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]]>Die
Zeitschrift
für
Politik, Literatur und Kunst.
Jahrgang.
Drittes Vierteljahr.
Leipzig.
Verlag von Fr. Wilh. Grunow.
^387.
le Kenntnis des öffentlichen und privaten Rechtes von England
ist auf dem Festlande erst in dem letzten Menschenalter größer
geworden. Die Ursache hiervon zu ermitteln würde zu weit führen,
befremdend bleibt es immer, daß das Recht dieser mächtige«, durch
Jahrhunderte den Handel und die Welt beherrschenden Nation
selbst für ihre germanischen Vettern ein Buch mit sieben Siegeln war. Nicht
wenig hat zu dieser Unkenntnis beigetragen, daß das englische Recht sich am
meisten frei von dem römischen und kanonischen Vorbilde gehalten hat und von
seinen uralten germanischen Grundlagen aus nach einer Verbindung mit der
fränkischen mittelalterlichen Feudalität seinen eignen, dem dritten Beobachter nicht
leicht verfolgbaren Weg gegangen ist. Ernst Schuster, der Verfasser eines so¬
eben über die bürgerliche Rechtspflege in England erschienenen Buchest)
giebt in der Einleitung desselben von dem englischen Rechte eine sehr treffende
Charakteristik: „Es ist nicht systematisch nach einem übersichtlichen Grundriß
aufgebaut; es gleicht vielmehr einem jener Häuser, wie man sie überall, aber in
England besonders, an vielen Orten sieht, bei welchen an ein unscheinbares
Hauptgebäude Flügel und Ausbau, Stockwerk und Turm angefügt wurden,
wie es gerade die Laune, der Geschmack oder die Bequemlichkeit des jeweiligen
Bewohners gebot. Der Engländer liebt die Kontinuität der ihn umgebenden
Verhältnisse zu sehr, um das Haus niederzureißen; er ist zu thätig, um sich
mit dem alten Zustande zufrieden zu geben. Jemand, der ein solches Haus von
außen anschaut, bleibt über seine innern Einrichtungen vollkommen im Dunkeln,
selbst das Studium der Baupläne würde ihn wenig aufklären. Erst wenn er
mit jedem inneren Raume vertraut ist, das Ziel jeder Treppe und die Richtung
jedes Fensters kennt, wird er sich in dem Labyrinth zurechtfinden."
Diese hier so meisterhaft geschilderte Schwierigkeit, das englische Recht
kennen zu lerne», hat fast bis in die letzten Menschenalter dahin geführt, daß
man sich in Deutschlnud damit begnügte, aus zweiter Quelle zu schöpfen, und
lange Zeit dasjenige als englisches Recht betrachtete, was von den Franzosen
als solches geschildert wurde. Einer der vorzüglichsten Vermittler dieser Kenntnis
war Montesquieu, und es ist bekannt, welches Unheil nicht nur in seinem eignen
Vaterlande, sondern auch bei uns die von ihm in England angeblich vorgefundene
Dreiteilung der Gewalten und die in den Wahlen begründete Volkssouve-
ränität angerichtet hat. Erst im zweiten Drittel dieses Jahrhunderts stieg die
deutsche Wissenschaft zu den englischen Quellen selbst hinab, und die Unter¬
suchungen von Mittermeier und Glaser über den englischen Strafprozeß, von
Gneist über das englische Staats- und Verwaltungsrecht haben in Deutschland
auf diesen Gebieten zu völligen Umwälzungen in Theorie und Gesetzgebung ge¬
führt. Die späteste Bearbeitung hat der Zivilprozeß erfahren; seitdem der
Schweizer Nüttimmm im Jahre 1851 eine nicht umfangreiche Skizze vou dem
englischen Zivilprozeß gegeben hat, ist dieser Teil des Rechtes in Deutschland
nicht weiter beachtet worden. Noch unbekannter wurde das englische Verfahren
seit den großen Gerichtsrefvrmcn, die vom Jahre 1873 eine völlige Neuorgani¬
sation der Gerichtsverfassung herbeigeführt haben.
In neuester Zeit war es zwar üblich geworden, daß einige vermögende junge
Juristen nach Ablegung ihrer letzten Prüfung und im Hinblick ans ihre Ent¬
behrlichkeit im Staatsdienste sich nach England begaben und bei Erlernung der
englischen Sprache mehr oder minder aus eigner Anschauung, mehr noch aus
englischen Büchern, insbesondre aus den Blaubüchern und andern Parlaments¬
berichten, eine Darstellung von einzelnen Zweigen der englischen Verwaltung
und Rechtspflege gaben. Neue Aufschlüsse sind aber in ihren Büchern meistens
nicht zu finden; sie bewegen sich auf Gebieten, die vor ihnen schon Mittermeier,
Glaser und Gneist als erste Pioniere aufgeschlossen haben. An den englischen
Zivilprozeß, an das Genvssenschasts- und Aktienwesen hat sich noch niemand
von den Herren gewagt.
Mit ganz besondrer Freude muß deshalb von den beteiligten Kreisen das
vorliegende Buch begrüßt werden, welches im Anschluß an deutsche Begriffe, in
klarer Übersicht, in einfacher und verständlicher Sprache eine gründliche und
lichtvolle Darstellung der bürgerlichen Rechtspflege in England giebt. Das
Buch umfaßt die Gerichtsverfassung, das Verfahren in streitigen und nicht
streitigen Angelegenheiten und das Konkursverfahren. Der Verfasser giebt bei
den einschlagenden Materien eine kurze geschichtliche Bemerkung und enthält sich mit
Recht des betastenden Hinweises auf die zahlreiche Literatur, indem er nur das
Hauptsächlichste anführt; dagegen unterläßt er nicht, die für das geltende Recht
wichtigen Gesetzesstcllcn anzuführen. Endlich hat man hier doch einmal ein
wirkliches und klares Bild über die bürgerliche Rechtspflege Englands, und daß
wir es in diefer schlichten Form, in dieser gedrängten Übersicht und praktischen
Art haben, ist in der That ein großes Verdienst, durch welches der Verfasser
sich den Dank vieler erworben hat. Außer der römisch-juristischen Technik sind
die technischen Ausdrücke in keiner andern Gesetzessprache in solchem Umfange
vorhanden wie in der englischen; sie sind aber auch nirgends so in Fleisch und
Blut des Volkes übergegangen wie in England. Der Mangel ihrer Kenntnis
erschwert dem Gebildeten das Lesen der Zeitungen und einer zahlreichen Literatur,
er macht es dem Rechtsgelehrten schwierig, in den Geist eines juristischen Falles
einzudringen und englische Gesetze genau zu studiren. Der Versasser hat diesen
Gesichtspunkt besonders berücksichtigt und nicht nur im Laufe der Darstellung
jedesmal die technischen Bezeichnungen hervorgehoben, sondern auch noch ein
besondres Register derselben dem Schluß seines Buches angefügt.
Kann sich somit aus dem Buche Schusters jeder, der an der englischen
Rechtspflege Interesse hat, der gebildete Laie, der Theoretiker wie der Prak¬
tiker, insbesondre auch der Rechtsnnwalt und der Kaufmann, gut unterrichten,
so bietet das Werk auch vom Standpunkte des Gesetzgebers Anlaß zu wichtigen
Erwägungen. Gerade die Unbekanntschaft mit dem englischen Recht giebt vielfach
Publizisten bei Bekämpfung deutscher Einrichtungen Anlaß, auf angeblich eng¬
lische Muster zu verweisen, und für gewisse doktrinäre Philister genügt schon
eine solche Behauptung, um das englische Recht als eine Verwirklichung der
freiheitlichen Richtung gegenüber den reaktionären Bestrebungen der vater¬
ländischen Regierung zu betrachten. Für den englischen Zivilprozeß ist durch
das vorliegende Buch fortan der Schleier zerrissen. Jedermann wird sich jetzt
selbst ein Urteil bilden können. Für die Kritik des mündlichen Verfahrens in
Deutschland ist es von besondrer Wichtigkeit, zu erfahren, daß der — angeblich
in England erfundene — Grundsatz der Mündlichkeit in den Zivilprozessen auf
ein sehr bescheidnes Maß herabgesetzt und durchaus nicht in dem Umfange wie
in der deutschen Zivilprozeßordnung durchgeführt ist. Die Kritik, welche der
Neichsgcrichtsrat Bähr in Kassel an die Bestimmungen der letztern angelegt hat,
findet eine neue Rechtfertigung in dem englischen Verfahren. Dieses schließt
sich viel enger an den aufgehobenen, von Bähr mit recht verteidigten preußischen
Prozeß an. In England beruht das bürgerliche Prozeßverfahren auf den
Klageschriften; nur das, was in ihnen vorgetragen ist, bildet im großen und
ganzen den Gegenstand der mündlichen Verhandlung und verschafft den Parteien
diejenige Rechtssicherheit, daß ihre Behauptungen vom Gericht auch gewürdigt
werden, wie sie die deutsche Zivilprozeßordnung zum großen Schaden der Par¬
teien entbehrt. Eigentümlich ist es, daß das Nichterpersvnal, d. h. diejenigen
Personen, welche den eigentlichen Rechtsstreit durch ihr Urteil entscheiden, sich
auf die wenigen Mitglieder der obersten Gerichtshöfe in London beschränkt
Abgesehen von den konkurrirenden Gerichten in den Grafschaften ist eine Be¬
wältigung der Prozesse durch eine so kleine Zahl nur dadurch möglich, daß
eine ganze Reihe von Handlungen des Prozesses von dem juristisch gebildeten
Bürecmpersonal erledigt wird, sodaß in den Händen der letztem eine Reihe von
Geschäften liegt, welche nach deutschen — oder wenigstens frühern preußischen —
Begriffen von dem Richter zu erledigen ist. Für die Zwangsvollstreckung besteht
eine besondre Behörde. Ein Anwaltszwang scheint nicht vorhanden zu sein,
ebenso auch die Zustellung nicht außerhalb der Funktionen der Gerichtsbehörde
zu liegen. Es wäre wünschenswert, wenn der Verfasser über diese Punkte in
einer späteren Auslage genauere Aufschlüsse erteilte, und ebenso wenn er an¬
gäbe, wie hoch sich die Kosten eines Prozesses belaufen. Was in dem Buche
S. 192 ff. angegeben ist, gewährt kein Urteil darüber, ob der ans dem Fest¬
lande gegen den englischen Prozeß erhobene Vorwurf der Kostspieligkeit be¬
gründet ist.
Dem Leser wird es lieb sein, etwas über die Person des Verfassers zu
erfahren. Dieser lebt in England (London) und ist der Sohn deutscher Eltern;
er hat in Deutschland seine Gymnasialbildung genossen, ist aber dann in London
in das väterliche Bankgeschäft eingetreten und Mitinhaber desselben geworden.
Er ist in juristischen Dingen ein Autodidakt, der, um seiner Begabung für Juris¬
prudenz und seinen Neigungen zu juristischen Studien zu folgen, neben seiner
kaufmännischen Beschäftigung seit Jahren Jurisprudenz treibt und sich schon
durch andre Veröffentlichungen in deutschen Zeitschriften auf dem juristischen
Gebiete ausgezeichnet hat. Es ist dies eine Erscheinung, wie sie nur auf eng¬
lischem Boden gedeiht, dort aber eine Reihe glänzender Vorbilder aufzuweisen
hat. Daß der Verfasser bei uus seine gerechte Würdigung erfahren hat, ist
daraus zu ersehen, daß der größte Kenner des englischen Rechtes in Deutschland,
Rudolf Gneist, es nicht verschmäht hat, zu dem Buche des Verfassers ein em¬
pfehlendes Vorwort zu schreiben. Wir können nur wünschen, daß der Verfasser
uns auch noch andre Gebiete des englischen Rechtslebens in gleich vollendeter
Weise erschließen und sich dem juristischen Berufe gänzlich widmen möge, da er
dazu mit einer hervorragenden natürlichen Begabung klares Urteil, tiefe Gründ¬
as Studium der Geschichte und die eigne Lebenserfahrung haben
mich belehrt, daß nicht nur die Münzen zwei Seiten haben, sondern
auch alle andern Dinge, auch die Menschen, ihre Handlungen und
Zustände. Es wird daher gestattet sein, vielleicht nützlich und
und für manchen tröstlich, unsre wirtschaftlichen Zustände anch
einmal auf der Kehrseite, die nicht gerade obenauf liegt, zu betrachten.
Wenn ein ruhiger Beobachter Bücher, Zeitungen und Broschüren liest,
wenn er den Verhandlungen der Parlamente folgt und sonst ein Ohr hat für
die zahlreichen Äußerungen. wie sie von Korporationen, Vereinen und andern
Organen über unsre wirtschaftlichen Zustände ausgehen, so müßte er nach diesen
Quellen die Überzeugung gewinnen, daß wir uns nicht nur in einem Zustande
wirtschaftlichen Stillstandes befänden, sondern geradezu in vollem Rückgange,
er müßte glauben, daß der Volkswohlstand ernstlich bedroht sei, daß sür unsre
Kultur bedenkliche Befürchtungen nicht abzuweisen seien.
Die Arbeiter klagen über Mangel an Arbeitsgelegenheit und ungenügende
Löhne; die Handwerker erkläre», dein Druck der kapitalistischen Produktionsweise
nicht länger widerstehen zu können; die Industriellen leiden an Überproduktion
und ungenügendem Absatz; der Handel ist im Rückgange begriffen und sieht in
den vielen Tausenden seiner Gehilfen, die er nicht zu beschäftigen weiß, ein
neues Proletariat heranwachsen; die große Klasse derjenigen, die sich dem Dienste
des Staates und der Gemeinde widmen, ist bei weitem größer als das Be¬
dürfnis, und auch in diesen Kreisen spricht man von einem entstehenden oder
gar bereits entstandenen Proletariat.
Und nun gar die Landwirtschaft! Sie läßt — groß und klein — den
ängstlichsten Notschrei ertönen, sie kann nicht vor der Konkurrenz von Amerika,
Indien und China bestehen, ja die zur Erzielung der Feldfrüchte aufgewendeten
Kosten werdeu nicht mehr durch den Erlös gedeckt; der Bauer geht zu Grunde,
der größere Besitzer verarmt, und weil ja der Staat meist auf der Landwirt¬
schaft beruht, so muß er durchaus und mit allen Mitteln helfen!
Alle diese Klagen werden durch zahlreiche und zuweilen recht anschauliche
Thatsachen belegt und begründet; die Statistik, diese Magd aller Ansichten und
Behauptungen — denn wer beriefe sich nicht auf sie! — wird zu Hilfe gerufen,
nicht immer ohne Erfolg, und die vereinigten Stimmen aller klagenden Berufs¬
klassen erschallen so laut und vernehmlich, daß alle, die nicht durch selbstische
Interessen mißleitet sind, daß Wissenschaft, Vereine, Korporationen, Gemeinden
und Staat der verlangten Hilfsleistung sich nicht mehr entziehen können, daß
sie auf Heilmittel sinnen müssen, die das Übel heben oder doch erleichtern
sollen.
Wenn aber unser ruhiger Beobachter seinen Blick abwendet von den Büchern,
Zeitungen und Broschüren, und wenn er sein Ohr verschließt vor den Ver¬
handlungen der Parlamente und sonstigen mündlichen Erörterungen, wenn er
statt dessen hinaustritt ins praktische Leben, wenn er mit offnen Augen um
sich schaut, wenn er die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleicht, so regen
sich ernste Zweifel in seinem Gemüte, ob es denn wirklich so schlecht stehe um
die Gesellschaft. Er fragt sich, ob nicht der Fortschritt augenscheinlich, ja un¬
aufhaltsam sei, ob nicht der Ruin nnr scheinbar oder doch vereinzelt sei, und
ob uicht aus seinem Schütte bereits die Keime neuen, frischen Lebens aufge¬
sprossen sind.
Wer vermöchte in der That zu leugnen, daß auf alleu Gebieten die
gewaltigsten Fortschritte gemacht worden sind! Behagen und Genuß haben
sich über viel größere Kreise verbreitet, die Volksernährung hat sich verbessert,
die mittlere Lebensdauer hat um einige Jahre zugenommen. Gar manche Ge¬
nüsse und Vergnügungen sind jetzt Kreisen zugänglich, die sonst davon ausge¬
schlossen waren. Für den öffentlichen Gesundheitszustand ist besser gesorgt,
man weiß die Menschen vor Cholera, Blattern und Hundswut zu schützen, mau
beschränkt die Seuchen unter dem Viehstände, man eilt den Schiffbrüchigen mit
staunenswertem Erfolge zu Hilfe, und so vieles andre. Tausende von Per¬
sonen und Vereinen sind in allen denkbaren Gebieten bestrebt, Not und Elend
zu lindern, die Menschenfreundlichkeit ist eine allgemeine Tugend und ihre Be¬
thätigung fast ein Sport geworden.
Es wäre wahrlich der würdige Gegenstand eines größern Werkes, diese
hier nur angedeuteten Vergleiche zwischen den Zuständen der Gegenwart und
einer Vergangenheit ausführlich zu schildern, die noch in dem Gedächtnis jetzt
lebender Personen ist. Es würde ein Bild entstehen, freilich nicht ohne manchen
tiefen Schatten, aber im wesentlichen doch glänzend und einer hoffnungsvollen
Zukunft eutgcgenleuchteud.
Oder wäre dies alles nur trügerischer Schein, bloßes Blendwerk?
Es giebt wohl kein besseres Zeichen für das Wohlergehen eines Menschen,
als wenn ihm nach Befriedigung seiner Bedürfnisse von seinem Einkommen
etwas übrig bleibt, was er als eine Ersparnis zurücklegen kann. Ebenso gewiß
ist es, daß jeder, dessen wirtschaftliche Lage sich verschlimmert, zur Deckung des
Ausfalls zuerst nach seinen Ersparnissen greift. Es wird daher kein Fehlschluß
sein, wenn wir sagen, daß der Stand und die Bewegung der Ersparnis eines
Volkes ein sehr sicherer Maßstab für das Fortschreiten oder den Rückgang seines
Wohlstandes bilde.
Ich will mich nun nicht in das Meer von Zahlen verlieren, welche die
ganz besonders zuverlässige Statistik für die Sparkasse» aller Kulturländer
bietet. Ich spreche nur von Deutschland, und anch da nur von den allgemeinen
Ergebnissen, und führe einzelne Zahlen nur zur Andeutung als Beispiele an.
Die Zunahme der Einlagen ist stetig und allgemein, sie beträgt z. B. im König¬
reich Sachsen jährlich 6 bis 7 Millionen Mark, dagegen nahmen die Rück¬
zahlungen ab, sie betrugen in Sachsen 1883 93 Prozent der Einzahlungen,
aber 1885 nur 38 Prozent, Das Gesamtguthaben der sächsischen Einleger
war 1884 rund 408 Millionen und hatte seit 1881 um 58 Millionen zuge¬
nommen. Von je hundert Einwohnern jeden Alters und Geschlechtes waren
38 (37,5) als Einleger bei den Sparkassen beteiligt, und auf jeden Einwohner
Sachsens berechneten sich 1884 137 Mark Guthaben bei den Sparkassen.
Ähnlich, wenn auch nicht überall so glänzend, steht das Ersparniswesen
in allen übrigen deutschen Staaten. Ich will nur noch anführen, daß Preußen
allein 1883 1880 Millionen in seinen Sparkassen liegen hatte, und daß die
ältesten Sparkassen nicht über das Jahr 1820 zurückreichen (Dresden 1821).
Doch sehen wir uns weiter um, wieder das Königreich Sachsen als Bei¬
spiel nehmend, da mir dessen Statistik am bequemsten zur Hand ist.
Das Einkommen aus Grundbesitz, Renten, Gehalten und Löhnen, aus
Handel und Gewerben betrug 1885 rund 1288 Millionen, 1880 rund 1071
Millionen, hat also in fünf Jahren um 217 Millionen zugenommen; auf den
Kopf der Bevölkerung gerechnet, beträgt diese Zunahme 45 Mark.
Wenden wir uns von den Sparkassen zur Börse, zu diesem Markte, auf
dem alle erzeugten Werte, die nicht verbraucht werden, als Erübrigungen unter
dem Namen Kapitalien zusammenfließen, um nutzbringende Verwendung zu
suchen. Hier sehen wir das Angebot die Nachfrage fast in riesenhaften und
täglich wachsendem Maße übersteigen. Der Zinsfuß ist für dauernde Anlage
beinahe auf 3^ Prozent, für vorübergehende Anlage anf weniger als 2 Prozent
gesunken. Alle Börsen- und Bankberichte melden von der bedenklichsten An¬
häufung des baren Geldes — kurz, die Erübrigungen sind so groß, daß eine
einigermaßen befriedigende Verwendung schon teilweise im Auslande und bei
ungenügender Sicherheit gesucht werden muß. Fast könnte man sagen: wir
ersticken im eignen Fett.
Nun wende man nicht ein, daß an den Börsen nur das Geld der reichen
Leute zum Vorschein komme. Dies wäre ein großer Jrrtuw- Denn die Börse
ist nur der große Behälter, wo die kleinen wie die großen Ersparnisse zusammen¬
fließen, wie sich die feinsten Wasseradern zu Bächen vereinigen, um sich als
Flüsse und Ströme gemeinsam ins Meer zu ergießen. Die Sparpfennige des
kleinsten Mannes werden durch die Sparkassen an die Börse gebracht, um dort
in Schuldscheinen des Staates, der Gemeinden, in Prioritäten der Industrie
oder in Pfandbriefen und Hypotheken angelegt zu werden. Die sächsischen
Sparkassen allein hatten 1883 rund 85^ Millionen in börscnmäßigen Papieren
und über 295 Millionen in Hypotheken angelegt. Die baierischen Hypotheken-
anstalten bringen jährlich 50 Millionen Pfandbriefe ein die Börse nud haben
deren mehr als 800 Millionen in Umlauf. Die preußischen Sparkassen hatten
1883 1042 Millionen in Hypotheken und 835 Millionen in Wertpapieren
angelegt.
Ich führe dies nur an, um dem landläufigen Irrtume zu begegnen, die
kleinen Leute hätten mit der Börse nichts zu schaffen, dort tummelten sich nur
die reichen Leute, die natürlichen Feinde der Armen. Es sind freilich keine
Höckerweiber, die auf der Börse feilhalten, aber die Waare, welche zu Markte
gebracht wird, kommt überall her, von Großen und Kleinen, so gut wie auf dem
Obstmarkte die Früchte, die bald von der schwieligen Hand eines Kleinbauers
gezogen sind, bald unter der Leitung des Gartendirektors einer fürstlichen Be¬
sitzung.
Es ist indessen nicht zu leugnen, daß alledem, was ich über die Fülle der
Ersparnisse gesagt habe, ernstliche Bedenken entgegen gestellt werden können.
Denn man kann mit einiger Berechtigung behaupten, daß die Überfülle beschäf¬
tigungsuchender Kapitalien durch den Mangel der Unternehmungslust des Wandels,
der Industrie, der Gewerbe hervorgerufen sei, daß ein Teil derjenigen Summen',
welche als flüssiges Kapital auf der Börse Anlage suchen, solche Gelder seien,'
welche aus Handel und Industrie herausgezogen seien, weil sie dort entbehrlich
geworden sind.
Nun giebt es ja Zeiten, wo das umgekehrte Verhältnis waltet, wo der
Trieb, neue Werte zu schaffen, so lebhaft ist, daß nur wenige an das eigentliche
Zurücklegen denken, wo fast alle das, was sie erübrigen, was sie ausborgen
können, zur Erweiterung ihrer wirtschaftlichen Thätigkeit verwenden, und es
mag fraglich sein, ob die Überfülle unbeschäftigten Kapitals oder die hohe Er¬
regung des Unternehmuugsgeistes den bindenderm Zustand bezeichnet. Aber
so viel ist doch gewiß, daß eine Periode, wo solche Kapitalfülle vorhanden ist,
wie in unsern Tagen, keine Periode des Verfalls des Volksreichtums genannt
werden kann.
Auch das geistige und körperliche Befinden des Volkes hat sich verbessert.
Unterricht genießen alle. Die Zahl derer, die weder lesen noch schreiben können,
ist auf einen verschwindenden Bruchteil gesunken, in Deutschland giebt es deren
fast nur da noch, wo die Vereinzelung der Wohnstätten dem Schulbesuch un¬
überwindliche Schwierigkeiten bereitet. Höhere Bildung ist allgemein zugänglich;
anch werden geistige Genüsse von mancherlei Art den Unbemittelten wenigstens
in den Städten vielfach geboten.
Für das körperliche Gedeihen des Volkes wird in bedeutendem Umfange
Sorge getragen. Man denke nur an die neue Wissenschaft der Gesundheits¬
pflege, die sich fortwährend und überall in das praktische Leben umsetzt. Mir
Luftverbesserung in Schulen und Fabrikräumeu, wie in den Straßen der Städte
wird eifrig Vorkehrung getroffen, gesundes Wasser wird allen zugeführt, Leibes-
Übungen werden in den Schulen getrieben, den schwächlichen Kindern iverden
Luftkurorte und Heilquellen zugänglich gemacht, und die Gesetzgebung bestrebt
sich, für Alter, Krankheit und Verunglückung wirksame Vorkehrungen zu treffen.
Auch auf dem Platten Lande machen sich die Fortschritte bemerkbar. Wie
anders ist das Aussehen eines Dorfes heute gegen ehedem! Ein stattliches
Schulhaus überragt wie ein Schloß alle andern Gebäude. Die Häuser sind
auch in entlegenen Dörfern besser, die Fenster größer geworden. Vor dem
Dorfe prangt nicht selten ein mit allen Gerüsten versehener Turnplatz für die
Dorfjugend. Zustände wie in Frankreich, wo infolge der Thür- und Fenster¬
steuer es noch 340000 Bauernwohuuugen giebt, die nur eine Thür, aber kein
Fenster haben, sind Deutschland fremd.
Auch die Volksernährung ist besser geworden. In Sachsen hat sich der
Fleischverbrauch in den letzte» vier Jahrzehnten wesentlich gehoben. 1846 kamen
auf den Kopf 15 Pfund Rindfleisch und 21,2 Pfund Schweinefleisch. 1885
23.9 Pfund Rindfleisch ,und 40.8 Pfund Schweinefleisch. Der Salzverbrauch
hat sich in den letzten zehn Jahren von 12,6 Pfund auf 13.1 Pfund vermehrt.
Die Einfuhr der Salzheringe ist seit 1870 von 2,5 Kilo ans 2,85 gestiegen,
und die Bewohner des deutschen Reiches sind imstande, für Wein 240 Millionen,
für Bier 971 Millionen, für Branntwein 501 Millionen, zusammen 1712 Mil¬
lionen jährlich auszugeben. Auch kann trotz allen Ausnahmen im einzelnen
nicht geleugnet werden, daß die Arbeitslöhne im großen und ganzen ge¬
stiegen sind.
Preußen hat seine Roheisenerzeugung von 1868 bis 1880 verdoppelt.
Wenn die dabei beschäftigten Arbeiter nicht in dem gleichen Verhältnis vermehrt
worden sind (von 813000 auf 382000), so ist dies die Wirkung der erhöhten
Leistung durch verbesserte Maschinen.*)
Obwohl der Bergbau in Sachsen von 495 Gruben im Jahre 1870 nur
noch 316 im Jahre 1883 im Betriebe hatte, so waren dabei doch 29000 gegen
26000 Arbeiter beschäftigt, aber sie produzirten auf den um mehr als ein
Drittel verminderten Gruben einen Wert von 36 Millionen gegen 28 Millionen
im Jahre 1870. Es erzeugte also ein Arbeiter 1870 1074 Mark, 1883
1257 Mark. In Frankreich sind nach amtlichen Quellen die Löhne der land¬
wirtschaftlichen Arbeiter in den zwanzig Jahren von 1860 bis 1880 um 20 bis
100 Prozent gestiegen, mit Ausnahme der südlichen und südwestlichen Landes¬
teile, wo die Verheerungen der Neblaus viel Elend erzeugt hat.
Da ich keine gelehrte erschöpfende Arbeit liefern will, sondern überall nur
Andeutungen geben, über Eindrücke berichten will, so mag das vorstehende
genügen. Sicher ist, daß ein fleißiger Arbeiter heute besser lebt, mehr Lebens¬
genusse hat, als der Mittelstand vor hundert Jahren. Die allgemeinen Zustände
haben unbestreitbar höchst bedeutende Fortschritte gemacht, die auch dem Ärmsten
zu Gute kommen. Leben und Eigentum sind besser geschützt, das Recht wird
besser, schneller und wohlfeiler verwaltet, die Willkür der Staatsgewalt ist
gebrochen, die Grausamkeit der Strafjustiz ist beseitigt, die Verkehrsmittel stehen
auf einer zuvor nie geahnten Hohe. Dies alles sind gleichsam Zahlungen aus
dem allgemeinen Kulturkapital, das für alle angesammelt ist und dessen Mit-
genuß jeder seinem Vaareinkommen zuzurechnen hat. Dabei darf man nicht
vergessen, daß die Bevölkerung Europas seit hundert Jahren von 145 ans
350 Millionen gestiegen ist, daß also 200 Millionen mehr Menschen an jenen
Segnungen Teil nehmen.
Bei diesen tröstlichen Ausblicken darf man freilich folgendes nicht außer
Acht lassen. Wir haben bisher nur immer auf das Allgemeine, auf die
Gesamtheit gesehen. Das Verhalten des Einzelnen innerhalb der Gesell¬
schaft ist vielfach anders geworden. Es kaun nicht geleugnet werden, daß
der Kampf des Einzelnen um seinen Anteil an den Errungenschaften der
modernen Kultur größer, mühevoller, aufreibender geworden ist als ehedem.
Ein Mißerfolg des einzelnen Kämpfeis, der auf seine alleinigen Kräfte an¬
gewiesen ist, tritt leicht ein, wenn diese Kräfte nicht ausreichen oder das Glück
ihm entgegen ist. Das war ehedem anders, als die Gesellschaft noch nicht in
ihre Atome aufgelöst war, als ihre Gliederung in einzelne Gruppen, Korpo¬
rationen, Gilden, Zünfte einen Kampf aller gegen alle fast zur Unmöglichkeit
machte. Der Einzelne, der Edelmann, der Kaufmann, der Krämer, der Hand¬
werker fand damals Schutz und Stütze in seiner Genossenschaft, und Kampf fand
nur zwischen den einzelnen Ständen statt. Wer aber nicht Mitglied eines ge¬
schlossenen Standes war, der Arbeiter, der Tagelöhner, fand keine Beachtung,
er war der selbstsüchtigsten Ausbeute der allein rechtsfähigen Körperschaften
erbarmungslos überlassen. Es ist gar nicht zweifelhaft, daß die Lage dieser
letzter» Klasse nicht nur rechtlich, sondern auch thatsächlich jetzt unendlich viel
besser ist als vor hundert Jahren.
Wenn man noch weiter zurückgeht, bis ins sechzehnte Jahrhundert, so
wird der Unterschied zu Gunsten unsrer Zeit so grell, daß wir uns — trotz
allem noch bestehenden Elend — wegen der gemachten Fortschritte gewiß be¬
glückwünschen dürfen. Man denke ein die Zustände der Bauern im fünfzehnten
Jahrhundert. Die Beschwerden, welche die Bauern, ehe sie zu den Waffen
griffen, erhoben, waren in den berühmten sechzehn Artikeln zusammengefaßt. Sie
wollen — so heißt es — nicht hegen noch jagen, Wasser und Vögel sollen
frei sein, Jäger und Forstmeister sollen keine Gewalt über sie haben; sie wollen
den Herren keinen Mist fahren, nicht mähen, schneiden, hauen, Hen machen, Fuhren
thun. Der schweren Markt und Handwerk wollen sie enthoben sein. Keiner,
der verbürgen kann, daß er sich zu Recht stelle, soll mehr getürmt und ge¬
blockt werden; man soll keine Steuer und Schätzung verlangen, sie sei denn
All Recht erkannt. Sie wollen ohne herrschaftliche Erlaubnis heiraten dürfen.
Die Habe des Selbstmörders soll der Herr nicht nehmen, der Herr soll über¬
haupt keinen Bauern beerben, so lange noch Verwandte da sind. Wenn der
Vogt einen Bauern wegen Frevels belangt, so soll er ihn ohne gute Beweise
nicht strafen dürfen. Auf welche Zustände lassen diese Beschwerden schließen!
Auch wisse» wir, daß sie noch um vieles schlechter wurden, als der Aufstand
der Bauern niedergeworfen war und die rachcdnrstigen Herren keinen Wider¬
stand mehr fanden, weder von unten, noch von oben. Als dann der dreißig¬
jährige Krieg Deutschland verwüstete nud entvölkerte, als die Lahmlegung der
höchsten Reichsgewalt durch den westfälische» Frieden auch die letzte Mög¬
lichkeit eines Schutzes gegen die Willkür der zahllosen großen, kleinen und
kleinsten Herren beseitigte, da war das Elend des Volles allgemein und
unsagbar.
Zinn Heile der Menschheit erwuchs uach dem Plane der Vorsehung ans
jener wüsten Souveränität der Dynasten eine ne»e Staatsweisheit, welche der
Sorge für das Volkswohl Raum gab und allmählich die Wege chüele, die
freilich nicht überall ohne Gewalt eröffnet werden konnten. Die Lage des
Volkes wurde besser Aber noch in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts
verstand man unter Volk nur die ehedem privilegirten geschlossenen Stände.
Die französische Revolution von 1830 wurde von den Bürgern gemacht, die sich
ihre Stelle im Staate neben Adel nud Thron erkämpften, an den vierten Stand
dachten die doktrinären Leiter des Aufstandes nicht, und kaum eine andre Zeit
ist so unempfindlich gegen die Leiden des Volkes gewesen, wie die beiden Jahr¬
zehnte der Julidhnastie. Nicht anders verhielt es sich bei den Umwälzungen,
welche die Einheit Italiens bewirkte»; auch hier hat das Bürgertum allein
geerntet, und für den vierten Stand gab es kaum eine dürftige Aussaat. Wie
anders ist das geworden!
Die Geschichte zeigt, daß zu, allen Zeiten ein Teil des Volkes als nicht
zur bürgerlichen Gesellschaft gehörig betrachtet worden ist, sondern als bestimmt,
der eigentlichen Gesellschaft zur Erreichung ihrer Zwecke zu dienen. In den
alten Despotien des Ostens war sast das ganze Volk dem Despoten und seiner
Adels- und Priesterkaste mit Leib und Seele dienstbar; in der römisch-
griechischen Welt waren es die Sklaven, in der feudalen Zeit die Leibeignen
und Hörigen, die, als außerhalb der Gesellschaft stehend, der schrankenlosen Aus¬
beutung der herrschenden Klassen überantwortet waren und demgemäß behandelt
wurden.
Man wird annehmen dürfen, daß diese der Ausbeutung preisgegebenen,
von dem Rechte, ja von der sittlichen Gemeinschaft ihrer herrschenden Volks¬
genossen ausgeschlossenen Klassen im Laufe der Zeit immer weniger zahlreich
wurden. Ich glaube behaupten zu dürfen — wenn ich auch keinen statistischen
Beweis zu liefern imstande bin —, daß die Sklaven der römisch-griechischen
Welt an Zahl jene Massen nicht erreichten, welche den asiatischen Despoten
des Altertums ungeheure Tempel in die Felsen gruben, Felsen in Statuen
verwandelten und Pyramiden mit ihren Händen anstürmten. Ebenso waren
die Leibeignen und Hörigen der Feudalzeit an Zahl geringer als die Sklaven
der antiken Welt. Immer neue Schichten haben sich heraufgearbeitet und Auf¬
nahme in das Rechtsleben der Gesellschaft errungen, bis in unsern Tagen kein
Teil des Volkes mehr übrig ist, der sich als rechtlich ausgeschlossen von der
Volksfamilie betrachte» müßte, dem nicht das Recht der Teilnahme an allen
Segnungen der staatlichen Ordnung und der von ihr geschützten Kultur zu¬
gestanden und auch thatsächlich wenigstens einigermaßen gewährt würde.
Freilich giebt es auch heute noch Not und Elend genug, wer wollte es
leugnen; aber der weltgeschichtliche Fortschritt ist doch deutlich erkennbar. Wir
heutigen Menschen betrachten Not und Elend nicht mehr als eine organische
oder gar von Gott eingesetzte Einrichtung, an welche die Hand zu legen ver¬
geblich oder gar ein Frevel wäre. Wir stehen nicht mehr auf dem Standpunkte
jener englischen Geistlichen, welche den Versuch der nächtlichen Beleuchtung
Londons für einen Eingriff in die göttliche Weltordnung erklärten, da Gott
nur den Tag hell, aber die Nacht dunkel geschaffen habe, oder jener bäuerischen
Pfaffen, welche aus ähnlichen Gründen gegen die Feuerversicherung geeifert
haben. Wir erkennen vielmehr in Not und Elend eines Teiles unsrer Mit¬
menschen nur eine Krankheit, einen Krebsschaden am Körper der Gesellschaft.
Heilung und Bekämpfung stellen wir uns zur Aufgabe; werkthätige Nächstenliebe
durchdringt die heutige Gesellschaft, und sie arbeitet nicht ohne sichtbaren Erfolg
nach allen Seiten hin an der Ausbesserung der Schäden, welche unsre Gesell¬
schaft entstellen.
Es giebt freilich manche, welche glauben, Not und Elend seien heute ver¬
breiteter als ehedem, ja es sei das, was wir Proletariat nennen, ein Erzeugnis
der modernen Zeit. Einige von diesen glauben, es müsse durch ein völlig
neues System eine neue Gesellschaft begründet werden, andere entsagen pessi¬
mistisch jeder Hoffnung auf einen Zustand allgemeineren Glückes. Allein beide
Parteien irren, ihre gemeinschaftliche Voraussetzung ist falsch. Das Massenelend
ist nicht umfangreicher geworden, sondern nur sichtbarer, bemerkbarer. Wenn
wir jeden Morgen in der Zeitung Berichte lesen über so zahlreiche Verbrechen
und Unglücksfälle, so kommen wir wohl zu dem Ausruf: Um Gottes Willen,
in welch schrecklicher Zeit leben wir, so war es doch früher nicht! Wenn wir
aber genauer nachsehen, so finden wir, daß das eine Verbrechen in London
begangen wurde, das andre in Neapel, ein drittes in Petersburg, in Newyork,
in Sidney, in Valparaiso u. s. w., kurz, daß die Zeitung tagtäglich aus allen
Ecken und Enden der Erde über die vorgefallenen Verbrechen und Unglücks¬
fälle berichtet. Wir sehen dann ein. daß es so schlimm nicht steht, daß nur
unser Überblick großer geworden ist, und daß auch, wenn die Verbrechen und
Unglücksfälle noch so sehr abnähmen, wir doch von einer größeren Menge der¬
selben hören würden, als unsre Vorfahren zu Zeiten, wo Sicherheit und Für¬
sorge sehr übel bestellt waren und das meiste, was vorging, sich allgemeiner
Kenntnis entzog.
Ganz ebenso ist es mit dem Elend. Es gab eine Zeit — und sie ist
uicht allzuferne —, wo in Schwaben Mangel und gleichzeitig in Sachsen
Überfluß herrschen konnte, ohne daß man hier oder dort ahnte, daß es drüben
anders stünde. Das Platte Land oder das Gebirge konnte von Blattern oder
Typhus heimgesucht sein, ohne daß man in der Hauptstadt davon Kunde hatte.
Wenn im Frühjahr die Flüsse anschwollen, so suchte sich jeder, so gut er konnte,
zu helfen; wie es aber oben im Gebirge aussah, davon wußte in der Ebene
niemand. Jetzt melden Telegramme den Wasserstand von Stunde zu Stunde,
und wirksame Vorkehrungen werden getroffen. Früher liefen tolle Hunde im
Lande unbeachtet umher; krankes Vieh wurde geschlachtet, es entstanden Seuchen,
die sich niemand zu erkläre» wußte, die Bevölkerung wurde dezimirt, aber
niemand zählte die Toten, und es dauerte lange, bis man die Abnahme der
Volkszahl bemerkte. Niemand kannte das Elend, welches in seinen Höhlen
unbeachtet herrschte, nur wenige wußten von den unerhörten Zuständen in
Gefängnissen und Irrenanstalten — kurz, es war alles wie mit einem
Schleier zugedeckt, und die wenigen, die etwas sahen, standen vereinzelt, ohne
Zusammenhang, ohne Beziehung zur übrigen Menschheit. Eben darum war
auch das Gemein- und Mitgefühl für die leidenden Nebenmenschen viel weniger
erregt und entwickelt. Ist es nötig, weitläufig zu schildern, wie dies alles
anders geworden ist, seitdem die Presse und der ihr dienende Telegraph alles
und jedes tagtäglich zu allgemeiner Kenntnis bringt, seitdem die entwickelten
Verkehrsmittel, die mündlichen und schriftlichen Mitteilungen aller Menschen
unter einander jedem einzelnen die Kenntnis der Gesamtzustande vermitteln?
Eben darum, weil wir von allem Kenntnis erhalten, was irgendwo unsre
Mitmenschen an Not und Elend, an Drangsal und Unheil betrifft, ist anch
unser Mitgefühl erregter, unsre Teilnahme thätiger, unser Wunsch, zu helfen,
lebhafter geworden.
Und wenn in dem allen eine Veredlung des menschlichen Gemütes erblickt
werden muß, so verdanken wir sie den materiellen Fortschritten, welche von
kurzsichtigen Sittenlchrcrn oft in so thörichter Weise geschmäht werden.
Also — ich wiederhole es — nicht umfangreicher, nur bemerkbarer, sicht¬
barer sind Not und Elend geworden. Schon damit ist eine nicht zu unter¬
schätzende Linderung gegeben. Denn wohin die Kunde der Not dringt, da
öffnen sich die Herzen und hilfreiche Hände. Wir senden Gaben nach Spanien
und Italien, wenn diese Länder durch Wasser, Feuer, durch Erdbeben oder
Seuchen heimgesucht werden, und wir empfangen Gaben selbst von Mitmenschen,
die jenseits des Ozeans leben, wenn wir der Hilfe bedürfen. Wir senden unsre
Gelehrten all die Mündungen des Ganges, um die Entstehung der Cholera zu
erforschen, wir umspannen den Erdball mit meteorologischen Stationen, um
durch Vorausberechnung von Wetter und Wind Leben und Habe der Seefahrer
zu schützen. Wie könnte es möglich sein, daß alle solche auf den verschiedensten
Gebieten entwickelte Thätigkeit nicht zur Linderung von Not und Elend wirksam
beitrüge/")
Wenn ich versuche, die Leser von dem Fortschritte der Besserung unsrer
wirtschaftlichen Zustände zu überzeugen, so darf ich nicht unterlassen, darauf
aufmerksam zu machen, welche mächtigen Hindernisse dieser Besserung gleichzeitig
entgegengetreten sind, und daß der Fortschritt dann um so viel bedeutender er¬
scheint. Eine Reihe von Veränderungen in den gesellschaftlichen Zuständen ist vor¬
gegangen, welche tiefgehende Erschütterungen verursachen mußten, welche ganze
Klassen ans ihren seitherigen Stellungen verdrängt und fast jeden Einzelnen
genötigt habe», sich ganz neuen Formen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens
anzubequemen. Wenn wir den Gang der Geschichte überblicken, so finden wir
kaum eine andre Zeit, in der die Gesellschaft so gewaltige Umgestaltungen er¬
fahren hätte, wie in diesem Jahrhundert.
Das Feudalwesen, welches die Gesellschaft seit vielen Jahrhunderten be¬
herrscht und bis ins innerste Mark durchdrungen hatte, wurde beseitigt; die
Schranken, welche die einzelnen Stände von einander trennten, wurden nieder¬
geworfen, die Stände selbst verfielen der Auflösung. Die kleinern .Kreise, in
welche Volksteile sich staatlich einigte» und von andern Staatsgebilden trennten,
wurden erweitert, und es entstanden große Nationalstaaten; die Naturalwirt¬
schaft wurde durch die Geldwirtschaft ersetzt, die Handarbeit wurde durch die
Maschine, der Kleinbetrieb durch den Großbetrieb verdrängt; Raum und Zeit
wurden durch Dampf und Elektrizität überwunden. Ehedem waren es kleine
Gebiete, auf welchen die Menschen mit einander rangen, ihre entgegengesetzten
Interessen zum Ausgleiche oder zum Siege brachten. Die Kampfplätze waren
wohl zahlreich, aber sie waren klein und die Heere der Kämpfenden unbedeutend.
Jetzt ist die ganze Welt ein einziges großes wirtschaftliches Schlachtfeld geworden,
und die Heere stehen sich in Massen gegenüber, während zu gleicher Zeit der
Kampf von Mann gegen Mann ein allgemeiner ist. Die bisherigen Verbände
sind gelöst, die gefesteten Stellungen vergangener Zeiten sind zerstört, eine all¬
gemeine Verschiebung hat stattgefunden. Die Gesellschaft ist in Atome aufgelöst,
Ich entnehme einem englischen Schriftsteller, Sir Louis Mallet, folgende sehr be¬
merkenswerte Zahlen. Die Muxvrs (öffentlich unterstütze Armen) betrugen in England
und Wales:
Aber man hat auf jeden imnxor 1384 elf Pfd. Sterl. verwendet, statt mir fünf Pfund im
Jahre 1849!
die neue Verbindungen einzugehen suchen, aber noch nicht gefunden huben —
kurz, wir leben in einer Übergangsperiode, groß und tief, und man kann — ge¬
schichtlich betrachtet — sagen, plötzlich eingetreten, wie niemals eine andre zuvor.
In derselben Zeit hat sich die Bevölkerung Europas mehr als verdoppelt, sie
hat um 200 Millionen Menschen zugenommen.
Ist es unter solchen Umständen zu verwundern, daß nicht alles in Ordnung
ist, daß die Menschen leidenschaftlich erregt sind, daß kaum irgend einer mit
seiner Lage zufrieden ist, daß die große Flut, in der wir uns befinden, hier
ungeheure Reichtümer, dort Massenelend auf einer Stelle angehäuft hat, daß
jene, welche das Glück an eine günstige Stelle gestellt hat, diese mit Eifer ver¬
teidigen, daß andre, denen die Flut über das Haupt zu gehen droht, laute
Klage erheben und alles für erlaubt halten, was ihnen Rettung zu bringen
scheint, daß sie ans jede Lockung hören, die ihnen goldne Berge verspricht?
Dies alles ist wahrlich nicht zu verwundern. Wunderbar im Gegenteil wäre
es, wenn jene ungeheure Umgestaltung des Wirtschaftslebens im letzten Jahr¬
hundert nicht auch außerordentliche Störungen neben ihren segensreichen Wir¬
kungen hervorgebracht hätte. Es wäre wunderbar, wenn es nicht längere Zeit
erforderte, diese Störungen zu beseitigen, und die Konsequenzen der Neuerungen
zu ziehen, welche jetzt noch ungeordnet und ohne Zusammenhang neben einander
liegen. Unsre Aufgabe ist, eine neue soziale Ordnung zu schaffen, welche den
neuen Zuständen entsprechen wird.
Es ist kaum anzunehmen, daß die nächsten sechzig oder hundert Jahre uns
ebenso gewaltige Umwälzungen in der Gütererzeugung bringen werden, wie das
vergangene Zeitalter des Dampfes, der Maschinen, der Eisenbahnen und Tele¬
graphen, aber es ist gewiß, daß wir mit der Einordnung der jüngsten Er¬
rungenschaften in das Gefüge der Gesellschaft vollauf zu thun haben werden;
es ist gewiß, daß wir, um dieser Aufgabe zu genügen, mit vielen Vorurteilen
werden brechen müssen, daß Ansichten und Überzeugungen, die durch ein hohes
Alter geheiligt erscheinen, aufzugeben sind, und daß bei dieser Arbeit Jrrgänge
und Störungen des Friedens nicht vermieden werden können. Die nächste
Zukunft hat das Material zu verarbeiten, welches die jüngste Vergangenheit
in ungeordneten Haufen hinterlassen hat. Unsre Kinder werden sich dieser Auf¬
gabe nicht entziehen können und, wie es deu erfreulichen Anschein hat, auch nicht
entziehen wollen. Aber kämpfen werden sie müssen, und zwar ebenso gegen
eigne als gegen fremde Vorurteile, Befangenheiten, Leidenschaften, selbstsüchtige
Regungen.
Und wenn diese Kämpfe ausgekämpft sind — was dann? Auch aldann
wird kein paradiesischer Zustand herrschen, auch dann wird es Not lind Elend
die Fülle geben, aber die Menschheit wird sich bewußt sein, einen gewaltigen
Fortschritt nach ihrem Ziele gemacht zu haben, welches Vervollkommnung, nicht
Vollkommenheit ist.
Nach allem, was ich hier gesagt habe, ist dem Svzialpvlitiker seine Auf¬
gabe dahin zu stellen, daß er, ohne im mindesten die großen Errungenschaften
der Vergangenheit z» verkennen, sich von den gegenwärtigen Leiden eines nur
allzu großen Teiles des Volkes durchginge, daß er die Gefahr gewaltsamer
Erschütterungen des Staats- und Gescllschaftsbestaudes vor Augen habe und
begreife, daß dieselben nicht mit bloßen Zwangs- und Schutzmitteln hintanzu¬
halten sind. Er muß trachten, die Schäden zu heilen, gewissermaßen den sozialen
Körper da wieder einzurenken, wo er durch die krampfhaften Bewegungen der
Vergangenheit verrenkt ist. Er muß sich bewußt sein, daß es uns nicht erspart
bleiben kann, die Konsequenzen aus den vorgegangenen Veränderungen zu ziehen,
auch wenn es noch so schmerzhaft sein sollte. Vor allem systematischen aber
muß aufs ernstlichste gewarnt werden. Denn auch auf diesem Gebiete giebt es
keinen Stein der Weisen. Staat und Gesellschaft sind keine Begriffe, mit denen
man logisch operiren konnte — dies führt immer zu Gewalt, Krieg, Guillo¬
tine —, sondern Staat und Gesellschaft sind historisch gewordene Gestaltungen,
an welchen ebendeshalb Zufälliges und Inkonsequentes zum innersten Wesen
gehören.
Aus diesem Grnnde dürfen wir nicht erwarten, daß ein großer Mann als
sozialer Heiland auftreten werde, die Gesellschaft von ihren Leiden mit einem
kühnen Griffe zu erlösen. Wer dies Wagnis begeht, wird mir größeres Unheil
und Verwirrung anrichten. Was uns obliegt, ist unablässige, treue, ernste,
selbstlose Arbeit, um die Widersprüche zu beseitigen, daß Armut dem Fortschritt
auf dem Fuße folgt, daß Überproduktion und Massenelend einander gegenüber
stehen, lind um die große Aufgabe zu lösen, die meiner Ansicht nach vor allem
darin besteht, daß wir die Armen konsumtionsfähig machen.
on National- oder Volkscharakter zu reden ist so allgemein gäng
und gebe, daß man glauben möchte, es könnten über dessen Inhalt
und Bereich keine wesentlichen Meinungsverschiedenheiten bestehen.
Und doch macht die Anwendung desselben mancherlei Schwierig¬
keiten. Denn wenn wir schon die Übertragung des Ausdruckes
Charakter von dem Einzelnen auf die Gemeinschaft eines Volkes ohne weiteres
Bedenken vollziehen und die verschwommene Bedeutung der Volksart oder
Volksseele schärfer begrenzen wollen, so werden wir dem Volscharcikter zwei
Merkmale zuschreiben müssen: er bezeichnet die Eigenschaften des Empfindens
und Wollens — mit Ausschluß derer des Denkens und im Gegensatz zu dessen
rasch wechselndem Inhalte —, und er mißt ihm eine gewisse Zähigkeit und
Dauer bei gegenüber dem Wechsel der Zeit, dergestalt, daß ein Volk durch
solch gemeinsame Eigentümlichkeiten des Handelns wie des Erkaltens den
Anspruch, als Einheit zu gelten, tiefer noch als durch die Gemeinsamkeit der
Sprache rechtfertigen würde. Von vorn herein setzt der Begriff des Volks¬
charakters den des fertigen Volkes voraus, wenn von einem solchen die Rede
ist, das sich erweislich ans verschiedenen Bestandteilen erst gebildet hat, wie
etwa die Spanier und Engländer. Bei ihnen dürfte vor der vollzogenen
Vereinigung auch von Volkscharakter im eigentlichen Sinne nur in Bezug
auf die Bestandteile die Rede sein. So führt uns die Annahme eines Volks¬
charakters auf eine Grundfrage, die sich teilweise mit dem Unterschied zwischen
politischer und Kulturgeschichte berührt; auf die Verschiedenheit aristokra¬
tischer und demokratischer Auffassung, besser Schätzung der heroischen und
der Massenwirkung. Dieser angebliche Unterschied der politischen und Kultur¬
geschichte als der der Thaten und Zustände reicht ja in letztere selbst hinein,
deren Name oft zu einem bequemen Deckschild gemacht worden ist für
viele Dinge, die das bescheidenere vorige Jahrhundert mit dem anspruchslosen
Namen von Belustigungen, Altertümern, Merkwürdigkeiten u. dergl. bezeichnet
hat, welche die Zeit der Arbeitsteilung aus subjektiven Wissensgebieten zu
selbständige» „Wissenschaften" befördert. Demnach lautet die Frage: Sind es
die Heldenthaten, Kriege und Staatengründnngen großer Männer, die die
stumpfe Masse wie weiches Wachs formen? Sind es die Geistcswcrkc und
Erfindungen der Meister der Dichtung und Wissenschaft und Kunst, welche den
Fortschritt der Entwicklung der Menschheit sprungweise erzwingen? Hat also
Dante die Einheit des italienischen Volkes begründet, Luther dnrch seine 95 Sätze
die Reformation und die Kirchenspaltung veranlaßt, Bismarck durch drei Kriege
und glückliche Verträge das deutsche Reich hergestellt? Und kann sich der Deutsche
an der bedrohten Sprachgrenze beruhigt auf die Geistesgröße seines Schiller
und Goethe, seines Kant und Humboldt verlasse», wenn der rührige Gegner
in Unterricht und Predigt seine Mundart einzubürgern sucht? Oder haben
vielmehr diejenigen Recht, welche in innerer Verwandtschaft mit den politischen
Anschauungen unserer Zeit in der Geschichte nnr die Vollstreckung der Ma¬
joritätsbeschlüsse sehen will? die in der Lützowschen Freischaar und der Landwehr
von 1813 die Besieger Napoleons verehrt und dem preußischen Schulmeister
den Sieg von Sadowa zuschreibt? Daß jede vorurteilsfreie Geschichtschreibung
beide Einseitigkeiten vermeiden wird, liegt auf der Hand. Und dies führt zu der
enger gefaßten Frage, wie weit die Völker nur leidend, wie weit sie, wenn nicht
thätig, doch fördernd und drängend oder widerstrebend sich zu ihren Führern
verhalten, Wohl mag darauf die Antwort nach den Anschauungen des Geschicht¬
schreibers oder seiner Zeit verschieden ausfallen, aber mehr noch nach seinem
Gegenstande. Denn unter einem Volke werden wir eben nicht die gleichgiltige
unterdrückte Herde einer orientalischen oder afrikanischen Despotie verstehen
wollen. Fortgesetzte entwürdigende Ausbeutung und Knechtung oder Fremd¬
herrschaft wird den Charakter der Einzelnen und schließlich den des Stammes
oder Volkes brechen und zerstören müssen und Zustände hervorrufen, in welche
nur der Wechsel der Herren Veränderung hineinbringt. Wo man hingegen von
einem National- oder Volkscharakter überhaupt reden kann, muß auch die
Masse der Einzelnen durch das Gefühl der Zusammengehörigkeit verdürbe»
sein, sie muß gleichsam uicht nur Generäle, sondern auch Offiziere und Unter¬
offiziere besitzen und selbst hervorbringen. Und in diesem Sinne darf man einen,
Volke gewiß gemeinsame Eigenschaften und Bestimmtheiten des Willens und
Gemütes zuschreiben, und so lange es in solcher Weise eine Einheit darstellt,
auch eine Fortdauer seiner Eigenschaften durch die Wirksamkeit der Vererbung, der
Erziehung und Nachahmung, ähnlich dem Instinkte behaupten. Ja diese Einheit
der Eigenschaften vermag selbst große Umwälzungen auf Veränderung und
Vertauschung der Sprache zu überdauern. Trotz aller Wanderungen wird man
nicht die Wesensverwandtschaft der biblischen Patriarchen und ihrer heutigen
Vertreter verkennen. Wie genau Cäsars Charakteristik der Gallier noch auf
die jetzigen Franzosen paßt, ist oft genug bemerkt worden.
