am ärm¬
lichsten ausgestattet; wir begegnen unter den Holzschnittillustrationcn vielen alten
Bekannten aus jeuer guten Zeit, wo man an die Wiedergabe der Kunstdenk¬
mäler noch bescheidene Ansprüche machte und schon erfreut war, wenn der lang¬
weilige Text überhaupt nur hie und da von Abbildungen unterbrochen wurde.
Diese keusche Zurückhaltung von dem Fortschritt der Jllustrationstechnik macht
das Werk Lübkes schon als historisches Vergleichsobjekt interessant, und wir werden
weiter unten sehen, daß der Text sich diesem archaisirenden Wesen in vielen
Stücken anpaßt. Neu dagegen dürfte die Art sein, in der die Deutsche Kunst¬
geschichte von Hermann Knackfuß in die Erscheinung tritt, der, wie den
meisten Veröffentlichungen der Firma Velhagen und Klasing in Leipzig, das
Prädikat „modern" im guten wie im bösen Sinne nicht abzusprechen ist. Wie
der Verfasser das „Notwelsch der Kunstgelehrsamkeit" vermieden hat (wohl um
der „gebildeten Familie" verständlich zu bleiben), räumt auch die Illustration dem
„Familiengeschmack" eine vielleicht allzu große Berechtigung ein, indem sie das
Auge des Lesers gewöhnt, die Kunstdenkmäler in malerischer Umgebung, wie sie
sich etwa dem flüchtigen Blick des Vergnügungsreisenden oder vielmehr seinem
photographischen „Liebhaberapparat" bieten, zu betrachten. Vieles geht auch auf
eigne Skizzen des Verfassers, der Maler ist, zurück. Die Beschreibung macht
dazu noch gelegentlich auf den Hintergrund „des feit Jahrtausenden sich in ewig
jungem Wechsel erneuerten Pinienwaldes" (S. 11) und seinen „unbeschreiblichen
Eindruck" aufmerksam. Daß es aber für die Erkenntnis des auf so interessantem
Hintergrunde geschilderten Kunstdenkmales, des Grabmales Theodorichs, wichtiger
ist, zu wissen, daß die auf der Abbildung wiedergegebene Freitreppe, die zum
obern Stockwerk desselben führt, ein entstellender Zusatz des achtzehnten Jahr¬
hunderts ist, Übersicht der Verfasser (der in diesem Falle zugleich der Illu¬
strator ist), sei es daß er solche Kenntnis bei den Angehörigen der „gebildeten
Familie" als selbstverständlich voraussetzt, sei es, daß er sie selbst nicht besitzt.
Lübke, der das Denkmal ebenfalls in seiner heutigen Gestalt (S. 25, vergl.
Schnaases Kunstgeschichte III, S. 513) vorführt, rechtfertigt sich wenigstens
durch die allerdings recht vage Vermutung, daß man an dem Denkmal ursprünglich
wohl zwei ähnliche Treppen, die im vorigen Jahrhundert nur erneuert worden
seien, vorauszusetzen habe. Wir bekennen, von Dohmes Rekonstruktion (S. 5
seiner Geschichte der Baukunst), die auch die durch Terrainaufhöhungen heute ver¬
schobenen Verhältnisse zwischen Ober- und Unterbau wiederherstellt, mehr über¬
zeugt zu sein. Doch kehren wir zu den Abbildungen der Kunstgeschichte von
Knackfuß zurück. Die Ansichten der Godehardskirche in Hildesheim (S. 114), des
Domes zu Speyer (S. 122), des Kaiserhauses zu Goslar (S. 129, in stimmungs¬
voller Schneelandschaft; warum nicht lieber gleich während des Schneefalles selber
aufgenommen?), der Apostelkirche zu Köln (S. 199) u. s. w. würden in ihrer
Winzigkeit und mürben Verschwommenheit nicht einmal als Illustrationen einer
Reisebeschreibung genügen. Grundrisse zu geben, verschmäht der Verfasser durch¬
aus; und doch giebt nichts ein so lehrreiches Bild von der Entwicklung der Bau¬
kunst, namentlich in ihrem Übergange vom romanischen Stile zur Gotik, als die
Ausgestaltung der Grundrisse. Dagegen würden wir z. B. gern — und der Laie
sicherlich noch lieber — auf die Ansicht der Dominikanerkirche zu Konstanz während
des Anbaues (S. 227), ihre wüsten Schutthaufen und ähnliches verzichten. Die
Abbildungen einzelner plastischen Denkmale sind um ein weniges besser, während
die Wiedergabe der Schöpfungen deutscher Wandmalerei des Mittelalters (z. B.
S. 80 und S. 416) als völlig ungenügend bezeichnet werden muß.*)
Im ganzen kann uns das Jllustrationsverfahren dieses Werkes als warnendes
Beispiel dafür dienen, daß die industrielle Ausbeutung einer an und für sich
ja nicht wertlosen Erfindung, als die das Meisenbachsche Verfahren gelten darf,
zu bedenklichen Ergebnissen führt. Da lassen wir uns immer noch lieber die zwar
nicht neuen, aber doch klaren Holzschnitte von Ebner und seubert gefallen, an
denen nicht jeder Formensinn zu Schanden wird.
Indes, der Prospekt belehrt uns, daß der Schwerpunkt des Werkes von
Knackfuß „trotz allen Reichtums der Abbildungen" in seinem Texte liege. Wenden
wir uns also endlich zu dem Inhalte der drei neuen deutschen Kunstgeschichten.
Leider müssen wir von vornherein bekennen, daß die beiden letztgenannten von
Lübke und Knackfuß als buchhändlerische Unternehmungen immerhin noch mehr
interessiren, denn als wissenschaftliche Leistungen. Ernstere Würdigung bean¬
sprucht dagegen der Text der Grotischen Publikation.
Das Interesse für die Geschichte der deutschen Kunst, das seit den Tagen
der Romantiker geschlummert hatte, ist neuerdings wohl durch Vermittlung
des Kunstgewerbes in weitern Kreisen wieder rege geworden; aber die wissen¬
schaftliche Behandlung -hat auf sich warten lassen. Im Jahre 1573 bereits
wandte sich der Straßburger Verleger Bernhard Jobin in der Vorrede zu
den „eygenwissenlichen und wolgcdenkwürdigen Contrafcytungen oder Antlitz¬
gestaltungen der römischen Bäpst" gegen das durch Vasari hervorgerufene und
bis auf unsre Tage nicht ganz überwundene Vorurteil, als ob der Kunst
„Ursprung und beste Übung" allein bei den Welschen zu suchen sei. „Gleich¬
wohl, auf daß dem gemeinen Wahn ein wenig (dann ausführlich möcht mit
der Weil noch geschehen) begegnet und dem vielfältigen Verunglimpfen der
Frembden von unserm Vatterland ein Ziel geendet würde, hab ich nothalb, als
ein Freund solcher Kunst etwas zu Schutz unsrer Sachen müssen fürbringen und
des Nsreurii (Zsäuesuro. oder Friedstab einwerfen: auf daß man die Teutschen
nicht allerdings also für grob und ungeschlacht (wie etwann die römischen
Sistorioi unser Land, das sie offt nie gesehen, pflegten zu beschreiben) hielten."
So der biedere und nationalgesinnte Kunstfreund Jobin vor 300 Jahren.
Die Erfüllung seiner Hoffnung sollte indes noch hundert Jahre auf sich warten
lassen. Als dann, nachdem in den Wirren des dreißigjährigen Krieges so
manches Denkmal und viele Überlieferungen zu Grunde gegangen waren, Joachim
Sandrart in seiner pomphaften „Teutschen Akademie der edeln Bau-, Bild- und
Malereikünste" die armseligen Trümmer einer teutschen Kunsthistorie gleichsam
aus dem Staube auflas, beklagte er sich, daß ihm „von selbst erfahrener Hand
niemals genügsame Beyhülfe geschehen," und wir müssen stark bezweifeln, ob er
selbst bei einem reicheren Quellenmaterial eine wertvolle deutsche Kunstgeschichte
zu schaffen imstande gewesen wäre. Die Männer, die sich nach ihm mit dem
Stoffe in wirklich förderlicher Weise befaßten, sind an den Fingern herzuzählen:
Murr, Meusel, Fiorillo, Moeller, Heller, Förster, Schnaase, Waagen, Otte, Lotz.
In nahezu zwei Jahrhunderten zehn Namen, unter denen kaum einer von nennens¬
werter Bedeutung fehlen dürfte! Und man vergleiche nur einmal etwa Försters
traurige Deutsche Kunstgeschichte (1861) mit den dreißig Jahre früher geschriebenen
glänzenden italienischen Forschungen Numohrs! Es galt eben noch bis in die
Mitte unsers Jahrhunderts herein das Vorurteil, mit dem Heinecken 1768 sein
Vorwort zu den Nachrichten von Künstlern und Kunstsachen einleitete: „Es
wäre wohl zu wünschen, daß man von den Deutschen, meinen Landsleuten, in
Betracht der bildenden Künste sagen könnte: sie hätten wo nicht die Italiener,
Franzosen und Niederländer übertroffen, doch wenigstens es ebensoweit als sie
gebracht. Allein es ist auf keine Weise zu leugnen, daß wir unter allen oben¬
genannten Schulen, im allgemeinen Verstände zu reden, noch die schlechtesten sind."
Mit dem Aufschwünge kunstwissenschaftlicher Studien, der namentlich durch
die Anbahnung einer gesunden Methode auf historischer Grundlage sich kund-
gab, erwachte auch das Interesse für die so lange stiefmütterlich behandelte
vaterländische Kunst wieder, und zwei der bedeutensten Kunstgelehrten unsrer Zeit,
Woltmam? und Thausing, erwarben ihren Ruf durch die Biographieen der
beiden deutschen Kunstheroen Holbein und Dürer (Leipzig, bei Seemann). Um¬
fassender noch wurde das Studium unsrer Kunstdenkmäler durch deren auf
Anregung der deutschen Regierungen überall vorgenommene Jnventarisirung ge¬
fördert. Mit der Lösung dieser Aufgabe sind gegenwärtig fast in allen Teilen
Deutschlands tüchtige Kräfte beschäftigt; abgeschlossen ist sie noch keineswegs.
Gleichwohl schien der Zeitpunkt für eine geschichtliche Zusammenfassung des so
errungenen, die weitern Kreisen gegenüber gleichsam als ein Rechenschaftsbericht
über das geleistete und in Angriff genommene gelten kann, gekommen, und es
ist daher nicht zu verwundern, daß von drei Seiten zu gleicher Zeit der Plan
einer deutschen Kunstgeschichte auftauchte.
Die oben kurz überblickten Vorarbeiten erleichtern gewiß die Arbeit des
deutschen Kunstgeschichtsschreibers nicht unwesentlich, ebensosehr aber auch ihre
Kontrole und Beurteilung, die selbstverständlich jetzt einen andern Maßstab an¬
zulegen hat. als in den Zeiten Fiorillos oder Kuglers. Die Hauptaufgabe liegt in
der übersichtlichen Darstellung der Entwicklungsgeschichte der Künste in Deutsch¬
land; diese muß aber an die Stelle der philosophischen Konstruktion, die noch
Schnaase bei einem lückenhaften Denkmälervorrat nicht vermeiden konnte, eine
Durchdringung und sachliche Sichtung des immer reicher und vollständiger zu¬
strömenden Stoffes setzen. Diese von Tag zu Tag anwachsende Thatsachenfülle
läßt sich nur durch methodisch geschulte Geister in historische Formen gießen.
Die Gefahr, am Einzelnen haften zu bleiben oder die Herrschaft über das Ganze
zu verlieren, ist heute größer als je. Untersuchen wir daher, wie sie in den uns
vorliegenden Werken überwunden, umgangen oder verhängnisvoll geworden ist.
Soweit man sich bei der fragmentarischen Gestalt einzelner Teile der Grotischen
und nach den bisher erschienenen Lieferungen der beiden andern Kunstgeschichten
eine Meinung auf vergleichenden Wege bilden kann, möchten wir Dohmes Ge¬
schichte der deutschen Baukunst den Preis zuerkennen. Hier finden wir Klarheit
und Übersichtlichkeit mit streng sachlicher Prüfung der einzelnen Denkmäler in
ausgeglichener Form vereinigt, während Bodes und Janitscheks Darstellungen der
Skulptur und Malerei nicht durchweg von den Schlacken der vorbereitenden Samm¬
lung und Durcharbeitung des Stoffes frei sind, wobei wir allerdings billiger
Weise berücksichtigen müssen, daß den letztgenannten beiden Forschern der Weg
von ihren Vorgängern weit weniger geebnet ist, als Dohme. Die Inventars
der einzelnen Provinzen sind eben in erster Linie Inventars der Baudenkmäler,
woneben den beweglichen Kunstwerken der Malerei und Bildnerei nur ein
beschränkter Platz eingeräumt ist. Auch ein ähnlich übersichtliches Werk wie
Dehios systematische Darstellung der kirchlichen Baukunst des Abendlandes sucht
man für die Geschichte der darstellenden Künste vergebens. An einem Schrift-
steiler wie Knackfuß sind freilich auch die gediegensten Vorarbeiten verloren,
da er sie, offenbar um sich seine Unbefangenheit in vollstem Maße zu wahren,
ignorirt, während W. Lübke den Leser, der eingehende Belehrung sucht,
wenigstens in den Anmerkungen auf die meist brauchbaren Quellen seiner Er¬
kenntnis hinweist.
Es würde den Rahmen dieser Besprechung bedeutend überschreiten, wollten
wir an der Hand einer auch nur andeutenden Schilderung der Schicksale deutscher
Kunst den Lesern ein Bild von dem Gesamtinhalte der zum Teil noch gar nicht
zum Abschluß gelangten drei Publikationen zu geben versuchen. Wir beschränken
uns daher auf einzelne Stichproben, die eine eingehendere Wertschätzung
ermöglichen.
Über die Abgrenzung des Gebietes, das wir mit Fug und Recht „Deutsche
Kunstgeschichte" nennen dürfen, kann man verschiedener Meinung sein. Die ersten
Keime nationaler Kulturgcgeusätze finden sich bekanntlich erst im neunten Jahr¬
hundert, und auf dem Gebiete der bildenden Künste vollends hat die karolin-
gische Epoche nur ein beschränktes Anrecht auf die Bezeichnung „deutschnational."
Gleichwohl wird sich wohl kein Einspruch dagegen erheben lassen, daß man die
vorbereitenden Entwicklungsstufen deutscher Kunst in den Rahmen einer zusammen¬
fassenden Darstellung hineinzieht. Bode und Dohme weisen der Frühzeit nur
einen beschränkten Raum zu; über Gebühr ausgedehnt erscheint ihre Schilderung
dagegen bei Knackfuß, namentlich in dem Kapitel, welches die Kunstthätigkeit
der germanischen Stämme in den unterworfenen römischen Gebieten behandelt.
Da werden uns z. B. die Herrlichkeiten des Domschatzes zu Monza vorgeführt,
und dies, wie ihre Abbildung, auf folgende absonderliche Weise begründet:
(S. 13) „Wenn wir daher auch nicht daran zweifeln können, daß die reizende,
der Natur getreulich abgelauschte Darstellung (der goldnen Henne mit sieben
Küchlein, Abbildung 8) von einem italienischen Künstler herrühre, so ist doch
der Gedanke, aus dem sie entsprungen ist, die harmlose Freude an der Tier¬
welt und die daraus hergeleitete naive Bildersprache durchaus germanisch."
An dem an gleicher Stelle geschilderten Diptychon desselben Domschatzes ist
umgekehrt, wie der Verfasser (S. 14) hervorhebt, nichts des (langobardischen?)
„Schnitzers Eigentum, als die unbeholfen weit hervortretende Schrift, die Tonsur
des Papstes und die formlose Blume" am Szepter Davids. Bei dieser Ein¬
sicht hätte der Verfasser besser gethan, zwei so bedenkliche Belege für die bild¬
nerische Befähigung der Langobarden aus dem Spiele zu lassen und sich zu
dem Satz Bodes (S. 3 seiner Geschichte der deutschen Plastik) zu bekehren:
„Von einer altgermanischen oder gar von einer ureigner germanischen Plastik
kann daher nicht die Rede sein."
Auch in der karolingischen Kultur und Kunst nehmen wir die eigentlich
deutschen Züge mehr in der mißverständlichen Umbildung antiker Elemente, als
in selbständigen Neuschöpfungen wahr. Freilich haben wir uns gewöhnt,
unser Urteil einseitig nach den erhaltenen Prachtschöpfungen der karolingischen
Hofkunst zu bilden, auch ist die frühkarolingische Zeit von der spätkarolingischen
nicht scharf genug geschieden (ein Vorwurf, der auch die neuesten drei Dar¬
stellungen mit Ausnahme der Geschichte der Malerei von Janitschek trifft), um
der Entwicklung dieses so interessanten Zeitabschnittes völlig gerecht werden zu
können. Auch bricht diese Entwicklung, die ihre Ausläufer bis in das
elfte Jcchrhurdert hincinsendet, ziemlich unvermittelt ab, um dem Aufleben einer
neuen christlichen und im engern Sinne mittelalterlichen Auffassung Platz zu
machen. Am klarsten und eindringlichsten hat Dohme den nach seinem Ausdruck
durch „das Aufkommen der mönchstheokratischen Ideen" hervorgerufenen Um¬
schwung zu Anfang des elften Jahrhunderts geschildert, indem er sich damit zu
einer Auffassung bekennt, der zuerst, wenn wir nicht irren, Anton Springer in
seiner Studie über die deutsche Kunst des zehnten Jahrhunderts Geltung ver¬
schaffte. Bode markirt zwar auch die Wende des ersten Jahrtausends durch
einen neuen Abschnitt, worin er die Schicksale der um diese Zeit sich entfal¬
tenden monumentalen Bildnerkunst bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts
zusammenfaßt; doch ist es bezeichnend für seine Auffassung der Aufgabe, daß
er das Aufkommen einer leitenden bildnerischen Technik, des Erzgusses, anstatt
der politischen und geistigen Umwälzungen, zum Ausgangspunkte seiner Dar¬
stellung wählt. Diese seine Art der „Kunstgeschichte aus den Denkmälern,"
denen er freilich mehr als die meisten andern abzufragen versteht, darf man
aber nur mit der Darstellungsform von Knackfuß vergleichen, um sie zu würdigen.
Auch Knackfuß beschränkt sich auf die Aneinanderreihung einzelner Beschreibungen
von Denkmälern, er sieht oft mit dem Feinblick eines Künstlers Einzelheiten,
die er mit anregender Frische seinen Lesern zu schildern weiß, und doch wollen
sich seine Schilderungen nicht zu einem klaren Bilde geschichtlicher Entwicklung
ordnen, das willkürliche und unorganische Gefüge seiner Darstellung tritt überall
zu Tage. Bei Bode ordnen sich die Einzelvorstellungen zu klaren Bildern der
verschiedenen Schulen und Richtungen, wir empfinden überall, trotz einzelner
Nachlässigkeiten, die sichere Führung eines kundigen Forschers, während uns die
Lektüre des Werkes von Knackfuß den Eindruck einer willkürlichen Flucht von
Wandelbildern hinterläßt. Lübke läßt uns die Gewandtheit eines bewährten
Schriftstellers nicht vermissen, aber der eindringende Blick, das treffende Wort
für Stilunterschiede, wie wir sie bei Bode und Knackfuß finden, fehlt; selbst
seinen eignen ältern Werken gegenüber ist eine gewisse Farblosigkeit, die nicht
mit Objektivität zu verwechseln ist, schwer abzuleugnen.
Doch wenden wir uns wieder zum Einzelnen. Von eingreifender Be¬
deutung für die Entwicklung der mittelalterlichen Baukunst in Deutschland ist
die rheinische Baugruppe des frühromanischen Stiles, aus der die drei
mittelrheinischen Dome von Worms, Mainz und Speyer schon durch ihre
historischen Erinnerungen ein besonders Anrecht auf den Namen deutscher
Denkmäler haben. Über die Datirung dieser Bauten oder vielmehr der in
ihnen zum erstenmale folgerichtig durchgeführten EinWölbung ist bekanntlich
viel gestritten worden. In den Tagen der Romantiker (Boisferöe 1843) gefiel
man sich darin, diese urdeutsche Schöpfung soweit als irgend möglich zurückzu-
datiren; Quast verfiel bei einem Versuche, diese Auffassung zu berichtigen, in
den entgegengesetzten Irrtum. Es fehlt uns nicht an zahlreichen Nachrichten
über Bauzeit und Bauperioden dieser Denkmäler, neuerdings sind sie namentlich
für den Mainzer Dom von Friedrich Schneider in mustergiltiger Weise zu¬
sammengestellt worden; die Schwierigkeit ihrer Benutzung liegt in den zahl¬
reichen Veränderungen, die jedes mittelalterliche Bauwerk erfahren hat. Dem meist
hastig und oberflächlich vorgenommenen Notbau folgte in nicht zu langer Zeit
die eigentliche Anlage der heute uoch erhaltenen Bauten, der aber zahlreiche
Erweiterungen oder Umbauten meist ein so widersprnchvolles Ansehen geben,
daß dem Spürsinn und leider auch der willkürlichen Grübelei weiter Spiel¬
raum gegeben ist. Dohme spricht sich sehr zurückhaltend aus: (S. 54) „Nach¬
dem ungezählte Werke in Trümmer gesunken oder durch Neubauten verdrängt
sind, ist der Nachweis, wo die erste gewölbte Basilika des gebundenen Systems
errichtet worden, heute mit Sicherheit nicht mehr zu führen. In das all¬
mähliche Ausreifen des Gedankens aber gewährt die Betrachtung der drei großen
romanischen Dome von Mainz, Speyer, Worms einen lehrreichen Einblick.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß in dem ältesten von ihnen, dem Dome von
Mainz mit seinen primitiven Formen, die große Neuerung zuerst auf deutschem
Boden einsetzt." Es folgen dann nach seiner Anordnung der Dom zu Speyer
(erste Hälfte des zwölfte» Jahrhunderts) und der Dom zu Worms (zweite Hälfte
desselben Jahrhunderts), denen er die Abteikirche zu Laach anschließt, ohne ihr
Verhältnis zu den genannten Bauten genauer zu bestimmen. Lübke, der auf dem
Gebiete mittelalterlicher Baukunst mehr Selbständigkeit als sonst bekundet,
stellt die Laacher Kirche den drei Domen voran, die er in der gleichen, auch von
Knackfuß beliebten Anordnung aneinanderreiht. Diese auf Quasls Ausführungen
zurückgehende Zeitstellung ist, was das Verhältnis der Dome von Speyer und
Mainz anlangt, noch immer anfechtbar. Zunächst läßt die große Krypten-
anlage des Speyerer Domes, die bereits "1039 vollendet war, die ursprüngliche
Absicht eines großränmigen Langschiffes vermuten, und wir werden die damals
geplante Anlage im wesentlichen auch in dem heutigen Ban, was die Pfeiler¬
stellung u. s. w. anlangt, wiedererkennen können, da der Brand vom Jahre 11S9
unmöglich auch die Fundamente zerstört haben kann. Gerade die enge, abwechselnde
Pfeilerstelluug weist uns auf die schon ursprünglich beabsichtigte Einwölbung
des Langhauses hin, die wir daher sehr wohl auch in der urkundlich am Ende
des elften Jahrhunderts vollendeten ersten Domkirche annehmen dürfen. Auch
die EinWölbung des Mainzer Doms mit den ältern Forschern, denen sich Knack¬
fuß anschließt, in das Jahr 1137 herabzurücken, sind wir keineswegs gezwungen,
Vielmehr verdient die auch von Dohme und Lübke anerkannte Zeitbestimmung
(seit 1082) als die wahrscheinlichere angenommen zu werden. Aber selbst dann
bleibt nach unsrer Datirung die Priorität des Speyerer Doms gewahrt, und
die Lacicher Kirche, deren Grundsteinlegung frühestens 1092 augesetzt werden
kann, und bei der die klare Folgerichtigkeit der Gewölbeanlage ohnehin auf
vorhergegangene Versuche hinweist, dürfen wir vollends nicht mit Lübke als
die eigentlich bahnbrechende Schöpfung für den romanischen Gewölbebau be¬
trachten.
Für die Geschichte der deutschen Plastik bedeutet das dreizehnte Jahrhundert,
in welchem das französische Strebesystem eine Umwandlung der Baukunst her¬
vorruft, die eigentliche Zeit der Reife und Ausgestaltung der romanischen Keime.
Hier erkennen wir, wie unabhängig von einander die verschiedenen Künste sich
Bahn brechen und wie sehr gerechtfertigt daher die geschichtliche Einzelbehandlung
der verschiedenen Kunstzweige ist. Knackfuß sieht sich gezwungen, die Dokumente
der ersten Blütezeit deutscher Plastik zwischen die Schilderung des romanischen
und des gotischen Stiles hineinzuklemmen, während sie zeitlich in die gemeinhin
als gotisch bezeichnete Periode gehören. Die Neuenburger Bildwerke z. B.
schmücken die Wände eines gotischen Chors, stehen unter gotischen Taber¬
nakeln, und doch würde die Bezeichnung „gotische Plastik" für sie durchaus
nicht zutreffen. Man hat früher den erstaunlichen Aufschwung der deutschen,
insbesondre der mitteldeutschen Bildnerei auf Beziehungen der Hohenstaufen zu
Italien zurückführen wollen; doch kann diese Ansicht selbst mit der Ein¬
schränkung Bodes (S. 40) kaum Anspruch auf Glaubwürdigkeit machen, wenigstens
erklärt sie nicht mehr und nicht weniger, als die oberflächlichen Redensarten,
mit denen Knackfuß sein Kapitel von der ersten Blütezeit der bildenden Künste
(S. 232) einleitet. Richtiger leitet uns wohl auch hier der technische Gesichts¬
punkt, unter dem Vode die überraschende Erscheinung betrachtet: Sandstein
und Stuck treten an die Stelle des früher bevorzugten Erzes. Dabei begegnete
freilich Bode der Irrtum, die aus Holz geschnitzte Kreuzigungsgruppe zu Wechsel¬
burg zu einem Werke der Thonplastik zu machen, was ebenso häufig behauptet,
wie widerlegt worden ist.
Da mit der romanischen Kunst die bisher erschienenen vier Lieferungen des
Lübkeschcn Werkes abschließen, heben wir uns die Fortsetzung dieser gemein¬
samen Besprechung bis zum erfolgten Abschluß aller drei Werke auf, in der
angenehmen Hoffnung, dann vielleicht einen Teil unsrer Bedenken beschränken
und unsre beistimmende Anerkennung verallgemeinern zu können.
Das Tagebuch und die Freisinnigen. Die jüngste Vergangenheit war
so reich an Vorgängen, die bis dahin in Deutschland, oder genauer gesagt in Preußen,
für ganz unmöglich gegolten hatten, daß wir schon meinten, durch nichts mehr in
Staunen versetzt werden zu können. Die Veröffentlichung aus dem Tagebuche des
Kaisers Friedrich hat uns von unserm Irrtum überzeugt. Und, um von allen
andern Beziehungen abzusehen, auch der oppositionellen Presse müssen wir das
Zeugnis ausstellen, daß sie unsre Erwartungen weit hinter sich gelassen hat.
Sehr viele Leser, und wir gehören zu dieser Zahl, hielten das, was in der
„Deutschen Rundschau" erschienen ist, nicht für echt, wollten es nicht für echt halten.
Ein Tagebuch, worin nicht allein Thatsachen, sondern Gefühle, Stimmungen u. s. w.
zum Ausdruck kommen, mitten in der bewegtesten, ereignisreichsten, aufregendsten
Zeit regelmäßig fortgeführt, ist in unserm Zeitalter ohnehin eine auffallende Er¬
scheinung. Daß bei dem Niederschreiben der einzelnen Sätze nicht an die Mög¬
lichkeit gedacht worden ist, sie könnten in absehbarer Zeit in die Öffentlichkeit ge¬
langen, versteht sich von selbst. Aber auch die Mitteilung an mehrere vertraute
Freunde und Anhänger, ohne daß der Inhalt vorher streng gesichtet und alles unter¬
drückt worden wäre, was als die Frucht augenblicklicher Verstimmungen oder Mi߬
verständnisse oder als Ausfluß persönlicher Antipathie kenntlich ist — anch diese
schien unglaublich. Wie? Die offnen oder halbverhüllten Ausfälle nicht allein gegen
Bismarck, Roon, Podbielski, den Prinzen Friedrich Karl, sondern die Bemerkungen,
die ihre Spitze gegen Wilhelm I. kehren, sollten mit Wissen und Willen des Ver¬
fassers in fremde Hände gegeben worden sein? Sätze, die der Unmut eingegeben
haben mochte, oder deren Fassung verrät, daß die Zeit zur ruhigen Erwägung ge¬
mangelt hat, sollten später, bei ruhigem Blute und bei Muße förmlich anerkannt
worden fein? Am meisten Aufsehen hat die Stelle erregt, worin der Kronprinz
(angeblich) für sich deu Ruhm in Auspruch nimmt, der erste den verfassungsmäßi¬
gen Einrichtungen ohne allen Rückhalt ehrlich zugethane deutsche Fürst zu sein. Aber
es finden sich verschiedene, nicht ebenso deutliche, aber doch gleichwertige Aeußerungen.
In andrer Richtung bewegt sich der Satz: „Roggenbach ist und bleibt der einzig
Vernünftige und Zuverlässige unter den anwesenden Staatsmännern," ein Satz,
der zugleich als Erklärung zu den Zweifeln an „Aufrichtigkeit" dienen kann. Andre
Stellen wieder nahmen sich wie Einschiebsel aus allerneuester Zeit aus. Z- B.
die Erwähnungen der Kronprinzessin in einem Tone, wie er dem liebenswürdigen
Ehemanne wohl ansteht, aber in den ernsten Betrachtungen über die des künftigen
Herrschers harrenden Aufgaben und Schwierigkeiten unerwartet kommt, und die
Hervorhebung des „einfach natürlichen herzlichen Verhältnisses" zwischen dem Prinzen
Wilhelm und seinen Eltern (1871!). Das schmeckt doch verdächtig nach dem a,ä
non Nun gar die an ein tausendmal gebrauchtes geflügeltes Wort erinnernde Ein¬
tragung vom 23. Februar: „Der nächste Beruf im Frieden ist die Lösung der so-
zielten Fragen, die ich gründlich erforschen werde!" Und je öfter wir die Seiten
überlasen, desto mehr Anlaß ergab sich zum Kopfschütteln. Aus der sogenannten
Konfliktszeit waren allerdings merkwürdige Aussprüche in Erinnerung, aber seitdem
hatte ja der Kronprinz eine zu große Schule durchgemacht und sich überzeugen
müssen, daß er geirrt hatte. Nein, wer das Andenken des zweiten deutscheu
Kaisers hochgehalten wissen wollte, konnte sich nicht leichthin entschließen, das Tage¬
buch, wie es vorliegt, für echt zu halten; er würde es am liebsten gesehen haben,
wenn das Ganze, die mit poller Wichtigkeit behandelte Titelfrage, der Gedanke,
die süddeutschen Staaten in das Reich hineinzwingen zu wollen, die stete Sorge,
daß England ans den Fuß getreten werden könnte u. s. w. u.s. w., als Erfindung
erkannt worden wäre.
Auf diesen Standpunkt hätten sich vor allem die Freisinnigen — oder die
„Liberalen", wie sie sich jetzt mit Vorliebe nennen, um auch diesen Namen anrüchig
zu machen — stellen müssen, da sie ja den Kaiser Friedrich sozusagen als deren
Privatheiligen proklnmirt hatten. Ja wenn nicht die Parteilcidenschaft alle Sinne
umnebelte, und wenn der freisinnige Staatsbürger sich getraute, eine Ansicht zu
haben, ehe sein Leiborgan ihm die Erlaubnis erteilt hat! Die Zeitungen aber er¬
faßten vor allem dreierlei. Aus den Wendungen „freisinniger Ausbau" u. tgi.
vernahmen sie ihre eigne Stimme; mit gutem Willen (der ja vorhanden war) ließ
sich die Sache so drehen, als ob ohne den Kronprinzen der französische Krieg nicht
für die Neugestaltung Deutschlands ausgebeutet worden wäre (es gehört allerdings
eine unerhörte Dummheit dazu, das zu glauben, aber was hat sich die Partei
nicht schon aufbinden lassen!); und das wichtigste: die Volkszeitung „trifft immer
den Nagel auf den Kopf," ihre Sprache „erfrischt" nach den fruchtlosen Debatten
am grünen Tisch. Sollten sie nicht jubeln? Das der Berliner „Volkszeitung,"
einstigen „Urwählerzeitung," ausgestellte Zeugnis konnten sie sich alle aneignen.
Und all das — Geflügel, das sich herausnimmt, an Bismarck den grünen Schnabel
ju wetzen, blähte die Federn auf. Sind wir nicht auch durch die Talmudschule ge¬
laufen und haben gelernt, aus 2X^-^5 zu machen? Reden wir nicht ebenso
keck über alles, was wir nicht verstehen? Treiben wir nicht auch täglichen Mi߬
brauch mit dem Namen des deutschen Volkes? Auch wir treffen den Nagel immer
auf den Kopf, auch unsre Sprache erfrischt. Wenn man uns zur Regierung kommen
ließe! Und Kaiser Friedrich würde uns gerufen haben, wie hätte er anders ge¬
konnt, ohne sich selbst untreu zu werden? Ja, er war edel! Seit den Tagen der
Gothaer Partei hat man das Wort edel nicht so oft gebraucht, wie unmittelbar
nach der Veröffentlichung in der „Deutschen Rundschau." Hat denn jemand an
der edeln Natur des Kronprinzen und Kaisers gezweifelt? Nicht das wir wüßten.
Aber man sah jetzt den höchsten Beweis von Edelmut darin, in den Jahren 1870
und 1371 Sätze in ein Tagebuch zu schreiben, die ziemlich unverändert täg¬
liches Brot d^r freisinnigen Zeitungen sind und Stoff zu Verunglimpfungen Bis-
marcks bieten konnten.
Als dann dieser die sachlichen und chronologischen Irrtümer aufdeckte, wie zu
thun nur er im stände war, wurde die Geberde sittlicher Entrüstung angenommen,
welche die Freisinnigen besonders gutkleidet. Im Schimpfen behauptete natürlich
der Moniteur des Freisinns die Meisterschaft, aber auch von den kleinen leistete
mancher großes. Ein von einem „Dr. Mr." redigirtes Nürnberger Blatt verkün¬
dete, „für einen logisch denkenden Menschen" gebe es nur zwei Möglichkeiten: ent¬
weder werde das Tagebuch für echt gehalten oder für unecht, mit unechten Doku¬
menten könne kein Staatsverrat getrieben werden, Bismarck jedoch erkläre das Tage-
duch für unecht und behandle es zugleich als echt. Daß Bier durch Zusätze ver¬
fälscht und dennoch Bier sein kann, sollte man in Nürnberg doch wissen, und der
Zusatz in dem Berichte Bismarcks „in der Form wie es vorliegt" hätte den „Dr,
darauf aufmerksam machen können, daß nicht die Echtheit der ganzen Publi¬
kation angezweifelt wurde. Dieser Zusatz ist auch in demselben Blatte enthalten,
in dem Leitartikel völlig ignorirt, und dieses Pröbchen von freisinniger „Logik"
und freisinniger Wahrhaftigkeit dünkt uns recht bezeichnend.
Auch die „Frankfurter Zeitung," die doch sonst klüger ist als die verschiedenen
Mundstücke des Herrn Regierungsassessors a. D. und Reichskanzlers in xartibus,
sah sich gemüßigt, eine Lanze für die Echtheit des Tagebuches zu brechen. Die
Unechtheit müsse erst bewiesen werden! Natürlich, welches Gewicht hat eine Er¬
klärung Bismarcks gegenüber der eines Unbekannten? Denn damals hatte sich der
Einsender noch nicht gemeldet. Und Dr. Rodenberg sei ein Nationalliberaler, werde
also nicht zu einer Fälschung, die der Regierung unangenehm sei, die Hand ge¬
boten haben. Als ob das irgend jemand ihm schuld gegeben hätte! Er und der
Verleger der Rundschau haben erklärt, in der Publikation nichts Bedenkliches ge¬
funden zu haben. Das spricht freilich nicht für ihren politischen Blick. Indessen
läßt sich auch der Fall denken, daß einem Redakteur ein Beitrag angeboten würde,
dessen Veröffentlichung niemand Nutzen bringen, aber zuverlässig „Sensation"
machen müßte, und daß er so rechnete: Bringe ich die Sache nicht, so thut es
einer von meinen Konkurrenten, weshalb soll ich mir einen solchen Bissen ent¬
gehen lassen, da ich die Publikation doch nicht hindern kann? Das ist eine von
den unseligen Folgen der Entwicklung des Journalismus zu einer Industrie wie
andre mehr.
So viele freisinnige Blätter wir in den Tagen nachgelesen haben, in keinem
eine Spur der Einsicht, daß der Einsender der Tagebuchauszüge nur dann seine
Absicht erreicht hätte, wenn diese gewesen wäre, das deutsche Volk über den frühen
Hingang des zweiten Kaisers zu trösten. Sind die Sinne wirklich so tot, oder
ließ die Hoffnung, den Reichskanzler ärgern und verkleinern zu können, keine ruhige
Prüfung zu? Das Toben der „führenden" Blätter scheint zu verraten, daß man
zu spät erkennt, auf welcher Seite die staatsmännische Ueberlegenheit war, und
wem das deutsche Volk mehr zu Danke verpflichtet ist.
Der Zweck dieser Schrift ist der, die Denkwürdigkeiten des Herrn von Beust
zu berichtigen, und nachzuweisen, daß Frankreich im Jahre 1870 Grund hatte, für
den Fall des Krieges auf die Bundesgenossenschaft Oesterreichs und Italiens zu
rechnen. Der Verfasser hat in seiner Stellung als Deputirter des Kaiserreichs
nähere Fühlung mit der französischen Diplomatie gehabt und benutzt dieses Ver¬
hältnis, um Dokumente aufzudecken und zu bezeichnen, die dem Geschichtsschreiber
Von Wert sein können. Die Ansichten Darimons zeigen starke Widersprüche. In
der Einleitung wird versichert, daß Gramont, als er die Kandidatur Hohenzollern
aufgriff, nicht im entferntesten an Krieg, fondern nur an eine kleine persönliche
Demütigung des „Herrn von Bismarck" gedacht habe. Das erste Kapitel weist
aber nach, wie Frankreich feit 1867 wiederholt bemüht war, mit Oesterreich ein
Kriegsbündnis zu schließen. Noch im Juni 1870, wo Gramont das Auswärtige
leitete, war die sogenannte Mission Lebrun auf diesen Zweck gerichtet. Interessant
ist, daß Darimon sich der Kurzsichtigkeit anklagt, weil er 1863 Abrüstungsanträge
gestellt und 1867 gegen die Armeeorganisation gestimmt hat.
Der Uebersetzer hätte nicht nötig gehabt, wegen dieser Veröffentlichung einer
Darstellung aus gegnerischen Lager entschuldigende Worte zu machen.
So oft sich über dem Hohenzollernhaufe Wolken ballen und das ungebildete
Volk den Unglücksraben zu lauschen beginnt, werden in den Spinnstuben, Vorstadt¬
kneipen, in allen den Lokalitäten, wo die Klatschbasen und die Kannegießer Hausen,
und wohl auch in der dorthin gehörigen Presse mystische „Prophetengestalten" lebendig.
Während der Kriegsjahre 1866 und 1870 war die Rolle eines solchen dem
„alten Schäfer Thomas" anvertraut; bei Gelegenheit der Erkrankung des Kron¬
prinzen, des nachmaligen Kaisers Friedrich, beim Tode Wilhelms I. trat der „Mönch
von Lehnin" wieder in seine ältern und stärkern Rechte. Der erste der letzt¬
genannten beiden Fälle hat den Verfasser der obengenannten Schrift veranlaßt,
der Weissagung von Lehnin zu Leibe zu gehen. Schrammen weist mit fast zu
viel Gründen nach, daß diese Prophezeiung nicht aus dem 13. Jahrhundert
stammen kann, sondern erst am Ende des 17. zurecht gemacht worden ist. Der
wahrscheinliche Verfasser ist ein Renegat, Namens Adam Fromm.
Der „Bruder Hermann" ist schon früher auf wissenschaftlichem Wege mehr¬
mals hingerichtet worden. Er wird bei passender Gelegenheit auch trotz Schrammen
wieder auferstehen. Der Aberglaube hat ein zähes Leben. Warum aber der
„Mönch von Lehnin" sich so besonders schwer umbringen läßt, das hat seine
Gründe, auf die der Verfasser mit ein paar Worten hätte hinweisen können.
Dieser Mönch bringt der Menge eine doppelte und dreifache Ehrfurcht bei: durch
die lateinische Sprache, durch die Vieldeutigkeit seiner unsinnigen Aussprüche und
durch die Verwendung biblischer, meist aus der Offenbarung geschöpfter Bilder.
Den Inhalt, die Entstehung und den Zweck des Machwerkes legt Schrammen gut
dar. Auch in ruhigen Zeiten wird man das Schriftchen als einen Beitrag zur
Geschichte des Aberglaubens und der Fälschung von Urkunden mit Interesse lesen.
Dieses Buch hat die Bedeutung eines grundlegenden Werkes. Es führt eine
Methode ein, die ebenso neu als einfach ist. Auf einem Felde, dessen Betrachtung,
Beschreibung und Beurteilung jahrzehntelang und länger als die ausschließliche
Sache von besonders Eingeweihten, von Feinschmeckern, Geheimniskrämern gegolten
hat, auf einem Felde, auf dem blinde Schwärmerei und die verworrenste Theorien-
macherei zu Hause waren, auf diesem Felde setzt Bulthaupt mit seiner Dramaturgie
den gesunden Menschenverstand wieder in seine Rechte ein. Das Wesen und der
Kern von Bulthaupts Verfahren besteht darin, daß er die Opern als Dramen prüft,
und darnach in erster Linie beurteilt, was gut und schlecht ist. Unbewußt stimmt
der Verfasser darin mit der Theorie Richard Wagners, und beide stimmen mit dem
Gange der Geschichte überein. Denn die Hellenisten von Florenz erfanden die Oper
nur, weil sie hofften, durch Hinzunahme der Musik das gesunkene italienische Drama
ihrer Zeit zu heben und auf eine Stufe zu bringen, wie sie die antike Tragödie
eingenommen hat. Das Textbuch, das lidrstto, wie man früher sagte, ist immer
das Erste gewesen. Der Zustand der Operndichtung hat für Verfall und Blüte der
Opernmusik zu allen Zeiten den Ausschlag gegeben, und alle großen Komponisten,
welche die Gattung reformirten, bauten ihre Reformen darauf, daß sie Vernunft
in die Dichtung brachten. Es ist merkwürdig zu sehen, daß sich hierbei stets derselbe
Prozeß wiederholthat: Am Anfange der betreffenden Perioden stehen immerOpern mit
ganz einfachen Handlungen. Die Akte find arm an Verwicklung und begnügen sich
mit einer oder mit wenigen großen Situationen, deren Empfindungsgehalt zum Weilen
und zum musikalischen Ausklingen zwingt. Dann kommen die Anekdotenkrämer —
heißen sie nun Aureli oder Scribe — und pfropfen die Dramen mit Intriguen
und Knalleffekten voll, bis schließlich jeder Anhalt für die Tonkunst und für den
menschlichen Verstand überhaupt verloren ist. In solchen Augenblicken tritt dann
immer heiligen Zornes voll der starke und helle Künstler auf, den Wust zusammen¬
zuschlagen und wieder mit einem Neubau einfachster Natur von vorne anzufangen.
Wie nun in der Kritik der Oper der dramatische Standpunkt der vornehmste und
richtige ist, so ist er auch der, auf den sich jeder normale und gebildete Mensch
ohne weiteres stellen kann. Den Gang, den Bulthaupt von ihm aus durch die
Litteratur unternimmt, kann jedermann mitthun. Er erscheint allen als der natür¬
liche Weg; die meisten wird es dabei wie eine Erleuchtung überkommen, und das
frohe Gefühl wird sie durchströmen, daß sie diesen Zustand der Sache, wie ihn der
Verfasser zeigt, imnier selbst geahnt, aber nicht den Mut oder die sonstigen Mittel
besessen haben, bis zu derselben klaren Erkenntnis durchzudringen.
Außer der glücklichen Methode bringt Bulthaupt seinem Thema gegenüber aber
noch mehrere Vorzüge mit, die den Wert seiner Arbeit steigern: eine vorzügliche
Kenntnis des Bühnenwesens, der dramatischen Litteratur, und was die Oper ins¬
besondere verlangt, musikalische Empfindung und Bildung. Infolgedessen beherrscht
er nicht bloß den Plan der einzelnen Stücke, sondern auch das ganze System, zu
dem sie gehören, ist im stände, in alle Einzelheiten einzudringen und sie zu prüfen.
Auch die Fachleute in der Oper, die Sänger, Regisseure, selbst die Kapellmeister,
werden dieser Dramaturgie manchen vorzüglichen praktischen Wink entnehmen können
und häufig über den ganzen Organismus einzelner Opern oder Teile derselben ein
neues Licht verbreitet finden. Es ist schade, daß Bulthaupt uur Gluck, Mozart,
Beethoven, Weber, Meyerbeer und Wagner behandelt hat. Den letzten beiden ist
der zweite Band allein gewidmet. Andre Meister werden nur gestreift. Wir
hoffen aber, daß der Verfasser seine Arbeit über das ganze Opernrepertoire der
Gegenwart erstrecken wird.
Eine Geschichte der Oper hat Bulthanpt weder geben wollen noch können. So¬
weit er sie berührt, folgt er fremde» Autoritäten und übernimmt von ihnen wohl
auch Irrtümer, die bisher noch nicht öffentlich wiederlegt worden sind. So lesen
wir auf Seite 7, daß die Einlagen, die Caccini zu Perl's „Euridice" geschrieben
hat, dem kolorirten Gesänge Konzessionen machen sollen. Der Vater dieses Märchens
ist E. O. Lindner. Seite 9 wird Durante unter den hervorragenden Opernkompo-
nisteu aufgeführt — Durante, der keine Zeile für das Theater geschrieben hat.
Für diesen Bock ist Riehl verantwortlich. Lully's Verhalten gegen Perrin würde
Bulthaupt anders dargestellt haben, wenn ihm das Werk von nunter und Thoman:
orixiuos no I'oxörs. fr^nyaiss bekannt gewesen wäre. Seite 20 finden wir zu
unsrer Verwunderung Mozarts „Don Juan" unter die deutschen Singspiele ein¬
gereiht. Wenn die Geschichte der Oper genau und vollständig vorläge, würde
der Verfasser auch seine Auffassung bezüglich ganzer Gattungen und Perioden zu
berichtigen haben. Da diese Grundlage zur Zeit noch nicht vorhanden ist, kann
Bulthaupt für die Fälle, wo er gegen sie gefehlt hat, nicht verantwortlich gemacht
werden. Uns bleibt nur übrig, zu betonen, daß diese Fälle die Bedeutung seiner
„Dramaturgie" nicht wesentlich beeinträchtigen.
Die Bedeutung dieses Briefwechsels ist vom biographischen Gesichtspunkte aus
eine ganz außerordentliche. Er wird für die Zukunft die wichtigste Quelle sein,
nach der die Entwicklung von Wagners „Musikdrama" darzustellen ist; sowohl was
ihre äußere als ihre innere Geschichte betrifft, giebt er ganz neue Aufschlüsse.
Auch für das menschliche Interesse fällt bei der Lektüre dieser Bände viel ab, wenn
wir auch uicht den Punkt finden können, von dem aus, wie man behauptet hat,
dieser Briefwechsel dem von Goethe und Schiller an die Seite gestellt werden
könnte. Viele von den schroffen Zügen Wagners mildern sich in seinen Briefen, der edle
Charakter Liszts wächst zu einer bewunderungswürdigen Höhe. Außerordentliches
Befremden aber erregt der Umstand, daß in der Korrespondenz dieser beiden hoch¬
gebildeten Männer von andern Dingen als Wagnerschen fast gar keine Rede ist.
Bei einer zweiten Auflage wäre deshalb sehr um ein einleitendes und aufklärendes
Wort des Herausgebers zu bitten.
Zweite Auflage? Wirklich? Wenn das möglich gewesen ist, verzweifeln wir
an dem lesenden Deutschland. Die einmalige Veröffentlichung eines solchen Buches
ist schon Satire genug auf den Geschmack des Publikums und zugleich Blamage
für denselben. Dem Verfasser hat vorgeschwebt, frei uach Montesquieu mehrere
Unsitten unsrer höhern Stände zu geißeln. Die Ausführung dieses guten
Gedankens ist aber über alle Beschreibung matt, witzlos und unbeholfen aus¬
gefallen. Ein langweiliger Versuchsspötter! Daß das Unglücksbuch nur nicht einem
Franzosen in die Hände gerät.
DasBuch giebt Persoualverzeichnis, Rcpertoireauszüge, Chronik und Anekdotisches
Die Zahl solcher lokaler Theatcrgeschichteu ist in den letzten Jahrzehnten erfreulicher
Weise gewachsen. Von Schauspielern und Direktoren verfaßt, haben sie in der
Regel den Hauptzweck, die Erinnerungen der Abonnenten aufzufrischen, können
aber auch als Hilfsmittel für die Geschichtsschreibung gute Dienste leisten, wenn
sie im statistischen Teil vollständig und genau sind. Der Verfasser zeigt nament¬
lich in der Darstellung der Laubischen Wirren guten historischen Sinn.
l e Frage, was eigentlich ein Volk ^sei, beschäftigt nicht erst seit
gestern die Wissenschaft. Kant hat sich an einer Begriffsbestim¬
mung versucht, die in ihrer Dürftigkeit Zeugnis dafür ablegt, wie
geringe Bedeutung zu seiner Zeit dem Volke thatsächlich zuerkannt
wurde. Unter dem Worte Volk, meinte der Königsberger Philosoph,
verstehe man die in einem Landstriche vereinigte Menge Menschen, insofern sie
ein Ganzes ausmache. Die wesentliche Frage, was denn nun der Gesichtspunkt,
das Prinzip oder die wirkende Kraft sei, wodurch die „vereinigte Menge" sich
als Ganzes von andern abscheidet, wird dabei gar nicht berührt. Diesen Mangel
suchte Fichte zu ergänzen, dessen radikaler Idealismus in Deutschland nur ein
einziges Volk, das deutsche, und nur ein staatliches Band, das Reich, gelten
lassen wollte. Volk ist nach Fichte „das Ganze der in Gesellschaft mit
einander fortlebenden und sich aus sich selbst immer fort natürlich und geistig
erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besondern Gesetze
der Entwicklung des Göttlichen aus ihm steht." Auf das „besondre Entwick¬
lungsgesetz" hingewiesen zu haben, ist ohne Zweifel ein großes Verdienst um
die richtige Bestimmung des Begriffes Volk, doch dürfte man immer noch die
volle Klarheit über die Frage vermissen, wie sich denn nun dieses besondre
Gesetz deutlich und unzweifelhaft ausspreche, auf welche Weise es zu erkennen
sei. Hierauf erwidert die neue Wissenschaft der Völkerpsychologie: Das Vor¬
handensein des besondern Entwicklungsgesetzes erweist sich im einzelnen Volke
als eine Thatsache des Bewußtseins desselben. Es ist der Volksgeist, der seiner
selbst bewußt wird und in tausend charakteristischen, insgesamt auf eine gemein¬
same Quelle zurückreichenden Erscheinungen auch für andre erkennbar zu Tage
tritt. Der Volksgeist, sagt Lazarus, ist gerade das, was die bloße Vielheit der
Individuen erst zu einem Volke macht, er ist das Band, das Prinzip, die Idee
des Volkes und bildet seine Einheit. Wenn es sich darum handelt, den ge¬
schichtlichen Begriff eines Kulturvolkes festzustellen, so dürfte diese Bestimmung
genügen. Es entspricht ihr ganz und gar und stimmt auch mit der allgemeinen
Anschauung überein, wenn das „Manuskript aus Süddeutschland" den Satz
aufstellt, daß auch in den Zeiten der politischen Zertrümmerung und Zerrissen¬
heit Deutschlands, uuter der Herrschaft Napoleons und des Rheinbundes, das
deutsche Volk nicht aufgehört habe zu existiren. Der Volksgeist lebte und ver¬
stand die deutschen Gedanken, die Schiller ihm als Vermächtnis hinterlassen
hatte, die Fichte ihm ins Gewissen rief.
Wie klar und bestimmt uns aber auch jetzt der Begriff eines Volkes, wie
er sich in den geschichtlich auftretenden Kulturvölkern verwirklicht, erscheinen
mag, so drängt sich doch sofort auch der Gedanke auf, daß einerseits der
Sprachgebrauch mit dem Ausdrucke Volk noch eine ganze Menge andrer Be¬
griffe verbindet, anderseits aber auch eine ganze Anzahl verschiedener Wissen¬
schaften, die Völkerkunde, die Statistik, das Staatsrecht, die Politik, Begriffe
zu verwenden und zu unterscheiden genötigt sind, zu deren sprachlicher Be¬
zeichnung ihnen das Wort Volk und eine Anzahl sinnverwandter oder da¬
von hergeleiteter Ausdrücke unentbehrlich ist. Diese Ausdrücke, wie Stamm,
Völkerschaft, Nation, finden sich auch im allgemeinen Sprachgebrauche wieder,
und wo nicht das Gegenteil erweisbar ist, wird anzunehmen sein, daß sie dort
zuerst ihre Anwendung gefunden haben und von der Wissenschaft erst über¬
nommen und ihren besondern Zwecken dienstbar gemacht worden sind. Daraus
folgt, daß eine Untersuchung über die Frage, welcher Begriffsinhalt in den
sinnverwandten Wörtern Volk, Völkerschaft, Nation u. tgi. zu finden oder am
zweckmäßigsten hineinzulegen sei, beginnen muß mit einer Betrachtung des
gemeinen Sprachgebrauches und der von ihm verwendeten deutschen Stamm¬
worte, in denen doch jedenfalls die ursprünglichen Vorstellungen und Grund¬
ideen ihren Ausdruck gefunden haben. Welche Vorstellungen verbindet also die
deutsche Sprache ganz im allgemeinen mit dem Worte Volk?
„Die Glucke führt ihr Völklein aus," singt Paul Gerhard, und Gustav
Freytag erzählt in „Soll und Haben": „Auf der Weide saß ein Volk Sper¬
linge." Also Hühner und Spatzen, in unbestimmter Anzahl versammelt, sind
Völker. In eben diesem Sinne, zur Bezeichnung einer Menge von Individuen,
die als Gesamtheit gefaßt wird, überträgt sich das Wort auch auf Menschen.
„Sind doch ein wunderlich Volk, die Weiber!" meint Goethe, der auch von
den Studenten in Auerbachs Keller seineu Mephisto sagen läßt: „Dem Volke
hier wird jeder Tag ein Fest." Aus dem Zusammenhange der Verhältnisse
ergiebt sich für den Sprachgebrauch eine Menge besondrer Anwendungen des
Wortes Volk, die sich für den Beteiligten oder Nahestehenden von selbst
erklären. In mehreren Gegenden Deutschlands bezeichnet man mit Volk, bis¬
weilen auch mit der Mehrzahl Völker, die Dienstboten und Tagelöhner auf
Bauernhöfen. „Als das Volk vom Tisch aufbrach, war der Bauer der letzte,"
sagt Jeremias Gotthelf. In anderen Zusammenhange wird Volk vorzugsweise
das Kriegsgefolge genannt oder die Mannschaft eines Schiffes. Wallenstein
beklagt sich, „daß man den spanischen Namen braucht, sein Volk zu min¬
dern," also seine Armee zu schwächen. Hiervon ergiebt sich der Übergang leicht
zu den politischen Schattirnngen der Wortbedeutung, zugleich tritt uns aber
auch sofort der Umstand entgegen, der für die politische und staatswissenschaft¬
liche Verwendung des Wortes Schwierigkeiten macht. Als Volk bezeichnen wir
nämlich einerseits die Gesamtheit der Teilnehmer eines Gemeinwesens, daneben
aber auch Teile dieser Gesamtheit. Die Abgrenzung dieser Teile aber und die
mit der sprachlichen Bezeichnung sich innerlich verbindende sittliche und soziale
Bedeutung ergiebt eine ganz unübersehbare Menge von Bcgriffsverschiedenheiten.
Das Volk wird dem Fürsten entgegengesetzt, in der Kirche dem Priesterstande;
es wird unterschieden vom Adel, in der modernen Gesellschaft von den begü¬
terten und höher gebildeten Bevölkerungsklassen. Was aber das Werturteil
betrifft, das je nach dem Standpunkte des Redenden, nach dem Zusammenhange
der Rede oder nach der besondern Betonung in dem Worte Volk sich aus¬
spricht, so singt der Dichter Freiligrath: „Noch gestern wart ihr nur ein
Haufen: ein Volk, o Brüder, seid ihr heut," während der Straßenjunge irgend
einer Stadt Niedersachsens der Bande seiner Kameraden, mit der er sich soeben
ohne befriedigendes Ergebnis gerauft hat, mit dem Tone unsagbarer Verachtung
den Schimpfnamen „Volk" zuruft. Auch ohne lange Erwägung wird die
Schwierigkeit in die Augen springen, einen derart in tausenderlei Schattirungen
schimmernden Sprachgebrauch mit der Bestimmtheit, wie sie von wissenschaft¬
licher Systematik gefordert wird, in Einklang zu bringen.
Aber lasten wir die Wissenschaft und ihre Anforderungen vor der Hand
noch bei Seite. Das Bedürfnis der gebildeten Sprache hat neben dem
Worte Volk sich auch den Ausdruck Nation angeeignet zur Bezeichnung einer
Gesamtheit von Individuen, die durch besondre Kulturgemeinschaft geeinigt
sind. Ist das Fremdwort „Nation" wirklich ein Bedürfnis gewesen? Jedenfalls.
Alles, was erworben und angeeignet wird, das wird erworben und angeeignet,
nur weil es einem Bedürfnis entspricht. Die Frage ist: war das Bedürfnis,
das dieses Fremdwort der deutschen Sprache einverleibte, berechtigt? Viele
Fremdwörter, die unsre Sprache verunzieren, haben ihren Grund in einem
Bedürfnis der Geckenhaftigkeit, der Pedanterie, der Geistesträgheit. Gehört
das Wort Nation vielleicht mit zu dieser Klasse, so daß es im Grunde
überflüssig wäre? Ganz gewiß nicht, denn das Bedürfnis liegt klar zu Tage
und ist durchaus berechtigt. Dem Zweifel gegenüber, der bei dem Worte Volk
entsteht, ob das Ganze oder ein Teil einer Gemeinschaft, ob ein winziges
Ganze „ etwa das Volk von Anhalt — oder ein großes, geschichtlich bedeu¬
tendes bezeichnet werde, war ein Ausdruck gefordert, der unter allen Umständen
ein umfassendes Ganze bedeutet. War mit der Bezeichnung Volk häufig
eine herabsetzende Bedeutung verbunden, so verlangte man nach einem Worte,
das immer und überall seine volle Würde behauptete. Insbesondre machte
dieses Bedürfnis sich geltend, seit die Völker anfingen, mit bewußter Selb¬
ständigkeit ihren Platz in der Weltgeschichte zu beanspruchen, seit sie von der
Leidenschaft ergriffen wurden, als Kulturmächte die Besonderheit ihres geistigen
Wesens auf allen Lebensgebieten zur Geltung zu bringen, seit das Nationalitäts¬
prinzip anfing zum herrschenden in der geschichtlichen Entwicklung zu werden.
Als Nationen bezeichnen sich jetzt diejenigen Völker und wollen die Völker
bezeichnet sein, die den Anspruch erheben, sich eigenartige und umfassende Kultur¬
aufgaben zu stellen und diese in voller Selbständigkeit zu lösen. Daher liegt
in dem Worte Nation etwas Auszeichnendes, schmeichelhaftes, das die rheto¬
rische Verwendung begünstigt. Diesem Gebrauche kommt überdies noch der
volle Ton auf der letzten Silbe in besondrer Weise zu statten. So sagte denn
Heinrich von Gagern in seiner berühmten Erklärung, die auf Grund der Volks¬
souveränität dem Frankfurter Parlamente das Recht einer verfassunggebenden
Versammlung zusprach: „Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung,
sie liegen in der Souveränität der Nation." Damit war unzweideutig das
ganze Deutschland bezeichnet, zugleich lag in dem Ausdrucke ein Hinweis auf
den selbständigen, unabhängigen Willen, der jetzt das deutsche Volk auszeichne.
Schon einige Wochen vorher, ehe Gagern das souveräne Recht der deutschen
„Nationalvertretung" zur Schaffung einer Reichsverfassung behauptete, hatte
der Vertreter der alten Zeit, Fürst Metternich, der früher auch von einem
deutschen Volke nichts hatte hören wollen, in einer Zirkulardepesche von der Not¬
wendigkeit gesprochen, Maßregeln zu treffen zur Befriedigung gerechter Wünsche
der „Nation." Seit dem 24. Februar 1843 erschien es auch der Diplomatie
der alten Schule als ein Gebot zeitgemäßer Höflichkeit, das deutsche Volk mit
„Nation" anzureden. Wohl ist es ganz erlaubt, passend, ja da, wo nüchterner
juristischer Ausdruck seine Stelle hat, sogar geboten, die Gesamtheit der politisch
geeinten Deutschen als deutsches Volk zu bezeichnen, aber wir werden auch
ohne Bedenken von einem preußischen, württembergischen Volke, ja von einem
Volke von Koburg und einem Volke von Berlin sprechen. Eine Nation aber
ist das deutsche Volk, soweit es den deutschen Kaiser als nationales Oberhaupt
über sich hat. In der Blütezeit des Partikularismus hat man vielfach den
Versuch gemacht, den partikularstaatlichen Bevölkerungen einen besondern Stolz
oder auch Dünkel einzupflanzen, indem man sie als Nationen bezeichnete.
Preußens Größe und Bedeutung gestattete auch, daß von einer preußischen
Nation, einer preußischen Nationalversammlung ohne Ironie gesprochen wurde,
während eine Nationalhymne von Sachsen-Altenburg außerhalb der Grenzen
dieses Reiches kaum ohne Lächeln genannt werden konnte. Heute ist als Er¬
innerung an die einstige preußische „Nation" etwa noch die Nationalkokarde
übrig geblieben, die indes in Z 34 des Strafgesetzbuches für das deutsche Reich
in eine Landeskokarde umgewandelt ist.
Als Grenzen der deutschen Nation sind soeben die Grenzen des deutschen
Reiches angegeben worden. Die Deutschen in Österreich, in den baltischen
Provinzen Rußlands, in Amerika, sofern sie sich überhaupt ihres Deutschtums
bewußt geblieben sind, zählen wir nicht der deutschen Nation zu, sondern nur
der deutschen Nationalität. Somit ist allerdings klar, daß dem Begriffe
Nation eine staatliche Beziehung eigen ist. Aber ganz irrtümlich ist es, in
der Schlußfolgerung so weit zu gehen, daß man die Behauptung aufstellt,
Nation bezeichne die Gesamtheit als Staatsindividuum, während Volk „mehr
diejenigen Beziehungen umfasse, durch die sich die große Gesamtheit stamm¬
verwandter Menschen als in sich geschlossenes Ganze darstellt." (Sanders im
Wörterbuch.) Dieser Gegensatz besteht nicht. Was Nation von Volk unter¬
scheidet, ist wesentlich subjektive Zuthat: das Volk soll als ein großes, selb¬
ständiges, kulturmächtiges hervorgehoben werden. Die Bürgschaft für Selb¬
ständigkeit und freie Entfaltung des Kulturlebens, für eine mächtige Einwirkung
desselben auf die Entwicklung der Menschheit, liegt allein in einem unab¬
hängigen Staatswesen. Daher die staatliche Tendenz des Nationalitätsprinzips,
das aber seine Beruhigung findet, sobald sich die Nation in einem mächtigen
Gemeinwesen abgeschlossen hat. Das Bedürfnis eines Kulturvolkes geht darauf,
durch ein mächtiges Gemeinwesen sich seine selbständige, unabhängige Entwicklung
zu sichern; es verlangt durchaus nicht, alle Nationalitätsgenossen, d. h. die
durch gemeinsame Abstammung, Sprache, Sitte verwandten in sein Gemein¬
wesen aufzunehmen.
Eine staatliche Beziehung wohnt dem Begriffe der Nation immer bei, aber
die Bezeichnung enthält deshalb keineswegs einen staatlichen Rechtsbegriff, sie
drückt keinen staatsrechtlichen Begriff aus. Das Staatsrecht gebraucht den
Ausdruck Volk in zweifacher Bedeutung, teils zur Bezeichnung der Gesamt¬
heit der Staatsangehörigen, wobei in Monarchien der Fürst mit eingeschlossen
ist, teils zur Zusammenfassung der Unterthanen im Gegensatze zum Staats¬
oberhaupte. Ein Bedürfnis zur Aufnahme der Ausdrücke: Nation, Nationa¬
lität u. s. w. in ihren Wortschatz liegt für die staatsrechtliche Wissenschaft nicht
vor. Sie wüßte auch mit diesen Begriffen, die des unzweifelhaften äußern
Merkmales entbehren, kaum etwas anzufangen. Wo das Recht in Frage kommt,
können nur untrügliche, unbezweifelbare äußere Kennzeichen wie Geburt, Wohn¬
sitz, Religionsbekenntnis entscheiden, nicht so dehnbare und schwankende Bestim¬
mungen, wie die der Nationalität. Ob die Juden eine Nationalität, ein Volk
oder gar eine Nation genannt werden können, ist daher eine Frage, die dem
Staatsrechte immer fremd bleiben wird. Rechtlich kann ein Jude, wenn er
überhaupt unterschieden werden soll, nichts sein als ein Bekenner der mosaischen
Religion. Ähnlich verhält es sich in andern Wissenschaften, die für ihre begriff-
liebe Grundlegung Ausdrücke wie Stamm, Volk, Völkerschaft u. dergl. ver¬
wenden müssen. Sie thun am besten, sich mit Bemühungen, den wissenschaft¬
lichen Sprachgebrauch, sei es nun im allgemeinen oder den eines besondern
Wissenszweiges der gemeinen Sprachweise anzupassen, nicht allzusehr zu quälen.
Solche Bemühungen werden sich selten durch entsprechenden Erfolg belohnt
sehen. Das Element der allgemeinen Sprache ist viel zu unstet und schwankend.
Wo eine Wissenschaft sich der sorgfältigen und immer währenden Berücksichtigung
desselben nicht entziehen kann, da hat sie selber Mühe, den streng wissenschaft¬
lichen Charakter zu bewahren. Das Beispiel der Politik legt hierfür Zeugnis
ab. Eine wissenschaftliche Behandlung derselben, die sich nicht im Nebel einer
unfruchtbaren Abstraktion verlieren soll, muß sich eng an das bewegte Volks¬
und Staatsleben anschließen. Damit ist ihr aber auch die Notwendigkeit auf¬
erlegt, die thatsächlich vorhandenen Begriffsbildungen und den sich daraus er¬
gebenden Wortgebrauch sorgfältig zu berücksichtigen und in die eigne Gedanken¬
bearbeitung aufzunehmen. Ein politischer Schriftsteller möchte immerhin der
Ansicht sein, daß der Name Volk mit Fug nur der Gesamtheit der Deutschen
zukomme, er hätte sich im Jahre 1848 doch nicht anders ausdrücken können,
als wie es Prinz Albert von England in einer Denkschrift vom 28. März des
genannten Jahres that, indem er schrieb: „Wir haben in Deutschland individuell
verschiedene Völker, in sich vollkommene Staaten."
Die Sprache der praktischen Politik bewahrt naturnotwendig immer eine
starke Beimischung von Subjektivität. Der Gebrauch oder Nichtgebrauch eines
bestimmten Wortes kann oft fast einem politischen Glaubensbekenntnisse gleich¬
kommen. Das Wort Nation wird schwerlich über welfische oder ultramontane
Lippen kommen, wenn es sich um Deutschland oder Italien handelt. Man
könnte ja darin ein Zugeständnis erblicken zu Gunsten des Nationalitätsprinzipes.
Sogar ganz falsche Bezeichnungen behält die politische Sprache mit dem vollen
Bewußtsein der Unrichtigkeit bei, wo diese etwa Parteizwecken dienen, also einer
subjektiven Absicht, die über das objektive Sprach- und Denkgesetz triumphirt.
Wie viele haben leidenschaftlich für die Selbständigkeit der deutschen Stämme —
der Württemberger und Nassauer — gesprochen, die vielleicht Bescheid wußten
um alle siebenundzwanzig Herrschaften, aus deren einstigen Besitze Land und
Volk des in Wiesbaden regierenden Herzogs „stammte!" Auch die hyper¬
bolischer Neigungen der Nhethorik behaupten in der Politik ihr Recht und
machen sich im Gebrauche der Benennungen Volk und Nation geltend. Dem
patriotischen Österreicher bleibt es unbenommen, unter den „Völkern" des Kaiser-
staates die Slovaken aufzuzählen, ohne daß dem Rechte der Wissenschaft damit
zu nahe getreten wäre, zwischen Volk und Völkerschaft zu unterscheiden. Wir
Deutschen mögen uns freuen, daß das allgemeine Bewußtsein und die strengste
Wissenschaft darin übereinstimmen, in einer tausendjährigen Geschichte auch unter
den schwersten Leiden und Drangsalen doch die ununterbrochene Entwicklung
eines und desselben deutschen Volkes zu erblicken, das heute in erhebenden
Bewußtsein seiner Einheit, seiner Unabhängigkeit und seiner Bedeutung als
Kulturmacht mit berechtigtem Stolze sich eine große Nation nennen darf.
n dem Vortrage, den Dubois-Reymond in der 45ten Versamm¬
lung deutscher Naturforscher und Ärzte über die Grenzen des
Naturerkennens gehalten hat, nannte er die Naturwissenschaft die
Weltbesiegerin unsrer Tage. Er selbst gab aber durch seinen
Vortrag den Beleg dafür, daß der Ausdruck unrichtig ist, wenn
man unter Welt die Körperwelt versteht. In dem Siegeslaufe, den die Natur¬
wissenschaft fast seit zwei Geschlechtern, seit Hegels Tode, unbestritten genommen
hat, deutete für jeden besonnenen Denker das auf große Vermessenheit, daß sie
mit dem Erkennen der Körperwelt zugleich die Geisteswelt erkannt zu haben
den Anspruch machte. Sie wurde freilich von vornherein dafür genug gestraft;
denn ihre ganze Erkenntnis nach dieser Seite hin lief darauf hinaus, daß die
Geisteswelt so gut wie ein Nichts sei. „Für die Naturforschung," sagt C. Vogt
in den „Bildern aus dem Naturleben," „ist die Seele kein immaterielles, von
dem Körper trennbares Prinzip, sondern nur ein Kollektivname für verschiedene
Funktionen, die dem Nervensystem, dem Gehirn, ausschließlich zukommen, und
die ebenso wie alle andern Funktionen der verschiedenen Organsysteme des Körpers
bei Störung des Organs modifizirt werden. Geht das Organ, geht der Körper,
dem es angehört, zu Grunde, so hört auch damit die Funktion auf; stirbt der
Körper, so hat auch damit die Seele ein vollständiges Ende. Die Natur¬
forschung kennt keine individuelle Fortdauer der Seele nach dem Tode." Richtig
ist hier, daß die Naturforschung keine Fortdauer der Seele kennt, falsch ist,
daß C. Vogt die Vorstellung erweckt und erwecken will, als sei an das Ende
des Körpers auch das der Seele gebunden, und als sei die Seele selbst aus
der Erkenntnis des körperlichen Organismus erkannt. Hier liegt die schlimme
Verwechslung von bloßem Bedingtsein und Gesetztsein vor. Vom physiologischen
Standpunkte aus ist die persönliche Seele, der Geist, allerdings bedingt durch
den Organismus des Körpers; das kann uns schon die tägliche Erfahrung
des verschiedenen Befindens mit der davon abhängigen Stimmung lehren.
Damit ist aber doch nur das eine gesagt, daß die Idee an der Materie zur
Offenbarung kommt, nicht, daß sie durch die Materie gesetzt ist. Daß dieses
beides zu verwechseln ein Denkfehler ist, wird sich, wie wir hoffen, aus unsern
Erörterungen ergeben. Dieser Fehler des Denkens, der in den fünfziger Jahren
diejenigen, welche der Naturwissenschaft angehörten oder auch anzugehören ver¬
meinten, oft in einen unsinnigen Taumel versetzte, fand in der Erklärung
C. Vogts seinen bezeichnendsten Ausdruck, daß die Seelenthätigkeiten nur
Funktionen des Gehirns seien und die Gedanken in demselben Verhältnis zum
Gehirn stünden, wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren. Also
die Seelenthätigkeiten und damit die Seele selbst ist darnach nur Absonderung
des Gehirns. Das Buch, worin so gesprochen wurde, „Köhlerglaube und
Wissenschaft," war Jahre lang das Evangelium nicht bloß der lockern Geister,
sondern auch aller der Laien, die unbefriedigt waren von den Ergebnissen
eines unfruchtbaren, abstrakten Denkens, wie es nach Kant die Spekulation
zumeist bot. Unbekannt mit einem historisch gebildeten philosophischen Denken,
das den Blick auf das Ganze der Leistungen menschlicher Geistesthätigkeit
gerichtet hält und so sich sicher zurecht findet, suchten sie eine Erkenntnis der
letzten Fragen bei den Naturwissenschaften und, wie das bei Suchenden zu
geschehen pflegt, glaubten sie nur denen, die diese Erkenntnis gefunden zu
haben behaupteten, obgleich, wie gesagt, dieser Fund in einem Nichts bestand.
Indessen das Forschen nach Wahrheit trägt überall in sich selbst den besten
Kompaß zur Auffindung des rechten Weges. Und so traten auch, nachdem
die Periode vermessenen Anstürmens in den Naturwissenschaften vorüber war,
aus dieser selbst Männer auf, die auch philosophisch genügend gebildet, ihre
Gedanken soweit in logische Zucht zu nehmen wußten, daß sie die Grenzen
ihres Gebietes abzustecken für eine und zwar die erste heilsame Aufgabe ihres
naturphilosophischen Forschens erkannten. Der genannte Vortrag von Dubois-
Neymond war hier epochemachend. Gerade daß eine solche Berühmtheit der
Naturwissenschaft selbst auf die Fehler hinwies, die diese Wissenschaft damit
machte, daß sie Hypothesen für ausgemachte Wahrheiten nahm, mußte viele
Forscher auf diesem Gebiete zur Besinnung bringen. Es waren aber zwei
Irrtümer über die Grenzen des Naturerkennens, die Dubois-Reymond als sehr
verbreitet bezeichnete. Von ihnen sind viele Geister auch heutzutage noch beherrscht,
und darum ist es wohl gerechtfertigt, immer wieder darauf hinzuweisen, daß
hier eben Irrtümer walten, und daß, wer sich ihnen hingiebt, notwendig eine
Irrfahrt in die Wüste unternimmt.
Der erste Irrtum ist der, daß man glaubt, mit dem Erkennen der Körper¬
welt durch die theoretische Naturwissenschaft auch das Wesen der Materie und,
wie man gleich noch hinzunimmt, der Kraft erkannt und „das, was hier im
Raume spukt," erfaßt zu haben. Wie steht es mit diesem Glauben?
Es mag sein, daß der Naturforscher als solcher sein Kausalitätsbedttrfnis
befriedigt fühlt, wenn er die Veränderungen in der Körperwelt auf die Bewe¬
gungen von Atomen oder auf deren Zentralkräfte zurückgeführt und die Natur-
Vorgänge in Mechanik der Atome aufgelöst zu haben glaubt. In diesem Sinne
sagt Dubois-Reymond: „Denken wir uns alle Veränderungen in der Körper¬
welt in Bewegungen von Atomen aufgelöst, die durch deren konstante Zentral¬
kräfte bewirkt werden, so wäre das Weltall wissenschaftlich erkannt." Dies
wäre es deshalb und insofern, als man die gesamten Wcltvorgänge, den ganzen
Weltverlauf in mathematischen Formeln, oder genauer in einer mathematischen
Formel, „durch ein unermeßliches System simultaner Differentialgleichungen"
vorstellig machen könnte, sobald es einen menschlichen Verstand in solcher Voll¬
endung gäbe, daß er alle Kräfte kennte, die in der Natur wirksam sind. Für
den würde das Weltganze eine einzige Thatsache und darum in einer mathe¬
matischen Formel begreifbar sein. Wenn auch der menschliche Geist von einer
solchen Naturerkenntnis stets weit entfernt bleiben und das Buch der Natur
auch nur in ihren Bewegungsvorgängen, wie sie durch die Sätze der Mechanik
mathematisch darstellbar sind, für die Forschung unaufhörlich Geheimnisse bergen
wird, so sind das doch Geheimnisse, die einer Lösung fähig sind, an der
fort und fort zu arbeiten die Aufgabe und die Freude der Naturwissenschaft
bleiben wird. Aber gesetzt nun, die Naturwissenschaft hätte die Anordnung
und Bewegung aller Substrate, also dessen, was sie Atome nennt, erkannt,
gesetzt, sie hätte den Stein der Weisen gefunden, der die heute noch unzerlegten
Stoffe in einander umwandelte und alle aus einem letzten höheren Grundstoffe
erzeugte, würde sie damit für alles Entstehen etwas andres gefunden haben,
als das „Weil" einer bloß äußerlichen Kausalität, eines bloß mechanischen Zu¬
sammenhanges? Hätte sie etwa mit der Erkenntnis der Anordnung und
Bewegung der Atome auch das Wesen derselben, ja nur die Eigenschaften dieses
eigenschafts- und unterschiedslosen Urstoffes, den wir Materie nennen, begriffen?
Die Naturwissenschaft begreift wohl, aber wird auch immer nur das „Weil,"
nie das „Wie" und „Warum," geschweige denn das „Was" begreifen. Das,
was wir Naturerkennen nennen, mag es noch so hohe Stufen erreichen, wird
in das Wesen der Materie niemals eindringen. Hier ist das Issnorg.inn8,
wie Dubois-Reymond so wahr und schön sagt, ein IssnorMurus.
Und weil das so ist, weil wir nicht sagen können, was Materie und
Kraft ist, darum ist auch das Naturerkennen in Wahrheit kein Erkennen, wenn
man unter Erkennen ein Erfassen des letzten Grundes, des Urgrundes ver¬
steht. „Die Vorstellung," sagt Dubois-Reymond, „wonach die Welt aus stets
dagewesenen und unvergänglichen kleinsten Teilen besteht, deren Zentralkräfte
alle Bewegung erzeugen, ist gleichsam nur Surrogat einer Erklärung." Dieses
Surrogat ist aber eine Fiktion, nützlich für die mathematische Physik, da durch sie
das Verhalten der aus solchen unzähligen Atomen bestehenden Masse sich
erklärt; denn „sie (diese Fiktion) führt alle Veränderungen in der Körperwelt
auf eine konstante Summe von Kräften und eine konstante Menge von Materie
zurück und läßt an den Veränderungen selber also nichts zu erklären übrig." Der
Naturforscher als solcher, der es nur mit der Kategorie von Ursache und
Wirkung zu thun hat, kann und soll sich also mit dem „Weil" begnügen. Auf
dem ganzen Gebiete der Naturforschung gilt das Wort Goethes:
Wie? Wann? und Wo? Die Götter bleiben stumm;
Du halte dich an's Weil, und frage nicht Warum!
Aber daß sich das Leben, und zwar nicht bloß das der Forscher, sondern noch
vielmehr das des Volkes und der ganzen gesitteten Menschheit nicht damit
begnügt, seine Gedanken in die Kategorie der Kausalität einzudämmen, daß die
Gedanken der gesitteten Menschen über das Gebiet des Naturerkennens hinaus¬
gehen und hinausgehen müssen, das zeigt die Kulturgeschichte auf jeder Seite
von ihrem Anfange an. Der gesittete Mensch braucht eine Antwort auch auf
das „Was" und das „Warum" alles Seins, d. h. auf Wesen und Zweck seines
Lebens und der Dinge, die ihn umgeben.
Sobald wir aber nun tiefer einzudringen verlangen und das Wesen jener
konstanten Summe und konstanten Menge, d. h. das Wesen von Kraft und
Materie begreifen wollen, finden wir die atomistische Vorstellung völlig unbrauch¬
bar. Sie ist unbrauchbar, weil man sich nicht recht denken kann, wie ein Atom,
d. h. etwas nicht weiter Teilbares, Raumloscs, raumerfüllende Kräfte ausgehen lassen
kann. Soll es wirken im Raume, so muß es einen gewissen, wenn anch noch so
kleinen Raum erfüllen. Erfüllt es Raum, so ist es auch uoch teilbar. Wollte
man sich das Atom nur als Kraft, als Punkt und zwar als Mittelpunkt von
Zcntralkräften denken, so ist der Punkt „die im Raume vorgestellte Negation
des Raumes," und man begreift auch so nicht, wie die Negation des Raumes
raumerfülleud sein kann. So ist der philosophische Begriff des Atoms, mit
dem die Naturwissenschaft so viel als einem Letzten operirt, in sich haltlos
und keineswegs geeignet, weder das, was wir Materie, noch das, was wir
Kraft nennen, irgendwie begreiflich zu machen. Wir stehen hier, wie Dubois-
Neymond sagt, an der Grenze des menschlichen Wissens."
Es ist höchst merkwürdig, wie wenig die menschliche Vernunft in der Er¬
forschung der letzten Gründe seit Jahrtausenden vorgeschritten ist. Denn daß
wir bei dem angegebenen Punkte des Iß'norMmus thatsächlich an der Grenze
unsers Witzes stehen, hat bereits die griechische Philosophie erkannt. Von
Anaxagoras an bis zu Aristoteles war diese sich klar bewußt, daß man mit
der Materie als einem letzten nicht rechnen könne, wie das die alten Jonier,
Thales, Anaximander, Anaximenes gethan hatten. Unter diesen war Anaxi-
mander (geb. um 610 v. Chr.) ein höchst bedeutender Denker. Denn wenn
andre dieser ionischen Naturphilosophen eines der vorhandenen Elemente, Thales
das Waffer, Anaximenes die Luft, als das allen Erscheinungen zu Grunde
liegende ansahen, so ging er in eigenartiger Forschung über alle substantiellen
Gründe hinaus und bezeichnete als Anfang von allem das Unbegrenzte, die
unendliche Masse des Stoffes überhaupt, aus der alle Dinge entstanden seien,
in die alle zurückkehrten. Dieses Unendliche, Unbegrenzte, 50 «?c6^vo, ist ver¬
schieden von allen bestimmten Stoffen, die erst aus ihm geworden sind, es ist
selbst ungeworden und unvergänglich, von ewiger Bewegung, in deren Folge
sich eben die bestimmten Stoffe ausschieden; durch solche Ausscheidung, und
zwar aus dem Feuchten, bildete sich auch die Erde. Durch die Physiker des
fünften Jahrhunderts wurden diese Gedanken weiter fortgeführt, und dabei
kommen gewisse Theorien, wie die atomistischen, unsern heutigen naturwissen¬
schaftlichen so nahe, daß man über dieser Ähnlichkeit den Unterschied der Zeiten
vergessen kann und sich fragen muß, ob denn die Philosophie, auch die Philo¬
sophie der Naturwissenschaft und gerade sie, seit Aristoteles überhaupt in der
Erklärung der Welt wesentlich weiter gekommen sei. So will, um auf die
atomistische Theorie hinzuweisen, Leukippos, der von der Unmöglichkeit alles
Entstehens und Vergehens überzeugt ist, alle Erscheinungen erklären aus zahl¬
losen Körperchen, die durch die Leere von einander geschieden unteilbar sind,
«ro^ete. Sie sind ungeworden und unvergänglich, gleichartig der Substanz nach,
ohne qualitative Veränderung, nur unterschieden durch Gestalt und Größe,
weshalb sie nur durch ihre Lage einer Veränderung unterliegen. Alles Ent¬
stehen und Vergehen ist nur ein Sichverbinden und Trennen dieser Atome.
Bis hierher, d. h. gerade so weit, als die heutige Naturwissenschaft auf natur¬
philosophischen Gebiete, war die griechische Philosophie gekommen, als sie von
Anaxagoras weiter geführt wurde. Dieser größte Geist vor Sokrates erkannte
zuerst, daß hinter der Materie etwas steht, was nicht durch sie erklärt werden
kann. Zwar den letzten Satz der ionischen Naturphilosophen nahm er auf und
sagte, wie sie: „Entstehen und Vergehen nehmen die Hellenen mit Unrecht an.
Kein Ding entsteht oder vergeht; es findet von vorhandenen Stoffen Mischung
oder Trennung statt, und somit könnten sie (die Hellenen) richtig das Entstehen
ein Sichverbinden, das Vergehen ein Sichtrennen nennen." Aber er blieb hierbei
nicht stehen, sondern wies darauf hin, wie schon die Bewegung, durch welche
diese Verbindung und Trennung geschieht, nicht aus dem Stoffe selbst zu er¬
klären ist, vollends eine zum zweckvollen Ganzen sich ordnende Bewegung.
Diese kann nur — und das nahm dann Sokrates von ihm auf, oder vielmehr er
traf darin mit ihm zusammen — von einem Wesen stammen, das Zwecke setzen
und durchführen kann, d. h. das allweise und allmächtig ist. Das ist der vovs
des Anaxagoras, ein zweckesetzender Geist, der weder durch ein anders ist, noch
mit einem andern vermischt ist, sondern der allein für sich ist, ^vo^os
ec-lo-rov. Von diesem Funde des Anaxagoras ging eine neue Epoche der mensch¬
lichen Einsicht aus, die sich dem Christentums entgegen bewegte. Wir können
diesen Gedanken hier nicht weiter verfolgen; wer aber über die Fragen, die die
Materie und die Erklärung der Welt aus der Materie betreffen, Aufschluß
haben will, kann ihn am besten holen aus dem ersten Bande von Zelters Ge¬
schichte der griechischen Philosophie. Wir wollen hier nur auf das hinweisen,
was sich aus dem bis jetzt gesagten für uns ergiebt, und das heißt so: Die
gesamte Körperwelt kann und wird für das naturwissenschaftliche Erkennen
immer verständlicher werden; aber dies Erkennen hat seine Schranken an der
Frage nach dem Begriffe von Materie und Kraft.
Das ist die eine Grenze des Naturerkennens. Die andre Grenze, vor
der wir stehen bleiben müssen, weil sich hier eine „Kluft aufthut, über die kein
Steg, kein Fittig trägt," ist das Bewußtsein. Es ist nicht nur bis jetzt aus
materiellen Bedingungen nicht erklärbar, es wird es nie sein. Wo Dubois-Reymond
in seinem oben citirten Vortrage von Bewußtsein spricht, da will er darunter
nicht bloß die höchste Seelenthätigkeit, vermöge der das Ich sich selbst erfaßt,
verstanden wissen, sondern überhaupt „die Thatsache eines geistigen Vorganges
irgend einer, sei es der niedrigsten Art," auch also das Bewußtsein auf seiner
ersten Stufe, der Sinnesempfindung. „Mit der ersten Regung von Behagen
oder Schmerz, die im Beginne des tierischen Lebens auf Erden ein einfaches
Wesen empfand, ist jene unübersteigliche Kluft gesetzt und die Welt nunmehr
doppelt unbegreiflich geworden." Mir scheint, daß man doch zwischen jener
ersten Stufe der bloßen Sinnesempfindung und jener höchsten des geistigen Er¬
fassens seiner selbst, wodurch die Persönlichkeit selbst damit erst festgestellt wird,
daß das Ich nicht bloß alles Nicht-Ich als sein Du sich gegenüber stellt, sondern
auch sich in sich selbst objektivirt und zum Gegenstande der Betrachtung macht,
einen wesentlichen Unterschied machen muß. Denn mit der bloßen Empfindung
hat man erst den Begriff des Lebens. Leben ist Empfinden; wer also die bloße
Empfindung schon als etwas aus materiellen Bedingungen unbegreifliches, wie
es das allerdings schon ist, auffaßt, der müßte eigentlich eine dreifache Grenze
für das Naturerkennen aufstellen; auch das „Leben" muß ihm, wie gesagt, ein
Unbegreifliches sein. Denn selbst wenn er die Bedingungen allesamt angeben
könnte, unter denen einst Leben möglich wurde, so wird er nie in der ganzen
Reihe lebendiger Wesen den Punkt angeben können, wo sich die potentielle
Energie in die aktuelle, die träge Materie in eine bewegte umsetzte. Dubois-
Neymond hält dagegen die Frage nach dem Entstehen des Lebens nur für ein
überaus schwieriges Problem, das vielleicht auch nie werde gelöst werden, das
aber doch keine Grenze des Naturerkennens sei; „ob das Leben zuerst auf tiefem
Meeresboden als Bathybiusurschleim erschien oder unter Mitwirkung der noch
mehr ultraviolette Strahlen entsendenden Sonne bei noch höherem Partiären
Drucke der Kohlensäure in der Atmosphäre, wer sagt es je?" Aber da wir
jenen Zustand, der angenommen wird, wenn von der mehr ultraviolette Strahlen
entsendenden Sonne :c. die Rede ist, nicht herstellen können, so ist dies auch ein
unbedingtes Hindernis für die Erkenntnis, aus solchen Bedingungen Urzeugung,
Aöllöratio aeauivoog., beobachten zu können. Wie wollen wir aus einem Zustande,
den kein forschendes Auge, weder wenn es sich rückwärts noch wenn es sich
vorwärts wendet, erschauen kann, wie wollen wir da überhaupt wissen, ob Ur-
zeugung möglich ist? Was zumal die Zeugung aus Bathybiusurschleim an¬
langt, so ist auch diese Hypothese, wenn man sie für ^noratio asouivoog, be¬
nutzen will, durch so besonnene Forscher wie den Zoologen Möbius in Berlin
als beseitigt anzusehen. Soweit thut sich auch hier ganz dieselbe Kluft auf,
„über die kein Steg, kein Fittig trägt." Und darum wäre es, wie gesagt, ge¬
nauer, ein dreifaches Unbegreifliches für das Naturerkennen zu setzen. Mit dem
Bewußtsein in seiner höchsten uns bekannten, der menschlichen Form, ist in der
That etwas ganz Neues, das, was wir im Unterschiede von der tierischen Seele
Geist nennen, gegeben, ein Etwas, mit dem eine neue Reihe der Wesen beginnt
und durch das der Mensch für das Tier selber ein höheres Wesen, wenn man so
will, sein Gott, seine Religion wird. Indessen, es kann uns hier nicht weiter
darauf ankommen, den Unterschied zwischen Empfinden und Bewußtsein festzu¬
setzen; für die Erledigung unsers Gegenstandes können wir immerhin das eine
nur als eine höhere Stufe des andern betrachten, um das festzuhalten, daß das
eine wie das andre nicht aus materiellen Bedingungen zu begreifen ist. Wir
wissen, daß unsre geistige Thätigkeit freilich an das Gehirn gebunden ist, aber
alle Kenntnis der Beschaffenheit des Gehirns enthüllt uns schlechterdings nichts
darin, als nur Materie; aber „durch keine zu ersinnende Anordnung oder Be¬
wegung materieller Teilchen läßt sich eine Brücke ins Reich des Bewußtseins
schlagen." Mögen die geistigen Vorgänge immerhin an materielle im Gehirn
gebunden sein, darum aus den einen für die andern einen zureichenden Grund
zu entnehmen, wie das C. Vogt thut, wenn er das Denken als eine Absonderung
des Gehirns ansieht, das ist selber unzureichendes Denken. Wir können wohl sagen,
daß mit gewissen äußern Bedingungen und Vorgängen auch solche des Geistes¬
lebens zugleich gesetzt sind, wie dies bereits Geulincx und Malebranche wußten
und zum Ausgangspunkte ihrer Forschungen machten, aber wir können nicht
sagen, weder daß das Geistesleben erst durch diese äußern Bedingungen zu stände
kommt, noch wie das geschieht. Wenn wir nicht einmal begreifen können, wie
es kommt, daß unser Sehvermögen eine farbengltthende, und unser Gehörsinn
eine tönende Welt vernimmt, während diese doch an sich „finster und stumm,"
d. h. eigenschaftslos ist, wie wollen wir da aus rein materiellen Bedingungen
die geistige Thatsache des Ich erklären, jene Gewißheit von etwas, das nur
in sich selbst ruht und Subjekt von allem ist, was es erfährt und thut. d. h. was
in das Ich eingeht und was von ihm ausgeht? Da reicht keine, auch nicht die
genaueste Kenntnis der Hirnatome zu. Wenn also schon das Problem der
Sinnesempfindung die Grenze ist, bis zu der die Kenntnis der Mechanik nur
führt, noch mehr stellt das Problem des Ich allem Verstehen desselben aus
materiellen Bedingungen eine Schranke entgegen. Darum erweitertauch hierDubois-
Neymond mit vollem Rechte sein iFnoramus zu einem Ixuoradimus. Die Rätsel
der Körperwelt mögen, wie sie das thun, uns noch tausendfach in unermessener
Höhe und Tiefe umgeben, aber in diese Körperwelt und ihre Bedingungen kann
der menschliche Verstand eindringen und thut es von Tag zu Tage mehr; hier
schaut der forschende Geist, wie auf eine siegreich durchmessene Bahn zurück, so auf
ein großes, weites Feld der Ehren ruhig und mit Zuversicht vorwärts. „In Bezug
auf das Rätsel aber, sagt Dubois-Reymond, was Materie und Kraft seien,
und wie sie zu denken vermögen (also wie Bewußtsein möglich ist), muß er
ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrsprüche sich entschlie¬
ßen: IZnor-Minus"! Dagegen hat der Naturforscher, je bereitwilliger er die
Grenzen seines Forschungsgebietes anerkennt, ein unbedingtes Recht, innerhalb
derselben die ficht- und greifbare Welt nach allen Seiten hin mit allen Vor¬
gängen in ihr zu erforschen, unbehindert durch Mythen und Dogmen. Wenn
der naturwissenschaftliche Forscher mit Dubois-Reymond sagen muß: „Das
mosaische Es ward Licht ist physiologisch falsch. Licht ward erst, als der erste
rote Augenpunkt eines Infusoriums zum erstenmale hell und dunkel unter¬
schied," so kann dem gegenüber die Theologie sich nicht auf die höhere Instanz
ihres Dogmas von der Schöpfung und der notwendigen Echtheit des biblischen
Berichtes darüber berufen, und wenn die Theologie ihr eignes Bestes versteht,
so läßt sie solche Dinge, die für die Wissenschaft außer allem Streite liegen,
auch für sich keine Notwendigkeit sein. Sie kann dabei nur schlecht fahren. Da¬
gegen hat sie ein gutes Recht, wie auf die Grenzen des menschlichen Wissens
überhaupt, so auf die des naturwissenschaftlichen insbesondre hinzuweisen.
Auch die Philosophie, soweit sie sich mit der Welt der sittlichen Werte
beschäftigt, muß auf diese Grenzen des Naturerkennens hinweisen. Denn mit
Erkenntnis davon ist die Wissenschaft zu einem sehr wichtigen Ergebnisse ge¬
langt. Wenn die mechanische Weltanschauung Halt machen muß vor den Be¬
griffen von Materie und Kraft, Empfindung und Bewußtsein, so sind die sitt¬
lichen Begriffe, die Ideen, auch nur durch sittliche Instanzen zu entscheiden.
Dahin gehört zuerst die Idee der Freiheit, die freie Entscheidung des Willens.
Kant setzte diese, wie bekannt, unter die Antinomien, d. h. unter die Begriffe,
für deren Wahrheit man ebensogut Beweise aufstellen kann, wie für ihr Ge¬
genteil. Der Wille ist frei, oder er ist unfrei, determinirt — die beiden Sätze
haben nach Kant wissenschaftlich ganz gleichwertige Bedeutung. Dem ist, sobald
die Grenzen des Naturerkennens feststehen, doch nicht so. Freilich, wer auf
Vogt-Büchnerschcm Standpunkte steht — ich nenne die Namen, die in den fünf¬
ziger Jahren, wie Dubois-Reymond sagt, „zu einer Art von Tournier um die
Seele" Anlaß gaben und Rufer in einem Streite waren, der noch fortdauert —
also, wer auf diesem Standpunkte steht, der kann nicht anders, er muß alle
Willensfreiheit leugnen; sie ist ihm ein Unding. Vorstellen wie Begehren, Denken
wie Wollen hängen allein ab von der Lage und Bewegung der Gehirnatome.
Folgerichtig ist es dann nur — und die Entschiedener besonders unter den
Laien thaten so — mit der Freiheit auch die Verantwortlichkeit zu leugnen,
die Strafe für unberechtigt zu erklären, die Gefängnisse und Zuchthäuser auf-
zuHeben. Die ganze Sozialdemokratie denkt heute so. Wenn die Gesellschaft
etwa noch meint, sich schützen zu müssen, so mag sie vorbeugende Anstalten er¬
richten, aber zu Strafanstalten hat sie kein Recht. Freilich, wenn diese vor¬
beugenden Anstalten irgend etwas Schlimmes — Böses kann man nicht mehr
sagen — verhüten sollen, so wird es ohne Gewaltanwendung nicht abgehen, und
man sieht nicht ein, worin sie sich dann noch von Strafanstalten unterscheiden.
Aber mit so kleinlichen Bedenken hielten sich die starken Seelen nicht auf, am
wenigsten konnten sie dadurch zu einer Revision ihrer Grundbegriffe bewogen
werden. Heutzutage aber, soweit die Welt nicht sozialdemokratisch ist, ist sie
doch in ihrem Denken und Sinnen etwas anders geworden, und die Wissen¬
schaft selbst ist zur Vernunft zurückgekehrt. Hielt man früher auf den Ver¬
sammlungen der Naturforscher und Ärzte Vorträge über Themata, wie die Ab¬
stammung des Menschen von dem Affen u. s. w. in der Tendenz des I/Komms
niÄLUwö, so läßt man jetzt auch bei solchen Vorträgen die Besonnenheit ruhigen
Forschens zu Worte kommen, respektirt die Schranken des naturwissenschaft¬
lichen Erkennens und läßt den sittlichen Mächten ihre Geltung. Auf der dies¬
jährigen Naturforscher- und Ärzteversammlung in Köln trat das recht sichtbar
zu Tage. Da sprach Professor Binswanger aus Jena über Verbrechen und
Geistesstörung. Er trat der Ansicht entgegen, daß über die geistige Natur eines
Menschen Schädelmcssungen und physiognomische Studien ohne weiteres Auf¬
schluß gäben, und verwarf ausdrücklich den Satz, daß jedes Verbrechen einer
angebornen geistigen Mißbildung entspringe, deren materielle Ursache aufzu¬
suchen und zu finden Sache des Gerichtsarztes sei. Er trat dieser Ansicht auch
darum entgegen, weil das eine Lehre sei, die die Strafen für Verstöße gegen
das Gesetz vollständig ausschließe. Er hält es für die Pflicht des besonnenen
Forschers, diesen die Geister verwirrenden Gedanken, die heutzutage besonders
scharf von dem Italiener Lombroso aufrecht erhalten werden, darum auch scharf
entgegen zu treten, weil sie sich in die Vroschürenlitteratur verlieren und da
in weiten Kreisen viel Anhänger gewinnen. Wenn Binswanger in seinem Vor¬
trage von einer Lehre der Kriminalbiologen redet, die unter dem Anscheine na¬
turwissenschaftlicher Behandlungsart in den Fehler verfallen, „Erkennen und
Ursache in einen zu oberflächlichen Zusammenhang zu bringen," d. h. Geistiges
und Materielles als eins zu setzen, so berührt er hier denselben Fehler, von dem
wir bisher gesprochen haben, und den diejenigen machen, die wie alle erken¬
nende Geistesthätigkeit so auch alles Wollen allein an die Materie binden. Wir
weisen noch einmal hier auf den frühern Satz hin: Sobald wir die Grenzen
des Naturerkennens respektiren, haben wir nicht nur das Recht, sondern auch,
die Pflicht, sittliche Fragen aus sittlichem Boden und mit sittlichen Gründen
zu entscheiden.
Und da wird nun kein Mensch, der noch einen Unterschied von gut und
böse annimmt, irgendwie zweifeln, daß er auch die Freiheit habe, gut zu
handeln. Er wird vielmehr den Kantischen Satz als ein Axiom, das keines
Beweises bedarf, ansehen: „Was ich soll, das muß ich auch können." Er wird
das ebensowenig beweisen wollen, als wie man ein mathematisches Axiom
beweisen will und kann. Auch wird im Leben darnach gehandelt. Jeder
Richter wird den, der sich für seine Frevelthat etwa auf die Unfreiheit seines
Willens, auf seine so bestimmte Natur berufen wollte, verurteilen und bestrafen,
ohne dieser Berufung im geringsten einen Wert beizulegen, einfach deshalb,
weil es das Recht, d. h. der Bestand des Staates als einer sittlichen
Ordnung so verlangt. Gerade weil das Recht, wie alle sittlichen Ordnungen,
wie der Staat selbst, keinen Beweis für ihr Dasein weiter brauchen, darum
reden wir von ihnen als von göttlichen Ordnungen, wie Antigone so schön
sagte, von „ungeschriebenen Gesetzen."
Mit dieser Anerkennung von gut und böse, ohne die ein Kulturleben
überhaupt nicht möglich ist, die wir so notwendig brauchen, wie das liebe
Brot, die zwar nicht verstandesmäßig, mathematisch beweisbar, aber ein Axiom,
eine Grundanschauung des Geistes ist, und mit diesem Begriffe der Freiheit als
der Kraft zum Guten, einem Begriffe, der mit jener Grundanschauung zugleich
gesetzt ist, treten wir in eine neue Welt, in die Welt der Zwecke. Von dieser
Welt wollen die Materialisten unter den Naturwissenschaftern natürlich nichts
wissen. Denn mit dem Zwecke ist eine höhere Realität als die bloß natürliche
gegeben, eine Realität, die gerade so objektiv, so gegenständlich ist, wie die der
sinnlich wahrnehmbaren Welt. Ist doch der Zweck, überhaupt die Welt der
Idee, durchaus real, auch wo sie sich noch nicht sinnlich wahrnehmbar gestaltet.
Das ist gar nichts Absonderliches. So lange es erst Pflanzen gab, war das
tierische Leben auch noch nicht gestaltet und hatte doch als Zukunft der Pflanzen¬
welt eine Realität, die höher war als die der Pflanze; ganz dasselbe ist vom
Tiere zu sagen, das im Menschen seine Realität und seinen gegenständlichen
Zweck hatte, schon ehe der Mensch in's Dasein getreten war. In gleicher
Weise hat der natürlich irdische Mensch seine höhere Realität in dem sittlich¬
geistigen, wie der Apostel Paulus ihn nennt, dem pneumatischen Menschen,
eine Realität, die freilich noch nicht geschaut, auch hier auf Erden noch nicht
vollendet wird, die aber in der Freiheit bereits begründet ist und das Wesen
der Persönlichkeit bildet. Die Freiheit ist an sich schon eine höhere Stufe des
Lebens, gegeben, um die unfreie Natur zur Vollendung zu führen. Das würde
aber durch Entwicklung in einem bloßen Naturprozeß gar nicht möglich sein.
Mit der Freiheit offenbart sich vielmehr ein neues Gesetz, das Gesetz des Geistes,
eine höhere Ordnung der Dinge. Alle Beseligung des Menschen kommt ihm nur,
wenn und so weit er dies Gesetz walten läßt. Das Christentum nennt es das
Gesetz der Liebe, das „neue Gebot." Nur dürfen wir den Begriff der Liebe
nicht auf den der Neigung beschränken; er faßt vielmehr den der Treue auf
dem ganzen Gebiete der Sittlichkeit in sich, also die gewissenhafte Pflicht-
crfüllung, die das Handeln aus Neigung an Wert überragt, weil es aus
einem höhern Beweggründe entstammt. Es ist das Wollen, das dem Sollen
entgegenkommt und jeden Beruf zu einem menschlich-göttlichen macht. Als
Blücher bei einer Verhandlung im Staatsrate über die Frage, ob der Krieg
christlich sei, auf den Spruch im Johannisevangelium hinwies: „Niemand hat
größere Liebe, denn daß er sein Leben lässet für seine Freunde" und damit die
Christlichkeit des Krieges behauptete (natürlich nicht jedes Krieges), that er das
aus dem richtigen Gefühle, daß die Treue in der Erfüllung der Pflichten die
Liebe sei, die bis ans Ende reiche. Wie sie des Opfers wert ist, so verlangt
sie es auch, und so oft das im Leben geschieht, so oft wird auch an die freie
Selbsteiitscheidung beim Menschen appellirt. Gerade dadurch unterscheidet sich
das Gebot des Geistes von dem Gesetze der Natur, daß es schlechterdings eine
Anforderung an den Willen zur freien Entscheidung ist. Aller Zwang hört hier
auf; auch der Wert alles dessen, was aus Zwang gethan wird. Ich nenne
hier Zwang im weitesten Sinne die Nötigung, welche aus der ganzen Trieb¬
welt der Natur, aus der Berechnung des Verstandes und aus den gegebenen
sozialen Verhältnissen hervorgeht. In der Überwindung von alledem zeigt sich
die Freiheit und erscheint als einer höhern Welt entstammt. So oft der Mensch
von ihr Gebrauch macht, ragt er über das Irdische hinaus.
Drum heule du Sturm, drum brause du Meer,
Drum zittre du Erdreich um uns her,
Ihr sollt uns die Seele nicht zügeln!
Die Erde kann neben uns untergehn,
Wir wollen als freie Männer bestehn
Und den Bund mit dem Blute besiegeln.
Zu dieser Größe, wie sie hier in den Worten des Sängers der Freiheitskriege
ihren todesverachtenden Ausdruck findet, könnte der Mensch sich nicht erheben,
wenn die That der Entscheidung nicht sein wäre. Ein Theodor Körner, der
sein Gluck und seine Liebe läßt, um sich das blutige Schwert zum Genossen
zu küren, wäre eine undenkbare Erscheinung. Aber dann wäre auch alle Er¬
habenheit und Größe, wovon wir andern uns geistig nähren, aus dem Leben
getilgt. Das hohe Menschliche könnte nicht im Erdboden Wurzel fassen. Es ist
aber gewiß ein Kennzeichen der Wahrheit einer Idee, wenn ohne sie das edle
und schöne Menschentum, das, was uns mit den göttlichen Mächten verbindet,
nicht gedeihen kann. Und wie die That der Freiheit allein groß ist, so ist sie
allein ewig. Denn nur was aus dem Gesetze der Freiheit hervorgeht, bleibt;
es gehört zum Bestände der Persönlichkeit, von der es nicht wieder wegzuthun
ist. Es erfüllt sich hier das apostolische Wort (1. Kor. 13, 8): „Die Liebe
höret nimmer auf."
Und damit sind wir auf eine zweite Idee, die nicht der materiellen Welt
entstammt, gekommen, auf die Idee der Unsterblichkeit. Sie hängt mit der
Freiheit zusammen. Sie ist kein Wissen, nicht einmal ein Ergebnis des Selbst-
bewußtseins; das Ich weiß nichts von seinem Anfange und Ende; es weiß nur
sich selbst im Unterschiede von dem, was nicht es selbst ist. Also ein Wissen
ist das Bewußtsein der Unsterblichkeit nicht, sondern ein Innewerden und Haben.
Die Unsterblichkeit verwirklicht sich erst mit der Freiheit im Menschen, der sie
an sich nur potentiell hat. Man kann anch sagen: sie ist der Zweck der
Freiheit, ihre Vollendung; sobald der Mensch seine Freiheit gebraucht, d. h. gut
handelt, so hat er als den Genuß der Freiheit auch die Beseligung, die gar nichts
andres ist, als der Besitz der Unsterblichkeit schon hier auf Erden. Joh. Huber
sagt einmal in seiner schönen Schrift von der „Idee der Unsterblichkeit": „Da
in der Welt der Sichtbarkeit den Menschen nichts zu der kühnen Hoffnung
seiner Unsterblichkeit aufzufordern und darin zu bestärken scheint, im Gegenteile
alle seine Erfahrungen aus ihr vielmehr gegen eine solche zeugen, so muß es
schon als ein Problem bezeichnet werden, wie er sich überhaupt dazu erheben
konnte." Aber nicht die Unsterblichkeit ist das Problem, sondern die Freiheit;
wer das eine löst, der löst das andre mit. Auch erhebt sich in der That nie¬
mand zur Hoffnung seiner Unsterblichkeit, der von dem Vermögen der Freiheit
keine Erfahrung in seinem Leben gemacht hat. Ein Mensch, der nie Gebrauch
gemacht Hütte von seiner Freiheit, nie eine Entscheidung des Willens zum Guten
in seinem Leben erfahren, der würde in der That auch bei der höchsten geistigen
Begabung mit seinem Leben fertig sein, wie das Tier mit seinem Leben fertig
ist, ein Fertigsein, das allerdings freudlos ist. Denn so ist es, daß der Mensch,
nicht einmal sich selbst zu lieben, ja auch nur zu achten vermag, es sei denn,
daß er sich als ein Ewiges erfasse. Dieses Erfassen aber, ich betone es noch
einmal, ist eine That und ein Haben, kein Wissen. Damit ist ausgesagt, daß
alle Beweise für die Unsterblichkeit, die dem Wissen entstammen, höchstens Hilfs-
beweise sind. So z. B. der vielen sehr zusagende Beweis, wenn darauf hingewiesen
wird, daß der Begriff des Unendlichen nicht zu denken sei als aus der Natur
entnommen; denn das Unendliche sei nicht in der Natur verwirklicht, es erzeuge
sich nur im Denken des Menschen; darum aber decke sich auch die körperliche
Welt nicht mit der unbegrenzten Bewegung des Gedankens. Das und ähn¬
liches kann man sagen; es ist logisch und richtig gesagt; aber es ist nur immer
ein Hilfsbeweis; er wird den nicht überzeugen, der nie eine Erfahrung von
dem Vermögen der Selbstbestimmung und der Selbstentscheidung gemacht und
sich mit Freiheit über die blinde Welt der Notwendigkeit erhoben hat.
Ob es solche Menschen giebt, die von hoher Begabung doch sich nie als
geistige Existenzen erfassen, ist nicht zu entscheiden; denn das Menschenwesen
ist so wunderbar gestaltet, daß es, wie ein mittelalterlicher Philosoph sagte,
keine Fenster hat, durch die man sehen kann, wie es innerlich aussieht. Aber
daß das Organ der Freiheit bei vielen Hochgebildeten doch selber sehr mangel¬
haft ausgebildet ist, geht daraus hervor, daß viele die Unsterblichkeit leugnen,
die nun eben ohne das Innewerden von jenem nicht zu finden ist. Wer mit
dem Mikroskop und mit dem anatomischen Messer den Geist und seine Bethä¬
tigung sucht, wird das nie finden, was nur in den Tiefen des eignen Innern
gefunden werden kann, da aber auch ganz sicher gefunden wird, wenn einer es
sucht, mag das ein Gelehrter oder Ungelehrter, ein hochgebildeter oder ein
schlichter Verstand sein. Denn hier, wo sichs um den ewigen Wert der Men¬
schenseele handelt, sind wir alle gleich geschickt, zu finden und zu erhalten; in
seinem Innern begegnet jeder den Thatsachen einer sittlichen Welt, deren
erste das Vermögen der Freiheit ist. Lotze sagt einmal (im Mikrokosmos I,
288), unter allen Verirrungen des menschlichen Geistes sei ihm diese immer als
die seltsamste erschienen, „daß es dahin kommen konnte, sein eignes Wesen,
welches er allein unmittelbar erlebt, zu bezweifeln, oder es sich als Erzeugnis
einer äußern Natur wieder schenken zu lassen, die wir nur aus zweiter Hand,
nur durch das vermittelnde Wissen eben des Geistes kennen, den wir leugneten."
Es kommt darauf an, was man unter des Menschen „eignem Wesen" versteht.
Wer das Vermögen der Freiheit als das eigenste Wesen des Menschen aus¬
sagt, wird sich über das Leugnen der Unsterblichkeit — denn das ist es
doch im Grunde, was Lotze hier meint — nicht verwundern. Vielmehr müßte
man sich wundern, wenn das Bewußtsein der Unsterblichkeit bei dem Mangel
des Gebrauches unsers Freiheitsvermögens vorhanden wäre. Wie aber das
Innewerden unsers unsterblichen Wesens nicht abhängt von irgend einem höhern
oder tiefern Grade unsers Wissens, so ist auch das Wissen selbst für die Gabe
der Unsterblichkeit nicht von Einfluß. Selbst das Leugnen derselben ist bei vielen
nur ein Bekenntnis, daß sie sich das Problem nicht logisch zurecht legen können.
Wer ein solches logisches Zurechtlegen verlangt, der verlangt überhaupt etwas
Unmögliches. An keinem Punkte unsers Forschens zeigt es sich mehr, daß die
Logik nicht vor Irrtum schützt, als bei diesen Fragen nach der Freiheit und
der Unsterblichkeit. Das ist auch sehr erklärlich. Unser logisches Denken hat
immer seine Voraussetzungen in Grundanschauungen; irren wir in den Prin¬
zipien, so müssen wir bei aller Logik auch in den Folgen irren. Einer der
schwersten Irrtümer ist aber der, von dem wir in diesem Aufsatze gesprochen
haben, keine Grenzen für das naturwissenschaftliche Erkennen anzunehmen, dieses
vielmehr als ein letztes, absolutes anzusehen. Erkenntnis der Grenzen heißt Er¬
kenntnis der Unterschiede, hier des Unterschiedes einer natürlich-materiellen Welt
von einer Welt des Geistes und der Freiheit.
Wir schließen diese Betrachtung mit einem schönen Worte I. G. Fichtes
(Bestimmung des Menschen, Werke II. 319): „Es ist gar kein möglicher Ge¬
danke, daß die Natur ein Leben vernichten sollte, das aus ihr nicht stammt,
die Natur, um deren willen nicht ich, sondern die um meinetwillen lebt."
Wie anders tragen uns die Geistesfreuden
Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!
Da werden Winternächte hold und schön,
Ein selig Leben wärmet alle Glieder,
Und ach! entrollst dn gar ein würdig Pergamen,
So steigt der ganze Himmel zu dir nieder.
or einigen Jahren hat Dubois-Reymond in seiner Rede „Goethe
und kein Ende" eine Ehrenrettung des Famulus Wagner versucht,
aber wenig Dank dafür geerntet. Nun erscheint ein zweiter Mann,
der gelegentlich dasselbe thut, aber in einer Weise lind in einem
Zusammenhange, daß dieselbe Sache ein ganz andres Ansehen ge¬
wiant. „Wir müsse» dem Famulus Recht geben," sagt er. „Obwohl wir die
dcgradirende Ausdrucksweise ,wie anders« nicht annehmen und, uns vor Ein¬
seitigkeit hudert, jedes große Gefühl gelten lassen, also auch die Sehnsucht nach
des ,Vogels Fittigen', von der Faust spricht, hat der Famulus mit seinem Ge¬
fühle dennoch Recht. Die tägliche Erfahrung belehrt uns darüber, daß er wahr
spricht, der Weg ,von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt' ist in der That einer der
herrlichsten Wege, den der Mensch gehen kann, und man sollte diesen Ausspruch
Wagners nicht mehr, wie üblich, satirisch auffassen und zitiren; denn so wie er
an und für sich dasteht, ist er richtig, wenn auch speziell für Faust die Periode
der ästhetischen Genußfähigkeit durch die Wissenschaft vorüber ist." Der Mann,
der diese Verteidigung des Famulus Wagner unternommen hat, ist Joseph Popper,
und die Schrift, in der sie zu finden ist, nennt sich: Die technischen Fortschritte
nach ihrer ästhetischen und kulturellen (so!) Bedeutung (Leipzig, Reißner, 1888).
Joseph Popper ist Ingenieur und lebt als Privatgelehrter in Wien. Seine
Thätigkeit ist vielseitig, bald der Elektrotechnik, bald den Problemen der Lnftschiff-
fcchrt u. c>. ni. gewidmet. In seinen Fachkreisen genießt er eines ausgezeichneten
wissenschaftlichen Rufes. Aus diesen Kreisen nun eine Schrift, wie die vorliegende,
über eine der schwierigsten kunst- und geschichtsphilosophischen Aufgaben zu
empfangen, ist man nicht gerade gewohnt. Die Männer der mathematischen
Wissenschaften sind Wohl zuweilen selbst ästhetisch fesselnde Gestalten geworden,
aber selten haben sie Sinn für Kunst und Poesie bekundet. Es scheint, daß
Mathematik und Poesie sich einander ausschließen, wie das Beispiel Goethes
beweist und das Dubois-Neymonds eins der Gegenseite. Joseph Popper macht
in dieser Beziehung eine Ausnahme. Nicht daß er selbst Poet wäre, bewahre!
oder poetisch angehaucht schriebe — dies gleich gar nicht! Aber er hat einen
merkwürdig empfänglichen Sinn für alles künstlerische Empfinden, er fühlt
sich selbst als eine Art von Künstler und hat aus diesem Gefühle heraus die
genannte Abhandlung geschrieben, die überhaupt eine künstlerische Weltan¬
schauung verkündet. Und dies ist Wohl eine Seltenheit bei Mathematikern.
Er ist aber auch in den Geisteswissenschaften, in der Geschichte der Philosophie,
in der schönen Litteratur wohl bewandert; nach einer Stelle in seiner Schrift
zu urteilen, in der er Confucius, den chinesischen Moralisten, für den bedeu¬
tendsten Ethiker der Welt erklärt, muß er sogar Sinologie getrieben haben.
Seine ganze Schrift ist demnach das Bekenntnis eines echten Humanisten, was
um so merkwürdiger ist, als sie sich in geradem Gegensatze zu Dubois-Reymond,
diesem sonst verwandten Geiste befind.t. Denn alle jene technischen Fortschritte
Her Menschheit, die so viele MensuM mit dem Gefühle erfüllen, als schritten
wir auf schwindelnder Höhe einem unglaublich schönen Zustande entgegen, nach
allen Seiten Glück und Segen aus dampfpustendem Füllhorn spendend, weiß
Popper auf ihren wahren Wert zurückzuführen, und in letzter Linie sieht er
darin nichts anders, als eine — Spielerei der Menschheit. Nicht wie die alten
Ethiker und Ästhetiker gelangt er von apriorischen Sätzen zu seinen Ergebnissen
— wie sollte auch ein moderner Mann der Wissenschaft so „theologisch" denken!
vielmehr hat er sich in ganz eigner Weise den Weg dahin gebahnt, hat in oft sehr
schwieriger, von physikalisch-mathematischen Gleichnissen durchflochtener Form
seine gedankenreiche Anschauung dargestellt, und wenn sich zuweilen in seiner
nichts weniger als schönen Prosa ein dichterisches Gefühl offenbart, so wird dies
dem strengen Originaldcnker wohl kaum selbst zum Bewußtsein gekommen sein.
Also der Famulus Wagner hat vollkommen Recht, auch für sich, für das
Leben und Treiben des Büchermenschen die Gefühle der reinen Freude, der
Erhebung, des von jedem eigennützigen Gedanken vollkommen freien Genusses
der Schönheit in Anspruch zu nehmen. Von dieser psychologischen Thatsache,
das; ästhetische Gefühle nicht allein von den bekannten Objekten der lyrischen
und epischen Poesie angeregt, sondern auch in der wissenschaftlichen Thätigkeit,
ja sogar bei den so abstrakten Arbeiten der Mathematiker empfunden werden,
geht Popper aus. Auch eine Abhandlung von Euler, eine Rechnung von Gauß,
ein Buch von Lagrange haben neben ihrem wissenschaftlichen Werte ihre eigne
Schönheit, und es war ein Fehler aller Ästhetiker, daß sie diese Erscheinung
des ästhetischen Gefühles bisher mit Schweigen übergangen haben. Joseph Popper
geht noch weiter, indem er dasselbe Gefühl nicht bloß als ein passiv zuschauendes,
sondern auch als ein in der Wissenschaft schöpferisches bezeichnet. Er sagt:
„Diejenigen Männer der Wissenschaft, die mit abstrakteren Aufgaben sich ab¬
mühen, sind gewöhnlich nicht wenig empört darüber, wenn man ihnen die Be-
merkung hinwirft: das nützt zu nichts, das hat keinen praktischen Wert, ja es
hat kaum je einen Einfluß auf die andern theoretischen Wissenszweige und noch
weniger auf die geistige oder moralische Entwicklung der Menschen. Gewöhnlich
erwidert der Gelehrte in solchem Falle mit verachtenden Schweigen; mitunter,
jedoch selten, bemüht er sich nachzuweisen, daß man nie wissen könne, wozu
irgend etwas einmal, sei es in noch so später Zeit, nützen würde. Nur die
eine richtige, schlagende, nicht zu widerlegende Antwort wird nicht gegeben:
„Es macht mir und manchem andern Vergnügen und mag zu ebensoviel gut
und nützlich sein, wie das Komponiren oder Anhören einer Symphonie oder
wie die Lektüre eines Romans." Der ästhetische Spieltrieb" also, der in
Schillers „Erziehung des Menschengeschlechts" eine so bedeutsame Stellung
einnimmt, besteht demnach auch in den rein wissenschaftlichen Bestrebungen der
Menschheit.
Aber nicht bloß in den Gemütern und Studirstuben der gelehrten. Mathe¬
matiker und Physiker offenbart sich ein ästhetisches Interesse, sondern auch die
praktischen Arbeiten und Erzeugnisse derselben auf dem Gebiete der technischen
Künste im großen und kleinen werden von ästhetischen Gefühlen begleitet. In
einer Reihe von Beispielen beweist Popper diese Thatsache. Die Wunder der
technischen Werkstätten werden ästhetisch empfunden. Was hat, fragt Popper,
die weitaus überwiegende Mehrzahl von Menschen davon, daß z. B. Europa
mit Amerika durch ein Kabel verbunden wurde? Wie wenige kommen überhaupt
jemals in die Lage, das Kabel zu benutzen oder auch nur seiner zu bedürfen?
Und doch hat ganz Europa mit der größten Teilnahme den Plan, den Fort¬
schritt und das Gelingen des Unternehmens verfolgt! Und wie groß war diese
Teilnahme bei den Arbeiten am Durchstich des Suezkanals! Wie groß ist sie
für alle Nachrichten aus den Werkstätten bekannter Erfinder, z. B. eines Edison!
Ganz gleichgiltig, ob die Erfindung von größerer oder geringerer Bedeutung ist,
ob sie sich als brauchbar oder als unbrauchbar erweist! Wenn nur geschaffen
wird! Das alles, sagt Popper, sind ästhetische Gefühle. Aber auch der schaffende
Techniker ist vorwiegend von solchen erfüllt. „Er lebt in einer gewissen Be¬
ziehung, ganz wie der Künstler, in einer höhern Sphäre. Mit ausdauernder
Liebe zu einer Idee, erscheine diese jedem andern auch noch so geringfügig, durch¬
arbeitet er seinen Gedanken, um ihn zu verwirklichen. Eine scheinbar unbedeu¬
tende Verbesserung seines Handwerkszeuges, einer Werkzeugmaschine, ist schon
im stände, ihm anhaltende Anregung zu geben, sein ganzes Innere zu erfüllen
und zu beleben. Lange vor dem Gelingen seines Projektes ist er schon durch
die bloße Beschäftigung mit demselben zwar beunruhigt und aufgestört, aber doch
beglückt. Und diese lange währende und nicht abnehmende Heiterkeit und Lebens¬
erhöhung, eine Folge seiner unverwüstlichen Hoffnungsfähigkeit, ist für ihn ein
bleibender Gewinn, ganz gleichgültig, ob er sein vorgestecktes Ziel erreicht oder
nicht."
Es ist also außer Zweifel, daß auch die technischen Studien und Künste
ästhetische Befriedigung gewähren, was Popper nicht ohne Seitenhiebe gegen
die oberflächlichen Schöngeister feststellt, die dieses edelste der menschlichen Ge¬
fühle den Technikern bestreiten wollen. Freilich betont er auch mit Nachdruck,
daß diese von technischen Erzeugnissen gewährten Genüsse sich an hinreißender
Gewalt nicht mit den Erregungen der Kunstwerke im eigentlichen Sinne messen
können, und es fällt ihm nicht ein, irgend eine Kunst deswegen herabzusetzen.
Soweit wäre er also z. B. mit Wilhelm Jordan einverstanden, dessen letzter
Roman „Zwei Wiegen" auch die Poesie der modernen technischen Meisterschaft
des Menschen über die Natur feiert. Nur ergeht sich Jordan von hier aus
in schwindelnden Phantasien über die unabsehbaren Fortschritte des Menschen¬
geschlechtes, während Popper, der Techniker von Beruf, nüchtern bleibt und
eine tiefere Einsicht in das Wesen der menschlichen Natur entwickelt.
Nachdem er nämlich das Wesen des ästhetischen Gefühles und den Beruf
der Kunst in scharfsinniger Dialektik entwickelt hat, wirft er die Frage ans: Welchen
Wert haben denn die ästhetischen Gefühle überhaupt für die Menschheit? Welche
Rolle spielen sie in der Menschengeschichte? Und da stellt er zunächst fest, daß
zwar zu verschiedenen Zeiten verschiedene Ziele die (europäische) Menschheit be¬
schäftigt haben, daß aber immer und überall die ästhetischen Gefühle, das heißt
die grundlose, an der Sache ohne irgend welchen Eigennutz Gefallen findende
Begeisterung mitwirkte. Und diese ästhetischen Gefühle verstärkten die jeweiligen
Strömungen und Bestrebungen in einer Weise, daß sie für den Charakter ihrer
Zeit ausschlaggebend wurden. „Je nach dem Zeitalter dringen mit immer grö¬
ßerer Energie neue oder bereits von der Zeit ausgelöste ästhetische Äquivalenzen
in die Entwicklung der Völker ein und mitunter so lebhaft und so allgemein,
daß sie oft der ganzen Epoche ihr Gepräge verleihen. So wie sich im Gebiete
der physikalischen Vorgänge der gesamte Arbeitsvorrat der Natur in immer
andre Formen umwandelt, die in Beziehung auf ein bestimmtes Maß einander
äquivalent sind, so formt sich die ästhetische Energie der Menschheit in die ver¬
schiedensten Gestalten um, und diese alle sind einander äquivalent, d.h. durch
sie alle wird dieselbe Wirkung, aber auf verschiedenen Wegen, erreicht." Und
nun geht Popper im Fluge die Jahrhunderte durch und zeigt, in wie verschie¬
dener Weise die „ästhetischen Äquivalenzen" sich abgelöst haben: „Zur Zeit der
Griechen waren die eigentlich sogenannten schönen Künste eine national-ästhetische
Äquivalenz. Im Zeitalter der Renaissance war die Begeisterung für Kunst,
Wissenschaft und für das klassische Altertum eine tiefgehende und weitverbreitete
ästhetische Äquivalenz. Im früheren Mittelalter waren es die Kreuzzüge, bei
denen, neben dem religiösen Triebe, stark der Drang, nach dem Orient zu ge¬
langen, als ein ästhetisches Ideal auftrat. Eine durch und durch ästhetische Äqui¬
valenz, genau so wie heute die technische, war im fünfzehnten und sechzehnten
Jahrhundert der allerdings vom Golddurst angeregte Drang nach Entdeckuugs-
reisen, nach Erforschung unbekannter Länder und Völker und der ungeheure
Enthusiasmus der Europäer für die Entdeckungen selbst, sowie für die kühnen
Seemänner, vom Admiral bis zum letzten Matrosen herab, der das Glück
hatte, zuerst neue Gegenden und bisher unbekannte Völker zu sehen. Mehrere
Jahrhunderte des Mittelalters hindurch war die Mystik eine im tiefsten
Grunde bloß ästhetische Äquivalenz, und bald nachher, als die positiv religiöse
Seite derselben immer mehr zurücktrat, verwandelte sich in Europa diese
ästhetische Form in die des Pantheismus, der in Indien und China seit langen
Zeiten und später auch im mohammedanischen Orient so einflußreich wurde . . . .
Die sonderbarste ästhetische Äquivalenz, die allerdings nur wenige Jahrzehnte
eine große Rolle spielte, war der Militarismus unter Napoleon. So wie Na¬
poleon in seinen Proklamationen und Bulletins eine neue Art von Stil, die
„militärische Poesie", wie die französischen Akademiker sie nannten, auf die Welt
brachte, so bewirkten seine Siege, das Lagerleben, die weiten Kriegszüge in ent>
fermee Länder einen bisher unbekannten Rausch; Anekdoten, wahre Geschichten,
Beschreibungen, Romane, alles dies wirkte zusammen, um einer ganzen Gene¬
ration auf dem europäischen Kontinent eine ästhetische Stimmung ganz
origineller Art zu bringen .... In unserm Jahrhundert ist die wissen¬
schaftliche und technische Äquivalenz eine Angelegenheit von mehr als zweihundert
Millionen Menschen." Die unfruchtbaren Ideale einer Zeit wie der Napoleo¬
nischen nennt Popper mit einem glücklichen Bilde „Lichtmottenideale"; in dieser
Zeit verzehren gleichsam die Menschen sich selbst.
Aus dem Wesen des ästhetischen Genusses, der mit Ruhe, d. h. mit Ab¬
wesenheit irgend eines Ermüdungsgefühlcs und mit der Unerschöpflichkeit der
freudigen Stimmung verbunden ist, hat Popper das Bedürfnis der Menschheit
nach Kunst und künstlerischen Eindrücken erklärt. Es ist eine Reaktion gegen
die Vergänglichkeit. „Ohne das permanente, instinktive Gefühl der Endlichkeit
des Individuums, also ohne das Sterbenmüssen, wäre der Drang nach ästhe¬
tischen Genüssen gar nicht so intensiv und im Dasein des Menschen nicht
entfernt so bedeutungsvoll, wie er wirklich ist." Um dieses Ziel der be¬
seligenden Täuschung des Menschen über seine Endlichkeit zu erreichen, traten
zu verschiedenen Zeiten verschiedene „ästhetische Äquivalenzen" auf, auch „Licht¬
mottenideale," welche die Kultur nicht gefördert haben. Die technischen Künste
und Wissenschaften sind auch solche „ästhetische Äquivalenzen." Welchen Wert
haben sie nun für die Kultur? Das ist die Frage, zu der sich Poppers Ge¬
dankengang zuspitzt.
Man erkennt schon aus dem Bisherigen, daß Popper, ein Mann der Natur¬
wissenschaft, auf gesundem Boden steht. Wie er als Physiker den gesamten
Kosmos als unveränderliche Summe von Kräften anzusehen gewöhnt ist, die
sich nur in verschiedenen Formen, je nach Umwandlung der Materie, offenbaren,
so erkennt er auch in der Menschheit die ewig sich gleich bleibende Natur, in der
die ästhetischen Gefühle die tiefsten sind und nur äußerlich verschieden sich kund¬
geben. Schillers „Spieltrieb" hat in den „ästhetischen Äquivalenzen" seine
bedeutsame weltgeschichtliche Formulirung bekommen. Popper steht auf klassisch¬
humanistischem Boden und läßt sich von Darwinisten und ähnlichen Wolkengängern
nicht in die Irre leiten.
Die ästhetische Ehrenrettung der Techniker ist Popper gelungen. M nie
suol an! Auch im Reiche des Dampfkessels und des Treibriemens kommt der
Mensch als Mensch zur Geltung, und auch die Zeit der Maschinen entbehrt
durchaus nicht des Idealismus. Was hat aber ihre „ästhetische Äquivalenz"
für die Kultur geleistet?
Da fragt es sich zunächst: Was ist unter „Kultur" zu verstehen? Jedes
Volk auf dem Erdkreise hat sich ein anders Ideal von Kultur gebildet; jedes
Volk hält seine Kultur für die beste und findet es durchaus nicht wünschens¬
wert, sie mit der eines andern zu vertauschen. Der Türke will kein Russe, der
Araber kein Europäer, der Chinese kein Amerikaner sein. Es giebt viele Kul¬
turen. Woran mißt man ihren Wert? Man muß doch so duldsam sein, jedem
sein Ideal zu lassen. Aber auch unter den Europäern selbst ist der Begriff der
Kultur, der Maßstab, an dem ihr Wert gemessen werden soll, verschieden.
„Liebig wollte den Grad der Kultur eines Volkes nach dem Verbrauche von
Seife, also nach dem Grade der körperlichen Reinlichkeit messen. Ein andrer,
der Geologe Bernhard von Cotta, meinte, die Kultur eines Staates werde am
besten nach der Menge der vorhandenen Wasserstraßen bemessen. Einige meinen,
die Stellung der Frau im bürgerlichen Leben; andre, eine große Zahl von geist¬
reichen Salons bezeichne die Höhe der Kultur; wieder andre: der Freihandel u. s. w."
Bei dieser Verschiedenheit der Meinungen hält es Popper, „um ohne Anmaßung
einer absoluten Autorität, die ja niemand besitzt, und ohne Einmischung sub¬
jektiver Ansichten" zu urteilen, für notwendig, die Menschen, die Individuen selbst
zu befragen, was sie als die Aufgabe der Kultur empfinden, denn auf ihr Heil
ist ja alles Streben der Kultur gerichtet. „Und da glaube ich selber nicht fehl
zu gehen, wenn ich behaupte, es finde eine vollkommene Übereinstimmung aller
Menschen statt in dem Verlangen nach einer Kultur, d. i. Pflege ihrer Indi¬
vidualität. Pflege der Wissenschaft, der Kunst, der technischen Künste, der Reli¬
gion u. s. w. sind stets nur einzelne Seiten dieser Jndividualitätskultur und
gelten zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten bald mehr, bald
weniger, bald gar nicht. Die Jndividualitätskultur jedoch gilt immer und
überall als Wunsch aller, als Ziel aller Thätigkeiten und als letzter Grund
aller Ereignisse. Individualität selbst aber, ein Begriff, der in der Biologie,
Ethik, Politik und Kunst von fundamentaler Bedeutung ist, muß so definirt
werden: Ein Individuum ist dasjenige Ding, das nicht aufhören will, und
zwar will es weder aufhören, überhaupt zu sein, noch nach seiner Art zu sein.
Dies ist eine Definition, die der der Materie durch die »Undurchdringlichkeit«,
einigermaßen analog ist. Ein Zeitalter, ein Land ist desto mehr kultivirt, je
mehr, so weit menschliche Kräfte reichen, folgenden drei Bedingungen genügt
wird: 1. Sicherung der Existenz jedes einzelnen Individuums; wenn diese erste
Bedingung erfüllt ist, 2. Vorhandensein der Hilfsmittel und Einrichtungen, da¬
mit, soviel als nur möglich, jenes Behagen und Glück erreicht werde, das jeder
einzelne verlangt; 3. NichtVorhandensein jener Faktoren, die den einzelnen
zwingen wollen, nicht nach seinem eignen, sondern nach dem Ermessen andrer
glücklich zu sein."
Nach diesem so gewonnenen Maßstabe und Begriff der Kultur untersucht
Popper den Einfluß, den die technischen Fortschritte auf die Vernunft, die Ge¬
sittung und das physische Wohl der Individuen gewonnen haben.
Der Bildung des Verstandes haben die technischen Fortschritte gewiß Dienste
geleistet. Jeder praktische technische Versuch dient gleichzeitig dazu, die gewonne¬
nen Theorien zu erproben, auch häufig neue Naturerkenntnisse zu gewinnen.
Die technischen Fortschritte haben den Wissenschaften auch förderliche Instrumente
geschaffen. Dadurch daß viele Länder und Völker leichter zugänglich gemacht
wurden, haben viele Wissenschaften gewonnen, und im allgemeinen hat sich eine
größere Reife in der Beurteilung menschlicher Eigentümlichkeiten verbreitet.
Aber den Wunder- und Aberglauben zu beseitigen, dazu reichten selbst die größten
Leistungen der Technik nicht aus. „Früher begnügte man sich mit gröbern
Wundern, jetzt verlangt man feinere. Die Ungebildeten und viele Gebildete
unterscheiden sich nicht durch den Mangel an Wnnderbedürfnis, sondern nur
durch den Maßstab, den sie anlegen. Von dem rohen Fetischglauben bis zum
Spiritismus, der mittels Philosophie und Mathematik unterstützt zu werden
versucht wird, ist die Reihe eine kontinuirliche."
Von der Wirkung der technischen Fortschritte auf das Gemüt des Menschen
hat schon der Nachweis ihrer „ästhetischen Äquivalenz" Zeugnis gegeben. Eine
unmittelbare Folge dieser ästhetischen Bedeutung ist die, daß, wie durch das
Interesse an Kunst und Wissenschaft überhaupt, die dem Menschen innewohnende
Lust am Kampfe auf ethischere Bahnen gelenkt wird, nämlich auf den Kampf
gegen die Natur. Und insofern als jede ästhetische Freude den Menschen über
die Kleinlichkeit des Alltagslebens hinaushebt, ihn verhindert mürrisch zu werden,
haben auch die technischen Fortschritte ihren Teil an dieser Kultur. Allein wenn
sich die Frage aufdrängt, „ob die produktive Beschäftigung des Menschen mit
Wissenschaft und Kunst, also auch mit den technischen Wissenszweigen, oder ob
das allgemeine lebhafte Interesse an diesen Thätigkeiten eine wirkliche, positive
Veredelung, eine ethische Erhöhung, eine größere Gesittung der Menschen her¬
vorruft, so kann man nicht entschieden genug antworten: nicht im geringsten!"
Popper berührt sich mit I. I. Rousseau, der nur seine Ansicht ungeschickt ver¬
teidigt habe. Popper beruft sich auf Goethe, der von der Kunst grundsätzlich
alle moralischen Zwecke ferngehalten wissen wollte; er verweist auf die Geschichte:
in .allen Blütenzeiten der Künste herrschte sogar gleichzeitig große sittliche Ver¬
derbtheit; und er weist nach, daß die ästhetische Gemütsstimmung, um mit
Grillparzer zu sprechen, eine Art von Jdeenegoismus erzeugt, der sittlich in¬
different macht. Allein es besteht dennoch ein Unterschied zwischen der Gleich-
giltigkeit des Künstlers und der des Gelehrten. „Dieser Unterschied in dem Ein¬
drucke, den der Gelehrte und den der Künstler auf uns macht, hat seine Begrün¬
dung darin, daß beim Gelehrten (oder Erfinder) kein Widerspruch zwischen dem
Gegenstande seiner theoretischen Beschäftigung mit seinem praktischen Verhalten vor¬
handen ist, insofern jener ja ganz außerhalb aller sozialen Jntereffenkämpfe
liegt; aber beim Künstler oder beim bloßen Liebhaber der Kunst sehen wir eine
immerwährende Beschäftigung mit den Vorgängen sozialer Natur und zwar mit
dem Anscheine größter Empfindung, aber ohne daß je zu wirklichen Beweisen
des Ernstes dieser Empfindung im privaten oder öffentlichen Leben geschritten wird,
und das erweckt dann den Eindruck der lieblosen Beschäftigung mit diesen Dingen,
also einer eigentümlich feinen Gattung von Heuchelei." Wenn demnach eine positive
Förderung der Sittlichkeit den technischen Fortschritten so wenig als den andern
Künsten zuerkannt werden kann, so kann man höchst wichtige negative Vorzüge
an ihnen feststellen, die nämlich, daß sie ebenso wie die exakten, d. h. der mathe¬
matischen BeHandlungsweise zugänglichen Wissenschaften unter allen „ästhetischen
Äquivalenzen" vielleicht am wenigsten die Naivität der menschlichen Natur
verderben. Mehr als alle andern Künste und Wissenschaften gewöhnen sie den
Menschen an die Wahrheit.
Am ausführlichsten und lehrreichsten hält sich Popper bei der Untersuchung
des Einflusses auf, den die technischen Fortschritte auf das Physische Wohl der
Menschheit gewonnen haben. Doch hierüber wollen wir uns mit kurzen An¬
deutungen begnügen. In der Chirurgie, meint Popper, hätten die technischen
Fortschritte wohl große Dienste geleistet. Wenn man aber frage, ob die
Menschen körperlich weniger arbeiten müßten als früher, so müsse man sagen:
Ganz im Gegenteil, mit den Maschinen hat sich die menschliche Arbeit grenzen¬
los vermehrt. Sie haben den Menschen nicht etwa von der Arbeit entlastet,
sondern sie haben selbst neue Bedürfnisse geschaffen, Konkurrenz und Luxus tragen
uur dazu bei, diese zu vermehren, und die erreichten Ergebnisse stehen in gar
keinem Verhältnis zu der aufgewendeten physischen und geistigen Arbeit. Und
von der größten Wichtigkeit ist es, daß diese Mehrarbeit, welche die technischen
Fortschritte hervorgerufen haben, keine solche ist, die für die Erfüllung der ersten
Grundbedingung aller Jndividualitätskultur, nämlich Sicherung des leiblichen
Daseins der Menschen, notwendig ist. Gerade für Beschaffung von Nahrung
und Bekleidung gelangen die technischen Errungenschaften am wenigsten zur An¬
wendung. Für Landwirtschaft, Mutterei, Bäckerei, Fleischerei, für Herstellung
von Wäsche und Bekleidung werden die Leistungen der Technik, von einzelnen
Ausnahmen abgesehen, fast gar nicht in Anspruch genommen^ und man findet
daher in diesen Gebieten eine so große Anzahl von Einzelbetrieben, daß man
sich in längst vergangene Jahrhunderte versetzt glaubt.
Soweit Popper. Das Ergebnis seiner Untersuchung steht in vollem Ein¬
klange mit seiner Weltanschauung, ist aber höchst überraschend, wenn man die
Hymnen andrer Techniker über die Herrlichkeit unsrer Zeit hört. Sehr gut
wäre es, wenn naturalistische Ästhetiker vom Schlage des Herrn Bölsche sich
von diesem Fachmanne belehren ließen.
i t der „Welt als Vorstellung," mit der idealistischen Verflüchtigung
von Raum und Zeit, Ursache und Wirkung konnte sich Goethe,
wie wir gesehen haben, nicht befreunden, eine solche Konstruktion
der färben- und formenreichen Welt von innen heraus erschien
ihm nicht praktisch verwendbar genug. Dagegen entsprachen die
„Ideen" als die Urtypen der Dinge ganz seiner praktischen Auffassung der
Welt, und die Lehre Schopenhauers, daß nur das Genie die Idee un¬
mittelbar anschaue, war ganz in seinem Sinne. In den „Wanderjahren"
(Betrachtungen im Sinne der Wandrer) sagt er: „Gewöhnliches Anschauen,
richtige Ansicht der irdischen Dinge, ist ein Erbteil des allgemeinen Menschen¬
verstandes. Reines Anschauen des Äußern und Innern ist sehr selten. Es
äußert sich jenes im praktischen Sinne, im unmittelbaren Handeln, dieses sym¬
bolisch, vorzüglich durch Mathematik, in Zahlen und Formeln, durch Rede, ur¬
anfänglich, tropisch, als Poesie des Genies, als Sprichwörtlichkeit des Menschen¬
verstandes." Das ist dasselbe, was Schopenhauer (im dritten Buche seines
Hauptwerkes, § 34*) sagt: „Wenn man, durch die Kraft des Geistes gehoben,
die gewöhnliche Betrachtungsart der Dinge fahren läßt, aufhört, nur ihren
Relationen zu einander, deren letztes Ziel immer die Relation zum eignen Willen
ist, am Leitfaden der Gestaltungen des Satzes vom Grunde, nachzugehen, also
nicht mehr das Wo, das Wann, das Warum und das Wozu an den Dingen
betrachtet, sondern einzig und allein das Was, auch nicht das abstrakte Denken,
die Begriffe der Vernunft das Bewußtsein einnehmen läßt, sondern, statt alles
diesen, die ganze Macht seines Geistes der Anschauung hingiebt, sich ganz in
diese versenkt und das ganze Bewußtsein ausfüllen läßt durch die ruhige Kon¬
templation des gerade gegenwärtigen natürlichen Gegenstandes, sei es eine Land¬
schaft, ein Baum, ein Fels, ein Gebäude oder was auch immer, indem man nach
einer sinnvollen deutschen Redensart sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert,
d. h. eben sein Individuum, seinen Willen vergißt und nur noch als reines
Subjekt, als klarer Spiegel des Objektes bestehend bleibt, so daß es ist, als ob
der Gegenstand allein da wäre, ohne jemanden, der ihn wahrnimmt, und man
also nicht mehr den Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern
beide eins geworden sind, indem das ganze Bewußtsein von einem einzigen an¬
schaulichen Bilde gänzlich gefüllt und eingenommen ist, wenn also solchermaßen
das Objekt aus aller Relation zu etwas außer ihm, das Subjekt aus aller
Relation zum Willen getreten ist, dann ist, was also erkannt wird, nicht mehr
das einzelne Ding als solches, sondern es ist die Idee, die ewige Form, die
unmittelbare Objektivität des Willens auf dieser Stufe, und eben darum ist
der in dieser Anschauung begriffene nicht mehr Individuum, sondern er ist
ein reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis." Nur
daß Schopenhauer, wie er an einer andern Stelle ausdrücklich hervorhebt, das
mathematische Denken als dem Satze des Grundes unterworfen von dem genialen
Schauen abtrennt, ja diesem entgegensetzt. Wenn man sich erinnert, wie freudig
Goethe den Auseinandersetzungen Schopenhauers über das künstlerische Schaffen
beistimmte, so erscheint es nicht unwahrscheinlich, daß ihm bei den vielumstritte¬
nen Müttern im zweiten Teile des Faust nicht bloß Plutarchs trockne Notizen,
sondern mehr noch die Platonisch-Schopenhauerischen Ideen vorschwebten. Man
betrachte nur den Zusammenhang, in dem die Mütter vorkommen: der Zauber¬
schlüssel der poetischen Kraft führt in das Reich der Mütter, die von den Ur¬
bildern der Dinge umgeben sind, und bringt von dort herauf den Dreifuß,
aus dessen Zaubergewölk sich die poetischen Gestalten entwickeln. Trifft diese
Deutung nicht mit Schopenhauers Verherrlichung der Ideen nahe zusammen?
Ebenso teilt Goethe Schopenhauers Ansicht, daß das Genie von den Zeitgenossen
nicht erkannt werden könne, sondern die verdiente Würdigung von der Nachwelt
erhoffen müsse. So sagt er in der dritten Abteilung der „Maximen und Re¬
flexionen": „Der Appell an die Nachwelt entspringt aus dem reinen, lebendigen
Gefühle, daß es ein Unvergängliches gebe und, wenn auch uicht gleich anerkannt
doch zuletzt aus der Minorität sich der Majorität werde zu erfreuen haben."
Schopenhauer, der dieses Thema in seinen spätern Schriften in den mannig¬
faltigsten Variationen abhandelt, sagt schon in seinem Hauptwerke (3. Buch,
Z 31): „So klein ist das eigentliche Publikum echter Philosophen, daß selbst
die Schüler, die verstehen, ihnen nur sparsam von den Jahrhunderten gebracht
werden."
So wenig Goethe sich berufen gefühlt haben mag, dem methaphhsischen
Grundgedanken Schopenhauers näher zu treten, so ist es doch nicht zu ver-
kennen, daß „die Welt als Wille" einen Eindruck auf ihn gemacht und ihn zu ver¬
schiedenen Betrachtungen veranlaßt hat. So legt er sich das Verhältnis des
Individuums zur Gattung im Schopenhcmerschen Sinne zurecht. „Das All¬
gemeine," sagt er in den „Betrachtungen im Sinne der Wandrer," „und Be¬
sondre fallen zusammen, das Besondre ist das Allgemeine unter verschiedenen
Bedingungen erscheinend." Und in der dritten Abteilung der „Maximen und Re¬
flexionen": „Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondre das Allgemeine
repräsentirt, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche
Offenbarung des Unerforschlichen. — Die Idee ist ewig und einzig; daß wir
auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgethan. Alles, was wir gewahr werden
und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe
sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff. — Wie man
gebildete Menschen sieht, so findet man, daß sie nur für eine Manifestation
des Urwesens oder doch nur für wenige empfänglich sind, und dies ist schon
genug." Schopenhauer drückt dies so aus (3. Buch, Kap. 29): „Hat der In¬
tellekt Kraft genug, das Übergewicht zu erlangen und die Beziehungen der
Dinge auf den Willen ganz fahren zu lassen, um statt ihrer das durch alle
Relationen hindurch sich aussprechende, rein objektive Wesen einer Erscheinung
aufzufassen, so verläßt er, mit dem Dienste des Willens zugleich, auch die Auf¬
fassung bloßer Relationen und damit auch die des einzelnen Dinges als solchen.
Er schwebt alsdann frei, keinem Willen mehr angehörig; im einzelnen Dinge
erkennt er bloß das Wesentliche und daher die ganze Gattung desselben, folglich
hat er zu seinem Objekte jetzt die Ideen, also die beharrenden, unwandelbaren,
von der zeitlichen Existenz der Einzelwesen unabhängigen Gestalten, die sxsoios
rsrum, als welche eigentlich das rein Objektive der Erscheinungen ausmachen."
Ja man kann die angeführten Äußerungen Goethes auch im transscenden¬
ten Sinne auf den Urgrund aller Dinge beziehen, und dann würden sie mit
dem übereinstimmen, was Schopenhauer an andrer Stelle (2. Buch, Kap. 25)
sagt: „Inzwischen ist mir, bei Betrachtung der Unermeßlichkeit der Welt, das
Wichtigste dieses, daß das Wesen an sich, dessen Erscheinung die Welt ist —
was immer es auch sein möchte —, doch nicht sein wahres Selbst solchergestalt
im grenzenlosen Raume auseinandergezogen und zerteilt haben kann, sondern
diese unendliche Ausdehnung ganz allein seiner Erscheinung angehört, es selbst
hingegen in jeglichem Dinge der Natur, in jedem Lebenden, ganz und ungeteilt
gegenwärtig ist; daher eben man nichts verliert, wenn man bei irgend einem
einzelnen stehen bleibt, und auch die wahre Weisheit nicht dadurch zu erlangen
ist, daß man die grenzenlose Welt ausmißt, oder, was noch zweckmäßiger wäre,
den endlosen Raum persönlich durch flöge, sondern vielmehr dadurch, daß man
irgend ein einzelnes ganz erforscht, indem man das wahre und eigentliche Wesen
desselben vollkommen erkennen und verstehen zu lernen sucht."
Auch der Grundgedanke Schopenhauers, daß der Wille zum Leben sich
auf allen Stufen des organischen und unorganischen Lebens objektivire und
somit alles mit einer Art Bewußtsein, das freilich von dem menschlichen sich weit
entfernt, durchdringe, klingt bei Goethe an. So in „Makariens Archiv": „Das
Unsterbliche ist nicht dem sterblichen Lebenden zu vergleichen, und doch ist auch
das bloß Lebende verständig. So weiß der Magen recht gut, wenn er hungert
und dürstet. Man kann den Idealisten alter und neuer Zeit nicht verargen,
wenn sie so lebhaft auf Beherzigung des einen dringen, woher alles entspringt
und worauf alles zurückzuführen wäre."
Auf den Willen als weltbewegende Macht legte Goethe, freilich nur mit
Beziehung auf den Menschen, in den spätern Jahren seines Lebens wiederholt
ein besondres Gewicht. So sagte er am 12. Mai 1825 zu Eckermann: „Was
können wir denn unser Eignes nennen als die Energie, die Kraft, das WollenI"
Und am 4. Febr. 1829: „Die Überzeugung unsrer Fortdauer entspringt nur
aus dem Begriffe der Thätigkeit, denn wenn ich bis an mein Ende rastlos
wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andre Form des Daseins anzu¬
weisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag." Den
„Willen zum Leben" könnte man auch aus dem Satze heraushören, den er in
„Problem und Erwiederung" ausspricht: „Die Natur hat kein System, sie hat,
sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum zu einer nicht erkenn¬
baren Grenze." Schopenhauer sagt (2. Buch, Z 29): „In der That gehört
Abwesenheit alles Zieles, aller Grenzen zum Wesen des Willens an sich, der
ein endloses Streben ist."
Den Tod charakterisirt Goethe als eine Pause im kontinuirlichem Zuge des
Lebens mit demselben Bilde wie Schopenhauer. Am 2. Mai 1824 betrachtete
er die untergehende Sonne und sagte zu Eckermann: „Wenn einer 76 Jahre
alt ist, kann es nicht fehlen, daß er mitunter an den Tod denke. Mich läßt
dieser Gedanke in völliger Ruhe, denn ich habe die feste Überzeugung, daß unser
Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur; es ist ein fortwirkendes von
Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unsern irdischen Augen
unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fort¬
leuchtet." Schopenhauer drückt dies (4. Buch, § 54) so aus: „Der Objek-
tivation des Willens ist die Form der Gegenwart wesentlich, welche als aus¬
dehnungsloser Punkt die nach beiden Seiten unendliche Zeit schneidet und
unverrückbar fest steht, gleich einem immerwährenden Mittag, ohne kühlenden
Abend; wie die wirkliche Sonne ohne Unterlaß brennt, während sie nur schein¬
bar in den Schoß der Nacht sinkt; daher, wenn ein Mensch den Tod als seine
Vernichtung fürchtet, es nicht anders ist, als wenn man dächte, die Sonne
könne am Abend klagen: „Wehe mir! ich gehe unter in ewige Nacht." In der
dritten Auflage seines Werkes hat er dieser Stelle die Anmerkung hinzugefügt:
„Goethe hat das Gleichnis von mir, nicht etwa ich von ihm. Ohne Zweifel
gebraucht er es infolge einer, vielleicht unbewußten Reminiscenz obiger Stelle,
da solche mit denselben Worten wie hier in der ersten Auflage, S. 401, steht,
auch ebendaselbst, S. 528, wie hier am Schlüsse des Z 65 wiederkehrt." Man
sieht hieraus, welchen tiefen Eindruck das Lesen des Schopenhauerschen Buches
auf Goethe gemacht haben muß.
Daß endlich auch Schopenhauers Ethik den „Meister" nicht unberührt
ließ, ist schon angedeutet worden. Goethe war nicht Pessimist wie Schopenhauer
und Byron, aber er war auch nicht Optimist um jeden Preis wie sein Egmont,
sondern hielt sich als aufmerksamer Beobachter und rüstiger Arbeiter in der
Mitte zwischen den Extremen. „Wir mögen die Welt kennen lernen, wie wir
wollen," lautet eine seiner „Maximen," „sie wird immer eine Tag- und Nacht¬
seite behalten." Er unterschied scharf Natur und Menschenwelt. Die Natur
war ihm immer ehrwürdig, interessant und rein, über die sittlichen Mängel der
Menschen hatte er schon in der Jugend geklagt, im Alter stieg die Mißachtung
der Durchschnittscharaktere infolge der Übeln Erfahrungen, die er mit seiner
Farbenlehre machte. Über die Beschwerlichkeit des Erdenlebens setzte er sich
mutig hinweg, trug das eigne Leid mit heroischer Standhaftigkeit und suchte
die allgemeine Not zu lindern, so gut er konnte. Die erhabene Heiterkeit seines
Wesens beruhte außerdem auf dem festen Glauben, daß eine gütige Vorsehung
jeden seiner Schritte lenke und alles zum Besten wende. Für den radikalen
Pessimismus Schopenhauers und Byrons hatte er in seinem Herzen keinen Raum,
aber sein Verstand versagte demselben nicht die Berechtigung: er verehrte Byron und
er geriet im letzten Jahrzehnt sehr leicht in die Gedankenrichtung Schopenhauers.
Ganz im Geiste der Schopenhauerschen Philosophie sagt er in den „Betrach¬
tungen im Sinne der Wandrer": „Die Menschheit ist bedingt durch Bedürf¬
nisse. Sind diese nicht befriedigt, so erweist sie sich ungeduldig, sind sie be¬
friedigt, so erscheint sie gleichgiltig. Der eigentliche Mensch bewegt sich also
zwischen beiden Zuständen, und seinen Verstand, den sogenannten Menschenver¬
stand, wird er anwenden, seine Bedürfnisse zu befriedigen; ist es geschehen, so
hat er die Aufgabe, den Raum der Gleichgiltigkeit auszufüllen. Beschränkt sich
dieses in die nächsten und notwendigsten Grenzen, so gelingt es ihm auch.
Erheben sich aber die Bedürfnisse, treten sie aus dem Kreise des Gemeinen her¬
aus, so ist der Gemeinverstand nicht mehr hinreichend, er ist kein Genius mehr,
die Region des Irrtums ist der Menschheit aufgethan."
Der Schlüssel zu diesen Worten findet sich in dem Hauptwerke Schopen¬
hauers und zwar im zweiten und dritten Buche des ersten Bandes; da heißt
es z. B: „Die Erkenntnis überhaupt, vernünftige sowohl als bloß anschauliche,
geht ursprünglich aus dem Willen selbst hervor, gehört zum Wesen der höhern
Stufen seiner Objektivation, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums
und der Art, so gut wie jedes Organ des Leibes. Ursprünglich also zum Dienste
des Willens, zur Vollbringung seiner Zwecke bestimmt, bleibt sie ihm auch fast
durchgängig dienstbar, so in allen Tieren und beinahe in allen Menschen.
Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben fort.
Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz, die Erreichung gebiert schnell Sätti¬
gung, das Ziel war nur scheinbar, der Besitz nimmt den Schmerz weg, unter einer
neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfnis wieder ein; wo nicht, so folgt
Öde, Leere, Langeweile, gegen die der Kampf ebenso quälend ist, wie gegen die Not.
So sehr nun aber auch große und kleine Plagen jedes Menschenleben füllen
und in steter Unruhe und Bewegung erhalten, so vermögen sie doch nicht die
Unzulänglichkeit des Lebens zur Erfüllung des Geistes, das Leere und Schale
des Daseins zu verdecken oder die Langeweile auszuschließen, die immer bereit
ist, jede Pause zu füllen, welche die Sorge läßt. Daraus ist es entstanden,
daß der menschliche Geist, noch nicht zufrieden mit den Sorgen, Bekümmernissen
und Beschäftigungen, die ihm die wirkliche Welt auferlegt, sich in der Gestalt
von tausend verschiedenen Superstitionen noch eine imaginäre Welt schafft, mit
dieser sich dann auf alle Weise zu thun macht und Zeit und Kräfte an ihr
verschwendet, sobald die wirkliche ihm die Ruhe gönnen will, für die er gar
nicht, empfänglich ist."
Durchaus pessimistisch sind manche Äußerungen Goethes über seine wissen¬
schaftlichen Gegner. So klagte er Eckermann am 16. Oktober 1825: „Ich
hätte die Erbärmlichkeit der Menschen, und wie wenig es ihnen um wahrhaft
große Zwecke zu thun ist, nie so kennen gelernt, wenn ich mich nicht durch meine
naturwissenschaftlichen Bestrebungen an ihnen versucht Hütte. Da aber sah ich,
daß den meisten die Wissenschaft nur etwas ist, insofern sie davon leben, und
daß sie sogar den Irrtum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben." Es
ist, als ob man Schopenhauer hörte, wenn er seinem Ärger über die Philoso¬
phieprofessoren Luft macht.
Noch stürmischer betont Goethe die Berechtigung einer pessimistischen Welt¬
anschauung in der dritten Abteilung der „Maximen und Reflexionen," wo er
unumwunden sagt: „Die empirisch sittliche Welt besteht größtenteils nur aus
bösem Willen und Neid." Schopenhauer verbreitet sich über diesen Punkt aus¬
führlich im vierten Buche (Z 59): „Jeder, der aus den ersten Jugendträumen er¬
wacht ist, eigne und fremde Erfahrung beachtet, sich im Leben, in der Geschichte
der Vergangenheit und des eignen Zeitalters, endlich in den Werken der großen
Dichter umgesehen hat, wird, wenn nicht irgend ein unauslöschlich eingeprägtes
Vorurteil seine Urteilskraft leidend, wohl das Resultat erkennen, daß diese
Menschenwelt das Reich des Zufalls und des Irrtums ist, die unbarmherzig
darin schalten, im großen wie im kleinen, neben welchen aber noch Thorheit
und Bosheit die Geißel schwingen; daher es kommt, daß jedes Bessere nur
mühsam sich durchdrängt, das Edle und Weise sehr selten zur Erscheinung
gelangt."
Wie Schopenhauer, so glaubt auch Goethe nicht an eine zusammenhängende
Weiterentwicklung der Menschheit nach einem idealen sittlichen Endziele. Merk-
Würdig ist, was er darüber am 23. Oktober 1828 zu Eckermann auf dessen Be¬
merkung, daß die Entwicklung der Menschheit auf Jahrtausende angelegt scheine,
sagte. „Wer weiß," erwiederte Goethe, „vielleicht auf Millionen. Aber laß
die Menschheit dauern, so lange sie will, es wird ihr nie an Hindernissen fehlen,
die ihr zu schaffen machen, und nie an allerlei Not, damit sie ihre Kräfte ent¬
wickle. Klüger und vorsichtiger wird sie werden, aber besser, glücklicher und
thatkräftiger nicht, oder doch nur auf Epochen. Ich sehe die Zeit kommen, wo
Gott keine Freude mehr an ihr hat und er abermals alles zusammenschlagen muß
zu einer verjüngten Schöpfung. Ich bin gewiß, es ist alles darnach angelegt,
und es steht in der fernen Zukunft schon Zeit und Stunde fest, wann diese
Verjüngungsepoche eintritt. Aber bis dahin hat es sicher noch gute Weile, und
wir können noch Jahrtausende und aber Jahrtausende auf dieser lieben alten
Fläche, wie sie ist, allerlei Spaß haben." Es ist dasselbe, wenn er (am 18. Januar
1825) sagt: „Die Welt bleibt immer dieselbe, die Zustände wiederholen sich,
das eine Volk lebt, liebt und empfindet wie das andre, warum sollte denn der
eine Poet nicht wie der andre dichten?"
Schopenhauer hat im zweiten Bande seines Hauptwerkes, den Goethe
nicht kannte, der Geschichte ein eignes Kapitel gewidmet und spricht sich darin
sehr entschieden gegen das Bestreben Hegels aus, die Weltgeschichte als ein plan¬
mäßiges Ganze zu fassen. Diese Konstruktionsgcschichten, erklärt er, „laufen, von
plattem Optimismus geleitet, zuletzt immer auf einen behaglichen, nahrhaften,
fetten Staat, mit wohlgeregelter Konstitution, guter Justiz und Polizei, Technik
und Industrie hinaus, weil diese in der That die allein mögliche ist, da das
Moralische im wesentlichen unverändert bleibt." Aber auch schon im ersten
Bande, den Goethe kannte, besonders im vierten Buche, betont er wiederholt
„das Vergebliche und Nichtige" des ganzen Strebens der Menschheit. In K 62
sagt er: „Erreichte der Staat seinen Zweck vollkommen, so könnte gewisser¬
maßen, da er, durch die in ihm vereinigten Menschenkräfte, auch die übrige
Natur sich mehr und mehr dienstbar zu machen weiß, zuletzt, durch Fortschaffung
aller Arten von Übel, etwas dem Schlarafsenlande sich annäherndes zu stände
kommen. Allein teils ist er noch sehr weit von diesem Ziele entfernt, teils würden
noch immer unzählige, dem Leben durchaus wesentliche Übel es nach wie vor im
Leiden erhalten." Selbst der Askese, der „Verneinung des Willens" in Schopenhauers
philosophischer Sprache, steht Goethe nicht so fern, wie es scheinen möchte, er läßt
sie gelten, und sie giebt ihm Veranlassung, die welterlösende Macht des Christen¬
tums zu preisen. Sehr bezeichnend ist in dieser Hinsicht, was er in den „Wander¬
jahren" (2. Buch, Kapitel 1) einen der Pädagogen in der pädagogischen Pro¬
vinz sagen läßt: „Nun ist aber von der dritten Religion zu sprechen, gegründet
auf die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist; wir nennen sie die christliche, weil
sich in ihr eine solche Sinnesart am meisten offenbart, es ist ein Letztes, wozu
die Menschheit gelangen konnte und mußte. Aber was gehörte dazu, die Erde
nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höheren Geburtsort
zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach
und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und
Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen zu ver¬
ehren und lieb zu gewinnen. Hiervon finden sich zwar Spuren durch alle
Zeiten, aber Spur ist nicht Ziel, und da dieses einmal erreicht ist, so kann die
Menschheit nicht wieder zurück, und man darf sagen, daß die christliche Religion
da sie einmal erschienen ist, nicht wieder verschwinden kann "
Mit dieser Apotheose des christlichen Sittlichkeitsideals möge die Reihe der
Beispiele schließen, welche die Anklänge Schopenhauerscher Philosophie in Goethes
spätern Äußerungen zu Gehör bringen sollten. Es ließe sich noch manches
hinzufügen. So ist in den „Orphischen Stanzen," die freilich schon vor dem
Erscheinen von Schopenhauers Werk gedichtet worden sind, und noch mehr in
dem Kommentar dazu vom Jahre 1820 ein Anklang an den intelligibeln (ur¬
sprünglichen, unveränderlichen) und empirischen Charakter zu erkennen. Am
meisten beeinflußt von Schopenhauers Philosophie sind die Sentenzen in den
„Wanderjahren" und die Gespräche mit Eckermann, einigermaßen die naturphilo¬
sophischen Betrachtungen in den „Morphologischen Heften," und auch der zweite
Teil von Faust ist nicht unberührt geblieben.
Damit soll, wie gesagt, Goethe keineswegs zu einem Bekenner von Schopen¬
hauers Philosophie gestempelt werden. Dies wäre ebenso thöricht, als wenn man
ihn zu einem Hegelianer machen wollte, weil sich Hegelscher Einfluß in den letzten
Jahrzehnten seines Lebens ebenfalls bei ihm nachweisen läßt. Wie er sich zu
den neuern Philosophen verhielt, sagt er besser als in seinem Aufsatze: „Ein¬
wirkung der neuern Philosophie" in dem Gedichte: „Vermächtnis", das er im
Jahre 1829 dichtete, und das, da es in weitern Kreisen weniger bekannt ist,
hier in ganzer Gestalt Zeugnis ablegen mag:
Kein Wesen kann zu nichts zerfallen I
Das Ew'ge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig, denn Gesetze
Bewahren die lebend'gen Schatze,
Aus welchen sich das All geschmückt.Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden,
Das alte Wahre, sass' es an!
Verdank es, Erdensohn, dem Weisen,
Der ihr, die Sonne zu umkreisen,
Und dem Geschwister wies die Bahn.Sofort nun wende dich nach innen,
Das Centrum findest du dadrinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag,
Wirst keine Regel da vermissen;
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig
Und wandle, sicher wie geschmeidig,
Durch Auen reichbegabter Welt.Genieße mäßig Füll' und Segen,
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leven sich des Lebens freut.
Daun ist Vergangenheit beständig.
Das Künftige voraus lebendig,
Der Augenblick ist Ewigkeit.Und war es endlich dir gelungen,
Und bist du vom Gefühl durchdrungen,
Was fruchtbar ist, allein ist wahr,
Du prüfst das allgemeine Walten,
Es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schaar!Und wie von Alters her im Stillen
Ein Liebcwerk nach eignem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
So wirst du schönste Gunst erzielen,
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf.
Da dieses Gedicht die Berichtigung eines früher gedichteten ist, das die Über¬
schrift „Eins und Alles" trägt und die Weltanschauung Schellings durch¬
blicken läßt, so enthält es offenbar eine Kritik der gesamten nachkantischen
idealistischen Philosophie und ist in dieser Beziehung höchst wichtig.
Von Schopenhauers übrigen Werken hat Goethe keins gekannt, sie er¬
schienen erst, wie auch der zweite Band seines Hauptwerkes, nach dessen
Tode. Daher ist es auch kein Wunder, daß Goethe seinen philosophischen Freund
allmählich ganz aus den Augen verlor, um so schneller, als Schopenhauer sich
bekanntlich mehr und mehr einem einsiedlerischen Leben hingab. Nachdem er
einen vergeblichen Versuch gemacht hatte, als Lehrer an der Berliner Universität
unter den Professoren festen Fuß zu fassen, ging er nach Frankfurt, wo er
als Sonderling, nicht als berühmter Philosoph, eine bekannte Persönlichkeit war.
Er mußte lange auf Anerkennung warten. Die wissenschaftlichen Kreise Deutsch¬
lands lagen so ganz im Banne der Hegelschen Phrasen, daß sie für gar nichts
andres Auge und Ohr hatten. Brockhaus, der Verleger, betrachtete die nicht
starken Auflagen der Schriften Schopenhauers resignirt als Makulatur. Erst
in den fünfziger Jahren, als man sich bei den hochtrabenden Orakelsprüchen des
„Absoluten" zu langweilen anfing, verzog sich der Nebel, der Schopenhauers Lehre
bisher verhüllt hatte, und wie ein prächtiges Abendrot verschönte ein später Ruhm
das letzte Jahrzehnt des einsamen Denkers. Im April des Jahres 1860, ein halbes
Jahr vor seinem Tode, erhielt er einen Brief von Ottilie von Goethe, worin sie
ihn beglückwünschte, daß er das geworden sei, was er vor fünfzig Jahren habe
werde wollen, „der Philosoph des neunzehnten Jahrhunderts." Dem alten Ein¬
siedler in Frankfurt mochte diese Huldigung wie ein Gruß seines großen Freundes
aus dem Jenseits erscheinen, und gewiß, Goethe hätte ihm seinen Glückwunsch
auch nicht versagt, so weit auch immer in manchen Hauptpunkten seine Wege
von denen des Philosophen abwichen.
urch die Zeitungen ist in den letzten Monaten die überraschende
Kunde gegangen, daß die Stadt Leipzig sich entschlossen hat, in
diesem Jahre, wo seit den Tagen der Völkerschlacht drei Viertel¬
jahrhunderte verflossen sind, einen Plan wieder aufzunehmen und
durchzuführen, der 1863 bei der funfzigjährigen Jubelfeier der
Schlacht gefaßt wurde, zu dessen Ausführung sich damals 23 deutsche Städte
verbanden, der aber dann durch die politischen Ereignisse in den Hintergrund
gedrängt wurde und wohl allgemein sür aufgegeben galt: den Plan, ein Denk¬
mal der Völkerschlacht zu errichten. Wie die Zeitungen mitgeteilt haben, hat
wenigstens ein Teil der Städte, die sich 1863 vereinigt hatten, allen voran
Berlin und Wien, auf eine von Leipzig aus an sie ergangene Anfrage erklärt,
daß sie sich an die vor 25 Jahren übernommene Verpflichtung für gebunden
erachten und bereit sind, auch jetzt noch zur Ausführung des Planes ihre Hand
zu biete».
Die Kunde mußte überraschen in einer Zeit, wo einerseits eine gewisse
Denkmalsmüdigkeit eingetreten ist, wo der Gedanke, für ein großes Denkmal
einen allgemeinen Wettbewerb auszuschreiben, Wohl überall als Anachronis¬
mus empfunden werden würde, da wenigstens ein hervorragender Künstler sich
auf einen solchen Wettbewerb schwerlich noch einlassen würde, und wo ander¬
seits die künstlerischen Kräfte wie die Opferwilligkeit des deutschen Volkes aller
Orten durch Denkmäler für Kaiser Wilhelm und Kaiser Friedrich in Anspruch
genommen sind.
Und doch handelt es sich hier um Abtragung einer alten Ehrenschuld,
nicht bloß im Hinblick auf die großen, herrlichen, vor aller Vergessenheit ge-
schützten Thaten unsrer Väter, deren Glanz noch 1863, wo Hunderte von er¬
grauten Kämpfern aus dem Jahre 1813 in Leipzig versammelt waren, über
ein halbes Jahrhundert hinweg in die Gegenwart hereinzuleuchten schien, dann
freilich vor den Ereignissen von 1866 und 1870 eine Zeit lang verblaßte, son¬
dern vor allem auch im Hinblick auf die Geschichte der zahlreichen Anläufe
und Versuche, die seit 1813 zur Ausführung dieses Planes gemacht worden
sind, und die schlaff und gleichgiltig im Sande verlaufen zu lassen unsers
Volkes heute weniger würdig wäre denn je zuvor. Dies wird ein kurzer Über¬
blick über diese Versuche, die dem heutigen Geschlechte Wohl so gut wie unbe¬
kannt sind, hoffentlich erkennen lassen. Zugleich bietet dieser Überblick einen
merkwürdigen Ausschnitt aus den kümmerlichen Kunstzuständen Deutschlands
zur Zeit der Befreiungskriege, wobei aber doch die Möglichkeit nicht aus¬
geschlossen ist, daß ein Künstler der Gegenwart zu der jetzt geplanten Ausfüh¬
rung der Sache einzelne Anregungen daraus schöpfe.
„Daß auf den Feldern bei Leipzig ein Ehrendenkmal errichtet werden muß,
das dem spätesten Enkel noch sage, was daselbst im Oktober des Jahres 1813
geschehen, darüber ist wohl in ganz Teutschland, ja wohl in der ganzen Welt
nur eine Stimme." So schrieb Arndt 1814 in einem Aufsatze: „Über ein
Denkmal bei Leipzig", den er zweien seiner kleinen Flugschriften: „Ein Wort
über die Feier der Leipziger Schlacht" und „Entwurf einer teutschen Gesell¬
schaft" als Anhang beigegeben hatte. Er machte auch gleich einen bestimmten
Vorschlag für die Gestalt des Denkmals. „Ein kleines, unscheinbares Denkmal —
sagt er —, das sich gegen die Natur umher in nichts gleichen kann, thut es
nicht; ein zierliches und blankes, etwa in Leipzig selbst auf einen Platz hin¬
gestellt, würde in seiner Armseligkeit von der großen That, wodurch die Welt
von dem abscheulichsten aller Tyrannen und dem tückischsten aller Tyrannen¬
völker befreit ward, zu sehr beschämt werden. Das Denkmal muß draußen
stehen, wo so viel Blut floß; es muß so stehen, daß es ringsum von allen
Straßen gesehen werden kann, auf welchen die verbündeten Heere zur blutigen
Schlacht der Entscheidung heranzogen. Soll es gesehen werden, so muß es
groß und herrlich sein, wie ein Koloß, eine Pyramide, ein Dom in Köln.
Aber solches in großer Kraft und im großen Sinn zu bauen, fehlt uns das
Geld und das Geschick, und ich fürchte, wenn man bei kleinen Mitteln etwas
ähnliches machen will, kömmt etwas erbärmliches heraus. Ich schlage daher
etwas ganz einfaches und ausführliches Ausführbares^ vor, ein Denkmal, wobei
die Kunst keine Äffereien anbringen und wogegen unser nordischer, allen Denk¬
mälern so feindseliger Himmel nichts ausrichten kann. Ich befestige einige
tausend Soldaten oder Bauern in die Ebene von Leipzig hin und lasse sie in
der Mitte des meilenlangen Schlachtfeldes einen Erdhügel von etwa 200 Fuß
Höhe auftürmen. Auf den Erdhügel werden Feldsteine gewälzt, und über diesen wird
ein kolossales, aus Eisen gegossenes und mit mancherlei Anspielungen^und Zeichen
geziertes Kreuz errichtet, das Zeichen des Heils und der Herrscher des neuen
Erdballes. Das Kreuz trägt eine große, vergoldete Kugel, die weit in der
Ferne leuchtet. Das Land rings um den Hügel, etwa 10 bis 15 Morgen weit,
wird für ein geheiligtes Land erklärt, mit Wall und Graben eingefaßt und
mit Eichen bepflanzt. Dieser Hügel, dieses Kreuz und diese Bäume wären zugleich
ein echt germanisches und ein echt christliches Denkmal, wohin unsere Urenkel
noch wallfahrten gehen würden. Der Eichenhain würde zum Kirchhof großer
teutscher Männer geweiht, wo berühmter Feldherrn und für das Vaterland
gebliebener Helden Leichen begraben würden."
Arndts Vorschlag wird schwerlich der erste gewesen sein. Es traten unab¬
hängig von einander in kurzer Zeit eine Reihe der verschiedensten Pläne und
Entwürfe hervor, deren zeitliche Folge sich heute nicht mehr genau feststellen
läßt. Manche berühren sich unter einander, ohne bei den unentwickelten Verkehrs¬
und Prcßverhältnisfen jener Zeit von einander gewußt zu haben. Der nachfolgende
Überblick erhebt also nicht den Anspruch, in chronologischer Folge vorzugehen.
Eine ganze Reihe freilich lauter totgeborner Entwürfe wurde durch ein
Unternehmen eines Freiherrn Adolph von Seckendorff auf Zingst bei Quer-
furt hervorgerufen. Wir kennen sie aus einer Schrift, die er hinterher ver¬
öffentlichte: „Die Resultate meines Planes, der Völkerschlacht bei Leipzig ein
Denkmal zu setzen. Mit 4 Kupfern. Erste ^einzige^ Lieferung. Leipzig 1814."
Dieser Seckendorff, der ein etwas wunderlicher Herr gewesen sein muß, fühlte
sich in seinem Gewissen beunruhigt, daß es ihm nicht vergönnt gewesen war,
sich an dem Kampfe für das Vaterland zu beteiligen, daß er „gleichsam
schlummernd hatte im Vaterlande sitzen und seine Brüder für sich bluten sehen
müssen." Um ein Dankesopfer zu bringen, entschloß er sich, ganz allein, auf
eigne Kosten, ein Denkmal der Leipziger Schlacht zu errichten und überreichte
im April 1814 einen Plan dazu dem sächsischen Generalgouvernement in
Dresden, an dessen Spitze der russische Fürst Repnin stand. Auf einem
rohen, aus Feldsteinen aufgebauten Grunde sollte sich ein quadratischer Unter¬
bau erheben, darauf ein Würfel, darüber ein eisernes Dach mit vier Giebeln,
auf der Mitte des Daches eine eiserne Kugel mit einem goldnen Reifen. Für
die vier Seiten des Würfels hatte er kurze Inschriften entworfen, so für die
erste: „Den Befreiern des festen Landes, Alexander, Franz. Friedrich Wilhelm,"
für die vier Giebel allegorische Sinnbilder, einen Palmenzweig, zwei Hände, die
sich umschlingen, eine Geißel, von einem Fuße getreten u. s. w. Um den
Reifen der Kugel sollte die Inschrift laufen: „Frohe Aussicht für die Nach¬
welt." Als Platz für das Denkmal hatte er sich den kleinen Hügel bei Leipzig
gedacht, der noch heute der Monarchenhügel genannt wird, und auf dem nach
einer Sage, die bald nach der Schlacht überall verbreitet und sogar bildlich
verherrlicht worden war, die drei verbündeten Fürsten auf die Kniee gesunken
sein und Gott für den Sieg gedankt haben sollten.
Fürst Repnin erteilte Seckendorff die erbetene Erlaubnis, nicht ohne ihn
darauf aufmerksam zu machen, daß der eben erwähnte Auftritt nie in der
angegebenen Weise stattgefunden habe, und Seckendorff veröffentlichte nun sein
Vorhaben unterm 1. Mai 1814 in den „Leipziger Zeitungen." Seinen Plan
behielt er zunächst noch für sich, bat, ihm Ideen dazu anzugeben, stellte es
„jedem echten Patrioten, er sei Sachse oder Deutscher," frei, sich ihm anzuschließen,
verbat sich aber vorläufig die Einsendung von Geldbeiträgen.
Diese Aufforderung trug ihm nun teils mit, teils ohne Namen der Ein¬
sender die mannigfaltigsten Vorschläge ein, Vorschläge, die zum Teil höchst wunder¬
licher Art waren, ja gar nicht auf ein plastisches Denkmal, sondern auf eine
milde Stiftung gingen. Einer wollte „auf der Höhe zwischen Wachau, Liebert-
wolkwitz und Probsthaide ein Etablissement tendiren, worinnen für Deutschheit
die Waisen der für Freiheit und Vaterland gebliebenen Helden erzogen und
für ihre Witwen Unterhalt und angemessene Beschäftigung dabei gefunden
werden sollte." Die Kosten dazu sollten aufgebracht werden durch die fabrik¬
mäßige Anfertigung und den Verkauf eines Nationalpetschafts (!), dessen
Griff als Siegessäule oder Kanonenrohr gestaltet sein sollte, und dessen
Siegel als „deutsches Bundessiegcl" gedacht war. Ein zweiter schlug vor,
eine billige Denkmünze zu prägen und im ganzen Lande zu verkaufen, eine
Pfennigstcuer auszuschreiben und außerdem eine allgemeine Hauskollekte zu ver¬
anstalten; der Ertrag dieser drei Unternehmungen sollte verwendet werden zur
Unterstützung der Waisen und der Armen und zu Pachtgeldern und Samenerd-
äpfcln für die arbeitsamen Armen jedes Dorfes" (!).
Ein dritter legte dar, daß die „eigentümlichste Idee" der Völkerschlacht
doch unwidersprechlich die der „strafenden Nemesis" gewesen sei, des ewigen
Gleichgewichts der Welt, welches wohl für kurze Zeit in etwas durch eine
verwegene, aufbrausende Kraft zerstört, aber nimmer vernichtet werden könne,
vielmehr durch seine Wiederherstellung diese Kraft selbst vernichte. Daher
wünschte er, daß das Schwert der Nemesis im Bilde eines riesigen altdeutschen
geflammten Schwertes, gegossen ans eroberten feindlichen Kanonen, den Haupt¬
bestandteil des Denkmales bildete. Auf einem großen Würfel sollte ein kleinerer
ruhen, in welchem das Schwert, der Griff nach oben, mit der Spitze befestigt
werden sollte. „Passend wäre es Wohl, durch eine bis in die Erde fortgesetzte
Eisenleitung es zum Selbstblitzableiter zu machen" (!). Der untere größere Würfel
sollte Sinnbilder und Inschriften tragen, an der Vorderseite „die herrlichen,
tiefen, hier so höchst beziehungreichcn Worte des trefflichsten deutschen Dichters:
Die Weltgeschichte ist das Weltgericht."
Ein vierter Vorschlag nebst einer Skizze wurde von jemand eingesandt,
der zugleich versicherte, daß es ihm eine Freude sein würde, eine solche Arbeit
„als deutscher Künstler" auszuführen. Was er beabsichtigte, war etwas unklar
ausgedrückt, läßt sich aber ungefähr erraten: er wollte eine Gruppe schaffen,
welches die drei hohen Monarchen darstellt, welche durch eine Viktoria, die weit
höher gruppiret ist, den Siegeskranz aufsetzt" (so!). Das Piedestal der Gruppe
wollte er mit vier Reliefs schmücken: „1. Germanien, welches sein Haupt stolz
emporhebt, neben ihr stehen zwei Genien, der eine trägt das Symbol Deutsch¬
lands, den Eichzwcig, der andere ein Füllhorn, daß nunmehr Handel und
Wissenschaften wieder empor kann; 2. die Historie, den merkwürdigen Tag,
18. Oktober, bezeichnend; 3. drei allegorische Figuren, die Stärke, Klugheit und
Wachsamkeit; 4. Janus, den Tempel der Zwietracht zuschließend." Ein solches
Denkmal, meinte er, würde „ein (so!) Platz Leipzigs zieren, wenn nur in unsern
traurigen Kunstzeiten wir nicht zu tief herabgesunken wären."
Der nächste Vorschlag ging von einem Manne aus, der sich selbst längere
Zeit lebhaft mit dem Gedanken, ein Denkmal der Schlacht zu schaffen, be¬
schäftigt hatte. Er hatte sogar selbst einen Aufruf entworfen und sich „an
einen in der Ästhetik berühmten Mann, dessen Feder sich hierin schon besonders
schön ausgezeichnet hatte, mit der Bitte gewandt, denselben gehörig auszu¬
schmücken," war aber ohne Antwort geblieben. Darauf schickte er seinen Auf¬
ruf samt dem Entwürfe an Seckendorff. Nach seiner Meinung war die einfache
nud erhabene Idee, welche die Verbündeten zu ihren unvergeßlichen Thaten
geführt hatte, „der gemeinschaftliche Trost einer und der nämlichen Religion"
gewesen; „sie kämpften vereinigt für ein Recht nud einen Gott. Der alter¬
tümliche Geist des Kreuzes stieg beinahe so wunderbar als zur Zeit Konstantins
des Großen wieder empor, und krcuzesritterlich oder religiös und kriegerisch
ward dieser Bund der Völker." Er wünschte daher in einem kolossalen Denk¬
mal plastisch die Vorstellung zum Ausdruck gebracht zu sehen, wie „das Panier
des Kreuzes das Schwert der Völker zum Siege erhebt, an welchem ihnen die
Palme des Friedens erwächst"; dazu nur die Jahreszahl, keine Inschriften.
Einen genauern Plan sollte „die Akademie der schönen Künste" (welche, ist nicht
gesagt) entwerfen. Die Mittel sollten durch eine Groschensammlung in ganz
Deutschland aufgebracht werden.
Einen ganz seltsamen Gedanken hatte ein Mann eingesandt, der zugleich
in der Weise Jcchus aus den Errungenschaften der Befreiungskriege Großes
für die Erneuerung der deutschen Sprache und ihre Reinigung von fremdartigen
Bestandteilen hoffte und anstrebte. Er dachte, um es modern zu sagen, an die
Errichtung einer — deutschen Buchhündlerbörse: „ein kleines Gebäude in einem
ziemlichen Garten zur Zusammenkunft von Buchhändlern und Gelehrten in den
Siegestagen, die gerade in die Meßzeit fallen, mit der einfach kurzen Inschrift:
Deutscher Sprache, belebt am 16.—19. des Weines 1813." Begleitet war sein
Vorschlag von einigen Gedichten, von denen aus dem einen wenigstens folgende
Strophe zur Probe mitgeteilt sein mag:
Geissel ist dem Geist die Zcmberbmde,
Getilgt der wlkentehrend schöne Wahn,
Im Fürsten, Fürstin und im Fnrstenkindc
Und Höfling, auf des Hofes Ehrenbahn
Parisers Mischungssprache sei die Winde,
Den Geist zu wuchteu auf der Bildungsbahn;
Die Lindcnstadt dich herrlich hat entbunden,
Der schnöden ward der Herrscherstab entwunden.
Ein siebenter Vorschlag ging wieder auf ein plastisches Werk, er ließ die
Wahl zwischen einem auf einen Würfel gestellten 30 bis 40 Fuß hohen Obe¬
lisken oder einer Pyramide, auf deren Seiten, in Eisen gegossen oder in weißen
Marmor gehauen, die Bildnisse der verbündeten Mächte angebracht werden
sollten; dazu eine kurze lateinische (!) Inschrift, das Ganze von Pappeln oder
Linden umgeben.
Noch ehe diese Vorschläge alle an Seckendorff gelangt waren, hatte er
seinen eignen Plan unterm 11. Mai 1814 im „Allgemeinen Anzeiger der
Deutschen" (Ur. 131) veröffentlicht, eine Anzahl hervorragender Leipziger Kauf¬
mannsfirmen genannt, die bereit wären, „sowohl Subskriptionen als Pränu-
merationen anzunehmen," auch in Aussicht gestellt, daß die „Zeitung für die
elegante Welt" nächstens einen Umriß seines Entwurfes bringen würde. Unter
dem 18. Juni 1814 teilte er dann in den „Leipziger Zeitungen" mit, daß ihm
verschiedene Ideen und Zeichnungen zugegangen seien. „Ich ersuche nun dieje¬
nigen, welche Kenntnisse und Geschmack besitzen, und welche ohne Interesse ^un¬
parteiisch^ diese Ideen prüfen wollen, sich mir zu nennen, um mit ihnen vereint
das Beste wählen und dann höchsten Orts zur Genehmigung vorlegen zu
können." Auch bat er, ihm noch weitere Ideen und Vorschläge zuzusenden und
etwa ihm zugedachte Geldbeiträge, um die Größe und Kostbarkeit des Denk¬
mals abmessen zu können, wenigstens bei ihm anzumelden.
Aber die Sache fand keine rechte Teilnahme. Seckendorff erhielt zwar
noch manche Zuschriften und Zeichnungen, es wurden ihm Geldbeiträge in
Aussicht gestellt, wenn man erst genaueres über den Plan erfahren Hütte,
auch Abänderungsvorschläge seines Planes kamen in die Zeitungen — einer
wollte an der Kugel die Worte: „Und Gott sprach: Es werde Licht! und
es ward Licht" anbringen, aber in hebräischer (!) Sprache, weil da die einzelnen
Buchstaben als Zahlzeichen zusammengezählt gerade die Jahreszahl der Schlacht
ergäben, ein andrer hielt es für zweckmäßiger, das Denkmal, anstatt andert¬
halb Stunden von Leipzig entfernt, lieber in der Stadt aufzuführen, und zwar
vor dem innern Grimmischen Thore, wo die Sieger eingezogen waren, in Ge¬
stalt eines Triumphbogens; aber im Übrigen ging niemand ernstlich auf seinen
Plan ein. Das schlimmste war, daß mit Ausnahme eines einzigen Postens von
10 Thalern nicht ein einziger Geldbeitrag gezeichnet wurde, in Leipzig fühlten
sich einige „beschwert," daß Seckendorff ihnen zuvorgekommen sei, und äußerten,
man werde, falls er das Denkmal allein setzen und die Stadt übergehen wollte,
ein weit größeres Denkmal daneben setzen, Mahlmann, der Herausgeber der
„Zeitung für die elegante Welt", brachte die versprochene Zeichnung nicht,
schließlich mußte es Seckendoff gar erleben, daß sein Plan öffentlich (in den
von Brockhaus herausgegebenen „Deutschen Blättern" Ur. 152) angegriffen wurde,
daß erklärt wurde, weder sei es die Sache „eines dunkeln Privatmannes," ein
solches Denkmal zu errichten, noch sei jetzt bereits die rechte Zeit und Stunde
dazu; „noch liegen die Wohnungen unsers Landmanns in Schutt und Asche,
noch irren tausend Waisen unversorgt in allen Provinzen des unglücklichen
Sachsenlandes, noch werden aller Orten die Folgen des Krieges schmerzlich em¬
pfunden." Und so zog sich denn endlich Seckendorff gekränkt von der Sache
zurück und stellte, weil die Redaktion der „Deutschen Blätter" nicht die von
ihm gewünschte Berichtigung gebracht hatte, die ganze Geschichte seines Denk-
malsplancs in der oben erwähnten Schrift zusammen. „Mag meine Bemü¬
hung — heißt es am Schlüsse — erkannt oder nicht erkannt werden, mag
ein andrer mit dem Auftrage zur Besorgung beehrt werden, mag mein bisher
gehabter Geld- und Zeitaufwand in ein Nichts dahin schwinden, so habe ich
doch vor allen die Bahn gebrochen, daß etwas Großes nun zu stände kommen
wird, und ziehe mich dann bescheiden in meine Einsamkeit zurück."
Aber wie schon das Beispiel Arndts zeigt, waren es nicht nur „dunkle
Privatleute," die ihre Denkmalsideen anboten, auch namhafte Personen, da¬
runter bedeutende Künstler, traten mit Entwürfen an die Öffentlichkeit.
Dannecker, der berühmte württembergische Bildhauer, übergab, wie der
„Freimüthige" vom 25. Juli 1814 mitteilte, dem Fürsten Metternich eine Zeich¬
nung zu einem Denkmale, die in folgender Weise beschrieben wird. „Auf einer
Säule von Granit steht eine männliche Figur mit einer Löwenhaut bekleidet.
Links stützt sie sich auf zusammengebundene Stäbe, und in der Rechten hält sie
ein Schwert und den Ölzweig. Sie ist das Symbol der Kraft, die durch Einig¬
keit und Waffenthaten den Frieden erkämpfte. Unter dem Knauf der Säule
stehen die Bildnisse der Verbündeten. Dann folgen die Inschriften, die Ge¬
schichte unserer Zeit enthaltend, sowie die Namen der Feldherren. Am Fuße
der Säule sind zwei große sitzende Figuren, die Staatsgewalt und die allge¬
meine Glückseligkeit der Länder bedeutend."
Unstreitig der großartigste und reichste Plan, ein Entwurf, zu dessen Aus¬
führung sich Baukunst und Bildhauerei die Hände reichen sollten, ging von dem
bekannten badischen Architekten Weinbrenner, dem „Vorläufer Schinkels," aus.
Er liegt gedruckt vor in einem Qnerfolioheft mit vier Tafeln Grund- und Auf¬
rissen: „Ideen zu einem Teutschen National-Denkmal des entscheidenden Sieges
bei Leipzig. Von Friedrich Weinbrenner, Großherzoglich Badischen Oberbau¬
direktor. Karlsruhe, 1814." Text und Zeichnungen ergeben folgendes Bild.
Auf einem quadratischen Unterbau „in der Gestalt einer gothischen Festung"
von 200 Fuß ins Geviert und 50 Fuß Höhe steht ein quadratischer Tempel
von 100 Fuß Höhe und Breite. Durch den Unterbau führen von der Mitte
der Seiten aus zwei sich kreuzende Straßen, deren Eingänge als Triumph¬
bogen behandelt sind, umgeben von Siegesgöttinnen, während auf dem Kreu-
zungspunkte die Bildsäule der Germania steht. „Angestrahlt von dem uner¬
warteten Lichte, das durch die vier Öffnungen eindringt, ist sie im Begriff auf¬
zustehen. Mit der Linken hebt sie schüchtern den Trauerschleier, der über ihrem
Antlitz hing*), und läßt mit der Rechten den unter dem Schleier verborgen ge¬
haltenen Reichsapfel halb erschrocken wieder als selbständiges Wesen hervor¬
blicken." Außer zieht sich um den ganzen Unterbau herum ein riesiges Relief der
Leipziger Schlacht. Acht „labyriuthartige" Gänge, durch die vier Öffnungen nur
sparsam beleuchtet, führen nach oben auf die Plattform des Unterbaues, die
von einer Brustwehr mit Schießscharten eingefaßt ist. Das Innere des Tem¬
pels hat im Grundriß die Gestalt eines Vierpasses. In der Mitte steht ein
Altar, darauf ein Christus am Kreuze, „dem Sinnbild des Heiligen, dem die
religiösen Gefühle aller teutschen Konfessionen huldigen," an den vier Ecken
steigen vier Palmbäume empor und breiten ihre Äste über dem Altare aus.
An den halbkreisförmigen Seiten öffnen sich je fünf Nischen, im Ganzen
neunzehn (durch die zwanzigste geht der Haupteingang), in denen die Bild¬
säuleu der drei siegreichen Herrscher, umgeben von ihren ersten Generalen und
Staatsmännern stehen. Die Wände sind mit Waffen und Fahnen geschmückt.
Außen legen sich vor den Tempel an den Seiten vier dorische Säulenhallen, in
denen Ehrentafeln befestigt sind, an den Ecken vier mit Kriegstrophäcn bekrönte
Treppenhäuser, durch die man auf das Dach des Tempels gelangt. Auf diesem
erhebt sich aus einer Anzahl von Stufen ein Viergespann mit einem Triumph¬
wagen, in dem drei weibliche Gestalten sitzen: die Liebe, die Weisheit und die
Stärke, „als die hervorstechenden Charakterzüge der drei hohen Verbündeten
Monarchen"; eine hinter ihnen stehende Viktoria hält einen Lorbeerkranz über
ihren Häuptern.
Weinbrenner dachte sich das Denkmal als Stätte einer alljährlich zu
wiederholenden Festfeier. Das Bauwerk sollte ans Granit, die Skulpturen aus
Marmor ausgeführt werden, in den Statuen und Reliefs durchweg die größte
geschichtliche Treue angestrebt werden. Die Kosten des Ganzen schlug er
auf vier bis sechs Millionen Thaler, die Ausführungszeit auf zehn Jahre an.
Einen ganz eigentümlichen Vorschlag machte Kotzebue im „Hamburger
Correspondenten" (Ur. 55). Er lenkte die Aufmerksamkeit auf die seit den Römer-
zeiten im Odenwalde unweit Reichenbach liegende „Riescnsciule," eine Granit¬
säule von mehr als 31 Fuß Länge und über 4 Fuß Durchmesser. „Eine höhere
Granitsäule — schreibt er — möchte wohl in Deutschland nicht gefunden werden.
Warum ist dies Römerwerk, welches die staunende Nachwelt Riesen zuschreibt,
dort ungenützt liegen geblieben? Ohne Zweifel weil es an Kenntnis oder Mitteln
fehlte, es fortzuschaffen. Aber wohin gehört diese prächtige Säule? Offenbar
auf das Schlachtfeld bei Leipzig. Da muß sie stehe»! Da muß ein Denkmal,
verfertigt von den ersten Unterjochern der Deutschen, aufgestellt werden zur Er¬
innerung an den herrlichen Sieg über die letzten Unterjocher der Deutschen.
Dieses Denkmal wird noch unendlich an Wert gewinnen durch den begeistern¬
den Gedanken, daß die übermütigen Römer es waren, die vor so vielen Jahr¬
hunderten vom Schicksal gleichsam gezwungen wurden, für ihre damaligen Skla¬
ven eine Trophäe zu bearbeiten, damit sie einst in später Zukunft den Sieg der
deutschen Enkel bezeichne."
Den Gedanken Kotzebues griff dann ein ungenannter Leipziger Künstler
auf, der sich auch schon längere Zeit mit der Idee zu einem Denkmal beschäftigt
hatte, und sandte nachträglich noch eine Skizze an Seckendorff. Er wollte die
Römersäule so bearbeitet wissen, daß der Schaft als ein Bund riesiger Lanzen
erschiene, aus deren Spitzen ein Kreuz hervorragte, während den Fuß ein Lor¬
beerkranz umgäbe. Die Säule sollte auf eiuen Würfel gestellt werden, der von
einem Kreis aufrecht stehender, durch hängende Ketten verbundener Kanonen¬
läufe umgeben werden sollte. Als Ort des Denkmals schlug er den Platz vor,
„wo die Quandtische Schnupftabalswiudmühle stand," also genau die Stelle
des heutigen Napoleonsteins.
Kam denn aber sonst aus Leipzig selbst gar keine Anregung? O ja, es
fehlte nicht ganz daran. Der russische Generalkonsul in Leipzig, Staatsrat
v. Freygang, der Leipziger Ratsherr Dr. Stieglitz (der bekannte Kunsthistoriker)
und der sächsische Major Aster (der Geschichtsschreiber der Leipziger Schlacht)
veröffentlichten gemeinschaftlich einen architektonischen Entwurf. Er liegt vor in
zwei lithographirten Zeichnungen und einem ebenfalls lithographirten kurzen Text
(3 Seiten) ohne Jahreszahl: „Entwurf eines zum Andenken der Schlacht von
Leipzig zu errichtenden (nicht Sieges-) sondern Todtenmonuments." Die genannten
drei wollten auf dem „Monarchenhügel" eine gotische Kapelle in der Form
eines lateinischen Kreuzes mit einem Turme über der Vierung erbauen, die
„dem Andenken der drei verewigten Oberfeldherrn der Alliirten und allerauf
dem Schlachtfelds von Leipzig Gefallenen gewidmet" sein sollte. Die drei
kurzen Schenkel des Kreuzes sollten „drei kleinere, der katholischen, griechischen
und evangelischen Konfession gewidmete Kapellen" bilden, die durch Gitterwerk
von dem Hauptraume abgesondert werden sollten. Diese Kapellen sollten „ein
der Seite der Altäre einfache Denkmale der drei Oberfeldherrcn enthalten" (so!).
Der längere Schenkel des Kreuzes, das Hauptschiff mit seineu beiden Neben-
schiffen, sollte, „ohne Unterschied der Nation, des Ranges oder der Waffen dem
Andenken sämtlicher bei Leipzig Gefallenen gewidmet" sein. „Den nachgelassenen
und Angehörigen — heißt es weiter — steht es frei, durch marmorne Tafeln,
Inschriften, Basreliefs, Gemälde u. s. f. das Andenken der Ihrigen zu feiern,
jedoch ist in Ansehung des beschränkten Raumes die größte Ökonomie zu beob-
achten." Die Größe der Kapelle sollte von der Summe der eingehenden Bei¬
trüge abhängen. Eine einzelne Person sollte aber nicht mehr als einen Reichs¬
thaler zeichnen dürfen. „Die Liste sämtlicher Beitragenden, sowie auch aller
Künstler und Handwerker, die an dem Baue Theil nehmen, nebst der Geschichte
und Rechnung des Baues wird in einem eignen Denkbuche durch den Druck
bekannt gemacht und in der Kapelle niedergelegt."
Doch genug von diesen Entwürfen. Es wurde nicht ein einziger aus¬
geführt. Anfangs erschienen andre Aufgaben, wie schon Seckendorffs Kritiker
hervorhebt, weit dringender, und später erstickte die schmerzliche Enttäuschung,
welche die großen Hoffnungen erfuhren, die sich an die Erhebung des deutschen
Volkes von 1813 geknüpft hatten, die Begeisterung für die Sache.
Ganz ohne äußere Zeichen der Erinnerung blieb das Leipziger Schlacht¬
feld zwar nicht. Ein „Verein zur Feier des 19. Oktobers," der 1814 gegründet
wurde und der noch heute besteht, errichtete nach und nach an einzelnen Punkten
der weit ausgedehnten Ebene schlichte, bescheidene Denksteine, und dazu fügte
im Anfange der sechziger Jahre ein Bürger Leipzigs, Dr. Theodor Apel, aus
eignen Mitteln eine große Anzahl von Marksteinen, um die Stellungen der
kämpfenden Heere und Heeresteile der Schlacht zu bezeichnen. Aber was Arndt
und andre gewünscht und gehofft hatten, ein großes, mächtig emporragendes,
weit in das Land hinaus schauendes Mal, würdig des gewaltigen Ereignisses,
dessen Gedächtnis es zu verewigen galt, kam nicht zu stände.
Vor 25 Jahren, bei der unvergeßlichen, großartigen Jubelfeier der Leipziger
Schlacht, die im Oktober 1863 — wenige Wochen nach dem großen Turn¬
feste — in Leipzig begangen wurde, wurde der Plan von neuem aufgegriffen.
Mehr als zweihundert deutsche Städte hatten damals ihre Abgeordneten nach
Leipzig gesandt, Hunderte von Veteranen der Schlacht hatten sich aus allen
Teilen Deutschlands zur Feier eingefunden, und vor ihrer aller Augen, in
hochfestlicher Stunde, wurde am 19. Oktober 1863 auf der Höhe von Thon¬
berg bei Leipzig der Grundstein zu einem großen, würdigen Denkmal der
Völkerschlacht gelegt.
Es war kein flüchtiger, unbedachter Einfall, entsprungen etwa dem Fest¬
rausch, der damit ausgeführt wurde, sondern ein wohl vorbereiteter, nach allen
Seiten hin erwogener Gedanke: diese Grundsteinlegung bildete den Haupt- und
Mittelpunkt des ganzen Festes und wurde von allen Teilnehmern als solcher
empfunden. Am Tage darauf wurde von den in Leipzig versammelten Ab¬
geordneten der deutschen Städte ein Ausschuß von 23 Städten gewählt zu dem
Zwecke, „die Errichtung eines Denkmals der Völkerschlacht in Leipzig ins
Werk zu setzen." Es waren die Städte: Augsburg. Barmer, Berlin, Braun¬
schweig. Bremen, Breslau, Brünn, Cassel, Danzig, Dresden. Graz, Hannover,
Karlsruhe, Königsberg, Leipzig, Lübeck, Magdeburg, Oldenburg, Posen, Stettin,
Stuttgart. Weimar und Wien. Der Stadt Leipzig wurde der Auftrag erteilt,
an alle die genannten Städte eine Aufforderung zur Beitrittserklärung zu
erlassen. Leipzig entledigte sich dieses Auftrages, und alle 22 Städte traten
dem Ausschuß bei. So schien nach einem halben Jahrhundert die Aus¬
führung des Planes gesichert zu sein.
Aber wieder verlief die Sache im Sande. Die großen politischen Ereig--
nisse, die in den nächsten Jahren Schlag auf Schlag einander folgten, die Vor¬
gänge in Schleswig-Holstein, der böhmische Krieg, endlich der deutsch-französische
Krieg, die Wiederaufrichtung des deutscheu Kaisertums, diese Ereignisse, die
endlich erfüllten, was die Befreiungskriege unerfüllt gelassen hatten, nahmen die
Gemüter jahrelang ausschließlich in Anspruch, und der natürliche Wunsch, diese
Thaten der großen, herrlichen Gegenwart überall durch Denkmäler zu ehren, drängte
den älteren Plan abermals in den Hintergrund. Auch der Stadt Leipzig lag
jetzt natürlich näher als die Erbauung eines Denkmales für 1813 die Errichtung
des schönen Siegesdenkmales für 1870, dessen Enthüllung vor kurzem — später
als in andern Städten Deutschlands — am 18. August dieses Jahres statt¬
gefunden hat.
Doch die alte, uneingelöste Schuld wurde darüber nicht ganz vergessen.
Fort und fort mahnten einzelne Stimmen an die einmal übernommene Pflicht,
und so soll denn endlich jetzt, wo ein drittes Vierteljahrhundert seit den Tagen
der Leipziger Schlacht verronnen ist, Hand ans Werk gelegt werden, und zwar
nach Aller Wunsch und Aller Überzeugung trotz der inzwischen völlig umge¬
stalteten politischen Verhältnisse unsers Vaterlandes auf derselben Grundlage,
auf der das Werk vor 25 Jahren begonnen worden ist: nicht als eine Sache
Leipzigs, sondern als eine gemeinsame nationale Angelegenheit. Was geschaffen
werden soll, ist wohl nicht ein zusammengesetztes, figurenreiches Werk der Plastik,
das wieder lange Jahre zu seiner Herstellung bedürfen würde, sondern ein Werk,
das in wenigen Jahren vollendet sein kann, ein Denkmal, wie es Arndt vor¬
schwebte, „etwas ganz einfaches und ausführliches," aber doch der Väter und
ihrer Thaten wert. Möge denn dem Unternehmen diesmal ein glücklicher Stern
leuchten!
UcberLesenund Bildung. Von AntonE. Schönbach. Graz, Lcuschner n.Lubinsky, 1888.
Ein Buch der Sammlung, teilweise mit dem Geiste des achtzehnten Jahr¬
hunderts geschrieben, der dem stillen Nachdenken günstiger war als der heutige.
Der Verfasser gehört unter die vielseitig, namentlich geschichtlich gut unterrichteten,
philosophisch trefflich geschulten Mäuner, bei denen man sich gern über verwickelte
und trübe Fragen der Zeit Auskunft und Trost holt. Seine edle Natur schwebt
über die Schranken der Gegenwart hinaus und übersieht augenblickliche Wirr¬
nisse von einer höhern Warte. Das giebt dem ersten Kapitel des vorliegenden
Buches seine Bedeutung, worin der Verfasser die Bildung früherer Zeitläufe kenn¬
zeichnet. Knapp und treffend sind die Grundelemente dargelegt, die das geistige und
sittliche Leben des griechischen Altertums, des früheren Mittelalters, der Renaissance
und des achtzehnten Jahrhunderts bestimmten. Dann kommt der Verfasser auf
die Bildung unsrer Zeit und sagt u. a.: „Wer unsre gewöhnlichen, mittlern
und obern Schulen durchlaufen hat, erwirbt damit nach allgemeiner Ansicht das
Recht auf die Bezeichnung .gebildeter Mensch/ Er muß die Zeitung lesen können,
ohne zu viel über geographische Namen zu stolpern, muß demgemäß über Tages¬
ereignisse die Meinung wenigstens einer Zeitung wiederzugeben vermögen, ohne daß
er natürlich eine tiefere Einsicht in wirtschaftliche und politische Verhältnisse zu
verraten brauchte. Er muß über das Theater als Sachverständiger reden, muß
von den Romanen, welche oben an der Oberfläche schwimmen, etwas gehört oder
zum mindesten eine Rezension über sie gelesen haben. Versteht er ein Paar fremde
Sprachen, besitzt er gute Manieren, hat er sich aus Overbeck und Lübke genug
gemerkt, um seine Eindrücke von neuen Gemälden in vorsichtiger Allgemeinheit
nuszusprcchen, vermag er eine Symphonie Mozarts von einer Volkmanns zu
unterscheiden und ein Wagnersches Leitmotiv zu verfolgen, so belohnt eine aner¬
kennende Gesellschaft dieses Verdienst, indem sie seiner Note .gebildet/ die Steige¬
rungen ,sehr-, fein-, hoch-' in angenehmer Abwechselung vorsetzt. Und wenn er gnr
im Besitze dieser trefflichen Eigenschaften noch einen Beruf anständig betreibt, so nennt
man ihn mit aufrichtiger Hochachtung einen .vielseitig' oder .umfassend' gebildeten
Mann," Im Anschluß an diese Schilderung heißt es dann: „Heute scheint es mir
doch einigermaßen zweifelhaft, ob man jeden, der dnrch die immer weiter werden¬
den Maschen des Abiturientenexamen ins Universitätsleben gerutscht ist, ohne wei¬
teres zu den Gebildeten zählen darf," Diese Sätze klingen etwas Pessimistisch, aber
sie enthalten Wahrheiten und treffliche Beobachtungen. Auch was weiter kommt
über die Presse, über das Reisen und ähnliche Bildungsmittel der Gegenwart, ist
zwar absprechender Natur, aber nicht absprechend in der Art des Griesgrams.
Der Verfasser kehrt immer die guten Seiten, die die Sache bei richtiger Benutzung
haben kann mit hervor und wühlt in den Schäden, nur um zu zeigen, daß es
schwer ist, heute ein gebildeter Mensch zu sein. So wirkt sein Buch anregend und
aufhelleud, entlockt Zustimmung, reizt zum Widersprechen oder zum Nachsinnen. Mit
einem Worte: es fördert und es fordert Mitarbeit. Daß man Schönbach trotzdem
nicht zu den eigentlich scharfen Köpfen rechnen darf, wird in dem zweiten und dritten
Kapitel des Buches klar. Hier sind die Fragen, auf die es ankommt, weder klar ge¬
stellt, noch bestimmt gelöst. Es mußte unterschieden werden zwischen gesellschaftlicher,
sittlicher und geistiger Bildung. Nur mit der letzteren will sich Schönbach befassen.
Da war zu fragen: was verlangt man von einem Menschen, der heute auf geistige
Bildung Anspruch macht? Doch wohl, daß er die Fähigkeit besitze, an allen In¬
teressen des geistigen und öffentlichen Lebens unsrer Zeit teilzunehmen. Weiter:
Was hat das Lesen mit dieser Fähigkeit zu thun? Oder unmittelbar auf Schön¬
bachs Ziel die Frage gestellt: Was muß ein gebildeter Mensch gelesen haben?
Um alle diese Punkte schlendert der Verfasser in bequemer und abschweifender Weise
herum. Die Folge davon ist, daß der Leser am Schlüsse nicht recht weiß, was
der Verfasser denkt, will und verlangt. Der Anhang des Buches bringt ein Ver¬
zeichnis derjenigen Werke aller Litteraturen, die nach Schönbachs Ansicht der ge¬
bildete Mensch des neunzehnten Jahrhunderts gelesen haben muß. Wir kennen
viel dergleichen Borschläge englischer Autoren, Immer haben sie etwas Subjek¬
tives. So auch das Verzeichnis Schönbachs. Was? Ich soll den faden Marc
Twain lesen und nichts von Jean Paul? Auch nicht Wuz oder Siebenkäs? Die
Einwände reichen aber tiefer hinein. Mit Recht überschreitet Schönbach in seinem
Verzeichnis den engen Kreis der schönen Litteratur, Thomas von Kempten wird mit
verlangt. Dann bitten wir aber auch um Humboldts Kosmos und um die andern
Hauptwerke der Naturwissenschaft, der Geschichte und Philosophie.
I
aß die Kaiserbegegnung in Peterhof ein gutes Ergebnis gehabt
habe, war allgemeine Annahme. Darum sagte die Nationalzeitung:
„Die europäische Katastrophe, die unabwendbar über den Häuptern
der resignirt harrenden Völker zu schweben schien, ist jedenfalls
auf Jahre vertagt. Möge der Abschluß, welchen die europäischen
Staatsmänner im Herbste über das Ergebnis des diplomatischen Feldzuges des
Sommers machen werden, die Hoffnungen der Völker auf gesicherte Fortdauer
des Friedens krönen. Dankbar wird sich dann nicht nur Deutschland, sondern
ganz Europa der ersten Kaiserreise erinnern." Damit aber ein so günstiger
Erfolg nicht etwa der Bismarckschen Politik zu Gute geschrieben werde, erfand
die „Neue freie Presse," ein Blatt, das mit dem Berliner Fortschritt zusammen¬
hängt und wie dieser von Juden geleitet wird, das Märchen, Kaiser Wilhelm
habe die russische Reise unternommen, um feine Selbständigkeit in auswärtigen
Fragen Bismarck gegenüber zu bethätigen. Es lag Methode in dieser Erfindung.
Den Charakter des Kronprinzen und des jungen Kaisers vor In- und Aus¬
land zu verdächtigen, war nicht gelungen; so versuchte man denn, was bei
Kaiser Friedrich so einträglich gewesen war, die Loyalitätskomödie wieder auf¬
zunehmen; man stellte den jungen Kaiser als diplomatisch geschickter und that¬
kräftiger hin, als seinen alten Kanzler, den treuen Berater der Hohenzollern.
Vielleicht gelang es so, Kaiser und Kanzler zu trennen. Denn Deutschland um
seinen großen Staatsmann zu bringen, darauf steuert doch die ganze ultra¬
montane, Fortschritts- und Judenpresse hin. Versuchte man Bismarck klein zu
machen, ein Unternehmen, das später seine Fortsetzung in der Veröffentlichung
des Tagebuches fand, so sollte Mackenzie groß werden. Seine fortschrittlichen
Parteigänger in Deutschland aber hoben besonders eines als sein großes Verdienst
hervor, daß er es ermöglicht habe, daß Kronprinz Friedrich auf den Thron ge¬
kommen sei. or. Barth schrieb in der „Nation," es sei vom höchstem Interesse ge¬
wesen, den Kronprinzen Friedrich Wilhelm, sei es auch nur auf einen Tag, auf den
Thron steigen zu lassen. Daß dies Mackenzie ermöglicht habe, die deutschen
Ärzte es nicht viel besser ermöglicht haben würden, weiß außer dem englischen
Charlatan nur die Fortschrittspresse. Aber angenommen, es sei so: war es
im Interesse des bedauernswürdigen Kranken, daß er mit den widerwärtigsten
und häßlichsten Streitigkeiten der Parteien beladen wurde? Oder war es im
Interesse des Staates, daß alle Parteien sich um seinen Besitz zankten und die
Feinde ringsum auf die durch das viele Elend und den Jammer zur Schwäche
gewordene Gutmütigkeit rechneten? Was im Interesse einer wenig patriotischen
Partei und in dem von Her ssraoious N^s8^ ok Vreat-Lriwin war, das war
doch darum nicht „von höchstem Interesse."
Gegenüber dem Fortschritt, der mit der Anstrengung eines Spielers, der
sich verrechnet hat, seine Verlorne Stellung wieder zu gewinnen sucht, sollten
doch die patriotischen Parteien sich hüten, kleinlichen Streitigkeiten unter sich
Raum zu geben. Sie thaten das aber, und zwar angesichts der bevorstehenden
Laudtagswahlen. Die heftigen Kämpfe, die zwischen den Konservativen von
Rauchhaupts Farbe und den Natioualliberalen eintraten, erregten die Herzens¬
lust des Freisinns und der Ultramontanen. Die Nationalliberalen, besonders
in Hannover, fingen an, auf selbständiges Vorgehen zu denken, und die Kreuz¬
zeitung sowie der Reichsbote gingen hastig auf das Thema ein. Sie stellten,
Wenns hoch kam, das beliebte „Getrennt marschiren, vereinigt schlagen" auf.
Dieser Grundsatz ist für politische Dinge deshalb nicht zu brauchen, weil, wenn
die Parteien sich einmal zum marschiren getrennt haben, sie auch zum schlagen
sich schwer vereinigen lassen. Es fehlt da das einheitliche Kommando. Dagegen
bleibt von den Wahlen her die Erbitterung der Parteien und schwächt den guten
Willen da, wo alles ans einen solchen ankommt. Die „norddeutsche" hatte ganz
Recht, wenn sie sich in Bezug auf die Kartellfrage dahin äußerte, daß die Re¬
gierung die Majorität der nationalen Parteien für sich haben müsse, die nur
zu erlangen sei, wenn diese sich nicht unter einander bekämpften. „Eine Majorität
auf Basis der konservativen Partei allein herzustellen, ist nach Lage der Verhältnisse
unmöglich. Eine Majorität ist eben nur zu erreichen entweder mit dem Zentrum
oder mit der natioualliberalen und freikonservativen Partei. Für die Regierung
ist es einfach unmöglich, sich auf eine Majorität zu stützen, deren Bestand in das
Belieben Windthorsts gestellt wäre." Daß die Negierung gar nicht in der
Lage ist, eine Auswahl unter den Parteien zu treffen, wenn sie sich nicht
Windthorst und den ihm anhängenden Elementen in die Arme werfen will, dem
sollten doch die nationalen Parteien, von denen man so viel Zucht fordern muß,
daß sie das staatliche Interesse über das der Parteien stellen, Rechnung tragen.
Außer in Berlin, wo die Persönlichkeit Stöckers jeden heilsamen Kompromiß hindert,
kann das auch nicht so schwer fallen. Je mehr die Negierung auf deu Bestand
des Kartells dringt, desto mehr ist sie im Recht, und das Gefühl des einfachen
Wählers geht mit ihr. Ein Glück, daß es eine Frage giebt, wo alle Parteien
zuletzt gegen die Ultramontanen stehen, und daß diese Frage gerade mitten in
dem Kampfe der Konservativen und Nationalliberalen aufgerührt wurde, v. Hume
erklärte auf der Generalversammlung der Katholiken in Beuthen, daß der Windt-
horstsche Antrag auf Verkirchlichung der preußischen Volksschule wieder eingebracht
werden solle. Windthorst war schlau genug gewesen, im vorigen Landtage den
bereits angekündigten Antrag wieder fallen zu lassen; die Temperatur war zu
ungünstig gewesen. Im neuen Landtage hoffen nun die Ultramontciuen die
Herrschaft der Kirche über die Schule durchzusetzen. Bereits hat der Erzbischof
von Köln feinen Klerus verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß nur solche Abge¬
ordnete gewählt werden, die diese Herrschaft begünstigen. Es ist gut, daß
sie damit herauskommen. Sie werden erfahren, daß Preußen nicht Osterreich
ist, und daß bet uns die Hoheit des Staates eine von allen Parteien mit
Ausnahme der Römlinge anerkanntes und unantastbares Axiom ist. Kein
Mensch in Preußen, der den preußischen Staat will, will belgische Zu¬
stände. Und darum will kein Mensch die kirchliche Leitung der Schule.
Gegen klerikale Bevormundung erhebt sich das preußische Gewissen. Das
werden Windthorst und seine Eideshelfer erfahren. Wenn Herr v. Hume
von Windthorsts Antrag mit echt jesuitischer Schlauheit sagte: „Er ist nicht
allein für die katholische Kirche gestellt, sondern für die christliche Kirche über¬
haupt, so wird er wohl sehen, wie wenig Hände die seinen erfassen, in denen
er so freundlich die Gabe einer Toleranz zeigt, von der sonst die Römlinge
gar nichts wissen. Was die Staatsschule angeht, da steht alles, was nicht
geradezu antimodern, d. h. antipreußisch ist, zusammen, „alles, was nicht ka¬
tholisch werden will." Unsre protestantische Geistlichkeit enthält allerdings eine
Anzahl Klerikalgesinnter, denen das römische Papsttum imponirt und die auch
für uus Evangelische gern einen Oberbischof mit Unterbischöfen haben möchten.
So z. B. der Divisionspfarrer R. Köhler in Danzig, der damit „die Volks¬
tümlichkeit der Kirche" zu erzielen denkt, daß das Land „mit Geistlichen über¬
schwemmt" werde, deren Stand aristokratisch werden und feste Besoldung em¬
pfangen soll, allerdings aber auch noch „Geschenke annehmen darf." Aber diese
Bestrebungen haben keine Gemeinden hinter sich. Was aus solchen „über¬
schwemmten" Ländern wird, das weiß das protestantische Volk ganz wohl, und
darum wird für diejenigen unsrer Herren Geistlichen, die dies Ideal auf¬
stellen, jedenfalls die Verwirklichung fehlen. Als Spanien ein so überschwemmtes
Land war, daß auf 76 Einwohner ein Geistlicher kam und auf 912 Köpfe eine
Schule, da war seine traurigste Zeit; als 1869 im Kirchenstaat auf 33 Ein¬
wohner eine geistliche Person kam und von 100 Laien nur ein einziger lesen
konnte, da war dieser Staat der Fluch aller Italiener geworden; in Belgien,
„wo die Priester so zahlreich sind wie der Sand am Meere," kann noch nicht
die Hälfte der Einwohner schreiben, d. h. ihren Namen notdürftig unterzeichnen,
und bei dieser priesterlichen Herrlichkeit pochen die Schrecken der sozialen Re¬
volution an die Thore des Staates; in dem glaubensstarken Tirol konnten von
zehntausend Kaiserjägern, die Unteroffiziere abgerechnet, im Jahre 1869 nur sechs¬
undvierzig schreiben. Wenn gegenüber solchen Zuständen, die sich überall einstellen,
wo die Kirche herrscht, die „Vossische Zeitung" sagt, daß, wofern sich auch bei
uns die Begehrlichkeit der Klerisei auf die Schule geltend machen wolle, die
Reaktion dem einmütiger Widerstände aller Parteien begegnen'werde, so hat sie
Recht. Daß aber unsre Konservativen, auch wo sie noch so orthodox sind,
schließlich doch nicht liechtensteinisch klerikal sind, wird sich dann zeigen, wenn
die Bestrebungen Limbach-Liechtenstein auch auf unsern Boden durch antipreußische
Römlinge verpflanzt werden sollten.
Als ein Zeichen der Stimmung unter den geistigen Kapacitäten in unserm
Vaterlande kann die Wahl Gerhardts zum Rektor der Berliner Universität
angesehen werden. Sie erfolgte auf Initiative der nicht medizinischen Fakul¬
täten, um ihm in dieser Form eine Art Anerkennung für seine Haltung wäh¬
rend der Krankheit Kaiser Friedrichs auszusprechen. Von den Freisinnigen
war Virchows Wahl erwartet worden; als sie sich darin getäuscht sahen, fanden
sie, „daß die Berliner Professoren sich heute freiwillig des Rechts begeben, eine
eigne politische Meinung zu haben oder zu vertreten." Das erinnert uns wieder
einmal an den Vertrauensarzt des Kaisers und der Kaiserin Friedrich. Wer
es noch nicht wüßte, daß dieser Vertrauensmann kein Vertrauen verdient hat,
der würde es ans seinem Buche gegen die deutschen Arzte erkennen, diesem
frechsten Pamphlet des Jahrhunderts, dem jetzt sogar Virchow mit seiner Namens¬
unterschrift seine .Lügen vorhält. Wie frech der Pamphletist ist, kann man
auch aus einem jedenfalls apokryphen Briefe der Kaiserin Friedrich ersehen, den
diese an ihn, Sir Morett Mackenzie, geschrieben haben soll und von dem die v-ni^
Usvs einen Auszug veröffentlicht. Der Brief läßt die Kaiserin ihm, Sir
Morett, alles das vortragen, was er, Sir Morett, Wohl wünschen mag, ihr
bei seiner ersten Begegnung gesagt zu haben. An die Echtheit des Briefes
der Kaiserin Friedrich könnte man erst dann glauben, wenn es sich bestätigen
sollte, daß das englische Manuskript oder die Druckbogen der Broschüre Macken-
zies von der Kaiserin durchgelesen worden seien, wie die öffentlichen Blätter
berichten.
Da wir einmal bei apokryphen Machwerken stehen, so mag hier auch noch
ein andres apokryphes Aktenstück erwähnt werden, nämlich der Geheimbericht,
den Bismarck in der Battenberger Heiratsgeschichte an den Kaiser Friedrich
gerichtet haben sollte und der in der Muvellö R<zvus durch die bekannte Madame
Adam veröffentlicht wurde. Auch hier dachten viele an litterarische Beziehungen
des Vertrauensmannes Mackenzie zu Madame Adam. Offenbar hatte der
Fälscher damit einen schweren Hieb gegen Deutschland führen wollen, hat aber
schließlich nur die deutsche Politik glänzend gerechtfertigt. Das Jnteressanteste
bei dieser mit solchem Aplomb veröffentlichten Fälschung war aber, daß sich
auch nicht eine einzige Stimme in der ganzen Fortschrittspresse erhob, um, wie sie
es unter der Regierung Kaiser Friedrichs so eifrig gethan hatten, Bismarck wegen
seines entschiedeneren Widerspruchs gegen die Battenbergische Heirat zu bekämpfen.
Daß die Quelle dieser Fälschungen dieselbe ist wie die der frühern, in den bul¬
garischen Angelegenheiten verfaßten, auf den Sturz Bismarcks zielenden ge¬
fälschten Berichte, dafür spricht vieles. So wurde darin auch ein Brief der
Königin von England vom 26. März erwähnt. Thatsächlich ist dem Reichs¬
kanzler ein solcher unbekannt geblieben. Ist die Angabe in dem Berichte der
Madame Adam richtig, und war ein solcher Brief vorhanden, dann muß man
wohl schließen, daß die Fälschung aus Regionen stammt, in denen man von
der Korrespondenz der Königin Viktoria genauere Kenntnis hatte als im deutschen
auswärtigen Amte.
Wir kommen nun auf etwas Erfreulicheres. Die im Juli beendeten Kassen¬
abschlüsse des preußischen Finanzministeriums vom Etatsjahr 1. April 1837/88
zeigten, daß der früher auf 70 Millionen Mark berechnete Überschuß des lau¬
fenden Finanzjahres noch weit größer ist als diese Schätzung. Allein in den
Staatseisenbahnen war die Solleinnahme um 53 Millionen überstiegen. Mag
der Anschlag auch von vornherein zu niedrig gewesen sein, so deutet doch die so
große Ziffer auf günstigere Erwerbsverhältnisse, die nach dem politischen Stande
der Dinge fortdauern und im kommenden Jahre erst recht bedeutende Über¬
schüsse erzielen werden. Es wird wohl nicht zu viel sein, wenn wir für die
preußischen Finanzen einen Überschuß von 100 Millionen erwarten, ganz ab¬
gesehen von den neuen Reichssteuern, welche die preußischen Finanzen um 64
Millionen entlasten. Wird bei solcher Lage, wie es geschehen kann, das Per¬
sonenfahrgeld wie der Gütertarif herabgesetzt, so mehrt das die Aussicht auf
bedeutende Steigerung des Verkehrs wie auf Erleichterung der Steuerlast na¬
mentlich auf kommunalen Gebiete. Daß bei der so gehobenen Finanznot Preu¬
ßens auch die sozialpolitische Gesetzgebung des Reiches ohne Aussicht auf die
Notwendigkeit neuer Reichssteuern sich ungestört vorwärts bewegen kann, ist
der größte Gewinn, den die günstigen preußischen Finanzverhältnisse für das
allgemeine Beste haben werden. Zunächst wird wohl kein Hindernis da sein,
wenn bei der Beratung des Altersversorgungsgesetzes im Reichstage der Renten-
bezug vom 70. Jahre auf das 65. zu verlegen beantragt wird, diesen Antrag
anzunehmen; ob der Rentenbetrag von 120 Mk. erhöht werden kann, das muß
freilich erst einer Probe unterliegen, die mit dem Gesetze mehrere Jahre hin¬
durch gemacht wird.
Ebensowenig wie unsre Finanzen werden auch unsre wirtschaftlichen Ver-
Hältnisse den Oppositionsparteien irgend welche gegründete Veranlassung zur
Opposition geben können. Nicht als ob eine solche nicht auch von diesen Ge¬
bieten aus versucht werden würde, aber hier kann ihr mit Zahlen derart ihr
Unfug vor die Augen gehalten werden, daß auch der Laie in solchen Dingen
die gewerbsmäßigen Wühler erkennen muß. Der Jahresbericht der Ältesten der
Berliner Kaufmannschaft, unter denen doch viele politische Gesinnungsgenossen
Eugen Richters sind, berichtet über die Erfolge der einst so heftig angefochtenen
Reichspostdampferlinien: „Als ein wirksames Förderungsmittel unsers Verkehrs
mit Ostasien und mit Australien haben sich die vom Reiche subventionirten Post-
dampfer bewährt. Sie haben in der Schnelligkeit der Post- wie der Passagier¬
beförderung alle Konkurrenten überholt. Auf der ostasiatischen Linie sind die
Schiffe von Anfang an zu mindestens drei Fünfteln in Bremen selbst, zu etwa
zwei Fünfteln in Antwerpen befrachtet worden, nach kurzer Zeit ist dann die
ausgehende Fracht so stark angewachsen, daß zu ihrer Beförderung die Schiffe
nicht mehr ausreichten. Was die Rückfracht von Shanghai, Hongkong und Co-
lombo betrifft, so hat der direkte Bezug von chinesischen und Kolonialerzeug¬
nissen des Ostens bereits angefangen, uns von der Vormundschaft des englischen
und französischen Marktes mehr und mehr zu emanzipiren u. s. w." Unser über¬
seeischer Verkehr hat so zugenommen, daß die Errichtung einer neuen Dampfer¬
linie Hamburg-Australien mit einem Aktienkapital von fünf Millionen Mark,
an deren Spitze A. Woermann steht, gesichert ist.
Wenn aber so von den Maßnahmen her, welche die Regierung seit Jahren
in wirtschaftlichen Dingen befolgt hat, der Opposition des Fortschritts keine
günstige Aussicht erwächst und der Schädigung der öffentlichen Sittlichkeit durch
Erregung des politischen Fanatismus vorgebeugt ist, so sollte auch dieser Schä¬
digung, wie sie von andrer Seite her unternommen wird, künftig von den Behör¬
den entgegengetreten werden. Am allerwenigsten sollte eine Förderung stattfinden,
wie sie stattgefunden hätte, wenn sich das bestätigte, was in öffentlichen Blättern
zu lesen war, daß bei der Eröffnungsfeier der sogenannten Heiligtumsfahrt in
Aachen auch die Mitglieder der königl. Regierung, des Landgerichts, der höhern
Schulen, des Offizierkorps w eorxors zugegen gewesen seien. Die Aachener Re¬
liquienfeier, die aller sieben Jahre stattfindet, gilt dem Kleide der seligsten Jung¬
frau Maria, den Windeln und dem Lendentuche Jesu, dem blutbefleckten Tuche,
worin das Haupt Johannis des Täufers gelegen hat. Das Kleid der Maria
ist besonders schön und auch dadurch merkwürdig, daß es sich an mehreren
Orten findet. Das „Düsseldorfer Sonntagsblatt" belehrte aber die Gläubigen,
daß diese Reliquien verehrt werden müßten, weil sie Wunder über Wunder thun,
und weil sich „an denselben oft höhere Lebensäußerungen erweisen, dergleichen
auch noch die hier lebenden Heiligen von sich zu geben pflegen." Wer nun
dieses Glaubens lebt, der mag auch immerhin darauf selig werden. Aber die
Frage Oskar Jägers, ob anzunehmen sei, daß die Mitglieder obengenannter
Körperschaften, gleichviel ob katholisch oder protestantisch, an die Echtheit der
ausgestellten Reliquien geglaubt haben, wird Wohl kein Mensch, der nicht zum
katholischen Klerus gehört, mit „Ja" beantworten wollen. Dann aber bleibt
nichts anders übrig, als anzunehmen, daß die Genannten auf Wunsch ihrer
Vorgesetzten bei der Eröffnungsfeier erschienen. Solchen Wünschen muß von
leitender Stelle aus entgegengetreten werden, denn sonst pflegt man den sitt¬
lichen Jndifferentismus, wodurch der Wahrheitssinu geschädigt wird. Wenn
O. Jäger in einem öffentlichen Blatte fragte: Was kann von Seiten der Re¬
gierung und was kann überhaupt zur Pflege der Charakterbildung und zur
Förderung des Wahrheitssinnes auf deutschen Universitäten geschehen? so ist
diese Frage deshalb falsch gestellt, weil, wenn auch die Universitäten, und setzen
wir hinzu die Gymnasien alles Mögliche zur Förderung des Wahrheitssinues
thun mögen, ihnen das doch nichts helfen wird, wenn die Teilnahme an solchen
kirchlichen Akten von den Vorgesetzten gewünscht wird.
Wenn „die Aufgabe von kolossaler Größe," welche die Times dem jungen
Kaiser Wilhelm beilegte, sich auf die Erhaltung des Weltfriedens bezieht, so
zeigte es sich bereits bei der Enthüllung des Denkmals von Friedrich Karl in
Frankfurt a. O., daß diese Aufgabe schon durch die Nordlandsfahrt zu einem
guten Teile für die nächste Zukunft gelöst war. Denn die Worte, die der
Kaiser in patriotischer Kraft und jugendlichem Feuer sprach und die die aller-
entschiedenste Verteidigung deutscher Ehre und deutschen Besitzes gelobten, diese
Worte würden vor noch nicht langer Zeit als scharfer Kriegstrompetenstoß auf¬
gefangen worden sein. Jetzt begrüßten sie die englischen und russischen Zei¬
tungen als Friedensworte. Auch hoffte die „Petersburger Zeitung," daß die
deutliche Sprache Kaiser Wilhelms jenseits der Vogesen verstanden werden würde.
Das hoffen wir auch. Jedenfalls sind sie eine ernste Mahnung an die Fran¬
zosen, die Sache sich zweimal zu überlegen, ehe sie den Frieden Deutschlands
und damit den Frieden der Welt stören. Auch haben die Herren, wie bisher
seit Errichtung der Republik, so vornehmlich jetzt gerade genug mit sich zu thun.
Erwähnen wollen wir aber, daß doch einmal während dieses Sommers, näm¬
lich bei den Streiks der Erdarbeiter, die Regierung energisch auftrat; sie schützte
die zur Arbeit bereiten Leute gegen die Agitatoren und ging in derselben Weise
vor, wie unsre Regierung mit dem bekannten Streikerlaß, der von dem Frei¬
sinn seiner Zeit als Avr xws ultrs. aller Reaktion geschildert wurde. Dabei
zeigte sich, was in Frankreich vergessen war, daß Energie das Einzige ist, wo¬
durch eine Regierung und ein Land gegen Agitatoren und deren Anhang
gerettet wird; nur daß diese Energie eine stetige sein muß, woran es freilich
in Frankreich fehlt. Das zeigte sich bald nach diesen Vorgängen an der Angst,
welche dieselbe Regierung an den Tag legte, als der Phrasenheld Boulanger
wieder dreifach in die Kammer gewählt worden war, eine Wahl, die freilich
erklärlich ist, Wenn man weiß, wie in Frankreich mit äußerster Spannung auf
den gelauscht wird, welcher seinem Lande neue Größe verspricht. Wer von der
Größe Frankreichs redet, und wäre es der gewissenloseste Abenteurer, der hat
das Land. So thöricht diese Leichtgläubigkeit ist, so ehrenhaft ist aber doch
das patriotische Gefühl; Parteien, wie in Deutschland die Freisinnigen, die sich
an der Größe des eignen Vaterlandes ärgern, sind in Frankreich unmöglich.
Brachte es doch diese internationale Gesellschaft auch in jenen Tagen wieder
einmal fertig, für Englands Nutzen Deutschland schädigen zu wollen. Dem
Thersites der Partei war es gelungen, ein als „streng vertraulich" bezeich¬
netes Rundschreiben in seine Hände zu bekommen, in welchem zur Bildung
einer deutschen Expedition aufgefordert wurde, die Dr. Schnitzer, unsern deut¬
schen Landsmann, befreien und im Falle des Gelingens zugleich eine Handels¬
straße von den oberen Seen Jnnerafrikas nach unsern ostafrikanischen Besitzungen
eröffnen sollte. Dieses deutsch-nationale Unternehmen mußte natürlich der pa¬
triotische dcutschfreisinnige Führer zu hintertreiben versuchen. Das „streng ver¬
traulich" wurde also flugs damit beantwortet, daß die „Freisinnige Zeitung"
den bisher geheim gehaltenen Plan sofort bekannt machte, damit die Engländer
noch zur rechten Zeit das Unternehmen stören und den Gewinn des Projektes
für sich ausbeuten könnten. Welche große Freude es dem Freisinn bereitete, als
das Unternehmen eine plötzliche Störung erfuhr, haben wir jüngst gesehen, als
der Aufstand in den deutschen ostafrikanischen Besitzungen durch englische Be¬
richte gemeldet wurde. Aber schon aus dem Gesagten zeigt es sich, was wir
an diesem Freisinn haben, der sich wie zum Hohne „deutsch" nennt. In der
That, es war ein gnädiges Geschick, das uns vor dem Regiments dieser Partei
behütet hat.
Am 21. August kam der italienische Ministerpräsident Crispi in Friedrichsruh
bei Bismarck an, zu derselben Zeit, wo seine Note an Goblet in der Massaua-
Kapitulativnen-Angelegenheit in Paris einen „peinlichen Eindruck" gemacht hatte,
die aber ganz in der Ordnung war. Wenn auch die Pariser Presse den Ton
Crispis als herausfordernd bezeichnet hatte, so machte doch der Weg Crispis
nach Friedrichsruh die französische Regierung vorsichtig und zur Begleichung
des Streites doppelt geneigt. Die times sah in der Zusammenkunft Crispis
mit Bismarck eine erneute Versicherung der Befestigung des Bündnisses der
europäischen Zentralmächte und eine hauptsächliche Bürgschaft des europäischen
Friedens. Durch Neuigkeit glänzt diese Weisheit ebensowenig, wie der Beitrag
Englands zur Erhaltung des Friedens selbst, wenn es auch die Miene annimmt,
als ob der Friede durch England erst recht gesichert wäre. Und so versicherte
uns der Herr Oberst Maurice bei dieser Gelegenheit ganz feierlich, daß Eng¬
lands Flotte für Deutschland und Italien mindestens 600000 Mann Landtruppen
gleichkomme. Herr Maurice scheint noch nicht zu wissen, daß den englischen
Kriegsschiffen zum guten Teil die Kanonen fehlen.
Bei Gelegenheit der Meldung von der Ernennung R. v. Bennigsens zum
Oberpräsidenten von Hannover wurde auch eine Äußerung des Kaisers gegen
Herbert Bismarck bekannt, die dahin lautete, daß er nur Freunde und Gegner
des Vaterlandes kenne und niemand ihm zutrauen werde, das Rad der Zeit
zurückschrauben zu wollen. Es gebe Ernsteres zu thun, als die Geister gegen
einander zu Hetzen. Die Worte, die auch durch die Rede des Grafen Douglas
eine indirekte Bestätigung finden, sind ein schönes Zeugnis von der unbefan¬
genen Auffassung des Kaisers, wie denn diese auch gerade in der Ernennung
Bennigsens einen erfreulichen Ausdruck gefunden hat. Nichts hat die Frei¬
sinnigen seit längerer Zeit mehr geärgert als diese Sache; sie sahen Wohl
darin eine Anerkennung der Rcgierungsfähigkeit der gehaßten Nationalliberalen,
und so gingen denn die unglaublichsten Hetzereien gegen das Kartell wieder
los. Mit welcher Wut zumal sie die Ernennung Bennigsens aufnahmen, konnte
man aus der Meldung sehen, die die Volkszeitung über diese einfache That¬
sache ihren Lesern brachte. Sie schrieb: „So hat denn endlich die liebe Seele
Ruhe. Der Reichs- und Staatsanzeiger meldet, daß der König den Landes¬
direktor der Provinz Hannover, Dr. v. Bennigsen, zum Oberpräsidenten der
Provinz Hannover ernannt habe. Der kühne Nebenbuhler des Herrn v. Putt-
kamer ist also zum Untergebenen eines früher Untergebenen des frühern Mi¬
nisters des Innern geworden; das ist nach einer zwanzigjährigen Ministerkan¬
didatur ein etwas bescheidener Erfolg. In den Ozean schifft mit tausend Masten
der Jüngling ze." So geht das giftige Gezische! weiter. Es ist die Sprache,
die wir 1361—66 hörten, und die wir, nach allem, was geschehen war, wohl
für verstummt halten durften. Wahrlich, Kaiser Wilhelm I. hat Recht, wenn
er in seinen Aufzeichnungen sagt, seine Nachkommen sollten nicht vergessen, daß
Zeiten möglich waren wie 1861—66. Etwas Thörichteres, als daß auch der
„Reichsbote" in das Gekläff über Bennigsens Berufung mit einstimmte und sie
beklagte, konnte es kaum geben. Er meinte, das Welfentum in Hannover würde
durch Bennigsens Berufung auf den höchsten Posten gerade dieser Provinz tief
erbittert werden. Als ob diese neben den Nvmlingen unversöhnlichsten Feinde
Preußens und des unter ihm geeinten Deutschlands jemals noch tiefer erbittert
werden könnten! Dafür, daß die Ernennung Bennigsens zum Oberpräsidenten
in Hannover die Erhaltung der bisherigen zum Heile des Vaterlandes mit der
Regierung arbeitenden Mehrheit möglich macht, haben die Klerikalen des
„Reichsboten" keinen Sinn. Sie sehen nur den verminderten Einfluß ihrer Ortho¬
doxie auf die innere Politik, und diese Störung ihres hierarchischen Herrschafts¬
gelüstes schmerzt sie mehr als alles.
Eine Äußerung des Kaisers über den Adel gab den fortschrittlichen Zei¬
tungen Gelegenheit zu Angriffen, von denen wir weiter unten eine Probe geben
wollen, und die zeigen, welcher Schamlosigkeit diese Presse, die sich zum größten Teil
in jüdischen Händen befindet, fähig ist. Sieht man das, so muß man einem
nationalliberalen Redner Recht geben, der bei Gelegenheit einer Reichstagswahl
in Berlin am 30. August sagte, daß er weit davon entfernt sei, die Juden als
Juden, d. h. um ihres Glaubens willen, zu bekämpfen, wohl aber bekämpfe
er die Ausbeutung der arbeitenden Klassen, die Unterdrückung der ehrlichen
Arbeit und die Schamlosigkeit der Presse; es müßten auch die in Glaubens¬
sachen vom Fanatismus entferntesten Gemüter einen Ekel bekommen vor jüdi¬
scher Unverschämtheit, wenn man ihre Presse kennen lerne. Aus der erwähnten
Wahl ging Liebknecht als Abgeordneter hervor. Die Wahl selbst zeigte, wie
notwendig ein Gesetz über Wahlzwang ist. Vom Wahlbezirke wählten bei etwa
91,000 eingeschriebenen Wählern etwa 41,000, d. h. nicht ganz 46 Prozent. Von
diesen 41,000 erhielt Liebknecht etwa 26,000 Stimmen. Natürlich ist von den
Sozialdemokraten jeder wahlfähige Mann aus der Dachstube wie aus dem
Keller aufgeboten worden; gleichwohl ist der sozialdemokratische Abgeordnete
nur Vertreter von ^ der Stimmen. Und das nennt man Volksvertreter, Ver¬
treter „jenes Volkes der Arbeit, welches, wie die „Volkszeitung" am Sedantage
schrieb, erst jetzt noch wieder vor drei Tagen mit erdrückender Stimmenmehrheit
(2/7!) seinen Absagebrief an die neue Reichsherrlichkeit geschrieben hat." Das
ist der Artikel der „Volkszeitung" zum Sedantage! Wer wissen will, wie die
Sprache vaterlandslosen Gesindels lautet, der mag diesen Artikel lesen. Nach¬
dem das „Organ für jedermann" aus der Äußerung des Kaisers vom Adel als
den Edelsten des Volkes, einer Äußerung, die den Adel doch auf das Ideal
hinweist, welches das Wort selbst ausdrückt, und dies zu einer Stunde und bei
einer Gelegenheit, wo ein solcher Hinweis ganz absichtslos und natürlich ist,
nachdem sie also aus dieser Äußerung in perfider Weise etwas ganz andres
dadurch gemacht hatte, daß sie dem Worte des Kaisers die Meinung unter¬
schob, der Adel sei „edler" als das Volk, und somit den Gegensatz von Adel
und Volk durch den Kaiser selbst festgestellt sein ließ, nach diesem Beweise echt
rabbinischer Spitzfindigkeit kommt das Blatt auf die Sedanfeier und läßt die
übertrieben ausgemalte Gleichgiltigkeit gegen diese eine Folge des despotischen
Regimentes in Deutschland sein und den Kaiser die chemische Waage hervor¬
holen zu der Entdeckung, „daß adliches Blut doch ein ganz besondrer Saft
und bürgerliches Blut mit diesem edlen Naß gar nicht zu vergleichen sei.
Bah — und da wundert ihr euch noch, daß die große Mehrheit des Volkes
mit kühler Höflichkeit die Feier von Sedan ablehnt, daß die Gehetzten und
Geschmciheten und Verleumdeten am 365. Tage des Jahres nicht einen schmatzen¬
den Bruderkuß mit denen tauschen wollen, welche sie 364 Tage hindurch gehetzt,
geschmäht und verleumdet haben?" Die 364 Tage hindurch gehetzten Freisin¬
nigen, die die elenden Kartellbrüdcr eben so schmähen, wie sie „den Unverge߬
lichen geschmäht haben, den einzigen Fürsten dieses Jahrhunderts, der vom
Throne nicht niederwärts in das Dunkel des Grabes stieg, sondern aufwärts zu
den lichten Höhen der Unsterblichkeit," die nun aber dafür auch den „schmatzen¬
den Bruderkuß," den ihnen niemand bietet, zurückweisen, sind gewiß ein Herr-
liebes Bild. Wahrlich, wenn es möglich wäre, das Andenken an Friedrich III.
bei allen Verständigen und Wohlwollenden herunterzustimmen, diese Gesell¬
schaft der Freisinnigen wäre im stände, es zu bewirken.
Zu den Deutschfreisinnigen stellen sich von selbst die Ultramontanen. So
sind wir es in den letzten achtzehn Jahren ja gewohnt. Das machte sich denn
auch diesen Sommer so. Die deutschen Bischöfe versammelten sich Ende August
auch dieses Jahr in Fulda, um am Grabe des heiligen Bonifacius zu beten,
d. h. Kirchenpolitik zu treiben. Und zwar galt ihr Protest (denn Proteste
müssen es immer sein, die bei dieser Art zu beten mit unterlaufen) diesmal zur
Abwechslung den italienischen Kammern. Daß nämlich die italienische Geist¬
lichkeit, wenn sie das Volk zum Ungehorsam aufstacheln will, mit schweren
Strafen bedroht wird, erregt das höchste Mißfallen der geistlichen Herren in
Deutschland; denn das geht gegen die Freiheit der Kirche und die Rechte des
heiligen Stuhles. Crispi, unterstützt von dem italienischen Parlamente, wird
den Herren Wohl begreiflich machen, daß sie sich da in Dinge mischen, die sie
gar nichts angehen, ohne daß er eine Mobilmachung der päpstlichen Streitkräfte
im italienischen Volke zu befürchten hätte. Man kennt eben das Regiment des
Papstes in Italien besser als in Deutschland, wo das Geschrei vom gefangenen
Papste die bethörte Menge fanatisch erregt. In Italien weiß man, daß Seine
Heiligkeit sich überaus wohl und ungenirt in seinem herrlichen Paläste fühlt,
und daß das Wort auch heute noch gilt: „Der Papst lebt herrlich in der
Welt, Es fehlt ihm nicht an Ablaßgeld." Auch die schwarze Perle, die auf dem
Katholikentage in Freiburg ankündigte, daß man sich jetzt hervorragend mit der
Lage des päpstlichen Stuhles werde zu beschäftigen haben, wird mit seiner Be¬
schäftigung die Italiener wenig in Aufregung setzen. Die Herren thäten wirk¬
lich besser, sie beschränkten sich mit ihrer Maulwurfsarbeit auf Deutschland.
Natürlich ließ sich auf dieser Katholikenversammlung in Freiburg auch wieder
die alte Litanei hören von der Unfreiheit des Papstes. Felix Freiherr von Los
beantragte die Erklärung, daß die andauernde Besetzung des Kirchenstaates und
Roms ein fortgesetzter Eingriff in die Rechte der Kirche und eine schwere Ver¬
letzung der Grundsätze des christlichen Völkerrechts sei; „sie ist eine unerträg¬
liche Beeinträchtigung der Freiheit des Stellvertreters Jesu Christi." Der Ein¬
griff wird aber wohl und mit Fug und Recht fortdauern, und dabei wird sich
Seine Heiligkeit voller Unabhängigkeit erfreuen, was in Italien jedermann weiß.
Seit der Unterredung Kaiser Wilhelms mit dem Papste weiß aber auch die
Welt, daß der „Stellvertreter Christi" den Frieden der Welt nicht mehr stört,
trotz aller Unverschämtheit des Ultramontanismus.
Wie groß diese Unverschämtheit in unserm Vaterlande ist, zeigte die
„Germania" durch den Artikel: „Erstaunliche Zeichen der Zeit," der dem Gustav-
Adolphvereine galt. Während in Freiburg die Katholikenversammlung ihre Be¬
schlüsse gefaßt hatte in betreff der Wiederherstellung der weltlichen Macht des
Papstes und der Wiederkehr aller Orden, Beschlüsse, die, wenn sie praktisch
würden, nicht nur den Frieden Deutschlands, sondern zunächst auch Italiens
und weiterhin den Weltfrieden stören würden, ergeht sich dasselbe Blatt, welches
diese Dinge empfiehlt, zu gleicher Zeit in sittlicher Entrüstung darüber, daß der
Oberpräsident einer protestantischen Provinz die Hauptversammlung des Gustav-
Adolphvereins in Halle mit wohlwollenden Worten begrüßt. „Wir verlangen —
heißt es — auf Grund unsers Rechtes und im Namen des Friedens des
deutschen Volkes, daß dem Verleumder, Hetzen und Schimpfen unter Beschlag¬
nahme des deutschen Reiches für den Protestantismus ein Ende gemacht werde,
statt daß, nachdem solche Leistungen wie in Halle vorliegen (Unterstützung be¬
drängter protestantischer Gemeinden) ein Vertreter der Staatsregierung auch noch
zu freundlicher Begrüßung sich erhebt." Wenn der Vertreter der Staats¬
regierung sich in Freiburg erhoben hätte, dann würde die „Germania" freilich
nichts von sittlicher Entrüstung wissen. Anstatt einer Antwort für die „Germania"
wollen wir das deutsche Volk daran erinnern, wie sich jüngst ein päpstliches
Hofblatt über religiöse Toleranz vernehmen ließ: „Wo die katholische Kirche
infolge beklagenswerter (?) Umstände nicht offiziell als die alleinige Staats-
religion anerkannt ist, beansprucht und fordert sie sür sich die Freiheit, deren
alle Bekenntnisse genießen, indem sie darauf rechnet, daß die Reinheit ihrer
Dogmen mit der Zeit alle Irrtümer und Lasten überwindet, und bestimmt den
Tag erwartet, wo es sich erfüllt, daß nur eine Herde unter einem Hirten
sein werde. In den Ländern jedoch, wo ihr Vorrang festgestellt ist, wo das
Blut ihrer Märtyrer und die Lehrkämpfe ihr eine volle und gesetzliche Existenz
gesichert haben, verwirft sie in der Weise eines friedlichen (?) Besitzers jede
Kultusfreiheit nicht nur als reinen Widerspruch mit der objektiven Wahrheit
der Dinge, sondern auch als einen Angriff auf ihre Rechte, auf ihre unbestreit¬
bare Oberherrschaft." Gott wolle uns vor dieser „unbestreitbaren Oberherr¬
schaft" der streitbaren Kirche behüten! Wenn Leo XIII. dem Kaiser Friedrich
durch seinen Gesandten Galimberti ganz unnützer Weise darüber seine Freude
hatte aussprechen lassen, daß der Kaiser Duldung verheißen hatte, so wissen
wir aus der Geschichte aller Länder, wie es dagegen mit der Duldung da steht,
wo die unbestreitbare Oberherrschaft der heiligen Mutterkirche und des heiligen
Vaters besteht. Um darin etwas Begehrenswertes zu finden, dazu gehört eben
die dem Ultramontanismus eigne Geschichtsanschauung, die die letzten fünfund¬
zwanzig Jahre z. B. als eine Verirrung der europäischen Geschichte ansieht.
Übrigens begegnet sich hier die Anschauung des Fortschrittes mit der der jesui¬
tischen Brüder. So hatte die „Volkszeitung" zur Erinnerung an das fünfund¬
zwanzigjährige Jubiläum des Frankfurter Fürstenkongresses einen Leitartikel,
der ebenfalls in den Ereignissen und tiefen Veränderungen, welche die letzten
fünfundzwanzig Jahre gebracht haben, das sieht, „was wir Zufall oder Schickung
nennen"; für den Schreiber dieses Leitartikels war „das Jahr 1863 das letzte
für Deutschland, in dem wir das Bild eines Volkes, das selbst denkt und selbst
handelt, geschaut haben." Die mächtige Bewegung von damals, der auch „die
Fürsten und Regierungen Rechnung zu tragen begannen," hat nur Bismarck
gestört, „dessen Abneigung gegen die Selbstthätigkeit .des Volkes, so groß ist,
daß er einen Beitrag des Nationalvereins zur Gründung der deutschen Flotte
sdie Spielerei mit der Sechsersammlungj verschmähte." Eine großartige Ge¬
schichtsanschauung, die des „Organs für jedermann!" Ist es doch dieselbe, die
auf dem Abgeordnetentage zu Frankfurt im Jahre 1862 nach dem Rezept von
Schultze-Delitzsch „Preußen den Großmachtskitzel austreiben" wollte. Ja, das
waren noch große Männer! Die standen noch vor dem Throne, so wie Johann
Jacoby dereinst gestanden hatte, „stets in der aufrecht stolzen Haltung eines
großen Bürgers," wie dasselbe „Organ" in einem setzenden Leitartikel mit der Über¬
schrift „Lernt hassen!" so unübertrefflich schön sagt. Da wird Johann Jacoby mit
Cato verglichen, nur daß „Fürst Bismarck noch lange nicht Caesar und Jacoby
weit mehr als Cato war." Wer lacht da? Das ist Geschichtschreibung in
Kanaan!
Von der Fortschrittspresse lärmend begrüßt wurde die Publikation eines
Teiles der Tagebuchblätter Friedrichs III. Dr. Geffken und wer sonst noch
hinter dieser Veröffentlichung steht, hat ebenso unpolitisch als pietätlos ge¬
handelt. Daß Kaiser Friedrich selbst noch die Berechtigung zu der Veröffent¬
lichung erteilt habe, ist nicht anzunehmen. Um so mehr liegt es nahe, an per¬
sönliche Zwecke zu denken, die durch diese litterarische Sensationsmacherei ver¬
folgt werden sollten. Dinge, wie die Erzählung von Bismarcks angeblicher
Äußerung, nach dem Kriege gegen die Unfehlbarkeit vorgehen zu wollen, die
satirischen Bemerkungen über Friedrich Karl, die Geschichte von dem Konzept
des Briefes, das Bismarck an den Baiernkönig geschickt haben soll, und was
der unnützen Enthüllungen mehr sind, die am allerwenigsten ein „wichtiger Bei¬
trag zur Geschichte jener Zeit" sind, können nur von einer ganz indiskreten,
Deutschland wenig glückbringenden Hand an die große Glocke gehängt worden
sein. Welchen Erfolg die Veröffentlichung dieser Tagebuchblätter hat, das sieht
man wieder aus einem Artikel der „Volkszeitung", überschrieben: „Ein Denkmal
dauernder als Erz." Das „Organ" sieht in ihnen ein inMumsutuw, asrö xörsn-
ums, „welches dauern wird, wenn die Bildsäulen so und so vieler brillanter
und schneidiger Generale von einer vernünftigem Nachwelt nur noch nach dem
Werte alten Eisens werden abgeschätzt werden." Der Artikel geht noch weiter
in seinen Frechheiten. Um den Sohn zu ehren, wird der Vater gehöhnt. Da
wird von der echten, tiefen Religiosität Friedrichs gesprochen, um mit jüdischer
Perfidie Kaiser Wilhelms religiösen Charakter zu besudeln: „Es ist ja doch
keine dreistere Verletzung alles religiösen Empfindens möglich, als wenn nach
einer Schlacht oder einem Kriege, in welchem die besser schießende Flinte und
der schärfer hauende Säbel den Sieg davon getragen haben, der Sieger sich als
ein Werkzeug Gottes betrachtet und »Ihm allein die Ehre giebt,« was dann
noch obendrein in seltsamer Umkehrung der Sachlage als eine unerhörte »Be¬
scheidenheit und Demut« gepriesen wird." Da drängt man sich mit echt jü¬
discher Aufdringlichkeit, die schon der lebende Kaiser Friedrich erfahren mußte,
noch an den toten heran und verzerrt dessen Aufzeichnungen, deren Treue schon
genug wegen ihrer chronologischen und thatsächlichen Irrtümer mit gutem Recht
bestritten wird, ins Ungeheuerliche. „Moloch hat durch diese Aufzeichnungen
einen Schlag erhalten, den er, wenn anders die Nation des Märtyrertums
würdig ist, das Kaiser Friedrich für sie getragen hat, niemals verändern kann,
niemals vermindern wird." Armer Kaiser Friedrich! von wie schmutzigen Händen
wird doch dein schönes Bild beworfen! In wessen Interesse aber auch diese
Veröffentlichungen schließlich gemacht werden sollten, das geht wohl aus dem
Jmmedicitbericht des Kanzlers an den Kaiser hervor, worin sich auch folgende
Äußerung findet: „Ich besaß nicht die Erlaubnis des Königs, über intimere
Fragen der Politik mit dem Kronprinzen zu sprechen, weil der König Indis¬
kretionen an den von französische«? Sympathien erfüllten englischen Hof fürchtete
und andrerseits Schädigung unsrer Beziehungen zu den deutschen Bundesgenossen
wegen der zu weit gesteckten Ziele und gewaltsamen Mittel, die dem Kron¬
prinzen von zweifelhaften Ratgebern empfohlen waren." So weit ist es also
durch diese Veröffentlichungen gekommen, daß der Kanzler jetzt xost tot äis-
vilmwg. rsruin, diese Dinge enthüllen mußte. Wohin steuerten wir unter dieser
Flagge, und auf was für Untiefen war unser Schiff gelenkt!
Aber weg von diesem Bilde. Wenige Tage nach der Veröffentlichung
dieses Tagebuches trat unser Kaiser seine Romfahrt an.
er Grundzug der Handels- und Gewcrbepolitik war früher gewöhn¬
lich protektionistisch und, was damit verknüpft ist, auf ein be¬
stimmtes, begrenztes Ländergebiet berechnet. Nicht immer deckten
sich diese wirtschaftlichen Grenzen mit den Grenzen des Staates,
sie erreichten die letztern häufig nicht und lösten damit den politisch
einheitlichen Staat in mehrere selbständige Wirtschaftsgebiete auf. Erleuchtete
Staatsmänner wie Colbert haben schon früher dieser wirtschaftlichen Zerrissen¬
heit ihres Vaterlandes ein Ende gemacht, in dem auch politisch gespaltenen
Deutschland ist dies erst in diesem Jahrhundert mit der Gründung des Zoll-
Vereins gelungen. Dem wirtschaftlichen Protektionismus selbst aber erwuchs
ein Feind in den physiokratischen Ideen, die hauptsächlich von Frankreich aus¬
gingen, später von dem Schotten Adam Smith aufgenommen wurden und dann
ihren Siegeszug durch alle Kulturstaaten nahmen.
An Stelle des Schutzes der einheimischen Industrie durch möglichste Aus¬
schließung jeder ausländischen Konkurrenz, welche die Protektionisten oder Mer¬
kantilisten betrieben, lehrten die Physiokraten (Guesnay, Gonrnay, Turgot,
Mirabeau u. ni. in.) und Adam Smith natürliche Entfaltung aller wirtschaft¬
lichen Kräfte mittels absoluter Freiheit des Handels und Verkehrs und durch
Proklamirung des freien wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechtes aller ein¬
zelnen, von denen jeder durch sein wohl verstandeneseignes Interesse zur wirt¬
schaftlichsten Produktion angespornt und erzogen werde; sie betrachteten das
wirtschaftliche Leben unter den Gesichtspunkten unabänderlicher Naturgesetze, in
deren natürliches Walten menschliches Eingreifen zur Willkür werde und von
schädlichen Folgen begleitet sei. Die spätere sogenannte Freihandelsschule bildete
diese Lehre bis in ihre letzten und schärfsten Folgerungen aus.
Die Theorie der Physiokraten und Adam Smith sind indes kein selbst¬
ständiges Erzeugnis der Begründer dieser neuen wirtschaftspolitischen Richtung.
Sie sind nur eine Übertragung des Rationalismus auf das wirtschaftliche
Gebiet, jener Naturlehre, welche im vorigen Jahrhundert auf die überkommenen
religiösen und politischen Ansichten eine so zersetzende Wirkung ausgeübt hat.
Auf wirtschaftlichem Gebiete drängten die Irrtümer und Fehler des herrschenden
merkantilistischen Systems zu einer durchgreifenden Umwälzung. Der wirtschaft¬
liche Polizeistaat, das eigennützige Interesse des Staates und bevorrechteter
Stände mußten den Zusammenbruch der bestehenden Verhältnisse unvermeidlich
herbeiführen.
Die Kritik der Physiokraten gegen den Merkantilismus war lediglich eine
rationalistische. Sie erklärte das Individuum als ein von Natur und ursprüng¬
lich freies, ungebundenes und unbeschränktes Wesen, welches, wenn seinen
„natürlichen" Eigenschaften kein Zwang angethan werde, alle Kräfte und Fähig¬
keiten entfalte, die ihm von der Natur verlieben seien, woraus der natürlichste
und glücklichste Zustand aller menschlichen Lebensverhältnisse hervorgehe. Eine
derartige soziale Ordnung beruhe auf der natürlichen, von Gott vorgeschrie¬
benen Ordnung. Sie vertraten damit gegenüber der Beschränktheit des dama¬
ligen Erwerbslebens mit Entschiedenheit die Forderung, daß jeder frei und
ungehindert seinem Vorteile nachgehen könne; das persönliche Interesse werde
dabei nicht nur als Anreger der Produktion wirken — und zwar der wirt¬
schaftlichsten, d. i. möglichst großer Erfolg mit möglichst kleinem Aufwands von
Kapital und Arbeit —, sondern anch als Bestimmungsgrund der Einschränkung
der Produktiv!,, wenn sie nicht mehr lohne, so daß jede obrigkeitliche Einwir¬
kung auf sie hinfällig würde, weil sie durch das Interesse des einzelnen am
sichersten und einträglichsten geregelt werde. Aus dem freien Schalten der mensch¬
lichen und natürlichen wirtschaftlichen Kräfte ergebe sich von selbst eine Aus¬
gleichung zwischen Bedarf und Mittel der Befriedigung, werde die Harmonie
in der Güterwelt und namentlich in der Verteilung der Gütereingänge von
selbst hergestellt.
Adam Smith hat jedoch für die Praxis der Durchführung seiner Theorie
manche Ausnahme und Einschränkung vorgezeichnet. Er ließ die Abwehr oder
Erschwerung fremder Konkurrenz und einseitigen Schutz der heimischen Industrie
sogar unter Bedingungen zu, die als wesentliche Bestandteile in den späteren
schutzzöllnerischen Systemen öfters wiederkehren. Er kann also durchaus nicht
ein „unbedingter" Freihändler genannt werden. Gewiß galt ihm die Freiheit
als die Regel und die Einschränkung als die Ausnahme, aber er dachte sich
den vollkommenen Freihandel doch nur so, wie Kant den ewigen Frieden, nur
als ideales Ziel, als utopische Idee (Moritz Meyer). Er durchbricht die Lehre
von der Freiheit des wirtschaftlichen Verkehrs nach vier Richtungen hin, in
denen er den Schutzzoll als gerechtfertigt anerkennt. Für Industriezweige, wegen
deren ein Interesse für die Landesverteidigung besteht, fordert er unbedingt
einen Schutzzoll, zur Vergeltung fremder Schutzzölle aber Retorsionszölle und
Ausgleichszölle, w?r,n die fremde Industrie durch geringere Steuerkasten als
die einheimische beschwert und dadurch konkurrenzfähiger ist, und schließlich
billigt er die Erteilung von Handelsmonopolen und Privilegien, wenn Kauf¬
leute bei einer Unternehmung in fernen, unkultivirten Ländern ein besondres
Risiko eingehen. Er übersieht zugleich nicht die Gefahren, die bei einem scharfen
Übergange vom Schutzzoll zum Freihandel drohen, und befürwortet deshalb nur
ein langsames Übergehen zum Freihandel, da sonst die fremden Waaren so
schnell auf dem Markte zusammenströmen würden, daß tausende von Inländern
ihre gewöhnliche Arbeit und ihre Erwerbsmittel verlören, woraus unstreitig eine
große Störung entstehen müsse. Nach der Aufhebung der Kontinentalsperre
erzeugte das plötzliche Eindringen der in England aufgestapelten Massen bil¬
liger Waaren in Deutschland einen Zustand, der dem von Adam Smith geschil¬
derten völlig entspricht. Kein Land hatte so darunter zu leiden, wie unser da¬
mals ohnehin schon so unglückliches, politisch und wirtschaftlich gleich zerrissenes
Vaterland. Frankreich, die Wiege des Physiokmtismus, hingegen errichtete
sofort die alten Schlagbäume, um das Eindringen des gefährlichen englischen
Feindes abzuhalten.
Adam Smith war sich des Unterschiedes zwischen theoretischer Volkswirt¬
schaftslehre und praktischer Wirtschaftspolitik durchaus bewußt. Nicht so seine
Schüler. Aber darin besteht eben meist die Schwäche der Epigonen; sie ver¬
kennen die Vorbehalte ihrer Meister und übertreiben deren Fehler. „Jene
mammonistischen Irrtümer, welche oft sehr ungerechter Weise Adam Smith
und Ricardo zugeschrieben werden, traten hier wirklich auf. So Maccullochs
Ansicht von der völligen Unschädlichkeit des Absenteismus; sein Nachweis, daß
Maschinen immer nützen, dem Arbeiter sogar noch mehr, als dem Kapitalisten.
Oder gar seine bis zum Überdrusse durchgeführte Gleichstellung der Menschen
mit Maschinen. Bei Arc, dem Hauptbewunderer des neuern Fabrikentums, ist
das Entzücken darüber, daß es jetzt gar nicht mehr auf die Geschicklichkeit des
Arbeiters ankomme, alle Arbeiter, selbst Kinder, einander gleich seien u. s. w.
doch wirklich sogar vom Staudpunkte des Mammonismus ein sehr kurzsich¬
tiges." (Röscher).
Es kann nicht wunder nehmen, wenn die Freihaudelst^eorie in der Praxis
später zu so vielen Entartungen und Mißverständnissen gelangt ist, die den
Ausgangspunkt der freihändlerischen Lehre gänzlich verkennen lassen. Und es
kann noch weniger wunder nehmen, daß diese mechanistischen Übertreibungen der
Lehre Smiths durch die. welche sich seine Schüler nannten und welche in der
Litteratur wegen ihrer selbständigen extremen Stellung meist unter der Bezeich¬
nung „Smithianisten" zusammengefaßt werden, in den Kreisen der Industriellen
den nachhaltigsten Eindruck machten. Es bedürfte zur praktischen Ausnutzung
dieser dem Jndustrialismus so günstigen Lehre nur einer passenden Gelegenheit.
Und diese fanden in England die beiden Fabrikanten Richard Cobden und John
Bright zu Ende der dreißiger Jahre. Sie waren keine Theoretiker, sondern
reine Praktiker, die nur etwas erreichen konnten und wollten durch eine gewaltige
agitatorische Kraftentfaltung. Ihren ersten Stoß richteten sie 1839 gegen die
die englische Großindustrie drückenden sehr hohen Kornzölle, und als die L^cki-
Oc>rü1g.>v-I,eg.Aus die Aufhebung derselben 1846 durchgesetzt hatte und damit die
IikaZus sich auflöste, kämpften die Angehörigen derselben im „Cobdenklub" weiter
für die Durchführung der internationalen Verkehrs- und Handelsfreiheit und
die Beseitigung aller Schutzzölle. Nach dem Hauptsitze des Vereins erhielt die¬
jenige Partei, welche aus grundsätzlichen Anhängern des I^isssr es-irs se laisssr
allkr, entschiedenen Gegnern aller Schutzzölle und solchen besteht, die die spe¬
zifisch politischen und nationalen Interessen hinter den wirtschaftlichen zurück¬
treten lassen, den Namen „Manchesterpartei."
Diese Partei, in ihrer Entäußerung aller politischen und nationalen Ge¬
sichtspunkte, löste die Gesellschaft auf in eine nur durch die Interessen des
Handels und Verkehrs beherrschte und zusammengehaltene Masse freier, staatloser
Einzelwesen. An die Stelle der menschlichen Verhältnisse traten die baumwollenen
Fäden des Fabrikherrn von Manchester, der kein andres wirtschaftliches Gesetz
kennt als das persönliche Interesse. Jedoch lag es ganz außerhalb der Absicht
des „Cobdenklubs," die Manchesterlehre als solche durch alle Welt zu verbreiten,
sondern es kam ihm darauf an, unter geschickter Benutzung dieser Lehre den
für Englands Industrie und Handel gerade von jetzt an vorteilhaft gewordenen
Freihandel in allen Staaten durchzusetzen. Cobden und Bright behaupteten
und bewiesen an der Hand der „smithianischen" Lehre, daß der Freihandel allen
Industriestaaten Vorteil bringe, während er in der damaligen Zeit in Wahrheit
nur England Nutzen brachte und noch in der Gegenwart bringt*).
Die Überlegenheit der englischen Industrie mußte, wenn die Zollschranken
der übrigen Staaten fielen, zur wirtschaftlichen Alleinherrschaft der englischen
Industrie führen; es konnte nicht ausbleiben, daß die weniger entwickelten In¬
dustrien der fremden Staaten von der englischen vernichtet wurden. Die Eng¬
länder verkannten durchaus nicht die schützende Wirkung der Zölle — bekannt
ist, daß Adam Smith und die Gebildeten seinerzeit der Navigationsakte die
Blüte des englischen Handels zuschrieben —, aber sie handelten jetzt nach einem
Ausspruche Gladstones aus jener Zeit: „England ist durch den Schutz reich
geworden, durch den Freihandel wird es noch reicher werden." Sie verurteilten
nicht den Schutzzoll als solchen, sondern sie fürchteten und bekämpften ihn des¬
halb, weil er ihren Interessen im Wege stand. Die größten Feinde des Frei¬
handels waren in England selbst die Agrarier. Seitdem aber Robert Peel an
die Spitze der englischen Regierung getreten war, fand unter lebhaftem Wider¬
spruche der erstem eine völlige Umkehr der englischen Wirtschaftspolitik in frei¬
händlerischen Sinne statt. Bei dem bestimmenden Einfluß der Handelsinteressen
ans die auswärtige Politik Englands wurde die freihündlerische Agitation von
der englischen Regierung auf dem Festlande moralisch in jeder Beziehung unter¬
stützt**). Damit wollen wir uns nicht des abgeschmackten Vorwurfes schuldig
machen, daß die Begründer der deutschen Freihandelsschule durch englisches Geld
zu ihren wirtschaftspolitischen Überzeugungen geführt worden seien. Vor einer
solchen Beschuldigung schützt sie schon ihre persönliche Ehrenhaftigkeit. Es be¬
dürfte solcher Mittel in unserm kosmopolitisch angelegten Deutschland nicht.
Wann haben sich nicht die Deutschen auf die Seite des Weltbürgertums ge¬
stellt? Wir müssen es als ein Glück schätzen, daß heute die wiedererlangte
nationale Einheit dem flachen Kosmopolitismus immer mehr den Boden im
deutschen Volke entzieht, zum großen Bedauern der heutigen deutschen Frei¬
handelspartei, die nicht müde wird, der Kräftigung des Volksbewußtseins durch
alle Mittel entgegenzuarbeiten. Es mutet uns sonderbar an, wenn wir auf
solche freihändlerische Stoßseufzer über die abnehmende weltbürgerliche Schwär¬
merei in Deutschland treffen. Ein solcher ist uns zufällig in einem Schriftchen
des bekannten Reichstagsabgeordneten Dr. Th, Barth*) aufgestoßen, das sich
weniger durch Tiefe als durch die bei dem Verfasser gewohnte Leidenschaftlich¬
keit der Sprache auszeichnet. Die Beobachtung erfüllt ihn mit Wehmut, daß
sich im neuen Reiche eine Verachtung alles Kosmopolitischen bemerkbar mache.
„Nirgends werden heute internationale Kongresse mit weniger Sympathie be¬
grüßt und mit mehr Mißtrauen betrachtet, als gerade in Deutschland. Man
läßt sie sich schlimmstenfalls gefallen, wenn es sich um rein praktische Ziele, um
Weltpostvereine und dergl. handelt, sobald sie aber eine idealere Richtung an¬
nehmen oder gar das Wort Friedensliga fällt, so hält sich jeder deutsche Kommis
(Ja wenn es nur dieser wäre!) für berufen, über derartige Schwärmereien die
Nase zu rümpfen."
In Deutschland hatte die Sandhase Lehre schon sehr früh Boden gefaßt
und sehr bald auf die Verwaltung des preußischen Staates Einfluß gewonnen.
Die wirtschaftlichen Reformen, die nach den großen Niederlagen in Angriff ge¬
nommen wurden, beruhten auf einem gesunden wirtschaftlichen Liberalismus,
der dem darniederliegenden Staate neues Leben einhauchte. Nicht so heil¬
bringend war dem Staate die ziemlich freihändlerische Zollpolitik, die nach der
Aufhebung der Kontinentalsperre die in England aufgehäuften ungeheuern Waren
zu spottbilligen Preisen auf den Markt brachte. Darunter hatte nicht nur die
preußische, sondern die gesamte deutsche Industrie zu leiden. Die Volkswirt¬
schaftslehre an unsern deutschen Hochschulen pflegte noch Grundsätze Smiths
mit mehr oder weniger Hinneigung zur englischen Freihandclsschule, als es
den Industriellen bereits gelungen war, in der Mitte der vierziger Jahre die
bis dahin gemäßigte Schutzzollpolitik des Zollvereins nach der Richtung ent¬
schiedener Schutzzölle zu beeinflusse». Damit war das Zeichen zur Begrün¬
dung einer deutschen Freihandelspartei gegeben. Sie betrat ebenfalls den
ihr zunächstliegenden Weg der Agitation und erinnerte praktisch damit an
Cobden, in ihrer Lehre aber lehnte sie sich an Bastiat, einen Nachtreter
der englischen Freihandelsschule, an. Es sind noch heute bekannte Namen,
deren Träger den Grund zu dieser selbständigen freihändlerischen Richtung
in Deutschland gelegt und die sich in manchen Beziehungen um unser Vater¬
land verdient gemacht, die aber auch ihre doktrinäre Einseitigkeit im Laufe
der Jahre stark gemildert haben. Sie hielten sich insbesondre wenigstens von
einer Ausartung der englischen Manchesterpartei frei, den Internationalismus
als Antinativnalismns aufzufassen. Nach dem Zeugnis Roschers haben die
bedeutendste» Mitglieder der deutschen Freihandelsschule immerhin einen Eifer
für die Größe und Würde unsers Vaterlandes bethätigt, wie er sich von dem
Mammonsdienste der englischen Fabriktheoretiker in Arc's Sinn aufs rühm¬
lichste unterscheidet. Da ist zuerst Schulze-Delitzsch. der sich unsterbliche Ver¬
dienste um die wirtschaftliche Selbsterziehung des deutschen Volkes erworben
hat; ferner ist als der bedeutendste Theoretiker unter ihnen I. Prince-Smith
zu nennen, ein Engländer, der ein Menschenalter hindurch einen Lehrstuhl an
der Berliner Universität inne hatte. Sodann haben sich noch einen guten
Namen gemacht I. Faucher, Viktor Böhmert, der heute durch seine sozialpoli¬
tischen Interessen in scharfem Gegensatz zu den Prinzipien der extremen Frei¬
handelspartei steht, A. Emminghaus, Max Wirth, der selbst für Staatseisen¬
bahnen auftritt, und H. Rentzsch, der verdienstvolle Herausgeber des volkswirt¬
schaftlichen Handwörterbuches, worin sogar ein Adolf Wagner als Mitarbeiter
beteiligt war und sich dabei großen wissenschaftlichen Ruhm erworben hat.
Den Vereinigungspunkt der Anhänger dieser Richtung bildete der „Kongreß
deutscher Volkswirte." der heute gegenüber dem „Verein für Sozialpolitik" nur
noch mühsam die Beachtung weiterer Kreise auf sich zu lenken vermag. Mehr
als es durch den Kongreß möglich ist zu wirken, suchen unsre parlamentarischen
Freihändler für den absoluten Freihandel im Reichstage und durch ihn Propa¬
ganda zu machen. Freilich wägen unsre gegenwärtigen parlamentarischen Frei¬
händler zwischen den oberflächlichen freihändlerischen Extremen der englischen
Schule und des durchaus nicht tiefen und originellen Bastiat und den gemäßig¬
teren Anschauungen der Begründer der deutschen Freihandelsschule nicht mehr
so genau ab. Ihr geringer praktischer Erfolg erklärt sich aber auch aus dem
sachlichen Grunde, weil unsre wirtschaftliche Entwickelung und Lage heute noch
nicht den Übergang zum vollkommenen Freihandel zuläßt.
(Schluß folgt.)
MMick wichtiger als die angeführten Gründe war die eigentüm¬
liche geographische Lage der durch ganz Süddeutschland ver¬
teilten österreichischen Lande. Erst wenn man sich davon ein klares
Bild macht, was allerdings bei der gewaltigen Umwälzung des
Besitzstandes der Einzelstaaten im Südwesten des Reiches, die
zu den Zeiten Napoleons sich vollzogen hat, nicht ganz leicht ist, begreift man
vollständig das ungeheure Übergewicht, welches Osterreich dort besaß. Seine
Besitzungen am Oberrhein, die man unter dem gemeinsamen Namen Breisgau
zusammenfaßte, bestehend aus dem untern Lande oder dem eigentlichen Breis¬
gau, mit der Hauptstadt Freiburg, mit Breisach und andern Plätzen, und dem
obern Rheinviertel, wozu z. B. die vier Waldstädte am Rhein, Laufenburg,
Rheinfelden, Säckingen und Waldshut gehörten, gewährten ihm zwar einer Gro߬
macht wie Frankreich gegenüber eine ziemlich schwere, unsichere und gefährdete
Stellung, aber die um- und anliegenden Kleinstaaten im Westen wurden durch
sie militärisch und damit auch politisch vollkommen beherrscht; noch mehr war
dies der Fall, als auch die Landvogtei Ortenau, ein altes österreichisches Lehen,
nach dem Aussterben des baden-badenschen Manncsstammes (1771) an ihren
Oberlehnsherrn zurückfiel. Eine Reihe von Habsburgischen Gebieten im Süden
des Reiches, meist am Bodensee, an dem „schwäbischen Meere" gelegen, stellte eine
Verbindung, wenn auch keine ganz fest geschlossene, mit den Kernlanden der öster¬
reichischen Macht her, nämlich die Landgrafschaft Nellenburg, die Städte Kon¬
stanz und Nadolfszell, die obere und untere Landvogtei in Schwaben, auch wohl
genannt die kaiserliche und Neichsvogtei Ravensburg und Altorff, die Graf¬
schaft Hoheneck und Vorarlberg, von denen das letztere jetzt zu dem anstoßenden
Tirol geschlagen ist. Eine große Anzahl von größern und kleinern Besitzungen
inmitten des schwäbischen Neichskreises gaben dieser beherrschenden Stellung Öster¬
reichs im Süden und Westen des Reiches weitere Festigkeit; die wichtigsten darunter
waren die obere und die niedere Grafschaft Hohenberg, die sogenannten fünf Donau¬
städte und die Markgrafschaft Burgau. Diese Lande gewährten dem Kaiser aber
nicht bloß einen ausschlaggebenden Einfluß in jenem Teile des Reiches, sondern
legten ihm auch lästige Verpflichtungen auf, namentlich die Wacht gegen Frank-
reich am Oberrhein. So lange sie zu seinen Staaten gehörten, berührte alles,
was dort das Reich betraf, ihn in seinen persönlichen und dynastischen Interessen;
wollte er seinen eignen Besitz in Oberdeutschland schützen, lag ihm notwendiger¬
weise auch der Reichsschutz ob; dieser drückenden Verpflichtung konnte er sich
nur entziehen, wenn er sich jener Gebiete entäußerte und dafür etwa seine Erd¬
taube durch vorteilhafter gelegene Provinzen abrundete.
Hieran dachte freilich der Fürst, der zunächst als Mitregent seiner Mutter,
dann als Selbstbeherrscher die Geschicke Österreichs leitete, Joseph II., durchaus
nicht. Im Gegenteile war, abgesehen von den vielen Plänen und Bestrebungen
der verschiedensten Art, die der jugendlich feurige und geistig hochbegabte Fürst
mit leidenschaftlicher Überstürzung, aber ohne die erforderliche Stetigkeit und
Folgerichtigkeit durchzuführen strebte, seine Politik wesentlich darauf gerichtet,
diese Machtstellung Österreichs in Süddeutschland noch wesentlich zu verstärken
und diesen Teil des Reiches entweder unmittelbar oder mittelbar seiner Herr¬
schaft ganz zu unterwerfen. Die einzigen Fürsten, die diesen Bestrebungen Wider¬
stand leisten konnten, und die sich niemals bedingungslos der österreichischen
Leitung gefügt hatten, waren die Kurfürsten von Baiern und die Herzöge von
Württemberg; später kamen dazu noch die Markgrafen von Baden. Die letztern
waren vorläufig noch sehr unbedeutend, und ihre Besitzungen lagen ganz in dem
österreichischem Machtbcreiche. Württemberg hatte schon einmal den Habsburger»
gehört: als Herzog Ulrich infolge des Aufstandes des „armen Konrad" und
seiner Fehde mit der Stadt Reutlingen, woraus sich ein Krieg mit dem schwä¬
bischen Bunde entspann, von seinen eignen Schwägern, den Herzogen von Baiern,
die sich an die Spitze des Bundesheeres gestellt hatten, aus seinem Lande ver¬
trieben war, hatte Kaiser Karl V. dieses durch Kauf an sich gebracht, und sein
Bruder Ferdinand ließ es durch Statthalter regieren. Im Jahre 1534 gelang
es Ulrich, mit Hilfe Frankreichs und Hessens in sein Land zurückzukehren.
Unter Vermittlung von Kursachsen kam mit dem römischen Könige Ferdinand
auch ein Vertrag zu stände, durch den dieser zwar in die Wiedereinsetzung
des Herzogs willigte, sich selbst aber nicht nur die Lehnshoheit, sondern auch
die Anwartschaft auf das Land vorbehielt. Einem seiner Nachfolger, dem Her¬
zog Friedrich, gelang es nach langen Verhandlungen mit Kaiser Rudolf II.,
sich wieder von der Lehnshohcit des Hauses Österreich frei zu machen; die Anwart¬
schaft auf das Erbe blieb jedoch bestehen. Dieses sogenannte ^aotura Ü,nao1-
ullum vom Jahre 1699 hätte sicher eine Handhabe zur frühern oder spätern
Einverleibung Württembergs geliefert, sobald nur erst die Erwerbung des da¬
zwischen liegenden größern Baiern gelungen war.
Zweimal machte Kaiser Joseph II. den Versuch, diesen seinen Lieblingsplan
durchzuführen, und beidemale wurde er daran durch das Dazwischentreten
Friedrichs des Großen verhindert. Mit Maximilian Joseph war im Jahre 1777
die bairische Kurlinie ausgestorben; Karl Theodor, Kurfürst von der Pfalz, das
Haupt der älteren Linie der Wittelsbacher, übernahm den alten Hausverträgen
gemäß die Erbschaft, und da er selbst kinderlos war, wurde der Pfalzgraf von
Zweibrücken als sein Nachfolger anerkannt. Der Kaiser bewog nun den sehr
schwachen Karl Theodor, alte Erbansprüche Österreichs, bezüglich Böhmens, auf
Niederbaiern und Teile der Oberpfalz im Vertrage zu Wien (1773) anzuer¬
kennen. Hiergegen erhob der Herzog von Zweibrttcken auf Antrieb Friedrichs
Einsprache; ebenso Sachsen und Mecklenburg, die gleichfalls glaubten, Erb-
ansprttche machen zu können. Da Joseph II. nicht nachgeben wollte, so entstand
hieraus der bairische Erbfolgekrieg. spottweise, weil keine einzige größere Waffen¬
that ausgeführt wurde, der Kartoffelkrieg genannt. Der Merkwürdigkeit wegen
sei erwähnt, daß darin Sachsen mit Preußen verbündet war. Der Friede zu
Teschen machte dem Streite ein Ende und brachte Österreich wenigstens eine
kleine Gebietsvergrößerung, nämlich das Innviertel, einen Landstrich von Nieder-
baiern, der zwischen Salzach, Jnn und Donau gelegen war. Der erwähnte
Wiener Vertrag wurde aufgehoben, die kaiserlichen Truppen mußten die übrigen
bereits besetzten Landesteile wieder räumen; Sachsen wurde mit sechs Millionen
Thalern abgefunden. Noch weniger Erfolg hatte das wunderliche Tauschprojekt,
durch das Joseph im Jahre 1785 Baiern an sich zu bringen und sich zugleich
des schwierigen und unsichern Besitzes der Niederlande zu entledigen hoffte.
Er bot die dortigen österreichischen Besitzungen, mit geringen Ausnahmen (Luxem¬
burg und Namur) dem Kurfürsten Karl Theodor als Königreich Burgund gegen
Abtretung von ganz Baiern an, und dieser ziemlich unselbständige und urteils¬
unfähige Fürst war bereit, auf das „Geschäft" einzugehen. Wiederum erhob
der Pfalzgraf von Zweibrücken Einsprache und wandte sich an Friedrich. Dieser
wollte um keinen Preis zugeben, daß ganz Süddeutschland Osterreich zufiele;
denn eine Zweiteilung des eigentlichen Deutschlands zwischen den beiden Gro߬
mächten wäre, so weit Menschen urteilen können, die fast unvermeidliche Folge
hiervon gewesen. Seine Einmischung machte den schlau ersonnenen Plan schei¬
tern, und um solchen Übergriffen Österreichs für immer vorzubeugen, stiftete
er den Fürstenbund, die letzte große politische Schöpfung seines Lebens.
Die alles erschütternde französische Revolution mit ihrem Gefolge von
furchtbaren Kriegen, welche fast ein Vierteljahrhundert lang ganz Europa
durchtobten, konnte natürlich nicht ohne bedeutende Wirkung auf die Gebiets¬
veränderungen Österreichs bleiben, das bei den meisten dieser Riesenkämpfe mit
in erster Linie stand- Auf Gebietsverluste folgten zunächst Neuerwerbungen;
dann folgten wiederholt schwerere Verluste, bis endlich, nachdem der erste Befrei¬
ungskrieg glücklich durchgekämpft war, der Wiener Kongreß den Neuaufbau des
Kaiserreiches herbeiführte.
Noch im ersten Jahre des Koalitionskrieges fielen die österreichischen Nie¬
derlande den Franzosen zu, hauptsächlich infolge des Sieges, den Dumouriez
bei Jemappes davon trug (den 6. November 1792.) Eine zeitweilige Wieder-
eroberung eines Teiles des Landes infolge der Schlacht bei Neerwinden, in der
der Herzog von Koburg am 18. März des folgenden Jahres über den genannten
französischen General siegte, änderte an dem endgiltigen Geschicke desselben
nichts. Im Frieden zu Camp» Formio (den 17. Oktober 1797) wurden die
belgischen Provinzen von Osterreich abgetreten und der französischen Republik
einverleibt. In eine politische Verbindung mit jenem Staate oder mit Deutsch¬
land traten sie fortan nicht wieder. Damals war Österreich noch mächtig genug,
für diesen Verlust sich bedeutende Entschädigungen zu verschaffen, die ihn über¬
reichlich aufwogen. Diese bestanden in der Stadt Venedig mit ihrem Gebiete
und mit Jstrien und Dalmatien. Für diese Gebiete, die sich so vortrefflich seinem
Stammlanden anschlössen, konnte Österreich wohl auf den Breisgau verzichten,
mit dem der entsetzte Herzog von Moden« für sein in Italien verlorenes Land
schadlos gehalten werden sollte. In den geheimen Artikeln, in denen Frank¬
reich das ganze linke Rheinufer von Basel bis Andernach zugesichert wurde
suchte Österreich sich weitere bedeutende Vorteile durch folgende Abmachung zu
sichern: „Frankreich wird sich dafür verwenden, daß Österreich Salzburg und
den Teil von Baiern zwischen Salzburg, Tirol, Jnn und Salza erhält."
Die Bedingungen dieses Friedens wurden aber nicht sofort alle ausgeführt,
sondern großenteils durch den zweiten Koalitionskrieg in Frage gestellt. Der Friede
zu Lunöville, der ihn beendete, bestätigte allerdings die von und an Österreich
gemachten Entschädigungen; aber die vollständige Ausführung aller der Gebiets¬
verschiebungen, die durch diesen Vertrag herbeigeführt wurden, erfolgte erst
zwei Jahre später, nachdem endlich der Reichsdeputativnshauptschluß zu stände
gekommen war. Frankreich hatte sich seinen Beuteanteil, das linke Rheinufer
von Basel bis Andernach sofort gesichert und damit der politischen Existenz
aller kleinen Reichsstände dort, die bis dahin noch ihr Dasein kümmerlich
gefristet hatten, ein Ende gemacht. Österreich jedoch war bereits zu sehr
geschwächt, als daß es viele Vorteile hätte erlangen können; es ging bei dem
großen Lünderschacher damals ziemlich leer aus. Bairisches Gebiet erhielt es
nicht; Salzburg und Berchtesgaden kamen an den abgesetzten Herzog von
Toskana, der freilich ans einer Nebenlinie des Habsburgischen Hauses stammte.
Diesem neugeschaffenen Kurfürsten von Salzburg gab man außerdem noch den
größern Teil der Stifter Passau und Eichstädt. Nur für den Breisgau, der
jetzt wirklich für kurze Zeit dem Herzog von Modena zufiel, erhielt es ,die
bisherigen Hvchstifter Trient und Brixen, eine Erwerbung, die immerhin nicht
unbedeutend war, da hierdurch die Verbindung mit den italienischen Besitzungen
gekräftigt und befestigt wurde. Dazu erwarb es durch Tausch die freie Reichs¬
stadt Lindau und das Stift darin.
Einen noch ungünstigeren Ausgang für Österreich hatte der dritte Koa¬
litionskrieg; die Gründe, die hieran schuld waren, können jedoch hier nicht
näher erörtert werden. Der Krieg wurde übereilt begonnen und kopflos ge-
führt; übereilt und kopflos wurde auch nach der „Dreikaiserschlacht" vom
2. Dezember 1805 der Friede zu Preßburg abgeschlossen. Er brachte großen
Verlust an Land und Leuten. Die im Frieden von Campo Formio er¬
worbenen und zu Lumzville bestätigten Besitzungen des vormaligen venetia-
nischen Freistaates gingen wieder verloren und kamen an das neugegründete
Königreich Italien. An Vaiern kamen Tirol und Vorarlberg, die frühern Hoch-
ftifter Brixen und Trient, die Markgrafschaft Burgau, die vormalige freie Reichs¬
stadt Lindau am Bodensee; daneben noch die Teile von Eichstädt und Passau,
die der bisherige Kurfürst von Salzburg einige Jahre besessen hatte, der dafür
mit Würzburg entschädigt wurde. Die vorderösterreichischen Lande fielen Württem¬
berg und Baden zu. Die Machtstellung Österreichs war damit im höchsten
Grade erschüttert, jedoch noch nicht so weit geschwächt, daß es ihm nicht ge¬
lungen wäre, sür diese empfindlichen Verluste wenigstens einen geringen Ersatz
zu erhalten: Salzburg mit Berchtesgaden wurde ihm zugesprochen, und es durfte
die Besitzungen des säkularisirten deutschen Ordens zu Gunsten eines Erz¬
herzogs einziehen; das waren die Balleien Osterreich an der Etsch und am
Gebirge, die innerhalb des Gebietes des Kaiserstaates lagen, und das
Meistertum Mergentheim nebst der Battel Franken, deren Gebiete in den ober¬
deutschen und den beiden rheinischen Kreisen zerstreut lagen. Durch diese Ab¬
tretungen hatte Österreich die beherrschende Stellung in Süddeutschland, die ihm
die eigentümliche geographische Verteilung seiner Besitzungen dort gewährte, ver¬
loren. Es war ein weiterer höchst wichtiger Schritt in der Gebietsentwicklung
dieses Staates auf der Bahn geschehen, die sein gänzliches Ausscheiden aus
Deutschland vorbereitete und herbeiführte.
Noch verhängnisvoller waren die Folgen des unglücklichen Krieges von
1809; nach der Mord- und Blutschlacht bei Wagram auf dem Marchfelde
wurde im kaiserlichen Lustschlosse Schönbrunn der Wiener Friede abgeschlossen. Ein
Gebiet von reichlich 2000 Quadratmeilen mit mehr als 3^/, Millionen Einwohnern
ging verloren. Salzburg, Berchtesgaden, das Innviertel, das halbe Hunsrück»
viertel kamen an Baiern, Westgalizien an das Großherzogtum Warschau, ein
Teil von Ostgalizien an Rußland, die Länder jenseits der save, der Villacher
Kreis, Dalmatien, Jstrien, Ragusa an Napoleon selbst, der aus diesen Landen
und den ionischen Inseln den wunderlichen Staat der illyrischen Provinzen
bildete, zu dessen Gouverneur er Marmont, den „Herzog von Ragusa," machte.
Daß Österreich jetzt nur noch ein Staat zweiten Ranges war, geht deutlich
daraus hervor, daß es sich gänzlich der napoleonischen Politik anschloß, dem
Continentalsysteme beitrat und allen Verkehr mit England abbrach. So
lange der Stern des Imperators hell strahlte, wagte es nichts gegen den Ge¬
waltigen zu unternehmen und fügte sich ohne Widerstreben allen seinen Forde¬
rungen; nicht einmal die Hand einer Erzherzogin, einer „Tochter der Cäsaren,"
wurde dem gekrönten Emporkömmling verweigert.
An dem Befreiungskriege des Jahres 1813 nahm Österreich zunächst keinen
Anteil. Als es endlich gegen Ende des Waffenstillstandes offen auf die Seite
der Verbündeten trat und dem Franzosenkaiser, der ja der Schwiegersohn des
Kaisers Franz war, den Krieg erklärte, blieb seine Politik fortwährend in der
Schwebe, unsicher und unentschlossen. Eine natürliche Folge dieser Politik war
es, daß seine Kriegführung außerordentlich matt und kraftlos war, und daß die
Kriegführung Preußens und Rußlands derartig gelähmt wurde, daß mehrfach
der ganze Erfolg des ungeheuer opfervoller Kampfes in höchstem Grade ge¬
fährdet wurde. Zum Beweise dafür sei nur auf eine Thatsache hingewiesen.
Hätten nach der Schlacht bei Leipzig die gesamten Streitkräfte der Verbündeten
sofort und ohne Zaudern den Rhein überschritten, wären sie entschlossen in
raschem Vormarsche auf Paris losgegangen, so wäre, so weit Menschen urteilen
können, ohne nennenswerten Kampf, jedenfalls ohne große Schlachten, wozu
Napoleon damals einfach keine Soldaten hatte, das erhabene Werk, das schon
so viel Blut gekostet hatte, rasch zu einem ruhmreichen Ende geführt worden.
Österreichs abscheuliche Zauderpolitik, die die geradezu lächerliche Erklärung der
Verbündeten zu Frankfurt vom 1. Dezember 1813 und die darauf folgenden
nutzlose» Verhandlungen herbeiführte, verschaffte dein großen Schlachtenmeister
fast drei Monate Zeit, die er mit gewohnter Umsicht und Thatkraft zu so ge¬
waltigen Rüstungen benutzte, wie es bei dem geschwächten Zustande Frankreichs
nur möglich war. Ebenso wie diese nicht scharf genug zu verdammende hinter¬
haltige Staatskunst deu Winterfeldzug von 1814 in Frankreich notwendig machte,
ebenso verschuldete die durch sie verursachte schwächliche Kriegführung der „Großen
Armee" unter Schwarzenberg die Verlängerung des Krieges, welche durch ge¬
meinsames und entschlossenes Vorgehen sicherlich vermieden worden wäre.
Da die militärischen Leistungen Österreichs in jenem ewig denkwürdigen Kriege
verhältnismäßig so unbedeutend waren, ja verglichen mit den heldenmütigen An¬
strengungen des kleinen und ausgesogenen preußischen Staates, der, obwohl an
Gebiet und Einwohnerzahl kaum ein Viertel so groß wie der Kaiserstaat, that¬
sächlich im Verlaufe des heiligen Kampfes mehr Streiter stellte als dieser,
geradezu geringfügig erscheinen müssen, hätte mau denken sollen, daß die poli¬
tischen Vorteile, besonders die Erwerbungen von Land und Leuten, die die
Regierung des Kaisers für ihren Staat beanspruchte und erlangte, jenen
Leistungen hätten entsprechen müssen. Aber gerade das Gegenteil war der
Fall. Während Preußen in allen seinen berechtigten und wohlbegründeten For¬
derungen nicht bloß auf Widerstreben, sondern teilweise auf den hartnäckigsten
Widerstand stieß, gelang es der listigen und ränkevollen Politik des schlauen —
die Bezeichnung „großen" wäre sicherlich höchst unzutreffend — Staatsmannes,
der die Geschichte des Kaiserstaates an der Donau lenkte, alle Ansprüche, die
er für Österreich machte, fast mit spielender Leichtigkeit durchzusetzen. Kaiser
Franz ließ sich seine Gastfreiheit auf dem Wiener Kongreß zwar ein großes Stück
Geld kosten; aber bei der gänzlich zerrütteten Finanzlage Österreichs, die ja
altüberliefert und althergebracht ist, kam es auf einige Millionen Schulden mehr
gar nicht an, und die herrlichen Zauberfeste, die den fremden Fürsten und ihren
Staatsmännern und Feldherren gegeben wurden, brachten politisch den größten
Nutzen. Bei schwelgerischen Mahlen, im hellerleuchteten Ballsaale sicherte sich
Metternich den Erfolg seiner listig eingefädelten Pläne, der dann später am
grünen Tische mühelos eingeheimst wurde. Durch seine hervorragende gesell¬
schaftliche Gewandtheit trug er wesentlich dazu bei, die Leitung aller wichtigen
Angelegenheiten in seine Hände zu bringen. Osterreich war unbedingt die ton¬
angebende und führende Macht geworden, und es behielt diese Stellung, bis
Kaiser Nikolaus vou Rußland durch seine unbeugsame und unbändige Willens¬
und Thatkraft sich zum Schiedsrichter im europäischen Areopag machte. In
den deutscheu Angelegenheiten spielte der Kaiserstaat diese Rolle so lange weiter,
bis endlich unter den Donnern des Nevolutionsjcchres 1848 die Metternichsche
Wirtschaft ein Ende mit Schrecken fand, derart, daß nicht bloß dieses ver¬
ruchte System völlig „verkracht" war, sondern daß auch der ganze Staat aus
einander fliegen zu sollen schien.
Diese vorteilhafte Stellung auf dem Wiener Kongreß, die wir eben kurz
gekennzeichnet haben, hätte Österreich unzweifelhaft in den Stand gesetzt, alle
seine frühern Besitzungen, die in den Stürmen der Zeit abgerissen waren,
wieder zu gewinnen, wenn es nur gewollt hätte. Zunächst konnte es unzweifelhaft
Lothringen, das Stammland seiner Dynastie, und seine alten Gebiete im Elsaß
wieder erhalten und damit zugleich das, was man jetzt das Reichsland nennt,
damals schon für Deutschland und das Deutschtum retten. Um dieses Ziel zu
erreichen, bedürfte es allerdings einer aufrichtigen und rückhaltlosen Verstän¬
digung mit Preußen; man mußte, kurz gesagt, diesem Staate gegenüber ein
ehrliches Spiel spielen. Nußland hätte sicher gegen diese Schwächung Frank¬
reichs nichts einzuwenden gehabt; England stand den meisten derartigen fest¬
ländischen Fragen kühl und gleichgiltig gegenüber, und das besiegte Frankreich
konnte dieser nur allzu berechtigten Forderung der deutschen Mächte gar keinen
Widerstand entgegensetzen, wenn sie nur durch ein kräftiges Vorgehen, durch
eine feste und entschiedene Haltung unterstützt wurde. Aber von einer redlichen
Aussöhnung mit Preußen wollte man in Wien nichts wissen; das Empor¬
kommen dieses deutschen Kernstcmtcs und damit die Kräftigung des deutschen
Gedankens sollten um jeden Preis zurückgehalten werden. Und da man sich
hierzu in der Hofburg allein nicht stark genug fühlte, so bedürfte man der
Hilfe des alten Erbfeindes, Frankreichs. Die Freundschaft mit diesem eben erst
wieder hergestellten Staate, die Freundschaft der beiden würdigen Gesinnungs¬
genossen, des Herrn von Metternich und des Herrn von Talleyrand, wäre
unwiderruflich in die Brüche gegangen, wenn man auf der Herausgabe jener
Lande fest bestanden hätte, die einst dem alten Reiche in den Zeiten seiner
Schwäche und seiner Schmach entrissen worden waren. Und außer dem
unversöhnlichen Hasse Frankreichs, den man sich sicher zugezogen hätte, hätte
man die höchst lästige und drückende Grcnzhut gegen den ewig unruhigen
Nachbar im Westen auf sich nehmen müssen. Davon aber wollte man in der
Hofburg erst recht nichts wissen. Jene Grenzhut, wie man später sagte, die
„Wacht am Rhein," wollte man gern Preußen überlassen; dazu wares gut genug
mit seinem scharfen Schwerte, wenn auch der damals schwache Staat stöhnte
unter der schweren Rüstung, die ihm diese heilige Pflicht gegen Deutschland
aufzwang. Wenn es dazu noch gelang, ihm eine möglichst schwache militärische
Stellung am Rheine zu geben, ihm z. B., von Metz und Straßburg zu schwei¬
gen, sogar den festen Waffenplatz Mainz vorzuenthalten, so feierte die Metter-
nichsche Staatskunst ihren höchsten Triumph. Die österreichische Selbstsuchts"
politik hatte den Verlust von Elsaß und Lothringen verschuldet; diese selbige
Politik verhinderte ihre Zurücknahme nach den Befreiungskriegen, und der
beständige Hintergedanke dieser Politik war das unausrottbare Mißtrauen und
der Haß gegen Preußen, die Eifersucht auf den jugendkräftigen Nebenbuhler.
Erwägungen ganz ähnlicher Art waren es, welche die k. k. Regierung und
ihren Leiter Metternich veranlaßten, kein Gewicht auf die Wiedererlangung
der meisten vorderösterreichischen Lande zu legen. Das wichtigste Gebiet, um
dessen Besitz es sich hätte handeln können, war der Breisgau mit der Ortenau,
dessen Bewohner gern unter die altgewohnte kaiserliche Herrschaft zurückgekehrt
wären und bis auf den heutigen Tag noch meistens die lebhaftesten Sym¬
pathien sür Österreich bewahrt haben. Aber dieser Besitz lag wieder in der
unmittelbaren Nachbarschaft Frankreichs, und von der Grenzhut dieser Macht
gegenüber wollte Kaiser Franz und wollten seine Minister durchaus nichts
wissen. Eine Zurückforderung der vorderösterreichischen Lande, die nur auf
Kosten der süddeutschen Nheinbundsstaaten hätte erfüllt werden können, welche
man sich eben durch die Zusicherung der Souveränität und ihres Gebietes zu
Freunden gemacht hatte, hätte dieser Freundschaft einen unheilbaren Stoß
gegeben. Das mußte vermieden werden; denn diese vormaligen Rhcinbunds-
fürsten hatte man nötig, um sich durch sie eine Mehrheit am Bundestage zu
sichern und sich also ein Übergewicht über Preußen zu verschaffen und die Lei¬
tung des deutschen Bundes stets in Händen zu behalten. Das waren Gründe,
gewichtig genug, um von der Wiedergewinnung jener zersplitterten Gebietsteile
abzusehen.
Drei Gesichtspunkte waren bei dem Wiederaufbau des österreichischen
Staatsgebietes maß- und ausschlaggebend. Erstens wollte Österreich um jeden
Preis die oberste Leitung der deutschen Angelegenheiten für sich selbst behalten,
auf die es im Rückblicke auf die lange Reihe der Kaiser aus den Geschlechtern
Habsburg und Lothringen ein unbestreitbares, überliefertes Recht zu haben
glaubte. Dazu stützte es sich auf die mittel- und kleinstaatlichen Dynastien und
sicherte geographisch seine Stellung durch den weiten Halbkreis, in welchem das
kaiserliche Gebiet von dem nördlichen Böhmen an bis nach Bregenz am Bodensee
und bis an den Oberlauf des Rheines hin fast ganz Mittel- und Süddeutsch¬
land gleichsam umklammerte. Dieses Gebiet mußte fest zusammenhängen und
durfte keine Lücke darbieten. Dazu mußte Baiern wieder herausgeben: Vorarl¬
berg, Tirol, die ehemaligen Hochstifter Brixen und Trient, das frühere Erz¬
bistum und spätere Kurfürstentum Salzburg, das Hunsrückviertel und das Inn-
viertel. Zweitens wollte Osterreich das Übergewicht in Italien behaupten.
Das sicherte ihm die Erwerbung des lombardisch-venetianischen Königreichs mit
seinem fruchtbaren Boden, seinen volkreichen Städten und seinen mächtigen
Festungen. Drittens wollte Österreich eine ausschlaggebende Stellung im Orient
einnehmen. Diese sicherte ihm die Zurückerwerbung seiner früheren polnischen
Besitzungen und namentlich der Besitz des Königreiches Ungarn und der übrigen
mit der Stephanskrone verbundenen Provinzen, namentlich die neugeschaffenen
Königreiche Jllyrien und Dalmatien.
Der eigentümliche Prozeß in der Gebietsentwickelung des österreichischen
Kaiserstaates, daß dieser nämlich allmählich geographisch immer mehr aus
Deutschland „hinauswuchs," hatte damit seinen Abschluß gefunden. Österreich
lag, genau genommen, eigentlich nicht mehr in Deutschland, sondern grenzte
nur noch mit einigen seiner Provinzen, die übrigens durchaus nicht eine rein¬
deutsche Bevölkerung haben, an Deutschland. Das feste Band eines gemein¬
samen Geistes- und Kulturlebens, das alle übrigen Teile des politisch noch zer¬
rissenen Vaterlandes umfaßte, hatte sich immer mehr gelockert und gelöst.
Völlig hinausgedrängt worden aus Deutschland ist allerdings Österreich durch
die nationale Politik Bismarcks und die guten, blanken Waffen Preußens; aber
die habsburgisch-lothringische Hauspolitik mehrerer Jahrhunderte, namentlich
die ränkevolle Staatskunst Metternichs auf dem Wiener Kongresse haben dieses
Ausscheiden ermöglicht, vorbereitet und geradezu zu einer geschichtlichen Not¬
wendigkeit gemacht.
Da die ferneren Gebietsveränderungen, die der uns jetzt verbündete Donau¬
staat hat durchmachen müssen, sein Verhältnis zu Deutschland nur wenig
berühren, so brauchen sie nur ganz kurz erwähnt zu werden. Die dem Sturm¬
jahre 1848 vorausgehenden revolutionären Zuckungen warfen den künstlich
gebildeten Freistaat Krakau in seinen Schoß (1846). Bei dem großen Länder¬
und Völkerschacher in Wien hatte man sich über diese Stadt und ihr Gebiet
nicht einigen können. Der unbesonnen angefangene, kopflos geführte und dann
ebenso unüberlegt geendigte Krieg von 1859 führte den Verlust fast der ganzen
Lombardei hei bei. Preußen verlangte trotz seiner unerhört glänzenden Erfolge
im Jahre 1866 keinerlei Gebietsabtretung von Österreich; aber nur den Siegen
Preußens im fernen Böhmen hatte das neu entstandene Königreich Italien den
Gewinn des Nestes der Lombardei und Venetiens zu verdanken. Das drückende
Übergewicht, das Osterreich in Deutschland und in Italien, nicht einmal
zum eignen Heile, jedenfalls aber zum Unheile dieser beiden Länder so lange
behauptet hatte, war endlich abgeschüttelt. Alle seine Anstrengungen hatten
schließlich nicht die auf nationalen Grundlagen sich vollziehende Einigung beider
Reiche verhindern können, und seine beherrschende Stellung in ihnen war
unwiederbringlich verloren gegangen. Auf dem Kongreß zu Berlin, 1878,
der die Abmachungen des Friedens von San Stefano einigermaßen berichtigen
sollte, zeigte sich Bismarck als „ehrlicher Makler"; das verschaffte Österreich
den Besitz von Bosnien und der Herzegowina, eines weite» Gebietes auf der
Balkanhalbinsel mit mehr als 1,300,000 Einwohner». Der Schwerpunkt des
Staates, den unser Reichskanzler schon vor dem Kriege von 1866 nach Ofen
verlegt sehen wollte, wurde dadurch noch mehr nach dem Oriente verschoben.
Dort liegen seine wesentlichen Interessen; dort hat es gewaltige Aufgaben zu
lösen, dort eine zwar schwere, aber auch segensreiche Sendung zu erfüllen,
nämlich die Verbreitung und Befestigung europäischer Bildung und Ge¬
sittung.
Die beiden auf Nationalität begründeten Reiche, die auf Kosten der
politischen Stellung, teilweise auch des Gebietes von Osterreich sich gebildet
haben, Deutschland und Italien, sind jetzt die besten und treuesten Bundes¬
genossen des Kaiserstaates. Der schwarze Adler Preußens und das Weiße Kreuz
von Savoyen, die so oft im düstern Pulverdampfe den Kriegern voranflatterten, die
im blutigen Kampfe denen, die unter dem Doppclaar fochten, gegenüberstanden,
können jetzt ruhig und friedlich mit diesem vereint flattern. Die drei Mächte,
deren Sinnbilder diese Bannerzeichen sind, bilden den Friedensbund und Frie¬
denshort von Mitteleuropa; an diesem festen Felsen werden hoffentlich noch
manchmal die wilden, kriegerischen Leidenschaften heimtückischer Feinde machtlos
zerschellen.
Aber wird dieses Verhältnis von Dauer sein? So weit Menschen die Zu¬
kunft ermessen und beurteilen können, darf man diese Frage unbedingt und
freudig mit Ja beantworten. Auch wenn neue Männer mit neuen Gedanken
die Leitung der Staaten übernehmen, an diesem Friedensbunde werden sie
schwerlich etwas ändern. Denn er beruht auf der Gemeinschaft der wichtigsten
Lebensinteressen der drei Länder. Gebrochen und zerrissen könnte er nur werden
in folgenden drei Fällen: 1. wenn Österreich den Versuch machen sollte, sein
Verlornes Übergewicht in Deutschland und Italien wieder zu erobern, 2. wenn
Italien ernstlich daran denken sollte, die österreichischen Besitzungen in Süd¬
tirol oder am adriatischen Meere an sich zu reißen, 3. wenn das deutsche Reich
darauf ausgehen sollte, die österreich-ungarische Monarchie zu zertrümmern, um
die sogenannte» deutschen Provinzen derselben sich selbst einzuverleiben. Daß
es unbelehrbare und unverbesserliche, verbissene Parteifanatiker giebt, und zwar
nicht nur innerhalb der schwarz-gelben Grenzpfähle, sondern auch im deutschen
Reiche, die von einer Wiedergewinnung des alten habsburgischen Einflusses
mindestens in Deutschland träumen, soll nicht in Abrede gestellt werden. Daß
aber ein ernsthafter österreichischer Staatsmann jemals solchen Hirngespinsten
nachjagen sollte, ist nicht wohl denkbar. Es bleiben tot die Toten. Zudem wird
jeder einsichtige österreichische Militär sich gar nicht der Einsicht verschließen
können, daß sein Staat einen Krieg gegen das deutsche Reich mit einiger Aus¬
sicht auf Erfolg überhaupt nicht führen kann. Denn schon in frühern Kriegen
hat Österreich den preußischen Herren, die von Schlesien, der Lausitz und Sachsen
her eindrangen, fast niemals dauernden Widerstand leisten können. Wenn aber
jetzt nicht bloß auf den Straßen, auf denen Friedrich der Große und Wilhelm
der Siegreiche ihre Heeressäulen in Feindesland hineinführten, deutsche Krieger
heranrückten, sondern wenn dazu auch noch eine starke Streitmacht von Passau
aus längs des Donaustromes geradeswegs auf Linz und Wien vorginge, so
ist fast mit Sicherheit vorauszusagen, daß diesen konzentrischen Stößen der
Kaiserstaat noch rascher erliegen würde, als es in der großen preußischen Woche
des Jahres 1866 der Fall war. Auch ein Bündnis mit Frankreich, das ein¬
zige, das in Frage kommen könnte, würde hieran wenig ändern; jeder, der die
heutige politische Lage auch nur einigermaßen kennt, weiß, welchen Preis wir
Rußland zu bieten brauchen, um sofort seines Bündnisses sicher zu sein; und
dieser Preis würde uns schließlich eigentlich nichts kosten.
Bedenklicher dürfte schon der zweite Fall sein. Vor einigen Jahren noch
schien es so, als ob die lärmende Partei der Jrredcntisten*) ernste MißHellig¬
keiten zwischen Italien und Österreich hervorrufen würde. Doch dieser Lärm,
den die italienische Regierung übrigens stets mißbilligt hat, ist längst verstummt,
und es ist kaum anzunehmen, daß jemals maßgebende Kreise solche Abenteurer¬
politik unterstützen werden.
Was den dritten Fall anbetrifft, so soll zwar nicht geleugnet wer¬
den, daß alle Feinde des deutschen Reiches seit dem Bestehen desselben es
als ihre Lieblingsaufgabe angesehen haben, das Mißtrauen in den leitenden
Kreisen der österreich>ungarischen Monarchie durch die verdächtigende Einflüste¬
rung hervorzurufen und wach zu halten, daß es, trotz aller Versicherungen des
Gegenteils, der Hintergedanke der Bismarckschen Politik sei, die Provinzen Öster¬
reichs, die ehemals zu Deutschland gehört haben, abzureißen und mit dem deut¬
schen Reiche zu vereinigen. Nach dem bekannten Sprichworte: Viel Feind,
viel Ehr! hat das deutsche Reich viele Feinde; sie wohnen an der Seine, an
der Newa, an der Moskwa, am Sunde, an der schönen, blauen Donau und
leider noch an vielen andern Flüssen. Sie sind nnablüssig thätig und
suchen überall den Samen des Hasses, der Zwietracht und des Mißtrauens
auszustreuen, namentlich aber das deutsch-österreichische Bündnis zu sprengen.
Ob sie mit diesen Versetzungen jemals Erfolg haben werden? So lange ge¬
sunde Vernunft und besonnene Erwägungen, nicht aber blinde Leidenschaften
in beiden Reichen herrschen: niemals! Denn jene Verdächtigungen sind völlig
aus der Luft gegriffen, und solche Bestrebungen würden einer zielbewußter deut¬
schen Nationalpolitik geradezu widersprechen. Die Provinzen, die als deutsche in
Frage kämen, wären etwa Österreich mit Salzburg, Tirol zu etwa zwei Dritteln
und Steiermark zu etwas weniger als zwei Dritteln. In allen übrigen Landes¬
teilen sind die Deutschen in der Minderheit. Wenn man nun wirklich glauben
könnte, daß die nationale Zusammengehörigkeit stark genug wäre, die Bevöl¬
kerung dieser Gebiete fest mit dem deutschen Reiche zu verknüpfen, trotz aller
Hindernisse, die z. B. Religion und eine Geschichte von Jahrhunderten dar¬
bieten würden, was sollten wir denn mit ihnen? Sie wären für uns eine Last,
ein ganz unhaltbarer Besitz, wenn wir nicht Böhmen und Mähren dazu näh¬
men. Diese Lande würden sich sonst wie ein spaltender Keil in den Reichskörper
hineinschieben; das zeigt ein oberflächlicher Blick auf die Karte. Der Besitz von
Böhmen mit seinen Nebenländern brächte uns aber an die sechs Millionen
Tschechen als Rcichsbürger, und dafür bedanken wir uns einfach. Wir haben an
unsern Polen, Dänen und Franzosen, von andern Neichsfeinden zu schweigen,
gerade genug. Die Bundesgenossenschaft mit Osterreich ist uns begehrenswert
und kostbar, aber von einem unlösbaren Staatsverbande mit jenem Nationa¬
litätengemisch will sicher kein reichstreuer Deutscher etwas wissen, der Kaiser
und sein eiserner Kanzler am wenigsten.
Die Politik, welche Bismarck unter Wilhelm dem Siegreichen eingeleitet
hat, wurde unwandelbar weiter geführt in der kurzen Zeit, in welcher der er¬
habene Dulder Friedrich die Krone trug, und daß die Thronbesteigung unsers
jugendlichen Herrschers Wilhelm II. nichts daran geändert hat, das verbürgt,
abgesehen von allem übrigen, das gewaltige Kaiserwort, das er in seiner ersten
Thronrede an den Reichstag gesprochen. Und zur Aufrechterhaltung dieser Po¬
litik steht hinter dem Kaiser und seiner Negierung sein ganzes treues und starkes
Volk, festentschlossen wie ein Mann. Kaiser Wilhelm II. bietet seinen Bundes¬
genossen Treue um Treue und wird sie halten; mögen jene ihm Treue um Treue
erwiedern. Sollte dann heimtückischer Überfall auf sie oder auf uns das Schwert
uns in die Hand zwingen, dann wird Deutschlands Volk sich schaaren um seinen
Fürsten, wie es sich geschciart hat um seine Väter, wenn der Heerbann erging.
Die Jungen werden sich der Alten wert zeigen. Denn deutsches Herz, deutsche
Faust, deutscher Stahl haben stets brav geschlagen.*)
eins eine Reise! Nach dreißig Jahren noch fühle ich, wenn ich
daran denke, meine Beine in einem Eisblöcke und werde von Magen-
krämpfen ergriffen. Zwei Tage in dritter Wagenklasse in einem
dünnen Sommeranzuge und bei scharfer Kälte! Ich war sechzehn
Jahre alt, kam weither, vom hintersten Ende des Languedoc, wo
ich letzter Unterlehrer war, um mich der Litteratur zu widmen. Mein bezahlter
Platz hatte mir gerade vierzig Sous in der Tasche gelassen, doch warum
sollte ich mich darüber beunruhigen? War ich doch so reich an Hoffnungen!
Ich vergaß, daß ich Hunger hatte, trotz der Verlockungen von Backwerk und
belegten Butterbroten, die auf den Büffels der Bahnhöfe zur Schau gestellt
waren; ich wollte meine blanke sorgsam in einer meiner Taschen versteckte Münze
nicht fahren lassen. Gegen das Ende der Reise freilich, als unser Zug keuchend
und uns von einer Seite auf die andre schleudernd uns über die traurigen
Ebenen der Champagne dahinriß, war ich nahe daran, ernstlich krank zu werden.
Meine Reisegefährten, Matrosen, die sich die Zeit mit Singen Vertrieben,
reichten mir ein rundbauchige Flasche. Wackere Leute! Wie schön waren ihre
rauhen Lieder, wie gut ihr heißer Branntwein für einen, der zweimal vier¬
undzwanzig Stunden lang nichts gegessen hatte.
Dies rettete und belebte mich neu, die Übermüdung wiegte mich in
Schlummer, ich schlief mit zeitweiligen Erwachen beim Halten des Zuges und
Rückfällen in die Schlafsucht, sobald der Zug wieder in Gang war.
Ein Lärm von Rädern, der über eiserne Platten dröhnt, eine riesige Wöl¬
bung von Glas, erfüllt von Licht, Thüren, welche schlagen, Gepäckwagen, welche
rollen, eine ungeduldige, geschäftige Menge, Beamte der Douane — Paris.
Mein Bruder erwartete mich auf dem Perron. Ein praktischer Bursche,
wie er trotz seiner Jugend war, erfüllt vom Gefühl seiner Pflichten als der
ältere, hatte er sich mit einem Handkarren und einem Dienstmanne versorgt.
Wir wollen gleich dein Gepäck aufladen!
Es war nett, dies Gepäck. Ein kleines armseliges Kofferchen, verziert mit
Nägeln und Ausbesserungen und mehr als sein Inhalt wiegend. Wir setzten
uns längs der verlassenen Quais hin nach dem Huartisr latin in Bewegung
und marschierten durch schlafende Straßen hinter unserm Karren, den der Dienst-
manu schob. Es war kaum Tag, wir begegnete,, nur Arbeitern, vom Frost
blau angelaufenen Gestalten oder Zeitungsträgern, die geschäftig die Morgen¬
blätter unter die Thüren der Häuser schoben. Die Gaslaternen verloschen,
die Straßen, die Seine, die Brücken erschienen mir mitten im Morgennebel finster.
An meinen Bruder geschmiegt, das Herz beengt, von einem unwillkürlichen
Schrecken ergriffen, während wir immerzu dem Karren folgten — das war
mein Einzug in Paris.
Wenn dus nicht sehr eilig hast, unsre Wohnung zu sehen, gehen wir vor
allem frühstücken, sagte Ernst.
Ach ja — wir wollen essen!
Buchstäblich starb ich vor Hunger.
O weh, die kleine Kaffeewirtschaft, eine Wirtschaft der Rue Corneille, war
noch nicht geöffnet, wir mußten längere Zeit warten und spazierten, um uns
zu erwärmen, in der Umgebung immer um das Odeon herum, das mir mit
seinem mächtigen Dache, seinem Portikus und seinem tempelartigen Aussehen
gewaltig imponirte.
Endlich öffneten sich die Läden, ein noch halb schlafender Kellner ließ
uns eintreten, während er mit Geräusch seine weiten Pantoffeln schleppte und
wie die Stallknechte brummte, die man auf den Poststationen zum Anschirren
der Pferde aufweckt. Dies Frühstück im Morgengrauen wird nie aus meiner
Erinnerung entschwinden, ich brauche nur die Augen zu schließen, um den kleinen
Saal mit seinen nackten und weißen Mauern und den Kleiderrechen ans dem
Kalkbewurf wiederzusehen, das Kondor mit zusammengerollten Servietten be¬
deckt, die Marmortische ohne Decken, aber von Sauberkeit strahlend. Gläser,
Salzfässer und zahlreiche kleine Karaffen, mit einem Wein, der keine Ver¬
wandtschaft mit Traubensaft hatte, mir aber gut schien, standen schon in Be¬
reitschaft.
Kaffee für drei! befahl der Kellner nach eigner Eingebung, sobald er
unser ansichtig wurde. Und da zu dieser Stunde niemand anders als er im
Saal und in der Küche war, antwortete er sich selbst: Buen! und brachte uns
„Kaffee für drei," das heißt für drei Sous einen wohlschmeckenden, duftigen,
verständig gesüßten Kaffee, der ebenso schnell als die beiden Brötchen verschwand,
die in einem geflochtenen Körbchen aufgetragen wurden.
Wir bestellten dann eine Omelette, weil es für ein Kotelette in der That
noch zu früh war.
Eine Omelette für zwei — bunt brüllte der Kellner.
Scharf gebacken! rief mein Bruder.
Ich beugte mich gerührt vor der Haltung und den großen Manieren dieses
Sybariten von Bruder, und beim Dessert — Auge in Auge, die Ellbogen auf
dem Tische — welche eine Fülle von Geständnissen und Plänen tauschten wir
vor einer Schüssel voll Rosinen und Haselnüssen aus! Der satte Mensch ist
ein besserer Mensch. Hinweg mit Trübsinn und Unruhe — dies einfache Früh¬
stück hatte mich wie Champagner berauscht.
Wir gingen Arm in Arm weiter und sprachen sehr laut. Eben ward es
voller Tag; Paris lächelte mich aus allen geöffneten Läden an, selbst das
Odeon setzte, um mich zu begrüßen, eine freundliche Miene auf, und die weißen
Marmorstatuen im Luxemburggarten, die ich durch das Gitter betrachtete, schienen
anmutig den Kopf zu neigen und mich willkommen zu heißen.
Mein Bruder war reich. Er bekleidete das Amt eines Sekretärs bei einem
alten Herrn, der ihm feine Erinnerungen diktirte und erhielt dafür monatlich
75 Franken. Mit diesen 76 Franken mußten wir in Erwartung künftigen Ruhmes
leben, mußten das kleine Zimmer im fünften Stock des Senatshotels in der Rue
Tournon teilen, das nicht viel mehr als eine Bodenkammer war, mir aber vor¬
trefflich erschien. War es doch eine Pariser Bodenkammer. Die Worte „HStel
des Senats" in großen Buchstaben im Schilde des Hauses prangen zu sehen,
schmeichelte meiner Eigenliebe und machte mich schwindeln. Angesichts des
Hotels auf der andern Seite der Straße stand ein Haus aus dem vorigen
Jahrhundert, das auf seinem Giebel zwei liegende Figuren trug, welche be¬
ständig Miene machten von der Höhe der Mauer auf die Straße hinabzufallen.
Dort wohnt Ricord, sagte mein Bruder, der berühmte Ricord, der Arzt
des Kaisers. Das HStel des Senats — der Arzt des Kaisers — diese
Worte kitzelten meine Eitelkeit und beglückten mich! O diese ersten Eindrücke
von Paris! —
Mit der vorstehenden, höchst lebendigen und charakteristischen Schilderung
seiner ersten Ankunft in der französischen Hauptstadt eröffnet ein bedeutender und
vielgefeierter Schriftsteller, Alphonse Daudet, seine Dreißig Jahre in Paris,*)
einen Band, der, mit hübschen kleinen Illustrationen von Vieler, Montsgut,
Mhrbach, Picard und Rossi verziert, wohl der Vorläufer einiger ähnlichen
Bücher ist, da ihm bereits neue „Erinnerungen eines Schriftstellers" aus der¬
selben Feder gefolgt sind. Die wunderliche französische Mode, nach der neuer¬
dings jedes Buch, das gehen soll, in einem Bande zusammengedrängt sein muß,
zwingt zu ebenso wunderlichen Auswegen. In den vorliegenden „Dreißig Jahren"
wechseln Genrebilder wie „Die Ankunft," „Der erste Frack," „Mein Trommel¬
schläger," „Das erste Stück," „Die Sperlingsinsel," Charakteristiken hervor¬
ragender, Daudets Entwicklung beeinflußender Persönlichkeiten wie Villemessant,
Henri Nochefort, Henri Monnier, Turgeniew (den Daudet Tourgusneff schreibt)
und endlich einige Kapitel „Geschichte meiner Bücher" mit einander ab, und da von
diesen Büchern nur „Der kleine Dingsda," „Tartarin von Tarascon," „Jack" und
„Fromont^jren. und Rister hör." besprochen werden, geht allein hieraus hervor,
daß wir einige Fortsetzungen der ^hiermit begonnenen Erinnerungen zu erwarten
haben. Wie dem immer sei, s.hon die vorliegenden „Dreißig Jahre" ge¬
nügen, um die Art und Weise des Schriftstellers wiederzuerkennen und an
einer seiner Leistungen wieder einmal vollere Teilnahme zu gewinnen als an
„Sappho" und dem „Unsterblichen."
Gleich die eben mitgeteilte Einleitung legt freilich eine ernste Betrachtung
nahe. Die Schilderung des ärmlichen Einzuges Daudets in Paris erinnert
lebhaft an die verwandten Schilderungen I. I. Rousseaus, Alexander Dumas
des Älteren und manches andern, die gleich Daudet, arm an Beutel und reich an
Hoffnungen, das Pflaster der Weltstadt an der Seine zuerst betraten. Für den
Schriftsteller wie für seine Leser liegt ein unsäglicher Reiz in den Schilde¬
rungen so dürftiger Anfänge, die von einem glücklich erreichten Ziele aus ent¬
worfen werden. Denn die Tausende, welche ähnlich arm und hoffnungsreich
anfangen, aber vor einem rühmlichen oder auch nur leidlichen Ziel in den
Wirbeln der Großstadt untergehen, hinterlassen keine ^dauernden Erinnerungen,
die Selbstbiographie eines völlig gescheiterten wird kaum geschrieben werden,
und insofern mischt sich in den Eindruck, den Bücher, wie die „Dreißig Jahre"
Daudets hinterlassen, immer ein Element der Täuschung. Indem man sich des
Talentes freut, das sich mannhaft aus Dunkelheit und Dürftigkeit zu Ehren
emporgekämpft hat, vergißt man leicht, welchen Anteil auch das Glück hieran
cehabt hat. Daudet vergißt es in seinen Aufzeichnungen nicht ganz, die blinde
Göttin zu preise», aber natürlich legt er ihrem Walten minderes Gewicht bei
als seinem eignen Streben, seinem Genie und vielleicht ein wenig seiner Liebens¬
würdigkeit und Weltklugheit. Denn den Erinnerungen Dandets fehlt nicht
jener Anhauch von Eitelkeit, der fast allen Franzosen in gleicher Lebenslage
und Berufsrichtung eigentümlich ist. Man kann nicht sagen, daß er bei unserm
Schrissteller besonders stark sei, und obschon Daudet ein Südfranzose ist, hat
er sich doch oft zu über die Ruhmredigkeit Tcirtarins von Tarascon und
Nouma Noumestans lustig gemacht, um in ihren Ton zu fallen. Alexander
Dumas' Memoiren schlagen z. B. den gascognischen Ton viel enschiedener an
als die Aufzeichnungen Daudets, obschon Daudet der Gascogner und Dumas
der Nordfranzose ist.
Daudet kam im Jahre 1867 nach Paris, in der Glanzzeit des zweiten
Kaiserreichs, dessen leitenden und maßgebenden Persönlichkeiten er als Sekretär
des Herzogs von Morny nahe rückte. Er sah sich bald nach der Veröffent¬
lichung seiner Jugendgedichte und des Erstlingsromans „Der kleine Dingsda"
in den Kreis jener begünstigten Schriftsteller versetzt, von denen Gesellschaft,
Presse und Buchhandel von Paris ein günstiges Vorurteil hegen, bei denen
sie die Möglichkeit eines künftigen großen Erfolges voraussetzen. Und hier
läßt sich nicht verschweigen, daß der junge französische Schriftsteller, obgleich
sich auch in Frankreich die Litteraturzustände seit den dreißiger und vierziger
Jahren wesentlich verschlechtert haben, vor dem deutschen etwas voraus hat.
Die Begriffe über Geist, Talent, Phantasie und Gestaltungskraft sind in Paris
natürlich genau so verschieden und schwankend wie in Berlin oder München.
Aber eins steht fest: der Begriff des Stils, der Respekt vor der Beherrschung
der Sprache, ein sicheres Gefühl dafür, ob litterarische Erstlingsversuche aus
ernster litterarischer Arbeit hervorgegangen oder klägliche Pfuscherei sind. Und
die verhältnismäßige Allgemeinheit dieser Art von Erkenntnis und dieser Art
von Urteil kommt den wirklichen Talenten mehr oder minder zu Hilfe. Auch
Daudet hat dies erfahren, und gerade seine frühesten Werke, die bis zu den
Romanen „Fromont und Rister" und „Jack" wenig oder nichts mit der modischen
Ehebruchslitteratur des zweiten Kaiserreiches zu thun hatten, sind um der Vor¬
züge ihres Stiles willen doch beachtet, gelesen, anerkannt worden. Gegenüber
unsern deutschen Zuständen, in denen das große Publikum und die Zeitungs¬
kritik die kläglichste Stümperhaftigkeit gelten lassen, während die Ausschließlichen
auch den talentvollsten und vorzüglichsten Jünger der Litteratur mit der Wahr¬
heit zu Boden schlagen, daß er weder ein Shakespeare noch ein Goethe sei,
muß der bezeichnete Vorteil hoch angeschlagen werden. Wir wissen nicht, ob es
auch heute noch so günstig um die talentvollen litterarischen Anfänger steht wie in
Dandets Jugendzeit. Jedenfalls leuchtet aus gewissen Abschnitten der „Dreißig
Jahre" und der Geschichte seiner frühesten Werke hervor, daß ihm die rasche
Empfänglichkeit für litterarisches Verdienst, die den Franzosen unter dem zweiten
Kaiserreiche zwar schon minder als unter der Restauration und der Julimonarchie,
aber doch noch eigen war, zu gute gekommen ist.
Die einzelnen Kapitel der Erinnerungen Daudets bringen natürlich eine
große Zahl kleiner Züge zu dem Litteratur- und Sittenbilde der fünfziger, sechziger
und siebziger Jahre, aber der Schriftsteller besitzt Einsicht genug, zu wissen, daß
die frühe Kenntnis von „ganz Paris," die er erworben hat, zunächst doch nur
jenes kleine Stück von Paris zwischen dem Gymnasetheater und der Oper,
Avers og,räh as I>oiMs und der Börse umfaßt, das sich einbildet, allein vor¬
handen zu sein: Börsenspekulanten, Schauspieler und Journalisten und die leb¬
hafte geschäftige Menge der guten „Boulevardiers," die gar nichts thun. Da
aber diese anspruchsvolle besondre Welt innerhalb der französischen Welt viel,
nur allzuviel bedeutet, so werden alle Schilderungen aus ihr eine gewisse all¬
gemeinere Teilnahme finden, auch wenn sie nicht so lebendig, geistreich und
pikant geschrieben sind, wie Daudets kleine Skizzen. In seinen Charakteristiken
stellt er die Menschen deutlich vor Augen, gleich die erste, „Villemessant", zeigt
eines der Häupter des neufranzösischen Journalismus, den allmächtigen Heraus¬
geber des allmächtigen „Figaro", in greller Beleuchtung. Dem modernen Fran¬
zosen ist der Respekt vor dem Erfolge viel zu tief ins Blut gegangen, als daß
er das Urteil über eine Erscheinung gleich der des berüchtigten Journalisten
unumwunden aussprechen, daß er auch nur andeuten sollte, welches Unglück für
sein Land ein Blatt wie der „Figaro" gewesen ist, zu dem wir in Deutschland
allerdings in jeder großen Stadt Seitenstücke, aber glücklicherweise keines von
der Allgemeinbedeutnng des Pariser Journals besitzen; allein was Daudet er¬
zählt, reicht im Verein mit dem, was wir sonst wissen, vollständig aus, dies
Urteil zu begründen. Wer Gold aus Kot gewinnt, muß sich gefallen lassen,
daß mau seine einzelnen Wohlthätigkeitsbezeugungen nicht zu hoch anschlägt.
Der frühe Verkehr mit Männern vom Schlage Villemessants ist übrigens die
Erklärung dafür, wie ein Schriftsteller von Daudets Begabung und künstle¬
rischer Vornehmheit es späterhin über sich gewinnen konnte, seinen Gönner und
Wohlthäter, den Herzog von Mvrny, im „Ncibvv" für alle Welt erkennbar an
den Pranger zu stellen.
Es scheint, daß Daudet in seinen persönlichen Erinnerungen auf die Pi¬
kanteren, mit denen er einen Teil seiner Romane gewürzt hat, nicht zurück¬
komme» will, der Grundton ist ziemlich ernst, hier und da, namentlich in der
Geschichte von dem gascognischen „Tamburinaire," anmutig ironisch, immer aber
bleibt er fesselnd und behält, obschon er sich dem sachlichen Inhalt der Kapitel
anschließt, etwas von dem Wesen einer geistvollen Unterhaltung. Einzelne Meister¬
situationen mögen auf Rechnung des litterarischen Effektes gesetzt werden, so die
Schilderung der südfranzösischen winterlichen Einsamkeit, in der Daudet die Ge¬
schichte „Der kleine Dingsda" schreibt, und des Gegensatzes, der mit dem Her¬
eintreten des ersten Menschen zu wirken beginnt. Nach einigen Monaten, in
denen der Schriftsteller niemand gesehen hat, als die Frau eines Pächters, die ihn
bei seinen Mahlzeiten bedient, stürzt diese Frau eines morgens zu ihm herein
und ruft ihm im Patois des Landes zu, daß ein Mensch vor der Thüre stehe.
„Dieser Mensch war ein Pariser, ein Journalist, der mich hier wußte und etwas
über mich zu erfahren wünschte. Er frühstückt mit mir, man plaudert über Zei-
tungen, Theater, Boulevards; das Pariser Fieber ergreift mich und — am
Abend reise ich mit meinem Besucher ab." Meist jedoch weiß Daudet solche
Zuspitzungen auf den Effekt geschickt zu verbergen, und die Erinnerungen an
seine Pariser Erlebnisse lesen sich wie offenherzige Bekenntnisse. Vortrefflich ist
Daudets Erzählung von dem Eindrucke der ersten Darstellung seines ersten Stückes.
Eine Drahtnachricht, daß dies kleine Stück ungewöhnlichen Erfolg gehabt habe,
blitzt ihn aus Algier heim nach Paris. Er kommt an, er stürzt nach dem Theater,
das er am Faschingsdienstag von Polichinells und Masken aller Art erfüllt
findet. Sie lassen sich zwar von seinem Stück rühren, er selbst aber trägt
einen moralischen Katzenjammer der stärksten Art davon. „Das Stück, das diese
braven Leute beklatschten, fand ich widerwärtig. O Jammer — glich dieser dicke
Mann, der, um väterlich und tugendhaft zu erscheinen, sich den Kopf Bvran-
gers hergerichtet hatte, meinem poetischen Traum? Wohlgemerkt, ich war un¬
gerecht, Tisferant und Rousseil, zwei vortreffliche Künstler, spielten, so gut man
uur spielen kann, und ihr Talent war wahrlich nicht die letzte Ursache meines Er¬
folges. Aber der Absturz war zu stark, der Unterschied zwischen dem, was ich
geträumt hatte und dem, was sich nun samt seinen sichtlichen Mängeln, seinen
unerträglichen Lücken vor Augen stellte, zu stark!" Wir führen diese Stelle
wörtlich an, weil sie nicht nur die normale Empfindung eines jungen, Poetisch
angehauchten Dramatikers angesichts der Verwirklichung seiner Stücke wieder^
giebt, sondern weil sie uns zugleich bedeutsam scheint für die in allen Littera¬
turen der Gegenwart zu beobachtende Bühnenflucht. Die Nervosität unsrer
Schriftsteller erträgt die Verluste nicht mehr, die auf dem Wege vom Schreib¬
tisch bis vor die Lampen unvermeidlich sind, sie schrickt vor der Verflachung
und Verrohung zurück, welche (Ausnahmefälle abgerechnet) die „reale Bühne"
mit sich bringt. Daudets Geständnis erweist, daß selbst die Franzosen, die sich
doch rühmen dürfen, daß auf ihren Brettern sorgfältiger probirt und besser
gelernt wird als auf den unsern, von dieser Krankheit der Lampenscheu nicht
mehr frei sind.
Interessant und nicht ohne Bedeutung sind die Mitteilungen Daudets
über die Jugend Henri Rocheforts und seinen persönlichen Verkehr mit diesem
Propheten der Kommune und der Revanche. Nochefort taucht nach diesen Mit¬
teilungen in einer legitimistisch angehauchten Familie auf, und in der That,
wenn wir uns auf seine ersten Schmähschriften gegen das zweite Kaiserreich
besinnen, so muß man zugeben, daß die eine kleinere Hälfte seiner vergifteten
Pfeile aus Chateaubriands Schriften und nur die andere größere aus Marats
„Volksfreund," Heberts „?ore vuolissris" und ähnlichen Blut- und Kotzeitschriften
des Jahres 1793 entlehnt war. Daudet berichtet, daß seine letzte Begegnung
mit Nochefort im kriegerischen Getümmel der Pariser Belagerung und der letzten
verunglückten Ausfälle nach der Seite des Mont Valerien stattgefunden habe, und
entzieht sich damit der Notwendigkeit, über die politische und litterarische Thä¬
tigkeit des Agitators seit 1871 zu urteilen. Je farbiger er aber die friedlichen
wohlgeordneten Familienverhältnisse ausmalt, aus denen Henri Nochefort her¬
vorgegangen ist, je entschiedener er betont, daß alle Eindrücke seiner Ju¬
gend der wilden und komödiantenhaften Rolle widerstrebten, in der Nochefort
nachmals berühmt geworden ist, um so unwiderstehlicher drängt sich dem
Nichtfranzosen das Gefühl einer ungeheuern Zerfahrenheit dieser ganzen
französischen Welt ans. Nichts scheint sicher, nichts folgerichtig, nichts not¬
wendig, in keiner Erziehung, keinen Überlieferungen, keinen Lebensverhältnissen
scheint der Einzelne noch eine Schranke zu finden! Man starrt in Möglich¬
keiten und Seelenwandlungen hinein, die aus Fieberträumen stammen und zu
Fieberträumen führen.
Die beiden letzten Kapitel der „Dreißig Jahre" erzählen von dem „großen
Erfolge", mit dem der Verfasser von „Fromont MQ. und Rister hör." in die Reihe
der gefeierten und über die ganze Welt bekannten Schriftsteller eingetreten ist,
und von den persönlichen Beziehungen Daudets zu Turgcniew, die durch Flau¬
bert vermittelt wurden und die leider mit einem Mißklang schließen. Die Fort-
Setzung seiner Erinnerungen wird uns Daudet voraussichtlich auf der Höhe seiner
Geltung und seiner Wirkungen zeigen, wir behalten uns vor, ihn auch auf diese
Höhe zu begleiten. Einstweilen sei der Band, der inhaltreich und lehrreich im
guten wie im bösen Sinne ist, auch der deutschen Leserwelt als eine Erschei¬
nung der neuesten französischen Litteratur empfohlen, an der man nicht vorüber¬
gehen darf.
AM^^W
MM
VT ^Mi Z^F
1^^-»cite Fragen sind Nätselfragen. Die erstere betrifft eine Thatsache,
deren volle Erklärung noch nicht gefunden ist, die andre eine
Aufgabe, die wohl vor der Hand noch unlösbar bleiben wird.
Machen wir uns die Aufgabe klar: Es handelt sich dabei um
eine photographische Aufnahme, die auf einer Platte ein Bild
in den natürlichen Farben der Dinge, nicht bloß in den Abstufungen von hell
und dunkel giebt. Mancher wird geneigt sein, zu fragen: Warum soll das
bei den großartigen Fortschritten der Technik und Chemie nicht möglich sein?
Was hat man nicht schon für unmöglich gehalten und später doch zu Wege
gebracht! Das ist richtig. Indessen muß man von der photographischen Chemie
nicht zu viel erwarten. Sie ist eine empirische Wissenschaft, oder vielmehr sie
ist eine Technik, die durch Probiren zu ihren Erfolgen kommt, ohne sagen zu
können, warum dies oder das so oder so wird. Überdies ist es Thatsache, daß
seit Jahrzehnten eifrig an der Herstellung farbiger Photographien gearbeitet wird,
daß aber alle Bemühungen vergeblich waren. Man ist daran gewöhnt, daß
aller paar Jahre die Mitteilung durch die Zeitung läuft, man habe die bunte
Photographie erfunden, und es fehle nur noch an einem Mittel, das Lichtbild
festzuhalten, lichtbeständig zu machen; aber immer wurde es bald darauf still.
Die bunte Photographie ist zur photographischen Seeschlange geworden.
Man hat allerdings Photographien in allen möglichen Farben und bietet
jetzt wirkliche photographische Buntdrucke aus. Aber diese Buntdrucke sind
nichts weiter als Farbendrucke der längst bekannten Art, nur daß sie mit
Hilfe der Photographie hergestellt werden. Es ist bekannt, daß Buntdrucke
angefertigt werden, indem man eine Anzahl von Platten nach einander auf
dasselbe Papier druckt, derart, daß jede Platte einer einzelnen Farbe dient.
Nach der älteren und gebräuchlicheren Herstellungsweise wurden diese Farben¬
bilder von dem Zeichner freihändig angefertigt, eine schwierige und zeitraubende
Arbeit; seitdem man gelernt hat, das photographische Bild auf Stein oder
Gelatine zu übertragen, hat man ein bequemes Mittel, die Freihandzeichnung
durch die photographische Aufnahme zu ersetzen und so die einzelnen Farben¬
platten anzufertigen, auch den Schwarzdruck, welcher den Buntdruck vollendet,
unmittelbar durch das photographische Bild zu bewirken. Aber alles dies ist
weit entfernt davon, eine Farbenphvtographie zu sein. Noch weniger können
mit buntem Farbstoff hergestellte Photolithographien oder Kohlendrucke in
Betracht kommen. Wenn von Zeit zu Zeit die Behauptung durch die Zeitung
läuft, das Geheimnis auf einer Platte ein buntes Lichtbild festzuhalten, sei
entdeckt, so glaube ich das eben nicht, denn ich halte eine farbige Photographie
der Natur der Sache nach für unmöglich.
Das photographische Bild entsteht durch die dem Lichte inne wohnende
chemische Kraft, gewisse leicht trennbare zusammengesetzte Körper in seine Grund¬
bestandteile zu zerlegen. Solche Körper sind vor allem die Jod- und Brom¬
silbersalze. Dem Lichte ausgesetzt, zerfallen sie sofort in metallisches Silber
und Jod oder Brom. Durch Behandlung mit Eisenoxydul, Pyrogallussäure
oder Hhdrochinon wird das Silber geschwärzt und so das Bild hervorgerufen,
durch unterschweflichsaures Natron, eine milde Säure, die das metallische Silber
nicht angreift, wohl aber das noch vorhandene nicht zerlegte Jodsilber auflöst
und entfernt, wird das Bild festgehalten.
Eine andre Reihe photographischer Verfahren beruht darauf, daß gewisse
Klebemittel, Zucker, Gummi, Gelatine, dem Lichte ausgesetzt ihre Löslichkeit ver¬
lieren, wenn sie mit doppeltchromsaurem Kali verbunden waren. War nun zugleich
ein Farbstoff beigesetzt, so wird dieser soweit weggewaschen werden können, als
er sich in löslichen Bestandteilen der Klebstoffschicht befand, aber überall da
festgehalten werden, wo die Einwirkung des Lichtes die Löslichkeit aufhob.
Mit diesen beiden Mitteln arbeitet die Photographie. In beiden Fällen
werden alle Dinge, deren Färbung zwischen schwarz und weiß liegt, richtig
abgebildet werden. Wie aber verhalten sich nun abgelenkte Lichtstrahlen, mit
andern Worten die Farben? Auch sie üben eine Photographische Wirkung aus,
aber in eigentümlicher Weise. Je stärker die Ablenkung und die Verzögerung
der Ätherschwingungen eines Lichtstrahles ist, desto geringer ist seine photochemische
Kraft. Im Spektrum haben die roten und gelben Farben die meiste Ablenkung,
die blauen und violetten die geringste. Dem entsprechend sind gelbe und rote
Lichtstrahlen sehr wenig wirksam, blaue desto wirksamer. Wenn man eine blaue
und eine rote Glasscheibe vor sich hat, so kann man sehen, daß sie von gleichem
Farbenwerte für unser Auge sind, photographirt erscheint die eine schwarz, die
andre weiß. So erklärt sich, warum auf Landschaften die blaue Ferne ganz
hell erscheint, während sich das grüne Laub tief dunkel darstellt, warum etwas
gerodete Hände wie Mohrenhände aussehen, während blaue Augen fast farblos
erscheinen. Hier tritt also ein Unterschied zwischen der photochemischen und der
physiologischen Wirkung der Farbe zu Tage, der dem Farbenphotographiren
große Schwierigkeit in den Weg legt. Auch wenn es Reagentien auf die
einzelnen Farben gäbe und wenn es auch möglich wäre, die Reagentien zu
mischen, zu entwickeln und festzuhalten, so würde doch ein unrichtiges Bild zum
Vorschein kommen, weil die verschiedenen Farben eine verschiedene photographische
Kraft haben, während unser Auge sie als gleichwertig empfindet.
Aber man sieht doch Farben.
Gerade dies Farbensehen muß uns bei näherer Untersuchung zeigen, warum
man nicht farbige Bilder Photographiren kann. Die große Ähnlichkeit unsers
Auges mit einem photographischen Apparat liegt auf der Hand. Es hat seine
Kamera, sein Linsensystem, seine Blenden, seine Einstellvorrichtuug und seine
empfindliche Platte. Nur mit der letzteren haben wir es hier zu thun. Die
innere Hintere Wölbung des Auges ist mit einer lichtempfindlichen Sehhaut,
der Netzhaut <r<zting.) überzogen. Diese Haut besteht aus einem Gefüge von
Stäbchen, deren Köpfe dem Augeniimern zugekehrt sind. Man kann dabei
zweierlei Arten von Stäbchen unterscheiden, solche die vorn stumpf und solche
die vorn spitz sind. Die letztern, an Zahl geringer, stehen in regelmäßiger
Folge je in einem von den Stäbchen freigelassenen rundlichen Raume. Das
ganze macht den Eindruck eines kunstvollen Mosaiks. Die Stäbchen sind hohl
und mit einer Flüssigkeit gefüllt. Man will beobachtet haben — sicher ist die
Sache noch nicht —, daß die Stäbchen Flüssigkeiten von verschiedener Färbung
enthalten. Die Stäbchen und Zapfen enden in Fäden, die knollenartige Ver-
dickungen haben, durch Schichten von verschiedener Zusammensetzung führen und
mit den Enden der Nervenfasern des Sehnerven in Verbindung stehen. Zweck
und Bedeutung aller dieser Teile ist noch nicht ergründet, doch kann man
folgendes als feststehend annehmen.
Das Bild, welches sich im Auge bildet, oder vielmehr der Eindruck dieses
Bildes auf unser Sehwerkzeug, häugt nicht in sich zusammen; es besteht viel¬
mehr aus zahllosen einzelnen Punkten. Vergleichen wir die Retina mit der photo¬
graphischen Platte, so können wir nicht von einer Platte, sondern müssen von
soviel Platten reden, als Stäbchen und Zapfen vorhanden sind. Wir sehen
also die Bilder so, wie man Mosaik oder eine Stickerei aus der Ferne be¬
trachtet. Sie bestehen aus einzelnen Punkten, Stichen oder Steinchen, fließen
aber beim Beschauen zu gleichmäßigem Eindrucke zusammen. Da also, wo der
Photograph eine Platte anwendet, stellt das Auge unzählige winzig kleine
Platten ein, nämlich so viel, als Stäbchen und Zapfen vorhanden sind.
Diese Platten können nun verschieden zubereitet, von verschiedener Licht¬
oder Farbenempfiudlichkeit sein. Es können sich darunter solche befinden, die
den Eindruck von weiß, grün, rot, gelb, blau annehmen, den andern Eindrücken
aber verschlossen bleiben. Die Stäbchen für rot können empfindlicher sein als
die für blau, wodurch der Unterschied der photochemischen Kraft beider Farben
aufgehoben oder verändert wird. Es können gewisse Farben, die objektiv vor-
Handen sind, wie die sogenannten übervioletten Farben, dem Auge verloren
gehen, weil dieses keine Platten einstellt, welche diesen Farben gegenüber Em¬
pfindlichkeit zeigen. Physiologische Untersuchungen haben nun in der That da¬
hin geführt, dem, was wir eben als möglich hinstellten, einen hohen Grad von
Wahrscheinlichkeit zu geben. Besonders hat auch die Pathologie zu wichtigen
Beobachtungen und Schlüsse« geführt. Das, was wir Farbensehen nennen,
läuft auf eine Reihe in ihrer Art verschiedener Gesichtsempfindungen hinaus.
Note Lichtstrahlen sind abgelenktes weißes Licht, aber die Empfindung von rot ist
nicht eine veränderte Empfindung von weiß, sondern etwas in ihrer Art
andres als die Empfindung von weiß. Beide Empfindungen haben so wenig
mit einander zu thun als eine Flöte mit einer Violine, obwohl beide dieselben
Töne hervorbringen. So giebt es also im Auge besondre Sehiustrumente für
weiße, gelbe, grüne, blaue, rote Lichtstrahlen. Man hat beobachtet, daß, während
der optische Teil des Auges in Ordnung war, einzelne Farbenempfindungen
ausfielen. Es ist bekannt, daß einzelne Menschen farbenblind oder besser
rot-, grün-, blau-, gelbblind sind, daß also bei ihnen gewisse Sorten empfind¬
licher Platten im Auge fehlen. Ein jeder kann die Beobachtung machen, daß
am Rande seines Sehfeldes die Licht- und Farbenempfindungen nicht gleichzeitig
aufhören, sondern daß man noch die Empfindung des Lichtes hat, wo die Farbe
bereits ausgelöscht ist. Führt man eine Stange Siegellack allmählich nach der
Gegend der Schläfe, jedoch ohne das Auge zu bewegen, so tritt zuletzt der Fall ein,
daß sie ihre rote Farbe verliert und schwarz erscheint, woraus zu schließen
ist, daß man am Rande der Sehhaut nur noch auf die Empfindung von
schwarz-weiß eingerichtete Farbenplatten hat. Man redet von rotblind, man
sollte aber rotgrünblind sagen, denn wenn die Empfindung für rot fehlt, fehlt
auch die für grün. Ebenso giebt es blaublinde, denen zugleich die Empfindung
für gelb fehlt. Die entsprechenden Stäbchen scheinen also paarweise zu einander
zu gehören, wie denn auch die Erscheinung der Komplementärfarbe auf einen
Zusammenhang zwischen den Gegenfarben hinweist.
Aus alledem schließen wir, daß wenn die Sehhaut mit einer Photo-
graphischen Platte verglichen wird, wir eigentlich von einem unendlich feinem
Gefüge von Platten reden müßten, die unter sich verschieden und für die ein¬
zelnen Farben einzeln bestimmt sind. Es entsteht im Ange zugleich ein blaues,
gelbes, grünes Bild, und diese Bilder werden im Zentralorgan über einanver
gedruckt, gerade so, wie man die Farbplatten eines Buntdruckes über einander
druckt. Wer um mit einer einzigen Platte ankommt und meint, er könne ein
buntes Bild damit drucken, muß mit seinem Versuche scheitern.
Nun wohl, so mache man es ebenso, man nehme von demselben Gegen¬
stande einzelne Farbenbilder, die schließlich über einander gedruckt werden. Die
photographische Technik hat wirklich diesen Weg eingeschlagen, vermutlich ohne
etwas von den vorhin angestellten physiologischen Erwägungen zu wissen. Man
kann in der That ohne Schwierigkeit drei oder mehr gleichzeitige Aufnahmen
von demselben Gegenstände machen, wenn man einen drei- oder mehrfachen
Apparat anwendet. Ja man kann ein mit einem Objektiv aufgenommenes
Bild durch Prismen und Spiegel vervielfältigen. Läßt mau nun jedes dieser
Bilder auf eine Platte einwirken, die nur blau-, rot- oder gclbempfiudlich ist,
so gewinnt man die erwähnten Farbenbilder. Diese werden auf Stein über¬
tragen mit der betreffenden Farbe eingewalzt und nach einander auf das Papier
gedruckt. Nun hat man zwar keine Reagentien auf die einzelnen Farben, aber
man kann durch optische Mittel gewisse Farben abfangen und andre durch¬
lassen. schalte ich zwischen Objektiv und Platte Gläser ein, die nur die rote
Farbe durchlassen, und gebe ich zugleich der empfindlichen Schicht der Platte eine
entsprechende Färbung, so gewinne ich aus dem photvgraphirten Bilde alle seiue
roten Bestandteile. Das gleiche gilt von gelb und von blau. Aus diesen
drei Farben setzt sich die ganze bunte Mannigfaltigkeit der Natur zusammen.
Nachdem ich sie photographisch in ihre Urbestaudteile aufgelöst habe, lege ich
sie durch den Druck, indem ich eine Platte über die andre drücke, wieder zu¬
sammen und gewinne so eine farbige Photographie.
Damit wäre das Problem gelöst, wenn die praktische Ausführung dem
theoretischen Plane entspräche. Absolute Farben giebt es nicht, weder absolut
reine, noch absolut durchscheinende. Die farbige Glasscheibe läßt zwar rote
Strahlen durch, aber zugleich auch andre, die sie hätte abwehren sollen. Die
blaue und gelbe Scheibe thut dasselbe. Die helldunkle Aufnahme bringt nicht
allein Helldunkel, sondern auch alle Farben in der oben angeführten falschen
Wiedergabe, und weiß erscheint in den verschiedenen Farbenbildern nicht als
farblos, sondern als gefärbt. Unsre Farbmittel sind sämtlich unrein, derart, daß
sie von sich sagen könnten: „Uns bleibt ein Erdenrest zu tragen peinlich, und wäre
er Asbest, er ist nicht reinlich." Der Buntdruck müßte der Theorie nach mit drei
Grundtvnen auskommen können, aber er wendet Dutzende verschiedener Farb¬
stoffe an, weil jene verunreinigten Grundstoffe nicht die richtigen Mischungen
ergeben. Dieser Übelstand tritt bei den farbigen Photographien so lebhaft
hervor, daß die auf die oben beschriebene Weise hergestellten Photographien
unbrauchbar sind oder erst nach tiefgreifenden Korrekturen einigermaßen brauch¬
bar werden. Damit verlieren sie aber ihren Wert.
Den richtigen Weg zur Herstellung bunter Photographien haben wir also
gefunden. Er besteht in einer Zerlegung des Bildes bei einer mehrfachen Auf¬
nahme in die farbigen Grundbestandteile und die Zusammenlegung derselben
durch Überdrucke. Es ist nur zu hoffen, daß später einmal bessere Erfolge
erzielt werden, als die sind, mit denen man sich jetzt noch hat begnügen müssen.
Sie werden durch feinere Behandlung nicht so sehr des chemischen als des
optischen Teiles gewonnen werden können. Für jetzt ist und bleibt die farbige
Photographie ein frommer Wunsch.
Doch haben die erwähnten Versuche bereits dahin geführt, schwarze Photo¬
graphien herzustellen, welche die Farbenwerte richtiger als bisher wiedergeben.
Es handelt sich bei der Landschaft meist um den Gegensatz der grünen, gelben
und braunen Farben des Vordergrundes zu den blauen Farben der Ferne.
Der Apparat giebt diesen Gegensatz größer, als ihn das Auge empfindet. Man
wird also zu einem richtigeren Verhältnis kommen, wenn man einen Teil der
blauen Farbe abfängt. Dies geschieht durch die Einschaltung einer schwach-
gelben Scheibe und durch eine besondre Färbung der Platte. Solche ge¬
färbte Platten kommen unter dem Namen isochromatische Platten in den
Handel und ergeben schöne und richtige Ausnahmen. Stark vergilbte
Dokumente mit schwacher grauer Schrift waren bis jetzt nicht photographisch
zu übertragen, da die chemischen Farbenwertc von gelb und grau gleich sind.
Nach Einführung isochromatischer Platten sind auch solche Gegenstände photo-
graphirbar geworden. Wir sehen also, daß die noch wesenlose farbige Photo¬
graphie der schwarzen bereits wesentliche Dienste geleistet hat.
Unsre Gelehrten haben die löbliche
Gewohnheit, ihren Schriften eine kritische Uebersicht über die Leistungen ihrer Vor¬
gänger vorauszuschicken und dabei ihr neues Unternehmen vor sich und den Lesern
zu rechtfertigen. So führen sie uns in den Stand der betreffenden Forschung ein,
und wir lernen uns schnell zurechtfinden. Was die Lehre vom Gedächtnis betrifft,
so ist sie auch für NichtPädagogen so wichtig und anziehend, daß die Fülle von
Darstellungen dieser Lehre nichts Auffallendes hat. Nur ein Umstand machte in
der neuern Zeit auf die Fortführung dieser Litteratur besonders gespannt, die Ver¬
mutung nämlich, daß durch deu neuern Physiologischen Betrieb der Seelenlehre auch
für die Lehre vom Gedächtnis etwas gewonnen werden könne, was die Rätsel
dieser Lehre besser löse, als die gar zu spiritualistische Behandlung bei Herbart
und seiner Schule. Es kaun nicht befremden, wenn manche gerade dieser Vernach¬
lässigung des leiblichen Lebens in der Theorie vom Gedächtnis die Schuld bei¬
maßen, daß sie bisher nur so wenig praktische Ergebnisse geliefert habe. Besonders
die Lehrer fragten, ob nicht die Physiologie jetzt so weit sei, dem Erzieher wirk¬
liche Hilfe zu bieten, und nicht bloß Redensarten über Ueberbürdung vorzutragen,
oder zu verlangen, daß jedes Kind nach Tisch eünae Zeit schlafen müsse.
Professor Fauth hat diese Wendung der pädagogischen Bedürfnisse verstanden,
und schon dadurch wird seinem kürzlich erschienenen Buche") ein reges Interesse
entgegenkommen. Den besten Physiologen des Inlandes und Auslandes entnimmt
er ausführliche Darstellungen über die leiblichen Grundlagen des (unbewußten)
Gedächtnisses. So werden wir mit Jessen, Draper, Hering, Ribot, die eine
mehr materialistische Richtung vertreten, ausreichend bekannt gemacht, und zwar so,
daß Feinds, der ein Anhänger des verstorbenen Hermann Lohe ist, sofort gewisse
Schwächen, Unklarheiten und Uebergriffe der Physiologen maßvoll bekämpft. Da¬
mit begnügt er sich aber keineswegs. Er giebt uns noch mehr Material, indem
er auch die Physiologen zu Rate zieht, die das bewußte Gedächtnis aufzuhalten
bemüht sind, wie Horwicz, Wunde, M, Fouillse, um dann erst diejenigen Autori¬
täten zu hören, die wie Dörpfeld und Steinthal die geistige Seite des Gedächtnisses
vorzugsweise betonen.
Gerade weil er in der Durcharbeitung dieser seiner Vorgänger und in seinen
eignen Auseinandersetzungen sich so vertraut mit der neuern physiologischen Lehre
zeigt, die er zum erstenmal pädagogisch verwertet, und so reichlich, daß man in
einem physiologischen Werke zu lesen glaubt, hört man ihm gern zu, wenn er die
Selbständigkeit des Bewußtseins im Sinne von Dubois-Reymond kräftig betont
und dem seltsamen Hartmannschen „Summationsphänomen" entgegentritt. In dem
eigentlichen Aufbaue seiner Lehre wird Fauths Ansicht über die Arten des Bewußt¬
seins, besonders über die Bedeutung des Gefühles auch für das Gedächtnis einen
bleibenden Wert behaupten, wenn auch noch manche Fragen übrig bleiben. Wenn
er den Hcrbarticmeru mit der Behauptung entgegentritt, daß uns die Erfahrung
von „unbewußten Vorstellungen" nichts sage, und darum eine andre Theorie von
der Reproduktion der Vorstellungen aufstellen muß, so kann er dies nnr mit Hilfe
der Physiologie, die ihm für jene altehrwürdige Hypothese Ersatz gewährt. Sein
Widerspruch gegen jene Hypothese wird Verdruß erregen, jedenfalls aber ist es gut,
wenn die Vorstellungen, die sich bei Herbart oft als selbständige Wesen geberden,
wieder unter die Herrschaft des ganzen Geistes gebracht werden.
Fauth kommt ziemlich spät auf die mehr praktisch-Pädagogischen Anwendungen
seiner Lehre, auf die Beziehungen zwischen Sprache und Gedächtnis und gewisse
schulmäßige Folgerungen aus seiner Theorie. Wenn er dabei sich mit deu Vor¬
schriften der preußischen Lehrpläne von 1882 und deu Ansichten der hervorragenden
pädagogischen Wortführern auseinandersetzt, so geschieht es in wohlwollender und
liebenswürdiger Weise.
Fragen wir aber nach dem, was uns am Anfange dieser Zeilen beschäftigte,
ob denn die pädagogische Theorie durch die Physiologie wesentlich gefördert werden
könne, so gestehen wir mit einigem Mißvergnügen, daß wir darüber nur sehr be¬
scheidene Vorstellungen hegen. Der gegenwärtige Zustand der Physiologie erweckt
für die wirkliche Lösung der pädagogischen Rätsel sehr schwache Hoffnungen. Aller¬
dings kann man über die zukünftige Forschung nicht abspreche». Und das Buch
Fauths leistet schon dadurch gute Dienste, daß es gar zu frohe Erwartungen von
unserm Wissen mäßigt und gewisse alte Einsichten bestätigt, z. B. die, daß die
körperlichen Elemente eben körperlich sind, daß das Gehirn nicht „denkt," daß die
körperlichen Funktionen nur die (notwendigen) Bedingungen des Bewußtseins sind,
aber nicht mehr, und daß selbst das unbewußte Gedächtnis mit seineu Gewohnheiten
und Dispositionen mehr vom bewußten Geist „eingeübt" wird, als von dem Mecha¬
nismus der Nerven. Auch diese „Einübung" alter Sätze ist ein Verdienst Fauths.
In Deutschland ist die Ueberzeugung, daß das Wesen des Menschen der Geist sei,
noch am wenigsten in Frage gestellt, und das Buch Fauths, das für diese Ueber¬
zeugung überall einsteht, wird auch darum vielen im Vaterlande zur sittlichen Stär¬
kung gereichen. _
Im 27. Hefte der diesjährigen
„Grenzboten" ist ein kleiner Aufsatz „Otto Ludwig als politischer Dichter" gedruckt, der
die Aufmerksamkeit aufrichtiger Verehrer des großen Dramatikers und Erzählers auf
Ludwigs lyrischen Nachlaß gelenkt und den Wunsch erweckt hat, daß dieser Nachlaß recht
bald gesichtet und, soweit er Wertvolles, dichterisch Bedeutendes enthält, der Teil¬
nahme jener kleinen Kirche nicht vorenthalten bleiben möchte, die heute noch Sinn
und Gefühl für alles wahrhaft Poetische hat. Die Entwicklung des Dichters, die
sich durch Jahrzehnte erstreckte, bevor der Dichter zum erstenmal in die Öffentlich¬
keit trat, führte einerseits den vorübergehenden Anschluß Ludwigs an gewisse Zeit-
stimmungen und Zeitvorbilder herbei und ließ ihn anderseits jenes Gepräge entschiedener
Eigenart behaupten, welches seine größern Dichtungen auszeichnet. Von den poli¬
tischen Gedichten im engern Sinne ward schon hervorgehoben, daß der Dichter
mitten in dem großen Chorus, der nach Reformen und liberalen Institutionen rief,
seine aus dem Innersten einer männlichen Seele tönende Stimme, ohne Verfassungen
und Preßfreiheit zu unterschätzen, vor allem für die Einheit Deutschlands erhob.
Sie war ihm das A und O, ihr Mangel erpreßte ihm die schmerzlichsten Klage-
aber auch die mächtigsten Zornlaute. Jenes „1848" überschriebene Gedicht, aus
welchem in dem erwähnten Aufsatze nur eine Anzahl Verse mitgeteilt wurden,
ist nicht minder schön, vaterländisch stolz und hoffnungsreich in seinem Schlüsse, als
ergreifend in seinem Anfange, und wir freuen uns, es nunmehr seinem ganzen
Wortlaute nach mitteilen zu können:
Wie bist du doch »erachtet,
Mein deutsches Vaterland!
Daß mir die Seele schmachtet
Mein Herz nur ist entbrannt,
Seh ich Dich, das so prächtig
Vor allen könnte stehn,
So ärmlich, so unmächtig
Und so verspottet gehn. Daß, Deutschland, du zerschlagen
In vierzig Stücken bist,
Das setzt dich jedem Wagen
So blos und jeder List.
Es fesseln vierzig Bande
Dir den gewaltgen Leib,
Drum treiben Zwerge Schande
Mit dir, du Riesenweib,Wornach die Völker dürsten
Das eine Vaterland,
Das steht, ihr deutschen Fürsten
Das steht in Eurer Hand.
Sie schrein in ihren Nöthen
Um Hilfe zu Euch auf,
Und ihr, ihr habt nur Reden,
Habt nichts als Reden draus? Ein großes ernstes Lösen
Beginnt zu dieser Frist.
Bedenket wohl, ihr Großen,
Daß Gott noch größer ist.
Ihr könnts — so macht zur Stunde
Der Schmach ein glorreich End' —
Und fügt zum Fürstcnbunde
Ein Völkerparlament. Und Millionen Stimmen
Aufjauchzen nah und fern,
Es steigt mit neuem Flimmer
Des Vaterlandes Stern.
Dann laßt die Dränger kommen
Von Ost und Nord und West;
Was soll den DrKngern frommen
Steht Deutschlands Einheit fest?
Und deine Kinder schauen
Gleichgiltig deinen Schmerz.
In deinen weiten Gauen
Nicht ein, ein weites Herz?
Solls nimmer anders werden
Die Schmach unsterblich sein?
Steht denn kein Mensch ans Erden
Kein Gott im Himmel drein?
Und durch die deutschen Lande
Ein Sprung, ein Griff, ein Schlag!
Glorreich die alte Schande
Getöse an einem Tag!
Und Niemand soll dirs wehren
Zu prangen tadellos,
O Vaterland »oll Ehren
Vor allen Völkern groß!
Ludwig wußte sehr Wohl, wie mißlich es um das eigentlich dichterische Ver¬
dienst der zahlreichen politischen Dichter stand, die in den vierziger Jahren den
litterarischen Markt erfüllten. Mit anmutiger Wendung sucht er einen der kleinen
politischen Sänger — wahrscheinlich einen Heimatsgenossen — über seine Unbe-
bcdeutendheit mit dem Gedichte „Guter Rat" zu trösten:
Mein Freund, fehlt dir die rechte Kunst,
So leis von deinem Stoff dir Gunst!
Man kann, steht er am hohen Ort,
Den Kleinen weiter sehn.
Du stammelst? Immer stammte fort
Von Licht und Freiheit. Solch ein Wort
Klingt auch gestammelt schön.
Aber während er so für die Politischen Sänger, sofern sie nur eigne Empfindung
ausdrückten, milden Zuspruch hatte, erfüllte» die Weltschmerzler, die gespreizten und
eiteln Nachahmer des Dichterlords seine starke und schlichte Natur mit wachsender
Ungeduld, was sich in dem gleichfalls deu ersten vierziger Jahren angehörigen kurzen
Gedichte: „An manche neuere Dichter" kundgiebt:
Werdet Männer doch, bei Christ!
Bleibt nicht knabenhaft!
Unerschöpflich Bergwerk ist
Deutschen Sinnes Kraft.Hängt euch nicht an fremdes Wort
Kehrt zu euch zurück;
Muthig schreitet fort und fort.
Vorgewandt den Blick.Deutsch sei euer Thun und Buch,
Freunde, folget mir:
Bhron wart ihr lang genug,
Seid nun einmal ihr!
Der hier angeschlagene einfache, starke Ton war denn auch der, der fast durch alle
spätern Gedichte Otto Ludwigs hiudurchkliugt und des Dichters prächtigen Spruch
bewahrheitet:
Es spinnt sich der Tand
Von selber fort:
Die reichste Kunst
Such im ärmsten Wort!
s ist ein häßlich u
ndeutsches Wort, zu dem uns der Sprach¬
gebrauch nötigt, wenn wir mit einer allgemeinen Bezeichnung
die Kurzsichtigen und Kurzsinuigen zusammenfassen wollen, die
den tiefinnern Zusammenhang unsers nationalen Lebens verkennen
und, so weit sie es irgend vermögen, dem staatlichen Ausdruck
desselben fremd zu bleiben suchen. Wir benennen die Leute, die sich immer
noch sträuben, dem Reiche zu geben, was des Reiches ist, mit dem Namen
Partikularisteu. Diese erwidern den Vorwurf, der in dem Worte liegt, mit
einem eben so übel klingenden Fremdwort, indem sie jede ausgeprägte nationale
Gesinnung Unitarismus schelten. Daß partikularistische Bestrebungen noch hie
und da im deutschen Reiche spuken, dürfte kaum von jemand ernstlich in
Zweifel gezogen werden; aber ist es eben so gewiß, daß es noch Unitarier giebt?
Vor der im Jahre 1866 gefallenen großen Entscheidung, die durch Be¬
seitigung des österreichischen Anspruchs, in deutschen Verfassungsangelegen¬
heiten das große Wort zu führen, die bundesstaatliche Neugestaltung Deutsch¬
lands thatsächlich ermöglichte, hat es namhafte Publizisten gegeben, die ohne
Bedenken sich selbst als Unitarier bezeichneten. Sie bekannten sich zu der Partei¬
überzeugung, daß eine den nationalen Bedürfnissen entsprechende staatliche
Einigung des deutschen Volkes mir durch VerzichtlÄstung der bestehenden deut¬
schen Staaten wenigstens auf ihre wesentlichsten Hoheitsrechte und Abtretung
derselben an die preußische Monarchie zu erreichen sei. Meinungen zu klären
und zu berichtigen, ist keine Belehrung so sehr geeignet wie die der Thatsachen.
Das deutsche Reich steht vor uns festgegründet, unerschütterlich, hoheitsvoll. Seit
die Wissenschaft des deutschen Staatsrechts ihre erfolgreichen Bemühungen
darauf richtet, Wesen und Inhalt der gewaltigen geschichtlichen Errungenschaft
klar und zusammenhängend zum Bewußtsein zu bringen, hat mancher mit Ver¬
wundern eingesehen, daß, wenn die Form, in der das nationale Sehnen Er¬
füllung gefunden hat, nicht in allen Stücken seinen besondern Zukunftsträumen
entspricht, dafür im Wesen der Sache viel mehr erreicht ist, als er je zu hoffen
gewagt hatte. Staatsmännisches Genie hat auf eine Weise, die, ehe sie sich
in Thatsachen darstellte, kaum für möglich gehalten wurde, das große Rätsel
gelöst, wie allein und ausschließlich durch das Zmangsgebot der Lage die minder-
mächtigen Staaten Deutschlands vermocht werden könnten, in vertrauensvoller
Gemeinschaft mit Preußens Macht ein nationales Gemeinwesen zu errichten.
Es sei eine Wohlthat für die Kleinern, konnte der Unitarier vor Begründung
des Reiches meinen, einer doch unhaltbaren Existenz ein rasches Ende bereitet
zu sehen, denn, wie immer ein künftiger deutscher Bundesstaat beschaffen sein
möchte, es würden darin die Schwachen dem Starken gegenüberstehen wie die
Gefährten des Odysseus dem Cyklopen, der, je nach Appetit, einen nach dem
andern verspeiste. Heute sehen wir die beiden mächtigsten Bundesfürsten im
Reiche, unter dem jubelnden Zuruf der Nation, das Gelöbnis austauschen, daß
sie beide für ihre Person und zusammen mit den übrigen fürstlichen Führern
des deutschen Volkes in unwandelbarer Treue zusammenstehen wollen zum Schutz
und zum Heile des Vaterlandes.
Und es handelt sich hierbei nicht allein um Worte, an denen das erregte
Gefühl des Augenblickes einen Anteil haben könnte. In dauernden Institu¬
tionen, hervorgegangen aus dem Zusammenwirken der edelsten Kräfte, über
welche die Nation zu gebieten hatte, ist diese Treue, diese Vaterlandsliebe be¬
siegelt. Je näher wir diese Institutionen betrachten, desto mehr werden wir
uns überzeugen, daß sie in vollem Maße das leisten, was wir von einer weisen
und festgegründeten, weil den geschichtlich sich darstellenden Lebensbedingungen
des Volkes sich anpassenden Verfassung zu erwarten berechtigt sind.
Der erste deutsche Publizist des achtzehnten Jahrhunderts, „Friedrich der
Große, hat mit besonderm Nachdruck darauf hingewiesen, daß Macht und Ge¬
deihen eines Staatswesens davon abhänge, daß alle Teile desselben, indem sie
im einzelnen eine ihrem Wesen entsprechende kraftvolle Thätigkeit entfalten, sich
harmonisch zu einem lebendigen Ganzen zusammenschließen. Den Zusammen¬
schluß der nationalen Kraft besitzen wir im Reiche in der staatlichen Persön¬
lichkeit eines die Gliedstaaten überherrschenden Gemeinwesens höherer Ordnung,
worin eben diese Gliedstaaten, als Gesamtheit genommen, zugleich Träger der
obersten Rechtsmacht, der Souveränität, sind. Damit ist die erforderliche
Einheit der nationalen Staatsgewalt, die nationalstaatliche Einheit ebensogut
gegeben als im sogenannten Einheitsstaat, der richtiger als einfacher Staat be¬
zeichnet wird. Das Reich ist ein zusammengesetzter, ein Staatenstaat, aber
die relative Selbständigkeit der Teile hebt die Staatspersönlichkeit des Ganzen,
die straffste Zusammenfassung der nationalen Kraft auf den Gebieten, wo 'es
erforderlich ist, in keiner Weise auf. Vielleicht bedarf es nur einer weitern
Verbreitung der richtigen Einsicht in dieses Verhältnis, um die Unterstellung
„einheitsstaatlicher" d. h. auf Herstellung eines einfachen Staates gerichteter
Bestrebungen zu beseitigen. Was die Unitarier wollen, ist eine einheitliche,
machtvolle Staatsgewalt für ein Gemeinwesen deutscher Nation; im deutschen
Reiche ist das Ersehnte zur Thatsache geworden. Wir besitzen es im Rechte.
Was ein gesicherter Rechtsbesitz geworden ist, braucht in der Politik nicht mehr
erstrebt zu werden.
Eine richtige Einsicht in die wahre Natur der deutschen Reichsverfassung
ist freilich weit entfernt, Gemeingut des Volkes zu sein. Teilweise stehen po¬
litische Vorurteile entgegen. Zum Teil aber trägt die Staatswissenschaft, der
es zukommt, über die im Staate bestehenden Verhältnisse Licht zu verbreiten,
selbst einigermaßen Schuld daran. Vom Beginn des Jahrhunderts an hatten
die Deutschen unmittelbar vor sich eine Mehrzahl von Staaten, alle souverän,
monarchisch und einfach, dazu einige Republiken. Der Sinn, den man mit
dem Worte „republikanisch" zu verbinden pflegte, war indes weniger durch den
Gedanken an die vier freien Städte des deutschen Bundes bestimmt worden,
als durch den Eindruck des politischen Lebens in den demokratischen Freistaaten
der schweizerischen Eidgenossenschaft und der nordamerikanischen Union. Wer
von Republik sprach, meinte demokratische Republik. Daher sträubte sich und
sträubt sich noch heute der Sprachgebrauch gegen Anwendung der Bezeichnung
„republikanisch" auf eine Staatsform, worin Träger der Staatsgewalt eine Mehr¬
heit von Monarchen ist. Wenn nun die staatsrechtliche Wissenschaft den Satz
aufstellte: „Ihrer Form nach ist jede Staatsverfassung monarchisch oder repu¬
blikanisch, je nachdem sie einer physischen Person die Staatsgewalt beilegt oder
einem Kollegium," das monarchische Gefühl sich aber sträubte, das deutsche
Reich, für welches der letztere Fall zutrifft, eine Republik zu nennen, so schien
nur der Ausnieg übrig zu bleiben, dem Reiche, das nicht monarchisch war und
republikanisch nicht sein sollte, überhaupt den staatlichen Charakter abzusprechen.
Die Schwierigkeit ist aber sofort beseitigt, wenn in der staatsrechtlichen Lehre
an Stelle der politisch anstößigen Alternative monarchisch und republikanisch
die Einteilung in monarchische (einherrschaftliche) und pleoncirchische (mehrherr¬
schaftliche) Staaten beliebt wird. Das deutsche Reich ist ein vollkommen ein¬
heitliches, aber pleonarchisches Staatswesen.
So überzeugend der gegebene Nachweis erscheinen dürfte, daß die früheren
unitarischen Bestrebungen im deutschen Reiche ihre volle Erfüllung gefunden
und deswegen aufgehört haben, in unserm politischen Leben eine Rolle zu
spielen, wir werden die Partikularistischen Einwürfe doch so leichten Kaufes nicht
los werden. Zugegeben, wird man von dieser Seite erwidern, daß der Aus¬
druck Unitarismus, Streben nach einer einheitlichen deutschen Staatsgewalt,
die Sache, die wir meinen, nicht ganz deckt, sie besteht aber doch, es besteht
eine politische Richtung, die mit der im bundesstaatlichen Reiche vorhandenen
Konzentration der nationalen Kraft sich nicht zufrieden giebt, sondern, kurz
gesagt, es auf eine Verpreußung Deutschlands abgesehen hat. Der heutige Uni¬
tarismus würde also nichts andres sein, als eine Politik, die zum Ziele hat
die Aufsaugung der Neichsinstitutionen durch die führende Macht Preußen.
Träumen und wünschen kann jeder einzelne für sich; um Politik zu
treiben, die Beachtung finden kann, muß er sich entweder mit einer erheblichen
Anzahl andrer zur Erreichung der gleichen staatlichen Zwecke verbinden, oder
er muß im Staate eine rechtliche Stellung einnehmen, die seine politische
Ansicht und Willensrichtung zu einer für die Gesamtheit erheblichen macht.
Wenn also dem Unitarismus irgendwelche Bedeutung zukommen sollte, so müßte
er entweder den Grundgedanken abgeben zu einer ins Gewicht fallenden Partei¬
bildung, oder er müßte bei deu Lenkern des preußischen Staates auf Beifall
zu rechnen haben. Das beides in absehbarer Zeit — mit ihr allein befaßt
sich die Realpolitik — nicht der Fall sein kann, dafür läßt sich der über¬
zeugende Beweis folgern aus den Thatsachen, welche die Reichsverfassung
selber liefert.
Bei der Begründung des Norddeutschen Bundes und dem Hinzutritt der
süddeutschen Staaten standen sich die bis dahin souveränen deutschen Staaten
als völlig gleichberechtigte Persönlichkeiten gegenüber. Das Bundesverhältnis,
in das sie getreten sind, der bundesstaatliche Charakter des Reiches, beruht
eben auf Anerkennung dieser Gleichberechtigung. Die Mitgliedschaftsrechte sind
grundsätzlich für alle Staaten gleich in dem Sinne, daß auf alle Staaten die¬
selben Rechtsregeln Anwendung finden. Es folgt daraus als allgemeines Prinzip
für die Reichsgesetzgebung, daß jede Abweichung von der Gleichberechtigung zu
Ungunsten eines oder einzelner Mitglieder des Reiches deren besondre Zustim¬
mung erfordert. Es dürfte überflüssig sein, sich bei dem Nachweis aufzuhalten,
daß keine vernünftige Parteibeftrebung darauf gerichtet sein kann, diesen oder
jenen verbündeten Staat zu einem Selbstmorde zu veranlassen, um einem der
Mitverbündeten die Erbschaft zuzuwenden.
Anders stellt sich allerdings die Frage, wenn wir von unmittelbarer
Übertragung der Rechte einzelner Staaten an den Mächtigsten unter den Ver¬
bündeten absehen und die gleichzeitige Aufsaugung der Rechte aller Einzel¬
staaten durch das Reich ins Auge fassen, welches dadurch in seiner Verfassung
eine Veränderung erleiden würde, die einer Aufhebung der gliedstaatlichen Ge¬
walten zu gunsten der Krone Preußen in der Wirklichkeit beinahe gleichkäme.
Im Prinzip steht das Feld für derartige Parteibestrebungen offen. Artikel 78
der Verfassung sagt kurz und bündig: „Veränderungen der Verfassung erfolgen
im Wege der Gesetzgebung." Das Reich als souveräner Staat setzt seine Kom¬
petenz selber fest. Es beschränkt sich selber, ist also, ideell genommen, durch
nichts beschränkt, auch nicht durch die Staatsgewalten seiner Gliedstaaten. Der-
artige juristische Grundsätze und die daraus logisch sich ergebenden Möglich¬
keiten festzustellen, ist für die staatsrechtliche Konstruktion von nicht zu unter¬
schätzender Bedeutung, für die politische Betrachtung giebt es aber andre Ge¬
sichtspunkte, die der thatsächlichen Wirklichkeit der Dinge entnommen sind.
In dieser Hinsicht genügt es nicht, die staatsrechtliche Natur des Reiches
an sich und die daraus sich ergebenden Folgesätze ins Auge zu fassen. Eine
nähere Betrachtung der Beziehungen, in denen die Einzelstaaten zur Reichs¬
gewalt stehen, ist unumgänglich nötig. Die Gliedstaaten des Reiches bilden, in
ihrer Gesamtheit genommen, den Souverän desselben, auf der andern Seite
sind sie auch wieder die Unterthanen des Reiches. Das Reich besitzt 25 unmit¬
telbare Unterthanen. Dies ist der Kern des staatsrechtlichen Verhältnisses, wie
es durch die Reichsverfassung geschaffen ist. Die Ausübung der Oberstaats-
gcwalt durch das Reich erfolgt aber auf dreifache Weise. Auf einzelnen Ge¬
bieten der staatlichen Bethätigung sind die Mitgliedstaaten ganz außer Wirk¬
samkeit gesetzt. Das Reich erfüllt die nationalen Aufgaben mit seinen eignen
Hilfsmitteln und macht die ihm zustehenden Rechte selbständig und unmittelbar
geltend. Das ist zunächst bezüglich der Reichsgesetzgebung der Fall, indem die
einzelnen Gesetze ihre verbindliche Kraft durch Verkündigung von Reichs wegen
erhalten. Sodann aber auch auf einzelnen Gebieten der Staatsverwaltung:
auswärtige Angelegenheiten, Marine, obere Post- und Telegraphenverwaltung
u. s. w. Hier hat das Reich zur Ausübung seiner Lebensthätigkeit sich seinen
eignen Apparat geschaffen, der Kreis der den Einzelstaaten verbliebenen Auf¬
gaben und ihrer dazu erforderlichen Befugnisse ist um ebensoviel verengt. Die
Landesgrenzen bezeichnen hier keine Abgrenzung verschiedener staatlicher Wil¬
lensbereiche, sondern höchstens noch geographische Scheidelinien für Verwaltungs¬
bezirke, in denen das Reich mit eignen Mitteln und unmittelbar seine staatliche
Thätigkeit entfaltet. Im geraden Gegensatz hierzu haben auf andern Gebieten
öffentlich-rechtlicher Thätigkeit die Einzelstaaten sich im Besitze einer kraft
eignen Rechtes ihnen zustehenden Fülle von obrigkeitlichen Befugnissen und
staatlicher Macht erhalten. Die Einzelstaaten sind in dieser Hinsicht nicht Or¬
gane des Reiches, die mit der Durchführung des im Gesetz geäußerten Willens
der Reichsgewalt betraut wären. Sie sind noch Staaten im vollen Sinne des
Wortes, wenn auch nicht souveräne Staaten. Sie befinden sich im Rahmen
der höhern Gewalt des Reiches, ihre Lebensthätigkeit vollzieht sich innerhalb
der Reichsverfassung, aber für eine Reihe sehr wichtiger Äußerungen dieser
Lebensthätigkeit sind sie autonom, es ist ihnen das Gesetzgebungsrecht und das
im Recht staatlicher Initiative begründete eigentliche Regierungsrecht verblieben.
Weder das Gesetzgebung^ noch das Aufsichtsrecht des Reiches erstreckt sich
auf sie in ihrer Bethätigung bezüglich ihrer innern Organisation, der Ordnung
des Thronfolgerechtes, bezüglich der direkten Steuern, des Unterrichtswesens
u. s. w. In allen diesen Dingen beschränkt sich das Reich auf die negative
Thätigkeit, zu verhüten, daß nicht durch die Thätigkeit der autonomen Glied¬
staaten den verfassungsmäßigen Rechten der Reichsgewalt und der ihr vorzugs¬
weise anvertrauten Pflege der nationalen Gcsamtinteressen Abbruch geschehe.
In der Mitte zwischen unmittelbarer Verwaltung durch das Reich und auto¬
nomer Regierung der Einzelstaaten steht ein drittes Verhältnis, welches dem
der Körperschaften in der modernen Selbstverwaltung analog ist. Die früher
herrschende Gneistsche Begriffsbestimmung wesentlich verbessernd und berichtigend,
erblickt die neuere Staatswissenschaft fast durchgehends, im Anschluß an die
von Paul Laband begründete Theorie, in der Selbstverwaltung eine Selbst¬
beschränkung des Staates hinsichtlich der Durchführung seiner Aufgaben und
der Geltendmachung seiner obrigkeitlichen Herrschaftsrechte auf die Aufstellung
der dafür maßgebenden Normen und auf die Kontrolle ihrer Befolgung, wäh¬
rend die Handhabung dieser Normen selbst Zwischengliedern übertragen wird.
Was man als moderne Selbstverwaltung preist und anpreist, ist eine den heu¬
tigen sozialen Bedürfnissen entsprechende Bildung korporativer Verbände und
Beauftragung derselben mit obrigkeitlichen Geschäften, die bisher der Staat
selbst durch eigne Beamte ausgeführt hat. Selbstverwaltung ist demnach die¬
jenige obrigkeitliche Verwaltung, die nicht durch staatliche Behörden, d. h. also
nicht durch den Staat selbst, sondern durch ihm zwar untergeordnete, aber
innerhalb ihres Wirkungskreises selbständige Korporationen oder Einzelpersonen
versehen wird. Im Reiche ist der Einzelstaat eine innerhalb seines Wirkungs¬
kreises selbständige Person (Korporation), die unter der souveränen Gesetzgebung
und Aufsicht des Reiches die Verwaltung führt. Diese dritte Art der Be¬
ziehung des Reiches zu den Gliedstaaten ist prinzipiell normirt durch Art. 4
der Reichsverfassung, der die Angelegenheiten aufführt, die „der Beaufsichtigung
des Reiches und der Gesetzgebung desselben unterliegen." Die wesentliche Ähn¬
lichkeit, welche in dieser Hinsicht zwischen der Stellung der Einzelstaaten im
Reiche und der der Selbstverwaltungskörper im einfachen Staate besteht, dürfte
es rechtfertigen, wenn den erstern auf den Gebieten, auf denen ihre selbständige
Thätigkeit fortbesteht, aber als der Gesetzgebung des Reiches unterworfen den
Charakter der Autonomie verloren hat, eine Stellung als Organe der Selbst¬
verwaltung im Reiche zugeschrieben wird. Das Maß der den Einzelstaaten
überlassenen Selbstverwaltung ist auf den verschiedenen Gebieten der staatlichen
Thätigkeit höchst mannigfach bestimmt. Während z. B. die Handhabung der
Gewerbepolizei den Einzelstaaten vollständig verblieben ist, und das Reich in
der Gewerbeordnung nur die Nechtsgrundsütze aufgestellt hat, nach denen die
Verwaltung zu führen ist, ist die Selbstverwaltung der Zölle an feste Formen
und Regeln gebunden und einer stetigen, unmittelbaren Kontrolle unterworfen.
Aus dieser Darlegung ergiebt sich mit vollkommener Klarheit, wie eine
etwa erstrebte Aufsaugung der Einzelstaatsgewalten und der den Gliedstaaten
zustehenden Befugnisse durch die Reichsgewalt verlaufen müßte. Durch allmäh-
liebe Abbröckelung müßte die Autonomie mehr und mehr zusammenschwinden
und in bloße Selbstverwaltungsstellung übergehen; wo aber bisher Selbstver-
waltungsthätigkcit der Einzelstaaten bestanden hätte, müßte solche allmählich
der Verwaltung durch das Reich Platz machen. Eine Partei, zu deren wesent¬
lichen Grundsätzen es gehört, einem derartigen Prozesse Vorschub zu leisten,
müßte eine unitarische genannt werden. Die Frage ist: Besteht im deutschen
Reiche eine solche unitarische Parteirichtung? Kann in absehbarer Zeit eine solche
entstehen? Eine entschieden verneinende Antwort zu begründen, dürfte nicht allzu
schwierig sein. Der Vorwurf des Unitarismus wird nur erhoben gegen Männer,
die der nationalen Richtung angehören. Sie, die der Begründung der natio¬
nalen Einheit, wie sie sich in der Reichsverfassung darstellt, Beifall gezollt, viel¬
leicht persönlich dabei mitgewirkt haben, sollen — so wird angenommen —
nicht befriedigt sein durch das, was verfassungsmäßig zu Rechte besteht, sondern
darüber hinaus nach größrer Zentralisation Deutschlands streben und zwar
grundsätzlich und planmäßig. Ein Blick auf die Geschichte der nationalen Be¬
wegung in Deutschland seit den vierziger Jahren beweist unwidersprechlich, daß
diese ihre lebhaftesten und stärksten Antriebe erhielt aus den materiellen und
geistigen Interessen des Bürgertums. Die Macht der nationalen Idee als solcher
stieg und fiel mit dem Ansehen und der Macht des deutschen Bürgertums.
Das Bürgertum ist aber zugleich der Träger des Liberalismus im weitesten
Sinne des Wortes. In den sozialen Interessen und Anschauungen des Bürger¬
tums wurzelt die Staatsgesinnung, die man als liberal zu bezeichnen pflegt;
der Liberalismus ist die Staatsphilosophie der bürgerlichen Klasse. Aus der
Vielfältigkeit der Bestrebungen des Bürgerstandes als erwerbender Klasse ergiebt
sich mit Notwendigkeit ein Bestreben desselben, im Staate sür die einzelnen
Interessen und Interessengruppen, für deren Bildung und Bethätigung, den
freiesten Spielraum zu finden. Aus diesem Bedürfnis und recht eigentlich aus
der liberalen Grundidee ist auch das Streben nach Selbstverwaltung hervor¬
gegangen, die eine besondre Art der staatlichen Dezentralisation ist. Es folgt
also: die Dezentralisation liegt in der Idee des Liberalismus. Der Selbstver¬
waltungsgedanke gehört ganz ebenso und in ebenso grundlegender Weise wie
die nationale Idee zum politischen Programm des Bürgertums. In den aller¬
ersten Regungen der nationalstaatlichen Idee, wie sie sich in dem verjüngten
Deutschland unsrer Zeit gestaltet hat, zeigt sich ein vorahnendes Bewußtsein
hiervon. Paul Pfizer preist im „Briefwechsel zweier Deutschen" die dezentra-
lisirende Tendenz der preußischen Provinzialverfassung als einen besonders gün¬
stigen Umstand für die künftige Zusammenfassung des gesamten Deutschlands.
Nun besteht allerdings auch ein unverkennbarer Unterschied zwischen den
Selbstverwaltungskörpern des einfachen Staates und dem Charakter der deut¬
schen Staaten in den Beziehungen, in welchen sie Selbstverwaltungskörper des
Reiches genannt werden können. Die Abgrenzung ist bei den erstem eine ra-
tionelle, bei den letztern eine historische. In den selbstvcrwaltenden Körperschaften,
die der Sprachgebrauch gewöhnlich so benennt, überwiegen die sozialen Inter¬
essen, in dem Charakter der deutschen Staaten, wenigstens der bedeutenderen
unter ihnen, tritt auch heute noch die politische Seite stark hervor. Doch haben
gerade infolge des Entwicklungsganges, den das deutsche Volk genommen hat,
infolge der daraus entstandenen Verbindungen und Gewohnheiten, die sozialen
Interessen, deren Pflege mit Fug der Selbstverwaltung anheimfällt, meist ihren
nächsten natürlichen Mittelpunkt da gefunden, wo auch die politische Dezentra¬
lisation den ihrigen besitzt. Der Widerspruch zwischen einer rein rationellen und
der bestehenden historisch-politischen Bildung der Selbstverwaltungskörper ist
jedenfalls bei weitem nicht so bedeutend, daß er Anlaß gäbe zu einer syste¬
matischen Untergrabung des geschichtlich gegebenen und verfassungsmäßig aner¬
kannten Bestandes. Es ist klar, daß für eine nationale Richtung auch des aus¬
geprägtesten Charakters die Frage nach Abgrenzung der Kompetenz zwischen
Reich und Einzelstaaten, sei es nun daß diese als autonome oder als nur selbst¬
verwaltende Körperschaften in Betracht kommen, in keiner Weise mehr eine Prin¬
zipienfrage sein kann, sondern nur Sache der Zweckmäßigkeit. Man wird also
zur Erledigung derartiger Fragen, wo sie etwa auftauchen, nicht eine Partei¬
macht aufzubieten suchen, man wird durch Geltendmachung guter Gründe, die
der Natur der in Betracht stehenden sachlichen Interessen entnommen sind, im
einzelnen Falle zu einer ausgleichenden Verständigung gelangen. Ein gewisser
Gegensatz der Neigung zu zentralisirender Staatsthätigkeit auf der einen Seite,
zu dezentralisirender Berücksichtigung der Gesellschaftsinteressen auf der andern
wird immer bestehen, aber in einer derartigen zentralistischen Tendenz liegt nicht
einmal der Keim verborgen zu den gegen die Grundlagen der Reichsverfassung
gerichteten Bestrebungen, die man mit dem Namen „unitarisch" bezeichnet und mit
diesem Namen gebrandmarkt glaubt. Solange die gegenwärtige soziale Ordnung
aufrecht erhalten bleibt, kann und wird es weder im Parlament noch im Volke
Deutschlands jemals eine unitarische Partei geben.
Ebenso wenig ist vom preußischen Staate, solange er seinen geschichtlichen
Charakter nicht gänzlich verändert, die Unterstützung einer derartigen Parteibe¬
strebung, auch wenn sie im Volke auftauchen sollte, jemals zu erwarten. Was
Preußen dazu vermocht hat, sein ganzes Dasein als Großmacht aufs Spiel zu
setzen, um zu einer Umwandlung des frühern Staatenbundes in einen engeren,
nationalstaatlichen Verband zu gelangen, liegt offen zu Tage. Am klarsten
hat es Fürst Bismarck in seiner auf Vundesreform dringenden Depesche vom
24. März 1866 ausgesprochen, worin er sagt: „Wenn wir Deutschlands nicht
sicher sind, ist unsre Stellung gerade wegen unsrer geographischen Lage gefährdeter,
als die der meisten andern europäischen Staaten; das Schicksal Preußens aber
wird das Schicksal Deutschlands nach sich ziehen, und wir zweifeln nicht, daß,
wenn Preußens Kraft einmal gebrochen wäre, Deutschland an der Politik der
europäischen Nationen nur noch passiv beteiligt bleiben würde." Um die Existenz
Preußens sowie die des übrigen Deutschlands zu sichern, mußte die Möglichkeit
einer Trennung Preußens von den übrigen reindeutschen Vundesstaaten dem
Auslande gegenüber beseitigt sein. Dieser Gesichtspunkt war maßgebend bei
allem, was nachher geschah, um durch Begründung einer nationalen Verfassung
ein festes, unlösbares Band um alle Glieder des einen Volkes zu schlingen.
Die Thronrede, mit der der König von Preußen bei Eröffnung des Reichs¬
tages des norddeutschen Bundes am 24. Februar 1867 den der Volksvertretung
vorzulegenden Verfassungsentwurf charakterisirte, hat in nüchternen, aber in
ihrer schlichten Einfachheit monumentalen Worten für immer das Prinzip preu¬
ßischer Bundespolitik ausgesprochen. Der König sagte von dem Verfassungs¬
entwurf, „daß die verbündeten Regierungen, im Anschluß an gewohnte frühere
Verhältnisse, sich über eine Anzahl bestimmter und begrenzter, aber thatsächlich
bedeutsamer Einrichtungen verständigt haben, welche ebenso im Bereiche der
unmittelbaren Möglichkeit, wie des zweifellosen Bedürfnisses liegen." Der rein
praktische und dabei möglichst konservative Charakter dieses Programms hat sich
seitdem in der preußischen Bundespolitik keinen Augenblick verläugnet. Es ist
eben nicht blos die Einsicht und der Charakter des leitenden Staatsmannes,
der sich darin ausspricht, sondern der Charakter des preußischen Staates. Fried¬
rich der Große hat in einem Zeitalter, wo alle deutschen Fürsten, denen es
irgend möglich war, nach ausländischen Kronen oder nach Länderbesitz, gleich¬
viel welcher Art, gierig haschten, ruhig und klar gesagt, wenn ein Staat da¬
rauf ausgehe, seine äußere Macht zu mehren, so müsse er zuvor wohl erwägen,
ob solcher Zuwachs, selbst wenn er zu erreichen sei, nicht einen Verlust an
innerer Stärke, also im ganzen eine Schwächung bedeute. Ebenso klar aber hat
auch Fürst Vismarck bei jeder Gelegenheit der Erkenntnis Ausdruck gegeben, daß
das Vertrauen der Bundesgenossen ein Machtkapital Preußens sei, welches durch
keine über sie zu erringenden Vorteile aufgewogen werden könne. Es wäre ein
schlechter Handel, auch vom Standpunkt des Gewinn- und Verlustkontos aus
betrachtet, wenn Preußen irgendwelchen Bestrebungen näher treten wollte, durch
deren Begünstigung es das Vertrauen der ihm treu verbundenen Genossen auch
nur im geringsten verscherzen könnte. Die Politik des „ehrlichen Makkers" ist
immer auch die eines klugen Handelsmannes gewesen. Sollte je Gefahr drohen,
daß sie dem Hause, das er mit so unvergleichlichen Erfolge vertritt, ab¬
handen käme, die Erfahrung würde bald dafür sorgen, daß auf die erprobten
Wege zurttckgelenkt wird. Übrigens läuft der Wagen des preußischen Staates
in so tiefen und sichern Gleisen, daß ein Verlassen derselben kaum unter die
Möglichkeiten zu rechnen ist. Mit voller Sicherheit ist anzunehmen, daß das
Irrlicht unitarischer Zukunftsgestaltung niemals eine solche Folge haben wird.
Doch gehen wir nicht zu weit? Indem wir erweisen, daß der Unitaris¬
mus im Reiche keine Stelle hat, noch haben darf, indem wir der Vundestreue
unter den patriotischen Pflichten des Deutschen den ersten Rang zusprechen, haben
wir vielleicht den Schein auf uns geladen, als ob uns die nationale Gesinnung,
die Begeisterung für Glanz und Größe des deutschen Gesamtstaates minderer
Ehre würdig erschiene. Das wäre ein arges Mißverständnis. Nein, eben des¬
halb ist die bundestreue Gesinnung vor allem zu preisen, weil sie die festeste
Grundlage ist für nationale Sicherheit und Wohlfahrt. Daß der Geist, aus
dem heraus ein Charakter handelt, ein einheitlicher sein muß, bleibt dabei un¬
bestritten. Auch der deutsche Nationalgeist in seiner politischen Bethätigung
kann nur ein einheitlicher sein. Diese Einheitlichkeit der nationalen Gesinnung
fordert aber keineswegs Einförmigkeit, sondern Harmonie. Es ist das Charakte¬
ristische des Bundesstaates, daß die Verfolgung nationaler Gesamtzwecke teil¬
weise eine zentrale, teilweise eine gliedstaatliche ist. Also auch hier heißt es:
es sind mancherlei Gaben, aber es ist ein Geist. Wo dieser Geist ein echt
nationaler ist, wird er notwendig zugleich ein liberaler sein, indem er durch
keine Engherzigkeit das Luna, euiciue verkümmern läßt, aber auch ein wahrhaft
konservativer, denn, wenigstens in Zeiten ruhiger Entwicklung, wie wir sie
hoffen, ist staatserhaltend vor allem diejenige Gesinnung, die überall erst nach
den vorhandenen Rechten fragt, ^ustitis, kuMaruenwin rsAnorura.
,/>«SW?M"'^
ÄMM
WMber auch abgesehen von dieser extremen Erweiterung der physio-
kratischen und Sandschen Lehre durch die Freihandelsschule können
schon die Grundlagen jener erstem einer scharfen Kritik nicht überall
Stand halten. Die Physiokraten übertrieben bereits den Ratio¬
nalismus im Wirtschaftsleben zu einer reinen Naturlehre. Die
Erscheinungen im Wirtschaftsleben sollten sich nach ihrer Meinung wie die
Erscheinungen der physischen Welt gleich unabänderlichen Naturgesetzen voll¬
ziehen, die jedes Eingreifen menschlicher Willensthätigkeit als nutzlos aus¬
schließen, da es die ohnehin natürliche Entwicklung der Dinge nur auf
eine falsche Bahn leiten könne. Diese Hypothese erweist sich jedoch nicht
als richtig. Die wirtschaftlichen Gesetze vollziehen sich nicht nach denselben
Regeln wie die Gesetze der physischen Natur und sind von dein Einfluß mersch-
licher Handlungen durchaus nicht in gleichem Maße unabhängig wie diese, weil
die Vorgänge im Wirtschaftsleben nicht auf die gleichen elementaren Ursachen
zurückführen wie die Naturgesetze. Der elementaren Gewalt der Naturgesetze
steht der Mensch allerdings machtlos gegenüber, nicht so den Vorgängen im
Wirtschaftsleben. Schon die von den Physiokraten zugegebene Möglichkeit, daß
sie durch menschliche Einwirkung in falsche Richtung geleitet werden könnte,
ist ein Widerspruch gegen die erste Behauptung, eine oonti-g-Äletiv in g-chsoto.
Die Entwicklung des Wirtschaftslebens ist freilich ebenso „natürlich" wie die
Kulturentwicklung des ganzen Menschengeschlechtes, die auch nicht durch
Menschenkraft künstlich hintangehalten werden kann, aber damit ist der Thätig¬
keit des Menschen und der Völker doch nicht jede Macht und jeder Spielraum
in der Leitung ihrer Geschicke entzogen. Im Kampfe um seine Existenz schützt
sich jedes Volk mit den Mitteln, die ihm Natur und Kultur im gegebenen
Augenblicke bieten, nicht nur in staatlicher, sondern auch in wirtschaftlicher Be¬
ziehung. Es beugt den Gefahren, die ihm drohen, nach der zeitlichen und ört¬
lichen Zweckmäßigkeit der Lage und der Mittel vor, und es sucht sich politische
und wirtschaftliche Überlegenheit mit den gleichen Mitteln zu erringen und zu
sichern. Aber werden diese Mittel für alle Völker und für alle Zeiten die
gleichen sein? Nein. Sie werden angepaßt sein müssen der Kulturentwicklung
des Volkes und der Verschiedenheit der bestehenden Machtverhältnisse. Und
diejenigen Mittel, die diesen Umständen angepaßt sind, sind die natürlichen,
die aber weit entfernt sind von jenen „natürlichen" Mitteln, welche eine ab¬
strakte rationalistische Irrlehre preist.
Wir können also nicht zugestehen, daß auf wirtschaftlichem Gebiete jedes
bestimmende Eingreifen des Menschen nutzlos und verwerflich sei, sondern halten
es nach den Umständen des Ortes und der Zeit sogar für ein Gebot der un¬
bedingten Notwendigkeit.
Die ratio der Freihandelslehre hätte die Engländer niemals bewogen
zum Freihandel überzugehen — sie hätten dann ja nicht so lange zu warten
brauchen —, noch weniger hätten die beiden Fabrikanten Bright und Cobden
ihre Kollegen von der Zweckmäßigkeit des Freihandels überzeugen können, wenn
nicht die englische Industrie auf einem Stande gewesen wäre, auf dem der
Freihandel nur Vorteile bringen konnte.
Der „Cobdenklub" wußte mit den Hilfsmitteln der englischen Freihandcls-
schule seiner Agitation eine so allgemeine und blendend vernunftgemäße Unter¬
lage zu geben, daß er so kosmopolitisch angelegte Naturen wie die deutsche
über seine eigentlichen Zwecke und die ihnen zu Grunde liegenden Schwächen
und Einseitigkeiten hinwegtäuschte. Auch die deutsche Freihandelsschule hat es
bis heute übersehen, daß die naturrechtliche Auffassung der Gesellschaft ihre
eigentliche Voraussetzung, daß die mit einander konkurrirenden Personen und
Kräfte gleich seien, vollkommen beiseite läßt und den Mechanismus der Volks-
Wirtschaft mit den gerade geschichtlich gegebenen Stärkeverhältnissen als den
natürlichen betrachtet (v. Scheel); sie hat ferner bis heute nicht beachtet, daß
die englische Freihandelsagitation von den gerade vorhandenen englischen Zu¬
ständen ausging, denen unsre deutschen bis heute noch nicht gleichgestellt werden
können.
Die Irrtümer des wirtschaftlichen Rationalismus finden zum Teil darin
eine Erklärung, daß der Einzelne als eine rein egoistische Kraft aufgefaßt wird,
die, wie jede Naturkraft, immer in derselben Richtung thätig sei und unter
gleichen Umständen stets dieselben Wirkungen hervorbringe. Aus dieser Wurzel
entsprang zugleich die gänzlich verkehrte Theorie von der unbedingten Heilsam¬
keit der ungehinderten Entfaltung des menschlichen Egoismus im Wirtschafts¬
leben. Der Egoismus Sporne jeden Einzelnen zur wirtschaftlichsten Produktion
an, aber auch zur Verminderung oder Einstellung derselben, wenn sie nicht
mehr lohne, und der gleiche Egoismus treibe jeden Einzelnen zur möglichst
großen Ausnutzung seines Vorteiles; jeder Einzelne möge daher ganz sich
selbst überlassen bleiben: laisssi? altfr, laisse? xasser, Is uionäs og, as
1ni-MöM6.
Diese Sätze sind in der Allgemeinheit und Uneingeschränktheit, mit der sie
von jener wirtschaftspolitischen Richtung hingestellt werden, falsch. Der unge¬
zügelte Egoismus muß zu einer rücksichtslosen Ausnutzung der eignen Kräfte
und der fremden Schwächen führen, seine Proklamirung zum allgemeinen Gesetz
ist deshalb eine Verherrlichung der Gewissenlosigkeit, ein Hohn auf die Sittlich¬
keit und Menschlichkeit. Es begünstigt den Besitzenden und Unabhängigen, der
durch die Ausübung des nackten Egoismus noch vermögender und unabhängiger
wird, während es dem Besitzlosen und Abhängigen nichts nützt, da ihm die
Macht und die Hilfsmittel fehlen, um seinen Egoismus für sich nutzbar zu
machen.
Freilich wäre Mangel an Egoismus (Eigennutz, Selbstinteresse) oder die
Behinderung an der Ausübung desselben ein ebenso bedenklicher Nachteil. Ein
gewisses Maß von Egoismus ist notwendig und berechtigt, damit dem Einzelnen
der Trieb zu wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt erhalten bleibt. Aber
er muß an seiner Entartung gehindert werden, und diejenigen müssen geschützt
werden, die infolge ihrer hilflosen Lage, ihrer Vereinzelung ?c. der egoistischen
Aussaugung andrer machtlos und wehrlos preisgegeben sind. Darauf beruhen
unsre Wuchergesetze, unsre ganze soziale Gesetzgebung, unsre Vorschriften über
Bau und Betrieb der Eisenbahnen, über das Aktien- und Notenwesen u. s. w.
Bekannt ist der Widerspruch unsrer Freihändler gegen die deutschen Sozial¬
gesetze, aber es verdient in die Erinnerung zurückgerufen zu werden, daß sie
selbst Gegner der Patentgesetzgebung und der Verbote des Nachdrucks waren.
Schiller hat es glücklicherweise nicht mehr erlebt, daß der widerrechtliche Nach¬
druck sogar theoretisch und wissenschaftlich gerechtfertigt wurde.
Der deutschen Freihandelsschule war und ist gleich der englischen eigen¬
tümlich, daß sie nicht unterscheidet zwischen der Notwendigkeit der Handels¬
freiheit innerhalb des Staates und der reinen Zweckmäßigkeitsfrage der Handels¬
freiheit mit andern Staaten. Die Betrachtung beider Fragen unter ganz
gleichenWesichtspunkten verrät eine völlig mechanistische, nur äußerliches erfassende
Denkweise. Jedes Volk Hot seine eigne geschichtliche Entwicklung, die im un¬
mittelbarsten Zusammenhange steht mit seinen Charaktereigenschaften, seinen sitt¬
lichen Trieben, seinem staatlichen Verfassuugsleben, mit der Natur und den
Hilfsmitteln des Landes, welches es bewohnt u. s. w. Sollte die wirtschaft¬
liche Entwicklung eines Volkes unabhängig sein von diesen Umständen? Das
wird die oberflächlichste Betrachtungsweise nicht einräumen wollen. Der ur¬
sächliche Zusammenhang dieser Beziehungen ist so eng, daß die wirtschaftlichen
Zustände zweier Länder niemals als meßbare Größen nebeneinander gestellt
werden können. Die „internationale Arbeitsteilung" aber, welche die Frei¬
händler als Zielpunkt der Wirtschaftspolitik verkünden, ist in der extremen
Form, die ihr von ihnen gegeben wird, ein Unding und als solches schon so
häufig nachgewiesen worden, daß wir ein weiteres Wort darüber nicht zu ver¬
lieren brauchen.
Damit ein Volk seine gesamte wirtschaftliche Kraft entwickle, bedarf es der
Verkehrsfreiheit innerhalb seiner staatlichen Grenzen. Alles weitere ist Sache
der reinen Zweckmäßigkeit. Ein Volk, das in seinem Bedarf auf benachbarte
Völker angewiesen ist, kann mit diesen in einen engern Wirtschaftsverband
treten, eine gemeinsame Zollgrenze aufrichten. Aber es kann auch genötigt sein,
seine Grenzen der fremden Einfuhr ganz zu öffnen. In jedem dieser Fälle
wird nach der Lage der Umstände zu entscheiden sein, aber niemals wird dabei
der Grundsatz freien Binnenverkehrs als Beweis für die Notwendigkeit abso¬
luter Freiheit des internationalen Verkehrs für alle Staaten benutzt werden
können. Diese Frage kann auch nicht nach naturrechtlichen Abstraktionen und
Deduktionen, sondern nur auf Grund eingehender Prüfung der thatsächlichen
Verhältnisse entschieden werden. Der Freihandel wird das Ziel sein, das jedes
aufstrebende Jndustrievolk zu erreichen suchen muß, aber seine Staatsmänner
werden darauf bedacht sein müssen, daß der Übergang nicht zu frühe geschehe,
damit der Staat keinen Schaden leidet.
Wie wenig übrigens die im Mutterlande das Freihandelsprinzip so eifrig
verfechtenden Engländer auf dieser Neigung beharren, sobald sie sich in ihre
Kolonien begeben und eine Industrie begründen wollen, ist bekannt. Die Zoll¬
politik vieler englischen Kolonien ist entschieden schutzzöllnerisch, nicht zum we¬
nigsten gerade gegen die überlegene Industrie des Mutterlandes gerichtet, und
alle Lockungen des letztern, durch die Gründung eines England und alle seine
Kolonien verbindenden Zollvereines ein Llrsg.or Lritaw zu schaffen, gehen an
dem Widerstande der auf ihren wirtschaftlichen Fortschritt bedachten Kolonien
spurlos vorüber. Der aufmerksame Zeitungsleser wird sich vielleicht der vor
kurzem durch die öffentlichen Blätter gelaufenen Nachricht erinnern, daß Neu¬
seeland auf dem Punkte stehe, seine schon übertriebenen Schutzzölle noch um
einige Prozente hinauszusetzen. Das Kolonialamt wird das mit einigem Be¬
dauern für die englische Industrie ruhig geschehen lassen. Würde eine deutsche
Kolonie das gleiche thun, so wären wir diplomatischer Einwirkungen zu Gunsten
des einzigen und wahren Freihandels gewiß.
Ein im Prinzip freihändlerisches Volk und seine Regierung erkennen damit
an, daß der Freihandel nur für eine bestimmte wirtschaftliche Entwickelungs¬
stufe paßt. Und wenn dies zugegeben wird, so ist ein Punkt des Streites über
den Freihandel gehoben. Es kann noch eine Meinungsverschiedenheit darüber
bestehen bleiben, wann ein Land für den Übergang zum Freihandel reif ist und
wie er sich praktisch gestalten soll. Auch über das letztere kann nicht lange gestritten
werden: der Übergang kann nur allmählich, niemals plötzlich vor sich gehen.
Allerdings sind unsre parlamentarischen Freihändler in Deutschland so unklug,
fort und fort der radikalen schärfsten Rückkehr zum Freihandel das Wort zu
reden, aber sie setzen sich damit in Widerspruch mit der gesunden Vernunft
und mit ihrem Meister Adam Smith, der, wie wir bereits erwähnt haben,
schon aus reiner Menschlichkeit für die in einer Industrie beschäftigten Arbeiter
gegen die plötzliche Aufhebung der Schutzzölle aufgetreten ist.
»^-,^L«5
MMKin sogenannte gute alte Zeit, das ist ein beliebtes Ziel des Spötters
oder Spöttelns in dem Gedankenkreise, der den Tag beherrscht.
Es ist, als gälte es den Leuten, mit dem Glauben daran auf¬
zuräumen als mit einem Stück schädlichen Aberglaubens, der noch
aus einer glücklich überwundenen Zeit hier und da übrig ist. Ich
habe an dem Spotte nie Freude gehabt, auch nicht, wo er einmal als berech¬
tigt erscheinen konnte, obschon ich mich vor der Gefahr, die Gegenwart zu ver¬
achten über der Freude an Dingen der Vorzeit, früh genug gesichert fühlte schon
durch den Vers des Horaz von dem Alten, der allem Neuen mit Achselzucken
und Kritteln gegenüber steht: äWoilis, qusrulus, 1g.mag.lor temxori8 acti (g,rs
xost. 173).
Die Leute, die den Spott üben, vertreten, wie mir scheint, hauptsächlich
zwei Richtungen, die doch von einander sehr verschieden, ja entgegengesetzt sind.
Die einen reden aus dem stolzen Gefühle heraus, wie Wagner im Gespräche
mit Faust, „wie wir es zuletzt so herrlich weit gebracht," die andern aus Un¬
glauben an eine gute Zeit überhaupt, die einen also sehr jugendlich, die andern
sehr ältlich, wenn das Wort einmal so gelten darf. Es handelt sich aber im
Grunde um die Fortschrittsfrage, ob es überhaupt einen Fortschritt giebt, und
wenn es ihn giebt, wie er aussieht und sich darstellt. Die jugendlich Gesinnten
fühlen sich selber in frischem, fröhlichem Fortschritt, die andern fühlen, sehen
und glauben überhaupt keinen. Da aber beides also möglich ist, kann die Frage
nicht gar so einfach sein, und ist doch auf alle Fälle wichtig genug im großen
wie im kleinen Leben, da alles Streben und Leben im Größten wie im Kleinsten
an einen Glauben oder ein Vorgefühl eines gewissen Gelingens gebunden ist.
Von diesem Vorgefühle lebt eigentlich die Seele den Arbeitstag entlang, und
wo es einmal versagt, da läßt man erlahmt die Arme sinken. Wo es aber
einer ganzen Zeit versagt, die ist eigentlich verloren. Wie steht es nun da mit
uns jetzt? Mir ist, als könnte kaum eine Frage wichtiger sein.
Wenn sich nun da bei näherm Zusehen zeigte, daß schon der bloße Glaube
an eine gute alte Zeit ein Mittel wäre, den Fortschritt zur wirklichen guten
Zeit zu befördern, ein Hebel, um die ruhenden Kräfte in der rechten Richtung
zu bewegen, die dazu wirken müssen? Daß man also die Frage, ob es je eine
gute Zeit wirklich gegeben habe, ganz zurückstellen, ja sogar verneinen könnte
und doch den Schein derselben, der aus der Zeitferne hier und da aufleuchtet,
für Wahrheit nehmen, um sich gefördert zu fühlen, indem man damit jenen
unentbehrlichen Hebel gewinnt? Mir ist, als ließe sich dem kein nein entgegen¬
stellen, nicht einmal ein zweifelsüchtiges aber. Und wenn sich vollends zeigte,
daß jener Schein, ob sich auch Fernetäuschung einmischt, in wesentlichen Stücken
doch kein bloßer Schein ist, sondern ein Abglanz alter Wirklichkeit, gewänne
nicht damit der Hebel doppelte Kraft? Ist es aber nicht eigentlich einerlei, ob
ich das Ziel, dem die Zustände und ich darin zustreben müssen, vor mir oder
hinter mir habe, wenn ich es nur habe, d. h. in mir, wo auf alle Fälle seine
wahre Wohnstätte ist? Und wenn ich, um sein Bild in mir aufzufrischen, hinter
mich blicken muß, kann ich es darum nicht zugleich vor mir sehen, vor mich setzen?
Das kann wohl wie durch ein Begriffsspiel erschlichen scheinen, ist es
aber nicht, ja jeder kennt diesen merkwürdigen Vorgang in uns aus eigner Er¬
fahrung. Wenn man z. B. einem Orte zuwandert oder zufährt, wo man ein¬
mal glückliche Tage erlebt hat, da hat man ja diese Tage der Zeit nach hinter
sich, sieht sie aber doch in sich vor sich und hofft sie auch außer sich wiederzu¬
finden, falls sich die Verhältnisse nicht verändert haben, wie das freilich gewöhn¬
lich der Fall ist. So sammelt sich in jedem ein Vorrat von leuchtenden Bil¬
dern glücklicher Tage und Stunden an, die zusammengefaßt ein bestimmendes
Bild von rechtem Leben werden, das sich von selbst auch vor uns aufsteckt als
Ziel, das wir den veränderten Verhältnissen neu abgewinnen müssen. So hat
jeder einzelne seine gute alte Zeit, auch wer sich unter die Unglücklichen zu
zählen Grund zu haben glaubt, wenigstens in der Kindheit, und er sucht vor
sich immer und immer wieder — er muß —, was er der Zeit nach hinter sich und
doch noch tief in sich hat. Was einmal in mir und meiner Welt lebendig ge¬
wesen ist von Gutem und Schönem, einerlei wann und wie lange, das muß es
auch wieder werden können: das ist eine Rechnung, die die stille Seele in guten
Stunden tief in sich macht, und sie weiß da auch, daß die Rechnung nicht
täuschen kann. Die gute alte Zeit, die so leicht dem Spotte der Tcigesmeiuung
unterliegt, ist eine Kraftquelle für die Arbeit an der Zukunft. Das gilt für
das Leben des Einzelnen, wie für das von Gemeinschaften, auch der größten,
für das Leben eines Volkes, ja der Menschheit, sofern man sie sich als leben¬
diges Ganzes denkt.
Gerade wir Deutschen erleben das eben jetzt in deutlichster Weise. Was
ist die Wiederherstellung von Kaiser und Reich anders, als ein Zurückgreifen
auf alte Zeit im allergrößten Stile, warum soll man nicht sagen auf gute alte
Zeit? wohlbemerkt, nicht auf die gute alte Zeit. Denn daß die alte Zeit
schlechthin gut gewesen wäre in allen Stücken, und man gut thäte, sie mit Haut
und Haaren wiederzuholen, wer mag denn das behaupten von verständigen
Kennern und Freunden der Vorzeit? wer aber auch leugnen, daß es da Gutes
gab, das uns verloren gegangen war und ist? In dem Begriffe, den die ge¬
wöhnliche Meinung von Fortschritt hat, birgt sich leicht ein verhängnisvoller
Irrtum, daß er nämlich nur und immer und immer in einem geraden Vor¬
wärts bestehe, etwa wie der Weg eines Läufers, der einem bestimmten Ziele
zustrebt. Das ist tapfer jugendlich gedacht, wird aber im großen wie im kleinen
Leben zu einer Quelle schwerster Irrungen und Schäden. Ein so zusammen¬
gesetztes Ganze, wie eine Familie, eine Gemeinde :c., wie vollends das ist, was
man die Zeit nennt, kann sich nie auf gleicher Linie vorwärts bewegen, die Ge¬
samtbewegung ist eine vielfach gebrochene, im ganzen einer vorwärtsdringenden
Wellenlinie gleichend; die Wellen können freilich ihrem Höhenunterschiede nach
von solcher Größe sein, daß man dafür, nach der Zeit gemessen, Jahrzehnte, ja
Jahrhunderte als Maßstab nehmen muß. Das Gefährlichste ist, wenn einmal
an einer Stelle, die im Augenblicke (der sich zu Menschenaltern erstrecken kann)
den rechten Fortschritt anzeigt, nachher eben nur vorwärts und vorwärts ge¬
gangen und gedrängt wird, statt daß zur rechten Zeit andre Stellen nachgeholt
werden oder vorübergehend die Führung übernehmen. Darüber kommt das Ganze
zuletzt in eine gefährlich verschobene Lage, die allen wahren Fortschritt, ja ge¬
sundes Leben selbst gefährdet oder aufhebt. Die Geschichte von Staat und
Kirche, Kunst und Wissenschaft belegt das genügend mit handgreiflicher, schmerz¬
licher Lehre, worauf doch hier nicht eingegangen werden kann. So kommt es,
daß man endlich oft, durch bitterste Erfahrung belehrt, auf alte Verhältnisse,
alte Gedanken zurückgreifen muß, die in der Vorwärtsbewegung verloren ge¬
gangen waren und zum Heil des Ganzen nicht fehlen können. Ich will gestehen,
daß ich über Stahls Wort „die Wissenschaft muß umkehren," als es in den
vierziger Jahren von Berlin aus erklang, denselben heiligen Zorn empfand,
wie die öffentliche Meinung damals, daß ich aber allmählich darüber anders
denken, ja es als einen gesunden Heiltrank empfinden lernte, natürlich bei rich¬
tigem Verständnis. Haben wir doch erlebt, daß in der Philosophie das Losungs¬
wort ausgegeben wurde, man müsse zu Kant zurückkehren, um sich aus der Irre
wieder zurechtzufinden, und von seinem Standpunkte aus einen neuen Anlauf
nehmen. So kann der rechte Fortschritt gegebenen Falls in einem Rückschritte
bestehen.
Auch Kaiser und Reich sind der Zeit nach ein solches Rückschreiten, das
doch einer tiefen, alten, glühenden Sehnsucht entgegenkam und nur mit ver¬
schwindenden Ausnahmen von Allen, auch von allen Parteien als ein rechtes,
rettendes Fortschreiten immer deutlicher empfunden wird. Es ist aber auch kein
Wiederholen des Alten mit Haut und Haaren, vom alten Reiche ist abgestreift,
was ihm das Leben erschwerte und schädigte, aber der gesunde Kern davon ist sich
selbst zurückgegeben. Und so oft auch beteuert worden ist, das neue Reich sei
eine ganz neue Sache und habe mit dem alten nichts zu schaffen, so setzt man
doch gern beide in eins, wo es irgend geht. Das zeigt sich z. B. in diesen
Tagen an der Romfahrt Kaiser Wilhelms, wie alle Blätter seine Reise nach
Italien nennen, und der Ausdruck hat wohl für jeden Leser etwas eigentümlich
Behagliches, ja froh Erhebendes, offenbar nur durch die Anknüpfung an die
alte Zeit. Und doch kann man gerade daran fühlen, wie ganz anders das neue
Reich steht, wie gründlich es gebessert ist. Die alten Kaiser zogen über die
Alpen, um sich vom Papste die Krone und Kaiserwürde geben zu lassen, jetzt
fehlt nicht viel, daß sich der Papst vom deutschen Kaiser seine Krone und Würde
sest machen ließe. Da ist denn Rückschritt mit Fortschritt aufs schönste verquickt,
gute alte Zeit, die verloren war, in verbesserter Auflage wieder aufgenommen.
Wahrlich, die Tagesmeinung könnte immerhin mit dem beliebten Spott
auf die gute alte Zeit nun ein Ende machen und aus ihr das verlorene Gute
wiederholen helfen. Ja, das thut sie aber eigentlich schon. Sie thut es
z. B. mit der Gunst, die sie seit etwa zwei Jahrzehnten immer wärmer
und eifriger dem Kunsthandwerk unsers sechzehnten Jahrhunderts zuwendet,
daß man diesem mit seinem reichen und feinem Kunstgeist und Leben nun
schon überall, im Hause und in den Straßen, an Bauten und Büchern begegnet
in endloser Nachahmung. Da sieht man eine Rückkehr in verlassene Bahnen
im Schwange, der man nur oft schon mehr vorsichtigen Geschmack und Ma߬
halten wünschen möchte, die aber im Ganzen niemand als Rückschritt empfindet,
vielmehr wie eine Rettung in frisches, buntes, schönes Leben mitten im Alltngs-
leben aus einer Öde und Dürre heraus, von der man zum Teil schon unbe¬
greiflich findet, wie man hatte hinein geraten können. Wie entschieden, ja grell
der Umschwung ist, kann man daran sehen, daß man Gegenstände der Kunst
und des Handwerks aus jenen Zeiten nun als Kostbarkeiten hütet und als Vor¬
bilder sammelt, die vorher der Verachtung und mutwilligen Verwüstung preis¬
gegeben waren. Ich weiß z. B. einen Fall aus einer thüringischen Stadt, wo an
einem kostbaren Kirchenbau des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts, der auch
wenigstens Sonntags noch zu Frühgottesdienst diente, die Glasgemälde im
Chor den Gassenbuben als Zielscheibe für ihre Übungen im Steinwerfen dienten,
es ist um das Jahr 1800 gewesen, an der Liebfrauenkirche in Arnstadt, die
nun auch aufs schönste aus Verfall wieder hergestellt und verjüngt ist. Es war
ja Zeug aus dem finstern Mittelalter! Das mochten vorbeigehende Bürger
denken, oder, von innen gesehen, ungefähr wie Faust in seinem Studierzimmer:
Wo selbst das liebe Himmelslicht
Trüb durch gemalte Scheiben bricht.