Ein andrer Einwand gegen die Anwendung des Begriffes Volkscharakter
wäre jedoch noch im Sinne jener wesentlich theologisch beeinflußten Geschichts¬
betrachtung, die in unsern beschränkten geschichtlichen Kenntnissen und Ver¬
mutungen den Ablauf eines vernunftgemäß zu verfolgenden Planes einer be¬
wußten Weltlcitnng nachzuweisen trachtet, die eine zum Ergötze» des Beob¬
achters sich abspielende Symphonie oder ein recht verwickeltes aber sich schließlich
auflösendes Rechenexempel vor sich zu haben glaubt. Die Einteilung nach den
vier dcmielischeu Reichen ist freilich längst verlassen, aber der Glaube an be¬
stimmte Zwecke, Vorbestimmungen und Aufgaben des geschichtlichen Lebens
spukt noch in allen möglichen Formen und Einkleidungen von Lessings Erziehung
des Menschengeschlechtes bis zu dem Glauben, daß das Ziel der Geschichte ein
stetiger Fortschritt, in der Durchsetzung von Ideen die höchste Steigerung der
Kultur und deren gleichmäßige Verteilung zum Genuß sei. Aber wie nahe liegt
es auch, die subjektive Form der Auffassung und nachträglichen Ordnung der
Begebenheiten in die Wirklichkeit hinein zu vbjektiviren! Daß das römische
Reich die Nationalitäten zweiten Ranges verwüsten mußte oder wie mau sich
ausdrückt dazu die „weltgeschichtliche Mission" hatte, um der Verbreitung des
Christentums durch erleichterten Verkehr und Sprachengleichheit Vorschub zu
leisten, ist dann freilich eine vollgiltige Entschädigung für alle Gewaltthaten
und Treulosigkeiten, für die Ströme von Blut und für die herz- und gemut-
lose Erwttrgnng zahlloser tapferer freiheitsliebender Nationen. Denn der Zweck,
richtiger die Folge, versöhnt mit den Mitteln und Opfern der allgemeinen Ordnung
und Sicherheit zur Zeit der Kaiserherrschaft. Ebenso versöhnend ist die Be¬
trachtung, daß die Ureinwohner Amerikas verschwinden mußten vor Missionären
und Bluthunden, um zur Begründung einer höhern christlichen Kultur Platz
zu machen, denn „wie groß auch die Leiden und Bedrückungen der lebenden
Geschlechter waren, Land und Volk wurden durch die Eroberung einem wür¬
digeren Lebensziel entgegen geführt." Für diese Auffassung der Vorgeschichte
ist allerdings die Ausbreitung der Religion, der Kultur und Bildung, der
Wissenschaft und Kunst die Hauptsache — Dinge die doch nicht an sich und für
sich bestehen, sondern nur durch soziale Gliederungen, die sie Pflegen, den An¬
schein selbständiger Fortpflanzungskraft erhalten und immer wieder fast von vorn
anfangen —, für diese Auffassung, welche ihr zugestandenermaßen durch Aus¬
wahl und Beschränkung des Stoffes erst ermöglichtes Lehrgebäude aus der
Not eine Tugend machend mit dem stolzen Namen einer Universal- oder Welt¬
geschichte oder gar Geschichtsphilosophie belegt, erscheinen freilich besondre Eigen¬
tümlichkeiten der Völker, in denen sie selbst ihr Teuerstes und Eigenstes sehen
und verteidigen, nur als untergeordnet und zurücktretend gegenüber den Ge¬
setzen und Bedingungen der Entwicklung der Kultur und Ordnung, fast als
bedauerliches Hemmnis des stetigen Fortschrittes auf das Ideal der Huma¬
nität zu.
Dagegen ist aufs nachdrücklichste jener von aller matten Teleologie geläuterte
wissenschaftliche und poetische Standpunkt zu betonen, wie er sich etwa kurz aus¬
drücken läßt mit den Worten „Am Baum der Menschheit drängt sich Blut' an
Blüte." Für ihn ist die Chronologie nicht ohne weiteres der Fortschritt; die
Formen des Lebens werden Wohl verwickelter und schwieriger zu verstehen, aber
alles Lebens trügt sein Gesetz und seinen Zweck in sich, indem es sich ansieht nach
den Kräften, die es zu seiner Behauptung aufzubringen vermag. Der Kampf uns
Dasein gilt auch für die Völkergeschichte; von dem Maß der Kräfte natürlicher und
geselliger Ausstattung, das ein Volk für die Aufrechterhaltung seiner Eigenart in
die Wagschale zu werfen vermag, hängt seine Selbständigkeit und Dauer ub.
Alle die sogencinuteu Kulturerruugenschaften sind nur ein Nebenprodukt des
Lebens, sie pflanzen sich nicht dnrch eigne Wirksamkeit fort, wenn sie nicht die
Lebenskraft des sie besitzenden Volkes fordern oder wenigstens erhalten. Ihr
Genuß mag den Wert des Einzeldaseins steigern, aber ihre höchste Ausbildung
vermag nicht die Bedingungen ihrer Dauer zu ersetzen. Was heißt sonst
das Wort von einer greisenhafter Kultur und Bildung? Das beweist der
Untergang des römischen Weltreiches oder der fein ausgestatteten griechischen
Bildung.
Auch die moderne Verselbstandnug (Hypostasirung) des Staatsbegriffes
bildet gegen diese Anschauung keinen Einwand. Der Staat ist nicht Selbst-
zweck, höchstens im Sinne der Machthaber, sondern er ist nur die wichtigste
Form des Volkslebens, die Zusammenfassung der Kräfte, die er aber nicht
schafft, sondern nur leitet und verwendet. Wie lange ist es denn her, daß das
Wort Staat in dem veredelten Sinn eines auf nationale Wohlfahrt aus¬
gehenden Gemeinwesens gebraucht wird? Allerdings kaun der Staat als etwas
Höheres, als eine über dem Volte stehende Organisation erscheinen, trotz alles
unangenehm büreaukratischen Beigeschmacks, der dem reinen Begriff in der
Wirklichkeit sich beimischt — dann nämlich, wenn er selbst mehrere Völker oder
Bruchstücke davon umfaßt. Aber man darf des Wortes wegen nicht die ver¬
schiedensten Dinge durcheinander bringen. Das römische Reich ist eben etwas
ganz andres als etwa das persische. Die Ausübung dynastischer Hoheitsrechte
über verschiedene Völker ist etwas anders als ein wechselseitiger Bund von
Staaten oder Gemeinden mit gleichen Interessen. Eine Organisation der Macht¬
mittel, die unter vielen schwachen Stämmen Ordnung schafft und aufrecht er¬
hält, durch Heer und Steuerwesen, kauu notwendig nur bis zu einem gewissen
Grade wohlthätig sein, aber wo sie nicht von einem vorherrschenden Volke ge¬
tragen die Unterdrückung und Ausbeutung zur einzigen Richtschnur hat, wie
das römische oder byzantinische Kaisertum, oder Rußland und Ungarn in der
Gegenwart, wird sie auf den Stillstand und das mißtrauische Abwägen und
auf gegenseitiges Ausspielen der Kräfte angewiesen sein, wie etwa das persische
Reich. Aber in keinem Fall wird der Staat etwas Begeisterndes für die Unter¬
thanen fein und die sittliche Hoheit in Anspruch nehmen können, wie sie die
Verehrer moderner nationaler Staaten für sie als für „Völker als wollende
Personen" in Ordnung finden.
Genug — es wird jedenfalls gerechtfertigt sein von einem Volkscharakter
in dem Sinne zu sprechen, daß damit ähnlich dem Charakter des Einzelnen
die sittlichen und gemütlichen Grundzüge eines Volkes als der Widerhalt seiner
geschichtlichen Schicksale, als das Subjekt seiner Erfahrungen, als Schöpfer
seiner Erfolge und Schlüssel seines Verhältnisses zu den Helden und Führern
wie zu den Feinden bezeichnet sein soll.
Aber wenn man nun auch geneigt ist, dem Volkscharakter einen ma߬
gebenden Einfluß einzuräumen, ist es deswegen auch gerechtfertigt, vou einem
deutschen Volkscharakter für den Verlauf der bisherigen deutschen Geschichte zu
sprechen? Wie lange hat man uns doch versichert, daß wir leine Nation seien,
und anch keine Aussicht hätten es zu werden!
Dem rein anthropologischen Standpunkte gegenüber werden wir Mühe
haben, ein ununterbrochenes Fortwirken altnativnaler Charakterzüge seit dem
Beginn unsrer Geschichte zu verteidigen, wenn sie aufs schärfste den körper¬
lichen Unterschied des germanischen Typus der Urzeit und unsers jetzigen Vvlks-
schlags hervorhebt, wenn sie in dem Unterschiede der Langschädel und Breit¬
köpfe eine namhafte Verdrängung der altgermanischen Bevölkerung dnrch das
Anwachsen der unterworfenen keltischen und slawischen Vorbewohner, oder gar
turcmischer Uransässigcr erwiesen findet. Daß eine so tief eingreifende Mischung
zweier ganz verschiedenen Bevölkerungen auch für die Würdigung des Volks-
charakters den geschichtlichen Zusammenhang in Frage stellen könnte, ist nicht zu
leugnen. Der körperlichen Umstimmung müßte wohl die geistige bis zu einem
gewissen Grade entsprechen. Aber die rein geschichtliche Betrachtung kann ihrer¬
seits so weitgehenden Folgerungen aus körperlichen Veränderungen keinen Anhalt
bieten, besonders so lange die geschichtlichen Grttude genügende Erklärung bieten
für einzelne Abweichungen und Umstimmungen. Nun läßt sich einerseits schon
das Maß fremdbürtiger Beimischung durchaus nicht derart nachweisen, daß mau
von dessen andauernder Nachwirkung reden könnte. Für die Urzeit einen starken
Anteil unfreier und zugleich urgermanischer Bevölkerung anzunehmen, geht wohl
kaum an, liegt auch gar nicht in der Meinung jener Lehre. Daß aber die auf
römischem Gebiete sich festsetzenden Baiern und Alamannen eine irgendwie ge¬
drängte Vorbevölkerung vorgefunden und gelassen hätten, ist nach dem Ver¬
hältnis der Ortsnamen in Abrede zu stellen, besonders gegenüber der Zähigkeit
der thatsächlichen Ausnahmen in Tirol nud Graubünden. Die zahlreicheren
Fluß-, auch Gebirgsnamen laden zu einer Vergleichung mit den indianischen
Namen in Nordamerika ein. Und die alte Bausch- und Bogeubehauptnug von
der slawischen Abstammung der jetzigen Ostdeutschen jenseits der Elbe bedarf
doch auch wirklich keiner eingehenden abwägenden Widerlegung. Und bevor
man in spätern geschichtlichen Umständen die Annahme einer durchgreifenden
körperlichen Nassen- und Vvlksmischuug begründen will, liegt es doch wirklich
nahe, zu überlegen, ob die körperliche Scheidung des altheimischen Typus nicht
wenigstens teilweise durch anderweitige natürliche Einflüsse, Änderung des
Klimas, der Nahrung und Lebeusweise, wie verminderten Aufenthalt im Freien,
Verweichlichung, Gebrauch vou Wein und Gewürzen, Erklärung finden könnte.
Dunkele doch Helles Kinderhaar mit zunehmende» Jahren fast immer mehr
oder weniger; die starre Dauer der Rassenmerkmale, wie sie manche Anthropo¬
logen behaupten, hat auch recht viele Wahrnehmungen gegen sich. Für das
Völkerleben und dessen geschichtliche Betrachtung tritt jedenfalls die Einheit der
Abstammung zurück gegenüber der geistigen Einheit und Entwicklung.
Einen andern Einwand fände die Annahme eines deutschen Gesamtvolks-
charakters in der Zusammensetzung des Volkes ans Volksstämmen, die von
Anfang her scharf getrennt waren. Aber von vornherein sehen wir ab von
jener Reihe germanischer Völkerschaften, die, schon bei Beginn unsrer Geschichte
als Ostgermancn in abweichender Entwicklung begriffen, durch die Ereignisse der
Völkerwanderung der nationalen Zersetzung zugeführt wurden, wenn sie anch,
in neue Völkerverbiudungeu übergegangen, germanische Eigenschaften nud
Charakterzüge auf diese übertragen haben. Beschränken wir vielmehr Name»
und Geltung der Vorfahren auf diejenigen germanischen Stämme, die beim
Zusammenbruche des römischen Reiches in gedrängter Masse die Süd- und
Westgrenze des jetzigen Deutschlands ausfüllten und später auch nach Osten hin
zwischen Elbe und Weichsel die früher von vstgermanischen Stämmen besetzten
Striche wieder erfüllt haben. Ihre gemeinsame Abkunft verbürgt doch bei allen
den Stammesnnterschieden, die von einem Stammescharakter der Sachsen und
Schwaben, der Baiern und Franken reden läßt, noch die Fortdauer ihrer ge¬
meinsamen Eigenschaften; ja ihre Geschichte hat den starken Zug einer durch
die verschiedenartigsten Einwirkungen fortgeführten Vcrähulichung. Und in dieser
Hinsicht hat das deutsche Volk für die Bewahrung seiner Besonderheit, seines
nationalen Charakters den großen Vorteil genossen, mit einer gewaltigen phy¬
sischen Grundlage, mit einem so massenhaften Volksbestande in die Geschichte
und deren Gefahren, in die Bedrohungen seiner selbständigen Entwicklung ein¬
zutreten, wie es bei wenig Völkern stattfand. Denn es ist doch ein wesentlicher
Umstand, der in den weltgeschichtlichen Konstruktionen oft übersehen wird, daß
die hellenische »ut noch mehr die römische Nationalität gerade dnrch die Ans-
trenung ihrer Kultur und Macht, die doch ohne Auswanderung und Um¬
siedlung nicht vor sich gehen konnte, in dem Volksbestande sich so verdünnte
und verflüchtigte, daß schließlich nnr die leere Form der Nationalität übrig
bleiben mußte, trotz der Ausbreitung der Sprache und der massenhaften An¬
ziehung andcrsredender Einzelnen. Hingegen war den Binncngermcmen die
Möglichkeit gewahrt, die völkerverwüsteude Politik des römischen Reiches zu
überdauern und die entfremdeten Vvlksteile immer wieder abzustoßen. Ja die
nationale Lebenskraft reichte hin, durch bloße Volksvermehrung die Gefahr der
Zersplitterung in Stämme und Völkerschaften mit dem Näherrücken der Wohn-
stätten, der Weide- und Jagdgründe so weit zu überwachsen — was selbst den
Römern sich als furchtbarste Fülle der Naturkraft ankündigte —, daß die
Grundlagen der spätern großen Stämme sich ohne alle staatliche Zusammen-
fassung bilden konnten. So konnten auch bei allen Verschiedenheiten der Vvlks-
tcilc unter sich die gemeinsamen Charakterzüge nicht durch die Entfremdung
auseinandergehcndcr Lebensbahnen so verwischt werden, daß es nicht mehr ge¬
lingen sollte, einen über den Stämmen sich behauptenden Vvlkscharcckter dar¬
zustellen.
Als tiefste Eigentümlichkeit des deutsche,, Volkscharakters erschien nun schon
dein römischen Beobachter derselbe Zug, den wir leicht durch die Jahrhunderte
wechselnder Zustände verfolgen, die hohe Selbstschätzung der Persönlichkeit, das
Bedürfnis der Selbstachtung oder der Mannesehre, die jeder sich selbst geben
muß. „Selbst ist der Manu" kann für jene Urzeit der schweifenden Recken
oder abenteuernden Ritter im physischen Sinne des Trotzes und der. Kühnheit
in Gefahren, wie für spätere Zeiten im moralischen Sinne gelten. Doch geht
aus der innern Ehre von selbst auch der Anspruch auf Ehrung hervor, auf
Erweisung der Achtung und Anerkennung, die seit den Römerzeiten und ihren
Dienstesauszeichnuugen dem deutschen Sinne wert geblieben ist, und die Em¬
pfindlichkeit, wenn er sich übersehen vorkommt und zurückgesetzt fühlt. Wohl
darf man in dieser hochgespannter Geltung der Persönlichkeit einen nationalen
Gegensatz sehen zu der theokratischen Gesetzlichkeit des Hebräers, zu der knech¬
tischen Unterwürfigkeit der sonstigen Orientalen gegen die als Götter betrach¬
teten Herrscher, zu dem ausblickenden Gehorsam des Griechen und noch mehr
des Römers gegen seinen Staat und die Götter, die dieser verehrt und
durch Opfer geneigt zu halten zwingt, und gegen die Hoheit der unpersönlichen
Gesetze des Gemeinwesens. Die Freiheitsliebe jener Urzeit, die nnr die lockerste
Form staatsähnlichen Zusammenhaltes ertragen machte und sich kaum vorüber¬
gehend durch gemeinsame Gefahr zu gemeinsamem Handeln gezwungen fand,
spricht noch immerfort in der deutschen Vorliebe für Staatsformen, die den
Einzelnen und lokalen Vereinigungen recht viel Spielraum gewähren; sie lockt
den Bauern, dem Beamten und Steuern immer unheimlich sind, dahin, wo er
von beiden nichts mehr zu sehen erwartet. Die Überspannung des antiken
Staatsbegriffes ist dem deutschen Charakter völlig unfaßbar.
Die Betonung der Persönlichkeit und ihres Rechtes führt von selbst dazu,
auch ander» dasselbe zuzugestehen, zur Rechtlichkeit und Billigkeit, die man
stets als deutsche Tugenden gepriesen und damit auch zur Forderung nationaler
Sittlichkeit gemacht hat. Ju dieser Abkehr von dem verhärteten Egoismus
p'egt eine Erweichung des Gemütes — das Wort ist nicht ohne tiefsten Grund
eigentlich uuübersetzbar. Stets hat mau diese Eigentümlichkeit waltend gefunden
in dem deutschen Verhältnis der Geschlechter, in der Verehrung der Frauen,
wie sie schon dem Taeitus auffiel. Ein scharfer Unterschied gegen orientalische
Haremswirtschaft, die das Weib nur als Lustwerkzcug oder als kluge Ränke-
spinnerin achtet, oder gegen die griechische und römische Auffassung, die
sie in erster Reihe als Mutter rechtmäßiger Kinder hochstellt, im übrigen
aber kaum den Anspruch auf wechselseitige Treue einräumt, eine Folge der
vou jeher bestehenden Sklaverei. Um entsprechende Kulturstufen zu ver¬
gleichen, übergehen wir die Thusnelda und Velleda und die Stellung der
Frau im Rechte und stellen die Briseis und den Achilleus und Agcunemnon
oder Odysseus und Circe und Penelope gegen unsre nationale Gudrun und
Kriemhilde. Erst diese Erhebung der Frau zur gleichgeltenden und gleich¬
begabten Gefährtin des Mannes hat die Form der Monogamie geadelt und der
Geschlechtsliebe höhern Wert für die Empfindung und Aufnahme in die nordische
Dichtung verschafft, aber uicht etwa wegen, sondern trotz des Christentums in
seiner thatsächlichen Ausgestaltung. Im Gegenteil wäre die Verehrung der
Jungfrau Maria im Zusammenhange mit dem ritterlichen Franenkultus eine
unerklärliche Laune, wenn sie nicht aus dieser Wurzel deutscher und als ger¬
manischer verpflanzter Grundanschauung aufgeschossen wäre. Daß auch jetzt
noch etwa gegenüber Romanen und Slawen ein Unterschied in dieser Hinsicht
waltet, daß bei den Deutschen, wie auch den andern germanischen Brüder-
Völkern die Frau sicherer auf die Achtung, bei jenen lieber auf das Gefallen
ihre Stellung gründet, wird wohl eingeräumt werden. Wer für die schwierige
Erklärung der Grundzüge eines Volkscharakters unter andern Gründen auch
eine Anknüpfung an das Klima oder die Landesart nicht verschmäht, in denen
das Volk die Festigung seiner Eigenart gewann, mag vielleicht in dem, was
der eine ein Mehr an Sittlichkeit nennt, nur ein Minder an Sinnlichkeit sehen,
sodaß die rauhe und feuchte Waldlandschaft, in denen das deutsche Volk gereift
ist, jene nationale Keuschheit, die Cäsar und Tacitus rühmt, wenigstens erleich¬
terte. Und mit gleichem Rechte mag man jenen Trotz und jene Kühnheit, die
sich selbst genug ist und auf die eigne gelenke Kraft vertraut, auf die kaltblütige
Gewöhnung an die Gefahren eines waldigen und sumpfigen Jagdlandcs zurück¬
führen, die in langer Folge von Geschlechtern forterbend sich befestigte. Dem
widerspricht auch nicht jener weichere Zug des Gemütes bei aller rauhen Außen¬
seite, den wir behaupteten. Er beweist sich auch in dem Verhältnis der
Sklaverei. Die persönliche Unfreiheit, die dunkelste Seite des hochgepriesenen
klassischen Altertums, hat ja auch beim deutschen Volke Jahrhunderte lang be¬
standen. Wie der Germane der Römerkriegc den Knecht auch verkaufte, so
nahm der Deutsche späterer Zeit vom kriegsgefangenen Slawen das Wort für
den Sklaven. Aber schon Tacitus hebt geflissentlich ihre mildere Haltung
hervor, wie sie den Herrn auf die Jagd begleiteten, ihre Kinder mit denen des
Herrn aufwuchsen — ganz wie noch heute bei den holländischen Bauern des
Kaplandes die Kaffern in Dienstbarkeit stehen. Ihm schwebte dabei die Rohheit
des Römers vor, der in seinem Sklaven überhaupt kaum mehr den Menschen
sah, so sehr ihm dessen Wildling und Geschicklichkeit zu statten kam — wobei er
vielleicht noch dem Griechen einige Zugeständnisse machen mochte —, der noch zur
Zeit ungebrochener nationaler Kraft seine Sklaven im Zwinger hielt, wie das
Tier bei Nacht in Fesseln geschlossen, bei Tag unter der Peitsche knirschend,
der den Entflohenen in den Fischteich als Futter für die Muränen stecken
konnte und im Zirkus Schaaren von Kriegsgefangenen oder aufgezogenen Fechter¬
sklaven zu seiner Augenweide sich niedermetzeln ließ. Was soll uns gegenüber
dieser Wirklichkeit das Gerede eines Cicero von der Gemeinschaft des Menschen¬
geschlechts, was er doch nur griechischen Philosophen nachschrieb? Ganz anders
ist deutsche Art von Anfang an. Mag immerhin die rechtliche Anschauung den
Knecht nur als Sache betrachten, so ist es doch gar nicht ausgemacht, in welcher
Ausdehnung diese eigentliche Knechtschaft bestand. Und bei allen Nachteilen
geminderter Freiheit, wie sich dies in der Folgezeit ausbildete, war das Ver¬
hältnis kein sittlich entwürdigendes — wie hätte es sonst vielfach geradezu auf¬
gesucht werden können? — und selbst als der wirtschaftliche Druck am fühl¬
barsten war, von Grund aus anders gefaßt, als etwa bei den Polen und
Russen oder selbst in dem feudalen Frankreich, wo keltische und römische Be-
trachtuugsweise geltend blieb. Den spätern Gedanken der Menschenrechte oder
der allgemeinen Staatsbürgerschaft wird man mit mehr Mühe an die aristo¬
kratischen Republiken des Altertums anknttpfeu, als aus dem Trieb der ge¬
rechteren und milderen germanisch-deutschen Betrachtungsweise emporgesprossen
glauben.
In demselben Kreise der Billigkeit und Gerechtigkeit, die dem andern dasselbe
Recht zugesteht, das man für sich selbst in Anspruch nimmt, wurzelt das ehren¬
hafte Verfahren gegen den Feind, das Verschmähen von List und Vorteil, das
wir seit den Cimbern immer wieder beobachtet sehen. Es hängt zusammen mit
der nationalen Auffassung des Kampfes als eines Gottesurteils, das; der
Stärkere ist, wer Recht hat. Denn der Germane überhaupt und auch der
Deutsche sann nicht wie der Römer auf die Vernichtung und Auslöschung des
Feindes um jeden Preis; wie einst die Cimbern oder Ariovist Tag und Art
der Schlacht ausgemacht haben wollten, so hält es noch der Ritter und der
Landsknecht für Pflicht der Ehrenhaftigkeit, den Kampf mit gleichem Vorteil zu
gewähren. Deutsche Art hatte es wohl stets verschmäht, uuter dem fliehenden
Feinde das Eis zu zerschießen oder Verwundete und Gefangene schlecht zu be¬
handeln.
Diese gerechte, fast wohlwollende Behandlung des Feindes — man halte
etwa den Waltharius gegen den Achilleus in seinem Verhalten zum Hektor —
vertrüge sich recht gut mit der uralten Tapferkeit und Kampflust, deren Preis
den Deutschen kein Jahrhundert bestritt. Lange Jahrhunderte galt der Kampf
den Deutschen als würdigste Übung und Bethätigung männlicher Kraft. Dem
Germanen der Völkerwanderung war es gleichgiltig, für wen es zum Vorteil
gereiche, bis zum gedankenlosesten Landskncchtstum im Dienste der berechnenden
Feinde feines Volkes; dieselbe Freude an Kampf und Abenteuer um seiner selbst
willen ist das Element des Ritters und das Geschäft des Landsknechtes. Und
wenn auch friedlichere Zeiten die Gelegenheit seltener gemacht haben, in denen
sich die alte Wahrhaftigkeit und Kampfcsfrende als unvcrlorues Erbe beweist,
so ist doch noch dem Bauernburschen der Gegenwart das Raufen mehr Ver¬
gnügen als Körperverletzung, und auf den Universitäten hat sich ein Nest der
Freude an Kampf und Blut erhalten.
In einem gewissen innern Zusammenhange mit jenem Zuge der Gerechtigkeit
und Billigkeit, der die Selbstschcitzuug begleitet, steht wohl auch der Grundzug
der Bedenklichkeit und Vedachtsamteit, der Scheu, fremdes Recht zu verletzen,
der sich so oft zeigt, aber freilich sehr verschieden in den einzelnen Zeiten, und
eigentlich erst großgezogen in Zeiten nationaler Schwäche. Deshalb sei er an
dieser Stelle nur nicht übergangen. (Fortsetzung folgt.)
on Tieren lernen? Ja doch, ja, und nicht bloß von den klugen
Ameisen und Bienen, was uns in der Schule nahe gelegt wurde,
auch von dummen Tieren, wie Gänse, Hühner, Ziegen.
Ich stieg einmal in einem thüringischen Badeorte eine Berglehne hinan
nach einer Aussichtshöhc, die einen weiten Blick ins Land bietet. Vor der
Hand war außer waldigen Anhöhen und Felsstücken gegenüber nicht viel
zu sehen, von Leben aber, nach dem man sich doch auch da immer umsieht,
nichts weiter als eine Gruppe Ziegen und Gänse, die unten im Wiesengrunde
spielten und weideten. Diese zogen also das Auge auf sich, sie wurden mir
von selber zur Seele des bescheidenen Landschaftsbildes, wie ja jede Land¬
schaft als Bild eine braucht, gaben aber auf einmal auch, bloß Ziegen und
Gänse, den Gedanken eine angenehme Richtung und Nahrung, eben mit
ihrer Seele, Ziegen- und Gänseseele. Die übersehende Höhe und halbe Ferne,
die uns an den Dingen auch ihr Allgemeines, ihre innere Bedeutung leichter
ersehen läßt, zeigte mir auf einmal das Treiben der Tiere wie von ihrem
Innern heraus, ohne daß ichs gesucht hätte, es kam mir ganz von selber.
Veranlaßt war es mit dadurch, daß ich die Tage daher mich viel in Goethes
Art zu denken bewegt hatte, anch sein tieftreffendes Wort vom Pflanzenstengel,
der „rund oder von innen heraus für rund zu achten ist" (33, 105 Hempel)
hatte mich wieder einmal beschäftigt, es hat mir etwas eigentümlich Wohl¬
thuendes, Lebenanrcgendcs nach angestrengter Kopfarbeit.
Was sah man an den Tieren von ihrem Innern? Ihr ganzes Verhalten
drückte Behagen aus, floß aus innerstem Selbstbchagcn, man sah sie mitten
im vollsten Daseinsglück lebend und webend; sie waren mitten in ihrem Werden,
von dem sie nichts wissen, zugleich doch schon im vollsten Sein. Warum be¬
wegen sie sich, verlassen also die behagliche Ruhe? um zu fressen, d. h. um
dies Behagen zu erhalten, wie man zum Feuer Holz miegt, um es zu erhalten,
oder auch, wie die Ziegen, um zwecklos zu spielen, d. h. das Behagen quillt
über, sein Überschuß setzt sich vou selber in Bewegung um, die aber ihren Zweck
wieder nur in sich oder in ihnen selber hat, die innere Ruhe also nicht auf¬
hebt. Sie sind ganz in sich und in sich ganz, unbekümmert um das Äußere,
aus dem sie sich mir sorglos nehmen, was sie in diesem Ganz-in-sich erhalten soll.
Und doch, so unbekümmert um das Äußere, wirken sie zugleich nach außen,
oder können es, wie dort auf mich, als ich stehen blieb, um ihrem höchst ein¬
fachen Treiben zuzusehen, so wohl auch auf die Mädchen, die zur Hut dabei
waren. Man kann kaum behaglichere Menschen sehen, die wie in Behagen
eingetaucht erscheinen, als Kinder, die Gänse, Ziegen, Kühe und Kälber hüten,
oder einen Schäfer bei seinen Schafen, der die Arbeit und Unruhe des Ge¬
schäfts seinem Hunde überläßt und sich nur die Oberleitung vorbehält in könig¬
licher Ruhe. Das Behagen der Tiere überträgt sich gewiß auf sie in täglichem
Umgang, sie erscheinen auch so ganz in sich und in sich ganz, wozu wir Städter
es so schwer bringen.
Man bekommt das gerade in dortiger Gegend (bei Lobenstein) auch zu
hören, besonders gegen Abend, in einem Singen, in dem die vichhütenden Kinder
ihrem Behagen Abfluß schaffen, wenn sie sich nicht etwa beobachtet wissen. Die
Stimme bewegt sich, halb träge und doch frisch genug, wortlos hauptsächlich in
lang gezogenen Tönen, die doch auch mit Wechsel und Pausen im Ganzen
zugleich einen melodischen Eindruck machen, sobald man lange genug und ge¬
duldig hinhört; stellenweise treten auch in der Tonbewegung lustige Schleifen
und Verschlingungen auf, die dem Jodeln der Alpler gleichen, alles aber so
ganz urwüchsig, so von aller Schule und musikalischen Bewußtsein fern, daß
es mir das erstemal den Eindruck machte, als ob ich dem Augenblick belauschend
beiwohnen dürfte, wo das Singen eben erst erfunden würde oder erfunden
werden sollte. Denn ein eigentliches Singen war es noch nicht, nur der bereite
Stoff dazu, aber gerade so der Ausdruck eiues überfließenden tiefen freien Be¬
hagens am bloßen Dasein, wie er mir noch nicht vorgekommen war. Man
hörte oder fühlte oder sah ordentlich den Grund der Kinderseele als breiten
stillen Wellenschlag, der doch hie und da in ein leckeres Kräuseln oder Hüpfen
überging und, um sich selbst halbbewußt zu genießen, die bereit schwebenden
Luftwellen benutzte, welche jene eigenartigen Tonwellen dann auch in die Seele
des Hörers übertrugen mit einer ich muß sagen wundersamen Wirkung. Wenn
Goethe einmal nach einem Concert äußerte, bei einer gewissen modernen Musik
bleibe ihm alles in den Ohren hängen (bei Eckermann 1. Jan. 1827), so ging
mir dieses Singen recht in die Seele, in den Grund der Seele.
Ähnlich war aber schon die Wirkung, die ich beim bloßen kurzen Beob¬
achten der Tiere in mir spürte. Es ging von ihrem Treiben etwas in mich
über, das als grellster Gegensatz auftrat zu dem, was ich aus der Stadt in
mir mitgebracht hatte, wenigstens als eine dazu durchaus notwendige Ergänzung
und Berichtigung. Was das war? Ja, es ist schwierig zu beschreiben, wenn
man sich mit dem Worte gesättigtes Behagen am Dasein nicht begnügen will.
Jeder Städter kennt es aber aus Erfahrung, wenn er in die sogenannte
Sommerfrische geht. Mir fällt dabei das Wort eines solchen Städters ein:
ein rechtes Berliner Kind sieht und fühlt schou Sommerfrische, wo er (oder sie)
sechs Gänse über den Rasen watscheln sieht. Das ist zugleich spaßhaft und
zugleich ernsthaft richtig. Was er da eigentlich sieht und fühlt?
Es handelt sich im Grunde um das wunderbare Ding, das Leben heißt
oder genauer darum, was so zu heiße» verdient. Das Treiben in der Stadt
ist ja eine Jagd nach Leben, nach reicherem, weiterem, höherem Leben, als man
sichs draußen auf dem Lande denkt, dessen Geistesleben uns dagegen so eng,
klein und arm erscheint. Und doch eben über dieser Jagd verliert man fort
und fort in der Stadt so leicht die Hauptsache, das Leben in uns selber, d. h.
das Leben selber, und damit ist eigentlich alles verloren. Das ist es, was
man schon an Tieren und ihren Hütern wiederfinden kann, wie mirs dort
ging. Das städtische Leben ist wesentlich ein rastloses Lebensuchen, hier aber
fühlt man wieder ein ruhiges Lebensader, Leben aber, das rechte Leben ent¬
zündet sich nur, aber auch rasch an rechtem Leben, wie klein oder groß es sei.
Wie ich dort stand und das Leben der einfachen Tiere plötzlich wie in mich
herein reichte und griff, da nährte sich gleichsam mein Wesen von ihrem Thun
und Leben, wie sie sich und ihr Wesen von den Gräsern: nährte, denn das
städtische Leben mit all seiner Fülle ist mehr ein Zehren, als ein nähren, das
sieht man schon dem Gesichte des Städters an, wenn er ins Bad kommt. Im
Stadtleben wird das Gehirn, das Kopfleben genährt, wird aber unversehens
übernährt (wie die Ärzte von Hypertrophie irgend eines Körperteiles sprechen)
und zehrt damit an dem andern Lcbensgebicte unsers Innern, Gemüt oder
Seele oder Herz, wie mens verschieden nennt; es ist die Wohnung des Empfin¬
dungslebens, die dann düster und öde wird, und, da sie nie ganz leer stehen kann,
sich mit kleinen Kobolden oder großen Quälgeistern oder gar Gespenstern erfüllt,
mit kmukhaften Empfindungen statt gesunder, die dann wieder auf die Arbeit des
Gehirns übel störend, irreführend, düster särbend zurückwirken. Ach das weiß ja
jeder Städter, der nicht auf falscher Fährte weiter jagt. Gut, aber es ist eins von
den Dingen, die man nicht oft genug wiedersagen kann. Daß aber eben in
diesem andern Gebiete unsers Innern, dem der niederen Seelenkräfte, wie man
im vorigen Jahrhundert nach Wolff sagte, das eigentliche Leben wohnt, nicht
im Kopfe, das kommt mir oft wie vergessen vor und muß dem Zeitgeist« ge¬
radezu laut ins Ohr gerufen werden, da er sich durch verschiedene Einflüsse
in falscher Richtung in ein einseitiges Kvpfleben und damit in ein krankhaftes
oder doch leeres Leben überhaupt hineintreiben läßt, die größte Gefahr unsrer
Zeit. Diese Lehre, wo das wahre Leben wohnt und wie es aussieht, muß
man der Zeit wieder einmal nachdrücklich und unablässig predigen, wie sie die
Dichter und sogenannten Popularphilosophen des vorigen Jahrhunderts ihrer
Zeit predigten. Ich ließ mir sie dort im Koselthale gern auch von Gänsen
und Ziegen predigen.
Kann man also nicht wirklich von Tieren lernen, gerade für das Empfin-
dungsleben, das in der Schule des Zeitgeistes keine oder falsche Lehre findet?
In einer thüringischen Sommerfrische diente uns einmal bei schlechtem
Wetter eine Hühnerfamilie im Hofe zur Unterhaltung, besonders eine Henne
mit ihren Küchlein, deren ziemlich viel waren, wurde uns mit ihrem Treiben
die Heldin des Hoflebens. Da kam denn beim Beobachten auch die Frage:
Ob die Henne auch genau weiß, wie viel sie Küchlein hat? „Gewiß," war
die Antwort. Woher weiß man das? „Sie vermißt jedes einzelne, das sich
verlaufen oder verkrochen hat, und sucht es unruhig." Also ganz mütterlich,
bei so vielen Kindern. Nun möchte man wohl weiter fragen, am liebsten gleich
die Henne selber, wenn es nur ginge: Ob sie denn da auch die Zahl im Kopfe
hat, wie eine Mutter? Uns Menschen scheint das so natürlich oder notwendig.
Aber das gewiß nicht. Zählen kann sie sicher nicht, sie braucht es aber auch nicht,
sie hat die Zahl der Küchlein doch in sich, aber nicht als Wort oder Begriff,
wie der Mensch. Doch nein, den Begriff darf man ihr nicht absprechen, nur
soweit er in einem Worte, hier in einer Zahl ausläuft, aber nicht soweit er
die Vorstellung einschließt, was übrigens die eigentliche und ursprüngliche
Meinung des Begriffes „Begriff" ist. Sie hat alle die einzelnen Kinder als
deutliches Bild in sich, ja als geliebtes Bedürfnis, jedes auch in seinem Sein,
nicht nur uach Form und Farbe, auch nach der Sinnesart, die ja anch bei
Tieren verschieden ist. Und mehr noch, nicht nur die Einzelnen vereinzelt hat sie
so in Liebe und Sorge in sich, anch ihr Zusammen als Schar, das zeigt ihr
Vermissen, wenn die Schar nicht voll ist. So weiß sie zwar nicht die Zahl,
d. h. als Wort, wohl aber die Anzahl ganz genau. Was braucht sie weiter?
„Ja das geht wohl weit mit dem Innenleben des Tieres," sagt vielleicht
jemand, dem die Betrachtung oder Beobachtung neu wäre, „das ist wirklich
schon mehr Geist, als sogenannter Jnstinct, aber man sieht doch die Schranke
des tierischen Bewußtseins und seine Grenze gegen das menschliche, da ihm die
Zahl fehlt!" Schon recht. Aber wenn das nnn ebenso doch auch bei Menschen
vorkommt, nicht bei stumpfsinnigen, sondern bei denkgeübten, gelehrten Menschen?
Der Vorstand einer großen Bibliothek wurde einmal gefragt, wie viel Bücher-
säle er denn habe? Da stutzte er, war halb spaßig verdutzt: „Ach, das weiß
ich nicht einmal, ich habe minds noch nie gefragt." Also doch — wie die
Henne? Natürlich kannte er jeden einzelnen Saal genau, jede Schwelle, die
aus einem in den andern führt, von hundertfachem Betreten, wie in den einzelnen
Sälen jedes von den großen Vretcrgebäuden mit ihrem gewaltigen Inhalt, aber
nicht die Zahl. Im Bädeker steht sie vermutlich. Wollte man deshalb sagen,
daß dieser die Bibliothek besser kenne, als ihr Vorstand? Oder daß er inner¬
halb der Grenze des menschlichen Bewußtseins stehe, der Vorstand aber noch
außerhalb? Wer auf dem Begriff des menschlichen Bewußtseins scharf bestehen
wollte, müßte das wohl sagen und setzte sich doch damit selbst ins Spaßhafte.
Wenn dort im Hühnerhofe ein Stadtknabe die Küchlein zählte, wie sie gern
gleich thun, besonders vor der Mutter, als Schulübung, wie rasch wäre er
damit fertig Und könnte die Zahl nennen. Meint matt, daß er nun von den
Küchlein mehr wüßte, als ihre Mutter? Und ebenso stünde es doch zwischen
Bädeker und dem Bibliothekar. Nein, hier wird ja wohl von dem Herren-
bewußtsein aus der Wert der Zahl und des Zählens scharf beleuchtet, und wo
die Grenze ihres Wertes ist, man kann wohl wirklich an der Hetttte für das
Denkleben lernen.
Was aber die bewußte Zahl wert ist, wenn sie dort als ganz unnötig
erscheint, auch beim Menschen erscheinen kann? Wer Bücher zU sammeln an¬
fängt, hält eine Zeit lang darauf, zu wissen, wie viel er habe, und zählt sie
von Zeit zu Zeit. Es ist ihm aber eigentlich dabei weniger UM das Wissen
zu thun, wie viel er habe, als um das Wissen, besser um das Gefühl, daß er
viel habe. Wenn es dann wirklich viel werden, hört das von selber ans, Sinn
und Zeit für das Zählen gehen ab, er kennt wohl jedes einzelne Buch genauer,
als da er zu sammeln anfing, hat auch für die einzelnen eine Neigung oder
Abneigung, Dankbarkeit und Liebe oder nicht, aber die Zahl weiß er nicht.
Tritt er damit nicht, seinen liebsten Schätzen gegenüber, in den Kreis des Be¬
wußtseins der Henne zurück? Und um bei Kindern nachzusehen, an denen für
uns Erwachsene anch so viel zu lernen ist: wenn man sich einen Knaben denkt,
der eine Schachtel mit Bleisoldaten geschenkt bekam, wird der gleich ein Be¬
dürfnis nach ihrer Zahl haben? Ich glaube nicht, wenn er nicht schon in die
Schule geht. Er schüttet sie aus und weidet sich an ihnen einzeln wie im
Ganzen, auch dnrau, daß es viel sind; er kennt bald alle einzelne genau, da
das scharfe, von Reflexion ungestörte Kinderange an ihnen doch kleine Unter¬
schiede sieht, aber die benannte Zahl braucht er für sich nicht. Zählen wird
er sie erst, werde ihn etwa die Mutter dazu auffordert, zu zeigen, daß er anch
zählen lernt, oder — wenn etwa ein kleiner Freund auch eine solche Schachtel
hat, und es kommt die Frage an ihn, ob der mehr hat oder er. Erst war
ihm das allgemeine Viel genug, nun wird ihm das Wieviel wichtig. Ob das
ihn aber in sich und an seinem Schatze glücklicher macht? Schwerlich, er sieht
ja nun weniger auf seine schönen Soldaten, wie sie sind, als auf etwas, das
gleichsam über ihnen schwebt, ihr Verhältnis zu denen des Freundes, es legt
sich ihm etwas darüber, was die Soldaten selbst gar nichts angeht und sie ihm
eigentlich entfremden will — der liebe Kampf des Lebens beginnt für ihn
damit, die Frage nach dem Mein und Dein, an der sich dann der Charakter
weiter zU entwickeln hat. Davon bleibt die Henne frei, wenn sie auch sonst
ihren Lebenskampf hat. Und welch kahles Ding ist die bloße Zahl, die ihn
nun glücklich machen soll. Das kaun wohl auch ein Vergleich zwischen dem
Knaben und der Henne beleuchten. Wenn dieser von ihren Kindern eins oder
das andere verloren ginge, und man wollte ihr zum Trost ein anderes unter-
schieben, ob sie das zufrieden wäre? Schwerlich, sie braucht und liebt ja
die Küchlein selber, nicht ihre Zahl, wie der Mensch ihr leicht von sich aus
unterlegen mag. Wenn aber dem Knaben von seinen Soldaten welche verloren
gingen und würden durch andere ersetzt, die nähme er gern an; denn die Zahl
wäre ja wieder voll, die ihm nötiger geworden ist, als die lieben Mannen
selber, dem Freunde gegenüber oder auch dem Begriff zu Gefallen, der sich
über die Gestalten hinaus in ihm als Hauptsache festgesetzt hat.
Mir ist es von jeher ein eigenes Privatvergnügen, ja ein stiller Drang,
von den Dingen in Gedanken gleichsam reinlich abzuschälen, was der Mensch
aus sich hinzuthut; gelingt das einmal, so giebt es eine eigentümlich klare Ruhe.
Daher noch etwas, das zeigen kann, wie gerade die Zahl, die im Kampf des
Lebens eine so mächtige Rolle spielt, genau besehen samt dem Zählen nur ein
menschlich begriffliches Ding ist, das er den Dingen selber gleichsam anklebt,
das aber diese selbst eigentlich nichts angeht, in und an ihnen selber nichts ist.
Nirgends im Leben ist die Zahl wichtiger, als in Anwendung auf Geld
und Geldcswert, von dem gewiß die Kunst des Zählens und des Rechnens,
dieser erhöhten und fein durchgebildeten Form des Zählens zuerst ausgegangen
ist im Bedürfnis des Handels und Wandels, wo das Mein lind Dein genau
festzustellen ist. Man braucht sich aber nur den Inhalt einer Geldrolle, in
der gleichwertige Stücke genau abgezählt stecken, geöffnet zu denken und die
Stücke in einen Kreis gelegt, statt wie gewöhnlich in eine Linie zum nachzählen,
so hat das Zählen ein ganz anderes Gesicht. Die Anzahl zwar ist dieselbe,
aber die Zahl, die man den einzelnen Stücken so sicher zuspricht oder anheftet,
das eins, zwei, drei U- s- W. ist auf einmal unsicher geworden, denn jedes Stück
im Kreise kann das eins, zwei, drei sein, die Stücke tourner gleichsam wieder zu
ihrem Rechte und Wesen, das jedes an sich hat, man ist unsicher, wo man zu
zählen anfangen soll und kommt leicht zu dein Gefühle, wie fremd die Zahl
den gelben Dingern selbst ist, deren Wert für uns doch sonst in der Zahl ganz
aufgeht.
Das ist ja freilich Spielerei, die im Ernst des Lebens keine Stelle hat, aber
doch zugleich anregend und von Wert für tieferes Denken, das nach dem Wesen
der Dinge an sich und des Menschenweseus im Verhältnis zu ihnen sucht. Auch
hier liegt im kindschen Spiel ein tiefer Sinn. Was übrigens das Spielen
anlangt, so kann man sogar weiter spielen und den Spieß umkehren: könnten
die Goldstücke es merken, wie der geldzühlcnde Geschäftsmann mit ihnen nach
Zufall und Willkür umspringt, und sich darüber äußern (was im Mährchen
möglich wäre), so könnten sie ihm vorhalten, sein Zählen sei ein Spiel, das er
so ernst betreibt, worauf er freilich auch mit dem Dichter antworten könnte:
Mir liegt der tiefste Sinn in diesem Spiel.
Das Verhältnis läßt sich aber auch im Ernst des Lebens wiederfinden.
Denkt man sich eine Mutter mit einer Kinderschar, im Kreise ihrer Kinder,
wie die Sprache es ausdrückt, indem sie das Verhältnis innerlich faßt, so läßt
sich wohl eine Ähnlichkeit mit dem Verhältnis der Henne zu ihren Küchlein
finden, was kaum eine Mutter übel nehmen wird. Sie weiß ja ihre Zahl,
aber diese ist ihr nicht die Hauptsache, wie dem Knaben, der die Küchlein, dem
Bankier, der eine Geldrolle zählt, sie würde anch kaum fremden Ersatz für ein
Verlornes als vollgeltend nehmen, sie steht damit zugleich noch in dem Be¬
wußtseinskreis der Henne, d. h. sie hat zu ihren Kindern ein tief innerliches
Verhältnis, dem gegenüber die Zahl und das Zählen etwas ganz Äußerliches
bleibt. Wenn sie die Kinder aber einmal herzuzählen hat, wird sie beim ältesten
oder jüngsten anfangen. Fragt sie jedoch ihre Liebe und nur diese, dann hat
keins der Kinder den Anspruch, in der Reihe den andern voranzugehen, da ist
sie mit dem Herzählen in Verlegenheit. Warum? Sie ja hat die Kinder in
sich im Kreise um sich herum, wie eben die Sprache mit ihrem tiefen Sinn
für einfachste Wahrheit es aufgefaßt hat; und noch deutlicher: ein jedes „steht
ihrem Herzen gleich nahe," wie man sagt, das ist ja aber mir im Kreise möglich,
das Mutterherz als dessen Mittelpunkt gedacht.
Dem Wesen des Verhältnisses noch näher zu kommen, dazu kann eine
Äußerung Luthers von Gott und der Zeit dienen, die mir zwar mit der Stelle
und dem genauen Wortlaut nicht in der Erinnerung ist, aber mit dem Sinn:
für Gott gebe es keine Zeit, weil er die Dinge alle zugleich vor sich habe. Die
Vorstellung ist offenbar die, daß Gott alles in der Runde so vor sich habe,
wie der Mensch die eine Richtung, in die er eben blickt. Der Zeitverlauf aber
ist im Kreise gehend gedacht, wie uns ja Tage, Jahre, Menschenleben u. ni. als
ini Kreise verlaufend erscheinen mittelst einer Art innerer, mehr schattenhafter
Anschauung, die doch in der Sprache auch zum bestimmten Ausdruck kommt
und sich unbewußt und überall geltend macht, also natürlich sein muß. Tragen
wir doch diesen Kreislauf der Zeit sichtbar in der Tasche am Zifferblatt und
den Zeigern der Uhr, die aber weit jünger ist als jene Vorstellung. Es ist
das ein Stück Mystik bei Luther, wie manches, und bei den Mystikern unsers
Mittelalters kommt jene Vorstellung ganz deutlich, mathematisch deutlich aus¬
gesprochen vor, z. B. beim Meister Eckhart (273, 39): avr >v<zsvnUons xunot,
Ahr g'ot> ist, äsr an, fest inurit,t<zu, gllod vsrrs rucks iMio allon (Ma-durou,
natürlich auch in ihrer Bewegung, räumlicher und zeitlicher. Das ist wohl
auch ein Spiel, oder sieht so aus, aber eins mit tiefem, tiefstem Sinn. Was
ich aber zunächst meinte: die Sprache, diese stille, tiefsinnige Beobachterin,
giebt also der Mutter im Verhältnis zu ihren Kindern dieselbe innerlich ge-
schante Stellung, wie die mystische Philosophie dort Gott im Verhältnis zu
seiner Welt. Sie hat sie im Kreise um sich, sie stehn ihr alle gleich nahe, sie
sind ja ihre Welt, die sie auch selbst mit geschaffen hat und mit erhält. Und
wer sich den Vater auch an dieser Stelle denken will, was stünde im Wege?
Und warum uicht auch die Henne? Mag man die Gleichung gelten lassen?
Auch als mehr denn Gedankenspiel? so daß das eine Verhältnis das andere
innerlich deutlicher macht und uns näher zieht? Auch in Bezug ans die Zeit
trifft die Gleichung zu. Denn wie bestimmt auch die Kinder.ihrer Geburtszeit
nach eine Reihe bilden, keinen Kreis, so wird doch der Mutter diese Reihe oder
Linie zum Kreise, da vor ihrer Liebe der Zeitunterschied uicht gilt, er wird ihr
zu etwas Zufälligen, die Liebe steht wie in einem erhöhten Mittelpunkte über
der Zeit, wie über der Zahl.
Die Gelegenheit ist zu günstig, um nicht gleich auch kurz das Wort mit
seinem Werte unter dem Gesichtspunkte zu beleuchten, wie eben die Zahl. Es
handelt sich hier und dort um ein such denken, wie mans wohl nennen kann
im Unterschied vom Wortdenken, ein Denken, das z. B- die Henne oben ihren
Küchlein gegenüber übt. Auch die Zahl, die sie dabei nicht braucht, ist ja
zugleich ein Wort, das ihrem Kopfe versagt ist, wie Worte überhaupt.
Auch bei Menschen zeigt sich Abneigung gegen Zahlen und Worte, nud
daß sie doch auch ohne diese völlig auskommen. So hört man, da nun aus
Afrika so viel an uns kommt, was die Gedanken in ganz neuer Richtung
beschäftigt, von den Hottentotten, daß sich da selten einer die Mühe nimmt,
seine Viehherde, also seine Habe, zu zählen, aber wenn Abends ein Stück fehlt,
so sieht er das doch und bemerkt: Ich sehe ein Stück, das nicht da ist (ganz
richtig, denn er sieht es in sich). Und wenn es ihrer tausend wären, wird
ausdrücklich angegeben, so bemerkt er das fehlende. Uns ist das unbegreiflich,
Wenns auch mir hundert wären. Es ist aber noch der Standpunkt der Heune
oben, nur auf eine Stufe erhöht, die den höheren Geisteskräften des Menschen
entspricht, hier aber zugleich zu einer Leistung steigt, die über die Geisteskraft
des Culturmenschen so weit hinausgeht, daß wir sie für unmöglich erklären
müßten. Mag es Trägheit sein, die das Zählen langweilig findet, wie es uns
ja auch widerfährt, es ist doch zugleich eine Lebhaftigkeit des Vorstellens dabei
thätig, von der wir hvchgeschulten Europäer keinen Begriff haben und die dem
Hottentotten das Zählen und die Zahl überflüssig macht. Denn er muß doch,
wenn er die Herde prüfend überblickt, als Maßstab die Tiere alle einzeln in
deutlichem Bilde in sich haben und eben darum das Fehlende auch, wie dort
die Henne, er sieht es nur in sich, nicht zugleich außer sich. Denkt man sich
aber solche lebendige innere Vorstellung, zugleich so umfassend, gepaart mit dem
höheren Denken, das uns die Cultur giebt: welcher Leistungen müßte da der
Menschengeist fähig sein! Arbeit dafür gäbe es in unsrer Culturwelt gerade
genug! Man möchte diese Vereinigung gleich unsrer Erziehung als Ziel stecken
und — könnte nun wohl dafür bei unsern Kamerunern u. s. w. in die Schule
gehn! Sollte übrigens jene geistige Leistung des Znhlens ohne Zahl und Ziffer
nicht auch z. B. bei unsern Schäfern vorkommen? oder gar auch bei ihren
Hunden? Das müßten ja Rittergutsbesitzer angeben können.
Ein Schäfer kann uns Schulmenschen dienen, die Anwendung von der
Zahl muss Wort zu machen. In A. Sommers Bildern und Klängen ans
Rudolstadt steht ein Geschichtchen von einem alten Schäfer in Schwärzn
(8. Heft, S. 30), der stundenlang an einem Baume lehnt und zufrieden vor
sich hin guckt und den der Pfarrer endlich einmal fragt: Sagt mir nur, was
denkt Ihr eigentlich, wenn Ihr so still vor auch hinschaut? „Ich? ich denk gar
nischt." Aber mein Gott, etwas müßt Ihr doch denken? Der Alte wurde
ärgerlich und sagte: „Wenn Er so dumm is und muß was denke, ich brauchs
nich!" Das klingt wie aus dem Leben aufgegriffen, wie vieles bei Sommer,
und kann uns Städtern schon zu denken geben, nachdem wir uns satt gelacht
haben auf Kosten des Schäfers, besonders über das köstliche „dumm."