Wer sie also vernichten half, machte sich um den Fortschritt verdient. So
kann sich der Begriff von Fortschritt in sein Gegenteil verkehren, wie die
Welle von der erreichten Höhe oder Tiefe in entgegengesetzter Richtung geht.
Das finstre Mittelalter, dies Stichwort der Aufklärungsperiode, das man
an vielen Stellen noch ruhig fortführt, ist denn nachgerade auch so nicht mehr
haltbar. Noch Uhland, der an seiner Aufhellung so hohen Anteil hat und so
tief innerlich drin leben lernte, traute sich das Wort nur wie schüchtern mit dem
hübschen Bilde zu berichtigen: „Man hat das Mittelalter wohl eine tausend¬
jährige Nacht genannt. Diese Nacht war wenigstens eine sternenhelle, Stern¬
bilder stiegen in ihr auf und nieder, welche nicht sichtbar sind, wenn die schatten¬
lose Mittagssonne scheitelrecht auf die Häupter der Menschen leuchtet"
(Schriften 1, 4). Aber eine Zeit, aus der ein Dante leuchtet, aus der die
Scmgcskunst eines Walther von der Vogelweide und die Heldenlieder von den
Nibelungen und der Gudrun erklingen, eine Zeit, aus der die tiefsinnige, schöne
Welt- und Gottesweisheit eines Meister Eckhart in der Muttersprache er¬
glänzt, eine Zeit, die hehre Kunstwerke leuchtend hinstellte, wie das Straßburger
Münster, wie kann man die immer noch schlechthin als Nacht ansehen? Es
wirft sich vielmehr die Frage auf, wie man denn im 17. und 18. Jahrhundert
dazu kommen konnte, sie nur finster zu sehen? Sie hat wahrlich bei allem
düstern Schatten Licht und Glanz gerade genug, wenn auch zum Teil anders,
als wir sie nun brauchen können, ohne daß wir uns deshalb einbilden dürften,
wir hätten es nun gerade jetzt so herrlich weit gebracht, den einen letzten,
den absoluten Maßstab für das Schöne, Gute und Wahre, für die rechte Form
alles Lebens endlich zu besitzen. Das 18. Jahrhundert war auf dem Wege
zu diesem Irrtum oder schon mitten drin, unser Jahrhundert ist wohlweislich
in seinem Lauf davon zurückgekommen und sucht tapfer weiter nach jenem
Maßstab, weiß auch gar wohl, die Unbefangenen wenigstens, daß man danach
auch in der eignen Vorzeit mit suchen kann oder muß, nicht bloß im Auslande
oder im griechisch-römischen Altertum, wie man vordem lange fast ausschlie߬
lich gethan hat. In dem Lichte und Glänze des sogenannten finstern Mittel¬
alters ist bei näherm Zusehen mehr als ein Strahl entdeckt worden, den man
unsrer Geistes- und Lebenssonne, die an vielen Stellen gar düstre Flecken zeigt,
recht herzlich wieder wünschen möchte oder muß. Wie hätte man z. B. an¬
derswo lernen können, was jeder Einsichtige nun weiß, was das Volk in seinem
tiefstem Sinne bedeutet als letzter Schoß und Boden, in dem alles gesunde
Leben wurzeln, aus dem es erwachsen muß? An dem klassischen Altertum nicht,
auf das diese Erkenntnis erst von der Erkenntnis unsrer Vorzeit aufklärend
übertragen worden ist. An der Bedeutung des Kunsthandwerks ist nun klar
und allgemein erkannt, wie und wo auch die hohe Kunst allein zu gesunder
Blüte und Kraft erwachsen kann, vom Handwerk aus, sodaß die Höhe oben
und die Breite des Alltagslebens unten ein ununterbrochenes lebendiges Ganze
darstellen, in dem der Lebenssaft in Wechselwirkung auf und niedergeht. Und
es ist im Grunde mit alleu großen Lebensformen nicht anders, denn ein und
dasselbe Gesetz des Werdens, das dem Bewußtsein des 17. und 18. Jahrhun¬
derts noch verborgen war, geht durch das Lebensganze nach allen seinen
Erscheinungsformen. Auch Irrungen im Entwicklungsgange des Rechtslebens,
des Gemeindelebens, des Staatslebens, von denen man nun zurückkommen
muß, rührten nur daher, daß man in der Höhe, oft nur einer geträumten
Höhe, des Lebens selber, des Volkes, der angebornen Eigenart vergessen oder
mit Verachtung darauf niedersehen gelernt hatte. Jetzt ist ja fast auf allen
Punkten ein großer Rückschwung im Gange, wohin denn? Doch zu guter alter
Zeit, in der man Fäden des werdenden Gewebes wieder aufnehmen muß, die
man verächtlich töricht hatte fahren lassen, daß aus dem Gewebe ein Gewirre
wurde. Auch im Mittelalter giebt es solche Verlorne Fäden wieder zu suchen.
Gehört uicht Kaiser und Reich selbst dazu?
Bei dieser Aufgabe unsrer Zeit und Zukunft handelt es sich aber zugleich
oder zunächst um unser Verhältnis zu den Franzosen, das ja seit vielen Jahr¬
hunderten für das Gedeihen oder Stocken unsrer Entwickelung ganz wesentlich
mit bestimmend gewesen ist. Politisch, für Form und Bestand unsres äußern
Lebens ist es nun endlich überraschend schnell und gründlich ins Reine gebracht
worden, für unser inneres Leben, wie Wohl viele meinen, noch bei weitem nicht. Ich
denke nicht entfernt daran, daß man alles Französische nun bei uns mit Stumpf
und Stiel ausrotten solle oder könne. Aber aus der eigentlich französischen
Periode unsers Culturlebens, die im 17. Jahrhundert begann (mit einem Vor¬
spiele im 12. und 13. Jahrhundert), ist noch viel mehr übrig, als es der Würde
und dem Beruf eines Volkes mit bestimmter Eigenart entspricht. Man merkt
es nur vielfach noch nicht durch die Gewalt der langen Gewöhnung. Wer
aber in der Zeit über die französische Periode rückwärts wieder heimisch wird,
wozu ja ein Zug der Zeit immer lebhafter unsre Bildungswelt zieht, der fühlt
es wieder, wie französisch wir geworden waren und zum Teil noch sind. Es
war, als ob der Gesichtskreis unsrer Lebens- und Weltanschauung vom fran¬
zösischen Wesen wie von einem Gebirge begrenzt wäre, hinter dem es nichts
weiter gäbe. Mir kam einmal als Trost dieses Bild zugleich mit dein sinnigen
Sprichwort „hinter den Bergen wohnen auch Leute," das einem ähnlichen
Durchbruch durch einen verengten Gesichtskreis entsprungen sein muß. Wir
müssen diesen französischen Horizont vollends durchbrechen oder überspringen
und zurücktreten in das deutschere Leben vorher, wie man das ja im Kunst¬
handwerk schou thut.
Übrigens sind ja, zum Troste für uns, die andern Culturvölker Europas
in gleicher Lage, aus der Zeit her, wo die französische Cultur den Anlauf
dazu nahm, die Cultur schlechthin zu werden, und kein Einsichtiger wird
verkennen wollen, daß Europa und wir mit durch den französischen Geist da
auch wahre Förderung erfahren haben. Daß aber diese große französische Cul-
turbewegung, die sich anschickte, alle Culturkräfte Europas ins Schlepptau des
französischen Geistes und seiner Entwickelung im Guten und Schlimmen zu neh¬
men, endlich in ihrem Lauf gebrochen und gedämmt wurde, das geschah zum
Heile der Culturwelt und der Franzosen selbst, wie die Zukunft zeigen wird,
ja wohl schon jetzt zu erkennen ist, da aller wahre Fortschritt der neuern Zeit
an den regen freien Wettbewerb der verschiedenen Volkskräfte geknüpft ist. Ein
bedeutsames Zeichen der im Stillen vorschreitendem Rückbewegung trat jetzt bei
der Romfahrt Kaiser Wilhelms zu Tage, indem da bei dem höfischen Fest¬
mahle, dem sogenannten Galadiner, die beiden Fürsten ihren Trinkspruch nicht
mehr französisch ausbrachten, sondern jeder in seiner Landessprache, was noch
vor zwanzig Jahren ein unmögliches Ding gewesen wäre. Es giebt gewiß noch
manchen bei uns und in Italien, der darin keinen Fortschritt, lieber einen
Rückschritt der Cultur erkennen mag und vielleicht kopfschüttelnd von guter
alter Zeit spricht, deren Wert man nun verkennen lerne. Aber die Rückbewegung
ist doch auf dem Wege des wahren Fortschrittes, und den Franzosen selbst ist
nichts gesünder, als daß sie nun genötigt werden, auch fremde Cultursprachen
zu lernen, also in die Zeit zurück zu treten, wo sie noch nicht mit ihrem Fran¬
zösisch allen Culturinhalt zu besitzen und überall in Europa als fertig und
maßgebend auftreten zu können glauben durften.
Wie lange bei uns die Rückbewegung im Gange ist, wie hochnötig sie
ehrenhalber war und was dabei noch aufzuräumen übrig bleibt, kann man an
der Geschichte des Briefverkehrs sehen. „Addresse" und „Couvert" sind Reste
aus einer Zeit, wo auf der Höhe der französischen Periode der Briefverkehr
in gebildeten Kreisen überhaupt französisch werden wollte, wo man sich in
Deutschland, wenn man nach der Höhe der Bildung strebte, französische Briefe
schrieb, sodaß es noch im Anfange unsers Jahrhunderts guter Ton war, einem
deutschen Briefe wenigstens ein französisches Äußere zu geben: » Nonsisur,
g. Naäönioisgllg Konnt-is u. s. w. Die Bildungsstreber fingen eben an, Couvert
uun auch ganz französisch auszusprechen, nicht mehr barbarisch deutsch mit dem
t, sondern z. B. „Cuwärs" zu verlangen beim Papierhändler, als sie Stephan
von oben her vollends abschaffte. Wie weit aber die französische Färbung
unsers höheren Lebens gegangen ist und was davon alles noch unbewußt fest¬
sitzt, kann man z. B. an „Majestät" sehen. Man stutzt wie über eine kleine
grammatische Barbarei, wenn man im 16. Jahrhundert z. B. in den Reichs-
abschieden von „kayserlicher Mayestät" liest, und merkt wohl dann erst, daß das
lateinische Wort jetzt ein französisches Schminkpflüfterchen tragen muß, denn
das ä ist dem französischen ra^ssts zu Gefallen angenommen und herrscht
nun in der ganzen Legion von — täten, deren grammatisches Kleid ein wun¬
derliches Gemisch von lateinischer, französischer und deutscher Farbe zeigt, ohne
daß wir das empfinden, und dergleichen Zwitterzeug giebt es nicht wenig im
Sprachleben unsrer Bildung. Soll man das verdeckt gehen lassen oder zum
Bewußtsein bringen? also die behagliche Ruhe durch Verdruß und Unruhe
stören? Wer an eine bessere Zukunft denkt, nicht bloß an sein Behagen, in
diesen und in wichtigeren Dingen, wird den Verdruß vorziehen, man wird ihn
aber auch vorläufig los, wenn man die französische Periode in Gedanken rück¬
wärts überspringen lernt. Die Freude an unsrer alten Sprache, in der sich
deutsche Art noch mehr als Herr im eignen Hause zeigt, ist denn auch sichtbar
im Wachsen begriffen, und das Behagen an den alten Formen und Wendungen
mit ihrem kräftigen Eigenleben bringt von selbst zugleich ein Behagen an der
alten Lebensluft mit sich, die daran hängt, an den Gedanken, Strebungen und
Verhältnissen der Vorfahren, in denen man manches Gesunde fühlen lernt,
das wir entbehren. Ist doch auch das ein Zug der Zeit, der mehr oder we¬
niger durch ganz Europa geht und sich immer kräftiger entwickelt.
Dies Zurückdenken in die eigne Vorzeit als Aufblick von der Mühe und
Arbeit der Nähe, die so unvollkommen erscheint, in eine schöne Ferne ist alt.
Wie es bei den Griechen schon in dem homerischen Gedankenkreise der Ilias
zu finden ist, so verrät es sich bei uns schon in der Blütezeit unsrer mittel¬
alterlichen Dichtung z. B. in der Einleitung zum Nibelungenliede von den alten
Mären, die Kunde geben von kühnen Helden alter Zeit. Mehr wissenschaftlich
erscheint es in den Studierstuben der Humanisten im fünfzehnten und sech¬
zehnten Jahrhundert und wird unter Schwankungen doch weiter und tiefer in
jedem folgenden Jahrhundert. Der eigentliche Durchbruch zu maßgebender
Wirkung in das allgemeine Bewußtsein erfolgt durch die Romantik, unter deren
Nachwirkung wir noch stehen, so sehr man sie schon länger als eine über¬
wundene Periode voll ungesunder Richtungen ansieht. Dann aber, unter Mit¬
wirkung des französischen Druckes, der die deutsche Art überhaupt zu erdrücken
drohte, ging dem Zeitgeist das Auge auf für die Bedeutung unsrer alten Kunst
und Dichtung, für den Wert der im gemeinen Volke nachlebenden Märchen
und Sagen, für die berechtigte Eigenart und keimvolle Lebensfrische unsers
alten Lebens überhaupt, auch des Rechtslebens, Gemeindelebens, Zunftlebcns
u. s. w.; Ritter, ritterlich, Begriffe, die nie ganz hatten aussterben oder ent¬
arten können, gewannen neuen Glanz, den ja jetzt noch jeder in der Knabenzeit
mit seinem Zauber in sich erlebt. Von der blinden Übertreibung, die ja, wie
bei jeder lebhaften Geistesbewegung, nicht ausbleiben konnte, rührt vielleicht
wesentlich der Spott über die gute alte Zeit her, der mir aus vorigem Jahr¬
hundert nicht erinnerlich ist. Die Wissenschaft ist ja nun eifrig über all jenen
Lebensgebieten her, um die reine Wahrheit herauszuschälen, aber so nüchtern
kritisch sie immer verfährt, oft genug mehr als recht und nötig ist, und hier
und da schönen Schein zerstört, sie stößt doch auch überall ans hoffnungsvollste
Lebenskeime, die wert gewesen wären, sich weiter zu entwickeln, wenn nicht
hemmende Einflüsse darüber kamen.
Wie weit und tief aber die Wirkung der Bewegung auch noch auf unser
gegenwärtiges Leben geht (und damit in die Zukunft), zeigt sich leicht, wenn
man sich darin umsieht. Aus der romantischen Stimmung stammte der Gedanke
an den Ausbau des Kölner Domes, an die Wiederherstellung der Wartburg,
den Neubau des Schlosses Stolzenfels u. s. w., und wie hält dies Erneuern
dieser stolzen Zeugen einer großen Zeit nach, auch nachdem der romantische
Hauch längst verweht ist, wenn man nur z. B. an das Ulmer Münster, an die
Marienburg im Ordenslande, an die Kaiserpfalz in Goslar, die Albrechtsburg
in Meißen, die Burg Heinrichs des Löwen in Braunschweig denkt, deren Ausbau
oder Neubau wohl keiner anders als mit Genugthuung oder eigentümlich
tiefer Freude sieht, und es sind ihrer schon so viel und werden bei allen
unendlichen Schwierigkeiten der Ausführung immer mehr, daß nur der Kenner
sie noch alle wissen kann.
Wie lebhaft eine entsprechende Bewegung aus dem Gebiete der Dichtung im
Gange ist, das anzudeuten genügt die Nennung der Namen Victor Scheffel,
Julins Wolff, und denkt man dabei an die Fülle von Erneuerungen, Über¬
setzungen und Neudrucken der alten Dichtungen selber, die immer weiter über
den Kreis gelehrter Interessen hinaufreicht, und wie der Sinn dafür schon der
Jugend erweckt oder eingeflößt wird in den Lesebüchern bis in die geringste
Volksschule hinunter, woran vor hundert Jahren noch nicht zu denken war, so
sieht man vor sich, wie unser Bewußtsein durch die ganze Nation hin in einer
förmlichen Neubildung begriffen ist, die es nach der Vorzeit hin ergänzt, von
der ja ohnehin noch an tausend Stellen innen und außen die Fäden in das
Gewebe unsers heutigen Lebens hereinreichen, die nun so ihre Bedeutung und
ihren Zusammenhang wiederfinden. Und wie dabei die Bewegung auf der Höhe
der Zeit in der Kunstentwicklung sich darstellt, dafür braucht man nur den
Namen Richard Wagner zu nennen, in dem mit dem Hochfluge und Tiefsinn
philosophischen Bewußtseins sich die höchsten Ziele deutschester Kunst die Hand
reichen mit dem Alten, Ältesten unsrer Geisteswelt und dort ihre Wurzeln
suchen.
Mit alledem stellt sich wohl auch heraus, daß es sich bei dieser Rückbewegung
gar nicht um etwas Ungewöhnliches handelt, das etwa der Absicht der Mutter
Natur zuwiderliefe, die nur vorwärts verlangte, sondern um etwas recht Ge¬
setzmäßiges, ja um ein Lebensgesetz, das dem Menschenwesen von seiner Wiege
her eingebunden ist. Man kann es am bequemsten beim Einzelnen erkennen.
Wer sich einmal auf der Höhe des Lebens im Labyrinth der äußern und in¬
nern Welt ins Irre und Wirre geraten findet, sich selbst und seine reinen Ziele
verloren hat und im Kampfe erlahmt, dem kommen da, gerade in der Ermü¬
dung, von selbst Kindergedanken wieder, dort in der Kindheit findet er sich selbst
wieder und den Ansatz der rechten Wege, die er wieder betreten muß. Solche
Irrungen, die einen Rückbick nötig machen, begleiten aber alle menschliche Ent¬
wicklung , auch die der Völker. Wir sind jetzt mit unsrer Cultur mehrfach in
der Irre, zum Teil gefährlichster Irre. Es handelt sich, was bei einer alten
Cultur nicht Wunder nehmen kann, um etwas, das gefährlicher ist, als wilde
Natur, um Übercultur. Was im einzelnen Falle dazu zu zählen ist, was nicht,
kann ja streitig sein, aber daß das Wort da ist und immer öfter erklingt, das
bürgt wohl Zweiflern gegenüber, die Schlimmes nicht sehen mögen, allein dafür,
daß wir daran leiden. Das Wort ist ziemlich jung, der Begriff älter, die Sache
noch älter. Schon gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts zeichnet sie ein
Franzose mit überraschender Klarheit, der treffliche Montaigne in seinen Essays
(namentlich in dem Kapitel as Oannidalss). Die Erkenntnis der Gefahr und
wie man sich auf den Culturwegen an Abgründe hin verirrt hatte, brach dnrch
im achtzehnten Jahrhundert. Der Name Rousseau sagt alles. Der Franzose suchte
sich Hilfe oder Trost bei der wilden Natur, wie man ihm wenigstens vor¬
werfen durfte. Bei uns suchte man sie sich in der Urzeit der Culturwelt. Da¬
her die neue Begeisterung für Homer und das alte Griechentum überhaupt,
das man dem Urbild der Menschheit näher oder gleich dieses selbst darin sah.
Daher die uns jetzt so fern gerückte und doch so leicht wieder verständliche
Wärme für das Alte Testament, die sich ziemlich lange in unsrer Dichtung
wirksam zeigte. Durfte man doch dort bei der bangen Suche nach reinen Men-
schenzuständcn die Uranfänge der Menschheit überhaupt abgedrückt zu finden
glauben, bis sich der suchende Blick auf das Morgenland überhaupt erweiterte,
um der Wiege der Menschheit möglichst nahe zu kommen.
Aber ein Irrtum war noch dabei, der sich auch selbst bald fühlbar machte,
daß man in der Ferne suchte, was man in der Nähe brauchte. Wenn ein Ein¬
zelner in die Irre geraten ist, kann er wohl im Leben Andrer, besonders in
Jugenderinnerungen Trost und Weisung wiederfinden, sich selbst aber nur in
der eignen Jugend und Kindheit. So mußte der deutsche Geist, in die Irre
geraten, sich selbst in der eignen Vorzeit suchen. Das that er mit entschiednen
Bewußtsein zuerst in Klopstock, in dem daneben zugleich die griechische und alt-
testamentliche Richtung wirkten. Die Franzosen halfen unbewußt dazu, aus
deren geistiger Herrschaft es galt sich herauszuziehen. Und als ihre politische
Herrschaft dazu kam, half das, wie anderwärts in Europa, bei uns aber am
nötigsten, die große Entdeckung machen, daß man nicht in dem allgemein ge¬
haltenen Begriffe der Menschheit sein nächstes Ziel zu suchen habe, das gerade
der französische Geist am fleißigsten predigte, sondern in der angebornen Volks¬
art, die in Gefahr oder halb verloren war. Die Franzosen haben unter dem
ersten Napoleon durch ihren Druck den Begriff der Nationalität in uns aus
dem Gefühle ins Bewußtsein herausgetrieben, unter seinem Neffen aber ihr mit
ihrer nötigen neuen Lebensform auch in die Erscheinung treten helfen. Wir
müssen den Franzosen eigentlich recht dankbar sein.
Ich denke also, es giebt Fortschritt und giebt alte gute Zeit, und beide
hängen eng zusammen. Wie beide genauer aussehen, das alte Gute und der
wahre Fortschritt, das auszuführen gäbe freilich im einzelnen noch viel Arbeit.
Wenn sich aber der Herr Zeitgeist, dieser Allmächtige, gestimmt funde, das enge
Verhältnis beider anzuerkennen, so wäre ihm auch wohl ein Wunschzettel vor¬
zulegen, der wieder ziemlich lang werden könnte. Davon vielleicht ein andermal.
Heute nur noch ein Blick auf die Frage von einem höhern Gesichtspunkte. Von
meiner Mutter hörte ich in ihrem Alter öfter sagen: Ich wollte, ich wäre wieder
jung, ich müßte aber wissen, was ich jetzt weiß. Der Wunsch mit seiner Bedin¬
gung ist für das einzelne Menschenkind freilich vor den Gesetzen der Natur nicht
ausführbar (kann aber wohl nach diesem Leben seine Erfüllung finden, was ich im
Stillen schor lange denke), wohl aber für die Völker, für die Menschheit.
Denn die Welt wird alt und wird wieder jung, mit Schiller zu reden, sie aber
kann in die neue Jugend den Gewinn des Alters mit hinübernehmen, die Er¬
kenntnis der erfahrnen Irrungen und die klarere Kenntnis des einen Zieles.
Das wird möglich durch das Gesamtbewußtsein, das sich von Geschlecht zu Ge¬
schlecht herausbildet und überliefert und auch dem Einzelnen seine Wege erleich¬
tern, ja abkürzen kann. Damit ist das Bewahren des alten Guten und der
Fortschritt aufs beste gepaart. Aller wahre Fortschritt beruht denn auch darauf,
daß die alternde Welt sich aus sich heraus fortwährend verjüngen kann und
doch dabei wissen, was sie als alte wissen kann. Für das letzte zu sorgen ist
Sache der rechten Wissenschaft, die zugleich das Bewußsein und das Gewissen
der Menschheit darzustellen hat. Freilich, da wir dem Gesamtbewußtsein der
Menschheit nach nun schon Jahrtausende alt sind, wie weit müßten wir nicht
eigentlich s in?! Mußten wir nicht viel näher beim reinen Glücke sein, als alle
Vorzeit? Sind wir das? Ich glaube, man kann darauf sowohl mit Ja als mit
Nein antworten. Näheres Eingehen darauf aber müßte wohl den ganzen Gedanken-
gang wieder von vorn beginnen, also im Kreise verlaufen. Ein freudiges Ja würde
aber ganz nahe liegen, wenn erst der kluge Herr Zeitgeist sich wieder einmal
mehr auf das Ewige besinnen wollte, das zugleich das Uranfängliche ist, wie
es ewig vor uns schwebt, aber auch in uns und unter uns jeden Augenblick
auftreten kann und dann alles in uns und um uns froh beleuchtet.
MWW
»^
WD>om 9. Mai 1818 bis zu seinem am 28. August 1837 in Prag
auf der Reise) erfolgten Tode gehörte Karl Ludwig Costenoble,
ein Schüler Schröters und Ifflands, zu den Mitgliedern des
Wiener Hofburgtheatcrs, vom Jahre 1832 ab war er Regisseur
dieser schon damals berühmten Bühne. Schreyvogel, der aus¬
gezeichnete Dramaturg, hatte Costenoble, der in Hamburg sich eines guten Rufes
als Komiker erfreute, nach kurzem Gastspiel 1816 für Wien gewonnen, und
zwar sollte er hier nicht mehr niedrig komische Rollen spielen, sondern das edlere
Fach der Charakterrollen übernehmen. Costeuobles beste Figuren waren die des
Shylock und des Juden Schewa, die des Klosterbruders im „Nathan," des
Narren im „König Lear," des Bankiers Müller in Bauernfelds „Liebesproto¬
koll," des Präsidenten Walther in „Kabale und Liebe" und noch einige Ge¬
stalten in Ifflands und Kotzebues Lustspielen. Ju Hamburg hatte er sich in
plattdeutschen Komödien berühmt gemacht, in Wien lebte er sich sehr rasch in
das volkstümliche Possenspiel der Lokalbühnen ein.
Als Costenoble nach Wien kam, hatte er schon eine reiche Vergangenheit
als Mensch wie als Künstler. Geboren 1769 zu Herford in Westfalen als
Sohn eines Pastors, stand er in seinem neunundvierzigsten Lebensjahre. Das
Wanderleben der damaligen Theatertruppen hatte er mit all seinem Elend und
all seiner Bitterkeit durchgekostet. Als er (durch das Spiel Flecks für die
Schauspielkunst gewonnen) seine künstlerischen Lehrjahre durchmachte, nahm die
Hamburger Bühne unter F. Ludwig Schröters Leitung ihren höchsten Auf¬
schwung gleichzeitig mit dem sogenannten goldenen Zeitalter der deutschen Litte¬
ratur. Dann machte Costenoble in Hamburg die böse Franzosenzeit mit, die das
Theater nicht weniger als das bürgerliche Leben beeinträchtigte. Als er sich
dann endlich in Wien dauernd niederließ, war wieder eine neue Zeit gekommen,
die sich wesentlich von der stürmisch bewegten und von nationaler Begeisterung
erfüllten Zeit, die voranging, unterschied. Es war die Zeit des Metternichschen
Regimentes, welches zumal nach der Ermordung Kotzebues 1818 sich geltend
machte. Das Volk wurde von der Teilnahme an den politischen Tagesfragen
ferngehalten, Polizei und Zensur hatten die Alleinherrschaft. Zeitungen wurden
nur geduldet, wenn sie gleichgiltigen Klatsch, abstruse Scholastik oder unschuldige
Theaternachrichten brachten. Das Metternichsche Bevvrmundungssystem duldete
nicht, daß sich ein öffentlicher Geist im Volke entwickelte. In dieser Zeit wurden
die Bühnen und ihre Vorstellungen die einzigen Anstalten, in denen sich die
Nation als solche zu fühlen vermochte; im Theater kam man zusammen, dort
wagte man Volkswünsche durch Beklatschen anzüglicher Stellen kundzugeben;
das Theater ersetzte Parlament, Wahlversammlung, Katheder, Presse. Darum
blühten auch damals alle fünf Bühnen Wiens; wälsche und einheimische Sänger
und Sängerinnen, wienerische und norddeutsche Schauspieler und Tragödinnen
wurden in Wien grenzenlos gefeiert, und die Lust am Theaterspielen ergriff
alle Kreise der Bevölkerung. In vielen hochadelichen und bürgerlichen Gesell¬
schaften bestanden Liebhaberbühnen, Burgschauspieler wurden gebeten, sie zu leiten,
und wenn auch in den strengen Altwienern Vorurteile gegen die Schauspieler
als leichtsinniges Volk noch lange nicht überwunden waren, ein kaiserlicher Be¬
amter z. B. sich tief verletzt fühlte, wenn eine ihm nahe stehende Frau zur
Bühne gehen wollte, so wurden doch die beliebten Mitglieder der einzelnen
Theater auch im bürgerlichen Leben schon geachtet. Der „gute Kaiser Franz,"
dessen schlaue Gemütlichkeit die Wiener so sehr bezauberte, gab hierin selbst den
Ton an. Er interessirte sich für sein Burgtheater lebhaft, besuchte es oft, ließ
sich gern darin huldigen, kannte jeden Schauspieler persönlich sehr gut und
griff oft mit eigner Hand in die Geschäfte seiner Theaterbeamten ein. Damals
waren die Burgschauspieler, bei weitem mehr als jetzt, wirklich „Schauspieler
des Kaisers," er lobte sie, ermunterte sie, er beschwichtigte sie, wenn sie sich bei
ihm über den Direktor oder über den Intendanten beklagten, er kümmerte sich
auch um das Repertoire und erhielt z. B. durch seine Aufmerksamkeit die
abgesetzten „Klingsberg" von Kotzebue der lebendigen Bühne.
In diese für das Theater beinahe ausschließlich sich interessirende Zeit siel
Costenobles Wirksamkeit am Wiener Burgtheater. Als er in Wien eintraf,
hatte gerade Grillparzers „Sappho" durch das klassische Spiel der großen
Tragödin Sophie Schröder Triumphe gefeiert, und man hoffte noch viel merk¬
würdigere Dinge von dem jungen, sich seines Wertes schon wohl bewußten
Dramatiker. Costenoble erlebte nach einander die Aufführung aller berühmt
gewordenen Trauerspiele Grillparzers: „Das goldene Vließ" („Medea"), „König
Ottokars Glück und Ende," „Des Meeres und der Liebe Wellen," „Der Traum
ein Leben." Zu derselben Zeit war ein andrer Stern im Aufsteigen begriffen,
und Costenoble sollte ihn auf seiner ganzen Bahn bis zu seinem tragischen
Untergange begleiten; es war der Stern des genialen, aber unselig schwermütigen
Volksdichters und Schauspielers Ferdinand Raimund. Dann sollte Costenoble noch
das Emporkommen und Gedeihen des anmutigsten und fruchtbarsten österreichischen
Lustspieldichters, Eduard Bauernfelds, erleben. Gleichzeitig standen Kotzebue,
Raupnch, Jffland in ihrer Blüte. Friedrich Halm hatte 1835 seine erste Dich¬
tung, „Griseldis". mit durchschlagenden Erfolg aufführen lassen. Das Burg¬
theater war auch nach dem Urteile des strengen Immermann der Mittelpunkt aller
ernstern dramatischen Bestrebungen jener vormärzlichen Jahrzehnte Deutschlands.
Es hatte vor allen andern Hofbühnen schon den einen wichtigen Vorzug, daß es
damals die einzige war, an der nicht Oper und Schauspiel zugleich zu gegen¬
seitigem Schaden gepflegt wurden, es war ausschließlich dem gesprochenen Drama
gewidmet. Einer der ausgezeichnetsten Dramaturgen Deutschlands, Schreyvogel,
stand über zwei Jahrzehnte zwar nicht an der Spitze des, wie alle Hofbühnen
damals, von unwissenden Exzellenzen geleiteten Hoftheaters, wohl aber war er
in der bescheidenen Form des Hoftheatersekretärs die treibende Seele desselben.
Er warb die großen Schauspieler für die Burg an, die Anschütz, Löwe, Fichtner,
Wilhelmi, La Noche, Julie Rettich, Sophie Schröder; er hielt durch seine hin¬
gebungsvolle Begeisterung, seine Gerechtigkeit, seine ehrfurchtgebietende litterarische
und künstlerische Einsicht strenge Zucht unter der leichtbeweglichen Künstlerschar,
und sein Geschmack vor allem war ausschlaggebend für die Bildung des Reper¬
toires. Er führte Schiller und Goethe auf der Wiener Bühne ein, brachte auch
Lessings „Nathan" auf die Bretter und befestigte die Schauspieler in derSchröder-
schen Überlieferung, welche Natur und Wahrheit, das charakteristische Spiel als
einziges hohes Ziel dem Künstler hinstellte. 1833 wurde Schreyvogel nach
mehr als zwanzigjähriger Thätigkeit in roher Weise plötzlich seines Dienstes
entlassen und durch den ebenso unkundigen als frivolen Streber und Dichter¬
ling Deinhardstein ersetzt, unter dessen Leitung Costenoble ebenfalls noch einige
Jahre zu spielen hatte.
Die Persönlichkeit des Burgtheaterdirektors war damals für das Gedeihen
der Anstalt noch weit bedeutsamer als gegenwärtig. Denn sowohl Schreyvogel
als auch Deinhardstein waren gleichzeitig Zensoren aller in Wien erscheinenden
Theaterblätter, und beide nahmen gar keinen Anstand, Kritiken, die ihnen un¬
angenehm waren, und mochten sie auch von Tieck herrühren, der damals in
Dresden den theatralischen Kunstpapst spielte, kurzerhand zu unterdrücken. Es
gedieh deshalb in Wien auch keine öffentliche Kritik des Burgtheaters, die
heilsame Mitarbeit der Kritik konnte sich nicht geltend machen. In aus¬
wärtigen Blättern, in Stuttgart oder Leipzig, machten sich die Krittler Luft,
ohne nützen zu können. Der erste, der in Wien den Mut hatte, angreifende
Kritiken zu schreiben und diesen Mut allerdings trotz vielfacher Unterstützung
hoher Herren oft durch Verordnungen der Polizei zu büßen hatte, war der
frivole Witzling M. G. Saphir, der in des nicht minder frivolen Bäuerle
Theaterzeitung in den ersten dreißiger Jahren sehr erfolgreich zum Gaudium
des Wiener Publikums schrieb. Das Publikum ist sich gleich geblieben, denn
etwas von dieser Manier, witzelnd Theaterkritik zu betreiben, wird in Wien
heute noch als unumgänglich notwendige Eigenschaft eines Theaterrezensenten
betrachtet. Saphirs aber hatte man sich bald entledigt, und Deinhardstein konnte
nach Belieben mit der besten Kiinstlcrschaft wirtschaften. Ein litterarischer Geist
konnte sich in Wien bei dem Drucke der Zensur Metternichs und Sedlnitzkys nicht
frei entwickeln. Grillparzer und Bauernfeld hatten beide Lust, auszuwandern,
Anastasius Grün wurde nur durch sein Grafentum vor stärkerer Belästigung
bewahrt. So wurde das Publikum Jahrzehnte lang in möglichster Unwissenheit
erhalten. Das Lustspiel allein, und auch nur das harmlos unterhaltende oder
das seine Anzüglichkeiten vorsichtig verhüllende, konnte gedeihen; Nestroy löste
den tief empfindenden Raimund mit seiner alles zersetzenden, galligen und auch
frivolen Parodie ab; die hohe Tragödie fand bei den verweichlichten Wienern
so wenig Anklang, daß „König Lear" schauspielmäßig einen guten Ausgang
annehmen mußte, und selbst der weiche „Correggio" Oehlenschlägers wurde nicht
als Trauerspiel vertragen.
So war es um das Burgtheater, um Wien, seine Litteratur, seine Kritik
und sein Publikum in den zwei Jahrzehnten bestellt, als der Charakterkomiker
Costenoble dort lebte und wirkte. Wie es viele andre Schauspieler, Schröder,
Jffland, Anschütz, zu halten pflegten, so führte auch Costenoble fleißig Tage¬
bücher, in denen er alles verzeichnete, was er erfuhr, erlebte oder dachte. Da er
noch außerdem, wie seine großen Vorbilder Schröder und Jffland, selbst Stücke für
die Bühne schrieb oder einrichtete und übersetzte, so war er der Feder voll¬
kommen mächtig, und er setzte sich gern und regelmäßig an seinen Schreibtisch.
Costenoble hat seine Tagebücher mit der ausdrücklichen Absicht geführt,
daß sie der Nachwelt als geschichtliche Quelle für die Kenntnis seines Lebens
und seiner Zeit dienen möchten. Am 26. Oktober 1836, als er seinen Nekrolog
auf Ferdinand Raimund einleitete, schrieb er: „Indem ich dieses niederschreibe
und immer noch hoffe, daß diese Tagesblätter vielleicht nach meinem Tode nicht
ungelesen und nicht unnütz bleiben dürften, füge ich folgendes bei." Aber erst
mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tode sollte sein Herzenswunsch in Erfüllung
gehen. Ein um die litterarische Geschichte der Stadt Wien höchst verdienter
Gelehrter, der Stadtarchivar Dr. Karl Glossy (der Herausgeber von Ferdinand
Raimunds Werken) hat sich im Verein mit einem jüngern Germanisten, Karl
Zeidler, der schwierigen Aufgabe unterzogen, die bändereiche Coftenoblesche Hand¬
schrift zu mustern, zu kürzen, auf die wertvollsten Mitteilungen zu beschränken
und so der Öffentlichkeit zu übergeben. Immerhin sind zwei stattliche Bände
entstanden*). Wenn man die Schwierigkeit einer solchen Aufgabe bedenkt, die
nicht weniger Takt als Kenntnisse erfordert, muß man den Herausgebern alle
Anerkennung zollen. Denn Costenoble wurde je älter, desto schreiblustiger; an
Wiederholungen mochte es nicht fehlen, und ganz und gar beziehungsloser
Klatsch war gewiß zu entbehren. Wenn es galt, das Selbstporträt des
Schauspielers und die wertvollsten Nachrichten für den abgesteckten Zeit¬
raum einheitlich zusammenzufassen, so haben die Herausgeber ihre Aufgabe gut
gelöst. Ein kurzes biographisches Vorwort und ausführliche Sach- und Per¬
sonenregister erleichtern den Gebrauch des Buches. Leider besteht in den Tage¬
büchern eine große Lücke von fünf Jahren (1828—1830), die Hefte aus diesen
Jahren sind (wie es scheint, unwiederbringlich) verloren gegangen.
Der Wert einer geschichtlichen Quelle, wie diese Tagebücher, hängt ganz und
gar ab von dem Charakter und der geistigen Kraft desjenigen, der sie geführt hat.
Während in politischen Dingen die Subjektivität des Berichterstatters fast gar nicht
in Betracht kommt, wenn er nur in der Lage war, den Haupt- und Staatsaktionen
mit Karen Sinnen beizuwohnen, und die Fähigkeit besaß, streng sachlich darüber zu
berichten, so ist es in der Kunst- und Litteraturgeschichte vor allem wichtig, zu
wissen, wie es um die künstlerische und sittliche Urteilskraft des Berichterstatters be¬
stellt ist. Denn er berichtet über die zartesten Erscheinungen menschlicher Schöpfer¬
kraft, er kann überhaupt nicht berichten, ohne zu urteilen, seine Auffassung ist
schon beeinflußt von seinem ästhetischen Bekenntnis und seinem sittlichen Fein¬
gefühl. Er ist blind und stumpf und unempfänglich für die Vorgänge,, wenn
es ihm an künstlerischem Sinn mangelt, er ist scharfsichtig, ja prophetisch, wenn
er künstlerischen Sinn in hohem Grade besitzt. Und da muß man denn gleich
sagen, daß Costenoble ein Mann von der letztern Art war, daß er zwar auch
im Banne seiner Zeit stand und. Götter verehrte, die für uns längst ihre Herr¬
lichkeit verloren haben, daß er aber doch eine echt künstlerische, sehr einsichts?
volle und vor allem grundehrliche, echtdeutsche Natur war, daß er ein empfäng¬
liches Gemüt besaß, einen idealen, nie selbstzufriedenen, immer hochstrebenden
Geist, bereit zur Anerkennung, stark in der Liebe, zäh. in der Abneigung und
für helpe Kunst begeistert in grenzenloser Weife. Als Schauspieler von Beruf
blieb er sich stets bewußt, daß keine Untugend ihm gefährlicher werden könne,
als die der Eitelkeit, durch welche so viele ausgezeichnete Künstler sich lächerlich,
ja unerträglich gemacht haben. In seinen Tagebuchblättern ärgert er sich über
den Hochmut schnell anerkannter Künstler oder befürchtet, daß junge Talente
von dem Laster befallen werden, und warnt sich selbst davor. So schreibt er
am 11. Februar 1824: „Ziegler kein Schriftsteller) begegnete mir heute und
sprach von einer Ästhetik, die er verfaßt habe und drucken lassen wolle, als
Von einem Werke, das noch keine Nation besitze. Es ist traurig, wenn solche
Menschen, wie Dädalus, mit ihrem wächsernen Gefieder zur Sonne sich schwingen
wollen! — Ich nehme selbst freilich auch zuweilen einen Anlauf über Meine
Kräfte;, aber ich posaune diese Narrheit doch nicht aus, als ob ich die Salomo-
Nischen Siegel gesprengt hätte. Wie oft rezensire ich mich selbst und lache
mich von Herzen aus!" Äußerungen wie die nach einer Othello-Aufführung:
„Mein Brabantio hätte auch inniger und kräftiger sein können" (1. April 1823)
findet man sehr häufig. So schreibt er am 29. September 1822: „Ich, als
Meister Marks ^in dem Drama „Tranquillus"). that zwar nicht soviel, als ich
gekonnt, war aber doch so glücklich, zu gefallen. Wenn jeder nach Verdienst
bekäme — sagt Hamlet." Am 2. Mai 1823: „Weil die Kritik mit meinem
Lustspiele »Der Alte muß« so unsäuberlich verfahren war, und zwar mit Fug
und Recht, so löste ich meine erquälten Trochäen in Prosa auf und stellte das
Stück gewissermaßen ganz neu her." Am 5. März 1824: „»Die Lasterschule«.
Graf Dietrichstein ^der Intendant) versicherte mir, daß Steigentesch sich an
meinem Juden sehr ergötzt habe. Gottlob! daß ich weniger mit mir zufrieden
bin, als der verehrte Dichter." Am 16. Januar 1834: „Heute wird meiner
im Morgenblatte mit großer Verehrung gedacht. Man nennt mich den Schutz¬
geist des Bauernfeldschen »Liebesprotokolles« swas Costenoble in der That war,
indem er gegen das Verbot der Zensur den Bankier Müller als Satire auf
die jüdischen Geldbarone, wie es Bauernfeld ursprünglich wollte, aber nicht
durfte, darstellte), den besten Shylock des Burgtheaters. Ich bin froh, daß ich
zu alt bin, um hochmütig werden zu können." Am 11. März 1334: „Die
Fichtncr versicherte mir, daß sie oft plötzlich über den Beifall, den sie erhalte,
erschrecke, weil ein Gefühl völligen Unvermögens sie mitten im Rausche des
Applauses überschleiche. Dieses Gefühl, meinte ich, seien wohlwollende Mah-
nungen des bessern Genius im Darsteller, um ihn vor Übermut und voreiligen
Glauben an eigne Vollkommenheit zu bewahren." Er verzeichnet aber auch,
wie jeder echte Mann sich seines Wertes wohl bewußt, am 24. März 1832
nach der Goethefeier, in welcher Teile aus Egmont, Iphigenie, Tasso und Faust
vorgeführt worden waren: „Mein Mephistopheles fiel ganz so aus, wie ich
mir es selbst vorgestellt hatte. So gewiß ich überzeugt bin, daß von alten
Theaterpersoncn kein einziger sich zum Mephisto eignet, so gewiß weiß ich, daß
unter allen ich noch der beste bin. Das ist unter solchen Umständen keine
Ruhmredigkeit, und darum glaube ich, es mit gutem Gewissen hier notiren
zu dürfen."
In diesen Geständnissen erkennt man das ganze ehrliche Wesen Costenobles.
Er war auch nicht der Mann, um den Mantel nach dem Winde zu hängen.
Seine künstlerische Überzeugung zu opfern, um den Beifall des unverständigen
Publikums zu gewinnen, war er nicht im stände, wie folgende Aufzeichnungen
bekunden. Am 27. November 1823: „König Lear. Ich gab heute den Narren.
Als ich die Rolle bekam, empfing ich sie mit Furcht, weil mir ahnte, daß
meine Ansicht über den Charakter deS Narren nicht mit dem Verlangen des
Publikums übereinstimmen dürfte. Meine Ahnung hat mich nicht betrogen. Ich
wurde zu sentimental und verlor in dem Gefühle, daß mein Spiel nicht an-
spreche, den Humor. Publikum und Kunstgenossen waren nicht befriedigt. Neit
sagte, es sei falsch, den Narren so wehmütig zu spielen, denn der Narr dürfe
sich Ausfälle nur im Gewände des Scherzes erlauben. Aber wie stimmt denn
der Scherz ohne Wehmut mit dem Grame des Narren und mit den Worten:
»Sang ich vor Kummer Lieder?« Unserm Narren will, indem er sich zur tollen
Laune schraubt, vor Leid das Herz brechen. Man muß nicht immer nach in¬
nerer Überzeugung thun, sondern wie es die Welt will, die immer lachen möchte."
Am 9. März 1824: „Lear. Ich gab den Narren heute etwas bunter gefärbt
und gefiel auch mehr. Sophie Schröder kam zu mir und bemerkte: »So ist
der Narr, wie ihn die Narren haben wollen.« Also das Volk will Charlata-
nerie oder Gaukelei. Mir kanns recht sein, und Shakespeare muß es sich ge¬
fallen lassen." Aber er ist noch immer nicht fertig mit seinem Narren, denn
am 22. Oktober 1824 verzeichnet er: „König Lear. Mein Narr gefiel weder
dem Publikum, noch den Kunstgenossen. Ich kann mich von der Idee, den
Narren mit Wehmut und Schmerz zu gebe«, nicht losmachen; sie ist mit mir
alt geworden, und kein Mensch hat mir noch eine andre Überzeugung geben
können. Das Volk will einen Lustigmacher und weiter nichts; so mag es sich
denn einen andern Narren suchen. Ich mag kein Narr so vieler Narren werden
und thue Verzicht.auf zweideutigen Beifall."
Ebenso redlich war Costenoble im praktischen Leben. Einmal war er ge¬
zwungen, zu einer Notlüge zu greifen; seine Frau sollte eine Rolle spielen, die
sie noch nicht ganz innehatte, und mußte sich krank melden. Costenoble erzählt
den Vorfall und schließt: „So zwingen eigensinnige und alberne Theatervor¬
stände die bessern Mitglieder oft zur Falschheit und impfen die Anlage zu
Ränken selbst ein. Wie leicht können Notlügen zur Gewohnheit werden und
in Bequemlichkeitsfällen zur Anwendung kommen!" (23. September 1822.) Ein
andermal, nachdem er von der Vorstellung des ganzen Personals vor dem
neuen Direktor, dem Grafen Moriz von Dietrichstein, erzählt hat, fügt er
hinzu: „Viele meiner Kunstgenossen drängten sich um den neuen Herrscher, ich
aber mochte mich um keinen Preis mit heranmachen und lief nach löblicher
oder, wenn man lieber will, nach unlöblicher Gewohnheit auf und davon.
Durch Courmachen werde ich nie das Glück erjagen." (22. April 1821.) So¬
viel er auch seine Kollegin Sophie Schröder verehrte, über ihre weibliche Schlau¬
heit konnte er sich immer ärgern; so schreibt er am 6. November 1824: „Sophie
Schröder schimpft auf die Wiener und besucht dennoch öffentliche Bälle. Ich
würde die Volksmenge fliehen, die ich verachte." Gegen den stolzen Erb- und
Geldadel kehrt er sein gut bürgerliches Selbstgefühl heraus; er flieht die aristo¬
kratischen Liebhabertheater, die ihn als Regisseur benutzen wollen, und meidet
die reichen jüdischen Bankiers, die mit den Burgschauspielern ihren Salon auf¬
putzen. Am 22. Juni 1819 schreibt er: „Ich war beim Bankier Baron von
Arnstein, um mir Empfehlungsbriefe nach Frankfurt a. M. auszubitten. Ich
hatte Geistesgegenwart genug, einen schicklichen Vorwand zur Ablehnung zu
finden. Wie könnte ich auch in den Zirkeln dieser vornehmen Leute mich be¬
haglich fühlen? Ich habe es einmal gekostet. Das ewige Geschnatter in franzö¬
sischer Sprache — diese ekelhafte Herabwürdigung alles Vaterländischen! Wer
mag es hören, wenn er es nicht muß!" Mit jedem Kollegen oder Schrift¬
steller seines Verkehrs setzt er sich redlich und rückhaltlos auseinander, einmal
verzeichnet er mit Genugthuung, daß er dem jungen Bauernfeld seine Meinung
gesagt habe, ist aber durch Grillparzers formlose Fremdthuerei sehr verletzt.
Schließlich kommt er auf den Standpunkt, den er in folgender Aufzeichnung
vom 19. September 1824 einnimmt: „Kaiser Franz kam heute ins Theater
und wurde lebhaft und anhaltend mit Händeklatschen empfangen. Es ist be¬
merkenswert, daß der Landesherr und die Hofschauspieler aus eine und dieselbe
Weise begrüßt werden. Dabei dachte ich, ob dereinst dem Kaiser die Herzen
nachklopfen werden, oder ob das jetzige Händegcklatsch nur ein verhallendes
Getöse dummer Speichellecker ist. Ist das der Fall, was will dann der Dar¬
steller sich zu gute thun auf das vorübergehende Gelärme der Menge? Über
alles lachen ist die einzige Lebensweisheit." Nur den einen Idealismus
des Künstlers hielt er unerschüttert fest: „Hätte der Künstler nicht den
eignen Richter im Busen, was würde aus der Kunst werden?" (20. Inn
1820.) , ' ' ' ^ ' - ^ '
Dies wird genügen, um den Persönlichen Charakter Costenobles als Mensch
wie als Künstler ins rechte Licht zu setzen; er war wirklich eine sittliche Natur
im besten Sinne, und die Urteile einer solchen sind immer der Beachtung wert.
Aber auch seine litterarische und dramaturgische Urteilskraft verdient große
Wertschätzung. Für uns fünfzig Jahre von seiner Zeit getrennte Rezensenten
ist es sehr leicht, über die Tägesgrößen derselben die Achseln zu zucken. Aber
es ist ein historisches Dokument, wenn Costenoble auf die Nachricht von der
Ermordung Kotzebues niederschreibe: „Als wir heute zur Leseprobe vom »Viel¬
wisser« versammelt waren, erscholl die fürchterliche Kunde/daß Kotzebue von
einem fanatischen Studenten erstochen worden sei. Wir waren alle niederge¬
schmettert durch diese Trauerpost" (1. April 1819), denn diese Mitteilung be¬
weist, wie wichtig Kotzebue für die ^damalige deutsche Bühne geworden war,
deren Repertoire er vor Raupach und den Franzosen, zugleich mit Houwald
und Iffland beherrschte. Daher ist dem Schauspieler Costenoble der große Re¬
spekt, den er mit vielen seiner Zeitgenossen diesen Dichtern zollte, nicht als kri¬
tisches Armutszeugnis anzurechnen. Man muß vielmehr hervorheben, daß er
für Shakespeare, für Schiller und Goethe sich rückhaltlos begeisterte, und ganz
besonders verdient seine Beurteilung Heinrichs von Kleist hervorgehoben zu
werden, die in die Zeit der Schicksalstragödien und der Naupachschen Jamben¬
dramen fällt. Am 3. Oktober 1821 schreibt er ins Tagebuch: „Zum ersten¬
male »Prinz von Hessen-Homburg «unter dem Titel »Die Schlacht von Febr-
datur.« ein Schauspiel in fünf Akten von Kleist. Das Kleistsche Stück wurde
nicht gut vorgeführt und noch schlechter begriffen. Selbst der erfahrne Kostüme¬
direktor von Stubcnrauch sagte mir vor der Vorstellung, das heutige Schau¬
spiel sei zurückstoßend, und zwar deshalb, weil ein junger, tapferer Held wie
ein Feigling um sein Leben bitte, das er verwirkt hat. Der Prinz, ein junger,
fast bartloser Held, ist tapfer wie ein Löwe in der Schlacht und zittert vor
dem Tode eines Verbrechers. Das fand man unnatürlich und zurückstoßend,
weil ein Soldat in allen Verhältnissen dem Tode unerschrocken ins Auge blicken
müsse. Wie oberflächlich ist dieses Urteil — wie so gar nicht auf tiefer Men¬
schenkenntnis begründet! Ein junger fürstlicher Held, von Ehrsucht gespornt,
geht blind und mutig ins Feuer, weil im schlimmsten Falle ein rühmliches
Ende ihm zu teil wird und die Krone des Siegers seiner wartet. Ein ganz
entgegengesetztes Gefühl jedoch wird ihn beherrschen, wenn er nach subordi¬
nationswidrigem Vorgehen an seinem offnen sichern Grabe vorbeigeführt wird und
den Tod der Schande sterben soll. Erwägt man noch die zarte Jugend dieses
Prinzen und daß sein Herz von der feurigsten Liebe und folglich von zwie¬
facher Lebenslust erfüllt ist, so muß es dem verständigen Zuschauer ganz klar
werden, daß Kleist sein Bild nur der Natur entnahm. Aber die Wiener wollen
zuerst die äußern Sinne befriedigt haben, bevor ihr Kunstsinn angeregt werden
mag. Unser Prinz wollte der Natur trotzen mit eiuer blonden, langgelockten
Perrücke und mahnte in diesem Hauptschmucke an die Löwen in der Zauber¬
flöte, welche Sarastros Wagen ziehen. Als der junge Prinz angstvoll die Fürstin
fragt: »Wenn aber der Kurfürst mein Todesurteil bestätigen sollte?« und die
hohe Dame ruhig und beruhigend erwidert: »Dann, mein Sohn, mußt du dich
in dein Schicksal ergeben.« lachte die Versammlung laut auf und glaubte recht
was Gescheites zu thun. Mir war es ein ganz neues Schauspiel, ein Theater¬
stück und die sonst beliebten Darsteller grausam verhöhnen zu sehen. Hier galt
kein Unterschied des Kunstranges — wer sprach, wurde ausgelacht. Ich kann
mich nicht erinnern, jemals über die Unverschämtheit irgend eines Parterres
so im Innern empört gewesen zu sein! Einmal, weil das Stück zu ehrenwert
für solch eine barbarische Behandlung war, und zweitens, weil die Darsteller
unverdient leiden mußten." Wir haben die Stelle ganz gegeben, weil sie eines
der merkwürdigsten Ereignisse der deutschen Theatergeschichte mitteilt, aber auch
von der Unabhängigkeit und Klarheit von Costenobles Urteil Zeugnis ablegt.
Die aus dem Französischen übersetzten Lustspiele, die den Alltagsbedarf der
damaligen Bühne deckten, kritisirt er mit nicht geringer Verachtung. Das beste
zu diesen Stücken mußten die Schauspieler aus ihrer eignen Phantasie hinzu¬
thun, und man machte es auch dem in den dreißiger Jahren fruchtbar auftretenden
Bauernfeld nicht zum geringsten Vorwurfe, daß er in seinen Stücken den ein¬
zelnen Schauspielern die Rollen förmlich auf den Leib schrieb, so daß die Typen
sich wiederholten und nur die'geistreichen Gespräche wechselten. Costenoble hebt
dies mehr als einmal hervor; er bewundert den Geist Bauernfelds, tadelt aber
den Mangel an Handlung in seinen Lustspielen. Nach der Aufführung des
„Liebcsprotokolls" schrieb Bauernfeld dem um den Erfolg des Lustspiels am
meisten verdienten Costenoble einen Dankbrief, der mit Genugthuung dem Tage¬
buche einverleibt wurde. Zu Grillparzer dagegen stand Costenoble in kältern,
ja unfreundlichen Beziehungen. Seine Urteile über den jungen Dichter, der sich
scharf zu äußern liebte und überhaupt noch lange nicht der vergrämte Hypo¬
chonder war, als welcher er der Gegenwart vor Augen steht, sind immer von
Hochachtung erfüllt, nicht immer aber zutreffend. Für Castelli, Saphir, Bäuerle
hatte Costenoble die richtige Geringschätzung.
Für keinen einzigen dichtenden Zeitgenossen hatte er sich aber so begeistert
wie sür den Schauspieler Ferdinand Raimund. Es muß ihn wohl ein wahl¬
verwandter Zug zu diesem melancholisch-humoristischen Genius getrieben haben.
Denn von dem ersten Augenblicke der Bekanntschaft mit Raimund bis zu seinem
tragischen Ende verfolgt Costenoble mit begeisterter Teilnahme dessen künst¬
lerische und persönliche Schicksale. Zu einer Zeit, wo Raimund noch mit der
Kälte des Publikums und mit unebenbürtiger, aber eingesessener Nebenbuhlern
zu kämpfen hatte, prophezeite Costenoble die Größe Raimunds, schrieb darüber
ins Tagebuch und schlug sich mit seinen Gegnern im Leben herum. Beide
verband auch gute Freundschaft. Costenoble ist immer glücklich, wenn er mit
Raimund zusammen ist; eine zufällige Straßenbegegnung mit seinem Liebling
findet er zu verzeichnen werth, und als dann die Anerkennung Raimunds immer
weiter um sich greift und sein Meisterwerk „Der Verschwender" Wien begeistert,
da beruft sich Costenoble auf seine Vorhersage und ist stolz auf Raimunds
Erfolge. Von den vielen Todesfällen, die er im Tagebuche verzeichnet, hat ihn
keiner so tief erschüttert, als der Selbstmord seines hypochondrischen Freundes.
Raimund wurde bekanntlich von einem Hunde gebissen, der, wie festgestellt
wurde, gar uicht wutkrank war; Raimund sah sich aber in seiner angsterfüllter
Phantasie schon wasserscheu und jagte sich eine Kugel ins Hirn, um nicht dem
Wahnsinn zu verfallen. Was Costenoble nur von den letzten Umständen Rai¬
munds erfahren konnte, hat er sorgfältig in seinem Tagebuche verzeichnet; am
26. Oktober 1836 hat er sogar eine ausführliche Charakteristik des Viel¬
betrauerten entworfen. Darin heißt es: „Viel ist an Raimund, dem Lebenden,
gemäkelt worden — der Urteilsspruch der Nachwelt wird auch gewiß uicht ohne
Zusatz von Tadel lauten; allein jede Zeit wird eingestehen, er war eine in¬
teressante, in vielen Beziehungen wichtige Erscheinung; er war ein echtes, tiefes,
warmes, poetisches Gemüt. Unter ungünstigen Verhältnissen ins Dasein ein¬
geführt, riß er sich mit Kampf und Mühe aus der drückenden Atmosphäre
heraus in die reinere Luft des Kunstgebietes, nach dessen Herrlichkeit seine
dürstende Seele lechzte; die jugendliche Phantasie erblickte nur Bilder der
Freude, wo leider der Dornen Übermaß karge Rosen verdeckte. Er hat ihren
Stachel blutend erprobt, zerrissen haben sie ihm das weiche Herz; und bis zu
dem Momente der Unglücksthat, wo der Dämon ihn überwältigte, hat er der
Leiden überwiegend mehr als Genüsse eingeerntet — der wahre Dichter kann
im Leben eigentlich nicht ganz glücklich sein! —, aber gerade an dem Felsen
so bitterer Erfahrungen ward der edlere Funken in seiner Brust herausge¬
schlagen; gewappnet gegen die Angriffe der Hohlheit ging er aus dem Kampfe
hervor, und weil die Wirklichkeit seinem Ideale nicht entsprach, baute er sich
eine neue Welt im schweigsamen Innern . . . Raimund hat in den Haupt¬
gestalten seiner Schöpfungen immer sich selbst, seine eigne, vielgestaltige, liebens¬
würdige Individualität gegeben: der gemütliche, tiefsinnige Florian, der auf¬
brausende Wurzel mit seiner ergreifenden Umwandlung in das unheimliche
Bild des Aschenmannes, der menschenfeindliche Nappclkopf, dem nur die
glühendste Liebe zu seinesgleichen als Zündstoff dient, die derbkräftige, aber
wahre Ironie des Harfenisten Nachtigall und endlich wieder das nationale
Bild des gemütlichen Tischlers mit der reichsten Mischung von Laune und
Empfindung — dieser recht eigentlich versinnlichte Humor mit geringen Schat-
tirungen erscheint uns in all den genannten, so verschiedenen Gebilden eine
integrirende Hauptfarbe, eine immer wieder auftauchende Lieblingskinde, die wir
füglich in dem poetischen Naturell Raimunds begründet halten dürfen."
Es sollte aber noch lange dauern, bis Raimund auch in weitern Kreisen
zu jener Anerkennung kam, die Costenoble für ihn beanspruchte; in Deutschland
haben sich Wilibald Alexis und Karl Goedeke am frühesten für ihn begeistert.
In Wien wurde seine Volkstümlichkeit zunächst von einem humoristischen Genie
genau entgegengesetzter Art abgelöst, von Johann Nestroy, dessen Anfänge
Costenoble noch erlebte und wieder in überraschend scharfsichtiger Weise beur¬
teilte. Am 2. Juni 1837 schreibt er: „Mit Kellet seinem litterarischen Freundes
im Theater a. d. Wien, wo man Hopps »Hutmacher und Strumpfwirker« gab.
Wir haben über die kraftvolle Komik des Scholz viel gelacht. Das fadeste,
widersinnigste Zeug erhält im Munde dieses Lustigmachers Würze und erschüttert
das Zwerchfell. Weniger reizte die Spielart Nestroys, so viel Mühe er sich
auch geben mochte. Sein Wesen ist — ich möchte sagen — nicht im mindesten
so harmlos-graziös wie Scholz' Eigentümlichkeit und erinnert immer an die¬
jenige Hefe des Pöbels, die in Revolutionsfällen zum Plündern und Tod¬
schlagen bereit ist. Wie komisch Nestroy auch zuweilen wird — er kann das
Unheimliche nicht verdrängen, welches den Zuhörer beschleicht." Costenobles
Urteil ist nicht ganz gerecht, ja es ist hart: so gemein ist Nestroy nicht; aber
das revolutionäre Element in ihm hat er mit richtigem Gefühl betont, und daß es
den zu dieser Zeit schon achtundsechzigjährigen Burgschauspieler abstieß, der sich
unter Kaiser Franz des Zweiten Regierung ins patriarchalische System unmerklich
eingelebt hatte, war nur natürlich.
Einer der merkwürdigsten Charakterzüge Costenobles, der übrigens ein
Zeugnis mehr für sein künstlerisches Naturell ablegt, ist sein Haß aller Schul¬
gelehrten und Buchästhetiker. „Viel Schulwissen ist nicht selten der Mörder
des feinen Geschmacks," schreibt er am 4. Juni 1823. „Das klingt paradox;
aber ich habe darin Erfahrungen gemacht." Am 9. November 1823: „Nach¬
mittags zur Sophie Schröder. Baron Hormayr kam bald nach uns. Wir
wurden von seiner geistreichen Laune sehr angenehm unterhalten. Wie eine
Zentnerlast fühlte ich es auf meinem Herzen, als der Freiherr so viel Anzie¬
hendes sprach, und ich gestehen mußte, daß ich im Wissen im Vergleiche zu
diesem Manne so gar nichts bin. Aber schon eine halbe Stunde später pries
ich den Himmel, der mir, bei allen meinen Mängeln im Schulwesen, richtigeres
Gefühl gab, als dem witzelnden Historiographen. Man kam auf die Schau¬
spielertalente des großen Jffland zu sprechen. Hormayr wagte es, über Ifflands
Darstellungen zu spötteln und nannte das Spiel des vortrefflichen Mimen
Mosaik. »Von fern — sagte er — scheint es schön, in der Nähe aber
gewahrt man deutlich die Zusammenstellung." Gelehrte Leute bedienen sich
oft ganz unpassender Vergleiche. Wer sah jemals Zusammensetzung an Ifflands
Wittburg in der »Versöhnung«? Wem fiel Mosaik ein bei Vorführung des
Ifflandschen deutschen Hausvaters oder wenn er Constant oder Amtman Nil-
um war?" Am 13. Dezember 1824 erzählt Costenoble: „Abends bei Sophie
Schröder. Wir lernten bei ihr einen Gelehrten namens Kurike kennen, der
ein humaner, lieber Mann zu sein scheint. Er hat über Mimik und Seelen¬
zustände geschrieben und sprach auch viel von der Gallschen Schädellehre.
Endlich aber wurde sein Geplauder doch verdächtig, als er sagte: Ja, wenn
Kant, Lessing und Engel gewußt hätten, was ich lehre!" Constenobles Haß
gegen Tieck ist teilweise auch auf diesen Haß alles Gelehrtenhochmuts zurück¬
zuführen. Am 12. September 1822 ist Karl Devrient, der Neffe des großen
Ludwig Devrient, als Mortimer gründlich durch gefallen, nachdem er mit großer
Anmaßung für sein erstes Gastspiel diese schwierigste Rolle gefordert hat. In
Hellem Zorn berichtet Costenoble: „Niemals ist wohl ein Schauspieler mehr
mit Trompeten und Pauken durchgefallen; unter Trompeten und Pauken sind
hier Zischen und Hohn zu verstehen. Schwerlich kann er nach solcher Probe
die Hofbühne weiter betreten. Meine Ahnung war also gegründet, als ich
fürchtete, ein so kecker, alles herausfordernder Bursche könne kein guter Schau¬
spieler sein. Und findet Tieck diesen Mortimer wirklich gut, so trage ich kein
Verlangen darnach, jemals von diesem Dichter gelobt zu werden. Der Satan
mag das spitze Rätsel lösen, daß große Geister fast immer seichte Theaterrezen¬
senten sind." So oft Costenoble auf Tieck zu sprechen kommt, wird er ärger¬
lich; zwischen Dresden und Wien bestand damals eine Nebenbuhlerschaft in
dramatischen Sachen; Tieck, scheint es, wollte auch Wien mit seinem Urteil
beeinflussen, und Schreyvogel, als Censor, strich Tiecksche Kritiken schlechtweg
aus dem Blatter Das trug natürlich nicht zu kollegialen Verkehr bei. Das
Dresdner Hoftheater galt bei den Wienern als ein Jntriguenuest, und die
nachher so berühmt gewordene Julie Rettich war froh, von Dresden nach Wien
zurückkehren zu können.
Aber mehr noch als in litterarischen Dingen haben sich Costenobles Urteile
über Schauspieler bewährt. Sie nehmen natürlich den meisten Raum in den
Tagebüchern ein; denn er berichtet nicht t'loß über das eigene Spiel, sondern
auch über seine Genossen, und für seine Lieblinge enthalten seine Blätter fort¬
laufende Nachrichten, so daß sie in der That für die Geschichte des Burgtheaters
unter Schreyvogels und Deinhardsteins Leitung von großem Werte sind. So
oft ein Gast auftritt oder ein neues Talent sichtbar wird, ist Costenoble auf
dem Platze. Er sagt voraus, daß Wilhelmine Schröder eine große Rolle spielen
wird, nachdem er sie ein- oder zweimal auf der Bühne gesehen hat; er prophe¬
zeit Raimund, der Therese Krones, Fichtner, La Roche die Begeisterung des
Wiener Publikums. Wie für Raimund, so ist auch für Sophie Schröder, für
Anschütz (den größten König Lear), für Löwe und für den jungen, unmittelbar
aus Goethes Schule stammenden La Noche, den Costenoble nicht genug be¬
wundern konnte, das Tagebuch eine fortlaufende Lebensnachricht. Am meisten
aber für Schreyvogel, zu dem Costenoble in aufrichtiger Verehrung aufsah, ohne
deswegen alles, was er that, kritiklos hinzunehmen. Ärgert er sich doch sogar
für seinen geliebten Dramaturgen, wenn dieser im Gefühl seiner schwankend ge¬
wordenen Stellung sich durch Huldigungen gegen die Eitelkeit seiner ersten
Schauspieler zu befestigen suchte.
Es kommt dem Tagebuche zu gute, daß Costenoble als Protestant und
Norddeutscher zunächst fremd in Wien war. Dadurch mutete ihn vieles so
neu an, daß er die Eindrücke eigens verzeichnen mußte und so viele Mitteilungen
gemacht hat, die für die Sittengeschichte Wiens von Interesse sind. So erzählt
er, daß die Gräfin Forgatsch im Bette liegend Besuche anzunehmen pflegte, was
an die Zeiten Ludwigs XIV. in Paris erinnert. Der Kaiser Franz wird sein
besondrer Liebling; wo er eine Anekdote hört, notirt er sie und trachtet den
Wortlaut des Kaisers, der im wienerisch urwüchsigen Dialekt sprach, wiederzu¬
geben. Es war damals Sitte, daß am 3. Oktober zur Feier des kaiserlichen
Namenstage das ganze Burgtheaterpersonal im Festkleide sich auf der Bühne
versammelte und mit dem Publikum die Volkshymne sang. Als Costenoble
dies zum erstenmale mitmachte, war er ganz hingerissen von der Wirkung
und sang aus voller Kehle mit. Auf dem neue» Boden war es für ihn eine
der ersten und wichtigsten Aufgaben, das Wiener Publikum zu studiren, das
sich wesentlich von seinem frühern Hamburger unterschied. Die geistreichen
Bemerkungen, die Costenoble über das Publikum macht, sind ganz besonders
wertvoll, denn grade sie geben das lebendigste Bild der damaligen Welt. Neu
war endlich für Costenoble auch die Wiener Zensur, deren Dummheit und
Rohheit für uns Nachgeborene erstaunlich ist. Zu Hunderten erzählt er von
den berüchtigten Zensurstücklein, und mit einer erheiternden Auslese derselben
wollen wir diese Auszüge schließen.
Am 23. November 1318: „Zum erstenmale »Tartüffe,« Lustspiel in fünf
Akten nach Moliere von Deinhardstein. Ich darf keck behaupten, daß ich gut
gespielt habe, und das hat auch mancher, der Sinn für Wahrheit hat, anerkannt;
aber dennoch konnte ich das Stück nicht heben. Einmal und hauptsächlich war
der Mord des Moliöreschen Meisterwerkes schon dadurch begangen, daß es in
Wien und für Wien bearbeitet werden mußte. Tartüffe durfte kein Geistlicher, kein
Betbruder bleiben; er wurde nur als ein Tngendhcuchler geduldet. Ich fragte:
»Wenn ich nicht als kriechender, demnthcuchelnder Betbruder Tartüffe erscheinen
darf, als was denn sonst?« — »Als tugendhaft scheinender Mensch,« sagte
Deinhardstein. — Ich fragte: »Ist denn ein tugendhaft scheinender, also ein fromm
scheinender nicht ein Heuchler, der kriecht und weint, wo es zu seinem Ziele
führt?« Darauf wußte weder Korn noch der Bearbeiter etwas Genügendes zu
erwidern." — Am 10. Juni 1818: „Dienstpflicht. Ein schurkischer Kriegsrat
wird in Wien nicht geduldet." — Am 25. Januar 1819 berichtet er über die
erste Ausführung des „Nathan" in Wien: „Dieses herrliche Stück wird erbärmlich
verstümmelt auf die Hofbühue gebracht. Um alles Zcnsurwidrige wegzunehmen
mußte der ehemalige Souffleur des Burgtheatcrs, Herr Barliug, die Beschnei¬
dung des weisen Juden übernehmen, und seine Hand war geschickt genug,
alles zu umgehen, was die Aufführung bisher gehindert hatte. Der Haupt¬
schnitt geschah mit dem Märlein der drei Ringe. Saladin darf Nathan nicht
fragen, welcher Glaube ihm am meisten eingeleuchtet hat, der türkische, der
christliche oder der jüdische, sondern mir welche Wahrheit, Lehre und Meinung
ihm die reinste scheine. So gestutzt passirt das Buch sowohl die Zensur der
Polizei, als auch die des Erzbischofs. Der Patriarch war überdies in einen
Großcomthur verwandelt, und der Klosterbruder in einen Diener desselben."
Am 21. Mai 1824: „Kabale und Liebe. Präsident von Walter — in Wien,
Gott erbarme sich, ein Vizedom! — war keine meiner schlechtesten Rollen."
Am 8. August 1822: „Es wurde Leseprobe gehalten von einem Drama, welches
unser Reil verfaßt hat. Der Stoff war aus dem Leben des Descartes, weil
aber die Zensur den Namen dieses Philosophen anstößig fand, so mußte der
Verfasser den Namen verändern und Descartes in Tranquillus verwandeln."
Am 9. November 1836: „Die Zensur hat einen Aufsatz in Lamberts »Tele¬
graphen« gestrichen, der vom Wesen der Goldmacherei und von der Kunst, un¬
edle Metalle in edle zu gestalten, handelt. Weil in Wien einst so ein Gold¬
koch gelebt und gewirkt hat, meint die Zensur, das Volk könne durch Lesen
solcher Dinge wieder auf derlei Laboriren geraten. O Vorsorge! Ebenso dumm,
als die Sorge der Sanitätskommission, keine Bäume auf den Gottesäckern zu
gestatten, weil die Ausdünstung der Blätter den Menschen schädlich werden
könnte." Am 8. August 1833: „Das Treiben der Zensur ist wahrhaft greulich;
sie hat sogar Friedrich dem Großen sein Prädikat gestrichen und nur gestattet,
daß er der „zweite" genannt werde. Das ist doch albern!" Am 14. März 1822
in den Tagen der begeisterten Parteinahme für Webers „Freischütz" gegen Rossini
schreibt Costenoble: „Sophie Schröder besuchte mich heute und teilte mir mit,
daß mein Gedicht an Weber die Zensur nicht Passire, weil ein Lorbeer darin
vorkommt und man in Wien diesen Ehrenzweig für den Tondichter des Frei¬
schütz zu hoch halte. O Jammer! Noch mehr! Ifflands Bild, nach dem
Berliner Originale kopiert, wurde hier nur ohne Adlerorden zugelassen. Arm¬
seliger Zustand!"
li
e Dialektdichtung hat sowohl in Beziehung auf den Stoff als
auf die Form ihre Grenzen. Ihr Hauptgebiet ist das der Genre¬
malerei, der Idylle, nach der heitern wie nach der ernsten Seite,
das eigentliche Haus- und Familienleben, Gemüt und Herz. Nie¬
mand wird von ihr epochemachende Werke verlangen mit neuen,
großen Gedanken, die auf die Gesamtentwicklung des geistigen Lebens eines
Volles oder gar auf die Weltlitteratur von bestimmenden Einfluß würden.
Fritz Reuter ging in der Wahl seiner Stosse vielleicht bis an die äußerste
Grenze, aber er wußte wohl, daß er diese nicht durchbrechen konnte. Große
weltbewegende Ereignisse kann die Dialektdichtuug immer nur fragmentarisch,
einseitig, in ihren Reflexen auf das kleine Leben ihrer Helden darstellen.
Es ist eine ihrer psychologischen Begründung nach hochinteressante, fast
allgemein feststehende Annahme, alles Dialektische müsse humoristisch sein. Eigen¬
tümlicherweise ergiebt sich bei einer unsern Untersuchung wenn auch kein „muß,"
so doch die Thatsache, daß in unsrer gesamten Dialektdichtung der Humor eine
weitaus gewichtigere Rolle spielt, als in unsrer hochdeutschen Litteratur, wo
er selbst in Lustspielen oft genug die bedenklichste Zurücksetzung erfährt. Seine
Haupterklärung findet dieser Umstand eben in dem auf das privatere Leben be¬
grenzten Stoffgebiete der Dialektdichtung. Namentlich gäng und gäbe war das
erwähnte Vorurteil, wenn man so will, eine Zeitlang dem schwäbischen und
bairischen Dialekt gegenüber, gerade als ob der Sprache dieser Leute für Leid
und Ernst überhaupt kein rechter Ausdruck gegeben wäre. Was insbesondre
das Schwäbische anbelangt, so kann man oft, auch im Lande selbst, Äußerungen
hören, wie etwa die: was in ihm zu Worte komme, sei derb und ungeschlacht;
ja es vermöge überhaupt keine feinern Töne anzuschlagen. Ein flüchtiger Blick
auf die schwäbische Dialektlitteratur gestattet auch dieser Behauptung leider nur
allzuviel Berechtigung, so daß man wahrlich versucht sein könnte, zu fragen, ob
denn volksmäßig und roh ein und dasselbe sei. Die meisten Autoren suchen
das Charakteristische des Schwäbischen in seinem Ungeschliffenen und Unfeinen;
ähnlich wie der sogenannte moderne „Realismus" voll Selbstverkennung alle
Wahrheit nur im schmutzigen und Gemeinen nicht allein sucht, was noch als
Irrtum zu entschuldigen wäre, sondern wirklich zu finden glaubt. Zum Glück
haben wir jedoch auch Dichter, die edlerer Natur sind, die Kern geben statt
bloßer Schale und keine Mühe scheuen, das Volk auch in seinem verborgensten
Gemüts- und Seelenleben zu belauschen und zu verstehen. Ein solcher ist zu¬
nächst, um einen Seitenblick auf verwandte Dialekte zu thun, Karl Stieler.
Seine Bauern sind sehr oft derb genug und verleugnen nirgends ihre gesunde
Natürlichkeit, sind aber nie taktlos und halten stets auf Sauberkeit. Sie des¬
halb „Salonbauern" nennen zu wollen, wäre durchaus ungerechtfertigt. Und
doch ist dies ein Vorwurf, der allen Autoren gemacht wird, die als echte Dichter
durch ihre Kunst sich selbst und ihr Volk zu heben trachten. Auch I. P. Hebel
mußte sich seinerzeit sagen lassen, seine allemannischen Gedichte seien schön und
gut und herzgewinnend, aber — nur nicht wirklichen Volkscharakters! Man
begriff nicht, wie Hebel so vornehm thun könne, und bestritt seinen Schwarz¬
wäldern, seinem Hans, seiner Vrene, seinem Friedli und andern geradezu das
Recht, Schwarzwälder Landleute zu sein. Man meinte, was da ein Bauer
sei, das zeige sich nie so frisch geputzt und in so schneeweißen Hemdärmeln, das
habe vielmehr Tag für Tag im Schmutze herumzulaufen, ungewaschen und un¬
gekämmt, und dem entsprechend auch in der Poesie. Mit einer solchen Vor¬
stellung verglichen, ließ sich gegen Hebels Gestalten allerdings mancherlei ein¬
wenden. Jetzt ist ihm glücklicherweise die verdiente Anerkennung geworden, und
mit Recht eben deshalb. Seine Gedichte haben, wie in andre Dialekte, auch
ins Schwäbische eine Übertragung gefunden: „Der Hebel in Ulm. Hebels
lyrische Gedichte aus dem Allemannischen in die Ulmer Mundart übertragen"
von T. Hafner (Ulm, Gebr. Nübling, 1880). Etwas gewaltthätig bleibt ein
derartiges Beginnen immer, doch verdient es trotzdem weitere Beachtung, schon
als nicht zu widerlegender Beweis dafür, daß Hebels höhere Auffassung auch
im Schwäbischen sehr wohl möglich ist und seine Charaktere hier eine ebenso
thatsächliche Wirklichkeit haben.
Vor ungefähr drei Jahren erschien, im Verlage von I. Ebner in Ulm,
eine „Sammlung schwäbischer Dialektdichtungen von den Anfängen bis zur
Gegenwart" herausgegeben von Gustav Seuffer und Richard Weitbrecht, unter
dem Titel: „'s Schwobaland in Lied und Wort" (XXXI und 674 S. o. I.). Sie
umfaßt eine Reihe von 53 schwäbischen Dialektdichtcru von G. N. Weckherlin
(1584—1651) an bis heute. Freilich ist es vielleicht nur, wie wir gleich hinzusetzen
müssen, ein halbes Dutzend von all diesen Namen, die das Volk wirklich kennt.
Die Sammlung ist jedenfalls reichhaltig und verdient in mancher Hinsicht Beifall
und ungeteiltes Lob. Die Herausgeber verfuhren mit „schwäbischer Gründlichkeit"
und trachteten selbst den Ansprüchen der Wissenschaft gerecht zu werden. Die
Anordnung des Ganzen ist die chronologische, der zweite Teil dagegen, unsre
zeitgenössische Dichtung, ist möglichst nach der Geographie der einzelnen Dialekt-
abartcn in folgender Reihe geordnet: Mittelschwäbisch, Übergang zum Ober¬
schwäbischen, Oberschwäbisch, Lechschwäbisch, Schwarzwaldschwäbisch. Hieran
schließen sich die Grenzdialekte: Riescrschwäbisch, Hohenzolleruschwäbisch und
Rheinschwäbisch. Den Beschluß des Werkes bilden schwäbische Volkslieder aller
Zeiten und aller Gegenden, die im Volke wirklich lebendig sind und gesungen werden.
Um auf das eingangs Gesagte zurückzukommen, so heißt es in der Vor¬
rede des Buches, die viel Interessantes und wohl Beachtenswertes bietet: „So
wenig der Kunstdichter unbewußt dichtet, ebensowenig dichtet das Volk unbewußt.
Beide sind sich darin gleich, daß sie das Bestreben haben, von der Poesie die
Vulgärsprache fern zu halten und sich einer höhern Sprache zu befleißigen.
Diese höhere Sprache ist für den Dichter aus dem Volke eben die Schriftsprache,
im Gegensatz zu dem Dialekt, den er alle Tage spricht." So richtig diese Be¬
merkungen sind, so dünkt uns doch, daß es auch ein Mittleres gebe und daß
zwischen Dialekt und Dialekt immer noch ein Unterschied sei, und zwar gerade
der hier berührte des Volksliedes, das sich mit veredelter Sprache frei zwischen
Vulgärdialekt und Schriftdeutsch stellt. Dem gegenüber sagen die Herausgeber
der Sammlung, „daß jede Durchbrechung der einheitlichen Form bei einem
Kunstwerke, wie es ja auch das einfachste (schwäbische) Gedicht sein soll, vor dem
Forum der Ästhetik dem Gedicht schade, und daß die Forderung an den Dialektdichter
bestehen bleibe, des Dialektes so Meister zu sein, daß er nicht zu schriftdeutschen
Wendungen seine Zuflucht nehme, wo ihm solche aus dem Dialekt zur Ver¬
fügung stehen." Sie geben aber selbst zu, daß fast alle schwäbischen Dialekt¬
dichter „mit ganz wenig Ausnahmen über diese enggesteckten Grenzen hinaus¬
gegriffen haben, besonders da, wo es galt, feinere Saiten des Seelenlebens
anzuschlagen." Dies findet aber keineswegs auf das Schwäbische allein, sondern
auf alle deutschen Mundarten mehr oder weniger seine Anwendung, woraus
freilich noch nicht gefolgert werden darf, daß das Volk ein feineres Seelenleben
gar nicht kenne. Somit sähe sich ein Dichter jeweils vor die Entscheidung ge¬
stellt, entweder reinen Dialekt zu geben mit Beschränkung seines Stoffgebietes
auf das Gröbere, Äußere, oder eine „Mischung mit Schriftdeutsch" ohne diese
Beschränkung.
Hebel entschied sich ohne Skrupel für das Letzte; und auch wir räumen
seiner Wahl den Vorzug ein. eben im Hinblicke auf das Volkslied, das sich
nie, auch in seinen freiesten Bewegungen etwas vergiebt. Unbestreitbar hat auch
die Forderung reinen, unvermcngten Dialekts ihre gute Wahrheit und gründet
sich auf ein nicht ohne weiteres zu verwerfendes, theoretisch richtiges Prinzip.
Die Schranken aber, die sich bei einer thatsächlichen Durchführung desselben dar¬
thun, sind doch dergestalt, daß sie dem Dichter nicht bloß jede Individualität rauben,
sondern auch seine Poesie allmählich erstarren machen. Sein dichterisches Können
wird dadurch völlig unterbunden, er gelangt nie zu einem wirklichen Sich-Aus-
leben in seiner Poesie, und es bleibt ihm zuletzt nur eine Versifizirung von Anek¬
doten übrig — kein gerade sonderlich erstrebenswerter Ruhm. Hier hat zu¬
gleich die Erklärung der höhcrgestimmten Sprache des Volksliedes ihren Angel¬
punkt, indem es eine solche Forderung von vornherein als Verderben er¬
kennt und sich seine eignen Lebensbedingungen schafft. Erhebt sich dagegen
der Dichter in Nachahmung des Volkliedes über den Vulgärdialekt, so er¬
schließt er sich eine ungleich voller sprudelnde, unversiegbare Quelle für
seine Kunst. Wenn man einwendet, es schade dies einem Gedichte vor dem
Forum der Ästhetik, so könnte man doch wohl auch dagegenfragen, zumal
im Hinblicke auf das Geständnis, daß fast alle Dialektdichter „schriftdeutsche
Wendungen" einmischen: wo da am Ende der Fehler liege, wenn Theorie
und Praxis nicht zu einander stimmen? ob nicht vielleicht in der Ästhetik, wenn
sie einen Satz aufstellt, der nicht zu halten ist? — Bemerkt sei, daß in der
besprochenen Sammluug aus Fr. Th. Wischers Meisterstück „Nicht in," nur die
Franzosenhannesseenen Aufnahme gefunden haben, die im Stücke von ganz
episodischer Bedeutung, aber in mehr bäuerischer Sprache ausgeführt sind.
Wir haben in Schwaben je einen bedeutenderen lebenden Vertreter dieser
zwei Richtungen, allerdings mehr in ihren einander zugewandten als abgewandten
Seiten. Ihre Namen sind auch außerhalb ihrer schwäbischen Heimat wohlbekannt;
es ist Gustav Seuffer, der bereits oben genannte, und Adolf Grimminger.
Beide haben auch zu einer zweiten 1386 erschienenen Anthologie „schwäbischer
Vvlksklängc" von Ferd. Strich-Chapell: „Aus'in Herze" (Stuttgart, Greiner K
Pfeiffer, 192 S.) die gewichtigsten Beiträge geliefert. Die Anthologie selbst ist
etwas kritiklos bearbeitet; auch gereichen ihre „vielen Illustrationen" weder ihr
noch dem Geschmacke der Verleger durchweg zur Ehre.
G. Seuffer im seinem Helians, Schwobaland! (Stuttgart, J.B. Metzler.
1879. 280 S.) hat manches wirklich vortrefflich gelungene Gedicht, z. B. „Im
Moi juhei!", „Was mag doch dear Bua an wölle?", „Im Kapelle an der
Halde", „Mei ol und mei alles", „Hast du an schöcme Schurz net a", „So
viel er in'r g'sait hat" (nach Klaus Groth). Aber es fehlt ihm doch im großen
und ganzen, was Hebels Ruhm ausmacht und was auch Grimminger besitzt:
ein feineres Schönheitsgefühl, bei der Wahl seiner Stoffe sowohl, wie bei deren
Ausführung. Es hängt dies zweifellos mit dem oben Besprochenen zusammen.
Wir lachen bei seinen Gedichten, freuen uns aufrichtig über das eine und andre,
vergessen sie aber schnell wieder. Sein Humor ist mehr Witz und mehr körnig,
als frisch und originell; seine Sprache zuweilen abstoßend derb, wo sich ohne
große Mühe ein schönerer, ebenso bezeichnender Ausdruck finden ließe. Er felle
wenig, und mancher Vers, oft mit verzweifelt verkrampfter Wendung, verrät sich
nur allzu offen als Reimnot oder Flink — ein Vorwurf, dem doch jeder Dichter
möglichst auszuweichen sucht. Das Buch umfaßt drei Abteilungen: „Schnitz und
Schrote", „Jetzt gang e ans Brünnele" und „A Portio Ällerloi". Die zweite
Abteilung enthält weitaus das Beste der Sammlung. Es ist wie ein gutes Bild,
in mißratenem, verschnörkelten Rahmen. Ein Gedicht aber wie „Mei Schatz,
ihr Leut, hoißt Frieder", das auch in den „Fliegenden Blättern" erschien, ist
geradezu ein Fleck, um nicht mehr zu sagen. Seuffer besitzt unstreitig ein schönes
Talent, seine Poesie aber macht den Eindrnck, als ob sie sich gut genug wäre
und zufrieden damit, in vergnügter Herrengesellschaft vorgetragen zu werden,
während Grimminger, wie seinerzeit Hebel, beansprucht, im traulichen Kreise
der Familie Geltung zu gewinnen. Seuffer ist ganz Realist, mit allen Vor¬
zügen, aber auch mit allen Schattenseiten eines solchen, während Grimminger
eher Idealist genannt werden kann. Die Sprache Seuffers ist der breite ober-
schäbische Dialekt, wie er in der Gegend von Ulm gesprochen wird und von
Seb. Salier (1714—1777) und Karl Weitzmann (1767—1328) in die Litteratur
eingeführt worden ist. Als kleine Probe stehe hier: „Der uni Herr Pfarrer":
Wia gfällt der denn der uni Herr Pfarr? —
Des ischt mer an der recht I —
Ach gang doch, Frieder, sei loi Narr,
Er predigt doch »et schlecht! —
Er ischt halt cha sürchtig klei! —
El! 's Kiel'sei' gobe in Kauf! —
Was Kauf! Soll d' Kanzel ausgfüllt sei,
So ghairt an' Mannschaft naus! —
Grimminger hat zwei Bändchen Gedichte veröffentlicht. Das eine, Mei
Derhoim, erschien zuerst 1868 (Stuttgart, Cotta) als Heimatsgruß des Dichters,
der damals an der Rotterdamer Oper als Heldentenor thätig war, und nun
in fünfter (vermehrter) Auflage ebendaselbst in diesem Jahre. Das andre nennt
sich: Lug' ins Land und erschien 1873. Man hat Grimminger vorgehalten:
seine Gedichte seien hochdeutsch gedacht und erst beim Niederschreiben schwäbisch
geworden. Mit Unrecht. Seine Sprache ist allerdings nicht die des Bauern.
Es ist, wenn man will, Stuttgarter Mundart, oder wie sie der Dichter selbst
in seiner Vorrede zu „Mei Derhoim" bezeichnet, mittelschwäbisch. „Die ersten
Familien Stuttgarts, sagt er, sprechen zu Hause und unter Freunden schwäbisch,
aber dies schwäbisch verhält sich zu dem des Bauern wie Hochdeutsch zum
bloßen Dialekt. Wer es wagt, schwäbisch zu dichten, ist umsomehr gehalten,
zur feinern Nüance zu greifen, als die derbere, wenn sie nicht mit außerordent¬
lichem Takt behandelt wird, wir müssen es gestehen, leicht ins Widerliche, Ge¬
meine fällt. Wenigstens muß, wenn letztere gewählt wird, der Zusammenhang
genügende Bürgschaft geben, daß gewisse Grenzen nicht überschritten werden.
Wenn es dem gebildeten Schwaben unter den Seinen recht Wohl ist, steigt er
gerne vorübergehend zu der breitesten Form herunter, aber da ist eben durch
freien Humor verbürgt, daß jene Linie geschont wird, und in diesem Sinne habe
ich ein und das andre Mal gewagt, auch den derbern Volksmund zum Worte
kommen zu lassen. Jedes Mehr darüber hinaus hätte dem guten Geschmacke
widerstrebt." Wir unserseits können es Grimminger nur als Verdienst anrech¬
nen, daß er die Stuttgarter Mundart, die, wie wir einräumen, oft mit hochdeutschen
Wendungen vermischt ist, als schwäbische Schriftsprache fordert. Auch Bischer
hat sich mit seinem „Nicht la." (schwäbisches Lustspiel in drei Aufzügen. Stutt¬
gart, Bonz Ä Cie., 1884) ihr genähert. Nur fordert schon sein Stoff — das
Stück spielt in einem Landpfarrhause — eine weniger nach der Stadt neigende,
sondern mehr ländliche Färbung der Sprache. Wäre diese auch nur eine Spur
breiter, verlöre Pfarrer Klemmle und mit ihm das Ganze unbedingt an ästhe¬
tischem Wert. Der Dichter darf nie außer Acht lassen, auch Künstler zu sein,
selbst beim größten Realismus, und besonders der Dialektdichter, da seine Sprache
nicht den geringsten Zwang kennt, ihm s, xriori alle Freiheiten gestattet und
uicht wie das Hochdeutsche in seiner Darstellung das Dargestellte schon eine
Stufe höher rückt. Grimmingers Poesie zeigt, wie die Hebels — wir müssen
immer wieder auf diesen Hinweis zurückkommen — ihre Gestalten nicht im
Werktagskleide, sondern im Sonntagsstaat ihres Gemüts, ohne daß ihnen dieser
etwa unbequem säße. Allerdings huldigt der Dichter damit einem heute als
unmodern und altfränkisch verschrieenen Grundsatze: durch seine Werke nicht so¬
wohl unterhalten und vielmehr erheben und veredeln zu wollen. Seine Gedichte
bezwecken eine nachhaltige Wirkung auf das Herz des Lesers, nicht bloß eine
im nächsten Augenblicke schon vergessene auf seinen Verstand. Und in der That,
man kehrt gern zu seiner einfachen, idyllischen Genremalerei zurück; mit dem¬
selben Gefühle, wie man im Sommer aus der Stadt hinaus nach der Natur
verlangt, oder wie man wieder einmal eine frische Quelle aus moosigen Wald¬
boden emporsprudeln sieht. Durch treffliche Kompositionen sind viele seiner Lieder
über ganz Deutschland hin bekannt, ja beinahe Volkslieder geworden, wenn man
mit dem Ausdruck hier nicht allzu genau rechten will, so z. B.: „Du ischt gar
a herzig's Wörtle," „Neckar und Mosel," „Maidele guck' raus," ..Bhüt' ti Gott."
Das letztere brachte der Versasser dieses Aufsatzes vor Jahr und Tag selbst
einmal mit von Hamburg nach Hause, wo er es an einem schönen Sommerabend
in einem Boot auf der Ulster hatte singen hören. Enthält „Mei Derhoim" mehr
Stimmungen, so enthält „Lug' ins Land" mehr Szenen und Bilder. Ein feiner,
lieb- und lenzgemuter Humor durchflattert Grimmingers Poesie wie schillernde
Schmetterlinge einen Wiesengarten, die bald hier bald da an den duftenden
Kelchen nippen. Wie fein er den Volkston zu treffen weiß, mögen drei kleine
Strophen zeigen: „Hans in Gedanke":
Hans, was guckscht so still für ti
Über 's Brücke'gliinder;
Sag, deutsche grad vielleicht an mi,
Oder nachsehe Kalender? —Noi', Kalender mach i net,
Aber denk mit Schmerze,
Wenn i no de Schlüssel hätt
Zu me gewisse Herze! —'s schwimmt a Fischte lvohl damit
Zwische Berg und Wange ^),
Und wenn du de Schlüssel witt,
Muescht halt 's Fischte fange! —
Was zum Schluß die Orthographie betrifft, so herrscht dabei völlige
Willkür. Jeder Dichter macht sich seine eigne. Es wäre von unzweifelhaften«
Vorteil, wenn in dieser Beziehung ein Zusammengehen erstrebt würde. Auch
Bischer, der wohl als erste Autorität Geltung hätte haben sollen, ist nicht durch-
gedrungen. Grimminger hat die Orthographie in „Mei Derhoim" wohl am
frühsten etwas zu regeln versucht. Vielleicht ließe sich aber doch eine Einigung
erzielen — wenigstens soweit es bei den verschiedenen Lautklängen und Schatti-
rungen der Aussprache überhaupt möglich ist — wenn guter Wille dazu vor¬
handen wäre. Wir kommen später vielleicht einmal ausführlicher hierauf zurück,
ebenso auf die hier nicht berücksichtigte schwäbische Prosadichtung.
China kann man nach der Meinung des Verfassers mit mehr Recht con-
fucianisch, als Europa christlich nennen, und so hat sich ihm die gedankenreiche, vou
großen Gesichtspunkten aus entworfene Charakteristik des Confucius zu einem
Charakterbilde des chiuesisthen Staatswesens in fortlaufendem Vergleich mit der
europäischen Kultur ausgeweidet. Für Gabelentz ist Confucius einer der gröszten
Menschen, die je gelebt haben, wenn man die geschichtliche Größe eines Mannes
nach der Zeit, dem Raume und der anhaltenden Kraft seiner Wirksamkeit bemessen
kann. Confucius beherrscht China seit dem sechsten Jahrhundert vor unsrer Zeit¬
rechnung bis auf den heutigen Tag; weder der Buddhismus, noch die Völkerkriege,
noch der Mohammedanismus konnten seine Macht im Laufe der Jahrhunderte
schwächen, vielmehr haben die zähen Chinesen ihre Eroberer bekehrt. Man darf
auch nicht das landläufige Urteil von dem Stillstand der chinesischen Kultur wieder¬
holen. Die Geschichte Chinas weist der politischen Umwälzungen und der geistigen
Wandlungen nicht weniger auf, als die Geschichte Europas, hat aber vor ihr
eine größere Einheit, Urwüchsigkeit und nationale Geschlossenheit voraus; ihre An¬
fange reichen in die allerfrühesten Zeiten des Altertums zurück, sür die in Europa
Nachrichten überhaupt fehlen. Der Stillstand Chinas ist nur scheinbar, er ist nur
für den Uneingeweihten da, der die Ausbildung der nationalen Eigenart nicht ins
einzelne verfolgen kann; in Wahrheit ist eine Entwicklung vorhanden. Als Con-
fucius auftrat, war China Politisch in starker Zerrüttung; die einzelnen Provinzen
bekämpften sich untereinander, und mit ihren Lehnsherren an der Spitze gegen den
Kaiser. Hier Ordnung zu schaffen, dem Reichsoberhaupte Ansehen, dem Lande den
Frieden zu erringen, erfaßte Confucius als seine staatsmännische Aufgabe. Gabeleutz
wendet sich gegen die Auffassung des Confucius als eines „Stifters," sei es einer
Religion oder des Staates. Er war kein Neuschöpfer, schon deswegen nicht, weil
er in seiner politischen Weisheit grundsätzlich an die volkstümlichen Ueberlieferungen
auf allen Lebensgebieten anknüpfte. Er sammelte und studirte eifrig die Volkslieder
und begründete ihre Autorität. Er achtete die chinesische Liebe für äußere Ho'f-
lichkeitsformen, sür das viel verwickelte Zeremoniell, aber er bemühte sich, die
leeren Formen der Sitte mit wahrer Sittlichkeit zu erfüllen. Er arbeitete
das chinesische Strafgesetzbuch so aus, daß der große deutsche Staatsrechts¬
lehrer Feuerbach es noch bewundern mußte. Auch in der staatlichen Ordnung
knüpfte er an das Vorhandene an: es blieb beim patriarchalischen Absolutis¬
mus, der aber in China ein andres Gesicht als in Europa zur Zeit Metter-
nichs annahm. Confucius tastete auch nicht die Vorstellung an, daß das Reichs¬
oberhaupt der heilige Mittler zwischen dem Himmel und der Erde sei, wie er über¬
haupt alle religiöse Fragen auf sich beruhen ließ. Diese Vorstellungen hinderten
allerdings nicht, daß einem unwürdigen Neichsoberhaupte vom Volke der Gehorsam
gekündigt wurde; ebenso wenig war der Absolutismus ein Hindernis dagegen, daß
das Volk gelegentlich selbst Polizeigewalt Äbte. Das Merkwürdigste an Confucius
ist seine staatsmännische Größe, die das ganze System der praktischen Philosophie
so zu gestalten wußte, daß das Staatswohl in seinen Mittelpunkt trat. Eine ge¬
wisse Nüchternheit zeichnet die eonfucianische Sittenlehre aus; sie rechnet mit der
Menge, mit der menschlichen Eitelkeit, Ruhmgier und Selbstsucht. Aber sie preist
auch das ki, d. h. das Maßhalten, etwa dasselbe, was den Griechen mit dem Be¬
griffe der Kalokagathia vorschwebte; sie stellt die Liebe zur Wahrheit und Wahr¬
haftigkeit an die Spitze aller Tugenden und läßt keine mittelalterliche oder japa¬
nische Romantik aufkomme». Wunderlich ist die große Bedeutung der Musik im
Gemütsleben des Confucius, denn chinesische Musik halten wir Europäer für sehr
unmelodisch; und ein Schaden für die chinesische Kultur wurde es, daß Confucius
ein talmudisch-schvlastisches Werk „die Wandlungen" über alles hoch schätzte, deun
infolgedessen gerieten die Chinesen in die Bahnen müßiger metaphysischer Be-
trachtung, während die Europäer durch alle Scholastik sich zur Naturforschung
durcharbeiteten. Dies die wichtigsten Gedanken aus dem ausgezeichneten Vortrage
des gelehrten Sprachforschers.
Ueber Mendelssohns Familie und Freunde fließen die authentischen Berichte immer
reichlicher. Diese Fülle der Mitteilungen hat eine innerliche Berechtigung, da
dieser Kreis viele eigenartige und hochgebildete Personen umfaßt. Für unsre
Zeit kommt noch der Umstand hinzu, daß uoch viele Musikfreunde leben, die
ihre schönsten künstlerischen Erinnerungen in die Zeit verlegen, wo Mendelssohn
den Taktstock schwang und ueben und unter ihm vortreffliche Männer wie Moscheles
und David wirkten. Das Bild Mendelssohns selbst kann durch neue Beiträge kaum
noch geändert oder bereichert werden. Diejenige Gestalt, welche dnrch Eckardts Buch
in den Vordergrund des Interesses gestellt wird, ist die Mutter Felix Mendelssohns,
eine außerordentlich lebendige und gescheidte Frau, von deren Beweglichkeit ein
gutes Teil in die Natur des Sohnes übergegangen zu sein scheint- Zu den Brie¬
fen, die den Hauptinhalt des Textes bilden, hat Eckardt einen guten verbindenden
Text geschrieben. In ihm finden wir Bilder von demi öffentlichen und künstlerischen
Leben in Hamburg, Kassel, Leipzig und Berlin aus der Zeit Davids und Mendels¬
sohns, die ungemein farbig, glatt und rund wirken. Was die rein musikalischen
Ansichten und Urteile betrifft, so nennt sich Eckardt im Vorworte selbst „sachlich
unlegitimirt."
Den Versuchen der Kunst, vielbehandelte, aber nicht bewältigte Stoffe neu zu
gestalten, um sie dennoch für die Bühne zu gewinnen, folgt der litterarische Mensch
immer mit besondrer Teilnahme, denn nichts ist für die Einsicht in das Wesen
der dramatischen Kunst lehrreicher, als solch ein Studium. Wie Nero, Konradin,
Marino Falieri, König Erich, Columbus, so gehört auch die Geschichte Alexanders
des Großen zu jenen Stoffeu, die viele Liebesmühe unbelohnt ließen. Hans Herrig
seinerseits gehört zu jenen Dramatikern, die mit Vorliebe solche ungelöste Aufgaben
der Kunst neu aufgreifen; Erfolg hat er bisher nnr mit seinem Luthcrfestspiele
gehabt. Er ist gewiß ein interessanter Schriftsteller, ein redlich strebender Künstler,
der ernst genommen werden muß, weil er ernst auftritt. Allein seine Leidenschaft,
recht tiefsinnig zu dichten, in jedem Werke seine wagnerisch-schopenhauerisch-bud¬
dhistische Weltanschauung darzustellen, viel „hiueinzugeheimnissen," läßt in ihm
eine naive Kunst so wenig gedeihen, als in dem Leser einen unbefangenen Genuß
seiner Dramen. Der philosophische Pferdefuß ist überall deutlich darin merkbar.
Man respektirt deu Geist des Verfassers, aber man bleibt kühl; es wäre besser,
man müßte weniger bewundern und mehr fühlen, weniger nachdenken, aber dafür
hingerissen werden. Aber was aus der Reflexion geschaffen wurde, spricht wieder
nur die Reflexion an und dringt nicht zum Gemüte.
Herrigs neustes Drama „Alexander" will uns in: dichterischen Gegensatze
zwei wesentlich verschiedene Lebensanschauungen vorstellen. Die eine ist vertreten
durch Calamus, den Jnderkönig, der seiner Macht und seinem Besitze entsagt hat,
um als Bettler die Welt zu durchstreifen und den größten Menschen zu suchen,
den ihm ein Stern angekündigt hat; dem gegenüber steht der Grieche Alexander,
den jener merkwürdige Stern dem Calamus eben als den gesuchten größten Menschen
bezeichnet, der aber nichts von Entsagung wissen will, im Gegenteile nie satt genug
am Länderbesitze wird und endlich darüber den Verstand verliert. Herrig stellt
uns also zwei Typen der Menschheit hin und fordert unser Urteil, unsre Wahl
zwischen beiden heraus, uicht aber unsre menschliche Teilnahme an den Geschicken
der beiden Männer. Das giebt seinem Drama den Charakter eines Lehrgedichts.
Das Drama Herrigs enthält nur eine wirklich dramatisch anmutende Szene, näm¬
lich in der ersten Hälfte des dritten Aktes. Es wird der Sieg Alexanders über
Darius durch ein Bacchanal gefeiert; sein alter Erzieher Kinns wird dem von
dem Siege, dem Weine und der Lust berauschten Heldenjünglinge Alexander durch
unkluge, vorwitzige, schulmeisternde und jedenfalls sehr unzeitgemäß nörgelnde Reden
lästig, so sehr, daß der aufbrausende Alexander den alten Schulfuchs ersticht. Aus
dieser That zieht aber Herrig leider keine weiteren Folgen, sie ist nur ein Cha-
rakterzug Alexanders unter mehreren andern. Dem Drama fehlt es somit nicht
an Handlungen, wir begleiten ja Alexander von seinem ersten Betreten des asiatischen
Bodens bis zu seinem Zuge nach Indien, zur Meuterei der Soldaten, bis zu
der Rückkehr über Arabien und Aegypten, wo ihn schlaue Priester für den Sohn
des Zeus Ammon erklären; aber die Gestalt Alexanders bildet nur einen epischen
Mittelpunkt, keinen dramatischen. Es fehlt an der durchgehenden Einheit einer ein¬
zigen Handlung. Die Entwicklung eines bestimmten Charakters im Laufe seines
Lebens darzustellen, ist so recht eine epische Aufgabe. Darum geben die fünf Akte
des Stückes eine Reihe von mehr oder weniger symbolisch bedeutsamen Bildern;
aber eine Spannung von Akt zu Akt, die uns die Zukunft unsers Helden ahnungs¬
voll erwarten ließe, kommt gar nicht auf. Anstatt uns immer tiefer in die Teil¬
nahme für das Geschick des Helden zu verstricken, damit wir die höchste genu߬
volle Täuschung der dramatischen Kunst erleben, führt uns Herrig einen ganz
entgegengesetzten Weg: er entfremdet Alexander von Akt zu Akt unserm Gemüte;
nicht aber so wie z. B. Shakespeare einen Macbeth, um ihn dann unserm Mit¬
leid wieder zuzuführen, sondern um ihn am Schlüsse des Stückes ganz und gar
verächtlich zu macheu. Am Anfange steht Alexander groß, herrlich, edel, hinrei-
reißend liebenswürdig, ein echter Grieche, ein zweiter Achill da; je mehr wir aber
vorwärtslesen, um so tiefer gestaltet sich sein sittlicher Verfall. Alexander nimmt
die Gesinnung des asiatischen Despoten und Barbaren an, den er soeben nieder¬
geworfen hat, nichts mehr von edler griechischer Menschlichkeit in ihm, am Ende
wird er toll, größenwahnsinnig, läßt sich wie ein Gott verehren, bricht aber auch
an physischer Entkräftung zusammen. Wie wir uus für einen solchen verkehrten
Helden erwärmen sollen, ist nicht einzusehen. Tragisch ist dieser Held doch gewiß
nicht. Aber die pessimistische Aesthetik Hans Herrigs hat offenbar etwas für schön
gesunden, was uns naive Menschen geradezu abstoßen muß. Es will uns als die
größte Verkennung des Wesens der dramatischen Kunst erscheinen, wenn Hcrrig
vom Zuschauer eine so philosophisch voraussctzungsvolle Haltung im Angesichte der
Bühne erwartet, wie er selbst sie von seinen in den Dienst philosophischer Ten¬
denz gestellten Gebilden einnimmt. Wie wenig dramatisch Herrig fühlt, kann anch
eine Einzelheit beweisen. Im dritten Akte heiratet Alexander die junge schöne
Wittwe Noxane. Im folgenden Akte wird ihm schon die Geburt seines Sohnes
angekündigt. Wir fürchten, manches Parterrepublikum wird dabei lachen. Wohl
darf der Dramatiker frei und keck mit der Zeit wirtschaften, denn am Ende kennt
das Drama die Zeit so wenig als der Traum; allein es darf uns nicht eine un¬
geschickte Wendung an die prosaischen Bedingungen der Ereignisse erinnern, sonst
erwachen wir aus der traumhaften Täuschung; die Zeit muß ganz unbestimmt im
Drama gelassen werden, sonst lachen wir nur zu gern.
u Anfang des Sommers hat die deutsche Negierung an der reichs-
ländischen Grenze die Paßvflicht eingeführt. Es geschah dies als eine
Schutzmaßregel gegen die landesverrätherischen Umtriebe, von deren
bedauerlichen Umfang die letzten Jahre so ernste Proben gebracht
haben; ferner als Abwehrmaßregel gegen die französische Agitation,
die sich im Lande mehr und mehr breit machte, endlich als Antwort auf die
Gehässigkeiten und Feindseligkeiten gegen die Deutschen in Frankreich, um den
Franzosen mit ihrer eigenen Münze heimzuzahlen. Es war notwendig ge¬
worden, sowohl den Franzosen und den in Frankreich lebenden Elsaß-Lothringern
als auch der eigenen Bevölkerung im Reichslande zum vollen Bewußtsein zu
bringen, daß die Grenze eben eine Grenze ist, und den Mißbrauch der nach¬
barlichen Verkehrserleichterung durch Vertiefung des Grenzgrabens wenn nicht
zu verhindern, so doch möglichst zu erschweren.
Die Maßregel, deren Bedeutung und Tragweite man wohl nicht sofort
erkannte, rief — wie jede derartige Anordnung zu thun pflegt — namentlich
im Anfange lebhafte Klagen hervor. Bemerkenswerther Weise viel weniger bei
den eigentlich Betroffenen, den Franzosen, die allerdings nach ihrer Fremden¬
gesetzgebung und der von ihnen eingeführten Grenzkontrolle zu Beschwerden keinen
Grund hatten, wohl aber Klagen, namentlich in der Presse, von altdeutscher
und elsässischer Seite über schwere wirtschaftliche Störungen, Belästigungen durch
ungeschickte Beamte, Rückgang des Personenverkehrs der Eisenbahn u. s. w.
Die letztere Klage ist nicht unbegründet, sie kommt auch in den Einnahmen der
Reichsbahnen im Reichshaushalt-Etat für 1889/90 mit einer Mindereinnahme
von 400 000 M. zum Ausdruck. Allein der Umstand, daß die Paßvorschrift
erst am 1. Juni in Kraft getreten ist und die Eisenbahn ihren Voranschlag
doch spätestens im September aufgestellt hat, beweist, daß der Rückgang sich
in Folge der allgemeinen politischen Verhältnisse und namentlich in Folge der
rohen Behandlung Deutscher in Frankreich schon lange vor dem 1. Juni fühl¬
bar gemacht hat. Früher z. B. waren Ausflüge nach Nancy, Belfort u. s. w.
beliebte Vergnügungsfahrten der Offiziere des 15. Armeekorps, bereits seit meh¬
reren Jahren mußten diese in aller Form streng untersagt werden. Für den
Rückgang im Personenverkehr entschädigt die Zunahme im Güterverkehr um
2 Millionen Mark hinlänglich und beweist, daß die „wirtschaftliche Störung"
jedenfalls nicht sehr erheblich sein kann. Wir werden fpüter darauf zurück¬
kommen. Was die Beamten anlangt, so scheint ihnen so manches als Ungeschickt-
heit ausgelegt worden zu sein, was im Grunde genommen nur die strenge Aus¬
übung ihrer gebotenen Pflicht war. Auf eine laxe Handhebung einer derartigen An¬
ordnung konnte doch, wenn die Anordnung irgend von Wirkung sein und ihren
Zweck auch nur annähernd erreichen sollte, überhaupt nicht gerechnet werden. Es
soll zugegeben werden, daß das Polizeimaterial, welches der Verwaltung in Elsaß-
Lothringen zu Gebote steht, nicht immer das erwünschte ist. Die Polizei, so
wichtig auch gerade in diesem Grenzlande ihre Aufgabe ist, war bis zum
vorigen Jahre ein wenig gepflegter Zweig des öffentlichen Dienstes, die Krisis
von 1887 legte die bereits vom vorigen Statthalter erkannte Notwendigkeit
einer gründlichen Verbesserung unabweislich dar. Seitdem sind diese Dinge in
festere Hände genommen, hoffentlich mit besserem Erfolg.
Was durch den Paßzwang getroffen wurde, waren weit weniger die wirt¬
schaftlichen, als die persönlichen Beziehungen, d. h. der gemütliche Verkehr,
deu die Franzosen und die französischen Elsaß-Lothringer bis dahin nach
dem Reichslande unterhalten hatten. Man kam oder ging, als hätte das Jahr
1870 gar keine Veränderung gebracht. In Straßburg und Metz erschienen
täglich, gemeldet und nicht gemeldet, französische Offiziere in nicht immer ge¬
ringer Zahl, auf Urlaub; sie bewegten sich als Mitglieder oder Gäste franzö¬
sischer und elsässischer Jagdgesellschaften ungenirt im Lande; die Sommerfrischen
in den Vogesen waren von französischen Gästen vollständig besetzt. Zu dieser
schwerlich erwünschten Gesellschaft gesellten sich dann noch die Optanten oder
solche, die es verstanden hatten, sich auf irgend eine Weise der deutschen Mi¬
litärpflicht zu entziehen und nun diejenigen verhöhnten, welche den deutschen
Waffenrock trugen oder getragen hatten. Dazu dann noch ein ganzes Netz von
Agenten aller Art, oornrms voz^Fönrs in Waaren und in Politik. Alle diese
Besucher sind durch den Paßzwang und die wesentlich verschärfte Fremdenaufsicht
getroffen worden; sie sollten aber auch getroffen werden, es war die höchste
Zeit. Viele Familienbeziehungen, das kann nicht bestritten werden, sind dadurch
in hohem Grade erschwert worden. Söhne elsässischer und lothringischer Familien,
die im französischen Heere dienen, können nicht mehr beliebig nach Hause auf
Urlaub kommen, auch sonst werden die jungen Leute beiderlei Geschlechts, welche
nach Frankreich gehen, sich mit dem Gedanken vertraut machen müssen, daß sie
fortan Heimat und Familie nur unter erschwerenden Umständen wiedersehen.
Sollte in Folge dessen der Paßzwang die Wirkung haben, daß diese jungen
Leute mehr als bisher ihr Fortkommen auf der deutschen Seite der Vogesen
suchen, um so besser. In der französischen Presse hat es, namentlich in den
ersten Monaten» an den üblichen Schauermärchen nicht gefehlt. In der Regel
handelte es sich um Söhne oder Töchter, die durch die deutsche Brutalität ver¬
hindert wurden, zu ihrer sterbenden Mutter zu gelangen. Ging man der Sache
auf den Grund, so hatte entweder keine Behinderung stattgefunden, oder weder
das Kind noch die sterbende Mutter hatte existirt. So z. B. die Geschichte
von jenem 19 jährigen Dienstmädchen, das nach Hagenau an das Sterbebett
der Mutter will, in Avricourt nicht durchgelassen wird, weil es keinen Paß
hat, vergeblich einen Fußfall vor dem unerbittlichen Gendarmen thut, dann ein
hochvathctischcs Telegramm Nach Potsdam an die junge Kaiserin sendet, darauf¬
hin zwei Stunden später die Erlaubnis erhält und — natürlich zu spät nach
Hagenau kommt. Wie rührend! Thatsächlich hat es freilich weder ein Dienst¬
mädchen, noch ein Telegramm der Kaiserin, noch eine sterbende Mutter in Hagenau
gegeben.
Daß da, wo keine Anstünde oder Verdachtsgrüude vorliegen, die Botschaft
in Paris einen Paß bewilligt, ist selbstverständlich. Allerdings werden die für
sie dabei maßgebenden Gesichtspunkte uicht immer die der Paßbcwerber sein.
Daß französischen Offizieren der Eintritt womöglich grundsätzlich versagt bleibt,
kann nach den gemachten Erfahrungen nicht weiter auffallen, ebenso ist es z. B.
für unnötig erachtet worden, einer 42 Köpfe starken französischen Theatertruppe,
die unter ihrem Direktor Boulanger von Nancy aus die patriotische Trauer der
Metzer mit ihrem Gastspiel aufheitern sollte, den Eintritt zu verstatten. Es soll
eben mit der französischen Schauspielerei in Elsaß-Lothringen zu Ende sein. Noch
auf lange Zeit hinaus werden für die Verwaltung des Reichslandes die Gesichts¬
punkte der auswärtigen Politik maßgebend bleiben müssen. Das hat sogar der
verstorbene Abgeordnete Laster anerkannt. So lange es dem Botschafter des
Kaisers in Paris möglich war, zu den dortigen Kreisen gute und freundliche
Beziehungen zu Pflegen, konnte der Statthalter des Kaisers in Straßburg viel¬
leicht eine gewisse Nachsicht, eine mildere Praxis in der Handhabung bestehender
Vorschriften walten lassen. Mit dem Aufhören der ersteren Muß natürlich auch
die letztere ein Ende nehmen. Elsaß-Lothringen liegt dem Brennpunkte der
französischen Interessen zu nahe. Alle Bewegungen, die sich in Frankreich voll¬
ziehen, werden im Reichslande aus alter Gewohnheit und in Folge des noch
tausendfältigen Zusammenhanges durch alte und neue politische, geschäftliche und
Familienbeziehuugen lebendig mit empfunden. Das Interesse der gebildeteren
Klasse an den Vorgängen in Frankreich und Paris ist ungleich lebhafter als
an denen, die sich in Deutschland und Berlin vollziehen; die Deputirtenkammer
und ihr Gezänk berührt sie viel mehr als der deutsche Reichstag. Sie nehmen
zu den Parteikämpfen der Republik unwillkürlich Stellung und wundern sich,
wenn ein Deutscher für diese Dinge kein Verständnis oder nur Nchselzuckeu
hat. Ist es doch in Familien, die — äußerlich — völlig zu Deutschland ge¬
gangen sind, viel mit Deutschen verkehren, noch völlig selbstverständlich, daß die
kleine Enkelin zuerst „ihre Muttersprache" — französisch — lernt und auf Bilder¬
bogen die Hosen der Zouaven rot tuscht. „Deutsch lernt sie ja von der Kinds¬
magd und in der Schule", Eltern und Großeltern sprechen mit der kleinen
„Jeanne" nur französisch. Wenn das in Familien geschieht, die zu den Haupt¬
stützen der Deutschen im Lande zählen, mit den vornehmsten deutschen Kreisen in
Verkehr stehen, so kann man sich ein Bild von den übrigen machen; das vor¬
stehende stammt, nach dem Leben gezeichnet, aus den letzten fünf Jahren.
Hiernach wird man sich nicht wundern, wenn die gebildeteren Klassen zum
Landesdienst einen so geringen Beitrag stellen. Eine Anzahl junger Leute
studirt — zum Teil unter dem Einfluß der reichen Stipendien — in Straß-
burg Theologie, ein anderer Teil Medizin. Aber schon zur Jurisprudenz geht
man nur mit dem stillen Vorbehalt, Notar oder Advokat zu werden, denn so
lange im bürgerlichen Leben das französische Recht noch gilt, wäre in solchen
Stellungen ein etwaiger neuer Herrschaftswechsel am leichtesten zu ertragen.
Zudem bildeten bis in die letzten Jahre die Notare die eigentliche regierende
Klasse. Sie beherrschten alle Familien- und Geschäftsverhältnisse, sie waren
die Ehevermittler, sie dirigirten die Gemeinde- und andere Wahlen. Auf diesem
Gebiete wird die Einführung des bürgerlichen Gesetzbuches ganz besonders nütz¬
lich wirken, denn erst durch dieses Gesetzbuch wird Elsaß-Lothringen völlig von
Frankreich geschieden werden. Für den Eintritt in das Lehrfach, die Verwaltung
oder gar die Armee besteht aus naheliegenden Gründen gar keine Neigung.
Die zahlreichen jungen Leute aus den wohlhabenden Familien des Landes,
die sich dem Kaufmannsstande zuwenden, sind — Ausnahmen bestätigen die
Regel — von vornherein für Deutschland verloren. Die ganze kaufmännische
Überlieferung des Landes weist naturgemäß nach Paris und Lyon, und da
gerade die wohlhabenderen jungen Mädchen in großer Zahl nach Frankreich sich
verheirathen, so finden die jungen Kaufleute dort überall den dem Elsässer so
sympathischen Familienanschluß, ein Zug seines deutschen Wesens, den zwei
Jahrhunderte nicht verwischt haben. Die in Frankreich bestehenden großen
Firmen elsässischen Ursprungs gewähren ihnen leicht Förderung, denn ihnen ist
der elsässische Arbeiter unendlich erwünschter als der französische, und da im
Lande leider fast durchweg die Buchführung noch nach Franks und Centimes
üblich ist, so braucht der junge Miilhauser, der nach Lyon oder Paris geht,
keine seiner Gewohnheiten zu verändern: er spricht und schreibt französisch wie
bisher und rechnet in Franks und Centimes, ebenfalls wie bisher.
Man kann sich hiernach wohl ein Bild machen, wie tief in so geartete
Verhältnisse die Paßverordnung einschneiden muß. Die Elsüsser kamen sich wie
zum zweiten Male — und diesmal erst wirklich — annektirt vor, ja es ist
vielleicht nicht zrwiel behauptet, daß keine Maßnahme der deutschen Regierung
ihnen den Umschwung der Dinge des Jahres 1870 so zu Gemüte geführt hat,
wie diese Vorschrift, die somit vom politischen Gesichtspunkt als ein wahrer
Segen für das Land bezeichnet werden muß. Freilich war im ersten Augen¬
blicke alles starr vor Schreck. Selbst in deutschen Beamtenkreisen war man
mit dieser „Berliner Ungeheuerlichkeit" unzufrieden. Deutsche Zeitungen des
Reichslandes ergingen sich in lauten Klagen und brachten die seltsame
Weisheit der „Stammtische" zum Ausdruck (der Stammtisch ist für viele
Deutsche in Elsaß und Lothringen und damit auch für die Beurteilung gar
mancher Verhältnisse des Reichslandes von der nämlichen Bedeutung wie für
die eingeborene Bevölkerung der Notar): die völlig unhaltbare Maßregel sei
nur eine Leistung der jüngeren Kräfte des Auswärtigen Amts, die sehr bald
von selbst wieder einschlafen werde. Insbesondere ward sie dem Grafen
Herbert Bismarck in die Schuhe geschoben.
Deutschland könnte sich nur gratuliren, wenn von den „jüngeren Kräften"
seines diplomatischen Dienstes recht viele so ins Schwarze zu treffen verstünden,
wie der Urheber dieser Paßverordnung. Welche naive Auffassung dieses Dienstes,
die eine derartige Anordnung ohne den Reichskanzler für möglich und zulässig
hält, eine Maßregel, bei der doch unsere ganze auswärtige Lage in Erwägung
gezogen werden mußte! Daß der Kanzler in Friedrichsruh nicht in Schlafrock
und Pantoffeln am Kaminfeuer sitzt, während in Berlin die „jungen Leute"
das Reichsregiment führen, dürfte seitdem wohl auch sonst klar geworden sein,
auch verlautete alsbald in glaubhafter Weise, daß der Anregung zu dieser Ma߬
regel eine vertrauliche Verständigung zwischen den deutschen Regierungen voran¬
gegangen sei.
Es liegt die Frage nahe, was man gerade in deutschen Beamtenkreisen an
einer Anordnung auszusetzen hatte, deren Zweck und Bedeutung doch am
ehesten dieser erkennbar sein mußte. Waren einzelne in ihrer beschau¬
lichen Behaglichkeit gestört worden oder galt ihr Unmut nur der „Ber¬
liner Einmischung"? Für heute sei davon Abstand genommen, in diese
Erörterung einzutreten, sie berührt ein Gebiet, auf dem später einmal
Umschau zu halten sein wird. Aber sicherlich hat der anfängliche Widerspruch
Deutscher nicht wenig dazu beigetragen, die Elsüsser und Lothringer glauben
zu machen, daß sie mit dieser für sie so empfindlichen Überraschung lediglich
das Opfer einer gegen Frankreich gerichteten Chikane seien, die unmöglich lange
andauern könne. Angesichts dieser Empfindlichkeit waren deutsche Geschäftsleute
im Lande um den Verlust ihrer elsässischen Kundschaft, deutsche Unternehmer
aller Art um die fernere Zugänglichkeit des von ihnen bisher nutzbar gemachten
„einheimischen" Kapitals besorgt. Von deutscher Seite stammten daher ursprüng-
lich die Klagen über wirtschaftliche Nachteile, und die Elsässer und Lothringer
waren alsbald verständig genug, ihre Beschwerden über die für ihre französischen
Beziehungen so unbequemen Schranke gleichfalls in den „wirtschaftlichen" Mantel
zu wickeln und hinter den von deutscher Seite versuchten Beweisen des durch
die Paßverordnung hervorgerufenen wirtschaftlichen Ruins nicht zurückzubleiben.
Man hat damit anfänglich sogar in der rechtsrheinischen Presse Eindruck ge¬
macht, was bei der Unkenntnis, die im allgemeinen in der deutschen Zeitungs¬
welt in Bezug auf Elsaß-Lothringen herrscht und angesichts der kritisirenden
Neigungen eines Teiles unserer öffentlichen Blätter nicht weiter Wunder nehmen
kann. Eine sorgfältige und aus guten Quellen geschöpfte Umschau ergiebt da¬
gegen folgendes Bild.
Was zunächst Lothringen anlangt, so hatte die plötzliche Einführung
des Paßzwanges allerdings anfänglich eine gewisse Aufregung hervorgerufen,
die sich aber sehr bald erheblich gemindert hat, namentlich nachdem man sich
überzeugt hatte, daß dem Verkehr nach Frankreich von deutscher Seite keine
Hindernisse bereitet wurden und jedermann nach Wunsch Paß oder Paßkarte
erhielt. Von einer wirtschaftlichen Schädigung kann schon aus dem Grunde
keine Rede sein, weil die vielen Franzosen, welche auf Ausflügen zum Besuch,
zum Vergnügen, in Familien- und Erbschaftsangelegenheiten u. s, w. aus Nancy
oder andern Orten der französischen Grenzdepartements alljährlich nach Metz
herüberkamen, dort nicht als Käufer auftraten. Allerdings lebten sie gern
gut, und ein feines Diner oder Souper war in der Regel, wenn nicht der
Zweck, so doch das Ende vieler französischen Ausflüge. So hat denn in der
That die Oktroi-Verwaltung von Metz einen Rückgang im Delikatesscnverkehr
zu verzeichnen gehabt^), und die Gasthöfe, Cigarrenhandlungen, Verkäufer von
kleinen „Souvenirs" u. s. w. mögen die thatsächlich eingetretene Verminderung
des Fremdenverkehrs wohl empfunden haben. Das sind aber Dinge, welche
nicht eine nachhaltige wirtschaftliche Störung bedeuten und mit der Zeit,
namentlich durch die fortdauernde starke deutsche Einwanderung, ihren Aus¬
gleich finden werden. Diejenigen Franzosen, welche ernstlich „in Geschäften"
in Metz zu thun haben, kommen auch jetzt noch, so z. B. die Reisenden in
Bijouterie- und ähnlichen Handelsartikeln; sie besuchen nach wie vor regel¬
mäßig ihre Kundschaft. Ein großer wirtschaftlicher Rückgang war insbesondre
für Metz und Umgegend mit dem Jahre 1870 eingetreten, und dieser ist aller¬
dings noch nicht überwunden. Er betrifft hauptsächlich die Grundeigen¬
tümer. Noch heute stehen in Metz Häuser und Wohnungen leer, deren Besitzer
nach Frankreich ausgewandert sind und an Deutsche weder vermieten noch ver-
kaufen wollen. Auch ist die Zahl der in solchem Umfange kaufkräftigen deutschen
Einwanderer begreiflicher Weise gering und die große Zahl wohlhabender
französischer Familien, welche ehedem Metz bewohnte und dort viel Geld aus¬
gab, von deutscher Seite noch nicht wieder ersetzt worden. Noch übler steht
es mit den hübschen kleinen Landgütern, Obst- und Weingütern der Umgegend.
Diese sind zum großen Teil billig zu kaufen, doch würde erstens ein be¬
trächtlicher Aufwand erforderlich sein, um sie nach langem Verfall wieder in die
Höhe zu bringen, sodann ist bei den Deutschen die Neigung, einsam in einem um¬
mauerten Landsitz inmitten einer französischen Bevölkerung zu leben, ziemlich gering.
Aber diesem wirtschaftlichen Niedergang, der durch die Paßverordnung weder her¬
vorgerufen noch gefördert worden ist, kann im größern Maßstabe nur durch deutsches
Kapital abgeholfen werden. Daß dieses allmählich sich einstellt, beweisen die
bedeutenden Einkäufe, welche die rheinischen Schaumweinfabriken in lothringischen
Trauben machen. Schon vor zwei und drei Jahrhunderten hatte man erkannt,
daß die Lothringer Traube sich für die Bereitung eines guten Schaumweines
vorzüglich eignet, jetzt wird ein wesentlicher Teil der Weinernte an deutsche
Häuser verkauft, und zwar zu Preisen, wie sie in der französischen Zeit nie er¬
zielt worden sind. Der Weinbau geht also unverkennbar einem Aufschwünge
entgegen, wobei noch gar nicht einmal in Betracht gezogen ist, daß die vorzüg¬
lichen Rotweine des Metzer Landes in Deutschland noch so gut wie gar nicht
bekannt sind. Neuerdings beginnen deutsche Schaumweinhäuser auch größere
Niederlassungen zum Pressen und Lagern des Weines an Ort und Stelle zu
errichten, z. B. in Jouy aux Arabes, wo eine rheinische Firma sechs große
hydraulische Pressen aufgestellt hat. So wird sich mit der Zeit ein Ausgleich
vollziehen, dessen Herannahen durch Maßnahmen wie die Paßverordnung nur
beschleunigt werden kann. Es hat eben bisher an dem eisernen Besen gefehlt,
der alles Französische rücksichtslos zum Lande hinauskehrte, und der brach, was
nicht biegen wollte. Je mehr die Elemente abnehmen und schwinden, welche
durch den Glauben an eine bevorstehende Wiedereroberung das wirtschaftliche
Aufblühen hemmen und die Unsicherheit und Unverträglichkeit nähren, desto
schneller wird sich Lothringen erholen, und zwar viel schneller mit dem Pa߬
zwang als ohne ihn. Hierbei muß noch angeführt werden, daß eine nicht
geringe Zahl vernünftiger Leute in Metz sich mit den neuen Verhältnissen längst
ausgesöhnt oder doch abgefunden hat, und es giebt dort Stockfranzosen, Männer,
die nach Abstammung und Überzeugung Franzosen sind, die aber seit dem Jahre
1872 deutsche Fabrik- und Handelshäuser fleißig und zuverlässig vertreten und
für diese stets gute Geschäfte gemacht haben. Jedenfalls wird die möglichste
Abwehr und Abkehr aller friedenstörenden Elemente von größtem Nutzen sein, und
von diesem Gesichtspunkt ist die Paßverordnung nicht als ein wirtschaftlicher
Nachteil, sondern als ein großer wirtschaftlicher Vorteil anzusehen, der die kürz¬
lich selbst in klerikalen Blättern anerkannte allmähliche Besserung der Verhältnisse in
Lothringen nur befördern wird. Hat unter dem Einflüsse des Paßzwanges die
Übersiedlung von Alt°Metzer Familien nach Frankreich wieder zugenommen, um
den Erschwerungen des Familienverkehrs zu entgehen, so wird auch hier der
Ausgleich durch deutsche Einwanderung nicht ausbleiben. Soweit diese abziehen¬
den Familien Geschäftsleute sind, suchen sie ihre Geschäfte vorher zu verkaufen,
und es bietet sich da sür tüchtige deutsche Kräfte manche gute Gelegenheit zur
Begründung einer aussichtsreichen Existenz. Daß von Seiten des Reiches
manches geschehen könnte, um das wirtschaftliche Gedeihen des Landes wieder
zu beschleunigen und auf dauernde Grundlagen zu stellen, ist unbestreitbar.
Unter solche Maßnahmen gehört z. B. die Kanalisation der Mosel. Ob
es sich nicht empfehlen möchte, noch weiter zu gehen und in den franzö¬
sischen Sprachgebieten des Landes so zu verfahren, wie Preußen in seinen pol-
nischenWrovinzen, das heißt Ländereien anzukaufen und tüchtige deutsche Bauern-
kvlonien zu gründen, ist eine Frage, die glücklicherweise auch die leitenden
Kreise neuerdings zu beschäftigen beginnt. Der Rheinländer und Westfale, der
Süddeutsche würde wahrscheinlich viel eher nach Lothringen als nach Posen
und Westpreußen auswandern. Von der jetzigen deutschen Einwanderung, die
sich im französischen Sprachgebiete verstreut, geht erfahrungsgemäß schon in der
zweiten Generation viel verloren, gerade wie es im Polnischen gewesen ist; um
so notwendiger würden geschlossene deutsche Ansiedlungen sein. Hundert Mil¬
lionen Mark wären für solche vielleicht nützlicher angelegt als die gleiche Aus¬
gabe für Festungsbauten.
Ober-Elsaß dürfte derjenige Teil des Landes sein, wo der Paßzwang
sich wirtschaftlich aur meisten bemerkbar gemacht hat, wenngleich die Han¬
delskammer schwerlich berechtigt sein möchte, den Schaden nach Millionen zu
schätzen. Obwohl die oberelsässische Industrie sich den deutschen Markt längst
mit gutem Erfolge erschlossen hat, so sind ihre Verbindungen nach Frankreich
doch noch sehr bedeutend, und namentlich in allen feineren und kostbareren Fabri¬
katen, an denen bekanntlich meist viel Geld verdient wird. Es handelt sich in
der Hauptsache um bedrückte baumwollene und leinene Stoffe, in deren An¬
fertigung die oberelsässische Industrie unerreichte Leistungen aufzuweisen hat.
Der Absatz wird von den Fabrikanten teils direkt, teils durch Agenten betrieben,
einzelne haben in Paris Filialen errichtet. Zum recht bedeutenden Teil voll¬
zieht der Absatz sich jedoch durch persönlichen Einkauf der französischen
Abnehmer, sowohl um der größern Auswahl an Ort und Stelle willen, als
auch weil Lieferungen, Preise u. s. w. sich besser in der Fabrik selbst als mit
dem Agenten verabreden lassen. Die Einkäufer der großen Pariser Häuser
pflegen sich im Oktober und November einzustellen, zu Anfange des Jahres
folgen die kleinern Häuser nach. War also hierin ein Rückgang bemerkbar, so
ist an diesem nicht der erst am 1. Juni in Kraft getretene Paßzwang, son¬
dern die ewige Kriegshetzerei der Pariser „Patrioten" schuld. Dagegen sollen
allerdings im Juni und Juli die Käufer zum Teil weggeblieben sein, die
um diese Jahreszeit beträchtliche Nachkäufe, namentlich in inzwischen fertig ge¬
wordenen Neuheiten vorzunehmen pflegen, und die nun diesmal ihren Bedarf in
französischen Fabriken gedeckt haben. Aber man darf wohl annehmen, daß dies
nur unter dem ersten Eindrucke der Paßborschrift geschehen ist. Die Vorzüg¬
lichkeit der oberelsässischen Fabrikation wird die Käufer schon wieder ins Land
ziehen. Der Handelsstand findet, auch in schwierigsten Lagen, doch immer die
für ihn billigsten und bequemsten Wege, und unsre oberelsässischen Industriellen,
die zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges Blokadebrecher zu chartern
wußten, um ihre Baumwolle aus den blokirten südstaatlichen Häfen nach Havre
zu bekommen, werden sich auch mit dem Paßzwang einzurichten wissen.
Im Unter-Elsaß sind die Franzosen weit mehr Verkäufer als Käufer
gewesen, ihr Fernbleiben ist daher gerade vom wirtschaftlichen deutschen
Standpunkte um so erwünschter. Die meisten Bedürfnisse des Konsums können
auch von Deutschland her gedeckt werden, und wer aus besonderen Gründen
dennoch aus Frankreich kaufen will, wird darin durch den Paßzwang nicht ge¬
hindert. Auch in Straßburg und namentlich in den Vogesen-Sommerfrischen
ist das Ausbleiben französischer Gäste stark empfunden worden, aber daran
hatte der ungünstige Sommer einen mindestens ebenso großen Anteil wie das
Paßedikt. In der Schweiz waren ja bis zum Herbst hin die Gasthäuser gleich¬
falls leer, und die vom Elsaß ferngebliebenen Franzosen haben nicht einmal in
den Schweizer Sommerfrischen Ersatz gesucht. Als im Spätsommer das Wetter
sich besserte, hat es anch in den Straßburger Hotels viel Reisende nach der
Schweiz und Italien gegeben, ebenso wie die Vogesen-Gasthciuser Ersatz durch
deutsche und holländische Gäste gefunden haben. Allerdings wird es französirenden
Elsäfsern jetzt nicht mehr möglich sein, dort uuter dem Schutze der Franzosen
die Marseillaise zu singen und allerlei Ungebühr gegen vereinzelte deutsche
Touristen oder Familien zu unternehmen. Das ist vielleicht eine Beeinträch¬
tigung der „Gefühle", schmerlich aber eine solche des wirtschaftlichen Gedeihens.
Wohl aber ist zu wünschen, daß aus dem ganzen Vaterlande sich im nächsten
Sommer recht viele in die herrlichen Vogesenwälder aufmachen, von deren
landschaftlichen Reizen in Nord- und Süddeutschland leider viel zu wenig be¬
kannt ist. Vortreffliche Reisehandbücher weisen die Wege und geben nach jeder
Richtung ausreichend Rat. Hoffentlich entschließen sich die preußischen Staats¬
bahnen, auch die Vogesen den deutschen Gebirgen einzureihen, zu denen, wie nach
dem Schwarzwald, Thüringen, dem Harz und Riesengebirge, dem Publikum
der Zugang mit Vier- und Sechswochenbillets erleichtert wird. Gleichviel aus
welchen Gründen wir das Land wieder unser gemacht haben, denn je gründlicher
wir es von Frankreich trennen, desto mehr haben wir die Pflicht, für sein Ge¬
deihen zu sorgen.
Was uns im Elsaß entgegensteht, ist eine Mischung von allemanischem
Trotz und französischen xrwoixss ^alitairös, dazu ein Nichtverstehen, auch wohl
Geringschätzen unsrer verwickelten bundesstaatlichen Einrichtung, gegenüber dem
einheitlichen, straff regierten Frankreich. Eine besondere Hochachtung für die¬
jenigen Regierungen und Institutionen, die sie sich in achtzehnjährigen
„Umtrieb", um einen deutscheu Forstausdruck zu brauchen, zu setzen Pflegen,
kann man den Franzosen vielleicht nicht zumuten. Davon steckt manches im
Blute unsrer wiedergewonnenen Landsleute. Wenn z. B. der vor einigen Jahren
verstorbene zweiundachtzigjährige Präsident des protestantischen Konsistoriums
zu Straßburg dem Schreiber dieser Zeilen sagte: „Was mich hier festhält, ist
daß meine Frau sich nicht von unsrer kleinen <zg.nrxgZ'us (Landhaus) trennen
wollte, sonst wäre ich mit meinen Verwandten nach Frankreich gegangen. Ich
habe Napoleon von Wagram zurückkehren, habe Ludwig XVIII., Karl X. und
Ludwig Philipp gesehen, habe die Republik erlebt und Napoleon III., Sie
werden von mir nicht verlangen, daß ich an den Bestand irdischer Dinge glaube"
— so ist dies eine Wahrheit, die sich nur innerhalb eines so vielgeprüften Landes,
da aber auch völlig begreifen läßt.
In diesem Gebiet zwischen Rhein und Vogesen haben Zeit und Menschen
noch ein großes Stück Aufräumungsarbeit zu vollbringen. Elsaß-Lothringen
hat jetzt gerade denselben Scheidungsprozeß durchzumachen, der ihm am
Ende des 17. Jahrhunderts durch Ludwig XIV., am Ende des 18. Jahrhunderts
durch die Revolution, von beiden aber viel schärfer und einschneidender auferlegt
wurde. Mau lese nur die französischen Maßnahmen und Verordnungen jener
Zeit durch, die Berichte über die damalige Stimmung der Bevölkerung, über
die Auswanderung nach Deutschland. Sie bieten fast das dasselbe Bild, wie
dieser jetzt seit 18 Jahren sich vollziehende Übergaugsprozeß, nur mit dem
Unterschiede, daß die Franzosen nach ihrer Gewohnheit unendlich viel unsanfter,
schneller und gründlicher verfuhren. Viel Federlesens haben sie bekanntlich in
eroberte» Provinzen niemals gemacht. Wir sind sentimentaler angelegt und
haben das Bedürfnis, nicht durch Furcht zu regieren, die durch große wirtschaft¬
liche Maßnahmen versöhnt wird, sondern durch eine sich nur zu bald verbrauchende
Höflichkeit und Milde, während wir uns große wirtschaftliche Neuschöpfungen
durch die Fülle unsrer büreaukratischen Umstände erschweren oder unmöglich
machen. Das hat niemand besser begriffen, als die im Ganzen recht praktischen
Elscisser der gebildeteren Klassen.
In die tausendfältig nach Frankreich gesponnenen Fäden der Familien- und
Freundschaftsbeziehungen, der Kindererziehung hat nun endlich die Pa߬
vorschrift tief und kräftig hineingeschnitten. Wir fassen unser Endurteil in die
Worte eines Alt-Straßburgers zusammen, der zu einem dortigen deutschen
Kaufmanne sagte: „Es ist das erste Mal, daß die deutsche Regierung ins
Schwarze getroffen hat."
. on Österreich, dessen Gebietsgestaltung im vorigen Teile darge¬
stellt ist,*) kommen wir nun zu den Staaten in Süddeutschland:
Baiern, Württemberg, Baden, Hessen. Das bringt schon die
geographische Lage, das Aneinandergrenzcn dieser Länder mit sich.
Das entspricht aber auch der geschichtlichen Entwicklung; denn einer¬
seits waren die politischen Beziehungen dieser Staaten zum Kaiserstaate viel
enger, wenn auch nicht gerade freundlicher, als zu Norddeutschland; anderseits
ist eine Reihe von Landschaften, die ehemals österreichisch waren, in den Besitz
dieser Staaten übergegangen.
Ähnliche Gründe sprechen dafür, diese vier Staaten gemeinsam zu behan¬
deln, abgesehen davon, daß ein solches Verfahren sich auch empfiehlt, um
unnötige Weitschweifigkeit zu vermeiden. Zwar ist es nicht die Stammes¬
einheit der Bevölkerung, die eine solche Darstellung erfordert; denn wenn
auch von gewissen Eigentümlichkeiten gesprochen werden kann, die alle
Süddeutschen von den Norddeutschen unterscheiden, so kann doch von einer
Stammeseinheit nichts im entferntesten die Rede sein; diese ist nicht vor¬
handen: Baiern, Schwaben, die verschiedenen Zweige der Franken, Alemannen
sind unter einander so verschieden, wie oberdeutsche Stämme es nur sein können,
und wie bereits bei der allgemeinen Beurteilung der neueren Staatenbildung
in Deutschland ausgeführt worden ist, die Gemeinsamkeit des Stammes hat
überhaupt hierbei keine wesentliche Rolle gespielt. Aber diese vier Staaten
stehen durch ihre geographische Lage in einem so engen Zusammenhange mit
einander, daß sie schon darum nicht von einander getrennt werden können.
Dazu ist die Art und Weise, wie sich ihr Gebiet gebildet hat, bei allen vieren
so gleichmäßig, daß dieser Umstand allein genügend wäre, um ihre gemeinsame
Besprechung zu begründen und zu rechtfertigen. Man braucht z. B. nur
die eine Thatsache hervorzuheben, daß diese vier Länder die Kernstaaten
des Rheinbundes waren, und daß zu den Zeiten des Rheinbundes und nach
dem Belieben Napoleons ihre Gebietsgestaltung im wesentlichen ihren Abschluß
gefunden hat.
Seiner Lage, seiner Größe und seiner Bedeutung nach gebührt selbstver¬
ständlich Baiern der erste Platz. Es ist einer der Weingen Staaten in Deutsch¬
land, die noch de» Namen eines altdeutschen Stammes bewahrt haben, und der
einzige, der einen solchen mit einigem Rechte trägt. Denn das heutige Sachsen
und die sächsichcn Herzogtümer z. B. haben zur Führung des altberühmten Stam¬
mesnamens eigentlich gar keine geschichtliche Berechtigung. Ob Hessen überhaupt
der Name eines altdeutschen Stammes ist, ist zum mindesten zweifelhaft, wie
das seinerzeit nachgewiesen werden soll. Die Bewohner des heutigen Baierns
gehören nun zwar nicht alle, ja nicht einmal ihrer überwiegenden Mehrheit nach,
dem gleichnamigen Volksstamme an; die Bevölkerung fränkischer Abstammung
ist weit zahlreicher als die bairischer; aber die eigentlichen Baiern bilden doch
den Kern und Grundstamm dieses Staates. Allerdings ist Vaiern in gewissem
Sinne auch das Mutterland von Österreich; als Pipin, der Sohn Karls des
Großen, die Avaren besiegt hatte, gründete er gegen diese die avarische
Mark; da diese mit bairischen Anbauern bevölkert wurde, nannte man sie
auch die bairische Mark; diese wurde unter Otto dem Großen als Ostmark
neu begründet, und sie bildet den Kern von Österreich. Auch andre Pro¬
vinzen Österreichs: Tirol, Salzburg, Steiermark, Kärnthen u. s. w., haben
in alten Zeiten zu Baiern gehört, und die Deutschen in diesen Ländern sind
unbedingt ursprünglich dem bairischen Stamme zuzuzählen. Eine förmliche Ab¬
trennung Baierns von Österreich erfolgte erst, als Österreich im Jahre 1156
durch Friedrich Barbarossa zu einem eignen, auch in weiblicher Linie erblichen
Herzogtums erhoben wird. Die Versuche der Herrscher beider Länder, sich ge¬
genseitig aus ihrem Besitze zu verdrängen, sei es ganz, sei es teilweise, haben
bis in unser Jahrhundert fortgedauert. Das Gefühl einer uralten Stammes-
zusammcngeHörigkeit der Bewohner spielt aber dabei durchaus keine Rolle, son¬
dern ist im Gegenteil völlig verloren gegangen, und die Spuren davon sind,
abgesehen von der Verwandtschaft der Dialekte, durch den verschiedenen ge¬
schichtlichen Entwicklungsgang völlig verschwunden. Ja obgleich die Politik
der Dynastien mehrfach bei wichtigen Gelegenheiten Hand in Hand ging, kann
man doch behaupten, daß zwischen Baiern und Österreichern geradezu eine Art
von Nationalhaß herrscht. Weber in seinem „Demokritos" führt ein altes Sprich¬
wort an, das lautet: „Österreichisch und bairisch Blut in einem Topfe macht
eins das andre hinausspringen." Von dem gegenseitigen Hasse der Bevölkerungen
zeugen am besten die beiden Versuche der bairischen Fürsten der Neuzeit, sich
Tirols zu bemächtigen und sich in seinem Besitze zu behaupten, zum erstenmale
während des spanischen Erbfolgekrieges, zum zweitenmale während der Napo¬
leonischen Zeit. Während jenes Krieges war Baiern jahrelang von den Öster¬
reichern besetzt, der Kurfürst Max Emanuel aus seinem Lande verjagt und ge-
ächtet. Unter den vielen blutigen Gräueln jener Zeit, die der Stammcshciß
hervorrief, ist am bekanntesten die sogenannte Sentlinger Schlacht. Um die
österreichische Besatzung in München zu überfallen und so die Befreiung ihres
Landes zu ermöglichen, zogen in dunkler Nacht die Landleute aus den ober-
bairischen Bergen, bewaffnet mit alten Donnerbüchsen, Morgensternen und Sensen,
heran gegen die Hauptstadt; ihr Wahlspruch war: „Lieber bairisch sterben als
kaiserlich verderben!", ein Wort, das meines Wissens damals zuerst angewandt
wurde und später die wunderlichsten Umgestaltungen erfahren hat. Doch ihr
Vorhaben war verraten worden; sie kamen nur bis Sendung in der Nähe
von München, und ein furchtbares Blutbad erstickte den Erhebungsversuch. Bei
solchen Vorgängen konnte ein Gefühl von gemeinsamer Abstammung sich nicht
halten.
Der Name Baiern wird gewöhnlich auf den alten keltischen Völkerstamm
der Bojer zurückgeführt, nach denen auch Böhmen (Bojehemum, Böheim) ge¬
nannt sein soll. Diese Bojer dehnten zeitweilig ihr Gebiet von Norditalien
bis weit über die Alpen hinüber nach Böhmen aus. Der in Oberitalien an¬
sässige Zweig wurde schon früh, etwa zwei Jahrhunderte vor Christi Geburt,
von den Römern unterworfen; aus Böhmen wurden sie nach einer Mitteilung
des Tacitus im Jahre 3 vor Christo durch Markomannen vertrieben. So wurden
die Bojer in die Lande an der mittlern Donau, namentlich zwischen Lech und
Irin, zusammengedrängt, und ihre Reste vermischten sich dort mit den germa¬
nischen Stämmen (Heruler, Rugier, Gepiden), welche die Stürme der Völker¬
wanderung dorthin geworfen hatten, und der so entstandene Stamm nannte
sich Bojoarier, woraus dann nach und nach Bojoaren, Bajuwaren, Bawaren
und Baiern gebildet wurde. Der Name ist zwar auch in andrer Weise erklärt
worden, doch mit wenig Wahrscheinlichkeit.
Über die Verhältnisse Baierns zum Frankenreiche, namentlich über die
wichtige Stellung, die dieses Herzogtum als Kern des Gebietes, welches im Ver¬
trage von Verdun Ludwig dem Deutschen zufiel, einnahm, soll hier nichts weiter
gesagt werden, da diese Verhältnisse auf die Gebietsentwicklung des heutigen
Staates keinen Einfluß gehabt haben. Aus demselben Grunde braucht nur
kurz darauf hingewiesen zu werden, daß Baiern dann längere Zeit von Fürsten
aus dem karolingischen Geschlechte beherrscht wurde. Die Hauspolitik der
sächsischen Kaiser brachte es mit sich, daß das wichtige Land möglichst enge mit
der regierenden Dynastie verknüpft wurde. Kaiser Otto I. verlieh es daher
seinem Stiefbruder Heinrich. Einer der Nachkommen dieses Herzogs erlangte
die Kaiserkrone und ist unter dein Namen Heinrich II. der Heilige bekannt. In
ähnlicher Weise suchten die Kaiser aus dem fränkischen Hause sich den Besitz
des Herzogtums zu sichern, indem sie teils ihre Söhne, teils andre Verwandte
damit belehnten. Die Kaiserin Agnes, die Mutter und Vormünderin Heinrichs IV.,
übertrug es dem sächsischen Großen Otto von Nordheim, um sich dessen Unter-
Stützung zu verschaffen. Da dieser aber trotzdem feindlich gegen das Kaiser-
geschlecht auftrat, so wurde es ihm durch einen Ncichstagsspvuch wieder entzogen^
aber seinem Schwiegersohne, dem Grafen Wels I., einem Sohne des Grafen
Azzo von Este, der aus einer Nebenlinie des ältern welfischen Hauses herstammte,
übertragen. Dieser gab den minder berühmten väterlichen Namen Este auf und
wurde Stammvater der jüngern welfischen Linie, die später auf den Thronen
von Braunschweig, Hannover und Großbritannien saß, und deren Oberhaupt
heute der hannoversche Prätendent, der Herzog von Cumberland, ist. Unter
den bairischen Welsen ragen hervor die drei Heinriche, der Schwarze, der Stolze
und der Löwe. Ihr folgenschweres Eingreifen in die Geschicke des Vaterlandes
gehört der allgemeinen deutschen Geschichte an. Unter dem letzten mächtigen
Herzoge, der Baiern und Sachsen zugleich besaß, hatte die Macht des Welfen-
geschlcchtes ihren Gipfel erreicht. Der Löwe glänzte unbedingt als zweiter
Stern am Fürsienhimmel des damaligen Deutschlands, ja sein Licht überstrahlte
zeitweilig fast das des ersten Sterns, des gewaltigen Kaisers, Friedrichs des
Rotbarts. Auf keinen deutschen Fürsten passen vielleicht so gut wie auf ihn
die bekannten Verse Schillers aus der Braut von Messina:
Jenen ward der gewaltige Wille
Und die unzerbrechliche Kraft.
Mit der furchtbaren Stärke gerüstet,
Führen sie aus, was den Herzen gelüstet,
FMcu die Erde mit mächtigem Schall;
Aber hinter den großen Höhen
Folgt auch der tiefe, der donnernde Fall.
Sein in den Jahrbüchern deutscher Geschichte unerhörter Treubruch, sein schwarzer
Verrat an Kaiser und Reich, der die furchtbare Niederlage bei Legnago ver¬
schuldete, führten den Sturz des Welfensürsten und seines Stammes herbei. Der
edelherzige und hochgesinnte Herrscher konnte dem meineidiger Lehnsmanne, der
ihn und das Vaterland so furchtbar geschädigt hatte, wohl das verwirkte Leben
schenken und die verhältnismäßig leichte Strafe der Verbannung über ihn aus¬
sprechen. Aber seine beiden Herzogtümer gingen verloren, und seinen Nach¬
kommen verblieb nur das Erbe seiner Mutter, die Lande Braunschweig und
Lüneburg.
Kein Ereignis der mittelalterlichen Geschichte unsers Vaterlandes, auch
nicht einmal der Untergang des herrlichen Geschlechtes der Staufer, hat einen
so großen und so nachhaltigen Einfluß auf die Gebietsentwicklung der Einzel¬
staaten Deutschlands geübt wie der Sturz Heinrichs des Löwen (1180). Mit
diesem Sturze beginnt die Gebietsgeschichte des heutigen Staates Baiern, die
mit der Geschichte der neuen Dynastie, welche an die Spitze des Landes gestellt
wurde, völlig zusammenfällt, wie das ja bei allen Einzelstaaten Deutschlands
fast ausnahmslos der Fall ist.
An die Stelle des entsetzten Hauses Wels-Este trat das Haus Mittels-
bach, das in zwei Linien, der königlichen und der herzoglichen, noch heute blüht.
Die Stammburg, nach der sich das Geschlecht nennt, lag in der Nähe von
Aichach in Oberbaiern, nicht weit entfernt von der alten Reichsstadt Augsburg,
an der heutigen Bahn Ingolstadt-Augsburg; sie wurde im Jahre 1209 von
Grund aus zerstört, sodaß sich uicht einmal Trümmer von ihr erhalten haben?
ein Obelisk bezeichnet aber die Stelle, von der das Fürstenhaus, das mehrmals
so tief und nachhaltig eingriff in die Geschicke des Vaterlandes, seinen Namen
führt. Die Wittelsbacher stammen ab von den Pfalzgrafen von Schehern, und
deren Geschlecht wird wieder von den Agilolfingern oder von den Karolingern
abgeleitet. Jedenfalls war der Herzog Luitpold aus diesem Hause, der beim
Aussterben der Karolinger in Deutschland Herzog von Baiern war, ein Neffe
des Königs Arnulf, gewöhnlich genannt von Kärnthen. Als die Nachkommen
dieses Luitpold ausgestorben waren, verlieh Kaiser Otto, wie bereits oben er¬
wähnt, das Herzogtum seinem Stiefbruder Heinrich, nicht dem nächsten Ver¬
wandten, dem Pfalzgrafen von Scheyern. Otto III. aus diesem Geschlechte
machte aus seiner Stammburg Scheyern ein Benediktinerkloster und baute Burg
Wittelsbach. Otto V. wurde von Friedrich dem Rotbart mit dem Herzogtum«
Baiern belehnt, während sein jüngerer Brnoer das Stammland Scheyern behielt
und den Titel eines Pfalzgrafen von Wittelsbach annahm. Aus dieser Linie
stammte der Otto von Wittelsbach, der auf der Altenburg bei Bamberg, dem
vormaligen Babenberg, den Kaiser Philipp von Schwaben ermordete. Hierfür
wurde er geächtet, und sein Land, die alte Pfalzgrafschaft Scheyern, mit dem
Herzogtums Baiern vereinigt.
Außer! seinen Stammbesitzungen b^saß der erste Wittelsbacher nur Ober-
und Niederbaiern, und zwar ohne die heute zu diesen Regierungsbezirken gehörigen
Gebiete, die erst infolge der Sükularisirungen und Mediatisirungen im Anfange
dieses Jahrhunderts damit vereinigt worden sind. Sein Land war also nicht sehr
bedeutend. Sein Sohn, Herzog Ludwig, erweiterte sein Gebiet bis über die Donau
hinaus nach dem Aussterben der Burggrafen von Regensburg und der Grafen von
Sulzbach. Durch Kaiser Otto IV. wurde er dann mit einigen Gütern der Grafen
von Andechs und mit einigen Ncichslcinden, wie Vvhburg, Reichenhall:c., belehnt.
Viel wichtiger war es, daß der Hohenstaufe Friedrich II. ihm die Pfalzgrafschaft
bei Rhein verlieh. In diesem Fürstentnme, auf dessen Entstehung hier nicht
näher eingegangen werden kann, hatten bereits Pfalzgrafen aus dem Hause
Scheyern geherrscht, und zwar von 966, wo Kaiser Otto I. die Pfalz an Her¬
mann von Scheyern gab, bis^1099. Dann folgten dort Fürsten aus verschiede¬
nen Häusern; der letzte war Heinrich von Braunschweig, der älteste Sohn
Heinrichs des Löwen. Über diesen wurde im Jahre 1215 die Reichsacht aus¬
gesprochen, doch wich er nicht gutwillig, und Ludwig von Baiern gelangte nie¬
mals in unbestrittenen Besitz des Landes. Der langjährige Streit zwischen
Wittelsbacher« und Welsen wurde erst beigelegt, als Otto II. von Baiern, der
Erlauchte, noch zu Lebzeiten seines Vaters Ludwig (1227) die welfische Erb¬
tochter Agnes von der Pfalz heiratete. Diese Heirat ist für die Gebietsent¬
wicklung Baierns von größter Wichtigkeit; durch sie wurde die Verbindung der
Pfalz mit Baiern befestigt und gesichert, und diese Verbindung ist mehrfach
von großer Bedeutung für die Geschicke des Gesamtvaterlandes gewesen. Der
Versuch Ottos II., bei dem Aussterben des Hauses Babenberg Österreich wieder¬
zugewinnen, mißlang vollständig. Doch erwarb er noch einige der Andechsschen
Besitzungen und, was weit wichtiger ist, wurde von Kaiser Konrad IV. mit
einer Anzahl von Gütern im alten Nordgau, südlich vom Fichtelgebirge, be¬
lehnt, die früher zum Herzogtum« Schwaben gehört hatten.
Nach seinem Tode (1255) trat die erste Teilung Baierns ein; sein älterer
Sohn, Ludwig der Strenge, erhielt die Pfalz und Oberbaiern mit der Haupt¬
stadt München, während der jüngere, Heinrich, Niederbaiern mit Landshut
bekam. Beide erweiterten ihre Lande namentlich durch vormalige Besitzungen
der Hohenstaufen, nachdem dieses Heldengeschlecht seinen tragischen Untergang
gefunden hatte. Die beiden Söhne Ludwigs des Strengen, Rudolf und Ludwig,
regierten anfangs gemeinsam und teilten später ihr Land in der Weise, daß
Rudolf, der ältere, die Rheinpfalz und die Güter im Nordgau erhielt, während
Oberbaiern an Ludwig fiel. Der letztere, bekannt unter dem Namen Ludwig
der Baier, kämpfte anfänglich mit Friedrich dem Schönen von Österreich um
die deutsche Krone, wurde aber seit 1322 allgemein als Kaiser anerkannt.
Ludwig der Baier bestätigte in dem mit den Söhnen seines verstorbenen Bruders
Rudolf abgeschlossenen Vergleiche zu Pavia (1329) diese Länderteilung. Die
Rheinpfalz und die Oberpfalz (diese Bezeichnung wird hier zum erstenmale an¬
gewandt) blieben nun fast für drei Jahrhunderte von Baiern getrennt.
Das Bestreben Kaiser Ludwigs von Baiern, sich eine große Hausmacht
zu schaffen, hatte den Erfolg, daß er Brandenburg zeitweilig an sein Haus
brachte. Der Versuch, sich Tirol anzueignen, schlug jedoch gänzlich fehl. Die
nächsten anderthalb Jahrhunderte sind ausgefüllt mit fortwährende» Teilungen
der bairischen Länder; einmal sind sogar vier Linien vorhanden, in München,
Landshut, Ingolstadt und Straubing. Erst Albrecht IV. von München, der
1504 zur Negierung kam, vereinigte wieder den Besitz seines Hauses, mußte
jedoch an die pfälzischen Wittelsbacher die sogenannte junge Pfalz abtreten,
woraus sich später die reichsunmittelbaren Fürstentümer Neuburg und Sulzbach
entwickelten. Die Erwerbungen bis zum Ausbruche des dreißigjährigen Krieges
waren gering: es waren die Reichsgrafschaften Hals und Haag, die Herrschaft
Hohenschwangau, die freie Reichsstadt Donauwörth und die Herrschaft Mindel-
heim nebst Schwabach.
Die letzten beiden Erwerbungen fallen bereits in die Regierungszeit Maxi¬
milians I., den bairische Geschichtsschreiber wohl den Großen genannt haben.
Jedenfalls muß zugestanden werden, daß er eine der hervorragendsten Persönlich-
leiten ist, die in jenem grausige» Mordkampfe, den man den dreißigjährigen Krieg
nennt, eine Rolle gespielt haben, vielleicht die bedeutendste, was Charakterfestigkeit,
Folgerichtigkeit des Handelns und Thatkraft betrifft. Als Oberhaupt der Liga
ist er der wichtigste und gefährlichste Gegner seines pfälzischen Vetters, Fried¬
richs V., des Führers der protestantischen Union. Die beiden Zweige des Hauses
Wittelsbach stehen beim Ausbruche des Krieges in tödtlicher Feindschaft einander
gegenüber als die Vertreter der beide» Glaubensbekenntnisse und der beiden Prin¬
zipien, die um Dasein und Herrschaft im Reiche mit einander ringen. In der
Schlacht am weißen Berge fallen die blutigen Würfel zu Gunsten des Katholizis¬
mus und Baierns. Die unmittelbare Folge dieses Sieges, dessen Verdienst
wesentlich Maximilian und seinem Feldherrn Tilly gebührt, war die Besitznahme
der Oberpfalz. Nachdem Georg Friedrich von Baden, Ernst von Mansfeld
und Christian von Braunschweig, der Administrator des säkularisirten Bistums
Halberstadt, besiegt und verjagt waren, teilte die Unter- oder Rheinpfalz das Schick¬
sal der Oberpfalz. Im Jahre 1623 verlieh Kaiser Ferdinand seinem treuesten
und mächtigsten Bundesgenossen und Helfer die durch die Achtung Friedrichs
von der Pfalz erledigte Kurwürde. Die Wechselfälle des blutigen Krieges zu
verfolgen, in dessen Verlaufe z. B. der lorbcergeschmückte Schwedenkönig siegreich
in München einzog, liegt nicht im Plane dieser Arbeit. Der westfälische Friede
bestätigt Maximilian die Kurwürdc und den Besitz der Oberpfalz mit der
Grafschaft Cham; 1651 räumten die Schweden das Land, das sie bis dahin
besetzt hielten, und es verblieb dauernd bei Baiern. Die Rheinpfalz dagegen
wurde dem Sohne des geächteten und in der Fremde verstorbenen „Winterkönigs,"
Karl Ludwig, zurückgegeben, und eine achte Kur im Reiche für ihn begründet (1652).
Nach dem Tode jenes Maximilian (1651), der den Rang seines Hauses
so erhöht und sein Gebiet so bedeutend vergrößert hatte, bis zum Aussterben
der bairischen Wittelsbacher (1777) folgten noch vier Kurfürsten. Zivei von
ihnen, Max Emanuel, der im spanischen Erbfolgekriege ein Verbündeter Frank¬
reichs war, und Karl Albert, der sich als deutscher Kaiser Karl VII. nannte,
wurden zeitweilig durch die österreichischen Waffen aus ihren Landen Vertrieben;
ersterer verfiel sogar der Reichsacht. Die endgiltigen Friedensschlüsse änderten
an dem Besitzstande nichts. Die Erwerbungen in dem bezeichneten Zeitraume
sind nicht erheblich, nämlich die Gcmeinherrschaft Rothenburg und die Herr¬
schaften Breiteneck und Hohenwaldcck.
Im Jahre 1777 starben mit dem kinderlosen Kurfürsten Maximilian Joseph
die bairischen Wittelsbacher aus, und ihre Besitzungen gingen auf den Kur¬
fürsten Karl Theodor von der Pfalz über. In diesem Lande war die alte
Knrlinie im Jahre 1685 ausgestorben, und die Kurwürde war auf Pfalz-
Neuburg übergegangen. Im Jahre 1742 erlosch auch dieser Zweig des er¬
lauchten Geschlechtes, und die Sulzbacher folgten in der Kur. Dieser Linie
gehört Karl Theodor an. der von 1779—1799 regierte und die pfälzischen
Lande, soweit er sie besaß, mit Baiern vereinigte. Daß er im Frieden zu
Teschen, der den bairischen Erbfolgekrieg beendete, das Innviertel verlor, ist
schon bei der Darstellung der Gebietsentwicklung Österreichs erwähnt worden;
ebenso, das; der Plan Kaiser Josephs, Baiern durch Tausch gegen die öster¬
reichischen Niederlande an sich zu bringen, durch Stiftung des Fürstenbundes
vereitelt wurde. Nach dem Ausbruche des Nevolutionskrieges wurde ein großer
Teil der pfälzischen Lande von den Franzosen besetzt; zeitweilig überschwemmte
Moreciu mit seinem Heere auch Baiern und die Oberpfalz. Im Frieden von
Campo Formio wurde durch die geheimen Bedingungen Osterreich die Ver¬
wendung Frankreichs für die Erwerbung erheblicher bairischer Gebiete zur Ent¬
schädigung für seine Verluste in Aussicht gestellt. Wirklich ausgeführt wurde
hiervon jedoch nichts, und als nach dem Tode des gleichfalls kinderlosen Karl
Theodor der schon bei der Thronbesteigung dieses Fürsten zu seinem Nach¬
folger bestimmte Herzog Max Joseph von Zweibrücken aus der Linie Birkenfeld
den Thron bestieg, vereinigte er für kurze Zeit die sämtlichen pfälzischen und
bairischen Lande.
Pfalzbaiern, wie man das Land von 1777 an bis zu seiner Erhebung
zum Königreiche zu bezeichnen Pflegte, war unzweifelhaft nach Österreich und
Preußen der bedeutendste und mächtigste Staat des deutschen Reiches. Sein
Gebiet wurde bei der Thronbesteigung des Kurfürsten, des spätern Königs Max
Joseph auf 994 Quadratmeilen mit 2 Millionen 260,000 Einwohnern be¬
rechnet. Es umfaßte, außer Kurbaiern und der Oberpfnlz. die eigentliche Pfalz
bei Rhein nebst den Fürstentümern Simmern, Lautern und Veldenz und einem
Teile der Grafschaft Sponheim; dann die sog. junge Pfalz, Neuburg und
Sulzbach, die beiden niederrheinischen Herzogtümer Jülich und Berg, und endlich
das Fürstentum Zweibrücken nebst der Herrschaft Rappoltstein im Elsaß und
der Grafschaft Lützelstein in Lothringen. Es bedarf kaum des Hinweises da¬
rauf, daß dieser verschiedenen Landesteile, die durch die wunderlichsten Ver¬
hältnisse zu einem Staatsganzen bunt zusammengewürfelt waren, auf Stammes-
zusammengchvrigkeit auch nicht den geringsten Anspruch machen konnten. Der
Friede zu Lunsville sprach das ganze linke Rheinufer Frankreich zu, und
Baiern verlor dadurch feine linksrheinischen, ehemals pfälzischen Besitzungen,
206 Quadratmeilen mit 560,000 Einwohnern. Der Rcichsdeputations-Haupt-
schluß brachte dafür vollständige Entschädigung, 286 Quadratmeilen mit
etwa 800,000 Einwohnern. Es erhielt: fast das ganze Bistum Würzburg
mit der von diesem umschlossenen Reichsstadt Schweinfurt; den westlichen Teil
des Bistums Passau, das Bistum Vamberg, das Bistum Freising nebst der
Grafschaft Werdenfels; die gefürstete Abtei Kempten; die Reichsstädte Kempten,
Kaufbeuren, Ulm, Nördlingen, Rothenburg, Weißenburg, Windsheim, Dinkels¬
bühl, Bopfingen, Buchhorn, Wangen, Leutkirch, Ravensburg; eine Anzahl von
Reichsdörfern; Waldsassen, Elchingen und zehn andre Neichsabteien; Teile des
Bistums Eichstädt und eine Anzahl von kleineren geistlichen Gebieten. Außer¬
dem wurden in den folgenden beiden Jahren sämtliche Gebiete der Reichsritter¬
schaft, die innerhalb der bairischen Grenzen lagen, der Hoheit des Kurfürsten
unterworfen. Die Größe des Landes war damit auf 1074 Quadratmeilen mit
etwa 2.650,000 Einwohnern gewachsen. Eine Reihe von Gebietsaustauschungen
mit dem damals preußischen Ansbach und Baireuth und mit Württemberg, die
hier nicht alle aufgeführt werden können, änderte hieran nichts wesentliches,
diente aber dazu, das Staatsgebiet abzurunden.
Man sieht, beim „Scicularisiren" und „Mediatoren" machte Baiern recht
gute Geschäfte und bewies sich durchaus nicht blöde und zaghaft. Ob die
Länder früher geistlichen oder weltlichen Fürsten gehört hatten, ob es freie
Reichsstädte oder Besitzungen des Neichsadels gewesen waren, spielte dabei gar
keine Rolle: zum Einverleiben waren sie ausnahmslos höchst geeignete Objekte.
Für die Gewaltthat, durch die Maximilian I. Donauwörth an sich brachte,
schützte er wenigstens einen Rechtsanspruch vor (Entschädigung für aufgewandte
Execntiouskosten); die Erwerbung der Oberpfalz durch Waffengewalt war
wenigstens durch das Neichsoberhaupt, deu römischen Kaiser, genehmigt und
bestätigt worden. Beim Reichsdeputations-Hauptschlusse wurden zwar die Ge¬
schädigten auch nicht um ihre Zustimmung gefragt, aber man hatte doch Ge-
bietsvcrluste zu ersetzen. Jedoch für den Länderraub und Landerschacher, den
Baiern in deu nächsten Jahren mit ungeschwächten Kräften, ja man kann sagen,
mit einer gewissen Virtuosität fortsetzte, so lange die Glückssoune Napoleons
strahlte und Napoleons Gunst dem Hause Wittelsbach erhalten blieb, läßt sich
auch nicht eine Spur von Recht anführen, eigentlich nicht einmal das sehr an¬
fechtbare Recht des Stärkeren; denn der Stärkere war nicht Baiern. sondern
Napoleon, der „große Alliirte", und für die Beutestücke, die dieser dem er¬
stem zuwarf als Belohnung für geleistete Schergcndieuste, mußten ungezählte
bairische Landeskinder, ihr Herzblut vergießen, das in jener Zeit strom-
weise für den Dränger und Treiber floß. Nun, die Baiern sind jetzt unsere
guten Freunde und treuen Bundesbrüder, und jenes Unrecht ist längst verjährt.
Aber wenn die zahlreichen Partikularisten innerhalb der blauweißen Grenz¬
pfühle noch hente sogar mit einer Art von tugendhafter Entrüstung über ge¬
wisse kleine Grenzregulirnngeu, sogenannte Annexionen des Jahres 1866
sprechen, so sollten sie doch lieber vorher etwas in den Geschichtsbüchern ihres
Landes studieren.
Das Verhältnis Baierns zu Napoleon in den Jahren von 1805 bis 1812
gleicht ganz dem des Fuchses in der Fabel, der mit dem Löwen gemeinsam auf
Beute ausgeht. Der Friede zu Preßburg brachte dem Lande und der Dynastie
reiche Belohnungen; nicht nur erlangte Max Joseph die heißersehnte Königs¬
würde und die völlige Unabhängigkeit vom Reiche, sondern es wurden ihm auch
folgende Lande zu teil: der Hauptteil des Hochstiftes Eichstätt, das Hochstift
Augsburg, der östliche Teil des Bistums Passau, die freien Reichsstädte
Augsburg und Lindau, die bisher österreichische Markgrafschaft Burgau, die
Grafschaften Hohenembs und Königsegg nebst Weiler, Tettnang und Laugen-
argen und endlich, last, not Isast, die gefürstete Grafschaft Tirol mit Vorarl¬
berg und den Bistümern Brixen und Trient. Dafür konnte es wohl Würzburg
und Schweinfurt an Napoleon zurückgeben.
Im Jahre 1806, noch vor der Stiftung des Rheinbundes, erhielt es das
gegen Hannover von Preußen an Napoleon abgetretene Ansbach. mußte aber
dafür auf das Herzogtum Berg verzichten. Für die Bereitwilligkeit, mit der
Baiern bald darauf dem Rheinbünde beitrat, durch dessen Stiftung das arme,
verratene deutsche Reich den Todesstoß empfing, wurde es durch den erhabenen
Protektor jenes Bundes in freigebigster Weise belohnt: die freie Reichsstadt
Nürnberg nebst ihrem Gebiete, die Deutsch-Ordens-Kommenden Rohr und
Waldstellen, die Grafschaften und Herrschaften Pappenheim, Schmarzenberg,
Speckfeld, Castell, Wieseutheid, Hohenlohe-Schillingsfürst und Hohenlohe-Kirch-
heim, Sternstein, Öttingcn und das Gebiet der Grafen von Fugger fielen ihm zu.
Daß in dem bald darauf ausbrechenden Kriege mit Preußen die bairischen
Krieger ihr Blut für den fremden Imperator vergossen, war gewiß das wenigste,
was dieser großmütige Gönner des Landes als Zoll der Dankbarkeit ver¬
langen konnte.
Das Jahr 1809 brachte einen neuen Krieg gegen Österreich und zugleich
den Aufstand der Tiroler unter Andreas Hofer. Der Friede zu Wien, genauer
der zu Schönbrunn, brachte neue Gebietsveränderungen, die wiederum eine
erhebliche Vergrößerung bedeuteten. Diese kamen allerdings erst im folgenden
Jahre, 1810, zur Ausführung. Baiern trat ab: an Frankreich das südliche
Tirol, an Württemberg die früheren Reichsstädte Buchhorn (jetzt Friedrichs-
hafcn), Wangen, Ravensburg, Leutkirch, Ulm, Bopfingen, und einige kleine
Bezirke an das Grvßherzogtum Würzburg. Dagegen erhielt es das Fürstentum
Baireuth, das Herzogtum (seitherige Erzstift) Salzburg nebst der gefürsteten
Propstei Berchtesgcideu, das Bistum Regensburg, das Innviertel und einen
Teil des oberösterreichischen Hausruckviertels. Daß es für diese großen Er¬
werbungen eine erhebliche Geldsumme bezahlen mußte, die Napoleon mit auf
die Kosten für den russischen Feldzug verwandte, konnte gar nicht ins Gewicht
fallen. Von den dreißigtausend bairischen Landeskindern, die dem großen
Schlachtenkaiser nach Rußland folgen mußten, sah kaum einer seine Heimat
wieder. Aber was wollte das sagen, wenn nur das bairische Großmachts¬
bedürfnis befriedigt wurde! Der bekannte Ausspruch Napoleons, er wolle
Baiern so mächtig machen, daß es allein Österreich gewachsen sei. war beinahe
verwirklicht worden. Der Friede zu Presburg hatte das Land um 520 Quadrat-
meilen mit 700 000 Einwohnern vergrößert; dazu kamen im Jahres 1306 noch
206 Quadratmeilen mit 600 000 Einwohnern, und nach der Abtretung von
Würzburg und Berg (164 Quadratmeilen mit 550 000 Einwohnern) berechnete
man im Jahre 1807 das Gebiet des neugebackenen Königreichs auf 1636 Quadrat¬
meilen mit 3 Millionen 300 000 Einwohnern. Die Vergröberung im Jahre
1810 sollte sich auf 300 Quadratmeilen mit 700 000 Einwohnern belaufen;
die Abtretungen in Südtirol, das Napoleon zu seinem Königreiche Italien
schlug, an der Donau und am Main umfaßten reichlich 200 Quadratmeilen
mit 450 000 Einwohnern. Zu den Zeiten seiner größten Ausdehnung umfaßte
der dänische Staat also 1736 Quadratmeilen, und seine Bevölkerung wurde
berechnet auf 3 Millionen 550 000 Einwohner.
Nach den Niederlagen der Franzosen bei Großbeeren, an der Katzbach,
bei Hagelberg, bei Kulm und Nollendorf, bei Dennewitz und endlich bei Warten-
bürg an der Elbe war die Macht Napoleons derartig erschüttert, daß er die
lange behauptete Stellung an der Elbe mit Dresden als Mittelpunkt nicht
mehr halten konnte. Er führte seine Kriegerschaaren rückwärts in die weiten,
fruchtbaren Gefilde um Leipzig, um dort den letzten Entscheidungskampf zu
kämpfen. Die leitenden Männer in Vaiern sahen, daß von dem bisherigen
Protektor nichts mehr zu hoffen war, und schlössen mit Österreich den
mehrfach erwähnten Vertrag zu Ried (8. Oktober 1813). Dieser sicherte
Baiern für die dem Kciiscrstaate zurückzugebenden Lande vollständige, gleich¬
wertige Entschädigungen zu. So glaubte sich Baiern für alle Fälle ge¬
sichert. Trotzdem bereitete der Wiener Kongreß auch in dieser Beziehung
arge Täuschungen. Denn so sehr es auch Metternich liebte, den Beschützer der
Miltelstaaten zu spielen, um eine Einigung Deutschlands und ein Erstarken
Preußens zu verhindern, so ging seine Gefälligkeit doch nicht so weit, alt¬
österreichische Besitzungen in dem Besitze Baierns zu lasse». Nach mehrjährigen,
höchst unerquicklichen Verhandlungen traten Tirol nebst Vorarlberg, das vor¬
malige Erzbistum Salzburg, das Innviertel und das Hausruckviertel unter das
Szepter des Kaisers zurück. Diese Gebiete umfaßten etwa 600 Quadratmeilen.
Als Entschädigung erhielt Baiern dafür zunächst nur das bisherige Großherzog¬
tum Würzburg und das frühere kurmcünzische Fürstentum Aschciffcnburg. Zur
Befriedigung seiner weitern Ansprüche versprach ihm Österreich, außer links¬
rheinischen Gebieten, die Frankreich abtreten mußte, die rechtsrheinische Pfalz
mit Mannheim und Heidelberg, die im Besitze Badens war. Eine Zerstückelung
Badens aber war am Kongreß und später bei der Territorialkommission in
Frankfurt a. M. nicht durchzusetzen, und Metternich erklärte, daß unter gleich¬
wertigen Entschädigungen nur solche zu verstehen seien, die etwa eine gleiche
Einwohnerzahl hätten, wenn auch der Umfang geringer wäre. Darüber heftiger
Zorn bei den Leitern der „Großmacht" Baiern; namentlich der schlaue Minister
Montgelas und der „Feldherr" Wrede, von denen der letztere von sich zu sagen
liebte: „Ein Feldmaischall Wrede unterzeichnet nur mit dem Degen!", waren
höchst erbittert. Aber all ihr Lärmen half nichts; diesmal mußten sie sich
fügen. Die Bevölkerungsziffer des Staates blieb zwar annähernd dieselbe, aber
die gesamten Entschädigungen betrugen zusammen nur etwa 250 Quadratmeilen;
es waren, außer Würzburg und Aschaffenburg, die linksrheinischen Gebiete,
welche die heutige bairische Rheinpfalz bilden, und von der rechtsrheinischen
Pfalz nur der nördliche Teil der Grafschaft Wertheim. Durchsetzen konnte
Baiern nicht mehr; daher fühlte es sich höchst beeinträchtigt in seinen angeb¬
lich wohlbegründeten Ansprüchen und wohlerworbenen Rechten. Diese gab es
mich noch lange nicht auf; im Jahre 1827 trat es wieder offen damit auf,
und im Jahre 1866 spukte dies Gespenst von neuem, sowohl vor Ausbruch des
Krieges, als der Gwßherzog von Baden wenig geneigt war, sich Österreich und
den andern süddeutschen Staaten anzuschließen, wie gegen Ende desselben, als
verlautete, daß Preußen von Baiern große Gebietsabtretungen (Ansbach, Baireuth,
Nürnberg) verlangen würde.
Durch den Wiener Kongreß und die nachfolgenden Einzelverträge war das
Gebiet des bairischen Staates gegen den Bestand von 1813 um etwa 350
Quadratmeilen verkleinert worden. Man berechnete es auf 1338 Quadratmeilen.
Eine weitere, aber nicht erhebliche Verringerung brachte das Jahr 1866. Das
Bezirksamt Gersfeld, das Landgericht Orb (ohne Aura) und die Exklave Kants^
dorf fielen an Preußen, zusammen 10 Quadratmeilen, so daß Baiern jetzt
1378 Qucidratmcilen (75863,45 Quadratkilometer) enthält. Wenn man dieses
Gebiet, das, abgesehen von der abgesonderten Lage der Rheinpfalz, einen so
einheitlich abgerundeten Eindruck macht, jetzt auf einer Karte betrachtet, so sollte
man gar nicht glauben, auf wie wunderliche Weise es zusammengekommen ist.
Folgende kurze Zusammenstellung wird ein anschauliches Bild davon geben.
Das heutige Vaiern enthielt ehemals selbständige Gebiete oder Teile von solchen:
1. aus dem alten österreichischen Kreise 4; 2. dem bairischen Kreise 24; 3. dem
chwäbischen Kreise 30; 4. dem fränkischen Kreise 20; 5. den beiden rheinischen
Kreisen 21. Das sind im ganzen 99 ehemalige Einzelgebiete oder Teile von
solchen; dabei sind aber die sehr zahlreichen Gebiete der Reichsritterschaft, die
doch schließlich auch reichsunmittelbar waren, nicht mitgerechnet.
Nach den Angaben der neuen Auflage des großen Lehrbuches von Daniel,
denen allerdings noch die Berechnungen von 1875 zu Grunde liegen, sind von
den 6,022,904 Einwohnern, die damals das Land hatte, Baiern 1^ Millionen
in Oberbaiern, Niederbaiern und der Oberpfalz, Schwaben ^ Million in
Schwaben und Neuburg. Allemannen 15000 im Allgau, Franken 2^ Millionen
in Ober-, Mittel- und Unterfranken, der Oberpfalz und der Rheinpfalz, Ober-
sachsen 60000 im Vogtlands, Wallonen 3500 in der Pfalz und endlich Juden
51,335. Diese Zahlen haben sich bis heute allerdings etwas geändert; das
Verhältnis der einzelnen Stämme unter einander ist aber wohl dasselbe geblieben.
Und angesichts solcher Thatsachen, die freilich in weitern Kreisen viel zu
wenig bekannt sind, wagt man noch immer von einer uralten, geschichtlich be-
gründeten Stammeszusammengehörigkeit der Bevölkerungen der Mittel- und
Kleinstaaten zu reden! Keins von den politischen Schlagwörtern, mit denen
man lange Jahre den gesunden Sinn des Volkes verwirrt und verblendet hat,
entbehrt so sehr aller geschichtlichen Begründung wie gerade dieses. Das be¬
weist ebenso schlagend die Gebietsentwicklung Baierns wie die der drei andern
süddeutschen Staaten.
(Fortsetzung folgt.)
einher Wissenschaft wir auch unser Leben gewidmet haben, es giebt
keine einzige, die uns nicht irgend einmal an Fragen führte,
die ans ihren eigenen Prinzipien nicht beantwortet werden können.
Wenn z. B. der Theologe bei seinem praktischem Berufe, Sitten-
gesetz und Glaubenssätze zu lehren, innehält und sich fragt: Was
ist Sittengesetz? und wie entsteht es? oder weiter gar die Frage stellt: Was ist
Gott? so wird er keine Antwort finden können, wenn er sich nicht an die Prin¬
zipien der menschlichen Verminst selbst wendet. Man kann zwar sagen, der
fromme Mensch habe gar kein Bedürfnis, solche Fragen aufzuwerfen und zu
beantworten, denn das Gefühl allein gebe uns die Befriedigung und den festen
Glauben, auch wenn die Vernunft gar nicht drein rede. Gewiß ist derjenige
glücklich zu preisen, dessen Gefühl so erzogen ist, daß er sich durch keine von
der Vernunft herrührende Zweifel in seinem festen Glauben stören läßt. Aber
in unserer Zeit wird eine solche Erziehung offenbar immer schwerer; denn alle
Schulbildung und ganz besonders der Unterricht in den Naturwissenschaften, sie
vereinigen ihren Einfluß auf unser Gemüt dahin, die Vernunft fortwährend zu
reizen, daß sie auch die Wahrheiten des Glaubens vor ihren Richterstuhl ziehe.
Gänzlich abweisen läßt sich die Vernunft auf diesem Gebiete nicht, wenigstens
nicht bei allen und nicht auf die Dauer. Das hat auch die mittelalterliche
Kirche sehr wohl gewußt und hat gerade deswegen beständig die Herrschaft über
alle Wissenschaften zu behaupten versucht. Aber wenn die philosophischen Waffen,
deren sich jene Kirche bediente, heutzutage zerbrochen und unwirksam geworden
sind, die Vernunft in Übereinstimmung mit dem Glauben zu erhalten, so ist
das Bedürfnis nach einer neuen Philosophie doppelt so dringend geworden,
wenn die verschiedenen Kräfte des menschlichen Gemütes nicht auf immer mit
einander in Zwiespalt liegen sollen. Das bloße Gefühl, worauf sich alle Or¬
thodoxen berufen, wenn sie die Ansprüche der Vernunft zurückweisen wollen,
entscheidet keinen Streit anders als durch Kampf und gewaltsame Unterdrückung.
Es führt wohl zur Bildung vieler Sekten und einzelner Richtungen in der
Kirche, aber nicht zum dauernden Frieden; und Friede nicht nur im einzelnen
Menschen, sondern mit allen ist doch der erste Zweck aller Religion und Theo¬
logie, ohne den keine Seligkeit stattfinden kann. Die Kämpfe aber, die durch
das religiöse Gefühl entfacht werden, sind, wie uns die Geschichte aller Zeiten
lehrt, die schlimmsten und verderblichsten. Da ein ehrlicher und dauernder
Friede nur durch die Vernunft geschlossen werden kann, so ist eine auf Ver¬
nunft beruhende Wissenschaft, d. i. Philosophie, für die Lehrer der Religion
durchaus notwendig, wenn sie auch schwer zu erreichen sein mag und von vielen
gar nicht entbehrt wird.
Ebenso wie der praktische Theologe, glaubt auch der praktische Jurist ge¬
wöhnlich, daß er gar keine Philosophie nötig habe, denn die Norm, nach der
er handelt, sind die geschriebenen Gesetze, und um sie anzuwenden und auszu¬
legen, bedarf er nur der Übung seines Verstandes. Aber sollte man nicht von
einem Juristen, der ganz auf der Höhe seines Faches steht, noch mehr erwarten?
Er muß doch auch beurteilen können, ob die Gesetze gut und zweckmäßig sind,
ober ob sie einer Änderung bedürfen; er muß auch die Gesetzgebung verschiedener
Völker vergleichen können, er muß auch die Quellen kennen, aus denen die
Gesetze und die verschiedenen Formen des Rechts entspringen. Und wenn er
nun fragt, weshalb es verschiedene Arten und Formen des Rechtes giebt, und
was das eigentliche Wesen des Rechtes ausmacht, so kommt er mit den Mitteln
seiner eigenen Wissenschaft niemals zu einer klaren Antwort. Er muß sich nach
andern Waffen umsehen und kann sie unmöglich anderswo finden, als in der
menschlichen Vernunft und ihren Kräften, d. h. er muß sich an die Philosophie
wenden, wenn er auch anfänglich der Meinung war, daß er diese ganz entbehren
oder gar verachten könne.
Solche weitergehende Fragen, zu denen die Rechtswissenschaft hinführt,
werden sich zwar in ruhigen, friedlichen Zeiten weniger aufdrängen. Wenn die
Gesetze ruhig befolgt werden, und im Staate keine Neubildungen und Umge¬
staltungen stattfinden, so werden solche Fragen zurückgehalten. Aber anders ist
es in unruhigen, politisch bewegten Zeiten, wie wir sie jetzt erleben. Aus den
verschiedenen Rechtsanschauungen entspringen die verschiedenen Parteien, die sich
aufs bitterste bekämpfen. Die Juristen werden gerade am meisten in den leiden¬
schaftlichen Streit der Parteien hineingezogen, über den erhaben nur der Philo¬
soph sein kann. Weil jeder mehr oder weniger sich dessen bewußt ist, daß die
Philosophie alle Streitigkeiten am letzten Ende schlichten muß, darum sucht
jede Partei ihr Recht mit philosophischen Gründen zu stützen. Aber weil die
historische Entwickelung der Philosophie in unserm Jahrhundert es nur zu
einem Chaos der buntesten und ungeordnetsten Gedanken gebracht hat, darum
ist in diesen Gründen nirgends Sicherheit, Klarheit und Festigkeit zu finden.
Während die einen mittelalterliche Anschauungen und Überlieferungen gegen den
Andrang liberaler Ideen aufrecht zu halten suchen, rühren die andern aus den
Abfällen materialistischer Naturwissenschaft ein philosophisches Gemüse zurecht,
das sie als Arkanum für die Entwickelung einer neuen Zeit anpreisen. Nach¬
dem die schärfsten Vorkämpfer veralteter Anschauungen wie Stahl und Leo
vom Schauplätze abgetreten sind, wird unsre Kultur von philosophischen Sy¬
stemen wie dem des Drechslermeisters Bebel in weit gefährlicheren Maße
bedroht. In der politischen Philosophie spricht sich am deutlichsten die Ver¬
schiedenheit der Denkart ganzer Völker aus. Die Völker des Orients scheinen
es nicht weiter bringen zu können als bis zu völlig kindlichen Anschauungen
des Verhältnisses zwischen Fürsten und Volk. In Frankreich brachte es die
politische Anschauung bis zu der frevelhaften Selbstüberhebung Ludwigs XIV.
mit dem Worte «z'sse irroi, das die furchtbarste Rache der Götter in den
Leiden der Dynastie und des Volkes nach sich zog. In Preußen sprach der
große Philosoph auf dem Königsthrone das Wort, das immer die Devise der
Hohenzollern gewesen ist: Der König ist der erste Diener des Staates, und
verbürgte damit die Dauer und Lebensfähigkeit der monarchischen Institutionen.
Bei den Medizinern liegt die Sache ähnlich wie bei den Juristen und Theo¬
logen. Der Unterschied ist vielleicht nur der, daß sich mehrere in ihren Reihen
finden, die sich heimlich mit philosophischen Studien beschäftigen, während sie
sich öffentlich den Anschein geben, als wenn sie die Philosophie verabscheuten
und jeden für närrisch hielten, der von ihr etwas zu gewinnen hofft. Ihre
Wissenschaft hat eine Zeit lang zu viel gelitten unter dem Einfluß pseudo-philo-
sophischer Spekulationen, ehe sie sich ganz zur naturwissenschaftlichen Methode
bekannte. Zu viele schwer wiegende Irrtümer haben sich festgesetzt auf Grund
von mißverstandenen oder gradezu unsinnigen Grundsätzen, zu vielerlei schwär¬
merische Sekten haben sich auf dem Gebiete der Medizin feindselig bekämpft
und stehen sich noch gegenüber, so daß es wohl begreiflich ist, wie ein natur¬
wissenschaftlich gebildeter Mediziner alle Philosophie für etwas Verderbliches
halten kann. Und doch sind gerade auf diesem Gebiete die Fragen so mannig¬
fach, die die Medizin aus eignen Mitteln nicht beantworten kann, und sie
drängen sich immer von neuem so unabweisbar auf, daß es uns wiederum
nicht wundern kann, wenn der Hang zu Philosophiren bei den Medizinern nicht
gänzlich auszurotten ist, obwohl es schon lange nicht zum guten Ton gehört,
ihm nachzugeben. Wir können uns nicht ganz gegen die Fragen verschließen:
Was ist Leben, Tod, organische Bildung, Seele, Körper, Geist? und so viele
andre, die durch die Naturwissenschaft nicht beantwortet werden können. Es
ist zwar bequem, sich mit einer einfachen materialistischen Phrase abzufinden
und als Erklärungsgrund für alles sich irgend einen allgemeinsten Begriff mit
dem Reinen Materie oder Stoff und Kraft zurecht zu machen, aber dergleichen
.Kunstgriffe halten auf die Dauer nicht vor, wenigstens nicht bei ernsteren
Männern. Der Zweifel erhebt sich bald auch gegen diese Götze», und nun
sieht man, wie sich die Grübler heimlich in das verbotene Feld der Philosphie
vertiefen. Der eine hat Schopenhauer, der andre Hartmann zu seinem
Heiligen erkoren, und selbst Hegel und Schelling spuken noch nach in den Kö¬
pfen der älteren. Daß aber einer dabei seine volle Befriedigung gefunden hätte,
habe ich allen Grund zu bezweifeln.
Werfen wir noch einen Blick auf das weite Gebiet dessen, was sich alles
unter der Rubrik der philosophischen Fakultät zusammen fassen läßt, so tritt
uns zunächst die Frage nach der besten Schule und Erziehung der Jugend
entgegen, da gerade sie in der letzten Zeit immer lebhafter besprochen wird. Es
muß dem ruhig betrachtenden fast unheimlich zu Mute werden, wenn er auf
den verwirrten zum Teil leidenschaftlich geführten Streit der entgegengesetzten
Parteien in dieser Frage hinsieht. Ob auf Gymnasium oder Realschule, ob
auf klassische Sprachen oder Naturwissenschaft das Hauptgewicht zu legen sei,
darüber hört man von hervorragenden Gelehrten ganz entgegengesetzte Ansichten,
und überall werden die Gemüter in Aufregung versetzt zur Stellung der weit¬
gehendsten Forderungen. Nicht nur Erfahrung wird gegen Erfahrung ins
Feld geführt, sondern auch allerlei spekulative Richtungen führen zu dem leb¬
haften Verlangen nach gründlichen Neuerungen. Auf einer Naturforscherver¬
sammlung wurde durch einen hervorragenden Redner der ganze Unterricht in
den alten Sprachen als unnötiger und schädlicher Ballast fürs Gehirn zum
Wegwerfen in die Rumpelkammer verurtheilt, und auf der folgenden Ver¬
sammlung in diesem Jahre setzte ein Professor der Philosophie auseinander,
daß die Darwinsche Entwicklungstheorie verlange: ebenso wie der menschliche
Körper als Embryo alle niederen Vorstufen früherer Entwicklungsformen durch¬
zumachen habe, so müsse auch der in der Schule zu bildende Geist erst die
früheren Entwicklungsstufen des Menschen im Altertum zurücklegen, also müsse
der griechische und lateinische Unterricht die Grundlage für alles andre Lernen
bilden. Es ist dabei nur zu verwundern, daß der gelehrte Herr die Entwick¬
lungstheorie nicht etwas weiter ausdehnte und die Forderung stellte, daß der
Unterricht mit den Sprachen und Kulturzuständen der rohesten Naturvölker be¬
ginnen müsse, um erst allmählich durch das Indische, Medische, Assyrische,
Persische, Ägyptische, Phönizische, Jüdische u. s. w. zu den Griechen und Rö¬
mern zu gelangen.
Sieht man etwas schärfer auf die streitenden Gegensätze und die unendlich
ausgebreitete Litteratur, die sich um diese Fragen entwickelt hat und stets weiter
entwickelt, so muß man notwendig bemerken, daß die Streiter oft von den
Hauptsachen, auf die es ankommt, außerordentlich unklare Vorstellungen haben.
Sie wissen weder etwas von den Eigenschaften des menschlichen Geistes, der
in der Schule erzogen und gebildet werden soll, noch von den Zielen und
Zwecken, welche die Schule überhaupt erreichen kann. Denn solche Phrasen,
daß man tüchtige, brauchbare und gute Menschen bilden will, sind doch gar zu
allgemein und verschwommen. Wir haben es oft erlebt, daß über die Vor¬
züge der logischen Bildung des Geistes und der Bildung durch sinnliche An¬
schauung gestritten wurde. Die Verteidiger der erstern waren für den Un¬
terricht in den alten Sprachen, namentlich der lateinischen, die Gegner rühmten
den naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterricht als das allein selig
machende und wollten die Köpfe der Jugend vor dem schädlichen Einfluß un¬
nützer Belastung mit toten Sprachen beschützen. Aber weder die einen noch
die andern wußten, daß logische Bildung des Verstandes ohne Anschauung,
wenn auch nicht immer die Anschauung dnrch die fünf Sinne, gar nicht möglich
sei, und daß sinnliche Anschauung ohne Thätigkeit des Verstandes gar nicht
vorkommen kann, mit andren Worten, daß zu allem, was der Mensch lernt,
Sinn und Verstand gehört.
Seitdem man die Analyse des Erkenntnisvermögens von Kant nicht mehr
zum Ausgangspunkte aller Philosophie gemacht hat — und das ist bekanntlich seit
Fichtes Zeit uicht mehr geschehen — seitdem unsre Philosophen wieder für jeden
unkritischen Dogmatismus zugänglich geworden sind, seitdem ist auch die Ansicht
ausgebildet worden, daß sich der Verstand nicht nur an und mit der sinnlichen
Anschauung übe und ausbilde, sondern daß er ganz und gar aus ihr entspringe
und sich aus ihr entwickle. Ist doch das Wort Entwicklung biegsam und ge¬
schmeidig genug, um scheinbar alle Lücken unsrer Erkenntnis da auszufüllen,
wo unsre klaren Begriffe aufhören. Wenn diese Theorie Recht hätte, so würde
man natürlich den Verstand ganz nach Belieben ausbilden können, je nachdem
man den Sinnen dieses oder jenes Anschauungsmaterial darböte. Es würde
nur die Thatsache dabei vollkommen rätselhaft bleiben, daß alle Menschen dieser
Erde, selbst die Blödsinnigen und Geisteskranken, soweit sie überhaupt denken,
ohne Ausnahme nach denselben logischen Gesetzen denken. Man kann zwar
gegen diese Gesetze verstoßen und irren, aber schließlich beruht jede Verständigung
durch die Sprache, jeder Vertrag und alle Kultur auf der stillschweigenden An¬
erkennung jener logischen Gesetze, die uns Aristoteles mit vieler Mühe zu¬
sammengestellt hat. Da also die Theorie, daß die Logik sich aus der An¬
schauung erst entwickele, im Widerspruch steht mit allem, was wir sonst im
allgemeinen von den logischen Gesetzen und Verstandskräftcn wissen, so werden
wir von ihr bei der Festsetzung der Prinzipien des Schulunterrichts keinen Ge¬
brauch machen zu können. Aus demselben Grnnde muß auch die Ansicht zurück¬
gewiesen werden, die vielfach von den Nützlichkeitsphilosophen ausgesprochen worden
ist, daß man die Jugend nur in dem unterrichten dürfe, was sie im spätern Leben
gebrauchen könne, und daß alles das als unnütze und schädliche Beschwerung
des Gehirns anzusehen sei, was später nicht wieder praktisch anzuwenden sei.
Wenn sich die Schule wirklich ein solches Ziel steckte, so würden die Lehrer in
große Verlegenheit geraten, da niemand je eine vollständige Übersicht über alles
das haben kann, was möglicherweise im spätern Leben von den einzelnen ge¬
braucht wird. Eine solche Forderung würde geradezu unerfüllbar sein. Man
kann das Ziel der Schule gar nicht anders stellen, als daß man sagt: es
sollen die geistigen und körperlichen Fähigkeiten der Jugend so geübt und
ausgebildet werden, daß jeder im spätern Leben die verschiedensten an ihn
herantretenden Aufgaben möglichst leicht zu erfassen und zu bewältigen im
Stande ist.
Also die geistigen Fähigkeiten sollen ausgebildet werden. Man hat gewisse
praktisch versuchte Methoden dafür seit Jahrhunderten überliefert erhalten und
befolgt. Aber die Neuzeit ist mit ihnen unzufrieden und verlangt nach Refor¬
men. Aber wie soll reformirt werden, wenn man die geistigen Fähigkeiten
ihrem Wesen nach gar nicht kennt und auch über die möglichen Ziele der
Schule im Unklaren ist? Sollen wir die Prinzipien der Neugestaltung von
den Naturwissenschaften allein erwarten? Da würden wir so lange warten
müssen, bis die Physiologie der Gehirneentren vollständig aufgeklärt ist, und
alle Sinnesreize bekannt sind, durch welche die Gehirnfunktionen am zweck¬
müßigsten geübt werden; und schließlich, wenn das alles geduldig abgewartet
wäre, würden wir bei der Frage, was denn eigentlich das Wesen der Gehirn¬
funktionen sei, wieder vor ein großes iAnorauius und iAvorMnws gestellt sein,
das trotz aller staunenden Bewunderung, die ihm zu teil wird, doch keine Ent¬
schädigung für die unnütz mit Warten vergeudete Zeit bieten kann. Es geht
hier also bei den Pädagogen ebenso wie bei den Theologen, Juristen und Medi¬
zinern, daß sie vor sehr wichtige Fragen gestellt sind, die sie mit den Mitteln
ihrer eignen Disziplin nicht lösen können. Und da sie auch von der Natur¬
wissenschaft keine Hilfe zu erwarten haben, so müssen sie sich schon an die
Philosophie wenden. Freilich ist die Hilfe auf diesem Gebiete nicht von irgend
einem dogmatischen System zu hoffen, wie wir sie dutzendweise aus der Zeit
vor und nach Kant in Vorrat haben. Wenn eins derselben unzweifelhafte
Sicherheit für die Beantwortung dieser Fragen gewähren könnte, so müßte es
längst geschehen sein. Aber wir haben schon angedeutet, daß es uns hier nicht
darauf ankommen kann, über den letzten Grund der Welt und aller Dinge be¬
lehrt zu werden, als vielmehr nur darauf, die Fähigkeiten des menschlichen Er¬
kenntnisvermögens kennen zu lernen, die eben durch den Schulunterricht zweck¬
mäßig entwickelt und ausgebildet werden sollen. Wir müssen uns also an eine
solche Philosophie wenden, welche die Analyse des menschlichen Erkenntnisver¬
mögens allem andern vorausschickt. Solche giebt es aber nur eine, man nennt
sie die kritische, und sie stammt von Kant und ist noch von keinem Professor
der Philosophie verbessert worden. Sie allein baut niemals Dogmen auf, ohne
sich von den Vorbedingungen dazu in den ursprünglichen Kräften der Vernunft
gewissenhaft Rechenschaft abzulegen. Sie allein vermag daher infolge ihres
kritischen Verfahrens in schwierigen Fragen volle Sicherheit zu geben.
Aber wie traurig es im allgemeinen um die Pflege der Kantischen Philo¬
sophie bestellt ist, seyen wir, wenn wir noch einen Blick auf die Naturwissen¬
schaften werfen. Diese wissen längst, daß es eine Menge Fragen für sie giebt,
die sie nicht aus der Erfahrung und Wahrnehmung allein beantworten können,
sondern die durchaus eine spekulative Betrachtung erfordern. Auf sinnlicher
Wahrnehmung beruht alle Erfahrung, aber es giebt eine Menge von Begriffen,
die nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung entspringen können und doch zur
Vervollständigung der Erfahrung hinzugedacht werden müssen. So verhält es
sich z. B. mit dem Begriff von Atomen, von leeren Räumen, von unwägbaren
Flüssigkeiten, von einer allgemeinen Weltmaterie, die allen Stoffen zu Grunde
liegen soll, mit dem Begriff der Kraft, die Bewegung hervorbringt, aber doch
nicht gesehen werden kann. Am meisten drängte noch die physiologische Wissen¬
schaft zur Heranziehung der Spekulation, wenn sie das Gebiet der Sinneswahr¬
nehmung mit naturwissenschaftlichen Mitteln ausheilen wollte. Aber nun hatten
die Naturwissenschaften, wenigstens in Deutschland, das Unglück von verschiede¬
nen dogmatisch philosophischen Systemen so in Anspruch genommen zu werden,
daß sie geradezu hinter den auf Erfahrung begründeten Riesenfortschritten
andrer Länder, namentlich der Engländer und Franzosen, zurückblieben. Und
sobald sich die Deutschen dessen bewußt wurden, thaten sie alle und jede meta¬
physische Spekulation in Acht und Bann und glaubten nun auf eigne Faust
mit ihren eignen Mitteln spekuliren zu können. Das prinzipienlose Banen von
Hypothesen und Dogmen ohne alle philosophische Schulung, zu dem jeder als
Naturforscher ohne weiteres ein Recht zu haben glaubte, wurde die eigentliche
Signatur der Zeit, bei der die tollsten Ausschreitungen nur durch den prak¬
tischen Erfolg neuer Entdeckungen einigermaßen gezügelt wurden. Die einzige
Philosophie, die ihnen wahrhaft hätte nützen können, schwierige Fragen in ächt
wissenschaftlichem Sinne zu lösen, die kritische, wurde ihnen durch die Fach-
philosopheu selber unzugänglich gemacht. Diese behaupteten nämlich mit seltener
Einstimmigkeit, daß die Quintessenz dessen, was Kant gelehrt habe, die Einsicht
sei: daß wir „nichts wissen können." Um sich daher nicht „schier das Herz zu
verbrennen," haben in unserm Jahrhundert die Naturforscher fast alle auf
ein eingehendes Kantstudium verzichtet.
Diese verhängnisvolle Auffassung der Metaphysik Kants beruhte auf seinem
Ausspruch, das wir das Ding an sich nicht erkennen könnten, und nur Er¬
scheinungen unserm Verstände zugänglich seien. Nun haben wir freilich schon
seit länger als zehn Jahren in verschiedenen Schriften und auch in diesen
Blättern gegen die allgemeine Meinung Sturm gelaufen, als wenn Kant das
Ding an sich für das einzig Wirkliche und den realen Grund aller Dinge
erklärt hätte, und als wenn wir in der Natur nur die Oberfläche der Dinge
und den täuschenden Schein erfahren könnten, während uns der tiefere Grund
der Erscheinung eins immer verborgen bleiben müßte. Mit dem Aufgebot aller
unsrer Kräfte sind wir dafür eingetreten, daß das Ding an sich im Sinne
Kants mit der sinnlich wahrnehmbaren Welt überhaupt gar nichts zu thun
habe, sondern nur ein Produkt unsrer eignen Gedanken sei; daß nur der naive
und ungeschulte Verstand nach dem Ding an sich frage, während der denkende
Forscher zu der Einsicht kommen müsse, daß alles, was überhaupt jemals
Gegenstand der Wahrnehmung und Erfahrung werden könne, sich den Formen
und Gesetzen unsers menschlichen Anschauens und Denkens unterwerfen müsse,
und daß also die Frage nach dem Ding an sich eine thörichte sei, weil eben
das, was außerhalb unsers Anschauungs- und Denkvermögens läge, nur Produkt
der Phantasie aber nicht Gegenstand der Erkenntnis sein kann. Die wirklichen
realen Gegenstände der Erfahrung aber, haben wir weiter ausgeführt, müssen
im metaphysischen Sinne Erscheinung genannt werden, weil ihre Eigenschaften
stets von den Formen unsers Anschauungs- und Denkvermögens abhängig sein
müssen. Das alles wurde möglichst mit Kants eignen Worten belegt und aus¬
einander gesetzt, aber es war vergeblich. Als Dank erhielten wir nur den
Vorwurf von den Fachphilosophen, daß wir versuchten, ein notorisch falsches
Bild von Kants Philosophie zu entwerfen, und noch kann man alle Tage in
den neuesten Büchern lesen, daß Kant uns den Weg zur Erkenntnis der Wirklich¬
keit verschlossen habe.
Selbstverständlich blieben wir auch nicht stehen bei dem bloßen Angriff
auf die überlieferten alten Anschauungen, sondern bemühten uns, zu zeigen, wie
man auf Grund der richtigen Auffassung Kants den Kategorien eine ganz
andere Bedeutung und einen andern Wert beimessen dürfe, als sonst geschehen
war, indem man sie als unabänderliche Funktionen des Verstandes betrachtet,
und wie dann aus der Anwendung dieser Funktionen auf Gegenstände der
Sinne, auf Empfindung und Wahrnehmung eine Fülle von überraschenden
neuen Einsichten in Gebiete, die bis dahin dunkel waren, sich ergeben. Aber
beinahe niemand hat es verstehen können. Jetzt aber, wo das nachgelassene letzte
Manuskript Kants ans Tageslicht gezogen und jedermann zur Prüfung zugänglich
geworden ist, und wo sich unzweifelhaft herausgestellt hat, daß Kant vollständig
in unserm Sinne über das Ding an sich gedacht, und die Kategorien ebenso
auf die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung in der Natur angewandt hat,
jetzt scheinen die Naturforscher so wenig philosophisch geschult zu sein, daß sie
das wieder nicht verstehen können, und die Philosophen von Fach bilden still¬
schweigend eine Art von Koalition, um keinen Fortschritt aufkommen zu lassen.
Eine Naturphilosophie, nach der sich von jeher die Naturwissenschaft lebhaft
gesehnt hat, deren Mangel so viele schwerwiegende Irrthümer in der Wissen¬
schaft verschuldet hat, ist aufgebaut durch Kant auf dem Grunde der Erkenntnis¬
theorie, dem einzigen Grunde, der unsrer Vernunft unzweifelhafte Gewißheit
geben kann, und die Welt der Gelehrten steht kalt abweisend davor, weil sie
es nicht erfassen können oder wollen.
Trotzdem steht unsre Überzeugung fest, daß ohne die Wiederbelebung von
Kants echter Erkenntnistheorie, ohne eine neue Befruchtung aller Wissenschaften
durch die Kritik auf dem Grunde Kants wir niemals eine stabile allgemein
giltige Philosophie haben werden, keine Sicherheit in der Theorie der Empfin¬
dung und Wahrnehmung, keine Methaphysik, keine Beantwortung der letzten
Fragen und folglich keinen Frieden in der Theologie, der Jurisprudenz, im
Staatsrecht und den verschiednen Rechtsanschauungen, keine einheitliche Schule
und keinen regelmäßigen Fortschritt in der Medizin, in der Geschichte, in der
Kunst, in der Sprachwissenschaft, ja selbst nicht in den höchsten Fragen der
Mathematik, vor allen Dingen keine Aussöhnung der Naturwisscnschcift mit den
höchsten Interessen des menschlichen Geistes. Kant hat das große Werk dieser
Versöhnung begonnen, er hat den Weg weit voraus beleuchtet, auf dem wir
weiter schreiten sollen. Aber es bedarf dazu einer ganz andern und kräftigeren
Unterstützung, als diesen Bestrebungen und Studien bisher zu teil geworden ist.
Kant gehört zu^ denjenigen, von denen Faust sagt:
Hinaufgeschaut! — der Berge Gipfelriesen
Verkünden schon die feierlichste Stunde:
Sie dürfen früh des ewgen Lichts genießen,
Das später sich zu uns hernieder wendet.
!
!
ü in 12. Oktober haben sich die Pforten des berühmten alten
Hauses am Michaelerplatz dem Publikum für immer geschloffen,
am 14. Oktober fand die Eröffnung des neuen Burgtheaters
statt. „Ob dieser 14. Oktober, fragt ein Wiener Kritiker, bei
ber Künstlern und bei dem denkenden Publikum auch jene
erhebenden Empfindungen wachrufen wird, wie bei den Nationen die Erinnerung
an einen großen Sieg? Ob er die schmerzlichen Gefühle, welche von der Er¬
innerung eines in seinen Folgen unglücklichen Schlachtentages untrennbar wird,
einst hervorrufen wird?" Auch an den Umzug des Hamburger Stadttheaters
von 1827 hat man erinnert: damals gingen die Traditionen der Schröderschen
Schule in dem neuen Hause schnell verloren, die Größe derselben verleitete
zu immer stärkeren Übertreibungen in Ton, Geberden und Mienen, und das
Hamburger Theater schlug in kurzer Zeit in das Gegenteil von dem um, was
es zwei Geschlechter hindurch gewesen war. Daß auch das neue Wiener Burg¬
theater zu groß sei, als daß die bisherige Spielweise sich darin erhalten könnte,
hat in der That vor ein paar Monaten Lcwinsky in einem Vortrage im öster¬
reichischen Museum (Die Stätte der Schauspielkunst) behauptet: war im alten
Hause der letzte Zuschauer 26 Meter von der Bühne entfernt, so wird er es
im neuen Hause 31 Meter sein. Es war vielleicht nicht ganz taktvoll für ein
Mitglied des Hoftheaters, ein halbes Jahr vor der Eröffnung solche Bedenken
ins Publikum zu werfen, auch soll Herr Lewinsky dafür eine Rüge von Seiten
des Oberhofmeisteramtes erhalten haben; dennoch ist seine Äußerung bezeichnend
für die Stimmung, mit der man in Schauspielerkreisen der Übersiedlung ent¬
gegensah. Der Tragweite einer solchen Veränderung war man sich auch dort
vollkommen bewußt.
Was ist es nun aber für ein Besitztum, das es zu erhalten gilt? Und
welches sind die Kräfte, mit denen das Burgtheater in einen neuen Abschnitt
seiner Geschichte eintritt?