Der Alte ist in seiner Art Wohl auch ein Denker, vielleicht ein Grübler
auch ohne gerunzelte Stirn, wozu kluge Schäfer fast werden müssen, wie denn
Leute mit bester Kräuter- und Sternkunde, auch Menschenkunde, unter ihnen
vorkommen. Es ist, als hätte er eine richtige Fühlung von dem Begriffe von
Denken, den der Gelehrte von der Schule und Universität mitgebracht hat, und
verstünde den Pfarrer besser als der Pfarrer ihn. Solches Denken braucht
der Schäfer freilich nicht, das sich in Worten dnrch den Kopf bewegt, wie
beim gut geschulten Manne. Sein Denken ist mehr ein wortlos sinnendes be¬
haglichstes Verhalten, aber darum gar nicht ein sachloscs; im Gegenteil, er
bleibt gerade mit den Sachen, an die er denkt, wie in unmittelbarer Fühlung,
welche durch Worte, die wir dafür einsetzen, halb oder ganz verloren geht, weil
sie sich zwischen uns und die Dinge einschicken und die deutliche Vorstellung
zurückschieben. Es ist mehr ein vorstellendes Empfinden als ein Denken, also
wie bei der Henne, ein Denken in dem die Dinge sich so zu sagen selber in
ihm oder an ihm denken oder besser ihre Ordnung suchen, die er braucht — was
alles doch keine erschöpfende Beschreibung des Vorganges sein soll oder kann,
zumal ich kein Schäfer gewesen bin, daß ichs genau wissen könnte.
Aber ganz unbekannt ist dies Denken auch uns Bildungsmenschen nicht,
falls wirs nicht vergessen haben. Wir lernen es kennen in den Kinderjahren,
deren Glück mit dadurch bedingt ist, nachher wieder und höher entwickelt in
Tagen des Glückes, wie sie junge Liebe und Freundschaft bringen, auch die
junge Begeisterung für das Große der Welt, also in den Tagen vor dem
eigentlichen Eintritt in den Kampf des Lebens, wo wir auch zu schmecken bekommen,
was es heißt, ganz in sich und in sich ganz sein, wo ein großes Innenleben
die Seele ausweitet und, so weit sie wird, ausfüllt; wer mit in dem kurzen
großen Kriege gewesen ist, kennt es gewiß auch von dort, denn auch Auge-
heures, Schwieriges, selbst drohendes Unglück, wenn es groß ist, zieht uns in
die Kreise eines großen Lebens hinein, in denen die Dinge selber ganz anders
an uns kommen, genauer in uns herein kommen, als in dem stillen Verlauf
des gewöhnlichen kleinen Lebens, wo die Kreise sich auch ins Kleine eindrehen,
die das Leben in uns zieht. Ju solchen Zeiten gewinnt das Wort ein ganz
andres Wesen den Dingen gegenüber: mit wenig Worten sagt man da dem
Andern dick, weil er von den Dingen selber auch voll ist, während sonst so oft
viel Worte, ja ganze Bücher voll uns so wenig sagen. Die Worte werden
uns dann wie zu bloßen dünnen Schalen für die Dinge, die lebendig gegen¬
wärtig in den Seelen walten, während sie sonst leicht an den Dingen die Haupt¬
sache sein, ja diese völlig vertreten wollen. In so recht glücklichen Tagen sind
sie wie reife Weinbeeren von bester Sorte, wo die Schale so dünn geworden
ist, daß sie eben ausreicht, um den strotzenden köstlichen Saft noch zusammen¬
zuhalten, während sie in gewöhnlichen Tagen dickschaligen halbreifen Beeren
gleichen, deren man viel kauen muß, um so viel Saft zu schmecken und doch
nicht so guten, wie dort in einer Beere. In solchen Tagen und Stunden sind
wir auch ganz anders Herr der Worte, die sonst gern unsre Herren sein wollen.
Die rechten Worte kommen uns da spielend mühelos aus der Fülle des Lebens
in uns, für dessen Ausdruck sie doch nicht ausreichen, das Beste dabei thun
Mienen, Blicke, Stimme, die den vollen Lebensgehalt ergänzen und Worte
gar nicht brauchen. Denn, wie es in Wilhelm Meisters Lehrbrief heißt, „das
Beste wird nicht deutlich durch Worte," vollends durch bloß geschriebene, denn
„das Wort erstirbt schon in der Feder."
Da treffen wir denn auch Goethen mit vollem Bewußtsein auf dieser Spur
des Sachdenkens für das Wvrtdenken, der doch des Wortes so gewaltig war.
Es ist sein „gegenständliches Denken," wie es Heinroth an seiner Art der
Naturbetrachtung beobachtete, und so benannte unter dein lebhaften Beifall des
Dichters, der sich dadurch „bedeutend gefördert" fühlte."') Er giebt aus Hein-
roths ausführlicher Schilderung von der eigentümlichen Art seines Denkver¬
mögens als das wesentliche die Worte, „daß mein Denken sich von den Gegen¬
ständen nicht sondere, daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in
dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden, daß
mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei" — also
leine Worte zwischen den Dingen und Goethes Geiste, auch keine Abstraktionen,
Theorien, Axiome, Begriffe u. f. w., die an überlieferte Worte gebunden sind,
beide vielmehr, sein Geist und die Gegenstände, in einer unmittelbaren Be¬
rührung oder genauer in einem Ineinander, in das die Berührung übergeht
und das daher außer der allein genannten Anschauung auch ein Empfinden
uotivendig einschließt, zumal in Anwendung auf menschliche Dinge, für die das
Ganze bei Goethe ebenso gilt wie für die Naturdinge. Ja auch bei diesen
geht es da nicht ohne Empfinden ab, das kann schon sein Wort vom Pflanzen-
stengel oben zeigen, wo das Anschauen schon mehr ein Empfinden ist, sodaß
er sich in den Stengel gleichsam vorübergehend hinein lebt und diesen in sich
herein. Man muß es selbst treu probiren, um sich zu überzeugen, und steht
dann auf dem Punkte oder der Linie, von wo aus Goethes Denken überhaupt
allein zu begreifen ist.
Ist das aber nicht, recht hingesehen, dieselbe Linie, auf der uns der Schäfer
begegnete, ja dieselbe, auf der wir den Hottentotten fanden und — die Henne?
Es ist ein geistiges Verhalten zur Außenwelt, das jetzt gern nud gut auch mit
,,Unmittelbarkeit" bezeichnet wird, ein Sachdentcn für Wortdenlcn. mehr ein
Empfinden als ein Denken, oder beide in einem dritten höheren ausgehend. Den
Gradunterschied von der Henne her bis zu Goethe hin denke man sich so
groß als man mag, mit Spielraum meinetwegen zwischen eins und einer Million
oder wer noch mehr will, aber ein Artunterschied ist nicht auf der ganzen Linie.
Ich kanns nicht anders sehen.
Die Gelegenheit ist auch zu günstig, um nicht noch etwas eigentümlich
Fragliches gleich kurz zur Sprache zu bringen, das im Zusammenhange des
Vorigen vielleicht von selbst mit seine Antwort finden kann.
Als Knabe erstaunte ich und erschrak über den Gedanken, der irgendwie
an mich geflogen kam, vielleicht von einem ältern Mitschüler, Gott könne doch
nicht machen, daß z. B. 2 mal 2 gleich 6 sei. Es war, als ob damit ein
Grnndbalkcu der Welt, wie sie vor uns vom Lehrer aufgebaut wurde, einen
unheilbaren Knick bekommen Hütte, daß alles wanken wollte. Ich habe mich
nachher, ohne weitere Grübelei, doch darüber beruhigt, die Frage, die damit
aufgeworfen war, trocknete mir gleichsam von selber ein. Aber überhaupt ein¬
getrocknet ist sie doch noch nicht, man begegnet ihr noch, oder vielmehr jener
Behauptung als sicherer Antwort, in einem gewissen Gedankengange, der auch
im philosophischen Denken noch eine überlieferte Geltung hat. Es ist aber,
genau zugesehen, und wenn man aus jener Gedankenlinie heraustritt, gleichsam
zur Seite, um ihren Verlauf besser zu übersehen, doch nur eine Wortfrage,
keine Sachfrage, und Wvrtdcnken, nicht Sachdcuken.
Gott rechnend, mit Zahlen rechnend gedacht? Damit macht man ihn doch
zum Menschen, jn zum Schulmenschcn, Lehrer oder Schüler? Den» ans der
Schule, aus bloßen Schulgedanken kann allein das ganze Rechenexempel stammen,
mau setzt Gott damit eigentlich auf die Schulbank und legt ihm, wie der Lehrer
dein Schüler, eine Querfrage vor, die ihn irre führen soll und dnrch den etwa
begangenen und erkannten Irrtum zur Wahrheit, zur Erkenntnis, hier zur Er-
terrenis der Grenzen seiner Allmacht. Ein frischer Kerl, der sich nicht durch
Worte fangen ließe und das zuerst hörte, würde wohl Heransplatzen: „2 mal
2 gleich 5, das ist ja dumm!" wie der Schiller für dumm gilt, der so rechnet.
Der wahre Sinn des Satzes wäre also: Etwas dummes kann Gott doch nicht
machen — und mir klingt dabei unwillkürlich nach, ich meine wie bei dem
nachklingen von Tönen auf einem Klavier: das können aber wir Menschen,
wenigstens gemacht denken, da ja doch das 2 mal 2 gleich S, einmal gesagt,
auch gedacht sein oder doch als Gedankenschatten durch den Kopf huschen muß.
Freilich: gemacht denken? nein, das doch nicht.
Das Zählen und Rechnen ist ja gar kein Machen, nur eine Vorbereitung
oder Übung darauf. An und für sich hat es die Art eines Spiels, der Ernst
kommt erst hinzu, sofern sich Sachen an die Zahlen hängen, in Gedanken oder
im Ernst der Wirklichkeit. So gewinnt auch ein solches Rechenexempel, wie
mau es da Gott zumutet, el» ganz andres Gesicht, wenn man die kahlen
Zahlen mit Inhalt versieht, sie aus der Schule ius Leben versetzt. Wenn z. B.
ein Bierfreuud klagen wollte: Gott kann doch nicht machen, daß ich das zweite
Glas (das besser schmeckt) zuerst trinke, oder ernster, wenn ihn eine Jungfrau
anklagen wollte: er kaun doch nicht machen, daß ich achtzehn Jahre alt bleibe.
Darüber wird man lachen, nicht bloß über die Einfalt (es könnte ja auch
witzig gemeint sein), sondern weil da das Rechnen und Denken scharf zusammen¬
stößt mit dem Ernst der Wirklichkeit und recht als Spiel erscheint. Die Frage
wird also da hinwcggelacht, und mit ihr der Triumph über die Grenzen, auf
denen man Gottes Allmacht ertappt.
Um noch besser ganz durchzubrechen durch das Spiel mit Zahlen, Worten,
Gedanken hindurch, daS dem menschlichen Kopfe freigegeben ist, bis zum stillen
großen Ernst der Wirklichkeit draußen, kann wohl eine Gleichung dienen mit
ernstem Hintergründe. Wenn ein Arzt eben einen lebcnrettcuden Schnitt machte
und ein geistbegabter Knabe stünde dabei, der sich eben in der freien Welt der
Möglichkeiten recht siegreich frei bewegen lernte, und Hütte den Einfall, zu dein
Arzte zu sagen: mit einem stumpfen Messer oder einem hölzernen Messer
könnten Sie das doch nicht machen! da würden alle scharf und dentlich die
Kluft fühlen zwischen dem Spiel der Gedanken dort und dem Sachernst hier.
Kann man sie aber da nicht auch zwischen dem 2 x 2 5 und dem ungeheuern
allumfassenden Ernst der Weltordnung draußen fühlen? Die Gleichung trifft
wohl zu in der Hauptsache, um die es sich handelt.
Und noch etwas als Schluß. Da das Ganze ein Spiel ist, doch mich
nicht ohne seinen tiefen Sinn, so mag man wohl auch weiter damit spielen,
um ganz darüber hinaus zu kommen. Also: wenn Gott einmal Zeit und
Neigung Hütte, einem, der ihm mit dem 2 x 2 ---- 5 kommt, den Willen zu thu»,
wie würde man herbeigestürzt kommen, um sich weiter solche Wunder bei ihm
zu bestellen! Einer würde sich wohl 2 x 2.-! bestellen, ein andrer noch feiner
2 x 241/4 — ich breche natürlich ab, man sieht den Sack der spielenden
Möglichkeiten, der keinen Boden hat, im Menschenkopfe weit genug aufgethan
und hingeschüttet, um froh genug und dankbar in den großen schönen Ernst
der Weltordnung draußen zurückzukehren, die man da einen Augenblick in sich
über deu Haufen und durcheinander geworfen sieht, daß einem angst und
bange wird. Da schlägt denn das Wortdenkcn in Sachdcnken um, bei dem einem
so innerlich wohl nud sicher zu Mute wird, und mau kauu das daran üben,
den Anfang dazu kann man aber wirklich schon bei der Henne oben mache«.
cum ein Künstler in den letzten Jahren zur Feder griff und so
unvorsichtig war, das Geschriebene auch noch drucken zu lassen,
kam selten etwas andres dabei heraus als ein galliger Erguß
gegen die undankbare Welt im allgemeinen und die bösen Kritiker
im besondern, welche alles besser wissen wollen und doch nicht
malen oder das Modellirholz handhaben können. Vor einigen Monaten haben
wir es sogar erlebt, daß zwei angesehene Künstler, von denen der eine sich auch
als Schriftsteller hinreichend ausgewiesen hat, in einer Wochenschrift hart an¬
einander gerieten, weil eben jener eine, Maler und Poet dazu, sich die Freiheit
genommen hatte, für die idealistische Richtung eine Lanze zu brechen und vor
dein Versinken der Kunst in einen flachen Nenlismns, in eine poesielose Natur-
nachahmung zu warnen. Darob ergrimmte der andre, der sich in seinen
realistischen Neigungen verletzt fühlte, und schalt deu Idealisten, als ob er einen
Kritiker vor sich hätte. Es scheint sich demnach eine Menge von Zündstoff in
der Künstlerschaft angesammelt zu haben, der bei der geringsten Berührung los¬
platzt, und man ist auf eine Fülle vou sittlicher Entrüstung und heiligem Zorn
gefaßt, wenn man einen Aufsatz oder ein Heft zur Hemd nimmt, welches den
Namen eines Künstlers als Verfassernnmen trägt.
Eine angenehme Enttäuschung nach dieser Richtung hat uns ein kürzlich
bei Gebrüder Paetel in Berlin erschienenes Büchlein von Otto Knille unter
dem Titel „Grübeleien eines Malers über seine Kunst" bereitet. Knille ist
kein „Rufer im Streit"; er hält sich mit großer, fast allzu ängstlicher Vorsicht
von allen Persönlichkeiten fern und ergeht sich besonders da, wo er sich ab¬
lehnend verhalten zu müssen glaubt, in allgemeinen Andeutungen, die nur dem¬
jenigen verständlich sind, der mit der »eueren Kunstbewegung sehr vertraut ist.
Ein feiner, maßvoller und behutsamer Manu, bildet er einen erfreulichen Gegen¬
satz zu den lärmenden Korybanten seiner Kunst, die ebenso leicht, wie sie ein
Geschrei erheben, auch wieder verstummen, weil hohles Pathos kurzen Atem
hat. Ein grundsätzliche? Bedenken rufen uns freilich auch diese „Grübeleien"
hervor. Sobald ein Künstler anfängt, über seine Kunst nachzudenken, zu
spekuliren, zu philosophiren und das Gedachte zu Papier zu bringen, hat er
seine künstlerische Produktion entweder abgeschlossen oder er beginnt doch darin
nachzulassen. In dem Grade, als in Dürers Leben seine wissenschaftlichen
Forschungen in den Vordergrund traten, gerieten seine künstlerischen Arbeiten
ins Stocken. Eugen Fromentin hat in den letzten Jahren seines Lebens kein
Bild gemalt, welches sich mit dem glänzenden Erzeugnisse seiner Feder I^of
raartrss ä'Mtreckois messen könnte, und als Ludwig Richter mit der Nieder¬
schrift seiner köstlichen Selbstbiographie begann, hatte er von seiner Kunst Ab¬
schied genommen. Es scheint in den Grenzen menschlicher Fähigkeiten zu liegen,
daß das eine das andre ausschließt, daß das eine sich nur zu voller Reife ent¬
wickeln kann, wenn das andre abgestorben ist. Sonst entsteht das schwächliche
Zwitterwesen, welches wir mit dem Namen „Dilettantismus" bezeichnen.
Wenn wir bei Otto Knille auch kein völliges Stocken seiner künstlerischen
Thätigkeit zu befürchten haben, so kann doch nicht in Abrede gestellt werden,
daß seine Entwicklung nicht ganz den Hoffnungen entsprochen hat, welche sein
im Jahre 1873 gemaltes Bild „Tannhäuser und Venus" erweckte. Seit jener
Zeit hat er außer einigen kleinen Genrebildern und einer Reihe von Zeich¬
nungen nur jene vier Friese für die Universitätsbibliothek zu Berlin geschaffen,
welche die geistige Kultur des Altertums, des Mittelalters, der Renaissance
und der neueren Zeit in ihren Hauptsitzen Athen, Paris, Wittenberg und
Weimar durch Männer der Kunst und Wissenschaft darstellen. Ob seine eigen¬
tümliche, mehr auf Reflexion als auf Ursprünglichkeit gegründete Begabung,
oder ob seine Lehrthätigkeit an der Berliner Kunstakademie, oder ob endlich die
Erkenntnis, daß die moderne Kunst immer mehr von seinem eignen Ideale ab¬
weicht, seine Schaffenslust beeinträchtigt hat, wissen wir nicht. Vielleicht ist es
die letztere, die an mehr als einer Stelle seines Buches melancholisch zum
Durchbruch kommt. Unsre Kunstanschauungen und Kunstbegrisse haben sich seit
jener Zeit, wo Kuille seine akademischen Studien abschloß, also seit der Mitte
der fünfziger Jahre, so gründlich verschoben, daß die kühnen Realisten und
Revolutionäre von damals heute als verstockte und bezopfte Idealisten, im
günstigsten Falle als Romantiker und Phantasten gelten. Ein solcher Roman¬
tiker der alten Schule ist auch Knille, obwohl sein Kolorit an Glanz und Kraft
noch mit dem eines jeden Virtuosen der Farbe wetteifern kann. Seine Stellung
der Natur gegenüber ist es, welche ihn von der modernen, immer mehr um sich
greifenden Richtung, die man die naturalistische nennt, unterscheidet. „Das
Häßliche — sagt er in seinem Büchlein — hat nur insofern Berechtigung in der
Kunst, als aus ihm der negative Beweis des Schönen sich ergiebt." Damit ist
Kullich Standpunkt gekennzeichnet und zugleich das Ziel angedeutet, auf welches
seine „Grübeleien," die eigentlich systematisch eUntersnchungen sind, hinausstreben.
Er geht freilich nicht ohne Umwege auf sein Ziel los. Im Vorworte
stellt er sich sein Thema in folgenden Sätzen: „Familientradition, Vcrwaudt-
schaftsgcfühl ziehen unsre Malkunst nach der Vergangenheit hin; ihr eigner
Verjüuguugstrieb, sowie der Zeitgeist drängen der Zukunft entgegen. Rückwärts
oder vorwärts? Welche Verbindungen wird sie bewahren, welche lösen, welche
neu eingehen?" und nach hundertuudfünfnudzwanzig Seiten, die mit einem schnelle«,
Blick über die Entwicklung der Malerei vom Altertum bis auf die Gegenwart,
mit einer Kunstgeschichte In nuov ausgefüllt sind, kommt er zu dem Ergebnis:
„Darum suche der Staat die Tradition, welche uns noch mit der Jdealkunst
vergangener Epochen verknüpft, nach Kräften zu erhalten. Es gilt, den kunst-
geschichtlichen Zusammenhang nicht trennen zu lassen; denn nur in diesem ver¬
mögen wir uns ein Korrektiv für alle Kopfsprünge des befreiten Subjekts zu
bewahren. Er pflege namentlich die Mminmentalkunst und übe damit die Gabe,
große Vorstellungen in großen Zügen zu gestalten, selbst auf die Gefahr hin,
daß auf solchem Wege vorläufig wohl mehr mit Reminiscenzen als aus inneren
Impulsen geschaffen wird."^)
Es bedürfte keines Künstlers, um uns mit dieser „runde» Weisheit" bekannt
zu machen. Knille wiederholt nur, was die Kunstgelehrten schon seit vierzig
Jahren gefordert und jetzt — in Preußen wenigstens — durch eiuen der ihren,
durch Max Jordan, der eine in vielen Dingen entscheidende Stellung in der
preußischen Kunstverwaltung inne hat, glücklich erreicht haben, soweit eben die
Mittel des Staates sür die Pflege der monumentalen Kunst verfügbar find.
Wie erfreulich es auch für die Kmistgclchrtcu sein mag, einen Künstler als
Bundesgenossen auf diesem Wege zu begegnen, so darf doch nicht verschwiegen
werden, daß das Ergebnis der Knilleschcn „Grübeleien" sür die Männer, welche
sich wissenschaftlich mit der Erforschung der Kunstgeschichte beschäftigt haben,
kein überraschendes ist, ebensowenig wie der Abriß der Kunstgeschichte, durch
welchen Kuille zu seinem Ergebnis gelangt ist. Alles, was er uns zu sagen
hat, führt auf literarische Quellen, auf Burckhardt, dessen großer Gedanke von
der Entwicklung, Vollendung und Befreiung des Menschen der Renaissancezeit
von den Fesseln der Überlieferung auch den Grundgedanken der geschichtlichen
Auseinandersetzungen Kullich bildet (letzterer sagt nur „Konvention" statt „Tra¬
dition"), auf Kugler, Ueber, Lübke und andre Schriftsteller, die sich mit
moderner Kunstgeschichte befaßt habe», zurück. Selbst da, wo Knille offenbar
auf Grund von Erinnerungen aus seiner Düsseldorfer und Pariser Studienzeit
erzählt, erwartet man vergebens neue Mitteilungen, die über die Anekdote
Hinausgehen. Für seine Kunstgenossen, deren Mehrzahl bekanntlich wenig
Bücher liest und noch weniger kauft, mag Kullich Schrift gewiß viele neue
Offenbarungen enthalten, die, abgesehen von einigen Unrichtigkeiten und stilistischen
Uubeholfenheiten, auch in eine gefällige Form gekleidet sind"'); dasjenige Publikum
aber, welches die populären Werke unsrer Kunstschriftsteller kauft und liest,
wird sich wundern, daß einer aus der Mitte derer, die es schroff ablehnen,
daß ein andrer, der nicht auch Farben verquisten kann, sich über Malerei zu
schreiben erdreistet, trotz aller Grübeleien keine selbständigen Gedanken über seine
Kunst hervorzubringen weiß. Viel wertvoller als der Abriß der Kunstgeschichte
wäre uns und vielen andern Kunstfreunden gewesen, wenn Professor Knille
seine Gedanken über die heutige Monumentalkunst in eine kritische Übersicht,
wenn auch nur in eine solche über Stil, Technik, Material u. s. w., gekleidet,
wenn er uns z. B. gesagt hätte, ob er glaubt, daß es den strengen Stilgesetzen
der monumentalen Malerei entspricht, wenn man monumentale Bilder im Atelier
auf Leinwand malt und nachher an den für die Aufnahme der Bilder bestimmten
Wänden befestigt, wenn er seine Scheu vor Nennung von Namen wenigstens
so weit überwunden hätte, um uns und andern mit uns anzudeuten, wen er
eigentlich mit den Malern der Zukunft meint, die im Begriff sind, durch das
rote Meer nach dem gelobten Lande zu ziehen, um in dem Staate der Zukunft
als „zweibeinige Aufnahmcapparatc zwischen Natur und Mitbürgern" zu wirken.
Aber diese Fragen, die vielleicht mehr interessiren als der von andern schon
genügend aufgeklärte Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart,
läßt Knille unbeantwortet. Er begnügt sich mit einigen Komplimenten vor
den Berliner Kunstpäpsten Menzel und Kraus, wobei er die unrichtige Be¬
hauptung aufstellt, daß Kraus ein Original sei, „welcher aus eignen und tiefen
Quellen schafft," während Kraus in Wahrheit das Beste seines Könnens,
wenigstens in malerischer Beziehung, den alten Niederländern verdankt, und
beschränkt sich im übrigen, wie schon oben gesagt, auf dunkle Andeutungen oder
Ablehnungen. So sagt er z. B. über die jetzige religiöse Malerei: „Die Gegen¬
wart erleidet unzweifelhaft große Einbuße dadurch, daß sie keinen aus ihr selbst
quillmden künstlerischen Ausdruck mehr für das Göttliche zu finden weiß. Ihre
religiösen Vorstellungen haben sich zu rein intellektuellen vergeistigt, und war
die Kirche noch anschauliches braucht, das liefert die kleine Gemeinde der Hei¬
ligenmaler, ohne originelle Zuthat, nach alter Vorschrift, durchaus konven¬
tionell." Und in einer Anmerkung fügt er einschränkend hinzu: „Eigenartig,
bei aller Anlehnung an altdeutsche Formengebung, zeigt sich hier allein der
Protestant von Gebhardt." Darm liegt ein Widerspruch. E. von Gebhardt
weiß ebensowenig einen aus der Gegenwart „quilleudcn" künstlerischen Ausdruck
für das Göttliche zu finden wie die letzten noch unter uns schaffenden Corne-
liciner, von denen Knille übrigens nicht viel hält. Nicht bloß in der Formen-
gebung, sondern auch in der Innigkeit der Empfindung, in der Darstellung
naiver Gläubigkeit lehnt sich der Düsseldorfer Meister an die alten Deutschen
oder richtiger an die alten Niederländer an. Wenn es wirklich einen Maler
religiöser Bilder giebt, der ohne Anschluß an die Überlieferung, ohne irgend
eine Spur vou Konvention aus der Gegenwart schöpft, so kann es nur Fritz
von Abbe sein. Ihn und seine Geistesverwandten scheint Knille auch am Schlüsse
seines Buches, Wo er eine trostlose Aussicht auf die „Zukunftsmaler" eröffnet,
im Sinne zu haben.
Man hat den Kunsthistorikern und Kunstkritikern von Künstlerseite oft
genug vorgeworfen, daß sie nicht zur richtigen und gerechten Aburteilung eines
Kunstwerkes berufen seien, weil ihnen das Verständnis für das Technische ab¬
gebe. Dieser Vorwurf ist insofern unberechtigt, als auch durch lange Schulung
des Auges ein Einblick in die technische Methode, ohne Besitz der Handfertigkeit,
erreicht werden kann. Aber nehmen wir einmal an, der Vorwurf wäre be¬
gründet. Dann würde es umsomehr die Aufgabe der Künstler, die über Kunst
schreiben wollen, sein, die Kunsthistoriker und die andern armen Laien über das
Technische der Malerei, der Plastik u. s. w. aufzuklären. Das wäre ein wirk¬
liches schriftstellerisches Verdienst, das sich aber in Deutschland noch kein
Künstler erworben hat. Statt dessen bekommen wir ästhetische Betrachtungen
zu lesen, wie sie jeder philosophisch gebildete, schriftgewandte Laie anstellen kann,
und einen Auszug aus der Kunstgeschichte, der seinem Verfasser das Zeugnis
ausstellt, daß er sehr wohl eine Professur der Kunstgeschichte und Ästhetik an
einer Kunstakademie bekleiden könnte.
Was wäre damit aber gewonnen? Wir hätten einen der Professoren,
von denen zwölf aufs Dutzend gehen, mehr, und einen tüchtigen Künstler
weniger, und das wäre in unsrer Zeit, wo es unter den Künstlern der Idealisten
so wenige giebt, ein schwerer Verlust. Professor Knille wird unsre Auseinander¬
setzungen hoffentlich nicht mißverstehen. Wir haben so oft mit freudiger An¬
erkennung von seinen phantasievollen Schöpfungen gesprochen, daß es uns er¬
laubt sein wird, ebenso offen zu sein, wenn wir ihm ans einer Bahn begegnen,
auf welcher ihn die schöpferische Phantasie verlassen hat. Die „Grübeleien eines
Malers über seine Kunst" versprechen mehr, als sie halten. Es ist viel Rich¬
tiges und Gescheites darin, aber Gescheites, das nicht bloß schon oft gedacht,
sondern auch oft gesagt und gedruckt worden ist. Mit dem Namen Otto Kullich
denkt man sich immer etwas eigenartiges, das Gewöhnliche überragendes ver¬
bunden. In diesem Büchlein finden wir es nicht. Knille, der Maler, ist uns un¬
endlich wertvoller, ja notwendiger als der Schriftsteller Knille. Möchte er doch
bald wieder zu dem Pinsel greifen, welcher uns einst den Dithyrambus der
Romantik „Tannhäuser und Venus" geschaffen hat!
arna wird der Mai im deutschen Liede so iiberschwäuglich
gepriesen? Warum nennt man ihn den Wonnemonat? Ist
sein Habitus wirklich so wonniglich? Im Brockhausschen Kon¬
versationslexikon heißt es von ihm, daß er einen besseren
Ruf habe, als er verdiene, denn er bringe gewöhnlich mehr
schlechtes als gutes Wetter. Das gleicht denn doch einer Anklage wegen un¬
befugter Führung eines Ehrentitels, zu deren Erhärtung man nur die drei
Eismänner anzuführen braucht, die uicht nur dem Winzer und dem Landmann,
sondern auch dem Stadtbewohner so unwillkommene Gäste sind. Da saust oft
der Nordostwind trotz hellen Sonnenscheines schneidend dnrch die Ebene, oder
es öffnet, wie es Heuer geschehen ist, der Himmel seine Schleusen, um un-
endlichen Regen und kühle Tage zu senden. Indessen, was verschlägt das
alles! Blumen und junges Frühlingsgrün halten dem Boreas wie dem Plnvius
Stand, und so werden die Poeten auch wohl Recht haben, wenn sie den Mui
als Freudenbringer nach langer Winternot feiern und als Wonnemonat begrüßen.
Unsre Altvordern freilich waren nicht ganz so poetisch gestimmt. Ist
ihnen auch der Übergang vom Winter zum Sommer von jeher eine bedeutsame
und heilige Zeit gewesen, so reicht doch der Name „Wonnemonat" keineswegs
bis in das Dunkel einer entlegenen Vorzeit zurück. ^Viiur<zmKirüt oder vuirns-
rrmnöt, so heißt der Mai im Calendarium Karls des Großen, das bekanntlich
von dessen Biographen Einhard überliefert ist. Das ist aber eine recht pro¬
saische Bezeichnung. Denn das altdeutsche Wort nirms bedeutet Weide, virms-
in-wol heißt also derjenige Monat, in welchem die Stallfütterung aufhört und
das Vieh wieder auf die Weide getrieben wird. Heutzutage ist das Wort
virus so gut wie erloschen, es kommt nur noch in wenigen Eigennamen vor,
wie z. B. in Winnefeld. Auf die Weide weist auch die alte angelsächsische
Bezeichnung unsers Monats, tllrirmloi, d. h. der Dreimilchner, weil, wie schon
Beda erklärt, in diesem Monat das Vieh dreimal am Tage gemolken wird.
^riWMWssräs heißt in einem schwedischen Dialekt noch jetzt eine Pflanze, die
«Min pÄ>nLtri8, woraus man auf einen altnordischen, dem angelsächsischen
ibi'imüni entsprechenden Monatsnamen schließen kann. Dieselbe Beziehung liegt
in einem andern noch jetzt ans Island gebräuchlichen Namen. StsoKtiä nennt
man dort den Maimonat, d. h. die Zeit, in welcher die Hürden für die
Lämmer abgesteckt werden. Es giebt noch andre Bezeichnungen, die alle von
dem Erwachen des Tier- oder Pflanzenlebens hergenommen sind, aber nicht
etwa den Eindruck schildern, den die Frühlingszeit ans des Menschen Gemüt
zu machen pflegt. Die „Eicrzeit" heißt der Mai auf den friesischen Inseln
und auf Island, der Blütcnmonat oder Blumcnmouat in den Niederlanden und
in Ostfriesland. Noch lebhafteres Naturgefühl verraten slawische Namen.
Irnoxulc, d. h. Dornknospe, hieß der Mai ehemals bei den Böhmen, oder sie
nannten ihn den blühenden, den grasigen, den Laub- oder den Blattmonat,
während sich im Litthauischen der Name Kukuksmonat findet.
Der Begriff der Wonne also liegt den alten Namen des Maimonats voll¬
kommen fern. Der Name Wonnemonat ist lediglich durch Umdeutung entstanden,
und zwar wahrscheinlich erst im sechzehnten Jahrhundert, als gelehrte Forschung
Einhcirds Biographie und damit auch das Calcudarium Kaiser Karls aus dem
Staube der Kloslcrbiblivtheken hervorzog. Wie man aus Karls vinäunuzm-rund,
d. h. der Winzermonat von dem lateinischen vinäsinm, frisch weg „Windmvnat"
machte, so wurde der Wcidemonat der alten Germanen in einen Wonnemonat
umgewandelt. Vergessen war die alte Grundbedeutung des Wortes virus oder
oriens; nur als Boie und Wieland auf Justus Friedrich Rundes gutgemeinten
Vorschlag beschlossen, in den von ihnen herausgegebenen Zeitschriften die einhei¬
mischen Monatsnamen anstatt der lateinischen einzuführen,*) erhielt das Wort
„Wonnemonat" auch in der Literatur das Bürgerrecht, das, wie ein Blick auf die
Vollskalendcr beweist, auch heutzutage noch nicht erloschen ist. Dagegen hat der
„Windmonat" dem freilich leichter zu deutenden „Herbstmonat" Platz gemacht.
Allein Umdeutungen wie die eben besprochenen werden selten ohne innere
Berechtigung vorgenommen. Wenn man aus vuirnsurmM Wonnemonat machte,
so prägte man in dem Worte mir aus, was bereits in der Seele lag. War
doch der Mai, lange bevor der Name aufkam, thatsächlich zum Wonnemonat
geworden. Man kennt die FrühlingSfrende, die schon in der Urzeit unserm
Volke eigentümlich war. Man weiß, durch welche Symbolik ehemals der
Kampf zwischen den Jahresmächten des Winters und des Sommers dargestellt
wurde. Winter und Sommer, jener in Stroh und Moos gehüllt, dieser mit
Ephen und Immergrün bekränzt, treten einander gegenüber und bekämpfen sich,
bis der Winter den Streichen des Gegners erliegt. Dann wird von den Um¬
stehenden dem Besiegten die Hülle abgerissen und zerstückelt herumgetragen; der
Sieger aber wird mit frohem Zuruf und Gesaug begrüßt. Später tritt an
die Stelle des Winters vielfach der Tod. Dann kommt der Kampf in Weg¬
fall. In Gestalt einer Stroh- oder Holzpuppe wird der Tod ins Wasser ge¬
worfen oder in lodernden Feuer verbrannt. Noch jetzt leben solche Bräuche
in einigen Gegenden Deutschlands fort, wenn auch meist nur in den Spielen
der Jugend und arg entstellt.
Freilich scheint das alles unsern „Wonnemonat" zunächst wenig anzugehen.
Denn die ebeu geschilderten Lustbarkeiten fielen oder fallen gewöhnlich auf den
Sonntag Lätare oder Mittfasten, also viel vor Anfang der fröhlichen Maienzeit.
Dafür hat sich aber der Mai den sogenannten Mairitt vorbehalten, d. h. die
höfische Metamorphose des altheidnischen Winteraustreibens. Von diesem Mai¬
reiten, das auch in Skandinavien und England mit großem Pomp gehalten zu
werden pflegte, giebt ein schwedischer Chronist folgende Beschreibung: „Die
Schweden und Gothen (es sind natürlich die Gvthlcinder) haben einen Brauch,
daß in den Stätten die Oberkeit den ersten Tag Meiens zwei Geschwader
Reuter von starken jungen Gesellen und Männern versammeln läßt, nicht
anders als wolt man zu einer gewaltigen Schlacht ziehen. Das ein Geschwader
hat einen Rittmeister, welcher unter dem Namen des Winters mit viel Pelzen
und gefütterten Kleidern angethan und mit einem Winterspieß bewapnet ist;
der reitet hoffertiglich hin und wieder, wirft Schneeballen und Eisschenel von
sich, als wolte er die Kälte verlängern, macht sich ganz unnütz. Hergegen hat
das ander Geschwader auch einen Rittmeister, den heißt man den Blnmengraven,
der ist von grünem Gezweig, Land und Blumen bekleidet, anch mit andern
Sommerkleidern angethan und nicht fast werhnft, reitet mitsamt dem Winter¬
hauptmann in die Stadt ein, doch ein jeder an seinem besondern Ort und
Ordnung, halten alsdann ein öffentlich Stechen und Turnier, in dein der
Sommer den Winter überwinde und zu Boden rennet. Der Winter und sein Ge¬
folge werfen um sich mit Asche und Funken, das sommerliche Gesinde wehrt sich
mit Birkenmaien und ausgeschlagenen Lindenrnten; endlich wird dem Sommer
von dem umstehenden Volk der Sieg zugesprochen." Das heißt doch nur das
altgermanische Volksspiel in das Höfische übersetze,?.
In Deutschland freilich verlor der Mairitt sehr bald viel von seinem ur¬
sprünglichen, die Echtheit der Überlieferung währenden Zeremoniell. Abgeschafft
wurde das Bedeutsamste, der Kampf, und nur die Wahl, die Einholung und
Bekränzung des Maigrafen blieb, besonders in den Städten Niederdeutschlands
noch längere Zeit bestehen. So meldet der treffliche Bartholomäus Zastrow
in seiner von köstlicher Laune gewürzten Lebensbeschreibung von einem Mai¬
reiten, das im Jahre 1528 in Greifswalde mit großem Gepränge gehalten
wurde, freilich bei einem Wetter, welches der Bedeutung des Tages wenig genug
entsprach, indem „der Schnee beim Auß- und Einreiten Enkels hoch fiel,
das mau nur eilete wieder in die Stadt zur warmen Stuben zu kommen."
In Hildesheim war der Mittelpunkt des Festes die Einholung des mit jungen
Birkenzweigen gefüllten Mnienwagens, dessen Inhalt verteilt ward, worauf der
Maigraf uach Empfang des Kranzes die „Hvlzerbcn" bewirtete. Anderswo
wurde dem Maigrafen eine Maigräfin zugesellt oder von ihm gewählt. Hat
sich dergleichen noch jetzt im Volle erhalten, so fällt anch hier wieder der Jugend
die Hauptrolle zu. Aber überall, und wie wir sahen, schon frühzeitig, ist der
wichtigste Teil der Symbolik, der Kampf, vergessen. Was daran im Bewußtsein
des Volkes geblieben ist, das ist im Mittelalter in die großen Friihlingsturniere
und später-in die Schützenfeste übergegangen, die ja noch jetzt vielfach mit
einem Gepränge gefeiert werden, welches lebhaft an den Mairitt des Mittelalters
erinnert. Und wenn man noch jetzt die Häuser zur Pfingstzeit mit Birkengrün
und anderen Laube schmückt, so ist das ebenfalls ein Nachklang des alten
Brauches, der in dem Einholen des Maiwagens sich am breitesten entfaltet hat.
Aber das alles ist nichts gegen die Verehrung, welche die Dichter des
Mittelalters dem Maimonat gewidmet haben. Es ist bekannt, wie bei den
Minnesängern Naturgefühl und Liebessehnsucht sich ineinander schlingen, wie
das Erwache» und das Absterben der Natur und des Wachstums in stete Be¬
ziehungen zu deu Vorgängen in der Seele des Menschen treten. Bittere Klage
erheben sie über die Not des Winters, aber sie verkündigen das Lob des
Frühlings und preisen seine Süßigkeit. Freilich nicht aus dem übervollen
Herzen, welches Goethe zu dem Jnbel seines „Mailiedes" begeisterthat, sondern
in gedämpften Tönen und konventionell abgestimmter Empfindung. Was
Dietmar von Else, einer der frühesten Minnedichter, singt:
^ü?, MI Icnmst uns <Iiu iM,
tlo' IclvInvN VSKSlIlUS S!>>M',,
<!ii gruouot ^vol ain liuäe broii,
«srAimgsn ist Ahr vintsr l»no.
un Siut, MII'U dluninou wol g'od!>,Q
iiokvn ,'in diei' luMo 1r 8vlnii,
das haben hundert andre empfunden lind ähnlich auszudrücken gesucht. Aber
nun tritt ein neues hinzu. Während in alter Zeit wie im Spiel, so auch in
der Dichtung der Gegensatz von Winter und Sommer dargestellt wurde (denn
auf dieser Zweiteilung beruht das altgermanische Jahr), tritt allmählich dem
deutschen Sommer der welsche Fremdling, das Patenkind der lateinischen Rai»,
zur Seite, um ihm endlich gar den Rang abzulaufen. Hat der Lenz in den
Liedern des Mittelalters keine Rolle gespielt, so konnte von dem Frühling als
einem spätgcbornen Worte erst recht keine Rede sein. Alle Ehren der jungen
Sommerzeit fallen dem Maien zu, dem man, um ihn vollends zu gewinnen,
durch die Schreibung urvis bald anch ein deutsches Aussehen gab. Ein paarmal
macht ihm der all)<Mit<z, d. i. der April, den Rang streitig, aber mit geringem Erfolg.
Man kann sagen, daß seit dem zwölften Jahrhundert etwa der Mai un¬
bestritten als der Vertreter der goldnen Frühlingszeit gilt. Der Thüringer
Heinrich von Morungen vergleicht die Dame seines Herzens einem wonne-
speudeudeu, süßen Mai. Bald legt man diesen: die Attribute und die Wirkungen
einer Persönlichkeit bei. Er ist reich und führt den Wald an seiner Hand oder
sendet dem Walde Kleider, mit denen er sich schmücken soll. Er löst die Blumen
von den Banden des Reifes, er sendet Briefe in das Land, daß sie seine An¬
kunft verkünden und liegt im Felde gegen den Winter. Ja Walther von der
Vogelweide redet ihn einmal geradezu als Herr Meie an, nach der anmutigen Sitte
des Mittelalters, Sinnliches und Uusiunliches vollständig als Person zu fassen.
Alles in allem: dem mittelalterlichen Menschen gilt der Mai bereits als
Wonnemonat, und diese Auffassung hat die spätere Umdeutung des alten Wortes
vorbereitet. Seitdem aber ist die Verehrung des Namens geblieben, wie die
neuere Lyrik von Goethe bis auf Scheffel satsam beweist.
Von den Pflanzen gehören dem Mai außer der gewöhnlich Maiblume
oder Maiglockenblume genannten oonvkülku'la, besonders die Birke und der Wald¬
meister an. Die Birke entlehnt von dem Monat auch den Namen, ja in
manchen Gegenden Deutschlands ist das Wort Birke so gut wie unbekannt.
Mit Maien schmückt man zu Pfingsten die Häuser, und indem man die er¬
weiterte Form Male neben das Grundwort setzte, schien man mit dem zwei¬
silbiger Worte einen neuen Begriff zu gewinnen; daher kommt es, daß in
Norddeutschland das Wort in der Bedeutung von Birke zum Femininum ge¬
worden ist. Schließlich werden Laub und Zweige aller Art als Maien be¬
zeichnet, wie z. B. Schiller im ersten Akte der „Piccolomini" seinen jugendlichen
Helden sprechen läßt:
Wenn alle Hüte sich und Helme schmücken
Mit grünen Main, dem letzten Rand der Felder;
oder wie Hebel vom Sonntag sagt:
Und luegt eim me de Fenstern i
Mit sinen Augen mild und guet
Und Mitteln Mayen uffem Huck.
^ xotrori aber wird auch der Waldmeister als „Mai" bezeichnet, allerdings
weniger vom Volke als von Liebhabern des edeln Trankes, dem er die Würze
giebt. Und dieser liebenswürdige „Frühling" — denn ein Frühling ist er im
eigentlichen Sinne des Wortes — spendet seinen Duft, gleichviel ob der Mai
ein freundliches oder ein böses Gesicht macht. Denn nach Scheffels Zeugnis
hat er einen milden Sinn und hat seine Freude daran, den Menschenkindern
ein Wohlgefallen zu bereiten. Spricht er doch im „Trompeter" die bekannten,
von echt christlicher Denkungsart zeugenden Worte:
Schön war's, hier im dunkeln Tannwald
zwischen Felsen still zu blühen,
aber schöner noch im Mai zu
sterben, mit dein letzten Hauche
freudbedürft'gen Menschenkindern
ihren Maiwein mild durchwürzend.
Und das ist fürwahr ein tröstlicher Gedanke, der ein Gegengewicht gegen den
Zorn der Eisheiligen bilden mag. Wer wollte auch ein solches Opfer zurück¬
weisen? Ist doch der Genuß der duftenden Maibowle so ziemlich die einzige
Art zu malen — denn auch ein Zeitwort ist aus dem Namen des Wonne-
monates hervorgegangen —, die uns modernen Menschen geblieben ist.
I^^W^E er Winter 1476—77 war ungewöhnlich mild auf Island. Nur
den Gipfeln der Berge und in den Schluchten lag Schnee,
sonst war alles grün wie im Sommer, und bald nach Neujahr
war auch das Meer weit und breit eisfrei. Die Bachstelze»,
die sich sonst erst im April dahinauf wage», zeigten sich schon
Mitte Februar, und da die Ankunft dieser Vögel als sicheres Vorzeichen an¬
gesehen wird, daß bald ausländische Schiffe zu erwarten sind, so wunderte man
sich auch nicht allzusehr, als schon Ende des Monats ein fremdes Fahrzeug
bei Rif in Sicht kam.
Nis ist ein Fischerdorf, welches auf der nordwestlichen Spitze des Sne-
Mldnäs-Bezirks liegt, der langen, schmalen Halbinsel, die Island nach Westen
hin ausstreckt, und die ihren Namen von dem mächtigen Snefjäldsjökel hat,
der an dem äußersten Ende der Halbinsel emporragt und dessen glänzendweißen
Scheitel man meilenweit schimmern sieht. Heutzutage besteht Nis wie alle die
andern Dörfer dieses Bezirks nur noch aus einigen armseligen Hütten, aber
zu der Zeit, in welcher dieses Histörchen spielt, betrieb man sowohl auf der
Nord- wie auf der Südseite der Insel eine einträgliche Fischerei, und von
Jahr zu Jahr kamen zahlreichere englische Schiffe dorthin, um die Bewohner
mit allen Erfordernissen zu versehen und die getrockneten Fische auszuführen.
Dieser englische Handel, der hauptsächlich durch Schiffe aus London, Hull
und Bristol geführt wurde, war jedoch zum größten Teil nicht allein ungesetz¬
mäßig, sondern nahm sogar oft ein geradezu gcwaltthätiges Wesen an, indem
die Fremden in dem unbeschützten Lande als verheerende Feinde auftraten und
offene Seeräubern trieben. Es half nichts, daß die dänischen Könige von Erik
von Pommern an Verbot auf Verbot gegen den Handel der Fremden richteten
und eine Verwahrung nach der andern nach England sandten; es half auch
nichts, daß Christjern I. alle Engländer und Jrländer, die ohne seine Erlaubnis
Handel trieben, für landflüchtig und friedlos erklärte; der Gewinn bei dem
Handel muß Wohl so groß gewesen sein, daß man um seinetwillen gern das
Leben wagte, das ja überall in jenen unruhigen Zeiten keinen besondern Wert
hatte. Auch lag das unglückliche Land so weit entfernt von allem Recht und
Gesetz, daß die Verordnungen der Könige eigentlich nichts waren als leere
Formeln.
Deswegen giebt uns die Geschichte Islands in jener Zeit ein deutliches
Bild der Verwirrung und der Ohnmacht den Fremden gegenüber, das den
Norden kennzeichnet: in Dänemark, Norwegen und Schweden trieben die Hanse¬
städte ihren Handel mit List und Gewalt, auf Island traten die Engländer
in ihre Fußspuren und erlaubten sich alle die Freiheiten, welche ihnen die Ent¬
legenheit der Insel gestattete.
Und deswegen sahen, wie immer, so auch jetzt, die Bewohner von Rif mit
den gemischtesten Gefühlen der Ankunft des fremden Schiffes entgegen, das
auf ihre Küste zusteuerte und offenbar ein Engländer war. Sie hatten freilich
noch mehr Grund als alle andern, die Engländer als Feinde zu betrachten;
war doch hier am Strande, in der nächsten Nähe von Rif, der Lehnsmann
des Königs, Björn Thorleifsson, vor ungefähr zehn Jahren von englischen
Seeleuten erschlagen worden, deren Übergriffe er zu verhindern gesucht hatte.
Ganz entbehren konnte man die Fremden jedoch auch nicht, denn jene Zeiten
waren längst entschwunden, wo die Isländer selber ihre Waaren über das
Meer geführt und andre dafür heimgebracht hatten. Deswegen fand man
, sich, wie hart es auch sein mochte, in das Unvermeidliche und beugte geduldig
den Nacken unter dem Joche.
Das ist Richard Burlington! Ich kenne das Fahrzeug an dem hohen
Vordermast! sagte einer der Männer zu den andern am Strande, während sich
der Engländer der Küste näherte.
Das ist ein wahres Glück! meinte ein zweiter. Er sucht wenigstens keinen
Streit und handelt ehrlich.
Ja, so ehrlich, wie ein Engländer handeln kann! erwiederte der erste.
Er hieß Thorbjörn, war hochbejahrt, trug aber trotzdem seine riesenhafte Gestalt
gerade und aufrecht. Traurig, daß es mit uns Jsländern so weit gekommen
ist, daß wir es dankbar anerkennen, wenn ein Fremder die Gesetze des Landes
ehrt! fuhr er schwermütig fort. Das war ein andrer Menschenschlag, der in
frühern Jahren hier gewohnt hat!
Das Klagelied haft du nachgerade oft genug gesungen, warf einer der
Männer ein.
Wohl möglich! versetzte Thorbjörn. Grund genug habe ich dazu gehabt.
Jetzt steuerte das Schiff in den natürlichen Hafen, der sich bei Rif dadurch
gebildet hat, daß sich eine schmale Klippe nach Osten hin im Bogen vorstreckt
und eine kleine Bucht mit einem schmalen Eingang umschließt. Die Schiffe
liefen hier mit der Flut ein und lagen während der Ebbe im Trocknen. Es
war ein englisches Kauffahrteischiff, wie sie in jener Zeit zu sein pflegten: dick¬
bauchig, mit zwei Masten, die jeder ein paar Raasegcl trugen, mit einem offenen
Raum in der Mitte und hohen verdeckten Räumen vorn und hinten.
Die Isländer waren behilflich, das Fahrzeug so hoch wie möglich aufs
Land zu ziehen, sie wechselten Grüße mit dem Schiffer und seinen Leuten
und machten dann dem Ortsvorsteher Platz, der zuerst an Bord ging. Sein
Amt war kein leichtes. Er mußte, sobald ein fremdes Schiff landete, mit dem
Schiffer die Taxe besprechen, nach welcher die Waaren verkauft werden sollten,
und da bares Geld selten war, so mußte man sich zur Zahlung der ge¬
trockneten Fische bedienen. War man über die Taxe, den sogenannten „Kauf¬
satz," einig geworden, so verkündete sie der Ortsvorsteher lant und deutlich und
forderte alle auf, sich darnach zu richten. Gleichzeitig wurde an der Handels¬
stelle eine Fahne aufgesteckt, zum Zeichen, daß der Friede nicht gebrochen werden
dürfe, und daß der Markt unter dem Schutze des Gesetzes stehe.
Am nächsten Vormittage kam der Prediger von Jugjaldshol, Sira John,
nach Rif hinunter, nicht um Handel zu treiben, sondern um nach Neuigkeiten
zu fragen und mit den Engländern zu sprechen. Er war in Schweden geboren,
hatte mehrere Jahre im Auslande studirt und sich größtenteils in England
aufgehalten, von wo aus er seiner Zeit mit einem der Bischöfe gekommen war,
mit denen dies Land die Insel zu versorgen pflegte. Er war ein gelehrter
Mann, der nicht allein in der klassischen Literatur bewandert war, sondern der
auch eine große Vorliebe für geographische Studien hatte. Nach besten Kräften
verfolgte er die Entdeckungen, die auf diesem Gebiete gemacht wurden. Da ihm
aber bei der Entlegenheit der Insel jeglicher Verkehr mit studirten Männern
fehlte und auch die Erlangung von Büchern zu jenen Zeiten Unüberwindliche
Schwierigkeiten bot, so konnte er im Grunde sein Wissen nur erweitern, indem
er sich mit den Fremden unterhielt, welche die Insel besuchten, und die Mit¬
teilungen, die er durch diese erhielt, waren oft im wahren Sinne des Wortes
„Schiffergeschichten." So waren im Laufe der Zeit seine geographischen Be¬
griffe zu einem wirren Gemisch von wirklicher Gelehrsamkeit und dichterischen
Phantasien geworden.
Er betrachtete seinen Aufenthalt auf Island — wo er bereits zehn Jahre
war — als eine Art Verbannung und die Eingebornen als Barbaren. Dies
verhinderte ihn aber nicht, seine Gemeinde mit großer Liebe zu umfassen Und
sein Amt mit treuer Sorgfalt zu üben. Die natürliche Folge davon wär, daß
die Gemeinde den „englischen Prediger," wie er allgemein hieß, sehr gern hatte
und seine Absonderlichkeiten, sowie seine Ungewandtheit in der Sprache der
Insel mit Nachsicht behandelte.
Als Sira John an jenem Vormittage zu dem Schiffe hinabkam, das jetzt
auf dem Lande stand, und den Schiffer Richard Vnrlington begrüßen wollte,
der ihm aus frühern Jahren wohl bekannt war, erblickte er diesen im Gespräch
mit einem Fremden, dessen Kleidung und äußere Erscheinung deutlich zeigten,
daß er nicht zur Mannschaft des Schiffes gehörte.
Es war ein schöngewachsener Mann, etwas über Mittelgröße, mit läng¬
lichem Gesicht, krummer Nase und hellen Augen. Abgesehen von dem lebhaften
Blick derselben, war die dunkle Gesichtsfarbe des Fremden das auffallendste
an ihm — sie kennzeichnete ihn als Südländer. Auch war sein Haar, obwohl
er kaum dreißig Jahre zählen mochte, bereits völlig ergraut.
Der Schiffer begrüßte den Prediger herzlich und sagte, er komme wie ge¬
rufen, er habe gerade mit dem Fremden, den er als den wohledeln Sir Christoph
Dove vorstellte, von ihm gesprochen. Es ist ein vornehmer Portugiese, fügte
er leise, zu dem Prediger gewandt, hinzu, der, Gott weiß warum, auf den
Einfall gekommen ist, sich hier oben umzusehen. Ich habe ihn für Geld und
gute Worte mitgenommen und versprochen, ihm nach besten Kräften behilflich
zu sein; jetzt richte ich nun die Bitte an euch, ihn gegen gebührendes Kostgeld
während der Monate, wo ich hier liege, bei Euch in Eltern Hanse aufzunehmen.
Es wird Euch uicht gereuen; er ist eine ehrliche Seele, hat aller Herren Länder
bereist, er kann Euch mehr erzählen als ich oder meinesgleichen.
Sira Johns Antlitz strahlte vor Glück bei dem Gedanken an die Aussicht
auf diese lehrreichen Gespräche; ehe er sich aber ein den Fremden wandte, fragte
er den Schiffer noch, ob sein Begleiter auch Englisch spreche. Ja, verständlich
kann er sich schon machen, lautete die Antwort, aber Latein spricht er wie ein
Geistlicher!
Nachdem er diese in hohem Grade beruhigende Antwort erhalten hatte,
drückte Sira John dem Fremden in gewählten lateinischen Worten seine Frende
aus, einen so seltenen und ausgezeichneten Gast bei sich zu sehen, und die
Hoffnung, daß Sir Dove vorlieb nehmen werde unter seinem bescheidnen Dache.
Der Fremde erwiederte darauf in ebenso schönem und fließendem Latein,
wie glücklich er sich schütze, in ultirns. Illulo einen solchen Wirt angetroffen zu
haben, und daß er das ihm so freundlich entgegengebrachte Wohlwollen niemals
vergessen werde.