Jede Kunst hat ein gewisses Maß von Überlieferungen, an die immer
wieder angeknüpft wird, die sich nur sehr langsam, nur ganz unmerklich ver¬
ändern. Auch in der Schauspielkunst hängt nicht alles von Einzelnen ab; wieviel
auch immer der Künstler aus der eignen Kunst schöpfen, wie eifrig er auch
bedacht fein mag, jede Geberde und jeden Blick der Natur abzulauschen, er
wird doch in vielen Dingen, bewußt oder unbewußt, dem Hergebrachten folgen
und gesehene Muster nachahmen; dem Gesetz der historischen Entwicklung läßt
sich auch hier nicht entfliehen.
Im Burgtheater, so nimmt man wohl mit Recht an, war die Überliefe¬
rung immer besonders fest, hier hatte der Schauspieler von seiner Eigenart
um des harnionischen Gesamteindrucks willen am meisten aufzugeben. Dies
gilt namentlich in Beziehung auf das Lustspiel und das bürgerliche Schauspiel.
Die Grundsätze der Hamburger Schule waren frühzeitig nach Wien verpflanzt
worden, entwickelten sich aber hier vornehmlich im zweiten und dritten Jahr¬
zehnt unsers Jahrhunderts eigenartig weiter. Denn gerade in der Zeit
zwischen dem Wiener Kongreß und der Julirevolution war in den Salons
der österreichischen Aristokratie sowohl, als in einigen Häusern der höhern
Finanz- und Beamtenwelt eine vornehme Geselligkeit emporgeblüht, die in
den Denkwürdigkeiten und Briefen jener Zeit oft genug gerühmt worden ist:
diese wird gewiß nicht ohne Einfluß auf die Bühne geblieben sein, der
überdies gerade damals in Bauernfeld ein echt österreichischer Lustspiel¬
dichter erstand, vom Burgtheater freilich angeregt, aber doch auch in der
Folge wieder fördernd auf dieses zurückwirkend. Zu derselben Zeit fand
in der Tragödie die Weimarische Schule Eingang, gegen die sich das Burg¬
theater lange verschlossen hatte. Wohl wurde die allzugroße Gemessenheit und
Kühle derselben in der lebhaften süddeutschen Stadt beträchtlich gemildert,
die Schranken eines klassischen Konventionalismus öfters durch Leidenschaft und
Sentimentalität durchbrochen, aber man blieb doch weit entfernt von einer
realistischen Darstellungsweise, wie sie nun in Deutschland bereits die idealistische
der Weimarer zu bekämpfen begann.*) Vor allem gedachte man durch die
Macht des Wortes zu rühren und zu ergreifen, der Vers wurde also mit
größter Sorgfalt zur Geltung gebracht, die zusammenhängende Rede im Trauer¬
spiel immer deklamirt. „Die Wiener Manier," sagt Devrient in seiner Geschichte
der Schauspielkunst von der Schrehvogelschen Zeit (1314—1832), „baut den
Vortrag der Sentenzen und Maximen und lyrischen Ergüsse der modernen
Tragödie so effektvoll auf und gipfelt sie so geschickt zum Beifallssignal, daß
sie die Darstellung zu einem Virtuosenkonzert von sogenannten schönen Stellen
macht."
Während der Direktionen Deinhardsteins und Holbeins, die für das
Repertoire des Burgtheaters einen entschiedenen Rückgang bedeuteten, erhielt
sich doch der unter Schreyvvgel eingebürgerte Ton in der Tragödie, während
Lustspiel und Schauspiel immer noch unvergleichlich besser als auf irgend einer
andern deutschen Bühne gespielt wurden. Unter Laube drang endlich eine
realistischere Richtung ein, ohne daß mit der klassischen Überlieferung eigentlich
gebrochen worden wäre. Aber Laube selbst erzählt, wie er bisweilen mit deu
Schauspielern der alten klassischen Schule in Widerspruch geraten sei, so mit
Anschütz beim „Julius Cäsar": Anschütz wollte nicht zugeben, „daß die auf der
Bühne agirenden gar keine gesellige Rücksicht auf das Publikum nehmen, daß
sie dem Publikum sogar den Rücken zukehren." Dem stellte Laube die Ansicht
entgegen, die Szene habe alle Rechte eines Gemäldes. Dawison brachte dann
eine auf dem Burgtheater bis dahin unbekannte Spielweise zur Geltung: sein
Biograph (Wurzbach) nennt ihn sogar einen Revolutionär und Reformator,
der mit den alten Schultraditionen völlig gebrochen und das Streben nach
Natur und thatsächlicher Wahrheit, das unsre Zeit auf allen Gebieten geistigen
Lebens kennzeichnet, zuerst auf die Bühne verpflanzt habe. Stammes- und
Nationalanlage mochten dabei allerdings den wesentlichsten Teil seiner Eigenart
als Schauspieler bestimmt haben, doch hatte gewiß auch die deutsche und die
französische Bühne auf ihn stark eingewirkt. Noch als junger Mann, als Mit¬
glied des Lemberger Theaters (etwa 1839 oder 1840) hatte er einen längeren
Urlaub dazu benützt, die größeren Bühnen Deutschlands und Frankreichs kennen
zu lernen. Namentlich in Frankreich beherrschte die realistische Schule schon
lange das Theater, nur von dem klassischen Drama Corneilles und Nacines
blieb sie ausgeschlossen. Bouff6, Lemaitre, Samson werden die Muster gewesen
sein, nach denen sich Dawison bildete. Aber auch in Deutschland war seit
Jffland und Ludwig Devrient der Realismus von der Bühne nicht verschwunden.
Von Seydclmann, dessen Grundsatz war, „jede Rolle zur denkbar größten
Wirkung auszuarbeiten," mochte Dawison gleichfalls so manches gelernt haben.
Genug, indem er alle die aufgenommenen Bildungselemente seiner eigenen Natur
gemäß verarbeitete, schuf er neue Typen. Am Burgtheater bedeutet aber
Dawison nur eine Episode — er verließ es bereits am 28. Dezember 1853
nach etwa vierjähriger Thätigkeit. Nun überwog wieder die alte Richtung
durchaus. In ihr wuchsen die neuen Ankömmlinge, die Wolter, Sonnenthal,
Lewinsky, die beiden Gcibillvn auf, der Glanz dieser Talente brachte diese Richtung
zu einer späten Nachblüte. Unter der Leitung Dingclstedts machte sich dann ein
gewisser Eklekticismus breit: nur das szenische Bild mußte harmonisch angeordnet
sein, der persönlichen Eigenart war freiere Bewegung gestattet als je zuvor.
Mit der Schulung und Fortbildung der Schauspieler beschäftigte sich der neue
Direktor — ganz im Gegensatz zu Laube — sehr wenig, er sah ihnen zu, er
ließ sie „sich entwickeln." Auch hatte er kein Vorurteil gegen irgend eine
Manier, ihm schien das Theater überhaupt nicht ein gar so wichtiges Ding,
und nicht ganz mit Unrecht warfen ihm die Schauspieler vor, er nehme die Sache zu
wenig ernst. Unter Dingelstedt kam mit Friedrich Mitterwurzer ein ganz entschieden
realistisches Element ins Burgtheater, oder eigentlich es entwickelte sich während
seiner Direktion aus dem Boden des Burgtheaters selbst, denn Mitterwnrzcr war
1871, da er denselben zum erstenmal betrat, noch sehr jung, und die großen Cha¬
rakterrollen zu spielen blieb ihm mehrere Jahre hindurch verwehrt. Unter welchen
Einflüssen und nach welchen Mustern sich dieser Schauspielerin seiner ersten Periode
bildete, wüßten wir nicht zu sagen, am Leipziger Stadttheater hatte er unter
Laube bereits Helden- und Charakterrollen gespielt, und Laube sagt in seiner „Ge¬
schichte des Stadttheaters", er habe ihn da kennen und schätzen gelernt. In Wien,
wo er sich von allem Anfang als ein geistreicher und vielverwendbarer Episoden-
spicler zeigte, trat seine große Begabung für das Charaktcrfach erst 1873 hervor,
als er in dem von Dingelstedt neu inszenirten Heinrich VI. den Kardinal Winchester
spielte. Daß aber mit ihm eine den Überlieferungen des Hauses im Grunde
fremde, ja feindliche Persönlichkeit in dasselbe eingedrungen war, bewiesen erst
die Rollen, die er während seines zweiten Engagements (1875—1883) spielen
durfte: vor allem Shylock, dann Marinelli, Jago, Narciß, Wurm, Caliban,
Macbeth und Richard III. Wir müssen es uns hier versagen, auf die Art,
wie Mitterwurzer diese Gestalten auffaßte und verkörperte, einzugehen, nur seine
sprech- und Spielweise sei in Kürze angedeutet. Hier schien sein erster Grund¬
satz: Laß jeden Satz den Ausdruck eines innerlichen Prozesses sein! Er kümmerte
sich gar nicht um den rhetorischen Zusammenhang der Rede, es kam ihm nur immer
auf den seelischen Vorgang an, und um den zu verdeutlichen, überlud er in der
Regel die Rede mit allerhand Einzelheiten. Essen, Trinken, Schreiben führte
er mit breitesten Realismus aus: als Gianettino Doria brauchte er zur Unter¬
zeichnung des Todesurteils — wie überschnell geschieht dergleichen nach dem
Brauche der idealistischen Schule! — eine volle Minute, er schloß mit einem
großen Schnörkel, den er so energisch zog, daß die Tinte weit über das Papier
hin spritzte. Und so entfernte er sich, im Stil wenigstens, sehr bedeutend
von der alten Schule. Wie er dann schied, zeigte sichs, daß er aber doch nicht
ohne Einfluß auf die Spielweise der Zurückbleibenden gewesen war. Nicht daß
er geradezu als ein Muster wäre nachgeahmt worden, aber der moderne Rea¬
lismus hatte durch die Episode Mitterwurzers doch tiefer Wurzel im Burg¬
theater fassen können. Dazu kamen andre Umstände, die ihn begünstigten, so
besonders die längeren Gastspiele Salvinis (1880) und Edwin Booths (1883)
in Wien. Sonnenthal hat von dem erstem einige realistische Züge entlehnt,
Lewinsky vielleicht von dem letztern. Die jüngern aber, die in den letzten Zeiten
Diugelstedts und dann unter Wilbrandt in den Verband des Burgtheaters
traten — die Hübner, Devrient, Reimers — stehen bereits alle mehr oder
weniger unter dem Banne des Realismus, die jungen Charakterspieler sehen
heute nicht mehr in Lewinsky ihr Ideal, und die Liebhaber und Helden blicken
auf Kainz, ein Wiener Kind, der den Realismus Mitterwurzers selbst in Rollen
wie Romeo und Don Carlos zu tragen wagte.
Auch im Lustspiel konnte sich das Burgtheater des realistischen Zuges, der
sich seit den letzten siebziger Jahren im tragischen Fache bemerken läßt, nicht
völlig erwehren. Von einem Einfluß Mitterwurzers wird man jedoch hier
kaum sprechen dürfen. Hier kommt vielleicht die Veränderung des gesellschaft¬
lichen Tones während der letzten Jahrzehnte, die doch unstreitig ist, in Betracht:
in dem Salon von heute ist man weniger fein, brüsker, ausgelassener, mani-
rirter als in dem des vorigen Geschlechts, öfter als früher nähert man sich
in ihm der Karrikatur. Und dann vergesse man auch nicht der Wandlung,
welche unsre Vorstadtbühnen seit Nestroys Tode durchgemacht haben: nicht das
im Wiener Dialekt gehaltene Volksstück bildet jetzt den Grundstock des Reper¬
toires vom Carl- und Wiednertheater, sondern — neben der Operette — die
französische Posse, wo meist hochdeutsch gesprochen wird. Schauspieler von großer
Begabung sind aufgetreten, die in dieser Gattung ihr eigentliches Element
fanden: Kraal, Friese, Schweighofer, Girardi. Von einem Dialog, den die
beiden letztern in der romantischen Operette „Rip-Rip" mit einander führen,
konnte ein Kritiker sagen, er dürfte ohne Bedenken in irgend ein Lustspiel der
Burg verpflanzt werden. Und anderseits hat bei einer Aufführung des „Hütten¬
besitzers" derselbe Kritiker in einer Szene an die Operette „Angot" und das Carl¬
theater gemahnt sein wollen. Gewiß ist, daß eine Wechselwirkung besteht: so
wie die Schauspieler der Vorstadt, bewußt oder unbewußt, einen Ehrgeiz darein
setzen, nach dem Vorbilde der Hofschauspieler zu charakterisiren, so werden diese
uicht selten verführt, sich „gehen zu lassen," um „fesch" zu sein. Dieses „fesch" der
Wiener hat ebenso wie sein „Gemütlich" schon viel Unheil gestiftet. Ins¬
besondere sind die jüngern dieser Versuchung ausgesetzt.
Mustern wir die Truppe, die soeben den Thespiskarren hinaus in das neue
glänzende Heim geführt hat. Wolter, Sonnenthal, Leivinsky, Baumeister, die beiden
Gabillon, die beiden Hartmann, Krastel — man sollte denken, es sei ganz müßig,
über diese noch ein Wort zu verlieren; jeder, der sich in Deutschland für Theater
interessirt, kennt sie und hat wenigsteus eine ungefähre Vorstellung von ihnen.
Aber sie alle haben sich doch im Laufe der letzten Jahre mehr oder weniger
verändert, sind fast alle alt geworden, haben neue Rollen geschaffen, sind in
andre Fächer übergetreten. Charlotte Wvlter hat mit der Fürstin in der „Braut
von Messina" schon vor fünf oder sechs Jahren den Schritt ins ältere Fach
gethan, aber sie ist doch auch noch im Besitz ihrer großen Glanzrollen von
ehedem geblieben, nicht nur weil niemand da ist, der sie übernehmen könnte,
sondern weil sie immer noch so viel Leidenschaft und künstlerische Plastik be¬
sitzt, daß mau darüber ihre Jahre vergißt. Und so erntet sie als Phädm und
Iphigenia, als Maria Stuart und Adelheid, als Messalina und Feodora noch
immer wohlverdienten Beifall; nur in Rollen, die geradezu frische Jugendlich¬
keit erfordern, wie als Kriemhild im ersten Teile von Hebbels „Nibelungen,"
vermag sie nicht mehr zu wirken. Aber Lady Macbeth, die rächende Kriemhild,
Königin Margarethe in „Richard III.", die Mutter der Makkabäer bezeichnen —
neben der Jsabella — das Gebiet, auf dem sie heute unter den deutschen
Schauspielerinnen als unerreichte Meisterin dasteht. Nur in den Bewegungen,
die bei ihr immer voll edler Grazie sind, hat sie die Traditionen der Weimarer
Schule bewahrt, im Vortrag gar nicht, da kann sie nicht als die Nachfolgerin
der Sophie Schröder und Julie Rettich angesehen werden. Nur wo die dä¬
monische Energie ihres Wesens hervortreten kann, wirkt sie hinreißend, dialek¬
tisch auseinanderzusetzen vermag sie so wenig, wie in ruhiger Betrachtung oder
Erinnerung sich zu ergehen. In leidenschaftslosen Augenblicken schwach, farblos
und unklar, erlangt sie erst „im Sturm, im Wirbelwind der Leidenschaft"
jene höchste künstlerische Besonnenheit, die Hamlet von seinen Schauspielern
fordert.
Sonnenthal hat einen Teil seiner Rollen an den jüngeren Hartmann ab¬
gegeben, dafür Wallenstein, Macbeth und König Lear übernommen; kein Zweifel,
daß er auch hier sehr Bedeutendes leistet. Wenn man ihm in früheren Zeiten
allzu große Weichheit in Charakterrollen vorwarf — es gab Leute die den
frommen, immer duldenden Heinrich VI. seine beste Leistung auf diesem Gebiete
nannten —, so hat er schon vor zehn Jahren durch seinen Rister bewiesen, daß
ihm auch schwere, energische Töne zu Gebote stehen. Von einer Abnahme
seines schauspielerischen Könnens ist noch keine Rede, im Gegenteil: mit dem
zunehmenden Alter treten aus der Tiefe seines Wesens neue elementare Kräfte
hervor. Daß er den Einflüssen des modernen Realismus nicht unzugänglich
geblieben ist, haben wir bereits erwähnt, aber wir sind weit entfernt, damit
einen Tadel aussprechen zu wollen.
Mehr noch als Sonnenthal, hat Baumeister den Kreis seiner Thätigkeit
erweitert: als munterer Liebhaber und Naturbursche hat er begonnen, dann er¬
freute er sich als Bonvivant Jahre lang der höchsten Gunst des Publikums,
mit seinem Falstaff stellte er sich in die Reihe der ersten Charakterspieler, aber
daß er auch eine gewaltige tragische Kraft in sich trägt, erfuhr man erst vor
einigen Jahren, als er den Richter von Zalamea spielte. Auch Götz, der
Erbförster und Musikus Miller liegen im Bereich seines Naturells. Denn
er ist durchaus Naturalist und spielt immer nur sich selber oder doch ein
starkes Stück von sich; zu Mitterwurzcr, der in hundert Gestalten auftreten
und sein Selbst ganz verschwinden machen kann, steht er im schärfsten Gegensatze.
Am wenigsten hat sich Lewinsky verändert: er ist nach wie vor die erste
rhetorische Kraft des Burgtheaters, dessen bester Sprecher. Dem modernen
Realismus hat er nur auf die Einzelheiten seines Spieles Einfluß verstattet;
wo er dies in stärkerem Maße thut — als Winchester in „Heinrich VI." —-,
verfällt er leicht in Karrikatur. Überhaupt besitzt er keine so kräftige Persön¬
lichkeit, wie sie der Realismus, wenn er wirken soll, erfordert. Er ist immer
vorzüglich auf die Rede, auf Deklamation angewiesen.
'
Frau Gabillon hat das tragische Fach beinahe ganz aufgegeben, herrscht
dagegen unbestritten im Fach der Salouintrigantin. Am besten zeigt sich ihre
Kunst in Rollen wie der Herzogin im „Glas Wasser." Es ist wunderbar, wie
fein und reich sie dn die Rede schattirt, wie sie Geberde und Miene mit der
Rede in Harmonie zu setzen versteht. Von realistischen Anwandlungen — die
Anhänger der alten Schule würden sagen „Übertreibungen" — ist sie allerdings
nicht frei. Die russische Gräfin in „Feodora," die alte Herzogin in Pail-
lerons „Welt, in der man sich langweilt" streifen hie und da an die Karrikatur,
aber diese Karrikawreu bestehe» wirklich, man begegnet ihnen in den modernen
Salons.
Ungemein verwendbar, weil sehr verwandlungsfähig, ist immer noch Herr
Gabillon. Alte Lebemänner, Haudegen und Trunkenbolde, Salonbösewichte und
Höflinge weiß er immer zu drastischer Wirkung zu bringen. Aber er leistet
auch in einer höheren Gattung rühmliches: wenn seine Kraft für den Hagen
nicht ausreicht, so ist er doch einem Julius Cäsar, einem Andreas Doria, einem
Kardinal Kiehl durchaus gewachsen. Überhaupt gelingen ihm Staatsmänner,
die aus kühler Fassung nur in einzelnen Augenblicken höheren Schwunges
pathetisch und stolz heraustreten, immer vortrefflich; den Purpur der römischen
Kirche weiß keiner mit solchem Anstande zu tragen wie er. Schade, daß er
den Großinquisitor im „Don Carlos" nicht spielt! Aber den Alba hat er schon
seit vielen Jahren inne.
Von Hartmann darf man sagen, daß seine schönste Zeit vorüber ist,
denn sein eigentliches Gebiet war doch der muntere Liebhaber, der jugendliche
Bonvivant. Nun hat er schon unter Dingelstedt sich in einem höheren Genre
versucht, und bisweilen mit Glück: sein Prinz Heinz, sein Heinrich V. waren
um so anerkennenswertere Leistungen, als es in der Zeit, wo er sie spielte,
keine Vorbilder dazu auf dem deutschen Theater gab. Heute ist er sehr un¬
gleich, in manchen Rollen, an manchen Tagen von gradezu unerträglicher Affek-
tation, es ist, als ob er da dem Publikum in jedem Satze zurufen wollte:
Seht, was für ein großer Künstler ich bin! Dann entschädigt er freilich wieder
einmal durch die liebenswürdigste Laune. Aber verlassen kann man sich nicht
auf ihn. Soviel ist gewiß, daß er Rollen wie den Rochester in der „Waise
von Lowood" nicht spielen sollte; im tragischen Fach kann er nie der Nach¬
folger Sonnenthals werden; in dem gesetzteren Bonvivant, auch in gewissen
Vaterrollen dürfte seine künstlerische Zukunft liegen.
Frau Hartmann, eine der genialsten Schauspielerinnen der deutschen Bühne,
hat den Übergang aus dem Fach der muntern Liebhaberin und Soubrette in
das ältere komische Fach in resoluter Weise vielleicht eher zu früh als zu spät
begonnen. Doch hat sie immerhin noch Rollen gering aus ihrer früheren Pe¬
riode beibehalten: ihre Franziska in der „Minna von Barnhelm" dürfte ihr
auf dem deutschen Theater wohl keine nachspielen. Da ist frischer Humor und
tiefes Gemüt, die Macht zu rühren und zu erheitern.
Entschieden künstlerisch gewachsen ist während des letzten Jahrzehnts Krastel.
Er ist zu früh in den Alleinbesitz der großen Heldenliebhaberrollen an dem
ersten deutschen Theater gekommen, und da seine äußere Erscheinung ungemein
bestechend war, so hatte er von Anfang an die Frauen für sich. Was war
das aber für ein äußerliches Spiel, mit dem er vor zehn, vor acht Jahren vor
das Publikum trat! Mit einem starken Stimmaufwand, mit Fußgestampfe und
mit stattlichen Waden bestritt er den größten Teil seines Repertoires. Nur als
Naturbursche war er immer gut. Seit er aber Robert an der Seite hat und
seine äußern Vorzüge im Abnehmen sind, ist er als Künstler sichtlich ge¬
wachsen. Selbst das Wagnis, den Othello zu spielen — wer hätte ihm dafür
genug Innerlichkeit zugetraut! — ist ihm zuletzt gelungen.
Dem ältern Geschlecht gehören auch noch zwei tüchtige Komiker, Schöne und
Arnsburg, an; Meixner haben sie im September zu Grabe getragen.
Schöne glänzt ebensosehr in der Darstellung durchtriebener Schlauheit und
Pfiffigkeit als beschränkter Einfalt: den habsüchtigen Filz, den verkommenen
Vagabunden, den phlegmatischen Pantoffelhelden, den dummen Emporkömmling
weiß er in Maske und Spiel unübertrefflich zu charakterisiren. Zu seinen
besten Rollen gehört der Wirt in der „Minna von Barnhelm," der Tuchhändler im
„Meister Pathelin." Dagegen sind die Pedanten Arnsburgs eigentliches Fach:
seine verknöcherten Akten menschen, seine Don Quijotefiguren, seine komischen alten
Diener sind wahre Kabinetsstücke.
Einem jüngeren Geschlechte dagegen — jünger dem Dienstalter nur Burgtheater
nach — gehören die Damen Mittcrwurzer, Hohenfels, Schönfeld, Schratt und
Albrecht, die Herren Hallenstein, Thimig, Robert, Tyrolt und Arrau an. Frau
Mittcrwurzer wird in Rollen wie die Franziska von Frau Hartmann in den
Schatten gestellt, aber als Soubrette derberer Art — als Moliöresches Kam¬
mermädchen, als Nerissa im „Kaufmann," als Florette in „Donna Diana" —
ist sie vorzüglich, und im Konversationsstuck findet sie als geschwätzige und bos¬
hafte Modedame gute Verwendung. Fräulein Hohenfels, die längere Zeit
hindurch als sentimentale Liebhaberin vergebens versucht hat, sich ins Burg¬
theater einzuspielen, entzückt jetzt — obwohl nicht mehr ganz jung — als
Backfisch und in allerlei Pagen- und Hosenrollen das Publikum: als Georg im
„Götz von Berlichingen" ist sie allerliebst. Frau Schönfeld ist die Nachfolgerin
der Haizinger im Fach der komischen Alten, sie erreicht sie freilich uicht, aber
sie kommt ihr bisweilen nahe: als Bärbel in „Dorf und Stadt," als Frau
Marthe im „Faust," als Amme in „Romeo und Julie" darf sie sich im Burg¬
theater gar Wohl neben den ältern und berühmter» Künstlern sehen lassen.
Die Damen Schratt und Albrecht, die im Stadttheater einst in den ersten
Rollen glänzten, treten nun sehr bedeutend hervor. Hcillensteiu, als Held
nüchtern und philiströs, ist als guter Schauspieler im Fache der Väter, der
komischen und der ernsten, wenn sie nicht ins eigentlich .Hochtragische hinein¬
reichen, allgemein anerkannt. Thimig ist ein genialer Naturbursche, und er be¬
wegt sich auf der Stufenleiter, die vom unbeholfnen Tölpel und überschüchternen
Jüngling bis zum Grazioso und Harlekin führt, mit gleicher Gewandheit:
Lancelot Gobbo, Bellmaus in den „Journalisten," der Grazioso in Doczi's
„Kuß," der Schüler im „Faust" gehören zu seinen besten Rollen; dazukommt
aber noch eine große Zahl im modernen Lustspiel und namentlich in den
Moser-Schönthannschen Possen. Robert ist sentimentaler Liebhaber und Held;
kräftige, energische Naturen darzustellen ist ihm versagt, und so kann er in
Rollen wie Fiesko und Egmont, die er gleichwohl spielt, nicht befriedigen,
er muß seinen Helden einen Tropfen Schwermut beimischen können, dann ist
er in seinem Elemente; von dem Realismus der Modernen ist er, obwohl noch
in jüngeren Jahren, unter allen Burgschauspielern am weitesten entfernt, immer
nimmt er Rücksicht auf die Schönheit nicht nur der Geberde, sondern auch des
Gesichtsausdrucks, ja böse Zungen Wollen wissen, er hüte sich absichtlich vor
ausdrucksvollerer Mimik, um das Ebenmaß seiner Züge nicht zu stören. Ge¬
wiß aber ist er, seit Mitterwurzer vom Burgtheater geschieden ist, der berufene
Nachfolger Sonnenthals in Rollen wie Hamlet, Narciß, Ödipus, Posa, die er
übrigens schon hie und da, und immer mit großem Erfolge, gespielt hat.
Tyrolt und Arrau sind bis jetzt noch wenig beschäftigt worden. Tyrolt ist
aber ohne Zweifel bestimmt, so manche Rollen des verstorbenen Meixner zu
übernehmen. Aber er ist nicht blos Komiker, herabgekommene Existenzen, pro-
blematische Naturen derberer Art gehören ebenfalls in sein Fach, und er berührt
sich da mit dem Rollengebiete Mitterwurzers; so spielt er den Buchjäger in
Otto Ludwigs „Erbförster." Arrau endlich, der sich im Stadttheater als
Heldenvater und selbst als schlichter, biedermännischer Held (Rudolf in „König
Ottokars Glück und Ende") eines guten Rufes erfreute, spielt nur Rollen
zweiten und dritten Ranges, doch diese immer tüchtig; wir nennen den Kammer¬
diener in „Kabale und Liebe," auch ist er ein guter Sprecher und kann da bis¬
weilen für Lewinsky einspringen.
Und nun noch die jüngsten, hoffnungsvollen, unentwickelten: Fräulein
Barschen, deren Julia ein starkes, aber uuausgegohrenes und etwas exotisches
Talent verräth, Fräulein Formcs, eine zweite Liebhaberin von einnehmender
Erscheinung, Reimers und Wagner, die im Helden- und Heldenliebhaberfach,
Hübner und Devrient, die in Charakterrollen und in Chargen bereits manches
geleistet haben, was mit guten Hoffnungen für ihre künstlerische Zukunft erfüllt.
Die wenigen Vorstellungen, die bis jetzt im neuen Hause gegeben worden
sind, haben nicht alle die Sorgen zerstreuen können, mit denen man der Über¬
siedlung entgegensah, aber sie haben auch nicht die Befürchtungen erfüllt, die
Schwarzseher schon ausgesprochen hatten. Es wird ohne Zweifel Zeit brauchen,
bis sich die Schauspieler an die Akustik des größern Saales gewöhnen, aber
sie werden sich gewöhnen, denn zu groß — dies wissen wir jetzt — ist der Saal
keineswegs. Bedenklicher ist die große, heitere, sinnliche Pracht, die überall im
Zuschauerraum, auf den Gängen, im Foyer und auf der Bühne, in den Deko¬
rationen, herrscht. Sie wäre wohl im Stande, Publikum und Schauspieler
äußerlicher, oberflächlicher, weniger ernst zu machen. Nicht mit Unrecht hat
man gesagt, dieser Bau passe in seinem Innern mehr zu einer komischen Oper,
als zu einem Schauspielhause, wo doch die Tragödie und das ernste Schauspiel
den Kern des Repertoires bilden sollen. Es fällt uns das warnende Wort
eines jungen Dichters ein, der das Haus schon vor einigen Monaten mit den
Versen begrüßte:
Du stolzer Bau, in deinem Marmorbusen
Bewahre, was Dir Größe gibt und Glanz!
Ein Mausoleum wärst Du ohne Musen,
Und ohne Kunst ein Zirkus von Byzanz!
l
e Frage, welche Stellung der Staat dem Dichter gegenüber in
unsrer Zeit einzunehmen habe, ist in dem Gefühl der unleugbaren
gegenwärtigen Notlage unsers litterarischen Lebens jüngst von
verschiedenen Seiten, darunter am lärmendsten von einer Seite
angeregt worden, die den Druck der modernen Verhältnisse auf
ein frisch aufstrebendes Geistesleben besonders schwer zu empfinden scheint, in
Wahrheit aber die eigne Schuld des mit unausgereiften, verworrenen und irrigen
Reformideen Hand in Hand gehenden Unvermögens auf den Stumpfsinn des
Publikums und die unthätige Stellung des Staates abwälzen möchte. In dem
Kampfe ums Dasein denn nichts geringeres als der Untergang der Dicht¬
kunst droht uns, wenn man sich nicht entschließt, der drängenden und tobenden
Schaar der sogenannten Realisten auf die Strümpfe zu helfen — soll der
Staat der Litteratur Hilfe gewähren; so läutet die Forderung, die das
Haupt, oder wie er es gern hört, der Messias der Dichtung, Karl Bleibtreu,
in seiner neuesten geharnischten Streitschrift aufstellt. Aber auch von anderer,
besonnenerer Seite ist die Forderung ausgesprochen worden, und es scheint ge¬
boten, ernstlich der Frage nahe zu treten: Was darf der Dichter vom Staate
erwarten?
Zunächst unzweifelhaft Schutz, Schutz der freien Aussprache der Gedanken,
Schutz des geistigen Eigentums im In- und Auslande. Beides ist ihm gewährt,
wenn auch für die Wahrung des Urheberrechtes im Auslande noch manches zu
thun übrig bleibt.
Diese Rechte teilt der Dichter mit jedem andern Künstler, aber durch das
Wesen seiner Kunst ist er weit eher als andre der Gefahr ausgesetzt, durch den
Übereifer und das Mißverstehen einer urteilenden Behörde in der Freiheit seines
Wirkens behindert zu werden. Schon dadurch im offenbaren Nachteile seinen kunst^
lerischen Genossen gegenüber, entbehrt er dazu noch mancher Vorteile, mancher
Förderung und Begünstigung, deren sich wenigstens ein Teil derselben über
seine Rechte hinaus erfreut. Die freieste aller Künste, die Musik — die freieste,
denn weder ihr Gehalt noch ihre Wirkungen sind greifbar und bestimmbar genug,
um dem spürenden Auge des Gesetzes einen Anhaltepunkt zu geben, von dem
aus sich eine Gefahr für die Sittlichkeit, für das geistige Wohl des Volkes be-
weisen ließe, obwohl das Gemüts- und Geistesleben eines so musikliebenden
Volkes wie des deutschen durch schlechte, frivole oder sinnlich aufregende Musik
nicht weniger schwer geschädigt werden kann, als durch eine schlechte, leichtsinnige
Litteratur — die Musik bedarf in unsrer Zeit, in unserm Volke überhaupt
keiner weitern staatlichen Förderung. Das musikalische Schauspiel höchsten
und niedrigsten Stiles beherrscht unsre Bühne, größere und kleinere Vereine
widmen der Tonkunst eine zwar nicht immer verständige, aber eifrige Pflege,
und jedes Dorf erfreut sich einer „Lyra" oder doch einer Feuerwehrkapelle.
Bedeutende und unbedeutende Meister finden den Weg zu ihren Verehrern, und
selbst dem Neuling wie dem Sonderling erschließen sich die Pforten eines Kon¬
zertsaals verhältnismäßig leicht.
Wie weit dieser Eifer auf Rechnung der Mode, wie weit er auf die wahrer
Kunstpflege zu setzen ist, diese Frage bleibt hier fern. Genießt so der schaffende
Tonkünstler — denn nur von diesem ist die Rede — nicht staatliche Unter¬
stützung, so ist doch durch private Teilnahme, wie durch mancherlei Berufs¬
stellungen, die ihm als ausübenden Künstler offen stehen und neben deren
Pflichten er sich schöpferischer Thätigkeit widmen kann, äußerlich für sein Da¬
sein gesorgt.
Unmittelbare Förderung und Anregung gewährt der Staat den bilden¬
den Künsten, die allerdings wie keine andern berufen sind, das öffentliche
Leben dauernd zu verschönen. Ihnen sind Aufgaben gestellt, zu deren Lösung
der Künstler einer mächtigeren und ausgiebigeren Unterstützung bedarf, als ihm
Privatleute, selbst bei opferfreudigster Teilnahme, zur Verfügung stellen könnten.
Die Baukunst bedarf der staatlichen Förderung, wenn sie ihre höchsten Ziele
erreichen soll, so wenig sie auch der Hilfe des Einzelnen entbehren kann, um
alle ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Das immer erneute Bedürfnis gewährt
ihr fortwährend Aufgaben, deren künstlerische Lösung freilich nur zu oft durch
äußere Rücksichten wie durch Mangel an Geschmack unmöglich gemacht oder
doch erschwert wird. Aber der Staat zeigt doch das ernste Bestreben, der Bau¬
kunst Wege und Bahnen zu ebnen und würdige Aufgaben zu stellen.
Dasselbe gilt von der Malerei und der Bildhauerei. Staatliche Ausstel¬
lungen, Preisausschreibungen, Anerkennungen gehen Hand in Hand mit einer gewiß
nicht zu unterschätzenden thätigen Teilnahme der gebildeten und vermögenden
Stände. Die Kunstausstellungen sammeln nicht nur eine Menge von Beschauern,
sondern auch eine, nur der Fülle des Angebots gegenüber geringe Zahl von
Käufern, zu denen auch der Staat zählt.
Alle Künste finden die Hand des Staates offen und bereit, in bestimmten
Grenzen zu helfen. Nur die Dichtkunst, das Stiefkind, erhält weder Gaben
noch aufmunternde Worte. Keine staatliche Anerkennung wird dem Meister der
Feder zu Teil, kein staatliches Preisausschreiben lockt den jugendlichen Dichter
zu kühnem Flügelschlage, keine festlich geschmückte Halle erschließt sich ihm, um im
Wettkampf mit strebenden Genossen vor versammeltem Volke seine Werke vor¬
zutragen, keine Schaubühne eröffnet sich ihm, um das von geldfreundlichen,
kunstfeindlichen Unternehmern zurückgewiesene Schauspiel unter der Berufung
an ein vorurteilsfreies Volk aufzuführen. Für den Staat giebt es den Dichter
nicht, außer wenn er mit dem Strafgesetzbuch? in Berührung kommt. Wenn
der Staat auch nicht den platonischen Grundsatz befolgt, den Dichter zu ver¬
bannen, so hält er es doch für gut, sein Vorhandensein, so weit es mit seinen
Zielen nicht streitet, vollständig mit Stillschweigen hinzunehmen.
Was könnte nun geschehen, der beinahe sprichwörtlich gewordenen Dichter-
Misöre abzuhelfen, jenem äußern Elend, unter dem oft gerade die bedeutenden,
die wahren Dichter leiden bis zur Verkümmerung ihrer Schaffenskraft? Es ist
gar keine Frage, daß eine gewisse Notlage vorhanden ist, wenn auch nicht immer
ohne Verschulden der Betroffenen. Gewiß wird nicht nur manches eigenartige
Talent durch den Zwang der Verhältnisse in seiner hochstrebenden Entwicklung
gehemmt, irregeleitet, gebrochen, sondern auch manche gereifte Kraft erliegt noch
dem Drucke der Not. Die „Ungunst der Zeiten" ist nicht immer nur ein
Wahn unglücklicher Poeten, sie ist oft wirklich vorhanden, gerade für die, die
in ernster Auffassung ihres Berufes über die Bedürfnisse des Marktes hinaus-
greifenden Zielen ihre Kräfte widmen. In alter und neuer Zeit ist der schönste
Lorbeer — und mit ihm der äußere Lohn — oft erst auf das Grab eines Dichters
gelegt worden. Nur Frivolität kann der durch solche Erfahrungen hervorgerufenen
gerechten Verbitterung mit den Worten des Goethischen Liedes begegnen:
Das Lied, das aus der Kehle dringt,
Ist Lohn, der reichlich lohnet.
Nach der Meinung vorlauter, im Gefühle der Verkanntheit verbitterter
Heilande der Dichtkunst müßte dem Reichstage nächstens ein Antrag betreffend
die Unterstützung und Altersversorgung der Förderer und Träger des Geistes¬
lebens vorgelegt werden. Ja man geht so weit, die Lösung dieser Frage nicht
nur als leichter, sondern als weitaus dringender hinzustellen, als die Erfüllungen
der „Utopienförderungen des Arbeiterstandes." Könnte sich doch auch die junge
Geisterwelt „in grimmer Verzweiflung völlig den heimlich zerstörenden Ideen
in die Arme werfen." Nun, diesen Teil der „dichterischen Jugend" können
wir getrost seinem Schicksal überlassen, ohne daß wir zu fürchten brauchen, ge¬
waltige „für unsere Entwicklung unentbehrliche Geistes-Heroen zu verlieren." Man
müßte denn geneigt sein, dem aufschießenden Unkraut nährenden Dünger zuzuführen.
Praktische Vorschläge, die Mittel des Staates zur Unterstützung der Dichter
heranzuziehen, sind bezeichnender Weise noch kaum gemacht worden. Man hat
wohl die Forderung eines Staatstheaters aufgestellt, ohne jedoch auf die Aus¬
führung dieses Gedankens näher einzugehen. Man denkt dabei an eine mit
staatlichen Mitteln unterstützte Bühne, die allen Gattungen dramatischer Kunst
unparteiisch ihre Thore öffnen soll. Wie wenig gerade die von der Gunst
der Menge unabhängigen Bühnen dieser Aufgabe gerecht werden, ist bekannt
genug. Wird aber gerade bei ihnen die Auswahl der Stücke durch oft unbe¬
rechenbare, von künstlerischen Gesichtspunkten durchaus unabhängige Rücksichten
beschränkt, so lassen sich die andern Bühnen, mehr oder weniger gezwungen,
völlig durch das Gebot des äußern Erfolges leiten. Die Ursache der traurigen
Lage unserer dramatische» Kunst liegt daher schließlich entweder bei dem Publi¬
kum oder bei dem Dichter. Die Entscheidung, welches von beiden die Schuld
trage, wird immer schwanken. Soviel aber ist gewiß, daß der Dichter, der
bisher für seine Dramen keine Freunde gefunden hat, solche auch nicht von den
Brettern einer Staatsbühne herab gewinnen würde. Wir fürchten, der Berliner
Volkswitz — oder wo sollte die Staatsbühne das Licht der Welt erblicken? —
würde gar bald mit einer schnoddrigen Benennung für diese Bühne des sonst
Unmöglichen zur Hand sein, und man müßte ihm Recht geben. Mit einer
Bühne an einem einzigen Orte wäre dem Dichter auch nicht geholfen, denn er
wendet sich an einen weit größeren Kreis. Wir sind nicht im Stande, hierin
einen nur einigermaßen verheißungsvoller Ausweg zu erblicken. Der dramatische
Dichter wird nach wie vor an den bestehenden Bühnen, deren Leitern allerdings
ein regerer Eifer für Sachen der Kunst und eine von hohen und allerhöchsten,
unterthänigen Rücksichten weniger gedrückte Stellung zu wünschen wäre, seine
Zuflucht, und in dem Werte und der Kraft seines Werkes seine stärkste Hilfe
suchen müssen.
Wollte der Staat nun versuchen, dem dramatischen Dichter in anderer
Weise in seinem Streben zu helfen, in der gewiß verdienstlichen Absicht, der
darniederliegenden Bühnendichtung seine Anregung und Förderung zu teil werden
zu lassen, etwa durch Ausschreibung von Preisen für das beste Schauspiel des
Jahres, so würde, ganz abgesehen von den ungeheuern Schwierigkeiten, mit denen
die prüfende und entscheidende Vereinigung von Sachverständigen zu kämpfen
haben würde, der Absicht des Dichters damit in keiner Weise gedient werden.
Die Möglichkeit, auf Grund des ihm zuerkannten Ehrenpreises eine immerhin
nur beschränkte Zeit ohne äußere Sorgen seiner dichterischen Thätigkeit zu leben,
könnte ihn doch nicht über den thatsächlichen Erfolg seines Werkes trösten.
Denn wie die Erfahrung beweist, die man mit privaten Versuchen, in dieser
Weise dem Dramatiker zu helfen, gemacht hat, ist ein preisgekröntes Schauspiel
noch lange kein bühnenfähiges. Hat aber ein Schauspiel die Bühnenprobe mit
Erfolg bestanden und ist zum Repertoirestück geworden, so bedarf der Dichter
der staatlichen Hilfe nicht mehr. Immer freilich wird zwischen dem geistigen
Werte des dichterischen Werkes und dem äußern, klingenden Erfolge ein Mi߬
verhältnis bestehen bleiben und die Wagschale bald zu niedrig, bald aber auch
zu hoch steigen, und der Staat kann hier ebensowenig wie im übrigen Handel
und Wandel mit regelnder Hand eingreifen. Und wie denkt man sich das Wirken
einer mit der Prüfung und Krönung dramatischer Werke betrauten Kommission,
wie ihre Zusammensetzung, wie die Grundsätze ihrer Auswahl, ihrer Entscheidung?
Mag sie sich nun ausschließlich aus Dichtern, oder aus Dichtern, Kritikern und
Gelehrten oder sonst wie zusammensetzen, die Streitigkeiten über die Wahl der
Sachverständigen, wie über ihre Urteile und Richtersprüche würden kein Ende
finden, Vorwürfe der Unbilligkeit, der Parteilichkeit nimmer verhallen. Und
noch mehr: eine wirkliche Gefahr läge in dem Bestände einer solchen litterarischen
Prüfungskommission für die gesunde Entwicklung der Litteratur, für die Gesund¬
heit unsrer litterarischen Zustände. Kliquenwesen und Strebertum würden empor¬
schießen, und bei der staatlichen Beeinflussung würde eine offizielle Litteratur
erblühen, die Freiheit und Beweglichkeit des geistigen Lebens aufs ernstlichste
geschädigt werden.
Nein, der Dichter muß — und wir dürfen bei dem hier über den drama¬
tischen Dichter gesagten stehen bleiben, da es sich auf den von dem Drucke der
Verhältnisse weit weniger leidenden epischen oder lyrischen Dichter ohne weiteres
übertragen läßt — jedes derartige Eingreifen des Staates in seine Wirksamkeit,
aufs entschiedenste ablehnen. Es liegt im Interesse seiner Kunst, im Interesse
der Freiheit seines Schaffens, Denkens und Wirkens, bei dem Staate nichts
andres zu suchen, als Schutz und Freiheit für seine Werke. Die Dichtung ist
eine Macht, die stärkste geistige Macht, die der Staat wohl seinen Zwecken
dienstbar machen könnte, aber nimmermehr zu ihrem Segen. Über das Maß
der Freiheit, das ihr gewährt ist, mag man denken, wie man will, die Hand
aber, die erst als eine helfende dargereicht würde, würde nur zu leicht eine
lastende und gebietende werden.
Doch wir brauchen uns nicht zu beunruhigen, wir haben ein solches
Danaergeschenk gar nicht zu fürchten. Wir hoffen nur die gewährten Rechte
voll und ungetrübt zu behalten.
Abhilfe für die dringenden Notstände ist also andern Ortes zu suchen:
bei dem Volke und bei den Schriftstellern selbst. Eine Berufung an die erstere
Instanz darf freilich nicht als erfolgreich gelten, zumal nicht in unserer Zeit,
die von den hohen Aufgaben der Kunst nicht viel ahnt und von ihr oft nicht
mehr verlangt als flüchtige, wechselvolle Unterhaltung. Die Erziehung des
Volksgeschmackes liegt in der Macht der Dichter selbst, und rücksichtsloser Kampf
gegen alle Elemente, zumal aus dem eigenen Lager, die sich der Erreichung
dieses Zieles entgegenstemmen, ist für sie eine unabweisbare Forderung. Im
engeren, kleinliche und persönliche Abneigungen und Anfeindungen überwindenden
Anschluß unter einander läßt sich zudem Kraft und Vermögen genug finden,
um dem bedrängten Genossen Hilfe zu gewähren, die ihm willkommener sein
muß von Freunden und Mitstrebenden, als von einem andern. Möchten die
Bemühungen, aus eigenen Mitteln den vorhandenen Notständen wirksam zu
begegnen, in einmütigem Bestreben reichen Erfolg finden. Dann wird es auch
nicht an thätiger Teilnahme der Genießenden fehlen.
Mitunter, das muß billigerweise anerkannt werden, trägt
die Gassenjungenpresse zur Erheiterung bei. So in den letzten Tagen, als sie den
alten Kniff anwandte, durch lautes Schreien „Haltet den Dieb!" von ihrer eignen
Spur abzulenken. Hätten nur nicht in den Taschen noch die Steine geklappert,
die in die Fenster des Königsschlosses geworfen werden sollten! Auch die greu¬
lichen Gesichter, welche die edle Brüderschaft stets bei dem Vernehmen des Wortes
Kartell schneidet, wie Lucifer beim Anblick des Kreuzes, können belustigen. Be¬
stätigt doch ihre Wut, daß die Verständigung der nationalen Parteien eine patriotische
That war, und daß nur beklagenswerte Verblendung an der Sprengung des kaum
geschlossenen Bundes arbeiten kann. Aber das Lachen vergeht einem doch, wenn
man die unerhörte Frechheit betrachtet, von welcher im 44. Hefte dieser Zeitschrift
Proben mitgeteilt wurden, und man fragt sich, wie lange der Unfug noch geduldet
werden soll. Als ob die Deutschen von heute noch die dickfellige und blöde Nation
wären, wie in den dreißiger und vierziger Jahren, wagt es ein Häuflein Ein¬
gewanderter alles zu begeifern, was uns verehrungswürdig ist, und sie und ihre
würdigen Genossen stellen ganz ungescheut die Forderung auf, daß die ungeheure
Mehrheit sich nach den Sitten und dem Geschmacke der Fremden richten solle, weil
diesen germanische und christliche Denkweise unverständlich und unangenehm sind.
Das heißt denn doch, die Welt auf den Kopf stellen. Niemand hat die unver¬
schämten Gäste gerufen, niemand hält sie zurück, wenn es ihnen bei uns nicht
gefällt, wenn ihnen abgeschmackt, was uns vernünftig, lächerlich, was uns heilig
erscheint. Ihre angebliche Sehnsucht nach dem gelobten Lande Pflegen sie zu ver¬
leugnen, sobald ihnen der Weg dahin gezeigt wird. Nun wohl, sie können ja dem
Beispiel ihrer Reinach und Wolff und Konsorten folgen, und kaum in Paris an¬
gekommen, die Franzosen spielen; England steht ihnen offen, für das sie ja eben jetzt
eine rührende Schwärmerei an den Tag legen. Wie lange sich die Franzosen und
Engländer die Aufdringlichkeit der Internationalen bieten lassen werden, das geht
uns nichts an. Wir aber, obwohl nicht mehr der Bewunderung unsrer Voreltern
für eine Lady Milford fähig, teilen noch die Ansicht des alten Miller über die
Behandlung, deren sich in Deutschland ungehobelte Gäste zu versehen haben. Vor
allem kann eins nicht oft genug gesagt werden. Bei einem österreichischen Schrift¬
steller, Kürnberger, fanden wir einmal, es mag zwölf oder fünfzehn Jahre her sein,
eine sehr verständige Beleuchtung des Widerspruches, daß die Juden die ihnen
zugestandene Gleichberechtigung als selbstverständlich hinnehmen und nach allen
Richtungen ausnutzen, gleichzeitig aber noch ebenso rücksichtsvoll und schonend be¬
handelt sein wollen, wie zu der Zeit, als sie noch unter besondern Gesetzen standen.
Das ist noch viel schlimmer geworden, seitdem der Deutsche keine Neigung mehr
zeigt, sich jede Unbill von Fremden, heißen sie Kelten oder Mongolen oder Semiten
oder wie sie sonst wollen, lächelnd gefallen zu lassen. Die Solidarität ist so voll¬
ständig, daß, wenn es einen juckt, alle andern sich pflichtschuldig mitkratzen. Das
muß ein Ende nehmen. Die tüchtigen Elemente in dem Stamme, die vielen braven
Menschen, welche national fühlen und ehrlich mitarbeiten an unsern gemeinsamen
Aufgaben, die müssen endlich einsehen, daß es im Gegenteil ihre dringendste Pflicht
ist, den Auswurf nicht nur von sich abzuschütteln, sondern mit dem Fuße von sich
zu stoßen. Das sind sie sich selbst noch in höherm Grade schuldig, als der All-
gemcinheit. Empfindsamkeit und Wehleidigkeit dürfen in der Politik nicht mitreden.
Wer ein gemeinschädliches Subjekt in Schutz nimmt, wohl gar noch unterstützt,
einzig und allein ans Rassengefühl, der mag sich sehr edel dunkel und von Weibern
mit und ohne Hosen dafür gepriesen werden, allein er darf sich uicht beklagen,
wenn er als Mitschuldiger zur Verantwortung gezogen wird. Die Juden, die
sich aufrichtig zu den Deutschen zählen, haben alle, alle Mittel in den Händen,
diejenigen ihrer Stammesgenossen unschädlich zu machen, mit denen sich auf
die Länge nicht leben läßt. Solange die Juden in der Geschichte vorkommen, hat
der Dünkel, die Lust, sich in fremde Angelegenheiten zu mengen, andern ihren
Glauben aufzudrängen u. f. w., sie allen Völkern verhaßt gemacht und Katastrophen
herbeigeführt, in denen die Unschuldigen mit den Schuldigen büßen mußten, weil
sie nicht Gerechtigkeitsgefühl und Entschlossenheit genug besaßen, auszustoßen, was
faul und unrein war. Soll die Lehre von Jahrtausenden unbeachtet beiden?
(Berlin und Stuttgart,
Spemann) ist von einer Nichte des Dichters mit einer sehr redseligen Einleitung
versehen worden, in der beklagt wird, daß seine Werke „viel schneller, als sie ver¬
dient, der Vergessenheit zur Beute gefallen" seien, während er doch „Großes und
Schönes geschaffen, in ewiger Poesie gesungen" habe. Das muß, auch wenn dem
verwandtschaftlichen Gefühl die gebührende Rücksicht gewahrt bleibt, doch etwas
stark genannt werden. Gaudy hat artige Sachen, oft voll liebenswürdiger Laune,
geschrieben, allein nichts Großes, überhaupt nichts Eigenartiges. Er gehört zu
den Talenten, die sich leicht anregen lassen, aber auch der Anregung bedürfen. Am
häufigsten spürt man Heines Einfluß, außerdem vorzüglich Eichendorffs und Be-
rcmgcrs. Ueberdies sind seine besten Sachen heute schou dem großen Publikum
ziemlich unverständlich. Das „Tagebuch eines wandernden Schneidergesellen" ver¬
spottet recht lustig Gustav Nicolai, dessen Buch übrigens nicht „Ueber Italien"
heißt, sondern „Italien, wie es wirklich ist"; allein dies Buch ist gänzlich ver¬
schollen, und daher verfehlen die Anspielungen auf dasselbe, wie auf die „Evan¬
gelische Kirchenzeitung" u. tgi. gegenwärtig ihre Wirkung. Seine Verherrlichung
Napoleons, an der sich „manche gestoßen" haben, ist nur zu entschuldigen, wenn
man sich der traurigen, thatenloser Zeit erinnert, die sich nach einem Manne
sehnte; wir brauchen, um Helden zu feiern, weder so weit zurück, noch gar in das
Lager des Feindes zu greifen. Uebrigens sind bald nach Gaudys Tode seine
Werke gesammelt worden, und während dies häufig die letzte Ehre ist, die einem
Schriftsteller erwiesen wird, wurde er sogar später uoch von einem Verleger unter
die „Klassiker" versetzt, was er selbst sich schwerlich hat träumen lassen. Mehr
kann man nicht verlangen. Die Baronesse Gaudy führt selbst den Beweis, wie
es mit dem Nachruhm von Dichtern bestellt ist. Sie erzählt: „Sein Freund, der
schwärmerische Säuger der „Bezauberten Rose" und der „Cäcilie", Ernst Ferrand
(Schulz), hatte ihn nach der Schweiz begleitet." Da werden also Ernst Schulze
und der unbedeutende Lyriker Eduard Schulz, genannt Ferrand, der zwei Jahre
alt war, als Schulze starb, zu einer Person gemacht! Wie es scheint, kommt das
Nachschlagen desto mehr aus der Mode, je mehr es durch zahllose Hilfsbücher er¬
leichtert wird. Ihre Pietät hätte die Herausgeberin durch sorgfältigere Korrektur
beweisen können. Der Schneidergeselle möchte sich „skizzieren" anstatt „sicheren",
im Berliner Tiergarten befindet sich eine „Russeninsel" anstatt einer „Rousseau¬
insel", „Hebe, sieh, in sanfter Feier," hat sich in „Hebe dich u. s. w." verwandelt,
der relegirte Pförtner hätte anstatt dem „Brummen" dem „Braunen" (Pferd?)
des Vaters Trotz geboten n. s. w. Auch glauben wir nicht, daß Gaudy die ,/Nnter-
schlagenen Arme" verschuldet hat; zu seiner Zeit^ wurden wohl Gelder niiterschlagcn,
Arme jedoch noch untergeschlagen. Durch so arge Nachlässigkeit wird dem Autor
keine Ehre erwiesen.
Wiener Autoren von Ernst Wechsler. Leipzig, Friedrich, 1338.
In einem einleitenden Kapitel wird die Herausgabe dieser „Wiener Autoren"
als ein ganz gefährliches Unterfangen hingestellt. Aber wir glauben, Ernst Wechsler
kann ruhig sein. Die „Wiener Autoren" werden hoffentlich finden, daß er ihren
Zorn nicht allzusehr herausgefordert hat. Die „Chefs" wohl ziemlich aller ncun-
hundertundueunundueuuzig Wiener Zeitungen werden hier ziffernmäßig genau nach
der Höhe des Honorars, das sie — zahlen, von den kleinen Häuptern der illustrirten
Tageszeitungen bis zu den Serenissimi der „Neuen freien Presse" mit einem
entsprechenden kleinen oder großen Räucherkerzchen bedacht. Nur der arme Herr
Pöhnl geht leer aus; der Ärmste ist sicher kein Feuilletonredakteur. Ja es wird
sogar ganz grimmig auf ihn losgedroschen. O, über den Heldenmut Ernst Wechslers
und seine Veröffentlichung, die übrigens schon vorher in Gestalt von „Feuilletons"
die Welt in den Harnisch gebracht zu haben bekennt! Da der Verfasser aber
Lyriker ist und im Vorwort ganz jämmerliche Jeremiaden über den herabziehenden
Einfluß der Journalistik singt, so können wir nicht umhin, ihn etwas ernstlicher zu
nehmen und ihn dringend zu bitten, doch vor allen Dingen bei seiner eigenen ly¬
rischen Persönlichkeit vor den in unsern Augen schlimmsten dieser Einflüsse recht
sehr auf der Hut zu sein. Wenn das Buch eine Satire auf den litterarischen
Ageuturstil „unterschiedlichere.) deutscher Blätter" (S. 63) sein wollte, so könnte es
sich nicht besser dafür befähigt zeigen, als durch folgende, wirklich aus dem Vollsten
herausgegriffenen Sätze: „Die Liebe beginnt in den beiden Herzen in herrlichster
Weise zu walten. . . . Diese Partie ist von solcher Gemütstiefe, solcher Seclen-
kenntnis diktirt(!) und mit einem solch elegant-flotten („flott" ist überhaupt ein
Lieblingswort!) Humor niedergeschrieben worden (wordenI), daß wir allen Respekt
vor dem Autor bekommen" (S. 84). „Die" Ebner-Eschenbach (stets so!) „vereinigt
männliche Energie, männlichen Ernst mit dem feingcäderten Seelenleben (!) der
Frau" (S 176), während gewöhnlich „die epochemachenden künstlerischen Genies
bis heute nur aus den Reihen der Männer aufgetaucht (!) sind" (S. 128), „Eine
solche Partei verfügt über eine Kraftentfaltung" (S. 101) u. f. w. — Es fehlt
auch Nicht an allerlei seltsamen und aufregenden Behauptungen: „Aeschylos, Sopho¬
kles und Euripides waren für ihre Zeit und die damaligen Anschauungen dnrch und
durch moderne Dichter" (S. HL). Wer das Gegenteil glaubt, „begeht einen beispiel¬
losen Schnitzer." — „Daß zur Erreichung großer Lebenszwecke ein starrer, brutaler
Egoismus notwendig ist, ist eine Thatsache, die wohl niemand bestreitet" (S- 93). —
„Die Einwendung, daß kein anständiger Journalist an einem übelbeleumundeten
Blatte thätig sein dürfte, ist keine stichhaltige'- (S. 11). So?
^^Ä^^
NIMMaber skandinavische Angelegenheiten ist im verflossenen Sommer
viel zu lesen gewesen. Die Mitternachtssonne darf sich rühmen,
die Sonne im „Propheten" ans der Mode gebracht zu haben,
alljährlich schwillt die Zahl der Pilger nach dem Nordcap an,
und in demselben Grade vermehrt sich die Menge der gedruckten
Berichte über Land und Leute. In diesem Jahre aber wurden dergleichen
Schilderungen infolge der Reise des Kaisers ziemlich regelmäßig mit politischen
Betrachtungen gewürzt. Wenn ich meinen vielen Vorgängern gerade auf dieses
Gebiet folge, so gestehe ich im voraus, daß ich zu eignen Beobachtungen wenig
Gelegenheit gehabt, sondern nur aus Gesprächen mit alten Freunden und aus
den Zeitungen geschöpft habe; um deren Aussagen zu prüfen, fehlte es mir
vor allem an genügender Kenntnis der Sprachen, da man wohl mit einiger
Leichtigkeit Dänisch und schwedisch lesen und doch außer Stande sein kann, mit
Leuten, die nur ihre Muttersprache reden, sich über politische Fragen zu ver¬
ständigen. Inwiefern das, was ich gehört oder gelesen habe, die Ansichten des
„Volks" wiedergiebt, vermag ich daher nicht zu untersuchen.
Das eine scheint mir unzweifelhaft, daß in den gebildeten Ständen auch
der nordischen Länder die konservative Partei immer mehr Anhänger findet,
weil man auch dort der hohlen Worte ebenso überdrüssig ist wie anderswo.
Am überraschendsten war mir, das in Norwegen zu hören. „Wir sind in der
angenehmen Lage," sagte ein Herr in Christiania, „in voller Ruhe die Ent¬
wicklung der Dinge abwarten zu können. Unsre angestrengteste Thätigkeit
würde unsrer Sache nicht so viel nützen, wie das Treiben der Radikalen, die
unermüdlich an ihrer Selbstvernichtung arbeiten." Ich berührte die Stellung
Björnsons, und mein Gewährsmann antwortete lächelnd: „Glauben Sie allein
einen Eugen Richter zu besitzen?" Doch setzte er sofort ernst hinzu: „Die
Ähnlichkeit besteht nur in dem Talente beider für Demagogie. Vjörnson hat,
wie Sie wissen, noch andre Talente. Er ist ein Dichter, der für den Augen¬
blick das wirklich glaubt, was er sich eingeredet hat oder von andern hat ein¬
reden lassen, und es kommt nur auf die rechte Anregung a», um den Saulus
zu einem ebenso begeisterten Paulus zu machen." Meine Frage, ob das Schau¬
spiel, welches Frankreich bietet, nicht ernüchternd auf seine Landsleute wirke,
verneinte er. „Unser Volk will durch eignen Schaden klug werden, und der
Prozeß vollzieht sich jetzt. In Dänemark ist das etwas andres. Doch ich
will nicht vorgreifen, Sie werden ja selbst sehen."
Daß in Kopenhagen eine Abkühlung der frühern warmen Gefühle für
alles Französische eingetreten ist, wurde später auch mir bemerklich. Die Ver¬
anlassung ist drollig genug. Der bekannte Millionär Bierbrauer Jacobsen hatte
auf seine Kosten eine französische Kunstausstellung veranstaltet und, wie es
hieß, ebenfalls auf seine Kosten eine ganze Schaar von Pariser Künstlern und
Berichterstattern zur Eröffnung kommen lassen. Außerdem hatte sich die fran¬
zösische Kommission für die Kunstgewcrbeausstellnng in Kopenhagen eingefunden
und war von dem Vizepräsidenten Schon zu einem Bankett in Skodsborg ge¬
laden worden. Am Tage vor dem Feste verlangte Herr Proust, wenn ich
nicht irre, daß auch sämtliche Pariser Journalisten mitbeigezogen wiirden.
Das geschah. Nun wurde jedoch entdeckt, daß ein Journalist seine Frau mit¬
gebracht hatte, und auch diese wollte dabei sein. Der Gastgeber bedauerte, sie
nicht einladen zu können, da keine Damen in der Gesellschaft sein würden;
wenn sie jedoch zufällig nach Skodsborg kommen wolle, werde sie willkommen
sein. Und richtig war sie „zufällig" an Ort und Stelle und nahm unbefangen
Platz in der verdoppelten oder verdreifachten Gästezahl. Dieses Benehmen,
das herrische Auftreten der Kommissäre und zum Dank für alle Höflichkeit
unverschämte Äußerungen in Pariser Blättern scheinen allerdings in Kopen¬
hagen stark verschnupft zu haben. Glück hat den Dänen die Franzosen¬
freundschaft nie gebracht, ihre Anhänglichkeit an den ersten Napoleon büßten
sie mit dem Verluste Norwegens, und in ihrem Vertrauen auf den dritten
sahen sie sich arg getäuscht. Mithin brauchten sie nicht erst durch die heutigen
Vertreter der an der Spitze der Zivilisation marschirenden Nation aufgeklärt
zu werden. Indessen haben ja manchmal die kleinen Ursachen die größere Wir¬
kung. Warten wir ab.
Dasselbe wird zu raten sein in Beziehung auf die Stimmung der Dänen
gegen Deutschland. Mancher Korrespondent hat wohl zu sehen geglaubt, was
er zu sehen wünschte. Ein Unglück war es auf alle Fälle, daß die uns so
gespreizt dargebotene Bruderhand demselben Herrn Brandes gehört, der kurz
zuvor dem Nnssentum Weihrauch gestreut hatte. Dieser Herr, dem politische
und andre Glaubensgenossen in Deutschland zu einer gewissen Berühmtheit
verholfen haben, ist nämlich — es freut mich, das kundthun zu können — in
seiner Heimat gründlich erkannt. Er hat seine Partei mit in Verruf gebracht,
und sein Werk ist es zum guten Teil, daß auch in Dänemark die Judenfrage
auf der Tagesordnung steht. In dem Organ der dänischen „Freisinnigen"
(„Politiker") hatte er die Lösung der sozialen Wirren durch -- die freie Liebe
proklamirt. Daß das ein-Blödsinn ist, war ihm schwerlich verborgen, aber
der Einfall war originell, pikant, und er und sein Anhang sollen das Thema
so schamlos breitgetreten haben, daß endlich ein Fräulein Grundtvig in eigens
einberufener Frauenversammlung nachdrücklich ihr Geschlecht gegen die aufge-
drungene Vormundschaft dieses Gelichters verwahrte. Brandes glaubte sie mit
niedrigem Spott abthun zu können, allein die Dame bewies auch weiter Mut,
indem sie deu Gegner vor die Gerichtsschranken forderte und seine Verurteilung
erwirkte. Und nach ihr nahm ein Architekt, Professor Klein, den Kampf auf,
zuerst in einer diese „Sittlichkeitsfrage" behandelnden Flugschrift „Die litte¬
rarische Linke," dann in einer eignen zwanglosen Zeitschrift „Auti-Brande-
sicmske Flyveblade." Der Angegriffene hat, wie es scheint, alles über sich er¬
gehen lassen; er rechnet wohl darauf, daß seine Getreuen seine Moral teilen,
daher auch in dem ihm wiederholt nachgewiesenen Plaginm nichts Böses er¬
blicken, und daß seine deutschen Freunde alle die Unannehmlichkeiten totschweigen
werden.
Einen ungeeigneteren Wortführer konnte also die Idee der Versöhnung
zwischen Deutschen und Dänen nicht finden, und falls auf dänischer Seite Ge¬
neigtheit vorhanden gewesen sein sollte, hat der Name Georg Brandes sie wieder
verscheucht. Doch glaube ich nicht, daß sie vorhanden war. Den Verlust der
deutschen Herzogtümer haben die meisten vielleicht verschmerzt, aber die Erinne¬
rung an den berühmten § 6 ist als Stachel zurückgeblieben, und Billigdenkende
werden das begreifen. Rechtlich ist das Verhältnis ja völlig klar, Dänemark
gehörte nicht zu den in Prag Frieden schließenden Mächten, aber es empfindet
es als einen Gewaltakt, daß die zu seinen Gunsten aufgenommene Bestimmung
rücksichtslos außer Kraft gesetzt worden ist — wie man allgemein glaubt.
Wenn die „Kieler Zeitung," als im Spätsommer diese Angelegenheit wieder
erörtert wurde, die Dänen damit zu trösten glaubte, daß sie ja erst seit der
Ablösung der Herzogtümer einen Nationalstaat hätten, so war das abgeschmackt,
denn kraft des Nationalitätsprinzips fordern sie Nordschleswig. Die richtige
Auffassung der Sachlage kann sich nur einstellen, wenn die Dünen sich vor¬
urteilsfrei vor Augen stellen, wie alles gekommen ist. Das thun sie nicht, und
zum Teil ist ihnen die Wahrheit wirklich unbekannt. Ich habe Behauptungen
gehört, die mir allbekannt vorkamen, und die ich richtig in einer Schrift
wiedergefunden habe, welche vor rund fünfundzwanzig Jahren erschienen ist.
Damals hatte Dünemark erreicht, was irgend möglich war, es war als Ge¬
samtstaat anerkannt, und bestünde vielleicht heute noch als solcher, wenn es
nicht, auf Englands Schutz pochend, Deutschland so übermütig herausgefordert
hätte. Welche Langmut bewiesen der Bund und die beiden Großmächte! Man
wollte ja nur nicht die vollständige Einverleibung beider Herzogtümer zugeben,
und wünschte, daß die Verdauung in Schleswig nicht gar zu ungescheut vor¬
gehe. Als man in Deutschland anfing sich darüber aufzuregen, ergriff „ein
Schleswiger," angeblich ein dänischer Diplomat mit deutschem Namen, das
Wort „zur Verständigung." Da Schleswig nie zum Deutschen Bunde ge¬
hört habe, gehe es auch Deutschland nichts an, die Bewohner des Landes, ob
sie dänisch oder deutsch reden, seien Dänen und keine Deutschen. „Schleswig-
Holstein" sei die Erfindung einiger Professoren und Beamten. Unter den
frühern Königen sei Schleswig germanisirt worden, nun werde nur der natür¬
liche Zustand wieder hergestellt. Eigentlich aber könne von Danisiren keine
Rede sein, es geschehe nichts als das durchaus Notwendige. Nämlich, und so
steht wörtlich in der Schrift „Schleswig und Dänemark. Von einem Schles¬
wiger" (1863) zu lesen, in den gemischten Bezirken müsse der Schulunterricht
dänisch sein, weil in dieser Sprache Religionsunterricht und Konfirmation er¬
folge, und die Ablegung des Gelöbnisses und die Einsegnung müssen in däni¬
scher Sprache erfolgen, weil — diese die Unterrichtssprache sei. Die ganze
Bewegung gehe übrigens von Preußen aus, welches Transalbingien erobern
wolle, deshalb thäten Deutschland und Österreich sehr Unrecht, der preußischen
Politik Vorschub zu leisten u. s. w. Streichen wir den originellen oiroulus
viele>8U8, so haben wir da ein Glaubensbekenntnis, auf das noch heute die
meisten Dänen schwören. Mit Bitterkeit der Zeit gedenkend, wo ihre von
kleinen deutschen Fürstenhöfen geholten Königinnen es nicht der Mühe wert
fanden, die Landessprache zu erlernen, vergessen sie, daß man vor hundert
Jahren in diesem Punkte nicht so empfindlich war wie heutzutage, und daß
der Verzicht der Fürstinnen auf ihre Muttersprache nicht dem Dänischen, son¬
dern dem Französischen zugute gekommen sein würde. Ebenso ist ihrer Erinne¬
rung entschwunden, wie ihre Staatsmänner 1863 Preußen und Österreich förm¬
lich zum Kriege gezwungen und nicht eher geruht haben, als bis mit Holstein auch
Schleswig verloren war. offenbar in dem trügerischen Glauben, daß Old Pair
ihnen noch anders als mit diplomatischen Noten und mit Zeitungsartikeln bei¬
springen werde. Und wegen eines ähnlichen Rechenfehlers ist die Rückgabe des
nördlichen Distrikts verscherzt worden. In den ersten Jahren nach 1866 war
Preußen ja ganz bereit, den Artikel 5 des Prager Friedens zur Ausführung zu
bringen, aber in Kopenhagen machte man Umstände. Bürgschaften dafür zu gewähren,
daß den Deutschen, die dann wieder unter dänische Herrschaft gekommen wären,
die Rechte der Nationalität nicht verkümmert würden. Ein Krieg zwischen Frank¬
reich und Preußen lag in der Luft, es fehlte nur an einem Vorwande, und
den konnte der Z 5 ebensogut liefern wie die spanische Königswahl; weshalb
sollte man diesen Vorwand aus der Welt schaffen? Denn kam es zum frau-
zösischen Kriege, so kam es auch zum französischen Siege, und dann mußte
Dänemark nicht nur Hadersleben, sondern das ganze Stammverwandte wieder
in den Schoß fallen. So lautete unverkennbar die Berechnung. Darüber sind
nun zwei Jahrzehnte vergangen, während deren die preußische Verwaltung nicht
müßig gewesen ist. Und wie gegenüber den polnischen Gelüsten und Wehklagen,
darf auch dort gesagt werden: das Land, das mit dem Schwert erobert wurde,
ist ein andres geworden, wir haben es mit dem Pflug „erworben, um es zu
besitzen."
Natürlich wird es noch längere Zeit erfordern, bis auf beiden Seiten
der Königsau die Erbitterung einer kühlverständigen Auffassung weicht. Man
muß sich nur erinnern, daß es noch „Welsen" und „Kalter" giebt, die nie
ohne Wehmut der Zeiten gedenken können, in welchen sie. oft nicht blos mora¬
lisch, getreten wurden. Zuerst ist erforderlich, daß die Dänen sich entschließen,
die Fehler anzuerkennen, welche die Dinge dahin geführt haben. Dann wird
auch die Einsicht folgen, daß Leute dänischer Nationalität unter deutscher Herr¬
schaft existiren können wie Deutsche und Italiener in Österreich, und daß dem
Lande am besten gedient ist durch freundschaftliche Beziehungen zu dem deut¬
schen Nachbarn, der es nicht bedroht und es besser zu schützen vermag und zu
schützen bereit sein würde, als die sogenannten guten Freunde da oder dort.
s ist in neuerer Zeit die Frage angeregt worden, ob die bestehen¬
den Formen unsers Gesellschaftsrechts für das praktische Bedürfnis
genügen. Namentlich hat das Streben, Gesellschaften zur Nutzbar¬
machung unsrer Kolonien zu bilden, zur Anregung dieser Frage
im Reichstage Veranlassung gegeben. Schon bei der ersten
Beratung des dem jüngsten Reichstage vorgelegten Gesetzes über die Rechts-
Verhältnisse der deutschen Schutzgebiete (am 4. Februar 1888) bemerkte der
Abgeordnete Dr. Hannacher, daß für koloniale Unternehmungen, aber auch noch
für viele andre Unternehmungen des heutigen wirtschaftlichen Lebens, weder
die Form der Aktiengesellschaft, noch der Kommanditgesellschaft oder der offenen
Gesellschaft passe. Es bedürfe andrer Formen, um den Zwecken derselben
zu genügen. Dabei wies der Redner vorzugsweise auf die bergrechtlichen
Gewerkschaften hin, die eine so erleichterte Form des gesellschaftlichen Betriebes
gewährten, daß sie sogar vielfach benutzt würden, um unter ihrem Namen
Betriebe ganz andrer Art ins Leben zu rufen. Er glaubte, die Ausdehnung
dieser Forni auch auf andre Arten von Gesellschaften empfehlen zu sollen.
Noch bestimmter sprach sich bei der zweiten Beratung des nämlichen Gesetzes
(am 28. Februar) der Abgeordnete Öchelhüuser aus. Mit der Ausdehnung des
Rechts der bergrechtlichen Gewerkschaften sei das Bedürfnis noch nicht erschöpft.
Auf manche Betriebe des wirtschaftlichen Lebens sei diese Ausdehnung nicht
anwendbar; so z. B. auf den eigentlichen Handel. Es komme vor allem darauf
an, neue Formen von Gesellschaften mit beschränkter Haftbarkeit zu schaffen.
Bis jetzt finde diese nur bei Aktiengesellschaften und bergrcchtlichen Gewerkschaften
statt. Das seien aber Gesellschaften, wo der Kapitalist von der geistigen Leitung
des Unternehmens getrennt sei. Es fehle unbedingt an einer Gcschäftsform,
worin die Persönlichkeiten, die das Kapital hergeben, auch mit dem Kapital
unmittelbar in Verbindung treten und es persönlich fruchtbar machen können,
dabei aber doch zugleich die Wohlthat der beschränkten Haftbarkeit genießen.
In England werde bereits vielfach die Form der Aktiengesellschaft benutzt, um
für Gesellschaften, die ganz auf „individualistischer Basis" beruhen — die
Aktionäre seien dabei nur Strohmänner —, beschränkte Haftbarkeit herbei¬
zuführen. Nichts aber stehe entgegen, auch geradezu Gesellschaften nach Art
der offenen Handelsgesellschaft zu schaffen, bei denen die Solioarhcift auf einen
bestimmten Betrag eingeschränkt sei.
Diese Anregungen hatten zunächst die Folge, daß in dem vorgelegten
Gesetze vom Reichstage vorgeschlagene Bestimmungen Aufnahme fanden, wonach
der Bundesrat für befugt erklärt wurde, deutsche» Kolonialgesellschaften, die
sich auf Grund eines vom Reichskanzler genehmigten Statuts gebildet haben,
die Rechte einer juristischen Person zu verleihen. „In solchen Fällen haftet
den Gläubigern für alle Verbindlichkeiten der Kolonialgesellschaft nur das
Vermögen derselben." Durch diese Bestimmung des erlassenen Gesetzes ist das
obwaltende Bedürfnis bezüglich der Kolvnialgesellschaften, wenigstens vorläufig,
für befriedigt zu halten.
Es entsteht aber die Frage, ob die gegebenen Anregungen geeignet sind,
im allgemeinen zu einer Erweiterung der Formen unsers Gesellschaftsrechtes,
namentlich in den angegebenen Richtungen, zu führen. Durch Erlaß vom 3. April
dieses Jahres hat das preußische Handelsministerium hierüber Bericht von den
Handelskammern gefordert. Infolge hiervon hat auch der Ausschuß des deutschen
Handclstags in seiner Sitzung vom 7. Mai dieses Jahres sich mit der Frage
beschäftigt, und hierbei hat I)r. Hannacher wiederum seine Ansicht ausführlich
begründet. Um die Bedürfnisfrage anschaulich zu machen, führte derselbe aus:
„Nehmen wir unsre Aktiengesellschafts-Register zur Hand, so finden wir, daß
viele Gesellschaften, für die ihrer Natur nach die Form der Aktiengesellschaft
schlechterdings nicht paßt, dennoch diese Form haben wählen müssen, weil keine
andere Form zu Gebote stand. Es erscheint fast komisch, daß, um für ein
Studentenkorps in Bonn ein Gesellschaftshaus einzurichten, die Form der
Aktiengesellschaft gewählt wird. Eine Gesellschaft, die einen ganz ominösen
Namen führt, die „Räuberhöhle" in Mannheim, hat sich mit einem Kapital
von 4000 Mark als Aktiengesellschaft gegründet. Katholische und andre
religiöse Vereine, die lediglich Krankenpflege oder Verbreitung von Flugschriften
zum Zweck haben, stecken sich in die Jacke der Aktiengesellschaftsform. Ebenso
sieht man, daß für Unternehmungen anstatt der Form der Aktiengesellschaft die
der Gewerkschaft angenommen wird, weil man den Fnßcingelboden der Aktien¬
gesellschaft und den verwickelten Apparat unpassend findet und nicht will. Man
hat dies gethan, obschon die bergrechtliche Gewerkschaft nur für den Bergbau
gesetzlich eingeführt ist. So besteht in Gelsenkirchen eine „Gewerkschaft Orange,"
welche die Herstellung von Dampfkesseln zum Zweck hat. Die Personen, welche
vor etwa 15 Jahren diese Gesellschaft begründeten, haben nicht die Form der
Aktiengesellschaft gewollt; sie wählten das Auskunftsmittel, daß sie irgend eine
beliebige Eisensteingrube ankauften, auf der Basis dieses Bergwerksbesitzes eine
Gewerkschaft gründeten und ein Statut vereinbarten, auf Grund dessen die
Verarbeitung aus Eisenstein hergestellter Metalle zulässig war. So erlangten
sie Korporationsrechte und erbauten eine Kesselfabrik. Ebenso besteht an
demselben Ort der Schalter Gruben- und Hüttenvereiu, eine Gesellschaft,
die Roheisenerzeugung betreibt. Formell ist sie eine Gewerkschaft, und ihre
gewerkschaftliche Existenz beruht auf dem Besitz irgend einer Eisenstein¬
grube. Neuerdings hat sich noch das Walzwerks-Etablissement von Schulz,
Kraute Ä Komp. in Essen in eine Gewerkschaft umgewandelt. Dies ist auf
demselben Wege wie in den andern erwähnten Fällen ermöglicht worden. Selbst
im Auslande haben deutsche Gesellschaften von der in Dentschland bestehenden
gewerkschaftlichen Form Gebrauch gemacht. Solche Auskunftsmittel sind mit
dem strengen Rechte kaum verträglich. Die Bedürfnisse des wirtschaftlichen
Lebens drängen aber bei der ungenügenden Entwicklung unsers Rechts darauf,
derartige Mittel anzuwenden, und die angedeuteten Erfahrungen beweisen, daß
ein wirkliches Bedürfnis nach neuen Gesellschaftsformen vorliegt. Der Schwer¬
punkt liegt darin, daß es ermöglicht werden muß, die Einschränkung der Haft¬
barkeit der Mitglieder in einfacherer Form anzuwenden. Darauf weisen auch
die Vorgänge in England hin. In England ist bekanntlich auf Grund der
Gesetze von 1862 und 1867 die Bildung von Aktiengesellschaften mit beschränkter
Haftbarkeit unter Beobachtung gewisser bequemer Vorschriften zugelassen. Sieben
Personen treten zusammen und bilden eine Gesellschaft mit beschränkter Haft¬
barkeit. Eine Minimalhöhe des Kapitals ist gesetzlich nicht vorgeschrieben, ebenso
wenig die Höhe der Einlagen oder Aktien. Man kann also Aktiengesellschaften
mit Nominalwert von 1 Lstrl. für die Aktie begründen. Und es giebt Hunderte,
ja tausende solcher liinitsä oonixMies. Ein großer Teil derselben ist wirklich
nichts als eine individuelle Handelsgesellschaft; man nimmt xro donna, ein paar
Personen auf, die mit je 1 Lstrl. beteiligt sind und arbeitet nun auf den Grund¬
lage der beschränkten Haftbarkeit. Etwas ähnliches ist auch in Deutschland
möglich. Zu einer Aktiengesellschaft sind nur fünf Personen erforderlich. Nimmt
man beispielsweise an, daß eine Familie die Absicht hat, das Geschäft ihres
Erblassers nur mit beschränkter Haftbarkeit fortzusetzen. Weshalb soll alsdann
der schwerfällige Weg der Aktien- oder Kommanditgesellschaft der allein zu¬
lässige sein?"
Weiter führte dann Redner aus, das für die neu zu schaffende Gesell¬
schaftsform neben der beschränkten Haftbarkeit der Mitglieder auch die Möglichkeit
zu gewähren sei, das Gesellschaftskapital nicht (wie bei der Aktiengesellschaft)
von vornherein festzusetzen, vielmehr je nach eintretendem Bedürfnisse jeden
Anteiler anzuhalten, Zuschüsse zu dem Gesellschaftskapital zu leisten, dergestalt
jedoch, daß er sich jederzeit durch Aufgeben seines Anteiles zu Gunsten der
Gesellschaft von weitern Zuschüssen befreien könne, so wie dies bei den Berg¬
gewerkschaften schon jetzt Rechtens sei.
An diese Rede schloß sich dann eine Verhandlung, deren Inhalt
ebenfalls kurz in dem Bericht wiedergegeben ist. Nach derselben wurde ein¬
stimmig folgender Beschluß gefaßt: „Der Ausschuß des Deutschen Handelstagcs
beschließt sich dahin auszusprechen: 1) In den Kreisen des Handels und der
Industrie wird eine Ergänzung des bestehenden Rechts durch Einfügung neuer
Rechtsformen für gesellschaftliche Privatunternehmungen als ein dringendes
Bedürfnis anerkannt. 2) Diesem Bedürfnis ist eine Gesetzgebung abzuhelfen
geeignet, welche die Errichtung von individualistischen und kollektivistischen Er¬
werbsgesellschaften auf der Grundlage der in Anteile zerlegten Mitgliedschaft
und der beschränkten Haftbarkeit der Mitglieder zuläßt."
So weit die über den Gegenstand neuerdings gepflogenen Verhandlungen.
Es ist nicht zu bestreiten, daß in der heutigen Zeit, die man Wohl recht eigentlich
die Zeit der Vereine nennen könnte, vielfach Vereinigungen geschaffen werden,
für die, obgleich sie für ihre Zwecke wirtschaftlich zu operiren genötigt sind,
keine der bestehenden Gesellschaftsformen paßt, und die daher, insofern sie nicht
etwa durch besondern Staatsakt die Rechte einer juristischen Person erlangen,
in ihrem wirtschaftlichen Handeln durchaus beengt sind. Es sind dies namentlich
Vereinigungen, die in erster Linie soziale oder Kulturzwecke verfolgen. Wenn
auch das Bedürfnis eines Studentenkorps, sich ein Stammhaus zu verschaffen,
nicht so hoch anzuschlagen sein sollte, um die Gesetzgebung dafür besonders in
Thätigkeit zu setzen, so kann es doch noch andre Vereinigungen geben, bei denen
die Unfähigkeit, selbständig Vermögen zu erwerben, schmerzlich empfunden wird.
So z. B. wenn Bürger einer Stadt sich zusammenthun, um eine Volksküche
ins Leben zu rufen, wozu die nötigen Räumlichkeiten beschafft. Vorräte angekauft,
Diener angestellt werden müssen. Die Formen der Aktiengesellschaft passen sür
einen solchen Verein ganz und gar nicht, weil dabei ein Vermögenerwerb nicht
in Aussicht genommen ist. Ebenso wenig aber die Formen irgend einer andern
Gesellschaft. Darnach ist aber der Verein, wenn er nicht etwa die Rechte einer
juristischen Person erwirbt, außer Stande, selbständig Rechte, namentlich auch
Grundeigentum zu erwerben und Verbindlichkeiten einzugehen. Es müssen also
immer Personen vorgeschoben werden, die für den Verein als Erwerber der
Rechte und Träger der Verbindlichkeiten eintreten. Daß dadurch die gedeihliche
Wirksamkeit eines solchen Vereins sehr gehemmt wird, liegt auf der Hand.
Man könnte solchen Vereinen, insofern sie nur gewisse Nomativbestimmungen
einhalten, wohl unbedenklich das Recht einräumen, auf ihren Namen Vermögen
zu erwerben. Glaubt man, daß dadurch möglicherweise auch solchen politischen
und religiösen Vereinen, die vom Standpunkt der Staatsregierung keine Begün¬
stigung verdienen, eine Förderung ihrer Zwecke zu Teil werden könnte, so ließe
sich ja für diese eine besondere Ausnahme machen.
Auch der durch Statut zu vereinbarenden Pflicht, eventuell Zuschüsse zu
den Vereinszwecken zu leisten, dergestalt jedoch, daß jedes Vereinsmitglied durch
Aufgeben seiner Vereinsrechte sich von weitern Pflichten befreien könne, würde
grundsätzlich nichts im Wege stehen.
Die Hauptfrage bleibt freilich die: Wer soll für die Verbindlichkeiten
haften, die ein solcher Verein eingeht? Wir haben oben gesehen, daß die Ab¬
geordneten, die im Reichstage die Frage angeregt haben, gerade auf diesen
Punkt besonderes Gewicht legen. Hannacher will die Zulassung von Ver¬
einigungen nach Art der bergrechtlichen Gewerkschaften verallgemeinern. Öchel-
hüuser geht noch darüber hinaus. Er will namentlich Handelsgesellschaften ganz
nach Art der offenen Gesellschaften, aber mit beschränkter Haftbarkeit für die
eingcmgenen Verbindlichkeiten, zugelassen haben. Da entsteht uun die Frage:
Welche Gewähr würden denn solche Vereine und Gesellschaften den Gläubigern
bieten, daß deren Forderungen redlich erfüllt würden?
Betrachten wir einmal die zur Zeit bestehenden Verhältnisse, in denen nur
eine beschränkte Haftbarkeit für die im Interesse einer Gesamtheit von Personen
eingegangenen Verbindlichkeiten eintritt.
Sie tritt zunächst ein, wenn der Gesamtheit für den von ihr verfolgten
Zweck juristische Persönlichkeit verliehen ist. Die juristische Person haftet nur
mit dem ihr als solcher zustehenden Vermögen. Die Bürgschaft, daß diese
beschränkte Haftbarkeit nicht zum Nachteil der Gläubiger mißbraucht werde,
liegt hier in der Verleihung der juristische» Persönlichkeit durch den Staat
und der in der Regel damit auch andauernd verbundenen Aufsicht des Staates
über solche Vereinigungen. Ohne Zweifel wird auch bei der Verleihung der
entsprechenden Rechte an Kolonialgesellschaften der Bundesrat diesen Gesichts¬
punkt im Auge zu behalten haben.
Eine andre Form, in der auch ohne besondre Gestattung des Staates
eine Gesamtheit von Personen mit beschränkter Haftbarkeit sich für einen Zweck
vereinigen kann, liegt in der Aktiengesellschaft, Hier ist es die gesamte durch
Gesetz vorgeschriebue Organisation einer solchen Gesellschaft und die dadurch
herbeigeführte Publizität ihrer Verwaltung, was eine gewisse Bürgschaft dafür
giebt, daß die Beschränkung der Haftbarkeit der Gesellschaft auf das Gesell-
schaftsvermögen nicht zum Nachteil der Gläubiger mißbraucht werde.
Bei Kommanditgesellschaften, wo die Kommanditistcn gleichfalls nur mit
ihren Einlagen haften, liegt die Sicherheit der Gläubiger darin, daß die ge-
fchäftsführenden Gesellschaften persönlich d. h. mit ihrem gesamten Vermögen
haften. Ohne Zweifel haben diese persönlich haftenden Gesellschafter auch ein
Interesse daran, daß die Kommanditisten ihren Anteil der Gesellschaft nicht
entziehen.
Endlich kommt noch die bergrechtliche Gewerkschaft in Betracht. Auch für
diese bestimmt daS preußische Berggesetz: „Für die Verbindlichkeiten der Ge¬
werkschaften haftet nur das Vermögen derselben." Die Gewerkschaft ist aber
eine Gesellschaft, die von dem Bergwerk selbst sich nicht trennen kann. In
diesem hat sie ihre ständige und feste Grundlage. Wer also einer Gewerkschaft
kreditirt, kreditirt dem Bergwerke, das den Gläubigern eine unentziehbare Sicher¬
heit darbietet. Hierin liegt die Gewähr dafür, daß die beschränkte Haftbarkeit
der Gewerkschaft nicht zum Nachteil der Gläubiger mißbraucht werde.
Wo nun Vereinigungen andrer Art in ähnlicher Weise wie die Berg-
gcwerkschaft, man könnte sagen, dinglich radizirt sind, da hätte ja der
Gedanke Hammachers, das Recht der Gewerkschaft auf sie auszudehnen, eine
Berechtigung. So etwas hat offenbar auch Hcnnmacher bei seinen Anträgen
vorgeschwebt. Aus der weitern Ausführung seiner oben gedachten Rede wird
folgendes berichtet: „Referent verkennt nicht, daß, wenn man jeder Gesellschaft
Korporationsrechte zusprechen wollte, dies zu den größten Bedenken Veranlassung
gäbe. Jede Gesellschaft, um überhaupt nach außen irgend eine Gewähr zu
bieten, müsse ein bestimmtes Vermögensobjekt besitzen. Bei der Berggewerkschaft
sei dies Bergwerksgerechtsame. Referent nimmt daher an, daß die (von ihm vor¬
geschlagene) Anteilsgesellschaft mit beschränkter Haftbarkeit gesetzlich ein gewisses
Kapital oder Wertobjekt zur Grundlage haben müsse. Das Gesellschaftsstatut
Hütte dies nachzuweisen."
Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß der oben gedachte Beschluß des Aus¬
schusses des Handelstags eine solche Schranke nicht enthält. Auch würde es
sich vor allem fragen, ab gewisse Arten von Gesellschaften sich dergestalt thpisch
ausscheiden lassen, daß man ihnen kraft Gesetzes eine der Berggewerkschaft ent¬
sprechende Stellung mit einer auf das Gesellschaftsvermögen beschränkten Haft¬
barkeit gewähren könnte.
Offenbar geht aber auch der von Öchelhäuser vertretene Gedanke über
jene Schranke hinaus. Denn wenn Öchelhcinser gerade „Handelsgesellschaften",
die nach Art der offnen Gesellschaften errichtet werden sollen, die Wohlthat
beschränkter Haftbarkeit zuwenden will, so würden darunter ohne Zweifel auch
solche Gesellschaften begriffen sein, denen die dingliche Nadizirung — wie
wir es oben nannten — gänzlich fehlen würde.
Der Hauptgesichtspunkt, aus dem die Zulassung solcher Gesellschaften
empfohlen wird und von dem aus auch Öchelhäuser für sie eintritt, liegt
nun darin, das; damit die Unternehmungslust sehr befördert werden würde.
Gewiß kaun man gewagte Unternehmungen mit leichterem Herzen eingehn, wenn
der Unternehmer sicher ist, daß im Falle des Mißlingens ihn selbst nur ein
mäßiger Verlust trifft, während er den weitergehenden Schaden auf andre ab¬
wälzen kann. Wäre aber dieser Gesichtspunkt von durchschlagender Berechtigung,
dann müßte man nicht blos Gesellschaften, sondern auch jedem einzelnen die
Befugnis geben, Geschäfte mit beschränkter Haftbarkeit zu unternehmen. Wenn
der Kaufmann mit Rechtswirksamkeit erklaren könnte, daß er seinen Gläubigern
nur mit einem gewissen Betrage seüies Vermögens haften werde, so könnte er
getrosten Mutes die gewagtesten Geschäfte eingehen. Mißlängen sie, so bliebe
er doch noch immer ein wohlhabender Mann, und seine Gläubiger hätten das
Nachsehen. Denkt man nun wohl daran, eine solche Beschränkung des Schuld¬
rechts gesetzlich zuzulassen? Gerade darin, daß bei Unternehmungen für das
Gelingen in erster Linie der Unternehmer selbst mit seinem ganzen Vermögen
einzustehen hat, liegt eine Gewähr dafür, daß Unternehmungen nicht leichtsinnig
in den Tag hinein gemacht werden. Gesetzt, ein Unternehmer bedänge sich bei
seinen Gläubigern ausdrücklich aus, daß er ihnen nur mit einem Teil seines
Vermögens haften wolle, und er fände auf diese Grundlage hin anch wirklich
Kredit, so würde es doch sehr fraglich sein, ob die Gerichte diese Vereinbarung
respektiren und nicht vielmehr als ein xaoturn t,urxs verwerfen würden.
Wenn es hiernach unzulässig, jedenfalls et«z leZo tsrsnclg, nicht empfeh¬
lenswert ist, daß der einzelne Geschäftsmann Unternehmungen mit beschränkter
Haftbarkeit eingehen dürfe, so ist es nicht abzusehen, weshalb es sich empfehlen
sollte, zweien, dreien oder auch noch mehreren, sobald sie sich zusammenthun,
zu gestatten, für ihre gemeinsame Unternehmung beschränkte Haftbarkeit sich
auszubediugeu. Es würde dies unverkennbare Gefahren des Mißbräuche» in
sich bergen.
Dieser Gesichtspunkt ist auch bei deu Verhandlungen in dem Ausschuß
des Haudelstages nicht ganz verkannt worden. Wir finden in dem Berichte
folgende Äußerung eines Mitgliedes angeführt: „Gesellschaften der fraglichen
Art würden keinen Kredit haben und auch keinen verdienen. Denn wenn anch
heute veröffentlicht werde, daß eine Gesellschaft mit 500000 Mark zusammen¬
getreten und verpflichtet sei, das Unternehmen nach den gesetzlichen Bestimmungen
weiter zu führen: wer kann denn nach Jahren wissen, wie viel von den 500 000 Mark
noch vorhanden ist. In Schweden und Norwegen, wo derartige Formen be¬
stehen behilft, man sich damit, daß die Inhaber des Geschäfts persönlich ga-
rantiren, wenn die Gesellschaften Kredit in Anspruch nehmen/'
Nun könnte man vielleicht sagen, es sei ja Sache der Gläubiger, ob sie
solchen Gesellschaften mit beschränkter Haftbarkeit Kredit schenken wollten. Von
feiten des Staates sei aber nicht dem entgegenzutreten, daß Gesellschaften
der Art geschaffen würden. Indessen muß es doch bedenklich erscheinen, wenn
der Staat zu Schöpfungen die Hand bietet, die einer mißbräuchlichen Benutzung
so leicht fähig sind. Es würde mehr als manchesterlicher Grundsatz sein, in
dieser Beziehung volle Freiheit zu gewähren. Es würde damit auch für den
einzelnen mittels einer überaus leichten Umgehung des Gesetzes (Annahme eines
Scheingesellschafters) beschränkte Haftbarkeit zu erlangen sein. Auch würde mit
der gesetzlichen Zulassung solcher Gesellschaften der Staat seine ganze Aktien-
gcsetzgebung untergraben. Jede Gesellschaft, die keine Lust hätte, sich den strengen
Formen des Aktienrechts zu unterwerfen, thäte sich als einfache Gesellschaft „mit
beschränkter Haftbarkeit" auf. Gegenwärtig bildet der Vorzug beschränkter Haft¬
barkeit den Preis dafür daß Gesellschaften sich den Formen der Mtiengesctz-
gebung unterwerfen. Giebt man diesen Preis ohne weiteres hinweg, wozu
dann noch Aktiengesellschaften gründen? Sollte bei uns die von Ochelhüuser
und Hcimmacher bezeugte englische Sitte aufkommen, unter der Form von Aktien¬
gesellschaften Gesellschaften ganz andrer Art zu schaffen, lediglich um die be¬
schränkte Haftbarkeit zu gewinnen, so müßte unsers Erachtens der Staat einen:
solchen Mißbräuche entgegentreten; gerade so, wie wir es für einen nicht zu
duldenden Mißbrauch erachten, wenn, nach den Anführungen Hammachers,
„Gewerkschaften" geschaffen werden, die nur zum Scheine ein Bergwerk erwerben,
um ganz andre Gewerbe mit dem Vorzug beschränkter Haftbarkeit zu betreiben.
Die ganze Frage ist übrigens schon einmal Gegenstand öffentlicher Ver¬
handlung gewesen. Im norddeutschen Reichstage (1869) hatte der Abgeordnete
Schulze einen Gesetzentwurf eingebracht, wonach allen Vereinigungen von nicht
geschlossener Mitgliederzahl, insofern sie nicht unter die bereits bestehenden ge¬
setzlichen Vorschriften fallen, unter gewissen Normativbedingungen eine selbständige
Persönlichkeit verliehen werden sollte. Unter den Bestimmungen des Entwurfes
fand sich auch der Satz: „Für alle Verbindlichkeiten des Vereins haftet nur
das Vereinsmögen." Gerade über diesen Satz erhob sich in der Kommission,
der der Entwurf überwiesen war, lebhafter Streit. Es wurde dem Satze ein
Antrag gegenübergestellt, der dahin ging, daß die Mitglieder des Vereins ver¬
pflichtet sein sollten, die in Vetretung des Vereins gemachten Schulden durch
Beiträge zu decken. Allerdings blieb dieser Antrag mit vier gegen fünf Stimmen
in der Minderheit. Auch im Reichstage, wo die gegensätzlichen Anschauungen
wieder zum Ausdruck kamen, wurde der Paragraph nach dem Antrag Schutzes
angenommen. Das ganze Gesetz erhielt aber nicht die Zustimmung des Bundes-
rath. über die gedachte Frage der Haftbarkeit finden sich die entgegengesetzten
Ansichten in dem von der Kommission erstatteten Berichte (Aktenstück 273 der
Anlagen) ausführlich mitgeteilt. Nach unsrer Ansicht sind die Gründe der
Minderheit die bei weitem schwerer wiegenden, und sie dürften auch heute noch
bei Beurteilung der Frage sich zum Lesen empfehlen.
Wir würden nach dem allen, so weit die beschränkte Haftbarkeit in Betracht
kommt, den Gedanken Hammachers nur befürworten können, wenn es möglich
sein sollte, für diesen Zweck gewisse Arten von Gesellschaften auszuscheiden, die
ebenso, wie die Berggewerkschaften, in ihrem Vcrmögensbestcmde den Gläubigern
eine Art dinglicher Sicherheit böten. Dem weitergehenden Gedanken Öchel-
hciusers aber stehen wir mit überwiegendem Bedenken gegenüber, wenn wir auch
nicht zweifeln, daß er von seinem Vertreter im wohlwollendsten Sinne auf¬
gestellt worden ist.
Ausdrücklich wollen wir noch bemerken, daß wir als Gegensatz der be¬
schränkten Haftbarkeit nicht unbedingt die Solidarhaft sämtlicher Mitglieder im
Sinne haben. Die Solidarhaft ist ein gefährliches Institut und führt ebenso
leicht zu Ungerechtigkeiten nach der andern Seite. Wohl aber würden sich
Formen schaffen lassen, die eine Haftbarkeit der Mitglieder für die Verbind¬
lichkeiten der Gesellschaft unter gleichmäßiger Belastung aller herbeizuführen
geeignet wären.
us gewissen Stellen des vielbcsprochnen „Tagebuchs" war zu
ersehen, daß Kronprinz Friedrich 1870 der Meinung gewesen ist,
der Eintritt der süddeutschen Königreiche in den Norddeutschen
Bund könne und müsse nötigenfalls erzwungen werden, und ans
andern Stellen hat man schließen wollen, der Kronprinz habe
durch sein beharrliches Mahnen und Drängen den Bundeskanzler, der sehr wenig
oder gar keine Neigung für die deutsche Einheit und den Reichsgedanken mit
dem Kaiser gehabt habe, diesen Gedanken und die Maßregeln, die ihn damals
förderten und schließlich verwirklichten, gewissermaßen aufgenötigt, ihm gehöre
also in erster Reihe das Verdienst bei der Schöpfung des neuen Reiches.
Die letztere Behauptung und der damit verbundene Vorwurf gegen Bismarck
sind leicht zu widerlegen. Schon als Göttinger Student sehnte er sich nach
der deutschen Einheit so warm und lebhaft wie die Burschenschaft, der er „nur
wegen ihrer Mensur- und Bierschen nicht beitrat." Wie diese Sehnsucht ihn
als Abgeordneten und später als Bundestagsgesandter erfüllte — jetzt freilich
die Sehnsucht nach einer erreichbaren und haltbaren Einheit der Deutschen —,
ist sattsam bekannt, und mit vollem Rechte konnte er am 9. Juli 1879 im
Reichstage von sich sagen: „Ich habe von Anfang meiner Karriere an nur
den einen Leitstern gehabt: durch welche Mittel und auf welchem Wege kann
ich Deutschland zur Einigung bringen, und wie kaun ich, wenn das erreicht ist,
es befestigen, fördern und so gestalten, daß es aus freiem Willen aller Mit¬
wirkenden dauernd erhalten wird." Am 24. Februar 1881 erklärte er ebenda:
„Alle Systeme, durch welche sich die Parteien getrennt und gebunden fühlen,
stehen für mich erst in zweiter Linie; in erster steht die Nation, ihre Stellung
nach außen, ihre Selbständigkeit, unsre Organisation in der Weise, daß wir
als großes Volk in der Welt frei atmen können ... Es giebt Zeiten, wo man
liberal, und solche, wo man diktatorisch regieren muß, es wechselt alles, hier
giebt es keine Ewigkeit; aber von dem Bau des Reiches, von der Einigkeit der
Nation verlange ich, daß sie sturmfrei dastehen, nicht blos eine passagere Fcld-
befestigung zur Seite haben."
Kein Zweifel also, daß Bismarck und der Verfasser des Kriegstagebuchs,
das Professor Geffcken auszugsweise veröffentlicht hat, 1870 zu Versailles im
wesentlichen dasselbe Ziel vor Augen hatten. Dagegen unterschieden sie sich
in ihrer Stellung zu den süddeutschen Staaten, namentlich zu Baiern, und
in den Mitteln und Maßen, mit denen vorgegangen werden sollte, sehr erheblich
und, durchaus nicht blos staatsmännisch betrachtet und gewogen, nicht zum Vor¬
teile des Kronprinzen, der als der leidenschaftliche, rücksichtslose, ungeduldige
und darum unbillige Gemütsmensch erscheint, während der Kanzler ihm als das
Bild des nüchternen, kühlen, sich den Umständen fügenden und sich mit Er¬
strebung und Erlangung des Wesentlichen begnügenden Politikers, zugleich aber
als das des gerechten und billigen Mannes gegenübersteht. Der Kronprinz
dachte an Wege, die ihn an Markgraf Gero und die Wendcnfürsten sowie an
die Schlacht bei Sendling erinnern ließen, was thatsächlich schon einige Wochen
vor dem Auftritte in Versailles geschah. Der Kanzler zog den Weg der Treue,
der Mcißignng, der Einigung in Güte vor, der zugleich der Weg der Klug¬
heit war.
In den Zeitungen fand man damals eine Schilderung der Stimmung in
Baiern, die nach dem Berichte eines süddeutschen Gesandten abgefaßt war und
zuverlässig zu sein schien, aber wenig zu der betreffenden Stelle im Tagebuche
stimmt. Es heißt darin u. a.:
Die hier mitgeteilten Nachrichten sind großenteils gut, nur einige davon
könnte man sich besser wünschen. Der deutsche Gedanke hat durch den Krieg ungen-
scheinlich an Stärke und Verbreitung gewonnen, über auch das spezifisch baierische
Selbstgefühl hat sich gesteigert. Die Betheiligung der Armee an den Siegen bei
Wörth und sedem, sowie die erheblichen Verluste derselben haben nicht verfehlt,
die Begeisterung für den Krieg mit Frankreich durch alle Schichten des Volkes zu
verbreiten und dasselbe mit Stolz auf die Leistungen seiner Söhne zu erfüllen.
Man ist überzeugt, daß der König den Sieg der deutscheu Waffen erhofft und mit
allen Anstrengungen zur Erreichung dieses Zieles einverstanden ist. Seine nächste
Umgebung ist gut gesinnt. Nicht von allen Ministern läßt sich dasselbe rühmen
!z. B. nicht von Bray^. Dem Kriegsminister ist es ohne Zweifel ernstlich um einen
glücklichen Ausgang des Krieges zu thun, und er leistet dafür sein Möglichstes.
Mau kaun sich in dieser Hinsicht ans ihn verlassen und annehmen, daß er auch
bei den Friedensbedingungen auf der rechten Seite stehen wird .... In Betreff
einer etwaigen Neugestaltung der deutschen Verhältnisse, die sich aus der Waffen¬
gemeinschaft des Krieges im Sinne eines dauernden engern Zusammenschlusses auch
im Frieden entwickeln könnte, ist aus dein auch in dieser Hinsicht sehr zuversicht¬
lichen Ton der Presse kein Schluß zu ziehen .... Manche einflußreiche Persön¬
lichkeiten sehen die tüchtige Mitwirkung der Baiern bei den deutschen Siegen we¬
niger als deu Weg zu größerer Einigung Deutschlands als im Lichte einer Probe
der Kraft Baierns und einer Befestigung seiner vollen Selbstädigkeit an. Die nicht
ultramontanen Partiknlaristen nehmen ungefähr denselben Standpunkt ein. Sie sind
erfreut über unsre Erfolge und stolz auf den Anteil, den Baiern daran hat. Sie
bewundern die preußische Kriegführung und wollen, wie wir, Sicherstellung Deutsch-
lands gegen fernere Angriffe von Westen her. Von einem Anschlusse Baierns an
den Norddeutschen Bund, wie er jetzt gestaltet ist, mögen sie aber nichts wissen.
In diesen Kreisen wird auch über die Verteilung der eroberten französischen Ge¬
bietsteile vielfach gesprochen. Gern würden sie das Elsaß mit Baden vereinigt
sehen, vorausgesetzt, daß dafür die badische Pfalz um Baiern abgetreten würde.
Bedenken erregt den Einsichtigen, daß Baden und vermutlich auch Württemberg
nach dem Frieden die Vereinigung mit dem zum Bundesstaate organisirten Norden
verlangen werden. Die Ultrnmontauen sind noch die alten, obgleich sie ihre Ge¬
danken nicht laut werden lassen. Zum Glück haben sie alles Vertrauen auf Oester¬
reich verloren, sodaß es ihnen an einer Stütze mangelt, während anderseits die
Baiern, welche im Felde stehen, eine ganz andre Meinung von den Preußen ge¬
wonnen haben, als sie vor dem Kriege hatten. Dieselben sind des höchsten Lobes
voll über die Kameraden ans dem Norden, und zwar nicht blos wegen deren
militärischen Eigenschaften und Leistungen, sondern auch wegen ihrer Bereitwillig¬
keit, mit ihren militärischen Vorräten aufzuhelfen, wenn sie damit früher oder
reichlicher versehen worden sind als die Baiern. Mehr als eiuer hat nach Hause
geschrieben, daß ihre Geistlichen sie in Bezug auf die Preußen angelogen hätten.
Es sei nicht wahr, daß diese alle lutherisch seien; viele seien Katholiken, man habe
sogar Feldpatres bei ihnen gesehen. Da die Offiziere ähnlich denken, so wird die
zurückkehrende Armee eine wirksame Propaganda gegen den Ultramontanismus und
wohl auch gegen deu extremen Partikularismus abgeben. sWohl gemerkt, nur
gegen deu extremen, der keine Einigung mit dem Norden wollte, nicht anch gegen
den, der eine solche zwar zuließ, aber von der Erfüllung gewisser Bedingungen
abhängig machte!. Daß die Nativualgesinnten in Baiern sich jetzt mehr wie je
fühlen, ist begreiflich. Sie würden auch thun, was sie vermöchten. Nur haben sie
in der zweiten Kammer nicht die Mehrheit und in der ersten kaum zwei oder drei
Gesinnungsgenossen.
So und nicht wie im Tagebuche standen die Dinge, als Bismarck über
die Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum deutschen Reiche mit der
baierischen Regierung zu verhandeln begann, und mit Rücksicht auf diese
Sachlage, beider fast nur der gut patriotische Sinn des Königs Ludwig schwer
für die Verwirklichung des Einheitsgedankens ins Gewicht fiel, wurde» in
Versailles Zugeständnisse gemacht. Daß dies den baierischen Nationalliberalen
oder, wie sie damals hießen, der „deutschen Fortschrittspartei in Baiern" nicht
gefiel, daß diese Politiker mit den „Neservatrechten," welche die baierischen
Unterhändler sich ausbedungen und erreicht hatten, ebensowenig zufrieden waren,
wie anfangs ihre Gesinnungsgenossen in Norddeutschland, beweisen das Minori¬
tätsgutachten des Ausschusses der baierischen Kammer und die Rede, die Barth
als Vertreter dieser Minorität am 11. Januar 1371 hielt. Aus jenem
Gutachten aber wie aus dieser Rede ergiebt sich unwiderlegbar, daß an eine
ganz unveränderte Annahme der Verfassung des Norddeutschen Bundes in
Baiern nicht zu denken war, und selbst nach den Zugeständnissen, die der
Bundeskanzler dem Partikularismus und Föderalismus gewährt hatte, ge¬
langten die Verscnller Verträge doch nur mit zwei Stimmen über die ver¬
fassungsmäßige Zweidrittelmehrheit in der Kammer zur Annahme. Wahr¬
scheinlich ist zwar, daß bei einer Verwerfung der Vorlage und einer da¬
raufhin erfolgten Auflösung der Kammer neue Wahlen mehr als die notwen¬
dige Zweidrittelmehrheit gebracht hätten, aber die baierische Krone führte da¬
mals den Kampf mit den Widersachern der Vereinbarung, und die Verfassungs¬
änderungen und Vorrechte wirkten als treffliche Gegenbeweise gegen die Un¬
wahrheiten und Uebertreibungen der Preußenfeinde. Alles wäre anders gekommen,
wenn man gegen den Willen der Krone und die Vorurteile der großen Masse
der Bevölkerung rücksichtslos, wie der Verfasser des Kriegstagebuches verlangte,
den Anschluß B ierns hätte erzwingen wollte. In dieser Überzeugung haben
damals die Wortführer der nationalgesinnten Parteien in Berlin eifrig für
die Annahme der Verscnller Verträge gesprochen, und die spätere Zeit hat be¬
wiesen, daß die Mehrheit des Norddeutschen Reichstags weise handelte, als sie
in diesem Sinne votirte.
Dabei sehen wir unsernteils von der moralischen und von der allgemeinen
europäischen Seite der Frage ab und lassen Bismarck selbst ein paar Worte
darüber sagen. Als der Traktat mit Baiern fertig war und unterzeichnet werden
sollte, bemerkte er (wir berichten nach Moritz Buschs „Graf Bismarck und seine
Leute." 2. Band): „Die Zeitungen werden damit nicht zufrieden sein, und wer
einmal in der gewöhnlichen Weise Geschichte schreibt, kann unser Abkommen
tadeln. Er kann sagen: der dumme Kerl hätte mehr fordern sollen, er hätte
es erlangt, sie hätten gemußt, und er kann Recht haben — das heißt mit dem
Müssen. Aber was sind Verträge, wenn man sie abschließen muß. Mir lag
mehr daran, daß die Leute mit der Sache innerlich zufrieden waren, und ich
Weiß, das; sie vergnügt fortgegangen sind. Ich wollte sie nicht Pressen, die Si¬
tuation nicht ausnutzen. Der Vertrag hat seine Mängel, aber er ist so fester.
Ich rechne ihn zu dem wichtigsten, was wir in diesem Jahre erreicht haben."
Einige Tage nachher äußerte er über die vielen Stimmen in der Presse, denen
die in Rede stehende Übereinkunft zu wenig zu bieten schien: „Ich habe mirs
gleich gedacht; es mißfällt ihnen, daß gewisse Beamte baierische heißen sollen,
die sich doch ganz nach unsern Gesetzen richten müssen. Mit dem Militär ists
ebenso. Die Bicrsteuer ist ihnen auch nicht recht; als ob wir das nicht jahre¬
lang im Zollvereine gehabt Hütten! Und so haben sie noch allerlei auszusetzen,
wo doch alles Wesentliche erreicht und gehörig fest gemacht ist. Sie thun, als
ob wir den Krieg gegen Baiern geführt hätten, wie 1866 gegen Sachsen, wäh¬
rend wir doch jetzt die Baiern als Bundesgenossen zur Seite haben. Ehe sie
den Vertrag gut heißen, wollen sie lieber warten, bis sie die Einheit kriegen
in der ihnen genehmen Form. Da können sie lange warten. Ihr Weg führt
zur Verschleppung, wo es doch rasch handeln heißt. Zögern wir, so gewinnt
der böse Feind Zeit, Unkraut dazwischen zu säen, und wenn das aufgeht, wenn
Beust Gelegenheit findet, uns seinen Keil in die Fuge zu stecken, so können
sich diese Tadler auf dem Altare des Vaterlandes totschlagen lassen, es wird
doch nichts aus ihren Wünschen. Der Vertrag sichert uns viel; wer alles will,
wird es möglich machen, daß nichts erlangt wird."
Wir begegnen hier einer Eigenschaft des Kanzlers, die wir auch sonst in seinem
Leben vielfach beobachten können, und die, wenn sie auch neben seinen glänzenderen
weniger ins Auge fällt, doch in Verbindung mit möglichster Aufrichtigkeit und
Ehrlichkeit im diplomatischen Verkehr ganz besonders geeignet war, ihm das
Vertrauen der deutschen und nicht minder das Vertrauen der auswärtigen
Fürsten und Mächte zu verschaffe» oder zu erhalten, womit er bisher den
Frieden im Reiche und in ganz Europa zu wahren im stände gewesen ist. Es
wird gut sein, diese Gabe einmal mit einigen Beispielen hervorzuheben und zu
betonen, schon weil sie als nicht sensationell selten so beachtet wird, wie es ihr
gebührt. Wir bewundern den genialen Instinkt des außerordentlichen Mannes,
seinen immer originellen, in der Kritik wie in der Produktion gleich mächtigen,
mit heroischer Willenskraft verbundenen Verstand. Wir bewundern in seinem
Denken und Thun ein vollkommen reines Rechnen mit klar erkannten Kräften
und Thatsachen, dem es beim Ausdrucke seiner Ergebnisse und deren Anwen¬
dung doch nicht an gewinnender Wärme und poetischem Glänze fehlt. Wir
beobachten ferner bei seiner Politik trotz vielfachem Wechsel der Mittel, der
Neben- und Zwischenziele eine Konsequenz, die fest und streng den Hauptzweck
im Auge behält, einen weitreichenden Überblick über die Wege und Seitenpfade
zu dessen Erreichung, eine feine und sichere Hand in der Behandlung der dabei
vor allem in Betracht kommenden maßgebenden Personen, die Gabe, im rechten
Augenblicke zuzugreifen und zuzuschlagen, sonst zu vertagen, und eine fast
beispiellose Geschicklichkeit, den Gegner unvermerkt dahin zu lenken, daß er sich vor
der Welt selbst ins Unrecht versetzt. Wir sehen aber endlich auch in ihm neben
gewaltiger Energie des Willens, größter Entschlossenheit, Unerschrockenheit und
Beharrlichkeit, Charakterzügen, mit denen er vor nichts notwendigen zurück¬
schreckt, in ungewöhnlichem Grade jene Regeln der staatsmännischen Kunst
verkörpert und gewissermaßen zur zweiten Natur geworden, welche Mäßigung
und Billigkeit vorschreiben, die Denkart, die nur das Wesentliche fordert und
darum bereitwillig zur Vereinbarung über Nebensächliches die Hand bietet.
Als 1866 in höhern Kreisen des Feldlagers in Mähren der Besitz ganz
Sachsens oder wenigstens eines großen Teils desselben, Nordböhmens und des
einst den Hohenzollern gehörigen Nordbaierns, ins Auge gefaßt war, riet
Bismarck, von den eroberten Landstrichen nur Hannover, Hessen und Nassau
mit Frankfurt zu behalten, weil dadurch die große Lücke zwischen der östlichen
und der westlichen Hälfte der preußischen Monarchie ausgefüllt werde und
die betreffende Bevölkerung der preußischen im großen und ganzen homogen
war. Eine Teilung Sachsens würde, so erklärte er, Verbitterung in dem
übrigbleibenden Teile hervorrufen und dem beabsichtigten neuen deutschen Bunde
ein verstimmtes und unsicheres Glied anfügen. Ganz Sachsen zu beanspruchen,
würde bedenklich sein, da Österreich dann wahrscheinlich fortkämpfen und in
diesem Falle Frankreich sich — nicht für Sachsen, sondern im eignen Interesse
am Rheine — am Kriege beteiligen, und schon eine geringe französische Streit¬
macht ausreichen würde, um die inzwischen der Zahl nach sehr stark gewor¬
denen süddeutschen Truppen einig und unternehmend zu machen. Er wollte
aus dem gleichen Grunde Österreich und Vaiern mit Landverlust verschont
wissen, zugleich aber deshalb, weil er sich die Möglichkeit einer einstigen Ver-
ständigung mit dem Wiener Hofe nicht durch Erweckung bleibender Rancüne
abschneiden lassen wollte, und weil er für den Verzicht auf Nordbaiern ein
wertvolles Bündnis mit ganz Baiern einzutauschen hoffte, das die von ihm
erstrebte Einigung ganz Deutschlands anbahnen konnte. Und er rechnete richtig.
Die Verständigung mit Österreich kam 1879 zu stände, und das schon 1866 ab¬
geschlossene Bündnis mit Baiern half 1870 den Erbfeind im Westen besiegen
und verwandelte sich zuletzt in dauernden Anschluß Baierns an den deutschen
Norden.
1871 nahm er das Elsaß und einen Teil Lothringens nicht deshalb, weil
sie einmal zum deutschen Reiche gehört hatten — „das ist Professorenidee,"
äußerte er, als dieser Grund einmal geltend gemacht wurde —, sondern aus
militärischen Beweggründen, d. h. weil die dominirende Lage von Straßburg
und der einspringende Winkel von Weißenburg Süddeutschland vom Norden
abschnitten und plötzlichen Überfällen aussetzten. Er ließ aber diese Lande nicht
zur preußischen Provinz erklären, wie wohlmeinende Patrioten wünschten, sondern
bewirkte, daß sie Reichsland wurden, indem er dadurch den Neid und die
Nachrede der Bundesgenossen, sie hätten einen Eroberungskrieg für Preußen
mit führen müssen, vermied, und indem durch das gemeinsame Eigentum des
Nordens und des Südens Deutschlands an dieser Eroberung ein gemeinsames
Interesse und ein starkes Bindemittel zwischen den Staaten nördlich und denen
südlich vom Main geschaffen wurde. Bei jeder Verhandlung über diese und
später auftauchende ähnliche Fragen bekundete er die Selbstbeherrschung, die
Vorsicht und Rücksicht und den weiten Blick des echten Staatsmannes sowie den
mit diesen Tugenden verwandten billigen Sinn, bei keinem derartigen Geschäfte
ließ er sich durch Illusion. Gefühl oder Begier von den Beschlüssen, die ihm
zweckdienlich und sachgemäß erschienen, ablenken.
Recht charakteristisch sind auch noch folgende Beispiele für diesen Zug
seines Charakters und seiner Auffassungsweise. Als im September 1870 ein
angesehenes liberales Blatt Berlins über die rücksichtsvolle Behandlung des
Kaisers der Franzosen klagte und die Meinung äußerte, die Nemesis hätte
gegen diesen unsern Gefangnen, den Mann des zweiten Dezember, den Urheber
der Sicherheitsgesetze, den Anstifter des mexikanischen Trauerspiels, den An¬
zettler des jetzigen greuelvollen Krieges weniger galant sein sollten, der Sieger
sei hier nach dem Urteile des Volksgemütes allzu ritterlich gewesen, war der
Kanzler dieser Ansicht ganz und gar nicht. „Das Volksgemüt, die öffentliche
Meinung", sagte er lächelnd, „denkt allerdings so. Die Leute verlangen, daß
bei Konflikten der Staaten der Sieger sich mit dem Moralkodex in der Hand
über den Besiegten zu Gericht setze und ihn zur Strafe ziehe für das, was
er gegen ihn begangen, womöglich auch für seine Sünden gegen Dritte. Das
ist aber ein ganz ungebührliches Verlangen. Die Begriffe Strafe, Lohn, Rache
gehören nicht in die Politik. Diese darf der Nemesis nicht ins Handwerk
Pfuscher, nicht das Richteramt üben wollen. Das ist Sache der göttlichen
Vorsehung. Die Politik hat nicht zu rächen was geschehen ist, sondern zu
sorgen, daß es nicht wieder geschehen kann. Sie hat sich unter allen Umständen
einzig und allein mit der Frage zu beschäftigen: was ist hierbei der Vorteil
meines Landes, und wie nehme ich diesen Vorteil am besten wahr? Sie hat
sich in diesem Falle zu fragen: wer wird nützlicher für uns sein, ein schlecht
behandelter Napoleon oder ein gut behandelter? Die Möglichkeit ist doch nicht
ausgeschlossen, daß er einmal wieder obenauf kommt." Ähnlich äußerte er
sich in Versailles, als sein Vetter, der Graf Bismarck-Bohlen, in Betreff der
Verhaftung Johann Jacobys, des bekannten Königsberger Demokraten seine
Befriedigung aussprach. daß man „den faulen Schwätzer endlich eingespunden."
Der Kanzler erwiderte: „Ich freue mich darüber ganz und gar nicht. Der
Parteimann mag das thun, weil seine Nachegefühle dadurch befriedigt werden.
Der politische Mann kennt solche Gefühle nicht. Der fragt nur, ob es nützt,
wenn ein Gegner gemißhandelt wird."
Noch ein letztes Beispiel, das in spätere Zeit gehört. Als der Abgeordnete
Virchow im Dezember 1881 dem Kanzler den Vorwurf machen zu dürfen
glaubte, er sei inkonsequent gewesen, (inkonsequent heißt im Wörterbuche des
Deutschfreisinns, der die Inkonsequenz zu den sieben Todsünden des Politikers
zählt, wer niemals belehrbar, der Belehrung durch Thatsachen zugänglich ist),
indem er vom Kampfe mit den Ultramontanen abgelassen, den er eine zeitlang
betrieben habe, erhielt er zur Antwort: „Jeder Kampf hat seine Höhe und seine
Hitze. Aber kein Kampf im Innern, zwischen einer Partei und der Regierung, kein
Konflikt kann von mir als eine dauernde und nützliche Institution behandelt
werden. Ich muß ja Kämpfe führen, aber doch nur zu dem Zwecke, Frieden
zu erlangen. Diese Kämpfe können sehr heiß werden, und das hängt nicht
immer von mir allein ab, aber mein Endziel ist dabei doch immer der Friede.
Wenn ich nun glaube, diesem Frieden in der heutigen Zeit mit mehr Wahr¬
scheinlichkeit nahe zu kommen, als in der Zeit, wo des Kampfes Hitze ent¬
brannte, so ist es ja meine Pflicht, dem Frieden meine Aufmerksamkeit zuzu¬
wenden, nicht aber weiter zu fechten, blos um zu fechten wie ein politischer
Raufbold. Kann ich ihn haben, den Frieden, kann ich auch nur einen Waffen¬
stillstand, wie wir deren ja gehabt haben, die Jahrhunderte gedauert haben,
durch einen annehmbaren inoäus vivöucii erlangen, so würde ich pflichtwidrig
handeln, wenn ich das nicht acceptiren wollte." Ähnliches hat er während
der letzten Jahre des Kulturkampfes noch mehr als einmal gesagt.
Diese staatskluge Billigkeit war es, die gegen den Wunsch und Willen
des Kronprinzen und seiner Freunde das deutsche Reich in Versailles zu stände
brachte, so wie es geschehen mußte, nicht mit Gewalt und Drohung, nicht mit
mittelbarem oder unmittelbarem Zwang, sondern durch Vereinbarung auf güt¬
lichem Wege, durch Nachgiebigkeit, der dann Nachgiebigkeit von der andern Seite
entsprach, und die hier weder Verstimmung noch Hintergedanken für die Zu¬
kunft zurückließ. Mit dieser Eigenschaft allein konnte, wie die Dinge lagen,
das neue Reich mit Aussicht auf Dauer gegründet, mit ihr allein konnte es
bis jetzt zusammengehalten werden, und wurde es in der That durch Vertrauen,
Zufriedenheit und guten Willen Aller wie mit goldenen Klammern zusammen¬
gehalten.
erim als Theaterstadt oder
NK
MV gar als Thcaterhauptstadt — so feiern
gegenwärtig die geschmackvollen täglichen Geisteskünder deutscher
Nation in ihren mehr oder minder „ernsten" täglichen und wöchent¬
lichen „Organen" die deutsche Reichshauptstadt. Eine lustige Vor>
Stellung, die das aus rauher Wirklichkeit erstandene und in här¬
testen realen (leider auch sehr realistischen!) Konflikten erhaltene junge Reich
hierbei aushalten muß. Nun, es hat schon so vieles ausgehalten, es wird auch
diesen besondern „Geist" seiner Theaterhauptstadt zu ertragen wissen.
Was die Sache selbst anlangt, so ist es vorläufig schwer zu entscheiden,
ob es ein guter oder ein böser Geist ist, der dabei zum Ausdruck kommt. In
Berlin sind diese „Saison," will sagen diesen Herbst, drei neue, natürlich
„große" und selbstverständlich „ernste" Theater eröffnet worden. Nach den
traurigen Lehren des Theaterwettlaufs in Deutschland und besonders in seiner
Theaterhauptstadt gilt es abzuwarten, ob sie auch als „große" und „ernste"
Theater werden wieder geschlossen werden und — wann dieses Ereignis ein¬
treten wird. Es giebt Leute, die darauf Wetten eingegangen sind. Wir finden
das profan, zumal da sich unter den „stärkenden" Theaterdirektoren — um
im Sinne jener welkenden Herren vom Jokehklub zu reden — sich auch Herr
„Direktor" Oskar Blumenthal mit einem ganz neuen arabischen Vollbluttheater
befindet, der darin einige von Lessings Kunstgesetzen ins deutsche Gedächtnis
„ätzen" will. Zu den „Kunstgesctzen", auf welche dieser selbst in einem Pro¬
loge etwas zu grausame Ausdruck meist anwendbar ist, gehört bekanntlich das¬
jenige, welches sich armen Künstlern gerade in der Theaterlaufbahn so oft un¬
barmherzig ins Gedächtnis „ätzt": Heiter ist der andern Leben, aber ernst,
schwer ernst ist eure Kunst. Darum soll man auf die Kunst nicht wetten. Es
ist nicht fein, selbst nicht zu einer Zeit, wo die Kalauerfabrikantcn sich eigne
Theater bauen, um einen zufällig einmal abgelehnten Kalauer „trotz alledem"
aufzuführen und damit die Gesetze der Kunst ins Gedächtnis zer „ätzen."
Aber es ist doch immerhin bedeutsam, daß man sich heute wenigstens in
Prologen wieder mit den Kunstgesetzen befassen muß. Kunstgesetze — greuliches
Wort für den theaterbesuchenden Börsenmann! Kunst und Gesetze, zwei Dinge,
die ihm gesondert unliebsam genug sind, in einer Vereinigung! Freilich hören
auch nichtbörsenfähige Theaterbesucher — es sind zwar heute seltne Vögel —
von diesen Kunstgesetzcn gerade am wenigsten gern reden. Aber in Emangelung
jeglicher Befolgung berührt es im Theater fast wohlthuend, wieder etwas von
der angestammten „theoretischen Salbaderei" zu vernehmen. Vielleicht folgt
ihr — „wo wird die Hoffnung alle!" — wieder eine poetisch-praktische Heil¬
kur. In Berlin steht man allerdings noch völlig bei der Salbaderei. Die hat
sich diesmal mit den bemeldeten Theatern mächtig aufgethan; und was da
wieder für ideal-realistisch-spiritualistisch-materialistisches Gefasel (diesmal über
die armen Theater) entleert worden ist, das vermag glücklicherweise „keine Feder
zu schildern", wie das betreffende Feuilletonstereotyp (so was läßt sich deutsch
nicht geben) lauten würde. Und damit die lieben politischen Parteigegensätze auch
hier nicht fehlen, so hat sich dem selbstverständlich „ganz-völligen" Dcutschfreisinn
des Blumenthaltheaters in der Jambcnbühne des bekannten Schauspielers Barncch
das nationale Kartell gegenübergestellt, welches „heimscher Dichtung einen
Würdgen Platz bereiten will" (Wildenbruch), aber bis jetzt in unverhältnismäßig
höherm Grade als ihr politisches Vorbild sich noch völlig auf dem internatio¬
nalen Gebiete virtuoser Kunststücke bewegt. Der theatralische Deutschfreisinn
begann mit Lessing, und er konnte für seinen so äußerst Lessingischen Grund¬
satz „Kunst und Natur sind eines nur" natürlich kein passenderes Eröffuungs-
stück wählen, als das so ganz und gar natürliche Kunstwerk „Nathan der
Weise." Das nationale Theater (es hieß früher „Walhall", war aber ein Ope¬
rettentheater, und jetzt heißt es „Berliner Theater") hielt sich an Schiller, aber
es brachte ihn in der SOprozentigen Laubischen Verdünnung des „Demetrius."
Damit war natürlich das ewig grüne Feldgeschrei dramaturgischer sekundärer
„Hie Schiller — hie Lessing!" eröffnet, und untermischt mit neuen und aller-
neuesten politisch-litterarischen Spitzen tobte es mit Anstand ein, zwei Wochen
durch die Blätter. Besteht die Blüte des deutschen Theaters und seine Bedeu¬
tung für das deutsche Publikum wirklich in dem. was man darüber spricht und
schreibt, so war der Masse nach wenigstens wieder einmal ein Gipfelpunkt erstie¬
gen. Durchdrungen von dieser Überzeugung, begannen die reformirenden Theater¬
direktoren ihre Verdienste um die Theaterhauptstadt bereits nach einer Woche
als schrankenlos zu empfinden. Das Lessingtheater — denn so konnte der
frühere kritische Führer der kritischen Leser des Berliner Tageblattes natürlich
nur sein Theater nennen — ersetzte nunmehr Lessing durch Blumenthal und
„Nathan den Weisen" durch den Rabbi Sichel in Erckmann-Chatrians 1/s.un
I'rit«: als Rabbiner, Heiratsvermittler und Franzose eine dem Publikum des
neuen Theaters bei weitem faßlichere Persönlichkeit. Barnays Theater ließ
möglichst bald nicht im Unklaren, daß im Bunde mit dem berühmten Schau¬
spielernamen noch mehrere andre „von gleichem Rufe" sich befanden, von jenem
Rufe, der nicht blos über die unzulänglichsten Mitspieler, sondern auch über
die unzulänglichsten Stücke hinweghilft, und was Herr Fr. Haase alsbald von
diesem „Rufvorrecht" (höchst anzügliches Wort) für einen Gebrauch machte,
spottet aller Beschreibung. Somit sah sich die deutsche Theaterreform bald
wieder auf den äußersten Osten der Theaterhauptstadt verwiesen, wo wiederum
wie vor zwei Jahren ein Unglücklicher viel Geld zusetzt, um teils Michael
Beers „Struensee," teils Max Kretzers „Bürgerlichen Tod" aufzuführen, eine
Geschmacksrichtung, die genau so entlegen ist wie das Theater, an dem sie
sich bethätigt.
Das Bedeutsame, was wir nun in diesen Vorgängen sehen und um des¬
willen wir auch den nicht Berlinischen Leserkreis damit zu behelligen wagen,
liegt durchaus nicht in den zufällig dabei an die Oberfläche geschnellten litte¬
rarischen und unlitterarischen Existenzen. Es liegt in den daran auffällig zu
Tage tretenden Merkmalen und Wandlungen des Zeit- und Volksbewußtseins.
Der mächtige Umschwung, der sich hierin bei uns vollzieht und der, durch eine
nicht abreißende Kette der merkwürdigsten äußern Umstände unterstützt, für ab¬
sehbare Zeit entscheidend zu werde» sich anläßt, teilt die Eigentümlichkeit der
großen friedlichen Revolutionen: er ist weit weniger kenntlich an dem, was in
ihm geschieht, als an dem, was an ihm zu Tage tritt, weit weniger einschnei¬
dend durch äußre Ereignisse, als durch die dabei sich offenbarenden Kennzeichen
einer Bewegung. So waren, um an das hauptsächlichste Beispiel zu erinnern,
die Religionsgespräche, Thesen und Bücherverbrennungen der Reformationszeit
an sich keine sehr auffallenden Ereignisse, sie spielen neben Königsprozessen und
Hinrichtungen, Nationalkonventen und Thermidors eine unscheinbare Rolle. Aber
die Gewalt der dabei wirksamen Persönlichkeiten, die innerliche Erregung und
Teilnahme breitester Volksschichten weisen auf nachhaltigere Umwälzungen, künden
entschiednere Neubildungen, als jene ungeheuern und ungeheuerlichen Kata¬
strophen. Nun, die mannhafte Erhebung aus der vorausgegangenen religiösen
Verwahrlosung und kirchlichen Zerrüttung in der Reformation scheint uns nicht
gar so fern von dem gleichen Vorgange in politischer und sozialer Beziehung,
der unter dem starken Anstoße und der unbeugsamen Führung eines staats¬
männischen Luther sich in unsern Tagen vollzieht, dem gleiche Feststellung und
Dauer verbürgt wird durch die mächtige Beistimmungswoge des Volkes und das
weise Entgegenkommen der staatlichen Gewalten. Das Theater aber, so wenig
es nachgerade noch darauf Anspruch erheben sollte, ist und bleibt doch einmal
„der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters." Selbst inmitten der
Possen und Gemeinheiten, der selbstgefälligen Schwäche und der dreisten Platt¬
heit, die sich auf ihm breit macht, ließ sich, sehr überraschend und gewiß recht
wenig erfreulich für die Beteiligten, jenes Geistes ein Hauch verspüren, der
jetzt bei uns durch alle Gassen weht. staunten doch die geschäftskundigsten
Thcateragenten und die fixeste-, Direktoren, als in den letzten Jahren nicht mit
einem Male, aber doch zusehends die Operettentheater leer wurden, und in der
Komödie das bewährte Genre „Mein Leopold" und „Prvbepfeil" nicht mehr
zog, und die Leute mit einem Male ganz versessen waren auf deu „Wallenstein,"
den „Götz," die „Minna" und was so dergleichen war, kurz auf das ganze
verrufene „feine" und „poetische Genre." Es war die ernst gewordene Zeit, die
hier ihren Schlagschatten auch auf die Kassenbücher der Theater warf. Es
besteht doch eine unzweifelhafte Harmonie zwischen den Stimmungen und Ein¬
drücken, die sich des Tags über in der großen Menge ansammeln, und dem
Vergnügen, daß sie sich des Abends bereitet. Und was ästhetische Belehrung
und Zurechtweisung, das Ankämpfen des Künstlers nicht vermag, nämlich die
Menge auf seine Seite, auf die Seite der Kunst zu ziehen, die schwere Not
der Zeit vermag es. Diese eigentümliche Erscheinung zeigt sich in Deutschland
nicht zum erstenmale. Nicht bloß der Bußprediger, nein auch sein scheinbarer
Gegenpol, der Künstler, kommt mitunter in Versuchung, Gottes Zorn auf sein
Geschlecht herabznwünschen, blos daß es wieder ernst sein lerne. Drum wenn
sich auch dieses Ernstes — eine recht wenig erbauliche Erscheinung in unsrer
Zeit — vorläufig die Spekulation bemächtigt und ihn in nicht immer anmn-
tender Weise ausnutzt, er ist doch vor allem da und beweist durch sein Dasein,
daß es besser sein könnte, auch mit unsern Zuständen im Theaterwesen. Wir
haben vor zwei Jahren gelegentlich an dieser Stelle einen Schmerzensruf er¬
tönen lassen, gerade über diese Zustände in Berlin, als der Hauptstadt des
neuen Reiches. Kurze Zeit darauf trat auch hierin die Krise ein. Wir möchten
sie daher wiederum an dieser Stelle festhalten, um gelegentlich wieder darauf
Bezug nehmen zu können. Diesmal hat das Publikum gezeigt, was es will
oder wollen kann, und hat den Theaterdirektoren bewiesen, daß die Theater¬
besucher einer deutschen Großstadt nicht unbedingt als Meßbudenpublikum zu
behandeln seien. Die Theaterdirektoren haben, wie gesagt, daran nicht das geringste
Verdienst. Sie nützen gegenwärtig die „günstige Konjunktur" aus, und nament¬
lich das deutsche Theater, dessen Leitsterne Ohnet, Sardon und Blumenthal
waren, solange ihm wirklich eine führende Aufgabe im Kunstleben zugefallen
war, kann nun nicht „klassisch" und nicht „deutsch" genug sein. Warum nicht?
Es hat sich zur größten Verwunderung seines poetischen Direktors gezeigt, daß
das „Klassische" und das „Deutsche" wirklich „geht." Herr Blumenthal, dessen
dramatischer Genius die kalauernde Zote und Reporterpoesie bühncnfähig ge¬
macht hat, schwört auf die „keusche, echte Kunst." Welchen Reiz hat doch das
Edle, wenn es — Geld einbringt!
Wir aber wissen leider, daß das Edle schlecht gegründet ist, wenn es sich
auf das gründet, was es unter den Menschen einbringt. Auch mit dem Pochen
auf das Klassische und Keusche ist es nicht gethan, und ebensowenig mit dem
unablässigen Schreien nach dem deutschen dramatischen Genius. Diese unselige
Litteraturgeschichtsmanie hat uns gerade noch gefehlt, um unser Kunstleben
vollends zu verpfuschen. Da kann kein Schrittchen unternommen und keine
Neklamefliege unter den Strich gesetzt werden, ohne dies unter der Perspektive
der Jahrhunderte zu sehen. Da ist Herr Richard Voß der „Byron des Dramas,"
Herr Friedrich Wilhelm Schulze ist der endliche Befreier von dem „Attila
der deutschen Bühne" (das ist nämlich Friedrich Schiller!), der „Fortsetzer"
Klcists. Herr Müller dagegen ist sein „idealistischer Antagonist," und Herr
Blumenthal muß, da er nicht mehr der „ganze Mvliöre" sein kann, zum min¬
desten „eine Ader von Molisre haben." Offenbar ist es die „goldene Ader."
Ist das nun nicht alles nahezu blödsinnig? Du lieber Gott! Richard Voß
und die dramatischen Tageblattsreporter unter das Perspektive der Jahrhunderte!
Glaubt man denn wirklich, daß die Menschheit immer Zeit und Lust haben
wird, im heutigen Stile Kunstgeschichte zu simpel»? Die ewigen Phrasen von
den Blüteperioden und Verfallsperioden, von den „bahnbrechenden Genies" und
den mehr oder minder großen Talenten ewig wiederzukäuen? Wir hoffen ganz
energisch, nein, nicht blos im Interesse ihres Kunstverstandes! Wir leben der
tröstlichen Gewißheit, daß Kürschners Litteratnrkalender keinem sekundärer und
keiner höhern Tochter des zwanzigsten Jahrhunderts litterarischen Ehrgeiz er¬
wecken wird. Ja wir sind so kühn, uns zu der Vorstellung einer Zeit auf¬
zuschwingen, wo Oesers „Aesthetische Briefe" der Jungfrau und Gottschalks
„Poetik" dem Jüngling unbekannt sein werden, wo man nicht mehr in seinem
Tageblättchen literarhistorische Essaycheu mit weiter Perspektive lesen wird,
und wo man endlich aufhören wird, bei Meiers zwischen dem Lachs und dem
Poulardenbraten von „himmelstürmerischem Schaffensdrang" und „titanischen
Trotz" zu schwatzen. Wir denken uns ein Geschlecht, das von Realismus und
Idealismus keine Ahnung haben wird und von „genialen Ringen" keine blasse
Idee, das vielleicht so schrecklich ungebildet sein wird, von künstlerischen „Pro¬
blemen" gar nichts zu wissen und sich keinen Pfifferling um seine kunsthistorische
Rubrik zu kümmern. Nur eine solche Zeit und nur ein solches Geschlecht wird
auch die große Frage des „deutschen dramatischen Genius" glücklich erledigen.
Der alte, immer junge Riehl hat kürzlich in einem seiner altgewohnten
Wandcrvorträge auch die Frage unsers gegenwärtigen Theaterelends behandelt.
Er kam zu dem ganz richtigen Schlüsse, daß der Grund hierfür in dem Ge¬
schmack der reichen Leute zu suchen sei, der hierin gegenwärtig den Ton angebe
und der den Geschmack der Gebildeten, des Künstler- und Gelehrtenstandes,
verdrängt habe. Das ist ganz richtig, aber eine wichtige Zuthat in diesem
Geschmack hat er mindestens nicht besonders betont, so oft er sie auch berührt
hat, das ist die diesen Kreisen besonders gemäße Form der „Kunstsimpelei,"
mit allem was darauf Bezug hat: das Prunken mit dem „Echten", das äußer¬
liche Aufgehen in gelehrtem Kram und launischen Besonderheiten, die alberne
Sucht, Kunstgeschichte machen zu wollen, das „Entdecken" der Talente, das
Ausrufen der Genies, kurz alles das, was sich auf den ersten Blick als Kopie
des Bildungswesens darstellt und in jenen Kreisen leider meist sein Heim auf¬
zuschlagen liebt. So erklärt sich der eigentümliche Zusammenhang, der gegen¬
wärtig auf unsrer Bühne zwischen ihren kostspieligen kunst- und literarhistorischen
Experimenten und ihren flachen Gesellschaftskomödien und blöden Schwanken,
zwischen Richard Wagner und „Treptow und Mannstädt" besteht. Wir meinen
in Bezug auf das Publikum. Da ist der Abgrund dazwischen wirklich nicht so
wcltenweit. Ein Wagnerianer vermag mit der größten Eleganz die Schwärmerei
für „Triften" und die „Götterdämmerung" mit der unermüdlichen Pflege des
Genres der „Kleinen Fischerin" und des Schunkelwalzers zu verbinden, und der
gebildete Börsianer ist für Gretchen und Tuschen im deutschen Theater ebenso
interessirt, wie für eine „Blumenthalpremiöre." Der Zusammenhang zwischen
Theater und Börse in unsrer Zeit, der sich bis auf die Aeußerlichkeiten, die
Agenten, die Thcaterblätter, die Ausdrücke und Geschäftsgepflogenheiten erstreckt,
ist durchaus nicht zufällig und hat tiefere Beziehungen. So ist es mir immer
merkwürdig gewesen, daß der erste Vertreter der „Wagnersache" in der Tages¬
presse ein bekanntes Berliner, recht eigentlich so zu nennendes Börsenblatt ge¬
wesen ist, wie ja der neueste Schacher mit dem Wagnerschen Nachlaß uns die
„Ausnutzung der Konjunktur," von der wir sprachen, ganz besonders lebhaft
vor Augen führt. Weisen wir noch hin auf das dekorative Element, auf das
intime Verhältnis unsrer Bühne nicht blos zum Photographen — das ist ver¬
hältnismäßig unschuldig —, sondern zum Möbelgeschäft, zur Koufektions- und
Toiletten°„Vranche," ja, wie nicht selten vorkommt, zur Restaurationsreklame,
so ist das Bild des modernen Theaters vollständig. Sehr färben- und bedeu¬
tungsreich ist es nicht, dafür aber schlagend. Man könnte freilich ergänzen
niederschlagend; aber doch nur sür den, der nicht aus dem Studium unsrer
Zeitgeschichte erkannt hat, daß es gar nicht anders sein kann und durchaus
nicht immer so zu sein braucht.
Eine Meinung möchten wir hierbei schließlich zur Unterstützung dieser
letzteren, tröstlicheren Aussicht gleich widerlegen: das ist die neuerdings auf¬
getauchte, sehr erklärliche und mit dem Hochdruck der Börsenmittel aufrecht ge¬
haltene Meinung, an die wir diesen Aufsatz anknüpften, von Berlin als der
„Theaterhauptstadt," soweit die deutsche Zunge klingt. Man kann sie zugleich
eine Meinung im kaufmännischen Sinne nennen, insofern sie nämlich das Zu¬
trauen auf eine gewisse geschäftliche Entwicklung bedeutet. Sie ist ebenso falsch
wie verderblich. Falsch im geschäftlichen Sinne, das möchten wir allen Grün¬
dern auf diesem Gebiete zu bedenken geben, und verderblich im künstlerischen.
Die äußerliche Anschauung, daß Berlin als Reichshauptstadt eine bloße Kopie
von London und Paris abgeben werde, hat sich bereits hinlänglich als un¬
begründet erwiesen. Das setzt einen so völligen Verzicht des ^Landes zu Gunsten
eines einzigen Mittelpunktes, oder ein so plötzliches und maßloses Anwachsen
voraus, wie es weder in der Natur der deutscheu Verhältnisse (wie sie sich
nun schon drei Jahrhunderte in mancher Beziehung leider allzu schroff aufrecht
erhalten haben), noch in der Lage und den Aussichten Berlins — glücklicher¬
weise — liegt. Deutschland braucht und will weder ein souveränes Paris
über sich, noch ein kolossales, unbehilfliches London in seiner Mitte. Und was
Berlin selbst betrifft, so zeigt es uns von Tag zu Tage, auch leider allzu
schroff, daß es den Vorzug, Vertreter des einheitlichen Deutschlands und Sitz
seines Kaisers zu sein, ganz und gar nicht mit dem Opfer seiner angestammten
städtischen Eigenart und Unart zu bezahlen gedenkt. Sei es darum. Das
übrige Deutschland wird sie ihm, soweit sie unschädlich ist, gewiß nicht wehren,
aber noch weniger wird es sie sich zur geistigen Richtschnur wählen. Die
Stadt Berlin, wie sie als solche (seitdem sie den Hohenzollern ihren Eintritt
in die Reihe der deutschen Mittelpunkte verdankt) im deutschen Geistesleben
bisher aufgetreten ist, hat sich nichts weniger als das Recht erworben, die
deutsche Gesamtbildung und Weltanschauung darzustellen. Ganz im Gegenteil
hat sie sich als Typus bisher mit Vorliebe in Opposition zu ihr und in ein¬
seitiger Herausarbeitung einzelner ihrer Züge geübt und scheint diese Vorliebe
(die wir ihr nicht verkümmern wollen, ohne daß wir sie darum beneiden) als
Neichshciuptstadt keineswegs verloren zu haben und verlieren zu wollen. Die
Berliner Theaterverhältnisse können also nichts anders darstellen als. auf der
einen Seite die stereotypen Theaterverhältnisse einer Weltstadt, auf der andern
die ganz besondern eines deutsche» Bildungsmittelpunktes. Und nichts andres
als eine sehr unerfreuliche Mischung beider haben sie eben bis jetzt dargestellt.
Ein forterbendes Produkt dieser Mischung soll von nun an die Zukunft der
deutschen dramatischen Dichtung sein? Das glaube wer will, »ud wer die
Deutschen, das Neformationsvolk, nicht kennt. Einige Zeit vielleicht, die Zeit
der ersten Verblüffung, und der Deutsche braucht Zeit, bis er sich von einer
solchen erholt hat. Aber schon konnten wir auf die ersten Regungen der er¬
wachenden Selbstbesinnung auf diesem Gebiete hinweisen, und wir sind über¬
zeugt, sie werden sich mehren. Weder die Bevormundung durch ein bestimmtes
Publikum, noch die Diktatur durch einen bestimmten Stand, noch die Aus¬
artung in weltstüdtisches Bumswesen*) wird sich das Volk Goethes und Schillers,
der Erbe und treue Hüter der antiken klassischen Kunst, in einem wichtigen
Zweige seines Kunstlebens auf die Dauer gefallen lassen.
Wenn auch vielleicht kein Schiller und Goethe und Lessing, noch der
berufene „deutsche dramatische Genius," so doch eine ihrer würdige selbst¬
ständige Wiederherstellung der Bühncnverhältnissc in ihrem Sinne wird sich
erzeugen lassen, und das hoffentlich in nicht zu ferner Zeit. Zu einer solchen
Entwicklung, die ihrer Natur uach und besonders unter den obwaltenden Um¬
ständen nur allmählich und schrittweise vor sich gehen kann, wird schwerlich eine
Theaterhauptstadt das meiste beitragen, die sich in einem gründungslnstigen
Winter plötzlich aufthut, vielleicht am wenigsten Berlin oder diese und jene
deutsche Großstadt. Nein, wie es von je unsern litterarischen Verhältnissen
gemäß war, werden von verschiedenen Landschaften aus, vielleicht am ehesten
gerade wieder von kleineren, von dem Strome abgelegnen Bildnngsmittelpunkten
die Antriebe kommen und diejenigen Werke ausgehen, die dann an den großen
Plätzen die Menge mit sich fortreißen und erheben werden, still gehegte Bildungs¬
schätze vermittelnd, große, einsame Gedanken ausstreuend, treu und ernst ge¬
gründete Gesinnung bewahrend.
nennt Karl Emil Franzos die große Ebene und alles
Land zwischen Don und Donau, auch ein gutes Stuck darüber
hinaus, die ungeheuern Strecken, in denen sich das bunte Völker¬
gemisch der Polen und Ruthcnen, der Magyaren und Südslaven,
der Rumänen und der östlichen Juden, der Zigeuner und Ar¬
menier begegnet, Länder, die das Licht der wahren Kultur kaum beschienen hat,
und in denen die Schcinkultur neben der urwüchsigsten Barbarei zu Hause ist.
In zwei Büchern „Aus Halbasien" und „Vom Don zur Donau" hat Franzos
schon früher seine Eindrücke und Anschauungen aus Halbasien geschildert, Land¬
schaften und Zustände dieser Welt haben ihm meist auch zum Hintergrunde
seiner poetischen Werke (Gedichte, Novellen, Romane) gedient. Es ist mehr
eine Nachlese, die er in den vorliegenden beiden Bänden") veranstaltet, als die
volle Ernte. Aber im Zusammenhange mit den frühern Schilderungen und
Charakteristiken haben auch diese gesammelten Aufsätze Anspruch auf Beachtung,
sie bringen manches Neue und ergänzen vieles schon früher dargestellte. Die
beiden Bände enthalten die Skizzen: „Der Geistertöter," „Der Bart des
Abraham Weinkäfer," „Der Galilei von Barrow," „Der Fehlermacher," „Ein
Zündhölzchen," „Namensstndien," „Volks- und Schwurgerichte im Osten," „Der
deutsche Teufel," „Nathan der Blaubart," „Im Choder," „Wunderkinder des
Ghetto," „Ein Befreier des Judentums," „Lateinische Mädchen," „Eine Un¬
glückliche" und „Frauenleben in Halbasien," Der Grundton ist feuilletonistisch,
vom novellistischen Bilde bis zur Abhandlung wählt Franzos eine bunte
Mannigfaltigkeit der Einkleidungen seiner abwechslungsreichen und lebendig
wiedergegebenen Beobachtungen. Im einzelnen sind es vielfach spaßhafte und
komische Dinge, die der Schriftsteller erzählt; im ganzen behandelt er aber doch
eine sehr ernste Frage: wie dieses Halbasien in Europa verwandelt, die bedenk¬
liche nicht Halb- sondern Viertelskultur und der gleißende Kulturschein in wirk¬
liche Kultur umgebildet werden könne. Franzos ist der Überzeugung, daß die
Völker des Ostens aus sich heraus keine eigne Kultur zu erzengen vermögen,
und so erscheinen ihm die Zustände in dem Maße trostloser, als „der Einfluß
der deutschen Kultur, welche erziehend und vermittelnd wirkte, in stetem Sinken
begriffen ist." Für Halbasien bedeutet die feindselige Ablehnung der deutschen
Kultur einen unermeßlichen, ans Menschenalter hinaus wirkenden und in ab¬
sehbarer Zeit nicht gut zu machenden Schaden. Sie verschuldet jene beiden Ex¬
treme, von denen kaum zu sagen ist, welches gefährlicher und thörichter ist:
den blinden, unbedingten, haltlosen Anschluß an die Formen französischen
Wesens, und das Auftauchen der „autochthonen", „urnationalen", keines frem¬
den Einflusses bedürftigen „Kultur", mit welcher z. B. die Aksakom und Nach¬
folger Rußland beglücken möchten. Die einen wollen um jeden Preis Pariser
werden, und die andern Barbaren bleiben; das langsame Heranreifen nationaler
Kulturen unter der Ägide des deutschen Geistes, der sich gerade im Osten
meist als selbstlos erwiesen hat, erscheint überall unterbrochen.
Die ganze Folge der Gestalten und Szenen halbasiatischen Lebens, die
Franzos aus der großen Ebene vorführt, soll diese Wahrheiten erhärten. Nicht
immer unmittelbar, nicht immer in so direkter Ansprache wie in den Aufsätzen
„Frauenleben in Halbasien", doch immer verständlich genug bezeichnet Franzos
den Anschluß an die deutsche Kultur als das Mittel, die unerfreulichen Zu¬
stände zu überwinden, die seine Skizzen so anschaulich vor Angen führen.
Wenn es nur ebenso leicht Ware, Wesen und Mittel der deutschen Kultur genau
zu bezeichnen, oder nachzuweisen, wo bei den kleinern Völkern Osteuropas das
Streben nach langsamer Entwicklung eigner Kultur Berechtigung hat, und wo es
als Angriff auf das Deutschtum erscheint. Bei den verzwackten Völkcrverhält-
nissen in der großen Ebene spielen neben den Nachwirkungen vielhundertjähriger
Mißwirtschaft die politischen Fragen und Kämpfe des Augenblicks eine so
große Rolle, daß der draußen stehende sich des Urteils begeben muß und selbst
durch einen landeskundigen Führer wie Franzos nicht immer überzeugt werden
kann, daß die Heilmittel und Hilfsmittel so einfach wären, wie sie der An¬
schauung erscheinen, die man in Österreich „Josefinismus" nennt, und von der
sich auch Franzos stark erfüllt zeigt. Es mag sein, daß beim Fortbestand des
alten Österreichs die in den Überlieferungen des Josefinismus, der Staats-
allgewcilt grau gewordene, mit einer sehr unzulänglichen und dürftigen, ihrem
Keime nach aber doch deutschen Bildung ausgerüstete Beamtenschaft noch manches
zum guten hätte wirken und für einzelne Keime wahrhafter Gesittung Sorge
tragen können. Das alte Österreich aber ist seit 1848 unwiederbringlich dahin,
und der moderne Konstitutionalismus mit allen seinem Zubehör ist in Neu¬
österreich herrschend geworden. Daß die Ergebnisse dieser geschichtlichen Wand¬
lung nicht durchgehend lieblich sind, entnehmen wir aus tausend Zeichen; wie
ihnen zu entrinnen sei, sagt uns auch das neueste Programm der „Vereinigten
deutschen Linken" des eisleithanischen österreichischen Abgeordnetenhauses nicht.
Wie verhängnisvoll sich die einfache Übertragung der westeuropäischen „Er¬
rungenschaften" für die große Ebene von Halbasien zum Teil erwiesen hat,
stellt Franzos in verschiednen seiner Skizzen, am eindringlichsten in der Schil¬
derung der „Volks- und Schwurgerichte im Osten" dar. Auch in „Halbasien"
arbeitet seit etwa zwanzig Jahren die Jury. Frankreich und Deutschland,
meinte man dort, lassen nur durch Männer aus dem Volke die Schuldfrage
entscheiden. Das entspricht den modernen Anschauungen, das ist ein Fortschritt.
Und wir wollen auch fortschreiten. So geschah es in Rußland, in Rumänien,
in Ungarn. Nur in Österreich hatte man einige Bedenken, ob die neue Ein¬
richtung auch auf die östlichen Provinzen ausgedehnt werden dürfe. Man
scheint diese Bedenken als grundlos befunden zu haben, denn das Gesetz wurde
für das ganze Reich erlassen. War aber in der That in Halbasien jede
Debatte überflüssig? Handelte mau, als sie völlig unterlassen wurde, bloß in
gerechtem Selbstbewußtsein oder in unverantwortlicher Gewissenlosigkeit? Ist
das Volk in Nußland, Rumänien und Galizien ebenso reif für die Jury wie
das in Frankreich und Deutschland? Haben sich die Geschworenen in Halbasien
als gerechte Richter erwiesen? Zwanzig Jahre sind keine allzulange Zeit, aber
doch immerhin genügend, ein Urteil zu ermöglichen. Ich will es zunächst nicht
selbst formuliren, soudern nnr einige Thatsachen bieten. Aus einer Sammlung,
die Franzos über Schwurgerichtsfälle in Galizien angelegt hat, greift er drei
Beispiele heraus, die den Lesern des Westens allerdings geradezu unglaublich
klingen, obwohl sich der Schriftsteller ausdrücklich dagegen verwahrt, daß
er grelle Ausnahmefälle biete. Wir teilen von seinen Beispielen nur eins
mit. weil es unsern Lesern die Wild und Erbitterung der Parteien in Galizien
verdeutlichen hilft und sie mit einem Schlage auf den zerklüfteten Boden ver¬
setzt, den Franzos zu schildern unternimmt.
Es war im Frühling 1879, als eine Stadt des westlichen Galiziens durch
die plötzliche Verhaftung ihres reichsten und angesehensten Bürgers in größte
Aufregung versetzt wurde. Der Mann — ich will nnr seinen Vornamen
Thaddcius hierhersetzen — bekleidete ein wichtiges Ehrenamt, war Vorstand
einiger wohlthätigen Vereine und galt nicht blos als der reichste, sondern auch
als der ehrenwerteste Mann der Stadt. Täglich ging er zur Messe und hatte
sowohl die Kirche als einige nationale Institute mit reichen Spenden bedacht.
Besonders das letztere hatte ihn in den Augen seiner polnischen Mitbürger
hoch erhoben, denn schone Worte für die heilige Sache der Nation hört man
dort zu Lande häufig, aber die Thaten sind spärlich. Was Herrn Thaddäus
zu solchen Opfern bewogen hatte, war sicherlich nur sein Herz und nicht etwa
die Stimme des Blutes, denn er führte einen urdeutschen Namen und war der
Sohn deutscher Eltern. Vielleicht eben darum gab er sich doppelt eifrig als
polnischen Patrioten.
Dieser Mann nun wurde eines Tages als Untersuchungsgefangener aus
seinem stattlichen Hause ins Kriminalgebäude übergeführt. Das regte seine
Freunde und Mitbürger nicht blos deshalb auf, weil man Herrn Thaddäus
keiner Missethat fähig hielt, sondern namentlich, weil eine Untersuchungshaft
nach der milden, an sich gewiß nicht tadelnswerten Praxis der dortigen Gerichte
nur dann verhängt wird, wenn ein Fluchtverdacht besteht, ein Fall, der hier
durch Stellung und Besitz des Angeklagten von vornherein fast undenkbar war.
Es erwies sich aber bald, daß das Gericht zu dieser Maßregel genötigt gewesen
war. Herr Thaddäus war des Meineids angeklagt und hatte den Versuch ge¬
macht, einen Belastungszeugen durch Geld und gute Worte zu seinen Gunsten
zu stimmen.
Der Sachverhalt war folgender. Herr Thaddäus dankte sein Vermögen
einer trüben Quelle, er war der listigste und grausamste Wucherer des Kreises
und seine Deklamationen gegen die „verdammten Juden" waren weniger durch,
sittliche Entrüstung hervorgerufen, als durch den Neid des Konkurrenten. Seit
vierzig Jahren hatte er sein Handwerk mit steigendem Erfolg getrieben, seine
Klientel, die namentlich aus masurischen Bauern der Umgebung, ferner aus
Edelleuten und Beamten bestand, ging zwar an ihm zu Grunde, ergänzte sich
jedoch immer wieder durch neue Opfer. Herr Thaddäus wuchs an Reichtum
und Ansehen und blieb dabei außer jeder Gefahr, denn so lange die Wucher-
gesetze in Österreich bestanden, wußte er seine Geschäfte zu maskiren, ließ dann,
als diese Gesetze im Mai 1863 unglücklicherweise aufgehoben wurden, die Maske
fallen, und nahm sie, als am 19. Juli 1877 abermals ein Wuchergesetz für
das östliche Cisleithanien in Kraft trat, seufzend aber gefaßt wieder vor das
biedere Antlitz. Hatte er in der glücklichen Zwischenzeit, wo man öffentlich
beliebig hohe Prozente fordern und einklagen konnte, von den Schuldnern die
Wechsel nur in der Höhe der wirklich empfangner Valuta ausstellen laisser und
dann die hundert, zweihundert oder vierhundert Prozent ruhig dazugeschlagen,
so mußte er nun wieder zu dem alten Mittel greifen: der Schuldner stellte den
Wechsel gleich auf den doppelten oder dreifachen Betrag des wirklich empfangenen
aus und unterschrieb überdies eine Bestätigung, daß ihm diese Wechselsumme
baar und ohne jeden Abzug eingehändigt worden sei. Konnte er am Verfall¬
tage nicht zahlen, so klagte Herr Thaddäus den Wechsel mit sechsprozentigen
Zinsen ein und war dann erst recht ein Ehrenmann. Denn sechs vom Hundert
sind in jenen Ländern mit barbarischen Kreditvcrhältnissen ein unerhört milder
Zinsfuß.
Nach diesem Rezept hatte der Mann auch im August 1877 ein Geschäft
mit einem Beamten der Karl-Ludwigsbahn abgeschlossen, einem älteren Manne
aus Steiermark, der durch verschiedene Unglttcksfälle in so schwere Not geraten
war, daß ihm selbst die Hilfe unsers edeln Menschenfreundes willkommen kam.
Der Beamte hatte zweihundert Gulden erhalten und dafür einen Wechsel von
vierhundert Gulden ausgestellt, im November zahlbar, dazu jene Bestätigung.
Als er am Verfalltage nicht zahlen konnte, hatte ihm Herr Thciddäus gro߬
mütig bis zum Februar prolougirt, nur lauteten jetzt Wechsel und Bestätigung
auf sechshundert Gulden. An diesem zweiten Verfalltage erbot sich der Beamte,
dreihundert Gulden sofort, die andre Hälfte im Herbst 1878 zu zahlen. Herr
Thaddäus war es zufrieden, wenn ihm der Schuldner für den Herbst wieder
Wechsel und Bestätigung auf sechshundert Gulden ausstellte. Darauf konnte
der unglückliche Manu nicht eingehen, und Herr Thaddäus klagte den Wechsel
samt sechsprozcntigen Zinsen ein. Nun ging der Beamte zu einem Advokaten
und erzählte ihm den Fall. Es war dies ein junger, eifriger und ehrlicher
Mann, der sich sofort mit größter Energie für seinen Klienten einsetzte. Nach¬
dem eine gütliche Ausgleichung mißglückt war, erhob er gegen die Klage die
Einwendung der nicht vollständig erhaltnen Valuta, Herr Thaddäus lächelte
Hohn und rückte mit der Bestätigung heraus. Als aber der Advokat seine
Einwendung festhielt und Schwur und Zeugenbeweis anbot, daß nur zwei¬
hundert Gulden wirklich entlehnt worden, da lächelte Herr Thaddäus nicht
mehr, verlor den Kopf, gab seinem Advokaten die widersprechendsten Informationen
und brachte es durch sein Ungeschick dazu, daß der Rechtsfreund des Gegners
sogar den Spieß umkehren und ihm den Eid zuschieben konnte. Nun stand die
Sache so: leistete Thaddäus den Eid, so erhielt er sein Geld und war auch
im übrigen geborgen, leistete er ihn nicht, so war sein Gewinn verloren, und
überdies stand dann die Anklage wegen Wuchers in Sicht. Der fromme
Thaddäus besann sich nicht lange: er beschwor es, daß der Schuldner wirklich
baare sechshundert Gulden erhalten habe. Und dieser wurde sachfällig und war
ein ruinirter Mann.
Das konnte auch jener junge Advokat nicht ändern, machte aber nun im
Namen seines Klienten gegen Herrn Thaddäus die Anzeige wegen Meineids.
Die Untersuchung begann und ergab sehr bald gravirende Resultate. Wohl
war der einzige Mensch, der außer den Beteiligten bei Abschluß des Geschäfts
zugegen gewesen war — gleichfalls ein Eisenbahnbeamter aus den deutschen Pro¬
vinzen — deshalb nicht ganz zuverlässig, weil auch er ganz in den Händen
desselben Gläubigers war; immerhin war dem Manne zuzutrauen, daß er seine
ehrliche Seele mit keinem Meineid belasten würde.
Diese Sachlage war bedenklich, und Herr Thaddäus wählte jedenfalls das
ungeschickteste Mittel, sie gefährlicher zu gestalten: er bestürmte jenen Zeugen
mit Drohungen und Versprechungen. Dieser machte Anzeige davon, und der
angesehene Bürger mußte verhaftet werden.
Die drei Wochen, die zwischen diesem Ereignis und der Schwurgerichts¬
verhandlung lagen, vergingen nicht bloß der Hauptperson, sondern auch der
Bürgerschaft in fieberhafter Aufregung und Spannung, denn der Ausgang
war keineswegs so gewiß vorauszusehen, als der Leser nach dem Thatbestande
vermuten könnte. Dem reichsten, populärsten Bürger der Stadt standen zwei
„fremde Hungerleider" gegenüber, zwei „verdammte Deutsche," und es war den
Geschworenen freigegeben, wem sie größern Glauben schenken wollten. Daß
jene beiden Männer Eisenbahnbeamte aus den deutschen Provinzen waren,
entschied die Sache in den Augen jedes Bürgers der Stadt zu ihren Ungunsten.
Wären nur polnische Bürger zur Jury berufen worden, Herr Thaddäus hätte
selbst auf seinem harten Lager ruhig schlafen können. Aber zu diesem Amte
waren ja auch Juden beigezogen, welche diesem Manne, als ihrem grimmigsten
Feinde, unmöglich gut sein konnten, ferner wohlhabende masurische Bauern,
die an dem biedern Thaddäus das harte Schicksal manches ihrer Brüder zu
rächen hatten.
In welcher Stärke diese drei Schichten unter den Geschworenen vertreten
waren, davon hing das Schicksal des Angeklagten ab. Und darum hatte bei
dieser Verhandlung nur ein Umstand entscheidendes Interesse, der im Westen
fast nebensächlich ist: die Bildung der Geschworenenbank. Das wußten Staats¬
anwalt und Verteidiger und handelten darnach. Jede dieser Parteien hat das
Recht sechs Geschworene abzulehnen. Und so ergab sich die merkwürdige That¬
sache, daß die ersten zwölf aufgelösten Männer sämtlich abgelehnt wurden.
War es ein Pole, so verwarf ihn der Staatsanwalt, war es ein Masure oder ein
Jude, so legte der Verteidiger sein Veto ein. Die nächsten zwölf konnten dann
freilich ohne Einspruch Platz nehmen, wie das Los fiel. Dasselbe bestimmte
fünf Juden, zwei Bauern, fünf Polen zu dem Amte.
Der Verteidiger atmete auf, der Staatsanwalt blickte düster vor sich nieder.
In der That war die Anklage bereits von vornherein verloren. Denn ob¬
wohl die Verhandlung die Schuld des Angeklagten bis zur Evidenz darlegte,
lautete das Urteil doch, wie vorauszusehen war, sieben Stimmen „schuldig"!
fünf Stimmen „nichtschuldig"! Eine Verurteilung kann nur mit Zweidrittel¬
mehrheit erfolgen — Herr Thaddäus war frei, und wenn er nicht gestorben
ist, so wuchert er noch heute.
Die Bedenken, welche sich aus Vorkommnissen solcher Art gegen die Vor-
trefflichkeit der Schwurgerichte ergeben mögen, kehren dem aufmerksamen Leser
auch in Fällen wieder, wo der Verfasser gegen die angewandten Kulturmittel
keine Bedenken hat, wenigstens keine äußert. Wenn man verpestete Stickluft
statt durch Zuführung frischer Luft durch Anwendung von Räucherkerzen und
Parfüms verbessern will, verfehlt man bekanntlich den Zweck. Die Rolle dieser
Räucherkerzen und Wohlgerüche, die den Qualm und Dunst gewisser Räume
nur vermehren können, spielen in den österreichischen Verhältnissen die Wiener
Zeitungen. Wenn uns Franzos in dem höchst charakteristischen Sittenbilde „Der
Galilei von Barrow" den „gebildeten" Galizier vorführt, der sich mit dem
Pächter zusammen die „Neue Freie Presse" hält und täglich durchliest, so sollte
ein Wort über die Wirkung dieser Art von Journalistik auf die Halbbildung
eben auch nicht fehlen.
Eine große Rolle spielen in den vorliegenden Bänden auch wieder die Ver¬
hältnisse der Juden des Ostens. Nicht blos weil sie der Verfasser am
besten und gründlichsten kennt, sondern auch weil das jüdische Element in dem
Völker- und Sprachengewirr der großen Ebene eine besondre Bedeutung hat.
Franzos ist weit entfernt, hier schön zu färben. So sehr es ihn entrüstet, daß
seine frühern Schilderungen im antisemitischen Parteiinteresse ausgenutzt worden
sind, so fährt er doch auch in diesen Skizzen fort, die zum Teil trostlosen, ja
haarsträubenden jüdischen Zustände Halbasiens offen zu besprechen. Das Äußerste,
was diese Bände bieten, sind „Der Fehlermacher" und „Nathan der Blaubart."
Das erstgenannte Bild führt den Lesern den vortrefflichen Reh Chain, von Kon¬
fession Barbier, von Profession „Fehlermacher" vor, der den jungen Leuten
Krampfadern, Säbelbeine, Lungensucht und grauen Staar macht, um sie der
militärischen Aushebung zu entziehen. Die Todesangst der Juden vor dem Sol¬
datenwerden führt Franzos nur zum Teil auf ihre unüberwindliche Feigheit,
zum Teil auf die religiöse Befangenheit zurück. „Wer Soldat wird, kann die
Vorschriften bezüglich Speise, Tracht, Gebet, Heiligung der Festtage u. s. w.
nicht mehr einhalten, hört also auf, rechtgläubiger Jude zu sein." Um diesem
Schicksale zu entrinnen, scheut man sich nicht, für ein paar Gulden die Dienste
eines solchen Fehlermachers in Anspruch zu nehmen, läuft man Gefahr, zeit¬
lebens ein blindes Ange oder eine Schädigung der Lunge zu behalten. Mit
Recht setzt Franzos seiner Erzählung hinzu: „Ich fuhr weiter in das Kotmeer
der Ebene hinein. Aber wozu noch diesen Sumpf schildern? Er ist, selbst in
den trübsten Tagen des Vorfrühlings, weit minder tief und abscheulich, als
der, in den ich den Leser soeben habe blicken lassen. Ach, was liegt alles in
diesem schlimmen Kotmeer begraben. Nicht etwa blos der „Charakter" Reb
Chaims und seiner Metiergenossen, sondern auch das Pflichtgefühl seiner Mit¬
bürger und die moralische Kraft des Staates, der nach einer mehr als hundert¬
jährigen Herrschaft die Beherrschten so wenig emporzuheben vermocht hat, daß
ihnen sein Dienst schrecklicher erscheint, als die Kunst des Fehlermachers!" Aber
mit welchen Menschen und Zuständen etwa dieser Staat zu kämpfen hat, offen¬
bart doch Franzos gleich darauf selbst, wenn er die Geschichte des Blaubarts
von Barrow erzählt, jenes Nathan, der, ohne ein leidenschaftlicher oder Sinn-
licher Mensch zu sein, gleichwohl in seinem dreißigsten Jahre das sechste Weil)
genommen hat, weil ihm die jüdischen Gesetze beliebige Trauung und Scheidung
gestatten und zur Scheiutrauung eines elfjährigen Judenbuben mit einer funfzig¬
jährigen alten Köchin oder Trödlcrswitwe gefällig die Hand bieten- Auch diesem
Wahnsinn liegt die Furcht vor dem Militärdienst zu grunde, andern wider¬
wärtigen Judenehcn, von denen der Verfasser zu erzählen weiß, die Erwerb¬
gier oder die religiöse Scheu vor einer kinderlosen Ehe. welche dem orthodoxen
Juden eigentümlich ist.
Die Mehrzahl der Bilder, die Franzos entwirft, hinterläßt einen höchst
düstern und peinlichen Eindruck. Die frische, lebensvolle Darstellung allein
kann darüber nicht hinweghelfen, selbst der Humor, den der Verfasser gelegent¬
lich entwickelt, erscheint gepreßt. Die widrigen Erscheinungen halbasiatischcu
Lebens drücken nicht mehr auf den Schriftsteller, aber sie treten als Gespenster
in seine Träume. Wir glauben nicht, daß die Wahrheit feiner Berichte irgend
bestritten werden kann, höchstens könnte man ihn anschuldigen, daß er den
etwaigen günstigen Ausnahmen einen zu geringen Wert beigelegt habe. Doch
wo er der „Ausnahmen" gedenkt, kommt er gleichfalls zu bedenklichen Ergeb¬
nissen. In dem größern Aufsatze über „Frauenleben in Halbasien" kann der
Verfasser dem alten Thema vom Prügeln der Frauen nicht ausweichen. Bei
einem mehrwochentlichen Aufenthalte im Dorfe Berchomet in der Bukowina, er¬
zählt er uns, lernte ich einen jungen reichen Bauern kennen, der an Begabung
und Bildungsstreben turmhoch über seinesgleichen stand. Er sprach etwas
deutsch, las und schrieb fertig seine ruthenische Muttersprache, war auf ein
landwirtschaftliches und ein politisches Wochenblatt abonnirt, hielt seine große
Wirtschaft ausgezeichnet im Stande, förderte die Schule seines Dorfes, kurz,
mein Michelko war ein wahrer Mustermensch. Auch hatte er sein blühendes,
prächtiges Weib in seiner Art gewiß sehr lieb, aber er prügelte es doch recht
häusig und ausgiebig, wenn er einen Grund dazu zu haben glaubte oder auch
ohne denselben, wie es eben kam. Ich machte ihm einmal sanfte Vorwürfe
darüber: Wie kann ein Mensch wie Sie derlei thun? — Er blickte mich höchst
erstaunt an. Aber es ist mein Weib! rief er. — Eben darum, erwiederte ich. —
Nun wuchs sein Erstaunen. Mein Weib, wiederholte er. Eine Fremde würde
ich nicht anrühren. Aber wer anders, als ich, soll mein Weib schlagen? —
Muß es denn überhaupt geschehen? fragte ich. — Es muß! erwiederte er ernst,
im Tone tiefster Überzeugung. Man muß jeder, selbst der besten, zuweilen den
Unterschied fühlbar machen. — Den Unterschied? Aber ist ein Weib kein mensch-
liches Wesen? — Ja, aber in andrer Art. Wir sind Männer, und sie sind
Weiber. Das ist doch klar! — Ich schwieg; ich glaube, ich hätte diesem unge¬
wöhnlich talentirter Menschen eher die Hegelsche Philosophie beibringen können
als die Ansicht, daß man sein Weib nicht schlagen dürfe.
Die wenigen wirklichen Ausnahmen, so will uns der Verfasser andeuten,
gehören eben nicht mehr zu Halbasien. Und so lautet denn auch sein Omega,
wie sein Alpha: deutsche Kultur, wirkliche Kultur für diese Ostländer! Wie
gering die Aussichten für die Verwirklichung dieses Ideals sind, sagt sich
Franzos wohl selbst, uns Nichtösterreichern erscheinen sie noch viel geringer als
ihm. Zum Verständnis der ungeheuern Schwierigkeiten, mit denen Bildung
und menschenwürdiges Leben in Halbasien zu kämpfen haben, tragen Franzos'
Skizzenbücher ein beträchtliches bei, und so seien denn auch die beiden Bände
„Aus der großen Ebene" der Teilnahme denkender Leser empfohlen.
soeben beendigten preußischen Landtagswahl durfte von den ver-
schiedensten Gesichtspunkten aus ein besonderes Interesse entgegen-
gebracht werden. Nach den schweren Heimsuchungen, die das
Drei-Kaiser-Jahr über die Nation verhängt hatte, war die Land-
eine Mahnung zur innern Sammlung, zur Abklärung
der politischen Leidenschaften, zur besonnenen Stellungnahme angesichts einer
mannigfach veränderten Lage. Der Herrscher, der bereits bewiesen hatte, das;
er nicht nur der Erbe seiner Väter, sondern in Wahrheit der Führer seines
Volkes zu sein ebenso befähigt als entschlossen war, hatte alle Wohldenkenden
aufgerufen, „die Wohlfahrt des Landes in gemeinschaftlicher, durch die Ver¬
schiedenheit prinzipieller Grundanschauungen nicht gestörter Arbeit fördern zu
helfen," und er hatte damit im Volke weithin Zustimmung gefunden. An sich
war es einerseits ein keineswegs erwünschter Umstand, daß der Thronbesteigung
alsbald eine Neuwahl folgte. Es war zu besorgen, daß die durch das Jahr
hervorgerufenen schwierigen Verhältnisse durch eine weitere Steigerung des ohne¬
hin so leidenschaftlichen Parteikampfes gemehrt wurden, der bereits Formen
angenommen hatte, wie sie kaum in der Konfliktszeit dagewesen waren, und
auf Gebiete erstreckt worden war, vor denen unter dem ehrfurchtgebietenden
Szepter unsers alten Kaisers alle Gegensätze Halt gemacht hatten. Diesen Zu¬
stand zu beenden, den Thron und die Königsfamilie nicht länger der leiden¬
schaftlichen Tagesdiskussion auszusetzen, lag im Interesse aller Vaterlandsfreunde.
Beiden, dem Könige wie dem Volke, mußte an einem Zeitabschnitte ruhiger
innerer Sammlung, stillen Fortarbeitens gelegen sein, um für neue Reform¬
arbeit die rechte Vorbereitung, eine größere Einmütigkeit der Parteien und die
rechten Ausgangspunkte zu gewinnen. Hierfür bot die nun einmal unver¬
meidliche Landtagsneuwahl andrerseits doch gewisse Voraussetzungen.
Die abgelaufene Legislaturperiode hatte den Kirchcnfrieden mit Rom zu
Stande gebracht. Man durfte somit erwarten, wenigstens nach dieser Richtung
hin ein Element langjähriger Zwietracht aus dem Wahlkampfe ausgeschieden
und die Zentrumspartei eine Haltung einnehmen zu sehen, die dem eingetretenen
Friedenszustande, den guten Beziehungen zwischen Berlin und Rom, der bevor¬
stehenden Begegnung des Kaisers mit dem Papste entsprechen wurde. Das
Verhalten der Führer in dem seit dem Friedensgesetze vom 29. April 1887
abgelaufenen Jahre hatte freilich wenig dazu beigetragen, solche Erwartungen
zu rechtfertigen — die Erinnerung an den Windthorstschcn Schulantrag, an
seine Sprache bei der Beratung des Kultusetats, an die Trierer Generalversamm¬
lung lag nahe genug —; dennoch war die Annahme nicht unbegründet, daß
die neue Lage dem Zentrum, einer preußischen Partei, zunächst ein ruhiges
Abwarten als ein Gebot ebenso der politischen Klugheit wie des politischen
Auslandes auferlegen würde. Zumal nach der Huldigungsadresfe ber Bischöfe
vom 29. August durfte vorausgesetzt werden, daß diese ihren Einfluß im Sinne
patriotischer Mäßigung geltend machen würden.
Die Wiederherstellung des Kirchenfriedens im Nahmen des Möglichen war
einer der letzten Wünsche und eine der letzten Thaten unsers ersten Kaisers.
Nachdem es ihm beschieden gewesen war, die höchsten patriotischen Ziele der
Nation im Einklang mit dem monarchischen Prinzip seines Hauses zu ver¬
wirklichen, hatte es ihn umsomehr bekümmert, daß den Deutschen diese hei߬
ersehnte und heißcrrungene Frucht durch die schwersten innern Kämpfe vergällt
wurde. Der Individualismus im deutschen Volke brauchte Zeit und mußte
austoben, ehe er sich den neuen Ordnungen der Reichsgemeinschaft einpaßte;
die neue Zeit brachte neue Strömungen, für die das sichere Bett erst geschaffen
werden mußte, neue Ansprüche, für deren Befriedigung erst die Form zu finden
war. So blieb die 27jährige Regierungszeit Kaiser Wilhelms I. von den
schwersten Aufgaben, die in unsern Tagen einem Herrscher zufallen konnten, er¬
füllt, Aufgaben, wie sie in solchem Alter noch nie ein Monarch gelöst hat. Er
unterzog sich ihnen mit der Hoffnung auf eine um so gesichertere Zukunft, für
die seinem Sohne und Nachfolger ein nach außen geachtetes, gut bewehrtes
und in sichern Bündnissen stehendes Reich, nach innen ein einiges und befrie¬
digtes Volk zu hinterlassen sein Streben war. Diesem Ziele hat er manches
Opfer seiner Überzeugung gebracht, wie denn überhaupt die erhabensten Seiten
seiner Herrschergröße in der Selbstbescheidung und Unterordnung der eignen
Anschauung unter Staatszweck und Königspflicht beruhen.
Diesem schlichten Heldentum des großen Königs und Kaisers verdankt das
Kirchengesetz vom 29. April 1887 die Unterschrift. In Rom nahm man es
mit lautem Danke, in den Zentrumskreisen des eignen Landes zum Teil mit
unverhehlter Abneigung entgegen. Während der Papst seine hohe Befriedigung
aussprach und in dem Breve an den Erzbischof von Köln verkündete, daß
nunmehr den Katholiken Preußens die Ausübung der Religion wieder in
befriedigender Weise gesichert sei, ferner in der Ansprache an das Kardinals-
kollcgium vom 23. Mai verkündete: oorts ii-sxsrriino M vertiimini lois iiu-
positus, .... proptores^us Oco sinZuIg-roh Zr^tiī se gAinius se naveinus,
sahen diejenigen Katholiken, die dem Papste ihren Dank darbringen wollten,
in der Zcntrumspresse sich aufs heftigste geschmäht und angegriffen; es genügt
in dieser Beziehung an die Erklärung des Grafen Brühl vom 14. Mai v. I.
zu erinnern. Die Elemente, die im Frühling 1871 ohne, ja gegen den Willen
des damaligen Papstes in so überraschender Weise den Kampf gegen Reich und
Staat begonnen und sechzehn Jahre lang durchgeführt hatten, wollten in ihren
Plänen nicht durch seinen Nachfolger gestört sein.
Man wende nicht ein, die Zentrumsführerschaft habe durch ihr Verhalten
in der Zollfrage der Regierung ein Entgegenkommen und eine Bereitwilligkeit
zu friedlicher Mitarbeit bethätigt; ein andres Verhalten hätte einfach die
Existenz der Partei und ihrer Parlamentsfraktion in Frage gestellt. Überwiegend
aus ländlichen Wahlkreisen hervorgegangen, konnte sie sich nicht in geraden
Gegensatz zu deren materiellen Bedürfnissen stellen. Die Stärkung des Staates
durch Bewilligung der Zölle war daher für Herrn Windhorst ein unausweich¬
liches Gebot der Lage gewesen, die damit verbundene Herstellung einer konser¬
vativ-klerikalen Mehrheit sollte ihm weitere günstige Aussichten eröffnen. Ebenso
konnte die Partei ihre Mitwirkung auf dem Gebiete der Sozialgesetzgebung nicht
versagen. Dagegen hatte ihr Verhalten in der Septennatsfrage bewiesen, wie
wenig ihr an der Förderung des innern Friedens gelegen und wie gering die
Widerstandskraft der einsichtigeren Elemente gegen die Windthorstsche Politik
und deren Ziele war. Dieselbe Unbotmäßigkeit, welche die Zentrumsführerschaft
hierbei dem Papste gegenüber an den Tag gelegt hatte, bekundete sie auch an¬
gesichts des Friedensschlusses. Konnte sich das Zentrum der Annahme des
Kirchengesetzes füglich nicht entgegenstellen, so ließ dagegen die Sprache der Zen-
trumspresfe niemanden im Zweifel, mit welchen Gesinnungen der Friede ange¬
nommen wurde. Ging doch ein schlesisches Blatt so weit, zu erklären, daß
„der Papst das Zentrum verleugnet habe." Im August versammelten sich
die Bischöfe zwar in Fulda und gaben nach Beratung der Huldigungsadresse
ihrem Dank in einem gemeinsamen Hirtenbriefe Ausdruck, worin sie die Gläu¬
bigen aufforderten, „beim Anblick bessrer Zeiten freudigen Gefühlen Raum zu
geben," aber im September folgte die Trierer Katholikenversammlung, die eine
derartige Dankeskundgebung nicht für erforderlich erachtete, auf der dagegen
Herr Windthorst den Kampf um die Schule von neuem ankündigte. Ein in
Schlesien gemachter Versuch, die katholischen Pfarrer zu verpflichten, eine Stelle,
an der das staatliche Einspruchsrecht geübt worden sei, überhaupt nicht arm-
nehmen, ward zwar von dem Fürstbischof zu Breslau unterdrückt, bleibt aber
bezeichnend für den Geist der Auflehnung gegen höchste päpstliche Entscheidung,
wie er bei diesem Kirchengesetz in kaum je erhörter Weise hervortrat. Im Fe¬
bruar stellte Herr Windthorst auf dem Landtage seine bekannten Schulauträge,
aus seinem Verhalten bei der Beratung des Kultusetats hätte niemand ent¬
nehmen können, daß diese doch fast ein Jahr nach dem Friedensschlüsse stattfand.
Die schweren Schickungen, die dann über Deutschland hereinbrachen, drängten
wie so viele andre Fragen auch die kirchliche in den Hintergrund; erst mit
der Wahlbewegung für die Landtagswahl erschien das Zentrum wieder auf
dem Plane. Die Verhältnisse hatten sich inzwischen wesentlich geändert. Das
Drei-Kaiser-Jahr hatte die Tragfähigkeit des jungen Reiches der denkbar
schwersten Probe unterworfen, und das Reich hatte sie glänzend bestanden. Aus
der Einmütigkeit der Trauer war im Süden wie im Norden eine entschlossene
Einmütigkeit der nationalen Gesinnung erwachsen, für partikularistische Regungen,
die ehedem mit zu den stärksten Nährwurzeln des Zentrums gehört hatten,
schien fortan nur noch geringe Aussicht zu sein. Deutschlands ausschlaggebende
Stellung war eher befestigt als gemindert, im Innern war die Nation in
weitesten Kreisen von einer unverkennbaren Beruhigung und Zuversicht erfüllt.
Unter einer so gestalteten Gesamtlage erging am 4. Oktober, als der Kaiser
auf dem Wege uach Rom bereits in Wien weilte, der aus dem Monat Juni (!)
datirte Wahlaufruf des Zentrums. Nicht ohne Mühe war aus ihm zu ersehen,
ob er vor oder nach dem 16. Juni redigirt war, zweimal sind darin Stellen
aus dem Erlasse Kaiser Friedrichs vom 12. März zitirt. Auch hier also der
Versuch, den König gegen den König auszuspielen. Gleich Herrn Richter findet
auch das Zentrum „in den feierlichen Königsworten jüngster Zeit unsre
ganze Haltung seit dem Bestände der Partei bestätigt." Als ob die von Kaiser
Friedrich befürwortete „gesunde Grundlage der Gottesfurcht" die von Herrn
Windthorst verfochtene wäre!
Wer geglaubt hatte, das Zentrum werde zu den Wahlen eine der neuen
politischen Lage Rechnung tragende, sie erleichternde Haltung annehmen, hatte
sich somit verrechnet. Des Kirchenfriedens ward zwar „dankbar" als eines „nicht
zu unterschätzenden Anfanges" gedacht, jedoch hinzugefügt: „Noch ist die Freiheit
unsrer heiligen Religion in Preußen und in Deutschland nicht erstritten, die
Aufgabe, die wir uns- vorgesetzt, noch nicht gelöst." Also auf das llnis ürixo-
Mus des Papstes die erneute Ankündigung der Fortsetzung des Streites, auf
die Erklärung des päpstlichen Breve, daß die Katholiken nunmehr in unge¬
störter Freiheit ihre kirchlichen Bedürfnisse befriedigen könnten, die Behauptung,
daß diese Freiheit erst erstritten werden müsse! Daran knüpfte sich in behag¬
licher Breite von neuem der Schulantrag, der den gesamten Religionsunterricht
einfach in die Hände der „kirchlichen Oberen" legt. Welche Früchte der
preußische Staat davon zu gewärtigen hätte, haben uns die polnischen Landes-
teile zur Genüge gelehrt, als im Frühling 1866 katholische Geistliche im
preußischen Schlesien für den Sieg der österreichischen Waffen beteten, gegen
welche die Angehörigen derselben Gemeinden im Felde standen. Das war eine
Leitung des Religionsunterrichts im Sinne des Windthorstschen Antrags!
Dann in der zweiten Hälfte des Wahlaufrufs einige banale Phrasen über die
Sozial- und Wirtschaftspolitik, die bekanntlich gar nicht vor das Forum des
Landtags gehört, und als eigentliches Lockmittel für den ländlichen Wähler,
der etwa bis dahin von dem Aufrufe wenig oder gar nichts verstanden hatte,
wurde endlich in gesperrter Schrift „die schärfste und ungleich drückende An¬
spannung der Steuerkraft" gegeißelt und gerechtere Verteilung der direkten
Steuern gefordert — die unvermeidliche, ihre Zugkraft stets bewahrende Deko¬
ration jedes Wahlprogramms, in welchem man Gemeinverständliches sonst nicht
zu sagen hat.
Dem Wahlaufrufe der Parteileitung folgten noch besondre für Rheinland und
für Westfalen. Der letztre schloß sich einfach dem „Wahlprogramm" der Partei
an. der der Rheinland« erging sich des breitern gegen die Nationalliberalen,
„die namentlich in der Rheinprovinz ihre Zeit wieder für gekommen erachten,"
und stellte eine verfehlte Wirtschaftsgesetzgebung sowie eine „vollständige Ver¬
sumpfung der Sozialreform" in den Vordergrund. So gab man sich in der
Rheinprovinz wenigstens Mühe, dem offensiven Vorgehen der Partei den
Charakter einer notgedrungnen Defensive „für Wirtschaftspolitik und Sozial¬
reform" zu verleihen. Vielleicht war für diese „Notwehr" auch das Eintreten
des Erzbischofs von Köln erbeten und erlangt worden, der zum allgemeinen
Erstaunen einen aus Neuß den 10. Oktober datirten Erlaß in die Welt sandte
mit der Weisung, denselben am Sonntag vor der Wahl von allen Kanzeln zu ver¬
lesen. Auch darin ist von „Bereitwilligkeit und Thatkraft für die Beseitigung
der sozialen Notstände" die Rede, dem Klerus wird jedoch nicht allein die persön¬
liche Wahlbeteiligung aufgetragen, sondern auch ein „Hinwirken durch Wort und
Beispiel auf die Wahl von Abgeordneten, welche Gott fürchten und den König
ehren, dem Kaiser geben, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist." Der
„Moniteur de Rome" war in der Lage, der telegraphischen Mitteilung dieses
erzbischöflichen Wahlschreibens hinzuzufügen: „Andere Erlasse werden publizirt
werden", und in der That stellte sich anch alsbald der Bischof von Münster
in nachbarlicher Kollegialität mit einem Wahlerlaß vom 16. Oktober ein, worin
er es „als eine besondre Obliegenheit seines oberhirtlicher Amts" erachtete,
seine Diözesanen „mit allem Nachdruck aufzufordern," bei dieser Gelegenheit
ihrer Gewissenspflicht eingedenk zu sein. In diesem Erlaß ist zwar von Wirt¬
schaftspolitik und Sozialreform keine Rede, sondern nur von der Durchführung
christlicher Grundsätze und dem christlichen Charakter der Schule; zum Schluß
aber kommt die gleiche Weisung an die Geistlichkeit, „mit Eifer und in ange¬
messener Weise für gute Wahlen einzutreten." Auch die Verlesung von allen
Kanzeln wird für den Sonntag vor der Wahl angeordnet. Mit dem „Wahl¬
aufruf des polnischen Provinzial-Wahlkomitvs in Posen" wollen wir hier nicht
rechten, auffallend ist darin aber die Wendung: „Nur für diese Kandidaten,
die durch unsre höchste Wahlbchörde aufgestellt sind, werden die von euch ge¬
wählten Wahlmänner stimmen." Hiernach giebt es also innerhalb oder außer¬
halb Preußens eine „höchste Wahlbchörde", die den polnischen Preußen die
Kandidaten aufnötigt. Da der Wahlaufruf des Zentrums, sogar unter Be¬
rufung auf Kaiser Friedrich, die Verfassung so sehr in den Vordergrund stellt,
so erfahren wir von dieser Seite vielleicht auch gelegentlich, in welchem ver¬
fassungsmäßigen Verhältnis diese polnische „höchste Wahlbehörde" steht. Dann
wäre es aber anch erwünscht, über die Verfassungsmäßigkeit der bischöflichen
Wahlbeeinflussung Aufschluß zu erhallen. Wenn die Oberpräsidenten von Rhein¬
land und Westfalen in ähnlicher Weise mit Wahlerlassen aufgetreten wären
und den Beamten der Provinz aufgegeben hätten, „mit Eifer für gute Wahlen
einzutreten", wie das die Bischöfe ihre« Beamten gegenüber gethan haben, so
würde wahrscheinlich die Zentrumspresse laut über Vergewaltigung geklagt und
das Zentrum lange Reden über dieses Thema für den Landtag vorbereitet
haben. Fast noch bedenklicher ist das Verhalten des Bischofs von Fulda, der
zwar keinen Hirtenbrief erlassen, jedoch das Fuldaer Wahlkomitö der Zentrums¬
partei ermächtigt hat, den Urwühlcrn von seinem Einverständnis mit den Be¬
strebungen des Zentrums und des Komitss Kenntnis zu geben, denen er in
seiner Diözese den besten Erfolg wünsche. Also hier sogar ein unumwunden
ausgesprochenes Eintreten für die Partei!
Der Staat hat fortan mit dieser, jedenfalls nicht im Sinne des Kircheu-
sriedens liegenden Stellungnahme der Bischöfe für eine bestimmte Partei zu
rechnen, für eine Partei, die im Gegensatz zum Papst erklärt, daß der Religions¬
streit noch lange nicht beendet sei. Als Obliegenheit ihres Oberhirtenamts
vermögen wir uns das nicht zu denken. Wollen die Bischöfe damit die mancherlei
schwerwiegenden Bedenken rechtfertigen, die gegen das Kirchengesetz geltend
gemacht wurden, und deren Überwindung herbeizuführen vielleicht das schwerste
Stück Arbeit des Kanzlers an dem Friedcnswerke gewesen ist? Die Wahl¬
beeinflussung von geistlicher Seite wiegt jedenfalls unendlich schwerer als jede
Wahlbeeinflussung Vonseiten irgend eines weltlichen Beamten, der im schlimmsten
Falle in das irdische Wohlergehen, nicht aber in das Seelenheil der Wähler
eingreift.
Wir stehen der Thatsache gegenüber, daß preußische Bischöfe es auch jetzt
noch als mit ihrem Amte vereinbar erachtet haben, die Offensive gegen den
Staat, welche Herr Windthorst ankündigte, mit allen Mitteln ihres Bischofsamtes
zu unterstützen, eine Offensive, die übrigens eben so deutlich, als in dem Wahl¬
programm selbst, auf der Katholikenversammlung in Freiburg, dem Vereins-
jubiläum in Mainz u. s. w. hervorgetreten ist. Ihre besondere Illustration
erhält diese Thatsache dadurch, daß die bischöflichen Erlasse zu der Zeit erschienen
sind, wo der Kaiser in Rom weilte. Vom 10. Oktober datirt das Wahlschreiben
des Erzbischofs von Köln, am 12. Oktober besuchte Kaiser Wilhelm den Papst.
Ist auch für jedermann, dem unsre Geschichte seit 1866 geläufig ist, voll¬
kommen begreiflich, daß Herr Windthorst den vom Papste für beendet erklärten
Kampf fortzuführen für notwendig erachtet, weil seine ganzen politischen Pläne
darauf gebaut sind, die Bevölkerung in Unfrieden und Aufregung zu erhalten,
so erscheint doch die Handlungsweise der Bischöfe nur dann verständlich, wenn
man sie in jene große Bewegung eingliedert, die unverkennbar die gesamte
katholische Welt durchzieht. Zum Teil vielleicht durch das Jubiläumsjahr des
Papstes, die zahlreichen Pilgerfahrten und vielfachen Kundgebungen Leos XIII.
hervorgerufen oder doch genährt, greift sie doch zum größern Teile in das kriegs¬
gefahrschwangere Jahr 1887 zurück und hat ihren Ausgangspunkt in der Situa¬
tion, welche durch die Verleihung des Schwarzen Adlerordens an den Grafen
Nobilant bezeichnet wurde. Der Dreibund gewährte Italien eine Bürgschaft für
seine Hauptstadt, wie es sie bis dahin noch nicht besessen hatte, aber damit war
den deutsch- und fricdensfeindlichen Bestrebungen zugleich ein neuer Angriffs¬
punkt gegeben. Bündnisverträge schließen für die verbündeten Staaten die
Verbürgung des Besitzstandes ein und jede Erörterung desselben aus. Von
diesem Gesichtspunkte muß die Anfeindung beurteilt werden, welcher das deutsch¬
österreichische Bündnis, welcher der Dreibund in gewissen Kreisen Österreichs
begegnet. Finden wir doch die Vertreter dieser Richtung unter dem Aufruf
vom 2. November, der die Katholiken Österreichs, „die katholischen Männer
aller Länder, aller Zungen der habsburgisch-lothringischen Monarchie" zum
zweiten österreichischen Katholikentag auf den 2ö. bis 29. November nach Wien
beruft. „Große Fragen der Gegenwart" sollen ans diesem Katholikentage ver¬
handelt werden, den die Einberufer unter den Schutz des göttlichen Herzens
Jesu stellen. Sie bezeichnen die Versammlung als „eine patriotische That,"
„weil jede Stärkung katholischen Geistes eine Stärkung Österreichs bedeutet,
denn Österreichs Grundvesten lagern tief im katholischen Christentum." Diesem
Katholikentage soll Prinz Liechtenstein Präsidiren, der Urheber der bekannten
Schulanträge im österreichischen Reichsrat, die zwar einstweilen auf den sehr
bestimmt ausgesprochenen Wunsch des Kaisers Franz Joseph vertagt worden
sind, aber der Katholikentag hat gar keinen andern Zweck, als der Politik, wie
sie durch den deutschen Adel Österreichs betrieben wird, der so undeutschen
Bestrebungen seinen Einfluß leiht und sich völlig in den Dienst derselben stellt,
als Stütze zu dienen. Der Eintritt des Grafen Schönborn in das Ministerium
Taaffe ist ein weiterer und deutlicher Schritt auf diesem Wege, während von
Osten her von Tag zu Tag erkennbarer eine ernste Gefahr gegen das Reich
heranzieht.
Einer mehr und mehr erstarkenden katholischen Bewegung, die vielfach
bereits an das Jahr 1875 erinnert, begegnen wir auch in Frankreich. Sie
hat dort, wie in Österreich, einen hervorragend politischen Charakter und
ausgesprochen politische Ziele. Jede durchgreifende Veränderung der innern
Lage Frankreichs vollzieht sich in dieser Richtung. Wir haben neuerdings ge¬
sehen, wie die Republik der Freidenker sich nach außen hin in den Dienst des
Papstes stellt, und wie die katholischen Missionen, besonders in Asien, mit
französischen Missionen gleichbedeutend sind. Wenn die Republik von 1849
Rom dem Papste zurückgab, weshalb sollte die Republik von heute davor
zurückschrecken — wäre nur der Dreibund nicht da. So sind die Anstren¬
gungen, die sich gegen den letztern richten, eng verquickt mit den Bestrebungen
auf Wiederherstellung der weltlichen Papstmacht, und wie der Papst noch am
24. Oktober die neapolitanischen Pilger ermahnte, sich immer als ausdauernde
und furchtlose Freunde dieser edlen Sache zu zeigen, wie er bei einem andern
Anlaß kürzlich sagte: „wenn der Papst sich bedrückt fühlt, so sind die Katho¬
liken unzufrieden," so hat diese katholische Agitation in Deutschland und Öster¬
reich den wenn auch nicht genannten Zweck, durch die Unzufriedenheit der
Katholiken einen Druck auf die Regierungen zu üben, ihre Aktionskraft zu
lähmen, womöglich die Auflösung des Dreibundes herbeizuführen. Die NviltZ,
oatwliog, hat in ihrem am 3. November erschienenen Heft hierüber recht
deutlichen Aufschluß gegeben. Diese Aufgabe des Herrn Windthorst ist aller¬
dings „noch nicht gelöst."
Aus diesem Grunde ist der Kirchenfrieden für ihn so wenig ein Hindernis
zur Wiederaufnahme des Streites, wie der Wahlerlaß des Bischofs von
Münster für ihn ein Hindernis war, in Hagen die Wiederwahl Eugen Richters
vorzuschreiben, obgleich diese doch zu dem bischöflichen Erlaß, der die Wahl
von Männern empfiehlt, die von Religion und Gottesfurcht durchdrungen sind,
im denkbar größten Gegensatze steht. Die Schulfrage ist eben Mittel zum
Zweck. Herr Windthorst weiß genau, daß der preußische Staat die Axt an
die eigne Wurzel legen würde, wenn er die Schule aus der Hand geben wollte,
und daß dazu kein preußischer Staatsmann sich bereit finden lassen wird.
Aber darauf kommt es auch gar nicht an. Je entschiedeneren Widerstand der
Staat leistet, um so länger kann der Kampf fortgesponnen werden, dieser Kampf,
welcher der Kitt für die Zentrumspartei, die Nährwurzel der Zentrumspresse
und das einzige Piedestal der Windthorstschen Führerschaft ist. In dieser
anßerordertlich bequemen Position hat der Führer des Zentrums die Partei
völlig und dauernd in seiner Hand und kann sie zu seinen sonstigen Zwecken
wie die Steine im Brettspiel brauchen. Wohl hat Herr Windthorst dem
Fürsten Bismarck für den Abschluß des deutsch-österreichischen Bündnisses
Komplimente gemacht und dieses Bündnis als eine seiner bedeutendsten Thaten
gepriesen. Aber wir zweifeln nicht, daß der Kanzler da einen Augenblick
mißtrauisch gegen sich selbst geworden ist und sich die Sache noch einmal
genau angesehen hat. Für den Welfenstaatsmcmn sind freilich dabei andre Er¬
wägungen maßgebend als für den deutschen Reichskanzler. Der letztere wird
dafür zu sorgen wissen, daß die seinigen maßgebend bleiben, und der Dreibund
wird seine Kraft auch dann bewähren, wenn etwa Frankreich früher oder später,
auf die Stärke der katholischen Bewegung in Deutschland und namentlich in
Österreich vertrauend, Rom zur „Befreiung" des Papstes angreift. Frankreich
wird sein ersichtlich wieder erstarkendes Ausdchuungsbedürfnis stets durch eine
„Idee" zu legitimiren suchen, denn nur für eine solche wird die Nation fortzureißen
sein. Mit der bloßen „Revanche" ist es nichts, dazu ist Elsaß-Lothringe» dem
größten Teil der Franzosen viel zu gleichgiltig, und ein Revolutionskrieg im Namen
des vierten Standes, wie zu Ende des vorigen Jahrhunderts im Namen des
dritten Standes, dürfte auch nicht im Geschmack der Nation liegen, die den
Sanskülottismus doch nur vorübergehend als ein Extrem der Mode erträgt.
Aber für die „Befreiung des Papstes" wäre das Risiko ein geringeres, voraus¬
gesetzt, daß es zuvor gelingt, Deutschland zu neutralisiren. Zu solcher Politik
würde die Republik jetzt vielleicht noch bereitwilliger sein als eine sie beerbende
Monarchie. Das päpstliche Rundschreiben an die Nuntiaturen aus Anlaß des
Kaiserbesuchs sanktionirt im voraus alle derartigen Bestrebungen, es stellt die
gegenwärtige Lage als eine „für den Papst gänzlich unwürdige, die ganze ka¬
tholische Welt verletzende" hin. Schon sehen wir als zeitgemäße Erscheinung
auch die russischen Sendboten im Vatikan auftauchen und den französischen
Einfluß in Madrid bereits die Besetzung der spanischen Botschafterposten er¬
reichen.
Mit dem großen Geschick, welches die vatikanische Diplomatie in der Be¬
herrschung und Führerschaft der Massen bethätigt, hat sie sich soeben in kluger
Voraussicht auch mit an die Spitze der Bewegung gegen die Sklaverei gestellt.
Die Gürzemch-Versammlung in Köln war stark von klerikalen Elementen durch¬
setzt, Führer des Zentrums sind in der Agitation thätig, die ihnen einen neuen
Zugang des Einflusses auf die Massen eröffnet. Ist es einerseits begreiflich, daß die
römische Kirche sich einen möglichst großen Anteil an den zu belehrenden Neger¬
völkern zu sichern sucht, denen die Kultur Europas sich jetzt unzweifelhaft nähert,
so sind anderseits die achtzigtausend Franks, welche Kardinal Lavigerie dem
in Köln begründeten katholischen Afrikaverein zur Verfügung gestellt hat, doch
eine Ziffer, die im Auge behalten werden muß.
Die dieser Betrachtung vorgesetzte Überschrift ist weit davon entfernt, etwa
zu besagen, daß für uns Deutsche, für die deutsche Politik, die römische Frage,
d. h. die Frage der Hauptstadt Rom, irgend vorhanden wäre. Als Victor
Emanuel auf dem Monte Citorio vor dem italienischen Parlament die sieges¬
frohen Worte sprach: „Wir sind in Rom ! angelangt, und hier werden wir
bleiben," war diese Frage auch für Deutschland erledigt. Wohl aber zeichnet
sich auf dem Hintergrunde der jetzt beendeten preußischen Landtagswahl, durch
das Verhalten des Zentrums im Zusammenhange mit einer weithin erkennbaren
katholischen Bewegung, eine römische Frage ab, die ersichtlich dazu bestimmt ist,
den Weltfrieden aus den Angeln zu heben, und die daher der Aufmerksamkeit
aller Patrioten hiermit empfohlen sei.i
Ein Kritikerstreit. Wir verschonen unsre Leser nach Möglichkeit mit den
Einzelheiten wissenschaftlicher Polemik, ganz besonders wenn sie sich auf dem Ge¬
biete abspielt, auf dem bekanntlich von jeher das Maaß der aufgewendeten Galle
in einem beträchtlichen Mißverhältnis zu dem des behandelten Gegenstandes steht,
nämlich auf philologischen Gebiete. Da wir aber nun einmal — wir gestehen
es, zu unserm Bedauern — Anlaß zu einer solchen gegeben haben, und zwar
ahnungslos durch Aufnahme eines uns nach dieser Richtung hin sehr ungefähr¬
lich dünkenden Aufsatzes, so ist es unsre Pflicht, wenigstens unser Verhältnis dazu
kurz darzulegen, ohne unsern Lesern den Genuß einer Fortsetzung des Streites zu¬
zumuten. H. Düntzers Besprechung von Kuno Fischers Festvortrcig bei der letzten
Goetheversammlung über Goethes Iphigenie (in Buchform bei C. Winter in Heidel¬
berg erschienen), der wir in Ur. 40 Raum gewährten, hat den Zorn des Verfassers
in ungewöhnlich hohem Grade erregt.*) Die Frage, ob die Iphigenie in religiös¬
christlichem oder antik-humanen Sinne aufzufassen sei (eine Frage, die uns nebenbei
sehr wohl eine doppelte Beantwortung zuzulassen scheint) hat hierbei zu Wirkungen
geführt, die dem Anlaß nicht nur wenig entsprechend, sondern — sowohl im
„religiös-christlichen als antik-humanen Sinne" — seiner wenig würdig erscheinen
dürften. Grade von dem Vertreter einer so versöhnlichen Interpretation der Iphi¬
genie, wie es die erstgenannte ist, sollte man einen weniger beleidigten und per¬
sönlich gereizten Ton erwarten einem Gegner gegenüber, der in der ruhigsten
Weise nichts andres gethan hat, als die „andre Seite" einer offenbar zwiespältigen
Sache zu beleuchten. Daß sich der Zwiespalt sehr wohl einen läßt, daß, wie Fischer
auf S. 46 seiner Schrift selbst anführt, der „christliche Charakter" der Dichtung
keineswegs erst von ihm herausgefunden worden ist, auf der andern Seite ihr
rein humaner Charakter (die Griechin im Barbarenlande) damit sehr wohl bestehen
kann, diese Erkenntnis scheint beiden Verfassern bei ihrer Sondermeinung in Ver¬
lust geraten zu sein. Düntzers Argumente sind nicht die unsrigen, ebensowenig
Wie der Ton des Fischerschen Artikels der der Allgemeinen Zeitung, und wenn
Wir in der angeführten Nummer eine Seite umschlagen und in dem vierteljährlichen
„Verzeichnis der Herren Verfasser" unter den ersten H. Düntzer finden, so fragen
wie uns vergeblich, warum gerade die Grenzboten ihre Besorgnis vor „elenden
Artikeln" bis auf die Beiträge der Fachgelehrten ausdehnen sollten, die einmal
„andrer Meinung" sind.
„Der Geist als solcher ist kein Erscheinungsmoment in dem Leben des ihn
setzenden absoluten Seins oder Nealprinzips, sowie die ihm immanenten Er¬
scheinungen Momente seines eignen Lebens sind. Diesem radikalen, alle wahrhafte
Erkenntnis verderbenden und unmöglich machenden Irrtum soll die borliegende
Schrift, wenn anders unsre Absicht mit derselben in Erfüllung geht, eben den
Todesstoß versetzen, wenigstens insoweit, daß er von keinem Kundigen in Zukunft
ferner noch als Resultat der Wissenschaft, wir sagen: der Wissenschaft sich aus¬
geben und geltend machen kann." Nun weiß der Leser hoffentlich, was „die
vorliegende Schrift soll." Wir — wir müssen es gestehen — wissen es leider nicht.
Es liegt vielleicht daran, daß wir zu deu Unglücklichen gehören, die „sich in die
Jrrgänge und Wirrnisse der Kantischen Erkenntnistheorie schon (!) verloren haben."
Aber der Verfasser ist doch ab und zu so mitleidig, uns ein Knäuel hinzuwerfen,
so daß wir aus unserm Labyrinth heraus wenigstens ahnend den Bahnen seines
metaphysischen Liktorenamts zu folgen vermögen. Solch ein Knäuel findet sich z. B.
S. 307, wo „auf Grund unbezweifelbarer Thatsachen die Wesensdiversität des
ganzen Menschen von Gott behauptet" wird. Diese „unbezweifelbaren Thatsachen"
findet der Verfasser zum Teil in der Anatomie der Großhirnwindungen und in
der Physiologie der Ovarien und Samenfädchen, teils in der Philosophie Anton
Günthers. Sollen wir dem mit so mannigfaltigen Waffen ausgerüsteten Kämpen
der „wahren Wissenschaft" etwas verraten? Wir bezweifeln sehr vieles in den gegen¬
wärtigen Theorien der Großhirnwindungen, und wir bezweifeln sehr vieles in der
Philosophie Anton Günthers. Aber niemals haben wir bezweifelt, daß der Mensch
nicht Gott ist. Das Buch vermengt in seltsamer Weise transzendental-philosophische
Fragen mit nüchternster exakter Naturforschung. Ob das gerade zu einer „Ontologie
des Positiven Christentums" nötig ist, lassen wir dahingestellt. Uns dünkt, daß
man eine solche aus ganz einfachen, schlichten Praktischen Forderungen des Gemüts
nach wie vor besser zu Stande bringen wird. Eins aber müssen wir jedenfalls
verneinen, daß nämlich Webers Buch eine „wissenschaftliche Begründung" der be¬
sagten „Ontologie" in seinem Sinne enthält. Hierzu sind seine philosophischen
Ausführungen zu einseitig und in der Beherrschung des gegenwärtigen Standes
der Philosophie zu mangelhaft. Seine naturwissenschaftlichen Belege siud vollends
zu spärlich, um auch nur in Bezug auf das, was sie beweisen Wollen, Interesse zu
erregen. Daß eben das, was sie beweisen wollen, über jedem Beweise steht, will
der gläubige Verfasser, ein treu ausharrender Verehrer des geistreichen Wiener
Neu Scholllstikers Anton Günther, ebensowenig einsehen, wie seine ungläubigen
Widersacher, in deren theoretischen Materialismus er sich „philosophisch" ganz vor¬
trefflich zu finde» bekennt.
Unter diesem Titel verbirgt sich kein Beitrag zur Völker- oder Religions¬
kunde, sondern, ein ganz ernsthafter Versuch, uns zum Buddhismus zu bekehren.
Daß er sich (laut Vorwort) bereits auf ein erfolgreiches ähnliches Unternehmen
im vorigen Jahre stützen kann, wirft wieder einmal ein absonderliches Schlag¬
licht auf die seltsamen Bahnen, in denen sich das unbefriedigte religiöse Be¬
dürfnis der Zeit bewegt. Die hier beleuchtete steht ja durch ihren Pessimistischen
Quietismus, ihr „Nirwana," ihre Seelenwanderung und Ticrheiligung in naher Be¬
ziehung zum Schopenhauerianismus, Wagncrianismns und Vegetarianismus, zu all
jenen krankhaften Ihnen, deren orientalische Passivität und Überspanntheit euro¬
päischer Aktivität und kritischer Vernunft so fremd wie möglich sind und bleiben sollen.
Wenn ein Erzähler von dem festen Grnnde einer bestimmten Weltanschauung
dichterisch zu schaffen unternimmt, so Pflegt meist die Kunst darunter zu leiden.
Damit soll nicht der Gesinnungs- und Gedankenlosigkeit in der dichterischen Litte¬
ratur das Wort geredet werden, aber wahr ist es doch, daß der Dichter kein
Systematiker sein darf. Jeder große Dichter trägt, wie jeder große Mensch, ein
System von Überzeugungen lebendig in sich herum. In jeder seiner Handlungen
offenbart es sich; allein, ebenso wie jedem großen Praktiker, als System sind ihm
seine Überzeugungen nicht zu Bewußtsein gekommen. Sie bilden einen geschlosse¬
nen Zusammenhang, aber er hat kaum je in seinem auf die That gerichteten
Sinn Neigung gehabt, ihn als solchen zu erforschen. Der Dichter ist konsequent,
aber nicht mit Gründen, sondern im unmittelbaren Gefühl; sein Denken und sein
Thun offenbaren eine hohe Einheit, aber nicht die Logik des Gelehrten oder Phi¬
losophen, sondern den Organismus eines Charakters, einer künstlerischen Natur.
Ist der Schriftsteller sich mit wissenschaftlicher Einsicht über sein Gedankensystem
klar geworden, dann pflegt der Künstler in ihm ebensoviel verloren, als der Phi¬
losoph gewonnen zu haben.
Das ist ein alter, in der deutschen Litteratur wohlbekannter Zwiespalt, an
den wir nur erinnert haben, weil Victor von Strauß, uach seineu Novellen zu
schließen, ihn gleichfalls verkörpert. Strauß ist Gelehrter und Dichter zugleich.
Seine Wissenschaft, die Religionsphilosophie, leitet leicht zur Poesie hinüber. Als
religiöser Denker darf er sich den gemütvollsten, innigsten und feinsten Geistern
der Gegenwart getrost zur Seite stellen. Die Lehren des Evangeliums erhalten
durch seine schlichten, aber im edelsten Deutsch gefaßten Worte den wärmsten und
eindringlichsten Erklärer. Sein Christentum ist gerade in unsrer materialistischen
Zeit von wahrhaft Ehrfurcht gebietendem Adel und von mild entschiedener Kraft.
Wenn man sich religiöse Lyrik oder religiöse Prosa von seiner Feder denken will,
so müßte sie sich den besten Erzeugnissen ans diesem Gebiete würdig anreihen.
In seinem Christentum lebt kein Fanatismus, kein Zorn, keine Bekehrungsleiden¬
schaft, sondern nur die Milde des seiner Einsicht bewußten Weisen, die Güte des
Meuschen, der seiner Sache sicher ist und Geduld hat, weil er weiß, daß der
Jrrende den Weg schon allein zurückfinden wird. Sein Ton ist weit entfernt
Von pastoreuhafter Salbung, hat gar nichts predigerhaftes, und ist dabei doch
zu Herzen dringend in seiner vornehmen Ruhe.
Aber um in der Erzählung, in der Novelle zu wirken, fehlen ihm doch
einige Eigenschaften, die sich durch die angeführten Tugenden nicht ersetzen lassen.
Strauß kann den Philosophen weder in der Sprache noch in der Gestaltung sei¬
ner Dichtungen verleugnen; er ist nicht objektiv und unbefangen genug für die
Epik. Er merkt es offenbar nicht, daß feine Dialoge zu fein, zu säuberlich und
zugespitzt sind, um als Abbild der Wirklichkeit zu erscheinen; er merkt es nicht,
daß er überhaupt den Ton nicht nach den Charakteren stimmen kann, daß seine
Menschen alle so schön und gut sprechen, wie Victor von Strauß selber. Da
kommt die geforderte Täuschung der Kunst nur schwer auf. Und weil er diese
Objektivität nicht mehr besitzt, so gelingt auch nicht die zweite, nicht minder wich¬
tige epische Objektivität, welche den Schein erwecken soll, daß die erzählte Ge¬
schichte ohne Zuthun des Erzählers Lohn und Strafe, Sühne und Schicksal über¬
haupt an ihre Figuren ganz parteilos verleite. Eben weil Strauß ein systema¬
tischer Kopf ist, kann er nicht mehr seine Tendenz verbergen, seine Erzählungen
gewinnen einen lehrhaften Charakter, und damit ist der schönste Teil ihrer Wirkung
verloren. „Renate" ist eine Tendenznovclle gegen die Vorurteile der Adlichen
auf ihre Geburt; „Das Glück" eine Tendenznovellc gegen die Gottesläugner.
Ueberall ist eine genaue Kenntnis des wirklichen Lebens zu erkennen; einzelnes
mutet naturwahr wie ein Porträt an; auch die Erfindung der Novellen ist an¬
mutig ohne die geringste Sucht nach Originalität; die Führung der Handlung ist
nach der einmal angenommenen, allerdings minder gewöhnlichen Voraussetzung ge¬
schickt, natürlich, zwanglos und doch überraschend. Aber die Tendenz sitzt dem
Erzähler zu sehr im Nacken, er beleuchtet immerfort die leitende Idee seiner Ge¬
schichte, und spricht dabei so schön und anziehend, daß er damit sich selbst im
Wege steht, wenn dann die Handlung ihre inzwischen stark geschwächte Spannung
erproben soll. Daher kommt es, daß ein gehaltvoller Mann nicht unterhalten
kann. Und doch kann er, ohne zu unterhalten, auch nicht seine Tendenz ver¬
breiten! So steht ein Streben dem andern hindernd im Wege.
Die Novelle „Das Glück" ist die längste und bedeutendste von den dreien.
Strauß hat sich wohl gesagt: Diese Geldjäger und Neider, welche das Glück nur
im Besitz suchen, sie betrügen sich selbst. Machen wir einmal die Probe! Lassen
wir einen solchen halbgebildeter, gut veranlagten jungen Menschen, z, B. einen sozia¬
listischen Schreier plötzlich zu Geld kommen, etwa durch einen Haupttreffer. Was
wird geschehen? Glaubt ihr, daß er sein Geld mit den Gesellen seiner Armut
und seines Hasses teilen wird? O nein! sogleich wird er sich durch den Besitz
geadelt fühlen, in die ihm höher dünkende Gesellschaft der Besitzenden einzutreten
streben und gerade so protzig auf sein Geld sein, wie die andern Reichen! Was
würde Herr Max Kretzer dazu sagen? Gewiß löst Victor v. Strauß mit seiner
Antwort keineswegs die soziale Frage, aber einen großen Theil der Wahrheit trifft
er, wenn er den Klassenneid auf den Rückgang der Sittlichkeit zurückführt. Seine
Novelle erzählt daun die natürlich sich ganz individuell gestaltenden Schicksale sei¬
nes plötzlich reich gewordenen Schlossers Ludwig Sturm, der seinen ganzen Haupt¬
treffer in leichtsinnigem und eitlem Treiben verschwendet, um nach untergrabener
Gesundheit die Erkenntnis zu gewinnen, daß das Glück nicht im Gelde liege,
sondern im Glauben an Gott und in der Liebe. Ein edles Liebespaar wird die¬
sem Narren wirksam gegenüber gestellt.
l n der Nacht vom 14. zum 15. Oktober hat auf Anordnung des
Bundesrates der Anschluß der Hansestädte Hamburg und Bremen
an die deutsche Zollgcmeinschaft stattgefunden. Es hat damit der
etzte Akt der ruhmreichen preußisch-deutschen Zollvereinsgeschichte
geendet, die letzte Episode einer Entwicklung, der die jüngern bei¬
nahe rat- und teilnahmlos gegenüberstehen, deren Krisen aber unsre Väter
und die ältern unter uns bisweilen in zwei große feindliche Heerlager gleich
den mittelalterlichen Guelfen und Ghibellinen spaltete. Wie in allen frühern
Phasen des großen funfzigjährigen Krieges, sperrte sich auch in diesem Falle
ein nicht geringer Teil der anzuschließenden Bevölkerung mit leidenschaftlicher
Verblendung gegen ihr eignes und des Vaterlandes Wohl. Wie so oft, behielt
auch in diesem Falle die kluge Besonnenheit und die ruhige Festigkeit Preußens
zuletzt den Sieg über alle entgegenstehenden Vorurteile und unbelehrbarer Ge¬
hässigkeiten. Wiederum mußte der gefürchtete Anschluß an Preußen durch die
bessere Einsicht des Hamburger Senats über die Köpfe der Bürgerschaft hin¬
weg bewerkstelligt werden. Und wiederum ist die Hamburger Bevölkerung, nach¬
dem die vollendete Thatsache ihren Zauber auf sie zu üben begonnen hat, auf
dem besten Wege, die Notwendigkeit und Heilsamkeit der einst so heftig bekämpf¬
ten Änderung nachträglich dankbar anzuerkennen.
Man weiß, daß der hanseatische Handel aus eigner Kraft, ohne Hilfe von
Kaiser und Reich oder gar vom Frankfurter Bundestage, die Stellung einer
Weltmacht errungen hat in Zeiten, wo Deutschlands Ansehn tief danieder lag.
Wohl hatte das ehrwürdige Lübeck, nachdem die Nationen des Nordens, die
es einst mit seinem Kapital und seinen Waffen beherrscht hatte, mündig gewor-
den, und nachdem seine baltische See durch das Aufblühen des ozeanischen Ver¬
kehrs ein bescheidenes Binnenmeer geworden war, von seiner einstigen Bevöl¬
kerung zwei Drittel und von seinem Handel beinahe fünf Sechstel eingebüßt.
Gleichwohl wußte die ehemalige Königin der Ostsee sich nicht nur einen soliden
Grundstock althansischen Wohlstandes zu bewahren, sondern sogar, auch ohne
die Privilegien der alten Hanse und trotz der bösen Nachbarschaft der Dänen,
als Kommissionär Hamburgs ihre alten Beziehungen zu dem aufblühenden Finn¬
land, zu den russischen Küstenländern und zu Schweden und Dänemark neu zu
beleben. Und was die Hansestadt an der Ostsee verloren hatte, wurde durch die
beiden glücklicheren Schwesterstädte an der Nordsee, die sich, als der große
Hansebund zerfiel, mit Lübeck verpflichtet hatten, den alten Namen und die alte
Verbindung aufrecht zu erhalten, doppelt und dreifach wieder eingebracht. Nach¬
dem am 4. Juli 1776 die dreizehn englischen Kolonien in Nordamerika ihre
Unabhängigkeit vom Mutterlands erklärt hatten, und Englands Feinde an der
Seite der Rebellen sich anschickten, ihre Rache für alte Demütigungen zu nehmen,
begannen beide sofort, während ein greuelvoller Kaperkrieg alle Meere ver¬
wüstete, unter neutraler Flagge ihre große Schiffahrt. Insbesondere unternahm
es das anfänglich rascher und kräftiger vorwärts schreitende Bremen, in der
sichern Erkenntnis, daß seine Zukunft namentlich von dem Gedeihen seines nord-
amerikanischen Eigenhandels abhänge, das rauchlustige Deutschland mit den Ta¬
baken von Virginia und Maryland zu versorgen und sich selbst an Stelle Lon¬
dons zum ersten Tabaksmarkte emporzuarbeiten. Als es außer Zweifel
war, daß die größer und größer werdenden Schiffe des transatlantischen Ver¬
kehrs nicht mehr bis zu dem allzusehr landeinwärts gelegenen Weserplatzc hin¬
aufgelangen konnten, kaufte der Bürgermeister Johann Smidt —, derselbe,
der, Bremer mit Leib und Seele, schon als Jenaer Student mit Amel-Tenien
gegen die Dioskuren von Weimar aufgetreten war, weil Schiller sich unter¬
standen hatte, der Weser die demütige Äußerung in den Mund zu legen:
„Leider von mir ist gar nichts zu sagen," der während des Befreiungskrieges
durch rührige diplomatische Thätigkeit vor allen die Wiederherstellung seiner ge¬
liebten Hansestädte durchgesetzt hatte, dem sein Lebenlang der Ratschlag unver¬
gessen blieb, den ihm einst ein alter Basler Bürgermeister gegeben hatte: „wir
haben uns immer ein wenig größer gemacht, als wir waren, und haben uns
gut dabei gestanden" — von dem gegen Oldenburg aufgereizten Hannover an
der völlig schiffbaren Unterwcser einige Hunderte Morgen des Anßendeichlandes
von Lebe und gründete darauf das neue Bremerhaven. Da die oldenburgischen
Ingenieure daran verzweifelten, an der Mündung der Weser einen Leuchtturm
herzustellen, übernahmen die Bremer die unlösbare Aufgabe und führten sie
glücklich zu Ende. Aus kleinen Anfängen, ohne Staatsunterstützung, aus
eigenster Kraft schuf Hermann Heinrich Meier die stolzeste Dampferflotte, die
heute der Ozean trägt, den Norddeutschen Lloyd.
Wenn in der alten Rangordnung, welche die drei Hansestädte beibehalten
hatten, Lübeck obenan, Bremen in der Mitte, Hamburg zuletzt stand, so sollte
doch gerade die Hafenstadt an der Elbe sich nicht nur zum ersten Handelsplätze
des europäischen Festlandes vom Finnischen Meerbusen bis zur Straße von
Gibraltar und von Gibraltar bis zum Schwarzen Meer, sondern zum dritten
Handelsplatze der Welt erheben. Während die übrigen Hansestädte die vor
Alba flüchtenden reformirten Niederländer mit doppelter Steuer bis zum Enkel
belegten und vom Eintritt in die Zünfte ausschlossen, ward Hamburg das gast¬
freundliche Asyl sowohl für sie, als auch für die Engländer, für französische
Hugenotten, spanische und portugiesische Juden, für alle die Verlornen, welche
die Brandung der Religionskriege an den Strand warf. Weit mehr noch als
die beiden Schwesterstädte hatte Hamburg der Neutralität zu danken, die ihm
der Pariser Vertrag von 1717 während etwaiger deutsch-französischer Kriege
zugesichert, und die der Neichsdeputations-Hauptschluß im Jahre 1803 noch
einmal ausdrücklich bestätigt hatte. Unvergessen sind noch heute in Hamburg
die glücklichen Tage der Revolutionskriege, wo der Ertrag der Zölle sich ver¬
vierfacht, die Häusermiete sich versechsfacht hatte, und die Zahl der einlaufenden
Schiffe in acht Jahren von 1504 auf 1960 gestiegen war. Freilich wurden
dann dem Hamburger Handel durch die Kontinentalsperre, durch die Einver¬
leibung in das französische Kaiserreich, durch die unbarmherzige Hand Davoust's
schwere Wunden geschlagen. Aber unmittelbar darauf sollte es sich in den vom
Mutterlande abgefallenen spanischen Kolonien in Mittel- und Südamerika und
in dem von Portugal sich lösenden neuen Kaisertum Brasilien sein eigenstes
Handelsgebiet erwerben, wie Bremen das seinige in den Vereinigten Staaten
von Amerika gefunden hatte. Als der große Brand von 1842 ein Drittel der
Stadt in Schutt und Asche legte, bauten sie die Hamburger in Windeseile
wieder auf. Obwohl das welfische Hannover den Staber Zoll von allen ein¬
gehenden Seeschiffen erhob, übernahmen sie freiwillig die Sorge und die Kosten
für das Fahrwasser der Niederelbe und schufen allein mit ihren Mitteln jene
viel bewunderten Hafenbassins, Quais und Docks, die erst in unsern Tagen
durch das Riesenwerk der Zollanschlußbauten überholt werden sollten. Aus
eigenen Kräften errichteten sie ihre zahlreichen Dampferlinien, die nicht das
wenigste dazu beitrugen, daß heute die deutsche Handelsmarine die dritte, wenn
nicht die zweite der Welt ist. Während dessen zogen alljährlich Hunderte von
jungen Kaufleuten aus, um alle Küsten der bewohnten Erdteile mit einem Netz
von Faktoreien zu bedecken, die dem deutschen Namen überall Ehre bringen.
Nur indem von diesen Hamburger msroliWts iuIvMtui-Ms ein nicht geringerer
Prozentsatz den klimatischen Verhältnissen, den Elementen und den Nachstellungen
barbarischer Feinde erlag, als von Preußens unbesiegbaren Bataillonen und
unwiderstehlichen Reiterscharen den Tod für das Vaterland gestorben ist,
konnten die Grundlagen gewonnen werden, auf denen sich gegenwärtig die
weitaussehenden Pläne für die Handels- und Seegröße Deutschlands neu
erheben.
Und wie es unzweifelhaft ist, daß die Hansestädte ihre unvergleichliche
Blüte zum nicht geringen Teil ihrer kommerziellen Selbstregierung und jenem
hanseatischen Handelsgeiste zu verdanken haben, der, wie der militärische Geist
in den preußischen Offiziersfamilien, das Ergebnis einer dnrch Geschlechter fort¬
gesetzten Erziehung ist, so kann es auch nicht Wunder nehmen, daß der hanseatische
Handel von Hause aus vorwiegend internationaler Zwischenhandel gewesen ist.
Auf ein kleines Gebiet beschränkt und von Nachbarstaaten umschlossen, die zu
Wasser und zu Lande alle Zugänge beherrschten und ihnen in ihren Verkehrs¬
beziehungen größtenteils mehr Hinderung als Förderung brachten, war es
natürlich, daß die Hanseaten den Blick auf das freie Meer gerichtet hielten.
Insbesondere dem Hamburger Handel waren durch die zahlreich eingewanderten
Engländer, Franzosen, Niederländer, die spanischen, portugiesischen und polnischen
Juden, die sich hier alle schnell mit dem ungeheuern Selbstbewußtsein des
Hamburger Bürgers erfüllten, sich aber doch selten als Deutsche fühlten, die
internationalen Beziehungen gleichsam in die Wiege gelegt. Vor allen diese
fremdländischen Einwanderer waren es, welche die in das Freihafengebiet vom
Auslande zollfrei eingeführten Rohstoffe in großen Fabriken verarbeiteten, um
ihre Fabrikate sofort wieder ins Ausland zurückzuführen. Nachdem mit dem
Ausgange der Napoleonischen Zeit statt der von Stein erhofften Neichszölle
das alte Elend der Landeszölle und der Vinnenmauthen zurückgekehrt war,
sahen sich auch die Hansestädte gezwungen, wieder zu ihrer alten internationalen
Handelspolitik zurückzukehren. Als in den zwanziger Jahren nach der Befreiung
der südamerikanischen Republiken die Hamburger mit den alten Kolonialmächten
in einen Wettbewerb um diesen ergiebigsten Teil des Welthandels eintraten,
mußte der neue Eindringling in das transatlantische Transportgeschäft, zumal
da es damals in Deutschland außer der Leinenhandweberei des Riesengebirges
keine exportfähige Industrie gab, sich für seinen Handel selbstverständlich vor
allem der englischen Fabrikate bedienen, die in den überseeischen Gebieten aus¬
schließlich marktgängig waren. Gleichzeitig war die Ausfuhr der überreichen
Ernten, welche die deutsche Landwirtschaft ihren Lehrern Thaer und Schwarz
verdankte, durch die Zollgesetze des Auslandes und den elenden Zustand der
binnenländischen Straßen beinahe unmöglich. Ungleich bequemer und lohnender
war es dagegen, die Bordeauxweine, die erst seit der Mitte des achtzehnten
Jahrhunderts durch die Hamburger Kaufleute in Deutschland bekannt geworden
waren und allmählich die spanischen und Rhein-Weine aus unserm Norden fast
verdrängt hatten, und englische Manufakturen in Deutschland einzuführen. Und
als endlich in den vierziger Jahren unter dem Schutze des Zollvereins in
Deutschland eine neue Industrie entstand, die sich sogar in einzelnen Zweigen
ihrer Produktion wieder auf den Weltmarkt hinauswagte, konnte weder durch
einen Beschluß des Bundestages oder des Frankfurter Parlaments den über¬
seeischen Nationen anbefohlen werden, von den Hansestädten anstatt englischer
Fabrikate hinfort deutsche zu kaufen, noch konnte der Hamburger Großhändler
ein Interesse darin finden, sich um eine Industrie zu kümmern, die noch an
gewissen Kinderkrankheiten litt und recht oft unreell und unkoulant bediente,
und deren Vertreter, wenn irgend möglich, an dem Exporteur vorbei unmittelbar
mit dem ausländischen Kunden in Verbindung zu treten liebten.
Seien wir gerecht. Es ist uns vollkommen verständlich, daß in den wei¬
testen Kreisen der hanseatischen Bevölkerung der offene Wunsch lebte, die alte
hanseatische Handelsautonomie und die stolze Einsamkeit der Vaterstädte möchten
ewig dauern. Wir verstehen es, daß in diesen stolzen Gemeinden, die halb deutsch
und halb weltbürgerlich, halb Städte und halb Staaten waren, jener heimat¬
lose Weltbürgersinn, der einst fast in jedem deutschen Kriege nach Neutralität
der vaterstädtischen Flagge verlangt hatte, noch nicht ganz erloschen war. Wir
begreifen es, daß die Hanseaten, genau wie die Leipziger Grvßkaufherren und
die Frankfurter Patrizier, dem Fortschreiten des preußisch-deutschen Zollvereins
bisweilen geradezu feindlich entgegentraten, weil sie von dem Aufhören der
deutschen Zoll-Anarchie und von der Entwicklung einer deutschen Industrie eine
Minderung und Schädigung ihres Zwischenhandels mit englischen und fran¬
zösischen Manufakturen befürchten mußten.
Wir verstehen und begreifen jene hanseatischen Wünsche und Stimmungen,
weil sie gewissermaßen historisch geworden sind. Aber unsre vollen und un¬
geteilten Sympathien vermögen wir doch nur denjenigen hanseatischen Publi¬
zisten zuzuwenden, die bereits vor dem Jahre 1866 die wirtschaftliche Zer¬
rissenheit des Vaterlandes und die unverschuldete Jsolirung ihrer Plätze lebhaft
beklagten, die offen zugestanden, der Zollverein könne der Hansestädte nicht
entbehren, wenn er eine nationale Schiffahrts- und Handelspolitik zu treiben
unternehme, und nur behaupteten, ihm fehle für jetzt die Macht und der Wille
eine solche Politik zu führen, die erklärten, daß gerade die Pflicht der großen
Hafenplätze, den Interessen des gesamten deutschen Verkehrs gleichmäßig zu
dienen, den Eintritt der Vaterstädte in die preußische Zollgcmeinschaft von selbst
verbiete, solange die Zolllinien Dänemarks, der beiden Mecklenburg, des Zoll¬
vereins und des Steuervereins ihre Thore umgaben.
Selbst wenn sich hinter diesen loyalen Erklärungen Partikularistische Hinter¬
gedanken verborgen hätten, so vermag man doch an ihnen formell um so we¬
niger auszusetzen, als sie sich vollständig mit den großen handelspolitischen
Plänen deckten, mit denen der preußische Finanzminister von Motz in schwülen
Zeiten wieder in die Bahnen friedericianischer Staatskunst einzulenken wagte.
In jener merkwürdigen Denkschrift vom Juni 1329, in der er dem Könige
Friedrich Wilhelm III. über die soeben zwischen Preußen-Hessen und Baiern-
Württcmberg abgeschlossenen Verträge berichtete, war es klar ausgesprochen,
daß nach und nach alle deutschen Staaten, soweit sie nicht Provinzen auswär¬
tiger, Deutschlands Interessen fremder Staatskörper seien, dem preußischen Zoll¬
system beitreten würden. An dieser nationalen Richtung seiner Handelspolitik
hat Preußen unerschütterlich festgehalten, nachdem es sich einmal entschlossen
hatte, das gesamte Deutschland mit Ausschluß Österreichs durch das unzer¬
trennliche Band wirtschaftlicher Interessen unter seiner Führung für immer zu
vereinen und so die Befreiung von der Herrschaft des Hauses Habsburg vor¬
zubereiten. Gleichwohl hat die preußische Negierung die eigentümlichen Ver¬
hältnisse, die zur Zeit des deutschen Bundes, und so lange der Handel und
seine Beschränkung zu den ersten Befugnissen deutscher Souveränität gehörten,
die Sonderstellung der Hanseaten bedingten, allezeit unbefangen gewürdigt. Mochte
immerhin die Listsche Schule die Hansestädte als „Filialen Englands", als
„Nationalskandal" schmähen, und das „Manuskript aus Süddeutschland" sie
deutsche Barbarcsken nennen, deren Interessen auf Plünderung des übrigen
Deutschlands, auf Vernichtung ihrer Industrie gerichtet seien, in Berlin wußte
man immer sehr wohl, wieviel Deutschlands Volkswirtschaft dem rührigen Handels¬
geiste des hanseatischen Bürgertums zu denken habe. In jener Denkschrift hatte
von Motz ausdrücklich erklärt, daß die Hansestädte erst ganz zuletzt, nachdem
die süd- und mitteldeutschen Staaten und Mecklenburg und darauf auch die
Küstenstaaten, also Hannover-Braunschweig und Oldenburg, dem preußischen Han¬
delssystem beigetreten wären, dem nationalen Marktgebiete sich anschließen könnten.
So war gewissermaßen zwischen den freieren patriotischen Geistern in den
Hansestädten und den Urhebern des preußisch-deutschen Zollvereins ein stiller
Vertrag geschlossen, ein fester endgiltiger Termin für den Anschluß derselben
in Aussicht genommen. Freilich schien gerade damit die wirkliche Ausführung
dieses Anschlusses in beinahe unabsehbare Zukunft hinausgeschoben. Fast ein
volles halbes Jahrhundert hat Preußen, nachdem es die Nation wieder wehr¬
haft und ehrhaft gemacht, dazu gebraucht, in hartem Kampfe die wirtschaftliche
Einheit des Vaterlandes zu gründen. Auch nachdem der hannöverisch-olden¬
burgische Steuerverein sich am 1. Januar 1854 dem Zollverein angeschlossen
hatte, blieben außer den Hansestädten selbst noch immer die beiden Mecklenburg
und das dänische Holstein und Lauenburg außerhalb der gemeinsamen Zoll¬
linien. Noch immer konnten sich die Gegner und die Freunde des Zoll¬
anschlusses in den Hansestädten darauf berufen, daß die für ihn stipulirten Be¬
dingungen noch immer nicht erfüllt seien.
Da kam der Krieg von 1866. Das Gottesgericht auf den böhmischen
Schlachtfeldern brachte uns statt jenes ungeheuerlichen Bundes, der sich den
deutschen nannte und zu Zeiten dennoch vier fremde Reiche umfaßte, den Nord¬
deutschen Bund als nationale Einigung unter Preußens politischer und mili¬
tärischer Führung. Die Elbherzogtümer, die seit jenem 3. März 1460, wo
die Landräte Schleswig-Holsteins den Dänenkönig Christian I. zum Herzoge
von Schleswig und Grafen von Holstein wählten, ans die Dauer von vier
Jahrhunderten dem deutschen Leben entfremdet waren, kehrten mit dem 1815
tauschweise an Dänemark abgetretenen Lauenburg zum großen Vaterlande zurück.
Auf dem Gebiete der materiellen Interessen enthielt die Verfassung Versprech¬
ungen, wovon noch eine nahe Vergangenheit kaum zu träumen wagte. Vor
allem hatte die preußische Handelspolitik endlich einen durchschlagenden Erfolg
zu verzeichnen: der Grundsatz der Zolleinheit ward in die neue Verfassungs-
urkunde aufgenommen. Da es gewiß war, daß die Zollvereins-Verträge mit
den süddeutschen Staaten fortdauern, und daß ebenso die Elbherzogtümer und
die Großherzogtümer Mecklenburg nach den notwendigen Verständigungen mit
den Vereins-Regierungen in den Zollverband eintreten würden, so war in der
That das ganze Hinterland der Hansestädte dem nationalen Wirtschaftsgebiete
angeschlossen. Die von den Wortführern der Hanseaten so oft herbeigesehnte
Zentralgewalt war wirklich vorhanden, und sie war stark genug, die Interessen
unsers Handels und unsrer Schiffahrt gegen jedermann zu wahren. Von den
verschiedensten Seiten wurde daher damals behauptet, die weitere Sonderstellung
der Hansestädte sei völlig Sinn- und zwecklos geworden. Die Ostsee-Hafenstädte
protestirten aufs eindringlichste gegen ein ferneres Handelsmonopol der Hanseaten.
Eine aus Chemnitz stammende Petition von 1400 Fabrikanten-Firmen Deutsch¬
lands forderte ihre sofortige Einschließung in die gemeinsamen Zollliuien. Der
Abgeordnete Wiggers erklärte, daß eine weitere Einräumung der Freihafenstellung
an die Hansestädte dem Gesamtinteresse des Zollvereins widerspreche, und daß
ein Paragraph, der von vornherein das Zollvereinsgebiet zerreiße, überhaupt
nicht in die Verfassungsurkunde gehöre. Es genüge, den Hansestädten einstweilen,
etwa auf drei Jahre, ihre bisherige Stellung zu lassen, damit sie sich auf den
Eintritt in den Zollverein bis dahin vorbereiten könnten. Der Abgeordnete
Evans beantragte, die Hansestädte nur vorläufig als Freihafen außerhalb der
gemeinschaftlichen Zollgrenze fortbestehen zu lassen, bis die Buudesgesetzgebuug
ihren Eintritt beschließen würde. Der konstituirende norddeutsche Reichstag
dagegen schlug einen Mittelweg ein. Er verwarf den Antrag des Abgeord¬
neten Evans, die Frcihafenstellung der Hansestädte nur bis zum Erlaß eines
Bundesgesetzes anzuerkennen, und überließ es vertrauensvoll den Städten
selbst, ihre Einschließung in die gemeinschaftliche Zollgrenze zu beantragen.
Aber wie schonend man auch aus föderalistischen Zartgefühl zu Werke
ging, so zeigen doch Form und Inhalt der Verfassung des Norddeutschen
Bundes unwiderleglich, daß der Gesetzgeber die Ausschließung der Hansestädte
nur als eine einstweilige und vorübergehende betrachtete. Nach Artikel 30 der¬
selben bildet der Bund ein Zoll- und Handelsgebict. Artikel 31 gewährt den
drei Hansestädten eine Ausnahme von diesem Hauptgrundsätze, doch mit der
ausdrücklichen zeitlichen Beschränkung: „bis sie ihren Einschluß beantragen."
Die Verfassung selbst bestimmte also bereits die Formen der Wiederaufhebung
des Artikels 31. Erfolgt der von der Verfassung vorausgesetzte Antrag der
Hansestädte, so wird damit nur der Hauptgrundsatz des Artikels 30, die Ein¬
heit des Zoll- und Handelsgebiets, verwirklicht, und es handelt sich einfach um
eine Ausfnhrungsmcißrcgel der Reichsgesetzgebung. In den maßgebenden Kreisen
der Bundesregierung hat damals jedenfalls kein Zweifel darüber bestanden, daß
diese Freihafenstellung nur eine provisorische sein könne, durch die den betei¬
ligten mit dem Auslande damals frei verkehrenden Städten ein Übergangs-
stadium erleichtert werden sollte. Der damalige preußische Ministerialdirektor
Delbrück war der Ansicht, daß sechs bis sieben Jahre für die Hansestädte ge¬
nügen würden, ihre Verhältnisse so weit zu ordnen, um in den gemeinsamen
Zollverband einzutreten. Schon damals sind Anschläge gemacht worden, was
die Entrepöt-Einrichtungen ungefähr kosten würden, ohne deren Herstellung die
Einziehung Hamburg in den Zollverein nicht möglich sein würde. Auch Ham¬
burg selbst faßte damals den Anschluß als überwiegend im Interesse des Bundes
und der gesamten nationalen Entwicklung auf und war der Meinung, daß ihm
wohl ein Zuschuß von sechs bis zehn Millionen Thalern für die notwendig
werdenden Zollanschlußbauten zu teil werden dürfte. Von allen Seiten ward
in jenen jugendfrohen Tagen unsrer neuen politischen Einheit zugegeben, daß
die einzige Ausnahme von der allgemeinen Regel der deutschen Zolleinheit so¬
bald als irgend möglich beseitigt werden müsse. Nur weil Preußen die Frei¬
hafenstellung durchaus als ein Provisorium ansah, schloß es, wesentlich aus
Rücksicht aus Hamburg, das preußisch gewordene Altona von der Zolllinie ans,
obgleich die Anschlußpartei in Altona zu jener Zeit sehr stark war, und in
Schleswig-Holstein anfangs nahezu jedermann erwartete, mit der Provinz
werde auch ihr größter Handelsplatz in die Zollgrenze eintreten. Nur weil
man in Berlin der Überzeugung lebte, daß die Hansestädte nun ihrerseits den
ersten Augenblick benutzen würden, um das Endergebnis vorzubereiten und die
Zollscheidewand zwischen sich und der übrigen Nation hinwegzuräumen, bean¬
tragte Preußen, die neue Zolllinie auf der Elbe oberhalb Hamburgs, bei
Bergedorf zu ziehen und somit die gesamte Unterelbe, die von Hamburg bis
Cuxhafen durch die Annexion Hannovers und Schleswig-Holsteins unzweifel¬
haft ein preußischer Fluß geworden war, auf eine Strecke von zwölf deutschen
Meilen als Zollausschlußgebiet zu belassen. Solche, das eigne Land schädi¬
gende, weit über alle rechtlichen Verpflichtungen hinausgehende freiwillige
Selbstverleugnung würde, einem mächtigen Nachbarstaate gegenüber, den Vor¬
wurf schimpflicher Schwäche verdienen. Den Hansestädten erwiesen, bewies sie
nur, wie dringend die preußische Regierung wünschte, mit allen ihren kleinen
Bundesgenossen in freundnachbarlichem Verhältnisse zu stehen, und wie zuver¬
sichtlich sie erwartete, daß die Hansestädte die übernommene Ehrenpflicht er¬
füllen würden, die Verheißung der Verfassung — jenes „bis" des Artikels 31 —
binnen kürzester Frist zur Ausführung zu bringen.
Wß
^ÄKit der letzten Zeit sind wiederholt Mitteilungen durch die Zeitungen
gegangen über eine Reform des Personcnverkehrswesens auf den
deutschen oder zunächst den preußischen Eisenbahnen. Wie viel
oder wenig Wahres an diesen Mitteilungen war, wird sich ver¬
mutlich erwiesen haben, noch ehe die gegenwärtigen Zeilen dem
Leser zu Gesichte kommen. Wie sich aber die Sache auch immer verhalten
mag, auf die Dauer wird sich das Bedürfnis nach einer großem Erleichterung
des Personenverkehrs nicht abweisen lassen. Die sozialen und wirtschaftlichen
Folgen einer solchen Erleichterung sind es, die in Nachstehendem einer kurzen
Betrachtung unterzogen werden sollen.
Selbstverständlich könnte von einschneidenden sozialen und wirtschaftlichen
Folgen einer Reform der Personentarife nicht gesprochen werden, wenn diese
Reform sich lediglich auf eine Vcrbillignng der Fahrpreise um etliche 10 bis
20 Prozente erstreckte. Eine solche Änderung würde für das soziale Gebiet so
gut wie einflußlos sein; auf wirtschaftlichem Gebiete aber würde sie lediglich die eine
Folge haben, die Einucihmeu der Eiseubcchnen zu verringern. Nur von einer
gründlichen Umgestaltung des Personenverkehrs sollte also im Ernste die Rede sein.
Eine solche hat Eduard Engel in einer vor mehreren Monaten erschienenen
Schrift über „Eiscnbahnreform" vorgeschlagen. Wiewohl den meisten Lesern
der Inhalt dieser Arbeit schon durch die Zeitungen bekannt geworden sein wird,
ist es doch nicht zu umgehen, hier in Kürze zu sagen, was Engel erstrebt.
Der Kern seines Verlangens besteht darin, daß ähnlich, wie jetzt im Packet-
verkehr der Neichspost, die Fahrpreise nur uach Zonen abgestuft sein und
eine Verbilligung auf die nachstehenden Sätze erfahren sollen:°
Durch die hiermit ermöglichte Vereinfachung der Ausgabe und Kontrole
der Billets, durch zweckmäßige Änderungen im Gepäckverkehr und manches
andere, was auf den ersten Blick unbedeutend scheinen mag, unter Engels
Beleuchtung aber eine große Tragweite zeigt, hofft er eine wesentliche Minde¬
rung der Betriebsunkosten zu erzielen; durch eine Steigerung des Verkehrs im
allgemeinen und durch das Aufrücken der Reisenden in bessere Bcfördcrungs-
klasfen (d. h. besonders durch gesteigerte Benutzung der ersten Klasse), somit
durch bessere Ausnutzung des Wagenraumes, hofft er den gewaltigen Ein¬
nahmeausfall, der durch die Verbilligung der Fahrpreise entstehen würde, zu
decken.
Es kann nicht meine Absicht sein, hier die Vorschlüge Engels ausführ¬
licher zu behandeln. Insbesondere muß ich wegen der Art und Weise, wie er
versucht, die Durchführbarkeit seines Gedankens durch Zahlen zu belegen, auf
das Buch selbst verweisen. Der Leser wird durch die stellenweise nicht ganz
parlamentarische Form desselben sich nicht abhalten lassen, den Inhalt nach Ver¬
dienst zu würdigen und wird nach meiner Überzeugung dazu kommen, in den
Gedanken Engels wenigstens einen sehr berechtigten Kern zu finden.
Eine gewisse Berechtigung scheint auch der preußische Eisenbahnminister
den Klagen und Anregungen Engels zuerkannt zu haben, denn wenn die
Zeitungsberichte nicht ganz auf falschen Wegen gehen, haben die Erwägungen
in Betreff einer Reform des Personenverkehrs in Preußen eben Engels Vor¬
schläge zum Ausgangspunkte gehabt.
Es soll sich nun freilich die einstweilige Undurchführbarkeit derselben her¬
ausgestellt haben, und es soll beabsichtigt werden, Reformen nach andrer Rich¬
tung zu bewirken. Es ist aber auch gewiß nicht notwendig, daß gerade die
Wege Engels eingeschlagen werden, wenn nur seine Ziele erreicht oder doch
wenigstens annähernd erreicht werden. Letzteres aber ist dringend zu wünschen;
ja es wird sich, wie gesagt, für die Zukunft als ein ganz unabweisbares Be¬
dürfnis herausstellen. Und nun zu der sozialen und volkswirtschaftlichen Wür¬
digung der Sache! Vergegenwärtigen wir es uns vor allem, was die Ver¬
wirklichung der Vorschläge Engels heißen würde.
„Es ist ein Brief da von der Post, der sechsunddreißig Kreuzer kost."
So heißes im Studentenliede, und den Musensohn, der das singt, heimelt es
an, wie ein Stück Mittelalter. Wie von dem hohen Briefporto der Vergan¬
genheit, so wird man vielleicht in Zukunft von den hohen Personenfahrpreisen
der Gegenwart singen und sagen. Denn die Reform, um die es sich im
Eisenbahnwesen handeln wird, wird zum mindesten von gleicher Tragweite sein
müssen, wie die, welche sich im Postwesen vollzogen hat. Man wird sich nach
ihrer Durchführung verhältnismäßig ebensowenig zu scheuen brauchen, in irgend
einer Angelegenheit aufs Geratewohl eine Reise zu thun, wie man sich heute
scheut, einen Brief zu schreiben, auf die Gefahr hin, zehn Pfennige Porto nutz¬
los auszugeben. Verhältnismäßig, sage ich. Wir wollen nicht außer Acht
lassen, daß immerhin ein wesentlicher Unterschied bleiben wird zwischen dem,
was der Schreiber eines Briefes, und dem, was der Unternehmer einer Reise
an das Geschäft wagt, das er vorhat. Aber der Unterschied wird großenteils
dadurch ausgeglichen werden, daß so ziemlich jedes Geschäft durch persönliche
Verhandlung der Beteiligten rascher und besser zum Ziele geführt wird, als
durch brieflichen Verkehr.
Wohl mag nun die Besorgnis natürlich erscheinen, es möchte bei einer
Verkehrserleichterung so weitgehender Art die Einwohnerschaft des damit be¬
glückten Landes mit einemmale beginnen, durcheinander zu wimmeln wie ein
zerstörter Ameisenhaufen, und es möchte alle Ordnung außer Rand und Band
gehen. Es ist eine alte Wahrheit, die sich an Völkern wie an Einzelwesen
erwiesen hat, daß der Ordnungssinn nur dann zu gedeihen Pflegt, wenn der
Mensch sich in festen Heimstätten seßhaft macht. Zu einem wirklich geordneten
Gemeinwesen taugen überbildete Aovs-trottsrs ebensowenig, wie urwüchsige
Nomaden. Den Kern eines Volkes, auf dessen Grundlage ein festes Staats-
gefüge stehen soll, müssen die an der Scholle klebenden bilden. Was soll aber
aus der Seßhaftigkeit werden, wenn dem Deutschen ein Ortswechsel seiner Per¬
son von dem südwestlichsten nach dem nordöstlichsten Teile seines Vaterlandes
kaum schwerer sein soll, als die Versendung eines Briefes von der einen Stelle
zur andern?
Es läßt isles in der That nicht lciugnen, daß die nach unsern heutigen
Begriffen geradezu fabelhafte Erleichterung des Personenverkehrs, von der wir
zu reden haben, eine gewisse Gefährdung des Heimatssinns mit sich bringt,
ja daß sich ihre Wirkungen bis in den Familienverband hinein erstrecken und
in vielen Einzelfällen eine Lockerung desselben zur Folge haben können. Wenn
für den Arbeiter (das Wort im weitesten Sinne verstanden) die Kosten eines
Ortswechsels keine Rolle mehr spielen, wird er unter Umständen fast ebenso¬
viel in der Ferne beschäftigt sein als in der Heimat, und daß das weder für
die Erhaltung der Anhänglichkeit an die Heimat und die alten Gemeinde¬
genossen, noch für die Erhaltung eines festen Gefüges des Familienverbandes
vorteilhaft sein kann, bedarf wohl keines Beweises, ebensowenig, daß sich dar¬
aus eine nachteilige Wirkung auf das Volksleben im allgemeinen ergeben
muß.
Auch die Erschwerung der Aufentshaltskontrole zu militärischen wie zu
bürgerlichen Zwecken wäre eine Schattenseite der Neuerung, die nicht unter¬
schätzt werden darf. Es braucht nur hervorgehoben zu werden, wieviel schwie¬
riger die Verfolgung von Übelthätern sein würde, wieviel mehr Umsicht und
Schlagfertigkeit sie erfordern würde, und wieviel mehr Mißgriffe man dennoch
zu befürchten hätte.
So stehen allerdings wichtige sozialpolitische Bedenken der Einführung des
„Persouenportos" entgegen. Aber sind es nicht lauter Bedenken, denen man schon
auf einer frühern Stufe unsrer sozialen Entwicklung ein Ohr hätte leihen
müssen, wenn man ihnen überhaupt Raum geben wollte?
Ich erblicke in den Engelschen Forderungen lediglich die letzte Folge einer
Reihe von Umwälzungen, die sich längst vollzogen haben. Wir leben in einer
Zeit, die von räumlichen Entfernungen nichts mehr missen will. Seit das Fern¬
rohr so weite Blicke in das All ermöglicht hat, sind die Entfernungen auf unsrer
Erde für die menschliche Vorstellung in ein Nichts zusammengeschrumpft. Daß
sie sich auch thatsächlich mit einer Geschwindigkeit überwinden lassen, von der
frühere Geschlechter leine Ahnung hatten, haben die Erfindungen unsers Jahr¬
hunderts gelehrt, mit denen die Beseitigung staatlicher Schranken der freien
Bewegung des Volkes und seiner Güter Hand in Hand gegangen ist. In letz¬
terer Beziehung hat man freilich mehrfach über das Ziel hinausgeschossen, man
hat manchen sauern Schritt wieder zurückmachen müssen, und mancher weitere
derartige Schritt wird vielleicht noch zu thun sein. Aber im großen und ganzen
darf man nicht sagen, daß es Thorheit gewesen sei, den Forderungen der Zeit
Rechnung zu tragen; man muß vielmehr anerkennen, daß die Neuerungen der
letzten Jahrzehnte in ihrem Kerne nieist gut lind wertvoll sind, so viele Aus¬
wüchse auch noch Beachtung und Beseitigung verlangen mögen.
Die Einwendungen, die sich gegen eine große Erleichterung des Personen¬
verkehrs vom sozialpolitischen Standpunkte ans macheu lassen, waren sämtlich
schon gegen das Gesetz über die Freizügigkeit zu erhebe«; sie wurden auch er¬
hoben. Ungesundes Wachstum der Städte, Rückgang der Landgemeinden, oft
Zerreißung der Familien (deren Ernährer die höhern Löhne der Stadt ver¬
dienen wollten, ohne das billige Leben der Angehörigen auf dem Lande in
den Kauf zu geben), das sind wirklich — und stellenweise in großem Umfange
— Folgen der Freizügigkeit gewesen, und durch die Erleichterung des Perso¬
nenverkehrs dürften sie in mancher Beziehung noch verschlimmert werden. Aber
wie die Freizügigkeit ungeachtet aller Bedenken zur Thatsache wurde, so wird
wohl auch das Verlangen nach einer Reform der Personcntarife gegenüber
den gleichen Bedenken das Feld behaupten müssen. Denn in einer Zeit, wo
amerikanisches Getreide und australisches Fleisch zum Schaden unsrer Produ¬
zenten auf unsern Märkten mit den einheimischen Produkten konkurriren, wo
sich der Geschäftsmann durch das Telephon stundenweit mit seinen Geschäfts¬
freunden unterhält, und wo der Telegraph für ihn über Meere hinweg redet,
in einer solchen Zeit ist es doch nur natürlich, wenn der Mensch es nicht ein¬
sehen will, warum gerade der Fortbewegung seines Körpers noch so große
Hindernisse entgegenstehen sollen, Hindernisse, die noch dazu uicht einmal in
materiellen Schwierigkeiten begründet sind, sondern ihre Wurzeln lediglich in
einer veraltetem Tarifpolitik haben, die, wie Engel sehr richtig nachweist, aus
der Zeit der Postkutschen mit herübergenommen worden ist.
Daß man im Falle einer Tarifrefvrm bemüht sein müßte, Maßregeln zur
Linderung ihrer sozialpolitischen Nachteile zu treffen, ist natürlich. Was die
Aufenthaltskontrolc betrifft, so sind die Erfahrungen, die man seit Einführung
der Freizügigkeit auf diesem Gebiete gemacht hat, soviel sich übersehen läßt,
nicht entmutigend, und so ließe sich wohl hoffen, daß hierin auch weiterhin
mit den wachsenden Schwierigkeiten sich die Mittel zu ihrer Bewältigung werden
finden lassen. In Bezug auf die zu befürchtende Untergrabung des Heimats¬
und Familiensinnes werden nicht so leicht Gegenmaßregeln zu finden sein. Gute
Lehren Pflegen wenig zu helfen. Aber glücklicherweise würde eben die Tarif¬
reform selbst auch wieder in mancher Hinsicht günstig wirken. Gegenwärtig
bringt der ländliche Arbeiter wohl einmal das Geld zusammen, um uuter Zu¬
rücklassung seiner Familie in eine entfernte Stadt zu ziehen. Sieht er aber
dort seine Hoffnungen getäuscht, so veranlaßt ihn die Kostspieligkeit der Rück¬
kehr gleichwohl zu bleiben. Er schlägt sich durch, wie es geht, sinkt von Stufe
zu Stufe und geht im Proletariat unter. Die Tarifreform würde dem Ge¬
täuschten jeden Tag die Rückkehr ermöglichen, indem ihn diese in der Regel
nur einen Betrag kosten würde, den ihm der erste beste, der ihm auf der Straße
begegnete, schenken würde. Nicht minder würde es die Tarifreform demjenigen,
der außerhalb seiner Heimat den gesuchten Verdienst gefunden hätte, ermöglichen,
seine Familie häufiger zu besuchen, sie nachkommen zu lassen oder wohl gar
selbst seinen frühern Wohnsitz beizubehalten.
Mit dieser Berührung der Arbeiterverhältnisse streifen wir das wirtschaft¬
liche Gebiet. Während vom sozialpolitischen Standpunkte nach allem Gesagten
eine bedeutende Verbilligung der Personentarife doch manchem eher wie ein
notwendiges Übel als wie ein Gewinn erscheinen möchte, zeigt sich auf der
wirtschaftlichen Seite die Sache in weit günstigerem Lichte.
Und zwar wird sowohl der Arbeitsmarkt als der Warenmarkt davon be¬
rührt; der erstere natürlich vorwiegend.
Die Wurzel alles Elends in den Arbeiterverhältnissen liegt recht eigentlich
in der Schwierigkeit, Angebot und Nachfrage räumlich zusammen zu bringen
Was hilft es den Arbeitern an dem einen Ende Deutschlands, wenn am ander»
Ende des Reiches vorübergehend so viel Nachfrage nach Arbeitskräften ist,
daß sie auf keine Weise gedeckt werden kann! Nichts, gar nichts. Wären aber
die Beförderungssützc so billig, daß ein Mann einer Beschäftigung vou etlichen
Wochen zu liebe es schon wagen dürfte, eine Reise von etlichen hundert Kilo¬
metern hin und zurück zu unternehmen, so könnte allezeit ein für Arbeitgeber
und Arbeiter gleich heilsamer Ausgleich bewerkstelligt werden, und es wäre
so einem großen Teile des wirtschaftlichen Elends in wirksanier Weise abge¬
holfen. Natürlich müßte eine gewisse Organisation des Arbeiterstandes ge¬
schaffen werden, namentlich müßte ein rasch und sicher wirkender Nachrichten¬
dienst über Angebot und Nachfrage eingeführt werden. Ansätze dazu sind ja
hier und da Vorhäute», und es würde sich nur um eine zweckentsprechende
Weiterentwicklung handeln.
Wie die arbeitsuchenden eigentlichen Lohnarbeiter, würden auch Stellen-
suchende aller Berufsklassen — und wir leben ja in einer Zeit, wo die Stellcn-
suchenden stets einen großen Bruchteil der Bevölkerung ausmachen — aus der
Tarifreform einen nicht zu unterschätzenden Vorteil ziehen, und auch ihre Arbeit¬
geber würden an diesem Vorteil teilnehmen. Denn die Besetzung einer auch
nur auf ein Vierteljahr hinaus festen Stelle ohne persönliche Bekanntschaft
mit dem Bewerber ist doch eigentlich ein Unding und führt selten zu gutem.
Wer eine Stelle zu vergeben hat, wird den Vorteil zu schätzen wissen, den es
ihm bieten würde, wenn er Gelegenheit hätte, alle ernstlichen Bewerber per¬
sönlich kennen zu lernen. Unter den heutigen Verhältnissen könnte aber ein
junger Kaufmann ein Vermögen in Reisekosten vergeuden, wenn er jede Be¬
werbung um eine Stelle persönlich anbringen wollte.
Was den Einfluß einer Tarifreform auf den Warenmarkt anlangt, so hat
wenigstens der Kaufmann nie verkannt, daß das persönliche Betreiben einer
Sache in der Regel allem brieflichen Verkehr vorzuziehen ist, und es unterliegt
keinem Zweifel, daß er in allererster Linie die Vorteile der Neuerung mit
Freuden begrüßen würde. Schon heute hält er es nicht für richtig, mit Reisen
allzu sparsam zu sein. Dennoch ist er oft genötigt, eine Ware, die er lieber
erst selbst gesehen hätte, nach einem kleinen Muster zu kaufen, das ihm kein
rechtes Urteil erlaubt, oder er zieht Erkundigungen ein über einen Mann, dem
er Kredit geben soll, und er wird getäuscht, indem die schriftliche Auskunft in
ihrer Kürze und Knappheit Bedenkliches verschweigt, während eine kurze münd¬
liche Unterredung mit dem Befragten alles wissenswerte ans Tageslicht ge¬
zogen hätte. Das sind nur zwei Beispiele aus der Fülle von denkbaren Fällen,
in denen die hohen Personenfahrpreise dem Geschäftsverkehr hinderlich sind.
Ähnliche Vorteile wie der Handel hätte natürlich auch die Industrie von der
Tarifreform. Freilich darf man nicht vergessen, daß Reisen nicht nur Geld,
sondern auch Zeit kosten, und daß im großen Verkehr eine Reise wohl häufig
anch wegen der Zeitersparnis unterbleibt. Sicherlich aber fiele die Geldersparnis
ins Gewicht bei den landwirtschaftlichen Produzenten und den kleinen Zwischen¬
händlern, die den Verkauf der landwirtschaftlichen Produkte vermitteln. Denn
bei dem geringen Nutzen, mit dem die Landwirtschaft arbeitet, spielen verhält¬
nismäßig kleine Unkostenbcträge oft eine große Rolle.
Und wie dem Landwirte, ergeht es auch den kleineren Produzenten aller
Klaffen. Daß endlich auch die Konsumenten sich besser dabei stehen würden,
wenn Kauf und Verkauf aller Waren in der Regel persönlich abgeschlossen
werden könnten, bedarf kaum der Erwähnung.
Dieser Überblick wird genügen, darzuthun, daß auf wirtschaftlichem Ge¬
biete die Tarifreform nach allen Seiten Vorteile verspricht. Freilich ist dies
nur der Fall unter der Voraussetzung, daß sie durchgeführt werden könnte, ohne
die Einnahmen der Eisenbahnen so weit zu schmälern, daß die Entlastung der
Reisenden wesentlich auf Kosten der Steuerzahler geschähe. Die Notwendigkeit
dieser Einschränkung läßt sich keineswegs dadurch verleugnen, daß man sagt,
die Erleichterung des Personenverkehrs werde mittelbar auch denen Nutzen
bringen, die nicht fahren, und es sei deshalb ein Zuschuß aus dem gemeinen
Säckel wohl gerechtfertigt. Wir dürfen eben nicht vergessen, daß jede Verkehrs¬
erleichterung nicht nur dem vorhandenen Bedürfnis entgegenkommt, sondern auch
neues Bedürfnis hervorruft. Das ist in unserm Fall kein Schaden, solange die
Einnahmen die Kosten decken, oder wenigstens Aussicht ist, daß dies künftig der
Fall sein werde. Sobald aber die Preise so niedrig sind, daß sich ein dauernder
Fehlbetrag ergiebt, der durch eine Eisenbahnsteuer (für sich oder als Bestand¬
teil einer andern Steuer) gedeckt werden muß, wird die Sache bedenklich. Denn
wenn jeder bemüht ist, durch häufige Benutzung der Bahn seinen Kopfteil an
der Steuer wieder herauszuschlagen, steigt der Aufwand der Bahnen noch mehr,
und mit ihm der durch Steuern aufzubringende Fehlbetrag. Es sind damit
also gewissermaßen aus dem gemeinen Säckel Prämien für Luxusfahrten aus¬
geworfen, und das wird doch niemand wollen. Die ausgesprochene Einschrän¬
kung der Vorschläge Engels erheischt also volle Berücksichtigung, und es würde ein
beklagenswerter Irrtum sein, zu Beförderungssützen zu greifen, die ungeachtet
der Verkehrssteigerung und der möglichen Ersparnisse die Möglichkeit einer Ren¬
tabilität der Personenbeförderung ausschlossen. Wie hoch die Sätze sein müßten,
die eine Rentabilität noch ermöglichen würden, das könnte freilich wohl der
scharfsinnigste Fachmann nicht ausrechnen. Es müßte eben kühnen Griffes eine
Probe gemacht werden. Ein paar Millionen wäre eine solche Probe schon wert;
besonders wenn sich dann wirklich Beförderungssätze ergäben, die vielleicht mit
den von Engel vorgeschlagenen nicht ganz stimmen, aber doch annähernd in
dem angestrebten Umfang eine Verkehrserleichterung bewirken würden.
ü
i rttembcrg, zu dem wir nun kommen, bezeichnete man in frühern
Zeiten im Lande selbst mit Vorliebe als das schwäbische Reich
und seine Krone als die Schwabenkrone, und in gewissen Kreisen
st das noch heutzutage der Fall. Für eine derartige Bezeichnung,
namentlich wenn sie bei Gelegenheit eines patriotischen Trink¬
spruches gebraucht wird, fehlt es mich nicht an einer gewissen Berechtigung.
Denn der größte Teil der Deutschen schwäbischen Stammes gehört wirlich zum
Königreiche Württemberg. Das ist aber auch alles, und das ist schließlich nicht
viel; denn eine ganze Menge von Schwaben gehören doch auch zu andern
deutschen Staaten, nämlich etwa 500 000 zu Baiern, etwa 150 000 zu Baden
und nahezu 70 000 in den Fürstentümern Hohenzollern zu Preußen. Außerdem
ist die Bevölkerung Württembergs durchaus nicht rein schwäbisch; im Süden
des Landes wohnen Allemannen, im Nordosten Franken.
Man ist aber vielfach weiter gegangen, namentlich zu den Zeiten des Rhein¬
bundes und des deutschen Bundes. Da hielten es angeblich patriotisch, in
Wahrheit partikularistisch gesinnte Schriftsteller, welche die sogenannte vater¬
ländische, richtiger einseitig-württembergische Geschichte darstellten, für ihre Pflicht,
diese mit der Entstehung des alten Herzogtums Schwaben zu beginnen. Ihr
Staat war eigentlich dieses wiedergeborne Herzogtum, seiue Fürsten die unbe¬
strittenen Rechtsnachfolger der alten Schwabenherzöge, namentlich der Hohen-
staufen. Die Landesfarben, Schwarz und Rot, waren die alten Farben Schwabens
und der Hohenstaufen. Dieses erlauchte Kaisergeschlecht hatte den goldenen
Reichsadler eingefügt, und die Neichsfarben, Schwarz-Rot-Gold, waren fertig. Diese
Farben, die längst jeden Sinn und jede Bedeutung (eine geschichtlich begründete
haben sie überhaupt nie besessen) verloren haben, und die das letztemal, wo sie
eine politische Rolle spielten, das gemeinsame Abzeichen der Feinde Preußens
und Neudeutschlands waren, galten längere Zeit als das Sinnbild von Gesamt-
Deutschland, als das Panier, um das sich eigentlich alle Patrioten hätten
scharen sollen. Da es aber im Grunde die Farben Württembergs waren, so
bildete dieses Land gewissermaßen den Kern des Vaterlandes, und seine Be¬
wohner waren die echtesten Deutschen, die Germanen schlechthin.
So weit bei einer solchen Darstellung der Partiknlargeschichte dieses süd¬
deutschen Staates nicht tendenziöse Mache, ja geradezu Geschichtsfälschnng im
Spiele war, war es eine harmlose Fabelei, erfunden aä umMöin Lusvorum ^loriiinr.
Denn in Wahrheit ist gerade die Geschichte des Landes Württemberg in einem so
ausgesprochnen und ausschließlichen Maße die Geschichte seiner Dynastie, wie
das bei keinem andern Staate Deutschlands der Fall ist. Der wirkliche Zu¬
sammenhang dieser Geschichte mit der des Herzogtums Schwaben und seiner
Herrscher besteht in nichts weiter, als daß die Stammgüter des Hauses Württem¬
berg in Schwaben lagen, und daß die Schwabenherzöge die Landesherren dieses
alten Adelsgeschlechtes waren.
Daß eine Grafschaft dieses Namens bereits dnrch Chlodwig, den Merowinger,
begründet worden sei, ist nichts als eine Sage, die nur dazu dienen sollte, das Alter
und somit Glanz und Ruhm des Geschlechtes zu erhöhen. Daß Kaiser Heinrich IV.
dem „freien Herrn" Konrad von Wirtineberg um das Jahr 1190 die Grafeu-
würde verliehen habe, ist wenigstens nicht unzweifelhaft nachgewiesen. Ein gut¬
beglaubigter Bericht, daß ein andrer Konrad um 1120 erst auf dem Rodenberg
bei Cannstatt die Burg erbaut habe, nach der das Geschlecht sich fortan
nannte, läßt sich nicht wohl damit in Übereinstimmung bringen. Die ursprüng¬
liche Form des Namens „Wirtineberg" weist uns auf seine Bedeutung hin;
Wirtin heißt im mittelalterlichen Deutsch Hausfrau, Ehefrau; in Schillers
„Teil" z. B. erkundigt sich Walther Fürst bei Stauffacher nach „Frau Gertrud,
seiner angenehmen Wirtin," und diese selbst redet ihren Gatten an als „mein
lieber Herr und Ehewirt." Schiller hat diese Ausdrücke bekanntlich der Chronik
Tschudis entnommen. Jener Konrad benannte also die neue Burg zu Ehren
seiner Gemahlin Wirtineberg, d. h. Frauenberg oder Frauenburg.
Die ununterbrochene Reihe der Regenten beginnt erst mit Ulrich mit dem
Daumen, darum wohl auch zubenannt „der Stifter." Dieser benutzt den
Verfall der Macht und endlich den Untergang der Hohenstaufen, um seine
Besitzungen zu vergrößern und sich reichsfrei zu machen. Das thaten damals
alle irgendwie mächtigen Herren im vormaligen Herzogtums Schwaben, geistliche
und weltliche, und eine große Anzahl von Städten. Zu seinen Stammbesitzungen
mit Cannstatt, Stuttgart, Leonberg. Schorndorf und der frühern Burg der Hohen¬
staufen Waldungen erwarb er noch die Grafschaft Urach und die Orte Wild-
lingen und Nürtingen. Außerdem verlieh ihm Konradin die Vogtei über die
Reichsstadt Ulm. Sein Sohn, Eberhard der Erlauchte, erwarb durch Kauf die
Grafschaft Kato und die Herrschaft Neusten, und durch kaiserliche Belehnung
die Orte Göppingen, Asperg, Marbach u. f. w. Da das Stammschloß Württem¬
berg von den Bürgern der Reichsstadt Eßlingen zerstört worden war, verlegte
er im Jahre 1320 die Residenz nach Stuttgart. Sein Sohn Ulrich, den mau
als vierten zählt, vergrößerte ebenfalls seinen Besitz, und zwar meistens durch
Kauf, so um die Herrschaft Winnenden, die Grafschaft Gröningen, die Grafschaft
Vaihingen und eine Reihe von Orten, die ehemals zu der sogenannten schwäbischen
Pfalz gehört hatten, unter denen Tübingen mit seiner starken Burg Höhen-
Tübingen am wichtigsten war. Er brachte den ersten linksrheinischen Besitz an
sein Hans durch Erkaufung der Herrschaft Horburg an der Ill im obern Elsaß.
Die Macht dieses Grafen Ulrich war bereits fo bedeutend, daß ihm Kaiser
Ludwig der Baier des Reiches Sturmfahne verlieh; in dieser Beziehung sind
also die Württemberger wirklich die Nachfolger der alten Herzöge von
Schwaben.
Eine besonders bekannte Figur ist namentlich durch die Dichtungen Uhlands
Graf Eberhard der Greiner geworden; Uhland nennt ihn den „alten Rausche¬
bart," und hierauf ist wohl die ziemlich verbreitete Verwechslung zurückzuführen,
daß dieser Eberhard und der „Graf im Barte," von dem gleich noch die Rede
sein soll, dieselbe Persönlichkeit seien. Er erwarb die Landschaft zwischen Stuttgart
und Tübingen, Schönbuch genannt, die Orte Bodungen, Laufen am Neckar,
Edinger, namentlich aber die Güter der Herzöge von Teck. Die folgenden
Regenten können überschlagen werden; es genügt, zu erwähnen, daß unter ihnen
die Orte Balingen und Bintigheim, die gefürstete Grafschaft Mömpelgard
(Montböliard), ein Teil der Stadt Sulz am Neckar, Hornberg, Wildberg,
Bulach, Blaubeuren, Heidenheim und einige andre Güter zu dem bisherigen
Besitze des Hauses hinzukamen.
Der letzte Graf und der erste Herzog von Württemberg ist jener Eberhard
„im Barte" (1480—1496), von dem es heißt, daß er sein Haupt ruhig jedem
seiner Unterthanen in den Schoß habe legen können. Zunächst vereinigte er
durch den Vertrag von Münsingen wieder alle Besitzungen seines Hauses; denn
seine Vorfahren hatten sich auch nicht ganz von dem Erbfehler der meisten
deutschen Dynastien, nämlich den ewigen Länderteilungen, ferngehalten. In diesem
Vertrage heißt es zwar: „Ganz Württemberg soll gleichsam in einen Körper
vereinigt bleiben, dessen ewige Unzertrennlichkeit bestätigt wird." Diese Bestim¬
mung hinderte aber keineswegs, daß später noch oft genug Teilungen des
Landes vorkamen, die hier nicht einzeln erwähnt werden sollen. Im Jahre 1495
verlieh Kaiser Maximilian I. dem „Grafen im Barte" auf dem Reichstage zu
Ulm die Würde eines Herzogs von Württemberg und Teck, eiuen Titel, den seine
Nachfolger bis zu ihrer Erhebung in den Kurfürstenstand im Jahre 1803
führten. Er nannte sich von da an Eberhard I.
Während der Zeit von etwas mehr als zweihundert Jahren, in der
Württemberg ein Herzogtum war, hat wohl kein deutsches Land mit seinen
Fürsten und zum großen Teile durch die Schuld seiner Fürsten mehr und schwerere
Leiden und Drangsale auszustehen gehabt als gerade dieses. Unter dem dritten
Herzog Ulrich wütete der Aufstand des „armen Konrad" mit seinen entsetzlichen
Greueln. Infolge einer Fehde mit der Stadt Neutlingen geriet der Herzog in einen
Krieg mit dem schwäbischen Bunde. Er wurde aus seinem Lande verjagt und
mußte sechzehn Jahre in der Verbannung leben; näheres hierüber ist aus Hauffs
„Lichtenstein" allbekannt. Das Land war jahrelang in österreichischem Besitze.
Nach seiner Wiedereinsetzung führte er die Reformation ein (1535). Seine
Teilnahme am schmalkaldischen Kriege brachte sein Gebiet zum zweitenmale in
die Hände der Kaiserlichen und ihn selbst in die Verbannung. Nach seinem
Tode folgte, namentlich unter seinem Sohne Christoph, eine Zeit verhältnis¬
mäßiger Ruhe und Wohlfahrt. Schreckliche Plagen und Verwüstungen aber
brachte der dreißigjährige Krieg. Herzog Eberhard III. schloß sich den Schweden
an, um deren Schutz für sein Land zu erlangen, darauf dem Bündnisse „der
obern vier Reichskreise." Er kämpfte mit in der für die Protestanten unglück¬
lichen Schlacht bei Nördlingen, deren Verlust ihn zwang, nach Straßburg in
die Verbannung zu flüchten. Zum drittenmale wurde das ganze Land vom
Feinde weggenommen, und der Kaiser riß viele Orte und Ämter davon ab,
um seine Kriegsobersten zu belohnen. Erst nach vier Jahren konnte der Herzog
zurückkehren, und erst im westfälischen Frieden erlangte er sein ganzes Gebiet
wieder und erhielt die kaiserliche Belehnung.
Um die bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts in Württemberg herr¬
schenden Zustände zu kennzeichnen, genügt es, die folgenden Namen zu nennen:
Eberhard Ludwig mit seiner allmächtigen Mätresse, der Grcivenitz; Karl
Alexander, unter dem der Hofjude Süß, bekannt durch Hauff, die Regierung
führte; Karl, der sogenannte Karl-Herzog, mit seiner schönen Geliebten Franziska
von Hohenheim, dem „Franzele." Der letztere wollte Ludwig XV. und Friedrich II.
in einer Person sein; wie er das verstand, ist durch die Schicksale Schubarts
und Schillers bekannt genug.
Obgleich also das Ländchen wirklich schwer heimgesucht wurde, vergrößerte
rs sich dennoch immerfort. Unter den teils durch Belehnung, teils durch Kauf
erworbenen Orten und Herrschaften mögen hier erwähnt werden: Maulbronn,
Weinsberg (bei Heilbronn), Neustadt (unweit Waldungen), Besigheim, Mündels-
heim, Löchgau, Hessigheim, Walheim, Reichenbach (bei Freudenstadt), Altensteig.
Liebenzell, Winnenden, das zeitweilig einer Nebenlinie gehört hatte, Sterneck,
Justingen, Bönnigheim. Die Grafen von Löwenstein nahmen ihr Gebiet von
den Herzögen zu Lehen. Dazu kamen dann noch zwei elsässische und sieben
burgundische Herrschaften, die bei der Krone Frankreich zu Leben gingen; diese
bildeten mit Mömpelgard die linksrheinischen Besitzungen Württembergs. Gegen
Ende des vorigen Jahrhunderts berechnete man das Herzogtum Württemberg
auf 145 Quadratmeilen. Das Land war von österreichischen, reichsgräflichen,
reichsritterschaftlichen, geistlichen und reichsstädtischen Gebieten vielfach durchsetzt.
Nach der volkstümliche» Teilung zerfiel es in das Ober- und das Unterland,
deren Grenze die sogenannte Weinsteig bei Stuttgart bildete, daher man auch
von dem Lande ob der Steig und unter der Steig sprach. Amtlich unterschied
man dagegen die hochfürstlichen Ämter und Städte, die hochfürstlichen Kammer¬
schreibereigüter und die Klostcrämter.
Im Jahre 1797 bestieg Herzog Friedrich den Thron, der letzte, der diesen
Titel führte. Anfänglich nahm er an dem Kriege gegen die Franzosen eifrigen
Anteil; diese drangen mehrfach in das Land ein und zwangen im Jahre 1800
den Herzog zur Flucht nach Wien. Im Frieden zu Lunvville mußte er seine
linksrheinischen Besitzungen, die Grafschaft Mömpelgard und die oben bezeich¬
nn Unterherrschaften, endgiltig an Frankreich abtreten, 20 Quadratmeilen. Der
Reichsdeputationshauptschluß überwies ihm dafür als Entschädigungen: die ge-
fürstete Probstei Ellwangen, die Abteien und Klöster Zwiefalten, Rothenmünster,
Schönthal und noch andre, die bisherigen Reichsstädte Reutlingcn, Eßlingen,
Weil, Rottweil, Giengen, Aalen, Hall, Gniünd, Heilbronn und ein Neichs-
dorf. Dieses Gebiet, das man als Neuwürttemberg bezeichnete, umfaßte
3V Quadratmeilen; das Land wuchs also um 8 Quadratmeilen, im ganzen bis
auf 153. Weber erwähnt in seinem „Demokritos," daß damals eine große
staatsrechtliche Schrift erschien, betitelt: „Über die Kurwürdigkeit Württem¬
bergs." Da hiernach niemand daran zweifeln konnte, daß das Land wirt-
lich „kurwürdig" war, so wurde es noch in demselben Jahre (1803) ein Kur¬
fürstentum.
Zwei Jahre später nahm der neue Kurfürst, gleich Baiern, an dem Kriege
gegen Österreich teil; allerdings wurde er halb und halb durch den Marschall
Ney zum Abschlüsse des Bündnisses mit Frankreich gezwungen. Die Belohnungen,
die er dafür empfing, waren verhältnismäßig, d. h. wenn man die bisherigen
Gebiete der beiden Staaten mit einander vergleicht, noch viel bedeutender, als
die, welche Baiern damals erhielt. Im Frieden zu Preßburg kamen an
Württemberg: die seither österreichische obere und niedere Grafschaft Hohenberg,
die Landgrafschaft Nellenburg, die Grafschaft Bondorf, die Lcmdvogtei Altdorf
(ohne Konstanz), die sogenannten Donaustädte Waldsee, Munderdingen, Ried-
lingen, Mengen, Saulgau, Edinger, der Teil des Breisgaus, der vou Württem¬
berg umgeben war, mit der Herrschaft Triberg (später größtenteils wieder an
Baden abgetreten), die früher bairische Herrschaft Wiesensteig, die seit 1803
badische Stadt Viberach, die Grafschaft Scheltringen, die Deutschordeus-Kommen-
den Kiipfenberg und Alshausen, die Abtei Wiblingen; dazu kamen viele, ehemals
teils geistliche, teils weltliche Gebiete, die im Neichsdeputationshauptschlusse zur
Entschädigung reichsgräflicher und freiherrlicher Häuser gedient hatten, nämlich:
Ochsenhausen, Noth, Schussenried, Weißenau, Baindt, Egloff, Gutenzell, Hagbach,
Iburg, Königsegg-Aubendorf, Neu-Ravensburg, Mietingeu, Weingart, die süd¬
lichen Besitzungen des Fürsten von Thurn und Taxis, die Grafschaft Limpurg,
Lande der Fürsten von Löwenstein, von Hohenlohe (ohne Schillingsfürst und
Kirchberg) und von Neifferscheid-Bedburg. Dazu erlangte Württemberg endlich
noch die Oberherrlichkeit über sehr zahlreiche Besitzungen der Neichsritterschaft,
die nicht einzeln aufgezählt werden können. Das waren im ganzen 189 Quadrat¬
meilen, so daß der Staat, der bis dahin 153 Quadratmeilen umfaßt hatte,
mit einem Schlage sich auf mehr als das doppelte vergrößert hatte. Bei
einem Besitze von 342 Quadratmeilen, die damals von annähernd 1200000
Menschen bewohnt wurden, konnte dem Landesherrn natürlich die Kurfürsten¬
würde nicht genügen. Am 1. Januar 1806 ließ er sich zum Könige ausrufen
und nannte sich fortan Friedrich I.
Gleich Vaiern trat auch Württemberg noch in demselben Jahre dem Rhein¬
bunde bei; kleinere Gebietsaustauschungen mit jenem Königreiche und mit Baden
waren nicht von wesentlicher Bedeutung. Im Kriege gegen Preußen 1806 und
1807 kämpfte» und bluteten die Krieger Württembergs für den fremden Unter¬
drücker. Für seine Teilnahme am Kriege gegen Österreich 1809 erhielt es zu¬
nächst vorweg, gleichsam als Handgeld, wie es ehemals bei den gewordenen
Landsknechten hieß, Mergentheim, den bisherigen Besitz des Hoch- und Deutsch¬
meisters, nebst seinem Gebiete. Etwas erheblicher waren die Belohnungen, die
der Friede zu Wien und die nachfolgenden Verträge dem Könige brachten. Es
waren besonders Gebiete, die früher Baiern zuerteilt worden waren, welche jetzt
in württembergischen Besitz übergingen; die meisten sind früher, bei der Gebiets--
entwicklung Baierns genannt worden; die damit verbundenen kleinern Aus¬
tauschungen können übergangen werden. Der Zuwachs betrug im ganzen
12 Quadratmeilen, so daß damit das Königreich eine Ausdehnung vou 354
Quadratmeilen erlangte, die heute vou etwa 2 Millionen Einwohnern be¬
völkert sind.
Damit war die Gebietsentwicklung des zweitgrößten Staates in Süddeutsch-
land abgeschlossen. Denn weder der Krieg von 1866, in welchem Württemberg
auf Seiten der Feinde Preußens, dem ja sein damaliger leitender Minister,
Herr von Varnbüler, etwas voreilig das bekannte viotis! zurief, noch
der Krieg von 1L70, in welchem die Söhne Württembergs vereint mit ihren
deutschen Brüdern kämpften und die altberühmte Tapferkeit des Schwaben¬
stammes aufs neue glänzend bewährten, haben in dieser Beziehung eine Ände¬
rung hervorgebracht.
Die meisten der Landesteile, die das heutige Königreich bilden, haben vor¬
mals dem schwäbischen Neichskreise angehört; doch ist auch die Zahl der Gebiete,
die zum österreichischen, fränkischen und niederrheinischen Kreise gerechnet wurden,
nicht gering. Es ist aber schwierig, hierüber ganz bestimmte Angaben zu machen;
denn wenn man auch das alte Herzogtum Württemberg und Teck als ein ab¬
geschlossenes Ganzes betrachtet und davon absieht, die Einzelgebiete, aus denen
es hervorgegangen war, besonders in Anrechnung zu bringen, und wenn man
ebenso die vielen Gebiete der frühern Reichsritterschaft ganz aus dem Spiele
läßt, so kann dennoch die Zählung sehr verschieden sein. Man weiß dann immer
noch nicht, ob man z. B. die Besitzungen des deutschen Ordens, die unter dem
Hochmeistertum Mergentheim standen, die Besitzungen der Fürsten von Hohen-
lohe, Thurn und Taxis, Waldburg, der Grafen Löwenstein, Königsegg :c. mit
ihren verschiedenen Linien besonders zählen oder zu Einheiten zusammenfassen
soll. Ebenso weiß man nicht, was man mit den Gebieten machen soll, von
denen ein Fetzen zu Württemberg, ein andrer zu Baiern oder zu Baden gehört.
Jedenfalls mag zum Schlüsse festgestellt werden, daß die Anzahl der in Württem¬
berg einverleibten Territorien, die noch 1792 reichsunmittelbar waren, nahezu
76 beträgt. Auf den heutigen Donaukreis allein rechnet Daniel z. V. 44.
Bon einer geschichtlich begründeten Zusammengehörigkeit dieser einzelnen Landes¬
teile, die erst im Anfange dieses Jahrhunderts die Laune des gewaltigen Frau-
zosenkaisers und allerlei Zufälligkeiten mit einander verbunden haben, kann ebenso
wenig die Rede sein wie bei Baiern, und wenn man die Größe der beiden
Länder vergleicht, so ist Württemberg bei weitem willkürlicher und bunter zu¬
sammengestückelt und gewürfelt, als dies bei dem Nachbarkönigreiche der Fall
ist. Weit mehr als die Hälfte seines Gebietes — nämlich von 354 Quadrat¬
meilen 209 — hat ursprünglich gar nichts mit ihm zu thun gehabt. Irgend
welches Recht auf Erwerbung oder richtiger Aneignung ist niemals vorhanden
gewesen, und man hat auch eigentlich niemals versucht, ein solches vorzuschützen.
Um solche Kleinigkeiten kümmerte sich der erste Träger der „Schwabenkrone,"
König Friedrich, nicht allzuviel.
Doch das ist lange, lange her, und auch hierüber ist Gras gewachsen.
Die Bewohner jener verschiedenen Landesteile haben sich an einander gewöhnt
und leben zufrieden unter einer guten Regierung. Zum Heile Deutschlands
und um einer Neubildung und Umgestaltung desselben Raum zu schaffen, mußte
der Zersplitterung des Vaterlandes ein Ende gemacht werden, und ebenso wie
die andern Süddeutschen, haben auch die Württemberger, die anfangs einen
zähen Partikularismus zeigten, sich in die neuen Verhältnisse gefunden. Daß sie
jetzt gute Deutsche und treue Anhänger des neuen Reiches sind, haben sie erst
vor kurzem glänzend bewiesen, als der jugendliche Herrscher, der jetzt die deutsche
Kaiserkrone trägt, ihr Land und ihre Hauptstadt mit seinem Besuche beehrte.
Am auffallendsten, man möchte fast sagen, am unnatürlichsten, ist das
Mißverhältnis zwischen den angestammten Gebieten des Herrscherhauses und
dem willkürlich im Anfange dieses Jahrhunderts dazugeworfenen Landesteilen
bei dem Großherzogtume Baden. Nur etwa der fünfte Teil dieses Landes
war ererbter Besitz der alten Markgrafen; vier Fünftel sind erst im Zeitalter
Napoleons dazugekommen. Von einer geschichtlichen Stammeszusammen-
gchörigkeit der Bewohner der vielen Einzelgebiete und Gebietsfetzen kann eben¬
sowenig die Rede sein, wie bei den übrigen Nheinbundsstaaten. Bei der Bildung
des Staates war nur die Dynastie maßgebend; deren Interessen und die früher
mehrfach bezeichneten Zufälligkeiten verschiedener Art haben die Gebietsent¬
wicklung bestimmt, beeinflußt und herbeigeführt.
Die Geschichte des in Baden herrschenden Geschlechts beginnt mit dem
Grafen Berchthold (oder Berthold) dem Bärtigen (gestorben 1078). Er ent¬
stammte einem edelfreien Geschlechte, das im Breisgau, im obern Albgau (an
den Ouellflüssen der Donau) und in der Ortenau begütert war, und dem
Otto III. Markt, Zoll und Münze zu Villingen („auf der Bertholdsbaar")
verliehen hatte. Daß er ein Nachkomme der alten Allemannen-Herzöge gewesen
sei, ist unbegründet und nichts als eine Sage, wie die Hofgeschichtsschreiber
solche fast bei allen erlauchten Geschlechtern erfunden haben, um dadurch den
Glanz des Hauses, dem ihre Feder gewidmet war, zu erhöhen. Daß seine
Großmutter eine Schwester Friedrichs, des ersten staufischen Herzogs von
Schwaben, gewesen sei, ist möglich, aber nicht unzweifelhaft nachgewiesen. Da¬
gegen ist die Überlieferung, eine seiner Stammmutter „Hildegard aus dem
Stamme der Bertilonen" sei eine Gemahlin Karls des Großen gewesen, wie¬
der in das Reich der Sage zu verweisen. Er erlangte, wahrscheinlich durch
seine erste Heirat, die Belehnung mit Kcirnthen und der Mark Verona. Auf
dem letztern Besitze beruhte wohl der Markgrafentitel, den seine Nachkommen
Jahrhunderte lang führten; daß sie ihn, wie es wohl heißt, „zur Unterscheidung
von Familien geringerer Herkunft" willkürlich angenommen haben sollen, ist
nicht wahrscheinlich. Er erwarb auch zahlreiche Erbgüter in Schwaben und
kämpfte auf Seiten Friedrichs von Schwaben gegen Kaiser Heinrich IV. Er
nannte zuerst sein Geschlecht nach der Burg Zähringen im Breisgau, ein
Name, der seinen Nachkommen verblieben ist. Das Dorf Zähringen, in
dessen Nähe die Trümmer der alten Burg noch zu sehen sind, liegt im jetzigen
badischen Kreise Freiburg.
Der älteste Sohn dieses Fürsten, Berthold II., begründete die ältere
Hauptlinie des Zähringer Hauses, die bereits im Jahre 1218 erlosch. Dieser,
der Begründer von Freiburg im Breisgau, führte den Herzogstitel und er¬
langte große Gebiete in der mittlern und westlichen Schweiz als Lehen des
Reiches. Auch die Statthalterschaft über den Teil von Hochburgund, der öst¬
lich von Jura lag, brachte er an sein Haus. Eine Reihe von Städten in der
Schweiz, so namentlich Bern und Freiburg im Unbekante, verdanken diesem
Fürstengeschlechte ihre Entstehung. Bei dem Aussterben dieser älteren Linie
der Zähringer kam jedoch kein Teil ihres reichen Besitzes an die jüngere Linie
dieses Hauses, mit der die sogenannte „Totteilung", d. h. eine völlige Sonde¬
rung der Eigentums- und Lebensgemeinschaft, eingetreten war. Der letzte
jener ältern Zähringer vermachte durch Testament einen Teil seines Gebietes,
Zürich, dem Kaiser, Bern, Freiburg in der Schweiz und Solothurn dem Reiche
als freie Städte, seine burgundischen Besitzungen seiner Schwester Anna, die
mit dem Grafen von Kyburg vermählt war, und die schwäbischen Besitzungen
nebst Freiburg im Breisgau seiner Schwester Agnes, einer vermählten Gräfin
von Urach. Erst viele Jahrhunderte später fiel ein Teil dieser altzähringischen
Lande der jüngeren Linie des Hauses zu.
Diese jüngere Linie stammt ab von dem zweiten Sohne Bertholds des
Bärtigen, Hermann I., der noch in ziemlich jugendlichem Alter der Welt ent¬
sagte und sich in das Kloster Clugnh in Frankreich zurückgezogen hatte, wo er
vier Jahre vor seinem Vater gestorben war. Dessen Sohn Hermann II. nannte
sich zuerst nach der alten Burg Baden oder Hvhenbaden, die ihm seine Ge¬
mahlin Judith, die Erbtochter des gräflichen Hauses Kato, nebst Backnang
als Mitgift zugebracht haben soll. Dieses alte Schloß, das wegen seiner herr¬
lichen Aussicht in die Rheinebene jedem Besucher von Baden-Baden bekannt
ist, wurde durch die französischen Mordbrennerhorden im Jahre 1689 fast
völlig zerstört und ausgebrannt.
Unter seinen Nachfolgern muß Hermann V. erwähnt werden, der mit Jr-
mentrud, einer Tochter des welfischen Pfalzgrafen bei Rhein, vermählt war.
Die Rechte und Ansprüche seiner Gemahlin auf die Hälfte der Stadt Braun-
schweig und andre Gebiete in Norddeutschland trat er an Kaiser Friedrich II.
ab und erhielt dafür von diesem Durlach und Ettlingen. Als Besitzungen der
badischen Zähringer werden damals folgende aufgeführt: Burg und Stadt
Bade», Durlach, Pforzheim, Ettlingen, die Schlösser und Gebiete Mühlberg,
Grötzingen, Steinbach, die jetzt württembergischen Orte Backnang, Vcsigheim,
Altensteig und verschiedene Pfandschaften. Unter ihm tritt auch die erste Länder¬
teilung ein; sein jüngerer Bruder, Heinrich, stiftet die nach der Burg Haasberg
(später Hochberg) im Breisgau genannte Nebenlinie; von dieser sondert sich dann
später noch die Linie Sausenberg. Beide Linien starben aus, und ihre Lande
fielen wieder dem Hauptstamme des Hauses zu. Hermann V. starb im Jahre
1243, und über seinem Grabe führte seine Witwe das Cisterzienserklöster Lichten-
thal auf, das ebenfalls keinem Besucher von Baden-Baden unbekannt ist.
(Schluß folgt.)
is s Friedrich Theodor Vischer wenige Wochen nach seinem von
der ganzen Nation gefeierten achtzigsten Geburtstage in Gmunden
zur schmerzlichen Überraschung der gebildeten Welt schnell ver¬
chied, da stand das Bild seines persönlichen Charakters viel
größer und klarer vor unsern Augen, als sein System der Ästhetik.
Bei seinem Tode waren die Grundlagen dieser jetzt noch in den Anfängen
stehenden Wissenschaft, um deren Ansehen und Vertiefung Vischer sich die meisten
Verdienste erworben hatte, schwankender als jemals. Er selbst hatte schon
vor einem Jahrzehnt sein eignes Gebäude Hegelscher Dialektik als ein Karten¬
haus umgeworfen, und er starb, ohne seinen Plan, das Jugendwerk umgearbeitet
neu herauszugeben, durchgeführt zu haben. Wenn man demnach auch von
Vischer immerdar als vom Ästhetiker sprechen wird, so ist doch damit sein
Charakterbild noch lange nicht erschöpft. Vischer war auch ein Dichter, sein
Roman „Auch Einer" wird manchen Roman Spielhagens oder Auerbachs
überleben; er war ein Humorist als der biedere „Schartenmaier," ein genialer
Satiriker als der Verfasser des dritten Teils der Tragödie „Faust", ein Lyriker
in seinen „Lyrischen Gängen." Er war, und dies nicht zum wenigsten, ein
leidenschaftlich für die Bildung der deutschen Einheit entflammter Politiker,
auch er hatte 1848 seinen Platz an der Seite Uhlcmds in der Paulskirche
gefunden, auch er mußte wie mancher andre deutsche Mann das Brot der
Verbannung essen, und doch konnte er vom „Laster des politischen Schrift¬
stellers" bis in seine hohen Lebensjahre nicht lassen. Vischer hatte auch ein
offenes, satirisch scharfes Auge für die Kleinigkeiten des Alltagslebens, für das
„untere Stockwerk": er hechelte die geschmacklosen Frauenkleidermoden vom
Reifrock bis zum Pariser Hinterpolster grobianisch durch; er schrieb gegen die
Bierpantscherei, wenn auch nicht aus derselben rein sittlichen Entrüstung wie
Jhering gegen den Trinkgelderunfug. Kurz und gut: Friedrich Bischer war
uicht bloß ein systematischer Philosoph, nicht bloß Ästhetiker und Literar¬
historiker, sondern einer der glänzendsten Schriftsteller Deutschlands im gegen¬
wärtigen Jahrhundert. Sein mächtiges Naturell war nicht allein für das enge
Dasein des Stubengelehrten geschaffen, sein Sinn war für die ganze Mannig¬
faltigkeit deutschen Lebens empfänglich und seine Leidenschaft ließ ihn nicht
ruhen, er mußte überall, wo er sich mitzureden berufen fühlte, sein Wort hören
lassen. Und wie schön, wie reich, von welcher sinnlichen Kraft und Bildung
war sein Wort! Wir zählen Wischers Prosa wie die Fcillmerayers, Hebbels,
Schopenhauers zu der schönsten und markigsten der deutschen Sprache. Von
all den Originalschriftstellern war er aber der beweglichste, der gesündeste und
zweifellos auch der liebenswürdigste Mensch.
Die Lebensgeschichte eines solchen Mannes, der in seinem Geistesgaugc
vorbildlich alle wissenschaftlichen und politischen Wandlungen der Nation seiner
Zeit miterlebte, ist daher von allgemeinem geschichtlichen Werte. Noch mangelt
es an einer Biographie Wischers; sein Sohn, der Kunsthistoriker Robert Bischer,
soll sich mit der Abfassung einer solchen und mit der Ordnung des litterarischen
Nachlasses des Vaters beschäftigen. Inzwischen hat man Ursache, jeden Beitrag
zur Kenntnis des Lebens und Charakters des großen Schriftstellers mit Dank
hinzunehmen. Viel des Neuen können uns allerdings nachgelassene Briefe und
Schriften eines Mannes wie Bischer nicht bieten. Wenn Uhland während
seines ganzen Lebens der größern Öffentlichkeit nur als Lyriker und Politiker
bekannt war, und uns erst sein Nachlaß mit seinen klassischen Studien über
die ältere deutsche Litteratur und über Volkspoesie bekannt machte, so war
sein langjähriger Freund Bischer minder verschlossen. Schon die ununter¬
brochene akademische Lehrthätigkeit brachte vielen Wischers Persönlichkeit nahe;
neben seinen Forschungen liefen stets journalistische, wie man weiß, häufig Auf¬
sehen erregende Arbeiten her, und in seinen Schriften war er so individuell,
so offenherzig, daß nichts wesentliches von seinen Gesinnungen, Neigungen und
Abneigungen verborgen geblieben ist. Hat er es doch kaum verbergen können,
daß er in die Schrullen seines „Auch Einer" ein gutes Teil eigner, humo¬
ristisch angeschauter Schwächen hineingedichtet hat. Immerhin aber erscheint
auch der Subjektivste und offenherzigste der Schriftsteller vor der Öffentlichkeit
mit einigem Zwange, im Svnutagskleide, akademisch vornehm bemüht, recht un¬
persönlich zu scheinen. Im Hausrock hingegen, ganz ungebunden von öffent¬
lichen Rücksichten zeigen ihn seine Privatbriefe, die er an die Familie und
an Freunde gerichtet hat. Was für ein Schatz ist uns Lessings Briefwechsel!
Wie gemütlich näher tritt uns Schiller in seinen Briefen! und welchen Wert
vollends haben für uns Goethes Jugendbriefe gewonnen! Darum heißen wir
auch eine schöne Reihe Freundesbriefe Wischers, die ihr Empfänger Julius
Ernst von Günthert, ein Landsmann des Verstorbenen, herausgegeben hat, aufs
Wärmste willkommen.*)
Musterhaft kann man die Ausgabe allerdings nicht nennen und das ist
zu bedauern, wenn man auch dem Herausgeber nicht gern einen Vorwurf daraus
mache» wird. Vischer war nicht darnach angethan, mit Männern, die ihm gleich-
giltig waren, schöngeistige Briefe zu wechseln, das Briefeschreiben war ihm viel¬
mehr eine schwere Last bei seiner ohnedies stark von Berufspflichten und litte¬
rarischen Arbeiten in Anspruch genommenen Zeit. Wenn er sich dennoch ein
Jahrzehnt lang (1861—1371) an einen und denselben Mann fleißig in Brief¬
form mitteilte, so mußten es starke Bande sein, die ihn an den Freund fesselten.
Die Bekanntschaft Gnntherts, der als Hauptmann in der Festung Ulm in
Garnison stand, hatte Bischer zufälligerweise im Theater von Ulm, bei einer
Vorstellung des Trauerspiels „Montrose" von Laube, im Frühjahr 1861 ge¬
macht. Sie saßen zusammen in derselben Loge. Im Zwischenakt machte der
Hauptmann eine Bemerkung über das Stück, Vischer fand sich davon so an¬
geregt, daß er in seiner geistreichen Weise sich des weitern über die Dichtung
und die Kunst im allgemeinen erging. Günthert gefiel ihm, er nahm die Ein¬
ladung, ihn zu besuchen an, und seitdem entspann sich ein schriftlicher und
persönlicher Verkehr zwischen Zürich, wo Vischer damals Professor war, und Ulm
Gleich aus dem zweiten Briefe ersehen wir, was beide vereinigte. Am
4. Januar 1862 schreibt Bischer aus Zürich: „Ihre freundlichen Zeilen sind
mir in die winterliche Stube unter die Bücher, zwischen denen ich begraben
sitze, wie ein Blumenblatt hereingefallen; ein Neujahrgruß, woher man ihn
nicht erwartete, von einer Seite, wo uns eine geistige Berührung durch ge¬
schriebenes Wort mehr Liebe gewann, als wir wußten, thut so recht besonders
wohl, und ich erwidere ihn mit herzlichem Dank und Händedruck. Gleich
starkes Gefühl für Kräftigung und Ehre unsers Vaterlandes, von Ihnen in
poetischer, von Thatendrang glühender Form ausgesprochen, hat uns zusammen¬
geführt; ein Band, das aus so starkem Stoffe besteht, ist wohl danach be¬
schaffen, Männer dauernd zu vereinen." Also Politik und Poesie, insbesondre
die still, aber mit Begeisterung gehegte deutsche Einheitsidee führte die beiden
Männer zusammen, die Freunde bis zum Abgang des ältern von ihnen ge¬
blieben sind. Jedenfalls muß Günthert ein ausgezeichneter Mensch gewesen
sein, wenn er Vischer in langen Jahren so fesseln und zu den vertraulichsten
Mitteilungen aller Art veranlassen konnte. Bezeichnend für die Wärme seines
Gefühls für Günthert ist, daß er ihm aus Zürich, am 2. November 1863, eine
auf dem historischen Friedhof von S. Lucia gepflückte Rose schickte. Ebenso
brachte er ihm 1872 aus Italien ein am Grabe Tassos gepflücktes Epheublatt
mit. „Meine Freude war, daß er auch an jener halbmythischer Stelle meiner
dachte," fügt Günthert hinzu. Mehr vielleicht, als künstlerisch geboten war, hat
sich der Herausgeber dieser Briefe selbst in den Hintergrund geschoben; denn
um einen Briefwechsel richtig würdigen zu können, muß man beide Korrespon¬
denten klar vor Augen hoben. Wir erfahren nur mittelbar etwas von
Güntherts Thätigkeit und Lebensumständen. In seiner stillen Garnison be¬
trieb er fleißig philosophische und poetische Studien, bei denen ihm Bischer mit
Kritik und Rat behilflich war. Zu Beginn der Bekanntschaft war der Haupt¬
mann Günthert schon Familienvater, es traf sich, daß Bischer Pate seines bald
darauf gebornen Sohnes wurde, der nach dem großen Freunde auf den Namen
Fritz getauft wurde. Dadurch wurde der Verkehr zwischen Ulm und Zürich noch
vertrauter, es kam ein familiärer Zug hinein. Wir können uns von der Er¬
scheinung Güntherts durch einige Zeilen Wischers eine Vorstellung machen, die
den Empfang seiner Photographie beantworten. Anfangs Januar 1866 schreibt
Bischer aus Zürich: „Vorigen Sonntag morgens, unmittelbar ehe ich nach
Basel abreiste, erhielt ich Ihre Zusendung, das Bild mit den reingefühlten
Versen. Es gehörte dies unter die Freuden, welche mir die Feiertage ver¬
schönerten. Ich darf im Plural reden, weil ich ein paar angenehme Tage in
Basel zubrachte. Ihr Bild ist sehr gut, selten gelingt eine Photographie so;
ein kompakter, fixer, braver Soldat und lebendiger, Zutrauen erweckender Mensch
sieht einen aus diesem Bilde ein . . —"
Indem wir diese Punkte und diesen Gedankenstrich genau dem Texte des
Buches nachzeichnen, stoßen wir auf die fatale Seite desselben. Man findet
nämlich diese unangenehmen Punkte in den abgedruckten Briefen Wischers sehr
oft; sie bedeuten immer eine Auslassung, eine rücksichtsvolle Streichung
Güntherts. Bischer gab sich in seinen Briefen mit echt schwäbischer Ur¬
wüchsigkeit und Derbheit, mit Rabelaisscher Leidenschaft im Ausdrucke.
Hier zu dämpfen, zarte Mädchenseelen vor nicht salonfähiger Sprache,
vor Wendungen aus der Kneipe zu bewahren, dort auch vielleich lebende
Personen zu schonen, ließ sich der Herausgeber nur allzusehr angelegen sein.
Oft errät man aus den beibehaltenen Anfangsbuchstaben, wer gemeint ist, so
wenn Bischer einmal von einer „Zusammensäblung C.s" spricht; da erinnert man
sich an den köstlichen kritischen Gang gegen den „Sonntagsnachmittagsprediger
für alte Weiber." Oder wenn es heißt: „A.s Figuren erscheinen mir doch in
besserem Lichte, dagegen fürchte ich, seine Pikanterie nach geistreichen äivta,
diese Geistreiterci-Schrauberei - Spicgelei nicht scharf genug jm dem für die
Augsburger Allgemeine Zeitung geschriebenen Artikel, von dem vorher die Rede
warZ gepackt zu haben. Persönlich ist er gutmütig, aber auch eitel, aufopfernd,
liebenswürdig, frcnndschaftwnrdigend, aber auch daran schleckend, von dem „ein¬
ander Liebhaber" mit schmotzelicher Fettigkeit gern redend, bei Vornehmen sich
gern bewirten und verehren lassend" (Zürich 11. Februar 1866) — so weiß
man, daß Berthold Auerbach mit dem A. gemeint ist, umso sicherer, als ja
kurz zuvor die Mitteilung, daß Vischer sich mit einer Kritik des Auerbachscheu
Romans „Auf der Höhe" beschäftige, ohne Kürzung des Namens gedruckt worden
war. Warum also hier die Kürzung? Warum ferner die durch den Punkt
zwischen „auch" und „eitel" angedeutete Weglassung eines Wortes? Wer hat
das Recht, einen Text Wischers zu Hofmeistern? Ebenso wird der Name Rtt-
melins, dessen „Shakespcarestudien eines Realisten" Vischer sehr beschäftigen,
da er ja darin ein (freilich nicht ganz ebenbürtiges) Seitenstttck zu seiner eben¬
falls eine feststehende Autorität angreifenden .Kritik des zweiten Teiles des
„Faust" fand, immer unterdrückt und durch ein X— ersetzt. Wozu diese Rätsel¬
aufgaben? Und wenn schon Günthert hier ohne ernste Begründung, da ja
Wischers Gesinnung aller Welt kund ist, kürzt, streicht, wegläßt, nur andeutet,
Worte, halbe Sätze oder ganze Abschnitte, welches Vertrauen kann man weiter
auf seine übrige Redaktion haben? Muß man nicht befürchten, daß er auch
sonst etwas kleiumütig und ängstlich verfahren sei? Das ist es, was man an
dieser Ausgabe der Briefe Wischers zu bedauern hat. Hat man sich einmal
zu einer solchen entschlossen, so hätte man es ohne Rückhalt thun sollen. Man
ist heutzutage doch wahrlich daran gewohnt, den Text eines Schriftstellers vom
Range Wischers zu respektiren; man hat ferner ein viel zu lebhaftes Gefühl
für das realistische Porträt, um sich selbst durch Flecken im Bilde nicht die Liebe
zu ihm stören zu lassen; und es gehört zu der Individualität Wischers, Meister
des Wortes zu sein, auch wenn es nicht parfumirt ist. Dieser sein Charakter
wurde durch Güntherts zu weit getriebene Behutsamkeit einigermaßen verwischt.
Nur vorläufig nehmen wir daher mit dieser Ausgabe der Briefe Wischers vorlieb
und hoffen, daß wir später noch eine vollständigere, nicht in u8um ävlMini
hergerichtete erleben werden.
Das Jahrzehnt, worin diese Briefe geschrieben wurden, ist jedenfalls eines
der bewegtesten unsers ereignisreichen Jahrhunderts. 1861 stand Napoleon III.
auf der Höhe seiner Macht, er beherrschte zum Schmerze aller deutschen Pa¬
trioten die europäische Politik. Man weiß, daß der alte Schwabe und Demo¬
krat von Haus aus kein Freund Preußens war. Einmal spricht er die Be¬
fürchtung aus, daß es von Frankreich ins Schlepptau gezogen werde, wie
Österreich, erkennt aber bald seinen Irrtum. Über Napoleon äußert er im
März 186S: „Sie stecken wohl auch schon im Leben Cäsars? Doch naiv von
dem Manne der Klugheit, seinen Glauben an die Mission der Kronenräuber
und angeblichen Volksbeglücker so offen in einem tendenziösen Geschichtsmerk
niederzulegen und ihn und sich so der Kritik zu exponiren?" Am 9. September
1870, nach Sedan, schreibt er über ihn: „Napoleon ist von Anfang an kein
unständiger Mensch gewesen. Es geschah ihm überflüssig Ehre, wenn man ihn
nicht standrechtlich behandelte, oder vielmehr (da er sich ergeben hat) ihn bei
mäßiger Kost einsperrte. . —" Das ganze Jahrzehnt hindurch gab es Kriege
in Europa, oder man steckte in Kriegsbefürchtungen. Zuerst erschütterte die
fchleswig-holsteinische Frage den Frieden, dann der Krieg von 1866, und endlich
der große Krieg des Jahres 1870, der die deutsche Einheit gebar. Bischer
nahm an allen diesen Vorgängen den lebhaftesten Anteil; er schrieb Zeitungs¬
artikel, Broschüren, die freilich bald von den Ereignissen überholt wurden. Vor
dem Kriege gegen Dänemark schreibt er am 14. August 1863: „Ich kann von
dem Laster des politischen Schriftstellers nicht lassen; so wird dem Artikel in
der Allg. Ztg. gegen die Schwätzer in I^olmnx as ?ora8 mit nächstem eine
Broschüre folgen, die unsre zwei Parteien, kleindentsch und großdentsch, zu einem
Kompromiß auf: Parlament mit verbesserter föderativer Zentralgewalt zu be¬
stimmen sucht." Am 23. August: „Das Reformprojekt hat mich weniger herab¬
gestimmt als Sie. Eine einheitliche Spitze ist jetzt rein unmöglich, wir müssen
uns mit der föderativem noch begnügen. Die Einheit muß im Volkswillen,
d. h. im Parlament liegen. Dahin müssen wir den moralischen Druck legen."
Günthert, der Soldat, trat hingegen für einen die Militärgewalt vereinigenden
Kaiser an der Spitze der Nation ein. In dieser Zeit seines Aufenthaltes in
der Schweiz ärgerte sich Bischer nicht wenig über den Mangel an National¬
gefühl bei den Deutschen. Am 2. November 1863 erzählte er eine Szene, die
vielleicht die Anregung zu der bekannten Stelle in dem Romane „Martin
Salander" seines Freundes Gottfried Keller gegeben hat, in der ein deutscher
Handwerker sich über seine eigne Nation verächtlich äußert und derb zurecht¬
gewiesen wird. Er schreibt: „Von der Ehrlosigkeit der Deutschen, der Selbst-
wegwerfung vor den Schweizern mache ich immer neue Erfahrungen. Erst vor
einigen Tagen schimpfte vor mir ein ganz anständiger Kaufmann ans Preußen,
daß es noch nicht revolutionire, und sagte zu einem Schweizer: ja, wenn wir
nur einige 100 Schweizer drüben hätten, da ging's anders. Ich konnte dazu
nicht schweigen, aber was hilft es, wenn man den einzelnen zurechtweist? Was
seit 200 Jahren über unser Volk ergangen ist, hat doch eine arge Gesinnungs¬
losigkeit hervorgebracht; es kommt mir oft vor wie die Juden." Dann aber,
als die deutsche Einheit in blutigen Kriegen geschmiedet wird, ist ihm dieses
deutsche Volk noch immer nicht lebhaft genug. Am Vorabend des Krieges von
1866 schreibt er ans Zürich: „Den grauenhaften Krieg, der uns droht, würde
ich nicht beklagen, wenn der deutsche Michel —. Jetzt fängt er an, unter Gähnen
sich an der Stirn zu reiben. Die ganze Zeit her, da seit manchem Monat ein
Volk, das Feuer im Leib hat, mit Stachelsporen hinter seinen Regierungen
gewesen wäre, schlief es den zähen Schlaf der Kröte, die in einen Stein ein¬
geschlossen in Starrsucht Jahrhunderte leben kann. Ein Kind konnte längst
sehen, was uns droht. Der Michel kartelte, fr—, s—, tanzte und glotzte den,
der ein Wort von politischem Interesse sprach, mit Kretinblicken an, »Stupidität«
ist der Ausdruck, den die gegen Deutschland sonst billigste Schweizerzeitung, der
»Bund« dafür braucht. Lateinisch torxor. Bankerutte, Verzweiflung, Hungersnot
müssen kommen, ihn in Bewegung zubringen..—" Die Siege Preußens verstimmten
den alten Republikaner tief; er wollte sich nicht mehr mit der Politik beschäftigen.
So schrieb er am 18. Juni 1867 aus Tübingen: „Eigentlich aber könnt' ich
nur erwärmen, wenn wieder ein Freiheitshauch käme. Ich werde ihn nicht
erleben. Unsereiner kann mit der Politik bloß thun, so lange moralische Faktoren
wirken; in einer Zeit, wo alle Politik in Staatsraison aufgeht, kann er bloß
bitter schweigend zusehen." Bischer war verstimmt gegen Bismarck, weil dieser
Napoleon in der Luxemburger Frage nachgab; die folgenden Jahre aber
stimmten ihn um. Am 9. September 1870 schreibt er ans Baden-Baden:
„Sie wissen, daß ich kein » Demokrat bin; ich hätte den giftigen Kanaillen eine
Kugel vor die Stirne jagen können, als sie bei Beginn des Krieges gegen
Preußen statt gegen Frankreich schürten." Und hell lodert seine Begeisterung
auf, als sich der durch lange Jahre aufgehäufte Haß Napoleons in dem Kriege
von 1870 Luft macht. Schon am 1. Januar 1868 hatte er dem Freunde
geschrieben: „Und nun Prosit neu Jahr! Es bringe Ihnen gute, inhaltsvolle,
ruhig fließende Tage! Wenn es nicht anders sein kann — und mir will es so
scheinen — der Nation den Krieg, der ja doch einmal kommen muß! Nun und
dann bei allen Göttern: recht ausreichende Wix für die Franzosen!" Als der
Krieg, der lange vorhergesehene, ausbrach, da wollte der dreiundscchzigjährige
Bischer allen Ernstes selbst mit ins Feld ziehen: „Das Kriegsministerium soll
nun doch seinen Konsens zu einem normal militärischen Freikorps gegeben haben.
Ich will zusehen, ob es nicht nach Soldatenspiclcrei aussieht, ob es nach
Wahrscheinlichkeit wirklich auch zu thun bekommt. Dann will ich an die Ver-
sichernngsbank, worin ich auf — eingezeichnet bin, schreiben, ob ich alles ver¬
liere, wenn ich ins Feld gehe. Es zuckt in mir, dies zu thun. Am Ende wär'
es auch die beste Badekur gegen den Katarrh," fügt er humoristisch in seiner
„Auch Einer"-Weise hinzu. Aber am 18. August 1870 meldet er: „Mir hat
das Schicksal jeden Gedanken, anzuthun, mit einem festen Knopf, einem Übel
unterschnttrt, das ihm — diesem Dämon, der mir das Komische tragisch in den
Weg wirft — ganz gleich sieht: ich könnte keine Stunde marschiren vor einem
Hühnerauge, das jeder Behandlung spottet." Er war aber doch in Frankreich,
um die Schlachtfelder zu betrachten; sein eigner Sohn stand ja im Felde. Die
Notwendigkeit, die Einheit Deutschlands mit allen Opfern aus diesem Kriege
zu gewinnen, erkannte Bischer gleich; er spricht darüber sich merkwürdig und
seinen ganzen politischen Charakter zusammenfassend in einem Briefe vom
2. November 1870 ans: „Gestern erscheint eine Deputation ans Vaihingen:
sie wollen mich zum Abgeordneten, um endlich den Hopf wegzubringen. Ich
kann nicht. Es ist eine Pflichtenkollision. Meine Pflichten gegen Amt und
Litteratur sind doch wichtiger. Die Leute drängen sehr, haben Bedenkzeit bis
Sonntag geboten, ich muß aber ablehnen. Ich verstehe auch das Einzelne in
Verfassungsfragen zu wenig. Ich kann aber doch wohl durch meine Feder
mehr wirken, als in einer Kammer. Auch wird es so kommen: angenommen,
unsre Regierung sei zu den nötigen Opfern bereit, so ist der Nordbund, d. h.
Preußen, nicht zu den nötigen Freiheitskonzessioneu, namentlich nicht zum
Nachgeben im ungeheuern Militärbudget, in der dreijährige» Dienstzeit bereit. Wir
müssen es versuchen, darin etwas zu erreichen, und wir werden jetzt nichts erreichen.
Aber wir müssen doch in den Nordbund, es darf absolut der Moment nicht versäumt
werden. Das ist aber nun eine Stellung für einen Abgeordneten, zu der ich uicht
recht tauge. Man kann für den Satz: »wir müssen beitreten, obwohl wir in den
innern Verfassungsfragen schwere Opfer bringen« eine durchdachte politisch¬
wohlerwogene, dialektische Rede halten — aber solche Rede kann ich nicht halten."
Jeder Freund der Litteratur wird Vischers Entschluß preisen, der ihm die
Muße ließ, einige seiner wertvollsten Schriften noch gerade im letzten Jahrzehnt
seines Lebens zu veröffentlichen.
Im Jahre 1861, als der Briefwechsel mit Gttnthert begann, lebte Bischer
in Zürich, ohne Familie, als Junggeselle. Aus den Briefen sehen wir, daß
er sich sehr übel in Zürich befand. Fortwährend hat er mit Katarrhen, Er¬
kältungen, Rheumatismen zu kämpfen, er klagt über das schlechte Essen, das
schlechte Bier, die schlechte Wohnung. Aus Zürich muß er um jeden Preis
wegkommen, denn sonst geht er Physisch dort zu Grunde, er fürchtet am
Magenkrebs oder gar an der Wassersucht zu sterben. Endlich ergehen im
Jahre 1864 Anfragen aus Stuttgart an ihn, ob er die erledigte Professur
für Kunstgeschichte am Polytechnikum übernehmen möchte. Bischer zögert, trotz
seiner Sehnsucht, aus Zürich wegzukommen, er fühlt sich doch mehr als Philosoph
und Literarhistoriker tüchtig, die Kvllegenhefte für die Kunstgeschichte hat er
nicht ausgearbeitet — inzwischen wird ein andrer, gleichfalls aus Zürich be¬
rufener Gelehrter L. angestellt. Bischer ist von dieser BeHandlungsweise nicht
eben erbaut. Die Professoren des Stuttgarter Polytechnikums haben korporativ
für ihn beim Minister gestimmt, ohne Erfolg. Dafür bot ihm das Ministerium
die Kanzel für Litteraturgeschichte in Tübingen an: er konnte sich nicht gleich
entschließen, denn Tübingen war ihm, gegen Zürich gehalten, ein unerträgliches
Dorf. Vischers Klagen über das Züricher Leben steigern sich immer mehr; so
oft er nur kann, eilt er nach Ulm oder München oder an die Nordsee oder
nach Italien, um sich zu erholen. Anfang Januar 1866 kaun er melden, daß
man ihm durch die Vermittlung Auerbachs die Professur für Kunstgeschichte
in Karlsruhe angeboten habe. Aber er lehnte ab. „Übersehen Sie nun meine
Lage: in Karlsruhe eine willkommene Stätte und ein Amt, das nicht für mich
Paßt; in Tübingen ein Amt, das mit meinen Studien übereinstimmt, und ein
Aufenthalt, dessen tötliches Einerlei einem Kloster gleicht; in Zürich das Amt
ebenfalls entsprechend, aber keine menschliche Existenz und heilloses Kreuz um
eine Wohnung." Denn gerade in dieser Zeit, als er nicht wußte, wie lange
er noch in Zürich werde bleiben können, hat im der böse Dämon in Gestalt seines
Hausherrn den Streich gespielt, ihm die Wohnung zu kündigen; wie konnte er sich
bei der Unsicherheit seiner Stellung auf die kostspielige Miete einer neuen, bequemen
Wohnung in Zürich einlassen? Gegen Tübingen wehrte er sich auch später noch,
nachdem er die Professur dort, von der Not gedrängt, unter der Bedingung an¬
genommen hatte, abwechselnd in Stuttgart am Polytechnikum und in Tübingen
an der Universität zu lesen. Das Hin- und Herreisen wurde aber eine Qual,
raubte sehr viel Zeit und hinderte am Schaffen. Vischer setzte alle Hebel in
Bewegung, die Verlegung der Tübinger Universität in die königliche Hauptstadt
durchzusetzen; dem Kriegsminister machte er den Vorschlag, eine Kaserne aus
dem Gebäude der Tübinger Hochschule zu machen, dem Kultusminister setzte er
die wissenschastlichen Vorteile der Übersiedelung der Kliniken auseinander —
alles vergeblich. „Eine merkwürdige, irrationale Rechnung ist mein Leben: der
Wirkungskreis sehr schön, namentlich auch der in Stuttgart, — und daneben nicht
etwa ein untergeordnetes Übel, eine zu verschmerzende Unbequemlichkeit, sondern
eine Unmöglichkeit. Ich kann mich nicht resigniren, Tübingen zu ertragen, kann es
nicht wollen. Um keinen Preis hier absterben!" Vischer erreichte schließlich die Er¬
laubnis, ein Semester (im Sommer) in Tübingen, das andre, das Wintersemester, in
Stuttgart zu lese». Aber lange Zeit dauerte diese Ruhe auch nicht; kurz darauf,
im Juni 1868, wurde er der gewissenhafte, lange überlegende, schwer entschlossene,
einer neuen Versuchung, sichs noch bequemer einzurichten, durch einen Ruf nach
München ausgesetzt. Dieser Ruf verursachte ihm vieles Kopfzerbrechen. Am
22. Juni 1868 schreibt er: „Ich bin in einer unendlich schweren Kollision —:
1. München — pro.
Kunstschätze, Atelier, Künstlerumgang, großes, tragendes, den Geist i»
seiner Richtung nährendes Element.
Wirken auf zwei Anstalten. Denn obwohl nur ans Polytechnikum be¬
rufen, doch das Hören der Studenten uneingeschränkt. —
Mit prächtigen Pensionsverhältnissen.
Physisches Leben (die schärfere Luft, gesundes Getränke ;e.) mir
zuträglicher.
2. Oontrg, oder pro bleiben jm Tübingen nämlich^ —:
Pietät gegen das engere Vaterland, die liebevolle Aufnahme.
Schön begonnener Wirkungskreis.
Gebildete Menschen, bildsame Jugend.
Wiegt Ur. 2 durch sein moralisches Gewicht alle Punkte unter
Ur. 1 auf? Ja?"*)
Mit diesen Erwägungen war Bischer aber noch lange nicht fertig; einer
der mitwirkenden Beweggründe war auch die Aussicht, beim jungen König Lud¬
wig H. ein Gegengewicht gegen den Einfluß Richard Wagners bilden zu können.
Es ist nicht abzusehen, wie anders sich vieles in Kunst und Litteratur würde
gestaltet haben, wenn Bischer die Berufung nach München angenommen hätte.
Bis in den Dezember des Jahres zogen sich die Verhandlungen hin. Da endlich
schreibt er: „Soll ich Ihnen sagen, wie endlich der Entschluß des Bleibens zur
Welt kam — ich weiß es kaum mehr. Ich spürte eben, daß zwei Haken in
der Seele waren, von denen der Entschluß, zu gehen, gepackt war und nicht los
wollte: Gewissen — rvliAto — Pietät — wie wollen wir den einen nennen?
Bekanntes, befreundetes Element heißt der andre. Mündlich kann ichs vielleicht
deutlicher machen. Ich bin zufrieden mit meinem Entschluß. Unter den auf¬
richtigen Gratulanten ist namentlich Strauß."
Bischer blieb also dauernd in Stuttgart, der Minister hatte ihm auch er¬
spart, immer zwischen den zwei Hochschulen auf der Reise sein zu müssen. Dort
hatte er bis in die Mitte der siebziger Jahre seinen Kreis alter, geliebter
Freunde: Mörike, Notker, im Kriegsjahre war auch Günthert hinzugekommen,
der endlich von Ulm nach Stuttgart versetzt worden war, während die Jugend¬
freundschaft mit Strauß durch dessen Buch „Der alte und der neue Glaube",
dem Bischer nicht zustimme» konnte, bald in die Brüche ging. Denn Bischer
ist nicht wie Strauß Darwinist und Materialist geworden, sondern blieb bis an
sein Lebensende ein philosophischer Idealist, den „idealistischen Monismus" hielt
er schließlich für die Folgerung der Philosophie seit Kant. Günthert teilt die
merkwürdige letzte Begegnung Wischers mit Strauß mit. Es war im Jahre
1873; Strauß war totkrank aus Karlsbad zurückgekehrt. „Bischer war lange
Zeit im Streit mit sich, ob er Strauß besuchen solle, ob nicht. Ich sprach ihm
lebhaft zu, den alten Freund nochmals zu sehen, zu sprechen — er sei ster¬
bend — ihm aber werde es eine Genugthuung für das ganze Leben sein.
Bischer entschloß sich endlich dazu. Er wird kalt von Strauß empfangen, und
als er die Rede auf das Buch bringt, kurz mit dem Bescheid abgefertigt, daß
Strauß die Diskussion darüber als abgeschlossen betrachte. Bischer wahrt seinen
Standpunkt; Strauß werde das Manuskript gelesen haben? Dieser verneint
es. »Auch nicht den Brief?« Strauß schüttelt den Kopf. Tief verletzt ent¬
fernt sich Bischer. »Nicht einmal den Brief hat er geöffnet!« klagte er mir
schmerzlich. »Er ist eisigkalt, glüht nur für den Ruhm! Und wir waren so
innig verbunden wie Menächmen!« Der Bruch war vorhanden — der Tod,
der Allversöhner, versöhnte auch hier!"
In Stuttgart war Wischers Zeit am meisten von der Arbeit für seine Vor¬
lesurigen in Anspruch genommen. Von jeher, auch in Zürich, pflegte er seine
Kollegienhefte mit großer Sorgfalt auszuarbeiten, aber niemals hat er sie in
eine bleibende Gestalt bringen können, immer hatte er neues anzusetzen, immer
sah er von neuem die Quellen durch und studirte fortlaufend die gelehrten
Werke darüber. Er nahm seine Vorlesungen sehr ernst; nur den Honig von
seinen Studien gab er den Hörern, was ihn zwei Stunden kostete, war in
zehn Minuten gesprochen. Es ist auch bekannt, daß Wischers Vorlesungen ein
großes Publikum heranzogen, seine Zuhörer waren nicht blos Studenten, son¬
dern auch Herren und Damen aus den besten Stuttgarter Kreisen, und je
mehr er Hörer hatte, desto peinlicher nahm er es mit seiner Vorarbeit. Gün-
thert schildert ihn einige Male in seiner fesselnden, aber auch leicht erregten
und gestörten Art, zu sprechen. Ein dummes Gesicht im Zuhörerraum, eine
zu spät kommende Dame, die knarrend die Thür öffnete, konnten ihn so ver¬
stimmen, daß er die Vorlesung unterbrach. Was Bischer in seinen Vorlesungen
anstrebte, spricht er öfter aus. Hier eine Äußerung vom 15. März 1867: „Der
Ki—ele hat meinen Tübinger Vortrag in der Merkuranzeige recht veranne-
mergelt. Auch über den Stuttgarter hat niemand gesagt, um was einzig es
sich handelt. Ich will nicht, will mindestens nicht unbedingt gelobt sein, aber
ich durfte erwarten, daß man den Maßstab erkenne und nenne, den ich selbst
lege. Ob ich ihm genüge, ist eine andre Frage. Dieser Maßstab ist die For¬
derung, eine solche Stunde zu benutzen, um den Menschen Bilder des Großen
in die Seele zu führen, ihnen Schwung, torus zu geben. Um das zu machen,
muß man die eigne Seele ganz daran geben, mit dem innersten Leben dabei
sein. Da gleichzeitig Aufgabe ist, sich den Gegenstand ganz objektiv zu halten,
so handelt es sich um etwas sehr Schweres: ganz subjektiv und ganz objektiv
zu sein, und ich bin der Letzte, der meint, die große Aufgabe gelöst zu haben.
Aber meinen Willen sollten die Kerle begreifen, erkennen, daß ich straff mit
meinem Innersten bei der Sache bin und ins Große strebe. Da sprechen die
Käseseeleu.- von »köstlicher Detailmalerei«, und der Ki—ele verwandelt nur meinen
Wein in eine altbackene Laugenpretzel. Sie ahnen nicht, was Pathos ist, weil
sie keines haben." Günthert bemerkt mit Recht: „Auf Wischers Kolleg waren
die Worte des Faust anzuwenden: Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nicht
erjagen, Wenn es nicht aus der Seele dringt:c."
Anzunehmen, daß diese Arbeit an den Kollegienheften Bischer an der Um¬
arbeitung seiner Ästhetik gehindert habe, wäre aber doch sehr verfehlt. Viel¬
mehr verfolgt ihn der Gedanke an sie die ganze Zeit hindurch vom Beginn
des Briefwechsels an. Am 2. Mai 1863 schreibt er: „Meine Arbeit würde
diesen Sommer die Vorstudien für die neue Ausgabe der Ästhetik sein; nichts
Angenehmes, denn es gilt, mehrere dicke Bücher zu lesen, die höchst ermüden¬
den Inhalts sind und doch durchgearbeitet sein wollen. Mein Hauptaugenmerk
muß sein, die Frage über das Verhältnis von Form und Inhalt im Schönen
genauer zu nehmen, als in der ersten Ausgabe: ein feiner, heikler Punkt, ein
Eimer voll Wasser, der behutsam getragen sein will, damit man nichts ver¬
schütte. Im Schönen soll kein Stoffinteresse walten und doch kein bloßes Form-
interesse: man soll warm sein für den Inhalt und doch ohne Tendenz, Be¬
gehren oder Verabscheuen rein harmonisch gestimmt — hier liegt der Has
im Pfeffer." Am 8. Juni 1864 klagt er: „Jetzt heißes: arbeiten . .. Wenn
ich nur nicht so verdammt ungern an die Umarbeitung der Ästhetik ginge! Ich
habe halt nicht Licht genug, ich weiß halt nicht recht: was? Was ist das
Wahre?" Ein Jahr später, am ö. August 1865, ist er noch immer nicht vor¬
wärts gerückt. „Ich habe in Wahrheit nie eine Arbeit so ungern gemacht. Ich
drehe mich — und gar nicht erst seitdem ich diesen Aufsatz („Kritik meiner
Aesthetik" ?) schreibe — mit einem wahren Ächzen der Denkmühlrüder um einen
Punkt, in welchem ich nicht zu voller Klarheit gelange. Mein Buch schrieb ich
mit Selbstvertrauen, bald nachher kam es ins Wackeln und wackelt noch. Ich
muß aber schreiben, die Kerle sind wie Spitzhunde hinter mir her, ich
muß einmal ausschlagen. Weiß ich nichts rechtes, so muß ich mindestens
zeigen, daß meine Gegner nichts besseres wissen." Aber noch sechs Jahre
später ist er nicht fertig, denn am 21. April 1871 schreibt er: „Daneben lese
ich Ästhetik, und in meinem Manuskript, etwa dem 10., genügt mir wieder
nichts; das Schöne ist ein furchtbar schwerer Begriff; er baut sich aus einer
ganzen Reihe von Begriffen zusammen, und ob man ihn zur Klarheit bringt,
dies hängt namentlich davon ab, daß diese Reihe in die rechte Ordnung ge¬
stellt wird. Hier aber gerate ich jedesmal in ein logisches Chaos, daß mir
schwindelt; setze ich einen dieser integrirenden Begriffe an diese Stelle, so bricht
mir eine Naht an jener u. s. w. Dabei steht das Buch, die neue Ausgabe, wie
ein Gespenst vor mir; ich soll es machen, und mir fehlt die ganze Naivität
des Vertrauens, worin ich die erste Ausgabe schrieb; ich traue mir nicht zu,
es recht zu wissen — ohne alle falsche Bescheidenheit und falschen Respekt vor
den Herren Ästhetikern, die es besser wissen wollen." Es liegt ein Stück Ge¬
lehrtentragik in diesen Briefsteller, die keines Kommentars bedarf.
Zum Schluß möchten wir noch auf eine andre, mehr heitere Thatsache
hinweisen, welche durch diese Vischerschen Briefe und Güntherts Mittheilungen
anßer Zweifel gestellt wird. Es ist bekannt, daß Vischer lange nicht zugeben
wollte, daß er sich selbst in dem Helden seiner „Reisebekanntschaft," wie er den
Roman „Auch Einer" nannte, ziemlich naturgetreu geschildert habe. Aber für
die Kenner dieses köstlichen Buches werden schon die oben erwähnten Leiden
Wischers unter Katarrhen und Rheumatismen Beziehungen zwischen Dichter
und Helden hergestellt haben. Auch die demokratische Gesinnung, der Haß
gegen alle Ordensverleihungen, die Flucht vor dem Verkehr mit Persönlich¬
keiten des Hofes ist echt Vischerisch, und Günthert weist jedesmal heiter auf
„Auch Einer" hin. Umgekehrt klingt folgende Schilderung Güntherts von dem
Benehmen Wischers beim Einpacken in Ulm ganz so, als wäre sie dem Roman
entnommen: „Beim Abschied (Juni 1866) leistete ich dem Freunde Beistand
beim Packen seiner mannigfachen Gegenstände, die er sämtlich auf Sofa, Tisch
und Stühle ausgekramt hatte — doch mehr mit den Augen, wie er wünschte,
als mit der Hand. Dabei war er stets eigen und possirlich. Es fehlte ein
Hemd, siehe da, es war bereits eingepackt. Dort lag noch ein Schnupftuch —
er hielt es schon im Koffer verwahrt. Nun rutschte ihm ein Stückchen Seife
aus, das er eben in einen Streifen Zeitungspapier wickelte. Dann wird der
Rasirpinsel vermißt und endlich — ein Werk des Dämons, der ihn plagte —
zwischen dem Tischchen und dem Spiegel über ihm eingeklemmt gefunden. Und
der Kellner kommt nicht mit der Rechnung! Als ihn wiederholtes, gesteigertes
Zerren am Glockenzug herbeigerufen hat und er bezahlt ist, will Bischer noch
einige Worte gemütlich sprechen und dazu eine jener kurzen österreichischen
Regiezigarren rauchen, die er so sehr liebt. Da fehlt das Messerchen zum Ab¬
schneiden, welches ihn nach Griechenland und seither überall hin begleitet hat —
ein teures Angedenken. Es ist verlegt, verdeckt durch die »Ulmer Schnellpost«,
befindet sich ganz in der Nähe, wird erst nach längerem Suchen entdeckt! All
dies geschieht ihm zum Posten — denn die Gegenstände haben eine Seele, und
all diese Seelen gehören Teufelchen, welche ihn necken, ärgern, verfolgen! Das
war Vischers Gespensterglauben!" Aber über Mörikes Geisterseherei konnte
er doch lachen.
l e Klagen über die stetig wachsende Konkurrenz, die dem ehr¬
würdigen Urvater der graphischen Kunst, dem Kupferstich, von
Kindern und Kindeskindern bereitet wird, ertönen immer stärker
und beweglicher. Während die einen auf diese Klagen nur ein
höhnisches: „Es geschieht dem alten pedantischen Herrn schon
recht"! zur Erwiderung haben, weisen die andern mit Entrüstung auf die
heilige Mission des reinen Linicnstichs, der allein würdig und berufen sei, die
Meisterwerke der klassischen Kunst zu verdolmetschen und in völliger Harmonie
mit ihrer erhabenen Einfachheit wiederzugeben. Aber den Kupferstechern ist
mit der Entrüstung nicht gedient. Sie müssen Aufträge haben, um zu leben,
und dieser Notwendigkeit steht die Thatsache gegenüber, daß Kunsthändler, Ge¬
sellschaften und Vereinigungen, die sich die Pflege des Kupferstichs angelegen
sein lassen, in der Erteilung von größern Aufträgen immer zurückhaltender
werden, weil sie die Erfahrung gemacht haben, daß sich die Gunst des Publikums,
der großen Masse der Käufer, mit denen der Kunsthandel rechnen muß, andern
Sternen zugewendet hat. Diese Beobachtungen und geschäftlichen Erfahrungen
sind nicht allein in Deutschland, sondern ebenso gut in Frankreich und in
Belgien gemacht worden, und die belgische Akademie der Wissenschaften hat sich
sogar veranlaßt gesehen, für das Jahr 1889 die Aufgabe einer Preisarbeit zu
stellen, worin die Ursachen des Verfalls der Kupferstecherkunst entwickelt und
die besten Mittel angegeben werden sollen, „mit denen diesem Kunstzweig zu
seinem alten Glänze verholfen werden kann." Mit der Angabe solcher gründlich
heilsamen Mittel, die dem kranken Manne wieder auf die Beine helfen können,
wird es nur seine Schwierigkeiten haben. Leichter ist es, die Ursachen oder
wenigstens die meisten derselben zu ermitteln, welche die Kupferstecherkunst in
Bedrängnis gebracht haben, ohne daß ein Verschulden durch Rückgang der
Technik oder innere Gründe nachweisbar wäre.
Kunstforscher und Ästhetiker haben in den letzten Jahren einen wahren
Sturmlauf gegen alles Farblose unterhalten. Sie haben das Publikum wegen
seiner Farbenblindheit, wegen feiner Verständnislosigkeit für das Element der
Farbe in der plastischen und dekorativen Kunst wie im Kunstgewerbe so lauge
ausgescholten, bis es endlich aus seiner Trägheit erwacht ist und nun alles
nicht farbig genug haben kann. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß diese plötzlich
erwachte Farbenfreudigkeit dazu beigetragen hat, daß der Kupferstich seine bevor¬
zugte Bedeutung für den Zimmerschmuck verloren hat. Aber der Abbruch auf
diesem Gebiete ist ihm nicht etwa, wie man im Hinblick auf die Farbenlust
doch zunächst annehmen sollte, durch den Ölfarbendruck verursacht worden. Der
Ölfarbendruck steht vielmehr nach wie vor bei allen feiner gebildeten Kunst¬
freunden in geringer Achtung, und die Versuche, den Farbendruck mit Hilfe der
Photographie und des Lichtdruckverfahrens zu veredeln, welche vornehmlich
durch die „Vereinigung der Kunstfreunde für die Publikationen der Königlichen
Nativnalgalerie" in Berlin gefördert werden, haben erst in neuester Zeit mehr
und mehr Boden gewonnen. Nicht die farbigen Wiedergaben von Gemälden
und sonstigen Kunstwerken, sondern die Radirung und der mit Hilfe und auf
Grundlage der Photographie ermöglichte Lichtdruck mit seinen verschiedenen,
mehr oder weniger raffinirten Abarten (Photogravüre, Heliogravüre u. s. w.)
sind die gefährlichen Nebenbuhler des Kupferstichs, die ihm einerseits durch die
größere Schnelligkeit der darstellenden Technik und dem entsprechende Wohlfeil¬
heit, anderseits durch eine dem Auge gefülligere, dem malerischen Sinn ungleich
mehr entgegenkommende Wirkung sein Arbeits- und Absatzfeld streitig machen.
Die materielle Lage des Kupferstichs scheint von jeher insofern ungünstig
gewesen zu sein, als das auf die Bearbeitung einer Kupferplatte mit dem Grab¬
stichel verwendete Zeitmaß nicht im richtigen Verhältnis zu dem aus dem Ver¬
kaufe der Abdrücke erzielten Gewinne stand. Zu dieser Überzeugung muß schon
Dürer gelangt sein. Denn aus rein künstlerischen Gründen allein, etwa um
eine freiere, kräftigere und farbigere Wirkung herbeizuführen oder eine plötz¬
liche Eingebung der Phantasie schneller festzuhalten, lassen sich seine etwa seit
1510 gemachten Versuche, die eine schnellere Vollendung des graphischen Bildes
bezweckten, nicht erklären. Seit dem genannten Jahre versuchte Dürer nämlich
die Zeichnung statt mit dem Stichel mit der sogenannten kalten oder trock¬
nen Nadel auf der Kupferplatte einzuritzen, und Thausing hat es in seiner
Biographie des Meisters wahrscheinlich gemacht, daß er sich auch bereits einer
Säure bedient habe, um die Nisse der Nadel zu vertiefen, daß die Süure aber
nicht stark genug gewesen sei, eine dauerhafte Zeichnung herzustellen, die eine
die Mühe lohnende Anzahl von Abzügen erlaubte. Es ist auch umgekehrt
möglich, daß die Säure die Kupferplatte zu stark angriff, und die Linien der
Zeichnung infolge dessen zu grob ausfielen- Denn Dürer versuchte später mit
der Nadel auf Eisenplatten zu radiren, die nachweislich geätzt wurden, ohne
daß das Ergebnis ein viel erfreulicheres war. Aus diesen mißglückter Ver¬
suchen hatte Dürer jedoch einsehen lernen, daß die Nadel gleichwohl ihren guten
Dienst leisten könne, und er verband sie deshalb mit der Arbeit des Grab¬
stichels, den er freilich die Hauptrolle spielen ließ. Dürer wird daher mit
Recht als Vater der Radirung angesehen, obwohl er von dieser Technik noch
keinen ausgedehnten Gebrauch gemacht hat. Nach seinem Vorgange handhabten
noch andre deutsche und niederländische Stecher des 16. Jahrhunderts die
Radirnadel neben dem Grabstichel; aber sie vermochten diesem vereinigten Ver¬
fahren nicht alle Vorteile zu entlocken, die darin verborgen liegen, und über¬
dies führte die zur höchsten Blüte gesteigerte Entwicklung, welche die Radirung
durch die Niederländer, insbesondere durch Rembrandt, im 17. Jahrhundert er¬
lebte, eine entschiedn« Trennung der Nadel- von der Grabstichelarbeit herbei-
Wenn auch keine ausdrücklichen Zeugnisse dafür vorliegen, so ist doch wohl
anzunehmen, daß schon damals zwischen den berufsmäßigen Kupferstechern und
den Maler-Radirern, die ihre eignen Gedanken und Erfindungen in Kupfer
ätzten, ein Gegensatz bestand. Aber dieser Gegensatz war deshalb noch nicht so
scharf ausgeprägt wie heute, weil die Kupferstecher sich sehr selten an so große
Aufgaben wagten, wie sie im 19. Jahrhundert ganz allgemein geworden sind,
und daher mit der Produktion der leichter und schneller arbeitenden Radirer
annähernd gleichen Schritt halten konnten.
Nachdem die Radirung noch während des 13. Jahrhunderts ihre Herrschaft be¬
hauptet hatte, begann etwa seit der Mitte des Jahrhunderts der Kupferstich, und
zwar in der reinen und strengen Form der Linieumanier, zunächst in Italien, in den
Vordergrund zu treten, und durch die Thätigkeit von R. Morghen, Longhi und
deren Schülern gelang es ihm, ein so entschiedenes Übergewicht über alle andern
Arten der graphischen Reproduktion zu gewinnen, daß seine Autorität seit der
Wende des Jahrhunderts auf Jahrzehnte hinaus unbestritten und unangetastet blieb.
Dieser Aufschwung des Kupferstichs und seine Begünstigung durch die Kunst¬
liebhaber und das von ihnen beeinflußte Publikum ist freilich nicht allein den
Eigenschaften der Grabsticheltechnik zuzuschreiben. Er fällt auch mit einer
Veränderung im Kunstgeschmack zusammen, der sich bereits zu der Zeit, wo
in der zeitgenössischen Kunst noch der Nokokostil in üppigster Blüte stand,
mit stark ausgeprägter Vorliebe deu malerischen Schöpfungen der Italiener
des 16. Jahrhunderts zugewendet hatte. Die Geschichte unsrer öffentlichen
Gemäldegalerien legt Zeugnis dafür ab, daß noch bis in die vierziger Jahre
unsers Jahrhunderts hinein anfangs die Fürsten, später die Sammlungs¬
vorstände ihr Hauptaugenmerk auf die Italiener richteten, und aus dieser vor¬
herrschenden Neigung einer langen Periode des Kunstgeschmacks erklärt es sich,
daß eine Reproduktionsart, die, wie der Linienstich, den damals am höchsten
geschätzten Leistungen der Malerei mit entsprechenden Mitteln der Darstellung
völlig gerecht werden konnte, von der allgemeinen Gunst getragen wurde. Er
durfte sich sogar herausnehmen, in der Absicht, nur die nackte Form oder gar
nur die Zeichnung wiederzugeben, seine Darstellungsmittel auf das nüchternste
und dürftigste Maß zu beschränken, und so entstanden, unterstützt durch die
Kartonmalerei der ueuklassischen deutschen Schule, jene sonderbaren Abarten
des Karton- und Umrißstiches, welche geraume Zeit ihr Unwesen, namentlich
in illustrirten Werken, getrieben haben.
Aber das malerische Ideal einer Periode ist ebensosehr den Launen der
Mode oder dem Wechsel unterworfen, wie alle Richtungen und Strömungen
des Menschengeistes. Seit dem durch die Belgier herbeigeführten Umschwung
der neuern Malerei, der im Anschluß an die nationalen Großmeister des 17. Jahr¬
hunderts das Element der Farbe, die koloristische Wirkung wieder in den Vorder¬
grund der künstlerischen Bestrebungen drängte, hat sich auch das Gefühl der
Kunstfreunde für das rein Malerische in der Kunst mehr entwickelt. Über
Rubens und van Dyck hinaus gelangten Liebhaber, Kenner, Bildertaufer und
Bilderverkäufer sehr bald zu jenen Meistern, deren Schöpfungen auf kleinsten
Raume die verhältnismäßig größten koloristischen Reize entfalten, zu der Bild¬
nis-, Genre-, Landschafts- und Stilllebenmalerei des vlämischen und holländi¬
schen Niederlands. Wir müßten eine Geschichte des modernen Kunstgeschmacks
schreiben, wenn wir im einzelnen schildern wollten, wie sich die Neigung der
reichen Sammler für Gemälde der niederländischen Schule seit dem Anfange
der fünfziger Jahre bis auf die Gegenwart allmählich bis zum Fanatismus
gesteigert hat, bis zu der im Hinblick auf die übliche Rangordnung der Künstler
ungeheuerlichen Thatsache, daß auf einer berühmten Versteigerung eine Bauern-
kirmes von Teniers höher bezahlt worden ist als eine Madonna Raffaels. Nur
darauf sei hingewiesen, daß dieser materiellen Überschätzung der Niederländer
nicht etwa ausschließlich die erst jetzt zu bessern, Verständnis gelangten, rein
künstlerischen Eigenschaften der in Frage kommenden Gemälde zu Grunde liegen.
Die Engländer haben von jeher eine große Vorliebe für die niederländischen
Maler der Blütezeit besessen, und diese Vorliebe hat sich allmählich auch auf
den Kontinent ausgedehnt, zum Teil wohl künstlich genährt durch Zwischen¬
händler, Agenten und sogenannte „Experten", die ein finanzielles Interesse
daran hatten, dem Kunstmarkt durch Mobilisirung alten Gemäldebesitzes neue
Nahrung zuzuführen. Für denjenigen, der nicht selbst Kunsthändler ist oder
Gelegenheit oder Verpflichtung hat, allen Schleichwegen des modernen Kunst¬
handels, allen Wandlungen und Schwankungen des internationalen Kunstmarktes
nachzuspüren, ist es unmöglich, den Rattenkönig zu entwirren, der aus wildem
Spekulationstrieb, aus niedrigen Intriguen, aus schlauer Benutzung der Eitelkeit
von Finanzbarvnen, aus der Ausbeutung von Notlagen, in welche bisweilen öffent¬
liche Institute, Kirchen und verschwenderische Lords geraten, aus systematischer
Reklameinacherei und hundert andern Kunstgriffen zusammengeflochten worden ist.
Für unsern Zweck genügt es, die Thatsache festzustellen, daß die auf solchen Wegen
herbeigeführte Veränderung des Kunftgeschmackes, deren Berechtigung als heil¬
sam und notwendig zur Herstellung des Gleichgewichts wir übrigens unum¬
wunden anerkennen, einen nachteiligen Einfluß auf das weitere Gedeihen der¬
jenigen Richtung des klassischen Kupferstichs üben mußte, der sich fast aus¬
schließlich auf die Nachbildung von Gemälden italienischer und stilverwandter
Meister der neuern Zeit beschränkt.
Wohl hat ein ausgezeichneter Vertreter der Grabsticheltechnik, Eduard
Mandel, zu wiederholten Malen den Versuch gemacht, die koloristischen Eigen¬
schaften eines Tizian und van Dyck durch die Mittel seines immerhin auf eine
kleine Anzahl von Wirkungen beschränkten Verfahrens wiederzugeben. Aber es
waren nur Portätköpfe, bei denen das Interesse an der Person und der Bildung
der einzelnen Züge, die durch rein zeichnerische Mittel dargestellt werden konnten,
den durch die trockene Technik verschuldeten Mangel in der Widerspiegelung
des koloristischen Gewebes einigermaßen ersetzen konnte. Bei den in den fünf¬
ziger und sechziger Jahren entstandenen französischen Kupferstichen nach figuren¬
reichen Kompositionen der Venezianer, insbesondere nach Paul Veronese, wird
jedoch der Mangel an malerischer Haltung und kräftiger koloristischer Wirkung
so schwer empfunden, daß selbst die besten dieser Arbeiten, trotz ihrer sorgfältigen
Durchbildung in den Einzelnheiten, nur den Schatten der Originale wiedergeben.
Hier darf auch nicht verschwiegen werden, daß die geringern Erzeugnisse des
französischen Kupferstichs, der Jahrzehnte lang den europäischen Markt be¬
herrscht hat, durch Verflachung des physiognomischen Ausdrucks und durch
gedankenlose Manierirtheit der Darstellung sehr viel dazu beigetragen haben,
die Abneigung feinfühlender Kunstfreunde gegen den trocknen Linienstich zu
verstärken.
Zeigte sich also der Kupferstich mit denjenigen Mitteln, auf die er sich
uuter dem Einflüsse der Italiener zurückgezogen hatte, einer entsprechenden
Wiedergabe der spezifisch malerischen Schöpfungen der Niederländer und der
nach gleichen Wirkungen strebenden Venezianer nicht gewachsen, so erstand in
der Nadirung plötzlich ein Ausdrucksmittel, das alleu Anforderungen in über¬
raschendem Maße entgegen kam. Es war freilich nicht mehr die Malerradirung
des 17. Jahrhunderts, die den Künstlern ein bequemer und leichter Behelf war,
Einfälle des Augenblicks auf der Kupferplatte festzuhalten oder in der Ent¬
faltung der feinsten Reize des Helldunkels durch einfache Nadelrisse in dem
bloßen Gegensatz von Schwarz und Weiß zu schwelgen. Die Nadirung trat
jetzt mit dem vollen Gewicht einer reprodnzircuden Kunst als ernsthafte Neben¬
buhlerin des Kupferstichs auf. Der Gedanke der alten Galeriewerke, die fast
zwei Jahrhunderte lang das Herrschafts- und Nahrnngsgebiet der Kupferstecher
gewesen waren, wurde wieder aufgenommen, und mit großer Schnelligkeit ent¬
standen jene langen Reihen von Radirungen nach Gemälden der Braunschweiger,
Kasseler und Wiener Galerien, nach Frans Hals, Rembrandt und andern
Niederländern, die zumeist William Unger verdankt werden, der als Begründer
oder doch als der erfolgreichste und thätigste Vertreter dieser neuen Richtung
der Nadirung anzusehen ist. Jetzt war endlich eine Art künstlerischer Repro¬
duktion gefunden, welche das höchste Maß von malerischer Wirkung mit ver¬
hältnismäßig großer Schnelligkeit der Arbeit und dadurch erreichter Wohlfeilheit
verband, und es war daher natürlich, daß sich Verleger und Unternehmer mit
großem Eifer auf die Pflege der Nadiruug warfen. Sie fanden überall ein
bereitwilliges Entgegenkommen zahlreicher Kräfte. Denn die Führung der
Radirnadel fordert eine viel geringere künstlerische Disziplin und Entsagung,
als die Handhabung des Grabstichels. Wie Pilze schössen in allen größern
Kunststädten berufsmäßige Radirer aus der Erde, die sich ausschließlich in den
Dienst der Galeriedirektorcn und Verleger zur Wiedergabe alter und neuer
Bilder stellten, und die Nadirnng wurde sogar auf den Akademien zünftig, auf
denen sich die Lehrer des Kupferstichs, wenn sie nicht zum alten Eisen geworfen
werden wollten, bequemen mußten, Unterweisung in dieser bis dahin über die
Achsel angesehenen, halb dilettantenhaften Technik zu erteilen.
Die weitere Entwicklung der Radirnng in der neuesten Zeit gewährt ein
Schauspiel, das einem Wettrennen nicht unähnlich ist. Nach den großen Er¬
folgen, welche die Nadirer mit ihren Blättern nach niederländischen Meistern
errangen, Erfolgen, die zum guten Teil auch in den Stoffen, nicht blos in
der Technik begründet lagen, besannen sich die deutschen Maler darauf, daß
die Führung der Nadirnadel einst auch zu den Privilegien ihrer Zunft gehört
hatte. Die französischen Maler, insbesondre die Realisten der neuerm Land-
schaftsmalcrei, hatten niemals verlernt, flüchtige Eindrücke mit der Nadel fest¬
zuhalten, und in England war die Radirung schon seit dem Anfange der sech¬
ziger Jahre eine Art Sport geworden, an dem sich auch Dilettanten beteiligten.
Dort wie hier gewannen diese Bestrebungen Mittelpunkte in Vereinigungen von
Künstlern und Kunstfreunden, die einerseits die Malerradirnng übten und aus¬
bildeten, anderseits die Erzeugnisse derselben selbst ankauften oder unter das
Publikum brachten. In neuester Zeit sind auch in Deutschland ähnliche Ver¬
eine gegründet worden: der Düsseldorfer Radirklub, die Gesellschaft für Radir-
kunst in Weimar und der Verein für Originalradirung in Berlin. Dieses Ein¬
greifen der Maler in ein Gebiet der Technik, das schließlich über das Stadium
geistreicher Improvisation und launenhafter Willkür zu einem mannigfach ge¬
gliederten Organismus, welcher Studium und Lehre erforderte, hinausgediehen
war, diente nur dazu, die berufsmäßigen Radirer, deren Darstellungsmittel sich
im Verein mit einer raffinirten Druckmethode immer weiter entwickelt hatten,
zu größern Anstrengungen anzuspornen. Aus den Blättern für Galeriewerke,
aus den Illustrationen für sogenannte Prachtwerke erhoben sie sich zu der Be¬
arbeitung umfangreicher Platten, deren Abdrücke für den Wandschmuck bestimmt
waren und den Kupferstich aus seiner letzten, nur noch mühsam behaupteten
Stellung zu vertreiben suchten. Die ersten Wagnisse dieser Art wurden von
französischen Künstlern unternommen, deren Verleger es nicht unterließen, dem
Wettlauf der Nadiruug mit dem Kupferstich noch einige stark gewürzte Zu¬
thaten zu verleihen. Sie spekulirten auf die Leidenschaft eifersüchtiger Sammler
und forderten unverschämt hohe Preise unter dem Vorwande, daß nach einer
in Ziffern begrenzten Zahl von Abzügen die Platte zerstört und jedem der
drei- oder vierhundert Abnehmer ein Stückchen der Platte eingehändigt werden
würde. Soviel wir wissen, ist dieser schlau auf die Sammelwut berechnete Hum¬
bug, der doch keinen vernünftigen Menschen über den wirklichen Wert eines
radirten oder gestochenen Blattes täuschen kann, zuerst bei der Nadiruug Ch.
Waltners nach Rembrandts „Nachtwache", beiläufig bemerkt, einer Nachbildung,
die von dem Originale eine ganz unrichtige Vorstellung giebt, in Szene gesetzt,
seitdem aber, wie alle Narrheiten, häufig wiederholt worden. Die materiellen
Erfolge, welche die alten Meistern nachschaffenden Radirer mit ihren großen
Platten errangen, ließen wiederum die Malerradirer nicht schlafen. Sie griffen
nach ebenso großen und noch größern Kupferplatten und bedeckten sie meist
mit landschaftlichen Ansichten und Architekturstttcken, deren Ausführung sich na¬
türlich mit dekorativen, sozusagen summarischen Andentungen begnügen mußte,
wenn nicht abermals ein Mißverhältnis zwischen aufgewandter Arbeitskraft und
demi daraus zu erzielenden Gewinn entstehen sollte. Hatte sich die Radirung
schon in der Nachbildung von Gemälden alter Meister in großem Maßstabe
Aufgaben gestellt, die ihrem innersten, auf intime malerische Wirkung gerichteten
Wesen zuwider waren, die aber wegen des bedeutsamen geistigen Inhalts der
Originale immer noch, trotz unzulänglicher Lösung, das Interesse des Stoffes
für sich hatten, so fielen alle Entschuldigungsgründe für ungebührliche und un¬
gerechtfertigte Ausdehnung bei den sogenannten „Originalradiruugen" weg, die
uns die bekanntesten oder gleichgiltigsten Gegenden, bald mit etwas impressio¬
nistischen Anstrich, bald mit der protokollarischen Peinlichkeit des Veduten¬
malers vor Angen führen. Bei diesen großen Blättern läßt sich nicht mehr
entscheiden, welchen Anteil an der malerisch-dekorativen Wirkung die Nadel des
Nadirers oder das Raffinement des Druckverfahrens hat, das bei den mit
großem Pomp angekündigten „Originalradiruugen" der Neuzeit sehr oft eine
viel größere und wichtigere Rolle spielt als das Talent des Malerradirers.
Nach diesem Vorgehen wäre nun zwischen der reproduzirenden Radirung
und der Originalradiruug Sonne und Schatten gleichmäßig verteilt gewesen
und eine Bahn gewonnen worden, auf der sich die beiderseitigen Kräfte hätten
messen können. Aber die unheilvolle Hast der Spekulanten, die den früher als
still und heilig aufgerufenen Hain der Kunst, nicht gerade zum Mißvergnügen
der Hain- und Tempelwächter, wie Korybanten durchtoben und ihre gefüllten
Geldbeutel verlockend zeigen, machte noch ein drittes Reizmittel für den über¬
sättigten Gaumen der feinschmeckerischcn Sammler ausfindig. Es mußte einmal
ein berühmter oder auch mir ein im Kurszettel des Kunstmarktes hochnotirter
Maler überredet werden, eines seiner beliebtesten Bilder selbst zu radiren. In
einer solchen Verbindung mußte auch der blasirteste Sammler den Gipfel des
Hochgenusfes erkennen, und da ihm überdies die Genugthuung geboten war,
daß er für sein teures Geld den Genuß nur mit wenigen zu teilen brauchte,
haben wir es erlebt, daß die mit ängstlicher und tastender Nadel ausgeführte
Radirung eines englischen Malers nach seinem Bildnis einer hübschen jungen
Dame höher bezahlt worden ist, als die entsprechenden Abdrucksgattuugen von
Mantels „Sixtinischer Madonna", an welcher der Meister zehn Jahre lang
gearbeitet hat.
Einem so heftigen Ansturm, der in seinem taktischen Vorgehen ebenso ge¬
schickt die Leidenschaften der Sammler ausnutzte, wie er den Sparsamkeitsbedürf¬
nissen der durch die von allen Seiten eindringende Konkurrenz hart bedrängten
Kunsthändler und -Verleger entgegen kam, vermochte der schwerfällige Kupfer¬
stich, der mit der Massenproduktion des modernen Kunstverlagsgeschäfts nicht
gleichen Schritt halten kann, keinen dauernden Widerstand entgegenzusetzen.
Er wurde an die Wand gedrückt, hatte aber als stummer, wenn auch betrübter
Zuschauer die Genugthuung, zu sehen, wie sich unter seinen Ersatzmännern und
Nachkommen ein Kampf entspann, ähnlich dem zwischen den eisernen Mannen,
die aus Jasons Saat der Drachenzähne dem Erdboden entsprossen.
Die stetig wachsende Vervollkommnung in der photographischen Aufnahme
von Gemälden alter Meister gab Kunstforschern und Kunstfreunden die Mittel
an die Hand, die Arbeiten der Radirer auf ihre Zuverlässigkeit und Verwend-
harten für wissenschaftliche Zwecke zu prüfen, und das Ergebnis dieser Prü¬
fungen war häufig so enttäuschend nud entmutigend, daß sich der Wunsch nach
einem zuverlässigeren Ncproduktionsmittel immer lebhafter rege machte. Die
Photographie selbst vermochte diesen Ersatz anfangs nicht zu bieten, weil sie
den schweren, undurchsichtigen Schatten der alten niederländischen Gemälde nicht
beizukommen vermochte, welche die Nadirnadcl so geschickt aufzuhellen verstand.
Überdies war das alte Kopirverfahren so umständlich und ungleichmäßig, daß
die Bedingung eines wohlfeilen Preises, die bei vergleichenden weit ausge¬
dehnten Studien unumgänglich ist, nicht erfüllt werden konnte. Erst nach der
Erfindung des photographischen Druckverfahrens wurde auch dieser Übelstand
beseitigt, und im Laufe weniger Jahre ist jenes Verfahren durch Franzosen
und Deutsche so leistungsfähig gemacht worden, daß es nach der Seite der
Massenerzeugung der Nadirung vollständig den Boden untergraben hat. Bei
der Herstellung der Galeriewerke vermag jetzt die Nadirung nicht mehr mit der
Hello- und Photogravüre zu wetteifern, welche die Eigenschaft eines gefälligen,
bestechenden Aussehens mit dem Vorzuge wissenschaftlicher Genauigkeit verbindet,
den unser kritisches Zeitalter von Veröffentlichungen dieser Art fordert. Durch
die schnelle Verbreitung des photographischen Lichtdrucks und seiner Abarten,
die zum Teil für die Buchdruckerpresse verwendbar sind und dadurch den vor¬
nehmeren Gattungen der graphischen Künste noch mehr Abbruch thun, ist jetzt
auch bereits die reproduzirende Nadirung in eine Notlage geraten, und Grab¬
stichel und Radirnadel singen ein gemeinsames Klagelied.
Einsichtigen Beurteilern kann es freilich nicht verborgen bleiben, daß auch
die Heliogravüre, der mechanische Lichtknpferdruck, trotz gewisser Nachhilfen ans
der Platte mit Nadel und andern Werkzeugen, in ihrer Leistungsfähigkeit be¬
grenzt ist. Sie giebt den nachgebildeten Gemälden einen weichen, matten Glanz,
der nicht immer dem koloristischen Charakter der Originale angemessen ist.
Man kann ihre Wirkung auf das Auge am ehesten mit der der Schabkunstblntter
vergleichen, die sich im vorigen Jahrhundert einer großen Beliebtheit erfreuten,
und wie diese sich besonders brauchbar in der Nachbildung gewisser Meister erwiesen,
die nach starken Helldunkeleffekten strebten, wie z. B. F. Hals, Rembrandt, Don,
Rubens, Honthorst, Schakalen u. a., so wird man anch, sofern man den Schwer¬
punkt auf vollkommen treue, charakteristische Wiedergabe der koloristischen Haltung
der Originale legt, den Wirkungskreis der Heliogravüre beschränken müsse».
Einen Versuch, verschiedene reproduzirende Künste, insbesondere den Kupferstich,
die Radiruug und die Heliogravüre, nach dem Maßstabe ihrer Leistungsfähigkeit
zu beschäftigen und danach die Aufgaben zu stellen, hat kürzlich die Verwaltung
der Berliner Gemäldegalerie gemacht. Zu den beiden ersten Lieferungen eines
in großem Maßstabe angelegten Galeriewerkes sind Stecher und Nadirer heran¬
gezogen worden, deren Beteiligung im großen und ganzen so abgegrenzt
worden ist, daß den erstem die Italiener des 15. und des 16. Jahrhunderts,
soweit sie nicht der venezianischen Koloristcnschule angehören, übertragen worden
sind, während den Nadirern die Wiedergabe der Kolvristcn, also der spätern
Niederländer, der Venezianer des 16. und der Spanier des 17. Jahrhunderts
zugefallen ist.
In dieser Scheidung liegt ein Fingerzeig, wie etwa das Arbeitsgebiet des
Kupferstichs begrenzt werden könnte, um ihm wieder zu dem alten Ansehen zu
verhelfen, das zum Teil vielleicht nur dadurch gelitten hat, daß der Kupferstich
sich an Aufgaben gemacht hatte, zu deren Lösung seine beschränkten Mittel
nicht ausreichten. Es wäre auch in Hinblick auf die oben erwähnten Versuche
Dürers den Kupferstechern anzuraten, auf eine Erweiterung ihrer Darstellungs-
mittel zu denken und, statt in der starren Abgeschlossenheit des reinen Linien¬
stiches zu verharren, die Radirnadcl noch mehr zur Mitarbeiterschaft heran¬
zuziehen, als es bisher der Fall gewesen ist. Doch damit geraten wir ans ein
Gebiet, das wir nicht betreten wollten. Es lag uns nur daran, in Form eines
geschichtlichen Überblicks ans einige der Ursachen hinzuweisen, die mitgewirkt
haben, den Kupferstich ans seiner frühern Stellung zu verdrängen und den Um¬
fang seiner Thätigkeit wesentlich zu beschränken. Einen wirklichen Verfall der
Knpferstechcrkttnst, d. h. ein Herabsinken von einer zu irgend einer frühern Zeit
erreichten Stufe vermögen wir nicht zu entdecken. Wenn man Blätter wie
Mantels „Sixtinische Madonna", Johann Burgers „Aurora" uach Guido
Reni und Rudolf Stangs „Abendmahl" nach Leonardo da Vinci ins Auge
faßt, gewinnt man vielmehr die Überzeugung, daß sich die Technik unablässig
vervollkommnet, soweit es innerhalb der einmal gesteckten Grenzen möglich ist.
Die mißliche Lage des Kupferstichs ist demnach mehr auf rein wirtschaftliche
und auf Gründe der Konkurrenz zurückzuführen, von denen wir einige hervor¬
gehoben haben. Ob diese Notlage durch äußre Umstände, etwa durch Staats¬
hilfe oder durch das Eingreifen von Gesellschaften und Vereinen zu beseitigen
ist, oder ob nicht vielmehr die Kupferstecher selbst darauf werden bedacht sein
müssen, durch größere Beweglichkeit ihrer Technik oder durch andre Reformen
der Konkurrenz zu begegnen, das sind Fragen, die sich unsrer Meinung nach
nicht auf dem Wege theoretischer Auseinandersetzungen lösen lassen. In kriti¬
schen Zeiten hat stets die That mehr gegolten, als die kluge Meinung oder der
gute Rat. Wenn der Kupferstich noch die Lebenskraft besitzt, die er nunmehr
vierhundertuudfünfzig Jahre hindurch bewährt hat, so wird er sich auch ohne
fremde Hilfe im Kampfe mit Mächten behaupten, die selbst aus sehr unsichern
Füßen stehen und zum Teil mehr den Charakter von vorübergehenden Er¬
scheinungen haben.
Die Verfolgung von Majestätsbeleidigungen. Die gerichtliche Süh-
nung von Beleidigungen, die Privatpersonen zugefügt werden, ist in ihrer zum
Teil recht wenig befriedigenden Weise auch in diesen Blättern schon besprochen
oder doch mit kurzen Bemerkungen gestreift worden. Hier soll die Strafverfolgung
einer andern Art von Beleidigungen besprochen werden, nämlich der, welche
durch Worte, also nicht thätlich, gegen das Staatsoberhaupt begangen werden,
gegen die Person, in der Staat und Staatsleben ihren lebendigen Mittel- und
Höhepunkt, ihren verkörperten Ausdruck, gewissermaßen sich selbst erblicken. Dabei
möchte ich die Aufmerksamkeit auf Bestimmungen hinlenken, die früher für der¬
artige Strafverfahren im Königreiche Hannover bestanden. Sie dienten in. E.
wesentlich dazu, die Widerwärtigkeiten solcher bedauerlichen Vorkommnisse zu mil¬
dern; eben deshalb wird diese Besprechung auch auf die Teilnahme nichtjnristi-
scher Leser dieser Zeitschrift hoffen dürfen.
Man kaun sich zu einer widerfahrenen Beleidigung verschieden stellen, sie
stolz außer Acht lassen, etwa mit satirischer Zugabe, wie Friedrich der Große,
als er die gegen ihn an eine Straßenecke geheftete Schmähschrift niedriger hängen
ließ, oder Genugthuung in gerichtlicher Bestrafung des Beleidigers suchen, oder
sich durch Selbsthilfe rächen, durch Erwiderung der Beleidigung oder durch Zwei¬
kampf. Letzterer wird sich aus Vernunftgründen nie, immer nur ans dem Ge¬
fühle rechtfertigen oder begreiflich machen lassen; eine» unerwünschten Nährboden
findet er in der für Gebildete gänzlich unzureichenden Form der gerichtlichen
Sühnung. Deshalb wird selbst die Beredsamkeit eiues Rousseau, der in seiner
Muvslls HÄoiso (I, Brief 57) so ziemlich alles anführt, was sich gegen die Sitte
oder Unsitte des Zweikampfes sagen läßt, nichts gegen ihn fruchten. Je nach
Sinnesart und Stimmung, selbstverständlich aber unter Berücksichtigung der beglei¬
tenden Umstände bei der Beleidigung (Persönlichkeit des Thäters u. s. w.), wird
mau zu dem einen oder dem andern Mittel greifen.
Aehnlich wird man sich nun anch in den Fällen der (wörtlichen) Beleidigung
des Landesherr» entscheiden. Man kann sich über die Schamlosigkeit eines An¬
griffs, besonders wenn er durch die Presse erfolgt, so erzürnen, daß unbedingt die
schwerste Sühne erforderlich erscheint. Man muß aber auch an Vorkommnisse
denken, wo irgend ein „dunkler Ehrenmann", halbberanscht, sich in einem vielleicht
ganz kleinen Kreise ungeziemende Aeußerungen erlaubt hat, die, auf der Gold¬
wage geprüft, sich als wirkliche Majestätsbcleidigungen nicht verkennen lassen. Ge¬
wiß wird mau in der Behandlung solcher Strcifthateu eine Unterscheidung drin¬
gend erwünscht finden; die Majestät steht doch zu hoch, als daß solche freche
Unziemlichkeiten an sie hincmreichtcn. Ich möchte an das stolze und prächtig tönende
Wort Guizots in einer seiner Kammerreden erinnern: „Häufen Sie die Beleidi¬
gungen gegen mich so hoch, wie Sie wollen, die Höhe meiner Verachtung gegen
Sie werden Sie doch nicht erreichen!" Man sollte solche geringwertige Fülle
unbesorgt der Mißbilligung Wohlgesinnter überlassen, sie möglichst bald vergessen
machen und am allerwenigsten zum allgemeinen Aergernis an die große Glocke
eines öffentlichen Strafverfahrens hängen. Es ist ja dabei auch zu beachten, daß
der Gekränkte selbst, der Landesherr u. s. w., in den seltensten Fällen von der
Beleidigung persönlich Kenntnis erhält.
Das Peinliche für die verfolgende Behörde ist nun, daß sie (Z 1S2 der
Ser.-P.-O.), wenn nicht im Einzelfalle Veranlassung vorliegt, bei dem Vorgesetzten —
Justizminister oder Oberstaatsanwalt — einen besondern Befehl, öffentliche Klage
nicht zu erheben (Gerichtsverfassungsgesetz K 147), für sich zu erwirken, gehalten
ist, alle derartigen Majestätsbeleidigungen strafrechtlich zu verfolgen, Unterlassungen
wird sie auf diesem heiklen Gebiete doppelt bedenklich finden. Auch eine reich¬
liche Anwendung der Befugnis aus Z 168, Abs. 2 der Se.-P.-O. — „Einstellung
des Verfahrens" nach ermitteltem Sachverhalte — vermag gegen die straffe Ge¬
setzesvorschrift in dem angezogenen §152 nicht zu helfen. Und wenn dann später
der Straffall Vor das erkennende Gericht gelangt, so ist dieses selbstverständlich
erst recht gebunden, den strengen Buchstaben des Gesetzes auf ihn anzuwenden.
Die Entscheidung darüber, ob überhaupt eine Strafverfolgung eintreten solle
und nicht vielleicht der betreffende Fall eine solche gar nicht wert sei, müßte jedes¬
mal in eine höhere Hand gelegt werden. Unser Reichsstrafgesetzbuch verlangt das
nicht, schließt es aber auch nicht aus. Eine solche Befugnis könnte natürlich nicht
jeder Staatsanwaltschaft als einer verhältnismäßig untergeordneten Behörde er¬
teilt, wohl aber in. E., und zwar trotz Z 152 der Ser.-P.-O., nach der deutscheu
Gerichtsverfassung (Z 147) durch eine bloße „Vcrwaltungsverordnuug" der höchsten
Landesjnstizbehörde vorbehalten werden.
In der That bestand eine derartige Vorschrift in Hannover. In dem Z 141
des Hannoverschen Kriminalgesetzbuchs von 1340 und der Rcvidirten Strafproze߬
ordnung von 1359 § 39 hieß es: „Wegen der genannten verbrecherischen Hand¬
lungen, insofern solche blos in wörtlichen oder bildlichen Beleidigungen bestehen,
haben die Gerichte (die Staatsanwaltschaften) von Amts wegen keine Untersuchung
wider deren Urheber einzuleiten, sondern darüber an das Ministerium der Justiz
zu weiterer Verfügung zu berichten." Ein früheres Mitglied dieses letztern hat
dem Schreiber dieses Aufsatzes ausdrücklich bestätigt, daß diese Einrichtung sehr
wohlthätig gewirkt habe, und daß eine große Anzahl von Majestätsbeleidigungs-
sachen (ohne besondere Ermächtigung des Königs) unter den Tisch gefallen sei.
In der That, wenn irgendwo Zweckmäßigkeitsrücksichten, ja geradezu politi¬
sche Erwägungen Einfluß auf die Entscheidung der Frage gewinnen dürfen, ob
Strafverfolgung eintreten soll oder nicht, so ist es hier. Sie muß allerdings von
einem höhern Standpunkte aus getroffen werden, und es darf zunächst nur die
Vornahme unaufschiebbarer Handlungen, zur Sicherung der Beweise u. s. w., deu
Staatsanwaltschaften überlassen bleiben.
Es will mir scheinen, als wiese die angeführte Hannöversche Vorschrift gutes
Gold in einem vergessenen Schachte ans — ein Beispiel, das sich so häufig in
der Rechtsgeschichte wiederholt.
Diese kleine Broschüre tritt für das geplante „Bolkstheater" in Wien ein.
Welche Gründe den Verfasser bestimmt haben, sich diesem Ziele auf dem Wege
der Polemik zu nähern, ist uns nicht recht ersichtlich geworden. Erst wird Pöhnl
wegen seiner Lästerungen Goethes und Schillers abgestraft. Dann wendet sich
Bettelheim gegen Hans Herrig, der behauptet hat, daß wir heute kein deutsches
Volkstheater besäßen. Was Bettelheim gegen diese Behauptung vorbringt, ist aber
nur geeignet, sie zu bestätigen. Raimund und Nestroy, die entgegengehalten
werden, sind ja lange tot, und der Einzige, der in der Gegenwart starke Befähigung
für das Volkstheater bewiesen hat, L. Anzengruber, kann uicht aufkommen. Auch in
Einzelheiten verrät der Verfasser Unklarheit. Wie kann man die Walzeroperetten
von Johann Strauß gute deutsche Singspiele nennen und mit Diedersdorf zusammen¬
stellen!
Man kann spitzfindiger und schulmäßiger oder auch pathetischer, aber sicher
uicht schlagender und zweckentsprechender einen großen Vorwurf in eine knappe,
feine, man muß hier fast sagen zierliche Form fassen. Das Philosophische Problem
wird in seiner Tiefe zum Ausdruck gebracht, ohne doch seine tiefsten Abgründe
oder seine dornenvollsten Zugänge anders als auch nur dem Kundigen zu verraten.
So wird das Allerwichtigste, wirkliche Klärung, im Zuhörer oder Leser erreicht,
ohne daß sich der Fachmann etwas vergiebt. Kuno Fischer wird sich Rechenschaft
darüber abgelegt haben, weshalb er die theologisch-spekulative Seite, die die ge¬
stimmte Kirchengeschichte und auch außerhalb ihrer die gewaltigste» Geister aufs
mächtigste erregte, noch mehr aber die Psychologisch-physiologische Seite zurücktreten
ließ. Namentlich die letztere zeigt (ganz besonders in ihrer gegenwärtigen, von
England ausgehenden Popularisirung), wie mit Aufhellung einzelner Strecken die
Verdunklung, ja die Verfehlung des Hauptziels Hand in Hand gehen kann.
Hier aber galt es, ein in unserer Zeit nicht mehr blos akademisch und kirchlich
wichtiges Thema in einen möglichst weiten Gesichtskreis zu rücken. Wir möchten
an dieser Stelle dazu beitragen durch Mitteilung einer uns längst geläufigen
Ausführung, der wir uus freuen hier an wichtigem Platze zu begegnen: „Wir
erwarten (von den Naturalisten und ihren Wortführern), daß sie die Freiheit voll¬
kommen verneinen, sie thun es auch oder wollen es thun, aber es trifft sich, daß
gerade sie, für welche aus Gründen der Natur die Freiheit und der Zweck eine
bare Unmöglichkeit ist, zum Besten der Gesellschaft, also im Hinblick auf eiuen
Zweck, die Freiheit im größten Umfange fordern. Es scheint, wenn man sie hört,
daß sie von dem mittelalterlichen Satz: was physikalisch wahr ist, könne theologisch
falsch sein, eine etwas veränderte Anwendung machen und meinen: was physikalisch
unmöglich ist, könne politisch notwendig sein." Dem gegenüber hätte das Ver¬
hältnis der Gegner, die „auf die Freiheit hinzuweisen Pflegen als Fundament und
Träger aller sittlichen Ordnung," Wohl eine breitere Behandlung zugelassen. Für
manche höchst eigenartige und bezeichnende Verschiebung der Gegensätze war übrigens
die letzte päpstliche EnctMa „über die Freiheit" lehrreich. Fischers Vortrag ist
bereits 1875 gehalten. Rühmen wir noch zum Schluß seiue im edelsten Sinne des
Wortes erhebende Wirkung auf das „praktische Vermögen," die sittliche Kraft
des Hörers.
l
t e Herausgabe des „Tagebuchs" hatte glücklicherweise den gesun¬
den Sinn des Volkes und die Treue der Fürsten nicht berührt.
Der Kaiser, der sich über Detmold und Stuttgart zum Geburts¬
age der Kaiserin Augusta nach der Mairan, von da über Lindau
und Kempten nach München begab, wurde überall mit herzlichem
Jubel empfangen. Selbst König Karl und Königin Olga von Württemberg
fanden sich zur Begrüßung in Stuttgart ein, wenn es ihnen auch, wie es scheint,
etwas schwer geworden ist. Der Kaiser verstand es, mit Worten, die überall
dem Kreise der Hörer auch geschichtlich angepaßt waren, die Herzen zu er¬
greifen. Von München ging er nach Wien. Die Worte, die hier von den
Kaisern von Österreich und Deutschland in ihren Trinksprüchen gesprochen
wurden, besonders die von der Kameradschaft beider Heere, bezeichneten in ihrer
Kraft und Bedeutung das Verhältnis beider Staaten als ein auf gegenseitiger
Treue fest erbautes. Das waren nicht Worte, blos von der Gelegenheit ein¬
gegeben, sondern Worte, von denen „jedes einzelne einen Kommentar aufwog,"
Worte von so schwer wiegenden Gehalt, daß ihre Tragweite sich auch dort
geltend machte, wo der Friedensbund beider Herrscher und Staaten der Gegen¬
stand gehässigster Anfeindung ist. Man merkte es beiden Reden an, daß die
Monarchen sich des geschichtlichen Augenblicks wohl bewußt waren, der damit
gegeben war.
Aber womöglich noch mehr als in Wien, war man sich in Rom, ja in
ganz Italien dessen bewußt, daß mit dem Kommen des deutscheu Kaisers Stun¬
den und Tage von weltgeschichtlicher Bedeutung nahten; ganz Italien war
schon Wochen vorher in einer fieberhaften Aufregung, und Rom wie Neapel
wetteiferten mit einander in dem Bestreben, die Verbrüderung des apenni¬
nischen Königreichs und des deutschen Kaiserreichs glanzvoll zu feiern. Denn
das war es, dem aller Glanz und alle Herrlichkeit gelten sollte, die Ver¬
brüderung der beiden Reiche, wie sie sich im Angesichte des Vatikans vollzog.
So sehr auch jegliche Demonstration, mit der der Vatikan getroffen werden
konnte, wie sich von selbst versteht, vermieden werden sollte, so wenig konnte
doch durch die ganze Halbinsel hin die Freude erstickt werden, die der patrio¬
tische Italiener bei jedem Ereignis empfindet, das die Unmöglichkeit der ihm
bis in den Tod verhaßten politischen Papstwirtschaft der Welt deutlich aufweist.
Und das that die Begrüßung des italienischen Königs durch den deutschen Kaiser
in seinem Palaste zu Rom.
Während der Reise des Kaisers kamen schlimme Nachrichten aus Ostafrika.
Aber jedes eine koloniale Politik befolgende Land hat die Erfahrung von
schweren Opfern an Geld und Menschen machen müssen, und es gehört nur
etwas patriotischer Sinn dazu, zu wissen und zu verlangen, daß, je größer
die Vergewaltigung ist, desto größer die Sühne sein muß. Wer freilich denkt,
daß unsre Freisinnigen diesen patriotischen Sinn hätten, der den deutschen
Namen nicht beschimpfen läßt, der irrt sich. Die gehässigsten englischen Berichte
wurden mit Freuden von diesen Blättern abgedruckt; je mehr der Unglücks¬
botschaften kamen, desto lauter jubelten die freisinnigen Heuchler, daß ihre
Warnungen sich jetzt erfüllten; ja sie brachten die Schmach zu stände, der
ostafrikanischen Gesellschaft zu raten, ihre Besitzungen aufzugeben und damit
auch diese für Deutschland verloren gehen zu lassen. Diese Jammerseelcn werden
ja hoffentlich erfahren, daß, wenn die deutsche Regierung einen Schutzbrief
ausstellt, sie diesem auch Kraft und Wirkung zu geben vermag. Und so glauben
wir, daß die Kooperation Deutschlands und Englands gegen den afrikanischen
Sklavenhandel, zu der jetzt auch Portugal beigetreten ist, und die zunächst in einer
großartig ausgedehnten Blokade besteht, doch nicht die einzige und letzte Ma߬
regel sein wird, mit der sich Deutschland zur Erfüllung seiner kolonisatorischen
Aufgaben in Afrika begnügt. Endlich ist auch England auf den Vorschlag
Deutschlands, zugleich mit der Blokade ein Einfuhrverbot von Waffen und Pulver
nach dem innern Afrika eintreten zu lassen, eingegangen. Damit ist die Kultur¬
arbeit in Afrika für die europäischen Nationen unendlich viel leichter geworden;
eine energische Unterdrückung des Sklavenhandels, die bisher vielfach unter dem
Einfluß der englischen Handelshäuser in Sansibar selbst und unter der Benutzung
der französischen Flagge nicht möglich war, ist in Zukunft zu hoffen. Wenn
aber der Sklavenhandel für die Araber nicht mehr möglich ist, so wird auch
die Sklavenjagd aufhören, und damit schwindet die bis jetzt über dem unglück¬
lichen Erdteil stehende Gefahr, daß seine Eingebornen allmählich ausgerottet
und so die Kräfte für die Kultivirung des Bodens vernichtet werden. Zwar
weisen Kenner afrikanischer Verhältnisse darauf hin, daß bei den steten innern
Kriegen der afrikanischen Häuptlinge eine andre Gefahr erstehe, nämlich, daß,
wenn der siegende Häuptling seine Gefangenen nicht mehr an den Händler
absetzen kann, er ihnen nun, um sie nicht ernähren zu müssen, die Köpfe ab¬
schlägt. Indeß gerade die Aussicht, Gefangene zum Verkauf zu bekommen, hat
jetzt vielfach den Grund zu Kriegen gegeben, die nur eine andre Art von Jagd
auf Sklaven waren. Machen die Häuptlinge die Erfahrung, daß auch die
Kriege nicht lohnen, so werden diese zwar noch lange nicht aufhören, aber
gemindert werden. Auf jeden Fall hat hier Deutschland ein großes Werk der
Kultur vor sich, und wenn unsre Regierung hier eine Aktion in der einen oder
andern Weise nach reiflicher Überlegung eintreten zu lassen für gut hält, so
wird der Reichstag wohl nicht die Mittel verweigern, auch wenn der Freisinn
sich die größte Mühe giebt, unsre Aufgabe in Afrika, die, wie gesagt, eine große
Kulturaufgabe ist, zu vereiteln. Wir wollen nicht gesäet haben, um den Eng¬
ländern auch diesmal allein die Ernte zu lassen. In andern Ländern, die
kolonisatorische Erfahrungen haben, würden Vorkommnisse, wie die in unsern
ostafrikanischen Niederlassungen, gar nicht viel Gerede machen; man weiß da,
daß dergleichen mit solchen Unternehmungen verknüpft sind; nur unsre freisinnigen
Philister erheben ihr Gewinsel und hoffen damit für ihre Partei Geschäfte zu
machen. Da ist das Mißgeschick, welches die deutsch-ostafrikanische Gesellschaft
betroffen hat, ein „Krach," und wenn die Nationalzeitung einen kraftvollen
Schutz des Reichs für seine Angehörigen verlangt, so ist das „derselbe Humbug,
um den es sich bei dem Rühren der Kriegstrvmmel zu der Zeit der vorjährigen
Faschingswahlen handelte." Wer den Ruhm und die Sicherheit des Vater¬
landes will, der ist ein „nationaler Bumbumschläger." Sollte Bismarck für
die in Afrika durch die aufgesetzte Bevölkerung mißhandelten Deutschen eintreten
wollen, so hat „seine Macht ihre Grenze" erreicht; denn „in gewissen aller¬
äußersten Fällen ist auch die öffentliche Meinung ein Stück Verfassung." Jetzt
sind leider nur „Kanonen und Panzerschiffe das allergrößte Stück der deutschen
Verfassung." Anstatt sür „abenteuerliche Unternehmungen der Profitwut" soll
die Neichshilfe für den „unbeschreiblichen Notstand der Frauen und Kinder
unsrer arbeitenden Klassen" in Anspruch genommen werden, deren „eine immer
wachsende Zahl in das zermalmende Getriebe der Großindustrie gerissen wird."
Da niemand mehr den „unbeschreiblichen Notstand der Frauen und Kinder"
in dem „zermalmenden Getriebe der Großindustrie" verschuldet, als die Patrone
und Protzen der Volkszeitung, aus der die citirten giften Auswürfe genommen
sind, so zeigen auch solche, die Leidenschaften aufreizenden Artikel, wie weit die
Verblendung dieser Partei geht.
Es tritt immer wieder aufs neue zu Tage, wie dem Freisinn ebenso wie
den Ultramontanen die nationale Gesinnung vollständig abgeht. Wie der
erstere Deutschland am liebsten im Schlepptau Englands sähe, so würden die
letztern am liebsten ein Regiment sehen, wie es das geplagte Vaterland unter
Karl V. hatte. Deshalb mag wohl auch von gewisser Seite dafür gesorgt
worden sein, daß der Kaiser, als er beim deutschen Gesandten am Vatikan das
Wohl des Papstes ausbrachte, das Glas erhalten hatte, das einst Karl V.
benutzt hatte. Das nennt man „mit der Faust gewunken"; es wird aber nicht
viel helfen. Rom bleibt doch die Hauptstadt Italiens, und Bismarck thut dem
Papste nicht zum zweiten Mal den Gefallen eines Kulturkampfs, nachdem er
die Bravour des Fortschritts auch auf kirchenpolitischen Gebiete kennen gelernt
hat. Der blöde Hödur mag für das Ausspritzen seines giftigen Hasses sich ein
andres Feld aussuchen!
Aus der Romfart selbst wollen wir nur der Rede des Kaisers gedenken,
die er an demselben Tage, wo der Papstbesuch stattfand, als Erwiederung auf
den Toast des Königs Humbert hielt. Sie ist von der größten Tragweite
und zeigt, das die Italiener Recht hatten, wenn sie über Papst und Klerisei
samt dem ganzen wunderlichen Zeremoniell, das für den deutschen Kaiserbesuch
mit dem auswärtigen Amte verabredet worden war, sich lustig machten; denn
daß der Papst nichts von politischer Bedeutung erreicht hat, zeigt die Rede
Kaiser Wilhelms. Die von den Vätern überkommene Bundesgenossenschaft mit
dem italienischen Königshause findet in seinem Herzen ein lebhaftes Echo. Der
Kaiser erwähnte, daß beide Länder ihre Einheit unter der Führung ihrer, großen
Herrscher mit dem Schwerte erkämpft Hütten; „unsre Völker werden fest zu¬
sammenstehen zur Aufrechthaltung dieser Einheit." Also Rom ist und bleibt
die Hauptstadt des italienischen Königs, und darein muß sich auch der heilige
Vater finden.
Hierbei wollen wir daran erinnern, daß der „arme Gefangene im Vatikan"
zu seinen andern die Welt aufklärenden Encykliken jüngst auch eine Freiheits-
enchklika erlassen hat, worin er als der von Gott begnadigte unfehlbare Lehr¬
meister der Welt eine Frage entschieden hat, die zu entscheiden die erleuchtetsten
Geister seit drei Jahrtausenden sich vergeblich bemüht haben. Die Welt weiß
nun, wie sie mit der „wahren Freiheit" dran ist, die nur im Papsttum wirklich
werden kann. „Die Kirche kann aber — wie es in derselben weisen EnchMa
heißt — den Zeitumständen nachgeben und sich den Einrichtungen anbequemen,
welche die Klugheit verlangt, wo die sichere Hoffnung eines großen Gutes sich
zeigt." Also die Kirche kann nachgeben, kann z. B. auch einen protestantischen
Ketzerkaiser mit Schmeicheleien empfangen, wenn ein großes Gut sich in Aus¬
sicht zeigt. Aber „wenn die Kirche bei der eigentümlichen Lage des Staates
die Duldung gewisser moderner Freiheiten für ersprießlich hält, wird sie, wenn
die Zeiten sich zum bessern gewandt haben werden, von ihrer Freiheit Ge¬
brauch machen, das ihr von Gott anvertraute Amt zu erfüllen." Schönen
Dank für die offene Sprache! Die Herren Jesuiten glauben wahrscheinlich einem
großen Diplomaten unsrer Zeit nachahmen zu müssen. Daß sie nicht „von
ihrer Freiheit Gebrauch machen," dafür wird ja gesorgt werden.
Wenn die Nationalzcitung beim Antritt der kaiserlichen Reisen den Wunsch
aussprach, daß der Abschluß, den die europäischen Staatsmänner im Herbste
über das Ergebnis des diplomatischen Feldzugs des Sommers ziehen würden,
die Hoffnungen der Völker auf Fortdauer des Friedens krönen möge, so haben
diesen Abschluß die zwei bedeutendsten Staatsmänner Europas damit gezogen,
daß Crispi dem Reichskanzler nach Friedrichsruh von dem Enthusiasmus
telegraphirte, mit dem Kaiser Wilhelm in der Hauptstadt Italiens empfangen
worden sei. „Ich wünsche, daß das Echo des Jubels, wovon Rom wiederhallt,
bis zu Ihnen gelange . . . Möge unser Bündnis stets ein so herzliches und
inniges bleiben zum Ruhme der beiden Völker und zum Besten des Friedens
von Europa." Der Reichskanzler aber gab diesen Wunsch eben so herzlich zurück
mit der Versicherung seines festen Willens, „diese Freundschaft aufrecht zu er¬
halten und immer inniger zu gestalten." So waren denn, als am 19. Oktober der
Kaiser von Rom abreiste und am 21. wieder in Potsdam eintraf, die Kaiser¬
tage von Wien, Rom und Neapel vor dem aufmerkenden Europa zwar wie
im Fluge vorüber gerauscht, aber die Bande des mitteleuropäischen Bündnisses
waren doppelt fest geworden, und- damit der Völkerfriede selbst. Unzufrieden
waren nur die Klerikalen in allen Ländern. Man hatte das Gefühl, daß der
Papst mit dem dreifachen Ansatz, das Thema seiner Unabhängigkeit zu besprechen,
sich in unbegreiflicher Weise bloßgestellt habe, und diesem Gefühle gab man
nun auf eine Art Ausdruck, die den Geist des Papsttumes kennzeichnet. Der
Nonitsur alö Roms erklärte, daß die Unabhängigkeit des Papsttums nur in
der Abwendung der Völker von der Tripelallianz liege, und setzte auf Frank¬
reich seine Hoffnung. Der OWörviitors KoniMo sah in der italienischen
Truppenentfaltung nur eine Veranstaltung der Negierung, papstfreundliche
Kundgebungen der römischen Bevölkerung unmöglich zu machen; kurze Zeit
darauf aber sah dasselbe Blatt in derselben Truppenentfaltung, die bekanntlich
auf dem Wege des Kaisers zum Vatikan entwickelt worden war, die unhaltbare
Lage des Papsttums, da nicht einmal ein protestantischer Fürst ohne Schutz
gegen die Beleidigungen des Pöbels den Papst in seiner eignen Stadt besuchen
könne. Die Beleidigungen des Pöbels bestanden nun darin, daß er dem deut¬
schen Kaiser sein HvviviZ, zurief, wo dieser sich blicken ließ. In der That, man
merkte, daß der Kaiser dem Papste „keine Illusionen gelassen hatte."
Wie die Ultramontanen wieder anfangen, auf Frankreich ihre Hoffnung
zu setzen in der Weise, daß sie keinen Augenblick zögern würden, die Welt in
Brand zu stecken, wenn sie nur darauf rechnen könnten, ihre Pläne einiger¬
maßen dabei durchzusetzen, so haben sie in Deutschland an den Deutschfrei¬
sinnigen allzeit willige Gehilfen. Was das für Brandstifter sind, sieht man
aus solchen Gedankenergüssen, wie sie die „Volkszeitung" z. B. in dem Artikel
Ur. 250: „Ein Jubiläum," zum Besten giebt: „Der heutige Tag (21. Oktober)
ist der traurigste Gedenktag, der bisher in den Jahrbüchern des deutschen
Reiches verzeichnet worden ist. Heute vor zehn Jahren gewann das So¬
zialistengesetz Kraft. Seitdem hat es mit unbelehrbarer Gewalt an den Grund-
vesten unsers nationalen Gemeinwesens gerüttelt und dieselben in einem Maaße
erschüttert, welches niemals mehr gut gemacht werden kann. Niemals mehr.
Denn die deutschen Arbeiter müßten Fischblut in den Adern und leeres Stroh in
den Köpfen haben, wenn sie jemals vergeben und vergessen könnten, was ihnen
durch das Sozialistengesetz zugefügt worden ist. Heute ist es überflüssig zu sagen,
wie hohl die Vorwände waren, unter denen das Sozialistengesetz erlassen wurde."
Das schreibt eine Partei, die einst aus Angst, das Gesetz könnte nicht verlängert
werden, so viel Leute im Reichstage abkommandirte, als zur Durchdringung
des Gesetzes notwendig waren, und die damit bewies, daß sie recht gut begriff,
daß diejenigen, die eine Ausnahmestellung in der bürgerlichen Gesellschaft da¬
durch einnehmen, daß sie deren Bestand selbst als unberechtigt bekämpfen, es
nur sich selbst zuzuschreiben haben, wenn sie unter Ausnahmegesetze gestellt
werden. Welches Maaß von Freiheit unser Staat gewährt, kann jedermann
aus solchen Artikeln, wie den angeführten, am besten ersehen.
Eine womöglich noch unpatriotischere Gesinnung der Freisinnigen spricht
aber aus ihrem Kokettiren mit den Ultramontanen. Waren diese von ver¬
haltener Wut über die Blamage erfüllt, die der Papst durch sein Verhalten
gegenüber dem Kaiser sich zugezogen hatte, und konnten sich alle national-
gesinnten Deutschen nur freuen über die würdevolle Vertretung des Reiches
durch den Kaiser und Herbert Bismarck, so sahen die freisinnigen Nörgler in
solcher stolzen Freude nur das Entzücken der „richtigen Falstaffs. Duckmäuserig
und feige.... großmäulig und protzenhaft, wo sie (die Nationalgesinnten) . ..
nur die blasse Möglichkeit wittern, daß sich »die Reichsherrlichkeit« in persön¬
lichen Kränkungen eines alten und wehrlosen Mannes geäußert hat." So die
Volkszeitung. Diesen Leuten ist also der Papst ein „alter und wehrloser
Mann." Was den „alten Mann" betrifft (auf das „wehrlos" kommen wir
noch), so hindert ihn sein Alter nicht, „die Entschlossenheit der Kirche zum
moralischen Kampfe" zu verkünden, eine Entschlossenheit, von der die Bischöfe
von Köln und Münster in ihren Hirtenbriefen über die Landtagswahlen sofort
ein Beispiel gaben. Auch diese Hirtenbriefe waren aber dem Freisinn nur das
Gegenstück geistlicher Wahlbeeinflussung zur obrigkeitlich weltlichen. Wenn die
Freisinnigen selbst die Brodverteurung, an der sie am meisten durch Begün¬
stigung der Getreidespekulation und durch indirekte Aufforderung zur Preis¬
steigerung an die Bäcker schuld sind, auf die Zölle zurückschieben und so das
arbeitende Volk gegen die Negierung Hetzen, so ist das keine Wahlbeeinflussung.
Diese giebt es überhaupt nur bei der Regierung, die das unsittliche Kartell
gemacht hat, womit sie die Nationalliberalen einfing, welche nun sogar „den
letzten liberalen Schimmer, der ihnen noch aus bessern Tagen vielleicht an¬
haftete, bewußt und gründlich abgestreift haben." Denn „wer sich zum Kartell-
Humbug der Faschingswahlen von 1887 hergegeben hat (d. h. wer nicht deutsch¬
freisinnig gewählt hat), der hat ein sür allemal den Anspruch auf liberale Ge¬
sinnung eingebüßt." Wie traurig! Die Nationalliberalcn sind nur noch eine
von den beiden edlen Doggen, „die beide mit Peitsche und Zuckerbrod bearbeitet
wurden, um sie an möglichst gleiche Gangart zu gewöhnen, und siehe da, bei
den Faschingswahlen von 1887 bewährte sich glänzend das Ergebnis dieser
Erziehung." So steht zu lesen in dem Organ für jedermann Ur. 253.
Neben Schmähartikeln auf die Negierung und die nationalen Parteien lau¬
fen dann zur Abwechslung auch wieder Hetzarktikel einher, die den Kaiser gegen
den Kanzler einnehmen sollen. Da schreibt z. B. die „Vossische Zeitung":
„Es ist neuerdings Sitte geworden, Ansichten und Handlungen der Regierung,
welche im Volke vielfach verstimmen konnten, auf den Kaiser persönlich zurück¬
zuführen, während man Beschlüsse, welche Zustimmung ernten müssen, nicht dem
Kaiser, sondern dem Fürsten Bismarck in Rechnung stellt. . . . Man will ge¬
flissentlich das Odium dem Kanzler abnehmen und dem Kaiser zuschieben. . .
Man will die Verantwortlichkeit für die Veröffentlichung jener seltsamen Äuße¬
rung des Kanzlers s.von den befürchteten Indiskretionen an den englischen Hofl
einfach auf den Kaiser abwälzen." Diese Hetzartikel, die mit ihrem „Man" recht
schlau angelegt sein sollten, wurden vom Kaiser einfach damit beiseite ge¬
schoben, daß er unter dem gastlichen Dache von Friedrichsruh bei seinem Kanz¬
ler Einkehr hielt. Und was sich dieser böse Kanzler sonst noch alles zu Schul¬
den kommen läßt! Wenn er z. B. in der „Norddeutschen Allgemeinen" schreiben
läßt, daß sich Frankreich selbst aus dem Kreise der gebildeten Nationen damit
ausschließt, daß in ihm die Mörder deutscher Soldaten freigesprochen werden,
wehrlos Gemißhandelte wie die Freiburger Studenten in Belfort keinen Advo¬
katen, in ihrem Vermögen benachteiligte, wie es in Nancy vorkam, keine Rechts¬
hilfe finden können, weil sie Deutsche sind, wenn das das Kanzlerblatt rügt,
fo ist das ein gegen das vortreffliche französische Volk erlassener „Bannspruch"
des Kanzlers.
Dagegen wird den ultramontanen Bestrebungen die freundschaftlichste Unter¬
stützung von den fortschrittlichen Brüdern zu teil. Von Zeit zu Zeit zeigen sie
sich immer wieder als die echten päpstlichen Schlüsselsoldaten. Als die „Germania"
die Nachricht brachte, daß die französische Regierung die von Crispi den italie¬
nischen Missionen im Orient entzogenen Unterstützungen zahlen würde, und
diesen Entschluß sehr ehrenvoll für Frankreich fand, bemerkte die „norddeutsche
Allgemeine Zeitung", dieser Entschluß habe eine reichsfeindliche Tragweite, wie
schon daraus hervorgehe, daß die „Germania" die Nachricht bringe. Diese Be¬
merkung war ganz richtig; denn jener Entschluß war ein beredtes Zeugnis da¬
für, daß in Frankreich der Gedanke einer Annäherung an den Vatikan Boden
gefaßt hat. Jedermann, der den Haß Frankreichs gegen Italien und gegen
Deutschland kennt, muß also die Bemerkung der „Norddeutschen" sachgemäß
finden. Die „Volkszeitung" fand aber die Bemerkung der „Norddeutschen"
kindisch. Natürlich! Wie kann man auch die gute „Germania" noch reichs¬
feindlich finden und den Franzosen solche Thorheiten zutrauen, daß sie über
ihren Nevanchegelüsten selbst die feindliche Gesinnung gegen die Kirche auf¬
geben könnten! Das ist ja „kindisch," wie es von Herbert Bismarck abscheu¬
lich war, dem „wehrlosen Greis" im Vatikan alle Hoffnung zu nehmen. In¬
zwischen hat der „wehrlose Greis," wie der römische Korrespondent des van^
T^leZraxli berichtete, mit Rücksicht auf den kaiserlichen Besuch in Rom die
Aeußerung gethan, er habe zwar von der deutschen Negierung einige wertvolle
Zugeständnisse erlangt, könne aber als Kirchenoberhaupt uicht einverstanden sein,
daß die deutsche Regierung den Unterricht der katholischen Kinder in Deutsch¬
land allein beaufsichtigen wolle. Also Seine Heiligkeit unterstützt den Windt-
horstschen Antrag auf Klerisirung der Schule und macht das Zentrum mobil.
Und das nennt der deutsche Freisinn „wehrlos."
Über den Empfang der städtischen Deputation durch den Kaiser im Berliner
Schloß können wir kurz hinweg gehen. Was die Deputation thun konnte, um
die kaiserlichen Worte dunkel zu machen, das hatte sie gethan. Sie hatte gerade
diejenige Stelle in der kaiserlichen Anrede unterdrückt, die den Unwillen des
Kaisers begründete, die Worte, in denen der Kaiser sich beschwerte, daß die
Berliner Presse fortwährend seinen Vater zitire und gegen seine Person aus¬
spiele; das verletze ihn als Sohn aufs tiefste, und er verbitte sich das. Kann
sich die Verlogenheit dieser Partei stärker kundgeben, als in dieser Unterdrückung
der Worte des Kaisers? Und welche dumme Miene nahmen sie an, als hätten
sie die Worte nicht verstanden! Verbreiteter sie doch die Mähr, daß es die
nationalliberalcn Blätter seien, die von -den kaiserlichen Worten hätten getroffen
werden sollen. Allerdings meinte die „Volkszeitung", die Deputation hätte sich
etwas mehr auf der Höhe der Situation befinden sollen. Sie deutete an, es habe
ein Cato Johann Jacoby gefehlt. Die Antwort auf ihren Wunsch nach Catonen
hat sie durch die Wahlen zum Abgeordnetenhause erhalten. Trotz der jüdischen
Überwucherung in der ersten und zweiten Wahlklasse ist Cato Hamel in Mona,
Cato Träger in Hamm-Soest, Cato Alexander Meyer in Breslciu durchgefallen.
Das sind freilich traurige Aussichten. „Die Verkürzung der Volksrechte, schreibt
das Organ für Jedermann am 2. November, die Vermehrung der Volkslaster,
welche das Cartell seit den Faschingswcchlcn von 87 vollbracht hat, sind doch
im hohen Grade geeignet, die freisinnige Sache zu fördern; weshalb macht sich
die Wirkung eines so reaktionären Treibens denn so gar nicht im Ausfalle der
Wahlen geltend?" I nun, die Welt ist eben so elend beschaffen, daß nicht
allen „die Demokratie der schöne Ehrenname" ist, wie den politischen Mumien,
die sich „deutschfrcisinnig" nennen. Einen Trost haben aber die Mumien doch,
und der sitzt im Berliner Rathause. Da finden sich noch Catone die Menge,
und die werden sicherlich jetzt endlich auftreten, nachdem der Kaiser hat erklären
lassen, welche Partei er mit seiner Bemerkung an die städtische Deputation ge¬
meint hat. „Wir wissen glücklicherweise, schreibt die „Volkszeitung" in Ur. 263,
daß es auch im Rathause viele Männer giebt, welche Kopf und Herz auf dem
rechten Flecke haben soie Jacoby mit dem Männerstolze^, und wir hoffen, daß
dieselben nunmehr ihren Willen durchsetzen werden, ^vermutlich einen Cato
Jacoby über den Kaiser zu schicken^. Die bürgerliche Ehre Berlins steht auf
dem Spiele, und giebt man sie aus feigen Rücksichten preis, so wird diese mäch¬
tige Stadt niemals mehr ihr stolzes Haupt erheben können, niemals mehr!'
Was das doch für ein schönes Wort ist, dieses „Niemals mehr." Waren oben
die Grundfesten des Staates in einem Maße erschüttert, ,.welches niemals mehr
gut gemacht werden kann, niemals mehr," so darf hier Berlin „sein stolzes Haupt
niemals mehr erheben, niemals mehr!" Die Deutschfreisinnigen zählen im neuen
Abgeordnetenhause anstatt der frühern 4V ganze 29 Catone.
s o oder auch eine Geschichte des russischen Liberalismus könnte
man wohl richtiger eine offenbar von einem gründlichen Kenner
der betreffenden Verhältnisse verfaßte und zugleich vorzüglich ge¬
chriebene Schrift bezeichnen, die vor kurzem unter dem Titel
„Der russische Nihilismus von seinen Anfängen bis zur Gegen¬
wart. Von Karl Otterberg" im Verlage von Duncker und Humblot in Leipzig
erschienen ist. Ueber die im Titel genannte Erscheinung im russischen Volksleben
besitzen wir bereits eine förmliche kleine Litteratur in deutscher und französischer
Sprache, doch sind die betreffenden Schriften meist oberflächliche und für Partei¬
zwecke bestimmte Ware, und wenn man von Tnrgeniews „Neuland" absieht,
gab es bisher nur ein Buch, das uns einen richtigen Begriff von dem Gegen¬
stande vermittelte: die „Geschichte der revolutionären Bewegungen in Rußland",
welche der Deutschrnsse Alphons Thun 1883 veröffentlichte. Diese Schrift ist
aber, wenn sie auch auf gründlichem Studium der einschlagenden russischen
Quellenschriften, namentlich einer reichhaltigen Sammlung nihilistischer Ge¬
heimlitteratur beruht, zu weitschweifig angelegt, um das große Publikum zu
fesseln, und enthält nichts über die neueste Entwickelung, welche die Sache ge-
nommer hat. Die vorliegende Schrift vermeidet diesen Mangel und führt die
Darstellung bis zur Gegenwart fort, sodasz wir in ihr ein vollständiges Bild
der interessanten Erscheinung besitzen, der sich außerdem gute Kritik des dabei
benutzten Materials und geschickte Gruppirung der Thatsachen nachrühmen läßt.
Von höchster Wichtigkeit für die Geschichte Rußlands war es, daß seine
Einführung in die geistige Sphäre der westlichen Völker mit den Mitteln und
auf den Wegen des aufgeklärten Despotismus begonnen wurde. Peter der
Große stellte sich die Aufgabe, die gesamte Denk- und Lebensweise seines Volkes
von Grund aus umzubilden, und scheute dabei dem seinen Neuerungen wenig
geneigten Adel gegenüber selbst vor den rücksichtslosesten Maßregeln nicht
zurück. Durch Zwang zum Staatsdienste bei Verlust der Adelsrechte, durch
Einführung des Dienstadels, durch allerlei Förderung des Streberthums, durch
halbmilitärische Drillung des Zivildienstes wurde ein Beamtenst-ab geschaffen,
dessen Charakter sich aus knechtischer Fügsamkeit, aus unaufhörlicher Sorge um
Gönnerschaft und Emporkommen und aus brutalem Hochmut im Verkehr mit
Untergebnen zusammensetzt, dessen Unredlichkeit im Amte zum Sprichworte ge¬
worden ist, und dem als höchstes Lebensziel eine Stellung in den Peters¬
burger Salons gilt. Diese sittliche Entartung des russischen Adels, die wie
ein Sauerteig das gesamte gesellschaftliche und staatliche Leben durchdringt,
wurde später durch massenhafte Zufuhr ausländischer Kultur vollendet. Das
Eindringen des Deutschtums gerade in die höheren Würdeustellen gewöhnte die
russische Gesellschaft daran, das Fremdländische als überlegen anzusehen, und
chüele der französischen Bildung und Sitte die Bahnen für ihren Siegeszug,
der sich unter Katharina II., der Freundin Voltaires und der Enzyklopädisten,
vollendete. Die durch den Glanz ihrer Außenseite gewinnende, aus Aufklärung
und Empfindsamkeit gemischte Litteratur der Franzosen verschlang die heimischen
Bildungselemente ohne ernsthaften Widerstand. Blasirtheit, Frivolität und
eine stets zunehmende Unfähigkeit zu selbständigem Urteil, eine hoffnungslose
geistige Leere bildeten fortan die Charakterzüge dieser Gesellschaft, die trotz
ihrer Verfeinerung allen barbarischen Lastern und Leidenschaften den freiesten
Spielraum ließ. Die höheren Klassen in Nußland waren einer doppelten Ab¬
hängigkeit verfallen, sie wurden in ihrem Denken und Streben vom Hofe in
Petersburg und von dem, was in Paris Tagesordnung und Mode war, be¬
stimmt. Doch entwickelte sich dagegen schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts
allmählich eine gewisse Gegenwirkung, und zwar von zwei Seiten her; auf der
einen standen die Vertreter des unverdorbenen altrussischen Adels, derbe Naturen,
erfüllt von Verachtung und Haß gegen die entnervende Herrschaft des Fremdlän¬
dischen, die in der Einsamkeit ihrer Landwirtschaft oder im Soldatendienst ihre Be¬
friedigung suchten, auf der andern Seite erhob sich, vom Geiste der romantischen
Schule in Deutschland angeregt, ein Kreis von Schriftstellern, der, weniger radikal
als jener, sich auf kritische Sondirung der sittlichen Schäden beschränkte, an
denen die russische Gesellschaft litt. Ein politischer Oppositionsgeist war in
diesen Gegenströmungen anfangs nicht zu bemerken. Die Regierung war liberal,
weil sie aufgeklärt war. Erst die französische Revolution öffnete ihr die Augen
über die politische Bedeutung der Aufklärung, und jetzt erfolgte ein Umschwung,
der unter andern die bis dahin in Rußland geduldeten Freimaurer traf. Unter
Kaiser Paul, dem despotischen Gegner aller Ideen, die der Revolution zu Grunde
lagen, war von freierer Regung des Liberalismus nicht die Rede. Dagegen
wurde er unter dessen Nachfolger Alexander, dem Enkel Katharinas, dem Zögling
des Jakobiners Laharpe, für einige Zeit so vollständig entfesselt, daß ihm die
Zukunft des Landes zu gehören schien. Der Kultus des nationalen Wesens
und die Feindschaft gegen Frankreich, die sich während des Kampfes mit Napoleon
entwickelten, verdrängten ihn nur vorübergehend aus den Gemütern. Die Ein¬
wanderung Tausender von Franzosen, die nach der Restauration stattfand, ver¬
stärkte ihn, das Beispiel der deutschen Nachbarn, die sich ihm nach ihrem
Befreiungskriege zugewandt hatten, reizte zur Nachahmung, und so verbreitete
sich der junge Liberalismus binnen kurzem über alle Kreise der Gebildeten. Bei
der Mehrzahl hatte er allerdings nur die Bedeutung einer oberflächlichen Mode,
bei dem jüngern Geschlecht aber, namentlich unter dem Offiziersstande, schlug
er als schwärmerische Überzeugung tiefere Wurzeln. Junge Gardeoffiziere, die
zwischen 1815 und 1820 aus ihren Garnisonen in Frankreich mit Abscheu vor
den staatlichen und gesellschaftlichen Zuständen der Heimat und mit dem Ent¬
schlüsse, sie gründlich zu ändern, zurückgekehrt waren, wurden zu Führern der
Bewegung, die, als Alexander in der zweiten Hälfte seiner Negierung unter
dem Einflüsse Metternichs sich von den liberalen Ideen abwandte, einen oppo¬
sitionellen Charakter annahm und sich in geheimen Gesellschaften verkörperte.
Es entstand ein „Nordbund" und ein „Südbund" mit dem Zwecke, den seiner
hohen Stellung unwürdig gewordenen Zaren zu ermorden und dann, wie die
einen wollten, das Reich in eine verfassungsmäßig beschränkte Monarchie oder,
wie die andern beabsichtigten, in eine Anzahl verbündeter Republiken zu ver¬
wandeln. Man bereitete für den Mai 1826 einen Militäranfstand vor, der
infolge des Todes Alexanders in Petersburg schon im Dezember 1825 aus¬
brach, hier aber mißlang und im Süden infolge von Verrat unterblieb. Zar
Nikolaus, der Sieger über die Verschwornen, strafte zunächst mit Hinrichtungen
und Verbannungen und führte dann ein Regierungssystem ein, das von dem
seines Bruders und Vorgängers völlig verschieden war, und das zum leitenden
Grundsätze die Verwerflichkeit der westlichen Zivilisation in Sachen von Staat
und Kirche und die Notwendigkeit für Rußland, eigne Wege zu gehen, haben
sollte. Dieser Gedanke wurde während einer dreißigjährigen Negierung mit
größter Rücksichtslosigkeit durchgeführt. Eine strenge Zensur der Presse und
eine grobe Neglementirung und mißtrauische Überwachung der höhern Unter¬
richtsanstalten wurden durch eine mit fast schrankenloser Machtfülle ausgestattete
Geheimpolizei ergänzt. Die Aussicht auf Prügelstrafe, vor der weder Rang
noch Geschlecht schützte, warnte vor unvorsichtiger Äußerung liberaler Meinungen
und Wünsche. Dieses Abschreckungs- und Verhütungssystem that denn auch
seine Wirkung, und dazu kamen noch die imponirende Persönlichkeit des Selbst¬
herrschers, der es handhabte, die Gewalt seines überlegenen Willens und der
Stolz auf die Machtstellung, die Rußland uuter ihm in Europa einnahm, so
daß es kein Wunder war, wenn die russische Gesellschaft bald huldigend vor
dem Throne auf den Knieen lag, und wenn selbst die bescheidenste Ausstellung
an einer kaiserlichen Entschließung hinreichte, den, der sie wagte, in allen Salons
unmöglich zu machen. Mau war hier zufrieden, ja man fühlte sich wie in der
besten der Welten, und es erscheint nicht als Verrücktheit, es ist nur der
klassische Ausdruck dieser Stimmung, wenn ein damaliger Staatsmann sagte:
I/ö xg.8s6 as 1a Russis sse aZiniralvIs, 1<z xressirt, sse xlus aus maZ'iiiticiv.s,
et l'avLnir surxgLLörs. tont es quo I'imagination Iiunrg.inL xsut oonosvoir. Das
war aber zu unnatürlich, um Dauer zu haben. Der trotz Zensur und Polizei
fortwirkende Einfluß der liberalen Ideen des Westens, der täglich sich aufdrängende
Vergleich des prahlerischer Selbstlobes, in dem man sich von obenher erging,
mit den thatsächlichen Zuständen, mit der Hohlheit des gesellschaftlichen Lebens,
mit der Herrschaft von Brutalität und Unbildung, mit der Unredlichkeit des
Beamtenstandes und mit dem Elende des Landvolkes untergruben langsam den
Bestand des Einklanges zwischen Hof und Gesellschaft, und es kam, etwa von
1836 an, statt der Mode, die der Zar als unfehlbar betrachtete, eine andre
auf, die gewohnheitsmäßiges Absprechen über alle Rcgierungsmaßregeln als
wesentliches Erfordernis bei Leuten von Bildung und als unentbehrliche Würze
jeder Unterhaltung, die geistreich sein wollte, ansah. Anfangs nur ein all¬
gemeines Räsonniren, nahm die neue Mode bei ihren fortgeschrittenen Anhängern
bald eine demokratisch-sozialistischen Färbung an, die sie wesentlich von dem
konstitutionellen Liberalismus der ersten zwanziger Jahre unterschied, mit dem
sie aber das gemein hatte, daß sie teilweise von Frankreich stammte, wo damals
die Schüler Se. Simons von sich reden machten. Den Ernst und den Mut
zu offnem Auftreten besaß diese neue Opposition, die sich namentlich gegen die
Leibeigenschaft kehrte, nicht, und als einziges Zeichen der geheimen Gcihrung
erschien an der Oberflüche eine veränderte belletristische Litteratur. Der durch
Gogol beliebt gewordene ironisch-satirische Realismus, der sich getreue Wieder¬
gabe der Wirklichkeit zur einzigen Aufgabe machte, war ganz dazu angethan, diesen
heimlichen Interessen Nahrung zu bieten. Den Argwohn des vorwiegend gegen
den ältern Liberalismus abgerichteten Zensors geschickt vermeidend, bildete diese
litterarische Gattung die Kunst, zwischen den Zeilen zu schreiben und zu lesen,
zu einer nirgends sonst erreichten Vollkommenheit aus. Wie früher, strömte
die oppositionelle Bewegung am radikalsten in einigen Kreisen junger Leute, zu
denen das erste Petersburger Kadettenkorps und die dortige Artillerieschule ge-
hörten, und denen sich ein dritter anreihte, der sich an der Moskaner Universität
gebildet hatte. Moskau galt schon seit den Tagen Peters des Großen als
Mittelpunkt der altrussischen Opposition, seine Hochschule wurde daher besonders
streng überwacht. Den Studirenden waren nicht nur Fleiß und loyale Ge¬
sinnung „vorgeschrieben," sondern ihre ganze Lebensweise, die Einteilung ihrer
Zeit, die Kleidung u. s. w. waren mit militärischer Peinlichkeit an Reglements
gebunden, die Thätigkeit der Professoren war so eingezwängt, daß sie nicht viel
mehr als mechanische Vorleser waren. Kurator der Anstalt war ein alter
General, der mit seiner Befugnis, Zucht zu üben, tölpelhaft zugriff. Dienst¬
fertige Angeber belauschten das tägliche Leben der Lehrenden wie der Lernenden.
Dennoch gelang es, in heimlichen Vereinigungen die Wissenschaft zu Pflegen,
namentlich die Früchte der streng verpöntem deutschen Philosophie zu pflücken
und den befreienden Gedanken in der Verborgenheit einen Altar zu errichten.
Gemeinsam wurden die Geheimnisse der Schule Schellings und Hegels zu ent¬
rätseln versucht, die Genossen stärkten sich gegenseitig im Hasse der Bedrückung,
die sie erdulden mußten, in der Verachtung der geistigen Armseligkeit und sitt¬
lichen Verkommenheit, die sich in der vornehmen Welt breit machten, und in
der Sehnsucht nach einer bessern Zukunft, welcher Bahn zu brechen sie sich vor
allem berufen fühlten. Die Gedanken der Berliner Philosophen verwandelten
sich in ihrer Mitte in revolutionäre Pläne, die Hegelsche Lehre von der geschicht¬
lichen Entwicklung wurde Anlaß zu der später bedeutungsvoll werdenden Theorie
von einer gewaltigen Zukunft des befreiten Rnssenvolkes, von dem Berufe der
Slawen, einst in Europa die erste Rolle zu spielen.
Über die Gestaltung dieser Zukunft war man verschiedener Meinung. Die
eine Gruppe, die w!r, wegen der Einwirkung, welche Schlegelsche Theorien auf
sie geübt hatte, die romantische nennen wollen, suchte mit Anlehnung an das
schroffe Moskaner Altrussentnm alles Heil in einer Renaissance der Kultur ent¬
legener byzantinischer Jahrhunderte Rußlands. Von dem Standpunkte der offi¬
ziellen Verherrlichung des nationalen Wesens und Besitzes trennten sie ihr
weiterstrebender Radikalismus, ihre Verurteilung der Reformen Peters des
Großen und ihr Haß gegen das am Hofe wohlgelittene deutsche Element, vor¬
züglich aber ihre bis zu demokratischer Übertreibung gesteigerte Vorliebe für das
Volkstümliche. Von diesem Lager gingen die Anregungen ans, welche die
Erforschung des russischen Altertums hervorriefen. „Allein gänzlich auf Grübelei
über die hierdurch gewonnenen Ergebnisse angewiesen, dem praktischen Leben
entrückt, verirrten sich die Heißsporne dieser slawophilen Richtung in tiefsinnige
Deutung des Formalismus der rechtgläubigen Kirche und in ausschweifende
Bethätigung ihres unverfälschten Russeutums, die Ähnlichkeit mit der Deusch--
tunckel der zwanziger Jahre hatte, nur daß sie sich vielfach verrückter und
abgeschmackter geberdete."