Jetzt mischte sich auch der Schiffer in das Gespräch und sagte, daß er
am Nachmittage einen Mann mit Sir Doves Kiste nach Jngjaldshol senden
wolle; dieser könne ihm dann ja anch den Weg zeigen. Der Prediger aber,
der froh wie ein Kind war über seine Beute, wollte diese keinen Augenblick
aus den Händen lassen und machte dem Fremden deswegen den Vorschlag, ihn
gleich auf seinen Pfarrhof zu begleiten. Hiergegen hatte Sir Dove natürlich
nichts einzuwenden, und so machten sich denn beide auf den Weg.
Während sie weiter landeinwärts schritten, kam im Süden der mächtige
Sncfjäldsjötel mehr und mehr zum Vorschein. Sir Dove fühlte sich tief er-
griffen von dem großartigen Anblick und richtete einige Worte der Bewunderung
an seinen Begleiter. Dieser aber, dem die Aussicht etwas alltägliches war, und der
eine zu tiefe Verachtung von der Gegend empfand, in der er zu leben verdammt
war, ging nicht ans die Äußerungen des Fremden ein. Endlich erreichte man
Jngjaldshol. Sira John bezeichnete mit einem Achselzucken und einem halb
mitleidigen Lächeln den Pfarrhof als seine Wohnung und bat Sir Dove ein¬
zutreten. Er führte ihn ins Wohnzimmer mit der Bitte, es sich so bequem
wie möglich zu machen, und verließ ihn dann, um, wie er sagte, für einen
Imbiß zu sorgen, in Wirklichkeit aber, um mit Thorbjörn zu spreche».
Der alte Thorbjörn, der am verflossenen Tage das englische Schiff schon
von weitem erkannt und der seinem Unwillen gegen die Fremden Luft gemacht
hatte, war der Hausgenosse des Predigers. Obwohl er einem alten, rühmlich
bekannten Geschlecht entstammte, hatte er doch in seinen jungen Jahren lange
Reisen mit ausländischen Schiffen gemacht, etwas, was die Isländer im all¬
gemeinen nicht zu thun Pflegen. Als er älter geworden war, ließ er sich in
der Heimat nieder, und als Sira John Prediger in Jngjaldshol und Froddaa
wurde und im Anfang kein isländisches Wort verstand, da trat Thorbjörn
trotz seines Fremdenhasses als Dolmetscher zwischen ihm und den Bewohnern
der Insel ans. Er nahm seinen Aufenthalt im Pfarrhofe, anfänglich nur für eine
kurze Zeit; aber er und Sira John konnten einander, trotz der Verschiedenheit
ihrer Naturen, ihrer Bildung und ihrer Interessen, nicht mehr entbehren, und so
war es denn ganz selbstverständlich, daß Thorbjörn für immer dort blieb. Jetzt
besorgte er die Wirtschaft und nahm dem Prediger alle weltlichen Geschäfte ab,
die dessen Beruf mit sich brachte. Die langen Winterabende verflossen beiden
verhältnismäßig schnell, denn Thorbjörn erzählte dann von seinen Reisen und
von all dem Merkwürdigen, was er erlebt und gesehen hatte, Sira John teilte
ihm alles mit, was er gelesen und studirt hatte, ja er lehrte ihm sogar so
viel Latein, daß sich der Alte auf eigne Hand mit einem leichteren Schriftsteller
beschäftigen konnte.
Im übrigen hatte Thorbjörn nnr wenig Verkehr, und Verwandte besaß
er nicht. Er unternahm oft lange, einsame Wanderungen, und man konnte
ihn an der Küste sitzen und auf das Meer hinausstcirrcn sehen, aber er war ver¬
schlossen und wortkarg. Sprach er einmal, so war es sicher, um zu beklagen,
daß die Gegenwart so entartet sei, daß ein so jämmerliches Geschlecht die Insel
bevölkere. Das mochte natürlich niemand hören, und trotzdem war Thorbjörn,
wenn auch nicht beliebt, so doch allgemein geachtet; selbst wenn man ihm nicht
einräumen wollte, daß er im Grunde Recht habe, mußte man doch Ehrfurcht
vor ihm empfinden, der so die Größe der entschwundenen Zeit in Ehren hielt
und sie gleichsam vergegenwärtigte; und dann war man allgemein der Ansicht,
daß Thorbjörn entweder einen großen Kummer erlitten habe oder über ein Ge¬
heimnis brüte, das alle seine Gedanken in Anspruch nehme.
Es lag dem Pfarrer daran, mit Thorbjörn zu sprechen, ehe dieser den
neuen Gast sah, und ehe er erfuhr, daß dieser mehrere Monate in Jugjaldshol
bleiben würde, denn Sira John, der den Haß seines Hausgenossen gegen die
Fremden kannte, war nicht sicher, daß Thorbjörn Sir Dove gegenüber seinem
Unwillen Zügel anlegen würde, wenn er nicht auf die Anwesenheit desselben
vorbereitet war.
Es ging indessen besser, als zu erwarten gewesen war: Thorbjörn erklärte
sofort, daß er gegen den Fremden, der ja kein Engländer, sondern ein Por¬
tugiese war, nicht mehr habe als gegen alle andern Menschen, und hoch erfreut
über den glücklichen Ausgang seiner diplomatischen Sendung kehrte der gute
Sira John zu seinem Gaste zurück. (Schluß folgt.)
Bei der Erörterung über die Gebührenordnung für
Nechtsouwälte und die Aenderung des Gerichtskostengesetzes in der Justizkommission
des Reichstages wurde unter andern Fragen der Jnstizgesetzgebnng auch die gegen¬
wärtige Stellung der Gerichtsvollzieher gestreift. Nach Zeituugsmitteilungen sollen
die Vertreter der Verbündeten Regierungen folgenden Standpunkt in dieser Sache
eingenommen haben: Ueber die Abänderung der Einrichtung der Gerichtsvollzieher
seien Verhandlungen angeknüpft worden, die aber bisher zu keinen: Erfolg geführt
hätten. Die Mehrheit der Verbündeten Regierungen sei der Ansicht, mau müsse
der Einrichtung zunächst noch Zeit lassen, sich zu bewähren, ehe man über ihren
Wert endgiltig urteilen könne.
Wir sind nun gewiß die letzten, die gleich nach Aenderungen unsrer Gesetz¬
gebung rufen, wenn uns etwas nicht gefällt; wir haben in dieser Zeitschrift
vielmehr stets den Standpunkt vertreten, daß gerade in unsrer Gesetzgebung das
ewige Aendern vom allergrößten Uebel sei, und daß man lieber etwas weniger
Gutes mit in Kauf nehmen solle, als das Rechtsbewußtsein des Volkes durch fort¬
dauerndes Experimentiren zu erschüttern. Allem bei aller Aufrechthaltung dieses
Standpunktes glauben wir doch fordern zu dllrfeu, daß bald, möglichst bald, wenn
auch nicht Abschaffung, so doch eine durchgreifende Aenderung in der Stellung und
namentlich auch in dem Einkommen der Gerichtsvollzieher eintrete. Der Verfasser
dieser Zeilen steht mitten in der Praxis. Er bestreitet, wie er das schon früher
gethan hat, auch jetzt uoch, beiß die Gerichtskosten namentlich für kleine und mittlere
Sachen, also die große Mehrzahl, zu hoch seien. Die Klagen des Publikums, die
deshalb laut werden, richten sich an sich gar nicht gegen die Gerichtskosten allein; sie
richten, sich gegen die Höhe derjenigen Beträge, die aufgewendet werden müssen,
um heutzutage in Deutschland einen Rechtsstreit zu führen und seinen Zweck,
nämlich die Herbeiftthrnng des staatlichen Zwanges bei Geltendmachung eines
Rechtsanspruchs, zu erreichen. Diese Beträge setzen sich zusammen aus Gerichts-
kosten, Anwaltsgebühren und Gerichtsvollziehergebühren, von denen die letzteren
namentlich bei Zwangsvollstreckungen gar nicht unbedeutend sind. Ermäßigt man
einen dieser drei Teile, aus deuen sich in den Augen des Publikums die jetzigem
Gerichtskosten zusammensetzen, so ermäßigt man diese Kosten überhaupt. Zweifellos
sind die Gebühren und überhaupt das Einkommen der Gerichtsvollzieher nun ge¬
eignet, eine Ermäßigung und teilweise eine namhafte Herabsetzung zu ertragen.
Wir wollen dem Staude der Gerichtsvollzieher nicht zu nahe treten. Allein diese
aus der französischen Gesetzgebung herübergenommene und ganz undeutsche Ein¬
richtung hat doch eigentlich im großen und ganzen rein mechanische Aufgaben zu
erfüllen. Oder ist die Aufgabe einer Zeugcnladnng oder einer Ladung überhaupt
zur Post oder die Einhändigung eines Schriftstückes an eine Person und die Aus¬
füllung eines vorgedrnckten Formulars etwas andres? Stellt die Vollziehung einer
Pfändung, die Ausweisung eines znhlnngssäumigen Schuldners große Anforderungen
an den ausführenden Beamten? Haben diese Amtshandlungen uicht lange Jahre
unsre alten Gerichtsdiener zur vollen Zufriedenheit und für wenig Geld vor¬
genommen? Warum also eigne Beamte mit juristischer Halbbildung und einer
durchschnittlichen Gebührcncinnahme, die fast in allen Fällen die der Richter, ihrer
Vorgesetzten, bei weitem übersteigt? Sind doch Gerichtsvollzieher mit 10V00 Mark
Reineinnahme vorhanden, und ein Einkommen von 5- bis 6000 Mark ist bei
diesen Beamten gar nicht selten, während die Richter erster Instanz, abgesehen von
den Hansestädten, in ganz Deutschland es nicht über 6000 Mark jährlich bringen
können. Hier werden große Summen des Nationalvermögens — ohne ersichtlichen
Zweck — vergeudet. Mit Recht hat eine Zeitung kürzlich darauf hingewiesen, daß
eine Gesetzgebung, welche das Glück habe, sich eines so ausgezeichneten Apparates
wie des deutschen PostWesens bedienen zu können, nicht die Zustellung durch einen
besondern Beamten, der überdies in den meisten Fällen selbst die Post benutzt, als
unbedingte Voraussetzung für den Erlaß eines Zivilurteils vorzuschreiben brauche,
daß es vielmehr genüge, wenn die Anstellung der Klage, der Ladungen und der¬
gleichen etwa durch eingeschriebene Briefe oder etwas dem ähnliches unmittelbar
von dem Gerichtsschreiber oder der Partei aus vorgenommen würde. In gleicher
Weise ist es in vielen Fällen nicht nötig, Zwangsvollstreckungen Beamten von der
Stellung der Gerichtsvollzieher zu übertragen. Aber selbst dann, wenn mau zur
Vornahme von Vollstrccknngshandluugen die Gerichtsvollzieher allein geeignet hielte,
warum giebt man ihnen Gebühren, die zur Wichtigkeit ihrer Amtshandlungen in
keinem Verhältnis stehen? Warum ist z. B. die Vorschrift aufgenommen, daß ein
Gerichtsvollzieher, der in einem Orte an einem Tage mehrere Pfändungen vor¬
nimmt, für jede einzelne Handlung seine Reisekosten vollständig anrechnen kann, ob¬
wohl er die Reise nur einmal macht? Das sind Mißbräuche, die sehr gut beseitigt
werden können, ohne dem Gebäude der Zivilprozeßordnung zu schaden. Im Gegen¬
teil, viele Klagen über die Höhe der Gerichtskosten werden verstummen, wenn hier
angesetzt und gründlich geändert wird. Dem Staate, der jetzt, wie üblich, das ganze
Odium der Gerichtskosten wegen zu tragen hat, während er in jedem Jahre weniger
einnimmt, kann nur dadurch genützt werden.
Kaspar Hauser, dieses stets mit Unrecht
als „Nürnberger Findling" bezeichnete „Kind Europas," kann noch immer keine
Ruhe finden. Die ohnehin schon umfangreiche Hauserliteratur wächst von Jahr
zu Jahr, ohne daß hierdurch der Schleier von dem Geheimnis gelüstet würde.
Kürzlich ist die Welt wieder mit einem umfänglichen Werke über Hauser*) beglückt
worden, das, wenn es auch viel Licht in die Sache bringt, doch das Problem auch
nicht ganz zu lösen vermag.
Da ich beim verehrlichen Leser wohl die Kenntnis von Hausers Lebensgang
voraussetzen darf, beschränke ich mich darauf, an der Hand der neuesten Bio¬
graphie hier einige auffallende und sonderbare Episoden zu beleuchte». Daß
Kaspar Häuser nicht der „vollkommene Engel" Daumcrs, uicht der „von einem
wahrhaft heiligen Wahrheitsgcfühl" durchdrungene des öl-. Preu, mich nicht der
„Tiermensch" Binders oder der „Wundermensch" Feuerbachs war, sondern vielmehr
ein Bursche, der infolge seiner Verlogenheit in Verbindung mit einer gänzlich ver¬
kehrten Behandlung und einer unvernünftigen Erziehungsweise zum Phänomen
wurde, in Wirklichkeit aber durch andre zum Betrüger geworden war, ist heute
nicht mehr zu bezweifeln. Als Hanser in Nürnberg ankam, war es sicher nicht
feine Absicht, dort die Rolle eines Betrügers zu spielen, es lag ihm fern, als das
Objekt eines „Verbrechens am Seelenleben" aufzutreten; erst durch das in ihn
Hineingeredete und dann in derselben Weise wieder Abgefragte ist seine „Lebens¬
geschichte" entstanden, die mit Recht eine Legende genannt wird.
Kaspar Hauser kam in Nürnberg am 26. Mai 1323 mit starken Schritten
am Uuschlittplatz bestaubt an, er ging ohne Stock, war vollständig bekleidet, hatte
Stiefel an den Füßen, die ihm zu klein waren, also das Gehen noch dazu er¬
schwerten, sprach mit einigen Männern verschiedenes deutlich im altväterischen Dialekt,
war durchaus nicht über die Menschen, Hänser und Tiere erstaunt, fondern zeigte
sich vielmehr gleich mit den Pferden vertraut — und dieser Bursche, der schon
bei seiner Ankunft sprechen, lesen nud schreiben kann und hierin mehr Kenntnisse
besitzt, als ein normales Kind in vier Wochen erlangen kann, behauptet später, als
Ergebnis des in ihn Hineingefragten, viele Jahre in einen „Käfig" eingesperrt zu¬
gebracht, nie einen Menschen, ein Gebände, eine Blume, die Sonne, den Mond,
überhaupt nichts vom Weltall gesehen zu haben, ja er versichert, Sprechen, Lesen
und Schreiben in seinem dunkeln Kerker in zwei Stunden erlernt zu haben, legt
von seinen Fähigkeiten hierin Beweise vor, zeigt sich auf ein Pferd gesetzt sofort
als geübter Reiter, hört öfter Glockengeläute, ohne darüber verwundert zu sein,
und erst auf Befragen hat er es nie gehört, hat nie einen Donnerschlag ver¬
nommen, nie ein menschliches Gesicht gesehen, selbst das seines Pflegevaters nicht,
der ihm Lesen, Schreiben und Sprechen, ja sogar Gehen gelehrt hat, mit dem er
einige Tage und Nächte nach Nürnberg gegangen war. Derselbe Junge, der im
Gras nnter Regen im Freien zugebracht hat, der mit Stiefeln angethan in Nürn¬
berg mitten in der Stadt Leute anspricht, will kein Gras, keine Sterne, kurzum
nichts gesehen und gekannt haben und will in Stiefeln nicht gehen können. Wer
soll das heute noch glauben? Und doch hat zu seiner Zeit alles gläubige Hörer
gefunden, die später, als ihnen die unzähligen Widersprüche auffielen, nicht mehr
umkehren konnten, ohne sich dem Spott auszusetzen, und deshalb den selbst nicht
mehr anerkannten Glauben immer weiter verfochten. Vieles ist an der Geschichte
Hausers merkwürdig, vieles ist noch unklar und wird es auch bleibell, aber das
ist klar, daß seine Einkerkeruugsgeschichte in der Weise, wie sie bekannt wurde,
erdichtet war, erdichtet nicht von ihm selbst, sondern mit seiner Beistimmung er¬
dichtet von andern, und ferner steht es fest, daß fein Lebensgang eine Bahn ein¬
geschlagen hatte, die er ohne die widersinnige Ausforschungsmethooe nie genommen
haben 'würde.
Die Juristen Feuerbach und Tücher selbst haben ihre Hausergeschichte seiner
Zeit bescheiden einen Indizienbeweis genannt. Da Hausers Taufschein fehlt und
eine Entdeckung seiner Mutter jetzt Wohl nicht mehr möglich sein dürste, wird seine
Herkunft genau wohl nie mehr zu ermitteln sein. Er kam jedenfalls von der alt-
baierisch-österreichischen Grenze nach Nürnberg, uicht mit einem fertigen Plane, seine
ihm dort erst aufgenötigte Rolle zu spielen, sondern mit dem ernsthaften Vorsatz,
als Kavallerist beim Militär einzutreten. Er selbst hat, als entsprungener Land¬
streicher oder durchgebrauuter Bauernbursche, Stalljnnge oder sonst etwas, ber-
schiedncs zu verheimlichen gehabt und Nachfrage verhindern wollen. Und das ist
ihm durch das Zusammenspiel von Menschen und Umstünden so gut gelungen, daß
aus diesem Senfkorn der Riesenbnum der Hanserromnntik hervorgewachsen ist, die
jetzt durch A, von der Linde in seinem Werke, das von dem Standpunkte ausgeht, daß
„aufmerksam beobachten, wie es gemacht wurde," das einzige vorhandene Problem
Der Mensch. Von Dr. Johannes Ranke. 2 Bde. Leipzig, Bibliogr. Institut, 1887.
Ein mit einer Fülle prachtvoller Abbildungen und Tafeln ausgestattetes gro߬
artiges Werk, dessen erster Band Entwicklung, Bau und Leben des menschlichen
Körpers, dessen zweiter die heutigen und die vorgeschichtlichen Menschenrassen be¬
schreibt. Wir haben in Deutschland noch nicht so viel derartige glänzende Popn-
larisirungen in vornehmem Stil wie die Engländer. Aber gewiß ist es als ein
Fortschritt zu begrüßen, daß auch bei uns in solcher Weise das zum Gemeingut
der Gebildete» gemacht wird, was sonst nur die Fachgelehrten beherrschen; zumal
wenn es sich um das anziehendste Studium von allen handelt, den Menschen selbst.
Das Werk ist eine wahre Fundgrube der mannichfachsten Belehrung und durchaus
geeignet, sehr viel Unwissenheit und thörichtes Geschwätz zu beseitigen. Der Ver¬
fasser steht hoch und unparteiisch über den banalen Bestrebungen gewöhnlicher popu¬
lärer Effekthascher, denen es vor allein darauf ankommt, den Menschen für ganz
dasselbe wie Tier und Affen auszugeben; er thut deu merkwürdigen Ausspruch,
daß „die niedrigsten Wilden" bezüglich der Hauptproportioneu das Von den Affen
am weitesten abliegende Extrem der menschlichen Körperbildung darstellen. Dennoch
überrascht es ein wenig, daß er die menschenähnlichen Affen, als verstünde sich das
ganz von selbst, unter den vorgeschichtlichen Menschenrassen anführt, wenn auch
ihre Beschreibung sehr lehrreiche Vergleichspunkte darbietet.
Zur Beachtung.
Mit dem vorliegenden Neste beginnt diese Zeitschrift das 8. Vierteljahr ihres 4H. Jahr¬
ganges, welches durch alle Buchhandlungen und postanstaltcn des In- und Auslandes zu
beziehen ist. preis für das Vierteljahr g Mark. Wir bitten um schleunige Erneuerung
des Abonnements.
Leipzig, im Juni M7. Die Verlagshandlung.
clgien ist bekanntermaßen das Ideal der Liberalen, soweit sie
Doktrinäre sind, die Verwirklichung ihrer Wünsche auf verfassungs¬
mäßigen Gebiete, der Musterstaat des Parlamentarismus, der
alleinseligmachenden Form des politischen Lebens, die sich, wenn
man den Herren glauben darf, überall bewähren muß. Schade
nur, daß die Erfahrung die letztere Behauptung bis jetzt nicht bestätigt hat,
daß sie seit einiger Zeit selbst am lebendige Thatsache gewordenen Ideale, am
Muster, zweifeln läßt, und daß hier gerade in Betreff der wichtigsten Frage des
innern politischen Lebens, wie man zu sagen pflegt, guter Rat teuer ist. In Öster¬
reich verewigt der Parlamentarismus den Streit der Nationalitäten, in Frankreich
läßt er keine Negierung mit Aussicht auf Dauer aufkommen, in Belgien zeigte er
sich bisher ganz und gar unfähig, die soziale Frage auch nur annähernd zu
lösen, die in dem stark bevölkerten Fabriklande von solcher Bedeutung ist, daß
sie, wenn den betreffenden Übelständen nicht bald abgeholfen wird, mit einer
Katastrophe endigen muß. Weder die jetzt am Ruder stehende Partei noch die
gegenwärtig in der Minderheit befindliche und folglich Opposition machende
wußte einen Ausweg aus der Not und Verlegenheit zu finden, und ebenso
wenig war dazu die katholische Kirche imstande, die nach wiederholter Ver¬
sicherung unsrer Ultramontanen im Reichstage allein die Kraft besitzt, der sozialen
Revolution in ihrer Entwicklung Halt zu gebieten.
Die Arbciterunruhen, welche im März vorigen Jahres begannen und nach
einer mehrmonatlichen Pause im jetzigen von neuem ausbrachen, hatten ihren
Grund zunächst in der Bedrückung und Ausbeutung der arbeitenden Klassen
durch die Kapitalisten, welche sie beschäftigten, und in Aufreizungen jener Klassen
durch anarchistische Wühler und Vereine, sodann aber und am letzten Ende
in dem Geiste mißverstandener Freiheit, der die belgische Verfassung geschaffen
hat, durchdringt und handhabt, und der weder der Ausbeutung Schranken setzen,
noch die Wühler und ihre Presse hinreichend unschädlich machen und die Vereins¬
thätigkeit und das Versammlnngsrccht genügend hemmen ließ. Es gab in Belgien
keine Gesetze zum Schutze der Arbeiter, keine staatlichen Einrichtungen, die sie
bei Unfällen, Krankheiten und für das Alter sicher stellten, und der Theorie
nach durfte auch nichts der Art geschaffen werden; der Staat hatte sich alles
Eingreifens in die wirtschaftliche Entwicklung zu enthalten, er sollte nur Wächter,
und auch dies nur mit starker Beschränkung, nicht aber Schöpfer sein. Die
Dinge sollten sich unter dem Schirme der Freiheit selbst ordnen und immer
vollkommener gestalten. Nach der Theorie war das bestimmt zu erwarten, die
Praxis aber entsprach dieser Meinung nicht, sie hatte nur tiefes Elend der
Arbeiter und zuletzt bedenkliche Aufstände derselben zur Folge.
Die Unruhen begannen am 18. März 1886 in Lüttich mit der Zertrüm¬
merung und Plünderung einer großen Anzahl von Luder, wogegen Polizei »ut
Bürgergarde mit Waffengewalt einschritten. Acht Tage vorher stellten die
Kohlenbergleute der Gruben in der Umgegend von Charleroi, die sich über zu
niedrige Löhne beklagten, die Arbeit ein, verstärkten sich dnrch Zuzug aus den
benachbarten Fabriken und verübten allerlei Unfug und Verbrechen. Mehrere
Fabriken wurden verwüstet, zahlreiche Glashütten zerstört, verschiedene Geschäfts¬
häuser ausgeplündert. Die prachtvolle Wohnung des großen Glasfabrikanten
Baudoux ging in Flammen auf. Ärgeres war von den wütenden Rotten beab¬
sichtigt, als Truppen unter General Vandersmissen anrückten und dem Unwesen
ein Ende machten. Mehrmals kam es dabei zur Anwendung der Schußwaffe,
unter anderm bei Roux, wo die Aufständischen 26 Tote auf dem Platze ließen.
Erst allmählich wurde es wieder ruhig, und die feiernden Arbeiter nahmen
ihre Beschäftigung wieder auf. Am 30. März berichtete der Ministerpräsident
Beernaert in der Kammer über diese Vorgänge, wies auf die Ursachen der
industriellen Krisis hin, die sie nach ihm allein hervorgerufen hatte, und
suchte sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, zu spät militärisch eingeschritten
zu sein. Um den Arbeitern Beschäftigung und Verdienst zu verschaffen, sollten
öffentliche Arbeiten unternommen und zu diesem Zwecke eine Anleihe von
43 Millionen Franken aufgenommen werden. Zur Prüfung der belgischen
Arbeitervcrhciltnissc wurde eine Kommission eingesetzt, die dann ein Pro¬
gramm mit- verschiedenen Reformen entwarf. Zu gleicher Zeit tagte in Gent
während der letzten Aprilwoche ein Sozialistenkongreß, der ebenfalls ein
Programm aufstellte, welches aber neben manchem verständigen Verlangen,
wie Gesetze zum Schutze der Arbeiter «ach deutschem Muster, Errichtung
von Arbeiterkammern, Einführung des obligatorischen unentgeltlichen Vvlks-
unterrichts, auch viel Unvernünftiges, z. B. allgemeines Wahlrecht, Auf-
Hebung des persönlichen Eigentums, Trennung von Kirche und Staat, Ein¬
ziehung der Kirchengüter und Beseitigung des Senats und des Königtums,
enthielt. Am 13. Juni folgte darauf in Brüssel eine Versammlung von De-
legirten der Arbeiterpartei des Landes, in welcher Fortsetzung der Propaganda
für allgemeines Stimmrecht und für den Fall einer Verweigerung dieser For¬
derung allgemeine Arbeitseinstellung, sobald die Partei die dazu erforderliche
Kraft erlangt hätte, beschlossen wurde. Eine neue großartige Kundgebung sollte
am 16. August, dem Nationalfeiertage der Belgier, in der Hauptstadt erfolgen.
Dn die Regierung Grund hatte, zu befürchten, es werde dabei zu Unruhen
revolutionärer Art kommen, so traf sie durch Bereitstellung von Truppen und
Einberufung der Bürgergarde rechtzeitig militärische Maßregeln, und so verlief
der Zug von 20 000 Arbeitern, mit dem die Partei am 16. August in den
Straßen demonstrirte, ohne Schaden. Der Generalrat der Partei übersandte
dem Ministerpräsidenten eine Adresse, die er der Kammer vorlegen sollte, und
in welcher Abänderung der Verfassung und Einführung des allgemeinen Wahl¬
rechts verlangt und darauf hingewiesen wurde, daß bei Nichterfüllung dieses
Begehrens eine verhängnisvolle Krisis für das gesamte Land eintreten werde.
Am 26. September versammelte sich in Lüttich ein katholischer Kongreß für
soziale Reform, an dem auch Deutsche und Franzosen teilnahmen und bei dem
sich der Bischof Korum von Trier für Einführung der Unfall- und Kranken¬
versicherung, wie sie in Deutschland bestehe, aussprach. Die belgischen Mitglieder
nahmen aber an dem Zwange, der dabei den Arbeitern und Fabrikanten auferlegt
war, Anstoß und bequemten sich nnr aus Rücksicht auf Korum zu dem Be¬
schlusse, es solle von feiten des Staates eine obligatorische Arbeiterversicheruug
eingeführt werden. Der 31. Oktober brachte eine neue Kundgebung in Charle-
roi, an der sich über 30 000 Arbeiter beteiligten und bei der allgemeines
Stimmrecht und Amnestie für die inzwischen wegen des Märzaufstandes ver¬
urteilten die Losung waren. Die letztern hatten Strafen getroffen, die zum
Teil sehr schwer waren, indem sie in zwanzigjähriger oder lebenslänglicher
Zwangsarbeit bestanden. Einer der Hauptwühler, der heruntergekommene Ad¬
vokat Defuisseaux, welcher als Verfasser eines weitverbreiteten „Volkskate¬
chismus" wesentlich zum Ausbruche der Unruhen beigetragen hatte lind jetzt zu
eiuer längeren Gefängnisstrafe verurteilt wurde, war inzwischen nach Holland
entflohen. Ein andrer Führer der Sozialisten, Anseele, der nach dem Gemetzel
bei Roux in öffentlicher Versammlung den König als „ersten Volksmörder"
bezeichnet hatte, wurde von der Anklage der Beleidigung der Person des Königs
freigesprochen natürlich durch Geschworne, durch Vertreter der liberalen
„öffentlichen Meinung." in deren Bereich ähnliches nicht selten geäußert wurde.
Der Stellvertreter des Bürgermeisters von Namur z. B., Schöffe Rouvaux,
hielt bei einem Bankette liberaler Elementarlehrer eine Rede, in der er die
massenhafte Absetzung von solchen, die infolge des klerikalen Vvlksschulgesetzes
erfolgt war, in höhnischen Worten dem Monarchen schuld gab, und als darauf
durch königliches Dekret die Absetzung über ihn verhängt wurde, brachten ihm
Vertreter der meisten liberalen Vereine des Landes begeisterte Huldigungen dar.
Viel ernster und bedenklicher war, daß die Soldaten bei der großen Versammlung
der Arbeiter, die einige Tage später in Charleroi stattfand, mit den Sozialisten
fraternisirten, was den vielen Gründen, welche für Umgestaltung des belgischen
Heerwesens sprachen, einen wichtigen neuen hinzufügte. Die belgische Rekrutirung
ist eine Ungerechtigkeit und zugleich eine Gefahr. Jeder Militärpflichtige zieht
dabei eine Nummer, und wenn dies vorüber ist, werden die, welche die nie¬
drigsten Nummern gezogen haben, bis zur Ausfüllung der erforderlichen Zahl
zurückbehalten. Wer von ihnen nicht dienen will, befreit sich, wenn er kann,
von der Militärpflicht durch Zahlung von 1600 Franken. Infolge dieses Systems
entzieht sich jeder Besitzende der Ableistung der Wehrpflicht, und nur das länd¬
liche und städtische Proletariat ergänzt, teils, weil es sich eine niedrige Nummer
gezogen hat, teils weil es sich für 1600 Franken zur Stellvertretung anbietet, die
Reihen der Armee, die somit wenigstens zum Teil ein Söldnerheer ist und wegen
ihrer Zusammensetzung aus Proletariern, wie Vandersmissen berichtete, wenig
Vertrauen verdienen würde, wenn es einen neuen Proletaricraufstand niederzu¬
werfen gelten sollte.
Die Abgeordnetcnwahlen vom 8. Juni hatten die Reihen der Klerikalen
verstärkt, sodaß die Kammer von jetzt an 98 Mitglieder von dieser Partei
und nur 40 Liberale zählte. Am 9. November eröffnete der König die Kammern
mit einer Thronrede, welche mehrere soziale Gesetzentwürfe ankündigte, die Ne-
krutirungsfrage hervorhob und Ausübung des königlichen Begnadigungsrechtes
verhieß. Nach dieser Rede war in sozialer Hinsicht folgendes ins Auge ge¬
faßt: Begünstigung der freien Bildung von Berufsgruppen, Herstellung neuer
Verhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch Einrichtung von
Schieds- und Einigungsämtern, Regelung der Frauen- und Kinderarbeit, Be¬
seitigung der Mißbräuche bei Lohnzahlungen, Erleichterung der Wvhnungs-
zustäude, endlich Einführung der Unfallversicherung und Altersversorgung. Mit
der Zusage einer Begnadigung der Märzverbrechcr ging es ziemlich rasch vor¬
wärts. Zwar sprach sich der Ministerpräsident am 18. November im Senat
gegen den Erlaß einer Amnestie aus, teilte aber mit, daß die bei weitem größere
Hälfte der eingereichten Gnadengesuche bewilligt sei und die übrigen noch geprüft
würden. Die Militärfrage dagegen nahm nicht den von vielen gewünschten
Ausgang. Allerdings wurde von der Kammer einstimmig beschlossen, den
Antrag Oultremonts auf Einführung der persönlichen Dienstpflicht in Erwägung
zu ziehen, aber in der Frage, wie weit in der Reform zu gehen sei, ob man
nur das Recht, sich von der Wehrpflicht loszukaufen, abschaffen oder letztere
geradezu auf alle wehrfähigen jungen Leute erstrecken sollte, schieden sich die
Ansichten. Die Liberalen waren für, die Klerikalen, Beernaert und der Kriegs-
minister Pontus an der Spitze, gegen das letztere, und schließlich wurde der
Antrag Oultremouts mit großer Mehrheit abgelehnt. Auch mit den Maßregeln,
welche den Beschwerden der Arbeiter abhelfen sollten, ging es nur langsam
vorwärts, und die Erfolge der darauf gerichteten Erörterungen und Beschlüsse
waren sehr wenig geeignet, zu befriedigen. Wie wir sahen, hatte die Negierung
nach den Ereignissen des März 1868 einen Anlauf genommen, Reformen
wenigstens vorzubereiten, indem sie eine Kommission zur Untersuchung der bel¬
gischen Arbeiterverhältnisse einsetzte. Diese ging in der That mit einigem
Ernst an ihre Arbeit, aber die Vorschläge, die sie, auf ihre Erhebungen gestützt,
zur Verbesserung jener Verhälnisse machte, waren so bescheidner und dürftiger
Natur, daß man sie von vorn herein als ganz unzureichend bezeichnen durfte. Man
wollte das sogenannte Trucksystem, nach welchem Fabrikanten ihre Arbeiter nicht
in Geld, sondern in wohlfeil eingekauften und ihnen dann hochbercchneten Waaren
bezahlten, durch Verbot abschaffen, und das war immerhin eine Reform von
Bedeutung. Aber schon bei der Frage der Kinderarbeit brachte man es nur mit
Mühe zu Beschlüssen, und diese waren kaum Halbheiten zu nennen. Man
einigte sich nach langen Erwügungeu dahin, die Beschäftigung von Kindern
unter zwölf Jahren bei Arbeit, soweit sie „unterirdisch," d. h. in Kohlengruben
stattfinde, ganz zu verbieten, soweit sie über der Erde vor sich gehe, auf einen
halben Tag, und die von Kindern zwischen zwölf und fünfzehn Jahren auf
dreizehn Stunden zu beschränken — Kinderarbeit von täglich dreizehn Stunden,
wie menschenfreundlich und naturgemäß! Noch ärger stehen die Dinge in Bezug
auf die Unfallversicherung. Hier soll auf keinen Fall ein Zwang stattfinden;
denn die Verfassung verbürgt den Belgiern, Arbeitern wie Arbeitgebern, volle
Freiheit, und ebenso wenig soll der Staat sich der Sache annehmen und sie
beaufsichtigen, weil — je nun, weil das nach manchesterlicher Lehre vom Übel
ist. Selbstverständlich könnte die Einrichtung ohne staatliche Leitung und Ver¬
bürgung nicht gedeihen, wenn die Kammern sie zum Gesetze erheben wollten.
Das ist aber noch in weitem Felde und sehr zweifelhaft, wenn man an die
Zusammensetzung und den Charakter der belgischen Kammern denkt, die keine
Volksvertretung, sondern eine Vertretung der besitzenden Klassen, der Bourgeoisie
sind, gleichviel, ob in ihnen, wie jetzt, die klerikale oder die liberale Partei,
d. h. die Freidenker in religiösen und kirchlichen Dingen, die Freimaurer und
ihr Anhang, die Mehrheit bilden. In wirtschaftlichen Fragen sind beide Parteien
Gegner des Fortschritts und Freunde des Gehculcisseus, der Enthaltsamkeit der
Regierung. Beide Parteien vertreten gleich einseitig das Interesse der Leute
mit dem großen Portemonnaie oder glauben es zu vertreten, wenn sie sich
gegen Befolgung des Beispieles sträuben, welches ihnen die deutschen Nachbarn
in ihrer neuen sozialpolitischen Gesetzgebung zur Nachahmung vorhalten. Es
wird wahrscheinlich nicht lange währen, so werden sie Ursache finden, ihr selbst¬
süchtiges Zögern als unvorsichtig bitter zu bereuen. Allerdings ist in Belgien
vorläufig die Ruhe wiederhergestellt, nachdem sie auch in diesem Jahre wieder¬
holt stark gestört worden war, und in den letzten Monaten kam es nur hie
und da noch zu Gewaltthaten, die übrigens großenteils sich nur gegen die
Fabrikanten und Grubenbesitzer richteten, welche durch schroffes Auftreten gegen
ihre Arbeiter die ihnen früher aufgenötigte Rücksichtnahme jetzt wieder aus¬
gleichen zu sollen meinten. Die Arbeitseinstellung, welche begonnen und bald
eine weite Ausdehnung erreicht hatte, hat bald wieder der Rückkehr der Arbeiter
in die Bergwerke, Hütten und Fabriken weichen müssen, uicht sowohl wegen des
gegen die Massen aufgebotenen Militärs, als infolge des Mangels an Geldern
zur Unterhaltung der vielen Streitenden. Die Streikkassen waren eben uicht
gefüllt genug, als Voreiligkeit der Führer das Zeichen zur Niederlegung der
Arbeit gab, und die Folge war, daß sie bald leer waren. Aber die Gefahr
besteht fort, da die Zustände, aus denen sie erwachsen ist, fortbestehen. Die
Arbeiter wissen, daß die Klassen, welche in Belgien Gesetze geben und nach der
jeweiligen Parteimehrheit den Staat regieren, nicht geneigt sind, ihrer Not zu
steuern und ihre Aussichten in die Zukunft besser zu gestalten. Sie hoffen
von den Kammern und den aus ihnen hervorgehenden Parteiregierungen nichts
mehr und verlangen ein Wahlgesetz, welches eine andre Vertretung ermöglicht,
die nicht allein die Interessen der Besitzenden im Ange hat, sie verlangen in
immer weiteren Kreisen und immer ungestümer das allgemeine Stimmrecht, das
hier, wie man sieht, nicht sowohl eine politische als eine Magenfrage ist. Nie¬
mand kann ihnen verdenken, daß sie diesen Ausweg aus ihrem tiefen Elende
suchen. Anderseits aber hat dieses Recht in Belgien weit größere Bedenken
und Gefahren gegen sich als anderwärts, z. B. in Deutschland, wo die Re¬
gierungen schon seit vielen Jahrzehnten für die Bildung der untern Klassen
Sorge getragen haben. Ließ sich dadurch auch nicht verhindern, daß große
Massen der Arbeiter an die utopischen Lehren der Sozialdemokratie glaubten
und darnach ihre Vertreter wählten, so ist darin doch die Möglichkeit gegeben,
daß sie mit der Zeit ihr wahres Interesse erkennen und Erfüllbares von Un¬
erfüllbarem zu scheiden wissen werden. Ganz anders steht es in Belgien, wo
der Liberalismus sehr wenig für die Hebung des Vvlksunterrichts gethan hat
und infolge dessen der Bildungsgrad der niederen Klassen unerhört gering
und jedem, auch dem ärgsten politischen und sozialen Aberglauben, der ihnen
gepredigt wird, zugänglich ist. Allerdings haben die beiden Parteien der
herrschenden Klasse, welche abwechselnd von ihr an das Staatsruder gehoben
wurden, sich sehr eifrig um die Schule gekümmert, aber immer nur in der
Absicht, sie für ihre Parteiziele nutzbar zu machen, sie zu beherrschen und aus¬
zubeuten. Nicht die Hebung und Ausbreitung des Schulunterrichts wurde
erstrebt, sondern von der einen Seite die konfessionslose, von der andern die
von der katholischen Kirche geleitete, den Zwecken der Geistlichkeit dienende
Schule. Die jetzt regierende klerikale Partei nötigte den Schulen priesterliche
Leitung auf, aber von einer Verpflichtung der Eltern, ihre Kinder in die Schule
zu schicken, war unter ihr so wenig die Rede als unter ihren liberalen Vor¬
gängern. Das wäre ja Zwang gewesen, und in dem parlamentarischen Muster¬
staate muß alles vom Geiste der „Freiheit," d. h. des individuellem Beliebens,
durchweht sein. Jeder Zwang, auch der wohlthätigste, der Zwang zum Guten,
zum Vernünftigen ist ausgeschlossen — ausgenommen natürlich, wo es sich um
ein Parteiinteresse, richtiger um das Interesse der gerade herrschenden Partei,
handelt. Beide Parteien sind durch das lange Ringen mit einander zu bloßen
Cliquen geworden, ausgelebt und verkommen. Jetzt ist eine dritte in der Bildung
begriffen, welche dem Staatskörper neues Blut und Leben einflößen will. Sie
nennt sich die progressistische und bekennt sich zu einem Programm, welches, in
einer während der Pfingsttage in Brüssel abgehaltenen Versammlung beschlossen,
folgende Punkte enthält: Die Partei fordert und erstrebt 1. Ausdehnung des
Wahlrechts auf alle belgischen Staatsangehörigen, welche lesen und schreiben
können, während jetzt dieses Recht an einen Zensus, d. h. an die Entrichtung
einer direkten jährlichen Steuer, gebunden ist; 2. unentgeltlichen, obligatorischen
und vom Staate beaufsichtigten Volksschulunterricht; 3. vollständige Treniumg
der Kirche vom Staate; 4. Gleichheit der Wehrpflicht für alle Belgier, folglich
Abschaffung des Ersatz- und Stellvcrtretersystems; 5. Durchführung einer gründ¬
lichen Sozialreform und Arbeitergesetzgebuug. Diese Forderungen sind, abgesehen
von der, welche Trennung von Kirche und Staat verlangt, durchaus verständig
und nicht zu hoch gegriffen. Aussicht auf ihre Erfüllung durch die gegen¬
wärtige Volksvertretung ist jedoch nicht vorhanden, und die neue Partei wird
bedeutend wachsen müssen, wenn sie imstande sein soll, die Liberalen zu ver¬
jüngen und zu erfolgreichem Kampfe mit den Klerikalen zu befähigen. Wir
fürchte», daß dies nicht eintreten wird, und sehen deshalb neuen Wirren ent¬
gegen, die sich so lange wiederholen werden, bis den Arbeitern zu Teil geworden
ist, was sie nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit verlangen können.
le maßlose Ausdehnung der Trunksucht in Deutschland, die mit
jedem Jahre erheblich zunimmt, und die Erfahrung, daß die
bisher gegen diese verwüstende Pest zur Anwendung gebrachten
Kampfmittel sich als ziemlich ungeeignete und stumpfe Waffen
erwiesen haben, führen mit Notwendigkeit dazu, die Aufmerksam¬
keit aller Gegner der Schnapspcst und der Physischen und moralischen Volks-
Vergiftung auf schärfere, energischere Maßregeln zu lenken, welche nicht in dem
Grade wie jene von der Blässe mattherziger Redensarten angekränkelt sind;
sie müssen unbedingt die Frage wieder in den Vordergrund rücken, ob es
nicht an der Zeit, ob es nicht ein dringendes Bedürfnis sei, gegen die Trunken-
heit nach dem Vorbilde andrer Staaten strafrechtlich vorzugehen. Zum Glücke
sind die Anschauungen über die Aufgaben, Rechte lind Pflichten des Staates
in Deutschland jetzt so entwickelt, daß an der Befugnis des Staates und der
Gesetzgebung, die Trunkenheit zum Thatbestände einer strafbaren Handlung zu
mache», kaum mehr ernstlich gezweifelt wird. Die Ansicht der Manchesterlehre
bezüglich dieser Frage gehört zu den überwundenen Dingen, über welche die
unter dem Donner der Kanonen von Sedan und Gravelotte herangewachsene
Generation lächelnd zur Tagesordnung übergeht, sie ist von dem praktischen
Leben und der Wissenschaft völlig zu den Toten geworfen worden. Die Be¬
hauptung, daß der Staat mit der strafrechtlichen Verfolgung der Trunkenheit
das Gebiet des Rechtes überschreite und sich eines Angriffs in den Herrschafts¬
kreis schuldig mache, welcher der Sittlichkeit und dem Walten sittlicher Freiheit
vorbehalten sei, hat schon längst aufgehört, den Eindruck zu machen, den sie
noch vor vier und fünf Jahren gemacht hat, und wer die Nechtsentwicklung
im neuen Reiche mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt und beobachtet hat, weiß
zur Genüge, daß die Bestrafung der Trunkenheit wahrlich nicht das erste Bei¬
spiel dafür ist, daß unser Staat eine Handlung, die vormals nur als unsittlich,
nicht aber als unrechtlich und strafbar galt, unter das Machtgebot des Straf-
richters stellt. Wenn der Staat zu der Überzeugung gelangt, daß die Trunken¬
heit einen solchen Umfang und eine solche Ausdehnung erlangt habe, daß sie
eine der bedeutendsten Gefahren für die nationale Kultur und das gesamte
Wohl des deutschen Volkes bedeutet, wenn er sich der Anerkennung der That¬
sache nicht verschließen kann, daß sie nicht allein die wirtschaftliche Wohlfahrt
des Einzelnen und der Gesamtheit, sondern auch die private und öffentliche
Sittlichkeit schwer schädigt, dann ist es nicht nur sein Recht, sondern auch seine
Pflicht, mit den geeigneten Strafen dagegen vorzugehen, und der Staat, der
dies aus Prinzipieureiterei und Doktrinarismus unterließe, machte sich einer
schweren Versündigung gegen seine heiligsten Pflichten, gegen den obersten Staats¬
zweck schuldig. Mit denen, welche glauben, die wichtige Frage mit Rücksicht
auf theoretische Gesichtspunkte schlechthin verneinen zu können, läßt sich gar
nicht streiten, sie vermögen nicht einzusehen, daß die Erhaltung der ungestörten
Wohlfahrt der Gesamtheit dem Staate mehr am Herzen liegen muß, als dok¬
trinäre Liebhabereien. Die Grenzen des Strafrechtcs lassen sich nun einmal
nicht in unverrückbarer Weise theoretisch feststellen, die Bedürfuisfrage ent¬
scheidet auf Grund der in größerem oder kleinerem Umfange gemachten Er¬
fahrung, ob Anlaß zur Gebietserweiterung gegeben ist, und alle Theorien in
der Welt können keinen ausschlaggebenden Einwand bilden, wenn sie bejaht
werden muß. Daß ein Bedürfnis zur Bestrafung der Trunkenheit in Deutsch¬
land vorhanden ist, wird von keinem einsichtsvollen und vorurteilsfreien Be¬
obachter des deutschen Volkslebens bestritten. Die verschiedensten gemeinnützigen
Vereine und Versammlungen treten seit Jahren energisch dafür ein, daß von
Reichs wegen sür eine Befriedigung desselben gesorgt werde, und mögen im
übrigen auch über die Heilung der sittlichen Schäden des Volkslebens die An¬
sichten und Vorschläge noch so weit auseincindcrgehen, in diesem Punkte ist
man im großen und ganzen so ziemlich der gleichen Meinung. Die Theologen
beider Konfessionen verlangen ebenso ein strafrechtliches Vorgehen gegen die
Trunkenheit wie die Strafanstaltsbeamten, die evangelischen Synoden ünßern
nicht minder dahin gerichtete Wünsche lvie die Rheinisch-Westfälische Ge¬
fängnisgesellschaft, die Armenpfleger sind in diesem Punkte mit dem Verein
gegen den Mißbrauch geistiger Getränke ganz einer Ansicht, Beweis genug,
daß in den weitesten Kreisen das Bedürfnis als dringend anerkannt wird und
man die Hoffnung hat, mit Hilfe eines schneidigen Trunkenheitsgesetzes und
einer schneidigen Anwendung desselben dem heillosen Unwesen des Alkoholismus
einigermaßen steuern zu können. Bereits im Jahre 1881 beschäftigte diese
Frage die Reichsgesetzgebung. Es wurde damals von der Neichsregierung
dem Reichstage ein Gesetzentwurf zur Bestrafung der Trunkenheit vorgelegt,
dessen wichtigste Bestimmung in der zu seiner Beratung gewählten Kom¬
mission lediglich einer redaktionellen Änderung unterzogen wurde. Gleich¬
wohl erlangte der Entwurf, um dessen Vorlegung sich die Rheinisch-Westfälische
Gefüngnisgesellschaft sehr bemüht hatte, aus hier nicht weiter zu erörternden
Gründen keine Gesetzeskraft, und seitdem wurde kein weiterer Schritt von der
Regierung unternommen, eine Ergänzung oder Vervollständigung des deutschen
Strafrechtes in dieser Richtung herbeizuführen.
Der Entwurf bedrohte jeden, welcher an öffentlichen Orten in einem nicht
unverschuldeten Zustande ärgerniserregender Trunkenheit betroffen wird, mit
Strafe. Die Reichstagskommission war mit der Beschränkung der Strafbarkeit
auf diesen Fall vollkommen einverstanden, und sah sich nur veranlaßt, das
„nicht unverschuldet" in ein „selbstverschuldet" umzuwandeln, was dem bisher
von der Reichsgesetzgebung festgehaltenen Sprachgebrauche entspricht. Aus
dieser Fassung geht mit Deutlichkeit hervor, daß die Reichsgesetzgebung nicht
schon in der Trunkenheit an und für sich eine strafbare Handlung erblickte,
sondern nur dann, wenn sie der Öffentlichkeit und zwar in einer solchen Weise
gegenübertritt, daß hierdurch ein Ärgernis erregt wird. Wie das Gesetz auch
in andern Fällen gewisse unsittliche Handlungen mir unter der Voraussetzung
straft, daß sie öffentlich verübt werden und Ärgernis erregen oder doch zu er¬
regen geeignet sind — Gotteslästerung, unzüchtiges Betragen, Tierquälerei —,
so wollte es auch die Trunkenheit nur unter dieser Voraussetzung gestraft
wissen; nur der Betrunkene, dessen Zustand auf öffentlichen Plätzen Ärgernis
erregt, sollte dem Gesetze verfallen, und selbst er sollte straffrei bleiben, wenn
er die Trunkenheit nicht selbst verschuldet hatte. Diese Fassung, in welche
der Gesetzgeber den Gedanken einkleiden wollte, daß die nicht unverschuldete
Trunkenheit, welche rücksichtslos an die Öffentlichkeit tritt, sittliches Ärgernis
zu geben geeignet ist, daß sie das öffentliche Interesse verletzt und deshalb der
Ahndung des Strafrichters zu unterliegen hat, darf ohne Bedenken als eine
solche bezeichnet werden, welche das Gebiet der Strafbarkeit nicht in einer für
das nationale Rechts bewußtsein unverständlichen Weise erweitert, was gerade
in Deutschland von besondrer Wichtigkeit ist.
Das französische Gesetz vom 23. Januar 1873 geht weiter, es bestraft
jede offenbare Trunkenheit, ivrssss eng-nikostö, ohne weiteres, ebenso das nieder¬
ländische Gesetz vom 28. Juni 1881, welches jeden unter Strafe stellt, der sich
auf öffentlicher Straße im Zustande offenbarer Trunkenheit befindet. Der
Reichstagskommission lag die Bestimmung des ersteren Gesetzes zur Prüfung
vor, und es entstand die Frage, ob man seine Fassung nicht der des
deutschen Entwurfs vorzuziehen habe. Allein man gelangte zu der Überzeugung,
daß das sür die Strafbarkeit entscheidende Merkmal nicht in ihm enthalten
sei, weil der Verstoß gegen die öffentliche Sittlichkeit erst dann als vorhanden
angenommen werden könne, wenn durch die Trunkenheit Ärgernis gegeben werde.
Auf diesem Standpunkte steht man auch heute noch in Deutschland, soweit man
sich mit der Frage befaßt, insbesondre wird er von dem Vereine gegen den
Mißbrauch geistiger Getränke geteilt, welcher sich zu Dresden im Jahre 1885
mit Entschiedenheit sür die Bestrafung der öffentliche» Trunkenheit in diesem
Umfange aussprach und seitdem wiederholt bei der Reichsregierung vorstellig
wurde, um eine baldige Erfüllung seiner Wünsche zu erreichen. Es läßt sich
nun nicht bestreiten, daß es bedenklich ist, die Strafbarkeit einer bestimmten
Handlung von dem Nachweise, daß damit Ärgernis gegeben worden sei, ab¬
hängig zu machen. Man muß bei dieser Formulirung notwendig ein gewisses
Maß entwickelten Rechts- und Sittlichkeitsbewußtseins im Volke voraussetzen,
welches an der Rechts- und Sittenwidrigkeit Anstoß nimmt. Diese Voraus¬
setzung ist aber häufig gewagt, namentlich bei einem Vergehen, dessen strafbarer
Charakter nur einer geschürften sittlichen Strenge erkennbar ist. Gerade bei der
Trunkenheit, über die man in Deutschland leider Gottes so schlaff denkt und
urteilt, ist es bedenklich, den strafbaren Charakter davon abhängig zu machen,
daß durch sie Ärgernis erregt worden sei. Sodann ist es aber eine ganz
falsche, privatrechtliche Anschauung, die Strafbarkeit einer Handlung, welche der
Staat doch im öffentlichen Interesse ausspricht, nur dann als gegeben anzu¬
nehmen, wenn der oder jener daran Ärgernis genommen hat. Das erregte
Ärgernis zum Merkmale des Thatbestandes eines Vergehens zu machen, ist eine
Folge der verhängnisvollen Einwirkung privatrechtlicher Anschauungen auf das
öffentliche Recht, eine Folge des überwiegenden Einflusses des Privatrechtes
und der einseitigen privatrechtlichen Ausbildung der Juristen. Es stünde besser
um die Praxis des deutschen Strafrechtes, wenn dieser Umstand nicht zum
Merkmal für den Begriff des strafbaren Unrechtes gemacht worden wäre.
Es ist deshalb durchaus kein Grund vorhanden, dies bei der Bestrafung der
Trunkenheit abermals zu thun, und die Erfahrung in verschiednen Bundes¬
staaten, welche durch das Polizeistrafgesetz Betrunkene mit Strafe bedrohen,
wenn sie an öffentlichen Orten durch die Trunkenheit öffentliches Ärgernis er¬
regen, ist durchaus nicht geeignet, eine Nachahmung als angemessen erscheinen
zu lassen. Angemessener scheint es, die Trunkenheit stets dann zu bestrafen,
wenn sie geeignet war, Ärgernis zu erregen. Diese Fassung bietet vor jener
den bedeutenden Vorteil, daß bei ihr der Richter entscheidet, ob die Trunkenheit
habe Anstoß erregen können, und wenn auch die Mißbilligung der Völlerei
durch die deutschen Gerichte viel, sehr viel zu wünschen übrig läßt, so bedarf
es doch kaum der ausdrücklichen Bemerkung, daß der Richter im allgemeinen
die Trunkenheit doch nicht ganz so mild beurteilt wie der Durchschnittslaie.
Man macht nun allerdings gegen diese Fassung des Trunkenheitsvergehens
geltend, daß sie der weitesten Auslegung Spielraum lasse und demgemäß die
Gesahr der Anwendung des Gesetzes auch auf solche Fälle in sich schließe, bei
welchen dies nach Lage der Sache nicht gerechtfertigt erscheinen würde. Man
hat diese Bedenken auch in dem Vereine gegen den Mißbrauch geistiger Getränke
geltend gemacht und unter anderm darauf hingewiesen, daß nach dieser Fassung
auch Personen verurteilt werden könnten, welche von einer festlichen Vereinigung
angeheitert zurückkehren und in der Weinlaune sich zu einer an sich unbedeutenden
Ausschreitung hinreißen lassen. Diese Befürchtung ist gänzlich unbegründet; die
strafrechtliche Praxis in Deutschland, welche schon bisher mit dem Begriffe
„ärgcrniserregend" umgehen mußte (Strafgesetzbuch Z 360, Z. 13, Tierquälerei),
bietet keinen Anlaß zu der Behauptung, daß eine ausdehnende Auslegung zu
erwarten sei. Sodann muß aber betont werden, daß, wenn die öffentliche
Trunkenheit überhaupt bestraft werden soll, die gesellschaftliche Stellung des
Betrunkenen keinen Grund bietet, von der Strafe abzusehen oder auf ein milderes
Strafmaß zu erkennen. Der betrunkene Student und der bezechte Referendar
sollen ebensogut der Strafe unterliegen wie der Fabrikarbeiter und der Pack¬
träger, und es ist schwer zu verstehen, daß man in unserm Jahrhundert noch
meinen kann, die Ausschreitung, welche die Folge eines in der vornehmen Wein¬
stube angetrunkenen Rausches ist, sei anders zu beurteilen als die, die nach der
Sauferei in der Branntweinkneipe begangen wird; es kann nur als eine heil¬
same Wirkung der strafrechtlichen Ahndung betrachtet werden, wenn in der
Folge die bessere Gesellschaft Deutschlands die von Angehörigen ihres Standes
verübten Trunkenheitsvergehen schärfer beurteilt als jetzt.
Im Augenblick werden auf Veranlassung der Reichsregierung Anfragen
bei den Gemeindebehörden gehalten, um darnach zu beurteilen, in wie weit die
Reichsgesetzgebung in der Lage sei, den auf Bestrafung der Trunkenheit, Ent¬
mündigung von Gewohnheitstrinkern, Zwangsheilung derselben u. s. w. gerichteten
Wünschen des Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke zu entsprechen.
Obgleich diese zur Zeit noch nicht abgeschlossen sind, läßt sich doch aus den
bisher in die Öffentlichkeit gedrungenen Mitteilungen so viel entnehmen, daß die
Bestrafung der ärgeruiserregenden Trunkenheit der großen Mehrheit der be¬
fragten Behörden überaus wünschenswert erscheint, und es ist daher die Hoff¬
nung nicht unbegründet, daß das deutsche Strafrecht wohl bald eine der
notwendigsten und dringlichsten Ergänzungen erhalten wird. Über die mutma߬
lichen Wirkungen dieser Neuerung ein Urteil abzugeben, ist schwierig, wenn
nicht geradezu unmöglich, da es ganz auf die Art und Weise ankommt, wie
die Rechtsprechung das neue Gebot anwenden wird. In Frankreich und den
Niederlanden macht man von den Strafbestimmungen gegen die Trunkenheit
einen ausgedehnten, energischen Gebrauch, und die Zahl der in beiden Ländern
auf Grund derselben verurteilten Personen erreicht eine sehr beträchtliche Höhe;
die Strafen, die man dort ausspricht, bewegen sich auch nicht mit einseitiger
Vorliebe um die niedrigsten Maße des Gesetzes, sondern sie steigen bis zu einer
ganz empfindlichen Stufe. Dieser vernünftigen, zweckentsprechenden Rechtspflege
der französischen Magistratur ist es zuzuschreiben, wenn die erzieherische Wirk¬
samkeit des Gesetzes von 1873 mit jedem Jahre mehr hervortritt. Nachdem es
nunmehr seit vierzehn Jahren in Geltung steht, darf man wohl die seither
bezüglich seiner Wirksamkeit gemachten Erfahrungen für genügend erachten, um
die Behauptung aufzustellen, es habe sich als Kampfmittel gegen Völlerei
durchaus bewährt. Ob man in Deutschland zu dem gleichen Ergebnis gelangen
wird, ist zweifelhaft. Die unverständige Neigung zur Milde, welche in der
deutschen Rechtspflege herrscht, und die geradezu unerhörte Berücksichtigung, die
man jetzt der Trunkenheit als Strafansschließungs- und Strafmindernngsgrund
schenkt, sind nicht geeignet, große Hoffnungen zu nähren; es ist im Gegenteil
zu befürchten, daß die Rechtsprechung die geringste Strafe des Trunkenheitsgesetzes
in den meisten Fällen zur Anwendung bringen und so die strafrechtliche Ahndung
zu einem Zerrbilde machen wird, es muß ernstlich besorgt werden, daß die
alberne Sentimentalität und der kindische Humanitätsdusel sich bei Anwendung
dieses Strafgesetzes in demselben verhängnisvollen Grade geltend machen werden,
wie bei der des deutschen Strafgesetzbuches. Mau wird also gut daran thun,
auf eine baldige erzieherische Wirkung eines Strafgesetzes gegen die Trunken¬
heit nicht allzu große Hoffnungen zu setzen, um vor der sonst schwerlich zu
vermeidenden Enttäuschung behütet zu werden. Allein wenn auch die prak¬
tischen Ergebnisse vielleicht nicht so bald zum Vorschein kämen, so wäre doch
schon die Bestrafung der Trunkenheit ein wichtiger Fortschritt. Durch sie
spräche der Staat in der schärfsten Form seine Mißbilligung der Trunkenheit
aus, durch sie bekundete er, daß dieser Zustand nicht nur die Sitte, sondern
auch dem Rechte verwerflich erscheine und von ihm nicht geduldet werden könne.
Diese staatliche Mißbilligung eines Lasters, über welches in weiten Kreisen noch
so leicht gedacht und geurteilt wird, welches vielen ein ganz unschuldiges und
ungefährliches Vergnügen zu sein scheint, kann und wird nicht ohne Einfluß
auf die gesellschaftlichen Anschauungen sein, sie wird dazu beitragen, diese im
Laufe der Zeit umzucinderu und umzubilden und an Stelle der Schlaffheit
sittliche Strenge zu setzen. Schon von diesem Gesichtspunkte aus bietet der
Erlaß eines Strafgesetzes gegen die Trunkenheit so große Vorteile, daß er nicht
lebhaft genug ersehnt werden kann.
as Übergewicht, das die germanische und deutsche Art der ein¬
zelnen Persönlichkeit gewährt gegenüber den Formen und Be¬
dingungen des Zusammenlebens, prägt auch jedem Lebensver¬
hältnis seinen eigentümlichen Zug auf. Für allen Anschluß ist
schließlich der freie Wille die Hauptsache, die Festhaltung des An¬
schlusses bildet die deutsche Tugend der Treue; und die Treue gegen sich selbst ist die
Tugend der Stelle oder Beständigkeit, die in der mittelalterlichen Tugendlehre
eine so hohe Rolle spielt. Aus der Treue, aus dem freiwilligen Festhalten an
dem Gewählten, sind die mannichfachsten Gestaltungen deutschen Lebens, deutscher
Sittlichkeit hervorgegangen. In uralter Zeit die eigentümliche Form der Ge¬
folgschaft, später das Lehensverhältuis; und nicht minder beruht die Anhäng¬
lichkeit an Fürsten und Herrscher auf diesem Bedürfnis persönlichen Gemüts¬
anschlusses. Wie oft hat sie unsern Dichtern Stoff gegeben, und wer möchte
die schöne Gruppe im Stuttgarter Schloßgarten vergessen, die den Grafen
Eberhard im Schoße des Unterthanen sicher schlafend darstellt?
Auch die Religion unsrer heidnischen Vorfahren durchzog die hohe Selbst¬
achtung des Einzelnen, welche die ängstliche Beobachtung von Opfergebräuchen
und Gebetsformeln fernhielt, wie sie dem griechischen und römischen Kultus
augehören, um von andern Völkern ganz zu schweigen. Viel herzhafter rückte
der Germane, der Deutsche sich seine Göttergestalten nahe, er unterwarf sie
Viel mehr den Schranken und der Endlichkeit des Persönlichen, sodaß sie aller¬
dings auch leichter vor dem Christentume dahinwelkten. Denn die Götter¬
dämmerung, die mythische Erzählung von ihrem dereinstigen Untergange, gehörte
doch vermutlich auch dem Glauben unsrer Vorfahren an, wenn wir sie auch in
zusammenhängender Überlieferung nur von den Skandinaviern kennen. Aber
auch den Göttern gegenüber ist die Hingabe der Persönlichkeit das Wertvollste;
der Kriegsmann weihte sich als Hagestalt durch den Eisenring am Arm dem
Kriegsgott als Gefolgsmann, und Wodan erhob die gefallenen Helden in seine
Wolkenburg als seine Genossen im Kampfspiel und Schmaus wie beim letzten
Vernichtungsstreit. Nach dieser Anschauung fornite sich selbst dem christlichen
Verfasser des Heliand im neunten Jahrhundert das Verhältnis des Gläubigen
zu Christus, der als Gefolgsherr dargestellt ist. Wie weit auch der deutsche
Mönch unter dem Banne dieser volkstümlichen Auffassung stand, wollen wir
nicht weiter erörtern. Daß das deutsche religiöse Gemüt in Luther oder den
spätern Pietisten sich nach einem persönlichen Verhältnis zu Gott und Christus
sehnte und in Gebet und Erweckung abarbeitete, dürfte für die Fortdauer dieses
Zuges wohl herangezogen werden.
Waren es bisher Züge unsers Volkscharakters, die wir ohne nationale
Überhebung edel und achtungswürdig nennen dürfen, ja ans deren Einführung
in die geschichtliche Entwicklung Europas wir den tiefsten Unterschied der mitt¬
leren und neueren Zeit gegründet glauben, gegenüber dem Völkerbrei, in dem
das klassische Altertum durch das römische Weltreich der Versumpfung zugeführt
wurde, so wollen wir von andern Zügen deutschen Wesens mit deutscher Be¬
scheidenheit reden.
Tag und Nacht mit Zechen fortzufahren, wird keinem verdacht, sagt Tacitus.
Und diese Zechlust ist uns im wesentlichen als Erbteil verblieben bis auf den
heutigen Tag. Sie ist gewiß nicht ohne weiteres gleichbedeutend mit Völlerei
und Unmäßigkeit, wenn sie auch in roheren Zeiten oder bei roheren Naturen
häufig genug ausartete. Denn sie ist wohl ein Ausfluß dessen, was wir oft
als Gemütlichkeit bezeichnen hören, der Neigung, die scharfen Ecken der Dinge
und des Lebens zu übersehen und zu verschleiern. Durch den feierlichen Ernst,
mit dem das Trinken gern zu besondern Gebräuchen erhoben worden ist, soll
doch schließlich eine gehobene Stimmung erzeugt werden, die dem Gemüte eine
gewisse Anregung und Erhebung gewährt. Denn man verlangt dabei vom
Manne, daß er einen guten Schluck vertragen könne. Wenn es schon der
Grieche der besten Zeit verschmähte, den Wein unvermischt zu trinken, so darf
man deswegen deutsches Zechen nicht schlechthin barbarisch nennen, weil griechische
Symposien oder römische Gelage verfeinerter und gesuchter waren. Denn was
sollen wir dann für Völker anwenden, die nur trinken, um im Rausch Ver¬
gessenheit zu suchen, wie etwa Jrländer oder Slawen oder Mongolen? Unsre
langen Winternüchte mögen von jeher ihren Teil dazu beigetragen haben, den
Reiz zu steigern, den die Geselligkeit und das Sitzenbleiben beim Becher ausübt.
Wir wollen es eine nationale Schwäche nennen, ohne zu beschönigen, daß sie
in ganzen Perioden unsrer Geschichte zum nationalen Laster geworden ist. Und
wenn im deutschen Reichstage Debatten über den Frühschoppen die Verwun¬
derung des Auslandes hervorgerufen haben mögen, so dürfen wir nicht ver¬
gessen, daß schon Kaiser Maximilian I. Reichsgesetze gegen das Zutrinken durch¬
setzte, deren Wirkung freilich ebenso gering blieb.
Daran wollen wir die Neigung zum Glücksspiele reihen, die man Wohl
auf eine Art Eigensinn zurückführen darf. Denn bei hohen Einsalzen hört es
auf, Unterhaltung zu sein und wird zur leidenschaftlichen Wagehalsigkeit.
Staunend berichtet Taeitus, daß die Germanen beim Würfelspiel Hab und Gut,
Kinder und Weib und zuletzt die eigne Freiheit auf die Würfel setzten und ver¬
spielten, und dann willig dem Gewinner in die Knechtschaft folgten. Sie nennen
das Worthalten, setzt er verwundert hinzu. Auch diesen Zug vermögen wir
leicht durch die Jahrhunderte hindurch zu verfolgen. Wie zahlreich sind die
Erzählungen aus dem Mittelalter, in denen Wagehälse mit dem Teufel selbst
um die eigne Seele würfeln oder wetten; zum Glück geschieht dann meistens
ein Wunder, daß der in Nachteil gesetzte Mensch vielleicht neunzehn Augen wirft,
wenn der Böse schon den höchsten Wurf gethan hat. Würfel, mit denen man
immer gewinnt, sind ein Preis, hoch genug, um sich dem Erzfeind zu ver¬
schreiben. Selbst der zum Tode verurteilte würfelt noch mit dem Heuler um
sein Leben. Auf diesem Reize beruht wohl auch größtenteils die Streitsucht
und Prozeßlust der Bauern, welche den Gegenstand nach seinem Werte gar
nicht anschlägt und im Zuge der Instanzen viel weniger an den Rechtsweg
denkt, als an die Möglichkeit einer Fortsetzung des Spieles. Daß das eigent¬
liche Glücksspiel auch jetzt noch trotz allen Eingreifens der Gesetzgebung seinen
Reiz ausübt, ohne sich gerade auf deutsche Gemüter einzuschränken, bedarf keines
Beleges. So manches Vermögen, so manches Leben fällt ihm zum Opfer,
und wenn die Verlierenden nicht mehr die Knechtschaft wagen können, so ver¬
schwinden sie dafür im weiten Amerika oder in einer Fremdenlegion. Daß sich
in die hohen Wetten der gleiche germanische und deutsche Grundzug verzweigt
hat, leuchtet sofort ein.
Harmloser und ersprießlicher zeigt sich der Hang zur Geselligkeit, zum ge¬
mütlichen Anschluß zur Förderung der verschiedensten Zwecke in dem deutschen
Vereinswesen, das bei allem Wechsel der Zustände seit der Urzeit fortdauert
und sich mit aller Freiheitsliebe und Selbständigkeit sehr wohl verträgt. Be¬
ruht doch selbst die Gemeinschaft des Gaues oder Stammes kaum auf mehr
als auf dem guten Willen der Einzelnen; wenn er nicht mehr mitthun wollte,
so wurde ihm daraus kein sittlicher Vorwurf gemacht, wie z. B. beim Unter¬
gange der Ostgoten in Italien, um nichts näherliegendes anzuziehen. Die im
Innern Deutschlands erstarkende Kirche verfolgte mit Hilfe Karls des Großen
eifrig die Gildonien, wie anzunehmen ist, zusammengeschworene Genossenschaften
zu Opferschmäusen als Picknicks und zu andrer gegenseitiger Beihilfe. Aber der
Trieb war nicht auszurotten und setzte sich auf dem Boden der Kirche selbst
fest in Klöstern und Bruderschaften zur Aufspeicherung von Gebetsschätzen. Und
über das zusammenbrechende Königtum hinaus erhielten zahlreiche Vereinigungen
die nationalen Lebensthätigkeiten aufrecht: Ritterbünde und Städtebünde und
Fürstenbttnde, Zünfte und Bauhütten und Universitäten. Und später wieder
Mäßigkeitsorden und Sprachgcsellschaften, die geheimen Orden und die Lands¬
mannschaften der Universitäten und was alles den Zusammenhang mit der Gegen¬
wart herstellt und lange Zeit den Mangel einer staatlichen Organisation des
deutschen Volkes durch zahllose Einzelbeziehungen zu vertreten strebte. Was
jetzt das Vereinswesen bedeutet, ist kaum zu ermessen, es umfaßt alle Lebens-
äußerungen von der harmlosesten Geselligkeit bis zur Pflege der höchsten natio¬
nalen Angelegenheiten, die über die Kräfte des Staates hinausreichen, die innere
Pflege der Sprache, die Wacht über ihre äußere Verbreitung, die Verpflanzung
deutscher Volksart in fremde Erdteile.
Aber auch unsern größten und verhängnisvollsten nationalen Fehler müssen
wir in den frühesten Zeiten schon hervortreten finden. Und dabei bewährt sich
ein tiefsinniges Wort des Aristoteles, daß Fehler und Laster nur die Über¬
treibung von Tugenden nach der andern Seite hin, nur Umschlag und Ver¬
kehrung derselben seien. Denn wie einerseits das Übergewicht der Persönlichkeit
gegenüber aller Form des Zusammenhaltes, allen Gesetzen und Ordnungen die
wuchernde Fülle selbständiger neuer Bildungen hervorbringt und den Deutschen
zum gebornen Kolonisten und Wettläufer macht, der immer wieder Wurzel faßt
und gedeiht, wo ihn das Geschick hinwirft, so schlecht verträgt sich anderseits diese
Selbständigkeit mit dem öffentlichen Geist, mit dem Herdenbewußtsein, das kleine
Völker stark macht. Wo Unterordnung für das Ganze und Große von Vorteil
wäre, beharrt der Einzelne mit Eigensinn auf seiner Meinung, auf feinem Willen,
auf seinen Besonderheiten. So ist Uneinigkeit, Parteiung, Stammeseifersucht
eine gefährliche Liebhaberei deutscher Volksart. Dieser Zwietracht und Abson¬
derungssucht freute sich schon der Römer, dem vor der Wucht der vereinigten
Stämme und Völkchen bangen mußte. Und oft genug seit jener Zeit ist dieser
Zug deutschen Volkscharakters der Bundesgenosse des Auslandes, der Verderber
deutscher Machtentfaltung geworden.
Dazu kommt leider die Neigung, fremdes Wesen schon deshalb zu achten,
weil es als neu und ungewohnt Eindruck macht, auch wenn es nicht besser ist als
das heimische. Darum wird fremde Volksart, fremde Sprache und Sitte dem
einzelnen Deutschen leicht gefährliche Verlockung zur Verleugnung des ange¬
stammten Wesens. Das ist die Ausländerei, unsre Volkskrankheit seit uralter
Zeit, von der römischen Partei unter den Cherusker» des Arminius bis zu
unsern Landsleuten in Ungarn oder Polen oder Amerika, die dem Zauber der
eingebildeten oder angemaßten Überlegenheit des fremden Wesens unterliegend
auf ihre Muttersprache verzichten und ihre ehrlichen Namen nach der fremden
Zunge verdrehen. Deshalb hat sich der Deutsche von jeher ohne besondre
Gewissensskrupel sogar zum Vorkämpfer gegen seine Landsleute hergegeben; wie
die Römer von germanischen Söldnern ihr sinkendes Reich fristen zu lassen
verstanden, so sehen wir jetzt eutdeutschte Deutsche allenthalben in Amerika und
Polen und Böhmen und besonders in Ungarn an der Spitze, wo es die Ver¬
drängung deutschen Wesens gilt.
In diesen kurz zusammengefaßten Zügen unsers Wesens dürfte sich ein
tieferer Zusammenhang deutscher Geschichte kundthun als in einer bloß räumlich
und zeitlich geordneten Folge von Begebenheiten. Aber wie beim einzelnen
Menschen der Charakter keineswegs als etwas Starres und Unabänderliches
gedacht werden kann, wie vielmehr durch harte Lebensschicksale oder durch Ver¬
wöhnung des Glückes sich manche Veränderungen ergeben werden, so bringen
auch bei einem ganzen Volke die Schicksale mancherlei Einwirkungen mit sich,
deren Betrachtung die Wandlungen seines Volkscharakters festzustellen und zu
erklären suchen muß. Zwar wäre es falsch, von der Lebensdauer eines Volkes
zu reden. Die natürlichen Grundlagen des Völkerlebens haben an sich keine
erkennbare Schranke. Wenn es mit immer erneuter Kraft seine Selbständigkeit
aufrecht zu erhalten und sich den veränderten Bedingungen seines Lebens an¬
zupassen vermag, wenn es sich immer wieder die Formen zu erarbeiten versteht,
in denen, wenn nicht jeder, doch die Mehrzahl gedeihen und wirken kann, so
wird es alt und jugendfrisch sein zu gleicher Zeit. Und dieses Abstoßen ver¬
alteter Einrichtungen und die Erwerbung besserer Lebensformen bildet seine
innere Geschichte, wie die äußern Gefährdungen, deren Abwehr oder Über¬
windung sein Anteil an der Allgemeingeschichte sind. Die Folgen beider Seiten
der Geschichte für die Entwicklung der Volkseigenschaften soll die nachfolgende
Betrachtung darzustellen versuchen.
Als die eigentliche Jugend- und Bildungszeit unsers Volkes darf man
die Jahrhunderte betrachten, in denen es, im Westen und Süden durch die
römische Macht an Ausbreitung gehindert, mit dem besetzten Lande durch Annahme
des Ackerbaues in ein engeres Verhältnis trat. Nur kurze Zeit war seine
Unabhängigkeit und die Einheit seiner Entwicklung bedroht; in einer rauhen,
wenig gezähmten, doch weder einschüchternden noch verwöhnenden Landesuatur
das Bollwerk seiner Freiheit findend, körperlich gestählt dnrch das Klima, das,
rauher als jetzt, zu energischer Bewegung und Übung der Kräfte zwang und, wie
anzunehmen ist, bei starker Kindersterblichkeit eine Auslese der kräftigsten Menschen
herstellte — erwuchs ein Naturvolk, dessen Zustünden und Lebensweise mau
nicht immer gerecht geworden ist. Die Römer und ihnen folgend die Fran¬
zosen stellen sie gern als Barbaren dar, denen der Tag zwischen Aufregung und
Anspannung aller Kräfte und faulem Lagern auf den Bärenhäuter wechselte.
Gewaltthätig und unbedachtsam seien sie gewesen, es habe ihnen an Ausdauer
und Sündhaftigkeit, an Ordnungssinn und Arbeitsliebe gefehlt. Alles das
werfen die Römer den Germanen vor. Aber es wäre doch wenig ersprießlich,
alle diese Vorwürfe aneinanderzureihen, die von verschiedenen Männern bei
verschiedenen Anlässen gefallen sind. Anderseits hat man zu viel geschlossen
ans der Art und Weise, wie Tacitus bei aller Überlegenheit des Kulturmenschen
ihre Einrichtungen darstellt mit einer ans geheimer Furcht und unwillkürlicher
Achtung zusammengeflossenen Empfindung und mit patriotischer Beklemmung. Eine
Ahnung späterer Entwicklung darf man ihm deswegen noch nicht leihen, weil
es leicht fiel, ein wirksames, scharf nmrisscnes Bild ihrer Eigentümlichkeiten
zu entwerfen, die uns durch ihre Gruppirung einen wohlberechneten Gegensatz
gegen die Verderbnis des römischen Volkes und Staates bilden. So hebt er
vor allem den Freiheitssinn hervor, der auch zwischen Adel und Gcmeinfreien
keinen Unterschied der Rechte und Pflichten zuließ und über nngeerbten Vorrang
die Tüchtigkeit des Mannes stellte. Die Voraussetzung desselben ist eben auch
die wesentlich soziale Gleichheit der Volksgenosse«, da alle neben der Jagd
und Viehzucht leichter Ackerbau nährte, gleichviel ob der Adliche und Reichere
ihn durch Pächter und Knechte betrieb oder der freie Bauer selbst Hand anlegte.
Und bei der Wahl der Richter und Häuptlinge war jedes Mißtrauen der Nie¬
dern gegen die Hohen ausgeschlossen; dieselbe Gleichheit zeigte sich auch in der
Pflege des Rechtes als allgemeinen Besitztums — nicht wie bei den Römern
oder Griechen in früherer Zeit als Erbweisheit bevorrechteten Adels oft eigen¬
nützig mißbraucht. Leibesstrafen, Beraubung der Freiheit, schimpfliche Hin¬
richtung war deshalb den Germanen dieser Zeit etwas Unbekanntes, die Volks¬
genossen entschieden, dnrch Abtretung von Gütern konnte der Verurteilte Buße
leisten — so wenig galt Recht und Sicherheit als eine unpersönliche Hoheit
die verletzt worden war.
Diese wesentliche Gleichheit der Volksgenossen rang gegen den Eintritt in
eine Welt, die auf Unterjochung und Ungleichheit gebaut war, und das römische
Reich fand eine Schranke an der Todesverachtung und Tapferkeit der unter
sich so uneinigen Stämme, die fast nichts als ihre Art zu leben und zu sein
zu verteidigen hatten. Nur die Not der Ernährung ihrer anwachsenden Volks¬
menge trieb sie zum Angriff, und als die Verteidigungskraft des römischen
Reiches nachließ, erfüllten sich die verödeten Landschaften jenseits der bisherigen
Grenze mit germanischer Bauernbevölkerung.
Und dadurch endete die bisherige Abgeschlossenheit der binnenländischen
Stämme. Durch die Franken, deren Herrschaft an der Westgrenze sich bildend
nach Osten und Westen sich ausbreitete, wurden sie aus der Vereinzelung ge-
rissen und zuerst in eine wenn auch noch so lockere Vereinigung gebracht.
Zugleich begann die Festsetzung des Christentums, zwei folgenreiche Ereignisse
für den Volkscharakter.
- Ungerechtfertigt wäre es, aus der Unterwerfung nnter die Franken auf
eine Abnahme der frühern Tapferkeit und Waffcnfertigkeit zu schließen. Der
Anschluß an das fränkische Reich konnte nicht als Fremdherrschaft augesehen
werden und war auch so locker, daß er doch immer wieder aufgefrischt werden
mußte. Er beschränkte sich im wesentlichen auf die Anerkennung der Hoheit
und auf kriegerische Hilfsleistung, ohne zunächst die gewohnten Einrichtungen
anzutasten. Da dieses Zusammenrücken auch schon bei der Bildung der Stämme,
der Schwaben und Vaiern und Sachsen stattgefunden und dnrch die Lage des
fränkischen Stammes in der Mitte, wenigstens seit dessen Ausbreitung über das
Mittelrhein- und Maingebiet, ein Beispiel und Vorbild hatte, konnte es auch
nicht als Bruch mit der Vergangenheit betrachtet werden. So treten auch die
Folgen auf die Umstimmung des nationalen Charakters erst nach Jahrhunderten
deutlich hervor.
So auch die Folgen der Einführung des Christentums und der Ver¬
drängung des einheimischen Heidentums. Denn bei der Art seiner Einführung
kann mau nicht eine ticfinnerliche Wirkuug erwarten, wie etwa Luther von
einem neuen Adam sprach, der an die Stelle des natürlichen Menschen treten
soll. Der Einzelne kann aus einem Saulus ein Paulus werden, aber nicht ein
ganzes Volk. Das Christentum als Organisation, als Kirche mit ihren sicht¬
baren Einrichtungen, mit ihren Gottesdiensten in lateinischer Sprache, die, wenn
auch nicht mehr als die der alten Feinde, aber doch bei allem Anspruch auf
Heiligkeit als eine fremde, unverständliche erschien, fand mit mancher andern Habe
der Kultur wie dem Steinhaus und Weinbau Aufnahme. Aber unmöglich war
es, daß ein Volk von Ackerbauern für die Lehre der Kirche, wie sie innerhalb
der städtischen Kultur der Griechen und Römer sich entwickelt hatte, ein Ver¬
ständnis hätte gewinnen solle»; dem stellte sich schon die Ausbildung ihrer
Sprache als unübersteigliches Hindernis entgegen. Dazu kam noch ein andres.
Was die christlichen Priester zu bekämpfen hatten, war zwar nichts weniger
als ein Religionssystem wie das der Ägypter oder Griechen oder Römer — dazu
mangelte die plastische oder theoretische Ausgestaltung der Götter, der Kultus
und ein Pncsterstand mit eigner Bildung oder Standesbewußtsein —, dennoch
waren die Verkündiger des Christentums weit entfernt, den Göttcrglauben der
Germanen, im wesentlichen eine Mythologie der Naturerscheinungen, verbunden
mit einer Mertragung der irdischen Geschäfte, des Kampfes, des Ackerbaues ?c.
als eine Phantasieschöpfung zu behandeln, die jeder Gegenständlichkeit ermangle.
Indem sie vielmehr die Wirklichkeit der heidnischen Götter nicht antasteten,
nur ihre Macht bestritten, stellten sie sie als böse Dämonen hin im Gegensatz
zu dem wahren Gotte und brachten so einen Zwiespalt in die religiösen An-
schauungen des Volkes. Die daraus entspringende Verwirrung, die Furcht vor den
bösen Mächten, mit denen man so lange alle Lebensgeschäfte verknüpft gedacht
hatte, mochte bei vielen durch die Aufregungen des Lebens zurückgedrängt
werden, häufig brach sie am Ende des Lebens durch in völliger Abkehr von
der Welt und deren Täuschungen und Lockungen, denen man sich nicht hatte
entziehen können. Das Bewußtsein, bisher nur dem einen gedient zu haben,
trieb dazu, den Rest des Lebens ausschließlich für das andre zu verwenden.
Deshalb am Ende des Lebens der so häufige Eintritt in ein Kloster. Man
muß sich also hüten, von der Verkündigung der christlichen Lehre eine voll¬
ständige Umkehrung des Volkscharakters zu erwarten, besonders da die Auf¬
nahme sich auf die Aneignung und EinPrägung weniger Hauptpunkte, des
Vaterunsers und Glaubens beschränken mußte. War doch selbst diese For¬
derung der gedächtuismäßigen Leistung so wenig durchzusetzen, daß Karl der
Große erst deu weltlichen Arm zur Durchführung dieses Religionsunterrichtes
bot, allerdings mit der seltsamen Verordnung, daß diese Hnuptstücke des
Glaubens lateinisch gelernt werden sollten.
Hingegen entfaltete die Kirche eine heilsame Thätigkeit, wenn sie die Aus¬
brüche der Gewaltsamkeit und Unbotmäßigkeit, die der germanische Charakter
bei der Mißachtung gegen jedes auferlegte Gesetz mit sich führte, in strenge
Zucht und Bestrafung zu nehmen sich bemühte. Jetzt wurden auch die Volks¬
rechte, die lange mündlich fortgepflanzt worden waren, aufgezeichnet, und in
der Verschärfung der Strafen für Gewaltthaten glaubt man kirchlichen Einfluß
zu finden.
Noch ausgiebiger wurde der Grundzug des altgermanischen Wesens, der
hochfahrende Trotz, der nichts über dem eignen Willen anerkennen wollte,
wenigstens soweit er auf der geselligen Gleichheit aller Volksgenossen beruhte,
gebrochen durch das Durchsetzen einer neuen Gesellschaftsordnung, des Lehens¬
wesens oder Feudalismus. Seiner Wurzel nach allerdings selbst germanisch,
ist er das Gegenteil der römischen Staatsidee, der Hoheit des unpersönlichen
Staates, seiner Beamten und Bürger. An die Stelle des abstrakten Staates
trat der König, dem persönlich Treue und Gehorsam geschworen ward, wofür
er seine Huld nud Gnade durch Zuweisung der Nutznießung von Gütern als
Lehen bewies. Indem sich dieses Verhältnis persönlicher Unterordnung immer
mehr ausbreitete, und zugleich auf die Lehensleute immer ausschließlicher der
Kriegsdienst überging, machte die alte demokratische Gleichheit einem gegliederten
Aufbau von Ständen Platz. Bald verzichtete ein großer Teil der ärmeren
Freien, teils gezwungen, teils freiwillig, uns die Lasten der vollen Freiheit und
stellte sich unter geistliche und weltliche Herren, um sich, weniger durch Kriegs¬
dienst gestört, dem Ackerbau zu widmen. Damit traten anch die kriegerischen
Charakterzüge mehr in den Hintergrund. (Fortsetzung folgt.)
is vor acht Jahre» Professor L. Geiger i» Berlin zur Mitarbeit
an einem von ihm herauszugebenden Goethe-Jahrbuch auf¬
forderte, welches auch ein Sammelpunkt für ungedruckte Briefe
und Aktenstücke werden sollte, fand dieser Aufruf freudigen An¬
klang, da ein Goethe-Jahrbuch, das am Shakespeare-Jahrbuch ein
erwünschtes Vorbild fand, längst als Bedürfnis empfunden worden war, und nnr
ein Leiter gefehlt hatte, der mit umfassender Kenntnis von Goethes Leben und
Werken und der darauf bezüglichen Forschung ausgestattet war. Freilich hatte
sich auch Geiger auf diesem Gebiete noch keineswegs bewahrt; aber mau dürfte
erwarten, daß er die ihm abgehende Kenntnis im volle» Bewußtsein der über¬
nommene» Aufgabe sich zu erwerben suchen werde. Dabei siel es bedeutend
ins Gewicht, daß er einen leistungsfähige» Verleger gefunden hatte.
So erschien denn der erste Jahrgang würdig ausgestattet um nchtuudvier-
zigsten Todestage des Dichters. Nicht bloß Aufsätze waren dem Herausgeber
von den Vertretern verschiedner Richtungen zugegangen, er konnte auch mehr
als vierzig ungedruckte Briefe Goethes, einen Abdruck des Dramas „Prometheus"
uach der Handschrift und eine ganze Reihe Mitteilungen von Zeitgenossen über
den Dichter bringen. Dazu kamen Miscellen, freilich einzelne sehr leichte, eine
Chronik und die vollständige Bibliographie des Jahres, mit Regesten der Briefe
und dem Abdruck der im Laufe des Jahres zuerst erschienenen Gedichte.
Würdig schloß sich der zweite Jahrgang an, der einundvierzig Briefe an
Goethe und einen ans reichem Material beruhenden Aufsatz des Herausgebers
über Goethes Dvrnburger Aufenthalt nach dem Tode des Großherzogs enthielt.
Leider gab Geiger hier auch schon einzelne Briefe Goethes an Meyer; leider —
denn durch solche Zersplitterung wird die höchst erwünschte vollständige Heraus¬
gabe der auf der Grvßherzvglicheu Bibliothek befindliche» Briefe an Meyer, für
die sich schon der treffliche Oberbibliothekar Preller zu seiner Zeit bemüht hatte,
immer weniger möglich. Aber Geiger hat nicht sowohl den Vorteil der Wissen¬
schaft im Auge, wie die Leichtigkeit, die von ihn: gesammelten Briefe lohnend zu
verwerten. Wie hat er den Nachlaß Vertuchs verzettelt, sodaß es schwer hält,
ihn zusammenzubringen! In demselben Bande begann er anch schon, größere,
durch eine Reihe von Bänden sich erstreckende Aufsätze aufzunehmen, was uns
dem Zwecke des Jahrbuches nicht zu entsprechen scheint.
Der dritte Jahrgang brachte mehrere erfreuliche Bereicherungen, Es sollte
von nun an vor jedem Bande eine bemerkenswerte bildliche „Darstellung Goethes
oder eines seiner hervorragenden Zeitgenossen und Freunde" stehen. Bisher
haben wir nur einige bedeutende Bildnisse Goethes erhalten. (Daß die dem
achten Jahrgange beigegebene Heliogravüre einer Büste Goethes, die bei dem
berühmten Apollotypus von Trippels großer Büste zu Grunde gelegen zu haben
scheint, eine gute Wahl sei, darf man bezweifeln. Gelegentlich sei zu der Äußerung
des Geheimen Hofrat Ruland, es finde sich nichts über den spätern Verkehr
Goethes mit Trippel, die Bemerkung gemacht, daß Karl August Goethe beauf¬
tragte, die Zahlung der Büsten Goethes und Herders fristweise an dessen Erben
zu besorgen.) Eine zweite Zugabe bildet vom dritten Bande an das Register,
das nur sorgfältiger gearbeitet und von einem Sachkundigen durchgesehen werden
müßte, damit nicht weiter so wunderbare Versehen vorkommen. Von großer Be¬
deutung war es, daß Geiger die Enkel Goethes bestimmt hatte, Briefe aus dem
Goethearchiv beizusteuern, und so erschienen gleich hier die höchst bedeutenden
Briefe Klingers und der Fürstin Galitzin, leider, was die Besitzer als vouciitio
Zins aus von forderten, in der unglücklichen, ranmvcrschwendenden Bearbeitung
ihres Freundes Bratanek. Geigers eigne Sorgfalt und Kenntnis hatte sich noch
so wenig gehoben, daß als eine neue Entdeckung (Sapupi ----- Papius) ausführlich
vorgetragen wurde, was seit mehr als dreißig Jahren bekannt war, ja in den
gangbarsten Büchern zu lesen stand. Die Beiträge ans dem Goethearchiv kamen
auch den beiden folgenden Bänden zu gute, die eine Anzahl Briefe von
Schillers Gattin, Körner, der Familie Voß und Frau von Stael gaben, leider
wieder von Bratanek dargeboten, der um das Verständnis des einzelnen un¬
besorgt war, ja die vielen nndatirten Briefe der Stael wild durcheinander laufen
ließ. Der Herausgeber brauchte in diesem Baude auch manche andre ungedruckte
Briefe, sogar dreiunddreiszig Briefe Goethes an Bertuch (von denen einer frei¬
lich vielmehr an Frommann gerichtet ist) und den vollständigen Briefwechsel des
Dichters mit dem Botaniker Meyer.
Mit dem vierten Bande trat zur Bibliographie ein Anhang über die Er¬
scheinungen in England und Amerika. Der fünfte führte die Änderung ein,
daß die „Neuen Mitteilungen" (ungedrncktcs) die erste Stelle einnahmen, sodaß
von dem größern oder geringern Umfange derselben der auf die Abhand¬
lungen zu verwendende Raum abhängig wurde. Wir tonnen dies nicht billigen,
da manche der ungedruckten Briefe so wenig bedeuten, daß sie recht gut auf das
nächste Jahr warten können. Das Selbstbewußtsein des Herausgebers war
indessen gestiegen. Im Vorwort zum fünften Bande nahm er für sich das
Recht in Anspruch, in der Bibliographie nach Belieben bald kürzer, bald länger
bei einem Werke zu verweilen, gelegentlich zu loben oder zu tadeln. Dies
widerspricht dem als maßgebend anzuerkennenden Grundsatz, in der Bibliographie,
gleichmäßig alle Erscheinungen nach ihrer Bedeutung zu besprechen, und es öffnete
der Parteilichkeit Thür und Thor. Zur Errichtung eines kritischen Richter¬
stuhles hatte der Herausgeber nach seinem Programm kein Recht, aber dieser ward
ihm eine werte Errungenschaft, um seine Freunde zu erheben, diejenigen, die
ihm nicht genehm sind, nach Möglichkeit herabzusetzen, die einen mit Bücklingen
zu empfangen, selbst wenn sie den Raum des Jahrbuchs für ihre Berichtigung
von Druckfehlern und Versehen mißbrauchen, dagegen bei den andern das
Breuuusschwert mit dem Vs-s viotis! in die Wagschale zu werfen.
Wie dem Glücklichen alles zum Vorteil gereicht, so gewann Geiger die
Gunst des freien deutschen Hochstiftes, dessen frühere Verwaltung er leiden¬
schaftlich bekämpft hatte, und so gewährte dieses für den sechsten Band eine
„namhafte Unterstützung" (bedürfte das Jahrbuch einer solche» schon?) und
stellte eine noch nähere Verbindung mit ihm in Aussicht. Dagegen unterblieben
diesmal durch besondre Umstände die Mitteilungen aus dem Goethearchiv. So
bot denn der Band unter den „Neuen Mitteilungen" von Geothe selbst nur
ein Gedicht und siebzehn Schreiben (zum Teil amtliche), wozu in ein paar Auf¬
sätzen noch zwei andre kamen. Daß das Gedicht schon gleich nach Goethes Tod
von A. Nicolovins herausgegeben worden war, war Geiger unbekannt. Von
den als ungedruckt bezeichneten Mitteilungen von Zeitgenossen waren längst
gedruckt die höchst bedeutenden Briefe Knebels an Lavater vom 1. September 1780
(bei Hegner) und Riemer vom 6. Februar 1806 (sogar viel ausführlicher von
Riemer selbst herausgegeben) und der von Gerning an Goethe vom 21. März
1811. So wenig beherrscht Geiger sein Gebiet. Die beiden diesmal hinzu-
getretenen Abteilungen „Aus seltenen und vergessenen Büchern" und „Aus
Briefen" dürften kaum als eine wünschenswerte Bereicherung zu betrachten sein.
Bald darauf wurde Geiger das Glück zu Teil, daß die nach dem Aus-
sterben des Goethischen Stammes gebildete Goethegesellschaft sein Jahrbuch
zu ihrem Organ wühlte, wodurch freilich dessen eigentlicher Umfang des Jahres¬
berichts wegen um ein paar Bogen verkürzt wurde, aber es erhielt einen viel
bedeutenden, Wirkungskreis, da es allen Mitgliedern der Goethegesellschaft frei
geliefert wird. Man sollte denken, der Herausgeber sei dadurch zu einer
würdigeren Lösung seiner Aufgabe getrieben wordeu, habe immer größern Fleiß
darauf verwandt und seiner rücksichtlos die Wahrheit entstellenden Parteilichkeit
entsagt. Leider geschah dies nicht. Auf die vielen groben Druckfehler und Ver¬
sehen, die er sich bei den von der Goethegesellschaft ihm anvertrauten so be¬
deutenden Leipziger Studentcnbriefen hat zu Schulden kommen lassen, will ich
hier nicht noch einmal zurückkommen, aber stark ist es jedenfalls, daß diese im
achten Bande nicht berichtigt sind, da sie doch an allgemein zugänglichen Orlen
gerügt worden waren. Von den sonstigen Versehen in diesem Bande hebe ich
nur eines hervor. In dem Briefe an den Schauspieler P. A. Wolff vom
21. September 1821 heißt es: „Dieses Wunder seie Toten zu erwecke,^ gelingt
der Schauspielerkunst mehr als einer andern; deshalb denn auch auf jene grief-
gramigen Pädagogen keineswegs zu achten ist; der wahre Schauspieler hat einen
zu großen Vorsprung, als daß ihn solche Grillenfänger sobald einholen sollten."
Dazu bemerkt der Herausgeber: „Die griesgrämiger Pädagogen sind zweifels¬
ohne Berliner Kritiker, über die Zelter oft derbe Worte braucht, Kritiker, welche
solchen Experimenten mißgünstig zusahen." Daß diese Deutung nicht paßt, liegt
auf der Hand. Sollte man nicht von Geiger bei seiner hervorragenden Stellung
in Sachen Goethes erwarten, er werde sich jener vielberufenen Stelle in den kurz
vorher erschienenen „Wanderjahren" erinnert haben, in welcher sich die Vor¬
steher der pädagogischen Provinz, von ihrem Standpunkte mit Recht, so un¬
günstig über die alle übrigen Künste verderbende Schauspielkunst äußern?
Wenden wir uns endlich zu dem neuesten Jahrgange. Eröffnet wird er
zu unsrer Verwunderung durch zwei Gedichte auf Goethe und Scherer. Alles
zu seiner Zeit! Aber Geiger hofft, der Beifall der Leser werde ihn ermuntern,
ähnliche Zeugnisse (?) zeitgenössischer Dichter zu sammeln und durch eine solche
Zusammenstellung die innige Verknüpfung auch unsrer Dichter mit unserm größten
Meister darzuthun. Dies liegt aber sicher außerhalb des Rahmen eines Goethe-
Jcchrbnchs. Den eigentlichen Anfang bildet eine reiche Sammlung ungedruckter
Briefe, von denen nur einer von Goethe (an Walter Scott) ist, die andern (es
sind ihrer achtzig) größtenteils an ihn gerichtet siud, von Frau von Stael,
Ugo Foscvlv (es ist die einzige Spur eiuer Verbindung des Nachahmers von
„Werthers Leiden" mit Goethe), Manzoni, Oehlenschlciger, Herder, dessen Frau
und Sohn Angust, Schillers Gattin, Körner, Alexander, Wilhelm und Karoline
von Humboldt und Niebuhr. Bei Übersendung dieser Briefe schrieb der Direktor
des Goethearchivs an Geiger: „Die Arbeit, alles auf seine Neuheit hin zu
prüfen, Undatirtes richtig einzureihen und die nötigen Erläuterungen beizufügen,
bleibt Ihnen bis auf gar weniges aufgespart. Nur habe ich den Nummern
aus den Quartalhcften immer ein ungefähres Datum beigefügt, wo es aus der
Nachbarschaft, freilich oft sehr unsicher, zu erschließen war." Geiger hat diese
Aufgabe höchst unzureichend gelöst und nur, wo die Sache handgreiflich war,
das Nötige beigefügt. Der erste Brief der Stael ist von mir schon in meinem
Leben der Stein inhaltlich angeführt und im Schnorrschen „Archiv" vollständig
gegeben worden. Er ist so merkwürdig, daß niemand, der ihn einmal gelesen
hat, ihn je ganz vergessen wird. Für Geiger war er ungedruckt. Von großer
Bedeutung siud Herders Briefe. Auf Geigers Wunsch hat Snphan einiges
dazu bemerkt, sicher ohne zu glciubeu, damit die volle Erläuterung gegeben zu
haben. Seine Bemerkungen sind natürlich richtig, nur gegen die zu Brief 14
sei angeführt, daß ich nicht das Billet Herders 92 einem bestimmten Jahre
zugeschrieben habe, und daß Goethes Aufsatz von den farbigen Schatten erst im
Juli 1793 geschrieben wurde. Die beiden ersten Briefe aus Rom (Dezember
1788) sind sehr bezeichnend. Aber finden sich im Goethearchiv keine frühern
von Herder, oder siud solche für eine andre Gelegenheit zurückgelegt? Höchst
merkwürdig ist der Glückwunsch Herders zu Goethes Geburtstag nach seiner in
demselben Monat erfolgten Rückkehr aus Rom:
Sankt Johannes der Zweite (den Ersten erschlugen die Mörder,
Ob er gleich sterbend noch „Liebt euch, ihr Kinderchen!" sprach),
Also Joannes Secundus Evnugelista vertraut dir
Aus Elysium heut küssend den holdesten Grnsz,
„Bruder Tertia, spricht er, du nimmst an Weisheit und Alter,
Nimmst nu der Grazie zu, wie sie den Göttern gestillt
Und den Menschen. Wohlnn! statt meiner weih' ich dich heute;
Kronen um Ende des Buches wird dich ein andrer, ein Gott."
Weder Snphan noch Geiger bringt ein Wort zur Erklärung, die doch erst den
Versen Leben giebt. Den Namen Joannes Secundus hatte sich der Dichter
der Lg-hin. (Küsse) beigelegt, an den Goethe 1776 bekannte Verse richtete.
Der Schluß deutet auf die Vollendung des Buches der Römischen Elegien, von
denen Herder die ihm vorgelesenen mit heiterm Geiste aufgenommen hatte. Die
Anerkennung, die Herder ihm hier deshalb spendet, ist sehr merkwürdig. Rührend
wirkt der Brief Angust Herders (vom 8. Dezember 1798), der die gestörte Freund¬
schaft Goethes mit seiner Familie hergestellt wünschte. Die Briefe von Schillers
Gattin find nicht vou hervorragender Bedeutung, aber als Ergänzung unsrer
Kenntnis willkommen. Hier giebt Geiger wieder ein bezeichnendes Pröbchen
seiner Kunst. Charlotte dankt am 20. März 1815 für eine Schiller betreffende
Sendung Goethes, bedauert aber sein dort ausgesprochenes Urteil über „Fiesko."
Jeder Scichkeuucr sieht, daß hier Goethes Aufsatz „Über das deutsche Theater"
gemeint ist, den das „Morgenblatt" vom 10. und 11. April 1315 brachte; be¬
kanntlich wurden die Nummern dieses Blattes lange vor dem Tage gedruckt,
dessen Datum sie tragen. Geiger hat diesen Aufsatz übersehen, und so ist er
auf den spaßhaften Gedanken gekommen, der Aufsatz „Ein glückliches Ereignis"
sei gemeint, obgleich dieser gar nicht paßt und — erst zwei Jahre später ge¬
schrieben ist. Da meint denu der weise Herausgeber des Goethe-Jahrbuchs,
dieser könne, obgleich er erst 1817 erschienen sei, schon 1815 geschrieben sein.
Hätte er sich um die Zeit desselben gekümmert, so würde er gefunden haben,
daß uach dem Briefe Eichftädts an Goethe vom 14. Mai 1817 der Aufsatz
gerade damals geschrieben wurde. „Es ist immer gut etwas zu wissen," äußert
Goethe einmal. Aber gehen wir weiter. Den Brief 37, datirt „Dienstag früh,"
setzt Geiger in den Oktober 1818, obgleich er ihn auf den Maskenzug des
18. Dezember bezieht. Auch letzteres ist nicht richtig. Bei dem „Maskenfest"
ist Riemers Charade „Apollodorus" gemeint, und der Brief ist bald nach
Goethes Rückkehr von Barka geschrieben, am 8. Dezember 1818. Wichtiger als
die Briefe Körners sind die von W. von Humboldt, von denen einer „Hermann
und Dorothea" betrifft. Einen bezeichnenden Beweis seiner unglaublichen Flüchtig¬
keit liefert Geiger hier in der Äußerung über den Brief vom 18. Februar 1797.
Er bezieht die' Worte: „Ich habe nunmehr in Hermann das Kapitel vom
Hexameter gelesen," ernstlich auf „Hermann und Dorothea," und wundert sich,
daß dazu das Datum nicht stimmt. Die Ahnung, daß des Philologen Hermann
Schrift Os uietris <ZrÄöczorv.in et Rollmnornin xovtarmri gemeint sei, lag ihm
zu fern; da läßt er lieber unser schönes Epos in Kapitel teilen. Bedeutend
sind W. von Humboldts Briefe aus Rom, höchst liebenswürdig die des jüngern
Bruders und Niebuhrs. Bei letztem staunen wir, daß sie aus demselben Geiste
geflossen sind, der manches so scharfe Urteil über Goethe gefällt. Aber wie tief
ihn die Kunde von Goethes drohendem Ende kurz vor seinem eignen ergriff,
habe ich selbst noch in lebhafter Erinnerung, da er seinen herben Schmerz frisch
vor seinen Zuhörern ergoß.
An diese reiche Stiftung des Goethearchivs schließen sich „Dreizehn Briefe
nebst einem Fragment Goethes." Sie beginnen mit zwei bedeutenden Briefen
Goethes an Höpfner. Sehr eingehend sind die Bemerkungen darüber, in denen
auch ungedruckte Briefe Höpfners an Nicolai mitgeteilt werden. Spaßhaft
nimmt sich dieser Gelehrsamkeit gegenüber die Bemerkung des Erklärers aus:
„Die Rhapsodie von Reinhardt weiß ich nicht nachzuweisen." Daß sie von
Merck ist, war seit fünfzig Jahren kein Geheimnis. Goethes frühe Kenntnis
Spinozas beweist die Äußerung in dem Briefe vom April 1773: „Ihren Spinoza
hat mir Merck gegeben." Hatten wir bisher nur Beispiele, daß Geiger von
andern schon mitgeteilte Briefe für ungedruckt erklärt (eine größere Anzahl
liefern Geigers eigne Berichtigungen vom zweiten bis zum sechsten Bande), so
hat er doch noch stärkeres geleistet. Den anziehenden Brief Goethes an die
Heygendorf (VIII, 128 f.) hat Geiger selbst schon V, 13 f. drucken lassen, aber
es geradezu vergessen! Seine Pflicht als Herausgeber hat Geiger wieder stark
vernachlässigt bei den am Schlüsse gegebenen Versen. Daß sie übersetzt sind,
lehrt zum Überfluß die Schlußbemerkung Goethes selbst: „Alle Übersetzungen
sind tastende Versuche." Es bedürfte keines Scharfsinns, um zu entdecken, daß
sie aus Mauzonis (üoutö all, Lg-rinÄ^mois I, 2 stammen; ja Goethes Übersetzung
des Anfangs dieses Auftritts konnte Geiger in meiner Ausgabe der Gedichte
lesen. Allein so etwas braucht Geiger nicht zu wissen!
Manches für die Zeit des Druckes von Goethes Zeitschriften und andern
Werken bieten die von H. Frommann mitgeteilten Geschäftsbriefe Goethes an den
Buchdrucker Fr. Frommann aus den Jahren 1816 bis 1824. Ans Geigers Wunsch
hatte der Mitteiler auch einen Nekrolog des Adressaten geliefert; die daselbst
gemachten Bemerkungen über die Briefe hätten aber dort gestrichen und zu den
Briefen selbst gesetzt werden müssen. H. Frommann hatte darauf hingewiesen,
daß die bisher gedruckten Briefe nur zwei auf Druckereiangelegenheiten bezüg¬
liche Stellen enthalten. Unbekannt war ihm, und auch Geiger weiß es nicht,
daß auch zwei im Goethe-Jahrbuch erschienene nicht adressirte Briefe gleichfalls
des Druckes wegen an Frommann gerichtet sind (IV, 217, 17 und 388, 23);
von dem letztern hatte Geiger dies selbst nachträglich auf meine Mahnung an-
gegeben. Die Nachweisungen, um welche Schriften es sich handelt, sucht man
bei ihm vergebens, obgleich die Briefe erst dadurch Wert erhalten; es fehlt jedes
Wort der Erläuterung, mit Ausnahme zweier ganz kurzen, zu unbestimmten
Angaben. In dem letzten Briefe ist Schmoller ein Druckfehler, der auch in das
Register übergegangen ist. Wußte Geiger nicht, daß der von Goethe viel be¬
nutzte und in seinen Briefen oft genannte Maler Schmeller hieß?
Unter den nun folgenden „Abhandlungen" erweitert die von G. von Loepcr
„Zu Goethes Gedichten Trilogie der Leidenschaft" auf sehr dankenswerte
Weise unsre Kenntnis. Die Überschrift deckt nicht den Inhalt. Dem Verfasser
war gestattet, was nur Nuserwählten vergönnt ist, noch vor der Herausgabe
der Tagebücher die Stellen daraus mitzuteilen, die sich auf Goethes Zusammen¬
kunft mit der Familie Levetzow in den böhmischen Bädern im Sommer 1822
und 1823 beziehen. Auch die im Goethearchiv befindlichen elf Briefe der
Familie von 1824 an durfte er einsehen und daraus zwei Nachschriften Ulrikens
ans den Jahren 1824 und 1827, einen Brief ihrer Mutter von 1829 und eine
Stelle aus einer Einladung der Großmutter vom 23. April 1822 geben, wenn
die letztere Jahrzahl richtig ist. Die Äußerung: „Und wie wird Ulrikchen sich
freuen, wenn sie wieder Töchterchen genannt wird, worauf sie stolz ist," deutet
doch Wohl auf eine frühere Bekanntschaft hin, während, so viel wir wissen,
Goethe die drei Schwestern erst im Sommer 1822 kennen lernte. Wir ver¬
missen in dem Aufsatze auch die Angabe, daß Goethe im Jahre 1824 der
Familie sein Bild schickte. Aus dem Tagebuche ersehen wir wieder, daß Goethes
eigne Angaben über die Entstehung seiner Gedichte nicht immer ganz zuver¬
lässig sind; denn wir erfahren aus ihnen, daß er nicht erst auf der Rückreise
vou Eger, sondern spätestens am 6. September die Elegie begonnen hatte, die
den in Marienbad zur Aussöhnung gekommenen Schmerz der Entsagung
verklären sollte und sich unmöglich auf den heitern Abschied beziehen konnte,
den er kurz vorher in Karlsbad vou Ulriken genommen hatte. Höchst be¬
zeichnend ist es für Goethe, daß er erst jetzt dazu gelangte, den schweren Ent¬
sagungskampf dichterisch darzustellen, wobei er aus den wirklichen Verhältnissen
nur das nahm, was zur lebendigen Gestaltung sich eignete, sonst großer Freiheit
sich bediente. Diesem verdienstlichen Aufsätze folgt Viktor Hehns geistvolle, von
großer Sorgfalt zeugende Zusammenstellung von Goethes Benutzung der Bibel¬
sprache und Th. Süpfles anziehende Darstellung des literarischen Einflusses
unsers Dichters in Frankreich.