Neben dieser Richtung entwickelte sich unter den Moskaner Studenten eine
zweite, die zum Teil von denselben Voraussetzungen ausging, aber zu andern
Meinungen und Wünschen gelangte. Sie beruhte, wie jene, auf Idealismus
und Haß der gegenwärtigen Zustände und Verhältnisse, aber sie kannte keine
Vorliebe für das Urrussentum und das byzantinische Kirchenwesen. „Ihre An¬
hänger erkannten vielmehr die Aneignung der europäischen Bildung und die
Verwirklichung des europäischen Freiheitsgedankens als notwendige Bedingung
für das Gedeihen der russischen Nation, und daß dabei das neueste Erzeugnis
des Westens, die von Se. Simon gepredigte Reform der Gesellschaft, die Haupt¬
rolle spielte, daß eine blos politische, nicht zugleich soziale Umgestaltung als
Halbgnt verworfen wurde, war selbstverständlich." Entsprechend den Grund¬
sätzen des Liberalismus und unter dem Einflüsse der polenfreuudlichen Stellung,
die dessen Heimat, der europäische Westen, einnahm, gestaltete sich das Staats¬
ideal dieser panslawistischen Richtung oder Schule zu einem Bunde von Re¬
publiken der slawischen Stämme des Reiches und der Nachbarländer.
Die großen Parteien der späteren Jahrzehnte, die in den Glaubens¬
bekenntnissen dieser akademischen Kreise keimten, haben hier die Persönlichkeiten
gefunden, welche ihre Führer wurden. Bclinski, Herzen, Ogarew, Bakunin,
die beiden Aksakow, Katkow und Chomjakow sind, was sie waren, sämtlich hier
geworden. Übrigens fühlten sich die beiden Gruppen, die romantische und die
republikanisch-sozialistische, damals nicht so wohl durch ihre abweichenden Mei¬
nungen geschieden, als vielmehr durch ihren Idealismus und die gemeinsame
Gefahr verbunden, und mit Haxthcmsens Entdeckung des russischen Gemeinde¬
besitzes vereinigte sie auch ein sachliches Bindeglied. Diese bisher von den
werdenden Parteien nicht beachtete Einrichtung ist ein in Großrußland erhalten
gebliebener uralter Brauch, nach welchem die zu einer Gemeinde vereinigten
Bauern ihr Land gemeinschaftlich besaßen, und zwar so, daß Wald, Weide
und Wasser ungeteilt blieben, während die Ackerfläche aller neun Jahre unter
alle Gemeindeglieder zu möglichst gleichen Teilen neu verlost wurde. Die Leib¬
eigenschaft hatte daran nur insofern geändert, daß das Land von da an aus
Ritter- und Domänengütcrn bestand. Der Gutsherr war Eigentümer des Gutes
und der auf ihm gebornen Bauern, denen er einen beträchtlichen Teil des
Landes zur Nutzung überließ, und die wieder die alte Vcrteilnngsweise an¬
wendeten. Neu war eigentlich nur die persönliche Abhängigkeit des Bauern vom
Gutsbesitzer, seine Pflicht, ihm zu fröhnen. und dessen Verpflichtung, ihn in
Notfällen zu unterstützen. In Moskau machte die Haxthausensche Entdeckung
sowohl bei den Slawophilen als bei den sozialistischen Pcmslawisten großes Auf¬
sehen. Die Slawenfrcunde sahen darin die herrlichste Offenbarung des russischen
Volksgeistes, die volkswirtschaftliche Verwirklichung der christlichen Nächstenliebe,
ein unschätzbares Kleinod, das der Bauernstand, das echte Volk, durch die
Jahrhunderte der Knechtschaft gerettet hatte, das bisher nur geahnte „Prinzip,"
mit dem das Slawentum die Nachwelt zu beglücken berufen sei, sobald es
nach philosophischer Notwendigkeit die Romanen und Germanen in der Stelle
der Vormacht Europas abgelöst habe. Die Sozialisten erblickten ihre Idee in
ungeahnter Weise verkörpert und beeilten sich, dem Gemeindebesitz in ihrem
Programme die oberste Stelle einzuräumen.
Die nächste Aufgabe war nun für die Slawophilen wie für die Pcmsla-
wisten, für die Einführung des Brauches in den Provinzen des Reiches, wo
er noch nicht oder nicht mehr Geltung hatte, zu wirken und vor allem die
Rittergüter zu beseitigen. Aber dabei gab es vorläufig Schwierigkeiten, vor
denen es beim guten Willen bleiben mußte. Haxthausen machte seine Entdeckung
1842. Aber schon 1832 hatte die Moskaner Studcntenvereine das Unglück
betroffen, daß die Polizei ihrem Philosophiren auf die Spur kam und nächt¬
licher Weile einzelne von ihnen verhaftete und verschwinden ließ. Bald nachher
erreichte die leitenden Geister des sozialistischen Kreises ein ähnliches Schicksal.
Seitdem war in der öffentlichen Stimmung jene oben geschilderte Umwandlung
vor sich gegangen: man war zufrieden mit der Gegenwart Rußlands, ja man
war stolz auf sie. Da brachte das Jahr 1848 dem Zaren die sehr unwill¬
kommene Aufklärung, daß er nur nach der Oberfläche geurteilt hatte, als er,
auf die revolutionäre Fäulnis des Westens herabsehend, sein Rußland in dieser
Hinsicht prahlend als rein und glücklich gepriesen hatte. Im März 1848 ging
beim Minister des Innern die Anzeige ein, in einer Adelsversammlung der haupt¬
städtischen Provinz seien zensurwidrige Schriftstücke, die ein Ministerialbeamter
Petraschewski verfaßt habe, ausgeteilt worden, und die daraufhin angestellte
Nachforschung nud Untersuchung lieferte den Beweis, daß nicht nur in der Residenz,
sondern auch in mehrern Provinzialstädten vornehmlich von jungen Leuten
besuchte Gesellschaften bestanden, in denen Politik getrieben, über die Regierung
mit Einschluß des Monarchen mit Geringschätzung gesprochen und über staats¬
gefährliche, selbst kommunistische Lehren verhandelt worden war, und deren
Bestehen sich bis 1842 zurückverfolgen ließ. Man erfuhr ferner, daß von
diesen Gesellschaften die Verbreitung illoyaler Gesinnung unter dem niedern
Beamten- und Bürgerstande mit Erfolg versucht worden war, daß man dort
an Aufwiegelung der leibeignen Massen gedacht hatte, und daß unruhige Köpfe
sich mit fertigen Plänen zum Sturze des Absolutismus und zur „Einführung
der Anarchie" trugen.
Die nächste Folge der Entdeckung dieser „Verschwörung der Petraschcwzen"
war die Verhaftung von 33 besonders belasteten Personen und das Todesurteil
über 21 derselben, das vom Kaiser in lebenslängliche Verbannung verwandelt
wurde; dann wurden die burennkratischen Kräfte zu äußerster Gegenarbeit gegen
alles, was revolutionär heißen konnte, angespannt. Die dritte Abteilung der
kaiserlichen Kanzlei wurde zu einer Reichsbehörde erhoben, der sich auch die
Minister unterzuordnen hatten. Die Unduldsamkeit der Zensur stieg ins Un¬
glaubliche. Wer ins Anstand reisen wollte, mußte dazu die allerhöchste Er-
laubnis einholen und 600 Rubel erlegen. Vom Weiterbau der begonnenen
Eisenbahnen war nicht mehr die Rede. Das Unterrichtsministerium wurde einem
Manne übertragen, der an den Universitäten nicht mehr über Philosophie und
Staatsrecht lesen ließ, und die Zahl der Studirenden für die einzelne Hoch¬
schule auf 300 beschränkte, ja der Zar ging ernsthaft mit dem Gedanken um,
diese gefährlichen Anstalten ganz abzuschaffen. Nikolaus war dem Cäsarenwahn¬
sinn verfallen, er hielt sich als Selbstherrscher für unfehlbar, der geringste
Widerspruch eines Unterthanen reizte ihn zu gefährlichem Aufbrausen, er wähnte
selbst den Gesetzen der Volkswirtschaft gebieten zu können. Unheimliche Schwüle
lagerte sich über das Reich, man fühlte eine Krisis herankommen. Sie kam
mit dem Krimkriege und dem frühen Tode des Zaren. Je gewisser des Siegs
die Nation den Kampf mit den Türken und den Wcstmächten aufgenommen
hatte, desto furchtbarer war die Enttäuschung, welche die Mißerfolge des Feld¬
zugs brachten. Die ungeheuern Menschenverluste, die Unfähigkeit der Feldherrn,
von der nur der Deutsche Totlebcn, der geschickte Verteidiger Sewastopols, eine
Ausnahme machte, die ganz unglaubliche Unehrlichkeit der Verpflegungsbeamten
ließen die bisher gepflegte Selbstgenügsamkeit, als sie allmählich bekannt wurden,
in ihr Gegenteil umschlagen, und jede regierungsfeindliche Regung begann sich zu
hell aufflammenden Grimme zu entzünden. Bis in entlegene Prvvinzialstädte hinein
besprach man ungescheut die schweren Gebrechen des Reiches, und eine handschrift¬
liche Litteratur, die in Hunderttausenden von Abschriften verbreitet wurde, schürte,
die Zensurstellen vermeidend, das Feuer des Hasses und der Verachtung, wel¬
ches die öffentliche Meinung ergriffen hatte. Es war wie eine rettende Botschaft
vom Himmel, als man erfuhr, der Kaiser sei gestorben. Man wußte nichts
genaues über die Gesinnnung des Thronfolgers, aber man hatte die Empfin¬
dung, es müßte mit ihm anders werden. Wie und wodurch, blieb unklar, bis
Herzens „Offres Schreiben an Alexander den Zweiten" erschien. Dieses Ma¬
nifest eines begeisterten Verehrers des westlichen Liberalismus verkündete der
Welt in volltönenden Phrasen, nunmehr sei die Stunde gekommen, das Unrecht
einer dreißigjährigen Regierung zu sühnen, mit den humanen Ideen des Jahr¬
hunderts Frieden zu schließen und dem russischen Volke zu geben, was ihm ge¬
bühre, zunächst aber zur Aufhebung der Leibeigenschaft zu schreiten. War bis¬
her eine öffentliche Meinung nur in der Bildung begriffen und noch nicht ein¬
heitlich, war sie nur negativen Inhalts, nur Kritik gewesen, so bekam sie durch
diese Ansprache mit einem positiven Inhalte einheitliche Ziele, Klarheit und
Selbstgefühl. Herzen, der uneheliche Sohn eiues russischen Magnaten und einer
Deutschen, hatte, zuletzt als Flüchtling in London lebend, schon vorher durch
seine Zeitschrift „Kökökök" für die liberale Bewegung in Rußland gewirkt, sein
Brief an den neuen Kaiser machte ihn zum unbeschränkten Gebieter über sie.
Willenloser war selbst an Zar Nikolaus' Hofe die gezwungene Unterwürfigkeit
nicht gewesen, als jetzt die freiwillige Hingebung der meisterlosen Menge an den
talentvollen Führer, der ihr einerseits das Wort ans dem Mundenahm, ander¬
seits ihr Gedanken gab. Fast ein volles Jahrzehnt dauerte diese Herrschaft.
Die Maßregelung des „Kökökök" durch die Zensur verlieh ihm nur größern
Reiz und that seiner Verbreitung wenig Eintrag, wie schon die Thatsache be¬
weist, daß 1859 auf der Nowgoroder Messe gegen hunderttausend Exemplare
des Blattes mit Beschlag belegt werden konnten. Herzen wirkte darin durch
sclbstverfaßtc Leitartikel, mehr aber noch durch Enthüllung der Mißstände des
bureaukratischen Regiments in Nußland. Berichterstatter in allen Teilen des
Reiches meldeten ihm Zuverlässiges über alle Vorkommnisse von politischer Be¬
deutung und teilte,? ihm selbst Staatsgeheimnisse mit. Die Furcht, in den
„Kökökök" zu kommen, lähmte die Willkür des Beamtentums bis in hohe
Sphären hinauf. Man kann Herzen mit dem Verfasser unsrer Schrift den
„Vater der russischen Revolution" nennen und mit ihm sagen, mit dem offnen
Briefe an den Zaren sei eine neue Ära angebrochen.
nsre Angelegenheit kommt in Fluß. Der Gcschäftsausschuß für
deutsche Schulreform hat dem Kultusminister von Goßler die
oftbesprochene Petition mit 22409 Unterschriften überreicht. Eine
Eingabe ähnlichen Inhalts ist von demselben Ausschusse an den
Fürsten Reichskanzler gerichtet worden. In einer stündigen
Unterredung hat Herr von Goßler sich dem Ausschusse gegenüber in durchaus
wohlwollender und entgegenkommender Weise ausgesprochen und ihn aufgefor¬
dert, die Ausführbarkeit der Einzelheiten des in der Eingabe an den Reichs¬
kanzler dargelegten Programms näher zu begründen.
Es darf unter diesen Umständen wohl nicht bezweifelt werden, daß Herr
von Goßler weitere Schritte in der Schnlrefornmngelcgenheit thun wird. Ver¬
mutlich wird er, dem in der Petition ausgesprochenen Verlangen gemäß, dem
deutschen Volke Gelegenheit geben, sich darüber anzusprechen, was es an den
jetzigen Schulverhältnissen für tadelnswert und welche Verbesserungen es für
notwendig erachtet. Bereiten wir uns also darauf vor, eine Antwort zu geben,
sobald die Anfrage ergeht. Säumen wir nicht, uns über die einzelnen Punkte
zu verständigen, denn ihre Anzahl ist groß. Leicht wird das nicht sein; die
Geister werden heftig auf einander Platzen. Aber in vielen, und wahrscheinlich
den wichtigsten Dingen, wird schließlich eine Übereinstimmung oder doch ein
bestimmtes Ergebnis erzielt werden. Dann wird nichts im Wege stehen, in
diesen Punkten die Wünsche des Volkes zu erfüllen, die Erledigung der streitig
gebliebenen aber der Zukunft vorzubehalten.
Zur Beförderung der Verständigung soll auch das nachfolgende dienen.
Das Tadeln und Verurteilen der bestehenden Verhältnisse ist leicht, aber es
reicht nicht aus. Es kommt vielmehr darauf an, verständige und ausführbare
Verbesserungsvorschläge zu machen. Wir wollen heute einen sehr wichtigen Punkt
erörtern: die Berechtigungen.
Er handelt sich bei dieser Frage um zwei Gegenstände, die durchaus nichts
mit einander zu thun haben: die Zulassung zum Fachstudium auf der Univer¬
sität, und die Zulcissnng zum Dienste als Einjährig-Freiwilliger.
Der Streit über den ersten Punkt ist bereits seit längerer Zeit in vollem
Gange. Er dreht sich namentlich um die Frage: Sollen zum Studium der
Medizin (und auch der Rechtswissenschaft) junge Leute ohne Kenntnis des
Griechischen zugelassen werden? Für die Ärzte hat dies neuerdings wiederum
sehr entschieden Prof. Preyer in Jena gefordert. Die Ärzte selbst sind in zwei
verschiedene, sich zum Teil heftig befehdende Lager gespalten.
Es wird nnn wohl im Ernste niemand behaupten, der jetzige Arzt bedürfe
zu seinem Fachstudium der griechischen Sprache. Die Weisheit der alten Ärzte,
soweit sie jetzt noch oder wiederum als Weisheit erscheint, liest er bequem in
deutschen Büchern; die vielen nachgerade zu einer wahren Kalamität gewordenen,
für ein philologisches Ohr zum Teil entsetzlich gebildeten griechischen oder gräko-
lateinischen Kunstausdrücke kann er auswendig lernen, auch ohne sich mit Dual,
Optativ, Medium geplagt zu haben. Noch weniger läßt sich ein Nutzen des
Griechischen für das Fachstudium des Juristen nachweisen. Der Schwerpunkt
liegt in Wahrheit gar nicht in dem Nutzen für das Fachstudium, sondern darin,
daß zur Zeit die Kenntnis der griechischen Sprache als ein Kennzeichen der
Zugehörigkeit zu deu Hvchstgebildetcn Ständen gilt, und daß es unerläßlich er¬
scheint, daß der Arzt und der Beamte diesen angehören. Ich stehe nicht an, es
für die Ärzte geradezu als gefährlich zu erklären, wenn sie für sich allein die Be¬
freiung vom Griechischen erstritten, ohne daß zu gleicher Zeit den Juristen die¬
selbe Erleichterung zu Teil würde. Sie würden in den Augen des Publikums
sofort zu Gelehrten zweiter Klasse herabsinken. Es handelt sich bei dieser ganzen
Angelegenheit überhaupt nicht darum, was notwendig oder nützlich ist, sondern
was der Sitte und Auffassung des Volkes entspricht. Diese läßt sich aber nicht
im Handumdrehen durch ministerielle Verfügungen ändern; zu einer solchen Um¬
wandlung bedarf es langer Zeit.
Daher erscheint es als das richtige, diese Frage aus der Angelegenheit der
allgemeinen Schulreform für jetzt völlig auszuscheiden und ihre Betreibung
den zunächst dabei interessirten Stünden zu überlassen. Griechisch wird auf
unsern Gymnasien unter allen Umstanden gelehrt werden müssen. Für uns
reicht es aus, zu erstreiten, daß dies im richtigen Umfange und nach der rich¬
tigen Methode geschehe,*) Brechen wir vor allem zunächst mit den weitver¬
breiteten und von den Philologen sorgfältig genährten Irrtume, die Kenntnis
der griechischen Sprache sei zugleich Kenntnis des Griechentums. Verlegen
wir aber die Beantwortung der ferneren, im Grunde untergeordneten Frage,
wer unter den Schülern des Gymnasiums gezwungen werden soll, am Unter¬
richt im Griechischen teilzunehmen, getrost auf eine spätere Zeit; es reicht aus,
wenn das nächste Jahrhundert die Entscheidung trifft.
Um so dringender bedarf einer baldigen Lösung die Frage der Berechtigung
zum Dienst als Einjährig-Freiwilliger.
Die (in Frankreich neuerdings wieder aufgehobene) Einrichtung der Ein¬
jährig-Freiwilligen ist eine durchaus notwendige Ergänzung zur allgemeinen
Wehrpflicht. Vor dem Gesetze sollen alle Deutschen gleich sein. Eben darum
aber dürfen nicht alle über einen Kamm geschoren werden. Es sind offenbar
zwei ganz verschiedene Dinge, ob der Bauerjunge dem Pfluge entzogen wird,
der Maurer der Kelle, um in der gut eingerichteten Kaserne besser unter¬
gebracht, besser genährt und gekleidet zu werden als daheim, und sich körper¬
liche Gewandtheit, Reinlichkeit, Ordnungsliebe, Pünktlichkeit, Pflichttreue und
vieles andre anzueignen, was für sein ganzes Leben von höchster Wichtigkeit
für ihn ist —, oder ob der Sohn einer höher gebildeten Familie aus allen
gewohnten Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens herausgerissen
werden und mit 2d Mann auf einem Zimmer zusammen liegen soll, die im
Vergleich zu ihm roh sind, ob er Kartoffeln schälen, den Pferdestall reinigen,
jeder Freiheit der Bewegung entsagen und 3 Jahre seines Lebens opfern
soll, die für die Begründung seiner Zukunft gerade die wichtigsten sind. Darum
bestimmt die deutsche Wehrordnung, daß junge Leute von höherer Bildung,
die sich während der Dienstzeit selbst erhalten und bekleiden, nicht drei Jahre,
sondern nur eins bei der Fahne zu sein brauchen. Den Begriff der „höhern
Bildung" bestimmt das Gesetz genauer als die Reife für Obersekunda eines
Gymnasiums.
Diese den Forderungen der Gerechtigkeit durchaus entsprechende Einrich¬
tung hat großen Segen, daneben aber höchst bedenkliche Folgerungen nach sich
Laugen. Zu den letztem gehört in erster Linie eine sehr beklagenswerte Ver¬
schiebung der Schulverhältnisse.
Die jetzige Gliederung der Schulen — für die untern Volksklassen die Volls-
schule, für den Mittelstand die Bürgerschule, für die höhern und höch-
sten Klassen der Bevölkerung die Gymnasien (Real- und humanistische) —
ist naturgemäß und hat sich bewährt. Freilich verfolgt eine große An¬
zahl von Männern (an ihrer Spitze der Ausschuß für Schulreform) den
Plan, an die Stelle dieser drei neben einander herlaufenden Schulen eine Ein¬
heitsschule zu setzen, die auf ihrer untersten Stufe die Kinder aller Volksklassen
aufnehmen und von der sich später die Bürgerschule und zuletzt das Gymna¬
sium abzweigen soll. Ich behalte mir vor, die schweren Bedenken, die gegen
eine solche Einrichtung sprechen, später an passendem Orte auseinanderzusetzen.
Für jetzt halte ich mich an das Bestehende.
Der Wunsch, ja das Bedürfnis, die militärische Dienstpflicht nicht in drei,
sondern in einem Jahre abzuthun, reicht tief in den besitzenden Vürgerstand
hinab. Wer irgend in der Lage ist, die Kosten des einen Dienstjahrs zu be-
streiten, sucht seinem Sohne diese Erleichterung zu verschaffen. Dazu ist jetzt
Vorbedingung der mehrjährige Besuch eines Gymnasiums oder einer dem Gym¬
nasium gleichstehenden Anstalt. Seinen ganzen Verhältnissen nach gehörte
zwar der junge Mann auf die Bürgerschule. Diese hat aber nicht das Recht,
ihn zum Dienst als Einjährig-Freiwilliger zu entlassen. Des einen Dienstjahrs
wegen wird er also von der Bürgerschule aufs Gymnasium gedrängt.
Das ist sehr schlimm, zuvörderst für die jungen Leute selbst. Anstatt in
der lateinlosen Bürgerschule dasjenige zu lernen, was sie für ihren künftigen
Stand und Beruf brauchen, dies aber gründlich und tüchtig, werden sie mit
Lateinisch und Griechisch geplagt und erfahren sehr wenig von dem, was ihnen
später im praktischen Leben notthut. Die Bürgerschule (freilich auch noch
wesentlicher Verbesserungen fähig und bedürftig) würde ihnen einesteils eine
angemessene, andernteils eine abgeschlossene Bildung mitgeben. Statt dessen er¬
halten sie auf den untern Klassen des Gymnasiums eine ihren künftigen Lebens¬
verhältnissen durchaus nicht entsprechende Halbbildung. Sie wissen, wenn sie
Untersekunda verlassen, viel zu viel und viel zu wenig. Das macht sie ans der
einen Seite untüchtig, auf der andern anspruchsvoll. Es liegt auf der Hand,
daß die Bekanntschaft mit der altklassischer Litteratur und der Zug von Idea¬
lität, den das Gymnasium seinen Schülern einflößt, nicht damit zusammenpaßt,
daß man die Hände dann in die Lohgerbergrube steckt oder einen Handel mit
Kolonialwaaren betreibt. Daher bei so vielen jungen Leuten Geringschätzung
des eignen Berufs, Unzufriedenheit mit der sozialen Stellung und das Drän¬
gen nach etwas, das, wenn auch nicht in Wirklichkeit, so doch ihrer Auffassung
nach, höher und besser ist. Noch weit schlimmer aber gestaltet sich die Sache
meist bei solchen, denen das Gymnasium überhaupt die Lust verdorben hat,
das bürgerliche Gewerbe zu ergreifen, durch welches der, freilich kein Lateinisch
und Griechisch verstehende Vater ein geachteter, vielleicht auch wohlhabender
Mann geworden ist, die sich vielmehr berufen fühlen, es noch viel weiter zu
bringen. Dies Verlassen des durch die Geburt und die Verhältnisse ange¬
wiesenen Berufs führt in außerordentlich vielen Fällen erst recht zum „Ver¬
fehlen des Berufs." Es schafft vor allem das gebildete Proletariat, dessen große
Gefährlichkeit in der Eingabe an den Reichskanzler mit vollem Rechte hervorgehoben,
und das vom Kultusminister in seiner Unterredung mit dem Ausschusse unum¬
wunden als ein Hauptschaden unsrer Schulverhältnisse anerkannt worden ist.
Aber auch die Lehranstalten selbst leiden schwer unter der jetzigen Sach¬
lage. Das königlich sächsische Schulgesetz vom 22. August 1876 sagt 2)
ausdrücklich: „Aufgabe der Gymnasien ist, zum selbständigen Studium der
Wissenschcifteu durch allseitige humanistische, insbesondere altklassische Bildung
in formeller und materieller Hinsicht vorzubereiten." Es sind aber wesentlich
die Bestimmungen über den Dienst als Einjährig-Freiwilliger, welche die Gym¬
nasien dieser schönen Aufgabe entfremdet und sie, wenigstens in den Klassen
bis Obersekunda, zu Ersitzuugsaustalten jener Berechtigung herabgedrückt haben.
Es steht fest, daß nur etwa ein Drittel der ins Gymnasium eintretenden
es bis zur Reifeprüfung durchlaufen. Was ist also die größere Hälfte
der Schüler? Ballast! Welche Verschwendung an Zeit, Geld und Lehr¬
kräften! Wie ganz anders könnten die Gymnasien ihrem Ziele zustreben, wenn
nicht das Zentuergewicht derjenigen an ihnen hinge, die es nur bis zur Unter¬
sekunda bringen wollen!
Und ferner: im Sinne des Gesetzes sollen die Gymnasien gewissermaßen
aristokratische Anstalten sein, bestimmt, die Söhne der höhern Volksklassen auf¬
zunehmen und sie den höchsten Berufsarten zuzuführen, namentlich dem Staats¬
dienst. Jetzt findet auf ihnen ein höchst bedauerliches Durcheincmdcrwerfen der
Stände statt. Das entspricht freilich den liberalen Theorieen, in deren Fahr¬
wasser wir es auch bis zum allgemeinen Wahlrecht (ein geistreicher Franzose
nannte es neulich mit Anwendung auf sein Vaterland ein Rasirmesser in der
Hand eines Affen) gebracht haben. Aber dem wahren Wohle des Staates
wie des Einzelnen entspricht es nicht; dein dient weit besser das Erhalten,
und wo es erforderlich ist, das Wiederaufrichten verständiger und wohlthätiger
Schranken, die einem jeden genügenden und gebührenden Raum zur Entfaltung
seiner Kräfte anweisen, nicht aber ihm ungemessene Bahnen eröffnen, in denen
er leichter das Falsche als das Richtige erreicht, selbst kein Glück findet und
das Glück anderer gefährdet.
Die jetzt in Betreff der Gymnasien obwaltenden Verhältnisse hat Herr von
Goßler selbst als durchaus ungesund bezeichnet. Nicht nur daß die Gymnasien
infolge des Mangels der Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligendienst in den
Klassen bis Obersekuuda an einer sehr bedauerlichen Überfüllung leiden, auch
ihre Anzahl ist viel zu groß geworden. Naturgemäß sollte, dem Verhältnis
der Bewohnerzahl des Landes entsprechend, nächst der Volksschule die Bürger¬
schule den breitesten Raum einnehmen. Namentlich sollten sich die kleineren
Städte mit guten Bürgerschulen begnügen. Aber das gestatten die Bestimm¬
ungen über den Dienst als Einjährig-Freiwilliger nicht. Die Familien der
kleineren Städte können nicht füglich ihre Söhne, damit sie demnächst als Ein¬
jährig-Freiwillige dienen, mit dem neunten Jahre aufs Gymnasium in einer
größern Stadt schicken. Was bleibt also der kleineren Stadt übrig, als sich
selbst ein Gymnasium zu schaffen, daß dann natürlich für das vorhandene Be¬
dürfnis viel zu groß ausfällt und ganz unverhältnismäßige Kosten veranlaßt.
Herr v. Goßler selbst hat ausgesprochen, daß eine Menge seit 1870 in Preußen
errichteter Gymnasien nicht lebensfähig sei. Aber nicht das allein: auf der
andern Seite verkümmern die Bürgerschulen, denen jetzt gerade die besten
Schüler künstlich entzogen werden. So leiden alle Teile. Etwas besser steht
es in Sachsen. Dank den (relativ) guten Schuleinrichtungen haben
sich hier die Bürgerschulen im Kampfe ums Dasein mit den Gymnasien noch
einigermaßen behauptet; es liegt aber auf der Hand, daß sie es auf die Dauer
anch nicht können werden. Die Bürgerschulen wieder in ihr Recht einzusetzen
erscheint dringend erforderlich. Das werden vor allem auch die Lehrer der
Gymnasien und der Bürgerschulen wünschen.
Wie aber wird eine solche Wandlung herbeizuführen sein? Nur durch eine
zweckentsprechende Regelung der Verhältnisse der Einjahrig-Freiwilligen. Aber
wie? Soll an dem Grundsatz der Wehrordnung etwas geändert werden, daß
nur eine „höhere Bildung" zum Dienst als Einjährig-Freiwilliger berechtige?
Durchaus nicht! Schon deshalb nicht, damit nicht auch hier, wie leider auf
so vielen andern Gebieten, die rohe Macht des Geldes allein einen Vorzug des
eiuen Staatsangehörigen vor dem andern begründe. Wohl aber könnte dem
Grundsatze eine etwas veränderte, den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechendere
Anwendung gegeben werden. Die Frage wird in kurzen Worten so lauten:
Soll auch denjenigen, welche die Bürgerschule durchlaufen haben, der Dienst als
Einjährig-Freiwilliger gestattet werden, und unter welchen Bedingungen? Prüfen
wir einmal, was die Bürgerschule leistet.
Vergleicht man die Bestimmungen der deutschen Wehrordnung (Art. 2.
I. § 2) über die von den Einjährig-Freiwilligen nachzuweisenden Kenntnisse mit
den königlich sächsischen Vorschriften über die Lehrgegenstände in der obersten
Klasse der Bürgerschule, so ergiebt sich folgendes. Die Wehrordnung fordert
Lateinisch und Griechisch in ziemlich bedeutendem Umfange, auch etwas Englisch,
die Bürgerschule kennt diese Disziplinen überhaupt nicht. Im Deutschen, in
der Geschichte und in der Geometrie stimmen beide etwa überein; nur eine
größere Kenntnis der deutschen Litteratur verlangt die Wehrordnung. Im
Französischen, in der Geographie und in der Arithmetik fordert die Wehrord¬
nung etwas mehr, in der Physik etwas weniger.
Hiernach wird man den Bildungsgrad eines aus der obersten Klasse der
Bürgerschule abgegangenen für etwas geringer erklären müssen, als den des-
jenigen, der sich auf dem Gymnasium die Reife für Obersckunda erworben hat.
Auch der Umstand, daß die Gymnasiasten nur in den alten Sprachen gut, in
den übrigen Disziplinen mittelmäßig oder schlecht beschlagen zu sein Pflegen,
so schwer er zu Gunsten der Bürgerschule ins Gewicht fällt, wird an diesem
Urteile nichts ändern. Soll man trotzdem den Bildungsgrad, welchen die
Bürgerschule angiebt, als ausreichend für den Dienst als Einjährig-Freiwilliger
erklären?
Mit dieser Frage betreten wir das militärische Gebiet. Sie wird von den
militärischen Behörden zu entscheiden sein, und darum ist es völlig korrekt, daß
der Ausschuß für Schulreform sich auch an den Reichskanzler gewendet hat.
Um so mehr wird es aber mir, einem alten Offizier, gestattet sein, meine An¬
sicht über den in Rede stehenden Punkt auszusprechen.
Ich meinerseits möchte diese Frage nicht ohne weiteres mit Ja be¬
antworten. Aus den Reihen der Einjährig-Freiwilligen sollen die Unteroffi¬
ziere der Reserve und der Landwehr hervorgehen. Nun ist freilich nicht zu
bestreiten, dnß der Bildungsgrad weitaus der meisten aktiven Unteroffiziere dem
eines jungen Mannes nicht gleichkommt, der die oberste Klasse der Bürger¬
schule mit guten Zeugnissen verlassen hat. Denn die aktiven Unteroffiziere sind
meist aus dem Stande der Handwerker und der kleinen Gewerbetreibenden her¬
vorgegangen; selten hat einer von ihnen die Bürgerschule ganz durchlaufen
oder das Gymnasium besucht. Sie sind auch nicht einmal die begabtesten oder
gebildetsten Söhne ihres Standes. Denn ein junger Mann von Fähigkeiten
und Kenntnissen findet in vielen andern Berufszweigen eine weit lohnendere
Verwendung, als in dem schlecht bezahlten Stande der Unteroffiziere, der immer
mehr zu einer Durchgangsstufe für Zivilanstellung herabsinkt. Nun scheint es
mir aber keineswegs ungerecht, vielmehr ganz in der Ordnung, vom Landwehr¬
unteroffizier eine etwas höhere Bildung zu verlangen, als vom aktiven, damit
c>uf diese Weise die dem ersteren naturgemüß anhaftende geringere Dienstkennt-
ms in den Augen der Untergebenen aufgewogen und ausgeglichen werde. Ja
sogar ein recht merklicher Unterschied in dieser Hinsicht ist wünschenswert. Ein
solcher tritt aber bei denen, die das Gymnasium besucht haben, weit schärfer
hervor; die Gymnasialbildung ist eben eine wesentlich andre als die, welche
die Bürgerschule angiebt. Vielleicht wird es aber möglich sein, das in genü¬
gendem Maße auszugleichen. Man füge den Bürgerschulen eine oberste Klasse
hinzu, eine Selekta für diejenigen, welche als Einjährig-Freiwillige dienen
wollen, und verwende das neunte Schuljahr einesteils zu einer zweckmäßigen
Erhöhung der Unterrichtsziele, andernteils zur Befestigung des bisher ge¬
lernten, sodaß es zur rechten Stunde zur Verfügung steht, und auch längere
Dauer beweist, als es jetzt meist der Fall ist. Die Bürgerschule selbst könnte
dies nur als einen höchst erfreulichen Fortschritt, als eine Erhebung auf eine
höhere Stufe begrüßen.
Das böte aber zugleich eine vortreffliche Gelegenheit, auch für den mili¬
tärischen Dienst etwas höchst wertvolles zu erreichen: man könnte für die vou
der Bürgerschule kommenden die Berechtigung zum Dienst als Einjährig-Frei¬
willige an die Bedingung des einigermaßen fertigen Sprechens einer fremden
modernen Sprache knüpfen. Von wie großer Wichtigkeit es ist, sich mit Freund
und Feind verständigen zu können, weiß jeder, der im Felde gestanden hat.
Für den Dienst als Ordonnanz, als Quartiermacher, bei Fomagirnngen und
Requisitionen, im Vorposten- und Patrouillendienstc, in den Lazarcten u. s. w.
ist die Kenntnis der Sprache des feindlichen oder des verbündeten Landes ganz
unschätzbar. Aber auch für die jungen Leute selbst wäre das Sprechen einer
fremden Sprache eine äußerst wertvolle Mitgabe für ihr ganzes Leben; denn
unsre Zeit wirft die Menschen bunt durch einander. Den Gymnasien endlich
dürfte eine solche Einrichtung als Sporn dienen, auch ihrerseits in dieser Hin¬
sicht dasjenige zu leisten, was die Gegenwart fordert.
Ist meine Idee schwer durchführbar? Ich glaube nicht. Fast in jeder
kleineren Stadt Deutschlands wird sich irgend eine Persönlichkeit finden, ein
Lehrer, ein Kaufmann u. s. w., der des Französischen oder des Englischen soweit
mächtig ist, um den Unterricht in dieser Sprache zu übernehmen.*) Im Not¬
falle ließe man jemand ein paar Mal in der Woche von auswärts kommen,
wie den Tanzlehrer. Das Italienische, Spanische, Holländische, Dänische, Rus¬
sische müßte natürlich den Bürgerschulen der größer» Städte vorbehalten blei¬
ben. Sollten aber meinem Vorschlage wirklich unüberwindliche Hindernisse ent¬
gegenstehen, dann würde ich mich entschieden dafür erklären, unter zwei Übeln
das kleinere zu wählen, und auch diejenigen zum Dienste als Einjährig-Frei¬
willige zuzulassen, welche die oberste Klasse der Bürgerschule mit guten Zeug¬
nissen verlassen haben.
Den Grundsatz, von der Reserve und Landwehr etwas mehr zu verlangen
als von der aktiven Truppe, würde ich aber auch auf die Offiziere ausdehnen.
Die für die aktiven Offiziere jetzt vorgeschriebene allgemein wissenschaftliche
Prüfung (Fähndrichsprüfnng) verlangt weniger als die Reifeprüfung der Gym¬
nasien. Daher gebe man den Anspruch auf Beförderung zum Reserve- oder
Landwehrvfsizier ausschließlich denjenigen Einjährig-Freiwilligen, die die Reife¬
prüfung auf einem humanistischen oder Realgymnasium bestanden haben. In
Baiern besteht diese Einrichtung sogar für die aktiven Offiziere seit längerer
Zeit, und sein Offizierkorps ist stets vollzählig. Nach dem Gleichen trachtete
schon vor 40 Jahren der um das Unterrichtswesen der preußischen Armee so
hochverdiente General v. Peuckcr. In einer Unterredung mit ihm äußerte ich
meine Bedenken in Betreff der Durchführbarkeit einer solchen Forderung. „Mer-
la Sie sich, junger Freund, erwiderte er, man muß das, was zweckmäßig oder
notwendig ist, nur entschieden verlangen, dann wird es geleistet." Ein Mangel
an Offizieren infolge einer solchen Maßregel würde aber für die Landwehr noch
weit weniger zu fürchten sein als für die Linie, da ja ein sehr großer Teil der
Einjährig-Freiwilligen die Universität besucht oder besucht hat.
Ich sehe aber einen andern Einwurf gegen die Zulassung der Bür-
gerschüler zum Dienst als Einjährig-Freiwilliger voraus: die Befürchtung, es
werde dadurch ein noch größerer Audrcing zu diesem Dienste entstehen. Es ist
mir durchaus nicht unbekannt, daß schon jetzt die Einjährig-Freiwilligen eine
Last für die Kompagnien sind, und zwar keine geringe. Ihre Ausbildung er¬
fordert einen unverhältnismüßigen Aufwand an Zeit und Mühe, während schon
die übrigen Aufgaben des Dienstes von den vorhandenen Offizieren und Unter¬
offizieren nnr mit allergrößter Anstrengung bewältigt werden können. Insbesondere
für den Kvmpagniechef, der ja für alles verantwortlich gemacht wird, sind die
»sakramentischcn Einjährigen" ein wahres Kreuz. Der Satz: Was hilft mir
der Mantel, wenn er nicht gerollt ist? will ihnen durchaus nicht eingehen;
sind sie erst aus der Kaserne, so machen sie lauter Dummheiten, besonders
wenn sie Geld haben. Kurz, man sollte sie lieber ganz abschaffen.
Ich kann dem nicht beistimmen. Daß eine größere Anzahl von jungen
Leuten sich zum Dienst als Einjährig-Freiwilliger drängen würde als jetzt,
wenn man auch den Bürgerschulen jene Berechtigung erteilte, ist mir unwahr¬
scheinlich. Denn nicht die Frage: Welche Anforderungen werden gestellt? giebt
dabei den Ausschlag, sondern lediglich die: Ist das nötige Geld für das Dienst¬
jahr vorhanden? Ich glaube, es würden sich genau dieselben Personen, und in
derselben Anzahl, zum Eintritt als Einjährig-Freiwillige melden, nur daß sie
nicht die unter» Klassen des Gymnasiums, sondern die Bürgerschule durchlaufen
hätten und nnn eine andre Bildung mitbrächten.
Aber selbst wenn ihre Zahl sich mehrte und daraus eine noch größere
Arbeitslast für die Kompagnien erwüchse, so wäre das kein Nachteil. Die
Einjährig-Freiwilligen sind ein durchaus nicht zu unterschützeudes Element in der
Armee, eine wertvolle Mittelstufe zwischen Offizier und Mannschaft. Machen
sie im Frieden oft dem Aufsichtsvffizier und dem Hauptmann den Kopf heiß —
im Felde sind sie gut. Sie stehen der Mehrzahl nach an Bildung hoch über
dem gemeinen Mann. Die Frucht der Bildung aber ist das Ehrgefühl.
Täuschen wir uns nicht: der kriegerische Mut, den Tacitus an unsern Vor¬
fahren preist, ist nicht mehr die hervorragende, noch weniger die durchgehende
Eigenschaft des zu friedlicher Beschäftigung herangezogenen deutschen Volkes.
Auf den Kampfplatz bringt unsern Soldaten nicht die Kriegslust, nicht der
Enthusiasmus für eine Sache, sondern die auf dem Exerzierplätze „«»gedrillte"
Disziplin, die Gewohnheit des Gehorchens. Fliegen freilich erst die Kugel»,
dann kommt auch der Trieb der Selbsterhaltung und der Rache hinzu
und entfesselt die Leidenschaft bis zum völligen Selbstvergessen. Nichts
aber treibt mehr dazu, der Gefahr Trotz zu bieten, als das Beispiel. Geht
der Offizier mit Todesverachtung voran, so folgt der Soldat ebenso brav
Und in dieser Hinsicht steht der Einjährig-Freiwillige dem Offizier am.
nächsten.
Ans der andern Seite teile ich freilich in vollem Maße die Überzeugung,
daß in der deutschen Armee sowohl vom Offizier als vom Unteroffizier des
Dienstes zu viel verlangt wird, und daß in diesem Punkte Abhilfe dringend
notthnt. Aber nicht etwa durch Beschränkung der Ziele — diese werden viel¬
mehr mit jedem Jahre höher gesteckt werden —, sondern durch Vermehrung der
Anzahl der Offiziere und Unteroffiziere. Daß dies eine unabweisbare und
nicht lange mehr hinauszuschiebende Notwendigkeit ist, weiß jeder, der einen
tiefern Blick in unsre militärischen Verhältnisse gethan hat. Heute erhebe ich
meine vereinzelte Stimme dafür — bald werden es die Spatzen von den
Dächern pfeifen.
Zum Schluß berühre ich noch eine Frage von untergeordneter Bedeutung,
lediglich weil sie in der Unterredung zwischen dem Kultusminister und dem
Ausschuß für Schulreform zur Sprache gekommen ist. Soll die Befähigung
des Einjährig-Freiwilligen durch eine Prüfung dargethan werden, oder, wie es
jetzt meist der Fall ist, durch das Zeugnis über den einjährigen erfolgreichen Besuch
einer bestimmten Klasse einer Unterrichtsanstalt? Das erstere scheint einfacher und
gerechter, in Wahrheit ist es keins von beiden. Wer Gelegenheit gehabt hat,
den Prüfungen der Einjahrig-Freiwilligen beizuwohnen, der weiß, daß es kaum
etwas Traurigeres giebt. Die meisten der zu prüfenden haben es nicht erwarten
oder nicht erreichen können, die Lehranstalt bis zu der vom Gesetz bestimmten
Klasse zu durchlaufen; sie haben also auf eine andre Weise sich das zur Prüfung
nötige in den Kopf bringen müssen, z. B. auf einer sogenannten Presse.
Das ist dann aber auch darnach. Ich habe erlebt, daß ein junger Mann den
Rhein durch die ?orta ^6LtMg.1lo-i fließen ließ, ein andrer den Namen des
karthagischen Feldherrn im zweiten punischen Kriege nicht wußte, ein dritter
„meine Ahnen" rin nuZ3 Aufs übersetzte, ein vierter auf die Frage ans der
Geometrie: Kann ein Tisch, der auf drei Beinen steht, wackeln? mit größter
Treuherzigkeit Ja antwortete. Geben sich die Examinatoren auch die erdenklichste
Mühe, die leichtesten Fragen zu thun, legen sie den jungen Leuten selbst die
Antworten in den Mund, es hilft nichts, die Hälfte plumpst durch. Zieht
man nun ferner in Betracht, daß jede Prüfung im Grunde ein Hazardspiel ist,
daß der wirkliche Stand der Bildung und Begabung eines jungen Mannes
weit sichrer und gerechter durch die Lehrer der Anstalt beurteilt werden kann,
der er angehört hat, daß endlich die Prüfungen einen sehr bedeutenden Auf¬
wand an Zeit, Geld und Arbeitskraft erfordern, so dürfte es Wohl unzweifelhaft
zweckmüßiger erscheinen, als Regel beizubehalten, daß der Einjährig-Freiwillige
eine gewisse Klasse einer mit dieser Berechtigung versehenen Unterrichtsanstalt
ein Jahr hindurch mit Erfolg besucht habe, und nur da eine Prüfung zuzulassen,
wo die Unmöglichkeit vorlag, dieser Anforderung nachzukommen. Namentlich
die Abschaffung der Pressen würde eine wahre Wohlthat sein, vor allem wenn
den Pressen der Einjährig-Freiwilligen auch die Fähndrichspressen nachfolgen.
cum das alte Wort ohne weiteres wahr ist: Sage mir, mit wem
du umgehst, und ich will dir sagen, wer dn bist, so muß der
ästhetische Sinn ein hervorragender Zug im Charakterbilde unsrer
Zeit sein. Alljährlich veranstaltet die königliche Akademie der
Künste zu Berlin eine große öffentliche Kunstausstellung, in deren
Sälen etwa eine Million Besucher mit den Geisteskindern unsrer Künstler leb¬
haften Verkehr pflegen. Dieses Jahr brachte daneben Jubiläumsausstellungen
i» Wien und in München, Ausstellungen in Brüssel, Antwerpen, Kopenhagen,
undt zu reden von denen in Barcelona und Melbourne. Von der Jubiläums¬
ausstellung in München wissen wir, daß trotz dieser Konkurrenz ihr Besuch die
kühnsten Erwartungen übertroffen hat. Und wer diese Atisstellungen alle nicht
besuchen konnte, der ließ sich von ihren bedeutendsten Erscheinungen in seinem
Heim besuchen in Form jener Nachbildungen aller Art, in deren Herstcllungs-
weisen unsre Zeit, weil sie einem dringenden Bedürfnis entgegenkommen, es so
staunenswert weit gebracht hat und durch deren Vermittlung der Umgang mit
der Kunst zu einer beinahe täglichen Gewohnheit aller Gebildeten geworden ist.
Nur eine Bestätigung dieser Diagnose scheint die Überfülle von künstlerischen
Hervorbringungen in unsern Tagen zu bieten. In Berlin wies der Katalog
über 1300, in München über 3000 Nummern auf. Das überreiche Angebot
läßt auf eine nicht minder große Nachfrage schließen. Und jedenfalls ist die
Zahl der fördernden und laufenden Gönner und vermutlich auch Kenner der
Kunst, die früher nur in den höchsten Kreisen zu finden waren, in steter Zu¬
nahme begriffen. Man kann heute schon von einem „Publikum," ja von einem
Kunstmarkt reden.
Aber gerade diese Thatsachen gebieten Vorsicht. Auf den Bergen wohnt
die Freiheit. Auf dem Markte muß sich die Ware nach dem Geschmacke des
Käufers richten. In dem Maße, als die Kunst von den einsamen Höhen herab-
stieg und hereingezogen wurde in das öffentliche Interesse, konnte sie sich dem
Einflüsse des öffentlichen Lebens und Interesses nicht entziehen. Der Künstler
unsrer Zeit lebt nicht mehr in stiller Beschaulichkeit in kleinen, abgeschlossenen
Zauberkreisen, sich seine eigne Welt ans sich herausbildend, sondern er steht
mitten in der Alltagswelt der Wirklichkeit; ihre Bilder drängen sich an ihn
hinan; ihre Stimmen verlangen Gehör. Und mindestens die Vermutung, der
Verdacht liegt nahe, daß es nicht die Welt der Künstler sei, das Reich des
Schönen, der von dem Zauberstabe der Phantasie in der Hand der Edelsten
in Fleisch und Blut verwandelten Ideale, was die Menge lockt, sondern daß
sie in den goldnen Nahmen ihre eigne Welt, in dem Geiste, der sie dort hinein¬
gezaubert hat, den eignen Geist wiederfindet und darum so mächtig davon an¬
gezogen wird. Dazu kommt, daß es den Psychologen an sich zweifelhaft er¬
scheinen muß, ob unsre Zeit besonders disponirt sei für den Genuß des Schönem
Was wir im Kunstgewerbe, was wir in den Einrichtungen der Wohnungen, in
den Moden beobachten, ist doch mehr ein Sinn für das Prunkende, das Eigen¬
artige, das Barocke, das Vielerlei, als der Sinn für die edle Einfachheit, die
vornehme Ruhe, das Ebenmaß und die Klarheit des Schönen. Auch das
Schöne enthüllt sich, giebt sich zu genießen nur dem gesammelten, andächtigen
Geist, dem Glauben. Unsre Zeit aber ist voll Unruhe, erfüllt mit dem zer-
splitterndsten Vielerlei, beschäftigt mit den Realitäten des Lebens, voll Wogens
und Gährens in den Elementen der geistigen Anschauungen wie des sozialen
Lebens. Ihr ist darum That und Thatsache alles, Gedanke, Anschauung
mehr oder weniger Lust, Laune. Einer solchen Zeit gegenüber ist die Ver¬
mutung berechtigt, daß sie in die lichten Höhen, wo ewige Wahrheiten sich zu
Lichtgestalten verkörpern, sich zu erheben wenig Lust verspüre, vielmehr auch
im Rahmen der Kunst ihre eigne Welt suche und liebe. Sollte nun diese Ver¬
mutung zutreffen und also jener Einfluß des Zeitgeistes auf die Gebilde der Kunst
zugestanden werden müssen, dann wird kaum jemand uns ein so sicherer Barometer
für die Höhenlage und Luftverhältnisse unsrer Zeit sein, als der Künstler, der, mit
dem feinsten Nezeptionsvermögen ausgestattet, kraft seines Talents, wiederzugeben,
was er bewußt oder unbewußt im Herzen trägt, uns ohne Verzeichnung dieser
Zeit, ihre Interessen und ihre Eigenart; vor Augen führen wird ja in den
abgeklärten Gebilden der Kunst wird sich dieser Geist der Zeit am reinsten, frei
von allen zufälligen Zuthaten, die ihm im Alltagsleben die Macht der trügen Ge¬
wohnheit und äußerer fremdartiger Einflüsse beimischen mögen, spiegeln. Tritt
er uns doch in der reinen Luft, dem klaren Licht, dem festtäglichen Gewände
entgegen, welche die irdischen Gebilde umwallen in den hehren Hallen der Kunst.
So ist es unter jener Voraussetzung eine interessante Aufgabe für jeden,
der unsrer Zeit ins Antlitz und ins Herz sehen möchte, ihre Kunst daraufhin
zu prüfen, welches die Interessen sind, die sie fesseln, welches die Stimmung,
die in ihr den Grundton bildet, welches die geistigen Kräfte, die besonders
thätig sind. Diese Aufgabe aber ist um so bedeutungsvoller, als bei dem
lebendigen Verkehr zwischen Publikum und Kunst die Rückwirkung der letztern
ans den Charakter, die Vorstellungswclt und die Empfindungsweise des erster«
viel größer sein wird, als in frühern Zeiten. Man hat das Recht, die Kunst
als ein hervorragendes Erziehungsmittel und Bildungselement für unser Volks¬
leben daraufhin zu prüfen, was wir uns von ihrem Einflüsse versprechen dür¬
fen, eventuell dahin zu wirken, daß nur und daß immer reiner das Edelste?
was unsre Zeit an geistigen Gütern besitzt, in ihren Schöpfungen zur Dar¬
stellung und so durch sie zu Macht und Einfluß komme. Unter diesen Ge¬
sichtspunkten aber wird vielleicht der Laie, der nicht einmal Kunstrezensent von
Fach ist, nicht zu den Unberufenen zu rechnen sein, wenn er seine Eindrücke
öffentlich auszusprechen wagt. Denn mit der Unbefangenheit des Nichtkenners
steht er den Fragen der Technik und der Schule gegenüber, und durch das
Interesse dafür, wie gemalt wird, wird bei ihm das andre dafür, was gemalt
wird, nicht beeinflußt oder gar beeinträchtigt, wie es bei unsern Kunstrezen¬
senten in den Tagesblättern der Fall zu sein pflegt.
Suchen wir nnn nach den eigentümlichen Zügen im Kunstschaffen unsrer
Zeit, so wird sofort der erste, der hervorstechendste, uns die Richtigkeit unsrer
Voraussetzungen beweisen, daß, in höherem Maße als je, die Kunst ein Spiegel¬
bild unsrer Zeit sei. Ein flüchtiger Überblick über das beinahe verwirrende
Vielerlei, das uns von den Wänden des Glaspalastes entgegeuschaut, macht uns
gewiß: wir befinden uns mitten in der Wirklichkeit. Im Vollsinne des Wortes
malt unsre Kunst das Bild ihrer Zeit.
Bleiben wir zunächst beim Formaten stehen. Da geht durch alle Bilder
der beherrschende Zug nach Naturwahrheit. Nicht nach dem Inhalte oder der
Auffassung, sondern nach der gewählten Methode, dieses Ziel der höchstmög¬
lichen Illusion der Wirklichkeit zu erreichen, unterscheiden sich die Schulen.
Darin beruht die eigentümlichste Mannigfaltigkeit in dem Vielerlei. Dort das
Helldunkel der Atelierbeleuchtung, hier das nackte harte Freilicht; dort warme
leuchtende Farben, hier mattes fahles Grau; dort feine Detailausführung, hier
breite Pinselführung, mehr oder weniger massige Farbenklekse; dort klare scharfe
Umrisse, hier nirgends eine Linie, überall nur in einander übergehende Farben¬
töne. Unser „dort" und „hier" ist nicht willkürlich gewählt. Die moderne
Malerei mit ihrem Impressionismus und ihrem Freilicht, ihren natürlichen
Größen und ihren grauen Farben trat in München bedeutungsvoll in den
Vordergrund; eine große Zahl der glänzendsten und wirkungsvollsten Bilder
haben für sie Zeugnis abgelegt. Sie darf die Ausstellung wohl als eine Etappe
in ihrem Siegeslaufe betrachten. Das Interesse in der Kunst, die Wirklichkeit,
die volle Wirklichkeit und nur die Wirklichkeit darzustellen, ist in erster Linie
die Wirkung des der Wirklichkeit mit dem strengen Beobachtungsblick des auch
aufs kleinste achtenden Forscheranges zugewandten Interesses unsrer Zeit. Daß
es geradezu das beherrschende Interesse im Kunstschaffen unsrer Zeit ist, hinter
dem alle andern zurücktreten, erklärt sich sodann zum Teil aus der beschämenden
Erkenntnis, wie fern die großen Schulen der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts
von der Naturwahrheit geblieben sind, wie wenig ihr Ruge dafür geschärft, wie
wenig ihre Maltechnik darnach eingerichtet war. Aber gewiß wirkt als drittes
Motiv dabei mit, dem Geschmacke des Publikums zu genügen, das in den Kunst¬
werken die eigne Welt wiederfinden will und in dem Maße sich für ein Kunst¬
werk interessirt, als ihm diese Wiedergabe gelungen ist.
Dieses Streben nach Naturwahrheit hat aber andre Eigentümlichkeiten im
Gefolge, deren erste von neuem unsern obigen Satz bestätigt. Unsre Kunst
strebt nur nach Wahrheit. Ob, was sie sich zum Gegenstände erwählt, schön
sei. die Frage giebt es für sie gar nicht. Die Frage: Was ist schön? ist zu
einer rein akademischen geworden. Für die ausübende Kunst ist ihre Lösung
gleichgiltig. Weder in dea Linien, noch in den Farben, noch in der Gruppi-
rung sind die Elemente, aus denen sich etwa der Begriff „schön" zusammen¬
stellt, maßgebend; ob die Gestalten gefällig, anmutig, gewinnend, ob die Farben
voll, warm, leuchtend sind, ob die Massen ebenmäßig verteilt sind, für das
alles hat wenigstens die neuere Schule keinen Sinn. Jede Farbe, jede Ge¬
stalt, die in der Wirklichkeit vorkommt oder vorkommen kaun, ist auch in der
Kunst berechtigt, ganz gleichgiltig, ob sie ein ästhetisches Recht hat oder nicht.
Kein geheimnisvolles Dunkel, kein leuchtender Glanz der Farbe darf das Ge¬
bilde der Kunst von dem Bilde der Wirklichkeit unterscheiden. Die Philosophie
hat einmal gesagt: Alles Wirkliche ist vernünftig. Unsre Künstler sagen: Alles
Wirkliche ist schön; und wieweit ein Kunstwerk der Wirklichkeit entspricht, das
ist für die Kritik der Maßstab, ob es schön zu nennen sei. Ja, je weniger
eine Erscheinung durch irgend etwas ausgezeichnet ist, je mehr sie zufällige
Eigentümlichkeiten an sich trägt, wie sie des Lebens buntes Treiben mit sich
bringt, desto „malerischer" ist sie. Was man früher normal nannte, weil es
keinerlei zufällige Eigenheiten hatte, sondern nnr sozusagen den reinen Begriff
der betreffenden Sache darstellte, das erscheint heute vielmehr als abnorm und
nicht würdig, ein Gegenstand der Kunst zu sein. Ja einer schon in der alten
deutschen Schule hervortretenden Neigung aufs neue folgend, scheint ein großer
Teil unsrer Künstler geradezu eine Vorliebe für Unschönes zu haben. schmutzige,
graue, braune Töne, breite, kahle Flächen, in der Landschaft ein mit Pfützen
durchzogener Landweg durch kahles Ackerland, eine langweilige, laublose, schnur-
gercide, aus dürftigen Bäumen bestehende Allee in ebener Gegend, kurz das
Gegenteil von dem, was man eine schöne Gegend nennen würde, im Sitten¬
bilde Spitalweiber, krummbeinige, schmutzige Dorfkinder, plumpe Bewegungen, zer¬
rissene Stiefel, verkommene Gestalten — das ist die Liebe unsrer jungen Künstler.
Ist dem so, dann ist der Beweis erbracht, daß es nicht der ästhetische Sinn
ist, der unser Geschlecht zur Kunst hinzieht. Vielmehr ist es derselbe Sinn für
die Wirklichkeit, wie er unser Kunstschaffen bestimmt, der in erster Linie auch
unsre Kunstfreunde an den Kunstschöpfungen Gefallen haben läßt. Dann dür¬
fen wir aber auch die Richtigkeit der weitern Folgerung voraussetzen, daß sich
überhaupt in der Kunst unsre Zeit ihr eignes Bild schafft.
So spiegelt sich denn schon in dem eben dargelegten Realismus unsrer
Kunst neben der Erschlvssenheit unsrer Zeit für alles Wirkliche ihr dadurch ge¬
steigerter Sinn für das Eigenartige, Individuelle der Erscheinungen, ihre kräf¬
tige Freude am wirklichen Leben, die seine Spuren nirgends verwischen will,
anch da nicht, wo sie nur von Herbigkeit erzählen, fondern sie im Gegenteil
aufsucht. Dürfen wir im erstem einen erfreulichen Gegenzug gegen die nivel-
lirende Macht der Mode und des öffentlichen Lebens überhaupt erkennen, unter
der in allen Gebieten das Einzcldascin in seiner Besonderheit zu verschwimmen
droht, so ist das zweite ein Beweis von gesunder Kraft, die, statt des Lebens
Härten sich zu verbergen, ihnen ins Auge schaut und ihre Berechtigung zu be¬
greifen sucht. Der Respekt vor dem Thatsächlichen ist immer dem Wahn einer
rein ästhetisch gerichteten Bildung vorzuziehen, man müsse erst die Wirklichkeit
korrigiren uach einem abgeblaßten Traumbild, ehe sie der Nachahmung, der
Darstellung, des Interesses wert sei. Sodann werden wir sehen, daß das
Charakteristische sich vertieft, indem darin der Ausdruck einer seelischen Stimmung
erkannt oder in der Darstellung der Natur das Charakteristische zum Ausdruck
einer solchen benutzt wird. Auf der andern Seite ist nicht zu verkennen, daß
bei solcher Gebundenheit an das Wirkliche jene Geisteskraft in Gefahr steht,
brach gelegt zu werden und zu verkümmern, die im Einzelnen und über dem¬
selben die Idee der Erscheinung entdeckt und sich berufen weiß, dieser Idee das
Einzelne, das ihr gegenüber verkümmert oder einseitig oder karikirt erscheint,
entgcgcnzubilden, eine Thätigkeit, die das Leben ebenso reich und reizvoll, ja
lohnender und erhebender macht, als die feinste Beobachtung all der zufälligen
Abnormitäten in den Einzelerscheinungen. Der berufenste Wegführer und be¬
geisterte Prophet bei dieser Geistesthütigkeit war zu allen Zeiten eben die Kunst.
Läßt sie uns hier im Stich, so ist das zu beklagen. Und doch spiegelt sich in
dieser Mißachtung der Idee des Schönen zuletzt nur die geringe Schätzung, in
der in unsern Tagen gegenüber der realen Wirklichkeit jede Idee, jedes Produkt
des abstrahireuden und spekulircnden Menschengeistes steht.
Das „Schöne" wird vielleicht von seinen gegenwärtigen Verächtern als
das nur durch die Tradition, durch den Geschmack, der mir Gewohnheit sei,
geadelte, als eine Schwester des Konventionellen augesehen. Jedenfalls ist es
nur natürlich, daß eine Kunst, die gegen das Schöne gleichgiltig ist, gegen
das Traditionelle oder gar Konventionelle geradezu eine Abneigung zeigt. Unsre
Kunst sucht sich denn auch neue Formen in allen Gebieten. Wo sie solche
nicht zu finden vermag, wie in der mythologischen und allegorischen Kunst, da
trügt dies dazu bei, ihr Interesse abzuschwächen; das Gebiet wird nicht gepflegt.
Am auffallendsten tritt dieser Zug da hervor, wo der Natur der Sache nach
die Tradition, weil sie der Pietät verwandt ist, ihre Stelle hat, in der religiösen
Kunst. Selbst an Stelle des altgewcihten Christustypus versuchen viele durch
eine andre Charakteristik den der Bedeutung der Person Christi entsprechenden
Ausdruck zu gewinnen. Es ist die Abneigung gegen das Konventionelle, nicht
irgend ein Zug des Irreligiösen, wie man so leicht ans den ersten Eindruck
hiu urteilt, was hier zu Grunde liegt. Wenn dennoch die religiöse Kunst nicht
brach liegt, so ist das ein Beweis für die Würdigung der religiösen Kräfte in
unsrer Zeit. Gewiß verrät sich in der Auflehnung gegen das Konventionelle
jene revolutionäre Ader, die wir auf allen Gebieten unsers Volkslebens mehr
oder weniger mächtig Pulsiren fühlen, wenn anch dabei der unschuldigere, unsrer
unruhige« Zeit besonders eigene Zug nach Neuem mitwirkt. Doch offenbart
sich andrerseits darin anch ein energisches Suchen in gesteigerter Selbständigkeit
nach den besten Ausdrucksformen, eine Vorliebe für schärfste Charakterisirung.
und die schon vorhin beobachtete Freude am Individuellen und Unmittelbaren,
Eigenschaften, über die wir uns, doppelt gegenüber der wenig geistiges Leben
verratenden und dieses wenige noch in Schlaf lullenden Macht des Konventio¬
nellen, trotz aller Extravaganzen aufrichtig freuen müssen.
Noch ein besonders erfreulicher Zug der Kunst unsrer Zeit, an welchem,
wie es scheint, nur Frankreich nicht teilnimmt, ist es, daß niederer Sinnenreiz
bei ihr keine Rechnung findet. Es sind nur Künstler zweiten und dritten Rangs,
die ihren Mangel an schöpferischer Kraft und technischer Leistungsfähigkeit durch
die Spekulation darauf auszugleichen suchen. Der Sinn für das Fleisch
als solches findet so wenig Nahrung, wie die wollüstige Freude am Grausamen
oder Gemeinen. Als Verirrungen, gegenüber dem Gesamteindruck befremdend,
ja abstoßend wirkend, werden um so schmerzlicher empfunden werden, je höher
wir die Künstler selbst zu schätzen haben, jene Tnllia, in der uns eine Furie
aus dem ältesten rohesten Rom in brillanter Darstellung entgcgengrinst, und
trotz alles Fliegenden Blätter-Humors in der Darstellung jener Besuch einer
ländlichen Feuerbcschau im Atelier, die dort eine Modell-Venus findet. Das
sind Ausnahmen. Nur die Bildnerei, die überhaupt an Ideenarmut krankt, greift
aus Verzweiflung noch zur badenden Venus oder andern entkleideten Gestalten.
Die Augen unsrer Künstler sind auf andres gerichtet. Wir werden sehen, daß
es das Seelische ist, was sie fesselt, und die Wirklichkeit des täglichen Lebens.
Möchte auch dies ein Symptom sein für die sittliche Höhenlage oder wenigstens
Tendenz der Gegenwart.
Nicht minder charakteristisch ist es, daß unsre Kunst immer mehr davon
zurückkommt, durch das Fremdartige ihres Stoffes Interesse wecken zu wollen.
Es gab in unserm Volk eine Zeit des unklaren, unbefriedigten Sehnens, wo
alles Fremde unserm Sinne in höherm Glanze und vom Duft der Poesie umgössen
erschien. Weil es fremd war, war es ein würdiger Gegenstand der Kunst.
Mochte es nun Italien oder der Orient oder die Antike sein, um diese Welten
lagerte der Zauber, in den der Pinsel sich tauchen mußte, um Kunstwerke zu
schaffen; sie waren der Traum der Geister, den auf die Leinwand gebannt zu
sehen das Gemüt mit Wonne füllte. Das ist vorüber. Es sind einzelne viel¬
gereiste Landschafter, wie die Achcnbachs, W. Gentz, E. Körner, Possart, von
Meckel, welche ihre Reiseeindrücke vom Golf von Neapel oder vom Land der
Pyramiden oder von Arabiens Palmen und Wüsten künstlerisch gestalten; aber
vor ihren Bildern, so großartige Farbendichtungen sie zum Teil sind, fällt uns
nur ein: So jemand eine Reise thut, so kann er was erzählen; und mit Inter¬
esse für den Gegenstand wie mit Bewunderung für die Kunst ihrer Erzählung
folgen wir ihren Berichten. Aber tiefer noch, mit der Seele schaut unser Auge
hinein, und wärmer grüßt es uns zurück, wenn wir vor Darstellungen unsrer
heimischen Wälder und Flächen und Seen stehen. Die Antike gar ist völlig
verschollen; von ihren Göttern kehrt keiner mehr bei unsern Künstlern ein, und
niemand vermißt sie. Ihre Helden und ihre Sitten und Sünden sind uns
fremd geworden; wo sie noch auftauchen, wie in Liskas Maximian, dem in
blauem Dunste die von ihm geopferten Märtyrer erscheinen, während er erstarrt
am Boden liegt, das Gesicht in die Marmorfliesen bergend, oder in Hildebrands
Tullia oder in Alma Tademas und seiner Nachahmer antiken Genrebildern, da
verraten sie durch hohles Pathos ihr Scheinleben, oder ihr Tändeln erweckt
in uns deu Eindruck tödlicher Langweile seelenloser Wesen. All das Fremde
ist verdrängt durch das Vertraute, in das wir uns liebend versenken und dem
wir darum eine unerschöpfliche Fülle lebendigster Anregungen zu entlocken gelernt
haben. Und wie in allen Gebieten unsrer Tage, oft genug in unberechtigter
und die Gegenwart selbst verarmender Ausdehnung, so klingt auch in den Hallen
der Kunst der Wahlspruch wieder: Nur der Lebende hat Recht.
Unberechtigt und als eine Verarmung zu beklagen ist die Ausdehnung
dieses Vergessens des Vergangenen bei unsrer Kunst auf diejenigen Gebiete, in
denen die Geschichte unsers eignen Werdens liegt, also Elemente unsers Seins
uns entgegentreten würden. Es ist' geradezu ein Rätsel, warum in einer
Zeit, in der geschichtliche Forschung zum Sport wird und geschichtlicher
Sinn zu den Grundzügen des Gebildeten zählt, ja die selbst in eminenten
Sinn Geschichte schafft, die Historienmalerei fast völlig brach liegt. Nicht als
ob wir der Kunst, wie sie dies wohl selbst manchmal that, mundeten, als
Handlangerin der Wissenschaft zu illustriren, was die Geschichtswissenschaft uns
erzählt, und gar dabei, wie es wohl öfters der Fall war, nur Illustrationen für
ein Buch der Kostümkunde, bestenfalls der Kulturgeschichte zu liefern. Wir
betrachten es als einen Fortschritt, daß sie sich zu höherem berufen weiß, als
der flügellahmen Phantasie des Wissensdurstigen nachzuhelfen. Aber in den
Erscheinungen und Ereignissen, die der Geschichte angehören, treten Ideen,
Interessen, Charaktere, Konflikte zu Tage, die eine größere menschliche Gemein-
schaft als Gesamtheit berühren. Sie gewinnen, indem sie hinausliegen über
den Kreis des eignen Erlebens des Betrachters, auf der einen Seite eine gewisse
dramatische Objektivität und haben dennoch zugleich die höchste und gewichtigste
Bedeutung für die Beschauer alle, deren Vertreter auf der Bühne der Geschichte
ihrer aller Geschicke darstellen und entscheiden. Jeder einzelne lebt, streitet,
leidet in jenen geschichtlichen Personifikationen der Gesamtheit mit. Es sind
ewige Wahrheiten, es sind allmenschliche Erlebnisse, eingekleidet in ganz konkrete
zeitlich bestimmte Erscheinungen. Wenn es anders der Beruf der Kunst ist,
nicht blos; Thatsächliches naturgetreu zu kopiren, sondern das Einzelne auf die
Höhe des Allgemeingiltigen zu heben, das Zeitliche in seiner bleibenden Be¬
deutung zu verewigen, durch das Reale überall die Idee durchleuchten zu lassen,
kurz die Dinge darzustellen, nicht bloß wie sie sich auf der Netzhaut jedes, auch
des tierischen Auges spiegeln, sondern wie sie sich im menschlichen Geiste zu
geistigen Thatsachen verklären, giebt es dann einen Stoff, von dem man mit
mehr Recht sagen könnte, daß er für sie geschaffen sei, zu dessen Darstellung
sie selbst unmittelbarer recht eigentlich berufen und geschaffen erscheint, als die
Geschichte? Eine wie gewaltige, wie unmittelbare Wirkung ihrer Gestalten und
Szenen müßte gerade die sogenannte moderne Kunst erzielen, mit ihrem aller
Romantik von halb Traum, halb Leben baaren Realismus, der Gestalten zu
schaffen vermöchte, an deren Wirklichkeit man glauben würde, mit ihrer hoch¬
entwickelten Fähigkeit, kräftig zu charakterisiren und scharf zu individualisiren,
die uns davor sichert, nicht nur lebende Bilder in einer Pose zu erhalten, deren
Absichtlichkeit, wenn auch nicht verstimmt, so doch das Interesse abkühlt.
(Fortsetzung folgt.)
er einmal an einem schönen Sommertage auf der hohen Platt¬
form des Schlosses Ambras bei Innsbruck gestanden und einen
Blick hinab auf das Jnnthal zu seinen Füßen geworfen hat, der
wird das Landschaftsbild, das sich ihm da bot, nie wieder ver¬
gessen. An jener Stelle ist das Jnnthal keine halbe Stunde
breit. Die mächtige Kette der nördlichen Kalkalpen, deren Gipfel nur im Hoch¬
sommer schneefrei ist, zieht sich meilenlang ohne Unterbrechung vom Kufsteiner
Kaisergebirge bis über Innsbruck und Zirl hinaus von Nordost nach Nordwest.WM
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Auf diesen massigen Gebirgszug gewährt die Plattform des Schlosses Ambras
einen umfassenden Ausblick; wie eine himmelhohe Mauer steigen die bewaldeten
Wände mit erdrückender Unmittelbarkeit vor unsern Augen auf und sperren
jede weitere Aussicht nach dem Norden ab. Weit im Osten, im magischen Blau
der Ferne, sieht man die nackten Felsen des unwirtlichen Kaisergebirges rötlich
weiß in der Sonne leuchten, und unten in der Nähe erheben sich die zahlreichen
Türme des uralten Städtchens Hall, gleich vorn aber die große weiße, kasernen¬
artige Mauer des Irrenhauses, welches die Romantik des verfallenden Städtchens
freilich sehr unpoetisch durchbricht. Hall war einst eine blühende Bergmanus-
stadt; der Jnn war vor wenigen Jahrhunderten noch bis da hinauf schiffbar, und
Hall war die letzte Haltestelle der Flößer. Kaiser Maximilian I. hatte für Hall,
wie mehrere seiner Vorgänger eine besondere Vorliebe. Jetzt ist Hall verarmt,
still wie ein Friedhof, vielleicht besuchen es zur Sommerzeit Brustleidende, um
sich bei den Salinendämpfen Heilung zu holen; sonst zieht es nur wenige
dichterisch fühlende Touristen an, die Sinn für mittelalterliche Städteromantik
haben. Aber unser Ausblick vom Schloß Ambras gleitet darüber hinweg längs
dem breite», flachen Flußbette hin, über die fruchtbaren Felder und saftigen
Auen, über die vielen schönen Wäldchen, über die Landstraße, die wie weiße,
zur Bleiche in die Sonne hingelegte Leinwand sich dahinschlängeln, und über
die merkwürdige Eisenbahn, die auf einem von zahllosen Bogen durchbrochenen
Viadukt die Thalebene überschreitet, um in die Landeshauptstadt einzufahren.
Auch Innsbruck ist dem Kaiser Max sehr viel schuldig, es verdankt ihm auch
sein bedeutendstes Denkmal: in der Hofkirche zu den Franziskanern steht das
berühmte Grabmal des Kaisers. Auch die Gegend von Innsbruck bietet Er¬
innerungen an Kaiser Max. Jenes Landschaftsbild von der Ambraser Plattform
wird im Westen durch die steile Martinswand abgeschlossen, auf der sich der
Sage nach Kaiser Max beim Jagen verirrt hatte, ohne den Niickweg finden
zu können; ein Engel rettete ihn. Gegen den Süden zu erweitert sich die
Landschaft in mehrere Thäler, die bei Innsbruck ausmünden: das Brennerthal,
das Stubai- und das Oberinnthal. Auch das Schloß Ambras selbst ist eine
Sehenswürdigkeit. Die Romantik aber, die es umgiebt, lenkt die Erinnerung
nicht auf Kaiser Maximilian, sondern ans den spätern, protestantcnfeindlichen
Erzherzog Ferdinand und seine schöne bürgerliche Frau Philippine Welser, mit
der er lange Jahre auf dem Schlosse in verliebter Einsamkeit lebte, bis die
Ehe vom Kaiser anerkannt wurde. Oskar von Redwitz hat die Geschichte in einem
thrünenseligen, aber wirksamen Schauspiele behandelt. Der Park des Schlosses
Ambras, der in eine tiefe Schlucht hinabführt, die ein schäumender Alpenbach
mit großem Lärm durchbraust, ist mit seiner schattigen Kühle und seinem
Tannenduft von unsagbarer Poesie und Schönheit, jedenfalls schöner als irgend
eine Redwitzsche Dichtung; wir wurden da immer an Jean Paulsche Garten¬
bilder gemahnt. In nächster Nähe des Schlosses, im Walde verborgen, liegt
der sogenannte Tummelplatz, in alten Zeiten ein Turnierplatz, jetzt eine Art
von Friedhof, reich besteckt mit schlichten Kreuzen. In den napoleonischen
Kämpfen war der „Tummelplatz" Schauplatz blutiger Gefechte, daher die fromme
Weihe des Ortes, der nebenbei auch ein Walfahrtsort für heiratslustige Mägd¬
lein geworden ist.
Alle Grade ästhetischen Gefühles vermag diese schöne Gegend hervorzu¬
rufen. Steht man im Thale und läßt den Blick schweifen auf den Kranz von
Bergen, der es umrahmt, so hat man das Gefühl der Erhabenheit der Natur
in großem Maße; lieblich anmutig sind die Flußufer, erschreckend wirken die
steilen Bergwände, träumerisch die schattigen Wälder, sentimental schön die
koulissenartig von den Bergen eingeschlossenen Fernblicke ins Ober- und ins
Unterinnthal: eine Sehnsucht in die Ferne wird erregt und man kann sich nicht
von dem Bilde trennen. Zu alledem der reiche historische Boden! Erinnerungen
an wichtige, zuweilen welthistorische Ereignisse werden dort auf Schritt und
Tritt erweckt. Rudolf Baumbach, der uns in seiner neuesten Dichtung in diese
Gegend führt*), ist seinem ganzen Naturell gemäß in den mittlern Regionen
ästhetischen Empfindens verblieben. Das Anmutige der Landschaft hat ihn
vornehmlich angesprochen, die rauhere Seite der Gebirgswelt läßt er zum
schärfern Kontrast nur vereinzelt hineinspielen. In der Wahl des vielbesungenen
Kaiser Max zum Mittelpunkt eines epischen Gedichtes hat er aber eine sehr
glückliche Hand bekundet. Von allen Habsburgischen Kaisern ist dieser Kaiser
Max, der „letzte Ritter," der letzte Herrscher des Mittelalters nach der Ein¬
teilung in unsern Schulbüchern, der Freund Albrecht Dürers und Hans
Sachsens, der Urheber des Theuerdank und des Weißkunig, der glücklichste
Herrscher Österreichs gewesen, der durch Heirat und Erbschaft die Habsburgische
Hausmacht auf ihren Gipfel gebracht hatte. Ein leutseliger Mann, ein Freund
des Volkes und auch ein Freund der schönen Landestöchter, ein kühner Jäger,
nicht bloß auf Gemsen und Rehe, ist Kaiser Max ein prächtiger epischer Held.
Gerade vor Luthers welterschütternden Auftreten stirbt er dahin, er ist der
letzte ganz deutsche Mann unter den Habsburgischen Monarchen, denn nach ihm
kam schon der Spanier Karl V. und die spanische Etikette beherrschte fortan
den deutschen Hof zu Wien. Aber auch auf diese geschichtlich bedeutsamere
Seite seines Stoffes ist Baumbach nur sehr sparsam eingegangen. Ein von
kulturgeschichtlichem Ballast erfülltes Buch zu schreiben liegt zum Glück nicht
in seiner anakreontisch dem Stile des Volksliedes zustrebenden Art. Er führt
zunächst den Kaiser als Jäger, als gemütlichen, leutseligen Herren ein, der auch
seine Freude an prächtigen Schauspielen hat, der Dichter und Künstler jeder
Art gern unterstützt. Ein schönes Kapitel stellt uns eines der derben Ritter-
spiele des Zeitgenossen Vigil Räder aus Sterzing vor; sie sind erst vor wenigen
Jahren von Oswald Zingerle herausgegeben worden. Das Stück wird im
Burghofe des kaiserlichen Hauses „zum goldenen Dachl," das jeder, der Inns¬
bruck je besucht hat, wohl kennt, gespielt. Wie einen reichen Gutsherrn, der
mit seinen Leuten familiär verkehrt, hat Baumbach den Kaiser Max hier dar¬
gestellt. Wenn sich seine Jäger raufen, so läßt sie der Kaiser einsperren.
Und die Gedichte, die er dichtet, müssen andre schreiben, was anch großer
Herren Art ist. Also ein im Tone des Volksliedes gehaltenes Genrebild, ohne
Anspruch auf bedeutendere Wirkung hat Baumbach entworfen, etwa so wie Julius
Wolfs mit seinem Roman „Das Recht der Hagestolze." Im Einklang damit steht die
Sorgfalt, die er auf die Schilderung der Volkssitten und Gebräuche, von
Aberglauben und Märchen verwendet hat: ein sehr schöner Gesang schildert
eine Sommernacht auf dem Tummelplatz, in der Dirnen und Buben durch eines
der zahlreich auf den Bergen angezündeten Johannisfeuer springen, ohne das
flackernde Feuer oder gar sich selbst zu versehren; der glückliche Sprung bedeutet
eine baldige Hochzeit des Mädchens. In ein andres Kapitel hat er die Sage
von den „saligen Franken" verwoben. Es sind schneeweiße, goldhaarige, engel¬
reine Feen, Beschützer des Edelwildes im Gebirge; sie werden von Niesen ver¬
folgt und können sich nur schützen, wenn sie eines der vielen Kreuze erreichen,
die der fromme Bauer eigens deswegen auf den Bergen errichtet. Ist das
aber nicht möglich, so flüchten sich die „saligen Franken" zu den Menschen,
denen sie so lange segensreiche Dienste leisten, bis ihr Feind stirbt. Und endlich
hat Baumbach auch die bekannteste Sage der Landschaft, die von der Martins¬
wand, mit in seine Dichtung verwoben; er hat ein sehr schönes, vielleicht das
schönste balladenartige Kapitel seiner Dichtung daraus gemacht. Die märchen¬
hafte Rettung des Kaisers durch einen Engel Gottes wird natürlich rationalistisch
umgedeutet, der Engel ist der Jäger Sixt Thurnwaltcr, der in Baum¬
bachs Erfindung eine große Rolle spielt. Doch kann dieser Schluß nicht
befriedigen. Wer Storms „Schimmelreiter" gelesen hat, wird die Kunst, die
Entstehung einer Sage poetisch zu veranschaulichen und zu erklären, wohl nicht
wenig bewundert haben. Damit kann sich Baumbach nicht vergleichen. Er hat
es zwar, wie man sieht, verstanden, alte volkstümliche Züge hübsch neuzuordnen,
(denn auch die Geschichte der saligen Frauen ist oft verwertet worden; eine
der begabtesten Dichterinnen Tirols, Angelika von Hörmann, hat schon vor einem
Jahrzehnt aus dem Stoff ein anmutiges kleines Epos geschaffen); aber gerade
Baumbachs eigenste Erfindung ist zwar auch nett und anmutig, aber doch
gar zu harmlos und nicht sehr originell.
Zufällig, auf einem seiner Jagdwege, trifft Kaiser Max mit dem poetischen
Schuster Hans Sachs, der zur Zeit noch ein jugendlicher Wanderbursche ist,
in einem Wirtshause vor Innsbruck zusammen. Auch das ist für Baumbachs
genrehafte Phantasie bezeichnend, daß er die markige, männlich würdige Gestalt
Hans Sachsens, eine der edelsten des deutschen Bürgertums, die Goethes
Gedicht der Nation für alle Zeit ans Herz gelegt hat, in so verkleinerten
Maßstabe vorführt; der liebgewordene Name Hans Sachs wird einer nicht
passenden Erscheinung beigelegt, eine oaMtio dsnsvolsntiÄo keckster Form; diese
Verkleinerung entspricht aber ganz dem Maßstabe, der an die Figur des ritter¬
lichen Kaisers angelegt worden ist. Die beiden treffen also zusammen, und
der Wanderbursche leistet dem fremden, unerkannten, zu Roß gar stattlich er¬
scheinende» hohen Herrn durch seine Geschicklichkeit, Leder zusammenzunähen,
einen kleinen Dienst, wofür er sich nicht bezahlt machen will. Das gefällt dein
Kaiser. Ein kecker Jäger aber, der Sixt Thurnwalter, schleudert dem stolzen
Schuster den Stachelreim zu:
Gott grüß' dich, fremder Waidgenoß!
Drcibeinig ist dein hölzern Roß,
Und Abt und Pfriem dein Waidgeschoß.
Worauf Hans Sachs, der schon bei Meister Nunnenbeck die Singekuust gelernt
hat, schlagfertig erwidert:
Einst ging der Teufel schwarz einher
Mit Hörnern, Schweif und Klauen,
Und wer ihn sah, der forcht sich sehr
Und floh vor Angst und Grauen. Doch seit der böse Beltzebock
Geschlüpft ist in den Jägerrock
Gelingt's ihm, zu beschleichen
Die Armen und die Reichen.Und seit der Liigengeist mit List
Jn's Jägcrwams gefahren,
Mag sich jedweder gute Christ
Auch vor den Jägern wahren.
Die Waldland' all' im ron'schen Reich
Thun's ihrem Herrn und Meister gleich;
Sie flunkern und sie lügen,
Daß sich die Balken biege».
Auch diese kecken Verse gefallen dem kaiserlichen Jäger, die beiden Trutz¬
liedsänger müssen Freundschaft schließen, und Haus Sachs wird mit einem guten
Trunk Wein belohnt. Wer der stattliche Herr war, der so nachdenklich
wurde, als Hans Sachs sein Nürnberg rühmte, will dieser vom Wirte noch
erforschen. Der Wirt aber macht sich den Scherz und nennt den ihm wohl¬
bekannten Kaiser den „Wirt zum goldenen Dachl" in Innsbruck. Der naive
Wanderbursch muß sich darob in der Stadt von einem alten Weibe auslachen
lassen; denn er will im Hans mit dem goldenen Dachl einkehren, was ihm ein
Hellebardier verwehrt. Trotz dieser doch wohl nicht mißzuverstehender Aufklä¬
rung bleibt Hans Sachs — wegen eines sehr bescheidenen Effektes, den Baum¬
bach später gewinnen will — im Dunkeln über den Ritter. Überhaupt erscheint
Hans Sachs in der ganzen Dichtung Baumbachs als eine Art von Eichen-
dorffschem Taugenichts. Er schwärmt für eine ferne, in der Heimat hinter¬
lassene Schone, er gefällt allen Frauen, liebt den Wald und das freie un¬
gebundene Leben der Wandergesellen, und wie der Taugenichts aufs Geigenspiel,
so versteht er sich aufs Versemachen. Der Sixt Thurnwalter hingegen, der zweite
Jäger Kaiser Maximilians, ist mehr als Charakterfigur im modern romantischen
Stile gedacht; man kann sich aber anch für ihn nicht sonderlich erwärmen.
Hans Sachs ist also in Innsbruck und macht dort — Baumbach gesteht
selbst, er wisse nicht wie? — die Bekanntschaft des Tausendkünstlers, des
Malers und Dichters Vigil Räder, der zu Ehren des Kaisers ein Rccken-
spiel vorbereitet und den frischen fremden Gesellen in Dienst nimmt. Hans
Sachs leistet ihm dabei allerlei Hilfe und übernimmt selbst die Rolle des alten
Hildebrand, der alle Degen zu besiegen und Kriemhilden dienstbar zu machen
hat. Kriemhilde wird von Cilli, der sonst in Manneskleidern unter dem Namen
Hiesel sich bewegenden Tochter des Meisters Vigil, gespielt. Merkwürdig ist
nun, daß Kaiser Max, der vom hohen Altane dem Neckenspiel zuschaut, während
der Burghof voll von Menschen ist, den Handwerksburschen, der ihm kürzlich
so gefallen hat, in der greisen Maske wiedererkennt. Der gute Kaiser hatte
wohl gar keine andern Geschäfte und Sorgen im Kopfe. Nach dem Spiele wird
Hans Sachs vor die nunmehr auch seinerseits wieder erkannte Majestät geholt,
belobt und als Jägerbursch in Dienst genommen. Dem Taugenichts fällt der
Verzicht ans seine Freiheit nicht leicht, er ist aber hochherzig genug, sogleich
den Kaiser an das Verdienst Nabers und das gelungene Spiel zu erinnern,
worauf der Kaiser lachend spricht:
Hans, du wirst dich in den Hofdienst schicken;
Kaum im Amt, und machst schon den Protektor.
Man sieht, Banmbach weiß seine ohnehin gefällige Darstellung dem Publi¬
kum mundgerecht zu macheu. Schon die Namen seiner Gestalten sind
modisch stilisirt. Ein Held, der Hans, eine Heldin, die Mariken (Maria Mag-
dalena) heißt, sind gegenwärtig bei deutschen Frauen und Fräulein schon des
Namens wegen herzlich willkommen. Der Spaß, daß Hans Sachs Schuhmacher
und Poet dazu ist, wird aber im Laufe der Erzählung doch gar zu oft wiederholt.
Die Handlung hebt nun eigentlich erst an. Im anheimelnden Tone des
Märchens wird uns erzählt, wie auf Schloß Ambras das Hausgesinde sich zu¬
raunt, daß ein „hakiges Franken" von ungewöhnlicher Schönheit bei ihnen ein¬
gekehrt sei. Es ist die schöne Mariken, eines der unehelichen Kinder, die man
dem Kaiser zuschrieb. Sie wird wie eine kleine Prinzessin gehalten; der Thurn-
walter Sixt hat sie aber auf der Fahrt von Wels nach dem Schlosse kennen
und lieben lernen; sie liebt ihn wieder, ohne mit ihm Verkehren zu können. In
der Nacht singt er unter ihrem hochgelegenen Fenster das Lied:
Es jagt ein Jäger ohne Horn
In dunkler Nacht durch Tann und Dorn
Nach einer wilden Taube.
Sie trägt ein schleierweißes Kleid,
Ein Kriinzlcin statt der Haube.
Er denkt der Stund, da sie im Gras
Auf seinem Mantel bei ihm saß
Und ließ sich sanft umfangen.
Gehab dich wohl, mein' Trösterin,
Nach dir steht mein Verlangen.Es mag der Reif, es mag der Schnee
Die Blumen und den grünen Klee
Versehren auf der Haiden.
Wenn zwei Herzlich beisammen sind,
Die zwei soll niemand scheiden.
Ich wünsch' dir eine sanfte Ruh,
Den allerschönsten Traum dazu
Und alles Wohlergehen.
Und bleib mir gut und denk an mich,
Bis wir uns wiedersehen.
Beim Johannisfmer in der Sonnwendnacht treffen dann die Liebenden zu¬
sammen, Hans Sachs hat es übernommen, ihre alte Tugcndwächterin zu be¬
schäftigen. Sixt und Mariken wagen als das schönste Paar vor allen andern
den Sprung über den brennenden Holzstoß; er mißlingt jedoch, da Sixt beim
Erreichen der andern Seite ausrutscht und darob ausgelacht wird. Er ärgert
sich darüber und zieht sich grollend zurück, und er wird kindischcrweise noch
mehr erbittert, als gleich darauf Haus Sachs Mariken umfaßt und den Sprung
glücklich ausführt. Nun erscheinen ihm Freund und Geliebte treulos. Sixt wird
geradezu menschenscheu, während Hans sich eine Weitem Mariken verliebt und dafür
die ihn mit Liebesanträgen verfolgende Cilli herb zurückweist. Da zeigt ihm diese
ein seltsames Bild, sie läßt ihn Mariken zu Füßen des Kaiser Max belauschen und
sehen, wie der sie liebkost. Hauswcißabernicht, daß es Vaterund Tochter sind, sondern
hält beide sür ein Liebespaar. Auch er wird darüber schwermütig. Ans einer
Jagd tritt an Sixt sogar die Versuchung heran, seinen Nebenbuhler Hans
Sachs, den er jetzt eifersüchtig haßt, ans Leben zu gehen. Aber dieser schwört
ihm, daß er Mariken nicht liebe, und der verstörte Sixt leistet ihm Abbitte.
Es kommt aber dann doch zu einem Streit zwischen beiden. Sixt lauert
dem Kaiser Max auf, der ihm sein Liebchen geraubt hat, Hans Sachs will
ihm die Waffe entreißen, darob eine Rauferei zwischen beiden, bei der Sixt
den jüngeren Freund scheinbar tot auf dem Platze läßt und nun, wie von deu
Furien gepeischt, ziellos, friedlos in den Bergen herumirrt. Hans wird aber
zum Glück von den Leuten des Schlosses Ambras, vor dessen Eingang die
Rauferei geschehen ist, rechtzeitig aufgefunden und von der Verblutung gerettet.
Als der Kaiser davon erfährt, läßt er ihn ohne weitere Untersuchung einsperren
und auf Sixt fahnden; daß Sixt dem Kaiser nach dem Leben trachtete, will
Sachs niemals verraten. Endlich durch das Geständnis Marileus von ihrer
Liebe zu dem Flüchtling Sixt wird die Schuldlosigkeit des andern klar, und
Hans Sachs erhält seine Freiheit wieder. Sixt Thurnwalter aber, der unstät,
hungernd und frierend, von Gewissensqualeu gefoltert in den Bergen herumirrt,
hat das Glück, den auf der Martinswand verirrten Kaiser, der schon für ver¬
loren gehalten wird, für den das am Fuße der Wand angesammelte treue Volk
schon die letzte Messe lesen läßt, zu errette«. Sixt führt den Kaiser bis ins
Thal. Aber während nun die älteren Dichter fein und klug berichten, der Er¬
retter Maxens hätte sich im Gewühl der Volksmenge absichtlich verloren, um
sich nicht danken lassen zu müssen, und daraus sei die Vermutung entstanden,
der Retter wäre ein Engel Gottes selbst gewesen, läßt Baumbach, mit einem
in die sonst nur zu absichtlich festgehaltene Naivität seines ganzen Gedichtes
schrill hineintönenden Hiebe auf den tirolischen Klerus, unmittelbar vor unsern
Augen den Messe lesenden Geistlichen die offenbare Lüge schaffen, daß nicht
Sixt, sondern daß ein Engel Gottes den Kaiser gerettet habe. Den Kern der
Sage, die Vergöttlichung eines Menschen, der sich jeglichem Danke für eine
große That entzieht, hat Baumbach ganz übersehen. Man wird uns wohl
zu allerletzt Parteilichkeit für Ultramontane vorwerfen; aber weil Baumbachs
Vorgang so undichterisch ist, weil ferner die ganze Gestalt des Sixt Thurn-
wcilter so unbedeutend ist, daß wir sie schlechterdings nicht gegen den überlieferten
Engel des Kaisers vertauschen mögen, und weil endlich die Lösung des Konflikts in
der erdichteten Geschichte durch die Herbeizerrung der Martinswandsage gar so
äußerlich ist, darum haben wir diesen Schluß der Ballade geradezu schmerzlich
empfunden. Auch im „Paten des Todes" ist Baumbach unerwartet aus dem
Märchentone gefallen; wir haben dies damals an dieser Stelle ebenso getadelt.
Merkwürdig, daß Baumbach seine liebenswürdigen Schöpfungen durch solch eine
heillose, stilwidrige Wendung zu verderben pflegt! Zum Glück hört Baum¬
bachs Dichtung nicht mit dieser Pointe auf. Es folgt noch eine schöne
Ballade — wie ja sein ganzes Gedicht in solche Romanzen und Balladen zer¬
fällt —, die mit ihrem feinen Humor sehr anspricht. Sixt, noch immer flüchtig,
wird gefangen, und erscheint gefesselt vor dem Kaiser, der ihm zum Lohne für
die Rettung seines Lebens die Tochter zum Weibe giebt.
So legt man die Dichtung in bester Stimmung aus der Hand. Für uns
leidet es bei allen kritischen Bedenken (oder vielleicht gerade wegen derselben)
keinen Zweifel, daß diese neue Dichtung Baumbachs so beliebt wie alle seine
frühern werden wird.
Nochmals die Arbeiterunterstützungsverbände. In unserm Aufsatz:
„Sind die heutigen Arbeiterunterstützungsvcrbände Versicherungsgesellschaften?" (in
Ur. 30 u. 31 dieses Jahrganges) war der juristische Nachweis geführt worden,
daß die Arbeiterberufsverbände, soweit sie ihre Mitglieder gegen Arbeitslosigkeit
und ähnliche Notfalle sicherstellen, nach der Versicherungsgesetzgebung in Preußen,
Baiern u. f. w. der staatlichen Genehmigung bedürfen. Am 22. Oktober hat ein
derartiger Fall in dritter Instanz das Berliner Kcnninergcricht beschäftigt. An¬
geklagt waren die Bremer Vorstandsmitglieder des „Unterstützungsvereins deutscher
Tabakarbeiter," weil sie den Geschäftsbetrieb des Vereins durch Errichtung einer
Zahlstelle in Hannover auf preußisches Gebiet ohne die erforderliche Genehmigung
der preußischen Regierung ausgedehnt hatten. Das Kammergericht verwarf jedoch
die Revision der Staatsanwaltschaft.
Obwohl nun die bündigen Erkenntnisgründe keinerlei Zweifel darüber lassen,
daß diese Entscheidung lediglich aus formellen Gründen erfolgt ist, weil eine Nach¬
prüfung der thatsächlichen Feststellung des Berufnngsrichters oder die Bemänge¬
lung formeller Rechtsverletzungen in der Revisionsinstanz nicht mehr zulässig ist,
daß also eine materielle Entscheidung gar nicht ergangen ist, so hat es sich das
Organ der Berliner Sozialdemokratie, das Berliner Volksblatt doch nicht versagen
können, unter hämischen Ausfällen gegen den „findigen Juristen der Grenzboten"
die Entscheidung des Kammcrgerichts als eine solche darzustellen, durch welche die
Eingangs erwähnte Frage nunmehr endgiltig und für ganz Preußen zu Gunsten
der gedachten Vereine erledigt sei, und diese Entstellung des klaren Sachverhalts
hat dann durch die ganze gesinnuugsverwandte Presse pflichtschuldigst die Runde
gemacht. Da der klare Wortlaut der Erkcnntnisgrttnde jeden Irrtum ausschließt,
so begnügen wir uns damit, die erwähnte Presse auf diese systematische Ver¬
fälschung klarer Thatsachen hier festzunageln.
Der Verfasser dieser Denkschriften war preußischer Generalleutnant und Minister
König Friedrich Wilhelms IV., zuletzt Generaladjutant desselben, und die hier zur
Veröffentlichung gelangten Schriftstücke sind, in den Jahren von 1812 bis 1849
niedergeschrieben, teils kricgsgeschichtlichcn Inhalts, teils Beiträge zur Negicrnngs-
geschichte und Charakteristik des genannten Monarchen. Dem Ganzen geht eine
von der ältesten Tochter des Verstorbenen herrührende Biographie desselben voraus.
Dann folgen zunächst Abhandlungen und Berichte über den Feldzug von 1812
und die Jorksche Konvention, über eine Reise, die Canitz in dieser Zeit nach Wilna
machte, über seiue Sendung nach Konstantinopel (1828) und über den russisch¬
polnischen Krieg von 1831 und 1332, Betrachtungen über die Aussichten eines
Angriffs Rußlands ans Preußen und Blicke auf die Verhältnisse der katholischen
Kirche in der Preußischen Monarchie während der letzten dreißiger Jahre sowie
ans die Verfassung der evangelischen Kirche. Hiermit schließt der erste Band. Der
zweite bespricht Fragen, die in dem Zeitraume von 1840 bis 1849 die Politiker
beschäftigten, unter andern die Stellung Englands zu den festländischen Staaten
im Jahre 1840, das damalige Kriegsgeschrei der Franzosen, die ersten vier Jahre
der Negierung Friedrich Wilhelms IV., die preußische Vcrfcissungsfrage und Bunsens
Denkschrift darüber, den deutschen Bund und Metternichs Verhalten zu ihm, Preußens
Verhältnis zu Deutschland, die spanischen Heiraten, die schweizerischen Wirren, und
er bringt endlich Beiträge zur Geschichte der letztem Tage der alten (absolutistisch
regierten) preußischen Monarchie und einen Rückblick auf die Entwicklung der deutschen
Angelegenheiten bis 1349. Die kriegsgcschichtlichen Stücke der Sammlung be¬
dürfen für Fachmänner keiner Empfehlung. Daß ferner die Beiträge zur Regie¬
rungsgeschichte und Charakteristik Friedrich Wilhelms IV. mancherlei neues und
interessantes enthalten, wird man aus der langjährigen StclluuI in unmittel¬
barer Nähe des Königs schließen, die der Verfasser infolge seiner verschiedenen
Aemter einnahm. Auch vieles von dem, was hier über die Verhältnisse der katho¬
lischen und evangelischen Kirche in Preußen gesagt wird, beansprucht noch jetzt
Wert und Geltung, obwohl seit seiner Niederschrift mehr als ein halbes Jahr¬
hundert verflossen ist. Was endlich die Abhandlungen anlangt, die sich mit der
deutschen Frage beschäftigen, so kann man sie zwar in gewissem Sinne veraltet
nennen, immerhin aber bleibt ihnen die Bedeutung von Zeugnissen für die Auf¬
fassung dieser Frage von selten eines hochgestellten und einflußreichen Staats¬
mannes der Vergangenheit. Der mächtige Aufschwung, den Preußen und das
um diesen Staat gruppirte, von ihm geführte Deutschland in der zweiten
Hälfte unsers Jahrhunderts genommen haben, war in der ersten Hälfte desselben
und noch bis 1362 nicht vorauszusehen, auch von sonst gut unterrichteten und
talentvollen Politikern nicht, zu deuen wir auch den Verfasser der Denkschriften
zählen. Gewiß beschäftigte der Gedanke der deutschen Einheit unter preußischer
Leitung viele Gemüter aufs lebhafteste; aber der Weg zur Verwirklichung, die
Mittel und Maßregel», die allein Erfolge bringen konnten, waren, wenn wir von
dem doch nur vorbereitenden Zollverein absehen, den Augen der damals lebenden,
selbst deu in Preußen regierenden und zuletzt allein maßgebenden noch verborgen;
erst ein Genie fand sie. Nichtsdestoweniger, ja gerade wegen jener Unfähigkeit
früherer Politiker sind diese Aufzeichnungen eines derselben für den Geschichts¬
forscher und selbst für einen weitern Kreis von Freunden der nationalen Geschichte
der Beachtung wert.
Im Reichstage wurde vor einiger Zeit die Steuerfreiheit, die unsre Standes-
herren hie und da, namentlich in Preußen, noch genießen, stark bemängelt, und
in der Presse ging man bei dieser Gelegenheit vielfach noch weiter und verlangte
schlankweg die Beseitigung jeder Sonderstellung der Mitglieder des deutschen Hoch¬
adels, und obwohl die Aussichten ans Erfüllung dieser Forderungen sofort als
sehr gering erscheinen mußten, wurden sie doch wiederholt laut. Nun ist allerdings
nicht zu leugnen, daß gegenwärtig keine besondere sachliche Leistung der Standes¬
herren für ihre Ausuahmsbercchtigungen besteht, aber rechtlich läßt sich die einfache
Abschaffung jener Sonderrechte damit sowenig begründen, als mit dem Hinweis
nuf die Thatsache, daß manche Standesherren sehr reiche Leute sind. Angesichts
jener Angriffe auf die höchste Klasse unsers Adels und im Hinblicke auf die ihnen
zu Grunde liegeudeu Irrtümer versucht der Verfasser unsrer Schrift, in Kürze die
Entstehung, den Charakter und deu Umfang der Rechte der „medintisirtcn", d. h.
vormals reichsständischcn, jetzt standesherrlich den souveränen der deutschen Staaten
untergeordneten Häuser darzustellen, was in fünf Abschnitten geschieht. Der erste
betrachtet deu Ursprung der Standesherrlichen Rechte, der zweite führt die einzelnen
Standesherrlichen Familien vor, der dritte schildert die Stellung derselben unter
dem Rechte des deutschen Bundes, der vierte die, welche sie mit ihren Privilegien
zum neuen Reiche einnehmen, der fünfte endlich hat insbesondre die Standesherren
in Preußen und ihre Steuerfreiheit zum Gegenstände. Der Verfasser gelangt schlie߬
lich in Betreff Preußens zu der bestimmten Erwartung, daß das Abgeordnetenhaus
einen Gesetzentwurf wegen Aufhebung der noch vorhandenen Steuervorrechte der
Standesherren gegen billige Entschädigung, wenn er eingebracht werden sollte, gut¬
heißen würde. „Die Sonderrechte der mittelbar gewordenen alten fürstlichen und gräf¬
lichen Geschlechter sind immermehr ans den Kreis der Standes-, Ehren- und Fa-
milienrechte eingeschränkt worden; ihre mittelbare Landeshoheit ist im Laufe der
Zeit verloren gegangen, und sie haben sich in volle und der Mehrzahl nach treue und
aufrichtige Unterthanen des Staates verwandelt, dem sie untergeordnet worden waren.
Sie werden den Rest von materiellen Bevorrechtungen umso lieber fahren lassen,
als er vielfältig dazu benutzt wird, ihr Ansehen als höchster Aristokratie des Landes
zu schädigen und zu mindern. Als solche aber zu gelten und zu wirken, liegt in
ihrem eignen Interesse, wie in dem eines kräftigen, freiheitlich gegliederten Staats-
wesens, in welchem es Aufgaben zu erfüllen giebt, zu denen sie vorzugsweise be¬
rufen erscheinen, wie denn auch bis auf diesen Tag mancher der Standesherrlichen
Fürsten und Grafen in der Diplomatie, in der Staatsverwaltung und auf parla¬
mentarischem Felde für die großen Interessen des Vaterlandes wichtige Dienste ge¬
leistet hat und noch leistet. Je besser und je länger wir uns einen unabhängigen,
vom Pflichtbewußtsein gegen den monarchischen Staat erfüllten hohen Adel bewahren,
umsomehr verschwindet die Gefahr, daß sich ein eigennütziger Geldadel an die erste
Stelle setze, der, mit der geschichtlichen Entwicklung des Staates nicht verwachsen,
(dem Verfasser schwebt natürlich die semitische Piutokratie und deren Neigung, den
Staat zu „fruktifiziren" vor), keine ideellen Güter zu behaupten hat und aus dem
Dienste für die öffentlichen Interessen sich keine Ehre macht." Das ist vortrefflich
gesagt. Möchten nur uoch mehr Standesherren und Söhne von solchen ihre Stellung
und Pflicht im Staate recht erkennen und darnach handeln. Von der Mehrzahl läßt
sich das unsers Wissens bis jetzt nicht rühmen.
Der erste Band der ersten Auflage von Bruuns „Künstlergeschichte" erschien
vor nunmehr sechsunddreißig Jahren. In der Vorrede nahm der Verfasser aus¬
schließlich das Verdienst einer Vorarbeit für die Kunstgeschichte in Anspruch, einer
Vorarbeit, die in erster Linie von der schriftlichen Ueberlieferung und erst in zweiter
von den erhaltenen Denkmälern ausging. Das Buch machte seiner Zeit Epoche:
mit scharfem kritischen Blick hatte der Verfasser auf Grund der von ihm benutzten
antiken Schriftquellen eine Darstellung der griechischen Künstlergeschichte geschaffen,
die in ihren Grundzügen von bleibender Bedeutung ist. Diese Bedeutung hat die
Wissenschaft auch in vollstem Maße durch Wort und That — letzteres namentlich
durch die umfangreiche Benutzung, die Brunns Werk in allen spätern kunst¬
geschichtlichen Darstellungen erfahren hat, — bereitwillig anerkannt. Der Zeit¬
raum, der seit dem ersten Erscheinen des Buches verstrichen ist, hat aber doch
der Archäologie durch die vielen glücklichen Ausgrabungen und Entdeckungen
und durch den regen Eifer, mit dem alle Länder klassischer Kultur durchsucht
worden sind, einen Denkmälervorrat und damit eine Erweiterung der Ideen und
Gesichtspunkte zugeführt, daß bei einer Nenbcarbeitung eines Buches, das vor
mehr als drei Jahrzehnten erschienen ist, kein Stein auf dem andern geblieben
wäre. In den Kreisen der Fachgenossen ist es bekannt, daß Brunn sich seit etwa
achtzehn Jahren mit dem Plane trägt, eine Geschichte der griechischen Kunst auf
Grund der gesamten vorhandenen Quellen zu schreiben. Daß ein derartiges Werk
des geistvollen Gelehrten mit größter Spannung erwartet wird, bedarf keiner Worte.
Da kündigt nun jetzt die Verlagshandlung von Ebner und seubert eine „zweite
Auflage" der Künstlergeschichte an und zwar von „Dr. Heinrich Brunn, Professor
der Archäologie an der Universität München." Als wir die erste Lieferung in
dem Schaufenster einer Buchhandlung liegen sahen, waren wir halb erstaunt, halb
überrascht. Unser erster Gedanke war: Brunn hat sich also doch noch gegen alle
Einwendungen, die er früher gemacht hat, entschlossen, die Künstlergeschichte neu zu
bearbeiten, um seine jetzigen Ansichten wiederum in einer Vorarbeit für seine dem¬
nächst erscheinende Kunstgeschichte zusammenzufassen. In dieser Erwartung ließen
wir uns die erste Lieferung vorlegen. Aber wie erstaunten wir, als wir einen
wörtlich getreuen Abdruck der ersten Auflage in die Hand bekamen! Natürlich
rechten wir nicht mit dem Verfasser darüber, daß er seine Zustimmung zu einem
unveränderten Abdruck gegeben hat, obschon es uns bedenklich erscheint, wenn
Ansichten und Lehren, welche die fortschreitende Wissenschaft längst widerlegt oder
infolge der neu in den Gesichtskreis eingetretenen Denkmäler als unhaltbar erwiesen
hat, sechsunddreißig Jahre später und zwar bei Lebzeiten des Verfassers wörtlich
wieder abgedruckt werdeu. Wohl aber richtet sich unsre Anklage gegen die Verlags¬
buchhandlung, deren Spekulation im vorliegenden Falle nicht im besten Lichte er¬
scheint. Der Neudruck erscheint als „zweite Auflage"; als Verfasser wird Heinrich
Brunn, der Professor in München, genannt (die erste Auflage nannte ihn nnr
Dr. Heinrich Brunn). Beides muß den Glauben erwecken, daß hier eine Neu¬
bearbeitung vorliege, ein Buch, das auf der Höhe der heutigen Forschung steht.
Wenn, wie es thatsächlich geschehen ist, sogar eine Zeitschrift wie Lützows „Kunst-
chronik" darauf hineinfällt, wieviel eher wird dies bei dem großen Publikum
der Fall fein, auf das die Verlagshandlung augenscheinlich mit dieser „zweiten
Auflage" spekulirt hat! Aus Gründen, die sonst stets von besseren Firmen be¬
obachtet werden, hätte schlechterdings nicht unterlasse» werden dürfen, den Neudruck
als solchen zu bezeicheu und zwar, um jedem Mißverständnis vorzubeugen, als
„zweiten, unveränderten Abdruck der ersten Auflage vom Jahre 1852." Eine andre
Frage wäre dann immer noch die, ob der Neudruck nicht eine verfehlte Spekulation
sei. Das Buch war zwar vergriffen und wurde im antiquarischen Verkehr in der letzten
Zeit sehr hoch augesetzt. Aber der Kreis, der an Brunns Buch wirklich Interesse
hat, ist doch verhältnismäßig beschränkt, es ist eben lediglich der Kreis der Fach¬
leute, und für diese, sollten wir meinen, hätten die vorhandenen Exemplare aus¬
gereicht. Doch das wird ja die Verlagshandlung am besten zu beurteilen wissen
oder aber sehr bald spüren. Im übrigen unterscheidet sich der Neudruck von
der ersten Auflage nur durch andre (bessere?) Ausstattung und die vom Verfasser
vorgenommene Vergleichung und nach einheitlichen Grundzügen gehandhabte An¬
führung der Pciusaniasstellen. Daß der schlechte Athenakopf auf dem Umschlage
und die noch schlechteren Zierleisten zu Anfang und zu Ende der Einleitung dem
Buche nicht zukommen, dessen scheint sich die Verlagsbuchhandlung nicht bewußt
geworden zu sein. Oder soll hierdurch auf den ersten Blick der Glaube erweckt
werden, die „zweite Auflage" sei eine „illustrirte"?
Daß in dem Jahre, wo Clara Schumann die 60jährige Jubelfeier ihres
ersten öffentlichen Auftretens begeht, auch das Gedächtnis ihres im Jahre 1873
verstorbenen Vaters wieder erneuert wird, ist nur dankenswert. In der That
lagen auch eine Reihe von Briefen an und von Fr. Wieck Vor, deren Veröffent¬
lichung erwünscht sein mußte. Daß aber diese ungedruckten Familienerinnerungen
in Kohut den rechten Mann gefunden hätten, der mit sichtender und wählender
Hand ausscheidet, was wertlos ist oder verletzend wirken könnte, läßt sich nicht be¬
haupten. Mußte es denn gerade ein Buch von 346 Seiten werden? Was wird
da alles mit abgedruckt: Wiecks Univcrsitätszeugnisse, das Programm eines Kor-
zcrts, dem Wieck beiwohnte (!), das Verzeichnis der Instrumente, aus denen das
Orchester in diesem Konzerte bestand, eine Menge von Geschäftsbriefen, sogar
solchen, in denen einfach ein Klavier bei Wieck bestellt wird, Konzertbcsprechungen
aus deu Musikalischen Signalen, dem Leipziger Tageblatt u. s. w,, Dankbriefe von
Schülern und Schülerinnen, Empfehlungsschreiben, die von durchreisenden Vir¬
tuosen abgegeben worden sind, die Bitte eiues Lehrers um ein Zeugnis zum Zweck
der Bewerbung um eine Organistenstelle und dergleichen mehr.
Das Wertvollste in dem Buche ist Wiederholung von bereits früher ge¬
druckten: aus Wiecks Büchern, aus Meichsners Büchlein über Wieck und seine
Tochter, aus Wasielewskis Schumannbiographie, aus Schumanns Jugendbriefen
u. f. w. Von den zum erstenmale veröffentlichten Briefen find höchstens wertvoll:
der Brief Wiecks an den Baron von Fricker in Asch (S. 95) über Schumanns
Verhältnis zu Ernestine vou Fricker, weiter die Briefe Ernestines an Clara, die
freilich die verlassene Geliebte Schumanns nicht im besten Lichte zeigen (S. 97ff),
dann Clara Schumanns Briefe an ihren Vater nach der Versöhnung (S. 13Vff.).
Wer sich aber der Hoffnung hingeben wollte, in Kohuts Buch genaueren Aufschluß
zu finden über Wiecks Widerstand gegen die Verheiratung Schumanns mit Clara
und über die spätere Aussöhnung rin dem Künstlcrpaare, der würde sich getäuscht
sehen; man erfährt darüber wenig mehr, als was man schon wußte. Wir dudeln
das nicht, im Gegenteil, es ist taktvoll, diese Vorgänge nicht ans Licht der Öffent¬
lichkeit zu zerren. Es hätte noch manches andre unterdrückt werden sollen, z. B.
S. 103 in einem der Briefe Ernestines die Stelle: „Sogar in Münster hörte
ich diesmal von ihm (Schumann), da ein Bekannter Namens Schmidt dort wohnt,
ein Referendar, daß er jetzt so schrecklich trinken sollte und gewiß nicht imstande
wäre, etwas zu arbeiten, bevor er nicht wenigstens zwei Flaschen Champagner ge¬
trunken hätte, mein Gott, wie muß dieser Mensch aussehen ..."
Der Gesamteindruck, den man von dem Buche bekommt, ist kein angenehmer,
weder in Beziehung auf den Inhalt, noch auf die Form. Was den Inhalt an¬
geht, so fühlt man die Absicht des Herausgebers, aus Wieck einen großen Maun
zu machen, und das war er nun einmal nicht. „Nachstehende Blätter beschäftigen
sich mit dem Leben und Wirken eines der hervorragendsten Klavierpädagogen (!)
und Gesangstheoretikers (!) Deutschlands — rin Friedrich Wieck. Dieser als Lehrer,
Schriftsteller und Mensch gleich seltne, bedeutende Mann" — mit diesem Trom¬
petenstöße hebt das Vorwort an, und in diesem Tone geht es fort. Wieck war
ein gründlicher, ja Peinlich gewissenhafter Klavier- und Siugelehrer, diesen Ruhm
wird ihm niemand streitig machen. Er hat den Grund gelegt zu der hohen Künst-
lerschaft, die wir an Klara Schumann noch heute bewundern, auch das wird ihm
unvergessen bleiben. Er war Schumanns Schwiegervater, wenn auch wider Willen
— wer wird mit dem Verstorbenen heute über sein damaliges Verhalten rechten?
Aber ihn als einen hervorragenden Kritiker, Schriftsteller, wohl gar Komponisten
und Humoristen hinzustellen, ist Uebertreibung. Wieck selbst gab sich in löblicher
Selbsterkenntnis (?) den Scherznamen Das, der alte Schulmeister, und kein Name
kau» besser für ihn Passen. Man lese nur die gespreizte, selbstgefällige Schulmeister¬
prosa, in der er sich z. B. über Elementarunterricht im Klavierspiel ausläßt! sein
Humor, deu Kohut erfrischend findet, war frostig und gequält. Mau vergleiche
z. B. den musikalischen Thee bei Hans Eilig mit Schumanns Fastnachtsrede nach
der neunten Symphonie Beethovens, oder die groben Bauernsprüche eines alten
Musikmachers mit Schumanns musikalischen Haus- und Lebensregeln — da wird
man spüren, was echter und was gemachter Humor ist! Freilich begeht man ein
Unrecht nu Wieck, wenn man ihn immer mit Schumann zusammenstellt, und es
mag wohl wahr sein, daß die Nähe des hellstrahlenden Lichtes von Schumanns
Genialität dem bescheidnen Flämmchen von Wiecks Begabung ungünstig gewesen
ist. Aber ein Buch wie das von Kohut fordert ja geradezu zu solcher Verglei-
chung heraus.
So viel vom Inhalte. Die Form ist mit dem einen Worte: Liederlich
bezeichnet. Das allergewöhnlichste Zeitungsdeutsch, tönende Phrasen, schlechter
Satzbau, das traurige Bindewort „beziehungsweise" in allen Abarten (bezieh., be¬
züglich, bez.), die Inversion nach „und," ganz und voll, stattgehabte Konzerte,
kurzum das gesamte Rüstzeug des Pfcnnigzeilenschrcibcrs. Ein paar Sätze gebe
ich zum Beweise. S. 2: „Wieck gehörte zu denjenigen, welche eine ewig
verjüngende Kraft in sich haben, denn sie entspringen dem stets frisch sprudelnden
Quell der Natur und der Schönheit." S. 34: „Sie (Wiecks erste Frau) stammte
aus einer musikalischen Familie, und war ihr Großvater ein berühmter Flvten-
fabrikant." S. 37: „Wieck zeigte ein großes Interesse für musikalisch begabte
Kinder, denn wie selten unterrichtet ein Vater selbst seine eignen." S. 53 (aus
der Allg. Mus. Ztg. vom Nov. 1828): „Uuter der Leitung ihres musikcrfahreneu,
die Kunst des Pianofortespiels wohl verstehenden und dafür mit Liebe sehr thätigen
Vaters dürfen wir von ihr die größten Hoffnungen hegen." (Man sieht, daß die
Musikzeitungen schon vor 60 Jahren genau so erbärmliches Deutsch schrieben wie
heute). S. 84: „Seine Briefe ans jener Zeit übersprudeln vom Gefühl über¬
irdischer Seligkeit." S. 130: „Die größten Triumphe in allen Städten erntete
Clara in Wien." S. 175: „Von Natur schüchtern, wußte bald der Vater, ebenso
wie bei Clara, durch seine rationelle Methode Lust und Liebe zur Musik auch bei
Marien zu erwecken. Schon im 5. Lebensjahre fing sie zu spielen an, und bediente
er sich dazu seiner kleinen melodischen Uebungen" u. f. w.
Am Schlüsse des Buches werden zwanzig frühere Schriften Kohnts angezeigt
und siebzehn lobende Besprechungen derselben aus verschiedenen Zeitungen abgedruckt.
Eine» Schluß aus dieser Thatsache zu ziehen überlassen wir dein Leser; die Grenz¬
boten sind nicht unter den angeführten Zeitschriften.
Mit diesen Gedichten tritt eine nicht gewöhnliche Frauengestalt vor die Oeffent-
lichkeit, jedoch nicht zum erstenmale, denn Paul Hcyses neues Münchner Dichtcrbnch
brachte schon vor mehreren Jahren Proben ihrer Lyrik, aber zum erstenmale selbständig
mit einem Buche. Gewidmet ist die Sammlung den dankbar verehrten Meistern Her¬
mann Lingg und Paul Heyse. Sollten wir das Wesen dieser jungen Dichterin kurz
zusammenfassen, so würden wir sagen: Frieda Port ist ein starker Geist, aber keine
ebenso starke Natur. Damit soll nicht gesagt sein, daß sie der Individualität ent¬
behre; sie hat eine solche, ohne Zweifel. Sie ahmt nicht nach, sondern empfindet
wahr und eigentümlich. Sie ist reich gebildet und hat sehr viel gedacht, über sich
selbst, über andre, über menschliches Schicksal im allgemeinen, und ihr Deuten hat
jene Richtung genommen, welche die ganze Gegenwart verfolgt: die des Pessi¬
mismus. Aber sie ist nicht dogmatisch. Soviel sie auch den Tod als Erlöser preisen
mag, so ist sie doch empfänglich für die Schönheit der Welt, der Blumen, der
Sonne, der Künste, der Menschen. Und dieser große Gegensatz selbst beschäftigt
sie. Liebe zum Leben und Sehnsucht nach Erlösung durch deu Tod laufen in ihrer
Seele Parallel. Ebenso denkt sie über deu Gegensatz unsrer Endlichkeit und unsrer
Sehnsucht nach Unendlichkeit nach. Geschichtliche Denkmäler schaut sie darum nach-
deutlich an. Sie ist Wohl in Stunden zur Schwermut geneigt. Sie weiß, daß
schließlich jeder Mensch einsam bleibt und daß sich die Brücken des Verständnisses
nur schwer schlagen lassen. Sie empfindet mit dem Elend, mit der Armut, sie preist
das Mitleid; aber unbefangen freut sie sich auch der Schönheit der Reichen. So
stolz und so ehrlich sie bestrebt ist, in echter Reinheit, wie der Schnee, ihr Leben
lang zu verharren, so entfernt ist sie davon, sittlichen Hochmut zu loben. Sie rät
den Fromm, ihre Lippen, anf denen die Nymphen des Kusses wohnen, frei von
herben Worten zu erhalten. Der Einsiedler, der sich das gottähnliche Leben durch
feige Weltflucht erleichtert, ist nicht nach ihrem Geschmack. Ihr scharf auffassender
Blick, der „im Vorübergehen" dichterische Motwe von der Straße aufliest, sieht
nur sympathische Erscheinungen: die Mutterliebe, Mildthätigkeit, heimliche Jugend¬
liebe, sinnig anregende Blumen. Ein Doppelwesen fühlt sie in sich: größte Em¬
pfänglichkeit für die Eindrücke der Außenwelt (ein Sonnenstrahl erhebt sie schon)
und den Hang zur Grübelei. Sie teilt uns viele Tagebuchblätter aus ihrer Liebes¬
zeit mit, schöne Liebesgedichte, meist aber Bruchstücke, die blitzartig ihren Zustand
beleuchten. Sie schwankt lange zwischen Zurückhaltung und Hingebung, aber selbst
in der Leidenschaft verliert sie nicht ihren nachdenklichen Zug: sie kann sich nicht
selbst vergessen.
So etwa ist das Leben geartet, in das uns diese Gedichte Einblick gewähren.
Man erkennt Frieda Port als eine echte Idealistin, die an der eignen sittlichen
Veredlung arbeitet; aber es wäre ihr daneben auch etwas mehr von der Sinn¬
lichkeit des Künstlers zu wünschen. Es würde zweifellos ihrer Lyrik zu gute kommen,
wenn sie sich weniger der Grübelei und der sittlichen Selbstbildung, und mehr der
Umschau in dieser Welt, für deren Schönheit sie so empfänglich ist, überließe. Weniger
zu denken und mehr zu gestalten, weniger geistreich und mehr konkret, sachlich dar¬
stellend, bildend sich zu Verhalten: dies möchten wir der jungen Dichterin eifrigst
empfehlen. Geistreiche Menschen giebt es genug in unsrer Litteratur, künstlerische
umsoweniger. Die Sprache Frieda Ports ist nicht gerade arm an Bildern und
hat zweifellos die Fähigkeit, anschaulich zu werden. Allein vor der Hand ist sie noch
zu häufig abstrakt, und in den verwickelten Satzbildungen, die sie ganz gegen den
Geist der singlnstigen Lyrik liebt, unschön. Sie schachtelt gern Zwischensätze ein,
ihre Ellipsen erzeugen oft Härte, und zuweilen entstehen geradezu Unklarheiten.
Die Lyrik darf ja mit der Sprache kecker umspringen, als die Prosa; die
Sprünge darf aber nur die Phantasie, nicht die Grammatik machen. Wer alkäische
und sapphische Strophen dichtet, darf mit der Sprache nicht so frei umgehen, wie
ein am Volksliede herangebildeter Lyriker; das folgt aus dem Charakter der Kunst.
Zum Schlüsse mag noch eines ihrer besten Liebesgedichte hier Platz finden:
Der volle Mond erhebt sich
Am Horizont, ein später
Gedanke unsrer Liebe,
Und schwebt im stillen Aether.Wie ist es schwer, die Nähe
Des Lieben zu entbehren!
Nun ist's, als ob wir wieder
Einander nahe wären.
Denn mir zu Häupten leuchten
Ganz nah dieselben Sterne,
Wie über deinem Haupte —
Die Nacht hat keine Ferne.
i
f r brachten in diesem Blatte vor einiger Zeit einen Überblick
über die Geschichte der südafrikanischen Boers-Staaten bis zur
Beendigung des Krieges zwischen England und der ehemaligen
Republik Transvaal, die sich seit dem Frieden, der diesem
ür die Engländer so unheilvollen und schmählichen Freiheits¬
kämpfe ein Ende machte, die Südafrikanische Republik nennt. Die Gründe, die
uns dazu bewogen, traten für einige Jahre in den Hintergrund, bestanden aber
fort und wurden zuletzt durch neue verstärkt, und so dürfte es unsern Lesern
erwünscht sein, wenn wir zunächst auf jenen geschichtlichen Abriß zurückkommen
und die Entwicklung der Nachbarstaaten des Kaplandes durch einen Nachtrag
bis zum heutigen Tage verfolgen.
Die Boers, die „weißen Afrikaner," reden eine altertümliche Mundart des
Holländischen, sind also der Sprache nach niederdeutsche, worauf auch viele
andre von ihren Eigentümlichkeiten hinweisen. Ihre beiden Republiken empfinden
bei der steten Gefährdung ihrer besten Interessen und selbst ihrer Existenz durch
die selbstsüchtige, habgierige und treulose Politik der Briten das dringende
Bedürfnis, sich an eine andre Macht anzulehnen, und diese kann für die nächste
Zukunft nur das deutsche Reich sein, von dem sie mancherlei Förderung zu
hoffen und nichts zu fürchten haben. Die Boers haben deshalb unsre Kolonie-
Bestrebungen im Nordwesten ihrer Gebiete mit Zustimmung und ohne Neid
oder Argwohn betrachtet, eine nach Damaralcmd ausgewanderte Schar von
ihnen hat sich bereits unter deutschen Schutz gestellt, und mit froher Erwartung
sieht die öffentliche Meinung in der südafrikanischen Republick der Zunahme
deutscher Einwanderung entgegen, welche die vor kurzem vollendete Eisenbahn
verheißt, die den Freistaat mit dem Meere verbindet. Die „Volksstem" z. B..
dus bedeutendste Blatt in Pretoria, der Hauptstadt der Republik, erklärt im
Hinblick auf die neue Bahn von der Delagoa-Bucht nach dem Innern und den
von ihr zu hoffenden starken Zuzug europäischer Elemente, daß es ganz ent¬
schieden besser sei, wenn sich die deutsche Einwanderung vermehre, als wenn
viele Engländer und Jrländer sich dem Staate zuwendeten, und wenn sie dafür
nur geltend macht, daß man überall, wo deutscher Fleiß sich niedergelassen hat,
den Wert des Landes steigen sehe, und daß die englischen Einwanderer nur
Handelsleute unsteter Art oder Abenteurer seien, welche die Entdeckung von
Gold- und Diamantenfeldern herbeigeführt habe, so hat sie unzweifelhaft noch
andere Gründe, die sie vorläufig verschweigen zu müssen glaubt. Wie das
Land dnrch seine Natur, namentlich durch sein Klima zur Einwanderung von
deutschen Landleuten einladet, und wie anderseits unser Handel dahin sich be¬
trächtlich heben kann, soll später einmal gezeigt werden. Für jetzt nur den Schluß
der Skizzen, mit denen wir den mit einigen Unterbrechungen Jahrzehnte lang
währenden Kampf des Hauptstaates der Boers, der südafrikanischen Republik,
mit der Tyrannei Großbritanniens und den endlichen Sieg des ersteren früher
darzustellen versucht haben.
Der Friede von Pretoria, in den England 1881 willigen mußte, nachdem
die aufständischen Boers seinen Truppen drei schwere Niederlagen (bei Laings
Reck, Dcede Poort und am Majubaberge) beigebracht hatten, verschaffte der
südafrikanischen Republik das uneingeschränkte Recht, sich unter britischer
Oberhoheit selbst zu regieren; dagegen behielt sich Großbritannien in dem
betreffenden Vertrage die Befugnis vor, in Pretoria einen Residenten zu halten,
die Beziehungen des Staates zu andern Mächten zu beaufsichtigen und zu
beeinflussen und im Osten ein Gebiet abzulösen, welches das Transvaalland
von den Kaffernstämmen der Zulus und der Swazies trennen sollte.
Unter den Ereignissen, die sich seit jenem Frieden zugetragen haben, nimmt
die Entstehung des Afrikanerbundes, eines Vereins, den die England feindlich
gesinnte Partei der Kapkolonie gegründet hat, die erste Stelle ein. Er soll
alle nach voller Unabhängigkeit von Großbritannien strebenden in der Kolonie
und in den Nachbarländern, besonders in Natal, dem Oranje-Freistaat und der
südafrikanischen Republik in sich aufnehmen und verfolgt bis auf weiteres den
Zweck, den Wünschen des „afrikanischen" Elements, d. h. der niederdeutschen
Patrioten in diesen Gemeinwesen, in deren gesetzgebenden Körperschaften, namentlich
im Kap-Parlament, Nachdruck zu geben und Geltung zu verschaffen; als letztes
Ziel aber strebt er die Errichtung eines Bundesstaates, gleich dem der nord¬
amerikanischen Union an. Die Vereinigung des Oranje-Freistaates mit der
südafrikanischen Republik wird sich trotz der Umtriebe, mit denen die Engländer
sie zu verhindern suchen, in wenigen Jahren vollziehen, und dann wird der
Anschluß der britischen Kolonien Südafrikas nicht lange mehr auf sich warten
lassen. Und nun kommen wir zu den Vorgängen, die in den letzten fünf oder
sechs Jahren zu weiterer Ausbreitung des niederdeutschen Volksstammes im
Westen und Osten des Boersstaates nördlich vom Vcmlflusfe führten.
Unzufrieden mit gewissen Plänen des Präsidenten Burgers waren bereits 1876
Anhänger der alten Einrichtungen in der Ostafrikanischen Republik zu dem Beschlusse
gelangt, auszuwandern und sich auf den schönen Weideplätzen der Damaras eine
neue Heimat zu suchen. Am linken Ufer des mittlern Krokodilflusses bezogen
die von dem Boer van Zyl geführten Emigranten ein Lager, um sich zu dem
großen Zuge nach Nordwesten zu sammeln. Khama jedoch, der König der
Bamangwcitos, dessen Gebiet sie zu durchziehen hatten, zögerte, ihnen dies zu
gestatten, und so waren sie zu längerem Aufenthalte in jenen sehr ungesunden
Gegenden genötigt. Krankheiten lichteten ihre Reihen, und schon wollten sie
ohne Erlaubnis des Königs ihren Zug fortsetzen, als diese endlich erfolgte.
Sie wanderten nun in nordwestlicher Richtung, durch das Dorstland, einen
sandigen Wald, nach dem Zugaflusse und von da nach dem Ngamisee, wo sie
durch Strapatzen aller Art an Zahl sehr geschwächt eintrafen. Von da zogen
sie unter fortwährenden Gefahren und Entbehrungen nach dem Damaralande
weiter, wo sie in so kläglicher Verfassung ankamen, daß sie von der Bevölkerung
der Heimat unterstützt werden mußten, was auf dem Wege über die Walfischbai
geschah. Im Damaralande begannen sie sich nach Gegenden mit Wasser und
Weidegründen umzusehen, einige ließen sich in Humpata im portugiesischen
Gebiete von Mossamedes nieder, andre im Ovambolande an einer Quelle bei
Otcwi, die sie Grootfontein nannten. Endlich trat ihnen der Häuptling
Kambondi größere Landstriche unter dem 18. und 20. Breiten- und dem
6. Längengrade ab, und sie gründeten hier, 200 Meilen von der Walfischbai,
ein neues Gemeinwesen, das sie zu Ehren Upingtons, des die Sache der Boers
vielfach fördernden Ministers der Kapregierung, Upingtonia nannten.
Bald darauf jedoch bestritt die englische Regierung den Boers ihren dortigen
Landbesitz, und daraufhin räumten sie zum Teil das Gebiet von Upingtonia
und erwarben vom Hererohciuptliug Manasse das Recht, sich in Waterberg,
einer früheren Station der rheinischen Missionsgesellschaft, niederzulassen. Der
Nest blieb unter der Führung des englischen Kolonisten Jordan bei Groot¬
fontein, wollte aber, als Jordan von den durch englische Sendlinge aufgesetzten
Ovambos ermordet worden war, ebenfalls wieder abziehen. Vorher suchte man
jedoch durch den Kommissar des deutschen Reiches den Schutz des letztern nach
und gab, als dieser Schutz im Jahre 1887 zugesagt wurde, den Abzug auf.
So hat Deutschland seine Schutzherrschaft über diesen Teil Südwestafrikas um
400 Quadratkilometer ausgedehnt und hat dem Lande zugleich einen für die
Zukunft sehr wertvollen Stamm mit dessen Verhältnissen vertrauter und ab¬
gehärteter weißer Bewohner erhalten, von. denen überdies ins Gewicht fällt,
daß sie mit dem Volke der östlichen Republiken und im weitern Sinne mit uns
verwandt sind und die Engländer als Feinde betrachten. -
Während sich diese Vorgänge im Westen der südafrikanischen Republik
abspielten, traten im Osten derselben Ereignisse ein, die leicht einen neuen Krieg
zwischen den Boers und den Engländern zur Folge haben konnten. Hier
stritten sich zunächst Häuptlinge von Betschuanenstämmen um die Würde des
Königs. Im Süden standen sich die Häuptlinge Gasibone und Mankorocmc,
im Norden Montsioa und Moschete gegenüber. Je einem der Häuptlinge in
den beiden Gebieten boten Scharen von Boers und englische Freibeuter ihre
Hilfe unter der Bedingung an, daß im Falle ihres Sieges Land und Vieh
des Unterlegnen ihnen als Lohn zugeteilt werden solle. Als dann die von
den Boers unterstützten Häuptlinge die Oberhand behielten, verteilten die Boers
das Land unter sich und errichteten im Gebiete der Batlapinen, an der Nord¬
grenze des Griqualandcs den Freistaat Stellaland und in dem der Varalongs
die Republik Gösen. Die englische Negierung weigerte sich, auf die Schutz¬
herrschaft gestützt, die sie über das Gebiet der Betschuanen beanspruchte, diese
neuen Staaten anzuerkennen, angeblich im Interesse der farbigen Bevölkerung,
in Wahrheit aber in dem der Kapkolonie, weil die große Straße von dieser
nach dem Innern Afrikas durch die beiden neuen Republiken führt. Die Boers
der südafrikanischen Republik fügten sich dem Anspruch in einem Vertrage, der am
27. Februar 1384 zu London abgeschlossen wurde. Darauf sandte die britische
Regierung'") einen gewissen Mackenzie nach dem Betschucmenlcmde, um dort Ordnung
zu schaffen. Dieser Beamte machte sich aber durch sein Auftreten und vorzüglich durch
Aufwiegeln der Farbigen und durch das ungebührliche Betragen des ihm unter¬
gebenen Polizeichefs Bethel bei den Boers so verhaßt, daß er abberufen werden
mußte. Die von, ihm hervorgerufene Aufregung dauerte indes fort, da eng-
lischerseits nichts'"geschah, die aufgesetzten Betschuanen zu beruhigen, und so
glaubte sich Krüger, der Präsident der südafrikanischen Republik, als Nachbar
und weil ausgewanderte Angehörige seines Staates gefährdet waren, verpflichtet,
einzuschreiten, zumal da auch die ursprünglichen Eigentümer Gosens, Montsioa
und Moschete seinen Beistand anriefen. In einer Proklamation vom 16. Sep¬
tember 1884 stellte er letztere und ihr Land unter den Schutz der Republik.
Die Engländer wollten darin einen Vertragsbruch sehen, die Regierung des
Transvaallandes dagegen wies auf Artikel 4 des Londoner Vertrags von 1884
hin, wonach ihr gestattet war, Verträge mit benachbarten Häuptlingen abzu¬
schließen, die gelten sollten, falls England nicht binnen sechs Monaten Ein¬
spruch dagegen erhöbe; als England aber erwiderte, der Artikel sei anders
aufzufassen, zog sie ihr Protektorat sofort zurück. Die britische Negierung
schickte endlich unter General Warrens Militär nach dem Betschuanenlande, um die
Unruhen zu unterdrücken, und die Südafrikanische Republik war bereit, sie dabei
zu unterstützen, wies jedoch das spätere Ansinnen Englands, zu den Kosten
der Warrensschen Expedition beizutragen, mit dem Bemerken zurück, sie habe
weder die betreffenden Wirren verursacht, noch eine Absendung militärischer
Kräfte verlangt, auch habe Lord Derby ihren Abgeordneten in London gesagt,
er könne die Republik nicht zwingen, zur „Verjagung der Freibeuter aus dem
Betschuanenlcmde" mitzuwirken. Dieser Streit endigte mit der Anerkennung
der britischen Oberhoheit über das letztgenannte Gebiet und mit Feststellung der
Grenzen derselben.
Um dieselbe Zeit zog sich, ebenfalls im Osten der Boersrepublik, am Veni
eine andre bedenkliche Wolke zusammen. Als die Engländer die Zulus bei
Ulundi geschlagen und deren König Ketschwayo gefangen genommen hatten,
zerteilten sie das Gebiet derselben in zwölf Stücke und setzten nach dem Grund¬
satze vivicls se imxgrg. über jedes einen selbständigen Häuptling ein. Wie er¬
wartet, begannen diese kleinen Machthaber sofort einander zu bekämpfen, und
das Land geriet dadurch in solche Verwirrung, daß England sich genötigt fand,
Ketschwayo seine Gewalt zurückzugeben. Doch trennte es den Süden des
Zululandes als Reservegebiet von dem übrigen ab, nahm ihn unter eigne
Herrschaft und siedelte hier die einflußreichsten Gegner des Königs an. Den
Nordosten des Landes ferner erhielt der Häuptling Usipepu als Belohnung
seiner den Engländern geleisteten Dienste. Dieser rückte bald darauf mit einem
von dem Holländer Kohlenbrander geführten Heere gegen Ketschwayo ins Feld,
schlug ihn und zwang ihn zur Flucht zu dem ihm befreundeten Stamme der
Ahnens. Von da begab Ketschwayo sich in das englische Reservegebiet, wo er
starb, nachdem er den Häuptlingen der Nation noch seinen Sohn Diniznln
als Erben und Nachfolger bezeichnet hatte. Dinizulus Ansprüche auf die
königliche Macht und Würde wurden von der Partei seines Volkes, die für
seinen Vater gewesen war, anerkannt, und er hatte auch unter den übrigen
Zulus viele Freunde, aber trotzdem war er nicht stark genug, das Reich gegen
den Willen Usipopns und seines Anhangs ohne fremden Beistand in Besitz zu
nehmen. Der Erbe Ketschwayos nahm daher im Februar 1884 die ihm von
Lukas Meyer und Jnkobus van Stäben, Bürgern der südafrikanischen Republik,
gemachten Anerbietungen an; darnach versprachen sie ihm, mit einer Schar von
Boers aus dem Bezirke Utrecht im Transvaallande gegen Usipepu zu Hilfe
zu ziehen, wofür er sie mit Gewährung von Grund und Boden in seinem
Reiche .für ihre Dienste belohnen solle. Ein seit 1877 an der Grenze an¬
sässiger Deutscher namens Adolf Schiel sowie der Beamte William Gurt. der
seinerzeit dem Könige Ketschwayo von den Engländern an die Seite gestellt
worden war, dienten bei Abschluß dieses Vertrags als Zeugen. Im Mai 1884
rückten demzufolge 50» Boers aus dem Transvaallande, geführt von Meyer
Van Stäben und Schiel, in das Gebiet der Zulus ein, suchten den Feind auf.
stießen in den Lebombobergen auf ihn, der aus Truppen Usipopus und des
mit ihm verbündeten Häuptlings Ohain bestand, und schlugen ihn in mehr¬
stündiger Schlacht vollständig. Hierauf wurde ihnen gemäß des Vertrages ein
sehr fruchtbarer Landstrich von etwa vier Millionen englischen Ackern (etwa
16 200 Quadratkilometern) im Westen der südafrikanischen Republik gelegen
und die Luciabucht einschließend, vom Könige Dinizulu abgetreten, und Schiel,
den der König zu seinem Bevollmächtigten ernannte, erhielt ebenfalls ein an¬
sehnliches Stück Land zu freier Verfügung. Die Boers nannten das hier er¬
worbene Land „Neue Republik" und wählten Lukas Meyer zum Staatspräsi¬
denten. Die Hauptstadt, der sie den Namen Vryheid, d. h. „Freiheit" zu geben
beschlossen, sollte an einer Stelle in der Nähe des Berges Hlobane erbaut
werden, und nachdem damit ohne Verzug begonnen worden war, wanderten
sofort viele andre Boers ein. Als nun der englische Gouverneur von Natal
Kunde von den Erwerbungen der Boers im Zulnlande erhielt, sandte er das
von Leutnant Moore befehligte Kanonenboot „Goshawk" nach der Luciabucht
und dem benachbarten Port Dnrnfort und ließ am 18. Dezember 1884, „um
jedes Mißverständnis fremder Mächte zu verhüten", in beiden Häfen die britische
Flagge aufziehen. Dies war hinsichtlich der Luciabucht ein rein willkürliches
und widerrechtliches Verfahren, da der im Norden von Port Dnrnfort strömende
Umlatuzifluß von England kurz vorher als Grenze für den britischen Besitz
im reservirten Zulugebiete bezeichnet und anerkannt worden war und jenseits
desselben das unabhängige Zululand begann, wo Dinizulu nach seinem Siege
unbeschränkter Herrscher war. Der Präsident der neuen Republik erließ des¬
halb kurze Zeit nach dem Gewaltakte der Engländer eine Verwahrung und
Erklärung dagegen, die folgenden Wortlaut hatte:
Nachdem die Regierung der Neuen Republik durch einen Brief, datirt vom
18. Dezember 1884 und unterzeichnet W, I. Moore, Kenntnis erhalten but, daß
ein gewisser William John Moore, welcher sich Leutnant und Befehlshaber von
Ihrer Majestät Schiff „Goshawk" nennt, am 18. Dezember 1884 die britische Flagge
an der Küste der Se. Luciabucht gehißt und auf Grund eines Vertrags mit Panda,
dem Oberhaupte und Könige der Zulunation vom 5, Oktober 1843, im Namen
Ihrer Majestät der Königin von England von diesem'Gebiete Besitz ergriffen hat,
in dem sodann laut Erklärung der rechtmäßigen Zuluhäuptlinge ein solcher Vertrag
niemals von genanntem Panda abgeschlossen worden ist, noch er oder sein Nach¬
folger ihre Rechte oder einen Teil derselben jemals an irgend jemand abgetreten
haben, ausgenommen an die zuständige Behörde" der Neuen Republik, nachdem
ferner ich, Lukas Johannes Meyer, Staatspräsident der Neuen Republik, im Namen
des Volkes und der Regierung derselben die Herrschaft der Neuen Republik über
das ganze Land, welches der König der Zulus abgetreten hat, am 16. August 1884
verkündigt habe, und da aus den Berichten der Inspektoren der Neuen Republik
erhellt, daß genannter Teil der Küste der Se. Luciabucht innerhalb der gesetzlichen
und rechtsgiltigen Grenzen der Neuen Republik liegt und rechtmäßiges Eigentum
des Volkes und der Regierung derselben ist, da ferner durch das Vorgehen des
obengenannten W. H. Moore die Rechte und Ansprüche der genannten Regierung
und des Volkes der südafrikanischen Republik ^die hier plötzlich als im Hinter¬
grunde stehend und gleichfalls an der Sache beteiligt angeführt wird) angegriffen
worden sind, so lege ich. Lukas Johannes Meyer, Staatspräsident der Neuen
Republik, auf Anraten und mit Einwilligung des Exekutivrates, im Namen und
Auftrage des Volkes und der Regierung des Gemeinwesens und auf Ersuchen so¬
wie mit Zustimmung Dinizulus und seines Rates >in welchem Schiel die erste
Stelle einnahm) auf das entschiedenste gegen das Verfahren besagten W. I. Moore
Verwahrung ein. Endlich thue ich kund und zu wissen, daß obeugenanntes Gebiet
das recht- und gesetzmäßige Eigentum des Volkes und der Regierung der süd¬
afrikanischen Republik und von diesem Tage an die Se. Luciabucht ein freier
Hafen für alle Nationen ist — keine ausgenommen. Jedermann wird ersucht,
hiervon Kenntnis zu nehmen und sich hiernach zu richten. Gott erhalte Land
und Volk!
Gegeben von meiner Hand in Vryheid, Neue Republik, am 30. April 1835.
Trotzdem hißte am 10. März 1886 das Kanonenboot „Flirt" abermals
die britische Flagge in der Se. Luciabucht auf, und zwar jetzt ohne fremde
Zeugen. Gegen Ende des letzterwähnten Jahres erfolgte dann die An¬
erkennung der Neuen Republik durch die englische Regierung, und gleichzeitig
wurde vereinbart, daß der letzteren der westliche Teil des Zululandes als unter
ihrem Schutze stehend überlassen sein solle, wogegen England das Protektorat
über den östlichen zu übernehmen befugt sei. Die am 14. September 1837
zwischen der Neuen und der südafrikanischen Republik vereinbarte Verschmelzung
dieser beiden Boersstaaten suchte England dadurch zu hintertreiben, daß es
seine Einwilligung zu der Vereinigung nur unter der Bedingung zu erteilen
erklärte, daß die südafrikanische Republik auf jede über das Gebiet der Zulus
auszudehnende Schutzherrschaft Verzicht leiste. Die Regierungen der beiden
Boersstaaten gingen aber hierauf nur für den Fall ein, daß die Zulus eben¬
falls gewillt seien, auf dieses Protektorat zu verzichten. Trotz dieses Vor¬
behalts ist die Vereinigung der Mutterrepublik und der Tochter endlich That¬
sache geworden.
Ganz ähnliche Ereignisse haben sich in der letzten Zeit auch im Swazila-
lande vorbereitet und zum Teil schon vollzogen. Dort sind bereits seit meh¬
reren Jahren Boers aus dem Osten der südafrikanischen Republik eingewandert,
die sich von dem Oberhäuptling oder Könige Umbandine Weideland pachteten.
Als sich jedoch in der Gegend reiche Goldlager fanden, erwirkten sie und hin-
zugekommene englische Goldgräber sich von jenem auf 99 Jahre lautende Kon¬
zessionen zur Ausbeutung dieser Schätze. Den Engländern gelang es nun,
den König der Swazis zur Ernennung des Advokaten Shepstone zum Gold¬
kommissar zu bewegen, und dadurch wurde das Interesse der Boers in diesen
Gegenden so wesentlich gefährdet, daß die Südafrikanische Republik zur Wahrun
derselben eine» Agenten abordnete, der dann u. a. von Umbandine das Recht
zur Anlegung einer Eisenbahn durch dessen Gebiet nach der Seeküste erlangte.
Auch hier also ringen Engländer und Boers mit einander um den politischen
Einfluß, und wenn bei Abschluß des Londoner Vertrags von 1884 die Un¬
abhängigkeit des Swazilandes vereinbart wurde, so haben sich die Verhältnisse
dort jetzt so gestaltet, daß eine Abänderung jener Klausel bald dringende Not¬
wendigkeit werden wird, und gegenwärtig unterliegt es kaum noch einem Zweifel,
daß die Südafrikanische Republik zuletzt den Swazikönig beerben wird.
Inzwischen gelangten auch die Unterhandlungen zwischen der letztern und
der portugiesischen Regierung, die den Bau einer Eisenbahn von der Delagoa-
bucht nach dem Innern bezweckten, zum Abschlüsse, und ein niederländisch-
deutsches Konsortium brachte im Jahre 1837 eine Anleihe zustande, mit der
die von einer englischen Gesellschaft durch das portugiesische Gebiet bis zur
Grenze der südafrikanischen Republik geführte und jetzt vollendete Bahn bis
nach Pretoria weiter gebaut werden soll.
Nach den letzten Nachrichten hat England den Versuch unternommen,
seine Oberherrschaft auch über Matebelelcmd auszudehnen, nachdem gegen Ende
des Jahres 1887 die Beherrscherin des Reiches der Amatonga, mit welcher
Agenten der südafrikanischen Republik bereits über Abtretung der Kasibucht
einig zu werden im Begriffe standen, zum Abschlüsse eines Bündnisses mit
Großbritannien bewogen und Khcmaland unter britischen Schutz gestellt worden
war. Lobengula, der König von Matebeleland schloß auch mit dem von der
englischen Regierung dazu beauftragten ehemaligen Missionar Moffat einen
Vertrag ab, in welchem Lobengula sich verpflichtete, ohne Genehmigung des
britischen Oberkommissars für Südafrika weder Land abzutreten, noch Zugeständ¬
nisse zu machen, womit natürlich den Boers im Transvaallande ein Riegel
vorgesteckt werden sollte. Doch besitzt der in der Hauptstadt des Matebele-
lcmdcs wohnende Konsul der südafrikanischen Republik einen viel älteren Ver¬
trag, der mit dem früheren Oberhäuptling Moselikatse und ebenso mit Lobengula
vereinbart worden ist, sodaß der Mvffats keine Giltigkeit beanspruchen kann.
Es wird ersprießlich sein, wenn wir von Zeit zu Zeit die Blicke nach den
Boersstaaten Südafrikas wenden. Es entwickeln sich dort Dinge, welche die
Engländer in eine üble Lage bringen werden, während wir unter Umständen
erheblichen Vorteil daraus ziehen können.
on den drei Hansestädten erkannte jedoch nur das einzige Lübeck die
Zeichen der Zeit und stellte im November 1868 aus freiem
Entschlüsse den Antrag auf Eintritt in den Zollverein. Nicht
als ob die Lübecker weniger als die Schwesterstädte an den alt¬
hanseatischen Überlieferungen gehangen hätten. Aber man war
M den weiter blickenden Kreisen Lübecks überzeugt, daß durch den Beitritt der
Elbherzogthümer und der beiden Mecklenburg eine weitere Sonderstellung der
Vaterstadt unmöglich geworden sei, daß das Hauptinteresse des indischen Han¬
dels auf den ungehinderten Verkehr nach und von dem Vaterlande gerichtet
sein müsse, daß man auch fernerhin durch die von den Zollvercinsregierungen
bereitwillig zugestandenen Kontirungslager mit geringen Erschwerungen den
Vertrieb fremder Manufakturen nach den Ostseeländern fortsetzen könne, und
daß, wenn selbst einzelne Zweige dieses Zwischenhandels verloren gehen sollten,
wan andre dafür wiedergewinnen würde. Der Erfolg hat solchen Anschauungen
der Lübecker Rathsherren Recht gegeben. Auch die frühern Gegner des Zoll¬
anschlusses sind jetzt bekehrt. Es giebt heute in Lübeck außer einigen wenigen
Persönlichkeiten, die sich damals für die Beibehaltung der Freihafenstellung
verpflichtet hatten und nach deutscher Unart ihre Lehre wie eine religiöse Wahrheit
betrachteten, die jede andre Rücksicht ausschließe, kaum jemand, der mit dem
Anschluß an den Zollverein unzufrieden wäre. Zwar gehen jetzt die franzö¬
sischen Manufakturen auf der Eisenbahn über Berlin nach Rußland, eine Menge
russischer Artikel kommt nicht mehr nach Lübeck, der nordische Weinexport ist
un Schwinden. Dafür hat aber der Lübecker Wein Handel, der vor dem Zoll¬
anschluß auf deutschem Boden seine feste Grenze in Mecklenburg fand, einen
großen Theil des gesammten Deutschlands erobert; der Handel mit skandina¬
vischen Holz und russischem Petroleum hat außerordentlich zugenommen. In
dieser thatkräftigen Bevölkerung fürchtet man nicht einmal den Nord-Ostsee-
Kanal und das unmittelbare Eindringen der Hamburger in die Ostsee. Während
die kühnerem Geister sich dahin versteigen, daß dann auch die Lübecker wieder
direkt fahren würden, trösten sich die bescheidneren damit, daß der Eid-Trave-
Kanal, indem er der Elbe zum zweitenmale eine zweite Mündung nach der
Ostsee schaffe, der Travestadt die Massengüter bringen werde, deren sie für
ihren skandinavischen Handel so dringend bedarf.
Auch in Bremen, dem schon Friedrich Barbarossa die Reichstreue nachrühmte,
gab es stets eine große Anschlußpartei. Zwar stand der Bürgermeister Johann
Smidt von Bremen, als sich in den Jahren 1823 und 1829 der sogenannte
Mitteldeutsche Handelsverein bildete, der lediglich den Zweck verfolgte, die weitere
Ausbreitung des preußischen Zollvereins zu verhindern, mit unter den Leitern
des verfehlten Unternehmens. Triumvhirend wies man in Bremen darauf hin,
daß auch, nachdem am 1. Januar 1854 der hannövcrisch-oldenburgische Steuer¬
verein dem Zollvereine beigetreten, nach einer Selbstschätzung der Bremer Be¬
völkerung deren Vermögen von 80 Millionen Thalern im Jahre 18S4 auf
127 Millionen Thaler im Jahre 1863 gestiegen sei. Aber auf der andern
Seite haben die Bremer Kleinhändler, die Gewerbtreibenden und die Kaufleute,
die den zollvereinsländischen Handel betrieben, niemals aufgehört, den Beitritt
zum Zollverein zu wünschen. Man erlebte sogar das wunderbare Schauspiel,
daß ein Stadtteil von Bremen den Anschluß verlangte, sodaß Bremen dadurch
in zwei Teile zerrissen worden wäre. Wenn jene Wünsche nicht durchgedrungen sind,
so geschah es nur aus dem Grunde, weil auch die Anschlußpartei gewissermaßen
zweiseelig war, weil sie den Rhedern, den Großhändlern, den Großkapitalisten
zugestehen mußte, daß, wenn sich Bremen allein dem Zollverein anschließe, sein
Zwischenhandel ohne Zweifel an das reichere Hamburg übergehen werde.
So wurde denn die hanseatische Frage zur hamburgischen Frage. Aber
obwohl das gute Beispiel Lübecks und das neue Aufblühen desselben im Zoll¬
verein Hamburg über sein eigenes Bestes hätte belehren sollen, so that es doch
nicht das geringste, um seine Verhältnisse zu ordnen und um durch Verhand¬
lungen mit Preußen die Modalitäten des Zollanschlusses festzustellen. Es
lebte weiter, als ob Preußen für alle Zeiten dazu verpflichtet sei, den ganzen
Binnenverkehr von Hamburg bis zur Elbmündung links- und rechtsseitig durch
die peinlichsten Zollmaßregeln zu binden, und als ob die Schleswig-holsteinischen
und hannöverischen Anwohner der Unterelbe dazu bestimmt seien, ihren schönen Fluß
für immer als Deutschlands Grenze, nicht als Deutschlands Strom zu betrachten.
Namentlich nachdem im Jahre 1868 das Zollparlament in Hamburg zu Gaste
gewesen war, und nachdem im Jahre 1871 die Artikel 30 und 31 der nord¬
deutschen Bundesverfassung als Artikel 33 und 34 in die deutsche Reichsver-
fassung übergegangen waren, ward von den hamburgischen Rhedern und Groß-
kaufleutcn unumwunden ausgesprochen, diese zeitweilige Ausnahmestellung sei
ein dauernder Zustand für alle Zukunft. Die Hamburger haben damit nicht
allein dem Vertrauen, das ihnen der konstituirende Reichstag erwiesen hatte,
schlecht entsprochen, sondern sie begingen zugleich, objectiv genommen, eine
schwere Unterlassungssünde gegen die Interessen des Freihandels. Zur Zeit
des norddeutschen Bundes und in den ersten Jahren des Reichs herrschte noch
in Deutschland der Freihandel. Fürst Bismarck sprach sich selbst noch für ein
Finanzzollsystem aus. Die in der Wissenschaft damals zum Gemeinplatz ge¬
wordene Erkenntnis, daß nur eine kleine Minderzahl der Waarenzölle einen
erheblichen Reinertrag bringe, hatte in den Bureaux der Handelsministerien
mehr und mehr Eingang gefunden. Hätten die Hanseaten damals ernsthaft
den Willen gezeigt, in die deutsche Zollgemeinschaft einzutreten, so würden sie
nicht bloß imstande gewesen sein, die bisherige freihändlerische Richtung der
Preußischen Wirthschaftspolitik zu stärken, sondern auch vielleicht eine Verein¬
fachung des Reichszolltarifs herbeizuführen. Statt dessen warteten sie, daß
zuvor die Zollerhebung in Deutschland, wie in England, auf 13 oder 13 Ar¬
tikel beschränkt würde, und ließen die für ihren Anschluß günstige Zeit des deut¬
schen Freihandels ungenützt verstreichen, bis eines Tages die Mehrheit der
Nation sich dahin erklärte, mit ihrem neuen schutzzöllnerischen Zolltarif eine
ehrliche mehrjährige Probe machen zu wollen.
Wenn man nach den Gründen und Ursachen dieses passiven Widerstandes
der Hanseaten fragt, so ist es unmöglich, sie in irgend einer Gleichgiltigkeit
gegen das große Vaterland und in einem Mangel an Nationalsinn zu suchen.
Im Gegenteil, die Hanseaten sind seit der Gründung des norddeutschen Bundes
den politischen Anschauungen ihrer binnenländischen Landsleute ersichtlich näher
getreten; der weltbürgerliche, Staatlose Kaufmannssinn ist mehr und mehr durch
einen kräftigen Nationalstolz verdrängt worden; beide Hansestädte haben, seitdem
sie die hohenzollernsche National-Monarchie haben kennen gelernt, wett¬
eifernd und beinahe eifersüchtig auf einander, ihre Anhänglichkeit an Kaiser und
Reich oft bewiesen. Nirgends mehr als in den Hansestädten ist man froh
darüber, daß die Zeiten für immer vorbei sind, wo die Stellung der Deutschen
im Auslande mehr auf einer wohlwollenden Duldung als auf der Achtung
beruhte, die eine große Nation in Anspruch nehmen darf und muß. Es giebt
keinen Hanseaten, dem nicht die Erinnerung an die blühende Uankeephrase,
die einst der Präsident der Union, Mr. Jackson, dem hanseatischen Agenten
ins Gesicht zu schleudern wagte: „Die Hansestädte sind Hühner, die das Pferd
der Vereinigten Staaten nur aus Mitleid nicht zertritt!" die Zorn und Scham¬
röte in die Wangen triebe. Die einst im konstituirenden Reichstage von einem
hanseatischen Staatsmanne ausgesprochene Befürchtung, daß eine deutsche Kriegs¬
flotte ihren Handel schädigen könne, würde heute kaum noch in den Hansestädten
verstanden werden. Jedes Kind in Hamburg weiß, daß die Hamburgischen
Faktoreien und Plantagen in Afrika und in der Südsee nur durch das ebenso
besonnene, als energische Vorgehen der Reichsregierung vor den zugreifenden
Händen andrer Nationen gerettet werden konnten. Insbesondere unsre mili¬
tärischen Einrichtungen, die den Hanseaten ursprünglich so fremd erscheinen
mußten, als wenn sie heute in England eingeführt würden, haben sich über¬
raschend schnell eingebürgert. Die Stadt Bremen freut sich der Heldenthaten
ihrer Söhne bei Loigny ebenso herzlich, wie es nur in einem altpreußischen
Garnisonstädtchen der Fall sein könnte. Die jungen Patriziersöhne dienen als
Offiziere in den preußischen Reiterregimentern und auf unsern neuen deutschen
Orlogschiffen.
Was die Hanseaten vor allem hinderte, ihre Sonderstellung endgiltig
aufzugeben, war die eigensinnige Schwerfälligkeit, die gerade der große Kauf¬
mann zu zeigen pflegt, wenn ihm eine vollständige Veränderung seines Handels¬
betriebes und seiner Geschäftsformen zugemutet wird. Die Hanseaten lebten
ferner der festen Überzeugung, daß das Binnenland dem hanseatischen Handel
nimmermehr die Gesetze seiner Existenz vorschreiben dürfe, sondern ihn unter
den Bedingungen hinnehmen müsse, wie er sich einmal geschichtlich entwickelt
habe. Obwohl die einflußreichsten Elemente der hanseatischen Bevölkerung ihre
Schule im Auslande und größtenteils in fernen Weltteilen durchzumachen haben,
obwohl die ganze Einwohnerschaft einer Stadt, die so nahe am Meere gelegen
ist, sich in täglichem Wechselverkehr mit der ganzen Erde befindet, verschlossen
sich doch die Hamburger mit sehenden Augen der Einsicht, daß, jemehr alle
Staaten allmählich zu wirtschaftlicher Selbständigkeit zu gelangen suchen, die
Bedeutung des internationalen Zwischenhandels verhältnismäßig sinken muß,
daß der Hamburger Zwischenhandel schon seit drei Jahrzehnten nicht mehr
gleichen Schritt gehalten hat mit dem deutschen Aus- und Einfuhrgeschäfte,
daß für einen Platz, der das natürliche Aus- und Einfuhrorgan eines bedeu¬
tenden, hochkultivirten Hinterlandes ist, umfangreiche, zollfreie Entrepots den
zeitgemäßen Ersatz für den altmodischen Freihafen bilden.
Denn in Wirklichkeit haben nur diejenigen Freihafen, die als isolirte Plätze
des Zwischenhandels ihr Hauptgewerbe möglichst schonen mußten, wie Ormuz,
Se. Thomas, Singapore, Aden, Gibraltar, Helgoland, die Häfen der englisch¬
normannischen Inseln und des Isthmus von Panama ihre Freihafenprivilegien
bis zum heutigen Tage bewahrt. Dagegen haben alle übrigen großen Freihafen
in Europa, nur Hamburg, Bremen und das halbitalienische Trieft aus¬
genommen, auf die Dauer nicht daran festgehalten, sondern sich bemüht, sie
als nachteilig und lästig wieder abzustoßen. Die großen modernen See¬
städte bedürfen statt jenes Ausschlusses und jener Absperrung vom Zoll¬
system des Hinterlandes, die nur noch wie der luous g, non, luvöQäo mit
dem altfränkischen Ausdruck „Freihafen" bezeichnet wird, einer doppelten
wirklichen Freiheit. Sie brauchen vor allem einen völlig freien und un-
belcistigten Verkehr von und nach dem eignen Vaterlande, und zweitens als
Asyl für ihren Zwischenhandel, so groß oder so klein er auch sein mag, zoll¬
freie Entrepots oder Niederlagen. Daher sind kraft einer zwingenden wirt¬
schaftlichen Notwendigkeit nach und nach alle großen Seehäfen mit ihrem
Wohngebiete, mit ihrer konsumirenden und produzirenden Bevölkerung, dem
nationalen Wirthschaftsgebiete angeschlossen worden. Es wäre für einen Eng-
lauter geradezu ein undenkbarer Gedanke, daß die großen Thore des englischen
Welthandels, daß London, Liverpool und Glasgow außerhalb der Zvllordnungen
des Königreichs sich befinden sollten! Und während in Livorno und Genua,
Marseille und Havre, Antwerpen, Amsterdam und Rotterdam, London und
Bristol, New-Aork und Baltimore die gesamte Einwohnerschaft dem Zollinlande
angehört, ist in allen diesen Städten der ehemalige, die gesamte Stadt umfassende
..Freihafen" zu dem hermetisch abgeschlossenen Freihafenbezirk zusammen¬
geschrumpft und nur einzelne Teile der Städte und der Häfen sind als Ausland
außerhalb der Zollgrenze verblieben. In diesen zollfreien Entrepots werden
die vom Auslande kommenden Waren, genau wie in den frühern Freihafen,
als exterritorial betrachtet. Dem Eigentümer derselben bleibt damit sowohl die
sofortige Zollverlegung für diejenigen erspart, die erst später einmal in den
Verbrauch des Binnenlandes übergehen sollen, als auch die leichte Wiederausfuhr
in das Ausland ohne die Lasten und Mißbräuchlichkeiten des Nückzolles er¬
möglicht. In solchen Freilagern kann der Zwischenhändler die eingeführten
Waren nach Belieben für die Wiederausfuhr sortiren, reinigen, aus- und ein¬
packen und veredeln und überdies das darin steckende Kapital durch indossirbare
Lagerscheine im höchsten Grade umlauffähig machen. Indem in diesen großen
Entrepots zu bestimmten Zeiten öffentliche Versteigerungen stattfinden, ist gleich¬
zeitig ein gewisser moderner Ersatz für die mittelalterlichen Stapel und Messen
gefunden. Daß überdies solche Weltmärkte, wie Bremen für Tabak und Hamburg
für Kaffee, nicht unbedingt eines Freihafens bedürfen, beweist mehr als genügend
der Liverpooler Baumwollenmarkt. In allen andern Häfen der Welt werden
durch diesen verständigen Dualismus die gerechten Forderungen deö Zwischen¬
handels sowie des freien Verkehrs mit dem Binnenlande zugleich befriedigt.
In allen andern Ländern ist durch dieses vernünftige System den Hafenstädten
ihr voller Einfluß auf die Wirtschaftspolitik des Vaterlandes gewahrt und
jeder Jntercsscnstreit zwischen Hinterland und Handelsstadt von vornherein un¬
möglich gemacht. Und nicht nur haben in andern Ländern die Kaufleute solche
Entrepots so vorteilhaft gefunden, daß sie nicht selten auch zollfreie Waren
darin lagern, sondern überall, in England, in Frankreich und Nordamerika,
an den Mündungen der Maas, des Rheins und der Scheide, hat sich neben
jenen Freilagern hinter nationalen Zolllinien eine Reihe so blühender Handels¬
plätze entwickelt, daß man mit Recht die Frage aufwerfen darf, ob nicht die
Hansestädte trotz ihres unzweifelhaften Gedeihens relativ in den letzten Jahr¬
zehnten hinter denselben zurückgeblieben sind. Schon zu den parlamentarischen
Verhandlungen von 1867 wurde mit Recht bemerkt, daß sie bei trefflichster
Lage für ein Hinterland mit 40 Millionen Menschen, an den Mündungen des
dicht bevölkerten, gewerbreichen Eid- und Wesergebiets, bei der unvergleichlichen
Thätigkeit ihrer Geschäftswelt, doch kaum 400 000 Einwohner zählten, während
Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen bei einem Hinterkante von 8 Millionen
500,000, London, Liverpool, Glasgow und Dublin bei einem Hinterkante mit
kaum 30 Millionen Menschen deren fast 4 Millionen besaßen. Selbst in der
rührigsten der Hansestädte, in Bremen, hat die Bevölkerung kaum halb so rasch
zugenommen wie in Berlin, und sogar die unvergleichlich ungünstiger gelegenen
preußischen Ostseeplätze sehen ihre Volkszahl weit schneller wachsen. Zwischen
1855 und 1864 hat sich die bremische Bevölkerung nur um 17,5. die aller
größern preußischen Städte um 22 bis 50 Prozent vermehrt. Begreiflich genug,
da die Vorteile der Freizügigkeit und Gewerbefreiheit den Hauptstädten wegen
der trennenden Zollscheidewände nur in geringem Maße zu gute kamen.
In Hamburg und Bremen blieben trotzdem die großen Wohnstätte selbst
dem Vaterlande gegenüber Ausland; nur die Zollvereinsniederlagen, wo die
deutscheu Fabrikanten zollvereinsländische Artikel unter Zollverschluß zu lagern
berechtigt waren, um sie, wenn sich die Voraussetzungen des Exports nicht er¬
füllten, zollfrei ins Binnenland zurückzuführen, gehörten zum Inlande. Und
in unsern beiden großen Seeplätzen fuhren die Wortführer der handelspolitischen
Sonderstellung der Hansestädte fort, die angeblich ganz unerhörte Blüte der¬
selben allein aus ihrer Freihafenstellung herzuleiten. Nur weil sie ihre Frei¬
hafenstellung sich bewahrt hätten, sei das Geschäft mit Nohtabaken aus den
großen Londoner Entrepots nach dem kleinen Bremen, und das mit Cassia
und Kopai aus den Docks von New-Iork nach Hamburg übergegangen. Nur
weil Bremen in seiner Freihafenstellung so unbeengt und unbeschränkt sei, könne
es den ostindischen Neis in Bremen schälen und dann nach demselben Amerika
ausführen, von woher noch vor 30 Jahren aller Reis gekommen sei. Nur so
lange das Hamburger Geschäft in seinem alten Wohnungskörper bleibe, in den
es einmal hineingewachsen sei, und der sich dann seinerseits den Anforderungen
des Handels angelegt und angeschmiegt habe, und solange sich neben jedem
Kondor in jedem Hause und in jeder Straße und an allen Flecken die Speicher
erhöben, sei Hamburg imstande, mit der unvergleichlichen Billigkeit das Aus¬
land mit fremden Waren zu versorgen und seine ungeheure Rolle im Seever¬
kehr aufrecht zu erhalten. Nur solange die Hamburger dank ihrem Freihafen
sich so leicht nach Hamburg fremde Erzeugnisse kommen lassen könnten, ver¬
möchten sie ihre großen Aussendungen nach ihren überseeischen Etablissements
zugleich mit deutschen und fremden Fabrikaten von Hamburg aus zu machen.
Möge immerhin Hamburg an die Größe des Handels von London nicht im
entferntesten hinanreichen, so sei doch London nur ein Weltmarkt in einzelnen
großen Artikeln, die sich in den Entrepots niederlegen und von dort versenden
ließen. Dagegen ziehe es der kleine Großhändler aus dem ganzen Norden vor,
sich in Hamburg zu versorgen, weil er, indem er von einem Speicher zum
andern gehe, nicht einen, sondern alle Artikel kaufen könne. Nur weil es in¬
folge seiner Freihafenstellung neben Hamburg keinen zweiten Ort in der Welt
gebe, wo sie imstande wären, alle Waren, ausländische sowohl wie deutsche,
jederzeit zu erhalten, hätte in Hamburg eine so große Menge ausländischer
Exporteure ihren Wohnsitz genommen. Und dazu sei die Freihafenstellung nicht
minder ein deutsches, als ein hamburgisches und bremisches Interesse. Es sei
auch für den deutschen Konsumenten und Produzenten von der größten Wich¬
tigkeit in möglichster Nähe den bestversehenen und billigsten Markt zu haben.
Da aber derjenige Markt, der den größten Umkreis in dieser Weise zu ver¬
sorgen habe, diese Bedingung am besten erfüllen könne, so könne auch nur das
deutsche Binnenland dabei gewinnen, wenn die Hansestädte nicht nur auf Deutsch¬
land angewiesen wären, sondern womöglich die ganze Welt mit ihren Artikeln
versorgen könnten. Und endlich in demselben Verhältnisse, wie die Hanseaten
gezwungen wären, zu importiren, um ihre große internationale Kundschaft zu
befriedigen, seien sie doch auch wieder gezwungen, zu exportiren, da man doch
mit baarem Gelde seinen Import nicht bezahlen könne. Bei solchem Export
liege es aber auf der flachen Hand, daß die Hansestädte vorzugsweise auf deutsche
Fabrikate angewiesen seien. Mit einem Worte: obwohl die Einfuhr der Hanse¬
städte aus fremden Enterpots einen immer größern Bruchteil ihrer Einfuhr
überhaupt ausmachte, und obwohl die hanseatischen Schiffe im Auslande überall
hinter nationalen Zolllinien oder in zollfreien Docks ohne jede Beschwerde
löschten und luden, so blieben doch die Hamburger und Bremer Exporteure
dabei, daß der hanseatische Handel infolge seiner ganz eigentümlichen Natur nur
bei der Aufrechterhaltung der vollen Freihafenstellung gedeihen könne. Sie
blieben dabei umsomehr, als der neue schutzzöllnerische Zolltarif den althansea¬
tischen Überlieferungen so schnurstracks zuwiderlief, und als die Fanatiker des
absoluten Freihandels sie täglich und eindringlich ernährten, ihre Bollwerke zu
hüten und zu wahren, um von hier aus das in die Irrtümer und Jrrgänge
der Schutzzoll-Politik hineingeratene Deutschland für den Freihandel zurückzu¬
erobern. Sie schlössen ihre Augen absichtlich gegen die unleidliche Erschwerung
des kleinen Verkehrs mit der Nachbarschaft, gegen das Fehlen aller sonst in
den Hafenstädten naturgemäß angesiedelten Industriezweige, gegen die entsittlichen¬
den Folgen des unausrottbaren Schmuggels an ihren Staatsgrenzen. Sie
überhörten geflissentlich, daß die deutsche Nation von Jahr zu Jahr dringlicher
und lauter ihre Einbeziehung in die deutsche Wirtschaftsgemeinschaft verlangte.
Denn ohne Zweifel war es nicht eine gefälschte öffentliche Meinung, er¬
funden von gewissen Interessenten, die in gutem Glauben ihr vermeintliches
Interesse für das Interesse des großen Vaterlandes hielten, und dann von
einer gewissen begeisterten Publizistik, die sich dieser Dinge bemächtigt hatte,
sondern es war die Mehrzahl der Urteilsfähigen und der zum Urteil berech¬
tigten, die bei jeder Gelegenheit, wo es sich um Beratungen des Zollvereins
oder um deutsche Verfassung handelte, dies Verlangen erneuert hat. Als der
nationale Gedanke im Jahre 1848 im Volke Raum gewann, ist die Frage nicht
etwa nur leise berührt worden, sondern sie ist damals fast so brennend gewesen,
wie nur jemals im Jahre 1880. Es gelang damals den Vertretern Hamburgs
nicht, ein so offnes Ohr bei den Vertretern der Reichsgewalt zu finden, eine
so objektive Erwägung der wichtigsten Verhältnisse des Hamburger Handels,
als es in den jüngsten Tagen der Fall gewesen ist, und man ist damals sehr
nahe daran gewesen, der ganzen Freihafenstellung ein gründliches Ende zu be¬
reiten. Nachdem in den fünfziger Jahren infolge des allgemeinen Darnieder-
liegens des politischen Lebens auch die Anschlußfrage in der öffentlichen Be¬
sprechung zurückgetreten war, ist sie dann wieder in den sechziger Jahren seit
der Schleswig-Holsteinischen Bewegung gleichsam zu einer Tagesfrage geworden
und nicht wieder zur Ruhe gekommen. In allen volkswirtschaftlichen Abhand¬
lungen wurden seitdem die Freihafen als eine Regelwidrigkeit behandelt, als
eine Einrichtung, die man sobald als möglich beseitigen müsse. Die Ratschläge
der Zeitungen aller Parteien gingen darauf hinaus, Hamburg möge sich be¬
streben, eine Ausgleichung der Interessen herbeizuführen, eine technische Lösung
für diese Frage zu finden, die den berechtigten Forderungen Deutschlands Genüge
leiste und doch die eignen wirtschaftlichen Interessen ausreichend sicher stellte.
Alle, die aus Hamburger Kreisen an Kongressen und öffentlichen Versamm¬
lungen in Deutschland teilnahmen, mußten übereinstimmend die Ansicht mit
nach Hause bringen, daß es unmöglich sei, den Freihafen in seiner dermaligen
Gestalt zu einer organischen Einrichtung des deutschen Wirtschaftslebens zu
machen, und daß die Mehrheit der deutschen Nation die Freihafenstellung der
Hansestädte niemals, wie es die Hamburger Publizisten forderten, für ein na¬
tionales Bedürfnis erachten würde.
Wenn aber Hamburg seine Pflichten gegen das Vaterland vergaß, so ver¬
gaß sie doch nicht der große Staatsmann, der es sich zur Lebensaufgabe ge¬
macht hatte, die deutsche Einheit zu schmieden. Nachdem er das Reich mit
seinem erhabenen Monarchen in großen Kriegen gegründet, nachdem er es über
die Gefahren übermächtiger Koalitionen hinweggeleitet und mit Osterreich ein
neues Bundesverhältnis herbeigeführt hatte, viel inniger, als es jemals zur Zeit
des Frankfurter Bundestages bestanden hatte, hielt er es für seine patriotische
Pflicht, den Rest seiner Tage dazu zu verwenden, vor allem die bestehenden Neichs-
einrichtungen zu vollenden und zu befestigen. Nicht zuletzt um dem Reiche
dauernder sichere Einnahmequellen zu verschaffen, hatte er seine neue Wirth¬
schaftspolitik begonnen. Um den sozialen Unfrieden imReiche zu bannen, hatte er in
Übereinstimmung mit der Meinung seines kaiserlichen Herrn, daß der deutsche Kaiser,
wie die früheren Könige von Preußen, ein König der Bettler bleiben müsse,
durch seine sozialen Reformen die Mühseligen und Beladenen eingeladen, Ver¬
trauen zu fassen zur deutschen Nationalmonarchie. Nicht unter dem Drucke
einer berechtigten oder unberechtigten, öffentlichen Meinung, sondern in dem
festen Glauben, daß er seine Augen den auf innerm Gebiete erwachsenden Auf¬
gaben nicht mehr verschließen dürfe, daß das Reich und der größte Staat,
Preußen, durch seine Nachsicht eine unvollkommene Ausführung der Reichs¬
gesetze nicht unterstützen dürfe, in der vollen Überzeugung von der Nützlichkeit,
Nothwendigkeit und Unvermeidlichkeit seines Verfahrens, unternahm er es, die
endliche Ausführung des Artikels 33 der Reichsverfassung, die Herstellung eines
einheitlichen Zoll- und Handelsgebietes zu sichern. Im Jahre 1879, also nach
zwölf Jahren vergeblichen Wartens, wandte sich die Reichsregierung an den
Hamburger und Bremer Senat mit der Anfrage, ob sie glaubten, daß in einer
naheliegenden Zeit der Eintritt ihrer Städte in das Zollgebiet zu erwarten
sei. Die Antwort Hamburgs und damit auch Bremens war rundweg ablehnend.
Da war es denn doch wohl an der Zeit, den Gutmütigkeitszugeständnissen ein
Ende zu machen, die man den Hanseaten in der Rechnung gewährt hatte, daß
der Artikel 34 der Verfassung ein Provisorium sei und daß sie freiwillig und
ehrlich dem Reiche mit einem Definitionen entgegenkommen würden, um den
Artikel 33 derselben zur Ausführung zu bringen. Auf die Dauer ward es doch
unerträglich und setzte uns dem Gespött aller Nationen aus, daß ein Reich
mit 45 Millionen Menschen nicht einen einzigen großen Hafenplatz besaß, der
seinen Zollordnungcn bedingungslos unterworfen, dessen Thore seinem Hinter¬
kante zu jeder Zeit geöffnet gewesen wären. Die kleinen Seestädte an der
Ems konnten wegen ihrer Abgelegenheit, wegen der mangelhaften Beschaffen¬
heit ihrer Ankerplätze und wegen der dürftigen Wasserverbindungen nach dem
Innern für die Aufgaben des transatlantischen Verkehrs ebensowenig in
Betracht kommen, als die durch Dänemark abgesperrten Ostseestädte. Die
kleinen Häfen an der Unterelbe und Unterweser waren durch die riesenhafte Über¬
legenheit der Hansestädte zu Zwergen herabgedrückt. Da der natürliche Zollvereins¬
hafen Hamburg-Altona nicht zu heben war, so blieb nichts übrig, als an dem
Platze, der, wenn Hamburg nicht wäre, Hamburg sein würde, wie in dem preußi¬
schen Altona, dessen örtliche und wirtschaftliche Verwachsung der größern
Nachbarstadr außer Zweifel stand, das aber schon 1867 im konstituirenden
norddeutschen Reichstage als Zollvereinshafen gefordert war, einen Hafen für
die nationale Zollgemeinschaft zu schaffen. Nach abermals einem Jahre ver¬
geblichen Wartens beantragte die preußische Negierung beim Bundesrate, die
Stadt Altona und einen Teil der hamburgischen Vorstadt Se. Pauli in die
Zolllinie aufzunehmen.
folgenden Jahrhunderte bis in die Neuzeit sind, wie bei den
meisten Herrschergeschlechtern in Deutschland, auch bei dem Hause
Zähringen ausgefüllt mit Familicnspaltungen, Länderteilungen,
Erbschaftsstreitigkeiten, Fehden unter sich und mit den geistlichen
oder weltlichen Nachbarn, Verträgen der verschiedensten Art u. s. w.
Alle diese verwickelten Vorgänge, die durch Familienbeziehungen und Verhält¬
nisse der mannigfachsten Art herbeigeführt wurden, im einzelnen zu verfolgen,
würde sehr weitläufig sein und könnte nur Interesse haben für einen, der bü¬
bische Spczialgeschichte studiren will, nicht aber für die Leser dieser Blätter.
Die Hauptteilnng in die beiden Linien Baden-Baden und Baden-Durlach,
die allerdings zeitweilig wieder unter sich gespalten waren, trat ein im Jahre
1533. Beide Zweige des Stammes haben einige ausgezeichnete Fürsten her¬
vorgebracht; Markgraf Ludwig (Wilhelm) von Baden führte im Jahre 1683
ein Reichsheer zum Entsatze von Wien heran, das unter dem Oberfeldherrn
Karl von Lothringen glänzenden Anteil an der Befreiung Wiens hatte, und
erwarb dann in den Kriegen gegen die Türken und Franzosen als kaiserlicher
Feldherr großen Ruhm. Georg Friedrich von Baden-Durlach trat in der ersten
Zeit des dreißigjährigen Krieges als Vorkämpfer des Protestantismus auf
und erlitt von Tilly die furchtbare Niederlage bei Wimpfen am Neckar, wo,
der Überlieferung nach, das „weiße Regiment", vierhundert Bürger von Pforz¬
heim, sich für ihren Landesherrn opferten. Die Herrscher, von denen einige
auf längere Zeit aus ihrem Besitze vertrieben wurden, blieben aber ebensowenig
wie ihr Land, verschont von den Leiden, mit denen in frühern Jahrhunderten
unser ganzes Vaterland in fo reichem Maße heimgesucht wurde. Die Spuren
der Gräuel des dreißigjährigen Krieges und der Franzosenverwüstungen in den
Raubkriegen des vierzehnten Ludwig sind in dem gottgesegneten badischen
Lande so zahlreich wie nur irgendwo in Deutschland. Doch vergrößerte sich
der Landbesitz des Hauses Zähringen fortwährend, wenn auch langsam und
nicht erheblich. Früher verpfändete Besitzungen, namentlich das Stammschloß
Zähringen, wurden wieder eingelöst; die Herrschaft Lahr und Malberg, die
Grafschaften Eberstein und Sponheim zum Teil, das Gebiet von Gemmingen,
die Herrschaften Nodemachern, Reichersberg, Herspringen, Bolcheren, Üfel-
dingen im luxemburgischen Gebiete, die feste Stadt Kehl, zeitweilig die Land-
vogtei Ortenau und manche andre kleinere Herrschaften wurden nach und nach
erworben.
Die zum Katholizismus zurückgetretene Linie Baden-Baden starb im Jahre
1771 aus, und ihr tiefverschüttetes Land fiel der evangelischen Linie Baden«
Durlach zu. Markgraf Karl Friedrich, von badischen Geschichtsschreibern wohl
der „große Markgraf" genannt, vereinigte wieder die sämtlichen Besitzungen seines
Hauses. Der von ihm beherrschte Staat (Baden-Baden 35^/,, Durlach 29-/,
Quadratmeilen) umfaßte 65 Quadratmeilen mit einer Bevölkerung von 216000
Einwohnern. Im Jahre 1796 machten die Franzosen einen Einfall in Baden,
und der Markgraf sah sich gezwungen, in einem Sondersrieden seinen Anteil
an der Grafschaft Sponheim, die Herrschaft Rodemachern nebst den übrigen Be¬
sitzungen in Luxemburg und die Stadt Kehl an die französische Republik ab¬
zutreten. Für diese Landesteile, die man auf nahezu 14 Quadratmeilen be¬
rechnete, wurde ihm spätere Entschädigung in Aussicht gestellt.
Diese Entschädigung brachte auch für Baden der Reichsdeputationshaupt-
schluß, und sie fiel sehr reichlich aus, da der Markgraf sich russischen Schutzes
und russischer Fürsprache erfreute, die bei jener Gebietsumwälzung in Deutsch,
land fast ebenso viel wert waren wie die Gunst Frankreichs und seines ersten
Konsuls. Baden erhielt das Hochstift Konstanz, die rechtsrheinischen Gebiete
der Hochstifter Basel, Straßburg und Speier, die pfälzischen Oberämter Laden¬
burg, Breiten, Heidelberg, die bisher nasfauische Herrschaft Lahr, sowie die
früher hessischen Ämter Lichtenau und Wildstädt, die Neichsabteien Schwarzach,
Frauenalb, Allerheiligen, Lichtenthal, Gengenbach, Ettenheim-Münster, Peters¬
hausen, Reichenau, Öhningen, Schultern, Sälen, Oberbein, Salmansweiler,
die ehemaligen freien Reichsstädte Offenburg, Zell samt dem Theile am Hammers¬
bach, Gengenbach, Üeberlingcn, Biberach, Pfüllendorf, Wimpfen. Alle diese
Landesteile zusammen umfaßten 62-/, Quadratmeilen. Das Gebiet des Staates,
das durch die Abtretungen am linken Rheinufer auf 51^/, Quadratmeilen ver¬
kleinert war, wurde hierdurch auf 114 Quadratmeilen gebracht. Der Mark¬
graf erlangte die Kurwürde.
Pfalz-Baden, wie damals das neugeschaffene Kurfürstentum amtlich ge¬
nannt wurde, zerfiel zu jener Zeit in drei Teile: 1. die badische Markgraf¬
schaft, wozu außer altbadischen Landesteilen das Fürstentum Ettenheim. die
Grafschaft Gengenbach, die Herrschaften Lahr und Lichtenau und das baselsche
Amt Schlierigen gehörten; 2. die badische Pfalzgrafschaft bei Rhein, die außer
dem Fürstentum Bruchsal und einigen andern altbadischen Orten die rechts¬
rheinischen Teile der Pfalz und des Bistums Speier umfaßte; 3. das ba¬
dische obere Fürstentum, umfassend das frühere Hochstift Konstanz, die Reichs-
Städte Überlingen, Biberach, Pfullendorf, die Abteien Salmansweiler und Pe-
tershausen.
Gleich Baiern und Württemberg mußte auch das neue Kurfürstentum Pfalz-
Baden zu dem Kriege von 1805, der mit der Anschließung von Mack und
der Waffcnstrcckung von Ulm begann und mit Austerlitz endete, ein Hilfskorps
stellen, wenn auch kein bedeutendes, nur 3000 Mann. Den Gebietszuwachs,
den Napoleons Gnade für die geleisteten Dienste gewährte, berechnete man auf
41 Quadratmeilen, und das war gewiß ein reichlicher Lohn. Baden erhielt von
bisher österreichischen Gebieten den größern Teil des Breisgaues, jenes Landes
das vor Jahrhunderten der Stammbesitz der ältern Linie des Hauses Zäh¬
ringen gewesen war, und die Ortenau, die auch früher schon einmal badisch
gewesen war; dann die vormalige Deutsch-Ordens-Kommende Mairan im und
am Bodensee, jenes liebliche Stück Erde, auf dem Kaiser Wilhelm und seine
Familie so oft und so gern verweilten und verweilen, die freie Reichsstadt Kon¬
stanz, die Herrschaften Blumenfeld und Hagenau. Das Kurfürstentum hatte
damit einen Umfang von 155 Ouadratmeilen erreicht.
Am 12. Juli 1806 trat es dem Rheinbunde bei, und Karl Friedrich, der
den angebotenen Königstitel ablehnte, nannte sich fortan Großherzog, oder nach
der damals beliebten frcmzösirenden Orthographie „Grosherzog". Außer der
unbeschränkten Souveränität, d.h. unbeschränkt seinen Unterthanen, nicht etwa
Napoleon gegenüber, erhielt er eine wahrhaft kaiserliche Belohnung an Land
und Leuten. Die mediatisirten fürstlichen Hänser Fürstenberg, Löwenstein, Lei¬
ningen, die im Reichsdeputativnshauptschlusfe mit pfälzischen, mainzischen und Würz¬
burgischen Gcbietstcilen entschädigt worden waren,'die Fürsten von Salm-Neiffer-
scheid-Bcdburg, Schwarzenberg, Auersperg wurden entweder mit ihren ganzen
Besitzungen oder einem Teile derselben der Hoheit Badens unterworfen; ebenso
ging es sämtlichen Gebieten des zahlreichen Neichsadels in der Ortenau, im
Hcgau, im Kraichgau, im Odenwald u. s. w. Dazu kamen die Grafschaft Bon¬
dorf mit den eingeschlossenen Herrschaften Blumeneck und Heitersheim, die Städte
Tuttlingen, Villingen, Bräunlingen (dafür Biberach an Württemberg) und die
Deutsch-Ordens-Kommenden Beuggen und Freiburg. Diese Gebiete betrugen
zusammen reichlich 93 Quadratmeilen, und das neue Großherzogtum wuchs
damit auf fast 230 Quadratmeilen. Den hierfür zu entrichtenden Blutzoll be¬
zahlte das Land unmittelbar nachher im Kriege gegen Preußen.
Die Gebietsaustauschungen und Grenzberichtigungen, die in den folgenden
Jahren zwischen Baden, Württemberg und Hessen stattfanden, können hier nicht
alle einzeln erwähnt werden. Triberg und Villingen kamen dabei an Baden.
Im Jahre 1808 mußte das schon seit 1805 von den Franzosen als Brücken¬
kopf benutzte Kehl ganz an Frankreich abgetreten werden. Im Kriege von 1809
mußten die Söhne Badens wieder für den unersättlichen Ehrgeiz des Imperators
bluten; die Hekatomben, die jenem Manne geschlachtet wurden, der damals
beinahe an Selbstvergötterung krankte, sollten durch neue Gebietszuweisungen
ausgeglichen werden. Baden erhielt die Landgrafschaft Nellenburg mit Nadolfzell,
den größern Teil des Oberamtes Hornberg mit Se. Georgen, Teile der Ober¬
ämter Tuttlingen, Maulbronn, Giiglingen, des Gebiets von Rottweil, der
Deutsch-Ordens-Kommende Mergentheim, der obern Grafschaft Hohenberg.
Dafür wurden die Ämter Amorbach, Miltenberg, Hünbach-Wertheim, die
Gemeinden Laudenbach und Umpfenbach an Hessen abgetreten.
Der Großherzog Karl Friedrich, unter dessen Regierung sich die eben ge¬
schilderte, großartige Gebictsumgestaltnng vollzogen hatte, starb im Jahre 1811.
Wegen übergroßer Schwäche, die fortwährend zunahm, hatte er bereits
drei Jahre vorher seinen Enkel, den Erbprinzen Karl, zum Mitregenten an¬
genommen. Der Vater dieses Prinzen, der älteste Sohn Karl Friedrichs,
war auf einer Neise in Schweden, in der Nähe von Arboga, verunglückt und
hatte in fernem, fremdem Lande seinen Tod gefunden (1801). Noch schwerer
und drückender als das Leid über den Verlust dieses Thronerben war aber
für den alten Markgrafen der Kummer darüber, daß die Not und der Druck,
unter denen die Bevölkerung feines vergrößerten Landes seufzte, immer schwerer
wurde. Immer von neuem mußte die Jugend des Landes für den Franzosen¬
kaiser zur Schlachtbank geliefert werden, und die Gebeine der badischen Krieger
bleichten auf allen Schlachtfeldern desselben von den dürren, sonnenverbrannten
Sierren Spaniens bis zu den eisigen Wüsteneien Rußlands. Dazu kam die
unaussprechliche Geldbedrängnis des Landes; das Volk erlag unter den un¬
geheuern Steuern, welche die beständigen Kriege Napoleons nötig machten.
Man glaubte damals allgemein, und sicher nicht mit Unrecht, daß der Schmerz
über das Elend seines Landes mehr als sonstige Ursachen zu der Auflösung
der Kräfte des edeln Fürsten beigetragen hätten.
Sein Nachfolger, Großherzog Karl, 1811—1818, hielt, allerdings Wohl
mehr gezwungen, an dem Bündnisse mit Napoleon fest und trat erst nach der
Schlacht bei Leipzig, am 12. November 1813, zu den Verbündeten über. Im
folgenden Jahre fiel ihm das im ersten Pariser Frieden abgetretene Kehl mit
seinem Gebiete zu. Daß Baden erst spät, nachdem die Schlacht bei Belle-
Allicmce den zweiten Befreiungskrieg entschieden hatte, dem deutschen Bunde
beitrat, ist schon früher erwähnt worden. Der Grund hierfür lag wesentlich
darin, daß der Wiener Kongreß sich weigerte, die Unabhängigkeit und die
Integrität des Gebietes von Baden anzuerkennen. Österreich sowohl, wie
namentlich Baiern, machte Anspruch auf jetzt badische Landesteile. Dazu
kam noch, daß die Unsicherheit der Erbfolge das Bestehen des ganzen Staates
in Frage stellte. Dem Großherzog Karl waren allerdings in seiner Ehe mit
der Prinzessin Stephanie von Beauharnais außer drei Töchtern auch zwei
Söhne geboren worden. Beide starben jedoch vor dem Vater. Der unbestrittene
Thronerbe, der Oheim des Großherzogs, der als Ludwig I. von 1818—1830
regierte, war kinderlos. Mit ihm mußte die Nachkommenschaft des Markgrafen
Karl Friedrich aus ebenbürtiger Ehe aussterben. Karl Friedrich war nun in
zweiter Ehe morganatisch mit Louise Karoline, Freiin Geyer von Geyersberg,
vermählt gewesen. Dieser war 1787 der Titel einer Gräfin von Hochberg
verliehen worden. Die Söhne aus dieser Ehe hießen anfangs ebenfalls Grafen
von Hochberg, später Markgrafen von Baden. Ihre Erbfolgefähigkeit war
im Jahre 1806 bei Stiftung des neuen Großherzogtums anerkannt worden,
wurde jedoch jetzt von Baiern bestritten. Der Streit, der mehrere Jahre dauerte,
wurde von beiden Seiten mit großer Bitterkeit geführt. Im Jahre 1818 führte
Großherzog Karl noch kurz vor seinem Tode die Verfassung ein, in welcher die
Unteilbarkeit des Landes ausgesprochen wurde. Im folgenden Jahre wurde
dann die Ebenbürtigkeit und damit die Erbberechtigung der sogenannten Hochberg-
schen Linie von allen Mächten anerkannt; Nußland, dessen Kaiser Alexander
mit einer Schwester des Großherzogs Karl vermählt war, hatte seine gewichtige
Stimme zu Gunsten des Bestandes des Gesamtstaates Baden geltend gemacht.
Die bairischen Ansprüche wurden abgewiesen, und Baiern erhielt, gewissermaßen
als Pflaster auf die Wunde, das früher wertheimsche Amt Steinfeld. Dafür
trat Österreich die Grafschaft Hohen - Geroldseck als Standesherrschaft an
Baden ab.
Damit hatte die Gebietsentwicklung dieses Herzogtums ihren Abschluß
gefunden. Man berechnet seine Größe auf 274 Quadratmeilen, seine Bevölkerung
jetzt auf mehr als 1,600,000 Einwohner. Diese gehören südlich von der Murg
dem allemannischen Stamme an; nördlich davon wohnen rheinfränkische
Pfälzer, und die Bewohner des östlichen Abhanges des Schwarzwaldes sind
Schwaben.
Daß diese bunt und zufällig zusammengewürfelten Gebiete, bei denen
weder von Stammeszusammengchörigkeit, noch von einer gemeinsamen Ge¬
schichte, noch altüberlieferter Anhänglichkeit an ein einheimisches Fürsten-
geschlecht die Rede sein konnte, nicht leicht zu einem organischen Staatsganzen
zusammenwuchsen, bedarf wohl nicht der Erwähnung. An diesem Mißverhältnisse
zwischen altererbtem Besitz und willkürlich damit vereinigten andern Landes¬
teilen lag es offenbar zum großen Teile mit, daß im Jahre 1848 fast das
ganze badische Heer in so schmachvoller Weise seinem Kriegsherrn den geleisteten
Treueid brach. In der Geschichte Deutschlands steht dieser Vorgang ganz
vereinzelt da, und alle sonst angeführten Gründe dafür, z. B. die unmittelbare
und beständige Berührung mit Frankreich und seinen verderblichen Einflüssen
sind für sich allein nicht genügend, einen so unerhörten Treubruch zu erklären.
Mit eiserner Hand stellte der „Prinz von Preußen" Ruhe, Zucht und Ordnung
in dem zerrütteten Lande wieder her.
Seit 18S2 leitet der jetzige Großherzog Friedrich, der anfangs (bis 18S6)
als Pnnzregent seinen ältern, geisteskranken Bruder vertreten hatte, die Geschicke
des Landes. Wenige Wochen, nachdem er im eignen Namen die Negierung
übernommen hatte, vermählte er sich mit der preußischen Prinzessin Louise, der
Tochter des nachmaligen Kaisers Wilhelm. Trotz dieses engen Familienbundes
und trotz seiner persönlichen Hinneigung zu Preußen zwangen ihn der Druck
und die Drohungen Österreichs und der andern süddeutschen Staaten, 1866 an
dem Kriege gegen Preußen teilzunehmen. Nur höchst ungern befolgte er diese
Politik, deren Verderblichkeit für sein eignes Land und für ganz Deutschland
er klar durchschaute. Aber unter einem großen Teile der Bevölkerung Badens,
namentlich der katholischen, herrschte derselbe thörichte und blinde Preußenhaß,
der in fast ganz Süddeutschland alle gesunde Vernunft und ruhige Erwägung
unterdrückt hatte. In Baden hatte das Volk damals eine Art von Stoßgebet,
das für die Preußenangst, die in jener Zeit dem Preußenhasse das Gleichgewicht
hielt, höchst kennzeichnend ist, und das darum der Merkwürdigkeit wegen hier
angeführt werden mag:
Schwarz ist der Teufel, weiß ist der Tod,
Schwvrzweiß der Preuße — behüt' uns, Herrgottl
Aber die Wunden, die jener Krieg, an dem Baden überhaupt wenig Anteil
nahm, schlug, sind längst geheilt und vernarbt; einen Gebietsverlust .hat er
nicht gebracht, nur eine verhältnismüßig geringe Kriegskostenentschädigung mußte
geleistet werden. Alles das ist jetzt vergessen oder halb vergessen. Aber daß
in den Tagen vom 15. bis zum 17. Januar 1871, als unter der Führung
des Generals von Werber am Wasgensteine, in den deutschen Thermopylen,
inmitten von Eis und Schnee jener herrliche Sieg errungen wurde, der Süd¬
deutschland vor unsagbaren Elend bewahrte, daß damals die Krieger Badens
den Kern des kleinen Heeres bildeten, an dessen eherner Festigkeit die heran-
brandenden Wogen einer furchtbaren Übermacht zerschellten, das wird nie ver¬
gessen werden, so lange es eine deutsche Geschichte giebt.
Man hat in der letzten Zeit den Großherzog Friedrich von Baden oft
den guten Genius Deutschlands genannt. Mit Recht! Auch seine Verdienste
bei der Gründung des Reichs und bei dem innern Ausbau desselben werden
nie vergessen werden. Und was er gethan und gewirkt hat in diesem Jahre
der Trauer, um unser Vaterland vor jeder Erschütterung zu bewahren, das
steht noch lebendig in unser aller Geist und Herzen geschrieben. Nicht minderer
Preis gebührt seiner erlauchten Gemahlin, die an Schönheit, Geistesadel und
Hochherzigkeit ihrer unvergeßlichen Großmutter gleicht, deren Namen sie führt.
Nicht als ob sie, wie manche gekrönten Frauen des Auslandes, in die hohe
Politik hätte eingreifen wollen! Nein, ihre Wirksamkeit war immer die einer
deutschen Frau, einer deutschen Fürstin. Wo es galt, Schmerzen zu stillen,
Leiden zu lindern, da war sie stets auf dem Platze. Das deutsche Volk wird
ihr nie vergessen, was sie gethan hat, als ihr greiser Vater im Jahre 1377
von ruchloser Bubenhand schwer verwundet war, noch weniger aber, was sie
gethan hat an den Kranken- und Sterbebetten Kaiser Wilhelms und Kaiser
Friedrichs. Gott erhalte das hohe, edle Paar dem deutschen Vaterlande noch
lange zum Segen!
MO
^HHM
äp,WWn einem frühern Aufsatze „Zur Ästhetik des Häßlichen" habe ich
in diesen Blättern die Thatsache festgestellt, daß sich nach Zolas
Roman 1^ die französische Kritik endlich aufgerafft
und mit seltner Einmütigkeit der litterarischen Gorgo Medusa,
dem maßlosen Naturalismus, das Haupt heruntergeschlagen hat.
Wird sich nun aus dem Blute dieses modernen Schreckbildes ein neube-
schwingter Pegasus erheben? Wird aus der trägen, sinnlich rohen Masse der
flammende Blitz Chrysaor wieder aufsteigen und zündend in die wahren Dichter-
seelcn schlagen? Der alte Mythos ist vielsagend. Das Ungeschlachte, Gemeine,
Widerwärtige muß erst überwältigt und vernichtet werden, ehe sich eine ver¬
jüngte Poesie aus dem unnatürlichen Banne ablösen, sich frei entfalten, frei
wirken kann auf alle Geister.
Allein die Aussicht zu dieser günstigen Wendung in der französischen
Litteratur ist verzweifelt gering. Sagte doch jüngst Jules Lemaltre, einer der
unbefangensten und ein oft noch sehr optimistisch dreinschauender Kritiker: ?onde
1a Akts'riZ.oro LouteMvoraivL sse in<mise>6 se inalg-as. L'sse xartvut sous clss
torinLZ äivsrsss, uns reoliLreliö an rare, an i'iMn6, an bruwl on an xoiAnairt.
nuits Ms, nuUö sörsnits. (luss Vontöinxorg.iri8, Paris, 1888. III, S. 43.)
Und ein anderer richtig denkender Geist, Emile Faguet, urteilt in seinem
gediegenen Werke Iilwäss Uttmairss 8ur 1s äix-ueuviöllie siöols (Paris, 1837.
S. 452) über den ganzen Realismus: „Diese Litteratur liegt in den letzten
Zügen, und die jüngsten Vertreter der französischen Dichtung hängen weder an
Balzac, noch an dessen Erbfolgern. Das darf weder Verwunderung noch Schrecken
erregen. Der Realismus bei uns ist in der That nur eine Ruhe, ein Waffen¬
stillstand, eine Erholungszeit der Phantasienach ihrem heftigen Fieberwahnsinn.
Unsre litterarische Jugend sucht neue Bahnen, auf denen die schöpferische Kraft
in ein freies Feld gelangen kann."
So befinden wir uns denn mit der Litteratur Frankreichs wieder einmal
in einer Ruhepause, in einer unfruchtbaren Brachzeit. Es ist eine eigentüm¬
liche Erscheinung in der Entwicklungsgeschichte der französischen Dichtung: durch
alle Perioden hindurch immer derselbe Wechsel, immer, um ein Bild aus dem
Landleben zu gebrauchen, dieselbe litterarische Dreifelderwirtschaft. Hat man die
Phantasie abgebaut, bis nichts mehr übrig geblieben ist als Gedanken ohne Form,
litterarische Luftspiegelungen und Nebelbilder, so schlägt die Richtung plötzlich um,
und der nüchterne Verstand übernimmt die Produktion; was die Einbildungs¬
kraft nicht mehr zu leisten vermochte, soll nun sinnliche Anschauung und kalte
Berechnung ersetzen. Aber auch auf diesem Felde wird bald abgewirtschaftet
und nichts erreicht als Formen ohne Gedanken, sinnliche Verrohung und geistige
Versumpfung. Je rücksichtsloser die litterarische Ausbeutung betrieben wird,
desso hoffnungsloser die darauf folgende Entkräftung. Dieselbe Erscheinung
charakterisirt auch die französische Litteratur unsers Jahrhunderts: Romantik,
Realismus, Unfruchtbarkeit.
Aber die Naturalisten geben diese Unfruchtbarkeit nicht zu; sie sind ent¬
rüstet über die Anklage, daß sie mit ihrem sinnlosen Drängen nach Natur und
Wahrheit die Dichtkunst gefesselt, oder sie mit ihren Grundsätzen in eine Sack¬
gasse getrieben hätten, ans der nur der Weg durch die Kloaken wieder zum
Sonnenlichte führe. Wer wird auch zugeben, daß er sich verrannt habe! Der
Naturalismus triumphirt ja trotz aller Kritiker, verkappten Romantiker, Idea¬
listen und Symboliker. Er ist der allmächtige Herrscher, nMtrs local xui^ut,
wöng-ut 1s sisols elend II sse 1s sorcküs nisnis. In ihm finden wir, nach Zola,
die aufgespeicherte Kraft des ganzen Jahrhunderts. Der Naturalismus knüpft
wieder an die französischen Überlieferungen des vorigen Jahrhunderts, an Diderot
und Rousseau, er stellt das nationale Band wieder her, das die Romantiker,
diese „Bastarde fremdländischer Litteraturen", zerrissen und verworfen haben;
kurz, er steht da als Markstein der ganzen litterarischen Entwicklung Frankreichs.
Wollt ihr Beweise? Wollt ihr Thatsachen? Statistik, unfehlbare zehnte
Muse, erhebe dich und zeige deine Tafel! Von Z?c>t>-Leni11s gingen in die
Lande mehr als 75000 Exemplare, von (Zsrinwal und Isrrs über 77000,
von I/^ssswmcm' wurden bis jetzt verkauft mehr als 117000 und von Rang,
— wehe! wehe! — über 155000! Ist das Unfruchtbarkeit? Wollt ihr noch
mehr Erfolge, noch mehr Thatsachen, noch mehr Beweise für die Großmacht
des Naturalismus? Ihr Kleingläubigen: <ü'sse l'ötsiuslls nistcms; ein hö Kons,
6t- ein xlkisimts et'adora, xuis ein unit xg.r imitsr. II suW <MS 1s sussss 66-
tsrinins oonrant . . . o'est rin nouvoM Sisel« littsrairs <^ni s'ouvre (Zola,
I^s Re>MÄN öxxörimeQtg,1 S. 128).
Das sind sehr selbstbewußte und hochfahrende Worte; viele litterarische
Wetterfahnen haben sich denn auch schleunigst nach dieser Windrichtung ge¬
dreht, und selbst verständige Männer stehen bewundernd vor diesem Erfolge,
als hätten die Naturalisten das litterarische Rätsel dieses Jahrhunderts gelöst,
als sei Zola der geniale Held der befreienden That, der Prophet des schwe¬
benden Zeitgeistes. Und doch muß man auch hier sagen:
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist.
Zolas buchhändlerische Erfolge übertreffen allerdings bei weitem die der
sogenannten Idealisten, eines Octave Feuillee, Cherbuliez, Theuriet, Claretie;
mit ihm können sich in dieser Beziehung überhaupt nur Alphonse Daudet und
Georges Ohnet messen. Aber Daudet wird, obwohl er sein Bestes Dickens
verdankt, von Zola zu den Naturalisten gerechnet, und der unschuldige Ohnet
wird, wie der vielgelesene Zotenreißer Adolphe Belot, mit Stillschweigen über¬
gangen.
Ist der Erfolg auf schriftstellerischen Gebiete überhaupt jemals eine Bürg¬
schaft für die Wahrheit und Berechtigung einer litterarischen Richtung, für die
geschichtliche Bedeutung eines Dichters gewesen? Es ist wiederholt — beson¬
ders von Brunetiöre in der Rövuo clss ctsux inoväos (16. Februar 1880 und
1. September 1887) — darauf aufmerksam gemacht worden, daß dieselbe Rolle,
in der Zola heut zu Tage mit soviel Würde auftritt, schon im vorigen Jahr¬
hundert von einem ebenso selbstbewußten und lüngstvergessenen Schriftsteller
Restif de la Bretonne gespielt worden sei. Auch dieser einst vielgelesene oon-
teur 5, ig. raoäö wollte, wie Zola, mit seinen Werken nichts geringeres, als
eine Ergänzung zur Naturwissenschaft, zu Buffons Histoirs ng-truMs liefern.
Auch Restif hielt sich den zeitgenössischen Schriftstellern, einem Marmontel und
Louvet, für weit überlegen; und wenn Zola glaubt, durch die Schlagwörter
Beobachtung, Analyse, Experiment eine neue Kunsttheorie begründet zu haben,
so ist er in starkem Irrtum befangen, denn schon Restif arbeitete, oder rich¬
tiger „scharwerkte" nach solcher Methode. Aber dieser Sonderling experimen-
tirte nicht, wie Zola, nur mit Worten, sondern in Wirklichkeit; er schrieb glü¬
hende Liebesbriefe an dieses oder jenes ihm sonst völlig unbekannte Mädchen,
und die Antworten wurden alsdann in den nächsten Roman wörtlich als Be¬
weisstücke der Wahrheit aufgenommen. Er stürzte sich in die wüstesten Aus¬
schweifungen, um an seinem eignen Körper zu „experimentiren." Er gesteht
das offen zu. Er sagt: ^'etais loros als in'instruirs xour vorirs 8ur vor-
winsL uiittiöi'68, se 1'ein vo psut ßtrs partaitöinöllt instruit ein'su tu,i8g,ut, soi-
lliizwö. Das ist denn doch Begeisterung für Natur und Wahrheit. Dagegen
ist Zola der reine MetaPhysiker! Woran will man auch Experimente machen,
wenn man sie nicht an der eignen Person ausführt? Wie kann der Naturalist
nach seinen eignen Theorien z. B. die Gedankenkctten und Gcfühlswirbel eines
Trunkenbolds wahrheitsgetreu schildern, wenn er die Erfahrungen nicht aus
seiner eignen Natur schöpft, d. h. selbst schon ein leidliches Delirium trsraevs
durchgemacht hat?
Mit der LxpErimentÄtion ist es also eitel Spiegelfechterei, und die ovser-
vation, die vielgerühmte Beobachtung, bildet doch oft einen ziemlich faden¬
scheinigen Deckmantel für Geister ohne zeugungsfähige Einbildungskraft und
ohne klare Einsicht in das geistige Schaffen. Ist denn ein Gegenstand, eine
Person, eine Handlung mit der bloßen Beobachtung durch die sinnliche Anschauung
bereits nach jeder Richtung hin erkannt und gewürdigt? Muß nicht jedesmal
der ganze Mechanismus unsers Denkvermögens, Zerlegung, Gegenüberstellung.
Vergleichung, Abstraktion, d. h. ein wechselvolles Spiel unsrer ganzen Phantasie
in Bewegung gesetzt werden, um zu einer klaren Erkenntnis zu gelangen?
spiegelt sich nicht die gesamte Erscheinungswelt in verschiedenen Geistern ver¬
schiedenartig? Wo ist da Natur und Wahrheit? So viel man auch reden
mag, Zolas roro.a,u. et'ovsöivatioll et et'exxvrwisiitMvn ist eine offenbare Un¬
möglichkeit, ein bloßes Hirngespinnst; und seltsam, Zolas Romane beruhen
garnicht auf Beobachtung und Experiment. Sie sind, einer wie der andre, das
Erzeugnis eines kalten, klügelnden Verstandes, der die Fähigkeit besitzt,
gewisse von einer krankhaften Phantasie bereits geschaffene, auch schon von
andern Schriftstellern benutzte sinnliche Reizmittel wirkungsvoll aneinander zu
reihen. Weder seine zum Überdruß ausführlichen und daher zwecklosen Beschrei¬
bungen, deren geschickte Mache man ja anerkennen muß, noch der Stoff und
die Handlung, deren Dürftigkeit oft gähnende Langweile erzeugt, noch die
Sprache, die von abgebrauchter Metaphern, gezierten Vergleichen und roman¬
tischen Umkehrungen, besonders an Theophile Gautier wimmelt, halten das
Interesse bei der großen Masse der Leser rege; nein, die Oasen, die aufgesucht
werden, in denen sich der Lesepöbcl mit Wohlbehagen lagert, das sind doch
nur die Stellen, in denen Szenen geschlechtlicher Ausschweifungen, tierischer
Verirrungen und andrer Gemeinheiten geschildert werden.
Es ist richtig, Zola erzählt keineswegs mit cynischen Lächeln und lüsternen
Andeutungen, sondern ganz sachlich, scheinbar unbewußt und absichtslos mit
der feierlichen Ruhe eines indischen Priesters. Aber gerade hierin liegt das
einzig Originelle an ihm. Was die große Masse in Frankreich dem Schrift¬
steller entgegenbringt, ist immer nur die nervöse Freude an der Mosxliorssocmec:
eis ig, xourriture-, der sogenannte esxril Akmlois, oder, um mit Bischer deut¬
licher zu sprechen, „die alte, keltische Geilheit." Dieses Leitmotiv des Ge-
schechtlich-Sinnlichen hält schon im elften Jahrhundert mit der Ong-rhor An
vo^gM as OdarlemÄAne seinen Einzug in die französische Litteratur und hat
sich auch durch alle Jahrhunderte mit wechselnder Stärke behauptet. „Wir
haben ^- sagt Faquet — einen nichtswürdigen Hang zur brutalen Litteratur.
Wir lieben die Gewaltthätigkeiten, Übertreibungen und Rohheiten in unsern
Schriftstellern, weil wir von Natur die friedlichsten Menschen (?) sind; es
ergötzt uns, Geschichten über wahnsinnige und entsetzliche Leidenschaften zu lesen,
weil wir selbst nur oberflächliche Leidenschaften (!) haben. Ro8 Mtsurs —
fährt er fort — <M non8 oonmÜWSnt exxloitsnt es trg.voi'8 3, tour xroüt.
Kais it ost ^usts ä'g,Mit,6r c^us nous n<z kaisou« g.ux soriv^ius <lui ussut 60
vstto g.ärss8ö, eins ach 8uev68 trof xsu ÄurablLs. (a. a. O. S. 451).
Diese letzte Bemerkung ist sehr richtig. Restif de la Bretonne wird kaum
mehr genannt; sein Roman 1^ xg.78g.iML xervortis ist vielleicht die einzige
Erinnerung an ihn, Bornhak erwähnt ihn in seiner sonst ziemlich ausführlichen
Litteraturgeschichte garnicht einmal.
Auch Zola und seine einseitigen Anhänger wird dasselbe Schicksal treffen,
denn der Naturalismus bildet keinen Abschluß einer „Evolution," sondern nur
eine bedeutungslose Verirrung der litterarischen Entwicklung; er bleibt trotz aller
kunsttheoretischen, kritischen") und naturwissenschaftlichen Bemäntelungen doch
nur eine neue Art von Bohrversuchen auf dem alten, litterarischen Schlammvulkan
gemeiner Sinnlichkeit.