Bei den wenigen Miscellen und der Chronik verweilen wir nicht, um des
Krebsschadens des Goethe-Jahrbuches, des Mißbrauches der Bibliographie aus¬
führlicher zu gedenken. Eine Bibliographie soll möglichst vollständig sein und
nur aus eigner Anschauung oder den Mitteilungen uuparteischer Sachkundigen
berichten. Dies fordert freilich einen großen Zeitaufwand, aber einen solchen
darf man billig von dem fordern, der sich hinstellt, um den zahlreichen, in
ihrer Keimtuis so ungleichen Verehrern des Dichters im In- und Auslande
darüber zu berichten. Erleichtern kann er sich seine Arbeit, wenn er Goethe-
freunde in verschiednen Gegenden Deutschlands veranlaßt, über die in den
Blättern ihrer Gegend erschienenen Goethiana zu berichten oder sie ihm ein¬
zusenden; er darf sich nicht darauf verlassen, daß jeder Schriftsteller oder jede
Zeitungsredaktion so gutmütig ist, ihm das Betreffende zu schicken. Geigers
Berichte sind so wenig vollständig, daß er sich um manche nicht unbedeutende
Zeitschriften gar nicht gekümmert haben kann oder sie nur aus andern, oft sehr
flüchtigen Erwähnungen kennt, ja selbst diejenigen, die ihm zur Hand sind,
nichts weniger als gemein benutzt hat. So konnte es kommen, daß er einen in
den Grenzboten stehenden Aufsatz nur dem Titel mich, wahrscheinlich nach
andrer Angabe, kennt, obgleich dieser gerade mit seiner Bearbeitung von Goethes
Studentenbriefen ins Gericht geht, und daß er das dort mitgeteilte, in doppelter
Hinsicht anziehende Stammbnchblatt des jungen Dichters übersieht. Doch das
allerschlimmste Übel an seinen Berichten ist die gewissenlose Parteilichkeit, die
sich am wenigsten ein Goethe-Jahrbuch zu Schulden kommen lassen sollte.
Aufs widerwärtigste spiegelt sich dieses Verfahren in der Art und Weise, wie
er über meine Arbeiten herfällt, um sie in das gehässigste Licht zu stellen. Eine
ehrliche Anzeige meiner Ausgabe der Liebesbriefe Goethes an Frau von Stein
mußte zunächst meine deutlich ausgesprochene und gerechtfertigte Absicht dieser
Ausgabe angeben, sie durste sich dann über diese und die Art der Ausführung
freimütig ergehen. Aber dazu fand er keine Zeit, und der Leser sollte im
Dunkel gelassen werden, damit er selbst sein Mütchen kühlen und mit der
plumpen, elend gefaßten Unwahrheit beginnen konnte: „Die vorliegende Ver¬
öffentlichung hat nicht den geringsten selbständigen Wert: die Kleinlichkeit,
Wiederholungssucht des Autors zeigen sich deutlich, sein Autoritätsdünkel tritt
aufs lebhafteste hervor." Das Bedürfnis einer Aufgabe der Briefe für einen
weitern Leserkreis neben der verdienstlichen, aber schwerfälligen, viele Briefe will¬
kürlich einordnenden, von Fielitz, ist von verschiednen Seiten anerkannt worden
und für jeden Verständigen unleugbar vorhanden. Meine Ausgabe ist uach
einem festen Plane mit gewissenhafter Genauigkeit gearbeitet, und es ist mir
gelungen, zahlreiche Fehler zu vermeiden und manches neue zu finden; nicht aus
kleinlicher Rechthaberei, soudern aus Pflicht habe ich die notwendigen Ab¬
weichungen von Fielitz begründet, aber Pflichtgefühl und Liebe zur Sache sind
einmal Dinge, die Geiger mir nicht zutrauen darf. Der zweite Ausspruch, den
er über meine Arbeit thut, wirft mir vor, ich hätte Fielitz stark fviclmchr, mie
ich hoffe, zu meinem Zwecke vollständig^ ausgenutzt, und zum Danke ihm die
unbedeutendsten Irrtümer vorgehalten und einen nichtigen Streit über Lappalien
geführt. Ich habe aber nichts weniger als gestritten und Fielitz Irrtümer vor¬
gehalten, ich habe gethan, was jeder thun muß, ich habe meinen Vorgänger,
wo es geboten war, berichtigt. Leider hält Geiger manches, was man von
ihm als Herausgeber fordert, für „Lappalien"; die Wissenschaft kennt aber solche
überhaupt nicht. Und was den wohlfeil mir vorgeworfenen Undank betrifft,
so könnte man doch fragen, ob ich in meiner Ausgabe Fielitz mehr zu ver¬
danken habe oder Fielitz meinen ausgedehnten frühern Forschungen. Wir haben
uns gegenseitig den gebührenden Dank ausgesprochen, aber, wie Fielitz, obgleich
er mich, wie billig, stark ausnutzt, nicht auf das Recht verzichtet, mich zu be¬
richtigen, so wenig durfte ich es. Ich bezweifle, daß Geiger weiß, was
ich für Frau von Stein geleistet habe, aber geurteilt muß sein, und so weg¬
werfend als möglich, da er einmal sein böses Auge auf mich geworfen hat.
Bei meinen Ausgaben der Gedichte und des Divan ist er weit entfernt, das
viele von mir gebrachte Neue (wie bei deu Gedichten nach dem neugriechischen,
bei den Abhandlungen zum Divan), hervorzuheben, er will bloß tadeln; nichts
ist ihm widerwärtiger als mir gerecht zu werden. So hat er denn mich den nicht
beneidenswerten Mut, von meiner Darstellung der Dichterin Amalie von Jmhoff
zu bemerken: „Neues Material ist nicht benutzt. Bekanntes wird mit großer
Weitschweifigkeit vorgetragen." Kennt Geiger etwa das Material und hat er
sich die Lebensbeschreibungen der Dichterin von Döring und in der Allgemeinen
deutschen Biographie zur Vergleichung angesehen? Was ich geleistet habe,
wissen Kundige, und über Weitschweifigkeit wird sich wohl nnr Geiger beklagen,
der, so oft er auf mich zu sprechen kommt, in die Farbentöpfe tunkt, die Breite,
Nörgelei. Schulmeisteret und andre schöne Dinge dieser Art enthalten. Als
Berichterstatter hätte er wenigstens erwähnen sollen, daß wir bisher kein Bild
der jugendlichen Dichterin besessen haben, wogegen meiner Darstellung drei un¬
zweifelhaft echte beigegeben find. Auch aus dem, was er über meine sehr viel
neues bringenden Erläuterungen von Goethes Maskenzügen sagt, kann kein
Mensch die Bedeutung dieser Arbeit ersehen — und keiner soll es!
Wenn ich in der Schilderung der Leistungen des Goethe-Jahrbuches so
ausführlich gewesen bin, so sollte diese meine Überzeugung begründen, daß in
der Leitung dieses bedeutenden Unternehmens Wandel geschafft werden muß.
Die Willkür, Sorglosigkeit und Ungenauigkeit in der Mitteilung ungedruckter
Briefe muß gewissenhafter Prüfung, ob ein Brief wirklich ungedruckt sei, der
genauen Forschung nach der Nichtigkeit oder der Bestimmung des Datums und
der Adresse, der kurzen und bestimmten Erklärung aller thatsächlichen Be¬
ziehungen und dem fehlerlosen Abdrucke weichen, und dabei muß die umfassendste
Kenntnis zu Gebote stehen, die Geiger eben abgeht. Dieselbe würdige Behandlung
sollte den oft fehlerhaft im Jahrbuch abgedruckten Mitteilungen der Zeitgenossen
über Goethe zu Teil werden, in deren Auswahl überdies größere Strenge zu
empfehlen wäre. Keine Aufsätze sollten Aufnahme finden, die nicht das Ergebnis
reifer Prüfung sind, wenn auch der Standpunkt ein verschiedner sein darf.
Auch mit nichtigen Miscellen sollten die Leser verschont bleiben. Besondre
Sorgfalt ist auf die Bibliographie zu verwenden, wenn diese überhaupt noch
gegeben werden soll. Ernster Fleiß muß an die Stelle der jetzt herrschenden
Leichtfertigkeit treten und strenge Gewissenhaftigkeit jede tückische Parteilichkeit
ausschließen. So möge das Jahrbuch zu Ehren deutscher Wissenschaft und zur
Förderung gründlicher Goetheforschung fröhlich gedeihen!
c>M^>, isas „große Werk" des angeblich Talentvollsten des „jungen Deutsch¬
lands" liegt vor mir.*) Hermann Conradi (geb. 1862 zu Jcsz-
nitz i. A., der Sohn eines Agenten in Magdeburg) veröffentlichte
seine ersten leidlichen Artikel als Gymnasiast in einem Magde¬
burger Blatte und gab dann als blutjunger Student in Berlin
(mit einem Herrn Bohne) zwei wertlose „Faschingsbreviere," später eine tolle
Skizzcnsammlung „Brutalitäten" in dem Sozialistenverlage von Schabelitz in
Zürich und kürzlich ein Bündchen revolutionärer Gedichte „Lieder eines Sünders"
heraus. Der sogenannte Roman „Phrasen," den der fnnfnndzwanzigjährige
Leipziger Student geschrieben hat, soll den Prolog bilden zu einem umfang¬
reichen Werke, dessen Hnnptteile: „Ein moderner Erlöser," „Die Heimathlosen"
und „Das letzte Ideal" heißen und dem als Epilog ein „Jnselgürtcl kleinerer
Schriften" folgen soll. Das Ganze will (nach den „Vorgedanken" zu den
„Phrasen") das Herrn Conradi „aufgegangene, von ihm erlebte und erschaffene,
in mancher Hinsicht noch zu erlebende und zu erschaffende Ideen- und Bilder-
gefüge verarbeiten und vermünzen" und „die Entwicklung eines nicht ganz
alltäglichen Menschen von einer extrem individualistisch-ästhetischen Weltanschauung
aus durch eine sozial-ethische hindurch zu einer eventuell dritten hin vollenden."
Wie heißt es doch in der „Preciosa"?
Herrlich! Etwas dunkel zwar,
Aber 's klingt recht wunderbar!
Mit den einzelnen Bänden wird uns der Verfasser also nach und nach beglücken,
wenn anders der Verleger flott weiter vorschießt und bei dem vermutlich recht
schwachen Absatz dieser literarischen Erzeugnisse nicht schon vorher der Sache
überdrüssig wird.
Was wollen nun die „Phrasen"? Ein Roman ist das Buch nicht, denn
nnter einem solchen versteht man doch die Erzählung von Thatsachen, Situa¬
tionen, Gesprächen, Handlungen u. s, w,, welche die Entwicklung eines Menschen
oder vieler von selten ihres Charak.ters, ihrer Verhältnisse u. s. f. darstellen,
den Fortgang der Sache veranschaulichen und zu einem gewissen Abschlüsse ge¬
langen. Hier ist aber weder Fortgang noch Abschluß, das letzte könnte ebenso
gut das erste sein, manches könnte fehlen, andres hinzukommen, ohne daß das
Ganze sich wesentlich veränderte. Diese Herren vom neuesten „Sturm und Drang"
nehmen ja für sich das Recht in Anspruch, über alle literarischen Rubriken,
Gewohnheiten u. dergl. sich mit souveräner Verachtung hinwegzusetzen, aber
sie erheben den Anspruch, Kunstwerke zu schaffe». Ein Kunstwerk muß aber
doch mindestens ein Ganzes, in sich Abgeschlossenes sein, die „Phrasen" aber sind
locker an einander gemähte Fetzen; was sie zusammenhält, ist nur der gleiche
Zwirn, die Lappen sind sehr verschiedener Art, nur alle in gleicher Weise grell
ausgefärbt. Der Verfasser stellt zwar selbst die „Phrasen" als Prolog zu einem
größeren Werke hin, doch rechtfertigt auch dies Form und Inhalt des Buches
uicht. Eine solche „Einleitung" müßte doch wenigstens die Grundzüge des Ganzen
in allgemeinen Umrissen erkennen lassen, oder, wenn sie selbst schon der Anfang
ist, die Genesis des Spätern darstellen. Ersteres ist in dem Buche nicht der
Fall, als die letztere könnte höchstens die Kindheitsgeschichte gelten, die aber
uur einen geringen Raum einnimmt und viel zu wenig bringt, um als Genesis
einer Entwicklung des ganzen Menschen (Spalding) gelten zu können.
In den erwähnten Jugendgeschichten namentlich erinnern die „Phrasen"
stark an Jean Paul, nur sind die Vergleiche und Metaphern nicht selten sehr
gesucht oder abenteuerlich-ausschweifend. Beispiele ließen sich in Menge bringen.
Wenn aber bei Jean Paul herzerfreuendes Gemüt und herzerfrischender Humor
hervortreten, so drängt sich hier eine überreizte Phantasie, ein überspanntes
Denken und Fühlen und daneben ein häßlicher Sanseulvttismus auf. Kommt
der Verfasser aber auf die Frauen und das Verhältnis der Geschlechter zu
einander zu reden, dann wandelt sich das (vielleicht unbewußt benutzte) Vorbild,
Jean Paul wird durch Friedrich vou Schlegel verdrängt, es ist einem zu Sinne,
als läse man die Lucinde. Eine romantische Mystik tritt aus, die nicht selten
den Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen thut. Die Szenen mit Johanna
können dem Idealisten wie dem Realisten nichts weniger als erhaben vorkommen;
es ist die aufgewärmte Lucinde und wird junge Leute zur Wollust kitzeln —
weiter nichts! Wo bleibt hier das hohe Vorbild Zola? Wo wird der gepriesene
„Realismus" bethätigt, wenn er nun einmal ans Licht soll? „Furchtbar banal,"
grob, massiv ist der „Held" Spalding oft, eigentlich realistisch ist er aber nicht.
Man sagt nicht mit Unrecht, daß man einen Schriftsteller, einen Dichter
gut beurteilen könne nach seinen Frauengestalten. So zeigen Schillers Amalie,
Thekla, Jungfrau, Bertha?c. den Dichter, von dem es heißen darf:
Hinter ihm in wesenlosen Scheine
Lag, was uns alle biindigt, das Gemeine!
Und Goethes Leoiwre, Adelheid, Gretchen u. s. w., es sind Frauen, wie sie leben,
mit allen ihren Vorzügen und Fehlern; der große Realist verleugnet sich auch
hier uicht, uur daß er ebeu ein Dichter ist und kein — Nihilist! Und daß
deshalb die römischen Elegien anders klingen als die Werke der neuen „jung¬
deutschen Apostel." Dagegen Herrn Conradis Frauen? Es sind einfach Dirnen,
und soweit sie es etwa noch nicht sind, befinden sie sich auf dem besten Wege,
es zu werden. Was soll ein junger Mensch wie Conradi bei solchen Weibern
(Kellnerinnen, Chansonetten und ähnlichen: Gelichter seines „Meisters" Bleib¬
treu!) lerne»? „Was sich ziemt," lernt er dort ganz gewiß nicht, und es thäte
ihm doch so sehr not; seiner Phantasie konnte eine Abwendung vom Raffinirt-
Sinnlichen nur zum Segen gereichen. Ist denn wirklich das Geschlechtliche das
Einzige am Weibe, was es dem Manne wert macht? Ist es denn lediglich
das Interesse egoistischer Wollust, was wir am Weibe nehmen? Herr Con¬
radi hat — wie ist er zu bedauern! — bisher in seinem Lebenslaufe sitten¬
reine Frauen überhaupt uicht oder uur sehr oberflächlich kennen gelernt. Dann
soll er uns aber auch seine Ansicht uicht als ein neues großes Evangelium auf¬
tischen! Anmaßlich sagt die Vorrede: „Man lese mein Buch ... in Stunden,
da Flammen in der Seele lodern!" Ja wohl, Flammen der Sinnlichkeit! Aber
schwerlich werden vernünftige Menschen ihre besten Stunden an ein solches
Buch wenden, das Zeitungen aus ersichtlichen Gründen zurückgeschickt habe«,
das Väter vor ihren Kindern verschließen müssen.
Aus jeder Zeile der „Phrasen" blickt eine unleidliche Anmaßung des Ver¬
fassers hervor. Er wirft sich von einer Pose so heftig in die andre, daß man
es förmlich knacken hört. Da ist mehr als „eine Unze" (S. 2) Komödicmterie
und Koketterie dabei! Der „Held" des Romans Heinrich Spalding, ein durch¬
aus unwahrscheinlich geschilderter, feuchtohriger, ganz uninteressanter junger
Bursche („grüner Junge"), müht sich schon Jahre lang ab, über sich selbst ins
Klare zu kommen, und er findet immer wieder neue Züge, die das Bild ver¬
ändern, ergänzen; über andre Leute aber, mit denen er zusammentrifft, ist er
stets schon mit sich im Klaren, wenn er sie kaum flüchtig keimen gelernt hat,
und sein absprechendes Urteil fällt er meist gleich nach der ersten flüchtigen
Begegnung, nicht nach gründlichem Studium des andern, sondern nach „starken
Antipathien" (S. 263) und dergleichen. Seine Muse ist sozialistisch, selbst
anarchistisch; wagt aber einmal ein Menschenkind, dem „gottbegnadeter" Geistes-
heroen anders als bewundernd zu nahen, so gerät er aus Zorn und Wut ius
Delirium. Held Spalding benimmt sich öfter (siehe die Szene mit dem Wirt
Schraube, die Szene im Tingeltangel mit dem Unteroffizier) „einfach brutal."
Ist das anch ein Kennzeichen der „Geistesgröße"?
Was soll man ferner von den Aufzeichnungen über den Tod sagen? Mehr
künstlich-dunkel als tief, mehr mystisch als philosophisch. Und die Widersprüche?
Das miserable Französisch? Die vielen Gedankensprünge und Gedankenstriche?
Die Aufzeichnungen über die Jugend geben ein sonderbares Hilla pro «zuo.
Das sind nicht die kindlichen Eindrücke und Erlebnisse, wie sie der Knabe ge¬
habt und die Erinnerung sie treu aufbewahrt hat, sondern wie der Leipziger
Student Spalding sie durch das stark gefärbte Glas seiner jetzigen Ansichten,
Empfindungen, Gedanken sieht. Es ist also gar kein treues Bild. Auch hier
wäre es leicht, zahlreiche Belegstellen zu nennen. Übrigens ist es im höchsten
Grade unschicklich, taktlos, gefühllos, arrogant, so über Vater und Mutter zu
schreiben und zu urteilen. Mag der Herr Sohn ein großer Mann zu sein
glauben, sein Amt ist es nicht, in dieser Weise über seine Eltern zu richten,
und wenn ich der Vater dieses Jünglings (Hermann Spalding) wäre, so nähme
ich „Holz vom Fichtcnstcimme, doch recht biegsam müßt' es sein." Im übrigen
ist die kleinstädtische Jugend und Kinderwelt fast immer anders, als sie hier
dargestellt wird.
Aufmerksam lesen und zu Ende lesen werden das Buch allenfalls: die Be¬
kannten des Herrn Conradi und der „gezeichneten" Personen, die Anhänger der
„neuen Richtung," wollustgierige Jünglinge und abnormitätensuchende Natur¬
forscher; andre Personen, denen das „Werk" zufällig in die Hände kommt,
werden schwerlich bis zum Schluß aushalten. Der geisteskranke Onkel Heinrich
Spaldings hat mir übrigens zu denken gegeben!
Soviel von den „Phrasen." Nach den bisher erschienenen und mir bekannt
gewordenen poetischen und prosaischen „Werken" dieses „begabtesten Vertreters
der neuen Richtung," des „talentvollsten Bleibtreu-Schülers" möchte ich Herrn
Conradi etwa folgendermaßen analysiren:
Ein Prognostikon ist nicht zu geben. Die vorhandene starke Gährung,
welche sehr viel „Dreck" an die Oberfläche treibt, kann bringen:
Ein durchschnittliches Ergebnis hat wenig Wahrscheinlichkeit. Mir ist /S oder 7
das Wahrscheinlichere.
eit der Ankunft des englischen Schiffes waren mehrere Wochen
vergangen, und sowohl der Prediger als auch Thorbjörn hatten
Grund, mit dem Gaste, den sie unter ihrem Dache beherbergten,
zufrieden zu sein. Er war bescheiden und wohlwollend und schien
für alles Sinn zu haben: er lauschte der Erzählung von der
großen Pest, welche die Insel heimgesucht hatte, erwog die möglichen Folgen,
welche König Christjerns Römcrreise gehabt haben könnte, und erzählte, wenn
er dazu aufgefordert wurde, gern und aufs unterhaltendste von seinen eignen
Reisen in die fernen Länder. Sira John und Thorbjörn waren die aufmerk¬
samsten Zuhörer, jeder freilich auf seine Weise. Der erstere verschlang jedes
Wort, das über die Lippen des Fremden kam, und unterbrach ihn oft, um
einen Vergleich zu ziehen zwischen dem Erzählten und seinem eignen ungeord¬
neten Wissen. Thorbjörn dagegen hörte meist schweigend zu, und nur wenn
die Rede auf etwas kam, was er während seines Umherschweifens mit eignen
Augen gesehen hatte, gab er durch Nicken oder durch ein paar Worte seinen
Beifall zu erkennen.
Eines Abends, als die drei bei einander saßen, drehte sich das Gespräch
um die Entdeckungen, welche die Portugiesen in dem letzten Menschenalter ge¬
macht hatten, indem sie gen Westen übers Meer gesegelt waren, und Sir Dove
erzählte von Prinz Heinrichs Thätigkeit, von den Azoren und den Kanarischen
Inseln, und legte eine sehr genaue Kenntnis der Verhältnisse an den Tag.
Wie aber denkt Ihr über Cypango oder Arenia? fragte der Prediger.
Ist diese Insel wirklich so groß, wie man sagt, und wie viele Tagereisen liegt
sie wohl von Europa entfernt?
Der Fremde schüttelte mit dem Kopfe. Ich habe niemals etwas bestimmtes
darüber erfahren können, erwiederte er, deshalb nehme ich an, daß es eine
Fabel ist, wie so manches andre.
Eine Fabel! wiederholte Sira John beleidigt. Ich selber habe das Land
auf einer Karte gesehen, die mir der Schiffer Durdley im vorigen Jahre zeigte!
Der Fremde konnte ein leises Lächeln über diese Beweisführung des
Predigers nicht unterdrücken, aber er antwortete mir, daß man sich hüten müsse,
sofort an das Vorhandensein eines Landes zu glauben, nur weil man es auf
einer Karte gesehen habe.
Haltet Ihr denn auch Se. Brcmdans Insel für eine Fabel? fragte Sira
John. Wir haben doch das Wort des würdigen Abtes, daß er, nachdem er
auf Jena gelandet war, die Wunderinsel im Meere erreichte und dort viele
merkwürdige Dinge sah!
Ich kann nicht leugnen, daß ich auch nicht an die Se. Vrcmdans Insel
glaube, antwortete Sir Dove. Das ist nichts weiter als eine fromme Sage,
ein sinniges Märchen, gleich der Erzählung von den sieben Städten im fernen
Westen. ^
Die sieben Städte? Davon habe ich noch niemals gehört, sagte der Prediger
in neugierigem Tone.
Und der Fremde erzählte, wie der Erzbischof von Porto mitsamt sechs
Bischöfen und vielen Männern und Weibern damals, als die Mauren die Halb¬
insel erobert hatten, an Bord reichbeladener Schiffe gegangen und nach Westen
gesegelt sei, bis sie nach vielen Tagereisen an schöne, fruchtbare Inseln gelangten,
wo sie ihre Schiffe verbrannten und blühende Pflanzstüdte gründeten. Mehr
als ein Schiffer, fuhr er fort, hat es seitdem mit heiligen, hohen Eiden be¬
schworen, daß er sie gesehen habe, ja es hat sogar Don Enrico, der jetzt selig
im Herrn ruht, Kunde davon gebracht, und doch kann ich nicht daran glauben,
da niemand genau hat augeben können, wo diese Inseln zu finden sind.
Aber ist es denn nicht ganz natürlich, daß dort draußen in dem weiten
Meere ein mächtiges Land liegen muß? meinte Sir John. Redet nicht schon
Plato von dem herrlichen, verschwundenen Atlantis, und hat nicht Seneca in
seiner Medea davon geweissagt, wenn er singt:
Einst wird sicher die Stunde kommen,
Wo des Okeanos Schranken gebrochen.
Lieblich entsteigt die Küste den Wogen,
Thetis erschließet uns neue Reiche,
Weiter entfernt als ultima 'I'KuIs,
Vonioni -Mois SÄSvulg, ssris,
(juibns Oesanus vinoulÄ rsrum
lillxst), ot inMns xirtsg-i rollus,
Lb.e>t>is<zus novos üvtvMt ordsg,
Uoo fil torris ullius, Hiuls.
Wohl glaube ich, daß jenseits des Meeres mächtige Länder liegen, versetzte
Sir Dove, Teile von Indien, die noch keines Europäers Fuß betreten hat.
Wenn ich das nicht glaubte, wäre ich jetzt nicht hier, fügte er leise hinzu. Auch
verachte ich die Prophezeiungen nicht, selbst wenn sie aus dein Munde eines
Heiden stammen, aber weit mehr Gewicht lege ich auf die Botschaft, auf die
Zeichen, welche uns das unbekannte Land hin und wieder über das Meer
sendet, und wodurch es gleichsam den Glanben an sein Vorhandensein in uns
weckt und aufrecht erhält.
Und nun erzählte er mit lebhafter, beinahe begeisterter Stimme, wie bald
hohle Rohrstücke, bald mächtige Taunenstämme mit ihren Wurzeln bei den
Azoren ans Land geschwemmt würden, ja daß man auf der Insel Flores sogar
ein schmales Boot gefunden habe, das zwei leblose Menschen von völlig unbe¬
kannter Rasse enthalten habe.
Sira John lauschte der Rede des Fremden wie ein Kind, dem man ein
Märchen erzählt; Thorbjörn aber, der bis dahin schweigend dagesessen hatte,
sagte ruhig: Hier in Island werden ja auch eine Menge Fichtenstämme ans
Land geschwemmt.
Hier? fragte Sir Dove eifrig. Aber ich habe hier ja fast gar kein Holz
erblickt, Ihr baut hier ja ausschließlich mit Stein und Torf!
Nicht hier bei uns, entgegnete Thvrbjöru, sondern am nördlichen Teile der
Insel, dort, wo der Strom, der von Westen kommt, das Land berührt.
Ja, es geht ja die Sage von westlichen Reichen, welche isländische Männer
in längst entschwundenen Zeiten entdeckt haben sollen, sagte der Prediger, aber
das halte nun ich für eine Fabel!
Sprich nicht von Dingen, die du nicht verstehst, Freund! versetzte Thorbjörn
mit erhobener Stimme und sprang von seinem Sitze aus. Jedes Kind ans
Island weiß von Erik dem Roten zu erzählen, der nach Grönland zog, und
von Leif, der Finnland besuchte. Es ist keine Fabel — die Erzählung von
Se. Brandans Insel und deu sieben Städten. Das steht in den Sagen ge¬
schrieben, die du niemals gelesen hast, und darüber bin ich wohl besser unter¬
richtet, ich, der letzte Sprosse von Leifs berühmtem Geschlecht! Arm mag ich
euch erscheinen an Gut und Geld, und doch ward mir ein reicheres Erbteil
als dir oder irgend einem hier ans der Insel! Denn mir und nur mir allein
gehört von Rechtswegen jenes große Land, aus dessen Holz die Bewohner des
Nordens ihre Häuser und ihre Bote bauen, und meine Schuld wars nicht,
daß ich mein Erbe bis dahin nicht habe heben können.
Nach dieser ungewöhnlich langen Rede setzte sich Thorbjörn wieder ruhig
hin. Sira John sah seinen Gast mit einem Lächeln an, das eine Art von
Mitleid mit der kindlichen Vorstellung des Barbaren ausdrücken sollte. Aber
die Augen des Fremden strahlten in ungewöhnlichem Glanz, und von dieser
Stunde an zog er augenscheinlich Thvrbjörns Gesellschaft der des Predigers vor.
Sira John war gar nicht damit zufrieden, seinen Gast oft halbe Tage
entbehren und ihn Thvrbjörn überlassen zu niüssen. Aber im Grunde konnte
er auch nichts dazu sagen, denn der Fremde hatte den Wunsch geäußert, die
Umgegend kennen zu lernen, und der Prediger wagte es nicht, längere Ausflüge
in der unwirtlichen Gegend zu macheu. So wurde denn Thorbjörn sein Be¬
gleiter, und schwerlich hätte er jemand finden können, der sich besser zu diesem
Amte eignete. Er kannte nicht uur jeden Berg und jeden Weg meilenweit im
Umkreise, sondern er war auch aufs genaueste mit der Geschichte der Familien
bekannt, die auf den verschiednen Höfen gewohnt hatten, und wußte von den
Sage» zu erzählen, die sich an jeden einzelnen Ort knüpften.
Bald machten sie Ausflüge nach dem Snefjäldsjökel hinauf, betrachteten
dessen drei Spitzen in nächster Nähe und starrten in die blaugrünen Schluchten
hinab, in denen man das Wasser brausen hörte, bald lenkten sie ihre Schritte
nach dem Enne, dem bekannten, übelberüchtigten Felsen südöstlich von Nis, der
steil nach dem Meere zu abfällt und den man aus weiter Ferne sehen kann.
Sie schritten auf dem schmalen, nur zur Ebbe betretbaren Steige an der Küste
entlang, wo die herabhängenden Klippen sich über ihren Häuptern wölbten und
dumpfe Grotten in die Felsen führen.
Und Thorbjörn erzählte von den Elfen, die hier überall hausten, im Ge¬
birge wie auf dem Meere, von grünen Thälern, die man mitten zwischen den
unfruchtbaren, geheimnisvollen Eisfeldern gefunden habe, und von den Meeres-
strndcln, die dadurch entstanden seien, daß ein Bach, der ursprünglich einen
Ausfluß des Jokeis gebildet habe, bei einem vulkanischen Ausbruch in der Erde
begraben worden und später mitten im Meere wieder zum Vorschein gekommen
sei, wodurch es auch zu erklären sei, daß das Wasser an dieser Stelle nicht
salzig war.
Der Fremde hörte wohl aufmerksam zu, aber es war doch, als ob etwas
andres als das, worüber sie sprachen, seine Gedanken erfüllte, und als ob er
nur auf eine Gelegenheit warte, seinem Herzen Luft zu machen. Endlich sagte
er eines Tages zu Thorbjörn: Ihr erwähntet alter Erzählungen von einem
großen, im Westen gelegenen Lande, und Ihr behauptet, selber ein Nachkomme
jenes ersten großen Entdeckers zu sein. Wenn Ihr mehr davon wißt, so teilt
es mir mit!
Auch Ihr werdet mir ebensowenig wie Sira John Glauben schenken, er¬
wiederte Thorbjörn finster. Ihr könnt die Sagen ja nicht lesen!
So leset sie mir vor, oder erzählt mir den Inhalt derselben — ich lege
größeres Gewicht darauf, als Ihr ahnt!
Und nun mußte Thorbjörn von Erik dem Roten erzählen, der, nachdem
er um eines begangenen Mordes willen friedlos erklärt worden war, auszog,
um das Land zu suchen, das Gudbjörn, Ulf Krakes Sohn, gesehen hatte, als
er gen Westen über das Meer gesegelt war. Er erzählte, wie sich Erik und
nach ihm Herjulf in Grönland ansiedelten, und wie Bjarne Herjulfsön, der im
Nebel vom Nordwind verschlagen wurde, im Süden ein neues, unbekanntes
Land liegen sah. Aber ihm war es nicht vergönnt, seinen Fuß auf das Land
zu setzen, fuhr Thorbjörn fort, sondern erst Leif, den man den Glücklichen
nannte, mein Stammvater, fuhr mit einem Schiffe, das er dem Bjarne abge¬
kauft hatte, gen Süden, um die neuen Länder zu suchen — und er fand sie.
Er gab ihnen den Namen „Vinland."
Mit einer Ausführlichkeit, welche zeigte, daß er fast jedes Wort auswendig
wußte, das in den Sagen von Erik dem Roten und Torfin Karlsconcs stand,
und mit einer Begeisterung, als habe er selber das alles gesehen, schilderte er
nun dies herrliche Land, wo der Lachs in jedem Bächlein springe, wo üppiger
Weizen die Ebenen bedecke, wo sich die Weinranken in ungeahnter Fülle um die
Bäume der Haine schlängen.
Es klingt fast unglaublich, meinte der Fremde, aber wie Ihr berichtet,
muß ja jeder Zweifel schwinden! So war es also doch kein Märchen, wenn
man erzählte, daß die Bewohner des höchsten Nordens mehr wüßten als andre
Menschen!
Sie gingen eine Weile schweigend neben einander her, dann begann Sir
Dove von neuem: Eins nur kann ich nicht verstehen: Wie ist es möglich, daß
sich ein Volk solch ein Land entgehen lassen kann, nachdem es dasselbe einmal
gefunden!
Wie das möglich ist? wiederholte Thorbjörn. Bei einem Volke wie das
unsre ist alles möglich! Hat es sich doch, nachdem es Jahrhunderte lang ein
selbständiges, ruhmreiches Leben geführt, ruhig darein gefunden, einem fremden
König zu gehorchen, läßt es sich doch jetzt von jedem ausländischen Schiffer
mißhandeln! Nein, hier ist niemand mehr, der von großen Thaten träumte!
Niemand? fragte der Fremde und sah Thorbjörn fragend an.
Ihr lest in meinem Herzen! erwiederte dieser, und warum sollte ich es
auch leugnen? Freilich habe ich mein Leben lang nur an dies Land gedacht,
das dort im Westen liegt. Ich habe von nichts anderm geträumt! Unzählige
male habe ich am Meeresstrande gesessen und auf das Meer hinaus gestarrt,
habe die Sonne am westlichen Horizont versinken sehen und daran gedacht, daß
sie jetzt das Land meiner Väter bescheine, mein Erbland, das meiner harre,
das ich aber nie erreichen würde. Wohl hundert male wandelte ich im Traum
an dem weißen Strande, wo der klare Bach durch den Wald rieselt, und wo
einst Leif gestanden — was aber nützen Träume und Gedanken: ich besaß
weder ein Schiff, noch hatte ich Geld oder Gut, und ohne das gelangt man
nimmer übers Meer!
Was würdet Ihr wohl sagen, wenn ich Euch zu einem Schiff und zu
Mannschaft verhälfe? fragte der Fremde.
Thorbjörn schaute starr zu ihm auf, dann sagte er: Ihr spottet meiner!
Nein, so wahr mir Gott helfe! Ich Spotte nicht; mein Anerbieten ist
ehrlich gemeint. Wenn Ihr so denkt wie ich, dann fahren wir mit einander
gen Westen!
Thorbjörn vermochte vor innerer Bewegung kein Wort hervorzubringen.
Jetzt endlich winkte ihm die Verwirklichung der Träume, die er sein ganzes
Leben hindurch geträumt hatte! Er erfaßte die Hände des Fremden, preßte
sie heftig, warf sich an seine Brust und brach in krankhaftes Schluchzen aus.
An den nun folgenden Tagen hatte Sir Dove verschiedne Unterredungen
mit dem Schiffer Burlington; sie wanderten am Strande auf und ab, und aus
ihrem eifrigen Gespräch und den lebhaften Bewegungen konnte man leicht schließen,
daß Sir Dove den Schiffer zu etwas zu überreden suchte, worauf dieser an¬
scheinend ungern einging. Schließlich schien er jedoch einzuwilligen, sie wechselten
einen Handschlag mit einander, und von dem Augenblicke an herrschte auf dem
Schiffe ein ungewöhnlich reges Leben, das den Bewohnern des Dörfchens Stoff
zu allerlei Vermutungen gab, über dessen wahren Grund jedoch die Mannschaft
das geheimnisvollste Stillschweigen bewahrte.
Eine Art Lösung des Rätsels erhielt indessen der gute Sira John eines
Morgens, als er beim Erwachen sowohl Thorbjörn als auch seinen Gast ver¬
mißte, und statt seiner folgenden Zettel vorfand:
Eingetretene Umstände zwingen mich, früher als ich ursprünglich beabsichtigt
holte, Euer gastfreies Hans zu verlassen, worin ich so manche unvergeßlichen
Stunden verlebt habe. Euer alter Hausgenosse Thvrbjörn wird mich begleiten,
aber mit Gottes und der Heiligen Hilfe werden wir beide im Laufe des Sommers
nach Jngjaldshvl zurückkehren und, wenn alles nach Wunsch geht, Euch dann höchst
merkwürdige Neuigkeiten mitzuteilen haben. Für den Fall, daß es uns doch nicht
beschieden sein sollte, Island wiederzusehen, hinterlasse ich hier eine Börse mit
einigen Goldstücken, welche ich Euch als geringen Ersatz für das, was ich Euch
und Island verdanke, nnzuuchmen und nach Euerm Gutdünken zu verwenden bitte.
Sira John drehte und wendete den Brief und las ihn wieder und
wieder, aber das Ganze war und blieb ihm ein Rätsel. Und nun gar die
Unterschrift — wie in aller Welt kam nur Sir Dove dazu, seinen Nachnamen
durch ein C. zu bezeichnen? Er stand hier einem unlösbaren Geheimnis gegen¬
über, und die einzige Aufklärung, die ihm die Bewohner von Rif zu geben
vermochten, war, daß das englische Schiff mit der Flut unerwartet unter Segel
gegangen sei und seinen Luuf westwärts genommen habe.
Und westwärts segelte es sieben lange Tage über das schwarzgraue Meer
und seine langen, schwer dahinrollenden Wogen. Da meinte einer der Leute
im Norden Land zu erblicken, aber Thorbjörn nickte nur und hieß den Schiffer
von jetzt ab südwestlich steuern, denn dort muß das Land liegen, welches ich
suche, sagte er.
Der Schiffer Burlington brummte und murmelte vor sich hin, daß es
Wahnsinn sei, so in Wind und Wetter hineinzusegeln, Sir Dove jedoch befahl
ihm, zu thun, wie der Alte gesagt habe. Und der Schiffer gehorchte, denn er
hatte sich für eine Menge guter Dublonen verpflichtet, Schiff und Mannschaft
dem Fremden zur Verfügung zu stellen.
So steuerten sie denn gen Südwesten. Und wiederum verflossen sieben
Tage, und es zeigte sich kein Land. Der Fremde sah hin und wieder fragend
zu Thorbjörn hinüber, dieser aber nickte nur und war ruhig und unverzagt,
als steuere er das Schiff durch wohlbekannte Gewässer. Noch ein Tag ver¬
ging Und ein zweiter, da murrte die Mannschaft und gab deutlich ihren Un¬
willen zu erkennen, sie wollten sich nicht weiter hinauswagen auf das endlose,
bahnlvse Meer. Der Schiffer Burlington versuchte die Leute zu beruhigen,
und nach langem Bemühen gelang es Sir Dove endlich, die Übereinkunft zu
treffen, daß man noch einen Tag und eine Nacht dieselbe Richtung einhalten
wolle. Korne man anch dann kein Land erspähen, so wolle man umwenden.
Der verhängnisvolle Tag neigte sich seinem Ende zu. Thvrbjörn und
der Fremde standen um die Abendstunde ans dem hohen Verdeck und starrten
schweigend vor sich hin. Da zerteilte sich plötzlich der Nebel, der so lange über
dem Wasser gelagert hatte, und in den letzten Strahlen der sinkenden Sonne
breitete sich vor ihnen ein weites Land aus mit blauen Bergen und dunkeln
Wäldern.
Seht Ihr wohl! rief Thorbjörn. Dort liegt es, lächelnd und winkend,
wie einst Leif es erblickte! Bald setzt sein Nachkomme den Fuß auf den Boden
der Vnder und erhebt das Erbe, das so lange unberührt gelegen!
Wohl sehe ich es! erwiederte der Fremde tief bewegt. Ich grüße dich,
Land meiner Träume, das meine Gedanken auf verschiednen Wegen gesucht
haben, aber immer in derselben Richtung, stets dort, wo die Sonne ihre Glut
in die Tiefen des Okeanos versenkt!
Dein Land! Das Ziel deines Lebens! rief Thorbjörn. Was willst dn
damit sagen?
Daß wir beide, du wie ich, denselben Gedanken genährt haben. Weswegen
hätte ich denn sonst eure kalte, freudlose Insel besucht? Doch nur, weil ich
erfahren habe, daß ihr einst in längst entschwundenen Tagen den Weg zu diesem
Lande gekannt habt, und weil ich hoffte, durch euch auf die rechte Spur zu
kommen I
Verflucht seien alle Fremden! schrie Thorbjvrn. Falsch und hinterlistig
bist du gewesen! Doch freue dich nicht zu früh! Thorbjörn wird bis auf den
letzten Blutstropfen für sein Erbe streiten!
Und mit diesen Worten ergriff er eine Axt, schwang sie über seinem
Haupte und hieb auf den Fremden ein, der dem ihm zugedachten Hiebe nur
dadurch entging, daß er hinter den Mast sprang.
In demselben Augenblicke stürzten der Schiffer und einige Leute herbei.
Sie wußten nicht, was vorgefallen war, sie sahen nur den Alten in wilder
Wut über den wehrlosen Portugiesen herfallen, und um diesen zu schützen,
bohrte einer der Engländer seinen Dolch in Thorbjörns Nacken; er stürzte
nieder und lag wie tot auf dem Verdeck.
Elender Kerl! Was hast du gethan! rief der Fremde dem Engländer zu,
warf sich neben dem Alten auf die Kniee, hob sein Haupt auf und legte es in
seinen Schoß. Nach einer Weile öffnete Thorbjörn die Augen, schöpfte tief
Atem, wie einer, der aus einem schweren Schlaf erwacht, und fagte: Jetzt ist
es aus mit mir, aber das ist auch wohl das Beste! Verzeiht mir, ich war
meiner selbst nicht mächtig! Hebt mich ein wenig höher, daß ich in die Ferne
schauen kann — ach nein, das hilft mir nicht, meine Augen sind umnebelt!
Er sank in Sir Doves Armen zusammen, und alle glaubten, daß er
bereits verschieden sei. Aber plötzlich schlug er die alten Augen noch einmal auf,
legte den Mund an das Ohr des Fremden und flüsterte mit Aufbietung seiner
letzten Kräfte: Das Land da drüben, mein Land, das ich nicht mehr erreichte,
es sei das deine! Hörst du? ich, Thorbjörn, schenke es dir.
Ein heftiger Krampf schüttelte den Körper des Alten, sein Kopf fiel
zurück — er war tot.
Der Fremde saß eine Weile regungslos da, tief ergriffen von allem, was
er gehört und erlebt hatte. Er bemerkte es nicht, daß der Schiffer Burlington
seinen Leuten Befehl gegeben hatte, zu wenden.
Da sprang er auf und rief: Seid Ihr von Sinnen! Wollt Ihr jetzt um¬
wenden, da das Land vor uns liegt!
Welches Land? fragte der Schiffer ruhig, ich sehe nichts!
Der Fremde wandte sich um. Tiefer Nebel lag über dem Meere, weit
und breit war nichts zu entdecken. Aber Ihr müßt es doch vorhin gesehen
haben, ebensogut wie ich und jeuer Abgeschiedene es sahen!
Wolkenbänke und schwimmende Eisberge sah ich! antwortete der Schiffer;
die könnt Ihr überall finden!
Ihr sollt wenden! Ihr sollt gen Westen steuern, schrie Sir Dove außer
sich vor Zorn. Ihr habt Euch dazu gegen reichliche Zahlung verpflichtet, und
ich habe ein Recht, es zu verlangen!
Ruhig, ruhig, guter Herr! Ich versprach, mich Euern Thorheiten zwei
Wochen zu fügen, ich legte aus freien Stücken drei Tage dazu. Jetzt aber
muß es genug sein, und ich will Euch raten, meine Leute nicht noch mehr zu
reizen! Ihr habt gesehen, wie locker ihnen das Messer sitzt!
Der Fremde beugte sein Haupt wie ein geschlagener Mann, der ohn¬
mächtig den Kampf gegen das Schicksal aufgiebt, und gleichgiltig und stumpf
setzte er sich auf das Hinterdeck und starrte gen Westen, lange noch, nachdem
die Nacht bereits hereingebrochen war.
Plötzlich wurde er durch ein platschendes Geräusch aus seinen Träumen
erweckt: es war Thvrbjörns Leiche, die von den Engländern den Wogen über¬
geben ward. Er fuhr zusammen, eine Thrüne entrollte seinem Auge, und tief¬
traurig murmelte er vor sich hin: Das also war sein Los — wer weiß, ob
mir ein besseres beschieden ist. Gleich darauf aber erhob er das Haupt und
sprach in die Nacht hinaus: Jetzt bin ich sein Erbe! Wohlan, ich will ver¬
suchen, den Schatz zu heben, den er mir hinterlassen hat!
Richard Burlington steuerte ostwärts, und nachdem er einen Monat mit
widrigen Winden gekämpft hatte, landete er endlich in Bristol, wo ihn der
Fremde verließ. Der Schiffer aber kehrte nie wieder nach Island zurück, weil
er fürchtete, daß man Rache an ihm und seinen Leuten nehmen würde, sobald
es ruchbar geworden wäre, daß Thorbjöru gewaltsam ums Leben gekommen war.
Daheim in Rif und auf Jngjaldshol sprach man wohl eine Weile über
Thorbjörns rätselhaftes Verschwinden, als aber der Herbst kam, ohne daß er
zurückkehrte, vergaß man ihn. Nur einer vergaß ihn nicht, und das war Sira
John. Er wanderte im Sommer Tag für Tag an der Küste entlang und fragte,
ob das englische Schiff noch nicht in Sicht sei, und mit jedem male, daß er
in seiner Hoffnung getäuscht heimkehrte, ward er schwermütiger und gram¬
voller.
Nun war es öde und einsam bei ihm, und die Winterabende wurden ihm
endlos lang. Aber trotz seines Kummers lebte er noch ein ganzes Menschen¬
alter nach den hier mitgeteilten Begebenheiten. Er war ein hochbejahrter
Greis, als die Kunde nach Island drang, daß Christoph Columbus im fernen
Westen neue Lande entdeckt habe. Es war, als ob bei dieser Nachricht der Ge¬
danke an längst entschwundne Zeiten und ein Nest von Jugend wieder in dem
Alten auflebte, er erinnerte sich wieder der Frühlingszeit, die der Fremde bei
ihm verlebt hatte, und der Gespräche, die damals geführt worden waren. Er
holte noch einmal den Abschiedsgruß des Fremden hervor und las nochmals
die wohlbekannten Worte; aber er kam nicht auf den Gedanken, die mystische
Unterschrift des Briefes C C mit dem Namen des großen Entdeckers, der jetzt
auf aller Lippen war, in Verbindung zu bringen. Er konnte ja so wenig wie
irgend ein andrer ahnen, daß der Süden der Spur des Nordens gefolgt war,
daß der spanische Großadmiral Thorbjörns Erbe angetreten hatte.
In der Lebensbeschreibung des Columbus, die sein Sohn Fernando ge¬
schrieben hat, führt dieser die eignen Worte des Vaters an, die dessen nordische
Reise betreffen und ans denen hervorgeht, daß Columbus im Februar 1477
die „Jusel Tile" (Thule) besucht hat, deren südliche Spitze ungefähr 73 Grade
nördlich vom Äquator lag und weit westlicher, als Ptvlemüus die Lage der¬
selben angiebt.
Die Engländer — schreibt Columbus — und insonderheit die Bewohner
von Bristol fahren mit ihren Waaren nach dieser Insel, die ungefähr so groß
ist wie England. Als ich dahin kam, fand ich das Meer völlig eisfrei. Heut¬
zutage nennt man das Land „Frisland."
Walter Scott, Manzoni und andre haben den
historischen Roman in der Weise ausgebildet, daß sie ihre eignen Lebenserfahrungen,
die Ueberlieferungen der nächsten Vergangenheit und ebenso ausgebreitete als gründ¬
liche geschichtliche Kenntnisse mit Hilfe der in der modernen Welt üblichen Romnn-
gcstalten zu Bildern verschmolzen, die dein heutigen großen Lesebedürfnis in ganz
andrer Weise entgegen kommen als das bloße Leihbibliotheksfntter.
Ein diesen beiden und ihresgleichen ebenbürtiger Schriftsteller hütet sich denn
auch wohl, die Szene seiner romantischen Begebenheiten in räumliche oder zeitliche
Verhältnisse zu verlegen, die ihm wenig oder garnicht bekannt sind, weil dann
seine ganze Darstellung in der Luft schwebt. Gestalten, welche auf einem Boden
stehen, der nie existirt hat, mögen einen Backfisch ergötzen oder rühren; einen, der
etwas voll Geschichte weiß, können sie nur anwidern. Wenn Scott einen Vorgang
in Edinburgh spielen läßt, wie die unübertreffliche Szene, wo der ungeduldige
Reisende die Abfahrt der Postkutsche vor dein Keller in der Highstreet erwartet,
so hält er seinen Leser sogleich fest, da dieser weiß, daß Scott ein dem Keller
unzähligemale vorbeigegangen ist. Etwas mehr Vertrauen nimmt er schon in An¬
spruch, wenn er seine Begebenheiten um Jahrhunderte zurücklegt; er hatte aber
sehr tüchtige Studien gemacht, er kannte zum Beispiel das Jntrigueuspiel um Hofe
Elisabeths und der Stuarts sehr genau. Was würde er dagegen für Erfolge
erzielt haben, wenn er die Postkutsche nicht aus der Highstreet in Edinburgh,
sondern aus der Behrenstraße in Berlin abfahren, oder seinen Lesern statt Amy
Robsarts Schicksale etwa die Leiden und Freuden der Vittoria Accorombona vor¬
geführt hätte? Wahrscheinlich hätte man ihn einfach ausgelacht.
Der historische Roman scheint in unsern Tagen auf eine neue Entwicklungsstufe
getreten zu sein. Karl Frenzel veröffentlicht im Julihefte der „Deutschen Rund¬
schau" die erste Hälfte einer Novelle, die unter dem Titel Schönheit das Flo¬
rentiner Leben zur Zeit Snvonarolas schildert, und deren Eigentümlichkeiten wir
im folgenden kurz beleuchten.
Erstens werden die Florentiner Familien wie Berliner behandelt. Es heißt
nämlich regelmäßig die Albizzis, die Pazzis u. s. w., gerade wie man in Berlin
Schutzes und Müllers sagt, was, wenn auch nicht gerade stilistisch elegant, doch
weiter nicht tadelnswert ist, weil es eine Unbequemlichkeit wäre, immer weitläufig
die Familie Schulze zu sagen. Nun liegt die Sache bei jenen italienischen Namen
aber doch etwas anders: sie sind nämlich wirkliche Plurale, was jeder, der ein
Wort Italienisch versteht, schon aus der Endung i abnehmen kann. Zum Ueberfluß
wird es noch dadurch bewiesen, daß ein Mitglied derartiger Familien zum Beispiel
Iioroww alvi Nvüioi heißt, das heißt einer von den Medici, um von alleil andern.
Gründen zu schweigen.
Ferner wird jeder in der Novelle vorkommende Mann, der nicht gerade ein
Diener ist, selbst ein Arzt, mit dem Titel Nsssorv, abwechselnd mit 8or, belegt,
während der größte florentinische Historiker ausdrücklich berichtet, daß nnr c,g>valle.ri,
clottori (das heißt clootares juris) und Domherren auf dieses Prädikat Anspruch
machen konnten, während ein Arzt den Titel ins,s8dro führt.
Ganz besonders auffällig ist aber die Art, wie mit geschichtlichen — wir wollen
nicht sagen Namen, sondern — Familien umgesprungen wird. Die Fabel ist
nämlich kurz folgende. Giuliano degli Albizzi lebt bei einem alten Verwandten,
Jncopo del Nero, einem Anhänger der Medici und Freunde Lorenzos, in der
Villa Vali' Ombrosa bei Fiesole, die merkwürdigerweise den Namen des berühmten
Klosters südlich von Florenz führt, und bringt einen Brief desselben nach Florenz,
worin Jacopo seine Pate Elena Nidolfi ihrem Vater Ambrogio Nidvlfi zu einem
Besuche abverlangt. Giuliano langt gerade in Florenz an, als auf der Piazza
belin Signoria der Scheiterhaufen angezündet wird, auf welchem das durch Savo-
naroln fnnatisirte Volk allerlei Kostbarkeiten verbrennt. An diesem berühmten
bruoiamöuto «teile. vcmitÄ (am 7. Februar 1497) beteiligt sich auch Elena Nidolfi,
die selbstverständlich das schönste Mädchen der Stadt ist, gerade wie bei Clauren
Held und Heldin jedesmal als die Schönsten ihres Geschlechts auf so und so viel
Meilen in der Runde bezeichnet werden. Elena geht nach Fiesole und verliebt
sich so sterblich in den ebenso schönen als stolzen Giuliano, der ihr natürlich kalt
wie Eis gegenüber steht, daß die letzte Szene der Novelle sie in seinem Schlaf¬
zimmer die Nachricht von einem Schlaganfalle ihres Vaters treffen läßt, die sie
wieder nach Florenz zurückruft.
Wir gestehen, dieses ungenirte Benehmen Eleuas kommt uns denn doch
einigermaßen fremdartig vor. Ein Mädchen ans eiuer der vornehmsten Familien
von Florenz nud i« einer Zeit, in welcher die jungfräuliche Ehre so streng ge¬
wahrt wurde, daß ein freches Wort, gegen Luisa Strozzi gesprochen, den Anfang
einer blutigen Tragödie machte! Doch unsertwegen mochte sich die Betschwester
mit dem ebenso stolzen als schönen Jünglinge abfinden wie sie wollte, wir sind
weiter nicht neugierig auf das Ende: zuletzt wird sich Giuliano ja wohl erweiche»
lassen, und aus den beiden ein Paar werden, wenn nur nicht — die Namen
wären.
Wie schon erwähnt, wird Jacopo del Nero als Freund der Medici geschildert.
Nun war Bernardo del Nero während der Monate März u.ut April Gonfalo-
niere von Florenz, .und diesen Umstand benutzte Piero dei Medici, um am 2V. April
in Florenz einzudringen. Der Versuch schlug fehl, und da Piero Anhänger in
der Stadt hatte, so wurden unter andern Bernardo del Nerv und Niccolo Nidolfi
am 17. August zum Tode verurteilt und noch in derselben Nacht enthauptet.
Ist es nun nicht einigermaßen seltsam, Männern dieser geschichtlichen Geschlechter
andre Vornamen zu geben und sie dann eine ganz andre Rolle spielen zu lassen,
als ihre Namensvettern, die wirklichen del Nero und Nidvlfi, in Wahrheit gespielt
haben? Denn in der Novelle wohnt Nero in Fiesole und nicht in Florenz, und
Ridolfi wird aus einem vornehme» und opferfreudigen Patrizier, was er in Wirt'
lichkeit war, ein gemeiner, geiziger Tuchhändler. Es ist freilich bekannt, daß jeder
Bürger, der an der Stadtverwaltung von Florenz teilnehmen wollte, in einer Zunft
eingeschrieben sein mußte; dies war aber eine reine Formalität, und es folgt nicht
darum, daß ein solcher Mann das betreffende Handwerk irgendwie betrieben hätte.
Mit das Merkwürdigste an der Novelle aber ist unstreitig folgende Schilde¬
rung der den vorher erwähnten Scheiterhaufen umgebenden Menge (S. 4): „Plötzlich
fielen alle, so viele ihrer in der Prozession gingen, und die Mehrzahl aller Zu¬
schauer in den Refrain des Liedes ein, brüllend, heulend, die Arme schlenkernd,
mit den Füßen wie besessen ans die Steinplatten des Pflasters stampfend, der dort
mit rollenden Angen und verworrenen Haar, jener unter strömenden Thränen:
Jeder schreie, wie ich schreie —
Immerdar verrückt, verrückt!
Als ob er durch einen bösen Zufall unter Irrsinnige geraten sei, machte Guilicmo
eine Bewegung des Ekels und halb des Schreckens, und suchte sich aus dem Ge¬
dränge zu befreien."
Offenbar wußte Giuliano nichts von Girolamo Beuivieni, oder erkannte er
vielleicht in der Uebersetzung das Original nicht wieder? Es lautet:
Avr t'n in!ti pin tsi sa1s,Ws>,
?in g'iooonclo ng maMiors,
Ode xoi' noto o xoi' aiuory
Di Oven <tivsn!>' pu>7,no.