Dieses Urteil wird nicht im geringsten durch Zolas soeben erschienenen
Roman 1,6 Mos geändert; denn entweder hat er diesen unschuldigen „Traum,"
den jeder Backfisch lesen kann, in der raffinirten Absicht geschrieben, den Gaumen
des Lesers für bald nachfolgende kräftigere Erzeugnisse vorzubereiten, oder er
hat diesen Teil der liouZou-NÄvqMrt absichtslos verfaßt und dann mit dieser
mystisch-romantischen Mondscheindichtung seine ganze Kunsttheorie geradezu ver¬
höhnt und verspottet. Zola sagt in seinem Buche 1^68 romimoiöi'3 ug.turg.1i8es8
von der Romantik in wegwerfender Weise: „In jener Zeit verlangten die Leser,
daß man sie aus der Wirklichkeit herauszöge, daß man ihnen Glücksträume
zeigte, die an einem Tage in Erfüllung gingen, Prinzen, die mit Diamanten
in den Taschen incognito umherschlenderten, eine triumphirende Liebe, welche
die Liebenden in eine göttliche Welt des Traumes entführte, kurz, daß man
ihnen alles zeigte, was man sich an Narrheit und Überfluß denken kann —
die ganze goldne Phantasie der Dichter."
Es ist unglaublich: nachdem Zola diese Richtung lächerlich gemacht, schreibt
er selbst nach den verurteilten Rezepten den Roman I-s RZvs.
Angvliqne, die Heldin, ist ein Findelkind. Bei einem rohen Lohgerber in
Beaumont bringt das neunjährige Mädchen traurige Tage zu. Während sich
die saubern Pflegeeltern in der Weihnachtsnacht betrinken und prügeln, verläßt
Angslique heimlich das Haus und eilt ratlos durch die Straßen, bis sie durch
den Schneesturm gezwungen unter dem Se. Agnes-Portal der Kathedrale Schutz
sucht. Hier wird sie am Morgen von der Frau des Stielers Hubert halber¬
froren aufgefunden und in das gegenüberliegende Haus gebracht. Die Huberts
sind kinderlos; sie übernehmen die Pflege der Angslique und bilden sie zu einer
vortrefflichen Stickerin heran. Im übrigen lernt sie nicht mehr als was im
Katechismus steht; die Nähe der Kathedrale mit ihrer Feierlichkeit, ihrem
Weihrauch, ihren Gesängen, die Liebe der Eltern, die Stille des Hauses machen
sie ernst, in sich gekehrt, fromm. Eine religiöse Schwärmerei ergreift sie mehr
und mehr. Es fällt ihr ein altes Buch, 1^ lsg'suas äorss von Jaques de
Vorcigine aus dem Jahre 1549, in die Hände. Nun werden die frommen
Legenden und Wundergeschichten der Heiligen ihre einzige geistige Nahrung.
Sie träumt davon, sie lebt mit ihren Gedanken nur in dieser tragischen und
doch siegreichen Welt des Wunders — g.u xg.,^8 surng-durst as t<mes8 los
ohren8 rsoomxsnssss as toutss Iss MS8 —>, sie will Jungfrau bleiben, denn
vir^inits sse sosur as« gng'S8, xosssssion Ah tout visu, ästsits ein äigdls,
ssi^nouris as toi. Mls äonns 1a Zraos, fils sse invinsMs pertsotion. Angslique
arbeitet an sich; sie will vollkommen sein, wie die heilige Agnes und sich wie
diese vereinigen ü. 8vn ssvoux dig.no se insrvsil!
Da hört sie von dem schönen Sohne des neuen Bischofs Monseigneur
de Hautecoeur, und sofort sagt ihr eine innere Stimme: --Is l'attsnäs se it
visnärg,! Auf ihrem Balkon steht sie nun in der Maiennacht und wartet auf
den Unbekannten Stunden, Tage, Wochen. Endlich sieht sie den Schatten eines
Mannes. Dieser Schatten wird nun ihr süßes Geheimnis. Der Mond erscheint
— sie erkennt den erwarteten Unbekannten: II rs88suo1g.it g.u 8Art AsorZss,
g. An ^S8U8 8uvsrbs, g,?so 8S8 vlisvsux oouolss, 8Ä bgrbs log'SI'S, 8011
NW äroit, An NEU kort, 868 z^sux noir8, ä'uns äousour ng.utg.ins. So hatte
sie ihn erwartet; das Wunder war in Erfüllung gegangen. Der Unbekannte
giebt sich zu erkennen. Er ist angeblich Glasmaler und arbeitet an den
Kirchenfenstern.
Sie kommen nun häufiger zusammen und werden vertraut; der Angslique
fällt beim Wäschespülen ein Kamisol in den Bach. Fslicien, der Gottgesandte,
ist da und rettet es. Sie pflegt die Kranken und hilft den Armen; Fslicien
ist da und thut desgleichen. Er macht Bestellungen bei Hubert, nur um
Angslique zu sehen und zu sprechen. Sie lieben sich, mais un mot ro8eg.it
H airs, sslui on tout g.11g.it 8ö tonärs, 1'attsnts lontgine, ig. ihres orsation
as 1'g.nig.ut, ig. üsvrs Ässrue as8 xrsmisrss rsnvontrs8. Il 8'sobÄvxg. an vol
digne ä'un 0i8SÄU nrMngl montant g.u ^jour agil8 ig. dlgnslisur visi'Ks as ig.
vogznbi-s: ^s vous g-irns. (Ist das die Sprache des Naturalismus?)
Er besucht sie zur Nacht, wie Romeo die Julia, aber sie bleiben keusch
wie die Heiligen. Bei einer Prozession erkennt sie in Munier den Sohn des
Monseigneur; sie eilt in maßloser Aufregung nachts zu ihm und nimmt ihm
das Versprechen ab, sie zu heiraten. Monseigneur erfährt das Verhältnis
seines Sohnes und tritt energisch dazwischen; und selbst vor dem Altar in der
Kirche, wo Angslique den Bischof erwartet und seine Gnade erfleht, ertönt das
Wort: ^gnmis! Munier will mit ihr fliehen, aber ein religiöser Wahnsinn
erfaßt sie, mourir visr^ö, volatg-mes <l<z d1g.nczb.6ur, g,u xrsiniör dö-issr c!s
l'epoux. Dieser fromme Traum erfüllt sich. Angvlique wird totkrank; Mon¬
seigneur erscheint selbst vor ihrem Lager; ein Wunder geschieht an der Heiligen,
sie wird durch seinen Kuß wieder gesund. Ihrem Glücke steht nun nichts mehr
entgegen; mit der größten Feierlichkeit wird die Trauung vollzogen. Kaum hat
aber das Paar die Kirche verlassen und die erste Stufe beschritten, so stirbt
AngÄique mit dem ersten Kusse Mliciens auf den Lippen.
Der geheimnisvolle Roman schließt mit den geheimnisvollen Worten: lug,
vision, venus 6s l'invisidlö, i'6t,ourng,it it l'invisiolö. (!<z n'plait ein'uns axxg.-
r<zuo6 <mi axrös avoir or^ö uns Illusion. ?ont n'sse eins rßvs.
M, g,u formulee an bonnsnr, ^.n^vliMk g-van äisxaru, äg-us 1s xstit soulllv
ä'un baissr.
Wir können nicht umhin, einzugestehen, daß Zola mit I^s KSvs einen
der sittenreinsten Romane aller Litteraturen geschrieben hat, vermögen aber den
Argwohn nicht zu unterdrücken, daß der große Naturalist mit dieser Dichtung
seinen verwöhnten Lesern ein Schnippchen habe schlagen wollen. Alcibiades
hieb seinem vielbewunderten Hunde den Schwanz ab, um neue Verwunderung
zu erregen. Sollte Zola ähnlich gehandelt haben?
Wer sich über die kleinsten Bauteile einer Kathedrale, über die Kunst der
Stickerei und der Glasmalerei, über den Stoff mittelalterlicher Legenden unter¬
richten will, findet in us Revo eine dankenswerte Quelle. Im übrigen wird
Zola mit dieser sentimentalen Erzählung, die, außer den langatmigen Be¬
schreibungen, nichts mehr mit dem Naturalismus gemein hat, manche Enttäu¬
schung erregen, denn wer sich einmal dem Mylittaknltus ergeben hat, von dem
erwartet man schlechterdings nicht mehr, daß er als Prophet jungfräulicher
Entsagung und himmlischer Glückseligkeit auftreten werde. Anderseits war freilich
bei Zola der Schritt von der allegorischen und symbolischen Spielerei, wie sie
besonders in Ilg. I'Amts als 1'g.bös Nourst, in I/^ssominoir und Mna. hervor¬
tritt, zur mystischen Verschrobenheit nicht gar weit.
Der Naturalismus hat seine Rolle ausgespielt. Mit all seiner Aufge¬
regtheit und Maßlosigkeit ist er — geschichtlich betrachtet — nur der letzte
mögliche Rückschlag des materialistischen Geistes gegen die metaphysischen und
rhetorischen Verflüchtigungen der französischen Romantik. Wie sich ohne die
eklektische Philosophie Victor Cousins schwerlich der Positivismus Auguste Comtes
entwickelt hätte, so wäre auch ohne die Romantik kein Naturalismus entstanden.
In ihm haben wir nur den äußersten Grad jener litterarischen Reaktion zu
erkennen, die in der Mitte unsers Jahrhunderts gegen die Romantik hervor¬
brach, und die gewöhnlich mit dem nichtssagenden, aber um so bequemeren
Worte „Realismus" bezeichnet wird.
s ach zwölfjähriger Arbeit ist jetzt endlich ein umfassendes kunst¬
geschichtliches Werk zum Abschluß gekommen, das in der Geschichte
einer Entstehung zugleich die Entwicklung der Kunstwissenschaft
während des gleichen Zeitraumes widerspiegelt*). Als Alfred
Woltmann im Jahre 1875 dieses Werk in Angriff nahm, lag es
in seiner Absicht, einen Ersatz für das in der dritten Auflage durch die un¬
geschickte Mitwirkung eines Dilettanten zu Grunde gerichtete Handbuch von
Franz Kugler zu schaffen. Obwohl sich Woltmann auf verschiedenen Gebieten
der Spezialforschung bewährt und bahnbrechend gewirkt hatte, war doch sein
wissenschaftlicher Standpunkt im allgemeinen von dem Kuglcrs, Schnaases und
Lübkes nicht weit entfernt. Er war in erster Linie Geschichtsschreiber, verlor
eine abgerundete künstlerische Darstellung als eines seiner Hauptziele niemals
aus den Angen und schloß die kritischen Einzelheiten ans dem Nahmen seiner
Darstellung aus, soweit es die Klarheit derselben irgendwie zuließ. Es soll
damit nicht etwa gesagt sein, daß Woltmann zu seiner Zeit nicht auf der Höhe
der Kunstwissenschaft gestanden habe. Der Fortsetzer seines Werkes, Karl Woermann,
hat in den Nachträgen zu den von Woltmann vollendeten Teilen nur selten
Ursache gehabt, eine Meinung seines Vorgängers zu berichtigen oder seine
Darstellung durch wesentliche neue Züge zu erweitern. Aber die zu Woltmanns
Zeiten erreichte Höhe der Kunstwissenschaft scheint nicht die richtige gewesen
zu sein, da die kritische Methode dieser Wissenschaft inzwischen einen andern
Weg eingeschlagen hat. Die Denkmälerkritik und die Urkundenforschung sind
bei den zünftigen Gelehrten so sehr das A und O der kunstwissenschaftlicher
Arbeit geworden, daß die geschichtliche und vollends die ästhetische Betrachtung
darüber fast ganz in den Hintergrund getreten sind. Es wäre müßig, darüber
Betrachtungen anzustellen, wie sich Woltmcinn dieser veränderten Methode seiner
Wissenschaft gegenüber, die an „Akribie" mit der Thätigkeit eines Philologen
wetteifert, verhalten hätte, wenn ihm ein längeres Leben beschieden gewesen
wäre. Doch ist bei der großen Beweglichkeit seines Geistes, bei der Freudig¬
keit, mit der er jeden neuen Gewinn seiner Wissenschaft begrüßte, mit Wahr¬
scheinlichkeit anzunehmen, daß auch er die Berechtigung der neuen Methode
ohne Rückhalt anerkannt und ihre Ergebnisse in sein Werk verarbeitet hätte
Sein Fortsetzer, der mitten im lebendigen Strome der Wissenschaft steht,
war jedenfalls dazu verpflichtet, und so ist unter seinen Händen die „Geschichte
der Malerei" zugleich zu einem Sammelplatze aller in das Gebiet fallenden
Einzelforschungen geworden, ohne daß der Charakter des Buches, das nach dem
Wunsche Woltmanns ebensowohl bei den Fachmännern wie bei dem kunst¬
liebenden Publikum auf Teilnahme rechnet, wesentlich verändert worden wäre.
Als Woltmann am 6. Februar 1880 starb, hatte er seine Arbeit bis zum
Beginn der Geschichte der Malerei des 15. Jahrhunderts in Oberitalien ge¬
fördert. Mit der Charakteristik Mcmtegnas schließt seine Thätigkeit an dem
Werke, dem er seine letzte Kraft gewidmet hatte, ab. Auf seinen Wunsch über¬
nahm Hubert Janitschek die Bearbeitung der beiden folgenden Kapitel, die sich
mit den Schulen von Venedig, Ferrara und Bologna beschäftigen. Was er
beigesteuert hat, sind nur etwa fünfzig Seiten, für die noch einige Vorarbeiten
Woltmanns vorlagen. Alsdann beginnt die Arbeit Woermanns, dem mithin
nicht nur der größte und schwierigste, sondern auch der dankbarste Teil der
noch zu überwältigenden Aufgabe zugefallen war. Woermann war dem Buche
von Anfang an kein Fremder. Seine gründlichen Untersuchungen über die
Geschichte der antiken Malerei hatten Woltmann veranlaßt, ihn zur Bearbeitung
des ersten Teiles, der Malerei im alten Orient, im griechischen und italienischen
Altertum, heranzuziehen, deren Darstellung nach dem Plane Woltmanns in
dem Werke nicht fehlen durfte, sodaß es damit nach dieser Seite hin auch äußerlich
über das Kuglersche hinausging. Woermann trug sich überdies mit dem Ge¬
danken, eine allgemeine Geschichte der Landschaftsmalerei zu schreiben, und zu
diesem Zwecke hatte er über zwei Jahre ausgedehnte Reisen gemacht, auf denen
er alle hervorragenden und bemerkenswerten Kunstsammlungen Europas besucht
hatte. Kurz vor dem Tode Woltmanns hatte er in seinen „Kunst- und Natur¬
skizzen" in großen Zügen ein Bild von dem Umfange seiner Studien gegeben,
und so durfte ihm der Verleger in vollem Vertrauen auf zureichende Kraft die
Fortführung eines Unternehmens übertragen, das schon im Interesse der Wissen¬
schaft kein Torso bleiben durfte.
Bei einem Rückblick auf das nunmehr glücklich vollendete Werk darf nicht
verschwiegen werden, daß die ersten von Woermann bearbeiteten Lieferungen
den Unterschied zwischen seiner und Woltmanns Art so scharf erkennen ließen,
daß die Befürchtung entstand, es würde unter der allzu reichlichen Ausbreitung
der kunstwissenschaftlicher Einzelheiten der von Woltmann vorwiegend betonte
geschichtliche Charakter des Buches verloren gehen und statt einer „Geschichte
der Malerei" eine Aneinanderreihung von Malercharakteristiken nach chrono¬
logischen Gesichtspunkten zu stände kommen. Aber nach dem von Woerman»
auf seinen Reisen gesammelten Studienmaterial war ihm nicht zuzumuten, das?
er sich mit dem wohlfeilen Ruhme, ein lesbares, allgemein verständliches Buch
geschrieben zu haben, begnügen sollte. Hier war einmal die Gelegenheit geboten,
eine Geschichte der Malerei von wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu geben, und
daß Wocrmann mit entschlossener Hand diese Gelegenheit ergriff, ohne sich
ängstlich um den Erfolg des Buches bei der großen Masse der Leser zu
kümmern, kann ihm und dem Verleger, der ans seine Absichten einging, nicht
genug gedankt werden. Wer soviel Ernst und Sammlung besitzt, um sich tiefer
in das Studium der Kunstgeschichte zu versenken, wird an dieser Art kritischer
Behandlung leinen Anstoß nehmen, zumal da der eigentlich wissenschaftliche
Apparat meist in die Anmerkungen verwiesen worden ist und die Geschichts¬
darstellung selbst sich durch jene Klarheit und Faßlichkeit auszeichnet, die dnrch
Schnaase, Kugler und Lübke zur Richtschnur für die Kunstwissenschaft gemacht
worden ist, von der auch das jüngere Geschlecht, in seiner weitaus überwiegenden
Mehrheit, nicht abweicht. Das Märchen vom „Rothwälsch" der Kunstgelehrten
ist nur von Leuten aufgebracht worden, welche die Aufmerksamkeit der urteils¬
losen Menge auf ihre eignen dilettantischen Machwerke lenken wollen, die erst
aus den Vorarbeiten der Kunstgelehrten zusammengeschrieben werden konnten.
Im Vorwort zum zweiten Bande hat Wocrmann nicht nur die Grund¬
sätze bezeichnet, nach denen er verfahren ist, sondern auch eine Art von kunstwissen¬
schaftlichem Glaubensbekenntnis abgelegt. Um sich zunächst mit den verschiedenen
Richtungen der neuern Kunstwissenschaft abzufinden, macht er folgende Bemerkungen:
„Die Bilderkenner, die Urkundenforscher, die Historiker und Ästhetiker haben sich
gelegentlich gelinde befehdet. Man konnte hören, daß die Bilderkenner die Ur¬
kundenforscher „Dokumeutenjäger" nannten, die letztern den erstern die Subjektivität
ihrer Urteile vorwarfen, während die Historiker, welche es für die Hauptaufgabe
der Kunstgeschichte erklärten, den Zusammenhang mit der allgemeinen Welt-
und Kulturgeschichte zu wahren, über den mangelnden historischen Sinn jener
Spezialisten klagten, sich dafür von diesen aber einen Mangel an positiver
Kennerschaft nachsagen lassen mußten, und alle diese gemeinsam mit einer gewissen,
nicht immer von Einseitigkeit freizusprechenden Geringschätzung auf die ästhetische
Richtung innerhalb der Kunstgeschichte herabsahen. Daß die kunstgeschichtliche
Forschung in verschiedene Zweige und Richtungen auseinanderstreben mußte,
erscheint jedoch dem stets anwachsenden Material gegenüber natürlich. .. Anstatt
sich gegenseitig zu befehden oder zu verdächtigen, müssen die verschiedenen
Richtungen einander freundschaftlich in die Hand arbeiten." Eine Gesamtgeschichte
der Malerei hat nach des Verfassers Ansicht die Aufgabe, „die Resultate aller
Spezialforschungcn mit ven allgemeineren Gesichtspunkten zu vereinigen," und
diese Aufgabe zu lösen, ist der Verfasser im Laufe seiner Arbeit stets bemüht
gewesen. Daneben ist aber schon während der Arbeit am zweiten Bande eine
andre Hauptaufgabe mehr und mehr in den Vordergrund getreten, nämlich die
umfassende Berücksichtigung der durch das „vergleichende Vilderstudium" ge¬
wonnenen Resultate. Dieses neue Rüstzeug der kunstwissenschaftlicher Forschung
ist vornehmlich durch den Italiener Morelli, durch W. Vode und durch den
Holländer A. Bredius zu einer so überraschenden Leistungsfähigkeit ausgebildet
worden, daß es für jeden Kunsthistoriker in hohem Grade verlockend ist, jenes
Rüstzeug selbst zu erproben. Woermann gesteht, daß auch er „teils aus
Neigung, teils durch die Gelegenheit, welche seine wiederholten Reisen durch alle
Länder Europas ihm geboten, in das Fahrwasser des vergleichenden Bilder¬
studiums getrieben" worden sei, und daß er aus diesem Studium die Über¬
zeugung gewonnen habe, „daß eine Geschichte der Malerei neben der getreuesten
Benutzung aller Urkundenpublikationen gerade jetzt noch in erster Linie die
Aufgabe habe, die vorhandenen Bilder dem richtigen Meister zuzuleiten."
Es ist nicht zu verkennen, daß Woermann in dem Grade, als seine Arbeit
vorwärts schritt, noch mehr Geschmack an den Früchten des vergleichenden
Bilderstudiums gewann. Etwa von der Mitte des dritten Bandes an, wo die
Charakteristik der niederländischen Schulen des 17. Jahrhunderts anhebt, nimmt
die Verwertung der Urkunden im Verein mit der Bilderkritik, d. h. der Prüfung
des in öffentlichen und privaten Sammlungen vorhandenen Bilderbestandes das
Hauptinteresse des Verfassers, damit aber auch das des Lesers in Anspruch.
Denn der Verfasser besitzt die Kunst, durch eine leichte, man möchte fast sagen
anmutige Art der Behandlung den Leser zur Teilnahme an seinen sorgsamen
Abwägungen des Für und Wider, an seinen stets besonnenen und maßvollen
Auseinandersetzungen mit andersdenkenden Gegnern heranzuziehen. In diesen
Auseinandersetzungen ist der Verfasser das Muster eines Diplomaten der alten
Schule, der niemand brüskirt, aber auch seine eigne Meinung nicht aufgiebt,
sondern sich mit einem feinen, höflichen Lächeln zurückzieht, wenn es ihm nicht
gelingt, seine Widersacher eines bessern oder auch nur eines andern zu über¬
zeugen. Durch dieses diplomatische Geschick Woermanns, der mit unendlichem
Fleiße alle Stimmen gesammelt, gehört und geprüft hat, wird seine „Geschichte
der Malerei," das umfassendste litterarische Denkmal der ersten Periode des
vergleichenden Bilderstudiums in der Kunstwissenschaft, auch ihren Wert behalten,
wenn die ihr zu Grunde gelegte Methode der Untersuchung eine sichere Grundlage
gewonnen haben oder — wer kann es wissen? — als unzuverlässig und trügerisch
widerlegt worden sein wird. Für einzelne Abschnitte in der Geschichte der
Malerei, insbesondere für die spanische des 16. und 17. und für die
holländische des 17. Jahrhunderts, wird Woermanns Werk, was auch kommen
mag, für immer als grundlegend in Geltung bleiben, weil hier zum erstenmale
der breite Strom einer kaum übersehbaren Fülle von Einzelforschungen mit
sicherer Hand bemeistert und abgeklärt worden ist.
Über der Masse der Einzelheiten, die zu sichten und zu einem Gesamt¬
bilde zu vereinigen waren, ist dem Verfasser auch in den letzten Teilen seiner
Arbeit, wo sich die der Beachtung würdigen Erscheinungen in schier endloser
Folge an einander reihten, die Kraft nicht verloren gegangen, gelegentlich durch
einen freien Ausblick frische Luft zu schöpfen und den Geist ganzer Perioden
in einer feinen und sinnvollen Zergliederung darzulegen oder durch ein kräf¬
tiges Wort seinen Standpunkt zu Vergangenem, Gegenwärtigen und Zukünf¬
tigen zu bekennen. Es ist schon früher einmal in diesen Blättern darauf hin¬
gewiesen worden, wie geistvoll der Verfasser in seinen Vorbemerkungen zur Ge¬
schichte der italienischen Malerei in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
den Unterschied zwischen Stil und Manier gekennzeichnet hat, und an ähnlichen,
Wohl überlegten und wohl begründeten Bestimmungen von allgemeiner Giltig-
keit fehlt es auch nicht im weitern Verlaufe des dritten und vierten Bandes,
wo der Gang der Darstellung den Verfasser zu einem kurzen Verweilen nötigt.
Seine Darstellung schließt äußerlich mit dem Ende des 18. Jahrhunderts ab.
Aber ein Hineingreifer in das 19. Jahrhundert oder doch in diejenige Kunst¬
periode, die man nach der bis jetzt üblich gewesenen Einteilung mit der Kunst
des 19. Jahrhunderts eng verknüpft, ließ sich bisweilen nicht umgehen, und
dieser Notwendigkeit verdanken wir einige kunstgeschichtliche Urteile, die bei der
Stellung und dem wohlerworbenen Ansehen Woermanns von hohem Werte sind.
Zum erstenmale wagt es hier ein Gelehrter, dem niemand Beruf oder Be¬
rechtigung bestreiten wird, klar und unumwunden auszusprechen, daß Winckel-
mann die „wissenschaftliche That seiner Geschichte der Kunst des Altertums"
durch den verhängnisvollen Irrtum schädigte, „daß er aus der Betrachtung
der griechischen Kunst nicht die einzig richtige Forderung zog, daß sie unnach¬
ahmlich, weil durch das Anschauen griechischer Natur mit griechischen Augen
bedingt sei, sondern daß er sie ins Deutsche übersetzt oder gar unübersetzt nach¬
geahmt sehen wollte," und dieser verhängnisvolle Irrtum hat einen Abschnitt
der deutschen Kunst verschuldet, den der Geschichtsschreiber, welcher den Fort¬
schritt der Dinge unbefangen beobachtet, trotz des Zetergeschreis einer kleinen
Zahl von fanatischen Kunstgelehrten im günstigsten Falle nicht anders als
einen Stillstand wird nennen können. „Die besten Geister der Zeit, sagt
Woermann weiter über die durch Winckelmann hervorgerufene Bewegung,
schlossen sich auch in Deutschland, ja nirgends mit größerer Beharrlichkeit als
hier, der Forderung des Klassizismus an, die jede nationale, jede selbständige
Kunstregung erstickte und das Schicksal der deutschen Kunst auf ein halbes Jahr¬
hundert und länger besiegelte. An die Stelle des Könnens trat das Wollen.
In keinem Künstler spricht sich dies deutlicher aus, als in dem Schleswiger
Asmus Jacob Carstens (1754—1798), den begeisterte Gelehrte an die Spitze
der neuen deutschen Kunst gestellt und als Bahnbrecher gefeiert haben. Ein
hochbegabter Mensch und ein selbstwollender Künstler war Carstens ohne Zweifel;
für einen wirklich großen Künstler aber könnten wir ihn nur halten, wenn Kunst
nicht Können, sondern Wollen bedeutete."
Es gehört heute immer noch ein gewisses Maß von Unerschrockenst dazu,
init dürren Worten zu erklären, daß die angebliche künstlerische Bedeutung von
Carstens weder in seinen Werken noch in der weitern Entwicklung der deutschen
Kunst eine Begründung findet, sondern daß vielmehr der geschichtlichen Dar¬
stellung der neuern deutschen Kunst von denjenigen Gewalt angethan worden
ist, die Carstens als den Führer einer neuen Epoche gepriesen haben. Eine
gleiche Unbefangenheit zeigt Woermann auch in der Beurteilung von Cornelius
und seiner Schule, die er in den Schlußworten des die deutsche Malerei des
18. Jahrhunderts behandelnden Abschnittes streift. Ein ebensosehr dnrch Na¬
türlichkeit der Auffassung wie durch koloristische Vorzüge ausgezeichnetes Kinder-
bildnis des Malers Chr. Leberecht Vogel (1769—1816) in der Dresdener
Galerie giebt ihm die Veranlassung zu einem Vergleich mit einem in der Nähe
hängenden männlichen Bildnisse von Peter Cornelius. In der „Auffassung
und Technik des letzteren," sagt er, ist sicher kein Fortschritt, sondern „nur
ein gewaltiger Rückschritt" zu erkennen. „Aber es war eben nicht anders, die
Kunst mußte, wie Goethe sagt, „sich erst rückwärts bilden und in den Schooß
der Natur zurückkehren," wenn sie neu geboren werden wollte; sie mußte erst
wieder lallen lernen, ehe sie mit neuen Flcunmenzuugen sprechen konnte; und
was Cornelius und die Seinen, die freilich eben deshalb nur eine Übergangsstufe
bezeichnen, der deutschen Kunst an ihrem technischen Können, ohne welches keine
echte Kunst denkbar ist, genommen haben, das haben sie ihr an dichterischem
Schwunge der Phantasie, an Reinheit und Großartigkeit des Ausdrucks, an
Tiefe der Empfindung und des Gedankens zu ersetzen gesucht. Daß diese letztern
Eigenschaften und die „technischen Qualitäten" einander ausschließen, wie die
einseitigen Idealisten der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wähnten und wie
die einseitigen Realisten der Gegenwart meinen, ist nicht zuzugeben. Die Ge¬
schichte der Malerei widerspricht einer solchen Auffassung. Freilich aber kann
die notwendige Vereinigung einer sich eng an die Natur anschließenden gesunden
und gediegenen Technik mit hoher geistiger Künstlerkraft nicht von außen kommen,
am wenigsten durch die Nachahmung unsrer geschickten Nachbarn; sie muß
aus dem innersten Kern des deutschen Volkswesens heraus neu entstehen; und
ob man dann der großen deutschen Kunst der Zukunft den vielersehnten, durch¬
geistigten „Realismus" oder einen Fleisch und Blut gewordenen „Idealismus"
beimessen wird, kann uns gleichgiltig sein. Gelehrtenstuben- und Künstler-
werkstatts-Schlagworte, welche stetem Wechsel unterworfen sind, thun es nicht."
So haben sich also dem Verfasser aus der Betrachtung der Geschichte der
Malerei aller Zeiten und Völker zwei Grundsätze ergeben, deren allgemeine
Giltigkeit schwerlich zu erschüttern sein wird: erstens, daß ohne technisches
Können keine echte Kunst denkbar ist, was schon in der Etymologie des Wortes
liegt, sodann, daß eine echte Künstlerkraft nicht durch Nachahmung fremder
Kunstfertigkeit herangezogen werden, sondern nur aus dem Kern eines Volks¬
wesens erwachsen kaun, daß also jede echte Kunst auch national sein muß. Das
dritte Merkzeichen wahrer Kunst ist dem Verfasser dann die Natur, und das
Verhältnis zu ihr gilt ihm als Prüfstein für die Begabung eines Künstlers.
»Als wirkliche, echte, ganze Meister, sagt er zum Schlüsse seines Werkes, wird
die Kunstgeschichte doch nur diejenigen Künstler gelten lassen, welche stets in
engster und unmittelbarster Fühlung mit der Natur gestanden haben, welche die
Natur nicht durch die Brille andrer Meister, andrer Zeiten oder andrer Volker,
sondern mit ihren eignen Augen angesehen haben, und welche mit Augen begabt
gewesen sind, die in der Naiur etwas andres, Sehenswürdigeres gesehen haben,
als diejenigen gewöhnlicher Sterblichen. Der Kunstgeschichte ist es dabei ziem¬
lich gleichgültig, ob sie das Neue, was sie gesehen und wiedergegeben haben,
aus der Natur selbst herausgesehen (Realismus) oder, im innigsten Verkehr
mit ihr, in sie hineingesehen haben (Idealismus). Die Nachwelt läßt von
diesen ursprünglich begabten Künstlern jeden in seiner Art gelten, vorausgesetzt,
daß er die erlernbare Technik seiner Kunst nicht hochmütig über die Achseln
angesehen, sondern sich mit eisernem Fleiße zu eigen gemacht hat."
In diesen letzten Sätzen hat der Verfasser zugleich die Prinzipien aus¬
gesprochen, die ihm selbst als Richtschnur gedient haben. Es sind im Wesent¬
lichen die Grundsatze einer vermittelnden historischen Kritik. Man mag sie
anerkennen oder mißbilligen, das eine steht fest, daß sie die Kunstgeschichte
aus dem Gebiete der Vermutungen und der subjektiven Betrachtungen geistreicher
Dilettanten auf den festen Boden der Wissenschaft geführt haben, und unter
diesem Gesichtspunkte ist Woermanns „Geschichte der Malerei" eine wissen¬
schaftliche That, die nicht bloß Lobredner, sondern auch Nacheiferer finden möge.
le liebliche Umgegend von Lecco hat ihren Hauptreiz sehr viel
mehr in den Aussichten auf die Alpenabhänge, die das Thal der
Adda einschließen, und in der Erinnerung an Manzoni, dem die
aus Biederkeit und Schlauheit, Willenskraft und Schmiegsamkeit
gemischte Eigenart der Landleute die hauptsächlichsten Typen seines
Romans eingab, als in den angeblichen Örtlichkeiten, welche die Lokalantiquare
auf das Schloß Don Nodrigos, das Dorf Renzos und die Burg des Unbekannten
zu deuten nicht müde werden. Glücklicherweise thut dabei einer den andern ab,
und Camen wird für die unerträgliche Langeweile, die er seinen Lesern verur¬
sacht, durch Fumagalli bestraft, der als Verfasser eines Führers in die Um¬
gegend der Stadt an Unwissenheit und Albernheit selbst unter seinesgleichen
unerreicht dasteht.
Eine andre Eigentümlichkeit der Gegend sind die merkwürdigen Heiligen,
die sie beherbergt. Wie es Bischöfe in x^rtidus Inlläölinin, außerordentliche
Professoren und Geheime Räte giebt, die niemandem auf Erden etwas zu raten
haben, so scheint es auch Heilige zu geben, die niemand heilig gesprochen hat,
Hausexzcllenzen, denen das Volk in der Umgegend ihres Heiligenscheines den
Namen Santo aus eigner Machtvollkommenheit verleiht.
Zu ihnen gehört San Gerolamo Miami, der eine Kirche und zahlreiche
Kapellen oberhalb von Vercurago, einem Dörfchen des Addathales, etwa fünf
Kilometer südlich von Lecco, sein eigen nennt. Ungefähr hundert Meter über
der Thalsohle liegt die kleine Kirche mit der entzückendsten Aussicht auf Thal
und Bergwände. Kommt man oben an, so läßt der zu dem Heiligtume gehörige
Wirt sein Bocciaspiel einen Augenblick ruhen und fragt, ob man nicht „zu
Ehren des Heiligen" ein Glas Wein trinken wolle — ein Genuß, der nicht
gerade dadurch erhöht wird, daß die Bocciakugeln fortwährend um die Füße
des Ausruhenden herumrollen, von dem furchtbaren, landesüblichen Geschrei,
welches das Spiel begleitet, ganz abzusehen.
Vom Thale bis zur Kirche führt eine Kapellenstraße — wenn man sie so
nennen darf —, ein Marterweg, wie man ihn nicht schlimmer denken kann.
Nur wer eifrig deutsches Kunstgewerbe betrachtet und dessen entsetzliche Lands'
knechte mit ihren wallenden Federn und ähnlichem Zubehör anzusehen gewöhnt
ist, wird diese Kapellen mit ihrem Inhalte ohne Schaden auf sich wirken lassen.
Auf den buntbemalten Hinterwänden der Kapellen heben sich nämlich sogenannte
Skulpturen aus Holz ab, die den Heiligen in verschiedenen Lebenslagen und
Thaten darstellen; sie sind von einem Bergamasker Künstler Namens Carminati
im Jahre 1882 hergestellt worden und ein Muster ungeschminkter, prätensions-
loser Häßlichkeit.
Von der Mitte dieses Weges führt eine steile Bußtreppe mit steinernen
Stufen etwa dreißig Meter in die Höhe, die Neigung dürfte 45 Grad betragen.
Wer diese Treppe auf den Knieen hinaufrutscht, erhält laut einer unten an¬
gebrachten Bekanntmachung Pius des Neunten aus dem Jahre 1372 sieben
Jahre und sieben mal vierzig Tage Ablaß, der auch für die Seelen Verstor¬
bener anwendbar (axxlioMlö) ist.
Ich sah zwei arme Frauen die Treppen hinaufkriechen. Nachher gingen
sie in die Kirche und wandten sich darauf an den Wirt der daneben liegenden
Osterie, um eine Messe lesen zu lassen. Da der Priester nicht zugegen war,
nahm der Wirt die Bestellung an und begab sich dann, mürrisch über die vielen
Unterbrechungen, zu seinen Bocciakugeln und Spielgefährten zurück. Die Frauen
waren längst fortgegangen, als er sich plötzlich an die Stirn schlug und sagte:
„Nun habe ich vergessen, zu fragen, wie sie^ heißen! Für wen soll der Priester
die Messe lesen? Ach was: bezahlt ist sie."
Die Hauptthaten des Heiligen, wie sie die buntbemalten hölzernen Figuren¬
gruppen darstellen, beziehen sich auf eine Thätigkeit sür Erziehung von Waisen¬
kindern, die er aber auch in wunderbarer Weise vor Gefahren schützt: z. B.
verjagt er durch das Zeichen des Kreuzes Wölfe, welche die Kinder fressen
wollen. Wer er aber eigentlich war, darüber wußte weder der seinem Heilig-
thume so nahe stehende Wirt, noch sonst jemand in der Gegend irgend etwas,
und doch war es offenbar ein seiner Zeit sehr bedeutender und interessanter Mann.
Freilich heißt er gar nicht Gerolamo Miami, was nur eine Abkürzung
ist, sondern gehört zu einer alten, wie es scheint, im Anfange des vorigen Jahr¬
hunderts ausgestorbenen, venetianischen Familie Namens Emiliani. Seine
Mutter war eine Morosini. Im Jahre 1481 geboren, wurde er, nachdem er
der Republik in verschiedenen Stellungen gedient hatte, bei der Belagerung von
Ccistelnuovo durch die Truppen Maximilians gefangen genommen, aber in
wunderbarer Weise befreit. Darauf entsagte er der Welt, und widmete sich ganz
der Waisenerziehung. Allmählich fanden sich Genossen zu ihm, bis er im Jahre
1831 in Sommasca, zwischen Mailand und Bergamo, den Orden der Llsrioi
reguläres von Sommasca stiftete, den die Päpste Paul III., Paul IV. und
Pius V. bestätigten. Gestorben ist er im Jahre 1537.
Man sieht, Gerolamo ist ein rein venetianischer Heiliger: in Venedig ge¬
boren, legt er sein Ordenshaus auf venetianischen Gebiete an. Schwerlich
dürste denn auch seine Übersiedelung auf Mailänder Gebiet früher als in un¬
serer Zeit erfolgt sein. Wer ihn aber dahin versetzt hat, wußte mir niemand
zu sagen. Kirche und Kapellen sind modern. Vielleicht ist auch er — in seiner
Mailänder Gestalt — nur ein Geschöpf dunkler Erinnerungen an Manzonische
Charaktere und Vorgänge; denn in einer Kapelle tröstet und begräbt er Pest¬
kranke, die durch den bekannten brianzuolischen Haarschmuck ausdrücklich als
Mailänder bezeichnet sind.
Noch sehr viel genußreicher ist der Besuch des Klosters San Ginnesio.
Die Bergkette, welche die Bricmza im Osten begrenzt, läuft von ihrer höchsten
Erhebung, dem Monte Baro, gegenüber von Lecco, nach Süden, nach der lom¬
bardischen Ebene, in immer niedriger werdenden Erhebungen aus. Die letzte
bedeutende derselben ist der Berg, auf welchem San Ginnesio liegt.
Von Airuno, einer Eisenbahnstation der Linie Lecco-Mailand aus, steigt
man durch dichte Kastanienwaldungen über Aziruno zu der kuppenförmigen
Bergspitze, die etwa 850 Meter über dem Meere liegt. Die krummen Baum¬
wurzeln, die den Erdboden zum Teil festhalten, während er durch die herab-
stürzenden Regengüsse 2c. ausgespült ist, wo ihm diese Verästelung keinen Schutz
gewährt, geben auch der Bodenfläche einen eigentümlichen Charakter, der durch
das Licht- und Schattenspiel der dichten Belaubung einen hohen Reiz erhält.
Wie glücklich ist der Wanderer über den einzigen Baum, dem die italienische
Waldfreveln gestattet, sich ungestört in Wäldern auszubreiten, weil sein uner¬
schöpflicher Reichtum an Früchten nicht zu entbehren ist!
Es war die Zeit der Kastanienernte, und die Wälder waren belebter, als man
wünschen mochte. Denn nicht nur zogen überall Schaaren stangenbewaffneter
Männer und Weiber einher, die eifrig auf die Bäume losschlugen, ohne sich
darum zu kümmern, ob mit den Früchten auch starke Äste herunterfielen —
sondern zahlreiche Jäger knallten auf jeden Vogel los, der sich blicken ließ,
wenn auch herzlich wenige zu sehen waren, da die Volkssitte keine Schonung
kennt, und jedes gefiederte Wesen vogelfrei ist. Oben wurde es stiller, bis
endlich das in tiefster Einsamkeit liegende umfangreiche Kloster erreicht war.
Die Aussicht wird von wenigen Punkten in den Voralpen erreicht. Auf
der einen Seite die unendliche lombardische Ebene mit Mailand und seinem
Dome, auf der andern die Hügel- und Bergketten der Alpen, und endlich in
der Ferne die Schneeberge, welche den Horizont abschließen — kurz ein An¬
blick, der über so manche Unbequemlichkeiten hinweghebt, die das Reisen in
den italienischen Alpen mit sich bringt.
Nicht nur weiß niemand, ob z. B. eine sogenannte Diligence wirklich
noch vorhanden ist, und wann sie abgeht oder ankommt — das sind alte
Leiden, die jeder kennt, der Italien besucht hat; nein, auch die Eisenbahnen
fangen an saumselig und faul zu werden. So wurde am 8. September d. I.
die Bahnstrecke Gravellona-Dono d'Ossola eröffnet, aber noch 14 Tage später
gab es keinen öffentlich bekannt gemachten Fahrplan, und wer die Bahn benutzen
wollte, war auf Hörensagen angewiesen. Zum Ersatz und wie zur Verspottung
wurde auf allen norditalienischen Stationen eine aus Florenz vom 15. Scptbr.
datirte Bekanntmachung angeschlagen, worin ein bis ins Einzelste genauer
Tarif über die Lieferung von Gepäckstücken ins Haus von der Verwaltung der
erwähnten neuen Bahn festgesetzt war.
Von allen solchen Sorgen wissen die acht „reformirten Benediktiner," die
das Kloster bewohnen, nichts. Die Welt unten interessirt sie nicht; nur ein
Ereignis regte sie auf und gab ihnen eine Reihe nicht abreißender Fragen ein:
Ist es wahr, daß der deutsche Kaiser nach Rom kommt? Welchen Weg wird
er nehmen? Geht er über Lecco, und sehen wir unten im Thale seinen Zug
vorbeifahren? Groß war die Enttäuschung, als sie hören mußten, daß dazu
keine Aussicht vorhanden sei.
Italien ist das Land der Überraschungen und des Ungewissen. Ueberall
im Addathale giebt es den schauderhaften Wein, den die Sorglosigkeit der
Weinbauern aus den köstlichen Trauben zu keltern versteht, mit welchem die
Hügel um Lecco bestanden sind. Was konnte man also in einer Höhe gewär¬
tigen, die weit über die Grenze des Weinstocks hinaus liegt? Unwillkürlich
war ein Getränk wie das zu erwarten, das selbst die Eseltreiber auf der
Spitze des Monte Cavo zu verschmähen pflegen. Wie angenehm war die Ent¬
täuschung, als der ehrwürdige Bruder Pförtner eine Flasche einfachen, leichten,
aber vortrefflichen Weines herbeibrachte, der schon durch seine Farbe (es war
ein sogenannter Schleier oder Schiller) verriet, daß er nichts mit dem üblichen
Landesprodukt zu thun hatte. Die Erklärung ist sehr einfach: die klugen
Mönche lassen sich die Trauben von unten heraufbringen und keltern sie selbst.
San Ginnesio leidet an einer Schwierigkeit, die das Gegenteil der Eigen¬
tümlichkeit bildet, die den heiligen Girolamo Miami auszeichnet: man hat
nämlich unter den Heiligen des 25. August — denn dies ist sein Tag und
nicht der 27., wie im Kloster gesagt wird — die Auswahl zwischen einem
Genesius aus Arles, dessen Leben der heilige Paulinus (Bischof von Nola im
Anfange des fünften Jahrhunderts) erzählt hat und einem Römer desselben
Namens. Der Provenyale war Gerichtsschreiber und fühlte die Neigung zum
Christen- und Märthrertum in sich erwachen, als er den Befehl zu einer
grausamen Verfolgung der Christen Protokolliren sollte. Er warf dem Richter
die Wachstafeln vor die Füße, entfloh und wollte sich insgeheim taufen lassen.
Der Priester, den er darum bat, trug wegen des jugendlichen Alters des Bitt¬
stellers Bedenken, ihn zu taufen und erteilte ihm den praktischen Rat, sich
lieber gleich kurzer Hand der Vluttcmfe des Märtyrertums zu unterziehen.
Genesius floh weiter, schwamm durch die Rhone und erlitt, nachdem er in
wunderbarer Weise das jenseitige Ufer erreicht hatte, den Märtyrertod durch das
Schwert.
Sehr viel interessanter ist die Leidensgeschichte des zweiten Genesius. Er
war ein Schauspieler zur Zeit des Diocletian und hatte die „Mysterien" der
Christen genau studirt, um dem Kaiser durch die Nachäffung derselben auf der
Bühne einen Spaß zu machen. Als aber seine Truppe die Darstellung vor¬
nahm, erschien ihm bei der Nachahmung der Taufe ein Engel und bekehrte
ihn, worauf ihn dann der Kaiser lange grausam foltern und endlich hinrichten
ließ. Daß die Mönche im San Ginnesio aus Diocletian Nero machen, braucht
nicht Wunder zu nehmen, da nun einmal Nero zur überlieferungsmäßigen
Personification des gottlosen Cäsarismus geworden ist.
Wenn man im Hinblick auf so manchen Geschichtsforscher, der als Politiker
das Gegenteil von dem bekennt, was er als Geschichtsforscher als das Richtige
hingestellt hat, dem Hegelschen Ausspruch beizupflichten versucht ist, daß die Geschichte
dazu da sei, uns zu lehren, daß die Menschen aus ihr nichts lernen, so bezieht
sich das doch nur auf die Geschichte, die wir uicht selbst mit durchlebt haben. In
dem aber, was wir selbst mit durchlebt haben, wird der Weise sich vom Thoren
eben dadurch unterscheiden, daß er nicht umsonst gesehen und nicht vergebens etwas
erlebt hat.
Schaute von den vielen Stufen
Unsers Pyramidenlebens
Viel umher und nicht vergebens.
So Wie Goethe, wird es vielen der ältern Zeitgenossen heutzutage ergehen,
wenn sie auf die wildbewegten Wogen von 1848 zurückschauen. Ist doch ein
bleibender Gewinn, der aus solcher Rückschau entspringt, schon darin zu sehen,
daß der Mensch, der redlich mit gerungen hat, auch mit dem versöhnt wird, was
errungen wurde. Denn errungen wird immer etwas, wo redlich gerungen worden
ist, und wärs nur das objektive Urteil über das Geschehene. Auch das ist schon
eine große Errungenschaft. Denn es giebt uns ein gesundes Auge für die An¬
schauung der Gegenwart und ihre Bestrebungen. Mit diesem Gewinn ist keine
Arbeit fruchtlos, selbst wenn sie eine Zeit lang ganz unfruchtbar schien; die besten
der nachfolgenden Geschlechter nähren sich von ihr, und es zeigt sich, wie wahr
auch von dieser Seite aus betrachtet das Wort Senecas ist: xsusrosos animos is-dor
rmtrit. So versöhnt auch das Trübe und Traurige, was wir erfahren haben.
Diese Gedanken kamen uus, als wir Wichmanns „Denkwürdigkeiten aus der
Paulskirche" gelesen hatten, ein Buch, das wir um seines objektiven Urteils willen
hochstellen, um so höher, als der Verfasser, obgleich Preuße, doch als Großdeutscher
das Parlament betrat und an sich genug zu bilden hatte, um zu der Einsicht zu
kommen, daß das Ausscheiden Oesterreichs aus dem deutschen Staatsverbande eine
politische Notwendigkeit sei; ein hohenzollernsches Kaisertum und ein deutsches Reich
mit dem Einschluß des deutschen Oesterreich war eine politische Unmöglichkeit von
vornherein. Wenn der Verfasser der „Denkwürdigkeiten" beides anfangs in sein
Programm aufgenommen hatte, so war er doch stark genug, als er den Irrtum
erkannte, auch nach dieser Erkenntnis zu handeln; er fand sich mit dem Ausschluß
Oesterreichs ab und stimmte für das hohenzollernsche Kaisertum. In seinem
Rückblick auf das Parlament ist es nur gerecht, wenn er sagt: „Die Geschichte . . . .
hat die positiven Schöpfungen des Parlaments verurteilt, aber die Wahrheit der
gestaltenden Idee der Einheit Deutschlands anerkannt." Warum aber dieses Parlament
nichts Positives schaffen konnte, das geht aus der Darstellung Wichmauns deutlich
hervor, auch wenn er es nicht sagt: Hunderte von Gesellen schaffen nichts, wenn
der Meister fehlt. Aber auch das ist dein Verfasser der „Denkwürdigkeiten" hoch
anzuschlagen, daß er sich als Katholik soweit seine Freiheit zu wahren gewußt hat,
daß er seiner Konfession, der er „mit Wärme und Achtung zugethan ist," doch
keinen Einfluß auf seine politische Stellung gewährte. Gerade diese Beobachtung
kommt uns heutzutage vor wie ein Blick in eine verschwundene Welt, wenn man
sieht, ein wie häßliches Bild besonders ans katholischer Seite durch den Einfluß
geboten wird, den die Konfession jetzt überall auf die Parteibildung und damit
auf die Politik genommen hat. Freilich hat auch die Milde der konfessionellen
Auffassung ihr Teil zu der unbedingten Freiheit beigetragen, mit der seit dem
Frankfurter Parlament die Kirche „ihre Angelegenheiten selbständig ordnet." Mit
dieser sogenannten selbständigen Ordnung haben wir ein schlimmes Erbe über¬
nommen; es wurde damit dem Herrschaftsgelüste der Kirche freier Spielraum
gegeben. Die Unbefangenheit aber, mit der man 1343 kirchliche Dinge betrachtete
und über sie bestimmte, geht recht deutlich aus den 1200 Petitionen an das
Frankfurter Parlament hervor, die die unbedingte Freiheit der Kirche vom Staate
verlangten und von denen viele das (doch Wohl aus einer Quelle stammende)
Motto an ihrer Spitze trugen:
O daß der Kirche Weihe
Das Recht des Volkes schütze,
O daß der Staat der freie
Des Glaubens Einheit stütze!
Wer hinter dieser naiven Fordrung, daß der Staat des Glaubens Einheit stützen
solle, schon damals gestanden hat, ergiebt sich daraus, daß sie in vielen Pe¬
titionen zugleich erhoben wurde. Es sind dieselben Leute, die heute dem deutschen
Kaiser zumuten, er solle dem Papste Rom wiedergeben. Auf welcher Seite Wichmann
heute steht, kann man aus seinem Buche nicht sehen. Er ist auch darin objektiv,
daß er über die weitere Entwicklung derselben Fragen, die in Frankfurt behandelt
wurden, sein Urteil zurückhält. Er sagt wohl: „Wir müssen bei diesen Debatten
(über die Stellung der Kirche zum Staat) länger schon deshalb verweilen, weil
sie durch den später im deutschen Reiche entstandenen Kulturkampf eine erhöhte
Bedeutung gewonnen haben und sehr viele Gründe und Vorschläge heute noch
zutreffen"; er giebt aber nicht an, welches diese Gründe und Vorschläge sind, die
nach seiner Ansicht noch heute zutreffen, eine Angabe, die uns leicht über den jetzigen
Standpunkt des Verfassers unterrichten würde. Aber das thut dem Buche selbst
keinen Eintrag; im Gegenteil, es erhöht seine Objektivität, daß er nur seinen Stand-
Punkt für die Zeit angiebt, wo er selbst in der Paulskirche mit getagt hat, der
darin besteht, die konfessionellen Fragen überhaupt nicht zu berühren. Schon in seinem
Wahlprogramm stand mit oben an: volle Unabhängigkeit der Kirche! War die
Fordrung einst naiv, heutzutage ist sie gefährlich, wie sie denn auch gerade von
den Ultramontanen und den Freisinnigen in ihrer ganzen Schärfe noch erhoben wird.
Wer von den jetzt Lebenden die Thätigkeit der Versammlung in der Pauls¬
kirche kennen lernen will, der kann das an der Hand dieser „Denkwürdigkeiten"
"uff beste; wer aber die Ereignisse von damals selbst mit erlebt hat, der wird
beim Lesen dieses Buches einen hohen Genuß darin finden,
Weltvcrwirrung zu betrachten,
Herzensirrung zu beachten.
Diesen Band hat Schmoller als eine Festgabe zum 60 jährigen Doktorjubiläum
Wilhelm Roschers zusammengestellt. Der Schüler widmet darin seinem Meister nicht
den bei solchen Anlässen üblichen Panegyrikus, sondern schildert ihn in einer einfachen
Analyse der psychologischenBildungs-undCharakterelemente, die Röscher befähigt haben,
für die weitere Entwicklung der deutschen Nationalökonomie der bahnbrechende Führer
zu werden. Um aber dem Bilde, das Schmoller von dem hochverehrten Meister
entwirft, einen lebendigem Hintergrund zu geben, hat er seine Skizze zum Mittel¬
punkte eines Büchleins gemacht, das ein paar ältere litterargeschichtliche Arbeiten
und einige neuere hie und da veröffentlichte Bücheranzeigen und Schriftsteller¬
charakteristiken seines Faches dem Publikum in teils unveränderter, teils umge¬
arbeiteter Form vorlegt. Die Reihenfolge der behandelten Schriftsteller deutet,
soweit es deutsche sind, den Entwicklungsgang unsers wissenschaftlichen Denkens
von dogmatischer Spekulation zu empirischer Erfassung der Wirklichkeit an. „In
den älteren aber wie in den neueren Schriften, sagt Schmoller, spiegelt sich die
Thatsache ab, daß die Stellung zu den allgemeinen Problemen der Nationalöko¬
nomie abhängig ist von den politischen und philosophischen Ideen, von der Staats¬
und Geschichtsauffassung des Verfassers. Es liegt das teilweise in der Jugend
und Unentwickeltheit unsrer Wissenschaft, teilweise in der Natur der Sache. In
ersterer Beziehung gilt es, die unserm Wissensgebiet eigentümlichen Methoden und
Forschungsweisen weiter auszubilden, in letzterer ist bewußt daran festzuhalten, daß
die Wissenschaft vom ökonomischen Leben sich nie von der Psychologie, der Ethik,
der Geschichte, der Staats- und Gesellschaftslehre und den einschlägigen Hilfsdis¬
ziplinen ganz loslösen soll und kaun."
Die Aufsätze, die Schmoller in dem Bande vereinigt hat, umfassen ein volles
Vierteljahrhundert vou 1863—1338. Sie beginnen mit einer Betrachtung über
Schillers ethischen und kulturgeschichtlichen Standpunkt, dann folgt eine Studie
über Fichte, List, Carey, Lorenz von Stein. Daran schließt sich die Charakteristik
Noschers an. Von dem Gegensatz zwischen Empirismus und Nationalismus aus¬
gehend, giebt Schmoller eine kurze aber treffende Analyse der hauptsächlichsten
Schriften Noschers nicht nur, sondern der gesamten Entwicklung seiner Lehre, wie
sie sich von innen heraus an ihm vollzogen hat. Vor allem werden seine staats¬
wissenschaftlicher Monographien, seine Litteraturgeschichte der Nationalökonomie und
sein „System der Volkswirtschaft" hervorgehoben, die ihn als Schüler der großen
Göttinger Kulturhistoriker kennzeichnen und Wilhelm Scherer zu dem Ausspruch
bewogen haben, daß Röscher für Deutschland die Traditionen der Göttinger kultur¬
historischen Schule gerettet und sie mit modern philologischer Bildung wieder zu
Ehren gebracht habe. Schmoller fügt hinzu: „Röscher ist der echte Nachfolger
Justus Mösers, er ist der universalgebildete Kulturhistoriker unter den National¬
ökonomen." Die trefflich und warm geschriebene Analyse der weitern Schriften
und des Wirkens Noschers schließt mit den Worten: „Röscher hat den polyhisto¬
rischen Zug mit den ältern Göttinger Kulturhistorikern gemein, er hat von Rau
und der ganzen ältern Generation den tiefen Respekt vor Adam Smith, Ricardo
und Malthus übernommen; er ist eine seine, vornehm zurückhaltende Gelehrten¬
natur, die nirgends einstürzen, sondern langsam umbauen will. Er wollte eben¬
sosehr dogmatischer Nationalökonom bleiben, als die Sätze der alten Schule histo¬
risch vertiefen. Er steht zwischen zwei wissenschaftlichen Epochen mitten inne, er schließt
die ältere Zeit ab und eröffnet die neue; er hat mehr als alle andern dafür gethan, die
Nationalökonomie auf das Niveau gelehrter systematischer Facharbeit und historischer
Kausaluntersuchung zu erheben . . . Sein Innerstes ist erfüllt von dem reinsten
Idealismus, von dem Glauben an die großen sittlichen Mächte der Geschichte.
Er kennt zuletzt keinen andern Fortschritt als die moralische Hebung und Uin-
besserung der Menschen. Jeden wirtschaftlichen und technischen Fortschritt mißt er
an seinen Folgen für das geistig-sittliche Leben."
Unter den auf Noscher folgenden Charakteristiken der Neueren seien uur
Schäffle, Henry George und Theodor Hertzka genannt, denen Schmollers strenge
Kritik zwar mit der vollen Schärfe des prinzipiellen Gegensatzes, aber in liebens¬
würdiger Form und mit voller Anerkennung ihres Strebens und Ringens ent¬
gegentritt.
Wenn auch ein Unternehmen, das zum achten Male feinen Gang in die
litterarische Welt antritt, keiner Empfehlung mehr bedarf, so wollen wir es doch
den Lesern dieser Blätter in Erinnerung bringen. Der Kreis derer, die sich für
Geschichte interessiren, ist unendlich groß. Ist es aber schon für den Fachmann
schwer, bei der großen Produktion auf historischem Gebiete alle wichtigern Er¬
scheinungen zu verfolgen, um wieviel mehr wird ein geschichtsliebender Laie dabei
auf Schwierigkeiten stoßen. An der Hand der „Jahresberichte" ist es für jeder¬
mann eine Kleinigkeit, sich über die neuesten Forschungen ans dem Gesamtgebiete
der Geschichte zu unterrichten. Daß die „Jahresberichte", obgleich eine gewisse
Entfremdung zwischen den verschiedenen Gebieten der Geschichtswissenschaft ein¬
getreten ist, gerade deren Zusammengehörigkeit betonen, sichert ihnen einen blei¬
benden Wert, macht sie namentlich den Lehrern der Geschichte unentbehrlich, die
fern von den Zentren des wissenschaftlichen Lebens ihren Wirkungskreis haben.
Da auch ausländische Gelehrte an den „Jahresberichten" in hervorragender Weise
beteiligt sind, kann das Unternehmen, dem sogar in Frankreich große Teilnahme
entgegengebracht wird, als ein internationales gelten. Die äußere Ausstattung des
umfangreichen Bandes macht der Verlagshandlung alle Ehre.
Es war ein glücklicher, aber auch naheliegender Gedanke, eine Anzahl hoch¬
bedeutende und höchst anregende Abhandlungen Rankes (zur Kritik fränkisch-deutscher
Reichsannalisten, zur Geschichte der italienischen Poesie, zur Geschichte der italienischen
Kunst, die biographischen Skizzen über Friedrich den Großen und Friedrich Wil¬
helm IV.), die bisher in der Gesamtausgabe seiner Werke vermißt wurden, überdies
in Zeitschriften und Sammelwerken zerstreut waren, unter dem Titel „Abhandlungen
und Versuche" ähnlich der den 24. Band der Werke bildenden Sammlung zu¬
sammenzufassen und der Gesamtausgabe der Schriften Rankes einzuverleiben.
Ob es ein ebenso glücklicher Gedanke gewesen ist, diese Sammlung mit drei bisher
unbekannten Aufsätzen (die Fluthsage, die Tragödien Seneeas, Paulus Diaconus),
die ursprünglich für die Weltgeschichte bestimmt, aber von Ranke zurückgelegt
worden waren, zu eröffnen, möchte man bezweifeln. Wir wissen zwar aus Rankes
eignem Munde, daß er diesen Aufsätzen eine Stelle in den „Gesammelten Werken"
anweisen wollte, doch hatte er die Absicht, sie noch einer letzten Redaktion zu unter¬
ziehen. Es geht einem nun mit diesen Aufsätzen ebenso wie mit der Fortsetzung
der Weltgeschichte: man kann sich nicht dafür begeistern. Ranke hat so viele vor¬
treffliche Werke geschrieben, daß es wirklich nicht nötig ist, aus seinem Nachlasse
allerhand unfertige Arbeiten hervorzuziehen oder ein Werk wie die Weltgeschichte
nach Kollegienheften fortzuführen; selbst der feinsinnigste, in Rankes Arbeitsweise und
Denkn eingelebteste Herausgeber wird nie imstande sein etwas wirklich Rankisches
zu schaffen. Wir können in der Herausgabe dieser Aufsähe, wie in der Fortführung
der Weltgeschichte nichts andres erblicken als ein von den Erben Rankes eingegebenes
buchhändlcrisches Unternehmen, von dem keine Förderung von Rankes Ruhme zu
erwarten ist. Wie muß es jeden Verehrer des großen Geschichtsforschers peinlich
berühren, wenn er in dem vorliegenden Bande S. 4 (Fluthsage) folgenden Sah
zu lesen bekommt: „Die Erzählung gehört in den Sagenkreis des babylonischen
Heros Jzdubar, der nach mancherlei Thaten, bei denen man an Nimrod erinnert
wird, von einer schweren Krankheit ergiffen, den letzten Götterkönig, von dem er
selbst abstammt, der aber zu den Göttern entrückt ist, aufsucht, um zu erfahren,
wie derselbe zu der Unsterblichkeit gelangt sei, deren er sich erfreut." Oder S. 22
(die Tragödien Senecas): „Höchst auffallend ist es doch, daß ein junger Tarentiner,
der früh als Kriegsgefangener nach Rom gekommen, dann aber von seinem Ge¬
bieter freigelassen worden war, es gewesen ist, welcher den circensischen Spielen
dadurch eine neue Bedeutung gab, daß er, wie ja auch in Tarent szenische Spiele
die öffentlichen Festlichkeiten begleitet hatten, jetzt in Rom vor den Bildern der
kapitolinischen Götter den Versuch machte, griechische Tragödien in einfachster Weise,
jedoch in lateinischer Sprache zur Aufführung zu bringen."
Außer den bereits angeführten Abhandlungen und einigen weniger wichtigen
erhalten wir in dem vorliegenden Bande noch sämtliche Reden, die Ranke vor der
historischen Kommission der königlichen Akademie der Wissenschaften zu München
gehalten hat; in den meisten derselben sind Ansichten über die wissenschaftliche
Thätigkeit damals gestorbener Historiker (z. B, Gewinns, Maurer, stallr, Böhme,
Wackernagel) niedergelegt. In der Vorrede erfüllt der Herausgeber Alfred Dove
nur eine Ehrenpflicht, wenn er dem Verdienste Th. Wiedemanns um Ranke und
dessen wissenschaftliche Arbeiten einige freundliche Worte widmet. Daß er damit
dem Manne, welcher über 16 Jahre all seine Kraft und sein immenses Wissen
unter Verzicht auf jede selbständige Arbeit in die Dienste Rankes gestellt hat,
völlig gerecht geworden sei, werden Eingeweihte wohl nicht behaupten.
Es ist zur Genüge bekannt, daß es eine öffentliche Meinung in Deutschland
auch schon zu einer Zeit gegeben hat, wo Zeitungen noch nicht oder doch nur in
geringer Zahl und Verbreitung vorhanden waren und daher an eine täglich zwei¬
malige Beeinflussung des Publikums durch die Tagespresse noch nicht gedacht werden
konnte. Die „öffentliche Meinung" hat sich zu allen Zeiten der Formen bedient,
die durch Gesetz, Volkssitte und Landesbrauch gegeben waren, und die jeweilig
vorhandenen technischen Mittel stellten sich stets sehr bald in ihren Dienst. Dies
ist auch mit der Buchdruckerkunst der Fall gewesen, sobald sie sich aus ihren ersten
Anfängen herausgearbeitet und namentlich nach der Reformation und durch diese
weithin Verbreitung gefunden hatte. Je weniger damals Zeitungen das öffentliche
Empfinden zum Ausdruck brachten, um so zahlreicher und wirksamer waren die
Flugschriften. Der ziemlich umfangreichen Flugschriftenlitteratur des 17. Jahrhun¬
derts hat erst in neuester Zeit die Aufmerksamkeit der Forscher sich zugewandt,
und einen wertvollen Beitrag zu diesem Gebiete stellt die vorliegende Schrift
Zwiedinecks dar. Der Verfasser konnte — aus äußern Gründen — nur die
Bibliotheken von München und Dresden zu seiner Arbeit benutzen, die kaiser-
liebe Hofbibliothek in Wien versagte sich ihm, für Berlin, Göttingen, Wolfenbüttel,
wo eine große Zahl von Flugschriften angesammelt ist, fehlte ihm die Zeit. Den¬
noch sind es nahezu 400 Schriften, mit deren Titel wir bekannt werden; aus
einer Anzahl der bedeutsamsten sind Auszüge gegeben. Mit Recht hebt der Ver¬
fasser hervor, daß die stark ausgeprägte nationale Gesinnung, die man in jenen
Tagen der Reichskümmernis nicht vermutet hätte, dieser Flugschriftenlitteratnr
ihren besondern Wert verleiht. Es geht daraus hervor, daß die Deutschen des
17. Jahrhunderts des Patriotismus, dessen wir uns in unsern Tagen erfreuen,
durchaus nicht entbehrten und ungeachtet alles Elends, das der dreißigjährige Krieg
über unser Volk verhängt hatte, der nationalen Ziele sowenig wie der nationalen
Gesinnung verlustig gegangen waren. Daher die mancherlei Vorschläge zur Ver¬
besserung der Reichsverfassung, zu einer die Entwicklung der staatlichen Kräfte er¬
möglichenden Organisation. In zornigen Worten brauste der gerechte Unwille über
die Herrschaft Frankreichs, über dessen Bereicherung auf Kosten Deutschlands auf,
man sträubte sich vor dem Gedanken, daß das Uebergewicht Frankreichs im Wesen
der Franzosen und in ihrer wahren Kraft begründet sein sollte. Man rief und
verlangte nach einem Führer, der die im deutscheu Volke schlummernde Kraft zu
wecken und zu leiten verstünde, der Kcnscrglcmbe tritt uns noch in seiner ganzen
Stärke megen. Die Jahre 1650 bis 1700 umfassen die erste Glanzperiode des
französischen Hochmuts, und es wird immer ein tröstlicher Gedanke bleiben, daß
weite Kreise unsers Volkes sich jenem nur mit bitterm Zorne und im Bewußtsein
der reichen, aber leider unbenutzt gebliebenen Kraft Deutschlands gebeugt haben. Daß
diese Kenntnis mehr und mehr in das Volksbewußtsein auch unsrer Tage übergeht,
ist ein Verdienst der mühsamen Arbeit, die für unsre Dichtung und Geschichts¬
schreibung so lehrreiche Augenblicksbilder aus dem Geistesleben der deutschen Ver¬
gangenheit entrollt.
Diese kleinen Abhandlungen — „Zur Erziehung des Geschmacks," „Charakter,
Typen, Karikatur und Schablone," „Die Phantasie im Leben und in der Kunst,"
„Die Phantasie als Bildnerin des Charakters," „Kunst und Moral," „Keuschheit
und Prüderie," „Bühne und Sittlichkeit," „Die Frauen in der Kunst," „Die Kleidung
und die Aesthetik," „Noch einmal Fr. Bischer und die Mode," „Die Lebensformen,"
„Charakter und Menschenkenntnis," „Charakter und Talent," „Selbstachtung und
Selbstliebe," „Hinter den Kulissen," „Die ästhetische Tapete," „Der Dialog im
Leben und in der Kunst," „Ueber Satire," „Die Reihenfolge der Künste," „Die
Hauptrichtungen der modernen Darstellungskunst," „Die Schwierigkeit des Kunst¬
urteils," „Die Genremalerei," „Das Porträt," „Zwei Madonnen" — behandeln,
wie schon die Ueberschriften zeigen, wenn nicht durchaus, so doch meist sehr wichtige
Fragen, deren richtige Beantwortung namentlich für die weibliche Erziehung von
Bedeutung ist. Man wird auch dem warmherzigen und das Beste bezweckenden
Verfasser gern einräumen, daß ihnen gemeinsame Gedanken zu Grunde liegen,
daß sie in denselben ästhetischen und moralischen Anschauungen wurzeln, daß sie
aus Liebe zu den erusten Zielen der echtmenschlichen Erziehung, in welcher der
Frau eine so große Macht gegeben ist, hervorgegangen sind. Und man darf sich
aufrichtig freuen, daß so schlicht-ernste, zur modischen Richtung in entschiednen
Widerspruch tretende, gewisse moderne Lügen und Schwindelneigungen rückhaltlos
bekämpfende Erörterungen genug Beifall beim Publikum gefunden haben, für das
sie bestimmt sind, um eine vierte Auflage zu ermöglichen. Leixner vertritt in
Leben und Kunst ideale Ansprüche, und so wenig er ein Puritaner oder grämlicher
Moralist ist, so zürnend erhebt er sich gegen die verderblichen Verirrungen der modernen
Phantasie, der modernen Erziehung, gegen den vorwaltenden Zug zum Ueppigen
und Lüsternen, gegen den rohen Egoismus, so fest behauptet er die Bedeutung
des Ethischen in Leben und Kunst. Wenn etwas gegen die Betrachtungen des
Verfassers einzuwenden wäre, so würde es der Optimismus sein, mit dem Leixner
die Ueberwindung gewisser Dämonen der Zeit als verhältnismäßig leichten Kampf
auffaßt und darstellt. Nein, diese Dämonen gleichen nicht nur Tigern und Schlangen,
sie sind die Drachen der Fabel, deren Atem die ganze umgebende Atmosphäre
erfüllt. Und der Kampf wider sie wird die ernsteste und härteste Lebensarbeit
ganzer Geschlechter sein. Auch den Frauen wird an dieser Arbeit noch ein ganz
andrer Teil zufallen müssen, als diese'ästhetischen Studien ahnen lassen. Indes
ist sicher, daß diese Studien anregend, die schärfere Prüfung zahlreicher Erscheinungen
des Lebens wie der Kunst vorbereitend wirken können, und so wünschen wir ihnen
zahlreiche und denkende Leserinnen.
Kritiken in Buchform, die ein eignes Titelblatt beanspruchen, um ein
andres Buch aus der Welt zu schaffen, wollen uns nicht recht gefallen. Ganz be¬
sonders dann nicht, wenn sie im ganzen nicht viel mehr sind als ein Titel¬
blatt. Die vorliegende kommt grade auf ihrer letzten Seite beiläufig auf das
Thema, das sie hätte anpacken sollen. Vorher benutzt sie vierzig Seiten, um uns
einen Roman auszuziehen, den sie uns als der Bekanntschaft nicht würdig hin¬
stellt, und diesen Auszug mit einigen Zitaten aus Goethe und Schiller kritisch zu
durchsetzen, deren Bekanntschaft selbst ein „Bleibtreulcser" nicht mehr zu machen
braucht. Wir hatten erwartet, das vergnügliche Hcrumplätschern in einer Unzahl
geistiger Lachen mit Konvcrsationslexikonsaufschrift unter dem stolzen Vorgeben,
das hohe Meer alles Menschlichen zu durchschwimmen, dies würde uns hinter
dem Titelblatte gekennzeichnet werden. Der „Platonische Dialog," den S. 29
nicht kennt, aber offenbar meint, nämlich der „Ion," hätte Ausgangspunkt und
Motto abgeben können. Sogar die „moderne Schlachtendivination" ist dort schon
„divinirt." Der Kritiker wundert sich übrigens über die vielen Briefe, Tage¬
bücher, Aphorismen und ähnliches Schnitzelwerk, von dem Bleibtreu's „Größen¬
wahn" geschwellt ist. Er erhebt da, wie auch sonst, ganz naiv ästhetisch-philosophischen
Einspruch. O Zoilus Karl Bleibtreus, hast du nicht bedacht, was es heißt, jährlich
sechs Bände Unsterblichkeit, von der „Schlachtendivination" bis zum „pathologischen
Roman," in die Welt zu setzen?
Ls wird darauf aufmerksam gemacht, daß die erste Nummer des neuen Jahrgangs erst am
Z. Januar ausgegeben wird, also eine Woche ausfällt.
it dem Beginne der Blockade, die über die festländischen Küsten¬
besitzungen des Sultans von Sansibar verhängt worden ist, und
mit dem ersten Kanonenschüsse, den ein deutsches Kriegsschiff
gegen die dortigen Aufständischen abgefeuert hat, ist die ostafri¬
kanische Frage, die bereits seit Monaten die Welt beschäftigte,
in das Stadium ihrer gewaltsamen Lösung durch europäische Mächte getreten,
und sie lautet von jetzt an für die nächsten Wochen und Monate: Wird diese
Lösung gelingen? Ehe wir hierauf antworten, thun wir einen Rückblick ans
die Entwicklung der Dinge, welche diese Frage entstehen ließen, wobei sich von
selbst die Ziele ergeben werden, die in dieser Angelegenheit deutscherseits zu¬
nächst verfolgt werden.
Die betreffenden Landstriche gehören an der Küste unstreitig zu dem Sul¬
tanate von Sansibar, und auch im Innern übt dessen Beherrscher mehr oder
weniger Einfluß, besonders ans das anch hier stark verbreitete arabische Ele¬
ment der Bevölkerung, das vorwiegend ans Einwanderern besteht und das
Land durch Handel, mehr noch aber durch Jagd nach Sklaven und Verkauf
von Sklaven ausbeutet. Die eingebornen Stämme und Häuptlinge hier im
Binnenland« sind als unabhängig und zur Verfügung über ihr Gebiet berechtigt
anzusehen, und von diesen erwarb die deutsche Ostafrikanische Gesellschaft weite
und von Natur sehr wertvolle, namentlich zum Anbau von tropischen Pflanzen,
Kaffe, Tabak, Indigo, Gewürzen u. dergl., im großen wohlgeeignete Landstrecken,
in denen sie sofort mehrere Stationen anlegte und mit der Gründung von
Plantagen begann, und deren Gesamtheit unter dem Schutze des deutschen
Reiches, der bereitwillig von dessen Regierung übernommen wurde, bei ver¬
ständiger und thatkräftiger Verwaltung von Seiten der Beamten der Gesellschaft
mit der Zeit zu einer großen und reichen Kolonie heranzuwachsen verhieß, wenn
nicht unerwartete Unistände hindernd dazwischentraten und Mißgriffe begangen
wurden. Beides ließ leider nicht lange auf sich warten. Von Anfang an herrschte
ein schroffer Gegensatz zwischen der Gesellschaft und jenem arabischen Elemente,
da die Gesellschaft rationelle Bewirtschaftung des Landes zur Erzeugung
von Austauschwerten für die Einfuhr von Waren aus Europa im Auge hatte,
die Araber dagegen gewissermaßen nur Raubbau trieben, indem sie das Gebiet
durch ihre Sklavenjagden entvölkerten und verwüsteten. Der Sultan von San»
sibar war von Alters her der Hauptabnehmer und Wiederverkäufer ihrer schwarzen
Ware und im Zusammenhange hiermit der eifrige Beschützer und Förderer
ihres Treibens, das wie eine Schreckensherrschaft auf den eingebornen Völker¬
schaften lastete. Dazu kam, daß er aus der Verzollung des Elfenbeins, zu
dessen Transport aus dem Innern nach den Küstenplätzen die erjagten Slaven¬
herden zunächst verwendet wurden, einen persönlichen Vorteil zog, der mehrere
Millionen Mark jährlich betrug. England sah diesen Mißständen, gegen die es
an der afrikanischen Westküste seit dem Jahre 1316 energisch, ausdauernd und
erfolgreich ankämpfte, hier im Osten gelassen zu, und so blühte der Sklaven¬
handel unter den Augen seines Generalkonsuls Kirke in Sansibar ungestört
fort, bis die Ostafrikanische Gesellschaft kam und nach einiger Zeit mit dem
Sultan Said Bargasch einen Vertrag abschloß, kraft dessen sie für diesen die
Zölle in den festländischen Hafenplätzen seines Gebietes erheben sollte, und
durch den die Interessen der Sklavenhändler und ihres Anhangs wesentlich
beeinträchtigt wurden. Für den Sultan war es nur ein Scheinvertrag, auf
den er aus gewissen Rücksichten eingegangen war, und dessen Wirksamkeit er
sofort durch offnen und versteckten Widerstand zu hemmen versuchte, während
die Gesellschaft die ihr dadurch auferlegten Verpflichtungen treu erfüllte. Sie
hätte sich, wenn sie kurzsichtig nur an die nächsten Interessen ihrer Mit¬
glieder gedacht hätte, über die Zollerhebung mit den arabischen Häuptlingen
verständigen können, und wir loben sie, daß sie das nicht that. Dagegen ist
als Unterlassungssünde zu tadeln, daß sie in unvorsichtigem Vertrauen es
unterließ, eine Truppe zu bilden, mit der sie ihr Recht und ihren Besitz ver¬
teidigen konnte, wenn diese bedroht und angegriffen wurden. Zunächst freilich
half ihr der Reichskanzler durch die bekannte Flottendemonstration vor San¬
sibar, infolge deren der Sultan Bargasch andre Saiten aufzog, und das An¬
sehen, das dieser Herrscher bei seinen Namen- und Glaubensgenossen genoß,
genügte, um ein erträgliches Verhältnis zwischen den arabischen Sklavenhänd¬
lern des Festlandes und der Gesellschaft herzustellen und zu erhalten. Anders
wurde dies unter Bargaschs Nachfolger, dem Sultan Said Chalifa. Er kam
dem gedachten Vertrage nicht nach, vielleicht weil er nicht konnte, wahrschein¬
licher weil er nicht wollte, und die Araber erhoben sich, entweder auf seine
Schwäche oder auf sein Übelwollen gegenüber den^ihn und sie schädigenden
deutschen Kolonisten bauend, schließlich zu gewaltsamer Vertreibung der letztem.
Diese gelang für den Augenblick, und es kam dabei zu Mordthaten, zu
Raub und Zerstörung von Eigentum und !zu Verlusten der Ostafrikanischen
Gesellschaft, die auf mehr als anderthalb Millionen Mark angeschlagen werden.
Dieser Schade mußte ihr ersetzt werden, und zwar hatte dies durch den Sultan
Said Chalifci als Bürgen des Vertrags über die Hafenplätze an der ihm gehö¬
rigen Küste zu geschehen. Sodann aber war dafür zu sorgen, daß die Rechte
der Gesellschaft für die Zukunft vollständig gesichert waren, eine abermalige
Verletzung derselben also unmöglich gemacht wurde. Zu diesem Zwecke mußte
zunächst das deutsche Reich in seiner Eigenschaft als Schutzmacht der Ostafri¬
kanischen Gesellschaft, dann aber diese selbst geeignete Maßregeln treffen. Hierzu
wieder empfahlen sich für das Reich eine wirksame Blockade der Küstengegenden,
welche die Ausfuhr von Sklaven und die Einfuhr von Feuerwaffen verhinderte,
und für die Gesellschaft die Bildung einer eignen Truppe, die sie zu schützen
im Stande war. Genügend wirksam konnte die Blockade bei der großen Aus¬
dehnung der Küste nur sein, wenn andre Seemächte, die ein Interesse an der Sache
hatten, sich an der Blockade beteiligten und die kaiserliche Marine bei ihrer Hand¬
habung unterstützten. Dabei kam in erster Reihe Großbritannien in Betracht,
dann in gewissem Maße Portugal und Frankreich. Nach dem Völkerrechte
konnte die Blockade nur im Namen des Sultans von Sansibar erklärt werden;
denn er war hier der Landesherr, der nur, wie angenommen werden mußte,
nicht die Macht hatte, den Aufstand gegen die mit ihm durch Vertrag der-
bundenen Fremden allein zu bewältigen.
Außer dem Rechte aber bewogen hierzu praktische Rücksichten. Dadurch
daß die Blockade im Namen des Sultans verhängt wurde, wurde den aufstän¬
dischen Arabern vor die Augen geführt, daß sie sich nicht bloß gegen die
Deutschen, sondern zugleich gegen ihren eignen Gebieter aufgelehnt hatten. Hatten
sie Grund, zu glauben, daß er dies im Stillen gern gesehen habe, so bewies
ihnen die Blockade seine Ohnmacht, so war die Unterstützung, die ihm gewährt
wurde, eigentlich ein Zwang, dem er nicht gewachsen war, und dem er mit
süßsaurer Miene zusehen mußte. Andernfalls mußte die Blockade ihn den
Arabern mächtiger erscheinen lassen, da sie daraus erkennen mußten, daß hinter
dem Sultan, der sie nicht zwingen konnte, die von ihm eingegangenen Ver¬
bindlichkeiten zu achten und erfüllen zu helfen, Großmächte standen, die zu
derartigem Zwange sehr wohl befähigt waren. Die andre praktische Rücksicht
bezog sich auf die Engländer, die stets Wert darauf gelegt hatten, das Sultanat
Sansibar zu halten. Wenn das deutsche Reich sich dieser Politik anschloß, so
brauchte dies nicht ausschließlich im Hinblick auf seine kolonialen Bedürfnisse
und Ziele zu geschehen, sondern man konnte auch unsre unmittelbaren Be¬
ziehungen zu England im Auge haben, die unsre Staatsmänner nach Mög¬
lichkeit zu pflegen bemüht sind. Natürlich war bei dem Entschlüsse der letztern,
in Gemeinschaft mit England vorzugehen, gemeinsames Interesse und Gegen¬
seitigkeit bei dessen Wahrnehmung vorauszusetzen, das heißt, es war anzunehmen,
daß in England wie bei uns Neigung zu freundschaftlichen Beziehungen zwischen
den beide» Mächten vorhanden sei, und daß man dort an den maßgebenden
Stellen, im Ministerium und im Parlamente, den Wunsch hege, in Sansibar,
auf einem für die englische Kolonialpolitik nicht besonders wichtigen, für die
deutsche aber hochbedeutsamen Gebiete, mit Deutschland oder doch neben ihm
dasselbe zu erstreben und in gleicher Richtung vorzugehen. Nur dadurch
wurde uns die Möglichkeit gewährt, den Sultan, für den sich die englische
Politik bisher interessirt hatte, im Verein mit dieser weiter zu unterstützen
und dessen Macht und Ansehen im gemeinsamen Interesse wiederherzustellen,
zu stärken und zu befestigen. Erhielt in England die liberale Opposition mit
ihrer deutschfeindlichen Gesinnung das Übergewicht in der Sache, so war daraus
zu schließen, daß die englische Politik der deutschen Freundschaft jetzt und in
der nächsten Zukunft überhaupt nicht zu bedürfen meine, und die Rückwirkung
davon würde sich über kurz oder lang fühlbar gemacht haben. Lagen, in denen
Großbritannien eines starken Freundes auf dem europäischen Festlande bedürfen
würde, mögen für heute und morgen nicht gerade wahrscheinlich sein, aber die
Möglichkeit derselben ist durchaus nicht ausgeschlossen. Nach dieser Auffassung
der Dinge handelte die deutsche Regierung, als sie sich zuerst die Mitwirkung
englischer Seestreitkräfte bei der Blockade zu verschaffen suchte, und ihre Be¬
mühungen hatten guten Erfolg. Auf.den betreffenden Vorschlag des deutschen
Botschafters in London erfolgte von Seiten des Marquis von Salisbury schon
zwei Tage darnach (5. November dieses Jahres) eine zustimmende Antwort, in
der es hieß: „Angesichts der zunehmenden Ausdehnung des Sklavenhandels
an der Ostküste von Afrika und der Störungen und Hindernisse, die derselbe
dem gesetzlich gestatteten Handel bereitet, tritt Ihrer Majestät Negierung dem
Vorschlage der kaiserlichen Regierung bei, mit Zustimmung des Sultans von
Sansibar an den Küsten der festländischen Besitzungen Seiner Hoheit eine Blockade
gegen die Einfuhr von Kriegsmaterial und die Ausfuhr von Sklaven herzu¬
stellen. Das Programm für deren Ausführung ist von dem englischen und
dem deutschen Admiral gemeinsam festzusetzen, und sie soll fortdauern, bis eine
der beiden Mächte ihre Absicht erklärt, sie aufzugeben."
Portugal wurde zum Anschlusse an das deutsch-englische Übereinkommen
ersucht, weil der Negerhandel der Araber, sowie deren Versorgung mit Schie߬
gewehren und Munition sich auf das nahegelegne Gebiet dieses Staates, die
Provinz Mozambique, erstreckt hatte; Frankreich dagegen mußte in Betreff
der zur Blockade gehörigen Maßregel befragt werden, wonach verdächtige Schiffe,
gleichviel, welche Flagge sie führten, angehalten und nach Sklaven und Kriegs¬
material untersucht werden sollten. Die Einfuhr von Waffen und Pulver aus
Mozambique nach dem Innern von Ostafrika steigt von Jahr zu Jahr. 1884
wurden 1092, 1885 dagegen etwa 3000 Flinten eingeführt, und die Pulver¬
einfuhr, die im ersteren Jahre 124.000 Kilogramm betrug, belief sich im folgenden
auf 150.000 Kilogramm, Es leidet keinen Zweifel, daß dieses Kriegsmaterial
hauptsächlich zur Bewaffnung der Araber und derjenigen Schwarzen dient, die
mit ihnen verbündet die Sklavenjagden gewerbsmäßig betreiben, und es war
hohe Zeit, diesem Unwesen durch ein allgemeines und durch Kriegsfahrzeuge
unterstütztes Verbot zu steuern und zu verhindern, daß mit Hilfe von Waffen,
welche europäische Spekulanten liefern, wieder erfolgreiche Angriffe auf friedliche
europäische Ansiedelungen unternommen wurden. Der Kongostaat hatte ein der¬
artiges Verbot bereits erlassen, und es war erfreulich, daß die portugiesische Negie¬
rung dem Ersuchen Deutschlands und Englands, dasselbe zu thun und für Beachtung
ihres Verbotes durch Beteiligung an der Blockade zu sorgen, unverweilt nachkam.
In Betreff des Rechts zum Anhalten und Durchsuchen verdächtiger Schiffe,
um das es sich bei Frankreich handelte, ist daran zu erinnern, daß es von
Völkerrechtslehrern vielfach bestritten, vou England aber als bestes Mittel zur
Bekämpfung des Sklavenhandels stets formell beansprucht worden ist. Frankreich
unterstützte die Engländer anfangs durch zwei Verträge (1831 und 1833), bald
aber wurde, mit Grund oder Ungrund. behauptet, daß England das Recht nur
auf fremde Schiffe anwende, um so den eignen heimlichen Sklavenhandel
erfolgreicher betreiben zu können. Dazu kam die üble Laune, welche die Eng¬
länder über die Besitznahme Algeriens verrieten, dazu ferner die Entzweiung
zwischen ihnen und den Franzosen über die orientalische Frage, die 1840 mit
einem Kriege zu enden drohte. Es widerstrebte daher der öffentlichen Meinung
und nicht minder der Regierung in Frankreich, einer feindseligen Macht wie
England die Befugnis weiter zu gewähren, französische Fahrzeuge mitten im
Frieden anzuhalten und zu durchsuchen. So kam 1845 eine neue Übereinkunft
zu Stande, die diese Befugnis ausschloß und noch heute'für Frankreich ma߬
gebend ist, da das Jahr 1848 mit seinen liberalen und philantropischen Phrasen
daran nichts geändert hat, und weder der dritte Napoleon noch die dritte
Republik geneigt gewesen ist, die frühern Verträge zu erneuern. Es war daher
zweifelhaft, wie der französische Minister des Auswärtigen den deutsch-englischen
Vorschlag, in der Sansibarfrage das Dnrchsuchungsrccht anzuerkennen, aufnehmen
würde. Er that indes, was er konnte, d. h. er kam den löblichen Zielen
Deutschlands entgegen und nahm sich anderseits in Acht, die chauvinistische
Empfindlichkeit seiner Landsleute gegen Deutschland vor den Kopf zu stoßen.
Von einem Anschlusse Frankreichs an die Blockadegeschwader Deutschlands und
Englands konnte der letztern gegenüber nicht die Rede sein, aber das Durch-
suchungSrecht konnte in beschränktem Maße zugestanden werden, und so geschah
es auch, und die gemäßigte Pariser Presse fand daran nichts auszusetzen.
So sagt z. B. die I^ibsrt^ „Die französische Regierung hat sich, den allgemeinen
völkerrechtlichen Grundsätzen entsprechend, nur so weit verpflichtet, daß sie für
den Fall einer wirksamen Blockade französische Schiffe wegen Verdachts von
Waffenschmuggcl durchsuchen lassen will, aber auf offner See und in Bezug auf
den Handel mit Sklaven räumt sie dieses Durchsuchungsrecht nur den eignen
Fahrzeugen ein lind beschränkt es auf Schiffe unter französischer Flagge . . . .
Nun wird die Frage erlaubt sein, ob wir wohl daran thun, Deutschland und
England unsern Beistand angedeihen zu lassen? Wir erblicken hier keinerlei
Bedenken. Es handelt sich um ein Unternehmen, das unsern edelsten Gefühlen
entspricht. Warum sollten wir beiseite bleiben? Es ist allerdings wahr, daß
Deutschland sich in seinen ostafrikanischen Besitzungen befestigen wird. Aber
um so besser für Deutschland. Welches Interesse hätten wir daran, es zu
hindern? Möge eS doch ebenfalls die Erfahrungen überseeischer Eroberungen
^Algerien, Senegambien und vor allem das mörderische und kostspielige Tonkingl
durchmachen. Das alles kann uns keinen Schaden bringen. Wir haben seine
Besitzungen anerkannt und empfinden keinen Verdruß, wenn es sich in der
Weise darin fester setzt, in der es ihm beliebt. Für uns beschränkt sich die ganze
Angelegenheit auf sorgfältigere Überwachung der Sklavenhändler, und diese
Aufgabe ehrt uns, und wir haben keinen Beweggrund, uns ihr zu entziehen."
Was die Aufgaben des Deutschen Reichs in der Sache betrifft, so hat sie
vor kurzem ein Vortrag zu bezeichnen versucht, den der Major Liebert vom
großen Generalstabe in der militärischen Gesellschaft zu Berlin über Deutsch-Ost¬
afrika gehalten hat. Hiernach bestünden diese Aufgaben und Ziele ungefähr in
folgendem. Zuvörderst wäre volle Genugthuung für die Ermordung deutscher
Unterthanen und für die vielfache Zerstörung deutschen Eigentums, sowie strenge
Bestrafung der Verbrecher anzustreben; in zweiter Reihe wäre sodann auf Unter¬
drückung deS Handels mit Sklaven hinzuwirken, der in diesen Gegenden ge¬
trieben wird. Weiter dürfte sich das Reich nicht einmischen. Die Ausführung
der so beschränkten Aufgaben hätte man sich aber folgendermaßen vorzustellen.
Das kaiserliche Blockadegeschwader bemächtigt sich wieder der uns von den Re¬
bellen entrissenen fünf Vertragshäfen und setzt die Beamten der Ostafrikanischen
Gesellschaft, soweit sie nicht tot sind, von neuem ein. Die Schuldigen werden,
soweit man ihrer habhaft werden kann, gezüchtigt, und an dem Besitz der meu¬
terischen Bevölkerung werden Repressalien geübt, nicht aus Rache, sondern zu
dem Zwecke, sie von künftigen Gewaltthaten abzuschrecken. Die Gesellschaft er¬
hält volle Entschädigung für ihre vernichteten Stationen, Plantagen und Ernten
und zwar durch den Sultan von Sansibar, da er erstens der Landesherr ist
und zweitens die Bürgschaft für den Vertrag übernommen hat, welcher der
Gesellschaft die Verwaltung der Küstenländer und namentlich die Erhebung der
Zölle in den dortigen Hafenplätzen übertrug. Später haben die kaiserlichen
Kriegsschiffe nnr die Küste zu überwachen und zu verhüten, daß von da Sklaven
ausgeführt und dorthin Waffen und Munition verschifft werden. Das Weitere
hat die Deutsch ostafrikanische Gesellschaft selbst in die Hand zu nehmen. Sie
muß ihre Arbeit von vorn beginnen, vorher aber Sorge tragen, daß sie sich
dabei auf eine bewaffnete Macht stützen kann, deren Mannschaften aus fremden,
vom Arcibertum nicht beeinflußten Afrikanern und anderen an tropisches Klima
gewöhnten Leuten zusammenzusetzen sind. Deutsche Sccsoldaten können dazu
nicht hergegeben werden. Dagegen könnte vielleicht vom Reiche eine Beihilfe
zur Errichtung dieser Truppe zu erlangen sein und zwar in Gestalt eines
von einem bestimmten Datum an und in gewissen Fristen abzutragenden Dar¬
lehens. Von der Küste schreitet sodann die deutsche Kulturarbeit unter dem
Schutze der Soldaten oder Polizeidiener der Gesellschaft mit Anlegung von
Plantagen und kleinen Forts planmäßig nach dem Innern vor, und daneben
müssen die großen Handelsstraßen nach dem Viktoria Nyansa- und Tanganyika-
See gesichert werden. Sobald ferner die Ruhe im Lande einigermaßen
wiederhergestellt und für die nächste Zukunft befestigt ist, muß eine starke und
wohlausgerüstete Expedition den Weg nach Wadelai antreten, um Emin Pascha
Hilfe in seiner Not zu bringen, die deutsche Macht der Bevölkerung im fernen
Innern zu zeige» und den dortigen Arabern Achtung und Furcht einzuflößen.
Was diese Expedition betrifft, so wird man gespannt sein dürfen, wie sich die
Engländer zur Anwerbung von Leuten dafür verhalten werden. Seit Jahr¬
zehnten haben die Unternehmer solcher Expeditionen von der Ostküste nach dem
Innern ihre Soldaten und Träger in Sansibar angeworben, und niemand hat
darüber Beschwerde erhoben. Neuerdings aber, nachdem Engländer in Ostafrika
selbst ein Gebiet erworben und eine Gesellschaft zur Ausbeutung desselben ge¬
gründet hatten, die viele Arbeiter braucht, haben sie die Behauptung aufgestellt,
daß solche Anwerbungen dem Sklavenhandel gleich zu achten wären, und einem belgi¬
schen Schiffe eine Anzahl solcher Rekruten entführt. Sollte derartiges bei den jetzt
bevorstehenden Werbungen geschehen, so wird Deutschland hoffentlich Widerspruch
dagegen erheben. Wenn das Deutsche Reich für Beschaffung der Kosten einer
Kolonialtruppe sorgen hilft, so ist die Rückerstattung seines Beitrages durch die
Zölle der fünf Vertragshäfen gnügeud gesichert. Von der Wiedergewinnung
dieser Plätze durch die kaiserliche Manne ist in der Abmachung zwischen Deutsch¬
land und England, wie sie der „Reichsanzeiger" mitteilte, nicht die Rede, doch
könnte ein geheimer Nachtrag oder eine solche Klausel von ihr handeln.
Die Generalversammlung der deutschen Plantagengcsellschaft in Ostafrika,
die am 23. November d. I. in Berlin zusammentrat, faßte auf Antrag ihres
Vorsitzenden den Beschluß, das ihr verloren gegangene Festland von Usambara
durch Selbsthilfe wieder zu gewinnen und die hier unterbrochenen Pflanzerarbeiten
energisch wieder aufzunehmen. In Bezug auf die Expedition zur Befreiung
Emin Paschas, die hiermit in Verbindung steht, waren die Meinungen geteilt;
man beschloß zuletzt, in einer Anfang des nächsten Jahres zu berufenden außer¬
ordentlichen Generalversammlung eine Entscheidung herbeizuführen. Es handelt
sich dabei zuvörderst um die Frage, ob der zum Führer dieser Expedition ge«
Wählte bekannte Afrikaforscher Leutnant Wißmann seinen Weg nach Wadelai
durch das Gebiet der Ostafrikanischcn Gesellschaft nehmen werde oder nicht.
Leute, die teils Gegner der Gesellschaft, teils überhaupt Feinde der Gründung
überseeischer deutscher Kolonien sind, weil es ihnen an Nationalsinn fehlt, freuten
sich über die Nachricht, Wißmann denke an die Wahl einer Straße, die nicht
durch jenes Gebiet der Ostafrikanischen Gesellschaft führe, und sein Zug zu
Emin Pascha werde folglich den Bestrebungen derselben nicht zugute kommen.
Diese Nachricht war aber unbegründet, und die, zu deren Wünschen sie Paßte,
und die sich darüber vergnügt die Hände rieben, hätten das wissen können, da
Wißmanns Meinung über die betreffende Sache gedruckt vorlag, und seit ihrer
Veröffentlichung durchaus nichts verlautet hat, oder gar von ihm selbst durch
das Mittel der Presse erklärt worden ist, er habe sie geändert. In einem
Aufsatze, der den Titel „Die Bedeutung der deutschen Emin-Pascha-Expedition
für die Erschließung Afrikas" führte und in Nummer 27 des „Deutschen Wochen¬
blattes" (vom 29. Septbr. 1888) erschien, hat er sich mit völlig hinreichender
Deutlichkeit zu Gunsten der Route durch Deutsch^Ostafrika ausgesprochen, und
eine andre könnte auch jetzt wohl nur in dem Falle ins Ange gefaßt werden,
daß der Aufstand der arabischen Sklavenhändler und ihres Anhangs (bei
dem beiläufig der Scheich Buschiri mit seiner am Pangani hausenden Verwandt¬
schaft eine Hauptrolle spielt) den Beginn der Heerfahrt zu Emin lange Zeit
verzögern sollte. Das aber ist nicht zu fürchten, die Wiederherstellung der dort
gestörten Ordnung wird vielmehr rasch erfolgen. In dem erwähnten, jetzt be¬
sonders lesenswerten Aufsatze schreibt Wißmann über den Weg, den die Expedition
zu verfolge» hat, ungefähr nachstehendes: „In Übereinstimmung mit Schwein-
furth, Junker, Reichard und Emin Pascha selbst halte ich den Weg von Sansibar
aus und dann je nach den Verhältnissen durch Uganda oder durch Unjoro für
den besten. Es führt hier eine früher viel betretene Karawcmeustraße durch
das Land. Die Einwohner sind nirgends mächtig und kriegerisch. Große
Araber sitzen nicht an dieser Straße, und die kleinen müssen durch den Einfluß
von Sansibar niedergehalten werden. Die Gegenden längs des Weges sind
allenthalben bewohnt, und Wassermangel ist auf demselben nicht zu befürchten.
So weit also eine Berechnung möglich ist, ist diese Route als die einzig dazu
geeignete zu bezeichnen, um Emin Hilfe zu bringe»?, über Stanleys Schicksal
Aufklärung zu erhalten und über die Bewegung im Sudan näheres zu erfahren.
Ich weise immer darauf hin, daß die Ausnutzung der Stellung Emin Paschas
eine Möglichkeit ergiebt, eine Vereinigung der Araber des Südens mit denen
des Sudans zu verhindern. Fällt diese Schranke, reichen sich die beiden Par¬
teien die Hand, so ist auf unabsehbar lange Zeit jeder Einfluß der Zivilisation
auf das Innere des Kontinents vernichtet. Es ist dieser Umstand von prak¬
tischer Wichtigkeit für die deutschen und englischen Besitzungen in Ostafrika und
nicht minder vielleicht auch für den Kongostaat."
Der Weg den Nil aufwärts ist durch die Derwische des Mcchdi gesperrt,
der über den Kongo wird im Innern durch den sehr zweideutigen und un¬
zuverlässigen großen Sklavenhändler Tippn Tip gefährdet. Empfehlenswerter
kann auf den ersten Blick der Gedanke erscheinen, von dem unter deutscher
Oberhoheit stehenden Sultanat Wien auszugehen und darauf deu Tcmaflnß
hinauf zu fahren, der sich eine große Strecke ins Innere hinein benutzen läßt.
Aber dann wären viele Tage unfruchtbare, später sumpfige Gegenden zu passiren,
und die Somali, deren Land durchzogen werden müßte, aber noch von keinem
europäischen Reisenden weit hinein erforscht worden ist, sind einer der kriegerische¬
sten und treulosesten Völkerstämme Afrikas. Schon wenn der Weg von
Mombas und durch das englische Interessengebiet in Ostafrika gewählt würde,
der besser bekannt ist, als der durch das Somaliland, wäre zu bedenken, daß
er weiterhin den gleichfalls gefährlichen Stamm der Massais und das mächtige
Reich Uganda mit seinem blutdürstigen Könige Mwangcr nicht zu umgehen
vermöchte, ein Umstand, der gegen einen Zug durch das Interessengebiet der
Engländer schwer ins Gewicht fällt. Es bleibt also in der That mir derjenige,
der durch Deutschostafrika führt, übrig, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird
Wißmann hier Dar Es solam oder Bagomoio zum Ausgangspunkte wählen,
wo vor kurzem eine Karawane aus dem Innern eingetroffen ist und die er¬
freuliche Kunde mitgebracht hat, daß dort Europäer und Eingeborne im besten
Einvernehmen mit einander leben und keine Störung desselben zu befürchten
ist. Sehr gefährlich bleibt das Unternehmen trotzdem, da das Reich Unjorv
hierbei nicht zu vermeiden sein wird, dessen Beherrscher Kabrega kein Freund
der Weißen ist.
MDer Monarch, an den Herzen seinen epochemachenden Brief gerichtet
hatte, war zu sehr im Sinne seines Vaters erzogen, und zu
charakterschwach und unentschlossen, um einen Systemwechsel
gründlicher Art, der überdies seine schweren Bedenken hatte, zu
vollziehen, aber auch nicht willensstark genug, um den durch
jenes Schreiben cmfgerufuen Geistern Ruhe zu gebieten. Er ließ sie bis zu
einem gewissen Maße gewähren. Daneben erleichterte er das akademische
Studium und den Verkehr mit dem Auslande, wies die Angeberei, wo sie zu
widerlich auftrat, von sich, begnadigte einen Teil der verbannten oder sonst
gemaßregelten Liberalen und bewirkte, daß die Zensur milder verfuhr. Die
Folge war, das Entstehen einer Menge von Schriften, welche die Schäden des
Reiches rücksichtslos bloßlegten, die Einfuhr fremder Litteratur gefährlicher Art,
Darwinscher, Moleschottscher, Bncklcscher Lehren, geschichtlicher, staatswissenschaft¬
licher und sozialistischer Werke und das Anschwellen der periodischen Presse zu
riesigem Umfange, die weitere Folge eine vollständige Entgleisung des Bildungs¬
triebes der mittleren und höheren Klassen der Bevölkerung unter der Überfülle
und in dem Wirrsal des plötzlich sich ihnen aufdringenden Bildungsstoffes, anf
den sie nicht vorbereitet waren, und den sie sich deshalb ohne rechtes Verständnis
und Urteil aneigneten, für den sie aber trotzdem in Schwärmerei erglühten. „Binnen
wenigen Jahren war jeder anständige Russe Dilettant der Naturwissenschaften,
Atheist, Schwärmer für Frauenemanzipation, Demokrat, Sozialist und im
allgemeinen Feind der bisher in Geltung gewesenen Autoritäten geworden . . .
In Salons, Klubs und Lescvereinen wurde dieser neuesten Mode gefrvhnt und
die im Gedächtnis haftenden Phrasen von Aufklärung. Volkswillen und Volks¬
befreiung unermüdlich und in immer vollendeteren Überzeugston wiederholt."
Alle strebten mit wetteifernder Maßlosigkeit nach dem Rufe, auf der Höhe
liberalen Denkens zu stehen und in der Gesittung am weitesten fortgeschritten
zu sein. Über dem ganzen Treiben aber schwebte der Geist des „Kökökök," der
die Macht der ihm gehorsamen öffentlichen Meinung benutzte, die Politik des
Zaren zu lenken und ihn zunächst zur Aufhebung der Leibeigenschaft zu drängen.
Die Zeit war dazu besonders geeignet, da die liberale Bewegung die Mehrheit
der Gutsbesitzer mit Opferwilligkeit erfüllt hatte, womit sich allerdings der An¬
spruch verband, für den durch die Befreiung der Bauern verloren gehenden poli¬
tischen Einfluß durch ein adliches Parlament entschädigt zu werden. Der Kaiser
ging darauf nicht ein und gewährte auch bei der Vorbereitung des Emanzipations¬
werkes den Adelsdclegationen nur beratende Stimme. So kam der Ukas vom
19. Februar 1861 zu stände, der die Leibeignen unter sehr vorteilhaften
Bedingungen unabhängig machte. Er begegnete jedoch allgemeiner Unzufrieden¬
heit. Die geschädigten Edelleute seufzten, Herzen und seine Gefolgschaft erklärten,
die Rechtsfrage sei unvollkommen gelöst, die Bauern erblickten in der zins¬
artigen Belastung des nun ihnen gehörigen Bodens ein schreiendes Unrecht,
und die Auseinandersetzung zwischen ihnen und den Gutsherren stieß in einigen
Provinzen sogar auf thätlichen Widerstand. Ein Reformprogramm, das die
Regierung 1862 veröffentlichte, machte, obwohl es sehr viel bot, wenig Eindruck,
zumal da der Londoner Diktator der öffentlichen Meinung unter Bakunins
Einfluß radikale Bahnen einschlug. Das russische Publikum folgte ihm dabei
aber nur noch kurze Zeit. Es wurde zunächst durch die Petersburger Feuers-
brünste vom Mai 1862, die von revolutionären Händen angelegt waren,
ernüchtert, dann durch Michael Katkow über die Utopien des Herzenschen
Programms mit seinem auf den Gemeindebesitz sich gründenden sozialistischen
Zukunftsstaat aufgeklärt und schließlich durch denselben Politiker dem bis
dahin herrschenden Ideologen ganz abwendig gemacht. Es war nach Ausbruch
des polnischen Aufstandes von 1863. Herzen ergriff lebhaft Partei für ihn,
das Publikum und die Presse zögerten anfangs, selbst die Slawophilen waren
unschlüssig. Da gab Katkow den Ausschlag, indem er mit der Entschiedenheit
der Überzeugung, daß das Vaterland höher stehe als die Sympathie mit dem
für die Freiheit kämpfenden fremden Nachbarvolke, Herzens Stellung angriff,
ihn und seine Anhänger als Urheber alles Unheils, das in der letzten Zeit
über Rußland hereingebrochen sei, bezeichnete und mit diesem Aufrufe an den
nationalen Sinn schließlich einen glänzenden Sieg erfocht. Die Wendung, dnrch
die der Aufstand Litauen und Weißrußland ergriff, vollendete die Niederlage
der russischen Pvleufreunde. Dort war fast nur der Adel polnisch, Herzen
mußte also gegen die Bauern, das Volk der Demokraten von seiner Schule,
schreiben, während sein Gegner jetzt als der echte Demokrat erschien. Ein
national-demokratisches Bündnis beherrschte fortan die öffentliche Meinung und
stellte den Einklang mit der Regierung her, die gern die Gelegenheit zu einem
vergleichsweise günstigen Frieden benutzte. Die Forderung nach einer liberalen
Verfassung verstummte für anderthalb Jahrzehnte, und Russisizirung der Grcnz-
provinzen, Ausdehnung der großrussischen Einrichtung des Gemeindebesitzes und
Bevorzugung des Bauernstandes wurden die leitenden Ziele der umlenkenden
Politik. '
In die zuletzt geschilderte Periode, die Zeit zwischen dem Krimkriege und
dem polnischen Aufstande fallen die Anfänge des Nihilismus. Dieser ist nichts
als die extremste Erscheinungsform der autoritätenstürzenden Bewegung jener
Jahre, die Leidenschaft des Radikalismus, die den ganzen Menschen ergreift,
in feiner frühesten Gestalt das Erzeugnis der tiefgehenden Umwälzung, welche
die der russischen Intelligenz plötzlich erschlossene Gedankenwelt in den Köpfen
des aufwachsenden Geschlechts anrichtete und als solches von dem Mode gewordnen
Aufklärer- und Fortschrittlertum nur den: Grade nach verschieden. Aus demselben
Boden, demselben ererbten Zustande sittlicher Verarmung hervorgewachsen, durch
dieselben geschichtlichen und zeitgeschichtlichen Einflüsse herbeigetragen wie die
Freidenkerei des bejahrteren Geschlechts neben ihm, ist er trotzdem wesentlich
von ihr verschieden — die Karikatur derselben. In Gymnasien, Seminaren
und Akademien, wo die Erzeugnisse einer gemäßigt freien Richtung streng ver¬
pönt waren, studirten die jungen Leute heimlich mit Andacht Übersetzungen
deutscher Materialisten und französischer Kommunisten. Unter den Zöglingen
der Militärschulen herrschte ein Geist, der das reine Gegenteil ihrer äußerlichen
Zucht war. Öffentliche Tummelplätze des maßlosesten Radikalismus endlich
waren die Nniversitüteu, in denen die Zuchtlosigkeit sich bis heute fortpflanzte,
und unter denen die medizinische Akademie und das technologische Institut in
Petersburg, sowie die landwirtschaftliche Akademie in Moskau hierin das ärgste
leisteten. Mit ungeheuerster Geschwindigkeit wurden in dem Rausche, der diese
Jünglinge ergriffen hatte, in juughegelscher Weise Standpunkte überwunden.
Wohl niemals hat die Wissenschaft so verheerende Wirkungen angerichtet wie
hier. Auf den Gebieten der Philosophie und Ethik, der Politik und der Sozial-
theorieu wurden mit Keulenschlägen die von der eilten Kultur aufgerichteten
Vorurteile niedergelegt, bis man zuletzt an den Grenzen des Denkmöglichen
anlangte und nur ein krampfhafter Drang zur Verneinung alles bisher geltenden
übrig blieb, der eben Nihilismus heißt. Irrtümlich ist aber die Meinung, das
letzte Ziel sei den Nihilisten ein allgemeines Chaos gewesen. Sie fühlten sich
vielmehr als Vorbereiter und Erben einer Zukunft, die nur noch durch leichte
Morgennebel verschleiert war. Bei der Vorbereitung galt als vorzugsweise
verdienstlich die Arbeit an den jüngern Mitgliedern des weiblichen Geschlechts,
das besonders schwer unter der Herrschaft der Vorurteile litt, und bei dem es,
wie der technische Ausdruck lautete, darauf ankam, die zur Sklavin des Mannes
entwürdigte zur Selbständigkeit und in die Sphäre der nur durch den eiguen
freien Willen gebundnen ehelichen Liebe zu erheben. Ein weiteres Arbeitsfeld
eröffnete die Aufgabe, der großen Masse des Volkes, dem arbeitenden Staude,
die Elementarkenntnisfe beizubringen, was durch Gründung von Sonntagsschulen
geschah, deren erste 1885 in Kiew entstand, und in denen vier Jahre später
schon zwanzigtausend Schüler zu den Füßen der lehrenden Jugend saßen. Die
große Befreiung durch gemeinsames Handeln, die als Schluß dieser und ähn¬
licher Thätigkeit ins Auge gefaßt war, konnte nach Tschernyschewsky, der auf
diesem Gebiete als maßgebende Autorität galt, nur auf wirtschaftlichem Gebiete
liegen, das Streben nach verfassungsmäßigen Freiheiten war nutzlos ohne
die wirtschaftliche Freiheit, ans der rein politischen Sphäre mußte das Decken
des Nihilismus in die rein sozialistische einlenken, der Grundsatz wirt¬
schaftlicher Genossenschaft mußte verallgemeinert werden. Der russische Ge¬
meindebesitz genügte nicht, die Konsum- und Produktionsvereine Schultze-Delitzschs
waren empfehlenswert, aber keine gründliche Lösung der Aufgabe. Diese
selbst zu finden war man außer Stande, und in dieser Ratlosigkeit, diesem
immer fühlbarer werdenden Mißverhältnis zwischen der Überzeugung, daß
weiter zu gehen sei, und der Ungewißheit, auf welchem Wege, wurde der Thaten¬
drang der Nihilisten Ursache, daß die anfänglich im Hintergrunde stehenden
Elemente der Genossenschaft, die an Revolution ohne positive Ziele dachten,
die Oberhand gewannen. Beschleunige wurde dieser Entartnngsprozeß dadurch,
daß sich infolge der Erleichterung des akademischen Studiums, die nach dem
Thronwechsel eintrat, die Zahl der russischen Studenten unnatürlich vermehrte
nud der Prozentsatz der mittellosen unter ihnen bedenklich in die Höhe ging.
Die Verbitterung eines gebildeten Proletariats, das, nach beendigtem Studium
oder ungünstigem Examen ohne Aussicht auf gesicherte Lebensstellung aufs
Straßenpflaster geworfen, in untergeordneter Beschäftigung sein Leben fristete,
war die beste Vorschule für das va-hö-naus-Spiel von Revolutionären. Die
Bauernunruhen, die 1861 im südöstlichen Rußland stattfanden, die Studenten¬
tumulte in Moskau und Petersburg, die dasselbe Jahr brachte, das Manifest
eines „zentralen Nevolutionskomitvs", das im April 1862 zur Ermordung
des Zaren aufforderte, die große Feuersbrunst, die bald nachher in Petersburg
ausbrach, und bei deren Scheine revolutionäre Flugblätter verteilt wurden,
die, wie sich später ergab, aus der Druckerei des Gardegeneralstabs hervor¬
gegangen waren, sind als Anzeichen dieser Strömungen anzusehen. Die Polizei
schritt ein, nahm Verhaftungen vor, schloß die studentischen Lesegesellschaften
und den radikalen Schachklub in Petersburg und beseitigte die zu Werkzeugen
der radikalen Propaganda gewordenen Sonntagsschulen. Trotzdem ging die
Bewegung weiter. Eine Anzahl geheimer Gesellschaften, die vorzüglich in der
Hauptstadt bestanden, vereinigte sich unter dem Namen „Land und Freiheit"
zu einem Bunde, der in einem Aufrufe von sich sagte: „Unsre Gesellschaft be¬
steht aus Männern, die angesichts der Verblendung unsrer Regierung eine
Revolution, und zwar eine blutige, sür unvermeidlich halten. Ihr Zweck ist,
aus dem Kreise der russischen Intelligenz die Besten zum Dienste des Volkes
zu sammeln, ihr letztes Ziel die vollständige Befreiung der Bauern, die An¬
erkennung ihres Rechtes auf den gemeinsamen Besitz des Landes und die
Autonomie der Gemeinden und Kreise." Der Bund wirkte durch Verteilung
von Flugschriften und trat mit den polnischen Rebellen in Verbindung. Zu
derselben Zeit bildete sich in Kasan ein Verein, der gefälschte Ncgierungsmani-
feste verbreitete. Wieder schritt die Polizei ein, es fanden Hinrichtungen statt,
und ein Teil der jugendlichen Verschwörer floh ins Ausland, um dort die
Rolle des politischen Märtyrers auf freier Erde zu spielen. 1365 lebte der
Revolutionsgeist in Rußland noch einmal auf. Es bildete sich eine geheime
Genossenschaft, deren Zentralkomitv sich die Hölle nannte und sich der Marx-
schen Internationale anschloß. Man gründete Volksschulen und Konsumvereine
und schickte Apostel ins Land, die unter der Maske von einfachen Arbeitern das
Volk zur Revolution aufwühlten, man bereitete endlich das Attentat vor, das
der Bauer Karakosow am 4. April 1866 auf den Zaren machte. Schnell auf¬
geblüht mit der durch Herzen hervorgerufenen Sturm- und Drangzeit, die
1863 abschloß, wurde der als Unterströmung in jugendlichen Kreisen neben
dem Liberalismus des altern Geschlechts hergehende Nihilismus in den Jahren,
wo Katkow statt Herzen die öffentliche Meinung beherrschte, fast ganz still
und kraftlos. Den bescheidenen Liberalismus hatte die Regierung durch Re¬
formen befriedigt, welche Selbstverwaltung der Provinzen und Kreise, Öffent¬
lichkeit der Rechtsprechung und Geschwornengerichte in Strafsachen einführten
und die Justiz von der Verwaltung trennten. Als mit dem stärkern Hervor-
treten der äußern Politik und einem gewissen Abschlüsse der von Moskau her
geleiteten Nussifizirung Polens auch die Bedeutung der Katkowschen Partei
abzunehmen begann, beruhigte sich die Gesellschaft vollständig. Dagegen be¬
wirkte die seit 1869 einsetzende Neaktionspolitik, namentlich die Unterbindung
der soeben erwähnten freiheitlichen Einrichtungen, Erregung im liberalen Publi¬
kum, die ihrerseits die radikale Unterströmung wieder in Fluß brachte. Die
schnellen Erfolge des Lassalleschen Arbeitervereins und der Marxschen Inter¬
nationale, der Aufschwung der deutschen Sozialdemokratie seit 1868, die Pariser
Kommune von 1871 reizten daneben die russische Jugend wie Vorwürfe und
Beispiele. Das übrige thaten Übersetzungen der Brandreden Lassalles und ähn¬
licher Hetzschriften. Es war ein neues Geschlecht, das diese jüngere nihilistische
Bewegung betrieb, ein Geschlecht ohne die kokette Selbstbespiegelung, ohne das
maßlose Selbstvertrauen und ohne die vielgeschäftige Planlosigkeit der frühern
Radikalen, ernster, praktischer, wenn das einzige Ziel, das es hatte, die sozia¬
listische Revolution, praktisch genannt werden darf. Noch fehlte der Führer
der Armee, die den Staat umstürzen sollte. Er kam mit dem tollen, aber un¬
veränderlichen Bakunin, der die Religion und das Erbrecht abschaffe» und den
Staat in seine kleinsten wirtschaftlichen Einheiten zersplittern wollte und seinen
Anhängern zur Pflicht machte, jeden, der die Einrichtung dieses Ziels hinderte,
zu ermorden und selbst für dies Ziel den Tod zu erleiden. Dabei ging ihm
der begabte, aber völlig gewissenlose Schwindler Netschajew einige Zeit zur
Hand, der mit der Glorie des Flüchtlings in Nußland erschien und eine Ver¬
schwörergesellschaft „zum Volksgericht" oder „zum Beil" gründete, die für den
19. Februar 1870 eine große Revolution mit Kaisermord plante. Sie wurde
jedoch entdeckt, als Netschajew einen Mitverschwörer, den Studenten Jwanow,
der sich widerspenstig gegen seine unbedingte Vollmacht gezeigt hatte, ermorden
ließ (November 1869), eine Untersuchung wurde eingeleitet und im Sommer
1871 siebenundachtzig Personen der Prozeß gemacht. Netschajew entfloh in
die Schweiz, wurde aber 1872 an Nußland ausgeliefert und verurteilt.
Eine neue Bewegung ging von den Vereinen zum Selbststudium aus, die
sich an den Universitäten und Gymnasien gebildet hatten, und die entscheidende
Wendung gab derselben das Bekanntwerden der Thatsache, daß die Emanzipation
der Bauern Unheil für diese zur Folge gehabt hatte. Sie waren nicht im
Stande, ihre Freiheit zu benutzen, indem sie Selbstzucht übten. Faulheit und
Vernachlässigung, Trunksucht und Verschuldung nahmen, besonders im Norden,
auf erschreckende Weise überhand. Mehrere Mißernten waren die Folgen
schlechter Bestellung der Felder, der Viehstand ging zurück, gemeinnützige An¬
stalten, Krankenhäuser u. tgi. wurden geschlossen, dagegen mehrten sich die
Schenken. Die Lesevereine, unter denen die 1869 in Petersburg gegründeten
und bald in Hunderten von Zweigverbänden über das ganze Reich verbreiteten
Tschaikvwzen die erste Stelle einnahmen, beantworteten die Frage nach der
Ursache so vielen Elendes nach ihrer demokratischen Anschauung der Dinge im
revolutionären Sinne. Versäumniß der Regierung und der höhern Klassen war
schuld daran. Wodurch verdiente die auf Kosten des Volkes gebildete Minder¬
heit ihre bevorzugte Stellung, wenn sie sie nicht zur Ausgleichung des gesell¬
schaftlichen Gegensatzes benutzte? Der Reiche besitzt sein Geld und Gut für
das Volk, der Studirende sammelt Kenntnisse für das Volk, und es ist Zeit,
etwas für das Volk zu thun. An diesem Punkte setzte der rastlose Bakunin
ein, indem er von Zürich her, wo damals viele Russen und Russinnen studirten,
mit den Tschaikowzen in Verbindung trat und ihnen ein zündendes Losungswort
zurief: „Verlaßt die Schulen, wendet euch ab von der Wissenschaft, die nur
bindet und entmannt, und zieht hinaus unter das Volk, um es von ver¬
brecherischer Knechtschaft zu befreien." Der sanguinische Manu nahm dabei an,
das russische Volk sei von Natur revolutionär gesinnt, und es komme nur
darauf an, ihm seine Macht zum Bewußtsein zu bringen und es durch häufig
wiederholte Putsche zur Bethätigung jener Stimmung zu erziehen; nach erfolgten?
Umsturze des Staates werde es zeigen, daß es sich ohne wissenschaftlichen
Beistand selbst naturgemäß einzurichten befähigt sei. Wem das nicht einleuchtete,
der hielt sich an den andern Meister in Zürich, Lawrow, der früher Professor
an der Petersburger Kriegsakademie, dann Teilnehmer am Kommune-Aufstande
gewesen war, und der jetzt den an der schweizer Hochschule studirenden Russen und
Russinnen die Ansicht vortrug, das Volk hasse an sich den Staat nicht, habe
anch kein Bewußtsein von seiner elenden Lage und sei endlich nicht befähigt,
die Staats- und Gesellschaftsgestalt der Zukunft zu ersinnen, und anderseits
sei die Vorbedingung zu erfolgreicher Agitation nicht nur ausgebreitete Bildung,
sondern auch gründliche Kenntnis des Volles. Diese Vorträge nahmen plötzlich
ein Ende, als eine kaiserliche Verordnung 1878 den Russen das Studium an
der Züricher Universität verbot. Der ganze Schwarm der „Bakunisth" und
„Lawristy" stürzte sich jetzt auf die Heimat und füllte die Reihen der nihilistischen
Propaganda. Es wurde Mode, „ins Volk zu ziehen," d. h. Bauerntracht
anzulegen, sich Gesicht und Hände künstlich zu bräunen, einen Sack mit Wühler-
traktätchen auf den Rücken zu nehmen, einen gefälschten Paß in die Stiefel
zu stecken und uun, als einfacher Arbeiter auftretend, die im Selbstbildungs-
vercin gelernten revolutionären Ideen dein gemeinen Manne beizubringen. Neben
der fliegenden Propaganda dieser Wanderprediger suchten andre als Volksschul-
lehrer, als Kreisärzte, als Inhaber von Kramläden, die weiblichen Wühler als
Jmpferinnen oder Lehrerinnen Gelegenheit zum Verkehr mit dem Volke. Es wurden
Schustereien, Tischlereien und Schmieden eingerichtet, wo die junge Mannschaft
des Nihilismus ihr Handwerk erlernte. Die Anzahl dieser „Volksgänger" soll
im Jahre 1375 zweitausend überstiegen haben. Aber obwohl sie nicht ungeschickt
zu Werke gingen, war ihr Erfolg bei der Stumpfheit der Bauern nicht erheblich
und in der Hauptsache auf die Universitätsstädte und die Gegenden am Dujepr
und an der untern Wolga beschränkt; zuletzt machte die Polizei mit einer großen
Treibjagd auf die Agitatoren dieser ersten Wiihlerkampague ein Ende.
Die Ereignisse der nihilistischen Chronik spielen von jetzt an zwei Jahre,
1876 und 1877, nur in den Universitätsstädten, wo die Studenten von der
Partei der „Narodniki" oder „Troglodyten" die Bevölkerung zu Pulsader auf¬
reizten und daneben „Kolonien" am Ural und Kaukasus, sowie an der untern
Wolga gründeten, die dann unter höheren und niederen Beamten dieser Gegenden
gute Geschäfte machten. Im Tschigirinschen Kreise der Provinz Kiew bereiteten
sie sogar einen bewaffneten Aufstand vor, indem sie den Bauern vorspiegelten,
der Zar wolle ihnen das gutsherrliche Land überweisen, besitze aber nicht die
Macht dazu, und so befehle er ihnen, sich selbst zu helfen. Gegen 3000 Bauern
sollen an dieser Verschwörung beteiligt gewesen sein, und 900 wanderten, als
sie entdeckt wurde, ius Gefängnis.
Die dritte Phase der nihilistischen Agitation, die mit dem Jahre 1878
anhebt, fällt zeitlich und ursachlich mit dem Wiederaufleben des Liberalismus
in Rußland zusammen, das sich an den Krieg mit den Türken knüpfte. Bei
dem Streite, der über den Beginn und die Führung desselben zwischen der
Regierung und den Moskaner Slawophilen entbrannte, und bei dem die erstere
zunächst nachgeben und den letzteren ihren Willen thun mußte und dann schwere
Anklagen und Angriffe, wie einst während des Krimkrieges, über sich ergehen
sah, war der Liberalismus der tsrtius und der Nihilismus der aug,roh Zs-nasus.
Die beiden letzteren arbeiteten gemeinsam mit dem Material, das die Unzu¬
friedenheit mit der Unfähigkeit des Oberbefehlshabers der europäischen Armee,
Großfürst Nikolaus, mit den skandalösen Zuständen im Lcizaret- und Fcldpost-
wcsen, mit den ungeheuerlichen Unterschleifcn bei der Verpflegung der Soldaten
und mit der hochgestiegenen Finanznot lieferten, gegen die Negierung. Diese
Solidarität trat unverkennbar bei den großen nihilistischen Prozessen hervor, die
1876 und 1877 das Publikum in Atem erhielten, und in die im ganzen gegen
3800 Personen verwickelt waren. Die Nihilisten hatten davon einen großen
moralischen Erfolg, indem das Volk, da diese Prozesse öffentlich geführt wurden,
Gelegenheit erhielt, die Aufopferungsfähigkeit und die Siegesgewißheit der
jugendlichen Verschwörer zu bewundern, die oft empörende Mißhandlung derselben
in der Untersuchungshaft zu erfahren und sie ihre revolutionären Lehren mit feuriger
Beredsamkeit vortragen zu hören. Wie das auf die öffentliche Meinung wirkte,
bewies der Ausgang des Prozesses der Vera Sassulitsch, die als Rächerin der
entwürdigenden Mißhandlung des Studenten Vogoljubow den Polizeipräsidenten
General Trepow schwer verwundet hatte, und von dem Petersburger Schwur¬
gerichte freigesprochen wurde, obwohl ihre Schuld auf der Hand lag. Die
nihilistische Partei bemächtigte sich sofort der Tagesfrage, des Protests gegen
polizeiliche Willkür, und fesselte, sie an die Spitze ihres Programms stellend,
die Sympathien der Liberalen noch mehr an ihre Sache. Der politische Mord,
zunächst im Kampfe gegen die Polizei, der schon im September 1876 zu Odessa
gegen zwei Spione derselben und 1877 gegen zwei andre in Petersburg von
der Vehme der Nihilisten verhängt worden war, wurde durch jene Freisprechung
geradezu gerechtfertigt, auch bei den Liberalen, ohne deren Wohlwollen und
Billigung diese Art von Kriegführung niemals so umfangreich und so lange
möglich gewesen wäre, als sie es von jetzt an war. Wir nennen von den nun
rasch aufeinander folgenden Morden und Mordversuchen der Nihilisten nur
einige. Im Januar 1878 fiel ihnen in Rostow am Don ein Polizeispion
Namens Nikonow zum Opfer. Drei Wochen später griffen sie in Kiew den
Staatsanwalt Kotljarewski auf offner Straße mit Pistolenschüssen an, ohne
daß es gelang, der Thäter habhaft zu werden. Am 25. Mai wurde dort der
verhaßte Gendarmeriehauptmann Heyking in belebtester Gegend erdolcht. Der
Mörder entkam, nachdem er einen Arbeiter, der ihn festhalten wollte, nieder¬
geschossen hatte. Nicht lange nachher wurde der Chef der berüchtigten dritten
Abteilung der kaiserlichen Kanzlei, General Mesenzew, nachdem ihm von der
Vehme ein förmliches Todesurteil zugestellt worden war, bei einem Morgen¬
spaziergange von zwei elegant gekleideten jungen Leuten angefallen, von denen
der eine ihn mit einem Dolche durchbohrte, während der andre auf den Be¬
gleiter des Generals mit einem Revolver feuerte. Die Mörder entkamen in
einer bereit gehaltenen Droschke und verschwanden spurlos. Die Entdeckung
eines gegen den Zaren selbst gerichteten, von Marineoffizieren in Nikolajew
mit Anwendung von Dynamik vorbereiteten Mvrdplans bildete den Abschluß
dieses blutigen Sommers, in dem zugleich riesenhafte Feuersbrünste, die als
Werk des nihilistischen Terrorismus galten, die östlichen Städte Rußlands
heimsuchten.
Die Negierung ließ sich weder einschüchtern, noch zu liberalen Zugeständ¬
nissen bewegen, sie verstärkte nnr ihre Unterdrückungsmaßregeln. Die Polizei
nahm massenhafte Verhaftungen vor, aber wenn ihr die Zersprengung des re¬
volutionären Bundes „Land und Freiheit" gelang, so wurde er binnen kurzem
wieder hergestellt und besser als vorher eingerichtet und disziplinirt, und gleich¬
zeitig nahm man eine Umgestaltung des nihilistischen Programms vor. Während
dieses bisher sozialistische Tendenz ohne politische Nebenzwecke gehabt hatte,
nahm es jetzt konstitutionelle Forderungen auf, und mannigfache mit Vertretern
des Liberalismus angeknüpfte Beziehungen ließen bereits den Zeitpunkt nicht
mehr fern erscheinen, wo die gemäßigte und die radikale Opposition sich offen
zum Sturme gegen die konservative Negierung vereinigen würden. Von der voll¬
endeten Wiederherstellung der durch Polizeimaßregeln auf kurze Zeit gestörten
Organisation gab schon im Februar und März eine Reihe von Attentaten
Zeugnis, die teils gelangen, teils mißglückter, z. B. die Ermordung des Fürsten
Krapotkin, desI Gouverneurs von Charkow, und der Schuß, den ein Nihilist
auf den General Mentelen, Nachfolger des Generals Mesenzew vergeblich
abfeuerte. Stets entkamen die Schuldigen, und stets zeigte das „Exekutiv-Komits"
in seiner geheim erscheinenden Zeitung oder durch Maueranschlägc die „Hinrich¬
tung" oder den „Strafversuch" an. Turgenjew, der damals in Rußland einen
längern Besuch abstattete, bei dem er als Nestor des russischen Liberalismus über¬
schwenglich gefeiert wurde, schrieb in dieser Zeit: „Alles deutet darauf hin, daß
wir uns am Vorabend einer gesetzmäßig zwar nicht regelrechten, aber bedeut¬
samen Umgestaltung unsers öffentlichen Lebens befinden."
Da zerfiel plötzlich das Einvernehmen des Nihilismus und des Liberalis¬
mus. Das Exekutivkomitee der letztern Partei hatte bis jetzt die Idee des
Kaisermordes beharrlich von sich gewiesen. Nunmehr aber erlaubte es dem zu
der Partei haltenden Schullehrer Solowjew, das von ihm geplante Attentat
auf den Zaren auszuführen. Am 2. April 1879 feuerte er fünf Nevolver-
schüsse auf ihn ab. Sie gingen fehl, und ebenso mißlang der Versuch des
Mordgesellen, sich nun durch eine Giftpille selbst zu töten. Die Folge war
allgemeines Entsetzen des Publikums über das Verbrechen, das auch von den
Liberalen rückhaltlos verurteilt wurde, und mit deren offner Gemeinschaft
mit den Nihilisten war es ein für alle Mal vorbei; sie hatten den Grad der
regiernngsfeiudlichen Stimmung im Lande überschätzt, Die Negierung beantwortete
das Attentat damit, daß sie den größten Teil des europäischen Rußlands unter
das Kommando von militärischen Geueral-Gouverneurs mit diktatorischer Ge¬
walt stellte, die Thätigkeit der ordentlichen Gerichte und Polizeiorgane aufhob,
die Zensur verschärfte und die akademische Freiheit so einschränkte, daß die
Petersburger Dozenten einmütig ihren Abschied erbaten. Die nihilistische Zentral-
organisation litt darunter keinen Schaden, und das leitende Komitv ließ sich
von dem einmal beschrittenen Wege nicht ablenken. Aber es fand jetzt eine
Trennung der Nihilisten in Terroristen und solche statt, die sich mehr der
alten Agitation im Volke, als der Vorbereitung und Ausführung von Atten¬
taten widmen zu müssen meinten. Indes verständigte man sich auf einem
Delegirtentage, der im August 1879 zu Petersburg stattfand, zu gemeinsamerem
Wirken auf verschiednen Wege, so daß die Spaltung eigentlich nur eine Arbeits¬
teilung war. Die Terroristen, nach ihrem Preßorgan „Narodnaja Wolja"
(Volkswille) „Narodwoljzy" genannt, waren die an Zahl schwächere Gruppe,
aber straff zcntralistisch organisirt und im Besitze reichlicherer Geldmittel. Sie
herrschten in den Großstädten und verfolgten, in Berührung mit den Liberalen
bleibend, anch politische Zwecke. Die andre Gruppe, die man als „Narvdniki"
bezeichnete, setzte sich aus den alten „Vvlksgängern" zusammen, war schlecht
organisirt und betrieb nur sozialistische Wühlerei. Ihr Gebiet waren die kleinern
Orte und das Platte Land. Das Programm der Terroristen lautete in seinen
Hauptzügen: „Bei dem Mangel einer westeuropäischen Klassenbildung ist der
anzugreifende Gegner in Nußland nicht das Kapital, sondern die Negierung,
eine sozialistische Propaganda hat überdies keine Aussicht auf Erfolg. Das
nächste Ziel muß darum die Erkämpfung des Freistaats, die Herrschaft des
Volkswillens sein. Der dabei verübte politische Mord heißt Hinrichtung, die
Entwertung öffentlicher Gelder Beschlagnahme. Beide werden nur durch die
Notlage eines von absolutistischer Willkür geknechteten Volkes gerechtfertigt.
Verharrt die Regierung auf ihrem ablehnenden Standpunkte, so wird eine
Revolution dem Lande nicht erspart bleiben können. Die Vorbereitungen zu
einer solchen sind ohne Verzug in Angriff zu nehmen. Es bedarf für diesen
Zweck neben der Organisation der den Umsturz ausführenden Arbeilerbataillone
der Gewinnung eines einflußreichen Anhangs von Offizieren und Zivilbeamten,
deren Parteinahme im entscheidenden Augenblicke die Regierung entwaffnet. In
zweiter Linie sind die Sympathien der gesammten Intelligenz, namentlich der
gebildeten Jugend für eine soziale Revolution zu erstreben. Daß ein unglück¬
licher Krieg mit dem Westen die Aussichten auf eine solche verstärken werde,
ist zwar zu hoffen, aber nicht als völlig sicher zu betrachten; vielmehr wird
man mit einer Reihe terroristischer Thaten, etwa der Hinrichtung von 10 bis
15 von den höchstgestellten Staatsdienern, vorzugehen haben, auf die eine
Volkserhebung folgen wird. Ist diese günstig verlaufen, so wird der Partei-
Vorstand ein Volksparlament einberufen und diesem die Zügel der Negierung
übergeben." Das Verfahren des Exkutivwmitss der terroristischen Gruppe
entsprach jetzt diesem Plane. Mit der bisherigen Politik der massenhaften
Attentate wurde gebrochen, und alle Kraft ans das nächste Ziel, die Ermordung
des Kaisers konzentrirt. Die einzige Waffe war jetzt das Dynamik. Am 26. August
1879 „verurteilte" das Exekutivkomit6 den Zaren „zum Tode", und es wurde
beschlossen, ihn, der damals in der Krim weilte, auf der Rückkehr nach Peters¬
burg in die Luft zu sprengen, zu welchem Zwecke unter der Eisenbahn bei
Odessa, Alexandrowsk und Moskau Minen gelegt wurden. Der Plan mißlang,
der Kaiser berührte Odessa gar nicht, die Mine bei Alexandrowsk versagte, und
die bei Moskau zerstörte nur einen Gepäckzug, der ausnahmsweise dem kaiser¬
lichen Zuge vorausfuhr. Ebensowenig wurde der Zweck des Planes, den Kaiser
mit einem Teile des Winterpalastes in die Luft zu sprengen, erreicht, da die
betreffende Dynamitmine, als sie am 5. Februar 1880 explodirte, nur einen
großen Teil der Palastwände tötete oder verwundete. Ein Zufall, das verspätete
Eintreffen des Fürsten von Bulgarien, hatte den Monarchen vom Speisesaale
ferngehalten, wo er sich nach der Berechnung der Verschwörer im Augenblicke
der Explosion befinden sollte.
Das liberalisirende Regiment^des Generals Loris Melikow, dem der Kaiser
hierauf mit fast diktatorischer Gewalt die Leitung der inneren Angelegenheiten
übertrug, versöhnte die Terroristen nicht. Sie bereiteten ein neues Attentat
vor, und am 1. März 1882 fiel Alexander II., nachdem er wenige Stunden
vorher eine Art von Verfassung unterzeichnet hatte, durch die Sprengstücke
von Dynamitbomben, die zwei Nihilisten unter seinen Wagen geschleudert hatten
Aber die Hoffnungen auf eine allgemeine Volkserhebung, welche die Partei an
die Ermordung des Czaren geknüpft hatte, erwiesen sich als Täuschungen.
Sowohl in den Städten als auf dem Lande blieb alles still, und seitdem ist
in der nihilistischen Bewegung offenbar ein Rückgang eingetreten, obwohl die
Sicherheitsmaßregeln, mit denen der neue Kaiser innerhalb seines Reichs um¬
geben wird, allein schon beweisen, daß die Gefahr noch heute fortdauert.
Wiederholt wurden 1882 noch nihilistische Verstecke, Dynamitvorräte und Bomben-
wertstätten entdeckt, mehrmals kam die Polizei nihilistischen Umtrieben in Be¬
amtenkreisen, unter Offizieren des Landheeres und der Kriegsflotte, auf Uni¬
versitäten und Militärschulen auf die Spur. Noch 1885 wurde der Polizeioberst
Sudejkin wegen Verrath gegen die Nihilisten, denen er sich scheinbar zugeneigt
hatte, ermordet, noch 1886 versuchten die Studenten, die der Partei angehörten, es
mit einem Attentate. Aber die Terroristen hatten 1385 nur noch über 16,000
Rubel Einnahmen zu quittiren, während sie 1870 allein für die Unterminirung
der Eisenbahn 40,000 Rubel ausgegeben hatten, und sie sind unzweifelhaft
durch Verrätereien von Mitgliedern und durch polizeiliche Verfolgungen ein¬
geschüchtert und in Verwirrung gebracht worden. Die tiefere Ursache des
Niederganges der Partei liegt aber in dem dauernden Umschwunge der gesell¬
schaftlichen Stimmung in Rußland. Indem der moralische Rückhalt, den die
radikale Propaganda früher bei einem erheblichen Teile der gebildeten Klassen
fand, ihr von der jetzigen Negierung allmählich entzogen wurde, verschlechterte
sich das Nekrutenmaterial der revolutionären Partei, und nur selten noch fanden
sich hier Charaktere, die mit heißer Leidenschaft kalte Selbstbeherrschung ver¬
einigten. Der heutige terroristische Nihilismus lebt von den Zinsen der Erfolge
von 1873 bis 1381. Aber obgleich die Glanzzeit der Partei vorüber ist,
vermag immerhin ein Zufall, ein glückender Griff der Leiter sie unter günstigen
Umständen wieder emporzubringen. Die entscheidende Probe für die Meinung,
daß die Gefahr überwunden sei, kann nur ein russischer Krieg und dessen Rück¬
wirkung auf die fortschrittliche Opposition liefern. Bleibt Friede, so ist unter
dem stetigen und festen Regiments auf eine sich nach und nach vollziehende
Beruhigung des revolutionären Geistes, der das jüngere Geschlecht seit Jahren
in Besitz genommen hat, mit großer Wahrscheinlichkeit zu rechnen.
le deutsche Litteratur besitzt bei einer fast unübersehbaren Zahl
von Werken und Abhandlungen aller Art doch sehr wenig Bücher,
in denen der Versuch gemacht ist, das litterarische Leben einzelner
Landschaften oder Städte darzustellen. Daß es lohnend genug
ist, die Wirkungen der großen geistigen Bewegungen auch auf
abgeschlossene kleine Kreise zu schildern und die litterarischen Verhältnisse solcher
Orte zu betrachten, die keinen maßgebenden Anteil an der großen Entwicklung
genommen haben, hat beispielsweise ein Buch wie Jcmsens „Aus vergangenen
Tagen" (Oldenburgs litterarische und gesellschaftliche Zustände 1773—1811 dar¬
stellend) bewiesen. Um wie viel günstiger und lockender stellt sich die Aufgabe in
solchen Fällen dar, wo ein bedeutender Mittelpunkt litterarischen Lebens, eine Folge
hervorragender Erscheinungen zu schildern ist. Die bunte Mannigfaltigkeit der
deutschen Lokalverhältnissc, namentlich der starke, ja trotzige Individualismus des
deutschen Wesens, treten fürbas vorigen Jahrhundert in der Darstellung litterarischer
Entwicklungen und Kämpfe besonders deutlich hervor, und so könnte es einer
Litteraturgeschichte auf lokalem Hintergrunde kaum an interessanten Zügen und
lebendigen Gestalten fehlen. Vorausgesetzt natürlich, daß der rechte Forscher,
der die Mühe des eingehenden Studiums nicht scheut, und der rechte Dar¬
steller, welcher mit lebendiger Teilnahme bis zur lebendigen Anschauung vor¬
dringt, sich in einer Person zusammenfinden, wie es einige Male und neuerdings
wieder in dem vortrefflichen Buche „Aus Haltes Litteraturleben" von Wolde-
mar Kawerau*) geschehen ist. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie viel reich¬
haltiger und fesselnder der Stoff bei andern Städten sein würde, so läßt sich
an den Portraits und Skizzen, die Kawerau aus dem litterarischen Leben der
alten Saale- und Salzstadt entwirft, am besten erkennen, was in dieser Rich¬
tung noch zu leisten wäre. Einstweilen soll uns das geträumte Bessere das
Gute nicht verkümmern. Das Buch Kaweraus verdient nach Inhalt und Form
allgemeinere Teilnahme, es sind entschieden interessante Zustände und Gestalten,
die für unsre Erinnerung heraufbeschworen werden. Zu drei großen Gruppen
„Die Anfänge der Universität", „Pietismus und Nationalismus" und „Aus
der Blütezeit des Rationalismus" geordnet, entwirft der Verfasser die mannig-
faltigsten Bilder ans Hailes Vergangenheit, und wenn sich auch im Eingange
ein Rückblick auf die gelehrten „Schulen" der Saalestadt und am Schlüsse ein
Überblick über die „Theaterhändel", die zu Halle besonders heftig und charak¬
teristisch waren, findet, so erscheinen doch beinahe alle übrigen Skizzen auf
dem Hintergrunde der Hallischen Universität des achtzehnten Jahrhunderts.
Die Universität Halle-Wittenberg nimmt auch heute noch einen hohen
Rang unter den deutschen Hochschulen ein, aber sie trägt das allgemeine Ge¬
präge dieser Hochschulen, sie steht nicht mehr wie zur Zeit ihrer Gründung
und in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts im entschiedenen Gegen¬
satze zu den ältern Universitäten. Im gemeinsamen Kampfe gegen die verknöcherte
lutherische Orthodoxie und den Gelchrtenpedcmtismus des siebzehnten Jahr¬
hunderts hatten die beginnende Aufklärung des Verstandes, die durch Chr.
Thomcisius vertreten ward, und der Pietismus, der für Halle in der Person
August Hermann Frcmckes, des Stifters des Waisenhauses, verkörpert erschien,
ein Bündnis geschlossen, das zum raschen und eigenartigen Emporblllhen der
neuen Universität beitrug, aber schwere Zerwürfnisse und Zwistigkeiten zwischen
den Bundesgenossen des Augenblicks in seinem Schoße trug. Die ersten her¬
vorragenden Lehrer der Hallischen Hochschule, eben Thomasius und Francke,
konnten sich, von gleichen Verfolgern bedroht und bedrängt, wohl Rücken an
Rücken gegen eben diese Verfolger stellen, aber sie mußten, sowie sie sich ein¬
ander ins Auge sahen, die innerste Gegensätzlichkeit empfinden. Wohl halfen
nicht nur die gemeinsamen Bedränger, sondern auch gewisse bewußte und un¬
bewußte Übereinstimmungen das wunderliche Bündnis, dem die Universität Halle
ihr Dasein und ihren ersten Glanz dankte, eine Zeitlang festigen. Diese Über¬
einstimmung gab sich vor allem in gewissen pädagogischen Bestrebungen kund.
Kawerau drückt die Verwandtschaft mit dem Satze aus: „Wie Thomasius bei
aller Wissenschaft nur den unmittelbaren Nutzen im Auge hatte und nur eine
praktische Zurichtung der Studirenden anstrebte, so war Franckes Endzweck
Erbauung und Erweckung, nicht aber intensive wissenschaftliche Schulung. Es
war darum auch keineswegs zufällig, daß die junge Hallische Hochschule gleich¬
zeitig die Hochburg des Pietismus und die Hochburg der Aufklärung war.
Thomasius lief tapfer wider den theologischen Positivismus Sturm, während
die Pietisten, denen das Gefühl alles war, gleichgiltig den dogmatischen Satzungen
gegenüberstanden und ihrem Abbröckeln ruhig zusahen. Thomasius wollte eine
verständliche, volkstümliche und praktische Auffassung des Christentums und
durch dasselbe die moralische Veredlung des Volkes, auch die Pietisten strebten
nach einer volkstümlichen Laienreligion, deren Echtheit ihnen allein an ihren
Früchten erkennbar war; gleich Thomasius suchten auch die Pietisten die Kluft
zu überbrücken, durch welche die Wissenschaft vom Leben getrennt war. Und
stritt Thomasius keck und energisch für das Prinzip der freien, allen Über¬
lieferungen prüfend gegenübertretenden Subjektivität, so leistete der das wissen-
schaftliche Interesse mehr und mehr abstumpfende Pietismus diesem Prinzipe
zum mindesten keinen Widerstand."
Doch alles das und mehr konnte eine energische und lebensfrohe Welt¬
lichkeit und den rasch emporwachsenden geistlichen Hochmut der Stillen im Lande
auf die Dauer nicht versöhnen, und so sind denn schon die ersten Jahrzehnte
der Hallischen Litteraturgeschichte von grimmigen litterarischen Fehden erfüllt,
die nach der schlimmen Sitte der Zeit auf die persönlichen Verhältnisse und
Schicksale der Befehdeten einwirkten. Längst ehe sich der Schlußstein über den
großartigen Bauten und Stiftungen wölbte, welche Franckes Namen bis heute
im fortwirkenden Andenken halten, sah Thomasius in Franckes religiöser Be¬
triebsamkeit nur noch eine verderbliche Fabrikation von Frömmigkeit und Re¬
ligiosität, die ihn gegen die Franckischcn Anstalten förmlich erbitterte. Dafür
mußte Thomasius selbst noch den großen, mit bedenklichen Mitteln erfochtenen
Sieg und unedlen Triumph der Hallischen Pietisten über den Philosophen Christian
Wolff erleben. Während Francke Gott auf den Knieen dankte, daß es ihm und
seinen Genossen gelungen war, die bekannte brutale Kabinetsordre König Fried¬
rich Wilhelms I. zu erwirken, die Wolff bei Strafe des Stranges aus Halle
wies, hatte er weder die Entrüstung berechnet, die der ganze Vorgang in
der damaligen Welt erweckte, noch die großartige Teilnahme die er den
Schriften des Verfehmtcn damit zuführte, richtig angeschlagen. Kleinlich und
ärmlich, nur an Halle und ihre nächsten Umgebungen denkend, hatten die Halli¬
schen Pietisten nicht den nüchternen Philosophen, sondern sich selbst geschädigt
Kawcrau hebt mit Recht hervor, daß die gewaltsame Vertreibung Wolffs aus
Halle ihm Anhänger im eignen Lager des Pietismus gewann. „Siegmund Jakob
Baumgarten, der ältere Bruder des Philosophen, von Haus aus ein echtes
Kind des Hallischen Pietismus, wurde nun mehr und mehr Pietist und Wolffianer
zugleich. Er, der früher aufs eindringlichste die warme Pektoraltheologie des
Pietismus vertreten hatte, suchte nun für das Lehrsystem der lutherischen Kirche
eine kühle, verstandesmäßige Fassung, schied mehr und mehr alle eigentlich pie¬
tistischen Probleme aus seiner Theologie aus und mühte sich ab, möglichst viel
an der Religion zu erklären. Und zwar operirte er ausschließlich mit der von
Wolff erlernten Methode. Er war es, der den Wolffschen Grundsatz von der
Ermittlung des zureichenden Grundes anch in die Theologie hineintrug und
damit die pietistische Theologie der des Rationalismus mehr und mehr näherte.
Zunächst ist es eine eigentümliche Erscheinung, wie dieser Einfluß der Wolff¬
schen Philosophie auch aus die ganze Persönlichkeit des hervorragenden Theo¬
logen einwirkte. Wie eine Ernüchterung kommt es plötzlich über ihn, es ist,
als sei seine religiöse Temperatur jählings abgekühlt, als sei durch das Streben
nach logischer Schematisirung jedes warme Gefühl in ihm erstickt worden. Und
er nun war es, den den verkümmernder Pietismus Schritt vor Schritt zurück¬
drängte, der bald als das anerkannte Haupt der theologischen Fakultät galt
und der, was dem Pietismus nie gelungen war, wirklich eine theologische
Schule zu bilden verstand, welche denn in der Folge nur zu rasch ihren
pietistischen Ursprung gründlich verleugnete. Aus seiner Schule ging Semler
hervor, der die heutige historische Quellenkritik begründete."
Mit dieser von Kawerau bezeichneten Wendung kam noch vor der Mitte
des Jahrhunderts eine größere geistige Einheit in das Universitäts- und das
litterarische Leben Haltes. Der siegreiche Nationalismus, wie ihn der ehr¬
würdige Semler lauge schon vom Katheder vertrat und durch zahllose Schüler
verbreitete, beherrschte von dieser Zeit an auch die ästhetische und poetische Thätig¬
keit, deren Schauplatz und Mittelpunkt Halle war. Jene halbvergessenen Dichter,
deren Namen in der deutschen Litteraturgeschichte fortklingen, ohne daß selbst
die Kenner dieser Geschichte einen klaren Begriff von ihren Bestrebungen und
Leistungen hätten: die Immanuel Phra, Samuel Gotthold Lange, die Uz,
Götz und Nudnick treten natürlich auch in Kaweraus Buche auf. Sie gewinnen
wieder ein deutlicheres Gesicht für den aufmerksamen Leser und vergegenwärtigen
uns die eigentümliche Entwicklungsperiode der deutschen Poesie, in der die
schüchternen Versuche von Studenten und jungen Magistern eine Bedeutung
hatten und den Weg zur Empfindung und Darstellung des Schönen bahnen
halfen. Die Dichtungen dieser jugendlichen Männer, die ein paar Menschen¬
alter lang das Entzücken kleiner Kreise blieben, liest heute freilich niemand
mehr, und bei aller modischen Vorliebe für die Litteraturgeschichte giebt es eben
sehr wenige Leute, die den Unterschied zwischen dem gemachten, schwülstigen
Pathos des vom Hamburger Opernpoeten zum Hallischen Professor empor¬
gestiegenen Chr. Fr. Hunold (Menantes) und den anakreontischen Versuchen
der späteren Hallischen Dichter oder gar zwischen Uzens „Theodicee" und Götzens
„Mädcheninsel" zu würdigen vermögen. Es ist ein verzweifeltes Ding, an
Blumen, die inzwischen allesamt zu Heu geworden sind, den Unterschied der
Farbe und des Duftes nachweisen zu müssen. Der Verfasser der lebensvollen
Erinnerungen aus Haltes Vergangenheit hätte immerhin diesen jugendlichen
Poeten noch ein paar Worte mehr gönnen und seinerseits an dem noch immer
unvollständigen Nachweis mitarbeiten können, wie nach und nach einige Tropfen
Erlebnisses die nachgeahmte, nachgestammelte Poesie zu färben begannen wie
dunkler Wein das Wasser. Auch die Hallischen Dichterkränzchen — mochte das
eine zu Milton, das andre zu Hagedorn und den französischen, leicht eleganten
Liedcrsüngern neigen — rangen mit der langen Gewöhnung an die traditionelle,
unpersönliche, gemachte Poesie, und ihre ersten schüchternen Versuche, eigne
Empfindung, eignen Lebensgenuß auszudrücken, haben zu gleicher Zeit den Reiz
des Rührender und die Komik der Unbeholfenheit. Gewiß war es thöricht,
wenn nachmals der alte Gleim, der einzige von den dichtenden Hallischen
Studenten, dessen Gestalt etwas deutlicher im Gedächtnis der Nachwelt steht,
am herrlichsten, goldensten Tage unsrer Dichtung um die friedfertige Dürftigkeit
der ersten Dämmerung klagte. Aber so viel ergiebt sich doch aus diesen und
ähnlichen Klagen, daß dies erste Zusammenschließen der Gleichgesinnten, Gleich-
bestrebten Anziehungskraft gehabt und Befriedigung erweckt haben muß.
Unmittelbar nach dem siebenjährigen Kriege treten poetische Bestrebungen,
soweit sie an Halle geknüpft sind, wieder etwas in den Hintergrund; die
Sturm- und Drangperiode, die so verschiedenartige Gesichter und entgegengesetzte
Erscheinungen zeigte, bedeutete für Halle einen stürmischen Aufschwung des
Rationalismus, wobei dem ehrwürdigen Vater desselben, dem frommen und
milden Semler, wohl bange und manchmal himmelangst werden mochte. Zuerst
machte sich eine unbedingte und frivole Weltlichkeit in der Erscheinung von
Christian Adolf Klotz geltend, der in den sechziger Jahren des achtzehnten
Jahrhunderts seine große Rolle an der Hallischen Universität spielte. Ju dem
Abschnitt „Klotz und die Klotzicmer" hat Kawerau sehr ergötzlich und lebendig
das wunderliche Treiben dieses von Lessing moralisch vernichteten Philologen-
bclletristen und seines Schweifes schlechter und cmmaßlicher Skribenten vor
uns heraufbeschworen. Zur Beschämung der Gegenwart erkennen wir, daß der
eitle, oberflächliche und ränkevolle Klotz bei alledem ein Heros an Gelehrsam¬
keit im Vergleich zu seinen heutigen Nachkommen gewesen ist. Er war eben
ein Streber im schlimmsten Sinne des Wortes, nie nahm er mit vollem Herz¬
schlag teil an dem, was die Zeit und die Geister bewegte. Alles galt immer
nur dem eignen kleinen Ich, so daß schließlich sein gesamtes schriftstellerisches
Wirken nur noch aus dem Boden des nacktesten Egoismus emporwuchs. Ju
diesem Spiegel mögen sich unzählige der litterarischen Talente von heute wieder¬
erkennen, Stümper und Kabalenmacher, die leider sicher genug sind, daß ihnen
kein Lessing entgegentreten wird. Die interessanteste Partie in der Erzählung
von Klotzens Fahrten, Schicksalen und Abenteuern ist die vom Auseinander-
ftäubeu der mit so vielen Schweißtropfen zusammengekehrten Klique. Denn
nach Lessings gewaltigem Strafgerichte „boten gerade die allernächsten Freunde
des Gestürzten der Welt ein Schauspiel zum Erbarmen. Feige drückten sich
die einen leise von diniren, andre fielen ganz offen ab, ja der schäbige Professor
Hausen war gar gesinnungslos genug, gleich nach Klotzens Tode eine wahre
Schandschrift als Biographie seines Freundes auszubieten und darin mit
cynischen Behagen die ganze Gemeinheit der Sippe zu enthüllen." Nur zwei
Poetische Naturen, mittelmäßige Poeten, aber doch poetische Naturen, der
Laublinger Lange und Georg Jacobi, fanden es unter ihrer Würde, ihre
Freundschaft für Klotz zu verleugnen. Im Augenblick ist ihnen das sicherlich
gewaltig verdacht worden, der Parteigeist auch der guten Partei ist ja stets
unbillig und unduldsam, aber in der Erinnerung wirkt Kaweraus Bericht
darüber wohlthätig, und man hat die Empfindung, daß es selbst in dem immer
skandalfrohen Publikum Leute genug gab, die das Verhalten der dankbareren
Naturen billigten. Wenn Klotz durch seine Art und Weise, zu sein, die Moralischen
entrüstet und Anlaß zu gewaltigen Strafreden gegeben hatte, so sollte er bald
überboten werden. Denn von 1779 an ließ sich Doktor Karl Friedrich Bahrdt,
bereits der berüchtigtste aller berüchtigten Aufklärer, dauernd in Halle nieder,
um von hier aus eine Reihe neuer Offenbarungen ausgehen zu lassen, die dem
Rationalismus auf sein schwärzestes Sündenregister gesetzt wurden. Ein ver¬
wüstetes und verlottertes Leben hinter sich, von Haus ans ein seichter Gesell
und durch seine selbstverschuldeten Schicksale immer platter geworden, hielt
Bahrdt das aufgeklärte Halle für seine Domäne, indem er über alles Mögliche,
über Philosophie und Philologie, über Moral und Theorie der Deklamation
zu lesen begann, wobei es ihm auch an Zulauf nicht fehlte, indem er nach den
Worten des Ministers von Zedlitz vom Stallmeister bis zum Professor der
Mathematik oder der Anatomie jeden leer werdenden Platz bei der Universität
für sich forderte und, freilich von der bittersten Not des Lebens gedrängt,
unbarmherzig darauf los schmierte. Er übersetzte Tncitus und Juvenal, schrieb
eine Logik und Metaphysik, gab Gedichte eines Naturalisten (ein Jahrhundert
vor Bleibtreu und Friedrichs!) eine Redekunst für geistliche Redner und ein
Sittenbuch fürs Gesinde heraus, verfaßte zwischendurch Pasquille und Pamphlete
und verkündigte in immer neuen Büchern sein aufgeklärtes Christentum, dessen
Christus schließlich nichts andres war als ein Aufklärer vou dem Schlage des
Herrn Doktor Bahrdt selber. Während allmählich seine im seichtesten Geschwätz
versandende theologische Schriftstellern kaum noch ernsthaft genommen wurde,
wußte er durch seine giftigen Ausfälle gegen zeitgenössische Theologen wenigstens
noch zeitweilig von sich reden zu machen und damit zugleich sein Bedürfnis
nach Skandal und Persvnalklatsch zu befriedigen. Seinerseits sorgte er gründlich
dafür, auch auf seine Kosten das gesamte Publikum mit Skandal und Klatsch
zu bewirten, so als er in holder Gemeinsamkeit mit seiner Dienstmagd eine
Schankwirtschaft auf seinem Weinbergsgrundstück bei Halle aufthat, so als er
es durch fortgesetzte Opposition gegen Wöllner dahin brachte, ein Jahr Festungs¬
arrest in Magdeburg zu erhalten, so als er seine eigne Lebensgeschichte hinter¬
ließ, in der er, wie Kawerau sagt, durch das Bestreben, die Schande von sich
abzuwälzen, sich ein Denkmal seiner Schande errichtet hat.
Eine Bahrdt verwandte, nur durch stärkeren Cynismus und größeres
Pech, aber auch durch bessere Selbsterkenntnis von ihm unterschiedene Natur
war jener Magister Friedrich Christian Laukhard, welcher als gemeiner Soldat
im preußischen Regiment Thadden die Muskete trug und nebenbei aufgeklärte
Romane schrieb. Laukhard, dessen Kawerau am Schlüsse seines Buches ge¬
denkt, bezeichnet eine der äußersten Spitzen der verliederlichten Freigeisterei, die mit
der verliederlichten Naturschwärmerci gewisser Stürmer und Dränger der Zeit
nach wie den Resultaten nach zusammentraf. Ein geborner Pfälzer, der in Gießen,
Jena und Halle Mark, Halt und Habe im rohesten und wüstesten Studenten¬
leben verpraßt hatte, den die äußerste Hilflosigkeit den preußischen Werbern
in die Hände trieb und an dem auch die fiir allmächtig gehaltene preußische
Disziplin nichts zu bessern vermochte, nahm Laukhard nicht bloß in der viel¬
bändigen Erzählung seines Lebens und seiner Schicksale, die er „zur Warnung
für Eltern und studirende Jünglinge" niedergeschrieben haben wollte, sondern
mich in den brutalen Romanen „Franz Wolfstein" und „Leben und Thaten
des Rheiugrafen Karl Magnus" die Maske des Mentors und Patrioten an,
die ihm jämmerlich schlecht zu Gesichte stand. Bemerkt zu werden aber ver¬
dient, daß diese Bücher erst hervortraten und Leser fanden, als Schillers
„Wallenstein" und Goethe's „Hermann und Dorothea" eben ihre Laufbahn
begannen.
Imi Vergleich mit Gestalten wie Bahrdt und Lauckhard, welche die Litte¬
raturgeschichte des aufgeklärten Halle verunzieren, liegt ein gewisser blasser
Glanz über der Erscheinung des am Ende des vorigen Jahrhunderts so ge¬
priesenen, allgelcsenen und gegenwärtig gänzlich vergessenen August Lafontaine.
Auch Kawerau, ohne sich über die Mängel seiner Schriftstellerei zu täuschen,
kann nicht umhin, ihm eine wärmere Teilnahme zu widmen als den vorange¬
gangenen Erscheinungen. Er rühmt die persönliche Liebenswürdigkeit, hebt mit
Recht hervor, daß man sich hüten müsse, „hinterher, nachdem die Litteratur¬
geschichte ihr Verdikt gefällt, die geistigen Qualitäten dieser vergessenen Mode¬
schriftsteller allzugcring anzuschlagen. Auch in Lafontaines Massenproduktion
steckte ohne Frage Talent, in seinen Erstlingswerken sogar eine ganz ansehn¬
liche Summe, aber in seiner fahrigen Vielschreiberei mußte allmählich das durch
keine Selbstzucht gezügelte Talent elendiglich zu Grunde gehen. Es fehlte dem
von Haus aus aufs glücklichste begabten Manne jeder künstlerische Ehrgeiz."
Grade das hat dem Hallischen Romanschriftsteller seine großen Erfolge ver¬
schafft, daß sich natürliches Talent und die flachste Benutzung desselben in ihm
verbanden, die „immer fertige Selbstgenügsamkeit, für die keine Fragen und
keine Probleme mehr vorhanden sind," entspricht auch heute noch den Neigungen,
den Lese- und Lebensgewohnheiten des mittleren Publikums, und der Schrift¬
steller, der sich empfehlen will, kann das gar nicht zweckmäßiger thun, als in¬
dem er weder Ansprüche an sich selbst noch an das Publikum macht. Dem
tiefern Zusammenhang der weichlichen oder rührseligen Romane Lafontaines mit
der Aufklärung legt Kawerau mit Recht kulturgeschichtliche Bedeutung bei, weil
man kaum irgendwo sonst die breiten Wirkungen des Rationalismus deutlicher
erkennen kann. „Lafontaine ist durchaus ein Geistesverwandter Friedr. Nikolais, nur
mit einem starken Zusätze von Sentimentalität, die dem mehr kritisch beanlagten
Berliner Aufklärer fremd war. Beide, der Geistliche wie der Buchhändler,
standen auf der äußerste» Linken des Rationalismus, beider Geistesart genügte
völlig »eine natürliche Geschichte des großen Propheten von Nazareth«, ihr
ganzes Christentum hatte sich in eine seichte Popularphilosophie mit moralischer
Tendenz aufgelöst. Beider religiöse Bedürfnisse waren die denkbar bescheidensten;
mit der Annahme eines wohlgesinnten Gottes erschienen ihnen alle Widersprüche
des Weltlaufs ausgeglichen, alle Unruhe des Herzens beschwichtigt. »Was
bedarf ich, um glücklich zu sein? so fragt Lafontaine in seinem ersten Roman.
Einen gesunden Magen, ein Haus, ein Kleid, ein Weib, einen Freund und
Frieden mit mir selbst,« und er wird nicht müde, diese hausbackene Moral in
allen seinen poetisch und religiös bettelarmer Romanen weitschweifig zu
wiederholen."
Leider gehen mit der Charakteristik dieses auf der Grenze des achtzehnten
und neunzehnten Jahrhunderts wirksamen Romanschriftstellers dem andern Titel
seines Buches „Kulturbilder aus dem Zeitalter der Aufklärung" entsprechend,
die geistvoll belebten nud lehrreichen Schilderungen Kaweraus zu Ende. Das
weitere litterarische und poetische Leben in der alten Saalestadt findet keine
Darstellung. In demselben Jahrzehnt, wo Lafontaine mit seinen gemütlichen
Romanen das Herz selbst solcher Leserinnen gewann, wie Königin Luise, lebten
einige der jugendlichen Romantiker in Halle und gaben sich Empfindungen,
poetischen Plänen und litterarischen Studien hin, zu denen der wackere Feld¬
prediger des Regiments Thadden nur den Kopf hätte schütteln können. In
den ersten neunziger Jahren studirte Ludwig Tieck in Halle, wohin ihn das be¬
scheidene Stück romantischer Natur gezogen hatte, das in den Waldinseln
der Saale und einigen Felspartien bei Giebichenstein auch spätere Stndenten-
geschlechter entzückt hat. Hier war es, wo er 1792 den düster phantastischen
Erstlingsroman „Abdallah" schrieb, wo er den verwandten Roman „William
Lovell" entwarf, hier wo er seine Cervantes- und Shakespcarestudien begann,
sein Vorlesertalent vor einem Kreise jugendlicher Genossen zuerst entfaltete und
jenen persönlichen Zauber ausübte, der sein Leben hindurch ihm so viele poetisch
gestimmte Naturen enger verband. In Halle erlebte Tieck jene Stimmungen
innerster Verzweiflung »ut Trostlosigkeit, die mit der Poesie frischer Jugendlust
in so grellem Widerspruch standen und von denen uns Köpckes Erinnerungen
an Tieck meist mit dessen eignen Worten berichten. In Halle kehrten in den
Anfängen wie im Ausgang der Romantik zahlreiche Dichter und Schriftsteller
ein, die anfänglich noch zu einem Teil von des Musikers Reichardt Landsitz
in Giebichenstein angezogen wurden, später auch andre Anziehungspunkte fanden.
Kurz vor der Katastrophe des preußischen Staates im Jahre 1806 wirkten
Schleiermacher (als Universitätsprediger) und der Norweger Henrik Steffens
(als Professor der Mineralogie) in Halle, ein ganzer Kreis romantischer und
romantisch angehauchter Poeten versammelten sich um sie, die beiden Brüder
von Eichendorff, auch Varnhagen von Ense, der damals seine halbpoetische
Periode hatte, waren in den Jahren 1805 und 1806 in Halle, die Saale¬
universität gehörte zu den deutschen Hochschulen, die den Romantikern besonders
lieb waren. Achin von Arnim gab einem seiner phantastischsten Schauspiele
den Titel: „Halle und Jerusalem, Studentenspiel und Pilgenibenteuer." Nach
Halle zog sich dann um 1831 der greise Dichter der „Undine" und des „Zauber¬
rings", der aus übergroßer Geltung in übergroße Geringschätzung und Ver¬
gessenheit gefallene de la Motte Fouquö zurück und mußte dort freilich erleben,
daß er als eine Art poetisch-litterarischer Don Quixote, als traurige Ruine
einer längst vergangenen Zeit betrachtet wurde. In demselben Jahrzehnt, in
welchem der alte Romantiker seine fadenscheinig gewordene Ritterlichkeit, seine
künstliche Naivität und seine verblassende Phantasie an den Ufern der Saale
spazieren führte, entstanden die „Hallischen Jahrbücher" von Rüge und Echtcr¬
meyer, das kritische Organ der radikalen Jugend, ward von Halle aus die
freiheitatmende Tendenzdichtung in allen Tonarten gepriesen und gefördert.
Der Kreis, der sich um Arnold Rüge unmittelbar vereinigt hatte und der die
Jahrbücher vorzugsweise beseelte, erfuhr viele Jahre später in der Selbst¬
biographie Ruges „Aus früherer Zeit", in den Erinnerungen von Ad. Stahr
und anderen Schriften eine lebendige Charakteristik, und es würde nicht schwer
sein, das Litteraturbild Haltes in den letzten zwanziger und den dreißiger
Jahren unsers Jahrhunderts mit einer ganzen Reihe von fesselnden Zügen
auszustatten.
Da die 1814 uach den napoleonischen Gewaltmaßregeln nen hergestellte
Universität einen mächtigen Aufschwung nahm, so hatte auch in diesem Zeitraum
das gelehrte Halle einen bedeutenden Anteil am Litteraturlebcn, und eine Ge¬
schichtsentwicklung, in deren Anfang die Hallische Litteraturzeitung und in deren
Ausgang die Hallischen Jahrbücher standen, hätte ganze Reihen hervorragender
Universitätslehrer zu verzeichnen. An die Stelle zahlreicher früherer Zeitschriften,
die in Halle erschienen, suchte nach der achtundvierziger Revolution das „Deutsche
Museum" zu treten, das zwar in Leipzig gedruckt und verlegt, aber in Halle
von Robert Prutz redigirt wurde. Die poetischen Stndenteuvereinigungen, die
der Hallischen Universität von Pyra und Gleim an eigentümlich gewesen waren,
setzten sich bis in die neueste Zeit fort, und noch im fünften Jahrzehnt sammelte
sich eine solche, der u. a. Otto Roquette, Julius Grosse, August Förster, (der
gegenwärtige Direktor des Wiener Hofburgtheaters) angehörten, um den liebens¬
würdigen, feinsinnigen Shakespeareforscher Julius Thümmel, der nachmals der
Hochschule Jahrzehnte lang als Universitätsrichter und den geselligen Kreisen
der Stadt als eine litterarisch und künstlerisch vielseitig gebildete Persönlichkeit
treu blieb. Ein bleibendes poetisches Zeugnis der Bestrebungen dieses Kreises
ist Otto Noquettes weitverbreitetes Märchen „Waldmeisters Brautfahrt", während
noch zwei Jahrzehnte später die reizenden „Träumereien an französischen Kaminen"
von Richard Leander erwiesen, daß der Hallische Boden der feinen Märchenpoesie
fortdauernd günstig blieb. Neben den litterarischen Überlieferungen, die aus
den Kreisen der Anakreontikcr bis auf unsre Tage gelangten, wurden natürlich
anch diejenigen weiter gebildet, die aus den Kreisen des Hallischen Waisenhauses
und der mit ihm verbundnen Anstalten stammten. Litterarische Denkmale der
letztern Richtung ^ waren unter andern Friedrich Ahlfelds „Erzählungen für
das Volk" und die Erzählungen von Marie Nathusius, die zuerst im Hallischen
„Volksblatt für Stadt und Land" hervortraten. Doch wir könnten lange fort¬
fahren, Namen und Titel aufzuzählen, ohne damit die Fülle der litterarischen Er¬
innerungen und Beziehungen zu erschöpfen, die, an Halle angeknüpft, der Saale¬
stadt den Ruhm bewahrten, ein vielseitig reges, geistiges Leben in sich zu fassen.
Es möge, wenn das neunzehnte Jahrhundert zu Ende geht, das Litteraturleben
Haltes in demselben einen nicht minder kenntnisreichen, maßvollen und vortreff¬
lichen Darsteller finden, als er dem Litteraturlebcn des Zeitalters der Aufklärung
in Kawerau erwachsen ist.
^ Die genauere Kenntnis der lokalen Litteraturgeschichte und die Pflege
derselben kann vielleicht den Erfolg haben, auch für den Zusammenhang der
lokalen Gestalten und Erscheinungen mit dem großen Gange der Litteratur, für
die Einsicht in die eigentümlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Land¬
schaften und Städten neuen Anteil zu erwecken. Wohl ist eine Gefahr dabei
unausbleiblich, die nämlich, daß die modische Unterschätzung des wirklich ursprüng¬
lichen und lebendigen Talents, der eigentlichen Individualität, sich nach einer
neuen Richtung hin geltend machen werde. Man darf einer gewissen Sorte
von Forschern und Urteilern kaum glauben, daß bestimmte Örtlichkeiten, gesellige
und andre Verhältnisse einer Stadt ihren Anteil an der Bildung und Geistes-
richtung vorzüglicher Menschen gehabt haben, um sofort zu erfahren, daß die
persönliche Vorzüglichkeit in den Augen dieser Leute zu etwas ganz Unterge¬
ordneten wird. Aber das Vorhandensein solcher krankhaften Neigungen in der
Gegenwart darf doch schließlich wohlberechtigte Bestrebungen nicht hindern, und
so werden wir uns freuen, Bilder aus dem Litteraturleben auch andrer Städte
zu erhalten, wenn sie annähernd so bedeutend und wohlausgeführt sind, wie
die aus Hailes Vergangenheit.
eben wir uns in sämtlichen Ausstellungen der drei letzten Jahre
um, so finden wir nur ganz vereinzelte Historienbilder in diesem
Sinne. Allerdings werden ja von Staat und Gemeinden in
neuester Zeit nicht selten Historienbilder zur würdigen Aus¬
schmückung festlicher Räume in Auftrag gegeben, die nicht zur
Ausstellung gelangen können. Gewiß entstehen auch durch diese Anregung Werke,
die unsre eben ausgesprochenen Erwartungen rechtfertigen. Aber bestellte Kunst
hat leicht etwas Absichtliches. Erdachtes statt des Frcierfundenen, Gcnialge-
schaffencn. Sie ist mehr Illustration zu einem gegebenen Stoffe, als eigne
Dichtung nach freier Eingebung, mehr Arbeitsleistung als Kunstwerk. Nur
dann wird der Künstler dieser Gefahr entgehen, wenn er durch den Auftrag
nicht in eine Sphäre versetzt wird, die seinen sonstigen künstlerischen Konzep¬
tionen fern liegt, wenn er Historienmaler von Beruf, nicht auf Bestellung ist.
Es ist ein wohl nicht zufälliges Zusammentreffen mit der gegen die ein¬
seitige klassische Schulbildung gerichteten Bewegung, daß die antike Geschichte
von der Kunst unsrer Tage keinerlei Pflege findet. Mit der Kräftigung und
Vertiefung unsers deutsch-christlichen Bcwußseins nimmt Verständnis und Inter¬
esse für das vorchristliche Altertum, soweit es nicht in Dichtung und Philo¬
sophie Unvergängliches geschaffen hat, ab. Hildebrands Tullia ist nicht Historie,
sondern unwahre, wenn auch farbenprächtige Phantasie des Unmenschlichen;
und Liskas dem Kaiser Maximian erscheinende Märtyrer sind Gespensterspuk,
der den einen gruseln macht, den andern lächeln, aber eine künstlerische Wir¬
kung nicht erzielen kann. Über der Darstellung von Alexanders Tod, eines
Stoffes, der ebenso durch seine erschütternde Tragik wie durch seine welt¬
geschichtliche Bedeutung über den Nahmen der antiken Geschichte hinausragt, ist
dem großen Historienmaler der Periode der Farben, der Kostüme und der
Pose, Piloty, der Pinsel aus den vom Tode erfaßten Händen gefallen.
Aber auch das Mittelalter war in München nur mit Bildern vertreten,
die wir schon von frühern Jahren kennen. Lindenschmidts Einzug Alarichs in
Rom, wobei die jugendlich frischen, unverdorbenen germanischen Gestalten die
höchste, reinste Frucht der unter ihrem Fußtritt zusammenstürzenden alten,
durch ihre Träger als abgelebt und kraftlos trefflich charakterisirten Welt, die
Heiligtümer des christlichen Glaubens, in ihren Schutz nehmen, ist leider nicht
befriedigend in der technischen Ausführung. Hermann Kaulbachs Krönung der
heiligen Elisabeth dnrch Kaiser Friedrich ist trotz manches köstlichen Zuges im
nnzelucu und trotz malerischer Vorzüge doch als Ganzes zu steif feierlich, im
Stoffe zu sehr eine Verherrlichung mittelalterlicher Romantik; es spricht nicht
die Sprache unsrer thatenfrohen und realistischen Zeit, sondern vcrklungener
Tage süß verschwommenen Klang, der das Herz nicht packt. Nicht weniger als
fünfmal ist die heilige Elisabeth noch vertreten, deren Abschied von ihren Kilt.
dern beim Eintritt ins Kloster uus O. Friedrich schon im letzten Jahre er¬
greifend, wenn auch ohne der herbe» Thatsache durch Schilderung der idealen
Seite mittelalterlicher Frömmigkeit etwas versöhnendes zu geben, gemalt hatte:
einmal vom süßen Zauber der Romantik umflossen als lebendige Statue in
einer Mauernische gemalt, von Engeln angebetet, im Augenblick des Rosen¬
wunders (Luise Max-Ehrlcr), dann als wirkliche Statue in GyPs (Scnyei),
«is Statuette in Silber (Se. Schwach), daneben im kalkfarbigsten Freilicht
des modernsten Realismus entsetzlichen Arme» wie eine seelenlose Figur Brot
verleitend (W. Volz), endlich im Tode in der kahlen Klosterzelle, umgeben von
Nonnen und Armen (Jos. Flüggen). Nirgends erheben sich die Künstler zu
einer vou wirklichem Verständnis eingegebenen, lebendigen, individualisirenden
Charakteristik Unsre Zeit ist nicht die Zeit der Heiligen; in der Helldunkeln
Dämmerung, in der die Heiligen zu Hause sind, ist es unsrer Zeit nicht heimlich,
und in dem hellen Tageslichte, das wir lieben, können sie nicht leben.
An die Schwelle der Reformationszeit führt uns zuerst die wiederum schon
vom letzten Jahre her bekannte, vor dem prächtigen Stadtprospekt von Konstanz
zum Scheiterhaufen wandelnde Statue Hussens im Ketzergewande, angeflucht
von einigen Waldarbeitern, die Bündel dürres Holz gesammelt haben und in
die Tiefe des Bildes zum Holzstoß marschiren, begleitet im Hintergrunde im
feierlichem Aufzug von den Vertretern des Konzils — ein unerschöpfliches
Thema seelischer Konflikte, irrender Leidenschaften, auf einander stoßender welt¬
geschichtlicher Gegensätze, dargestellt von Hellquist mit erschreckender Armut der
Motive und Nüchternheit der Auffassung. Was die Reformationszeit selbst
betrifft, diesen Höhepunkt deutscher Geschichte voll charakteristischer Gestalten,
mächtiger Konflikte, aufleuchtenden seelischen Lebens, so haben sich nur E. Hilde¬
brand und Stelzner mit den schon oft gemalten Genrebildern des in der
Kurrende singenden Knaben Luther und des mit seiner Familie zur Laute
singenden Reformators (die Bilder Hildebrands in Berlin ausgestellt) bis in
den Vorhof gewagt, während Hugo Vogel, der uns zur Berliner Jubiläums-
ausstclluug das mit großem geschichtlichen Sinn charakterisirte Bild von der
Aufnahme französischer Refugies durch den großen Kurfürsten, des schutzlosen,
opferwilligen Idealismus durch die selbstbewußte, aber für des erstere» Hoheit
empfängliche Kraft schenkte, uns die erste protestantische Abendmahlsfeier eines
Herzogs mit seiner Familie und seinem Hofstaat mit all den aus gläubiger
Zuversicht und bangem Schauer gemischten Gefühlen miterleben läßt. Ein
Zeilbild von ergreifender Kraft der Gegensätze hat Albert Keller geschaffen;
auf dem Holzstoß, an den Pfahl gebunden, in weißes Linnen gehüllt wie in
ein Sterbekleid eine jugendliche weibliche Gestalt, frische Anmut und reinste
Unschuld in den geistesabwesenden Zügen. Die in tiefster Erregung sie um¬
gebenden Gruppen empfinden teils inniges Mitleid, das sie ans uns übertragen,
teils zeigen ihre Geberden, daß sie vou leidenschaftlichem blinden Wahn be¬
fangen den kalten Richtern auf den hohen Stufen Recht geben, die hier eine
Hexe zu richten glauben.
Aus dem folgenden Zeitabschnitt erzählen nur Kriegsbilder, die wir mit
denen aus deu Befreiungskriegen und aus dem Jahre 1870 zusammenfassen
können, da es sich bei ihnen allen um Historie im strengen Sinne nicht han¬
delt. Der Künstler will die Leidenschaft des Kampfes oder das Malerische
der Szene darstellen, wenn ihm nicht, wie bei Röchlings Verennung des um-
mauerten im Sonnenglanze liegenden Städtchens Besigheim durch übers Kohlfeld
stürmende Landsknechte, die Soldaten nur als Staffage dienen, oder, wie bei
Robert Hangs vortrefflichen kleinen Bildern aus den Befreiungskriegen, der
Schwerpunkt des Interesses auf der Durchführung einer Stimmung durch
Landschaft und Gcfechtsszene liegt, oder endlich der Zweck darin aufgeht, eine
bestimmte Gefechtssituation festzuhalten, wie es L. Putz in dem klar angeordneten
..Kampf an der Eisenbahnbrücke bei Bazeilles am 31. August 1870" trefflich
gelungen ist. Immerhin ist bemerkenswert, daß keines dieser Schlachtenbilder
aus bloßer Frende an Krieg und Kriegsgeschrei, keines zu eitler Verherrlichung
unseres Schlachtenruhmcs gemalt ist. Solches ist unsrer friedliebenden Nation
fremd; ein Vergleich zwischen der deutschen und französischen Schlachtenmalerei
ist hier sehr lehrreich für die Völkerpsychologie. Zur Darstellung einer sitt¬
lichen Idee in geschichtlicher Episode erheben sich nur die zwei großen Gemälde
von L. Herterich und PH. Nocholl, das eine die Heldin von Lüneburg, die
jugendliche Johanna Stegen, darstellend, wie sie, die Personifikation des mu¬
tigen Patnotismus, erregten Kriegern Patronen reicht, das andre den Unter¬
offizier Kaiser, wie er, selbst aus vielen Wunden blutend, seinen tötlich getroffe¬
nen Leutnant auf dem eignen Pferde, auf das er ihn gehoben hat, aus der
Schlacht bringt, das Bild von der deutschen Mannentreue. Die beiden Bilder
sind eines gewaltigen mächtig erhebenden Eindrucks bei jedem Beschauer gewiß,
durch ihren Gehalt wie durch ihre Kunst Schöpfungen von unvergänglichen Werte.
In den weiten Hallen der Geschichte ist das Heiligtum für jedes Volk
seine nationale Gegenwart. Glücklich das Volk, das in ihr Thaten, Großthaten
verzeichnen kann, Heldengestalten vor Augen hat, in denen das Herz der ganzen
Nation schlägt. Hehre Aufgabe für die Kunst, hier zur Prophetin zu werden,
die ausgestaltet, was des Volkes Seele füllt, zur Priesterin, die heiliges Feuer
pflegt; glücklich sie. wenn in der Wirklichkeit sich ihr Gestalten bieten, in denen
sich die Ideale der Nation verkörpern, in deren Erleben sie der Gegenwart
Geschicke darstellen kann. Die Bildhauerkunst hat hierin ihre Triumphe gefeiert.
Schillings Niederwald-, Siemcrings Leipziger-, Bärwalds Posener Krieger-
Denkmal sind Beweise dafür. Bald wird ihr die alles zusammenfassende, gro߬
artigste Aufgabe gestellt werden in dem Nationaldenkmal für unsre beiden
Heimgegangenen Heldenkaiser. Die Malerei hat in den groß empfundenen Ge¬
mälden im Berliner Zeughaus und manchen anderen der großen Zeit, in der
sie wirken darf, ihren Tribut bezahlt. Aber ist das alles, was wir von ihr
fordern dürfen? Sollte wirklich selbst einer so realistisch gewordnen, das Frei¬
licht liebenden Kunst gegenüber, wie unsre Tage sie gezeitigt haben, das Wort
aus den „Grübeleien eines Malers über seine Kunst" seine Wahrheit behaupten,
daß der patriotische Enthusiasmus wohl Lichterscheinungen im Leben der Völker
bilde, zugleich aber dasjenige Helldunkel verscheuche, innerhalb dessen die künst¬
lerische Phantasie sich mit der Erscheinungswelt auseinanderzusetzen liebe?
München zeigt uns den alten Fritz als den „König Überall", wie er Arbeiter
auf dem Felde beim Kartoffelausmachen überrascht (Robert Warthmüller), dann
den großen König im herbstlichen Park von Sanssouci einsam lustwandelnd
(PH. Frank), die Königin Luise im Familienglück, wie ihre zwei Erstgebornen
als Knaben mit Kanonen spielen (Fritz Martin) oder wie ihr Liebling sich an
die stillbeglückte Mittler schmiegt (Steingruppe von Eberlein), und im National¬
unglück, wie sie, schwer erkrankt, blaß und matt vor Kummer, aber still und
wie verklärt durch ihre Ergebenheit, hart am Meeresufer durch trostlose Winter-
öde im offnen Reisewagen flüchtend von Königsberg nach Memel fährt (I. Hey-
deck). Von den großen Tagen, die wir selbst erlebt haben, erzählt kein Bild;
nur ihre Helden sehen wir mit stolzer, nun so tief wehmütiger Freude in
Lenbachs Bildnissammlung. Man möchte versucht sein, hierin ein Spiegelbild
verflossener Reichstagsmehrheiten zu erkennen, wenn dieses Vaoat nicht mit dem
Mangel an jeder Historienmalerei zusammenträfe, so daß es wohl auf dieselbe
Ursache zurückzuführen ist.
Dieselbe Erscheinung finden wir endlich aber auch auf dem Gebiete religiöser
Geschichte. Das Alte Testament scheint ganz verschlossen für unsre Maler,
denn die fast ununterscheidbare Masse von ungezählten, unruhigen Köpfen
und gestikulirenden Armen, zu der von einer Stufenhöhe herab eine ebenso
unruhige, durch nichts charakterisirte Gestalt gestikulirt (Max Liebert), kann hier
nichts beweisen, wenn auch der Katalog erklärt: Jeremias predigt gegen Hohe¬
priester und Volk. Aber auch die neutestamentliche Geschichte ist nur vertreten,
wobei ich ausdrücklich von den Andachtsbildern der „Madonnen" und „heiligen
Familien" absehe, durch einen Christus als Jüngling, von Seligmann, der in
der Zimmermannswerkstatt, von der Thüre aus unbemerkt durch Josef und
Maria beobachtet, eine Schriftrolle in der Hand, vertieft in Gedanken, fast
träumerisch, ja geistesabwesend festgebannt zu Boden starrt, eine Tempelreinigung
von Kirchbach, auf der neben der großartigen Architektur und einigen gut
charakterisirten erregten Juden die Hauptgestalt völlig machtlos in den Hinter¬
grund tritt, eine Heilung von Thiersch, in der der Lahme und sein Glaube
das Beste ist, das bekannte Abendmahl von Abbe, eine etwas farbenbunte
Kreuztragung von Flügel, die mit viel ergreifender Lebendigkeit die Szene aus¬
führt und nur im Gesichtsausdruck von Jesus selbst die geistige Beherrschung
von Müdigkeit und Schmerz vermissen läßt, eine Kreuzabnahme von Krämer,
die schön gruppirt und edel in der Wiedergabe des alle Gedanken der Beteiligten
für sich in Anspruch nehmenden Eindrucks des Augenblickes ist, eine Grablegung
von Friedrich Keller, von der ganz dasselbe gilt, und eine zweite von Piglhein,
die hauptsächlich durch die Szenerie, die von Abendschatten düster umflossnen Felsen
wirkt, durch welche der Leichenzug zur Grabeskammer geht. Noch ärmer waren die
letzten drei Berliner Ausstellungen an religiöser Historie. Daß dieser Mangel nicht
aus mangelndem Sinn für das Religiöse zu erklären ist, werden wir noch sehen.
Auch er fällt vielmehr der Scheu unsrer Maler vor geschichtlichen Stoffen
zur Last.
In diesem Verhalten der Kunst liegt nun ohne Frage eine Kritik des
Verhaltens unsrer Zeit zu den von ihr vernachlässigten Stoffen. Zunächst
spiegelt sich hier wieder, wie unsre Geschichtswissenschaft zu sehr ins Einzelne
verloren, zu sehr uur geschäftige Sammlerin von Gedächtnisstoff geworden ist,
wie sie zu wenig die großen Gesichtspunkte, das unter der Flucht der Erschei¬
nungen liegende Triebwerk der allgemein menschlichen Interessen, das menschlich
Ergreifende und Bedeutsame ins Licht stellt, kurz, wie sie das Künstlerische bei
ihrer staunenswerten gelehrten Arbeit vermissen läßt. Das Bild der Gegenwart
aber trübt und beunruhigt das übermächtige Parteigetriebe, das vor nichts
mehr zurücksehend, auch das Größte, auch das allen Gemeinsame hereinzerrt
in das Parteiinteresse und beleuchtet mit dem flackernden Licht der Partei¬
anschauungen, so, daß das Auge der Kunst keine festen Linien mehr findet, auf
denen es ruhen kann, und das Herz nicht mehr, getragen von der Gesamt¬
stimmung, zu ungehemmter Begeisterung sich aufschwingen darf. Die religiöse
Historie endlich leidet unter der kritischen Arbeit der geschichtlichen Forschung,
die im vollen Fluß befindlich die festen Umrisse der Einzelthatsachen verflüchtigt
und die Unbefangenheit gegenüber dem Stoffe stört, solange man ihn nur
geschichtlich betrachtet, während es noch nicht gelungen ist, gegenüber der vor
allem nach Realitäten fragenden Zeitrichtung die Geister für die Hingebung an
die von jeder geschichtlichen Forschung unabhängigen ewigen Wahrheiten und
geistigen Thatsachen, die in den biblischen Erzählungen verkörpert sind, zu
gewinnen.
Leidet nun unter dem allen die Kunst als Kind ihrer Zeit mit, so ist es
dennoch offen zu beklagen, daß sie nicht an ihrem Teil in höherem Maße sich
berufen fühlt, ungeachtet all dieser ungünstigen Umstände die Geschichte als ein
ihr mit vertrautes Quellgebiet aller menschlichen Ideale zu Pflegen und sich
dazu in ernster, geistiger Arbeit zu rüsten, so wie es in ihrer Weise Lessing
und Kaulbach thaten. Bei der ausschließlichen Beachtung des gegenwärtig
Wirklichen und individuell Ausgeprägten droht der Gesichtskreis sich zu ver¬
engen, das Ich mit seinem Selbsterlebten sich alleingeltend hervorzudrängen,
das Kleine, das Alltägliche sich als groß und wichtig breit zu machen. Die
Kunst, der ein geschärftes Auge und ein großes Herz geschenkt ist, ist in erster
Linie dazu berufen, statt selbst in diesen Fehler zu verfallen, ihre Zeit davor
^u schützen und aus den Engen des Subjektivismus immer wieder hinaus¬
zuheben in das Objektive der Weltgeschichte und der in ihr sich verkörpernden
Wahrheiten.
Jenseits der Geschichte liegt die Sage, liegt der Mythus, dereinst das
gelobte Land der Kunst. Nach allem Gesagten kann es nicht überraschen, daß
noch seltener und mit noch weniger Glück unsre heutige Kunst sich in jene
Gebiete versteigt. Die antiken Götter und Helden, schon wegen ihrer Fremd¬
artigkeit, wie wir sahen, sast verschollen, leben fast nur noch in der Bildnerei.
Aber man darf wohl zweifeln, ob diese Sirenen, Arethusen, Andromeden, Psychen,
Veneres von den Künstlern mit einem andern Interesse als dem, den weiblichen
Körper fehlerlos darzustellen, geschaffen werden. Nicht weit darüber hinaus¬
führen der gefesselte Prometheus, der verwundete Philortet, der sterbende Achilles
(von Lauer, Nachreiner, Herder). Am sinnigsten und bedeutendsten sind viel¬
leicht die zwei Gruppen von Eberlein und von M. Lock: eine Psyche, die von
Amor in den Olymp eingeführt wird, und ein Dädalos mit der Leiche des
Ikaros im Schoße. Dort ist die halb scheue, halb selige Empfindung des Menschen
gegenüber dem sich ihm erschließenden reinen Glück, hier das Gesetz, daß die
Überhebung der Menschenkraft zur Verstörung der schönsten Hoffnungen führt,
tief und ergreifend zum Ausdruck gebracht. Mit Recht aber fragt man sich:
Warum greifen Misere Künstler nicht einmal mit kühner Hand hinein in die
reiche Welt der germanischen Mythologie, der altdeutschen Sage, diese Gestalten
aus der Götterdämmerung zu neuem Leben zurückzurufen*), in denen wir Fleisch
von unserm Fleisch erkennen, in denen die deutsche Volksseele schlummert,
die unsrer Zeit in Dichtung und Forschung wieder nahe gebracht sind. Sollten
sie nicht geeigneter sein, diejenigen Ideale und diejenigen Konflikte zum plastischen
Ausdruck zu bringen, die uns bewegen, als alle Götter Griechenlands?
Noch weniger will es unsrer Kunst gelingen, in freier Erfindung idealen
Gegenständen eine Verkörperung zu schaffen, die uns nicht entweder ein Rätsel
stellt, dessen Lösung wir erst im Katalog suchen müssen, oder nur wie ein
lebendes Bild erscheint. Die Versuche sind so zahm, so mühsam, so gesucht,
daß wir ihre geringe Zahl nicht beklagen. Eine glänzende Ausnahme hiervon
macht die mit genialer Behandlung der Körperformen erfundene Gruppe von
Begas, in der der elektrische Funke versinnbildlicht ist in einem Kuß und die
Flüchtigkeit wie die elektrisirende Kraft des Funkens in der Stellung des
Liebespaares zu vortrefflichem Ausdruck gebracht ist. Aber auch hier fragen
wir billig: Wird der Künstler noch erscheinen unter dem „Volk der Denker,"
dem es gegeben sein wird, den höchsten Gedanken, den gewaltigsten seelischen
Zuständen, den mächtigsten Idealen des Menschengeistes eine zutreffende Gestalt
in Fleisch und Blut zu verleihen mit dem Tiefsinn und der Gestaltungskraft,
für die uns Michel Angelo das Ideal ist? Daß er noch nicht erschienen ist,
daß unsre Zeit nicht einmal einen Vorläufer, der sein Erscheinen verheißt,
aufzuweisen hat, daran erkennen wir, daß die Zeit noch nicht erfüllt ist. Sie
ist zu zerfahren, zu zersplittert, zu wenig vertieft, zu sehr von der Einzel-
Wirklichkeit und ihren Erscheinungsformen festgehalten, zu sehr mit der prak¬
tischen Ordnung des wirklichen Lebens beschäftigt, um sich in jene Höhen zu
schwingen, wohin nur gesammelte Kraft trägt, und sich darein zu versenken, wo
dem alles zu verschwimmen droht und vor den Augen schwindelt, dessen Auge
bisher immer ruhte an dem, was die Hände greifen können.
Am ernstesten, will mir scheinen, wird gesucht nach dem geeignetsten Aus¬
druck für unsre religiösen Wahrheiten und Erlebnisse. Die gegebenen Ver¬
körperungen dafür sind da, die Hauptereignisse des Lebens Jesu. Wir deuteten
die Schwierigkeiten an, die sich der Kunst zur Zeit bei der Verwendung derselben
entgegenstellen. Wir sehen, wie sie sich bemüht, für Jesus selbst einen, wie sie
hofft, treffenderen Typus, als den überlieferten, zu finden. Ohne Zweifel ein
vergebliches Bemühen. Denn die Religion ist konservativ in den Formen, so¬
lange irgend darin ihr Leben zum Ausdruck kommen kann. Und jene Künstler,
die an Stelle der harmonischen, einen höheren Frieden und eine über das
Menschlich-Individuelle erhobene Verklärung an sich tragenden Züge des über¬
kommenen Christusbildes einen hageren, abgezehrten, weltflüchtigen Mönchs¬
typus mit Anlage zum Fanatiker setzen wollen, werden nicht behaupten können,
daß der hergebrachte Christustypus wirklich zur Darstellung des in der Gestalt
Jesu für uns verkörperten Menschheitsideals oder aller jener menschlichen
Stimmungen, deren wir ihn fähig wissen und die wir in jener idealen Ab¬
klärung in ihm zum Ausdruck bringen möchten, ungeeignet sei. Für die religiöse
Andachtsstimmung, für welche Einzeldarstellungen aus dem Leben Jesu ein
nicht genügend konzentrirter Ausdruck schienen, hat das Mittelalter neben den
Bildern des Gekreuzigten die Darstellung der heiligen Familie ausgebildet.
In München sah man derer sieben neben nur einem Doos tiomo. Aber keines
dieser Bilder atmet Andacht. An ihrer keinem wird sich christliche Frömmigkeit
entzünden können. Die eigenartigsten, die mit dem tiefsten Ernst ersonnen sind,
verdanken wir G. Max und von Abbe. Wenn aber Max seine Madonna nur
als Altarbild, vor dem er brennende Kerzen und wächserne Weihgeschenke malt,
darzustellen wagt, so bekennt er damit, daß die Madonna, als dem Glauben
gegenwärtige Wirklichkeit, wie sie die alten katholischen Maler auffaßten, für
ihn nicht mehr faßbar ist, sondern nur als wund erwirkendes Bild. Und wenn
anderseits Abbe die Mutter Jesu nur als ein armes Bauernweib, also nicht
als Andachts-, sondern als Geschichtsbild, wenn auch nach seiner Art in
modernster Verkleidung, wiederzugeben vermag, so giebt er zu verstehen, daß
er. echt protestantisch, die Verkörperungen unsers religiösen Glaubens nur in der
Form der Geschichte zu fassen im stände ist. Beides giebt zu denken, wie
es seinerseits auf ernstem Denken beruht und keineswegs das leichte achselzuckende
Absprechen über Absonderlichkeiten verdient, das sich vor diesen beiden merk¬
würdigen und, wie mich dünkt, in ihrer Art tiefbedeutsamen Bildern dem rasch
Vorübergehenden nahe lead. So spiegelt unsre Kunst das ernste Suchen unsrer
Zeit auf dem Gebiete des religiösen Lebens in diesen Andachtsbilde, wie in den
früher genannten religiösen Geschichtsbildern und in den nicht minder eigenartigen,
hier leider nicht näher zu verfolgenden Versuchen, Christus als die Verkörpe¬
rung der gegenwärtigen Liebe Gottes mitten hineinzustellen in dem heutigen Leben
entnommene Szenen, überzeugend wieder; zugleich freilich die Thatsache, daß
alles noch Tasten ist, ohne Zweifel, weil das historische und das psychologische
Interesse das eigentlich religiöse noch zu sehr überwiegt.
(Schluß folgt.)
l
e Tagespresse ist eine zweischneidige Waffe," und: „Man kann
scheinbar mit großer Rücksichtslosigkeit über die eignen Schwächen
aburteilen, und es doch sehr übel vermerken, wenn ein andrer
glaubt, denselben Ton anschlagen zu dürfen." Das sind zwei
Wahrheiten, die jedermann anerkennen wird, und als dritte könnte
hinzugefügt werden, daß sie jedermann jeden Augenblick vergißt. Der jüngste
Federkrieg zwischen Pest, Wien und Berlin hat das wieder bewiesen, der ein
wenig an das Triangelduell in einem englischen komischen Roman erinnerte,
und dem wir in den Kronländern, obwohl nach Wien gravitirend, gewisser¬
maßen als Unparteiische beigewohnt haben. Denn wir lassen uns den Glauben
an den Bestand des Bündnisses mit Deutschland nicht durch eine noch so hitzige
Preßfehde erschüttern, weil es zugleich eine politische Notwendigkeit und die
Befriedigung der Wünsche der Deutschösterreicher ist; und wir halten dafür,
daß, mag auch der Streit mutwillig vom Zaune gebrochen worden sein, es
gar nicht schadet, wenn dann und wann in der Hitze des Gefechts Wahrheiten
herausgesprudelt werden, die man sonst aus Schonung zurückgehalten hätte.
So dürften in diesen Tagen über die Ersprießlichkeit intimer Beziehungen zur
Presse an manchen Orten Betrachtungen angestellt worden sein.
Wenn die Zeitungen zornig werden, so nennen sie sich gegenseitig „offiziös",
das ist der Ausdruck der höchsten Verachtung. Aber es ist nicht jeder frei, der
der Ketten der andern spottet! Daß grimmige Oppositionsblätter durch Hinter¬
thüren den Weg in die Ministerialbureaux oder die Hofämter zu finden wissen,
kommt wahrscheinlich überall vor, und nicht nur Staatsregierungen halten sich
offiziöse Organe, auch Korporationen und Personen in den verschiedensten
Schichten, Banken, Eisenbahngesellschaften, Abgeordnete, Bürgermeister, große
und kleine Herren. Für viele gehört, wie es scheint, zum Morgenkaffee außer
der Zigarre auch der eigne Name in Druckerschwärze, und dieser Genuß muß
durch kleine Gefälligkeiten erkauft werden. Man lädt die Redakteure zu sich
ein und läßt es sich gefallen, von ihnen an öffentlichen Orten vertraulich be¬
grüßt zu werden, und dafür entschädigt man sich im Kreise der Standes¬
genossen durch Klagen über die Zudringlichkeit des „Federviehs", mit dem
man sich leider bei diesen Zeiten gut stellen müsse u. s. in. Doch ist damit nicht
immer die Sache abgethan. Solche sozusagen freundschaftliche Beziehungen
können gefährlicher werden, als die geschäftsmäßig geregelte» mit Soll und
Haben, Saldo mir und Saldo dir. Ein Staatsmann hat das Recht zu sagen:
„Ich bin nur für das verantwortlich, was in amtlicher Form auftritt." Wie
aber will der Privatmann die Frage beantworten, weshalb er gerade dieses
oder jenes Journal mit seinem Vertrauen beehre, dessen politische Färbung
ihm doch bekannt sein müsse? Kann erden Verdacht abwehren, daß die Über¬
einstimmung mit der politischen Haltung des Blattes seine Wahl bestimmt
habe? Und daraus können allerdings sehr lästige Folgerungen gezogen werden.
Was den Anstifter des ganzen Lärms betrifft, so hat er augenscheinlich
nur von sich reden machen wollen, und es ist verständlich, daß seine magya¬
rischen Kollegen entrüstet ausrufen: „Was geht es uns an, wenn das deutsche
Organ der Budapester Börse sich wichtig macht?" Nur werden sie gut thun,
dafür zu sorgen, daß die ungarischen Abgeordneten und Delegirten in Zukunft
sich nicht mehr der flinken Feder des Herrn Max Falk für ihre Staatsschriften
bedienen, damit kein Zweifel an der Aufrichtigkeit der in ihren Adressen und
Referaten ausgesprochenen Überzeugungen entstehen kann. Bei dieser Gelegenheit
wurde auch mit Bedauern bemerkt, daß die magyarisch geschriebenen ungarischen
Blätter in Berlin nicht gelesen würden. Das ist in der That zu bedauern,
aber in dieses Schicksal müssen sich kleine Nationen finde». Wenn heute noch
die Verkehrssprache in Ungarn die lateinische wäre, würden wir, ich meine,
wir nächsten Nachbarn, ohne Frage über dortige Verhältnisse uns leichter
orientiren können, während jetzt thatsächlich schon für uns hinter der Mur und
Leitha und deu kleinen Karpathen eine fremde Welt liegt. Unsre Kinder werden
allerdings, um in Österreich noch geduldet zu werden, wahrscheinlich ein halbes
Dutzend Sprachen erlernen müssen, die außerhalb Österreichs von niemand
verstanden werden, und ihnen wird es auf eine mehr nicht ankommen, überdies
eine, die wenigstens den Zugang zu einer Litteratur öffnet. Auf das jetzige
Geschlecht ist aber schwerlich noch zu rechnen. Es wird sogar behauptet,
daß nicht einmal alle Minister sich geläufig im Slovenischen ausdrücken könnten,
ein Mißstand, der woyl demnächst zum Gegenstande einer Jnterpellation gemacht
werden wird. An die Minister andrer Staaten werden nicht so große An¬
forderungen gestellt, ihre Muttersprache und Französisch genügen in der Regel,
bemüht sich ein Gesandter, die Sprache des Landes, in dem er accreditirt ist,
zu lernen, so wird ihm das hoch angerechnet. Aber Österreich hat keine Sprache,
darf keine haben, bei dem bloßen Worte Staatssprache verfallen ganze Natio¬
nalitäten in Krämpfe. Da ist es wohl für einen Diplomaten sehr schwer,
seine Kenntnis der verschiedenen öffentlichen Meinungen aus den Quellen zu
schöpfen, er müßte denn mit dem zufrieden sein, was ihm vom Minister des
Auswärtigen und in den Salons erzählt wird. Das soll vorkommen. Sonst
sieht er sich auf den Scharfblick und die Gewissenhaftigkeit von Übersetzern an¬
gewiesen, die selbst nur wiedergeben können, was die Zeitungen zu sagen gut¬
finden.
Und welche Kluft gähnt oft zwischen den Ansichten des Volkes und der
Sprache seiner freiwilligen Vertreter, der Zeitungen! Unter uns Provinz-
bewohncrn giebt es gar viele, die mit den verbreitetsten Wiener Blättern nicht
im mindesten einverstanden sind, obschon diese die Sache der Deutschösterreicher
zu führen versichern. Heute handelt es sich nur um ihr Verhalten gegen¬
über dem Deutschen Reiche. Es wäre unrecht, zu sagen, daß demselben
nicht vorzügliche Aufmerksamkeit gewidmet werde. Was die Berliner Fort¬
schrittshelden in der Kammer oder in den Zeitungen zum Besten geben, bleibt
uns nicht verborgen, es müßte denn die Frechheit und Tücke so groß sein,
daß österreichische Leser an der Partei irre werden könnten, welche an¬
geblich allein noch das „Ideal" hochhält. Zur Zeit der Wahlen wird uns
so beweglich über das Kartell und die verabscheuungswürdigen Landräte
vorgepredigt, als ob das Heil Österreich-Ungarns davon abhinge, daß
irgendwo in Ostpreußen oder Westfalen ein Freisinniger über einen Frei¬
konservativen siegt. Und wenn ein — „Börsenkourier" (der in der „Kvulisse"
wohl für deu zweitem Paul-Louis Courier gehalten werden mag) bei seinem
gewiß anstrengenden Berufe, die neuesten Nachrichten über „Lieb'" und „Konter¬
mine" zu verbreiten, noch Muße zu Betrachtungen über hohe Politik erübrigt,
so werden Post und Telegraph in Anspruch genommen, damit wir seine Aus¬
sprüche noch warm und ausführlich erhalten. Auch über das Schaffen der
Herren Blumenthal und Lindau und der andern großen Dichter an der Spree
sind wir stets aufs genaueste unterrichtet, und die Eröffnung eines „LessÜM
Theaters" verschafft uns die Beruhigung, daß Lessing nicht umsonst gelebt hat.
Aber damit sind wir auch abgefertigt. Das Nichtpolitische wird vom Stand¬
punkte des Theater- und Kaffeehaus-Besuchers behandelt, der von der Wissen¬
schaft, von der nicht nach der Elle ausgeschnittenen Litteratur, von der ernsten
Kunst nur dann Notiz nimmt, wenn sie durch irgendwelche persönliche Beziehung
interessant gemacht werden. Und die Politik wird durch die Brille von Richter
u. Comp. angesehen. Was Bismarck gethan hat, läßt sich nicht in Bausch
und Bogen verwerfen, z, B. die Stiftung des mitteleuropäischen Bundes, aber
alles, was er thut, ist zum Unheil. Sogar Windhorst und Bebel werden von
den erbitterten Feinden aller Kirchlichkeit und den begeisterten Verehrern des
mobilen Kapitals, zu Gnaden angenommen, wenn sie dazu beitragen, den
Ministern das Leben sauer zu machen. Und dann wundert man sich noch,
daß die Nationalgesinnten in Deutschland von der deutsch-österreichischen Presse
nicht entzückt sind! Wenn wir Provinzler unser Mißfallen über sie zu erkennen
geben, geht man mit geringschätzigen Schweigen darüber hinweg; kommen die
Urteile aus dem Auslande, so wird wenigstens nach einer Beschönigung gesucht.
Das ist das Gute an dem Handel.
Denken wir um dreißig Jahre zurück, so sehen wir vollständige Ausrottung
des österreichischen Staatsgedankens durch die Politik, die nicht nur das „Vier-
zigmillionenreich" auf neuen, unerschütterlichen Grundlagen aufgebaut, sondern
auch ganz Deutschland in seine Machtsphäre gezwungen zu haben glaubte.
Jedermann kennt die Stimmung, nur die Regierung nicht, die in ihrem Stolze
auf den Sieg von Olmütz, auf das Konkordat, auf die entfernte Teilnahme am
Kriege gegen Nußland alle Zeichen verachtet. Das ändert sich mit der Ein¬
berufung eines Parlamentes, aber keineswegs mit einem Schlage. In allen
nichtdeutschen Nationen wird der Gedanke des Föderalismus verbreitet, und
die Alpenländer fordern mit Nachdruck wenigstens „Autonomie"; daß die
Böhmen von der sächsischen Grenze sich sofort zum Zentralismus bekehren,
ist der Verdienst ihrer ungeberdigen Lcmdesgenvssen. Und nun wiederholt sich
immer dasselbe Schauspiel. Diese zentralistische Partei, von juristisch gebildeten,
schlagfertigen Rednern organisirt und disziplinirt, erklärt die österreichische
Gesinnung für ihren ausschließlichen Besitz. Jede neue Wahl bringt neue
Männer in das Haus, die dem Willen ihrer Wähler gemäß eine entschiednere
Betonung des Deutschtums in ihr Programm ausgenommen haben; dafür wer¬
den sie mit größerer Erbitterung als Tschechen und Konsorten bekämpft, zurück¬
gedrängt — außer wenn man ihrer entschlossenen Thätigkeit bedarf, wie bei
dem Ansturme gegen Belcredi und Hohenwart — und zersprengt; die nicht
unterworfenen Reste schließen sich an den nächsten neuen Schub an, und das
Spiel beginnt von neuem. Die alte Partei bleibt immer siegreich, wie dazumal
Alexander Bach; wie er von seinen Bezirkshauptleuten, empfängt sie von ge¬
treuen Vereinen und Zeitungskorrespondenten Stimmungsberichte, ignorirt die
nichtgünstigen und den stillen Abfall der Überdrüssigen, die allmähliche Abwendung
der Welt von dem Glauben an die Allgewalt des Parlamentarismus. Einer
von den Führern ließ sich wohl neulich das Geständnis entschlüpfen, daß, wer
den Schuh trägt, am besten wisse, wo er ihn drückt, oder auf deutsch, daß
Fabrikanten und Häusler nicht berufen werden sollten, bäuerliche Angelegen¬
heiten zu ordnen. Allein das war so wenig ernst gemeint, wie die sehr ver¬
stündigen Zeitungsartikel über den Ruin Frankreichs durch die konsequente
Anwendung des parlamentarischen Wesens. Morgen sind doch wieder die
Advokaten, Parlamentarier von Beruf und Journalisten diejenigen, die alles
verstehen, daher über alles zu entscheiden haben.
och oben in Vendsyssel, hart an der Nordsee, lag ein Pfarrhaus
und wartete auf das Weihnachtsfest. Aber der Himmel sah gar
nicht so milde drein, wie er es wohl früher gethan hatte. Es
war nämlich eine ganze Reihe von Jahren vergangen, die ver¬
schiedene Veränderungenmit sich gebracht hatten.
Das Pfarrhaus lag am Fuße eines Hügels, ein wenig höher
als seine Umgebung, wie es sich für ein Pfarrhaus geziemt. Der Hügel lag westlich
vom Pfarrhause und schützte es gegen den Westwind, daher war in der Nähe
des Hauses alles frisch und grün, während ringsumher Blüten und Blätter
in dem scharfen Winde verdorrten. Nach Osten zu erstreckte sich die braune
Haide, die nur in weiter Ferne am Horizonte von Dörfern, Höfen und Häu¬
sern begrenzt wurde, während sich in geringer Entfernung südlich das lange,
zerstreut gebaute Dorf hinzog. Aber oben, auf dem breiten Rücken des Hügels,
ragte die Kirche empor, die in meilenweiten Umkreise vom Lande und von der
See aus sichtbar war. Zu ihren Füßen lag der Kirchhof und nach Westen
zu hinter dem Kamm des Hügels breiteten sich grüne Wiesen, unterbrochen
von Haidestrecken, bis an die grauen Dünen aus, hinter denen die Nordsee ihre
Wogen dahinrollte, bis sie an den Himmel stieß und mit ihm verschmolz.
Unten im Schutze des Hügels grünte der Stolz des Pfarrers, die jungen
Bäume, die er selber gepflanzt hatte, denn er war ein Mann, der sich darauf
verstand, zu pflanzen und das Gepflanzte zum Wachstum zu bringen. Es war
Kraft in ihm und er besaß den Mut, sie zu gebrauchen, das hatten die alten,
ernsten Männer unten im Dorfe vom ersten Augenblick an begriffen, als er,
jung an Jahren, aber von Gestalt und Antlitz ein Mann zum erstenmale
vor ihnen gestanden und mit seiner wohltönenden Stimme neues Leben in ihre
alte Kirche gebracht hatte.
Es geht einem durch Mark und Bein, wenn unser Pfarrer redet! hatten
sie zu einander gesagt und dazu gemeint: Er ist ein stattlicher Mann! Und
sie hatten willig ihre grauen Häupter vor dem jungen Pfarrer entblößt, und
aus den Gemeinden ringsumher waren die Leute herbeigekommen und hatten
die Kirche gefüllt, so daß kein Platz mehr drin war.
Hier ist schon mancher Strauch gepflanzt, doch hat nichts fortkommen
wollen, sagten sie, als er das erste Reis in die Erde steckte. Aber der Pfarrer
fügte ein Reis nach dem andern hinzu, und er hatte eine glückliche Hand.
Was unser Pfarrer pflanzt, das gedeiht, sagten sie zu einander und
nickten abermals; auf seinem Thun ruht Segen. Und vertrauensvoll legten
sie die Angelegenheiten ihrer Gemeinde in seine Hand, und es kam eine Ord¬
nung hinein, wie sie es nie zuvor gekannt hatten. Es wurde nichts unter¬
nommen, ohne zuvor den Rat des Pfarrers einzuholen, und sein Urteil war
stets entscheidend.