Dies ist nämlich der Refrain der Strophen eines längeren Liedes, durch welches
sich Benivieni, ein fanatischer Anhänger Savonarolas, lächerlich machte, und welches
in der besprochenen Novelle in so stimmungsvoller Weise übersetzt ist!
In die Renaissance ragt das Altertum mit tausend Fäden hinein, und diesen
Hintergrund seines Gemäldes hat sich Frenzel natürlich nicht entgehen lassen. So
heißt es S. 22: „Zwei Diener trugen aus dein Hause einen Sessel und eine Fu߬
bank mit Kissen und Decken herbei und stellten sie in der Sonne zum Sitz für
^ den Herrn auf. Hinter ihnen schritt Giuliano einher, mit muntern Angen und
flatterndem Haar, eine Schriftrolle in der Hand. . . . »Ich habe dir die Politik
des Aristoteles mitgebracht« fing Giuliano an." Und nachher heißt es: „»Ihre
Heiligkeit ist ihre Leidenschaft« entgegnete Giuliano und zerknitterte mit heftigem
Drucke die Handschrift des Aristoteles. »Laß es dein unschuldigen (gemeint ist
wohl das unschuldige) Pergament nicht entgelten, daß Elena dich ärgert,« be¬
schwichtigte ihn Jacopo."
Hier haben wir eine Pergamenthandschrift, die zugleich eine Rolle ist, und
der Leser hat nun die Wahl, ob er sich darunter eine Bllcherrolle vorstellen soll,
wie sie die Alten hatten, ehe Pergament allgemein zum Schreiben benutzt wurde,
oder einen Pergamentkodex, wie sie die Bibliotheken aufbewahren, und wie sie
Jacopos Freund Lorenzo dei Medici sammelte und in der von ihm gegründeten
Laurenzianischen Bibliothek vereinigte. Das Dilemma ist nur: war es eine Rolle,
dann war sie nicht aus Pergament, sondern aus Papyrus, und war es ein
Pergameutkodex, dann war es keine Rolle.
Freilich scheint damals von dem letzteren Artikel viel Ueberfluß in Florenz
gewesen zu sein, denn auf S. 5 werden auch die Bücherrollen der Gelehrten auf
dein Scheiterhaufen verbrannt. Wir hoffen, daß damit diejenigen Bücherrollen
gemeint sind, in denen damalige Gelehrte ihre Studien der Nachwelt überlieferten.
Es ist uns allerdings sonst nicht bekannt, daß damals auf Rollen geschrieben wurde;
wer sich jetzt, mit einem sechswöchentlichen Nundreisebillct versehen, die zur mo¬
dernen Bildung unumgänglich nötige tiefe Kenntnis italienischer Verhältnisse an¬
eignet, der kann, falls er sich die Laurenziana oder andre italienische Bibliotheken
ansieht, leicht die Ueberzeugung gewinnen, daß mau im fünfzehnten Jahrhundert
nicht Rollen, sondern Bücher schrieb. Aber die Möglichkeit verbrannter, rollenhaft
geschriebener Werke dieser Zeit ist denn doch, um hier über die UnWahrscheinlichkeit
hinwegzusehen, sehr viel weniger schmerzhaft als eine andre Möglichkeit.
Sind die verbrannten Bücherrollcu etwa Ueberreste aus dem Altertume ge¬
wesen? Hat es damals in Florenz ähnliche Rollen wie diejenigen gegeben, welche
in Herculaneum verkohlt gefunden worden sind? Das wäre ja eine ganz neue
und höchst bemerkenswerte Thatsache! Unsre ganze sonstige Sympathie für Savo-
narola würde verschwinden, wenn wir so etwas von ihm glauben müßten.
Hoffentlich giebt der Schluß der Novelle Auskunft darüber, auf die wir uns freilich
bis zum August gedulden müssen.
Wichtig sind auch noch folgende, sich auf das Altertum beziehende Sätze
(S. 24): „Hast du mir nicht erzählt, daß diese Vestalinnen Recht über Leben und
Tod hatten? — Ja, wenn sie einem Verbrecher, der zum Tode geführt wurde,
begegneten, konnten sie ihn durch ihre Berührung am Leben erhalten und den be¬
siegten Gladiator in der Arena durch eine Bewegung ihrer Finger vor dem Todes¬
streiche ihres Gegners bewahren."
Mau gewinnt hieraus neue Aufschlüsse über die Ehrenrechte der Vestalinnen.
Bisher nämlich berührte eine Vestalin niemals einen Mann, am wenigsten einen
zum Tode geführten Verbrecher, sondern der Verbrecher entging der Hinrichtung,
wenn er einer Vestalin auf seinem letzten Gange zufällig begegnete, und wenn die
Priesterin beschwor, daß diese Begegnung nicht verabredet oder künstlich veranstaltet
war. Zweitens hatten die Vestalinnen bisher in Betreff der Gladiatoren nicht
mehr und nicht weniger zu sagen als jeder andre Anwesende. Formell stand das
Recht über ihr Leben und ihren Tod demjenigen zu, dem sie gehörten, das heißt
dem Veranstalter der Spiele. Dieser aber pflegte es den Zuschauer» abzutreten.
Die Zuschauer schrieen ihren Willen in die Arena hinunter und pflegten, den Ge¬
wohnheiten südlichen Mimeuspiels zufolge, wenn sie den Besiegten abgestochen
wissen wollten, gleichzeitig den Daumen nach unten zu biegen; daß sie sich mit
dem letzteren Gestus allein begnügt hätten, ist eine jener Fabeln, die sich von einem
Buch ins andre durchschleppen, ohne dadurch an Wahrscheinlichkeit zu gewinnen:
man denke sich das Kolosseum voll von einer leidenschaftlich erregten Menschen¬
menge, deren einzelne Mitglieder Sennin den Daumen nach unter halten! Was
die Zuschauer thaten, wenn sie einem Kämpfer das Leben schenken wollten, ist
nirgends überliefert, ebensowenig, daß den Vestalinnen irgend ein Recht über die
Gladiatoren zugestanden habe, welches nicht auch jeder andre besessen hätte.
Auch ich stimme mit dem Sonntagsphilosvpheu
ganz überein, wenn er die gewöhnliche Form, in der die Tonleiter geübt zu werden
pflegt, abscheulich findet. Aber seine rhythmisirte Tonleiter, wie er sie im Dreitakt
und mit Wiederholung der Terz und Dominante vorschlägt, im Niedersteigen sogar
unter Znhilfename eines Tones aus der untern Oktave, kann man doch nicht gelten
lassen, weil sie eben keine Tonleiter mehr ist, vielmehr eine auf den diatonischen
Stufen sich bewegende Melodie. Sollte es aber wirklich unmöglich sein, die ein¬
fache Tonleiter zu rhythmisiren? Versuchen wirs, dem El die Spitze einzudrücken,
um es darauf zu stellen, indem wir die Spitze, den ersten Ton der Skala, als
Auftakt ansehen:
Oder im «/«-Takt:
Ein musikalischer Kolumbus seit übrigens — um nur ein allbekanntes Beispiel
anzuführen — schon vor fünfzig Jahren das El auf die Spitze gestellt; es ist der
wackere Alcindor-Bijon in Adams reizender Oper „Der Postillon von Lonjumeau,"
Im zweiten Akte singt der zum Künstler gewordene Dorfschmied sein Lob als 1^
uns llour ass elioristos, indem er in mannichfach verändertem Ausdruck der Be¬
tonung seiner Arie die absteigende Tonleiter, bald in Dur, bald in Moll, zu Grunde
legt. Der Anfang der Arie lautet:
In der neuesten Nummer der Gegenwart (Ur. 27) schreibt
Daniel Sanders an irgend jemand, der Johannes Scherr als den Schöpfer des
„schönen Wortes" unentwegt bezeichnet hatte, einen offnen Brief, worin er nach¬
weist, daß dieses „schöne Wort" schon älter ist. Wie schade! Denn eigentlich ver¬
diente Scherr, der die deutsche Sprache durch eine solche Unmasse von Geschmnck-
losigkeiteu entstellt hat — d. h. seine deutsche Sprache, denn andre haben ihm ja
das Zeug nicht nachgebraucht —, auch das Wort „unentwegt" erfunden zu habe«.
Wie garstig dieses Wort ist, kann man am besten daraus sehen, daß es so schnell
in der Sprache der öffentlichen Beredsamkeit und in der Zeituugssprache Mode
geworden ist, zwei Sprachkrcisen, in denen eine wirklich gute und schöne sprachliche
Neubildung niemals Mode werden würde, immer nur Geschmacklosigkeiten, wie
„voll und ganz," „selbstredend," „fertigstellen," „richtigstellen," „klarlcgen" u. dergl.
Modewörter betrügen uns stets um den eigentlichen Reichtum unsrer Sprache und
verschütten ihn. Seit das dumme „fertigstelle!:" da ist, ist das Wort „vollenden"
zum Tode verurteilt und obendrein der Unterschied zwischen „anfertigen" und
„fertigmachen" vollständig verwischt. Man läßt sich ein paar neue Stiefel fertig¬
stellen, der Mauermeister stellt eine Schleuße fertig, der Schriftsteller einen Roman,
der Bildhauer ein Denkmal. Ebenso, seit das alberne „unentwegt" aufgekommen
ist, weiß niemand mehr etwas von standhaft und beharrlich; sie sind schon
ganz außer Gebrauch. Und nun versuche man es einmal und setze sie an irgend
einer Stelle für unentwegt ein: mau wird sich sofort überzeugen, welcher Unter¬
schied zwischen einem kräftigen, sinnvollen, in seinem Inhalt lebendig zu empfindenden
Worte und einem bloßen tönenden Modewortc ist, bei dem sich niemand etwas
rechtes denkt.
Daniel Sanders giebt seit kurzem eine Zeitschrift für deutsche Sprache heraus,
die wir bei ihrem ersten Erscheinen beifällig begrüßt haben. Hoffentlich empfiehlt
er uns darin uicht uoch andre so „schöne Wörter" wie „unentwegt," sonst kündigen
Wir ihm die Freundschaft.
eit dem Bestehen des Reiches war die Zeit von der Auflösung
des vorigen Reichstags bis zur Wahl des neuen die sorgenvollste,
die das deutsche Volk durchlebt hat. Was sie in sich barg,
konnte erst ihr Ende zeigen. Der Verlauf der politischen Be¬
wegung in Deutschland aber mit besondrer Berücksichtigung der
Opposition war so: Nachdem Zentrum und Deutschfreisinnige ihrem römisch-
welsischen Fanatismus und ihrem Haß gegen den leitenden Staatsmann, endlich
ihrer doktrinären Verranntheit am Ende des verflossenen Reichstags mit dem
Versuch, das Reich durch Ablehnung der Militärvorlagc wehrlos zu machen,
beredten Ausdruck gegeben hatten, fingen sie nach der Auflösung sofort an, das
für den 21. Februar zu neuen Wahlen berufene deutsche Volk mit allen Mitteln,
besonders durch Vorspiegelung einer drohenden, wilden Reaktion zu schrecken.
Indem sie von beabsichtigter Verfassungsverletzung redeten, versuchten sie so
der Negierung zu der schweren Sorge um die Sicherheit des Vaterlandes auch
noch den innern Konflikt aufzubürden. Und so groß war die Gewissenlosigkeit
dieser Opposition, daß sie dies alles betrieb, während Pferde, Schwefeläther
für den neuen Sprengstoff und Bretter zu Baracken, die die französische Vorhut
an der deutschen Grenze aufnehmen sollten, für Frankreich gekauft und schleunigst
eingeführt wurden. Das alles wußte man in Deutschland mit Sicherheit,
aber Römlinge und Deutschfreisinnige wollten es nicht wissen. Erklärte doch
die „Vossische Zeitung" alle zur Beunruhigung geeigneten Meldungen, wie sie
aus Hamburg, aus Mecklenburg, aus dem Elsaß, aus der Schweiz mit vollster
Sicherheit kamen, für bloße Wcchlmanövcr und rühmte dagegen die französische
Friedfertigkeit. Während Richter und Windthorst mit Sophismen und Intriguen
das Land in die tiefste Aufregung stürzten, ermutigten sie zugleich damit das
Anstand. Die beschleunigten Knegsrüstungeu der Franzosen folgten unmittelbar
dem Reichstagsbeschluß vom 14, Januar. Während Boulanger für seine Rüstungen
86 Millionen bereits ausgegeben hatte, die erst für das nächste Jahr gefordert
worden waren, und die französische Presse dies damit rechtfertigte, daß „dieser
Betrag in Erwartung anstandsloser Bewilligung ausgegeben sei," verlangte die
deutsche Opposition zur parlamentarischen Machtcrweiteruug die Nbschaffuug
des Septennats. Wenn nichts andres, so glaubten sie, wenigstens ein großer
Teil und die Führer derselben, daß damit die deutsche Uneinigkeit wachgerufen
werden könnte, dieses alte Unheil unsers Volkes, ans dessen Wiedererwachen
die Franzosen nur hoffen. Da fragte sich wohl mancher Vaterlandsfreund
besorgt: Wird unser Volk politisch so gereift sein, daß es die großen Er-
rungenschaften, die es mit Hilfe seiner Staatsmänner und Helden davon¬
getragen hat, auch festzuhalten versteht, wird es den vaterlandslosen Stören¬
frieden am 21. Februar die gebührende Autwort geben? Oder wird es von
dem Haffe der Feinde Bismarcks sich anstecken lassen und so dem Parteigeist
und der politischen Haltlosigkeit früherer Jahrhunderte verfallen?
In diesen Haß gegen Bismarck teilten sich auch jetzt, während der Zeit
des Wahlkampfes, Dcutschfreisinuige und Römlinge zu gleichen Teilen. Was
die letzteren angeht, so prophezeite der „Westfälische Merkur" die baldige schmäh¬
liche Niederlage Bismarcks und verglich ihn mit dem Usurpator Napoleon I.,
um zu weissagen, daß der Krug so lauge zum Brunnen gehe, bis er zerbricht.
Das katholisch-österreichische Blatt, „Das Vaterland," welches von einem kon-
vertirten, nach Österreich verpflanzten mecklenburgische» Edelmann, v. Vogelfang,
geleitet wird, war so aufrichtig oder auch so schamlos, frei zu bekennen, daß
man dem Zentrum in seinem Kampfe gegen die Militärvorlage der Regierung
beitreten müsse, nicht weil das Triennium für die Festsetzung der Friedensstärke
gegenüber dem Septcnnat das Nichtige wäre, sondern damit man gegenüber
der protestantischen Regierung in der dreijährigen Bewilligung immer ein „staat¬
liches Pfandobjckt" habe.
Empörend war es aber nun, zu sehen, wie Vonseiten der Mehrheit des
ausgelösten Reichstags alles aufgeboten wurde, um die Wähler über die Ziele
des Kampfes irre zu führen. Jedes Mittel war recht, das hierzu diente. Wenn
der welfische Mephisto deu Grafen Moltke als den in Anspruch uneben, der
selber auch für die regierungsfeindliche Mehrheit sei, so dürfte dann weiter auch
die Lüge schon so frech auftreten, daß die Fortschrittsblätter, wie z. B. die
„Siegener Zeitung," erklärten, die Mehrheit habe für die Regierungsvorlage „die
468 000 Maun auf drei Jahre" gestimmt, die Minderheit dagegen. Man
brauchte hierbei nur ein Komma nach „Mann" wegzulassen, so hatte man eine
Regierungsvorlage von „468 000 Mann auf drei Jahre." Aber was für
Wähler und mit welchem Verstände begabt setzten solche Blätter voraus! Der
Altmeister Goethe hätte sich wohl im Grabe herumgedreht, wenn er erfahren
hätte, daß sein witziger Rat dereinst so pünktlich befolgt werden sollte:
Darf man das Volk betrügen?
Ich sage: nein!
Doch willst du sie belügen,
So mach es nnr nicht fein!
Selbst die preußischen Landtagsvcrhandlungen wurden dazu benutzt, den
Glauben im Volke zu erwecken, daß es bei den Wahlen sich nur nebenbei um
die Hccresvorlage, in der That und hauptsächlich um Reaktion, Monopole,
Schmülernng der Rechte des Reichstags u. s. w. handle. Bisher hatte man es
immer für ein herrliches Glück ansehen können, welches dem deutschen Volke
zu Teil geworden war, daß es in Erscheinungen wie Moltke Männer hatte,
denen jeder, hoch oder niedrig, unbedingten Glauben schenkte. Auch dieses Glück
benagte wie ein giftiger Wurm die deutschfreisiunige Lüge. So konnte z. V. der
Kandidat der Deutschfrcisinnigcn in Lübeck behaupten, daß anfänglich auch Moltke
die Opferwilligkeit der Freisinnigen und des Zentrums in Sachen der Militär-
Vorlage mit der dreijährigen Bewilligung anerkannt habe, später aber sei ein
Druck auf ihn ausgeübt worden dahin, daß er auf der siebenjährigen Bewilligung
habe bestehen müssen. Wäre da nicht etwas andres sür solche Wahrheitsfreunde
besser am Platze gewesen, als die Anfrage des Handwcrksmcmucs Liedtke, der
den Feldmarschall um Aufschluß bat? Die Opposition aber hatte noch nicht
genug daran gehabt, politische Wuchergeschäfte zu treiben, als sie die Zwangs¬
lage des Staates benutzen wollte, um parlamentarische Machtfragen zum Aus¬
trag zu bringen, sie mußte auch der Volksseele damit ihr Gift einflößen, daß
sie ihr den Glauben an ihre großen Männer zu nehmen versuchte. Wäre das
gelungen, es wäre trostlos gewesen; denn ein Volk, welches seine großen
Männer nicht mehr ertragen kann, geht abwärts. Daß aber dieser Glaube
im deutschen Volke noch feststand, sah mau, als Bismarck, es war wohl am
24. Januar, ganz unvermutet im Landtage erschien. Er hatte, wie er selbst
sagte, eine schlaflose Nacht gehabt; die Lügen des kleinen Herrn von Male¬
partus hatten doch seine Sorge erregt. Der Welse ließ Tabaks- und Brannt¬
weinmonopol im Anzüge sein, er ließ Veränderungen an der Verfassung und
Verkümmerung des allgemeinen Wahlrechts geplant werden. Bismarck hatte
in der schlaflosen Nacht die Rede der schwarzen Perle gelesen und hatte sich
gesagt: es ist doch möglich, daß diese Verdächtigungen, wenn ihnen nicht wider¬
sprochen wird, eine Anzahl Wähler ins Lager der Vaterlandsfeinde führen.
So fuhr er am andern Morgen ins Abgeordnetenhaus und bezeugte laut
und deutlich, daß es nicht wahr sei, was von Tabaks- und Branntweinmonopol
geflunkert werde, uicht wahr, was vou Verfafsungsverletzung und Abschaffung
des allgemeinen Wahlrechts der Negierung untergeschoben werde. Es seien er¬
bärmliche Verdächtigungen der offenen und geheimen Gegner des Reiches.
Das war Bismarcks Wahlrede, und sie wirkte lnftreinigend zu einer Zeit, als
bereits das Lügengift des Rattenfängers von Meppen ausgestreut worden war
und zu wirken anfing. Für jedermann glaubhaft wies Bismarck nach: Mono¬
pole können und müssen nur in einem Falle kommen, nämlich nach einem un¬
glücklichen Kriege; der bringt die Monopole, wie er die Welsen bringt. Das
deutsche Volk mußte es jetzt wissen, wer Windthorst wählt, der will die Mono¬
pole. Dabei hielt Bismarck der Fortschrittspartei ihr Sündenregister vor,
wie es ihr noch nie so klar vor die Angen gestellt worden war. Er zeigte ihr,
wie sie gegen alles gestimmt hatte, was auf Größe und Wohlfahrt des Vater¬
landes ging, wie jeder Fortschritt der preußischen Monarchie von den Ver¬
tretern der Fortschrittspartei auss bitterste bekämpft worden war. Das Register,
das Bismarck aufzählt, ist zu gelungen, als daß es hier nicht wiederholt
werden sollte.
Als ich hierher kam — sagte er in der letzten von den drei Reden am
24. Januar >— wogte der heftigste Kampf, dann kam es zur Polenfrage, wo ich
für Rußland Partei nahm, die Fortschrittspartei für Polen. Es kam der dänische
Feldzug; da hat die Fortschrittspartei mit allen Mitteln der Chikane unsre Politik
erschwert, und als die Befreiung Schleswigs von Dänemark erfolgte, stand die
Fortschrittspartei mit ihren Sympathien auf diiuischer Seite. Für die Zerschnei-
dung des gordischen Knotens in der deutschen Frage hat uns die Fortschrittspartei
nicht beigestanden, sie hat uns die Lösung erschwert; sie hat gegen den Norddeutschen
Bund gestimmt, sie hat unsre Politik mit Frankreich bekämpft, und während jeder
wissen konnte, daß auf Sadowa der Krieg mit Frankreich folgen mußte, hat sie
einen Abrüstungsantrag gestellt. Von der Fortschrittspartei ist 1869 ein Ab¬
rüstungsantrag gestellt worden, wie wir neulich hörten, ans Anlaß eines Franzosen
von europäischer Berühmtheit (Garnier-Pages)____Es ist doch stark, daß von Mit¬
gliedern der Fortschrittspartei auf Betreiben von Franzosen ein Abrüstuugscmtrag
gestellt wurde. Wer nur ein bischen Verstand hat, muß doch das Gefährliche
davon einsehen. Als wir mitten im Kriege mit Frankreich waren, haben Mit¬
glieder der Fortschrittspartei dem. Feinde ihre Sympathie bezeugt; ich nenne nur
den Namen Jacoby. Die Fortschrittspartei hat gegen die Reichsverfassung, hat
gegen die Eisenbahnverstaatlichung, sie hat gegen den Schutz der inländischen
Arbeit gestimmt. Noch heute rühmt sich der Abgeordnete Richter seines Wider¬
standes dagegen. Alles, was Deutschland groß, reich und einig gemacht hat, ist
immer von der Fortschrittspartei bekämpft worden.
Die Deutschen im Auslande fühlten sich bei der Erinnerung an den obersten
heimischen Vertretungskörper wie „geprügelt," und die Auflösung hatte sie von
einem Alpdruck befreit. „Sollten wir jetzt nicht zu einer deutschen Mehrheit
gelangen — schrieb einer der Unsern aus Frankreich —, so mag Gott wissen,
was er mit unserm geliebten Lande vor hat. Ich aber nehme an, daß er dessen
in widernatürlicher Verbindung kämpfende Feinde mit Blindheit schlug, um sie
zu verderben. Es ist doch ein vertrackter Zustand, daß Bismarck, während er
wie ein Held Dietrich steht und mit gereckten Armen zwei Niesen abhält, einander
in die Haare zu fahren, dem Grobzeug Rede stehen muß, das um seine Füße
kriecht. Vertrackt, daß neben unsern Feldherren die Pygmäen Windthorst, Richter
und Bamberger sich in den Kriegsrat drängen! Könnte man die drei doch für
einige Zeit in die Front einstellen und Spitzentrab laufen lassen." Anton
Springer aber schrieb in einer vielerwähnten Kritik über den aufgelösten Reichs¬
tag in der „Deutschen Zeitung": „Das Ansehen dieser Führer (Windthorst-
Nichter) kann nur aus der Selbsterniedrigung des Reichstags erklärt werden.
Gehandelt wird in ihm doch nicht, mir gesprochen, und zwar fast ausschließlich
zum Fenster hinaus gesprochen; kurzweilig und unterhaltend, bald durch Grob¬
heit herausfordernd, bald Lachen erregend, das verlangen Hörer und Leser von
den Reden, und diejenigen Boten genießen das größte Ansehen, welche sich auf
beide Dinge am besten verstehen." Das war ein schlimmes Urteil, umso
schlimmer, als es wahr war schon seit Jahren. Seit acht Jahren schon hatte
es kaum eine anmaßlichere Einrichtung gegeben als die des deutschen Reichs¬
tages unter dieser Führerschaft Windthorst-Richter. Am anmaßendsten aber
und zugleich am unfruchtbarsten war immer der Fortschritt gewesen. Im Ver¬
laufe des Wahlkampfcs legte er vollends alle Scham ab; meinte doch Eugen
Richters Zeitung, der Reichstag könne für den Fall der Neubesetzung die Posten
des Kriegsministers und des Chefs des Generalsiabes in die Rubrik „künftig
wegfallend" verweisen. Ganz offen wurde die Wahlvcrbrüderung zwischen Deutsch¬
freisinnigen und Sozialdemokraten eingestanden. Munckel forderte beide auf,
sich zu gemeinsamer Bekämpfung der Neichsregierung und der sie unterstützenden
Parteien die Hand zu reichen und sich über jeden Sieg zu freuen, den einer
von ihnen erringe. Läge der gemeinsame Feind (d. h. hier das deutsche Reich!)
am Boden, dann könne die Auseinandersetzung über die Punkte, die Dentsch-
freisinnige und Sozialdemokraten trennten, erfolgen. Wer von beiden der stärkere
sei, werde sich dann schon zeigen. Wie aber die Sozialdemokraten die Unter¬
stützung der subalternen freisinnigen Gesellen lohnten, das erfuhr Herr
Munckel, als in derselben Versammlung ein Sozialdemokrat unter Beifall seiner
Genossen davor warnte, „einen Schaukelbruder und Hofschauspieler" Ä ig. Munckel
zu wählen.
Wie vor den Sozialdemokraten, so krochen auch vor Frankreich die Frei¬
sinnigen als echte Reptile. Die Franzosen mit Boulanger waren ihnen die
Friedliebenden, die deutschnationalen Parteien mit der Regierung waren die
wahren Chauviuisten. Ein solches Neptilfabrilat war der Artikel „Auf die
Schanzen" in der „Freisinnigen Zeitung." Ein andres nicht minder herrliches
lieferte das Berliner „Deutsche Ncichsblatt," indem es die Freisinnigen, die im
Graudenzer Wahlkreise für Hobrecht stimmten, als solche hinstellte, die sich zu
Deutschen zweiter Klasse machten und andern Parteien hörig wären. Wer sein
Vaterland über die Parteiinteressen stellt, der macht sich zum Hörigen! Und
das alles geschah, während es alle Tage sicherer wurde, daß, wie das Ausland
von der Zerrissenheit der Deutschen in der Heeresfrage überzeugt wurde, der
Krieg vor der Thür stand. Denn die Lage war so, wie die „Kölnische Zeitung"
schrieb: „Wer die Militärvorlage der Regierung verwerfen will, der will ent¬
weder Elsaß-Lothringen aufgeben, oder er will den Krieg." Dabei wußte man,
daß der Barackenbau so vermehrt und beschleunigt wurde, daß z. B. in Verdun
die Herstellung von dreißig Baracken zur Unterbringung von 80 000 Mann
bis zum 15. März ausbedungen war. Ähnlich war es mit der Herstellung
von Baracken in Etain, in Constans, in Epinal, in Belfort. Trotz alledem
kochte bei den Deutschfreisinuigeu der Haß gegen die Negierung, gegen Bismnrck
und Moltke fort. „Sie müssen etwas Großes haben, das sie hassen können,"
sagte einmal Goethe in Bezug auf Cannings Gegner.
Während die Deutschfreisinnigen so ihrem Hasse gegen „alles, was uns
groß, reich und einig gemacht hat," nachsingen, wühlte Windthorst die
kenntnislose Masse feiner Wähler auf. Immer wieder behauptete er, daß
in den übrigen großen Militärstaaten, wo parlamentarische Einrichtungen
seien, die einjährige Bewilligung Rechtens sei. Er wußte natürlich recht
gut, daß das nur in England, und auch da uur als tote Form besteht,
daß Frankreich auf Grund des Gesetzes vom 13. März 1876 dauernde Fest¬
stellung der Friedensstärke hat, Österreich auf zehn Jahre. Aber es wurde
fortgelogcn, und dem Bauer wurde sogar erzählt, daß die Militärvorlage
mit dem Scptennat bezwecke, die Dienstzeit des einzelnen Mannes von
drei ans sieben Jahre zu erhöhen, sodaß mehrere Regierungen, z. B. die
wcimarische, sich veranlaßt sahen, öffentlich der ungeheuern Lüge zu wider¬
sprechen.
Indessen blies die französische Presse die Friedensschalmei. Den Schein
der Friedensliebe zu erwecken, daran hatte sie großes Interesse. Erstens war
den Nevancheplänen damit nicht gedient, daß im eignen Lande die friedliebenden
Elemente hellhörig wurden und aufzupassen austilgen; sodann paßte es ihnen
nicht, daß Deutschland den vollen Ernst der Lage erkenne und demgemäß
handle. Die Überzeugung, daß man in Deutschland mit der Eventualität eines
Krieges schwerster Art rechnet und sich mit vollem Ernste rüstet, um, wenn es
an das 8-üg'nsr ü. Muio geht, nicht der passive Teil zu sein, wird immerdar
der wirksamste Dämpfer für die Rachebestrebnngcn unsrer liebenswürdigen Nach¬
barn sein. Also, je rachelustiger die französische Presse war, desto friedlichere
Töne schlug sie an. Aber in unsrer freisinnigen Presse herrschte darüber eitel
Freude; sie hatte nnn den ersehnten Eideshelfer für ihre Behauptung einer
äußerst friedlichen Lage. So entstand eine «zutoirtg vorämlö der freisinnigen
und der französischen Presse. Ein für uns höchst beschämendes Bild; denn in
allen auswärtigen uns feindlichen Blättern wurde jetzt die gespannte Lage Europas
auf den bösen Willen Deutschlands zurückgeführt, und deutsche Zeitungen selbst
konnten als Zeugen dafür aufgerufen werden. stellten doch die fortschrittlichen
und klerikalen Blätter dazu alle Meldungen über kriegerische Vorbereitungen
der Franzosen als Wahlmanöver Bismarcks hin. Der Schade, der damit der
Ruhe der Welt und dem Stand der Geschäfte zugefügt wurde, war unbe¬
rechenbar. Aber diese Presse hatte kein Gefühl von der Schwere der Ver¬
antwortlichkeit, die sie mit dieser Taktik auf sich nahm, obschon auch die wirt¬
schaftliche Verwüstung umso tiefer werden mußte, je mehr die Geschäftswelt in
falsche Ruhe eingewiegt wurde. Bei diesen Ausführungen der Oppositivns-
zeitungcn über die Friedensliebe des Generals Boulanger und die fricdcnzerstö-
rendeu Wahlmauöver der deutschen Negierung mußte man sich fragen, wo denn
eigentlich diese Blätter gedruckt würden. Selbst die uns gerade nicht über¬
mäßig wohlwollende linrss hielt diesen Blättern mit der Friedensmusik die That¬
sache der kriegerischen Vorbereitungen in Frankreich ^ entgegen und fragte diese
deutschen Zeitungen, ob sie die unbestreitbare Thatsache zu leugnen gedächten.
Inzwischen hatte Bismarck den Papst zum Tadel des Zentrums vermocht.
Es war ein großer Erfolg seiner Staatskunst; zum Besten einer protestantischen
Regierung tadelte Leo XIII. seine Anhänger und empfahl das doch hauptsäch¬
lich gegen das katholische Frankreich gerichtete Septcnnat. Natürlich hat der
kluge Diplomat auf dem heiligen Stuhle das nicht den schönen Augen der
deutschen Regierung zuliebe gethan; ein zum zweitenmale niedergeworfenes Frank¬
reich kann nicht zu deu Wünschen des Vatikans gehören. Aber diese Betrach¬
tung ist für den gewissenhaften deutschen Staatsmann nicht anzustellen, solange
er eine Möglichkeit sieht, den Frieden zu erhalten. Als der Papst seinen ge¬
wichtigen Beitrag dazu lieferte, mußte er Bismarck willkommen sein. Der Frei¬
sinn aber, der, man darf es nie vergessen, im Jahre 1874 zuerst mit dem
Zentrum zu buhlen angefangen hat, schrie Zeter über die von Bismarck herans-
geforderte päpstliche Einmischung in deutsche Angelegenheiten. Die fortgesetzte
Einmischung des Papstes in deutsche Dinge, die das Zentrum als stehende Ein¬
richtung verlangt, hat der Freisinn liebevoll gepflegt durch die zärtlichste Ver¬
bindung mit diesem Zentrum; wie aber Bismarck anfing, mit der Thatsache zu
rechnen, die uun einmal nicht wegzubringen ist, die auch dem Freisinn lange
Zeit sehr passend war, daß der Papst das geistliche Oberhaupt von achtzehn
Millionen Deutschen ist, und wie er, Bismarck, es dahin gebracht hatte, daß
dieses Oberhaupt den Abgeordneten von diesen achtzehn Millionen mangelhafte
Ausführung ihres Berufes vorwarf, da sollte das Versündigung am deutschen
Volkstum sein. Aufs überschwünglichste wurde das Zentrum von der deutsch-
freisinnigen Gefolgschaft gelobt, weil es der Mahnung des Papstes, für das
Septennat zu stimmen, nicht gefolgt sei. Schade, daß diese Mahnung dem
Zentrum von seinen Führern verheimlicht worden war! So ereiferten sich die,
welche sich nicht gescheut hatten, von der katholischen Hierarchie sich unter
dem schwerste» Gewissensdruck Mandate verschaffen zu lassen, über die Ein¬
mischung des Oberhauptes der Hierarchie, die niemals eingetreten wäre, wenn
der Freisinn in frühern Jahren verstanden hätte, patriotisch zu sein; gerade
dadurch, daß die Fortschrittspartei einerseits und die protestantischen Klerikalen
anderseits die Kraft der preußischen Negierung im Kampfe gegen den Ultra¬
montanismus lähmten, tragen sie die Hauptschuld daran, daß der Kulturkampf
so verlief, wie er min ebeu verlaufen ist. Herr Minister ni. D. Falk kaun davon
wohl manch Stückchen erzählen. Jetzt fehlt nur das eine, daß sie beide über
Verrat schreien. Daß sie Schafe waren, die ihre Wolle für einen andern trugen,
ließen sie sich uicht im Traume einfallen. Was insbesondre die Freisinnigen
angeht, so liegt die Sache so: so lange die Einmischung des offiziellen Apparates
zu Gunsten des Freisinns erfolgte, war dies Heilsani; wenn sie im entgegen¬
gesetzten Fall erfolgt, ist dies eine tiefe Demütigung Deutschlands.
Bei den Friedensschalmeien, die dem Freisinn so liebliche Musik waren,
hatte Frankreich seine Rüstungen fortgesetzt. Zu den sechsundachtzig Millionen fiir
Boulanger, die die französische Deputirtenkammer schweigend und einstimmig be¬
willigt hatte, hatte sie dreißig Millionen zur Vermehrung der Kriegsflotte für
Aube hinzugefügt. Die liovs-notis, und ähnlich wie sie alle Pariser Blätter,
schrieb nach der Abstimmung über diese militärischen Forderungen am 8. Februar:
„Die Kammer hat die militärischen Forderungen ohne alle Umschweife, ebenso
leicht, ebenso natürlich, ebenso rundweg bewilligt, wie das einfachste Gesetz mit
beschränktester Tragweite, mit derselben Schnelligkeit, wir möchten sagen mit
derselben Augenblicklichkeit. Wir haben für uns nur einen Schmerz, daß man
dem nationalen Patriotismus kein noch größeres und wirksameres Opfer ab¬
verlangt hat." Die französische Kaminer bewilligte lautlos für einen Angriffs¬
krieg, der deutsche Reichstag hat aufgelöst werden müssen, weil er die Stcirknng
der Wehrkraft für einen Verteidigungskrieg verweigert hatte. Wenn der Frei¬
sinn mir in einem ehrlichen Irrtum über die Stimmung der entscheidenden
Kreise in Frankreich gewesen wäre, man sollte meinen, aus der Abstimmung der
Deputirtenkammer hätte er entnehmen müssen, daß diese damals vielgerühmte
Stille der Franzosen nur ein allgemeines, erwartungsvolles Harren auf die Stunde
war, wo der erkorene Führer, den mau bereits zu haben glaubte, das Zeichen geben
würde. Welchen Sinn hatte diese Abstimmung in der französischen Kammer,
wenn nicht den, den die I'rg.nos mit klaren Worten gab, als sie, schon mehrere
Wochen vor dieser Abstimmung schrieb: „Boulanger ist der Kümpe, dem wir
vertrauen, der Soldat, von dem wir erwarten, daß er das Sehnen Frankreichs
stille." Und wiederum, am 18. Dezember 1886: „Graf Moltke hat gesagt,
Deutschland werde Elsaß-Lothringen niemals wieder herausgeben. Das haben
wir auch garnicht erwartet; aber da wir beabsichtigen, diese beiden Provinzen
zurückzunehmen . . ., so steht es unwiderruflich fest, daß der Krieg zwischen Frank¬
reich und Deutschland unvermeidlich geworden ist, ein Krieg, der heute oder
morgen, sicherlich aber bei der ersten Gelegenheit zum Ausbruch kommen wird."
Das ist doch wahrlich die Sprache von Feinden, die uns bis aufs Blut hassen
und denen gegenüber es gelten mußte, unsre Wehrkraft zu stärken, nicht für
heute oder morgen nur, sondern für die Zukunft. Und bei solcher Sprache unsrer
Feinde, die gar kein Hehl daraus machten und machen, daß sie unsern Unter¬
gang ersehnen, da konnten deutsche Zeitungen von französischer Friedensliebe reden!
Solchen in deutscher Sprache schreibenden Zeitungen stellte ein französisches Blatt,
ein förmliches Zeugnis ihres Wohlverhaltens aus: „Man kann den Eifer
nur anerkennen, so schrieb das französische Blatt, in dem unsre Sache in ganz
besondrer Weise von der »Freisinnigen Zeitung«, dem Organ des Herrn Richter,
von der »Germania«, dem Organ des Herrn Windthorst, vom »Berliner Tage¬
blatt« und von der »Frankfurter Zeitung«, dem Organ des Herrn Sonnemanu,
vom »Beobachter« in Stuttgart, dem Organ des Herrn Karl Mäher, des Führers
der Volkspartei in Württemberg, und von der »Volkszeitung«, dem katholischen
Journal in Köln, unterstützt worden ist." Und damit auch die lieben Brüder
von Sozialdemokraten ihren Anteil an der Ehre französischer Anerkennung em¬
pfingen, so begrüßte Felix Pyat die Vertreter derselbe» im Reichstage als
„echte Franzosen."
Bereits aber hatte es angefangen, im Lager des Zentrums wie des Freisinns
zu bröckeln, und es bröckelte fort. Für den letzteren war die Lossagung der säch¬
sischen freisinnigen Vertreter von Eugen Richter ein schwerer Schlag, für das
erstere die Lossagung eines Teiles des rheinischen und Westfälischen Adels von
Windthorst. Dagegen siegte in dem rcichstreuen Lager die Kartelltrene der
beiden konservativen und der nationalliberalen Partei, ein Zeichen, daß die
politische Reife mächtig gewachsen war in der schlimmen Zeit der Herrschaft
der drei großen Necken: Windthorst-Richter-Grillenberger. Man unterwarf
überall bei den reichstreuen Parteien aus Gründen der höheren politischen
Einsicht die bestehenden örtlichen und persönlichen Differenzen den höheren Inter¬
essen des Staates. Die Liebe zum Vaterlande erwachte mächtig; die Reihen
der Freisinnigen lichteten sich merklich. Hätte diese nicht eine Götterhand mit
Verblendung geschlagen, sie hätten es bemerken müssen, wie sich die Volksseele
von ihnen wandte, und hätten sich fragen müssen, ob denn nicht ein Teil der
Schuld wenigstens sie träfe. Wie viele ihrer dann ehrliche Männer waren,
sie mußten handeln nach dem alten guten Wort: Huao irooiturg. tsnW, «zuMi-
vis sirck «arg,, rölimzuL! Aber sie wollten das Regen der Volksseele und die
bange Sorge für das Vaterland nicht verstehen, vielmehr trieben sie das Geschäft
der politischen Brunuenvergiftung umso stärker, je mehr die Ahnung vom
Abfall des Volkes sie beschlich. Konnte man bisher ihr Verhalten in Vezng
ans die Sicherheit des Vaterlandes noch als Leichtsinn ihrerseits sich erklären,
so traten gegen das Ende des Wahlkampfes Dinge zu Tage, wo der Leichtsinn
ins Verbrechen umschlug. War es noch interessant gewesen, zu sehen, wie die
Deutschfreisinnigen mit Feuereifer für „die Einheit und Unteilbarkeit" des
Zentrums wirkten und wie die Aufrechthaltung der Macht des Zentrums der
Hauptpunkt des fortschrittlichen Programms in derselben Presse wurde, die
soeben erst im Namen des deutschen Protestantismus sich über das Jakobinische
Schreiben entrüstet hatte, so war es fast offner Übergang zum Feinde, als die
„Vossische Zeitung" gegenüber der Ansprache des Statthalters der Reichslande
den Elsaß-Lothringern zurief: „Habt den Mut, euch euers eignen Verstandes
zu bedienen!" Es hieß das, wie es gar nicht anders heißen konnte: Wählt
Protestier, Feinde des Reiches! In Lübeck ging diejenige Partei, die Moltkes
Worte entstellt, des Kriegsministers Aussagen falsch ausgelegt, dem Kron¬
prinzen Aussprüche, die er nie gethan hat, untergeschoben, das Nichterscheinen
einer kaiserlichen Proklamation gegen besseres Wissen für ihren Friedensschwindel
benutzt hatte, endlich in ihrer Frechheit so weit, daß sie durch Maueranschlag
eine von ihr erfundene kaiserliche Erklärung, es werde keinen Krieg geben, ver¬
breiten ließ.
Gedenken wir noch mit wenig Worten der Berliner Wahlen. Nur aus
dem bittern Gefühle seines Niederganges kann man es erklären, wenn der
Fortschritt hier in seiner Hochburg jede Vorsicht im Lügen und Falschen vergaß,
ganz offen die Aufwiegelung der Bevölkerung gegen die Staatsgesetze betrieb
und dem Volke die Frende am Vaterland systematisch zu rauben suchte. Das
Sozialisteugcsetz wurde als ein Schlag hingestellt, dem gegenüber die nationale
Einheit und Größe des deutschen Volkes völlig ihren Wert verlor. Die staat¬
liche Gesetzgebung seit 1878 erhielt die Signatur: Wer viel hatte, dem ist
gegeben worden, wer wenig hatte, dem ist auch das Wenige genommen. Die
Maßnahme der Neichstagsauflösung wurde mit dem Ausrufe charakterisirt:
„Man spielt wagehalsig mit den höchsten Gütern der Nation!" Und wessen
Acker wurde mit solchem Abhub gedüngt? Die nahrhafteste Kost aus der
Küche des deutschen Freisinns erhielt die Sozialdemokratie. Mehr noch als
sonst zeigte sich dies in dem letzten Wahlkampfe, daß es wahr ist, wenn man
sagt, daß die Sumpfblume der Sozialdemokratie am besten in dem Sumpfe
der Fortschrittspartei gedeihe. Abgesehen aber davon, daß der Aufruf der
Freisinnigen ganz den Geist der Bebel, Liebknecht, Hasenclever und Grillen-
berger atmete, wurde in ihrer Presse auch der Papst in allen Tonarten be¬
schworen, die Kraft des deutschfeindlichen Zentrums ja nicht zu lähmen. Gewiß,
hätte das Volk von dem Geschrei dieser wntvollen Thorheit sich hinreißen
lassen, wir atmeten jetzt nicht die Ruhe des Friedens. Glücklicherweise sorgte
die Stimme aller Vaterlandsliebenden dafür, daß unsre wehrhaften Männer
nicht in ihrem Blute das ausbaden mußten, was die Herren Windthorst und
Genossen anzurichten sich so viel Mühe gegeben hatten.
Um endlich zu zeigen, in welchem Geiste auch noch die Stichwahlen von
den Freisinnigen betrieben worden sind, mögen nur zwei Vorgänge noch hier
erzählt werden. Am 28. Februar hat der schließlich auch in Halle gewählte
dcntschfreisinnige Kandidat Dr. Alex. Meyer auf dem Bahnhofsperron in Gröbers
mehrfach einer Anzahl anscheinend dem Arbeiterstande angehörigen Personen
laut und vernehmlich folgende Instruktion erteilt: „Nehmen Sie Täglichsbecksche
Zettel, streiche» Sie Täglichsbeck (den Namen des nationalliberalen Kandidaten)
durch und schreiben Sie Dr. Alexander Meyer darauf. Wenn Sie jemand
fragt, wen Sie gewählt haben, so können Sie ruhig sagen: ich habe den Zettel
von Täglichsbeck abgegeben." Der in der Hauptwahl in Werden unterlegene
deutschfreisiunige Kandidat or. Kuhlenbeck forderte die Wähler seiner Partei
auf, in der Stichwahl positiv für den Welsen einzutreten, weil die deutsch-
freisinnige Partei mit der welfischen den Boden „gemeinsamer Opposition"
teile. Der Aufforderung wurde in Werden auch entsprochen.
Man sieht, diese Sprache paßt ganz zu der, die bei den Berliner Wahlen
von der freisinnigen Partei geführt wurde. Aber eine Partei, die sich so auf
allen Gebieten gegen den nationalen Fortschritt auflehnt, ist, wenn sie hie und da
auch noch dnrch die verzweifeltsten Mittel Erfolge erringt, doch weiter nichts
mehr als eine Jnvalidenkompagnie. Und so hilft sich auch thatsächlich die
Partei mit dem schönen Namen des deutschen Freisinns nur eben noch mühsam
fort auf der doppelten Krücke der Ultramontanen und der Sozialdemokraten.
Bald wird Herr Eugen Richter sein Werk, die Vernichtung seiner eignen Partei,
vollendet haben; sind doch mehrere seiner Getreuesten bereits ganz still geworden,
(juoonnaus inArsäsi'i8, Mguitnr mors vorporis umbra,.
und nach dem Zerfall des fränkischen Reiches blieben die eigentlich
deutschen Stämme in lockerer Reichseinheit, in einer geselligen
Umbildung begriffen, die eine weltliche Aristokratie und eine selb¬
ständige Priesterschaft über die lcmdbauendc Bevölkerung stellte
und diesen dreien verschiedne Aufgaben zuwies. In diesen Ständen
mußte sich der Volkscharakter in verschiedner Weise ausprägen; es ist im
wesentlichen nur die Thätigkeit des Kriegerstandes und der Geistlichkeit als
Lehensbesitzer und Teilhaber, ja Träger der Reichsgewalt. was wir deutsche
Kaisergeschichte nennen, glänzend und ruhmvoll, wenn auch arm an dauernden
Erfolgen, so lange sie in gemeinsamer Thätigkeit gehalten werden konnten, ein
Bild des Verfalles, als die Interessen auseinander gingen.
Die alten kriegerischen Tugenden pflanzten sich in den Heeren und Auf¬
geboten der sächsischen »ut fränkischen Kaiser ungemindert fort und verschafften
dem deutschen Reiche Sicherheit und Erweiterung der Grenzen, ja mit der Ober¬
gewalt in Italien den Schimmer der Vorherrschaft in Europa. Dies er¬
zeugte den Stolz der Deutschen, der lange Jahrhunderte als nationale Eigen¬
schaft gelten mußte und von den Ausländern unwillig anerkannt ward. So
sehr erzwang sich der deutsche Name die Achtung, daß die germanische Ab¬
stammung auch von denen als Adclsprobe fortgeführt wurde, die unter anders-
sprechenden Völkern einheimisch geworden waren. Wie der spanische Edelmann
noch Jahrhunderte hindurch sich seines gotischen Stcunmbaumes rühmte, so
verfocht der lombardische Bischof Liutprand von Cremona als Ottos I. Ge¬
sandter gegenüber dein byzantinischen Kaiser den Vorzug seiner und seines Herrn
Herkunft vor den Römern, die unter Romulus ans allerlei Volk zusammen¬
gelaufen seien. 1?ihrs ^1sum,M8, llsro« ^.Ivumnos ist stehender Ausdruck bei
Franzosen und Spaniern, wie der grimmige Kcunpfesmut, die leidenschaftliche
Verbissenheit, den Römern bereits als t'nror töutvinons geläufig, auch deu Ita¬
lienern als die turig, oder rabdiu, tsclöMg, sprichwörtlich blieb. Die Italiener,
die freilich als Feinde und Besiegte wenig Günstiges von den Nordländern zu
sagen wußten, warfen ihnen auch die altnationale Unmäßigkeit und Gewalt¬
thätigkeit immer wieder vor.
Besser noch als über den Volkscharakter der früheren Zeiten sind wir in
der Lage, über den Herren- und Kriegerstand dieser Zeit aus sicherem Anhalt
zu urteilen. Für jene Zeit schweigen die Quellen gerade über deu beharrenden,
nicht abenteuernden Teil des Volkes oder geben ein befangenes Urteil von
Feinden; hier hat die heimische Heldensage ein Bild der Ideale ausgeprägt, in
dem Volk und Herren ihre Anschauungen niederlegten, noch bevor die neue
normannisch-französische Mode dem Rittertum eine internationale Färbung lieh.
Aus diesen volkstümlichen Dichtungen ersieht mau zugleich, wie große Gebiete
der Volkstümlichkeit selbst von christlichen Anschauungen und Gebräuchen kaum
äußerlich berührt siud.
Die Stimmung und der Grundzug der Männlichkeit ist die körperliche Kraft
und deren Bewußtsein, die Kampfesfreudc, die Verachtung von Gefahr und Not
und Tod; selbst der schwache Charakter ist ein Held, sobald die Lage der Dinge
zum Handeln zwingt. Der Beweggrund der Sittlichkeit ist aber einzig die
Treue das Ausharren bei dem, was Gemüt und Wille ergriffen hat. Vou
einem übermenschlichen Sittengesetz, von einem Eingreifen göttlichen Willens ist
keine Rede, ebensowenig von einer nationalen Almeignng gegen Feinde; die
Menschen sind ganz auf sich gestellt, auf die eigne Kraft und Verantwortung,
und die Treue erscheint oft als Starrsinn und die Gefahr herausfordernder
Trotz, fast als innere Wildheit. Auch der Zug der Verschlagenheit, der absicht¬
lichen Täuschung fehlt nicht, den die Römer Treulosigkeit nannten, wenn sie
ihm bei andern Völkern begegneten: wie Armiuius durch List und Täuschung
den Varus ins Verderben lockte, so Kriemhild die Burgunder, oder ähnlich die
Kudrun die böse Gerlinde. Bei Hagen steht der Treue gegen seine Könige die
Treulosigkeit gegen Siegfried oder Kriemhilde gegenüber.
In der Wirklichkeit freilich ist die Treue gegen den Lehnsherrn oder den
selbstgewählten König nicht so unbedingt herrschend wie in der geschlossenen
Dichtung; eine vermeintliche Kränkung, die Empfindlichkeit über Zurücksetzung,
ein leidenschaftliches Begehren nach einem Vorteile oder die Anfstnchelung
andrer genügt, um den Vasallen gegen den Lehnsherrn, den Bruder gegen den
Bruder, ja den Sohn und Nachfolger gegen den Vater zu offner Empörung
zu treiben, selbst bei geringster Aussicht auf Erfolg. So sehr wiegt der
nationale Charakterzug des Individualismus, der eigenwilligen Leidenschaft vor
der Idee der Pflicht, des dynastischen Interesses, wie noch vielmehr vor der
des Vaterlands oder der Nachwelt oder vor verständiger Erwägung. Das
giebt der innern Geschichte der Kaiserzeit den rein persönlichen Gehalt, etwa
verglichen mit der Konsegnenz der päpstlichen Politik.
Die innere Sonderung des Kriegerstandes von der Masse des erwerbenden
Volkes erreichte ihre Höhe in der Ausbildung des Rittertums, eigentlich der
Ritterschaft. Dieses selbst, wenn es auch eine allgemeine westenrvpäische Er¬
scheinung ist, geht doch in seinen Hauptzügen, in seinen psychologischen Voraus¬
setzungen auf germanische Eigentümlichkeiten zurück, deren Aufkommen nnter
romanischen Mischbevölkcruugcn ans Eindringen germanischer Volkstcile zu setzen
ist. stammte doch der Adel in Gallien, Italien und Spanien fast ausschließlich
von normännischen, fränkischem, gotischen, langvbardischcn Eindringlingen ab.
Die Frende am Kampf um seiner selbst willen, der Zweikampf, die Wertschätzung
persönlicher Tapferkeit unter Verschmähung taktischer Vorteile hat nichts mit
dem römischen Wesen zu thun, nur mit keltisch-gallischen Sitten kann man eine
Ähnlichkeit ausfindig mache» wollen.
Das Rittertum, dort, wo der nationale Gegensatz gegen die untern Stände
zu seiner schroffen Ausbildung noch beitrug, ausgebildet, das auch in seineu
Lebensansichten, seiner Bildung und seinen Stcindesidealeu nach Deutschland
als ausländische Mode eindrang, konnte demnach nationalen Besonderheiten nicht
freundlich und begüttstigeud gegenüberstehen; dies zeigt sich schon vor allem
darin, daß die Dichter, welche auf seinein Boden standen, den einheimischen,
volkstümlichen, epische» Sagenstoffen keinen Geschmack mehr abzugewinnen
wußten, vielmehr den ausländischen, weit tiefer stehende» Feen- und Wunder¬
märchen sich Hingaben.
Indem um das Rittertum auf das ganze Leben den Bann der Konvention,
des standesgemäßen legte, war es unstreitig doch auch geeignet, auf die hei-
mische Ungebundenheit und Ungezähmtheit eine» heilsamen Einfluß auszuüben.
Die Tugendlehre der Kirche hatte dem wirklichen Leben der Kämpfe und des
Eigennutzes innerlich ablehnend und Entsagung fordernd gegenübergestanden;
jetzt verlor sie den Einfluß völlig an ein neues weltliches Ideal, dem sie nur
ihre Aufgaben zu stellen vermochte — in den Kreuzzügen. Dazu kam dann
auch der weibliche Einfluß in einer phantastischen Ausdehnung — die ganze
Richtung hat etwas Frauenhaftes, Gedämpftes und Abgeschliffenes —, aber
auch einen launenhaften, spielenden, weiblichen Bestandteil in dem Frauen¬
dienste.
Soweit die ritterliche Tugendlehre überhaupt aus einer Forderung sich in
Wirklichkeit umsetzen konnte, darf man eine Milderung des Nativualcharcikters
des deutscheu Krieger- und Herrenstandes annehmen: feine Höflichkeit in abge¬
zirkelten Lebensformen, die „Höfischheit," ein herablassendes Wohlwollen gegen
Schutzbedürftige, Beobachtung der Mäßigkeit in Speise und Trank, Freigebig¬
keit und Gastfreundschaft, Rücksicht ans die Beurteilung der Standesgenossen
und besonders der Frauen, den Leitstern der Nitterehre durch die Gefahren des
Übermutes, wie er ans dem Bewußtsein der körperlichen und geselligen Über¬
legenheit und des Vorrechtes der Waffenführuiig nur zu leicht hervorgeht und
in dem Übermut der adligen Offiziere Friedrichs II. von Preußen das Gegen¬
stück findet. Aber daneben fehlen nicht die tiefen Schatten in dem ritterlichen
Charakter.
Von echter Sittlichkeit war das Standesideal weit entfernt, das mehr der
Phantasie und Ehrbegierde angehörte als dem Willen. So ist der Frauen-
dienst in seinen Bethätigung«.'» innerlich unsittlich und verschroben; die ganze
Höfischheit, Ritterlichkeit lind feine Sitte konnte an einzelnen Höfen idealer
Fürsten eine Stätte finden, aber ihre Blüte war doch nur vorübergehend
und vereinzelt.