Er hatte von Hause aus Anlage, ein herrschsüchtiger Charakter zu werden,
und die Verhältnisse förderten diese Anlage. Ehrlich und rechtschaffen war er,
gottesfürchtig und gewissenhaft in seinem Berufe, aber er sah aus wie ein
Mann, dem man nicht widersprechen dürfe, und das versuchte auch niemand.
Wenn er aber mit seiner Arbeit fertig war, dann schlug er seinen Licbliugs-
weg zu den jungen Baumanlagen ein, und zwar vorzugsweise gern zu denen,
die er zuerst gepflanzt hatte, die waren von Anfang an wie eine Vorbedeutung
für ihn gewesen, und das waren sie auch noch.
Die Pfarrerin begleitete ihn oft, denn ihre Blumen wuchsen im Schutze
seiner Bäume. Und ihr rundes, sanftes Antlitz strahlte, wenn sie an seiner
Seite dahinging, ihr Lächeln war eine Ergänzung seiner sichern Bestimmtheit,
es milderte sie.
Wenn der Pfarrer einem Kinde auf dem Wege begegnete und es durch
ein aufmunterndes Wort erfreuen wollte, dann stand das kleine Wesen verlegen
da und spielte an seinen Fingern, und es atmete erleichtert auf, wenn er weiter
ging. Erblickte dagegen dasselbe Kind von weitem die Pfarrerin, so stürzte es
ihr mit glückseligen Lächeln entgegen und ruhte nicht, bis es sie am Kleide
halten durfte. Und keine Braut in der ganzen Gemeinde wollte Hochzeit
machen, ohne daß die Pfarrerin sie selber geschmückt, ihr die Brautkrone aufs
Haupt gesetzt und einen mütterlichen Kuß auf die Stirn gedrückt hatte, das
gehörte dazu, wie der Segen des Pfarrers selbst.
So blühten die lieblichen Blumen der Pfarrerin im Schatten der stolz
aufragenden Bäume des Pfarrers, und die Jahre vergingen, das eine brachte
neues und das andre machte das neue alt.
Das eine Jahr brachte einen kleinen Knaben, das andre ein kleines
Mädchen. Der Knabe hieß Fritz, das Mädchen Life, und sie waren beide
neu im Pfarrhause, bis sie älter wurden und überall durch Dick und Dünn
herumtrippeln konnten, in Haus und Hof, in Garten und Stall.
Dadurch wurden sie mit jedem Tage klüger, aber nicht immer reiner. Die
Mutter schlug mehr als einmal die Hände zusammen voll Entsetzen und Ver¬
wunderung darüber, daß gerade sie unter allen Müttern der Welt zwei so kleine
Schmutzfinken bekommen hatte. Da setzte es denn erst tüchtig Schelte, darauf
folgte ein herzhafter Kuß, und schließlich waren sie alle drei doppelt vergnügt
mit einander. Wenn dagegen der Vater sie nur mit einem ernsten, vorwurfs¬
vollen Blick anschaute, dann war ihnen noch lange nachher sehr beklommen
ums Herz, Fritz noch mehr als Lise, denn sie war nicht so weit als er und
besaß nicht seine Erfahrung. Sie war noch nicht in der Kirche gewesen, wenn
der Vater predigte, Fritz aber war an der Hand der Mutter schon darin
gewesen.
Mit heiliger Scheu hatte er in der tiefen Stille, die dort herrschte, Platz
genommen. Er hatte den Vater feierlich und ernst vor den Altar treten und
alle Menschen sich ehrfurchtsvoll erheben sehen, wenn der Vater zu ihnen sprach.
Er hatte seine klangvolle Stimme von der Kanzel herab vernommen und ge-
sehen, Wie aller Augen sich ihm aufmerksam zuwandten, und es war ihm ge¬
wesen, als erblickte er in der Gestalt des Vaters einen Schimmer des lebendigen
Gottes, von dem derselbe redete. Und als er nach Hause gekommen war, hatte
er dagesessen und den Vater angeschaut und gemeint, er sei so groß geworden,
wie nie zuvor. Einen Augenblick hatte er die größte Lust gehabt, zu ihm hin¬
zutreten, seine Hand zu ergreifen und sich demütig an ihn anzuschmiegen; aber
der Vater war mit seinem bestimmten Gesicht im Zimmer auf- und niederge¬
gangen, als sei nicht das geringste Außergewöhnliche vorgefallen, und da hatte
Fritz es nicht zu thun gewagt. Von dem Augenblick an empfand er in
seinem Herzen eine Ehrfurcht vor dem Vater wie vor niemand auf der Welt,
aber es war etwas erdrückendes bei dem Gefühl, und das machte ihn scheu
und unsicher, sobald ihn der Vater anschaute. Weit sicherer war ihm zu Sinn,
wenn er sich neben die Mutter setzte und seinen Kopf an ihrer Brust barg.
Aber am fröhlichsten waren Fritz und Lise doch, wenn sie sich draußen
tummeln konnten, dort wo die weite Haide ihnen nach allen Himmelsrichtungen
hin Freiheit und Leben zuwinkte. Dort setzie der Hase im Sprunge über Haide-
dorn und Porsch, die Libelle huschte über das blühende Haidekraut, die Heu¬
schrecken zirpten, und der Kibitz schrie sein Kiwit, Kiwit. Im Frühling waren
dort Nester und Vogeleier, flügge gewordene Junge im Frühsommer, und wenn
der Herbst nahte, so viel Blaubeeren, wie das Herz nur begehrte. Das aller¬
beste aber war doch die „graue Kuh", die mitten in der Haide stand. Quer
durch die Haide schlängelte sich ein kleiner Bach mit einem schmalen Streifen
Wiesenland zu beiden Seiten. Dort, wie überall in der Haide, wo es etwas
zu grasen gab, weideten die Schafe des Dorfes unter Aufsicht der Knaben und
Mädchen. Von Süden und Norden, von Osten und Westen knallten Peitschen,
erschallte fröhliches Rufen. Den Mittelpunkt dieses Treibens aber bildete ein
moosüberwucherter Stein, und das war „die graue Kuh". Dort spielten und
scherzten die Knaben und Mädchen, dort zündeten sie rauchende Feuer an und
brieten Kartoffeln, die sie zu ihrem spärlich mit Butter bestrichenen Brode
verzehrten. Dort herrschte Freiheit und Frohsinn, und dort lernten Fritz und
Lise, wie herrlich eine halbgare Kartoffel und ein Stück trocknen Brodes in
freier Luft munden.
Aber das Beste bei der „grauen Kuh" war Otto Blein. Ganz an der
entgegengesetzten Seite der Haide lag noch eine Kirche, und zu dieser gehörten
ebenfalls ein Dorf und ein Pfarrer. Und der Pfarrer hatte auch einen Sohn,
und das war Otto Blein. Er war mehrere Jahre älter als Fritz, groß und
stark, mit keckem Gesicht und ein freiheitsliebender Bursche. Er war auch sehr
begabt und konnte vielerlei. Er kannte alle Spiele, die es nur gab und alle
möglichen Kunststücke, auch die unglaublichsten. Fritz und Lise liebten ihn
über alle Maßen, und es war ein Jubel, wenn sie einander bei der „grauen Kuh"
begegneten. Dann übernahm Otto die Führung, und damit waren sie alle
einverstanden, denn niemand war so stark und behende wie er, und stets war
er bereit, andern zu helfen und sie Dinge zu lehren, die ihnen im Leben Nutzen
und Freude gewähren konnten. Deshalb war es stets am schönsten bei der
„grauen Kuh", wenn Otto Blein da war.
Aber auf den Sommer folgte der Winter, und zwar kein wankelmütiger,
grauer, langweiliger Winter, der nicht weiß, ob er lachen oder weinen soll,
sondern ein echter Winter mit scharfem Frost, mit weißem, glitzerndem Schnee
und klarem, blauem Himmel. In frühern Zeiten war das Pfarrhaus oft
ganz eingefahren gewesen, und der Schnee hatte in großen Schanzen bis hinauf
an den Gipfel des Berges gelegen, jetzt aber hielten die Baumpflanzungen des
Predigers Wacht und fingen den Schnee ab, sodaß er sich einen Winter nach
dem andern ellenhoch hinter ihnen auftürmte. Dann fuhr man auf einem
Schlitten den Berg hinab oder auf Holzschuhen oder Schlittschuhen über den
Bach dahin, der gleich einem spiegelblanken Band an der Brust der Haide lag.
Am herrlichsten aber war das Weihnachtsfest mit dem heiligen Abend, mit
Kirchengang und Weihnachtsliedern, mit Schlittenfahrten und Glockengeläute,
mit Lichterglanz und frohen Gesichtern in den festlich geschmückten Wohnräumen.
Der Pfarrer sah das alles mit frohem Antlitz und stolz erhobenem Haupte
an, denn er war der Begründer der ganzen Herrlichkeit.
Ich bin ein glücklicher Mann, und ich danke Gott dafür! sagte er, aber
im Innersten seines Herzens fügte er hinzu, daß er selber auch sein Teil dazu
beigetragen habe.
Es ist so überwältigend viel! sagte die Pfarrerin froh bewegt. Und
ich habe nicht das kleinste Verdienst an all dem Glück. Gott sei Lob und
Dank dafür! Er erhalte es uns!
Und die Jahre kamen und gingen, das eine Jahr nahm Otto Blein mit
sich fort, und das andre Fritz. Sie kamen weit fort auf die Lateinschule,
und Lise blieb allein daheim, um zu träumen und sich zu sehnen. Der Vater
sandte seinen Sohn mit zuversichtlichen Antlitz in die Welt hinaus, die Mutter
aber blickte ihm wehmütig und sehnsuchtsvoll nach.
Und in jedem Jahr kam und ging Fritz, bis er an einem strahlenden
Sommertage als Student heimkehrte. Er hatte sein Examen mit Auszeichnung
bestanden und ging nun im Pfarrhause jung, voller Lebensmut, zufrieden mit
sich selbst und mit der ganzen Welt einher.
Der Pfarrer hielt seinen Kopf noch ein wenig höher, und sein Antlitz
glänzte vor Stolz, wenn er Fritz nur ansah.
Wir haben viel Freude an ihm, sagte die Pfarrerin mit Thränen in
den Augen. Aber draußen in der Welt giebt es so vieles, was ihn uns ent¬
reißen könnte. Ich kann's nicht lassen, mich um ihn zu sorgen.
Das hat nichts zu bedeuten! Respekt hat der Junge gelernt! erwiderte
der Prediger in dem ihm eignen sichern Tone, und scherzend fügte er hinzu:
Ich halte euch fest, dich und ihn, dann bleibt ihr bei einander!
Ja, halte Du nur fest! sagte das Jahr, das dahinrann, und ehe es
um war, hatte es das runde, freundliche Gesicht aus dem Pfarrhofe mit fort¬
genommen und das Licht an der Seite des Pfarrers verlöscht.
Eines Nachts stand er vor Lisens Bett, die müde und überwacht in
Schlaf gefallen war und sagte mit bebender Stimme: Steh auf, mein Kind,
du hast keine Mutter mehr! Und da war die Sicherheit aus dem Tone des
Pfarrers verschwunden.
An einem dunkeln, regnerischen Herbsttage ging er, Lise an der Hand
haltend und von Fritz begleitet, hinter dem Sarge seiner Gattin her. Als
aber der Zug vor dem offnen Grabe Halt machte, griffen seine Hände plötzlich
tastend in die Luft, und er sank rücklings in die Arme seines Sohnes, und
aus der starken Gestalt des Pfarrers war alle Kraft gewichen.
Aber er hatte ja noch einen Sohn, der groß und stark heranwuchs und
ihm Ehre und Freude machte, und es war sein eigner Sohn, der ihm allein
angehörte. Und in seinem Hause waltete seine Tochter, so jung und sanft, so
erfüllt von der Sorge um ihn, sich selber so völlig vergessend, daß es ihm
war, als sei das Bild seiner Gattin aus alten Tagen wiedergekehrt, um ihm
Trost zu spenden.
Und der Pfarrer richtete sein Haupt wieder auf und blickte um sich. Dort
lag das Dorf und seine Gemeinde, in der er so viele Jahre das Steuer geführt
hatte, und das wollte er auch jetzt noch nicht fahren lassen.
Ja, halte du nur fest, sagte auch das nächste Jahr, und noch ehe es
um war, hatte es seine Gemeinde von ihm gewendet.
Es waren neue Zeiten gekommen und neue Menschen mit ihnen. Die
Alten waren heimgegangen, und in den Jungen regte sich der Geist der Zeit.
Sie wollten selber regieren, wollten die alten Wege nicht mehr wandeln, sondern
nach eignem Ermessen handeln. Und die Herrschsucht des Pfarrers, die nach
ihrem eignen Gutdünken schaltete, ärgerte sie. Sie fingen allmählich an, ihm
zu widersprechen, und der Pfarrer schaute sie verwundert an, denn daran war
er nicht gewöhnt. Sollte er vernünftig mit ihnen reden? Nein, auch daran
war er nicht gewöhnt. So wurde er ärgerlich und that nun erst recht, was
er wollte, denn er mußte ihnen doch zeigen, daß er das Szepter in den Händen
hielt. Das wollten die jungen Vendsysseler sich aber nicht gefallen lassen, und
ehe er es noch recht merkte, hatten sie ihm das Szepter entrissen. Auch nicht
einer fragte mehr nach der Meinung des Pfarrers.
Das ist der böse Geist des Eigenwillens! rief er erbittert aus. Der
Unglaube und die Gottlosigkeit folgen ihm auf den Fersen, mir ist Gottes
Wort gegeben, um dagegen anzukämpfen.
Streng und strafend erschallte sein Wort in der Kirche, und dort wagte
keiner, ihm zu widersprechen. Aber einer nach dem andern blieb weg. Früher
hatte die Kirche nicht Raum genug gehabt, jetzt war Überfluß an Platz; die
Leere aber verlieh dem Tone des Predigers einen hohlen Klang. Es schnitt
ihm ins Herz; er sah, wie machtlos er war, aber er ließ es sich nicht
merken. Fest und bestimmt wie früher schaute er drein, denn das, was er
bekämpfte, war ja das Böse, nur allein der Gedanke daran konnte ihm Zornes¬
röte auf seine Wangen treiben. Zwischen ihm und seiner Gemeinde entstand
eine Kluft, und er verschloß sich in sein Pfarrhaus, denn dort war er
sicher.
Halte nur fest, wenn du kannst! sagte auch das dritte Jahr, und diesmal
galt es Fritz und Lisen.
Auch dort, wo Fritz und Otto Blein lebten, waren neue Zeiten und neue
Gedanken gekommen. Voller Begeisterung für sie, mit jungen Köpfen und
warmen Herzen kehrten sie zur Sommerszeit heim. Und im goldigen Sonnen¬
schein schritten Otto und Fritz mit Lise, jeder von seinem Pfarrhause aus, über
die Haide dahin, um sich bei der „grauen Kuh" zu treffen, wie sie es in alten
Zeiten gethan hatten. Aber es waren andre Worte, die erklangen, andre
Gedanken, die Sprache erhielten, als in jenen alten Zeiten, und Lise lauschte
mit bangem Sinn. Waren es doch dieselben Gedanken, die ihres Vaters
zornige Stimme sie fürchten gelehrt hatte, dieselben, die sein Antlitz verfinstert,
das Pfarrhaus vereinsamt hatten.
Nun aber kamen sie zu ihr mit der Poesie der Jugend angethan, mit den
lichten Kindheitserinnerungen geschmückt und nahmen ihre Seele gefangen. Ehe
ihr Herz es verstand, hatte sie ihre Hand in die Otto Blems gelegt, und unter
Lächeln und Thränen hatten sie einander gelobt, mit einander zu leben in nie
erlöschender Begeistrung für die Sache der Jugend, für die Hoffnungen der
Zukunft. Und Fritz hatte seine Hand auf die ihre gelegt und den Bund mit
ihnen geschlossen.
Aber daheim in seinem Pfarrhause ging der Pfarrer finster einher, er fing
an zu fühlen, daß er auch dort nicht mehr so sicher war, wie er geglaubt
hatte. Und Lise hatte eine Last auf ihrer Seele und wußte selber nicht, wie
sie sie tragen sollte. Sie wurde abwechselnd rot und blaß, sobald sie mit halb
bangem, halb sehnsuchtsvollen Blick verstohlen zum Vater hinüberschaute. Und
Fritz senkte unwillkürlich den Blick, wenn der Vater ihn ansah und Worte der
Verdammnis über die Gedanken aussprach, die seine Brust barg. Aber in
seinem Innern regte sich ein stiller Widerspruch, und er ärgerte sich über sich
selber, weil er ihm keine Worte lieh.
Der Pfarrer sah und verstand das alles, und seine Seele füllte sich mit
Groll und Trauer, und der Kummer nagte an seinem Herzen. Wandten sich
auch seine Kinder von ihm, um auf Irrwege zu geraten? Hätte er sich nur
zwischen sie setzen und alles mit ihnen besprechen können, hätte er seine Arme
um sie schlingen können und sie festhalten, wie die Mutter es gekonnt hatte,
das wäre eine wohlthuende Erleichterung gewesen. Aber das konnte er nicht.
Er wollte ja nur das Wahre und Rechte, und er hatte ein Recht, von den
andern zu verlangen, daß sie sich dem fügten. Darum betteln, das konnte er
nicht. Seine Seele war zermartert. Er mußte sich Luft machen, und dazu
verhalf ihm Otto Blein.
Er kam in das Pfarrhaus, erfüllt von Begeistrung und dem edeln Drange,
ihr Worte zu verleihen, wo und wann es sei, und er begab sich, ehe noch eine
Stunde verflossen war, wieder auf den Heimweg, mit dunkelrotem Gesicht,
verlegen und unglücklich.
Dieser Windbeutel! sagte der Pfarrer mit bebender Stimme. Der
soll mir nicht wieder über meine Schwelle kommen, und wer es mit ihm hält,
mit dem habe ich nichts mehr zu schaffen.
Fritz schlang den Arm um Lise und sandte seinem Vater zum erstenmal
einen herausfordernden Blick zu.
Vater! sagte er, und sein Antlitz war bleich, seine Stimme bebte, Lise
und ich, wir halten es beide mit Otto.
Da entfuhr dem Auge des Pfarrers ein Blitz, er wandte sich um und sah
seinen Sohn an, und in diesem Blick lag zu viel von der alten Gewalt, als
daß Fritz ihm hätte widerstehen können. Er beugte sein Haupt, über sein
Antlitz flog eine brennende Röte, und der Pfarrer verließ schweigend das
Zimmer, um sich in seiner Kammer einzuschließen. Lise aber lehnte den Kopf
an Fritzens Schulter und weinte.
Und fo begann für die drei das begeisterte Leben, das sie sich gelobt
hatten von nun an mit einander zu führen.
(Schluß folgt.)
Beiträge für Muret. Die Langenscheidt'sche Verlagshandlung (Professor
G. Langenscheidt) in Berlin ist jetzt im Begriff, das lange erwartete, bereits vor
zwanzig Jahren von Prof. Dr. Muret nach dem Vorbilde von Sachs-Villatte be¬
gonnene und jetzt im Manuskript vollendete Encyklopädische Wörterbuch der
englischen und deutschen Sprache zu drucken. Im Interesse der Sache
wäre es erwünscht, wenn der genannten Verlagshandlung oder dem Herausgeber
(Berlin I?., Schönhauser Allee 134) noch vor Thorschluß von Freunden und
Kennern des Englischen alle die Notizen zugänglich gemacht würden, die ge¬
legentlich des Gebrauches irgend eines der bisher verfügbar gewesenen englisch-
deutschen Wörterbücher etwa entstanden sind. Um ein lexikalisches Werk wie Muret
der Vollkommenheit und Lückenlosigkeit möglichst nahe zu bringen, sind die Er¬
zeugnisse des Gebrauchs, d. h. jene Wünsche oder Beiträge von ganz besonderm
Werte, zu denen der lebendige Verkehr mit der Sprache und die Benutzung des
Wörterbuchs Veranlassung gaben.
Sprichwörter und Sinnsprüche der Deutschen in neuer Auswahl von Dr. O. Wächter.
Gütersloh, Bertelsmann, 1888.
Ein kurzes Sprichwort verhindert mehr Böses, als ein langes Geschwätz —
in diesem Sinne etwa hat der Herausgeber seine Sammlung unternommen: sie
ist gedacht als ein Haus- und Erziehungsbuch, und darum ist alles ausgeschlossen
worden, was als fade und frivol gelten muß. Die Auswahl umfaßt alte Sprich¬
wörter, die aber noch heute gäng und gäbe find, Sinnsprüche ältern oder jüngern
Ursprungs, sowie biblische Sprüche, die seit Jahrhunderten in der deutscheu Litteratur
und im täglichen Leben gangbare Münze geworden sind. Die Anordnung ist, was
durchaus zu billigen ist, die alphabetische nach dem Stichworte. Jedem Sprichworte
u. s. w. sind kurze, zum Teil ältern Auslegern, wie Heinrich Bebel, Agrikolci,
Franck u. a. entnommene Anmerkungen unten beigefügt, die in volkstümlichster
Weise „den Sinn nur nach einer oder der andern Seite beleuchten und eine der
mannigfachsten Anwendungen nahelegen wollen." Da die Sammlung ein Volks¬
buch sein will, nahrhafte Kost bietend für Geist und Gemüt, so mag der Sammler
wohl recht gethan haben, allen Sprüchen, gleichviel wo er sie gefunden, modernstes
Sprachgewand zu leihen. Indes meinen wir doch, daß die gelegentliche Ein¬
streuung eines alten Spruches in ursprünglicher Sprachform, da wo der Sinn
klar ist, dem Büchlein auch für das große Publikum, das hierfür heutzutage
empfänglichen Sinn mitbringt, einen besondern Reiz verliehen haben würde, um
so mehr, als die biedere Treuherzigkeit manches kernhaften Spruches erst in der
alten Prägung des Ausdrucks mit der ursprünglichen Kraft wirkt. Doch wie dem
auch sei, wir wünschen, daß recht viel von dem echten, alten Golde dieser Erbweisheit
wieder lebendiges Eigentum unsers Volkes werde. In der Familie, in Volksbiblio-
theken u. s. w. sollte so ein Buch nicht fehlen.
us Anlaß der vornehmlich in Paris erfolgten Ausgabe der neuen
vierprozentigen russischen Anleihe ist die Pariser Börse der Gegen
stand lebhafteren Interesses geworden. Sie ist zum erstenmale
wieder aus der seit dem Jahre 1882 eingehaltenen Passivität her¬
vorgetreten. Es dürfte deshalb an der Zeit sein, ihrer Orga¬
nisation und ihrem Geschäftsumfange hier einige Worte zu widmen.
A. de Foville schätzte das Volksvermögen in Frankreich im Jahre 1378
auf 216 Milliarden Francs, Baaders Schätzung lautete im Jahre 1880 auf
230 Milliarden, während Leroy Beaulieu nur zu einer Schätzung von 17S bis
188 Milliarden gelangt ist. Mulhall giebt an, daß das Volksvermögen in
Frankreich in den Jahren 1870—1880 sich um sieben Milliarden Francs, trotz
der Abtretung von Elsaß-Lothringen, vermehrt hat.*) Da nun ein großer
Teil der Kapitalzunahme in Wertpapieren angelegt wird, so muß es zunächst
von Interesse sein, einen Blick auf die Emissionsthätigkeit zu werfen. An der
Hand der französischen Zeitschrift Hövus as8 danciri.es giebt Neumann-Spallart
folgende Berechnungen. Die Emissionssumme betrug im ganzen Jahre vom
1. Juli 1879 bis zum 1. Juli 1880 rund 4000 Millionen Francs, ohne die
belgischen, österreich-ungarischen und russischen Anleihen, die nicht unmittelbar
auf dem Pariser Markt emittirt wurden. Derselbe Statistiker giebt die Grün¬
dungen in Paris wie folgt an:
In dein Rückgänge seit 1882 wird man die Wirkung der sogenannten
Bontvnx-Katastrophe zu erblicken haben.")
Die EmissioustlMigleit in Paris ist trotzdem auf dem Gebiete inländischer,
als auf dem ausländischer Werte bei weitem nicht so umfangreich gewesen, wie
in Deutschland und England. Die Ursachen werden nicht nur in den wirtschaft¬
lichen und politischen Verhältnissen, sondern auch in der Organisation der
Pariser Börse gesucht. Charles Scherer"") macht in seiner Schrift über die
Pariser Börse die bis zu Anfange dieses Jahrhunderts und zum Teil noch
weiter zurückliegende Gesetzgebung für diese Passivität verantwortlich. Er führt
aus, daß das Gebiet des Zeitgeschäfts durch das Gesetz vom 17. Prairial des
Jahres X bis in die jüngste Zeit in seiner Emwicklnng gestört worden sei.
Nach dem Wortlaute dieses Gesetzes mußte der ^eine, as vtmnAö die Effekten,
die er verkaufte, oder das Geld, wofür er Effekten ankaufte, im Besitz haben.
Das Gesetz vom 28. März 1885 hat diese Bestimmung aufgehoben. Es
erkennt die Giltigkeit aller von dem ^.Zsut, als elmnAv vermittelten Zeitgeschäfte
an, indem es ihn für die Lieferung verkaufter und die Bezahlung gekaufter
Effekten verantwortlich macht. Nach der Verordnung vom 29. Germinal des
Jahres IX besitzt der Pariser Polizeipräfckt, der sich deshalb mit dem Minister
des Innern in Verbindung setzt, das Recht, die Bestimmungen für die Börse zu
erlassen. Im Jahre 1829 ist die Pflicht der Unterhaltung der Börse vom
Staate an die Stadt Paris überwiesen worden. Ein Regierungsdekret vom
(i. Mai 1834 wies den Seincpräfetteu an, das Börsenbudget der Pariser
Handelskammer zur Beschlußfassung zu unterbreiten, ehe es der vorgesetzten
Behörde zur endgiltigen Verfügung vorgelegt wird. Das Dekret vom 3. September
1851 ordnet ausdrücklich an, daß die Verwaltung der Börse der Handels¬
kammer zustehe.
*) Die Emissionsthcitigkcit in Deutschland wird in der Fachschrist „Deutscher Ökonomist"
so dargestellt:
Auch die folgenden Ziffern, die für das ganze Jahr gelten, bekunden eine starke
Zunahme der Emission ausländischer Werte:
1885: 223 „ „ 1016 „ „ 1239 „ „
Thatsächlich liegt die Verwaltung der Börse in den Händen der Korporation
der as elmiiM und des Polizeipräfekten; die Handelskammer hat eine
lediglich beratende Teilnahme. In dieser Beziehung wird eine Reform angestrebt,
zu deren beredtem Wortführer sich Scherer in der erwähnten Schrift gemacht
hat, und die überhaupt von einflußreicher Seite mit Nachdruck vertreten wird.
Die Wünsche gehen dahin, daß die Anzahl der Delegirten zur Pariser Handels¬
kammer erheblich vermehrt werde, und daß die Kammer selbst eine Einteilung
«ach Kommissionen treffe, wobei der zu schaffenden Börsenkommissivn eine her¬
vorragende Rolle zugedacht wird. Gegenwärtig besteht die Handelskammer ans
21 Delegirten, die von einem Kollegium von 3000 Mitgliedern gewählt werden.
Scherer hebt hervor, daß in dieser Hinsicht noch immer die den heutigen Ver¬
hältnissen gar nicht mehr Rechnung tragende Gesetzgebung des Jahres 1853
maßgebend sei, und verlangt eine bedeutende Vermehrung 1) der Anzahl der
wahlberechtigten Mitglieder der Kammer, 2) der Anzahl der Delegirten, sowie
Einteilung der Kammer in Kommissionen. Er betont, daß die Interessen der
Börse in der Handelskammer heute keine Vertretung fänden.
Den wichtigsten Teil in der Organisation der Börse stellt die Korporation
der ^Muth no oliimZ's dar. Artikel 76 des Loäs as Oonroisres verleiht ihnen
das alleinige Recht, Börsengeschäfte zu vermitteln. Noch gilt das Gesetz vom
29. Mai 1816, das die Zahl der ^vnd« as vllMssg auf 60 festsetzt. Das
Gesetz vom 2. Juli 1862 erlaubte ihnen, sich mit Kommanditären zu verbinden;
sie können ferner einen oder zwei bevollmächtigte Kommis halten. Die ^gsirts
as vlmnAö werden durch ein Komitv geleitet und vertreten, das aus ihrer
Mitte gewählt ist, aus 7 Personen besteht und unter dem Namen OliÄmbrö
LMcUoalö bekannt ist. Das Kapital, das diese Korporation vertritt, ist sehr
bedeutend. Die Stelle eines ^.Mut as olmnAs wird gegenwärtig mit 1600000
bis zu 1700000 Francs bezahlt. Die Kaution, die er zu hinterlegen hat,
beträgt 250000 Francs. Er muß außerdem 120 000 Francs bei der Kasse
der Llrg-mdrs 8Meile;g.1ö einzahlen, und als Betriebsfonds bedarf er eines Kapitals
von 400000 Francs. Die Stelle eines ^gelte alö eil-mM stellt also einen
Wert von 2^ Millionen Francs dar, denen man noch 60 000 Francs für
Registrirungsgebühren hinzurechnen muß. Man kann annehmen, daß die 60
-^.Muth alö olmiiM gegenwärtig ein Kapital von wenigstens 150 Millionen Francs
darstellen.*)
Die Pariser Börse besteht aus dem Parkett (oder dem amtlichen Markt),
der Renteukulisse und der OonlisW ass Vglsurs. Der Zutritt zum Parkett ist
nur den ^Aöirw as <ztrg.iiZ<z gestattet, die gegen Schluß der Börse zusammen¬
treten, um die Kurse festzustellen. Die Rentenkulisse beschäftigt sich ausschließlich
mit Zeitgeschäften in französischen Renten, ohne sich jedoch mit der Ablieferung
der Stücke zu befassen. Die letztere wird durch Vermittlung der ^.Z'fut.8 as
vng.ug'6 besorgt. Es giebt gegenwärtig ungefähr 120 Firmen, die sich mit derartigen
Geschäften besonders befassen; ihr Kapital ist sehr verschieden. Die Trans¬
aktionen lauten ohne Ausnahme ans Schluß des Monats. Die Ooulisss ävs
Valsurs (die man als den offenen Markt bezeichnen kann) befindet sich unter
den Säulen und auf den Treppen der Börse. Man zählt gegenwärtig ungefähr
100 Firmen ö> 1s, tkuille und etwa 20 Iior8 tsuiUv. Unter dein Ausdruck
t'<zu11lL versteht man die Operation der Ausgleichung unter Lmülssior« selbst.
Das Kapital eines solchen Hauses wird auf ungefähr 500000 Francs geschätzt;
es giebt aber viele, die bedeutend größeres, nach Millionen zählendes Betriebs¬
kapital besitzen. Haupt schätzt das Kapital der Firmen, die diesen Geschäfts¬
zweig pflegen, auf wenigstens 50 000 000 Francs. Das sind die Firmen, durch
deren Vermittlung die umfangreichen Zeitgeschäfte in fremden Werten gemacht
werden, in russischen, ägyptischen, österreichischen, spanischen, ungarischen, tür¬
kischen Werten, einschließlich des Arbitragegeschäfts. Die Wichtigkeit dieser Firmen
und ihres Geschäftszweiges ist ganz bedeutend gewachsen. Die angesehensten
Banken, die ^ZoutL as vUkmg'L selbst zögern nicht, sich an die Ooulissisrs zu
wenden, obgleich ihr Geschäftsbetrieb durch den Artikel 76 des Oocliz Ah Oomniörc-s
als ungesetzlich bezeichnet wird. Im Parkett werden Wechsel, französische Fonds
gehandelt, die wichtigsten Eisenbahnpapiere, Bankpapiere, die drei- und fünf-
prozentige italienische Rente und Suezkanal, während die Kulissenpapiere oder,
wie mau gewöhnlich sagt, die Valeurs a daraus zum größten Teile aus aus¬
ländischen Werten bestehen. Doch werden dieselben Werte zu derselben Zeit in
der Kulisse und im Parkett gehandelt. Der Kurszettel enthält alsdann zwei
Kursrubriken, vou denen die eine für das Parkett, die andre für die Kulisse
gilt. Die ^Aöuw ä<z euiZ-ugs werden von der Negierung ernannt. Es wird
jetzt vorgeschlagen, ihre Anzahl erheblich zu vermehren und die Kaution, die sie
zu stellen haben, auf 50000 Francs, die Registrirungsgebühren auf 5000 Francs
und die Einzahlung an die Kasse der Ltmmbrö sMäiesIs auf 50000 Francs
herabzusetzen. Man würde dadurch auf eine Gesamtsume von 105000 Francs
kommen. Den ^Zönts as ol^Mgö ist es durch das Gesetz verboten, selbst Banken
und Handelsgeschäfte für eigne Rechnung zu betreiben. Daraus folgt, daß sie
auch keine Börsenoperationen für eigne Rechnung unternehmen dürfen.
Die französischen Renten sind von der Steuer ausgenommen, während
die Fonds der Städte, die Aktien und Obligationen, so wie die fremden Staats¬
papiere Stempclabgaben zu zahlen haben. Für Aktien und Obligationen wird
eine Stempelabgabe von 1,2 des Nominalkapitals entrichtet bei Geschäften,
deren Dauer mehr als 10 Jahre beträgt. Für Geschäfte, deren Dauer weniger
als 10 Jahre betrügt, ist die Abgabe ^2°/». Die Steuer kann umgewandelt
werden in ein Jahresabonnement von 5 Centimes für 100 Francs des Nominal¬
kapitals. In diesem Falle bezahlen die Gesellschaften die Abgabe unmittelbar
an den Staat. An Übertragungsgebühren sind 20 Centimes für je 100 Franes
ans alle g,u xortvur lautenden Papiere zu entrichten. Bei Couponzahlungen wird
eine Abgabe von 3 °/g des Bruttobetrags entrichtet. Die auf den Inhaber lauten¬
den Papiere zahlen nur eine Abgabe von 3'^ auf den Bruttobetrag des Coupons.
Die Aktien und Obligationen ausländischer Gesellschaften zahlen dieselben Ge¬
bühren, aber in andrer Form. Nach der Verordnung vom 31. Januar 1887
wird der auf Frankreich fallende Betrag derartiger Papiere jährlich abgeschätzt
und die Steuer darauf in Form eines Abonnements entrichtet. Ausländische
Stnatspapiere entrichten jedoch kein Abonnement. Diese Papiere müssen seit
dem Jahre 1871 von den Emissionshäuscrn mit den französischen Stempel¬
marken versehen werden. Diejenigen ausländischen Staatspapiere, welche an
der Pariser Börse nicht notirt werden, zahlen eine Abgabe von 1,20^ des
Nominalkapitals. Diese Abgabe sür die ausländischen Staatspapiere beträgt:
Nach dem Dekret vom 6. November 1872 darf in Frankreich keine Emission
stattfinden, ehe dem Finanzminister ein verantwortlicher Vertreter bezeichnet und
von dem Minister angenommen worden ist. In dem der Zeichnung folgenden
Monat bestimmt der Finanzminister die Anzahl der Schuldtitel, welche der
Erhebung der Steuer zu Grunde gelegt werden soll, in Übereinstimmung mit
dem Dekret vom 24. Mai 1872.
Es war die Absicht der französischen Gesetzgebung, zu verhindern, daß
ausländische Papiere in Frankreich gehandelt werden können, ehe alle darauf
ruhenden Abgaben entrichtet sind. Doch haben sich die Dinge thatsächlich
so gestaltet, daß große Mengen ausländischer Wertpapiere in Frankreich um¬
laufen, die nicht allen Ansprüchen des Gesetzes genügt haben. Nur die Stempel¬
abgabe wird pünktlich entrichtet; die Übertragungsgebühren und die Einkommen¬
steuer sind schwer zu kontroliren, die Kulisse ist thatsächlich in der Lage, die
gesetzlichen Bestimmungen zu umgehen. Die ausländischen Staatspapiere werden
an der Pariser Börse notirt unter Zustimmung der ObWrbrc! sMäioals und
der französischen Regierung und nach Erfüllung aller Formalitäten, sowie der
Übernahme gewisser Verpflichtungen, die in dem Gesetze vom 15. November 1823
angegeben sind. Die Behandlung ausländischer Werte ist durch die Gesetzgebung
in den Jahren 1858 und 1880 geregelt worden. Hier ist die Zulassung
an die Entschließung der französischen Regierung gebunden. Noch am 12. Fe¬
bruar 1880 hat der Finanzminister an die Llmrlivrs L^iräivÄlL ein Schreiben
gerichtet, worin er sie auf die betreffenden Bestimmungen aufmerksam macht.
Ein andrer wichtiger Punkt betrifft die Conrtagegebühreu. Scherer rechnet
in der erwähnten Schrift aus, daß sie den effektiven Wert der Aktien und
Obligationen in folgender Weise belasten:
Der effektive Wert der ausländischen Staatspapiere wird wie folgt belastet:
Scherer bemerkt dazu: Diese Belastung würde vielleicht zu einer voll¬
ständigen Aufhebung der Zeitgeschäfte führe», wenn nicht die Möglichkeit bestünde,
Geschäfte außerhalb des Bereiches der ^gvnts alö ellaugs zu macheu. Die, welche
eine Reform der Organisation der Pariser Börse befürworten, stützen sich haupt¬
sächlich darauf, daß die heute noch geltende Gesetzgebung der freien Bewegung
der Spekulation ini Wege stehe. Der Umstand, daß in den letzten Jahren die
Pariser Börse auf dem Gebiete der Emissionsthätigkeit, namentlich in aus¬
ländischen Papieren, hinter der Londoner und der Berliner Börse zurückgeblieben
ist, wird hauptsächlich erklärt durch die unzweckmäßige Börseuorgcmisation, durch
die Belastung fremder Werte und die Erschwerung des Verkehrs in fremden
Werten durch die oben angeführten gesetzlichen Bestimmungen.
Einigermaßen zuverlässige Angaben über den Umfang des Geschäfts¬
betriebes an der Pariser Börse zu erhalten ist ein außerordentlich umständliches
Unternehmen. Etwaige von den ^gcsnk Ah ellmrAs zu erhaltende Angaben
würden sich nicht auf den Geschäftsbetrieb der Kulisse erstrecken. Als vor einiger
Zeit der Vorschlag gemacht worden war, die Börsengeschäfte einer neuen Steuer
zu unterwerfen, gelangte man zu einer Schätzung der Börsenoperationen auf
vierzig Milliarden Francs im Jahre. Diese Angabe wird von Alphonse Cour-
lois (Verfasser eines Nsriuet as« ?onäs xuvlivs und andrer Werke über Staats¬
papiere) als durchaus willkürlich bezeichnet. Dieselbe Ansicht äußerte auf Be¬
fragen Dr. Juglar von der 8vo16t6 8tatisü<iuo. Die ^.AövK av odMgs sind
Wohl im Stande, den Betrag abzuschätzen an der Hand der Stempelabgabc» und
der Übertragungsgebnhren im Verkehr zwischen der Li^undrs L)'mal«Älo ass
i^vnd« as olrango und der Bank von Frankreich, Diese Ausweise lvcrden jedoch
niemals veröffentlicht; es würde vergeblich sein, sich darum zu bemühen. Die
^.MntL as ollÄUgö haben außerdem ein Interesse daran, diesen Punkt nicht in
die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, da die Größe ihrer Gewinne den Gedanken
beleben könnte, daß das Finanzministerium sich an den Erträgnissen des Monopols
einen stärkern Anteil sichere.
n Ausgrabungen alter Dichter leidet unsre Zeit keinen Mangel.
Je weniger neue Talente hinzuwachsen, um so emsiger durchforscht
man die Vergangenheit und die Werke der klassisch gewordenen
Meister. Auch ist die neue Herausgabe alter Dichter ein ehren¬
volles Geschäft geworden, das manchem jungen Germanisten
schneller zu einer Professur, als jenen Dichtern zu Lesern verholfen hat, und
das daher mit um so größerem Eifer betrieben wird. Mit diesem Eifer hat
die kürzlich erschienene neue Ausgabe*) der Dichtungen des Tirolers Hermann
von Gilm nichts gemein; hier soll in der That ein verschollener Mann neu
auferstehen und hoffentlich Gemeingut der Nation werden.
Als Hermann von Gilm im Alter von 52 Jahren am 30. Mai 1864
starb — es war zu Linz, wo er Präsidialsekretär des oberösterreichischen Statt-
Halters Freiherrn von Bach war —, da war er nur in seiner Heimat Tirol
(er war in Innsbruck am 1, November 1812 geboren) und etwa noch in Linz
selbst als Dichter bekannt. Er holte sieben Jahre (1847—1854) in Wien
gelebt, war aber hier mit den litterarischen Kreisen gar nicht in Berührung
gekommen. Als er sich endlich nach jahrelanger Unentschlossenheit daran machte,
die dichterischen Früchte seines von tiefen und vielfachen Leidenschaften bewegten
Lebens zu ordnen und für den Druck einzurichten, da war es schon zu spät. Er
konnte mit der Arbeit nicht fertig werden, da ihn der Tod nach langem Leiden
abrief. Hierauf erschienen zwar endlich seine Gedichte von der Hand eines
Freundes, Vincenz von Ehrhard, geordnet (Wien, Gerold, 1364—1865). Sie
ernteten auch sehr viel Anerkennung, sogar begeistertes Lob, aber sie gerieten
schnell wieder in Vergessenheit. Nur von den litterarisch gebildeten Landsleuten
in Tirol wurde in der Stille gelehrter Zeitschriften der Kultus seiner Lyrik
weiter gepflegt — in Deutschland selbst ist sie ganz unbekannt geblieben, nicht
einmal Litteraturgeschichten haben ihrer Erwähnung gethan.
Man hat die Frage aufgeworfen, warum dies so geschehen sei? Und man
hat geantwortet, die letzten Jahrzehnte hätten überhaupt wenig Interesse für
Lyrik bekundet. Aber dem ist durchaus nicht so. Lyriker wie Geibel, Storni,
Lingg, Scheffel, Baumbach, Griesebach u. s. w. sind seit Gnus Abgange trotz
des kriegerisch bewegten Geistes der Zeiten emporgekommen, und jeder von
ihnen hat sein Publikum gefunden; nicht zu reden von der großen Verbreitung,
welche die älteren Lyriker durch neue billige Ausgaben gewonnen haben. Warum
blieb Gilm, der hinter keinem der genannten Lyriker zurückzustehen hat, so
verschollen, wie er es zuweilen persönlich bei Lebzeiten war? Man wies
auf die Schwächen der ersten Ausgabe von Gnus Gedichten hin; sie
enthielt sehr viele seiner Gelegenheitsgedichte, viel von seiner echt tirolisch-
loyalen politischen Lyrik, aber seine freigeistigen Gedichte waren von dem
frommen Herausgeber fast ganz zurückgehalten worden. Indes blieben doch
noch Perlen genug in der Sammlung. Vielleicht mag auch der Verlagsort
Wien ihrer Verbreitung nicht förderlich gewesen sein, wie es unsre Dichter ja
häufig schmerzlich erfahren haben. Aber schließlich kann auch dieser äußerliche
Umstand für Gnus Verschollenheit nicht entscheidend gewesen sein, dies konnte
nur ein innerer Grund sein.
Gilm geriet unter die Gruppe der sogenannten Vormärzler. Man zählte
ihn jenen Lyrikern zu, die ihre Begeisterung nur in der Politik, in der Be¬
kämpfung des Metternichschen Systems der Zensur, der Geistesbedrückung, der
Polizeiallmacht gefunden, die oft in der That statt der Poesie rhetorisches
Feuerwerk, gereimte Leitartikel geboten haben. Es ist nun kaum zu sagen,
wie schnell diese Lyriker in Vergessenheit gerieten. Es geschah gleichsam über
Nacht. Der tiefe Gegensatz, in dem sich das Deutschland der vierziger Jahre
schon zu dem Deutschland der sechziger Jahre befand, ist gar nicht auszumessen.
Damals erschien Hamlet als die Verkörperung des deutschen Nationalcharakters
man grübelte, aber handelte nicht, und man hat dies mit einem sich selbst
geißelndem Hohn der Nation so lange gesagt, bis sie dann in das Gegenteil
umschlug, die Blut- und Eisenpolitik betrieb, statt bei Gedichten und Romanen
zu schwärmen, an die Arbeit ging, Industrien schuf, Eisenbahnen baute, Fabriken
in Betrieb setzte. Wie leere Schwätzer oder besten Falls wie harmlose, wolkeu-
gängerische Schöngeister kam dem realistischen Geschlecht, das die deutsche
Einheit schuf, das vormärzliche Geschlecht, das sich nach ihr gesehnt hatte,
ohne sie banen zu können, und das zugleich mit dem Zerstäuben des Frankfurter
Parlaments Bankrott gemacht hatte. Darum wurden alle Sänger der vormärzlichen
Zeit, die politisch waren, bei Seite geschoben — geschichtliche Gerechtigkeit kennt
ja das politische Leben nicht, die Kunst nur die Gelehrtenstube — und darunter
hatte auch Hermann von Gilm zu leiden. Die Lyrik des neuen, in den drei
großen deutschen Kriegen schwer geprüften Geschlechts ist cmakreontisch geworden;
man hatte sattsam Politik in den Zeitungen, die Dichter sollten nur die Schönheit
Pflegen. Aber auch dieses Geschlecht ist im Vorübergehen, wir stehen wieder
an der Schwelle einer neuen Zeit. Der Realismus, deu Julian Schmidt und
Gustav Freytag in Deutschland gefordert und begründet haben, hat seinen
Höhepunkt überschritten, indem er in den Naturalismus auslief. Es mehren
sich die Zeichen, daß wir auch den Kultus der rohen Thatsache satt haben;
die Naturwissenschaften knüpfen wieder an die Philosophie an, die Historiker
streben nach zusammenfassenden Gesichtspunkten, die Philosophen wollen auf
Grund des umgeackerten Bodens der positiven Wissenschaften eine sittliche Welt¬
anschauung aufbauen u. f. f. Der alte deutsche Idealismus regt sich wieder,
und da darf auch die vormärzliche Zeit hoffen, gerechter beurteilt zu werden,
als bisher. Als eines der Anzeichen dieser Strömung wollen wir die Aufer¬
stehung Gnus nehmen, die schon jetzt, nach wenigen Wochen, die Aufmerksamkeit
aller Freunde der Poesie auf sich gelenkt hat.
Kann man eine zu hohe Meinung von dem Berufe der Poesie haben?
Schwerlich, denn sie gehört in der That zu den höchsten und folgenreichsten
Thätigkeitsformen- Aber man kann sich irren in dem Glauben an die un¬
mittelbare Wirkungsfähigkeit der Poesie, in der Auffassung ihres praktischen
Berufes, und das ist der auffälligste Charakterzug des vormärzlichen Geschlechts,
der auch bei Gilm zunächst in die Augen fällt. Er sollte ihm zum Verhängnis
werden, wie aus unsrer Darstellung hervorgehen wird.
Bis zum Jahre 1840 lebte Gilm in Innsbruck als der Sohn eines
höhern Justizbeamten und schließlich selbst als Gerichtspraktikant. Tirol ruhte
damals ans den Lorbeeren ans, die es sich in den Franzosenkriegen durch seinen
heldenmütigen Kampf und seine sagenhafte Treue an die Habsburgische Dynastie
erworben hatte. Für die heutige Geschichtsforschung ist es außer Zweifel, daß
die Tiroler unter Andreas Hofer hauptsächlich für ihren alten Glauben gekümpft
haben, und daß der Fanatismus ihres Kampfes gegen die Baiern insbesondere
hierin seine Ursache gefunden hat. Die Baiern hatten in unpolitischen Auf-
klärungsftrcben die abergläubischen Auswüchse des tirolischen Katholizismus
beschneiden wollen, sie hatten Kreuze, „Märlein," wie sie uns auf allen Alpeu¬
wegen begegnen, umgeworfen und so das biedere Bergvolk empört. In den
stillen Jahrzehnten nach den Befreiungskriegen entwickelte sich aber in Deutsch¬
land die Legende, die Tiroler hätten allein für ihre Nationalität, für ihr
Deutschtum gegen die Franzosen gekämpft. Diese Auffassung fand in Tirol
selbst leicht Verbreitung, zumal bei der heranmachsenden liberalen Jugend des¬
selben. Der Vater Gnus, der ebenso konservativ wie sein Sohn liberal war,
der den Krieg selbst mitgemacht hatte, sah es geradezu als eine Verleumdung
von Seite des „jungen Europas" an, wenn der Tiroler Aufstand von 1809
als ein Freiheitskrieg angesehen wurde. Er kannte die geheimen Triebfedern
jener Jahre genau; von einem Freiheitssinne, meinte er, sei keine Spur vor¬
handen gewesen. Aber dem nachwachsenden Geschlecht waren jene geheimen
Triebfedern verloren gegangen, nur der Glanz der heroischen Thaten war übrig
geblieben, und da empfand es in Tirol keiner so schmerzlich wie Hermann von
Gilm, daß seine Heimat mit der geistigen Entwicklung des übrigen deutschen
Volkes nicht Schritt hielt. Das ganze Gebirgsland war ja durch Zensur,
Polizei und Klerisei in einer heutzutage geradezu unbegreiflichen Weise von
Europa abgesperrt worden. Wer in Tirol reisen wollte, mußte eigne Pässe
haben und sich viele Plackereien gefallen lassen. Unzählige Male wiederholt
Gilm seine Klage über das Zurückbleiben Tirols in geistiger Beziehung. Tirol,
so schön, so überreich gesegnet, ist arm an Dichtern. Oswald v. Wolkenstein,
dessen Gedichte und Lebensgeschichte gerade zu jener Zeit von Beda Weber neu
herausgegeben worden waren und der vielfach Gnus Phantasie beschäftigte,
da er der letzte deutsche Minnesänger und ebenso, wie der größte, Walther von
der Vogelweide, ein Tiroler war — dieser Oswald wird von Gilm angesprochen:
Nicht wollen wir dein Ritterschwett, dus scharfe,
Das Vaterland steht dich, das liedentlvöhntc,
Oswald von Wollenstein, um deine« Harfe,
Die liederreich durch diese Berge tönte.Und srischre Kränze hat es, schönre Orden
Als Aragon; o schweige nicht mehr länger!
Seit jener Zeit ist alles anders worden:
Wir haben Thaten, aber keine Sänger.
Jeder Mensch wird es einmal an sich erfahren haben, daß er von der zu¬
fälligen Äußerung eines Fremden blitzartig und folgenreich berührt wurde, weil sie
vorhandene, aber unklare Strebungen in ihm zum Bewußtsein brachte. Ein solches
Erlebnis hatte auch Gilm. Im Jahre 1841 lebte er in Schwaz, einem kleinen,
alten, romantisch gelegenen Städtchen, eine Eisenbahnstunde östlich von Innsbruck
gelegen. Es war der Sitz eines Kreisgerichtsamts, und der Dichter verbrachte
hier zwei seiner sieben Praktikantenjahre. Er lebte hier eine Zeit lang sehr
glücklich. Da er selbst aus guter Familie stammte, fand er die freundlichste
Aufnahme in dem gastfreien Hause seines Amtsvorftandes, des Kreishauptmanus
von Gasteiger, und vergalt diese durch sein geistsprühendes, lebensfroh über¬
schäumendes Naturell.*) Hier lernte er auch seine in den schönsten Liedern ver¬
ewigte Theodolinde kennen, eine Nichte Gasteiacrs, die Gnus leidenschaftliche
Liebe freilich nur mit kühler Freundschaft whute und ihn dadurch sehr un¬
glücklich machte. Das schöne Mädchen wollte eine sogenannte gute Partie
machen und gab dem unbesoldeten Gerichtspraktikanten, der obendrein als Libe¬
raler schlimme Aussichten für seine Laufbahn hatte, einen Korb. In diesem
Hause nun hatte Gilm folgendes kleine, aber bedeutsame Gespräch, über das
er in einem seiner Briefe an die vielgeliebte Schwester Calor (Katharina) nach
Innsbruck berichtete: „Es ist nicht lange her," schreibt er, „war ein Mädchen
hier ans Zweibrücken; diese Fremde hatte freiere Ideen, als alle Männer Tirols
in hundert Jahren zusammenbringen. Sie frug mich einst, nachdem l^als^j sie
sich an unsern herrlichen Bergen nicht satt sehen konnte: »Und in dieser Natur
giebt es keine Dichter?« Ich antwortete ihr Tags darauf in einem Gedichte"
— und dieses Gedicht teilt er nun in dem Briefe mit.**) Für die Wirkung
dieses Gesprächs auf den damals neununzwanzigjährigen Dichter ist es bezeich¬
nend, daß er dieses Antwortgedicht an die Spitze der Sammlung stellte, die er
1863, kurz vor seinem Tode, endlich ordnete.
Es war damals in der That so. Von Oswald von Wolkenstein bis auf
Gilm hat die tirolische Litteraturgeschichte kein dichterisches Talent höhern
Ranges zu verzeichnen. Erst kürzlich sind tirolische Fastnachtsspiele des Vigil
Räder aus dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ausgegraben und ver¬
öffentlicht worden, aber davon wußten Gnus Zeitgenossen nichts. Und es
erinnert an den Entschluß des jungen Klopstock, mit Milton um die Puline
zu ringen, da das Ausland sich verächtlich über die Unfähigkeit der Deutschen,
etwas im Gebiete der „schönen Wissenschaften" zu schaffen, geäußert hatte, wenn
Gilm von nun an sich als den berufenen Mann fühlte, der Dichter Tirols zu
werden, an dem es fehlte, und diesem Gefühl in stolzer Weise auch sehr häufig
Ausdruck verlieh.
Schweigen werden meine Lieder,
Kein Gesang wird mehr ertönen,
Und die Fremden werden wieder
Unsre stummen Berge höhnen —
singt er beim Abschied von der Geliebten. Und ein andermal in dem Gedichte
„Sankt Ulrichs-Kapelle":
Ich aber möcht' hier Tag für Tag
Tirolcrlieder dichten,
Und wenn's auch niemand hören mag,
So hören mich die FichteinSie Kennen sich mit horchen wohl
Mit Lust den neuen Tönen,
Daß nicht die Fremden mehr Tirol
Als liederarm verhöhnen.
Die Tirolerpoesie tauft er in einem andern Gedichte geradezu auf den Namen
der Geliebten, der er einen Cyklus von Liedern widmet, auf Sophie.
So stark das Selbstgefühl zu sein scheint, das aus solchen Versen spricht,
so berechtigt darf man es doch bis zu einem gewissen Grade nennen, wenn
man eines Menschen Recht auf Stolz nach der Größe der Aufgabe mißt, die
er sich selbst gestellt hat, und nach der Kraft, mit der er sie erfüllt hat. Welch
hohe Auffassung Gilm von dem hohen Beruf der Poesie hatte, das geht nach
zwei Richtungen hin aus seinen eignen Versen hervor. Einesteils war ihm
der Dichter der Hüter, der Scher der Schönheit. In dem Trinkspruch auf
Oswald von Wolkenstein läßt er das traumhaft lebendig werdende Steinbild
dasselbe auf feiner Schloßruine sagen:
Schau rings dich um,
Mein Eigentum,
Das alles hob ich besungen. Der Wiese Pracht,
Des Waldes Nacht,
Des Bergsees grüne Gestade,
Den Alpenklee,Die Rosen im Schnee,
Die Gemse aus steinigem Pfade;
Das Edelweiß,
Das Gletschereis
Und drüber die goldene Wolke:
Im Liede bewahrt,
Im Lichte verklärt,
Gab ich das Laud meinem Volke.
Also das eigne Volk zum Bewußtsein der Schönheit und des Wertes
seines Besitzes zu führen, war nach seiner Meinung Dichterberuf. Anderseits
erklärte er in einem der „Zeitsonctte aus dem Pusterthale" (offenbar gegen
Betr Webers mystische Lyrik):
Ihr Musenjnnger, die mit Thrttnenfluteu
Ihr von der Welt Verderbnis christlich wimmert,
Verwesung singend uns die Särge zimmert
Aus heißer Liebe nach dem Absoluten,Der Lieder Art will nimmer uns gemuten:
Hat sich die Welt, die ihr verschmacht, verschlimmert,
Ist's eure Schuld, wie ihr sie unbekümmert
An ihren tiefen Wunden laßt verbluten.Der Dichter muß voran! Wie einst die Wolke
Vor Israel, muß er vor seinem Volke
Der wüsten Zeiten knndger Lootse wandeln.Das Lied ist nur die Blüte von (!) dein Handeln!
Im Buche der Geschichte könnt ihr lesen,
Daß jede That zuerst Gesang gewesen.
Und alles zusammenfassend, was Gilm als Aufgabe der Poesie betrachtete,
^ zugleich die beste Selbstcharakteristik, die er geliefert hat — heißt es in
dem Gedichte an Albert Jäger, zum 8. März 1844, worin die Muse Tirols
den mutigen Benediktiner, der gegen die Jesuiten aufgetreten war, anspricht:
Ich bin die Muse von Tirol, die freie,
Der Berge Liebchen und der Wälder Braut,
Mit jedem ersten Frühlingstag erneue
Ich meinen Schwur, der mich an sie getraut!Ich bin nicht jene schamlos Seite Dirne,
Die ohne Liebe für das Vaterland
Schon heute wirft mit Straszenkot die Stirne,
Um die sie gestern falsche» Lorbeer wand.Ich lausche jedem Seufzer der Geliebten,
Träum' jeder Föhre winterlnngen Traum,
Ich weiß die Leiden, die den Wildbach trübte»,
Trink' seine Lust von seinem Perlenschaum'.
Ich kenne jeden feurigen Gedanken,
Der auf beeisten Firnen stolz verglüht,
Und jeden Wunsch, der an den Blumenranken
So unbeachtet welket und verblüht.
Weil nun Gilm ein so hohes Ideal von dem Berufe seiner Kunst hatte,
weil er, wie wenig andre Dichter, sich in der That als einen Märtyrer seiner
Begabung zu betrachten das Recht hatte, darum durfte er mit jenem Selbst¬
gefühl von sich sprechen, obgleich neben ihm ein dichterisches Talent wie das
Adolf Piasters heranwuchs. Gilm hat viel gelitten um seine Poesie. Wenn
er sich gemäß der von Freiligrath ausgegebenen Losung für alle seine dichte¬
rischen Zeitgenossen in verzweifelten Augenblicken auch mit jenem Kainsstempel
gezeichnet fühlte, der das Mal der Dichtkunst sein sollte — eine pessimistische
Theorie von der angebornen Tragik des Dichters, die wir heutzutage in dieser
Allgemeinheit als durchaus nicht zutreffend anerkennen — so war es bei ihm
nichts weniger als eine leere Phrase.
Gnus größtes Verhängnis war, daß er als Tiroler zur Welt kam. Das
klingt paradox, wenn man daran denkt, mit welcher rührenden Treue, mit
welcher Leidenschaft er an seinem Vaterlande, an den Tiroler Bergen und an
den Tiroler Menschen hing, wie im Grunde die Verherrlichung Tirols den
Kern seines ganzen Denkens und Dichtens ausmacht.*) Dennoch ist dem so.
Gilm war von Natur, wie jedes starke dichterische Naturell, für alle Eindrücke
seiner Umgebung ungemein empfänglich. Ein Denker, ein Forscher ist viel
weniger von den Zufällen der Erziehung und der Zeitläufte abhängig, der
Dichter kaun sich ihrem Einflüsse gar nicht entziehen. Er wächst ja mit seiner
ganzen Produktion aus ihnen heraus. Gilm stand mit seinem angebornen Wesen
in geradem Gegensatze zu Schule und Hans, zu Gesellschaft und Gesinnung,
worin er aufwuchs. Die Lehrer waren Pedanten, die Familie bestand aus sehr
frommen Katholiken, die Stadt war klein, philiströs, von der klerikalen Herr¬
schaft verschüchtert, ängstlich, zurückhaltend. Gnus Natur strebte nach Heiter¬
keit, frischem Lebensgenuß, reicher Behaglichkeit, Sinnenlust und Bewegung.
Was die dumpfe Gläubigkeit seiner Erzieher an ihm verschuldete, das spricht
er in späten Tagen in einem unter dem Drucke der Ereignisse der Märzrevo¬
lution geschriebenen Briefe von Wien (7. November 1848) svlbst aus: „Wenn
in meiner Erziehung nicht gar so plump zu Werke gegangen, wenn die N!^
geschmacktheit nicht gar so nackt hingestellt, wenn die schöne Lehre Christi nicht
gar so verhunzt worden wäre, ich hätte nicht so früh — ein halbes Kind -
den ganzen Katholizismus über Bord geworfen. Ich bin zwar froh, so früh
damit fertig geworden zu sein, aber es braucht einen eignen Gott im Herzen,
ohne Religion, so ohne Leuchte der Vernunft herumzutappen. Die Poesie hat
mich über diese gefährliche Kluft hinausgetragen, und wo ich seitdem angelangt
bin, da ist das Land der Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, das wahre Land
Christi. Ich bin ein Christ im wahren Sinne des Wortes, ein Christ des
Evangeliums, und es ist nicht ein Wort darin, das ich nicht bestätige. Aber
was die Menschen dazu gemacht haben, ist pure Alfanzerei. Politik, Philosophie
und Religion ist eins und dasselbe geworden." Die Folge dieser beklagten Er¬
ziehung Gnus war sein frühzeitiges und nur um so derberes Auflehnen gegen
die landesübliche fromme Kopfhnngerei, so das; er schon früh als Ketzer oder
Heide galt, während er in einer weltmännischeren Umgebung wohl noch als guter
Christ betrachtet worden wäre und sich mit theologischer Engbrüstigkeit nicht
hätte herumschlagen müssen. Sehr anmutig läßt es Gilm in einem seiner ersten
Cyklen: „Sommerfrischlieder (eines Mädchens) aus Natters" aussprechen:
Es schelten mich die Leute
Gar oft ob meiner Lieb',
Als wäre er ein Heide,
Brandleger oder Dieb. Und steht's mit seinem Glauben
Gar übel immerhin,
Es heißt: wer viel geliebt hat,
Dem wird auch viel verziehn.Und hat er gelegt auch ein Feuer,
Es Hot doch kein Wächter gelärmt,
Mir aber haben die Flammen
Das frierende Herz erwärmt. Und hat er auch wirklich gestohlen
Viel Küsse bei Tag und bei Nacht,
So hat er doch niemand ärmer,
Mich ober reicher gemacht.
Natürlich konnte diese „heidnische" Gesinnung in dem Innsbruck der dreißiger
Jahre nur bei wenig Menschen Verständnis finden. Aber Gnus Geistesent-
Wicklung ging noch weiter und zog die letzten Folgerungen ans der von seiner
dichterischen Begabung geforderten Weltanschauung. Gilm war ganz und gar
Augenmensch. Die reiche Alpenwelt haM ihn in ihren Bann gezogen, und
seine Phantasie war gesättigt mit den Bildern ihrer Wälder und Berge, ihrer
Blumen und Bäume, ihrer Bäche und Wiesen, wie es seine Lyrik auf jeder
Seite bezeugt. Er war tief eingeweiht in das Geheimnis der Natur, sie wurde
die Seele seiner Poesie. Zu ihr kehrt er ein, wenn er von den Kämpfen der
Welt ausruhen will.
Ich lieg' im Feld, zur Seite mir die Ähre,
Die neigt ihr Haupt schwermütig, in Gedanken,
An ihrer rauhen Wimper hängt die Zähre;
Da ist wir wol, ich lieb' die Seelcukrnulen, Und eine Lerche lehrt die zarten Jungen
Das Frühlingslied und giebt das beste Futter
Dem Kinde, welche» fehlerfrei gesungen;
Da ist mir wol, als hätt' ich eine Mutter.Dort wird die TaunewieimFrenndschaftSbnnde
Umfangen von der Birke weißen Armen,
Ob auch die scharfe Nadel sie verwunde;
Da ist mir wol, als gäb' eS noch Erbarmen. Und alles, was ich liebe, schien gestorben;
Doch ringsum sind die Rosen aufgeschossen,
Nicht alle Blumen ha! der Schmerz verdorben;
Da ist mir wol, als wär' ich nicht verstoßen.
Dieser offene Sinn für die Naturschönheit, diese mystische Empfänglichkeit
des Sonntagskindes für ihre Sprache tritt bei Gilm schon mit seinen ersten
dichterischen Versuchen hervor. Sein erstes Gedicht soll eines auf die Frau
Hüte, die sagenumspvnnene Bergspitze bei Innsbruck, gewesen sein. Die ersten
Gedichte der neuen, chronologisch geordneten Ausgabe sind dem Preise des
Veilchens gewidmet; und in dem schon angezognen Briefe aus Schwaz (2. Januar
1841) schreibt Gilm in seiner damaligen überschwänglichen Weise: „Vor der
Hand liebe ich Theodolinde! Sonst gar nichts, wirklich gar nichts! Berg und
Thal und die Sterne am Himmel lieb' ich zwar auch, aber nur weil Theo¬
dolinde, so ost sie einen Berg, einen Baum, einen Stern sieht, an mich denkt.
O welch ein Zauber liegt in der Naturpoesie! Wenn du nur ahnen könntest,
wie diese leblosen Dinge plaudern können, wie ein abgeschälter, nichtsnutziger Weiter¬
bauen mehr zärtliche Dinge weiß, mehr göttliche Gedanken hat, als ein Seelenhirt."
Mehr göttliche Gedanken, als ein Seelenhirt — das ist das Charakteristische
für Gilm im Unterschiede z. B. von Eichendorff. Gnus Naturverehrung war
ein bewußter Widerspruch gegen die orthodoxe Kirchlichkeit, die ihn umgab,
und er konnte desselben in diesen Jahren niemals ganz Herr werden. Immer
kommt ihm die Erinnerung an die religiösen Formen des Katholizismus, wenn er
in seiner eignen, aber nicht minder religiösen Art die Natur feiert. Daraus entstand
jener ganz merkwürdige Stil in den „Sommerfrischliedern eines Mädchens",
den schon Emil Kuh (Neue Lyrik, Wien, 1865), Gnus erster Kritiker, bewun¬
dernd hervorhob. Die Formen des katholischen Ritus und dessen Anschauungen
wurden für Gilm ein mythologischer Apparat, wie den Renaissaneedichtern die
Bilder der griechisch-römischen Religion. Nur so begreift man es, wie Gilm
zu seinen originellsten Wendungen kam, wie
des Mädchens aus Natters:B. in dem folgenden Gedichte
Ich habe drei Kränze gewunden
Gleich einer Schäferin
Und Will sie nun verteilen
Nach meinem thörichten Sinn. Den ersten aus Eichenblättern,,
Den drück' ich dir auf das Haupt;
Es liegt eine Kraft in der Eiche,
An die man vertraut und glaubt.Den zweiten aus wilden Rasen
Geb' ich dem Bächlein im Wald;
Das färbt mit rosigen Leben
Die Wangen von Jung und All. Den dritten aus Blumen des Feldes
Leg' ich dem Heiland aufs Haar —
Er soll keinen Dornenkranz tragen
In meinem seligsten Jahr.
Oder in einem andern Bilde:
Es singen die Vögel im Walde,
Es raucht und dampft de^ Altar,
Und oben an seidner Decke,
Da schwebt der Engel Schar.Bis jetzt ein Priester, ein hoher,
Empor die Hostie hält,
Umgeben von goldnen Strahlen:
Da leuchtet die Lieb' in die Welt.Da schweigen die Vögel im Walde,
Da neigen die Blumen das Haupt,
Da haben nnglnubge Tannen
An Jesus Christus geglaubt.
Der Dichter selbst ist die ungläubige Tanne, die auf dem Wege der Natur¬
verehrung den Weg zum Heiland gefunden hat. Er treibt ein künstlerisch freies
Spiel mit den katholischen Kirchenformen. Ein wahrhaft Gläubiger hätte nie
diese Einfälle gehabt. Man kann zusehends Gnus Wachstum in seiner Freiheit
beobachten. Noch in den „Märzenveilchen" ist er nicht ganz frei, wenn er, etwas
pretiös allerdings, singt:
Des Heilands Liebe, — seine Wunden,
Sind heute bis zur Osterzeit
Mit veilchenblauen Tuch umbunden
In allen Kirchen weit und breit.Und draußen deckt die junge Erde
Nach langem Schlaf, nach langer Ruh,
Daß sie nicht ausgespottet werde,
Mit Veilchen ihre Liebe zu.Und wenn ich meine Lieder dichte
Von diesen Veilchen, ist es nur
Die alte heilige Geschichte
Von unsrer Kirch' und der Natur.
Aber sehr bald ist er sich klar geworden, daß „unsre Kirch' und die Natur"
nicht so harmonisch zusammengehen. Schon in den „Sommerfrischliedern"
heißt es:
Sieh, dort zeigen sie dem Volke
Sein und seines Gotts Verhängnis:
Eine trübe Wcihrauchwolke
Und ein ewiges Gefängnis.
Er sah, daß die Kirche auf ein Jenseits verweise, uns mit der Natur entzweie,
seine Verehrung der Natur aber drängte ihn, sich ganz für das Diesseits zu
entscheiden. In einem seiner schönsten Gedichte, „Das Gnadenbild," kommt
diese Entscheidung zum rührendsten poetischen Ausdruck.
Auf einem goldgestickten Purpurthrone
Im Edelstein-besätcn Atlaskleide,
Im goldnen Haar die pcrlcnreiche Krone,
Maria sitzt, die Hochgebenedeite.Es strömt mit Plagen jeder Art beladen
Herbei das Volk aus allen fremden Landen;
Man sagt, es hab' ihr Auge voller Gnaden
Noch jede Bitte huldvoll zugestanden.Doch wenn des Nachts die Palmenblätter dunkeln,
Die an der Kirche Säulen aufgeschossen,
Die runden Scheiben glühen gleich Karfunkeln,
Und nun der Küster hat die Thür geschlossen:Dann kommt ihr wohl die Thrän' ins Aug' geflogen,
Sie denkt der Zeit, wo sie die Welt, die weite,
Am Wanderstab als Bettlerin durchzogen,
Ein Kind im Arm und einen Mann zur Seite.Und wie sie dort im Sandmeer von Ägypten
Im Schatten eines Palmenbaums geschlafen,
Und wie den Thau der Aloe sie nippten,
Wenn in der Wüste sie kein Wasser trafen.
Es ist die alte homerische Gesinnung, die Gilm hier ausspricht: lieber ein
Bettler auf der Oberwelt, als ein Fürst im Reiche der Schatten. Von ähn¬
lichem Geiste erfüllt ist ein zweites Gedicht Gnus, „Der heilige Johannes".
Es führt eine gerade Linie von Gnus religiös-erotischer Lyrik zu den berühmten
„Sieben Legenden" Gottfried Kellers; gemeinsam ist ihnen die durchaus von
jeder aufklärerischen Tendenz freie, rein künstlerische Verwendung altchristlicher
Vorstellungen zu weltlich-poetischen Zwecken.
Nicht aber diese hervorragenden dichterischen Gaben haben Gnus Ruhm
zu seinen Lebzeiten in Tirol und ein wenig auch in Deutschland begründet,
sondern seine Jesuitenlieder, von denen wir nun zu sprechen haben.
Im August des Jahres 1837 wanderten fünfhundert Zillerthaler mit
Weib und Kind aus ihrer Heimat nach Schlesien aus, wo ihnen der König
von Preußen einen Erdenwinkel einräumte, auf dem sie sich neu ansiedeln
durften. Ein Dekret des Kaisers Ferdinand hatte sie aus der Heimat verbannt,
weil sie es gewagt hatten, die Bitte auszusprechen, Jesus nach evangelischem
und nicht mehr nach katholischem Ritus verehren zu dürfen. Diese Ziller¬
thaler waren teilweise Verwandte jener Salzburger, die der Erzbischof Graf
Firnnan aus demselben Grunde hundert Jahre früher (1731) von Haus und
Hof vertrieben hatte. Lutherische Bibeln, Hauspostillen waren zurückgeblieben,
deren Lesung den erstickten protestantischen Geist entfacht und die Bewegung
unter den Zillerthalern hervorgerufen hatte.
Als Gilm in Schwaz lebte (19. Oktober 1840 bis 10. Dezember 1842),
da war die Erinnerung an diese rohe That theologischer Unduldsamkeit noch
ganz lebendig. Der Kreishauptmann v. Gasteiger, in dessen Hause Gilm ver¬
kehrte, war selbst der, wie man versichert, humane Vollstrecker des furchtbaren
Regierungsaktes gewesen, und man mag oft genug bei ihm davon gesprochen
haben. Man kann sich leicht vorstellen, wie der junge Dichter von dieser
Thatsache ergriffen wurde. In seinen Gedichten spiegelt sich sein hocherregter
Zustand.
Ich stand wohl auch an goldner Sessellehne
Und sog den Duft von parfümirten Locken;
Ich küßte Mädchenhäude, weiß wie Schwäne,
Und ließ von ihren Kleidern mich umflockcn.Mich machten all die dunkeln Augen eitel,
Die lieblich winkten, näher herzutrcten;
Dur Lorbeer grünte schon auf meinem Scheitel,
Und weiche Arme lockten den Poeten.Da scholl durchs Thal das Halloh wilder Treiber —
Ein Hauch des Mundes wurde zum Verräter;
Ich sah der Männer Wut, den Schmerz der Weiber,
Der Kinder letzten Blick zum Haus der Väter.Der sanfte Buchwald stöhnte vor Entsetzen,
Die Berge standen starr vor der Mißhandlung;
Ich riß die Fahne Cynthias zu Fetzen
In meines Herzens plötzlicher Umwandlung.
Von dieser Zeit an hat Gnus Muse ein neues Pathos: Haß gegen die
Klerisei, Forderung der geistigen Freiheit. Auch Gnus Stil ändert sich seit¬
dem; um ja nicht mißverstanden zu werden, hat er seitdem auch nur die rein
künstlerische Verwertung kirchlicher Bilder streng vermieden, und dieselbe Natur,
in die er früher ganze Meßopfer hineinschaute, die ihm an Christus zu glauben
schien, bekehrt sich nun zu einem andern Glauben, zu dem an die Freiheit, z. B.:
Mein ist der Wald, und mir sind unterthänig
Die freien Tannen und die stolzen Buchen
Und alle wilden Rosen! Ich bin König,
Doch nach mir wirds kein anderer versuchen.Denn heimlich hassen Blumen und die Bäume
Den Menschen, jedes stillen Glücks Zerstörer.
Wie hochverräterisch sind oft Lilienträume,
Wie stürmt in mancher Eiche der Empörer!
Ich nahte nicht mit Waffen in den Händen,
Den freien Baum als Sklaven zu verkaufen,
Des Waldes Sünger, um sein Licht zu blenden
Und schöne Blumcnheidinncn zu taufen.Sie sahen mich gezeichnet von der Nehme
Und hörten laut die Welt mein Lied verhöhnen;
Da wanden mir die Eichen Diademe,
Da fingen mich die Rosen an zu krönen.
Der Haß Gnus gegen die Klerikalen hatte sowohl persönliche als all¬
gemein politische Quellen. Gilm hatte auch nach der Jugendzeit allerlei von den
Frommen zu leiden gehabt. Er stand deswegen mit seinem Vater nicht be¬
sonders gut. Seine leidenschaftlich geliebte Theodolinde wurde von sehr frommen
Tante» gegen ihn gestimmt; als bekannter Freigeist hatte er im Staatsdienste
keine Aussichten, vorwärts zu kommen; zu seinem Schmerze ließ sich sogar
seine Stiefschwester als Nonne einkleiden; sein ganzer Mensch litt unter der
Pfaffenherrschaft des damaligen Tirols, die er fortwährend erstarken sah. Denn
im Bunde mit dem Absolutismus, mit dem Polizeiregimcnt und der dumm-
brutaleu Zensur wollten die Klerikalen Tirol hermetisch von Europa absperren.
Noch mehr. Im Jahre 1843 wurden die Jesuiten geradezu ins Land berufen,
trotz der großen Bewegung, die dagegen bestand. Der Tiroler Landtag stand
nun im Banne des klerikalen Heißsporns Giovanelli, dem die Sorge für das
Seelenheil seiner Landsleute über alle weltliche» Bedürfnisse ging. Am 8. März
1844 hielt der hochangesehene österreichische Historiker Albert Jäger, Professor
der Innsbrucker und später der Wiener Universität, Mitglied des Benediktiner¬
ordens, im Ferdinandeum zu Innsbruck eine berühmt gewordene Rede gegen
die Jesuiten. Sie hatte aber nur die Folge, daß sie die liberale Opposition
ermutigte und Gilm zu einem schönen Gedichte begeisterte. Die Jesuiten konnten
dennoch mit Pomp die Grundsteinlegung ihres Ordenshauses feiern, das noch
vor wenigen Jahren durch einen Zuban erweitert worden ist.
In diesem Kampfe gegen die Feinde aller Duldsamkeit, aller noch so be¬
scheidenen Geistesfreiheit, aller modernen Wissenschaft und Kultur, sofern sie
nicht der römischen Kirche dienstbar ist, hat Gilm die merkwürdigsten Gedichte
geschaffen. Nirgends kamen seine glühende Vaterlandsliebe, seine wahrhaft
lautere evangelische Gesinnung, sein Witz, seine Satire, seine Leidenschaft so
zum Ausdruck, als in seinen gegen die Jesuiten gerichteten Versen. Am po¬
pulärsten zu seinen Lebzeiten, um dann freilich wieder durch die Zensur unter¬
drückt zu werdeu, ist sein wie ein Kriegslied anmutendes Gedicht „Der Jesuit"
geworden.
Es geht ein finstres Wesen um,
Das nennt sich Jesuit;
Es redet nicht, ist still und stumm
Und schleichend ist sein Tritt.Es trägt ein langes Trau'rgewand
Und kurzgeschorues Haar
Und bringt die Nacht zurück ins Land,
Wo schon die Dämmrung war.
Dieses Gedicht ist aber nicht das einzige, auch nicht das beste geblieben,
was Gilm gegen die Jesuiten geschrieben hat. In den „Zeitsvnetten aus dem
Pusterthal" (vom 10. Dezember 1342 bis zum 2. Oktober 1845 lebte Gilm
in Brunneck), in den „Landtagssonetten," in den „Sonetten an eine schöne
Noveredoranerin" und in vielen andern Gedichten sührt er diesen Kampf fort.
Die Angriffe, die er gegen die Jesuiten schleudert, sind von einer Leidenschaft
und Kraft im Ausdruck, die in deutscher Sprache wenig ihresgleichen hat.
so schließt mit bitterer Anspielung auf persönliches Leid — er durfte die geliebte
Sophie, seine Brumiecker Braut, nicht heiraten, weil er noch immer, bald acht
Jahre, unbesoldeter Gerichtspraktikant war — eines der Zeitsvnette. Das
folgende schließt:
Dem wahren Haß genügt nicht das Verachten:
Der Liebe gleich muß er mit Händen greifen
Nach seiner Sehnsucht, soll er nicht verschmachten.
In wahrhaft poetische Bildlichkeit kleidet er in dem folgenden Sonett den
Gedanken, daß die Fortschritte der Kultur sich nicht mit dem Treiben der
Jesuiten vertragen, und giebt ihnen den Rat:
Drum schifft auf einem Dampfer nach den Tropen,
Da giebt's noch blinde Heiden zu bekehren.
Nichts drastischeres kann man sich denken, als folgendes Bild: Die Leute laufen
scharenweise zur Kirche, den neuen, pikanten Prediger zu hören, es ist ein
Jesuit; vor der Kirche im Gedränge steht ein magerer Karrengaul, den sein
Herr mit dem Peitschenstiel erbarmungslos antreibt, obgleich er nicht vom Fleck
kann. Gilm schließt:
Das ist der Gottesdienst in diesem Ort:
Im Tempel drinnen sein entstelltes Wort,
Und draußen sein geschundener Gedanke.
Die schneidige Ironie eines überlegenen Geistes, ein c>n Pascals I^ettros i)ro-
VEnoalk« erinnernder Ton spricht im folgenden Sonett:
Was doch ein Jesuit kann alles wissen!
Er predigte: der Mensch kann nichts vollbringen.
Wenn ich und du auf diesen Rasen springen,
So hat es Gott gethan mit unsern Füßen.Und wenn wir etwas thun von bösen Dingen,
Zum Beispiel stehlen, raufen oder küssen —
Was wir uns aber niemals unterfingen —
Hat Gott im Himmel mit uns stehlen müssen.Daraus ergab sich nun der Sünden Schwere,
Weil Gott, der Reinste, Lob der Engelzungeu,
Vom Sünder wird zum Sündigen gezwungen.Der Jesuit bringt dich zu großer Ehre:
Nicht ich — nach dieser orthodoxen Lehre —
Gott selbst hat die Sonette dir gesungen.
Den nichtigsten Ausdruck aber hat Gilm seiner Leidenschaft in jenem Gedicht
gegeben, das er zur Grundsteinlegung des Jesuitcnkollegiums in Innsbruck 1843
geschrieben hat: mit seinem eignen Leben will der Dichter die Befreiung seiner
geliebten Tiroler von der Geistesknechtschaft erkaufen. Er schließt mit den
Versen:
Damit kommen wir wieder auf jene echt vormärzlichen Töne bei Gilm zurück,
von denen wir ausgegangen sind. Es ist ein tragischer Idealismus, der ihn
in seinem politischen Kampfe beseelte, als er hoffte, „den Feind mit seinem
Reime" erschlagen zu können; oder als er mit Erinnerung an die Freiheits¬
kriege sang:
O kämen sie zur Brücke von Lorenzen!
Dort siel der erste Schuß! von dorther schalte
Das erste Lied, sie geistig zu vernichten.
Das Jesuitenkollegium steht noch immer fest auf seinem zu Gnus Zeit
gelegten Grundstein zu Innsbruck, es hat die theologische Fakultät der dortigen
Universität ganz zu seiner Verfügung, schreibt auch nicht bloß theologische
Bücher, sondern trachtet mit seinem Geist alle Wissenschaften zu durchtränken,
und es verlautet sogar, daß es auch das Innsbrucker Gymnasium gern in
seine Verwaltung übernähme. Aber auch Gnus Gedichte sind auferstanden,
und die Parteien stehen sich gerade so noch gegenüber wie damals, als die Gedichte
von ihm geschrieben wurden. Die Welt ändert sich nicht so schnell, wie Dichter
glauben, sie wird von andern Mächten geleitet als vom begeisterten Liede und
poetischen Idealismus. Zu seinen Lebzeiten hatte Gilm von seiner antijesuitischen
Lyrik nur Kummer. Schon sein bester Freund Friedrich Lentner, der ihm mit
aufrichtiger Kritik zur Seite stand, schrieb ihm am 17. April 1345: „Sie
wissen zu gut, daß man bei uns Präsidenten mit einem Jesuitenlied wohl
wütend machen kann, daß sie aber den Dichter als keine Macht betrachten, mit
der man unterhandelt, sondern nur als eine Maschine, die man entweder mit
Goldsalbe schmiert, damit sie nicht mehr raßle, oder gar zerbricht. In Tirol
läßt man für politische Lieder niemand bluten; man läßt die Leute ewig
praktiziren." Das war das persönliche Schicksal Gnus. Handschriftlich fanden
seine Streitgedichte im ganzen Lande Verbreitung. Aus Rücksicht aber auf
sein Fortkommen im Staatsdienste hatte er nicht den Mut, sie zu sammeln
und als Buch in die Welt zu schicken. Nicht einmal Ludwig Steub, seinem
Freunde, der sie in seinen Schriften über Tirol verflechten wollte, erteilte er
die Erlaubnis dazu. Man muß Gnus ganze Erziehung und seinen Mangel
an Weltkenntnis für diese ängstliche Vorsicht verantwortlich machen. Gilm
war der Sohn einer seit einem Jahrhundert dem Staate dienenden Beamten¬
familie; Ergebenheit gegen die Regierung war ihm gleichsam eingeimpft. Er
mochte in der Begeisterung den Mut zum oppositionellen Liede finden, aber
bis er sich entschloß, als Schriftsteller öffentlich Opposition zu machen, vergingen
Jahrzehnte, während derer die Opposition selbst Negierung geworden war.
Man darf bei Beurteilung von Gnus Charakter nie seine Abstammung und
Erziehung aus dem Auge lassen.
Genützt hat ihm aber seine Zurückhaltung gar nichts. Erst am 2. Oktober
1845 erhielt er, nachdem er sein ganzes Vermögen, das übrigens bescheiden
war, aufgezehrt hatte, ein „Adjutum" von 300 Gulden zugesprochen und
wurde gleichzeitig von Brunneck, wo er sich so glücklich fühlte und eine Braut
verlassen wußte, nach dem südtirolischen Noveredo versetzt, das für ihn eine
ganz neue Welt war und ihn anfänglich tief verstimmte. Oft kam über den
Dichter in den so mageren Jahren, die bis zu seiner 1847 erfolgten Über¬
siedlung nach Wien in eine Konzipistenstelle der Hofkanzlei andauerten, ein
Kleinmut. Er fürchtete sich vor der Rache der „Schwarzen", er versuchte, sich
mit ihnen zu versöhnen, er wollte sich ganz von dem Kampfe um die Geistes-
freiheit zurückziehen und am Herzen seines Weibes die Welt vergessen. So
singt er schon in Schwaz wahrhaft rührend:
Gebt sie zum Weibe mir, gebt nur so vieles.
Daß ich nebst ihr auch noch ein Kind ernähre,
Daß freundlich ich vom Fenster des Asyles
Ein Nebenblatt erblick' und eine Ähre.
Gebt sie zum Weibe mir! Was ihr verschuldet,
Ich will's nicht mehr in Liedern niederschreiben;
Thut, was ihr wollt, so lang's der Frühling duldet
Und diese Berge unbeweglich bleiben.
Schließlich war er doch auch ein Mensch wie andre: heroisch in den Augen¬
blicken der Begeisterung, schwach in den nüchternen Stunden. Man kann es
in der Geschichte der meisten Vorkämpfer der Menschheit beobachten, daß an
sie die Versuchung herantritt, sich der selbstbegonnenen Arbeit zu entziehen,
den Kelch nicht zu leeren, den sie schon angesetzt haben. Man darf darum
Gnus zeitweilige Schwäche nicht zum Angelpunkte seines Charakters machen,
vielmehr liegt dieser in seiner poetischen Natur. Es ist ein Beweis mehr,
daß Gilm ein echter Dichter war, daß er von dem Augenblicke, wo er
leiblich dem Kampfplatze entrückt war, auch politisch zu dichten aufgehört hat.
Für abstrakte Ideen litterarisch zu kämpfen, ist nicht des echten Lyrikers Sache;
Gnus Antijesuitenliedcr sind ein im edelsten Sinne persönlicher Kampf zwischen
zwei grundverschiedenen Lebensanschauungen, zwischen der Weltfreude und der
Weltflucht. Darin besteht ihr unvergänglicher Wert.
Mit diesen Betrachtungen haben wir indes weder den Inhalt der Lyrik
Gnus noch den Gehalt seines Lebens erschöpft. Einen sehr hervorragenden
Teil seines Schaffens, den die neue Ausgabe seiner Gedichte mit großem Un¬
recht Übergängen hat (man weiß überhaupt nicht, nach welchen Grundsätzen
Arnold v. d. Passer die Auswahl getroffen hat, Rechenschaft giebt er keine
darüber und stillschweigend läßt er auch keine erkennen), nämlich Gnus Schützen-
Poesie hätten wir noch zu besprechen; ferner seine schönen Balladen; seine Ge¬
legenheitsgedichte; es wäre noch von Gnus Anteil an der Märzrevolution, von
seiner Niedergeschlagenheit nach ihr zu sprechen; es wäre seine Wandlung in
nachmärzlicher Zeit zu beleuchten, seine nationaldeutsche Gesinnung endlich, die
nicht müde wurde, die Landsleute zu mahnen, nicht römisch, sondern deutsch
zu fühlen; noch am dänischen Kriege nahm er lebhaften Anteil; sein letztes
Gedicht „Das Adoptivkind" galt dem Preise des hochherzigen General Gablonz
— doch alles dies ist schon von den genannten Kritikern und Biographen
hervorgehoben worden, worauf wir hier verweisen dürfen. Es bleibt nur zu
wünschen, daß Gilm rechte Verbreitung finde, damit eine zweite Ausgabe seiner
Gedichte die Lücken ausfüllen könne, welche die vorliegende zum Bedauern aller
seiner Kenner aufweist.
^Wi
.^/cle dem Klmstschaffen unsrer Tage eigentümliche Vernachlässigung
einer Reihe von Gebieten, ja geradezu aller derjenigen Gebiete,
in denen in vergangenen Perioden die Kunst recht eigentlich ihr
Feld erkannte, haben wir unter den beherrschenden Gesichtspunkt
gestellt, daß unsre Kunst die Wirklichkeit über alles liebe. Bringt
uns diese Liebe auf der einen Seite manche Verluste, so verdankt ihr die Kunst
auf der andern eine reiche Entwicklung. Diese Liebe hat ihr erst ganz die Augen
erschlossen für die Formen, an die sie doch unter allen Umständen mit ihrem
Schaffen gebunden ist, die Formen der Wirklichkeit. Sie lernt in diesem Um¬
gang -künftig ihre Gebilde so zu gestalten, daß man an ihre Wirklichkeit glauben
kann, auch wenn sie sich einmal wieder zu freien Schöpfungen erheben wird.
Aber dies ist nur das Äußere. Wenn wir diese Stillleben und Landschaften
betrachten, so tritt neben der Naturwahrheit als zweiter Zug das Naturver¬
ständnis hervor. Bei den Stillleben bezeugt sich eine gemütvolle Hingebung
an die Ruhe auf der einen, die Frische und den Reichtum in der Natur auf
der andern Seite und ein sinniges Verständnis für das Charakteristische ihrer
einzelnen Gebilde. Bei den Tieren ist das Drollige der Katzen und Möpse,
das seelenvolle der Schafe und Kühe, das Scheue, Spröde der Waldtiere, das
Mächtige, Brutale der wilden Tiere trefflich und oft mit vielem Humor zum
Ausdruck gebracht. Und in den Landschaften endlich, den Glanzstücken unsrer Aus¬
stellungen, bemüht sich die Kunst, jeder Natur, dem Flachland wie dem Hochgebirge,
dem stillen kleinen Wasser wie dem Meer, der Wiese wie dem Wald und wiederum
in jeder Landschaft den verschiedenen Jahres- und Tageszeiten, vom tiefen Winter
bis zum kahlen Spätherbst, vom Morgendämmer bis zum Mondenschein, vom
lachenden Sonnenglanz bis zum dunkelsten Gewitterhimmel, von der stillen
Ruhe bis zur gewaltigsten Erregung ihre eigentümlichen Reize abzulauschen.
Diese Versenkung in die Natur entspricht völlig der Zeit der Sommerfrischen,
dem Drange unsers Geschlechts, aus der lärmenden Unruhe und der Überkultur
unsers städtischen Lebens zu flüchten in die Stille und Unmittelbarkeit des
Naturlebens. Dabei ist aber noch ein weiterer Zug zu beachten: unsre Land¬
schaften sind Stimmungsbilder und wollen es sein. Sie wollen nicht an einer
schönen Gegend unser Auge erquicken, sie wollen unsre Seele in eine gewisse
Stimmung wiegen. So tritt hier der Zug der Subjektivität, der Sinn für das
Empfindungsleben dem Zug des Realismus, dem Interesse an der Wirklichkeit
zur Seite. Es ist in unsrer Zeit das Korrektiv für die letztere Eigentümlich¬
keit; freilich ein sehr ungenügendes; denn es ist durch und durch individuell.
Aber auch hierin spiegelt die Kunst trefflich ein individualistisches Geschlecht,
das in der Gefahr der Atomisirung steht, einen Geist, der nicht in den lichten
Höhen objektiver geistiger Wahrheiten oder Größen, sondern in den dämmerigen
Tiefen des Gemütslebens zu sich selber zu kommen und Gleichgewicht und Aus¬
spannung zu gewinnen sucht gegenüber den erschöpfenden und verwirrenden
Eindrücken der Wirklichkeiten des Daseins. Es ist die Zeit der Musik und
in ihr des Liedes und des Charakterstücks, die auch in der bildenden Kunst
Töne, die Töne des Stimmungsbildes, zu vernehmen begehrt. Vielleicht darf
man noch mehr ins Einzelne gehen und bei dem ausgesprochenen Vorherrschen
der Seestücke die Vorliebe für das bewegliche Element aus der großen Beweg¬
lichkeit unsers Stimmnngslebens erklären, anderseits in dem Überwiegen der
Bilder mit ernster, sei es wehmütiger, sei es düsterer Stimmung die Spiege¬
lung der innern Unbefriedigung als eines durchgehenden Grundtons in der
allgemeinen Stimmung unsrer Tage sehen.
Diese ausgebildete Aufnahmefähigkeit, verbunden mit dem nachgewiesenen
Sinn für das Individuelle spiegelt sich weiterhin in der Blüte der Bildnis¬
malerei, wie sie durch Lenbach vertreten, aber auch mit einer großen Zahl
andrer Namen zu belegen ist, wie denn auch in der Bildnerei die Porträtbüste
an Zahl und Wert hervorragt. Doch ist nicht zu verkennen, daß bei den
meisten die künstlerische Thätigkeit mehr in der treuen gewissenhaften Wieder¬
gabe dessen, was die Augen sehen, im Grunde nur bei dem einzigen Lenbach
Ul dem kongenialen Hervorheben der charakteristischen, sozusagen der Weltgeschichte
angehörenden Züge in großer Ausfassung besteht, eine Parallele zu der mangel¬
haften Fähigkeit für die Historie.
Mit der Landschaft streitet um das Interesse unsrer Künstler das Men¬
schenleben, wiederum das wirkliche Leben der Gegenwart. Das Sittenbild aus
der Rokokozeit findet zwar noch um des malerischen Reizes der Trachten willen,
vor allem in zierlichen Miniaturen seine Pflege, aber es tritt völlig in den
Hintergrund gegenüber der Überfülle von Bildern aus der Gegenwart. Goethes
Wort klingt wie eine Parole durch die Zeit: „Greift nur hinein ins volle
Menschenleben, und wo ihrs packt, da ists interessant." Und zwar ist es nicht
die vornehme Welt, sondern das Volksleben, was unsre Künstler suchen, und
im Volksleben wiederum mit Vorliebe die ernsteren Erlebnisse, Gottlob nicht
mehr, wie vor wenigen Jahren noch, das Krasse, was an sozialistische Schilde-
rungen erinnerte, sondern Ereignisse, in denen das tiefe Volksgemüt zur wahren
Geltung kommt und die Eindrücke sich am schärfsten individualistisch abstufen.
Daneben ist es das Familienleben und die Kinderwelt, in deren Darstellungen
unsre Kunst bezeugt, daß in unsrer Zeit der Sinn für Heim und Familie
lebendig ausgeprägt ist. Sodann tritt bedeutsam das religiöse Sittenbild her¬
vor; wie es in München zu erwarten war, ganz besonders in katholischer Aus¬
prägung. Die vielen Nonnen und Mönche, die uns da in allerlei Thätigkeit
und Unthcitigkeit gezeigt wurden, erinnern an die in manchen Kreisen überhand¬
nehmende Hinneigung zu diesen Vertretern eines weltflüchtigen Friedens. End¬
lich tritt charakteristisch hervor der Respekt und das Interesse unserer Zeit für
die Industrie und in weiterer Linie für die arbeitenden Klassen überhaupt.
Wir sehen die Arbeiter aus dem Gotthardtuunel kommen, eine Panzerkorvette
auf der Werft des Vulkan bauen, Schmiede am Eisenhammer ihr Tagewerk
verrichten, wir erleben eine Kartoffelernte, eine Roggenernte, beobachten Flachs¬
spinnerinnen, einen Schwertfeger und ähnliches mehr — lauter Dinge, die eine
frühere Zeit niemals als würdige Gegenstände der Kunst betrachtet hätte. So
zieht der volle Ernst des Lebens in die heitern Hallen der Kunst, damit er
von dieser mit dem Schleier der Poesie umwoben werde. Es spricht sich
darin ein bedeutsamer Wandel in den sozialen Anschauungen aus. Die Kunst
nimmt teil an der Aufgabe unsrer Tage, Gegensätze auszugleichen, für jeden Stand
und jede Thätigkeit die rechte Würdigung, für jedes menschliche Weh und
jede seelische Bestimmtheit ein offenes Auge und teilnehmendes Verständnis zu
gewinnen.
Wir sind zum Ausgangspunkte unsrer Betrachtungen zurückgekommen: es
ist die Wirklichkeit, von der unsre Kunst fast ganz in Anspruch genommen wird.
Ja sie erscheint wie festgebannt vor ihr, so daß die Phantasie beinahe die
Flügel zu schwingen verlernt hat. Mag das letztere zum Teil die Folge
jenes Zuges der Zeit sein, gewiß liegt ebenso sehr in diesem Mangel schöpfe¬
rischer Phantasie eine Mitursache davon, daß unsre Kunst sich so selten an die
Gestalten der Geschichte und an Verkörperungen von Ideen wagt. Man hat
auch in den andern Geistesthätigkeiten unsrer Zeit denselben Mangel beklagt.
Man glaubt einen Teil der Schuld der Art unsrer Schulerziehung beimessen zu
müssen. Ein andrer und größerer Teil liegt wohl in der Entwicklung unsrer
Lebensverhältnisse, welche Einsamkeit, Stille, Konzentration erschweren und mit
einer bunten Fülle von Eindrücken jeden unter uns ganz und gar in Anspruch
nehmen. Erst wenn man diesen von ihr selbst nicht verschuldeten Umstünden
Rechnung trägt, begreift man völlig die Richtung unsrer Kunst und urteilt
billig über die auffallende und trotz allem beklagenswerte Einseitigkeit derselben.
Doch wenn nicht alles täuscht, hat Phantasie die Flügel leise wieder geregt,
nicht nur im fernen Spanien, wo sie den jungen Benliure zu jener genialen
Vision einer von Märtyrern und Seligen in den Ruinen des Kolosseums ge-
haltenen Seelenmesse begeistert hat. Auch in deutschen Landen hat Willroider
in der „Sintflut" ein mächtiges Naturgedicht, voll von unheimlicher Großartig¬
keit, geschaffen, und Ferdinand Keller in seiner „Apotheose" die große Zeit,
die mit diesem Drei-Kaiser-Jahre hinter uns liegt, wie in einem Hymnus, in
verklärter Pracht in ihren erhabenen Vertretern vor uns heraufgeführt. Mag
man dies und das im einzelnen auszusetzen haben, das Bild ist eine künstlerische
That, die unsrer Kunst aus der Enge der Wirklichkeit die Wege wieder öffnet
in die lichte Welt, wo vor der Phantasie alles Gestalt gewinnt, was nur
in einer Menschenbrust sich regen mag.
Doch nicht nur das Schaffen der Kunst, auch ihre Stellung im Leben
der Gegenwart, wie wir sie zu Eingang gekennzeichnet haben, mag noch
zu einigen Schlußbetrachtuugen Anlaß geben. Die Kunst ist mitten hinein
in das Leben des Volkes gestellt, sie ist von dem öffentlichen Interesse
gewaltig beeinflußt. Sie bietet darin ein sprechendes Beispiel, wie in
unsrer Zeit immer weniger die einzelnen Thätigkeiten des Volkgenius sich
in ihrer Vereinzelung und Selbständigkeit zu erhalten vermögen, wie unsre
Zeit vom Gemeinleben abgeschlossene Kreise gewaltsam sprengt und in
ihren großen Strom hineinzieht. Man mag dies in vieler Beziehung be¬
klagen, nicht wegen der Zerstörung so mancher Idyllen, für deren heimliche
Pflege kein lauschiger Raum mehr bleibt, sondern weil die Ausprägung von
Individualitäten dadurch erschwert ist, weil ein Talent sich nur in der Stille
bildet und die schöpferische Quelle überall nur in der Tiefe einer in sich ab¬
geschlossenen Persönlichkeit fließt. Aber die scharfe Luft der Öffentlichkeit giebt
auf der andern Seite doch die Bürgschaft einer gewissen Gesundheit; das große
Leben gewährt unerschöpfliche Anregung, die Gemeinschaft bewahrt vor Verkümme¬
rung und Verbohrung. Dies alles, Vorteil wie Nachteil, bewährt sich auch
an unsrer Kunst. Und wie in andre Gebiete, so hat die Zeit auch auf ihre
Palette einen Tropfen demokratischen Öls gegossen, während sie früher durch
und durch aristokratischen Charakter hatte.
Diese Öffentlichkeit zieht aber, wie uns unsre internationale Ausstellung
überraschend zeigte, noch größere Kreise. Das Internationale, das so viele
Gebiete unter sein nivellirendes Szepter gebracht hat, macht sich auch im Gebiete
der Kunst geltend.
Die Länder, die hierbei in Betracht kommen, sind außer Deutschland, wozu
wir im Kunstschaffen auch Österreich rechnen dürfen, da sich Wien von den deutschen
Kunststätten München, Berlin, Düsseldorf nicht mehr unterscheidet, als diese unter¬
einander: Holland und Skandinavien, dessen drei Länder wenigstens aus der Ferne
als ein Ganzes erscheinen, Frankreich und Belgien, Italien und Spanien, ferner
Ungarn, Polen, Nußland, England, Amerika. Die Schweiz hat zur Zeit keinen
eignen Typus. Die aus der deutschen Schweiz hervorgegangenen Künstler haben
ihre künstlerische Heimat bei uns, die französischen vermutlich in Paris gefunden.
Aber auch Amerika kommt hier nur als geographische, nicht als künstlerische
Größe in Betracht. Denn die Künstler der neuen Welt gehören alle irgend einer
der europäischen hohen Schulen an und bilden kein Ganzes für sich. Was im
Glaspalast zu München in den Amerika-Sälen hing, war Münchener oder Pariser
Kunst. Auch England, so tüchtig es zu Porträtiren vermag, ist noch eine proble¬
matische Größe im Künstlerleben. Die zwei berühmtesten Londoner sind keine, der
Deutsche Herkommer und der Friese Alma Tadema. Auch die Polen können kaum
als eine Größe für sich zählen trotz ihrer Akademie in Krakau und deren Direktor
Matejko, der bedeutende Bilder aus dem polnischen Leben malt, in München
aber mit einem farbigen Einzuge der Jungfrau von Orleaus in Rheims völlig
durchgefallen ist. Ein Teil der Polen malt in Paris und bildet ein tüchtiges
Element der dortigen Kunst; ein andrer in München; die Bilder der letztern
gehören zur Münchener Kunst, wenn sie auch teilweise polnisches Leben dar¬
stellen. Ungarn und Rußland sind auf dem Wege, sich zu nationalen Schulen
auszubilden und weisen zur Zeit Künstler von eigenartiger Bedeutung auf,
denen vollendete Technik und urwüchsige Kraft der Darstellung zu Gebote
stehen. Beide lieben noch das Grausame zu sehr; die Ungarn speziell malen
Leidenschaften, die manchmal an Halbkultur streifen, aber durch ihre unge¬
brochene Kraft und durch das Malerische ihrer Erscheinung gewinnen. So
stehen neben den deutschen Schulen einschließlich Wien die drei erst genannten
Nationenpaare im Vordergrunde. Sie alle haben, wobei sich nur Holland und
Spanien ein wenig konservativer zeigen, den gemeinsamen Zug, daß von der
Eigenart der großen Vergangenheit ihrer Kunst in deren heutigen Schöpfungen
fast nichts mehr zu erkennen ist. Die „moderne Kunst" als internationale
Größe ist von viel bestimmenderem Einfluß auf ihr Kunstschaffen als ihre
national-künstlerische Vergangenheit. Dabei berühren sie sich paarweise unter
einander näher, wie denn auch zwischen Belgien und Frankreich, Spanien und
Italien ein lebhafter künstlerischer Verkehr stattfindet. Deutschland, das sich
früher abwechselnd von Italien und Frankreich beeinflussen ließ, steht, nachdem
es von Paris den Anstoß zum Freilicht und zum Impressionismus erhalten
hat, zur Zeit in lebendigster Wechselwirkung mit Holland, während in Skandi¬
navien der Einfluß beider Länder mit dem von Paris zusammenwirkt und
Originalität unter den sieben Ländern dort verhältnismäßig am wenigsten vor¬
handen ist.
Trotz dieser näheren oder entfernteren Beziehungen der einzelnen Kunst¬
länder unter einander ist die Malweise international zu nennen. Überall ist
die Technik annähernd auf gleicher Höhe. Überall ist die erste Frage die
nach der Naturwahrheit. Überall blüht das Freilicht. Überall werden mit
mehr oder weniger Glück impressionistische Versuche gemacht. Als Zeichen des
lebendigsten Austausches der Kräfte mag dies erfreulich sein. Aber wie jeder
Gewinn, bedeutet auch der hierin beurkundete auf andrer Seite einen Verlust.
Der Stil ist der Mensch — das gilt auch von der Kunst. Die Herrschaft
eines internationalen Stils bedeutet einen Verlust an Nationalcharakteren unter
den Kunstvölkern, von welchen doch im Grunde jede Nation die Wirklichkeit
mit eignen Augen und in eigentümlicher Strahlenbrechung sieht. Auch bezüg¬
lich der Wahl der Stoffe sind in der ganzen kunstschaffenden Welt zur Zeit
dieselben Neigungen und Abneigungen zu beobachten. Auch hier waltet eine inter¬
nationale Macht. Überall hat der Realismus den Sinn für ideale, historische,
religiöse Malerei verdrängt. Überall beherrschen das Interesse der Künstler
die Landschaft mit dem Tierstück, das Bildnis und das Sittenbild. Überall
wird in Landschaft und Genre das Nationale immer entschiedener bevorzugt;
das Fremde verliert an Reiz. Daneben lassen sich noch folgende Beobachtungen
machen. Während sich für religiöse Malerei ebenso in den rein protestantischen
Nationen des Nordens als in den katholischen des Südens, vor allem in
Frankreich und Italien, kaum ein Pinsel zu rühren scheint, findet sie bei uns
Deutschen verhältnismäßig immer noch eine beachtenswerte Pflege. Während
Skandinavien nur in Landschaften hervorragendes leistet, tritt in Ungarn und
Spanien, dort bunt, leidenschaftlich, derb, hier ernst, feierlich, tieferfaßt das Sitten¬
bild hervor. Für Bildnisse ist Deutschland klassisch und etwa England, während
Italien darin auffällig zurücktritt. Italien liebt das Harmlose, Heitere; eine Freude
am Leben, die sich dessen ernstere Seiten möglichst aus dem Auge rückt, aber auch
für Leichtfertigkeit und fade Tändelei nichts übrig hat, spiegelt sich in seiner
Kunst. Holland pflegt in vollem Gleichgewicht und mit derselben Gewissen¬
haftigkeit und Virtuosität Landschaft und Sitte, ohne sich aber je aus der
Ruhe bringen zu lassen durch einen Aufschwung zum Packenden oder Gro߬
artigen; das Alltägliche, Behagliche besitzt Mynheers Herz. Belgien liefert
vor allem prächtige Seestücke; seine Sittenbilder lassen eine tiefere, liebende
Versenkung in das menschliche Leben vermissen. Frankreich, dessen Kunstschaffen
nach den wenigen Nummern in München nicht zu beurteilen ist, soll nach Otto
Brandes' Bericht über den diesjährigen Salon, den er einen „Salon der Ent¬
kleideten" nennt, seine Liebe immer noch neben dem Nackten der Revanche- und
der Greuelmalerei widmen, eine Kulturstufe, über die wir anderen glücklich
hinaus sind.
Wem aber, der durch Münchens Glaspalast schreitend die Kunst aller
Kulturvölker an sich vorüberziehen läßt, tritt in diesem internationalen Kongreß
der Kunst auf deutschem Boden nicht in gewaltigem Bilde zutreffend bis zu
dem bezeichneten Zuge, daß Nußland gar nicht, Frankreich schlecht, England
dürftig sich beteiligt hat, die Brust höher schwellend, die zentrale Ehren- und
Machtstellung des deutschen Vaterlandes entgegen inmitten dieses großen Ge¬
meinsamen, das die Völker alle als der internationale Geist der Zeit um¬
schlingt und eint? _
s hieße die ehrenwerten Traditionen des Hauses Hohenzollern
verkennen, wenn man annähme, Preußen habe seine Macht alß»
brauchen können gegen Staaten, die ihren Pflichten gegen das
Reich gern oder ungern nachkommen. Die preußische Regierung
stellte jenen Antrag in der Überzeugung, daß Hamburg weder
in Bezug auf Mona noch auf Se. Pauli ein Widerspruchsrecht habe. Sie
war ebenso der Überzeugung, daß sie, auch ohne mit Hamburg vorher verhandelt
zu haben, jenen Antrag zu stellen befugt sei. Nachdem Lübeck freiwillig der
Zollgemeinschaft beigetreten war, lautete der Artikel 34 der Reichsverfassung:
„Die Hansestädte Bremen und Hamburg mit einem dem Zweck entsprechenden
Bezirke ihres oder des umliegenden Gebietes bleiben als Freihafen außerhalb
der gemeinschaftlichen Zollgrenze, bis sie ihren Eintritt in dieselbe beantragen/'
Die Verfassung gewährte demnach allerdings der Stadt Hamburg das Reservat-
recht, außerhalb des Zollvereins zu bleiben. Dagegen stand ebenso selbstver¬
ständlich nur dem Bundesrate die Entscheidung darüber zu, welche Teile des
Hamburgischen Landgebietes und des umliegenden preußischen Staatsgebietes,
um die Aufgaben des Freihafens zu erfüllen, in den Zollausschluß hineinzuziehen
seien. Zudem hatte die preußische Regierung, nicht um an Hamburg Rache zu
nehmen, sondern weil die Bewachung einer Zollgrenze zwischen Altona und
Se. Pauli beinahe eine Physische Unmöglichkeit war, rein aus zolltechuischen
Gründen den Anschluß eines Teiles von Se. Pauli gefordert. Es lag endlich
doch nur der Antrag eines Mitgliedes des Bundesrates vor, über dessen Zweck¬
mäßigkeit und Ausführbarkeit der Bundesrat erst zu beschließen hatte. Die Ham¬
burger indessen begrüßten schon diesen ersten Vorschlag mit einem Aufschrei
der Entrüstung. Sie beschuldigten Preußen offen der Verfasfungsverletzung.
Sie behaupteten, die sogenannte Vorstadt Se. Pauli gehöre nach dem Buch¬
staben und dem Sinne der Hamburgischen Verfassung und vor allem im Sinne
des Artikels 34 der Reichsverfassung zur Stadt Hamburg selbst, und sie würden
auch nicht ein Haus von Se. Pauli für den Zollverein herausgeben. Ein
Redner in der Versammlung der ehrbaren Kaufleute klagte, der Vaterstadt sei
durch Napoleons Bosheit nicht so viel Schaden zugefügt worden, als ihr durch
den Irrtum des Reichskanzlers bereitet werden könne. Die Klagen und So¬
phistereien der Hamburger fanden ihren Wiederhall in der freihändlerischen
Presse und selbst in wohlgesinnten Blättern der gemäßigt-liberalen Partei.
Am I. Mai^ 1880 versuchte der Reichstag in einer wenig glücklichen Weise
den Reichskanzler auf dem Umwege einer Jnterpellation einem strengen Verhör
zu unterziehen und über die im Bundesrate noch schwebende Frage schon im
Voraus sein verdammendes Votum abzugeben.
Aber wenn auch die preußische Regierung sich in Bezug auf Se. Pauli
willfährig erwies und sich damit begnügte, den Anschluß Altonas prinzipiell
durchzusetzen, so ließ sie sich doch ihr gutes Recht und die alleinige, ausschlie߬
liche Kompetenz des Bundesrates bei Ausführung der Reichsgesetze nicht be¬
streiten. Sie richtete vielmehr, während die Hamburger wegen ihres Sieges
in einem Meere des Entzückens schwammen, an den Bundesrat den weitern
Antrag, die Zollgrenze auf der Unterelbe zum 1. Januar 1882 nach Cuxhcwen
zu verlegen. Auch diesmal hielt sich Preußen streng auf dem Rechtsboden, es
suchte nur der zum Teil sehr starken Bevölkerung auf beiden Seiten der doch
unzweifelhaft preußischen Niedcrelbe die Wohlthaten des freien Binnenverkehrs
zu verschaffen, deren sie bisher zu Gunsten Hamburgs willkürlich beraubt waren.
Ebenso ließ sich die verfassungsmäßige Befugnis des Bundesrates, diese Frage
selbständig, ohne Mitwirkung des Reichstages zu erledigen, nicht anfechten.
Die Zolllinie war im Jahre 1868, ohne daß eine Stimme im Reichstage da¬
gegen laut geworden wäre, auf eine Verordnung des Bundesrates von Wittcn-
berge nach Bergedorf oberhalb Hamburgs hinabverlegt worden; folglich konnte
sie auch durch eine neue Verordnung des Bundesrates bis an die See vor¬
geschoben werden, wie es das Zollgesetz von 1869 ausdrücklich verlangte. Noch
dazu wären die materiellen Interessen der Hamburger dadurch kaum geschädigt
worden. Das Reich erhebt keine Durchfuhrzölle. Die nach Hamburg aufwärts
gehenden Schiffe wären auch nach Errichtung der Zollstelle in Cuxhaven zoll¬
frei eingegangen und lediglich im Interesse der Zollsicherheit genötigt worden,
für die Fahrt durch die Zollinland gewordene Untcrclbe einen Zollbeamten an
Bord zu nehmen und für diesen die Gebührentaxe zu zahlen.
Sofort erhoben die Hamburger mit der alten vaterstädtischen Begeisterung
und mit der alten Überzeugungstreue in den herzbrechendsten Tönen von
neuem ihre Weherufe über die räuberische Handelspolitik Preußens. Zu ihren
Klagen gesellten sich die Entrüstungsrufe der gesamten Opposition über den
Kanzlerdespotismus, über das Hausmeiertum, über den unausrottbaren Haß der
Junker gegen den Handel und gegen die Städte. Wiederum wurde im Reichs¬
tage behauptet, daß, wie in dem Falle von Se. Pauli, so auch diesmal die
Bundesregierungen verfassungsmäßig nicht berechtigt gewesen seien, die Ein¬
verleibung der Unterelbe in das Zollgebiet ohne die gesetzliche Genehmigung des
Reichstages vorzunehmen. Am 20. Mai 1831 ersuchte der Abgeordnete Richter
den Reichstag, zu beschließen, daß es weder dem bundesstaatlichen Verhältnis,
noch der Achtung vor dem geltenden Verfassungsrecht entspreche, wenn der
Bundesrat Änderungen der Zolleinrichtungen vornehmen sollte, lediglich zu dem
Zwecke, um einzelne Bundesstaaten in dem freien Gebrauche ihres verfassungs¬
mäßigen Rechts zu beschränken.
Aber in dem Augenblicke, wo die Leidenschaften über das Bestreben des
Reichskanzlers, eine ganz zweifellos nationale Einrichtung ihrer Vollendung
entgegenzuführen, ihren Gipfelpunkt erreichten, sollte auch der Umschwung der
Dinge erfolgen. An demselben 25. Mai 1881, an dem über den Antrag Richter
zum erstenmale im Reichstag verhandelt wurde, war bereits die vorläufige Ver¬
einbarung zwischen der Reichsregierung und den Hamburgischen Bevollmächtigten
über die anderweitige Abgrenzung des Freihafengebiets unterzeichnet worden.
Indem die Führer der Fortschrittspartei den Versuch machten, die Mehrheit
des Reichstages zum Schutze eines Bundesstaates aufzubieten, der durch deu
Bundesrat bedroht sein sollte, hatten sie wie Sachwalter ohne Klienten plaidirt.
Nur mit zu gutem Rechte konnte Fürst Bismarck damals dem Reichstage vor¬
halten, daß der nationale Gedanke seine beste Stütze nicht mehr im Parlament,
sondern bei den Regierungen habe. Wie so oft in der Geschichte der alten
Hanse der Rat der Hansestädte sich der Bürgerschaft an weiser Voraussicht über¬
legen bewiesen hat, so hatte auch in diesem Falle der Hamburger Senat den
klugen patriotischen Entschluß gefaßt, den unerfreulichen Zuständen, die über die
Unterelbe hereinzubrechen drohten, zuvorzukommen und, zunächst im vollsten Wider¬
spruche mit der öffentlichen Meinung in Hamburg, den Frieden mit dem Reiche
zu schließen. Nicht als ob der Hamburger Senat weniger lebhaft als die
Bürgerschaft die unveränderte Beibehaltung des bisherigen Zustandes gewünscht
hätte. Aber der Hamburger Senat war mit der Handelskammer der Ansicht,
daß der Sieg in der Se. Pauli-Frage mir ein Pyrrhussieg sei, und daß die
Frage des Anschlusses immer von neuem und kräftiger auftreten werde. Er
hatte daher nicht nur seit längerer Zeit in Gemeinschaft mit der Handelskammer
die Untersuchungen angestellt, welche erforderlich waren, um im Falle von Ver¬
handlungen in jeder Beziehung unterrichtet zu sein, sondern auch an den preußi¬
schen Finanzminister Bitter die Frage gerichtet, ob er geneigt sei, in vor¬
läufige Besprechungen über die Möglichkeit eines Eintritts Hamburgs in den
Zollverein einzuwilligen. In monatelanger eingehendster gemeinsamer Arbeit
mit einem vom Finanzminister dazu bestimmten Zollbeamten waren dann die
Hamburger Bevollmächtigten von Tag zu Tage mehr zu der Einsicht gelangt,
daß eine Verständigung mit der Reichsregierung möglich sein würde. Nachdem
darauf am 9. Mai 1881 die formellen Verhandlungen über den Eintritt er¬
öffnet worden waren, wurde es, dank der loyalen und entgegenkommenden
Haltung aller Beteiligten, möglich, in der kurzen Zeit bis zum 25. Mai über
alle Hauptfragen ein Einverständnis herzustellen.
Am 15, Juni brachte der Senat die Vereinbarung vor die Bürgerschaft.
Er hatte damit absichtlich gezaudert, weil er sich Wohl bewußt war, daß gegen
so revolutionäre Neuerungen der konservative Sinn der Bevölkerung sich ini
ersten Augenblick mit unwiderstehlicher Macht erheben würde. Unterdessen hatte
die Gewerbckammer erklärt, daß ihr die Genehmigung des Vertrages unbedingt
geboten erscheine, und daß die Ablehnung desselben den Gewerbestand aufs
empfindlichste schädigen müsse. Von der Handelskammer wurde ein Gutachten
veröffentlicht, daß nach ihrer Einsicht in jener Vereinbarung alle Bürgschaften
für die Erhaltung der Welthandclsstellung Hamburgs gegeben seien. Mit
gutem Grunde konnten daher die Sprecher des Senats in jener siebenstündigen
Sitzung, die man in Hamburg nie vergessen wird, die Bürgerschaft auffordern,
dem Vertrage ihre Zustimmung zu erteilen. Sie konnten darauf hinweisen,
daß man es jetzt in der Hand habe, einen ehrenvollen und vorteilhaften Frieden
zu erlangen, während man nach der Ablehnung desselben einem noch hart¬
näckigeren Kampfe nicht nur mit dem Reichskanzler, sondern mit dem ganzen
deutschen Vaterlande gegenüber stehen würde, um schließlich doch die ganze
Trostlosigkeit und Schmach eines erzwungenen und ungünstigen Friedensschlusses
auf sich zu nehmen. Sie konnten mit Recht an jenen 4. Juli 1866 erinnern,
wo sie allein durch ihre bessere Einsicht und durch ihre Vorstellungen die
Bürgerschaft dazu bewogen hatten, in letzter Stunde ihr Herzensbündnis mit
Osterreich fahren zu lassen und durch eine weise Verständigung mit dem sieg¬
reichen Preußen die Selbständigkeit ihres Freistaates zu retten. Sie wußten
die Pflicht der deutschen Stadt Hamburg gegen das Vaterland so eindringlich
darzustellen, daß schließlich selbst ein nicht geringer Teil derjenigen, die gegen
ein Hamburg von Bismarcks Gnaden bis zum letzten Augenblick protestirt und
sich geweigert hatten, die gegen die Vaterstadt erhobene Rute zu küssen, für
die getroffene Vereinbarung ihre Stimme abgaben, um durch die Annahme des
kleinern Übels das größere abzuwenden.
Wenn der Bundesrat für deu Anschluß Altonas und der Unterelbe an
das Zollgebiet nicht ein Gesetz, sondern eine von ihm allein ausgehende Ver¬
ordnung als erforderlich erachtet hatte, so konnte ohne Zweifel auch in diesem
Falle, da der Eintritt der Hansestädte in den Zollverein bereits in der Ver¬
fassung vorgesehen war, der Anschluß von Hamburg in verfassungsmäßiger
Weise ohne Mitwirkung des Reichstages erfolgen. Der Gesetzentwurf, den der
Bundesrat dennoch im Herbst 1881 dem Reichstage vorlegte, hatte daher
weniger die Absicht, die Thatsache des Eintritts selber, als vielmehr gewisse
Modalitäten desselben der parlamentarischen Genehmigung zu unterbreiten.
Aber damit war auch dem Reichstage die Gelegenheit gegeben, die gesamte
Abmachung seiner Beurteilung zu unterziehen. Und obwohl die Nachricht von
dein endlichen Eintritt Hamburgs in den Zollverein jedes unbefangene Gemüt
wie ein frischer Luftzug in schwülen Tagen berührte, und der Hamburgische
Senats-Sekretär Rölofss Seite an Seite mit den preußischen Bundesrats-
Bevollmächtigten für die Annahme des Vertrages stritt, so wagte es dennoch
dieselbe Fortschrittspartei, die sich bei allen Schritten zur Herstellung deutscher
Einheit in der Negation befunden hatte, noch einmal dem rollenden Wagen ihre
Gedankenspäne zwischen die Speichen zu werfen. Der Hamburger Senat hatte,
nachdem die beiden gesetzgebenden Gewalten der freien und Hansestadt Hamburg
die Vereinbarung vom 25. Mai mit großer Mehrzahl gebilligt, nach Artikel 34
der Reichsverfassung den Antrag auf Eintritt in den Zollverband an den
Bundesrat gerichtet. Die Fortschrittspartei erklärte, daß sie auf die Ab¬
machungen zwischen Hamburg und der Reichsregierung nichts geben könne,
da sich die'Hamburger in einer Zwangslage befunden und nicht mit freiem
Urteil gehandelt hätten. Solange die Hamburger dem Reichskanzler wider¬
standen hatten, war ihre Erbweisheit von den fortschrittlichen Blättern bis in
den Himmel erhoben worden. Jetzt wurden sie zu charakterlosen Menschen ge¬
stempelt, die sich voller Furcht dem ersten Angriff des Reichskanzlers fügten.
Bisher waren die Freihändler die Begünstiger jeder Erweiterung des Zoll¬
vereins gewesen, und die Führer der Fortschrittspartei hatten stets beteuert,
daß sie die Reservatrechte, die man den süddeutschem Staaten zum Schaden der
Reichseinheit eingeräumt hätte, mit so und so vielen Millionen abzukaufen
bereit wären. Jetzt zürnten sie über die maßlose Verschwendung an National¬
vermögen und über die Prämiirung eines Systemes der wirtschaftlichen Be¬
unruhigung. Die deutschen Industriellen, die den Eintritt Hamburgs in die
Zollgrenzen verlangten, wurden in ihren Augen zu Leuten, die ihr eignes
Interesse nicht verstünden. Die Kommission, an welche der Reichstag die
Regierungsvorlage verwiesen hatte, hatte sich unter den Vorsitz des Abgeordneten
Bamberger in überwiegender Mehrheit dafür ausgesprochen. Trotzdem wurde
sie in den fortschrittlichen Blättern für ihrer Aufgabe nicht gewachsen erklärt
und ebenso der Vernichtung anheim gegeben, wie der heimtückische Reichskanzler,
der wieder einmal sein altes „Macht geht vor Recht" erwiesen habe, der bis
zum Jahre 1878 ein Freihändler gewesen, jetzt ein Schutzzöllner geworden sei
und im Handumdrehen vielleicht noch einmal ein Freihändler werden würde.
Zum Glück vermochten diese rednerischen Ergüsse xv8t töswin, wenig Eindruck
mehr zu machen und noch weniger das Erreichte zu ändern. Die Führer der
Fortschrittspartei glichen nur zu sehr einem General, der nach der Verlornen
Schlacht beweist, daß er nach allen Grundsätzen der Taktik und der Strategie
und nach dem gesunden Menschenverstande die Schlacht hätte gewinne» müssen,
wenn nicht ganz unberechenbare elementare Ereignisse dazwischengetreten wären.
Das Verhalten des Hamburger Senats duldet keinen Vergleich mit dem
des Kommandanten einer belagerten Festung, der den Feind vor den Thoren
sieht und lieber die Schlüssel ausliefert, als den drohenden Sturm erwartet. Die
Vereinbarung vom 25. Mai war zu Stande gekommen auf dem Wege praktischer
Politik, durch beiderseitige Zurückhaltung in Bezug auf Wünsche und Forderungen,
die nicht erfüllbar waren, und durch beiderseitiges Eingehen auf gegenseitige
Interessen, wie es bei einer Verständigung unter den Gliedern derselben Familie
zu gemeinsamem Nutzen natürlich ist. Die extremsten Schutzzöllner hatten eine
vollständige Hereinziehung Hamburgs in die deutsche Wirtschaftsgemeinschaft
unter gänzlicher Aufhebung seines Freihafens gefordert, indem sie sich einredeten,
wenn man die Hamburger Kaufleute hindere, mit ausländischen Erzeugnissen
Geschäfte zu macheu, werde man auch das Ausland zwingen, fortan statt
ausländischem deutsches Gut zu kaufen. Nach jenem Maivertrage sollte die
ganze Wohnstadt und die gesamte Bevölkerung Hamburgs an einem von dem
Reichskanzler näher zu bestimmenden Tage nach dem ersten Oktober 1888 dem
Zollgebiete angeschlossen werden. Dagegen erklärte sich die Reichsregierung damit
einverstanden, daß der Stadt Hamburg am nördlichen Ufer der Elbe, auf dem
besten Teile des Flusses selbst und auf deu der Stadt gegenüber liegenden
Inseln für alle Zeiten ein neu abzugrenzendes Freihafengebiet von solcher Aus¬
dehnung zu belassen sei, daß die Hamburger, da keine Wohnungen darin auf¬
geschlagen und kein Einzelhandel betrieben werden darf, schwerlich jemals ganz
davon Gebrauch machen werden. Und nicht genug, daß in diesem neuen Frei¬
hafengebiet die fremden Waren anch fernerhin ihren Markt finden werden: die
Reichsregieruug gestattete den Hamburger Exporteuren, um zugleich von einem
Lager aus das Ausland und das Inland versorgen zu können, aus ihren
Kontirnngslagern in der Zollinland gewordenen Wohnstadt, also gewissermaßen
in Freihafcnexklaven, zollausläudische und zollinländische Artikel neben einander
nnter Erfüllung gewisser Zollformalitäten zur freien Verfügung zu halten.
Eine Unterwerfung der aus der See nach dem Freihafengebiete und von diesem
nach der See gehenden Schiffe unter die gewöhnlichen Zollkontrollen würde
bei den von Ebbe und Flut abhängigen Schifffahrtsverhültuissen auf der Unter¬
elbe gleichbedeutend gewesen sein mit der Vernichtung aller derjenigen Vorteile,
welche Hamburg durch die Zusicherung des Freihafeubezirks gewährt wordeu
waren. Nach dem Maivertragc wird der gesamte durch das Zollgebiet der
Uutcrelbc hindurchgehende Schiffsverkehr vou jeder zollamtlichen Behandlung
und Abfertigung befreit bleiben, sobald die Fahrzeuge einen auf die Wahrung
des Zollinteresfes verpflichteten Lotsen an Bord haben und bei Tage die
Zvllflagge, bei Nacht die Zollleuchte führen. Die deutschen Spiritusbrenner
und gewisse andre Fabrikantenkreise hatten sich immer vor allem über jene
eigentümliche Exportindustrie beklagt, die sich uach ihrer Meinung wie eine
Schmarotzerpflanze an den kräftigen Baum des Hamburgischen Zwischenhandels
angeklammert habe und durch die „Veredlung" der zollfrei eingeführten aus¬
ländischen Waren den deutschen Produzenten im Auslande eine ungleiche Kon¬
kurrenz bereite. Ein Teil dieser Freihasenindustrie verdiente ohnehin kein Mitleid.
Die Menschheit würde nichts verloren haben, wenn gewisse Hamburger Fabrikanten
aufgehört hätten, aus russischem Sprit „echten" Maraschino, Benediktiner,
Jamaika-Rum und Bordeauxweine herzustellen. Nach dem Maivertrage ist die
Rektisizirung von russischem Sprit im Hamburgischen Zollgebiet bis zum Ende
dieses Jahrhunderts, im Freihafengebiet für alle Zeiten gestattet. Die Hamburger
hatten das größte Hindernis für eine Verständigung darin gesehen, daß das
büreaukratische preußische Zollsystem sowohl in Bezug auf das Formelle der
Zollabfertigung, als auch mit seinem Jnstcmzenwesen bis zum Finanzminister
hinauf dem großen Verkehr der Hafenstadt nicht entspreche. Die Neichsregierung
versprach nicht allein eine Abänderung ihrer Regulative vorzunehmen, sondern
gab auch, indem sie der Stadt Hamburg die Verwaltung der Zölle durch ihre
eignen Beamten und in zweiter Instanz durch ihre eignen Behörden überließ,
den Hamburgern die sichersten Bürgschaften, daß die veränderten Zollgesetze auch
den Interessen des Handels entsprechend gehandhabt würden. Es war selbst¬
verständlich, daß die in der Wohnstadt angehäuften fremdländischen Waren nach
dem Wegfall der Zollschranken nicht ohne Zoll in den bestehenden Zollverein
eingeführt werden konnten. Die Neichsregierung war sofort damit einverstanden,
daß der gesamte Nachsteuerertrag der Hamburgischen Staatskasse anheimfallen
sollte. Das Reich versprach endlich von den durch den Zollanschluß Hamburg
erwachsenen Kosten die Hälfte, jedoch höchstens in der Höhe von 40 Millionen
Mark zu zahlen.
Man kann zweifeln, ob Bremen klug gehandelt hatte, sich jeder selbständigen
Politik zu enthalten und einfach mit Hamburg stehen und fallen zu wollen, da ein
solches Verhalten weder auf der einen, noch auf der andern Seite Freunde er¬
warb. Jedenfalls blieb, nachdem man die Aufstellung eines eignen Programms
zur rechten Zeit versäumt hatte, den Bremern nichts andres übrig, als in dem
Augenblicke, wo der Hamburger Senat einlenkte, auch ihrerseits den Frieden
mit dem Reiche zu suchen. Genau wie der Hamburger Senat, hatte daher auch
der Bremer Senat schon im Jahre 1880 gewisse Untersuchungen über alle für
den Fall des Zollanschlusfes in Betracht kommende Punkte veranstaltet. Wie
der Hamburger Senat, hatte dann ebenso der Bremer im April 1881 an den
preußische» Finanzminister das Ersuchen um vertrauliche Vorbesprechungen über
die Grundlagen des Anschlusses gerichtet. Und wie der Hamburger Senat, wäre
auch der Bremer damals schon bereit gewesen, abzuschließen, wenn nicht die
Reichsregierung bestimmt erklärt hätte, daß sie bei den unsäglichen Schwierig¬
keiten der Hamburger Frage erst nach dem Abschlüsse mit Hamburg mit Bremen
weiter verhandeln könne. So wurde erst 3 Jahre später am 4. Juli 1884
die vorläufige Vereinbarung zwischen der Reichsregierung und Bremen unter¬
zeichnet. Am 29. August teilte sie der Senat der Bürgerschaft mit. In Ham¬
burg war in jener denkwürdigen Sitzung der Bürgerschaft ein erbitterter Streit
darüber ausgefochten worden, ob man Frieden schließen oder den Kampf fort¬
setzen solle. In der Bremer Bürgerschaft wagte kaum jemand, dem Friedens-
Schlusse zu widersprechen, und der Vertrag wurde nur zu dem Zwecke an eine
Kommission verwiesen, um den Versuch zu machen, einige Bestimmungen zu
mildern. Als der Reichstag über den Antrag des Hamburger Senats auf
Eintritt in den Zollverein verhandelte, waren die großen grundsätzlichen Fragen
eingehend erörtert worden. Als der Bundesrat im Januar 1885 dem Reichs¬
tage eine Vorlage über den Anschluß Bremens zugehen ließ, vermochten selbst
die ausgesprochensten Freihändler nichts dagegen einzuwenden, daß Bremen das
Schicksal Hamburgs teilen müsse.
Die von Hamburg so verschiedenen örtlichen Verhältnisse Bremens bedingten
es, daß, wenn die Wohnstadt gleichzeitig mit Hamburg dem Zollgebiet an¬
geschlossen wurde, zwei verschiedene Gebiete den Aufgaben des internationalen
Zwischenhandels vorbehalten blieben. Die Neichsregierung willigte sofort ein,
die Hafenanlagen von Bremerhaven und die damit verbundenen Petroleumlager¬
plätze durch ein Zollgitter als Ausschlußgebiet von der Wohnstadt Bremerhaven
zu trennen. Die Bremischen Kommissarien verlangten aber außerdem die Be¬
nutzung eines Freihafeus in der Stadt Bremen selbst, in welchem, wie in dem
Hamburger Freihafenbezirk, die Bewegung der Schiffe und Waren von jeder
Zollkontrolle befreit und die Anlegung von industriellen Großbetrieben gestattet
sein sollte. Auf solche Forderungen glaubten die Kommissarien der Reichs¬
regierung nicht eingehen zu können. Die Bremer mußten sich mit dem Zu¬
geständnis begnügen, daß, während sämtliche bisherigen Hafenanlagen, Waren¬
häuser und Löschanstciltcn in das Zollgebiet eingeschlossen wurden, unterhalb
der Stadt auf dem rechten Weserufer ein neuer stadtbremischer Freibezirk mit
einem Umfange von 87 Hektaren geschaffen wurde. Sie mußten sich weiter da¬
mit zufrieden geben, daß für dieses Entrepot die Gründung einer der Hambur¬
gischen entsprechenden Exportindustrie versagt blieb. Im übrigen zeigte das
Reich dieselbe entgegenkommende und wohlwollende Haltung, wie beim Zoll¬
anschluß Hamburgs. Obwohl mit dem Anschluß Bremens auch die Unterweser
in das Zollgebiet eingeschlossen wird, sollen dennoch den die Unterweser von
und nach Bremen passirenden Seeschiffen, bei Erfüllung der nämlichen Zoll¬
formalitäten, dieselben Erleichterungen zu Teil werden, wie man sie Hamburg in
Bezug auf seineu Verkehr durch die Unterelbe gewährt hatte. Für die zwischen
Bremen und Bremerhaven fahrenden Leichterschiffe, die den Verkehr zwischen
den in Bremerhaven löschenden und ladenden Seeschiffen und Bremen selbst, wo
in der Hauptsache die Lagerung der Waren stattfindet, zu vermitteln haben,
wurde ein erleichtertes Abfertigungsverfahren versprochen. Den in Bremen be¬
stehenden, im Vergleich zu Hamburg allerdings geringfügigen Industriebetrieben,
die auf die zollfreie Verarbeitung ausländischer Rohstoffe angewiesen waren,
wurde jede mögliche Rücksicht in Aussicht gestellt. Genau, wie sie es gegen¬
über Hamburg gethan hatte, willigte die Reichsregiernng in eine Abänderung
der Zvllregulntive mit Rücksicht auf die Bedürfnisse des Bremischen Handels,
in die Überlassung der gesamten Zoll- und Steuerverwaltung an Bremen und
in die Überweisung der gesamten Nachsteuer an die Bremer Staatskasse. Sie
bewilligte endlich der Stadt Bremen für die durch den Zollanschluß notwendige
Herstellung neuer Hafenanlagen und Warenschuppen einen Neichszuschuß bis zur
Hälfte der von Bremen aufzuwendenden Gesamtkosten, oder wenigstens bis zu
12 Millionen Mark.
Wenn das Interesse des großen Publikums an den hanseatischen An¬
gelegenheiten schon in dein Augenblicke erlahmt war, wo Hamburg gegen aller
Erwartung so plötzlich seine Waffen gesenkt hatte, so mußte dies natürlich noch
mehr der Fall sein, als Bremen dem Beispiele der großen Schwesterstadt
folgte. Nur eine einzige Frage blieb unvergessen und lebte immer von neuem
auf, so oft die Zeitungen von den neuen Riesenbauten an der Elbe und an
der Weser berichteten, und versicherten, daß, von der Berliner Stadtbahn ab¬
gesehen, niemals in Deutschland so viel Ziegelsteine für einen Bauzweck ver¬
wandt worden seien. Als die Hamburger und Bremer Kommissarien zuerst mit
den Vertreter« der Buudesregierungen verhandelten, waren sie der Meinung
gewesen, daß die gesamten Kosten der Zollanschlußbauteu für Hamburg einige
80, für Bremen 24 Millionen Mark betragen würden. Daraufhin hatten der
Bundesrat und der Reichstag einen Neichszuschuß bis zur Höhe von 40 und
12 Millionen Mark bewilligt. Aber schon zur Zeit der Neichstagsverhand-
lungen über den Zollanschlnß Hamburgs war es gewiß, daß Hamburg, jene
40 Millionen mit eingerechnet, 150 Millionen würde ausgeben müssen, und
ebenso kam mau spater zu der Überzeugung, daß Bremen statt der anfänglich
berechneten 24 Millionen deren 35 ^ aufzuwenden habe. Indem man zu dieser
Summe die sich auf mindestens 16 Millionen belaufende Ausgabe hinzurechnete,
die Preußen werde machen müssen, um dem Altonaer Handel und Gewerbe
einigermaßen für die Nachteile Ersatz zu leisten, die ihm die zukünftige Doppel--
Stellung Hamburgs zufügen müsse, war es unzweifelhaft, daß der Anschluß der
Städte Hamburg und Bremen und die damit zusammenhängenden Maßregeln
mindestens eine Gesamtsumme von 200 Millionen Mark erfordern würden.
In der jüngsten Zeit ist sogar die Anschauung verbreitet worden, daß für alle
jene Zwecke selbst eine Summe von 250 Millionen Mark nicht zu hoch ge¬
griffen sei. Wenn dem so ist, so würde allerdings damit auf den Kopf der
Hamburgischen und Bremischen Bevölkerung, den Neichszuschuß selbstverständlich
abgerechnet, eine finanzielle Belastung fallen, die diejenige weit übersteigen würde,
welche durch die Zahlung der 5 Milliarden auf den einzelnen Franzosen gelegt
wurde. Mit Recht konnte daher von berufenen und unberufenen Sprechern
immer wieder die Frage aufgeworfen werden, welchen Nutzen die Hansestädte und
das Reich von dem vereinbarten Zollauschluß haben würden, und ob dieser so groß
sein würde, daß, ganz abgesehen von den Nachteilen, die einzelnen Privaten ent¬
stehen müßten, solche Aufopferung von Nationalvermögen gerechtfertigt erscheine.
Es wird die Aufgabe der Zukunft sein, diese Frage zu beantworten. Jeden¬
falls mehren sich in den Hansestädten die Stimmen, die von dem am 15. Ok¬
tober vollzogenen Zollanschlusfe, nachdem es dadurch den Hanseaten ermöglicht
worden ist, wieder mit Sicherheit ihre Maßregeln zu treffen und in der Zu¬
kunft nicht blos; einhändig, sondern beidhciudig zu eignem Nutzen zu arbeiten,
eine Verjüngung der geliebten Vaterstädte und eine neue glanzvolle Entwick¬
lung derselben hoffen. Besonders die einst so widerspenstigen Hamburger Kauf¬
leute sind in kühler Rechnung vielfach dahin gelangt, sich mit den geschehenen
Umgestaltungen auszusöhnen. Sie sind der Ansicht geworden, daß sie durch
die vollendeten Einrichtungen ihres neuen Hafens künftighin dem Aufschwünge
Antwerpens und andrer europäischer Seeplätze mit Leichtigkeit die Wage halte»
werden. Genaue Kenner der Hamburger Verhältnisse haben es als sehr fraglich
bezeichnet, ob die Hamburger heute, wenn es eine Möglichkeit dazu gäbe, ihren
neuen Freihafenbezirk gegen den alten wieder herausgeben würden. Während
der Abgeordnete Bamberger einst versicherte, es werde hinfort kein guter Deutscher
auf die Hamburger Seewarte hinaufsteigen, um nicht die Zollpallisaden zu sehen,
die man dem schönen deutschen Strome mitten in den Leib hineingetrieben habe,
haben die Hamburger dennoch in den jüngsten Monaten nicht nur ihren jungen
Kaiser, sondern selbst den heimtückischen Reichskanzler eingeladen, um ihnen
das schöne neue Heim zu zeigen, das sie vor ihren Thoren dem Handel bereitet
haben.
Und ebenso erwartet die Bevölkerung des Zollinlandes — ganz abgesehen
davon, ob die Zinsen der vom Reiche gegebenen 52 Millionen Mark durch
das Aufhören der außerordeutlich beschwerlichen Zollbewachung an den aus¬
gedehnten Grenzen der ehemaligen Freihafengebiete, durch eine Minderung des
Schmuggels und durch eine gleichmäßige Heranziehung der Hanseaten zu den
Steuern und Zöllen im Reichsgebiete nicht überreichlich gedeckt werden — mehr
denn je von der Einbeziehung der Hansestädte neben sehr wesentlichen Erleich¬
terungen des Personen- und Güterverkehrs einen gesteigerten Verbrauch deutscher
Erzeugnisse in jenen selbst und einen lebhafter» Vertrieb derselben durch die
hanseatischen Exporteure in den überseeischen Ländern. Das deutsche Volk aber
ist sich endlich bewußt, daß, selbst wenn diese materiellen Hoffnungen nicht
erfüllt werden sollten, es dennoch jene verhältnismäßig kleine und unwesentliche
Beihilfe mit gutem Grunde gegeben hat. Als Preußen seine ruhmreiche Zoll¬
vereinspolitik begann, war es der Überzeugung, daß wirtschaftliche Einheit
schließlich auch politische Einheit, und wirtschaftliche Hegemonie schließlich auch
politische Hegemonie bringen müsse. Mit dem größten Erstaunen bemerkte das
Ausland, daß, während im Jahre 1866 die Deutschen zum letztenmale auf
einander schlugen, die Zollbehörden ihre Funktionen im Namen der Gemein¬
schaft fortsetzten und Gelder im Namen derselben einnahmen und gegenseitig
verrechneten. Es ist eine Übertreibung, aber es liegt doch auch mehr als ein
Körnchen Wahrheit in jener Behauptung, daß Deutschland anch ohne die
Schlacht bei Königsgrätz allein durch den Zollverein zu politischer Einheit
gelangt wäre. Wenn dem so ist, so kaun es für die Stärkung unsrer poli¬
tischen Einheit nicht unwesentlich sein, daß jene beiden alten Städte, die den
Ruhm ihrer hanseatischen Überlieferungen und die seltene Würde freier Städte
bewahrt haben, aber gleich den größten deutschen Königreichen ihre Vertreter
in den Bundesrat entsenden, die hinsichtlich ihrer Einwohnerzahl zwar nur mit
thüringischen Kleinstaaten zu vergleichen sind, aber an wirtschaftlicher Kraft
Württemberg und Baden übertreffen, endlich dem nationalen Wirtschaftsgebiete
sich eingliedern. Im Gegenteil: indem Fürst Bismarck in einer Frage, wo es
sich weder um Schutzzoll, noch um Freihandel handelte, sondern in der er ganz und
vollkommen Recht hatte, fest blieb, und indem er sich entschloß, einen alten ehr¬
samen Zopf, der ja seine großen, unvergeßlichen Tage gehabt hatte, aber schon
längst nicht mehr zur Verschönerung unsers Reichskörpers diente, mit kühner
Hand abzuschneiden, hat er wieder angeknüpft an die schönsten Überlieferungen
der deutschen Zvllvereinsgeschichte. Indem die Verbündete» Regierungen in der
Hamburger Frage Hand in Hand mit dem Reichskanzler gingen, haben sie nur
eine Pflicht nationaler Politik erfüllt, deren Erfüllung vielleicht schon früher
hätte in Gang kommen sollen, aber auch jetzt sicherlich nicht zu spät kommt.
Indem in dem Augenblicke, wo der Hohenzollern-Aar sich wieder so kräftig
über Deutschlands Gaue und Stämme erhebt, die Ausführung der Reichs¬
verfassung in einem ihrer wichtigsten Artikel, die endliche Befriedigung eines
nationalen Wunsches, die endgiltige Regelung der deutschen Zollgrenzen erfolgt,
wird der jungen Negierung Kaiser Wilhelms II. das schönste Angebinde, die
verheißungsvollste Morgengabe zu Teil.
eit einigen Jahren ist die Teilnahme Europas an dem politischen
Leben der Vereinigten Staaten in beständiger Abnahme begriffen.
Kein Wunder; der äußerlich wachsende», ihre Bevölkerung im
Rieseumaßstabe steigernden Republik hat das innere Wachstum, das
der geistig-sittlichen Entwicklung, in einer auffallenden Weise gefehlt.
Die Kritik, die sich gegen das immer mehr im schlimmsten Sinne sich amerika-
nisirende Frankreich wandte, mußte auch auf die Beurteilung des transatlantischen
Originals zurückwirken. Wie die französische Republik mit ihrer Untergrabung
aller Autorität und Ehrfurcht alle Anstalt macht, zum abschreckenden Beispiel
für die Nachbarvölker zu werden, so droht auch die neueste politische und soziale
Geschichte der Vereinigten Staaten eher zur Warnung aufgestellt, als zur Nach¬
ahmung empfohlen werden zu müssen. Auch die Hoffnung auf eine neue, frische
Kultur, welche die europäischen Kolonisten auf dem jungfräulichen Boden der
neuen Welt zeitigen sollten, ist schon seit Jahren schwächer und schwächer ge¬
worden. Wie alle Kolonialreiche, trägt auch das nordamerikanische den Stempel
geistiger Unselbständigkeit an sich. Es fehlt seinen Bürgern an Ursprünglichkeit.
weil sie ihre Bildung dem Mutterlands fertig entlehnten und noch entlehnen,
statt sie in neuer und eigenartiger Weise selbst zu gründen und zu entfalten.
Es fehlt ihnen die Jugend, die lange Reihe reicher, weil heroisch durcharbeiteter
Jahrhunderte, aus der die europäischen Völker jene Tiefe und Besonderheit er¬
erbt und erworben haben, ohne die eine selbständige und hervorragende Volks¬
wesenheit nicht zu Stande kommt. Wie jemand, der auf keine naive und fröh¬
liche Kinderzeit zurückblicken kann, frühreif, frühernst und frühalt erscheint, so
zeigen auch die scharfen Züge der Amerikaner schon jene einseitige und über¬
mäßige Zuspitzung des Verstandes, die zwar zu großen technischen Wagnissen
kühn und geschickt macht, die aber geradezu ungünstig ist für die Hervorbringung
gleichmäßig großer Persönlichkeiten und eigenartiger, allgemein und dauernd
wertvoller, weltwichtiger Gestaltungen und Geistesschöpfungen.
Die Vereinigten Staaten sind die früh alternde Wiederholung Englands,
und zwar nicht des alten, ruhmreichen Cromwellischen Englands mit seinem
göttlichen Gerechtigkeits- und Gottseligkeitscifer, sondern jenes neuern und ab¬
sterbenden Großbritanniens, dessen Evangelium darauf hinausläuft, möglichst
billig einzukaufen und möglichst viel und möglichst teuer an die gesamte übrige
Welt zu verkaufen, gleichviel wie die übrige Welt dabei führt. Dieser berühmte
Grundsatz ist es denn auch gewesen, um den sich thatsächlich der ganze letzte
Präsidcntenwahlkampf von Ende Juni bis zum sechsten November gedreht hat.
Die demokratische Partei stellte sich annähernd auf deu Boden dieses englischen
Grundsatzes. Sie verwahrte sich freilich dagegen, als die Vertreterin des un¬
beschränkten Freihandels angesehn zu werden, und gab vor, mit der von ihr
vorgeschlagenen geringen Herabsetzung der Eingangszölle nur die Beseitigung
der zunehmenden Erhöhung der Bundeseinnahmen über die Ausgabe« im Auge
zu haben. Aber indem die gegnerische republikanische Partei diese in der Mills-
Bill verkörperte Maßregel als den ersten Schritt ans der schiefen Ebene, die
zum vollen Freihandel führen müsse, angriff und wahrscheinlich machte, nahm
der Kampf immer mehr inner- und außerhalb des Kongresses den Charakter eines
grundsätzlichen Gegensatzes zwischen Schutzzoll und Freihandel an. Auch im
demokratischen, volkswirtschaftlich nicht ganz einigen Lager hatte man War-
nungsrufe vernommen, nicht alles auf eine so gefährliche Karte zu setzen.
Aber der Präsident und Präsidentschaftskandidat Cleveland zwang seiner
Partei die Zolltariffrage als den Hauptinhalt des Wahlkampfes auf, weil er
nur in diesem Zeichen siegen zu können hoffte. Es stand ihm in der That
kein andrer Sammelruf von gleicher Zugkraft zu Gebote. Die Staatsdienst¬
reformfrage ließ sich diesmal nicht zum Angelpunkte machen. Sie hatte im
Herbst 1884 ihre Dienste gethan, sie hatte die unabhängigen Republikaner und
Gegner Blaines, des damaligen republikanischen Präsidentschaftskandidaten, im
Staate New-Ivrk der Fahne Clevelands gewonnen und dadurch den Sieg des¬
selben herbeigeführt. Der demokratische Präsident versuchte es im Anfange
seiner Verwaltung auch wirklich, die niedern Bundesämter ohne unmittelbare
Rücksicht auf Parteidienstleistungen zu vergeben. Er ließ ferner eine Anzahl
Republikaner bis zum Ablauf ihrer Amtszeit (vier Jahre) in ihren Stellen.
Aber er sah sich doch später gezwungen, der heißhungriger Strömung in der
eignen Partei nachzugeben und bei Neubesetzungen den politischen Einfluß der
Ämter in demokratische Hände zu liefern. Mit dem ewigen Personenwechsel
in den Bundesämtern, mit den ewigen Neuwahlen in Bundesstaat, Einzelstaat
und Gemeinde ist eben ein fester Beamtenstamm und Veamtenstand unvereinbar
und unverträglich, und alle Versuche, ihn nach englischem Muster wenigstens
für die Masse der untern Verwaltungsorgane zu schaffen, haben bis jetzt nur
schwache Erfolge gehalten. Welche halbe Arbeit das erst seit 1882 bestehende
Staatsdienstreformgesetz ist, erhellt schon daraus, daß in ihm von Pensionirung
von Beamten mit keinem Worte die Rede ist. Während des diesjährigen
Wahlkampfes ist denn auch von strenger Ausführung jenes Gesetzes, geschweige
denn von seiner Erweiterung von keiner Seite ernstlich gesprochen worden.
Nur daß republikanische Redner dem Präsidenten Cleveland einige Male den Vor¬
wurf machten, seinen 1884 gegebenen Versprechungen untreu geworden zu sein.
Während somit dem demokratischen Präsidentschaftsbeamten nichts andres
übrig blieb, als die Herabsetzung der Eingangszölle seiner Partei als Sammel¬
ruf aufzuzwingen, verließ sich die republikanische auf die bewährte Macht der
Trägheit und auf den mächtigen Einfluß der unter dem Schutzzoll hoch ent¬
wickelten Großindustrie, und schrieb zum erstenmale den Grundsatz des Schutz¬
zolls 8M8 xurass, d. h. ohne alle frühern bundesschatzlichen Entschuldigungen,
auf ihre Fahne. Es war vergebens, daß man auf demokratischer Seite auf
den Widerspruch hinwies, in den dadurch die Republikaner mit ihren frühern
Aufstellungen, mit ihren letzten Präsidenten Garficld und Arthur gerieten, die
wiederholt die Ermäßigung der Eingangszölle empfahlen, um der Aufhäufung
von Hunderten müßiger Millionen im Bundesschatze ein Ziel zu setzen und der
Bevölkerung endlich einen Teil der Last der sogenannten Kriegssteucrn abzu¬
nehmen. Es war umsonst, daß man den Bericht einer republikanischen Tarif¬
kommission vom Jahre 1883 wieder abdruckte, worin eine viel weiter gehende
Ermäßigung der Zölle empfohlen war, als die im Sommer des laufenden
Jahres im Hause des Kongresses angenommene Millsvorlage beantragt. Die
Wahlergebnisse des sechsten November beweisen, daß der Norden (mit Ausnahme
der kleinen Staaten New-Jersey und Connecticut) nicht allein wieder republi¬
kanisch geschlossen dem hartnäckig demokratischen Süden gegenübersteht, sondern
daß er sogar in die südliche Phalanx eingebrochen ist und einen Staat, West-
Virginien (mit sechs Wahlstimmen), aus der festen Gliederung herausgesprengt
hat. Benjamin Harrison ist mit 239 Wahlstiminen gegen 162 (bestehend aus
147 der Südstaaten, 9 von New-Jersey und 6 von Connecticut) für Cleveland
abgegebene zum Präsidenten für die Jahre 1889—1893 gewählt worden.
Dieser Ausgang ist ebenso überraschend für die Gegenwart wie beruhigend
für die Zukunft. Schon während des Wahlkampfes zeigte sichs, daß mit Aus¬
nahme der Großstädte (namentlich des Ostens) die Masse der Bevölkerung außer
Stande war, einen scharf ausgeprägten und grundsätzlichen Gegensatz zwischen
den beiden großen Parteien zu erkennen. Es handelte sich ja auf demokratischer Seite
nur um eine Herabsetzung der bestehenden hohen Zollsätze um durchschnittlich sechs
bis sieben Prozent, während auf republikanischer der Boden des Schutzzollsystems
durch die im September endlich durchgedrückte Vorlage der republikanischen Mehr¬
heit des Bundcssenats an mehreren Punkten durchlöchert und verlassen war. Die
für und wider den Schutzzoll gehaltenen Reden ließen namentlich die Bevölkerung
des großen Nordwestens kalt, und daher machte sich schon früh eine Unsicherheit
und Ungewißheit über die Richtung der schließliche» Entscheidung bemerkbar.
Daher die beispiellos lange Session des Kongresses, der geradezu zu der Rolle
eines stets neue Wahlkampfsmnnition beschaffender Lieferanten herabsank. Da-'
her die (freilich nicht zur Annahme gelangten) Gesetzentwürfe zum Schutze der
amerikanischen Arbeiter gegen die Überflutung europäischer Einwanderung. Daher
das fast ohne Debatte durchgejagte, dein eben mit China vereinbarten Vertrage
widersprechende drakonische Gesetz gegen den noch gefährlichern chinesischen Zuzug.
Daher der gesetzgeberische Wettlauf beider Parteien gegen die Übergriffe der
„Trusts", d. h. der Cartelle oder der Verbünde der Großindustriellen, gegen die
systematische Preistreiberei aller möglichen Waren durch die Syndikate des Gro߬
kapitals. Daher die fast ohne Debatte erfolgte Ablehnung des eben zwischen
den Vertretern Englands und den Vereinigten Staaten vereinbarten kanadischen
Fischereivertrages von Seiten des republikanischen Buudesseuats, und die noch
mehr vom Zaune gebrochene Drohung des demokratischen Präsidenten, die
Kanadier durch Ausschluß von der bisherigen Wareudurchfuhrbegünstigung auf
amerikanischem Gebiete zur Nachgiebigkeit zu zwinge». Daher in der letzten
Woche des Oktober jenes schmähliche Gaunerstück eines republikanischen Zeitungs¬
schreibers in Kalifornien, durch welches ein im Grunde harmloser Privatbrief
des englischen Gesandten mittels der üblichen Vergrößerungsgläser einer gierig
darüber herfallenden republikanischen Presse in ein ungeheuerliches Verbrechen,
und was die Hauptsache, in willkommenstes politisches Parteikapital verwandelt
wurde. Und nun, um die entgegengesetzte Parteischale neu zu beschweren
und den republikanischeres ergatterten Vorteil wieder wett zu machen, die
beispiellos hastige und rücksichtslose Beseitigung des Gesandten selbst durch den
plumpen demokratischen Staatssekretär des die irischen Stimmen zu verlieren
fürchtenden Präsidenten und Demokraten. Zuletzt, um das Maß des Ekels und
der sittlichen Empörung zum Überlaufen zu bringen, auf demokratischer Seite
der widrige, bis zum Verrat an der nationale» Gesamtpartei sich steigernde
Kampf um die städtische Ämterbeute in New-Iork zwischen den feindlichen Brü¬
dern Tammany Hall und der Grafschaftsdemokratie, dessen Folge der Verlust
des Staates New-Uork für Cleveland gewesen ist.
Als würdiges Seitenstück zu den demokratischen Wahlorgien ließen die
Republikaner das Geld zum schamlosesten Stimmenkauf in den zweifelhaften und
für sie unentbehrlichen Staaten New-Uork und Jndiana arbeiten.
Kein Wunder, daß diesem wüsten Treiben, dieser monatelang dauernden
Heuchelei und Durchsteckerei jetzt nach der Wahl eine tiefe Ernüchterung, ein
allgemeines Gefühl der Beschämung, der Erniedrigung in den Augen Europas
gefolgt ist, das in dem stark ausgedrückten Wunsche, diese traurige und entsitt¬
lichende Art der Wahlkämpfe denn doch wenigstens in größern Zwischenräumen
als bisher über sich ergehen zu lassen, sich an den verschiedensten Stellen Luft
gemacht hat.
Der New-Aorker Herald, dieser bereite Chloroformlieferant und Einschläferer
des diesmal aufgeregten Gewissens einer durch und durch materialistischen Gesell¬
schaft, ist mit dem Antrage auf Abänderung der Bundesverfassung vorangegangen
und will die Amtszeit des Präsidenten auf sechs Jahre statt auf vier festgesetzt
wissen. Gleichzeitig soll die unmittelbare Wiederwahl eines Präsidenten dnrch die
Verfassung verboten werden. Die Annahme dieser Vorschläge wird jedoch lange
auf sich warten lassen. Selbst wenn sie erfolgte, würde dadurch nur eine sehr
oberflächliche Abhilfe für die weit tiefer wurzelnden Übel des verderbten Partei¬
getriebes zu gewinnen sein. Von andrer Seite — und zwar nicht nur von
den unter der jetzigen Wahlart in ihrer Unabhängigkeit gefährdeten Arbeiter-
vereinigungen — wird eine Abänderung der Wahlgesetze dahin gefordert, daß
den jetzt allmächtigen Handlangern der alten Parteibeherrscher das Handwerk
gründlich gelegt, und die Anfertigung wie Abgabe der Wahlzettel ihrer die
Wahlfreiheit beeinträchtigenden Überwachung und Beeinflussung in jeder Richtung
entzogen werde. Dabei wird das australische Wahlverfahren als Muster
empfohlen, es ist auch bereits im Staate Massachusetts zum Gesetz erhoben
worden, um nächsten Herbst seine erste Probe zu bestehen. Aber am Ende
wird sich, wie früher bei dem als Allheilmittel gegen Wahlbetrügereien gepriesenen
Negistrationsgesetze (strenge Wählerlistenführung) auch bei dem neuen Gesetze
nach einiger Zeit herausstellen, daß es allein, ohne eine gründliche Sinnes¬
umkehr im Volke selbst, keine reinigenden und sittlichenden Wahlwunder wirken
kann. Allerdings wird vielleicht die Bestechung in ihren gröbsten Formen auf¬
hören, aber die Beeinflussung der Wähler durch die Macht und das Geld wird
nicht ohne weiteres zu beseitigen sein. Daß sie bereits einen so hohen Grad
erreicht hat, daß man sich nur durch immer neue Gesetze davor retten zu können
glaubt, ist eben das Schlimme und Bedenkliche. Man wird vielleicht zu Zweifeln
an der Zweckmäßigkeit des allgemeinen Stimmrechts getrieben werden, jedenfalls
zu vorsichtigerer Gewährung des amerikanischen Bürgerrechts an europäische
Einwanderer. Die weitere politische Entwicklung wird, wie es bereits durch
das Bündnis der beiden alten Parteien der neuen Arbeiterpartei unter Henry
George gegenüber im Herbst 1836 vorgeschaltet wurde, zur Kampfaufstellung
des Großkapitals in allen seinen Formen gegenüber den Gewerbe- und Arbeiter¬
verbänden führe«, und zwar wahrscheinlich zunächst im industriellen Großstaate
New-Iork. Der Versuch, alle Staats- und Gemeindesteuern durch die einzige
Steuer auf die Grund- und Bodenrenke zu ersetzen, wie sie Henry George
befürwortet, wird in New-Iork vielleicht früher unternommen werden, als man
denkt, und die Unterordnung der reichen Minderheit unter die dann wirklich
ans Ruder gelangte ärmere Mehrheit, welche die Verfallzeit Athens bezeichnet,
wird sich vielleicht in der neuen Welt unter neuen Formen wiederholen. Und
wenn nicht durch gewaltige Hebemittel eine sittliche Erneuerung der Volksseele
ins Werk gesetzt wird, und zwar bei Zeiten, so wird der Schlußmacher der
Geschichte, der Cäsar, der Diktator, nicht lange auf sich warten lassen. Ist doch
schon jetzt die eigentliche Leitung der Republik in der Gewalt weniger. Sind
doch schon jetzt die gesetzgebenden Körper der Einzelstaaten wie des Bundes
nur die registrirenden Werkzeuge des in Eisenbahnen, in Kohlenbergwerken, in
Großbetrieben aller Art angelegten Kapitals!
Schon im Jahre 1871 prophezeite der damalige Schriftsteller und jetzige
Leiter der Union-Pacific-Bahngesellschaft, F. C. Adams, das Heraussteigen eines
Zeitalters neuer Cäsaren aus den Kreisen der den ganzen Kontinent beherrschenden
Eisenbahnfürsten vom Schlage der Vanderbilts, Goulds, Scotts und Garretts.*)
Der nur mittels militärischen Einschreitens und Blutvergießens unterdrückte
Massenaufstand der Vahnbeamteu der Pittsburger Linien im Juli 1877, der
im Mai 1886 in Chicago erfolgte blutige Zusammenstoß zwischen Polizei und
Anarchisten sind nnr schwache Vorspiele der sich vorbereitenden Schlachten
zwischen Kapital und Arbeit. Bisher hat der gesetzliche Sinn des anglosächsi-
schen Stammes noch das Schlimmste abzuwenden vermocht. Aber der Glaube
an die Unparteilichkeit der Staatsgerichtshöfe ist bereits stark erschüttert. Die
Zeit wird kommen, wo die Arbeiter diese Gerichte ebenso mit ihren Werkzeugen
besetzen, wie es früher die Millionendiebe vom Schlage Tweeds und die Eisenbahn¬
linienerschwindler vom Schlage Firth und Goulds verstanden haben, ihre Ge¬
schöpfe von den bezahlten Horden der Demokratie mittels der Stimmzettel auf
die Richtcrbänke New-Iorks erheben zu lassen. Oder man wird die Arbeiter an
ihrer Herrschaftserringung durch andre Mittel als bloße Spaltung in ihren
Reihen und Bestechung verhindern müssen. Das Grundübel liegt aber oben
wie unten in der verhängnisvollen Einseitigkeit des Lebensinhalts und Lebens¬
zieles, in der maßlosen Jagd nach dem Dollar, in der Abmessung und Ab¬
schätzung aller Dinge und Menschen nach dem brutalen Geldwerte. In einem
Lande, wo der Dollar allmächtig ist, wo „die Sünde, nicht reich zu sei», nur
durch den Eifer gebüßt wird, reich zu werden", sind uneigennützige Arbeiter
für das Wohl des Ganzen selten und unwahrscheinlich. Es fehlt in der reinen
Demokratie das Gegengewicht, der ruhende Punkt, jene ausgleichende, unab¬
hängige Macht der Gerechtigkeit und Billigkeit, die, über den feindlichen Gegen¬
sätzen stehend, sie von Stufe zu Stufe zu versöhnen, die Heftigkeit ihres Zu¬
sammenstoßes zu mäßigen und im Notfall zu brechen vermag.
In der nordamerikanischen Republik herrscht die Selbstsucht in ihrer rohesten
Form. Es handelt sich heutzutage bei dem politischen Treiben nicht mehr
um Politik, sondern um Geld und Geldeswert. Längst hat der Ehrgeiz auf¬
gehört, die Stelle des Gemeinsinns, des Patriotismus zu ersetzen. Die Ämter
stehen nicht mehr dem Begabten, dem Verdienten, sondern nur noch dem Reichen
offen. Die Ernennungen zu den Ämtern, die Kandidaturen haben in Gro߬
städten wie New-Iork ebenso bereits ihre vorherigen festen Preise wie die nach-
herigen sicheren Erwcihluugcn ihre bestimmten Kostensätze.
Man wird vielleicht erstaunt fragen, wie es denn möglich sei, daß eine
solche Herrschaft der Beutepolitiker und ihrer geübten Söldnerbcmdcn von
Proletariern von den anständigen Schichten der Bevölkerung so lange geduldet
wird. Ohne Zweifel giebt es Hundcrttciusende von Bürgern, welche die Ge¬
fahren der sich ausbreitenden politischen Fäulnis erkennen, und namentlich auch
die schlimmen Folgen, die das ekle Bündnis der demokratischen Gewerbepolitikcr
mit den zahllosen Schnaps- und Bierwirtschaften der Großstädte ausbrütet.
Aber statt zu begreifen, daß es der Mangel an feinerer Geselligkeit, daß es
die Unfertigst der gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt ist, die namentlich
bei den Deutsch- und Irisch-Amerikanern die wüste Roheit des Kneipcnlebens
zwar nicht entschuldigen, aber doch teilweise erklären, weiß der puritanische
Eifer des Ungko-Amerikaners sich keinen andern Rat, als dem Verkauf aller
berauschenden Getränke den Krieg zu erklären, und von (undurchführbaren) Ver¬
boten die wunderbare Heilung tief eingerissener schlechter Gewohnheiten und
nationaler Sitte oder Unsitte zu erwarten.
Und indem die republikanische Partei diesen trügender Hoffnungen der
Temperenzler und Prohibitivnisteu verschmitzt Vorschub leistet, um nur ihre
möglicherweise den Ausschlag gebenden Stimmen bei Präsidentenwahlen u. s. w.
sich zu sichern, drängt sie gerade dadurch die Bürger europäischer Geburt, und
darunter namentlich die Deutschamerikaner in das demokratische Lager zurück,
wo sie die Verteidiger der sogenannten persönlichen Freiheit zu sehen wähnen
und von ihren zu bloßen Geschäften gewordenen Zeitungen zu sehen belehrt werden.
Das „deutsche Element" kann unter solchen Umständen keinen sonderlich reinigen¬
den Einfluß ans den trüben Strom des politischen Lebens ausüben. Das
„Hemd" der Bierfreiheit ist ihm näher als der „Rock" des amerikanischen
Bürgers, d. h. als die Beteiligung an der wirksamen Bekämpfung der all¬
gemeinen Verderbnis. Und so tragen die Deutschamerikaner durch ihr eng¬
herziges Verhalten und ihr beschränktes Sonderwesen geradezu zur Stärkung
dieser Korruption bei, die in Tammany Hall-Klubs und andern Leithammel¬
verschwörungen ihre Malepartushöhlen seit Jahrzehnten besitzt und zu bewahren
weiß. Dazu kommt die finanzielle Abhängigkeit dieser Schnaps- und Bier¬
wirtschaften von wenigen großen Brauer- und Schnapsfirmen. Von zehntausend
solchen Wirtschaften in der Stadt New-York sind 1908 im Besitz von 20 Schnaps¬
händlern und Bierbrauern, die Hypotheken im Betrage von 1702136 Dollars
darauf haben. Ferner sind 4710 weitere Wirtschaften mit Hypotheken von
nahezu fünf Millionen belastet. Von diesen Schuldfordemngen besitzt eine
einzige Firma, Bernheimer und Schmidt, sechshundert, der Brauer Ehret nicht
weniger als dreihundert. Man begreift die unwiderstehliche Macht, die in den
Händen dieser Grvßgläubiger liegt. Sie können bei Wahlen die Mehrzahl
der zehntausend Wirtschaften mit einem Male in politische Thätigkeitshcerde in
bestimmter Richtung verwandeln. Ohne Zweifel verdankt der korrupte demo¬
kratische Gouverneur Hill seine Wiederwahl im November der vereinten eifrigen
Unterstützung der New-Iorker Brauer, Schnapshündler und ihrer Wirtschafts-
trabcmten. Hatte er doch im Frühjahr durch seineu Einspruch die hohe Be¬
steuerung aller Schankgcschcifte, welche die republikanische Staatsgesetzgebung
beschlossen hatte, glücklich wieder für das Jahr verhindert. Ein solcher Dienst
mußte belohnt werden, und eine schmutzige Hand wäscht die andre noch
schmutzigere.
Zuletzt steigt auch der Einfluß des Judentums allmählich aus deu Tiefen
auf die politische Oberfläche empor. Es ist kein bloßer Zufall, daß der Agent
Rothschilds, der jüdische Bankier August Belmont (Schönberg) Jahrzehnte lang
der Vorsitzende und Schatzmeister des demokratischen Nationalausschusses seiner
Zeit war. Und es ist jedenfalls eine Wirkung dieser langjährigen Bekleidung
des wichtigsten Amtes in der Leitung der demokratischen Partei, daß sein Sohn,
Perry Belmont, schon vor Jahren nicht allein von einem der korrupten Tammany
Hall-Wahlbezirke New-Aorks in den Kongreß geschickt und an die Spitze des
Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten erhoben wurde, sondern daß er
eben jetzt, trotz der Niederlage seiner Partei, als Vertreter der Vereinigten
Staaten an den stolzen Hof von Madrid gehen wird, um dort einige Monate
wenigstens seiner Eitelkeit Befriedigung zuzufächeln. Der Sohn des Roth-
schildschen Finanzjuden wird von den ältesten Adelsgeschlechtern Europas auf
gleichem Fuße mit den übrigen Gesandten der Großmächte empfangen werden
müssen!
ut der Sommer verrann. Fritz kehrte wieder in die Hauptstadt
zurück, und bei seiner Abreise hatte der Pfarrer finster und ver¬
schlossen dreingeschaut. Jetzt saß er einsam in seiner Studierstube
und wurde grau und alt. Um seine Augen legten sich tiefe
Furchen, und der Ausdruck seines Gesichts war nicht mehr so
fest und bestimmt, es war, als spielte sich ein heimlicher Kampf in seinem
Innern ab und machte ihn unsicher.
Lise ging still und bleich im Hanse umher. Der Vater konnte oft schweigend
dasitzen und sie bekümmert anschauen. Plötzlich stand er auf, trat an sie heran
und streichelte ihre Wange mit einem Ausdruck, als sehnte er sich darnach, ihr
etwas zu sagen, aber es kam stets das eine oder das andre dazwischen und
schloß ihm den Mund. Dann wandte er sich wieder ab und ging nicht wie
sonst gen Osten, sondern nach Westen auf den Friedhof. Dort konnte er
stundenlang sitzen, den Blick in die Ferne gerichtet, auf das unendliche Meer,
in das die Sonne versank.
Unten im Garten schössen die jungen Bäume wilde Triebe, Nesseln und
Unkraut wucherten üppig, und die Blumen der Pfarrerin erstickten darunter.
Der Herbst zog grau und regnerisch ins Land, und der Winter folgte un¬
gewöhnlich früh.
Fritz kommt »ach Hause! sagte der Pfarrer eiues Tages kurz vor Weih¬
nachte». Was meinst du, könnten wir zum Feste nicht eine kleine Gesellschaft
geben? Unsre Nachbarn werden uus allmählich ganz entfremdet, niemand besucht
uus mehr, wie damals, als die Mutter noch lebte. Und dann — du und Fritz,
ihr seid beide noch so jung, und hier ist so our'g, worüber ihr euch freuen könnt.
Er war mit dem Briefe in der Hand ins Zimmer getreten, und seine
Worte klangen so unsicher, als würde es ihm schwer, sie herauszubringen.
Lise blickte hastig zu ihm auf, aber ihre Augen füllten sich mit Thränen, und
ehe sie sie noch getrocknet hatte, war der Vater schon aus der Thür.
So wartete man im Pfarrhause auf das Weihnachtsfest, lind in Küche
und Keller herrschte emsige Geschäftigkeit. Aber Lisch Thränen fielen wie Reif
auf die Vorbereitungen, und der Himmel sah gar nicht milde drein. Mehrere
Tage vor Weihnachten war der Schnee in dichten Flocken auf Feld und Haide
gefallen, hatte sich wie ein Wall um den Pfarrhof gelagert und sich bis an
den Hügel aufgetürmt, wo er in unabsehbaren Massen über dem Kirchhofsteich
lag. Und oben in der Luft wurde es immer finstrer, die Wolken zogen sich
mehr und mehr über dem Pfarrhause zusammen, und unten rollte die tiefe
Stimme der Nordsee wie ein hohles, drohendes Brausen.
Und auch über dem Weihnachtsabend, der im Pfarrhause gefeiert wurde,
lagerten schwere Wolken. Lise ging hin und her und machte sich weit mehr
zu schaffen, als sie nötig hatte, nur um nicht allzuviel darüber nachzudenken,
wie beklommen ihr ums Herz war. Fritz saß schweigend da und starrte das
ergraute Haupt an, und es war ihm, als riefe ihm eine innere Stimme zu,
seine Arme um den Hals des Vaters zu schlingen und wie ein Sohn mit ihm
zu reden. Aber die Wolke war zwischen ihnen, und er blieb sitzen. Er ver¬
stand nicht das Antlitz des Vaters, aus dem eine wunderliche Unruhe lag, und
hinter dem ein heimlicher Kampf tobte. Einmal übers andre ging es wie
ein Schimmer von einem Entschluß über das Antlitz des Pfarrers, und er
verschwand in seine Kammer, aber jedesmal, wenn er wiederkam, sah er nur
noch verschlossener aus. Vielleicht hätten ihn Fritz und Lise verstanden, wenn
sie ihn nur in seiner Kammer hätten sehen können.
Dort lag eine alte Bibel auf seinem Tische mit dem Namen seiner Frau
auf der ersten Seite, und er stand da und schaute den Namen so sehnsuchtsvoll
an und wünschte von ganzem Herzen, daß er zu Fritz hineingehen und die
Bibel in seine Hand legen könnte und ihm am heiligen Abend sagen: Das ist
die Bibel deiner Mutter, mein Junge! Der Gott deiner Mutter ruft dich durch
diese Bibel!
Aber das mußte so einfach und so zart gesagt werden, so wahr und so
innig, wie es nur eine Mutter selber sagen kann. Wie konnte er das, er, der
sein Lebenlang nur in herrischem Ton geredet hatte? Die alte Bibel blieb
liegen, wo sie lag, und der Pfarrer trat wieder mit der Unruhe und dem
Widerstreit im Herzen ins Zimmer.
Da kam ein Windstoß und rüttelte das Dach des alten Pfarrhauses, daß
alle Fugen krachten, und der Schnee peitschte gegen die Fensterscheiben.
Es wird eine böse Nacht geben, sagte der Pfarrer, und seine Stimme
klang müde und verzagt. Geht zu Bette, Kinder! Und Gott gebe uns allen
ein gesegnetes Weihnachtsfest.
Er küßte Lise und legte die Hand auf Fritzens Kopf, und dann ging
er hinaus.
Lise, sagte Fritz, du kannst mir's glauben, der Vater sehnte sich heute
Abend nach der Mutter, und mir geht es ebenso.
Lise lehnte abermals ihren Kopf an Fritzens Brust, lächelte unter Thränen
und sagte: Sie ist hier bei uns, Fritz! Mir ist es den ganzen Abend gewesen,
als sei sie mitten unter uns. Fröhliches Weihnachten, Fritz!
Der Bruder nickte, und dann ging jedes auf seine Kanuner und schlief
den Schlaf der Jugend.
Der Pfarrer aber konnte keine Ruhe finden. Die Nacht senkte sich herab,
und das Unwetter türinte sich um ihn auf, und er blieb noch immer in seinem
Zimmer sitzen. Vor ihm lag ein zur Hälfte beschriebener Bogen. Es war
seine Festpredigt. Er hatte dabei angefangen, aber bei den Worten: „Siehe,
ich verkündige euch große Freude" hatte er die Feder aus der Hand gelegt.
Die große Freude war ihm abhanden gekommen, und es war ihm unmöglich,
Worte zu finden, um ihr Ausdruck zu geben. Sein Auge fiel auf die alte
Bibel, die vor ihm aufgeschlagen lag, und auf die erste Seite schrieb die Feder
von selber die Worte, die er so gern seinem Sohne gesagt hätte, die ihm aber
nicht über die Lippen hatten kommen wollen. Lisch Name klang vor seiner
Seele, und seine Feder schrieb ihn einmal übers andre unverdrossen nieder,
ohne daß er es selber wußte. Und das Bild der leeren Kirche, in der er jeden
Sonntag mit heimlichem Sehnen nach seiner Gemeinde gestanden hatte, stieg
wieder vor ihm auf und machte ihm das Herz schwer. Wem sollte er die große
Freude verkünden, wenn er wieder Worte dafür fand? Was sollte er nur
thun, um alles wieder ins alte Geleis zu bringen? Dem alten Mann wurde
so unsäglich einsam zu Mute, eine namenlose Angst überfiel ihn, sein Antlitz
glühte, er erhob sich und rief aus:
Es ist zum Ersticken! Ich muß fort von hier, wo ich mich einschloß mit
meiner Thorheit und meinem Stolz, ich muß hinaus, dorthin, wo es frei und
frisch ist! Ich muß hinauf in das Haus meines Herrn, das ich so schlecht
gehütet habe! Ich muß ihn anrufen in dieser Nacht unter seinem eignen Dache,
ich kann nicht anders! Vielleicht teilt er mir die Freude wieder mit, die ich
Ärmster verlernt habe!
Eine neue Kraft war in den Pfarrer gefahren, als er durch Nacht und
Unwetter über den Hügel dahinschritt, dem Friedhofe und der Kirche zu. Es
war, als wenn Himmel und Erde in eins verschwommen. Der Schnee fegte
von oben und von unten und baute seinem Schritt unaufhörlich Schanzen in
den Weg, aber er rastete nicht. Wie eine Wolke umgaben ihn die Schneemassen,
und das flatternde Licht in seiner Laterne erblaßte; aber der Ostwind erfaßte
ihn und trug ihn widerstandslos aufwärts, bis er sein Ziel erreicht hatte und
in der Kirche stand.
Dunkel und feierlich wölbte sich das Gotteshaus über ihm. Er schritt
den Gang entlang, und in dem unsichern Schein der Laterne ward der
Raum wunderbar tief und groß. Und eins nach dem andern stiegen die
Dinge, die er so genau kannte, aus dem Dunkel auf und redeten zu ihm in der
tiefen Stille.
Dort hing die Tafel mit dem Namen seiner Gattin, mit ihrem Geburts¬
und Todestag, und sie rief ihm ihren Lieblingsspruch zu, deu er selber hatte
darauf setzen lassen: „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig."
Ich glaubte, ich sei ihre Stütze und Stärke, sagte er zu sich. Mein Weib,
die ich seit meiner Jugend geliebt habe, mußtest du von dannen gehen, damit
ich erfahren sollte, wie wenig ich ohne dich auszurichten vermag?
Hoch und ernst ragte die Kanzel vor ihm auf, .und es war ihm, als
richtete sie die Frage an ihn: Wo ist die Gemeinde, die du um mich ver¬
sammeln solltest?
Meine Zornesworte haben sie Vertrieben! ertönte die Antwort in ihm.
War es Amtseifer im Dienste meines Herrn und Gottes, der sie mir auf die
Zunge gelegt hatte? Oder war es mein eigner Stolz und Hochmut?
Alle eure Sorge werfet auf Gott! klang es vom Altar her.
Da kniete der alte Pfarrer nieder und blieb still und gebeugt liegen,
während alle unruhigen Gedanken sich in ihm erhoben und an seiner Seele
vorüberzogen. Und das Unwetter sauste und brauste draußen, als wollte es
die Kirche in ihren Grundfesten erschüttern. Es konnte seinen Kummer nicht
betäuben. Wie sollte er nur seine Gemeinde wiedergewinnen, wie sollte er ihr
morgen die Botschaft verkünden, die ihm für sie anvertraut worden war? Wie
sollte er seine Kinder wieder an sich ziehen und sie zurückführen zu dem
Weihnachtsgotte, jetzt, wo sie sich von ihm gewandt hatten?
Herr, mein Gott! seufzte er. Ich will dir ja so gerne treu dienen. Aber
hier sitze ich allein in deinem Hause, und um mich her ist alles finster, und
ich habe keine Kraft mehr. Lehre mich, Herr, was ich thun soll!
Er erhob sich, um nach Hanse zu gehen, als er aber die Kirchenthür öffnen
wollte, fand er sie verschlossen. Der Wind drang pfeifend von oben herein
und blies ihm eine Schneewolke ins Gesicht, als er sich mit aller Gewalt gegen
die Thür lehnte; aber weiter kam er nicht — er war eingefahren.
Er ließ die Thür los und ging langsam zurück, bis er wieder vor dem
Altare stand, und der rief ihm wie vorhin zu: „Alle eure Sorge werfet auf
Gott!" Da glitt plötzlich ein Lächeln über sein Antlitz, und es war, als wiche
auf einmal alle Unruhe von ihm.
Gott hat mich selber in Gewahrsam genommen, jetzt lege ich meine Bürde
in seine Hand! sagte er und ließ seine Arme herabsinken. Und dann setzte er
sich in einen Stuhl unterhalb des Altars, und ein Ausdruck von Frieden
und sicherten glitt über seine Züge. —
Aber im Pfarrhause träumte Fritz, daß er wieder ein Kind sei und in
der Kirche sitze und die Gestalt seines Vaters in ihrer ganzen Würde und
Macht auf der Kanzel erblicke. Und alle Menschen erhoben sich vor ihm wie
damals, aber in Fritzens Herz hatte ein dunkles Gefühl von Kummer und
Reue der Ehrfurcht Platz gemacht. Und es war Weihnacht, und die Weih¬
nachtsengel kamen auf glänzend weißen Schwingen herabgeflattert. Immer
mehr und mehr, in immer dichtern Scharen schwebten sie herab, und die
Gestalt seines Vaters verschwand vor ihnen, und die Gemeinde verschwand,
und sie zogen ihren Kreis immer enger um Fritz, bis seine Brust beklemmt
ward und der Atem ihm versagte.
Es war dunkel wie zur Nachtzeit, als er erwachte, aber der Druck wollte
nicht von ihm weichen^ und sein Atem ging schwer wie im Traum, und um
ihn her herrschte nächtliche Stille. Als er aber das Licht angezündet hatte,
sagte ihm die Uhr, daß es schon hoch am Tage sei, und vor den Fenstern
lagen dichte Schneemassen und drohten die Scheiben zu zerdrücken.
Wir sind eingefahren — hier ists wie in einem Grabe — ich muß Luft
haben! rief Fritz und sprang auf. Wenige Minuten später war das Haus aus
dem tiefen Schlaf aufgerüttelt, und verwirrt stand man sich gegenüber und
starrte sich an. Noch größer aber wurde die Verwirrung, als Lise aus
dem Schlafzimmer des Pfarrers kam und berichtete, der Vater sei nicht
da, sein Bett stehe unberührt. Wo war er? Auch im Studirzimmer suchte man
vergeblich.
Einen Gruß von ihm fanden sie freilich dort. Die Bibel lag aufge»
schlagen auf dem Tische: „Meinem lieben Sohne Fritz am Weihnachtsabend!"
stand dort von der Hand des Pfarrers geschrieben, und die Schrift war noch
frisch. Und dann las Fritz die Worte, die seinem Vater am Weinachtsabend
nicht über die Lippen gewollt hatten, und er neigte das Haupt darüber. Rings¬
umher lagen lose Blätter, und von ihnen allen sah Lise ihren Namen auf¬
tauchen, und jedesmal war ein liebevoll ermahnendes Wort hinzugefügt, es
war, als hätte es der Schreiber nicht zart und liebkosend genug sagen können.
Zu oberst lag die zur Hälfte beendete Predigt, die ihnen gleichsam mit der
Stimme des Vaters zurief: „Siehe, ich verkündige euch große Freude!" Und
da war es Fritz und Lisen, als hätten sie ihren Vater niemals gekannt, als
hätten sie sich niemals so nach ihm gesehnt wie jetzt. Wo sollten sie ihn nur
suchen?
Als sie einander noch darnach fragten, ertönte ein leiser Klang, und es
schallte wie eine Antwort zu ihnen hinüber. Hörst du, sagte Fritz, das ist die
Kirchenglocke. Jetzt läuten sie das Weihnachtsfest ein.
Dann muß der Vater dort sein, rief Lise eifrig ans. Sie läuten nicht,
ehe er da ist.
Der Schall kommt von oben, erwiderte Fritz, also muß dort Luft sein.
Komm, Lise!
Und wirklich! Von oben her kam Luft. Das Wetter war klar und still
geworden, und ans den Dachfenstern heraus konnte man die weite Haide blendend
weiß im Schein der Weihnachtssonne liegen sehen. Der Schnee breitete sich
wellenförmig darüber ans, aber in der Nähe des Hauses turnte er sich zu
mächtigen Schanzen auf, die bis an den Rand des Daches reichten.
Und gleich hohen Bergen lag der Schnee bis an den Hügel heran, der
Wind hatte ihn zu tausenderlei phantastischen Formen zusammengetrieben, und
die Kirche auf dem Gipfel des Hügels lag zur Hälfte begraben, während die
Schnecmasseii rings umher blitzten und glitzerten und vom Turme her das
Geläute der Glocke erschallte.
Der alte Pfarrer läutete das Weihnachtsfest ein, und diesmal hörte es
die ganze Gemeinde, und von allen Ecken und Enden kamen die Leute herbei¬
geströmt. Hurrah! rief Fritz vom Dache aus über deu Schnee hinweg, die
Mütze schwenkend und auf die Kirche zeigend. Hurrah I antworteten sie alle,
und damit war das Einverständnis zwischen dem Pfarrhause und der Gemeinde
wieder hergestellt, und das schaffte Eifer und verlieh Kraft hüben und drüben.
Die Gemeinde kam von unten und arbeitete sich einen Weg durch die trennende
Mauer, und aus dem Pfarrhause kämpfte man sich unverdrossen nach unten
durch, und so begegnete man sich auf halbem Wege und reichte einander durch
die gefallene Scheidewand die Hände. Und dann gings den Berg hinauf mit
Fritz an der Spitze, aber ehe sie es noch bemerkt hatten, war Otto Blein mitten
unter ihnen und schritt an Fritzens Seite einher, der eifrigste von allen, wie
es von jeher zu sein pflegte. Und das that not, denn es war viel aus dem
Wege zu räumen. Schritt für Schritt kämpften sie sich über den Kirchhofs¬
steig durch und hinweg über die Gräber. Der Weihnachtstag ging zur Neige,
und es begann bereits zu dunkeln, als sie den Eingang erreichten.
Da öffnete sich die Thür, und die Gemeinde strömte hinein, Männer
und Weiber, Junge und Alte, Kopf an Kopf, bis die Kirche so voll war, daß
niemand mehr Platz finden konnte, ganz wie vor Jahren, als der Pfarrer
jung und glücklich war. Aber oben in der Kirche stand er selber vor dem
Altar, als hätte er schon lange dort gestanden und auf sie gewartet, und
schweigend zeigte er auf die Stühle, und in seiner ganzen Erscheinung lag etwas,
das den Lärm verstummen machte und die Gemeinde veranlaßte, sich stille
niederzusetzen.
Er hatte die Altarlichter hinter sich angezündet, ihr Schein fiel auf seine
Gestalt, und Fritz mußte unwillkürlich an seinen Weihnachtstraum denken. Aber
es war keine schlanke, selbstbewußte Gestalt, die sich jetzt vor ihm erhob. Demütig
stand sie oben, und wunderbar gealtert sah das Antlitz des Vaters aus, aber
ein tiefer Friede leuchtete daraus hervor, und heiße Daukesthränen rollten über
seine gefurchten Wangen herab, als er seine Gemeinde gleich einem wachsenden
Strome kommen und sich um ihn scharen sah.
Und nun wurde Gottesdienst in der alten Kirche gehalten, zwar ohne
Talar und Meßgewand, aber die Gemeinde dachte noch daran, als schon mancher
andre Gottesdienst gehalten und wieder vergessen war. Und die Gemeinde schloß
sich dem Pfarrer an, als er seine Hände faltete und betete: „Herr mein Gott
und Vater! Du hast alles gut hinausgeführt. Eine Mauer hatte sich um mich
aufgetürmt, und ich selber hatte mit thörichten Händen daran gebaut, und die
Mauer trennte mich von dem, was du mir gegeben hast. Ich war vereinsamt
und stand hinter der Mauer und sehnte mich nach den Meinen, und sie wußten
es nicht, und ich hätte die Mauer gern niedergebrochen, aber die Kräfte ver¬
sagten mir. Da lehrtest du mich, die Hände wie ein Kind zu falten und meine
Sorge auf dich zu werfen, und nun hast du die Mauer niedergebrochen und
mir meine Gemeinde wieder zugeführt. Und jetzt bringe ich die Botschaft, die
du mir anvertraut hast: „Siehe, ich verkündige euch große Freude: Gott will
die Last auf sich nehmen, ihr selbst sollt frei und ledig sein, er will aus Liebe
für euch eure Sünden tragen! Ehre sei Gott in der Höhe!"
Als aber der Pfarrer die Bibel zur Hand nahm und das Evangelium
verlas und anfing, es ihnen auszulegen, da war ein neuer Klang in seine alte
wohlbekannte Stimme gekommen, und der knüpfte die zerrissene Kette Glied
für Glied wieder zusammen. Die ganze Gemeinde hatte sich erhoben und wünschte
ihrem alten Pfarrer Gottes Frieden und ein fröhliches Weihnachtsfest, während
er mit behenden Antlitz durch die Kirche schritt.
An diesem Abend versammelte sich eine fröhliche Weihnachtsgesellschaft
unter dem Schnee, und die ganze Gemeinde war dabei, und Otto Blein war
ebenfalls mitgekommen. Und es sah fast so ans, als beabsichtigte er, da er
doch einmal gekommen war, fürs erste auch nicht wieder zu gehen; denn als
die ganze Gemeinde sich bereits zurückgezogen hatte, blieb er ruhig da. Fritz
aber saß da und schaute seinen Vater an, bis seine Augen sich mit Thränen
stillten. Dann erhob er sich plötzlich, trat an ihn heran und schlang seine
Arme um seinen Hals — er hatte sich so manchesmal darnach gesehnt, schon
seit seiner frühesten Kindheit.
Vater, sagte er, habe tausend Dank für dein Weinachtsgeschenk! Seine
Stimme ruft mich zu dir!
Und auch uns, Vater! ertönte es hinter ihnen, und anch Lise und Otto
traten an ihn hinan.
Schwer und dicht war der Weihnachtsschnee in diesem Jahre ans das
Pfarrhaus herabgefallen, aber er war auf Engelsflügeln herabgeschwebt, wie
es Fritz im Traume gesehen hatte.
Abermals ist in diesen
Tagen durch die Zeitungen verbreitet worden, daß der Entschluß des Grafen
Schack, seinen Wohnsitz in München aufzugeben und seine berühmte Galerie, die
jedem Besucher offen stand, zu schließen, seiner Ausführung nahe gerückt sei.
Damit wurden allerlei dunkle Andentungen über die Gründe verknüpft, die den
Grafen zu diesem Schritte veranlaßt haben könnten. Da Graf Schack bis jetzt,
wie es früher einmal geschehen ist, diese Nachrichten noch nicht widerlegt hat, darf
mau wohl annehmen, daß es ihm mit seinem Entschlüsse Ernst sei. Solange er
selbst keine bestimmten Erklärungen abgiebt, ist es müssig, auf die von andrer Seite
gegebene Begründung seines Schrittes einzugehen. So viel ist jedoch unbestreitbar,
daß München durch die Entfernung der Schackschen Galerie, da sie eine sehr
wichtige und wertvolle Ergänzung zu der immer noch sehr lückenhaften „Neuen
Pinakothek" bildet, einen schweren Verlust erleiden und jeder Ort, welcher der
Galerie ein gastliches Obdach böte, einen Kunstschatz von auserlesenen Werte
heimführen würde. Inzwischen ist der Versuch gemacht worden, wenigstens die
Erinnerung an diesen Schatz festzuhalten und dadurch den Verlust, falls er wirklich
die Zentralstelle deutscher Kunst treffen sollte, weniger empfindlich zu machen. Der
Münchener Photograph Dr. E. Albert, welcher durch unablässige Bemühungen das
Knpferlichtdruckverfahren neuerdings sehr vervollkommnet und namentlich den
schlimmen Uebelstand der toten, undurchsichtigen Schatten erheblich verringert, anch
die diesem Verfahren anhaftende übergroße Weichheit des Tones gemindert hat, hat
eine auf acht Lieferungen berechnete, neue Veröffentlichung der hervorragendsten
Gemälde der Galerie in Heliogravüren und Autotypien unternommen/) wozu ihn
das berechtigte Vertraue« auf die Leistungsfähigkeit einer Kunst der Reproduktion
veranlaßt hat, die nach den Worten des Prospekts „neben der Unmittelbarkeit der
Potographie die UnVergänglichkeit und malerische Wirkung des Kupferstiches und
der Radirung teilt, ohne wie bei letzteren die Individualität des Schöpfers durch
die Subjektivität des Nachbildners zu schädigen." Wenn sich letztere Bemerkung,
wie kaum anders anzunehmen ist, auf die vor sechs Jahren durch die Gesellschaft für
vervielfältigende Kunst in Wien erfolgte erste Veröffentlichung der Galerie Schack
beziehen soll, so muß doch zu Gunsten dieser geltend gemacht werden, daß die
Schädigung, welche der Individualität des Schöpfers durch die nachbildenden Radirer
zugefügt worden sein soll, nicht gar so groß ist. Soweit die Heliogravüren der ersten
Lieferung des neuen Galeriewerks einen Vergleich mit den Radirungen der älteren
gestatten — es ist dies bis jetzt nur bei fünf Blättern der Fall —, ergiebt sich
aus diesem Vergleiche, daß sich die Radirer mit lobenswerter Gewissenhaftigkeit an
ihre Vorlagen, die doch wohl auch photographische gewesen sind, gehalten haben
und daß sich selbst bei der strengsten Prüfung nur unwesentliche Abweichungen
der Radirungen von den neuen Heliogravüren herausstellen. In zwei Fällen ist
es den Radirern sogar gelungen, aus den Bildern mehr herauszuholen, als die
den Heliogravüren zu Grunde gelegte Photographie vermocht hat, obwohl letztere
hier zu dem höchsten Maße ihres Vermögens angespannt worden ist. So ist es
dem photographischen Apparate nicht geglückt, die tiefen Schatten, die den Mittel¬
grund auf Böcklius phantastischer Gewitterlaudschast mit dem Reiter Tod erfüllen,
lo zu durchdringen, so schwebend und beweglich zu macheu, wie es der Radirer
W. Hecht erreicht hat, und auf Schwiuds „Rübezahl," der durch sein Bergrevier
schreitet, bilden Wams und Kapuzinermantel auf den Heliogravüren eine ziemlich
tote, starre Masse, deren vielfache Gliederung und Fältelung erst aus der Radirung
völlig klar und verständlich wird. Diese Bemerkungen »vollen keineswegs den Wert
der neuen Veröffentlichung herabsetzen, sondern nur das Gleichgewicht zwischen den
Verdiensten der Radirung und der Heliogravüre herstellen. Daß letztere im all¬
gemeinen den Gesamtton eines Bildes sicherer trifft, als die in diesem Punkte
besonders der Subjektivität des nachbildenden Künstlers unterworfene Radirung,
soll nicht bestritten werden, nach dieser Richtung hin liegt der Hauptwert des neuen
Galcriewerks. Es unterscheidet sich von seinem Vorgänger übrigens nicht bloß
durch ein bedeutend größeres Format, sondern auch dnrch eine größere Zahl der
Nachbildungern So bietet die erste Lieferung in Eduard Steinles „Adam und
Eva," A. Feuerbachs „Francesca Rimini," Spitzwegs „Serenade," E. Gerhards
„Löwenhof der Alhambra bei Mondschein," F. Neureuthers „Traum der Rezia,"
Gencllis „Abraham mit den drei Engeln" und Lenbachs „Bildnis des Grafen
Schack" Blätter, die in dem Galeriewerk der Wiener Gesellschaft nicht vorhanden
sind. Da im ganzen fünfundsiebzig Heliogravüren im Format des Textes und vierzig
Textbilder beabsichtigt sind, wird die Veröffentlichung wohl den gesamten Bestand
der Galerie vorführen. — Der „begleitende Text" des Grafen Schack ist für diese
Ausgabe nicht eigens geschrieben, sondern ein wortgetreuer Abdruck seines im
Jahre 1381 bei Cotta in Stuttgart erschienenen und vou uns an dieser Stelle
besprochenen Buches „Meine Gemäldesammlung." Ein Vergleich des bis jetzt vor¬
liegenden Teils des nengedruckten Textes mit unserm Exemplar des ältern Buches
hat ergeben, daß nur auf Seite 6 der erstern ein kleiner, die Charakteristik Genellis
erweiternder Zusatz gemacht worden ist. Die „Grenzboten" haben erst kürzlich ihre
Mißbilligung über ein ähnliches Verfahren bei einer neuen Ausgabe der Geschichte
der griechischen Künstler von H. Brunn ausgesprochen. Wir siud der Meinung,
daß auch hier der in der Innenseite des Umschlags abgedruckte Prospekt die Ver¬
pflichtung gehabt hätte, auf den Sachverhalt aufmerksam zu machen. Irgend ein
Nachteil wäre hierdurch nicht entstanden, da das anziehende Buch des Grafen Schack
erst im Verein mit der Wiedergabe der besprochenen Bilder das volle Verständnis
der künstlerischen Bestrebungen des hochgesinnten Mannes herbeiführen wird.
In den „Bremer Nachrichten" und wahrscheinlich auch
in andern deutsch-freisinnigen Blättern ist neuerdings zu lesen, daß die angesehensten
Organe der nationalliberalen und der konservativen Partei „der objektiven geschicht¬
lichen Darstellung" in der „Geschichte der neuesten Zeit" von dem Gymnasial¬
direktor und Reichstagsmitgliede Constantin Bulle reiches Lob gespendet und das
Buch als eines der besten Handbücher für die Geschichte unsers Jahrhunderts
anerkannt hätten.
Die Grenzboten haben sich eines derartigen schiefen Urteils nicht schuldig
gemacht, die Nordd. Allg. Ztg. hat den Ton als häufig geradezu gehässig bezeichnet.
Es gab eine Zeit, wo der deutsch-freisinnige Reichstagsabgeordnete für
Bremen nationalliberal war, und in diese fällt die erste Auflage seiner Geschichte
der neuesten Zeit. Der Berliner Buchhändler, der die zweite Auflage des Bulleschen
„Geschichtswerkes" gekauft hat, da der ursprüngliche Verleger die vom einseitigsten
politischen Standpunkte aus geschriebene zweite Auflage nicht vertreiben wollte,
druckt nun zur Empfehlung dieser zweiten Auflage auch die Urteile ab, die feiner
Zeit über die erste Auflage gefällt worden sind, ohne dabei zu bemerken, daß sich
diese Urteile auf die erste Auflage beziehen (!). Wir können dies nur als eine
Täuschung des Publikums ansehen und können unsre Mißbilligung eines derartigen
Verfahrens, das wohl bezweckt, zum bevorstehenden Weihnachtsfeste das Werk in
manche deutsche Familie einzuschmuggeln, nicht kräftig genug ausdrücken. Wir
bedauern jedes deutsche Haus, in dem Buttes „Geschichte der neuesten Zeit" in der
neuen Auflage Eingang finden sollte. Wenn man jetzt, nachdem sich der Zoll¬
anschluß Hamburgs nud Bremens vollzogen hat, liest, wie Bulle über die Zoll-
anschlnßverhandlungen urteilt, so kann man sich des Bedauerns, ja des Mitleids
nicht erwehren. Derartiges Räsonnement ist überhaupt nicht mehr als Geschichte
zu bezeichnen.
In der Anzeige meines Schriftchens „Volkstheater und Lokal¬
bühne (Heft 48) erscheint es dem Referenten nicht recht ersichtlich, weshalb ich
polemisch gegen Herrig auftrete. (Pöhnls Volksbühnenspiele sind ja meines Wissens
in den Grenzboten selbst streng abgewiesen worden.) Seite 8 habe ich aber
wörtlich die Stelle Herrigs angeführt, die mir gründliche Verkennung der Bedeutung
unsers mundartlichen Volksschauspiels zu offenbaren schien. Nicht bloß dem Wiener
Volkstheater, sondern der Gegenwart und Zukunft des deutschen Dialektstückes
überhaupt galt demgemäß mein Fürwort. In der Wertschätzung von Raimund
und Johann Strauß kann ich fehlgehen; bemerken möchte ich aber, daß kein
Geringerer als Richard Wagner (Werke, VII, 393) diese beiden als Meister der
volkstümlichen Kunst hervorhebt, und daß Brahms dem Wiener Dialekt-Komponisten
kaum minder wohlwollend gegenübersteht, als Treitschke (Deutsche Geschichte, II,
23 ff.) dem in. E. keineswegs „toten," sondern frisch lebendigen Dichter des
„Verschwenders."
Der Verfasser versucht zunächst Begriff und Wesen des Königtums festzu¬
stellen, prüft dann mit einem Rückblicke auf die letzten Jahrhunderte die Art und
Weise, wie es sich seiner Aufgaben entledigt hat, wobei er findet, daß die fran¬
zösischen Könige sich großer Mißgriffe und Versäumnisse schuldig gemacht und da¬
durch die Monarchie in Frankreich zu Grunde gerichtet, die preußischen aber und
namentlich Kaiser Wilhelm sich große Verdienste um die Gesellschaft erworben
haben, wodurch das Ansehen des Königtums in der Welt in dem sogenannten
Jahrhundert der Revolution wieder hergestellt worden sei. Wir meinen, daß
diese „Historisch-Politische Studie" ohne Schaden ungeschrieben hätte bleiben
können; sie meint es zwar ganz gut und zeugt von einer politischen Gesinnung,
an der sich von unserm Standpunkte nichts aussetzen läßt, aber das Studium des
Verfassers ist weder in die Tiefe noch in die Breite gegangen und hat eben so
wenig neues an den Tag gebracht, wie der Gedanke, mit dem er uns belehren
möchte, irgend welchen Anspruch auf Neuheit hat. Seine Arbeit ist durchweg
oberflächlich, und dazu kommt eine Schreibweise, die sich in landläufigen Zeituugs-
phrasen bewegt und zuweilen zum Schwulst wird — immer ein Zeichen von
Unreife und schwächlichem Wissen und Können. Wir würden das Büchlein gern
wegen seiner löblichen Absicht empfehlen, aber es geht beim besten Willen nicht;
was der Verfasser zu stände gebracht hat, ist wirklich nicht der Rede wert.
Der Versasser kritisirt auf Grund teils bekannter, teils bisher nicht veröffent¬
lichter Zeugnisse eine Anzahl von Urteilen der Schrift „Aus meinem Leben und
meiner Zeit" über Personen, Vorgänge und Verhältnisse während der schleswig¬
holsteinischen Erhebung, namentlich die Darstellung des Tages von Eckernförde, weist
überzeugend nach, daß jene Urteile teils ganz, teils halb unrichtig sind, und daß
dies auch von dem Berichte des Herzogs über deu Eckernförder Sieg gilt. Der
Herzog war in der Stunde der Entscheidung gar nicht an der Stelle, wo diese
erfolgte. Noch am 6. April schrieb er selbst den großen Erfolg dem trefflichen
Benehmen der die Nord- und Südbatterie befehligenden Offiziere und Unter-
offiziere Juugmann und Preußer, sowie der Nassauer Batterie zu. Erst später
verwandelte sich diese richtige Auffassung bei ihm. „Er war ja bei Eckernförde
der Höchstkommandirende gewesen (S. 30), Fürst war er obendrein: was Wunder,
wenn ihn Unkunde oder Schmeichelei in unzähligen Gedichten und Zuschriften als
den Sieger von Eckernförde begrüßte und er Mensch genug war, sich das einreden
zu lassen." Auf die interessanten Einzelnheiten der Beweisführung des Verfassers
können wir hier nicht eingehen. Wir empfehlen den Freunden der geschichtlichen
Wahrheit, sie sich in der Schrift Jansens selbt anzusehen. Für uns waren sie nur
eine Bestätigung dessen, was wir aus guten Quellen längst wußten und auch in
diesem Blatte mit hinreichender Deutlichkeit ausgesprochen haben, als wir den ersten
Band des Mcmoirenwerks des Herzogs anzuzeigen hatten.
Daß Imsen zu den produktivsten Schriftstellern der Gegenwart gehört, haben
loir, weniger froh als wahrheitsgemäß, seit einer Reihe von Jahren an dieser
Stelle wiederholt hervorheben müssen. Gewiß hat seine Art, rasch zu schaffen und
Gebild an Gebild zu reihen, nichts mit der Phantasie- und seelenlosen Erzählerei
gemein, welche die Feuilletons unsrer Zeitungen und die gähnenden Spalten der
illustrirten und nicht illustrirten Blätter für Haus und Familie anfüllt. Ohne ein
Element poetischer Zeugung, ohne Poetische Anschauung und Stimmung, ohne Mit¬
wirkung seiner rastlos thätigen Phantasie, ja auch ohne ein künstlerisches Ziel schafft
Imsen uicht, und doch kann man sich des Wunsches nicht entschlagen, daß er seinem
Leserkreise und vor allem sich selbst etwas mehr Atem gönnen möchte. Mit einigen
Ausnahmen, die aus der Masse seiner Romane und Novellen in der That hernus-
leuchten, erscheinen die Anfänge, die ersten Teile seiner erzählenden Dichtungen in
der Regel vielversprechender, lebensvoller und bedeutender, als die Durchführungen
und Ausgestaltungen. In einzelnen Fällen mag das an den Erfindungen Jeuseus
selbst liegen, die, allzu gespannt oder phantastisch, eine organisch-natürliche Ent¬
wicklung nicht zulassen, in zahlreichen andern scheint es sich einfach darum zu handeln,
daß die rastlos arbeitende Phantasie des Dichters schon zu einem neuen Gebilde
eilt, ehe das begonnene irgendwie abgeschlossen und in sich vollendet ist, daß Imsen
die Teilnahme an seinen Gestalten verliert. Sowohl in dem zuletzt erschienenen
Romane „In der Fremde" als in dem neuen Romane „Runensteine" liegt der
Glanz eigentümlicher und echt poetischer Erfindung, lebensvoller Stimmung, tiefer
und fesselnder Charakteristik vor allem auf der ersten Hälfte. Natürlich fehlt es
auch der zweiten Hälfte, namentlich in den „Runensteinen," nicht an ergreifenden
und künstlerisch vollwichtigen Situationen, die vollste Poesie, der geheime Reiz
gleichmäßiger, ohne Sprünge und abenteuerliche Wendungen fortschreitender Hand¬
lung ist aber doch hauptsächlich im ersten Teile zu finden.
Auf einen fremdartigen und doch deutsch-heimischen Boden versetzt der Dichter
seine Erzählung, die im Beginn dieses Jahrhunderts, in den Jahren der napoleo-
nischen Fremdherrschaft über Deutschland spielt. Die ostfriesischen Inseln, die damals
in weltferner Einsamkeit lagen und viele Jahre hindurch so gut wie sich selbst über¬
lassen blieben, geben den eigenartigen, vortrefflich geschilderten, düstern Hintergrund,
von dem die Vorgänge wie die Gestalten sich plastisch abheben. Der Dichter nennt
das Eiland nicht, das er meint, Norderney und Wnngerooge hat er nicht im Auge,
und für den poetischen Wert der Erzählung ist es zuletzt gleichgiltig, ob er Borkum,
Zuist oder eine andre ostfriesische Insel meint. Die Vorbedingung der Dinge, die
sich ereignen, der Meuscheu, die sich vor uns entwickeln sollen, ist die Weltferne,
die dürftigste Einfachheit, der gleichmäßig ruhige Gang des Lebens in dem Fischer¬
dorfe eines solchen Eilands, der Name thut nichts zur Sache. Die Erfindung Jensens
stellt ein paar der äußersten im Menschenleben möglichen Gegensätze dar, sowohl
der asketische, glaubenseifrige Pfarrer Reinaert Meynolts, der durch seine über¬
irdische Herzlosigkeit sein Weib Drina in den tiefsten Schlamm stumpfsinniger Ge¬
meinheit hinabdrückt, als Frau Walmot Tjemen, die mit der Kraft ihres Erbar¬
mens nicht nur ihren herabgekommenen Mann wieder menschlich emporrichtet und
das aus den Wogen gerettete Kind Freda mit einer Liebe umfaßt, die alles giebt,
was Mutterliebe geben kann, stehen an den Grenzen der Menschheit. An den
Grenzen und unter den besondern Voraussetzungen der weltabgelegenen Dünen¬
insel erscheinen denn auch die Erlebnisse wie die Entfaltungen der drei Kinder¬
charaktere, die das Schicksal auf dieser Sandscholle zu einander geführt hat, voll¬
kommen glaubhaft. Das Idyll, das mit dem ersten Zusammentreffen der beiden
Mädchen Teta und Freda und des Knaben Uwe Folmars beginnt, rechnen wir
zu dem Schönsten und Tiefsten, was die neuere Dichtung hervorgebracht hat.
Der Bau des Flosses bei der Überschwemmung der Landenge, welche die beiden
Teile des Eilands mit einander verbindet, der erste Besuch Tedas und Aweh im
Hause Walmot Tjemens, der Gang der Kinder über die Matten zu der kleinen
Insel, die nur von Möven bewohnt wird, und das Kinderspiel ans diesem Robinson¬
eilande, der gefährliche Rückweg bei der heranschwellcnden Flut, das erste leise Zer¬
würfnis zwischen Teta und Freda nach dem Vorzüge, den Uwe der letztem bei
diesem Rückwege gegeben, das alles ist mit sichern und feinen Zügen und mit der
vollen poetischen Stimmung wiedergegeben, die Imsen zu Gebote steht. Die leise
Schürzung der Fäden ist vortrefflich, die spätere Lösung der Knoten hie und da
etwas gewaltsam. Die Uebergänge nicht sowohl der Handlung als vielmehr der
psychologischen Entwicklung bekommen gegen den Schluß der Erzählung hin etwas
sprunghaftes. Die äußern Ereignisse steigern den längst dumpf empfundenen leiden¬
schaftlichen Haß Tedas gegen Freda in jäher Weise und verhcißlichcn ihren Charakter
bis zur Rohheit. Daneben erscheinen die Vorgänge zu gedrängt und nicht mehr
in dem Maße überzeugend, wie im Beginn des Romanes. Ein phantastisch aben¬
teuerliches Element, das gewisse Teile der Handlung mehr wirren Träumen als
thatsächlichen Begebnissen gleichen läßt, ein Element übrigens, das beinahe in keinem
der größern Romane Jcnsens ganz fehlt, drängt sich auch in die Erzählung „Runen-
steine" hinein. Die gut erfundene Schlußkatastrophe gelangt nicht zu so anschaulicher
Ausgestaltung wie das Frühere, der Dichter fällt in deu prosaischen Berichtston,
über den er sich allerdings wieder in schönen Einzelheiten erhebt. Die Einkleidung
des Ganzen in die Begegnung mit Holting Terborg (ehedem Uwe Folmars) und
der Kenntnisnahme von dessen Aufzeichnungen hat eben auch nur den Vorteil zum
Schlüsse, über manches berichten und Betrachtungen anstellen zu können, was den
Gang objektiver Darstellung wesentlich verlängert haben würde. Die Leserwelt,
die wenig gewöhnt ist, im Romane ein dichterisches Kunstwerk zu erblicken, die
im Grunde nur darnach fragt, ob der Schriftsteller spannend und interessant zu
erzählen wisse, wird alle diese Bemerkungen überflüssig finden und in ihrem Hunger
nach Neuem für das neueste Buch dankbar sein. Aber die Mehrzahl von Jensens
Schöpfungen und unter ihnen auch wieder die „Runensteine" haben ein Recht, mit
anderm Maßstabe gemessen zu werden.
Zu keinerlei Bedenken, aber auch zu keinem tiefern und bleibenden Eindrucke
geben die „Vier Weihnachtserzählungen" Anlaß. Sie sind alle ans jener Stimmung
der deutschen Volksseele geboren, die an die fröhliche Weihnachtszeit gern das
Beste des Lebens: glückliche Schicksalswendungen, versöhnende Begegnungen, heil¬
same Selbsterkenntnisse und Entschlüsse anknüpft und im Strahle der Christbaum-
kerzcn einen Abglanz göttlichen Lichtes erblickt. Die besten unter ihnen, die echt
weihnachtlichen Hauch und Duft haben, sind „Eine Weihnachtsfahrt" und „Ein
weißes Haar," Erzählungen, über die der pessimistische Naturalist ein Hohngelächter
aufschlagen wird, die aber im Grund und Kern ihrer Empfindung und Erfindung
vollkommen lebenswahr und lebenswarm sind. Etwas gespenstig und ein wenig an
die verhallte Weise E. T. A. Hoffmanns anklingend ist die Schlußerzählung „Eine
Schachpartie," während die Erzählung „Droben im Wald" hart an der Grenze
des Möglichen steht. Im Vortrag zeichnen sich alle durch eine liebenswürdige Ein¬
fachheit aus. Diese Einfachheit ist uns eine Bürgschaft, daß auch in größeren
Schöpfungen Imsen sein letztes Wort noch nicht gesprochen hat.
Es wird darauf aufmerksam gemacht, daß die erste Nummer des neuen Jahrgangs erst am
3. Januar ausgegeben wird, also eine Woche ausfällt.