Dazu kommt der geforderte große Aufwand, die Freude an Prunk in
Kleidung, Waffen, Rossen und Turnieren, die übertriebene Freigebigkeit bis zur
Verschwendung, kurz die UnWirtschaftlichkeit, welche dem Streben nach einer
standesgemäßen Lebensführung stets anhaftet. Der Neid auf die Wohlhaben¬
heit der Bauern und Bürger und die eingelernte Geringschätzung der er¬
werbenden Stände mußte bald zu der Übung führen, die Früchte ihrer
Thätigkeit mit Gewalt sich anzueignen: das Ranbrittertum als förmlicher Er¬
werbszweig der durch Turniere und Kreuzfahrten heruntergekommenen oder von
Anfang an gering begüterten Ritter. So schlug der ritterliche Charakter, wo
die sozialen Vorrechte ohne ihre Grundlage festgehalten werden konnten, leicht
um in die Züge junkerlicher Überhebung, Gewaltthätigkeit, Verrohung und Unter¬
drückung der unterthänigen Bauern.
In andrer, erfreulicherer Weise setzte sich die Volksart in der Entwicklung
der erwerbenden Stäude fort.
Wenn sich auch die Ehren der Waffenführung auf eme geringe Minder¬
heit einschränkten, so behaupteten doch große Teile des Bauernstandes noch die
volle Freiheit, in Sachsen so gut wie im Süden des Reiches. Und auch für
die, welche den Schutz geistlicher und weltlicher Großen den Lasten der Freiheit
vorgezogen hatten, blieben Form und Leistungen der Unterthänigkeit auf Jahr¬
hunderte mild und gemäßigt genug. Weder wurde die persönliche Lebenshaltung
dnrch Entbehrung heruntergedrückt, sodaß auch die körperliche Grundlage der
Kraft und Ausdauer, der Wehrbarkeit und des Selbstgefühls uicht Schaden
zu leiden brauchte — noch wurde Arbeitsamkeit, Sparsamkeit, Rührigkeit durch
die Nötigung, andern die Früchte der Thätigkeit abzutreten, gelähmt. Diese
Eigenschaften machten den deutschen Bauern zum besten der Welt. Das wirt¬
schaftliche Gedeihen der Arbeit war damals besonders unter geistlicher Leitung,
unter dem gepriesenen Krummstab, so nachhaltig, daß die Rodung der Wald¬
bestände und die Gebirgsgegenden bald nicht mehr genügten, um die rasch zu¬
nehmende Bevölkerung zu versorgen, daß ein Jahrhunderte laug fließender
Strom von Auswanderern sich in die östlichen Grenzländer wendete und aus
ihnen, die das Schwert der deutschen Eroberer verödet hatte, die Reste der
slawischen Bevölkerung dnrch die Arbeitsamkeit der deutschen Bauern viel mehr
verdrängte als verdeuschte.
In gleicher Weise ist der Aufschwung des Städtewesens, sobald nur die
ackerbauende Bevölkerung dicht genug war, um Mittelpunkte für Gewerbe und
Handel zu erfordern, ein Beweis für die Kräfte, welche der Nation noch für
eine andre Entwicklung zu Gebote standen, als in der die Kaiseridee sich auf¬
lebte. Als diese durch die Scheidung der altererbteu, unklar zusammenfließenden
Bestandteile, der Nachfolgerschaft der römischen Kaiser und einer darauf ge¬
gründeten Schirmherrschaft über die Kirche, die Herrschaft über die Gemüter
an die folgerecht aufgebaute Lehre der päpstlichen Theokratie verloren hatte,
war längst die neue Krystallisirung der Volkskraft im Laufe, die der nächsten
Zeit neben den Landesfürftentümern das eigentümlich deutsche und volkstüm¬
liche Gepräge geben sollte. Die Geschichte der Kaiserzeit knüpft sich an mäch¬
tige Individuen aus fürstlichem und geistlichem Stande; die Städte entwickeln
sich aus der unbeachteten Thätigkeit zahlloser Einzelnen, wohl meist Höriger, die
das Recht der Kaufmannschaft oder übertragene geringfügige Ämter mit der Zähig¬
keit und Rührigkeit des kleinen Mannes angriffen, der weniger zu verlieren, viel
mehr zu gewinnen hat. Jeder Vorteil mußte der Lage der Dinge und den eigent¬
lichen Herren erst abgerungen werden und bedürfte dann noch steter Wahrung?
so war der Einzelne ganz auf sich angewiesen. Die Willenskraft, die Umsicht
und praktische Klugheit mußten sich so immer mehr steigern. Zu besserem
Schutz des Erreichten mußten sich die Gleichgestellten zusammenschließen. Das
Streben nach Ausdehnung der materiellen Vorteile, Marktgerechtigkeiten, Vor¬
rechte in fremden Städten, Selbstverwaltung unter Herren oder auch andern
Gemeinden und Völkern beförderte einen kühnen und harten Egoismus, der in
der allgemeinen Begehrlichkeit der beste Schutz war. Freiheit, Gerechtigkeit u. s. w.
waren diesen Bürgern recht greifbare und meßbare Dinge. Die kaufmännischen
Interessen vermochten es besser als ideale Erwägungen, viele Kleine zu ver¬
einigen, damit sie einem Großen trotzen konnten. Sie brachten auch wieder
Bündnisse der Städte unter sich hervor; am mächtigsten wuchs die Hanse, die
auf die Ausbeutung der wirtschaftlich schwachen Länder des Ostens und Nordens
gebaut war. Die Gemeinschaft der Interessen band auch in den Städten selbst
die Einzelnen zusammen in Zünften der Handwerker und Gilden der Kaufleute,
und wer ein Recht sich verschafft hatte, hielt zäh daran fest, so auch die Ge¬
schlechter, welche die Ausübung der städtischen Verwaltung an sich gebracht
hatten. Nicht umsonst hat man diese bevorrechteten Geschlechter die Patrizier
genannt; Eigennutz und Herrschsucht machen sie dieses Namens wert.
Großartig waren die Errungenschaften, für welche sich dieser zähe und feste
Charakter der bürgerlichen Deutschen einsetzte. Die alte Wehrhaftigkeit und
Waffenfertigkeit in Übung zu halten, fehlte es den Städten nie an Anlaß
gegenüber Fürsten und Rittern, die auf den Wohlstand derselben neidisch waren.
Sie verwandelten sich in uneinnehmbare Festungen, die Artillerie ist lauge Zeit
eine bürgerliche Kunst geblieben; Geld und Geschütze waren ihr Vorsprung vor
den Fürsten. Ja man darf die Blütezeit der Städte wohl den Zeitraum
zcihester nationaler Kraft und Ausdehnung nennen; viel weiter als der deutsche
Bauer ist der deutsche Bürger nach Osten und Norden vorgedrungen und hat
sich unter schweren Anfechtungen aufrecht erhalten, in Siebenbürgen und den
russischen Ostseeprovinzen bis in die Gegenwart.
Der steigende Reichtum der Städte wirkte auf den Charakter nicht, wie
so oft, verweichlichend, wenn auch die Nachteile nicht ganz ausbleiben
konnten. Gewerbe, Kunst und Wissenschaft hoben sich noch mehr durch Fleiß
und Hingebung, die Pflege der geistigen Interessen dnrch diese Bürgerschaften
giebt der Tüchtigkeit des deutschen Charakters das beste Zeugnis. Hier erhoben
sich die gewaltigen Dome durch allgemeine Beisteuer; die Bauhütten, die Ver¬
einigungen der Bauhandwerker hat eine viel spätere Zeit als Pflegestätten
bürgerlichen Gemeinsinnes wieder erneuert. Geschichtschreibung und Dichtkunst,
diese in der Form der Meistersingschulen, werden fortgeführt.
Durch die größere Reibung der Menschen, durch die gesteigerte Geselligkeit
in den Städten entfaltet sich ein Charakterzug, der früher nur gelegentlich sich
bemerkbar macht, wie etwa bei Wolfram von Eschenbach: der Humor, beruhend
auf der größern Freiheit der persönlichen Beurteilung, von Mund zu Mund
von Stadt zu Stadt geht der Spott über die thörichten Streiche, die dann
auf einzelne Städte und Orte, auf einzelne Stände und Personen gehäuft
werden. Derbheit und Rücksichtslosigkeit ist der Grundzug; zur Befriedigung
dieses Triebes wird geradezu eine bestimmte Zeit festgesetzt, wo alle Schranken
falle», die sonst Ernst und Ehrbarkeit ziehen. Denn dies ist seine Kehrseite
und Ergänzung, das Ergebnis des deutschen Gemüts und der tiefern Einwirkung
einer bürgerlichen selbständigen Bildung, seit die Städte anch in dieser Hinsicht
den Fürstenhöfen vorangehen. Wer dächte nicht an den biedern Hans Sachs,
dem keine der Übersetzungen klassischer Werke entging?
Ein Ergebnis des gestiegenen Wohlstandes in den Städten ist freilich auch
der Luxus. Freilich werden wir ihn weniger in der bessern Ausstattung der
Wohnungen mit Hausrat und Bequemlichkeit suchen, als in der Pracht der
Kleider und in den vielen und raschen Veränderungen der Tracht, wie sie in
der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts zuerst ein Stadtschreiber beobachtet und
aufgezeichnet hat. Es ist, was wir jetzt Mode nennen; um die Mitte des
vierzehnten Jahrhunderts hat sie allerdings so unzüchtige und feiner Sitte
spottende Formen, daß man fast versucht ist, einen Schluß auf eine Erschütterung
der Ehrbarkeit und des Anstandes zu machen, wenn mau auch schließlich die
gleiche gedankenlose Nachahmung und Steigerung einfacher Abwechselungen des
Geschmacks wie jetzt für den wichtigsten Trieb halten muß.
So hatten sich die Städte zum ausschlaggebenden Bestandteil des natio¬
nalen Lebens und Charakters hinaufgearbeitet und selbst den Fürsten und Herren
das abgeschlossene Leben auf ihren Burgen verleidet; auch die Könige ver¬
schmähten nicht die Annehmlichkeiten des städtischen Aufenthaltes. Der Ritter-
stand verfiel, soweit er nicht dem Zuge der Zeit folgen wollte, der Verbauerung
und Rohheit und teilte mit den andern Ständen höchstens die Völlerei und Un-
mäßigkeit, welche in den Kreisen des Landadels, aber auch in den fürstlichen
Hofhaltungen seit dem völligen Absterben der früheren höfischen Zucht zum na¬
tionalen Laster geworden waren und es auf Geschlechter hin blieben. Luther
hat es als Teufel sans für eine ewige Plage Deutschlands gehalten.
Zu all den Sonderbildungen landesfürstlicher und städtischer Art, welche
sich nur aus ihrer eignen Lebenskraft erhielten gemäß dem alten Zug deutschen
Wesens nach Behauptung des Einzelnen und selbständigen, kam noch der Ein¬
fluß einer neuen Geistesrichtung, des Humanismus, der zur Anschauung zu
bringen suchte, daß es auch vor dem Christentum schon Hohes und Bewunde¬
rungswürdiges gegeben habe.
Gegenüber der allgemeinen Fülle des Lebens und Strebens traten die alt¬
vererbten Ideen von Kaiser und Papst immer mehr zurück und verloren den
unmittelbaren Einfluß auf die Gemüter. Andre Dinge drängten sich vor. Die
Fürsten fanden die Machtstellung der Städte unbequem; die Städte waren zu
kräftig, um nachzugeben, die Bauern zwischen beiden im Nachteil fanden ihre
Hörigkeit drückender als früher und wurden schwierig. So vielfach waren die
Kräfte entwickelt, daß die Formen, in denen sie hätten wirken können, nicht mehr
genügend erschienen. Alles erwartete eine Änderung, eine Verbesserung seiner
Lage, eine freie Bahn für seine Bewegung. Dies allgemeine Mißbehagen der
zurückgehaltenen gespannten Kraft fand in der religiösen Bewegung den Aus¬
gang, den ersten Ausbruch. Weil ans andern Gebieten der Führer fehlte, der
Luther an Kraft und Sicherheit gleichgekommen wäre, darf man die treibende
Kraft der sogenannten Reformation nicht in dem Streit um einige Glaubens¬
sätze und Gebräuche suchen, weil sie schließlich blieben wie die festgewordene Lava
nach einem vulkanischen Ausbruch.
Von schlichten bürgerlich-gelehrten Kreisen war die Bewegung ausgegangen,
mit der sich bald Kaiser und Papst, Reichstage und Kirchenversammlungen
beschäftigen mußten. Bürgerlich im deutschen Sinne, ja bauernhaft waren der
Mannesstolz, die hartnäckige Überzeugnngstrcuc, der rücksichtslose Freimut
Luthers, der die richtende und strafende Gewalt der Kirche wie nur ein Gregor
oder Alexander über Hohe und Niedere übte, der mit Fürsten wie mit seines
Gleichen verkehrte, ohne andre Macht hinter sich als seine Überzeugung, daß
es seine Pflicht sei.
Aber doch mußte sein Werk der Kirchenspaltung dem bürgerlichen Charakter
auf die Länge nachteilig sein, wenn auch das Bürgertum der Reichsstädte zu
feinen ersten und eifrigsten Anhängern gehörte. Wichtiger war der Anteil
der Fürsten des Reiches. Für ihren Schutz und ihre Parteinahme sprach ihnen
die neue Kirche das Recht der Verfügung über die Kirchengüter und die höchste
Macht in den einzelnen Landeskirchen zu; damit ward bald das Recht verbunden,
über den Glauben ihrer Unterthanen zu bestimmen. Dieser Machterweiteruug
siel auch der Landadel anheim, der in den Klöstern und Stiftern die Versorgung
jüngerer Kinder verlor. So wurde die Machtfülle der Landesfürsten der Preis
der kirchlichen Neuerung, beide Konfessionen wetteiferten in der Predigt vom
leidenden Gehorsam der Unterthanen.
Die Wichtigkeit, welche fortan den Glaubensstreitigkeiten zukam, machte
die Behandlung derselben zum Hauptgeschäft der Theologen. Streitsucht und
Rechthaberei, eigensinnige Versteifung auf der eigenen oder nur eingelernten
Lehrmcinung, Verketzerungssucht andrer Ansichten wurde ein Charakterzug der
deutschen Theologen, weit hinaus über den Bereich der dogmatischen Difteleien
der mittelalterlichen Kirche. Dieser Zug der Streitseligkeit hat sich auf Jahr¬
hunderte hinaus fortgesetzt, die ciruzrsllö allLrog-näiz ist sprichwörtlich geworden;
in Wissenschaft und Politik dauert er unverkennbar noch bis in die Gegenwart
herein als deutsche Eigentümlichkeit fort.
Die sittliche Strenge gegen die Fürsten wurde sehr bald zurückgesetzt, um
die Hilfe des weltlichen Armes gegen Andersgläubige zu erhalten. So entstand
bald eine doppelte Moral, so weit sie neben den Glaubenszänkereien überhaupt
noch als religiöses Arbeitsgebiet geltend bleiben konnte; mit der sittlichen Ver¬
wahrlosung des Volkes ging dessen geistige Verdumpfung und Einschüchterung
Hand in Hand, die Hexenverfolgungen wurden neben dem Glaubenshader die
wichtigste öffentliche Angelegenheit. Ein Glück, daß ein kräftiger Grundstrom
sittlicher Erneuerung immer noch in den Tiefen des Volkslebens fortfloß, das
in der Zeit allgemeiner Erregung und Teilnahme sich gleichsam ans sich selbst
besonnen hatte. Der widrige Gang der Ereignisse, die Niederschlagung der volks¬
tümlichen Bewegungen, besonders der Bauernkriege, hatte die erweckten Kräfte
doch nicht ganz einschläfern können.
Aber der gemeinsame nationale Aufschwung, der bis ins ferne Sieben¬
bürgen und Esthland alles deutsche Land ergriffen hatte, verlor sich in der
staatsrechtlichen Befugnis der Landesfürsten und Obrigkeiten, die Religion der
Unterthanen zu bestimmen, welche bald die Nation in lauter getrennte Gebiets¬
teile zerriß. Der eifrig geschürte Religionshaß und die gegenseitige Überhebung
wegen des geläuterten Glaubens entfremdete die nächsten Nachbarn. Die alte
Absonderungssucht im deutschen Volkscharakter fand sich je länger je besser in
diesen Schnitzeln des Vaterlandes zurecht und zog einen kurzsichtigen, eigen¬
sinnigen Partikularismus groß, der so gut wie im dreißigjährigen Kriege auch
gegenüber Napoleon eine nationale Gemeinsamkeit unmöglich gemacht hat.
An dieser eigensinnigen Absperrung der kleinen und kleinsten Staatsgebiete
des heiligen römischen Reiches, die ihre berechtigten und unberechtigten Eigen¬
tümlichkeiten in idyllischer Zufriedenheit pflegten, nahmen denn auch die Städte
gern Teil, deren Rückgang seit der Veränderung der Handelswege immer deut¬
licher wurde. Die Nachteile ihrer eigennützigen Verfolgung von Sonderanliegen
hatten schon zur Zeit ihrer Kraft sich gezeigt, gemeinsame Unternehmungen der
Städtebündnisse waren daran gescheitert, daß keiner länger anthat, als er sich für
seinen Vorteil veranlaßt hielt. Auch die Hanse gab genug Proben geringen
Zusammenhaltes, des Mangels an höhern Zielen weitsichtiger Politik. Im
Innern der Städte erstarrten das Zunftwesen und die Verteilung von Recht
und Pflichten, da sich jeder weigerte, etwas zu opfern; die Rücksicht auf Geld
und Handel entschied, und auch im Reiche suchte jede Stadt nur eine möglichst
geringe Steuereinschätzung zu erreichen. So entstand der spießbürgerliche Zug
im deutschen Charakter, die Enge des Gesichtskreises, die Scheu vor weitaus-
seheuden Unternehmungen, welche etwas kosten könnten, die Furchtsamkeit und
Ängstlichkeit, welche sich gern mit dem Namen der Bedachtsamkeit und Besonnen-
heit schmückt. Es ist das Gegenteil der Eigenschaften des englischen Volks¬
charakters, der mittlerweile die Welt durch englische Kolonien gewonnen hat,
ohne auf die Negierung zu warten. Nur der Luxus und die Freude an Prunk,
besonders bei Taufen, Hochzeiten oder Leichenbegängnissen, blieb den deutschen
Städtern, um das erworbene Geld zu zeigen, nachdem der Erwerb durch den
veränderten Gang des Welthandels schon schwer geschädigt war.
Zur weiter» Schwächung unsers Volkscharakters kam noch im sechzehnten
Jahrhundert die Trennung der Gelehrsamkeit vom Volksleben. Luther, der selbst
mehr und mehr Latein schrieb, förderte die gelehrte Bildung der Geistlichen
seiner Lehre, welche dadurch die Weihe der katholischen Kirche zu ersetzen suchten.
Die Gelehrten- und Büchersprache wurde völlig lateinisch — das Deutsche war
um 1600 fast auf Kochbücher und Traumbücher eingeschränkt. Die Einheit des
Volkslebens, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, ja das gegenseitige Ver¬
ständnis zwischen deu lateinisch erzogenen und der großen Masse war auf Ge¬
schlechter hinaus gestört.
So war schon jeder Schwung, jede Kraft des nationalen Charakters an¬
gekränkelt in dem Volke, das, in Herrschende und Beherrschte zerfallen, auch um
seiner gelehrten Schicht keine Führer fand. Das Negierungsshstem der bestän¬
digen Bevormundung, besonders auch in Dingen des Luxus und überhaupt der
Lebensführung, untergrub jede Selbständigkeit, jede männliche Regung, die nur
in einer gewissen Verrohung der Sitten einen Schlupfwinkel finden konnte.
Deren Sitz waren neben den Heeren auch die Universitäten mit dem Pennalis¬
mus und der Liederlichkeit.
Das allmähliche Sinken wurde durch den Druck des dreißigjährigen Krieges,
der die Fortdauer eines deutschen Volkes überhaupt in Frage stellte, zu einem
völligen Zusammenbruch des Volkscharakters. Wie man zweifeln kann, ob die
elenden Neste der Bevölkerung, welche die Greuel einer Verwüstung ohnegleichen
überstanden, das deutsche Volk des Mittelalters fortsetzen konnten, so hat man
noch hundert Jahre später behauptet, der nationale Charakter des deutschen
Volkes bestünde darin, keinen zu haben. Diese Anklage ist leicht genug zu be¬
gründen.
Jedes Selbstvertrauen, jeder männliche Trotz war völlig gebrochen. Die
Fristung des Lebens gegenüber der rohen Gewalt war lange die einzige Sorge
gewesen. Die bange Furchtsamkeit vor allem, was nach größerer Macht aussah,
blieb für die untern Stände des Volkes auf Geschlechter hinaus der vorstechende
Charakterzug. Auch im innern Staatsleben war jedes Rechtsgefühl verschwunden,
nur Geduld und Demut, fast ohne den Wunsch nach bessern Zuständen, ohne
Kritik der Unterdrückung ward fortan geübt. Ein sittliches Bewußtsein, eine
öffentliche Meinung gegenüber den höhern Ständen gab es ebensowenig, als
eine Mannesehre unter denen, welche als gelehrte Stände für die Fortführung
der Staats- und Regierungsgeschäfte notwendig waren. Die Buhlerei um die
Gunst der Einflußreichen und Mächtigen wurde offen als wichtiger getrieben
denn Gelehrsamkeit und Fleiß, und fand auf den Universitäten anerkannte
Gelehrte als Lehrer und Vertreter. Die Abstufung der Titulaturen, die Auf¬
wartungen und Schmeichclbriefe wurden als unerläßliche Dinge zum Fort¬
kommen in der Welt betrachtet, und sie waren es auch. Friedrich Wilhelm I.
fand die richtige Behandlung für diese Art der Bedienteugesinnung, indem er
auf seinen gelehrten Hofnarren Gundling alle Würden häufte.
Die Formen des Staatslebens waren nicht geeignet, dem tiefen Sturze des
nationalen Charakters durch Erziehung des Volkes entgegenzuwirken. Den
Beamten gegenüber war nur Scheu und Furcht am Platze, gemildert durch die
vielfache Bestechlichkeit derselben; bei dem Umstände, daß sie vielfach selbst durch
Zahlung von Geldsummen an ihren Platz gekommen waren oder als Adeliche
darin eine standesgemäße Versorgung erblickten, machte man weder von oben
noch von unten Ansprüche auf Pflichttreue oder Arbeit.
Allerdings wurde sehr viel regiert, die Bevormundung der unteren Stände,
der Bürger und Bauern, erstreckte sich gelegentlich auch auf ihr Frühstück, sofern
sie ein solches zu sich nehmen konnten. So gewöhnten sie sich natürlich auch
daran, in allem einen besondern Befehl zu erwarten und von der Einsicht und
dem guten Willen der Obrigkeit abzuhängen. So entstand die rührende Unbe-
hilflichkeit, mit welcher lange Zeit der deutsche Unterthan jeder ungewohnten
Lage des Lebens gegenüberstand, wie sie den deutschen Einwanderer im Hafen
von Newyork zum Gespött der praktischen Amerikaner und Engländer machte.
Die zahllose Menge kleiner und kleinster Hofhaltungen trug ferner dazu
bei, den Unterschied zwischen den oberen bevorrechteten Ständen und den unteren
erwerbenden und steuerzahlenden Schichten recht sichtbar zu machen. Bei dem
Mangel reichlicher Erwerbsquellen, bei der Unterbindung von Handel und
Gewerbe durch die vielen Zollschranken, den schwerfälligen Verkehr und die
Belästigungen einer kurzsichtigen Negiererei fehlte dem Bürgertnme das Gefühl
eines ausgiebigen Vorwärtskommens ans eigner Kraft. Es fand sich auf die
Gunst der Vornehmen angewiesen, deren Luxus ihm als die Quelle seines Ver¬
dienstes erschien, und so strebte es nach kleinlichen Gunstbezeugungen und Aus¬
zeichnungen und war stolz darauf, anch nur dem Namen nach in Verbindung
mit dem Hofhalt zu stehen. (Schluß folgt.)
in Lachen schön machen kann, für den Augenblick selbst ein hä߬
liches Gesicht, das weiß ja jeder, aber dieser Tage erfuhr ichs
in so merkwürdiger Weise, daß ich mirs doch cinfhebcn muß.
sprachlich wäre erst Wohl noch zu bemerken, daß uns „lachen"
jetzt in erster Linie den Schall des lauten Lachens vorführt, ein Übel-
stand, der den Begriff störend verengt. Die alte Zeit sprach auch von lavucmclsm
lnunckö, was wir jetzt „lächeln" nennen (es hieß in mittelhochdeutscher Zeit auch
Lwislsn, wie noch englisch 8ma1s), aber auch von laoliLiuisn on^su, ja von lÄollenäuili
nmots (Gemüt, Stimmung), d. h, der in den lachenden Mienen sichtbar wird.
In der Umgangssprache sagt man noch „er lachte im ganzen Gesichte," wozu
der lachende Schall gar nicht gehört. Dieses Lachen ist vielmehr wesentlich
ein Lachen der Augen, in denen ein eigentümliches Glänzen von innen her auf¬
leuchtet, doch so, daß die ganzen Mienen, vor allem der Mund und seine Um¬
gebung mit ihren eigentümlichen Mitteln dazu helfen, dem Glänze seinen ver¬
schiedenen Ausdruck bestimmter zu geben; aber die Hauptsache thun die Auge»,
wie überhaupt im ganzen wechselvollen Leben der Gesichtszüge. Ist doch das
„ Gesicht" selber nach dem Sehen, also die ganze Fläche nach den Augen be¬
nannt. Von diesem Lachen ist denn hier die Rede.
Doch zur Sache zu kommen, es war gegen Abend, im Dämmerlicht der
Straßen- und Ladenbeleuchtung, daß ich durch die belebteste Straße strich
auf dem Trottoir. Da im halben Dunkel, halben Licht, wie ich so, Anderes
denkend, das Auge einmal nach vorn schweifen ließ, leuchtete mir aus einer
Gruppe dreier kommenden Frauengestalten ein Antlitz entgegen, das den Sinn
(es ging wie ein Blitz) weckte und an sich zog mit dem Leuchten der Schön¬
heit, jugendlicher Schönheit, so unausweichlich wie im Felde draußen eine im
Dämmer auftauchende Laterne plötzlich den Sinn faßt und an sich zieht — und
als die Gruppe näher kam, wars eine Alte, eine sechzigjährige: aber sie lachte,
mit jenem Lachen, das eine große frohe gute Empfindung ans der Tiefe herauf¬
holt, eine große Freude und selbstlose Liebe zusammen. Wie gern hätte man
gleich aus dem Gespräch der Frauen zur Ergänzung erfahren, was es war,
wovon sie sprachen, das diese Wirkung thun konnte, die sich gleich anch nach
außen übertrug, denn in mir lachte es gleich mit, gemischt mit staunendem
Aufmerken. Sie lachte oder lächelte uoch so, als sie mir in volles Licht kam.
Sie war nicht schön, wenn anch vielleicht einmal gewesen — aber ihr Lachen,
der Seelenglanz ließ auf ihren Zügen jenen fesselnden Schönheitsglanz auf¬
leuchten, malerisch ausgestaltet durch die Mischung von Abenddämmer und
Lichterglanz, die die Luft füllte und das Bild zugleich einrahmte und ihm seine
letzte Retouche gab.
Das ist denn wohl ein brauchbarer Beitrag zu der Frage, was eigentlich
das Schöne ist, zunächst als Beleg dafür, wie wenig es für sich an sinnliche
Schönheit gebunden ist, so wenig, daß man diese, die wir sonst suchen als Ver¬
treterin des sichtbaren Schönen, zu fordern ganz vergessen kann, doch nur darum,
weil da eine höhere oder tiefere Schönheit an ihre Stelle tritt, die uns jene
andere zugleich ersetzt und an Wirkung überbietet. Es reizt mich aber unwill¬
kürlich, den erlebten seltenen Fall noch besser auszunutzen. Also noch Fol¬
gendes Versuchs- und andeutungsweise.
Frauenschönheit, wie man sie sich gewöhnlich vorstellt, mit Jugend gepaart,
nennt man, wenn sie uns einmal nicht in der Kunst bloß, sondern im Leben ver-
wirkliche entgegentritt, in ihrer höchsten Ausprägung auch eine blendende
Schönheit. Also auch Glanz als ihr Wesen aufgefaßt, es muß aber dabei an
die Sonne gedacht sein, vor deren Glanz man erschreckt die Augen schließt.
Nicht so oder gerade entgegengesetzt jene andere Schönheit, wie ich sie da sah.
Sie glänzt auch, aber mit einem stillen Glanz, der nicht von außen, von der
Oberfläche, sondern ans der Tiefe kommt, der darum auch wohl zu übersehen
ist, wenn ihm nicht von anderer Seite Tiefe entgegenkommt, zu der man ja
nicht immer aufgelegt ist, während blendende Schönheit gar nicht zu übersehen
ist und beim Andern von Stimmung oder Wechseluder Empfänglichkeit so gut
wie gar nicht abhängt, daher aber anch gar kein Aufthun der eignen Tiefe
braucht. Wenn diese dem Sprachgebrauch nach an die Sonne erinnert, die
unmittelbar auf die Sinne wirkt, so ist jene mehr wie Mondenglanz, der auf
das Gemüt wirkt und in uns auch nnr dann jene wundersame Wirkung thut,
welche die Dichter so gern aussprechen, wenn wir gerade in der Lage oder
Stimmung sind, das Gemütsleben spielen zu lassen, also uns selber tiefer auf¬
zuschließen. Der Sonnenglanz, der wirkliche wie der der Schönheit, wirkt über¬
wältigend, eigentlich zwingend und fragt uns gar nicht erst, ob wir auch zu
Hause sind, der Mondenglanz wirkt nur lockend („ladend" nennt ihn Goethe
einmal) und stellt gleichsam erst die Frage an uns, ob wir auch in uns zu
Hause sind und nicht durch Außendinge zerstreut, kann aber eben darum auch
tiefer wirken, weil er unsre eigne Tiefe zum Mitthun aufruft.
Da ist es denn aber bemerkenswert, daß solch stiller Glanz doch auch
jugendlicher oder Frauenschönheit überhaupt zugesprochen wird, eben auch als
Ausdruck ihres Wesens. So bei Goethe im Divan (Buch Suleika, Nachklang):
Laß mich nicht so der Nacht, dem Schmerze,
Du allerliebstes, du mein Mondgesicht,
O du mein Phosphor, meine Kerze,
Du meine Sonne, du mein Licht!
Da steht freilich neben dem Monde anch die Sonne, es ist eine Häufung der
Bilder, die für die Vorstellung eigentlich störend ist, weil ein Bild das andere
gleichsam auswischt, die aber gut orientalisch dem Zwecke dient, daß die auf¬
quellende Empfindung sich mit Bildern recht genug thut oder eigentlich sich
nicht genug thun zu können scheint. Aber Mond und Phosphor passen wohl
zusammen und Goethe braucht den letztem auch sonst so, in einem Gedichte
„Grundbedingung" in der Abteilung „Epigrammatisch," einer Weisung an die
Dichter:
Eh du von der Liebe sprichst,
Las; sie erst im Herzen leben,
Eines holden Angesichts
Phosphorglanz dir Feuer geben.
Phosphorglanz könnte ich auch den Schönheitsglanz nennen, den ich dort auf
dein Antlitz der Alten aufleuchten sah, hier aber braucht ihn der Dichter
von holder Frauenschönheit überhaupt, um ihrem Wesen einen Ausdruck zu
geben, Goethe, dieser Kenner von Schönheit. Das ist denn an Wert, ich
möchte sagen, einer wissenschaftlichen Beobachtung gleich, welche den Eindruck
der Erfahrung treu aufnimmt und wiedergiebt. Dazu stimmt nun weiter trefflich
ein Dichterwort ans dem fünfzehnten Jahrhundert, in einem lehrhaften Ge¬
dichte, leider ohne Dichternamen, das sich Frauenspiegel nennt und die Frauen
unterrichtet, wie sie sich „gegen iren etlichen genähet" Verhalten sollen, um
seine ganze Liebe und ihre rechte Stellung im Hause zu erwerben. Da heißt
es gegen das Ende:")
Damit weid werden maister,
Sie gleißen als die Mister,
d. h. damit gewinnen sie ihre rechte Herrschaft im Hauslebcn und — werden
schön, sie glänzen dann wie mit Geisterglanz. Das ist denn im Grunde die¬
selbe Vorstellung oder Auffassung der Schönheit, wie mit dem Phosphor und
dem Monde im neunzehnten und hier schon im fünfzehnten Jahrhundert; alle drei,
auch die Geistererscheinung (die man sich blau oder bläulich dachte), gehören anch
mit ihrem stilleren, tieferen Glänze der Nacht an, wie Goethe vorhin im Divan
auch von Nacht spricht, d. h. das Leben ohne Liebe überhaupt als Nacht ge¬
dacht, wie oft bei ihm. Geister sehen wir ja jetzt nicht mehr, aber wie eigen¬
tümlich fesselnd Phosphorglanz wirken kaun, erfährt man z. B. an dem Leuchten
der Johanniswürmchen im Dunkel des Waldes oder an dem Meeresleuchten
in Nacht und Dämmer, wie ichs z. B. im Kieler Hafen gesehen habe. Man
empfindet und bezeichnet dies Leuchten noch als geisterhaft und meint doch wohl
damit, daß es wie aus einer andern Welt herein scheine, für die wir doch ein
Entsprechendes auch in uns haben als dämmernde Ahnung im Gemüt, selbst
wenn der Kopf nicht mehr daran glaubt. Nun und mit solchem Leuchten wird
also der Glanz der Frauenschönheit verglichen in neuer und alter Zeit, um ihn
als Seelenglauz zu bezeichnen.
Was aber dabei die Hauptsache ist für deu gesuchten Begriff, diese Schön¬
heit ist ein Gut, das erworben werden kaun, für das man nicht auf die gute
Stunde der Mutter Natur zu warten braucht, die wohl den guten Willen zu
haben scheint, immer Schönes herzustellen, aber gerade bei Darstellung des
Menschen, besonders des Menschenangesichts, dieses Hauptstttckes ihres Schaffens,
mit wer weiß welchen störenden Einflüssen in Kampf kommt, die ihren guten
Willen kreuzen. Da kann denn aber der Mensch aus sich selber ergänzend,
nachhelfend, nachschaffend eintreten, das ist auch vorgesehen im Grundriß des
Ganzen und ist darin für uns Menschen sogar der Hauptpunkt (nicht für das
Schöne bloß), und wo für diese selbsterworbene Schönheit die Quelle fließt, das
zeigt jener Frauenspiegel des fünfzehnten Jahrhunderts und auch der Fall, von
dem ausgegangen wurde: thätige Güte, die in der Seele herrscht, wird von
selbst zu einer fest in sich ruhenden Heiterkeit und tritt als Schönheit in den
Gesichtszügen zu Tage, auch wenn diese von Natur uicht schön sind.
Indem ich aber dabei wieder an die sogenannte blendende Schönheit denke,
Naturschönheit im Unterschiede von der Seelen- oder Geistesschönheit, fällt mir
unvermeidlich noch eine andere Schönheit ein, weil sie zu jener den denkbar
größten Gegensatz bildet, Geistesschönheit im schärfsten Sinne, ich meine die,
welche sich in den Gesichtszügen von eben verstorbenen zeigt, gleich nachdem
der grause Todeskampf überstanden ist, der eben auch in den Gesichtszügen,
diesem Spiegel alles innersten Lebens, sich abspielt in einer Form, die zum
Schönen in einem Gegensatz steht, daß er so grell und grans von keiner Phan¬
tasie zu erfinden ist. Bei dieser Schönheit ist von Glanz keine Rede mehr,
sind doch die Augen, die Quelle des Glanzes, erloschen und gebrochen, wie die
Sprache es treffend benennt, durch die Gewalt des Todes und geschlossen durch
die Liebe der Angehörigen. Alles ist nun kalte, tote, bloße Form, und doch
mit einem Hauch darüber, der den Eindruck von Schönheit macht, aber einer
fremdartigen, hehren, gleichsam aus hoher Ferne wirkenden Schönheit, vor der
man mit scheuer Ehrfurcht steht, ferngehalten und gefesselt zugleich. Denn ihr
Ausdruck ist vor allem tiefe, tiefste Ruhe, die denn mich die dabei stehenden
wunderbar anhaucht und der eben tief verwundeten Seele, auch wenn man
sein Liebstes so nun vor sich sieht, den ersten Balsam reicht, daß man selbst nach
den Stürmen des Schmerzes in sich tief ruhig wird. Denn man thut da
einen Blick wie in eine ferne Welt von tiefster Befriedigung, genauer befrie¬
digter, voller Bedürfnislosigkeit, die sich uns da an einer Stelle einmal auf¬
thut. Aber eben diese befriedigte Ruhe, die von dieser Welt nichts mehr braucht,
erscheint zugleich als Schönheit, ihr geheimster Kern aber als Güte, als ganz
selbstlos gewordene, ursprüngliche Güte, die doch eben damit ganz zu sich selbst
zurückgekehrt ist und von diesem ihrem tiefsten Selbst in den Gesichtszügen
einen Abdruck wie als Testament zurückläßt gleich nach den Verzerrungen des
Todeskampfes. Es mischt sich aber darin die ursprüngliche Güte der ent¬
wichenen Seele mit der selbst dazu erworbenen Güte, wofür ein Beweis zu
Gebote stünde, wenn es nicht jetzt zu weit führte, es versteht sich aber auch so
von selbst. Es ist übrigens Güte in ihrer höchsten oder tiefsten Ausprägung,
noch besser mit Adel bezeichnet, tiefinnerster Seelenadel, der da sichtbar zu Tage
tritt. Also Schönheit mit keinem Glänze mehr und doch mit etwas, das man
leuchten nennen kann, mit einem Lichte, das über diese Weltform hinaus weist.
Begreifen oder glauben kann das freilich nnr wer es selbst gesehen und erlebt
hat, es weist aber am deutlichsten auf die Stelle hin, wo die letzte Quelle des
Schönen fließt, das uns Menschen zur Verfügung gestellt ist.
Und wenn die bloße Naturschönheit ohne allen Seelenglanz zu einer solchen
wird, die man tote Schönheit nennt bei vollem Leben, so liegt hier eine wirk¬
lich tote Schönheit vor, die doch zugleich vom Leben tiefstes Zeugnis giebt,
von dem Leben, das unabhängig ist von den zufälligen Bedingungen der Körper¬
welt und in sich selbst ruht vor und über dem Körverwesen wie im Ewigen;
erscheint doch dabei selbst der Unterschied von männlich und weiblich im Ge-
sichtsausdruck wie aufgehoben oder überhöht. Davon mehr und deutlicher Wohl
ein andermal.
eit abseits von den Großstadtschildernngen, wie sie Spielhagen
im höheren und Max Kretzer im niederen Stil versuchen, geht
ein Schriftsteller, ein wahrhaft poetisches Talent und durch
Lebensverhältnisse, Neigung und unablässiges Studium einer der
genauesten Kenner Berlins, seineu ziemlich einsamen Pfad. Auch
ihn erfüllt der Gedanke, die deutsche Reichshauptstadt zum Unter- und Hinter¬
grunde von poetischen Darstellungen zu benutzen, und ohne den französischen
Naturalisten näher verwandt zu sein, empfindet er den geheimen Reiz, sich ans
einem Boden zu bewegen, welcher ihm, wie der Mehrzahl seiner Leser, völlig
vertraut ist. Und obschon sich ein Dichter wie Theodor Fontane nicht
darüber täuschen kann, daß alles, was an Wirkungen der Lokalschildcrung, der
gesellschaftlichen Atmosphäre gewonnen wird, verhältnismäßig wenig bedeuten
will gegenüber der Stärke der Motive und der unmittelbaren Darstellung der
in allen Wandlungen und Spielarten sich gleich bleibenden Menschennntnr, so ver¬
schmäht er doch deu kleinen Gewinn nicht, welcher namentlich dem Nvmandichterr
aus der Eigentümlichkeit seiner Szenerie, aus der Wiedergabe von Gewohnheit,
Sitte, Vorurteil, Lebensform und Gesprächston bestimmter Kreise erwächst.
Fontäne hat die Fähigkeit der Beobachtung zu einer gewissen Virtuosität ge¬
steigert und versagt sich demzufolge nicht, einige Blicke über seineu jeweilige!,
Stoff hinnuszuthuu. Daß dies immer in feiner und geschmackvoller Weise
geschieht, bedarf keiner Versicherung. Daß bei noch knapperer Einschrän¬
kung auf die Erfindung der eigentlich poetische Gehalt gesteigert werden
könnte, bedarf auch keiner. Aber die kulturgeschichtliche Seite der Dinge hat
es eben auch den Dichtern angethan, und in einer Zeit wie der unsrigen liegt
die Gesahr, in der Feinheit der Einzelausführung und Färbung einen Schritt
zu weit zu gehen, gerade für den gute» Künstler sehr nahe. Die massenhafte
blödsinnige Nachahmung bemächtigt sich so hastig jeder Erfindung, welche dem
Dichter aufgegangen ist, jeder aus dem vollen geschaffenen Gestalt, und das im
Strome der Überproduktion ertrinkende Publikum weiß in der Regel so wenig,
ans welcher Quelle die interessantesten Situationen und Charaktere eigentlich
stammen, daß es für den besseren Schriftsteller nahe liegt, sich durch jene geist¬
volle Belebung der Schilderung und der Gespräche, welche der äußerlichen Nach¬
ahmung unerreichbar ist, vor Verwechselungen zu schützen. Wir fürchten, daß
eine künftige Zeit den Gewinn, den die Literatur auf diese Weise macht, minder
hoch anschlagen wird, als dies die Gegenwart thut. Inzwischen sind wir zu
sehr Kinder unsrer eigne» Tage, um uns nicht inmitten der Verwilderung, des
brutalen Naturalismus, der konventionellen Wiederholung des tausendmal da¬
gewesenen, an Lebensbildern zu erfreuen, welche aus der Fülle der Erscheinungen
(auch der anmutigen, anziehenden) geschöpft, von der poetischen Frende um der
Mannichfaltigkeit und Eigenart der Erscheinungen bewegt sind. Dies ist bei
Fontanes kleinern Romanen mehr oder minder immer der Fall — wir begrüßen
sonach auch den neuesten derselben, „Cecile," mit Teilnahme.
Die erste Frage bei einem Romane bleibt: was erzählt er uns? Wir ver¬
lassen mit einem eigentümlichen Paare, dem Obersten a. D. von Se. Arnaud,
einem hohen Fünfziger, und seiner dreißig Jahre jüngeren schönen Gattin, der
Titelheldin, Berlin an einem Sommermorgen und werden nach der bei Ber¬
linern besonders beliebten Sommerfrische, nach Thale ins „Hotel Zehnpfund"
geführt. Das Se. Arncmdsche Paar macht hier bereits am zweiten Tage die
Bekanntschaft eines Herrn von Leslie-Gordon, der früher preußischer Pionier¬
offizier gewesen ist und gegenwärtig als Zivilingcnieur im Dienste eiuer großen
Kabellegungsgesellschaft gleichfalls im Harze einige Erholuugstage sucht. Vom
ersten Augenblicke an fühlt sich Herr von Gordon von der anmutigen und
etwas rätselhaften jungen Frau angezogen er spürt allerdings, daß ihre
ganze Natur auf Huldigung und Pikanterie gestellt ist. „Der Eindruck, den er
von diesem feinsinnlichen Wesen hatte, war aber ein angenehmer, ihm überaus
sympathischer, und eine lebhafte Teilnahme, darein sich etwas von Wehmut
mischte, regte sich plötzlich in seinem Herzen." Der welterfahrene, in der besten
Gesellschaft aufgewachsene junge Mann errät und empfindet in der ersten Stunde
der Begegnung und noch entschiedener bei den Ausflügen, die uach Qued¬
linburg und Altenbrak unternommen werden, daß ein Geheimnis um den
Obersten und seine Frau, namentlich aber um die letztere, schwebt, er schließt
aus gewisse» kleinen Erlebnissen und Eindrücken, daß ein Schatten aus dem
Vorleben Cannes in ihr gegenwärtiges Leben sällt. Die eigentümliche Bildung
und Vornehmheit einerseits, die auffallende Unbildung der schönen Frau ander¬
seits erwecken in ihm das Verlangen, ihre Geschichte kennen zu lernen, und da der
Herr Ingenieur eine Schwester in Schlesien hat und die Vergangenheit der
Se. Arnauds zum Teil dort liegen muß, so schreibt er an die Schwester und
drückt in dem Briefe sein volles Interesse an Frau Ceeile und ein gewisses Mi߬
behagen an ihrem Gemahl aus. Ehe er irgend eine Antwort erhalten kann, aber
nicht ehe sich bei ihm die Teilnahme für die schöne Frau zu einer ihm selbst be¬
denklich erscheinenden Höhe gesteigert hat, wird Herr von Gordon aus Thale
hinweggerufen. Er versagt sich nicht, Frau Ceeile zu schreiben und das
Se. Arnaudsche Paar ein paar Monate später in Berlin aufzusuchen. Der
Eindruck, den er von der Existenz der schönen Frau und ihres Gatten empfängt,
gestaltet sich immer wunderlicher. Der Oberst, den er, bei allem Respekt vor
der Schneidigkeit und Strammheit des ehemaligen Gardesvldaten, schon in Thale
als einen „Jen-Oberst" angesehen hat, lebt nicht nur in seinem Klub, wo hoch
gespielt wird, mehr als daheim, er hat auch in seinem Hause kaum irgend welchen
andern Verkehr als mit Mißvergnügten, mit jenen gescheiterten Strebern in Uni¬
form und Zivil, welche die natürliche Oppositionslust der Reichshauptstadt bis
zu wirklicher Gefahr vergiften. Und während Gordon noch zwischen Lachen und
Entrüstung über den Ton schwankt, den er an der Tafel Se. Arnauds vernommen
hat, trifft die längst erwartete Auskunft über die Geschichte der schönen Frau
ein. Aus Schlimmes gefaßt, wird er von dem, was er erfährt, doch beinahe
überwältigt. Der Brief der Schwester und die Zuschrift einer Freundin an
diese Schwester lassen Gordon keinen Zweifel darüber, daß Ceeile aus einer
verarmten halbpoluischeu Adelsfamilie von Zacha stammt und bereits in ihrem
siebzehnten Jahre „Vorleserin" bei dem alten Fürsten von Welfen-Ensingen
geworden und in dessen Testament mit einem Gute bedacht worden ist, das
Schloß des Fürsten aber nicht verlassen hat, sondern auf Wunsch seines Neffen,
des Fürsten Bernhard, in nndefinirter Stellung dort verblieben ist. Erst nach
dem Tode auch des letzteren ist sie in das Haus ihrer Mutter nach Schlesien
zurückgekehrt, in welchem Hause anch der Oberst Se. Arnaud, zum Regiments¬
kommandeur eines oberschlesischen Regiments ernannt, Wohnung genommen hat.
Der Oberst verlobte sich mit der jungen Schönheit, „drei Tage nach der Ver¬
lobung empfing er einen Brief, worin ihm Oberstleutnant von Dzicilinski, der
älteste Stabsoffizier, vonseiten des Offizierkorps und als Vertreter desselben die
Mitteilung machte, daß diese Verlobung nicht wohl angänglich sei. Daraus
entstand eine Szene, die mit einem Duell endete. Dzialinski wurde durch die
Brust geschossen und. starb vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden." Der
Oberst hat die ihm zuerkannte Fcstuugsstrafe verbüßt, den Abschied genommen
und Fräulein Ceeile Worvuesch von Zacha doch geheiratet, wie der seitherige
Verlauf der Geschichte zeigt. Gordon steht wie vom Donner gerührt. Dieser
Schlag ging doch über das Erwartete hinaus. Fürstengeliebte, Favoritin in
cluxlv, Erbschaftsstück von Onkel auf Neffe! Und doch sagt er sich rasch genug:
„Groß gezogen ohne Vorbild, ohne Schule, nichts gelernt, als sich im Spiegel
zu scheu und eine Schleife zu stecken. Sie hat sich dies Leben nicht ans-
gesucht, sie war darin geboren, sie kennt es nicht anders, und als der lauge
erwartete kam, nach dem man vielleicht schon bei Lebzeiten des Vaters aus¬
geschaut hatte, da hat sie nicht nein gesagt. Woher sollte sie dies „nein" auch
nehmen? Ich wette, sie hat nicht einmal an die Möglichkeit gedacht, daß man
auch „nein" sagen könne; die Mutter hätte sie für närrisch gehalten und sie
sich selber auch." Gordon setzt also seine Besuche bei den Se. Arnauds fort,
oder vielmehr er macht eiuen Besuch, bei dem er Canna leidend antrifft. Und
die Dinge, die er inzwischen erfahren hat, äußern seinem besten Willen zum Trotz
eine geheime Wirkung, er schlägt einen Ton gegen die schöne Frau an, der sie
zu der Beschwörung veranlaßt: „Nein, Herr von Gordon, uicht so. Bleiben
Sie mir, was sie waren. Machen Sie mir mein Leben leicht, statt es mir
schwer zu mache», stehen Sie mir bei, helfen Sie mir in allem, was ich soll
und muß, und täuschen Sie nicht das Vertrauen, oder wozu soll ich es ver¬
schweige», das herzliche Gefühl, das ich Ihnen von Anfang an entgegenbrachte."
Und sie sagt ihm weiter, daß sie Schuld genug gesehen und bei einer bestimmten
Gelegenheit sich geschworen habe, keine Schuld weiter auf sich zu laden. Gordon
fühlt, daß sie Recht hat, und er fühlt es noch mehr, als ihm ein Brief der
schönen Fran die Pflicht der Trennung nahe legt. Er entschließt sich auch,
auf der Stelle abzureisen. Er hofft wieder nach Indien geschickt zu werde»
und auf de» Schuecpässeu des Himalaha ohne Schuld und Vorwurf an die
schöne Frau deuten zu können; statt dessen reist er kaum eiuen Monat später
abermals nach Berlin zurück. Er besticht eine Vorstellung des „Tannhäuser"
im Opernhause, und gewahrt hier zu seinemund ihrem Verhängnis Cccile, die
mit einem Geheimrat Hedemeyer (den er in Se. Arnauds Hause kennen gelernt
hat und der ohne Frage die widerwärtigste der dort verkehrenden bedenklichen
Persönlichkeiten ist) in einer Loge sitzt. Bei diesen? Anblick vergißt Herr von
Gordon, wie die Dinge liege«, daß Frau vou Se. Arnaud die Huldigungen
des Geheimrates, der ihrl gleichgiltig und unsympathisch ist, leicht nehmen und
hinnehmen kaun, während sie seine, Gordons Huldigungen, wie sie ja ehrlich
eingestanden hat, fürchten muß. Eine Art Schwindel, ein Gefühl tollster
Eifersucht überkommt ihn, er wirft hinter sich, was er von dieser Frau weiß,
und hat nur die eine wahnsinnige Furcht, der Betrogene zu sein, der ritterlich
und ehrlich resignirt hat, während der hämische, spitze, frivole Geheimrat der
Beglückte ist. So thut er nnverantworliche Dinge, er sucht Frau vou
Se. Arnaud in ihrer Loge, dann noch am späten Abend in ihrer Wohnung ans
und beleidigt sie, obschon sie noch einmal aus ihrer innersten Seele heraus zu
ihm spricht. Er hat eben den Glauben und das Vertrauen zu ihrer bessern
Natur, ihre» edleren Vorsätzen verloren, welche er vorher besesse». Die Strafe
für sei» unritterliches Verhalten ereilt ihn auf dem Fuße. Herr von Se. Ar¬
naud, welcher vou dem Auftreten seines Bekannten Kenntnis erhält, hat, wie
bei dieser Gelegenheit zu Tage tritt, Herrn von Gordo» schon längst gehaßt,
nicht weil er eifersüchtig ist (er schreibt noch zuletzt geringschätzig ein seine Frau:
„Daß du mit ein paar Herzensfasern an ihm hingst, weiß ich, und ^es^ war mir
recht — eine junge Fran braucht dergleichen!"), sondern weil Herr von Gordon
dem höhern Range, der größern Geltung des Obersten nicht den nötigen Re¬
spekt gezollt, die freie Unbekümmertheit des Weltfahrers ihm gegenüber an den
Tag gelegt hat. Der Oberst schreibt Gordon einen Brief, auf welchen nnr ein
Pistolenduell folgen kann, und erschießt den anmaßenden Ingenieur, reist denn
sehr behaglich nach Nizza ab und schreibt von dort aus einen Brief an seine
Frau, welcher in dem Satze gipfelt: „Nimm das Ganze nicht tragischer als
nötig, die Welt ist kein Treibhaus für überzarte Gefühle." Frau Cecile hat
aber doch dergleichen, es überwältigt sie, daß wieder ein Mensch als Opfer ihrer
unseligen Schönheit und ihrer unseligen Vergangenheit gefallen ist, sie vergiftet
sich und sucht Zuflucht und Ruhe im Tod.c.
Dies wäre ungefähr das „Was." Aber das „Wie" fällt hier unendlich
schwerer ins Gewicht, als bei hundert andern Erzählungen. Fontanes Roman
spielt, da der französische Begriff der „Halbwelt" auf ihn ganz unanwendbar
ist, in einer „Scitenwelt" dessen, was sich große Welt nennt. Mit glücklichem
Blick und Geist hat der Verfasser eine ganze Reihe von Schicksalen und
Existenzen, die von Hans aus ohne Zusammenhang erscheinen, ans einen Punkt
gesammelt, der Roman erweckt jene Doppelempfindung, daß uns alles, was
Fontane erzählt, neu ist, und daß wir doch alles schon erlebt haben. Jeder hat
ein- oder einigemale in seinem Gesichtskreis Erscheinungen wie die Se. Arnauds
auftauchen sehen, jeder ist im gesellschaftlichen Lebe!, um die Menschen gestreift,
die sich im Salon Cecile's versammeln. In der Regel ist es „jedem" nicht
so gut geworden, wie Herrn von Gordon, das Geheimnis der frühern Geschichte
der schönen Frau durch eine sorgliche, wohlerfahrene Schwester aufgeklärt zu
erhalten, indes auch Herrn von Gordon wäre es, wie der Verlauf des Romans
zeigt, ja besser gewesen, weniger und etwa uur das zu erfahren, was der Hof¬
prediger Döcffcl ihm über Cecile von Se. Arnaud mitteilen könnte! Im Ernst
gesprochen: die Wiedergabe eines eigentümlichen Stückes Leben, die allmähliche
Aufhellung der Verhältnisse und die Zuspitzung derselben zu einem tragischen
Ende ist mit großer Meisterschaft behandelt. Alles erschließt lind verknüpft
sich leicht, ungezwungen, höchst anspruchslos, der freie Fluß der Erzählung
erscheint beinahe nirgend gehemmt, alle Gestalten bis auf die der gutmütigen
Malerin und des Hvfprcdigers sind mit lebendigster Deutlichkeit gezeichnet. Der
Ton des gesellschaftlichen Kreises, in welchem die Geschichte Ceeiles und Gvrdons
verläuft, ist mit sicherer Lcbeuskcnutnis und guter Haltung wiedergegeben, alles
stimmt und wirkt zum Ganzen. Jede Episode hat ihre eigne Bedeutung, und
mit großer Feinheit sind Menschen wie der Präzcptvrwirt von Altenbrak
und dessen Tochter, die junge Förstersfrau, in gewissen Augenblicken den handelnd
wie leidend dem Untergang entgegentreibenden Hauptgestalten gegenübergestellt.
Fontanes Abneigung gegen alles Gemachte, Arraugirte, sein Wunsch, in pla¬
stischer Einfachheit die Dinge sprechen zu lassen, kann ihm bei gewöhnlichen
Lesern selbst schaden. Der Schlüssel zum ganze» Roman liegt in der letzten
längern Ansprache, welche Ceeile an Gordon richten muß: „Sie haben eines
schönen Tages die Lebensgeschichte des armen Fräuleins von Zacha gehört —
und diese Lebensgeschichte, so wenigstens glauben Sie, giebt Ihnen ein Anrecht
auf einen freieren Ton, ein Anrecht ans Forderungen und Rücksichtslosigkeiten,
und hat Sie veranlaßt, an diesem Abend einen doppelten Einbruch zu versuchen,
jetzt in meinen Salon und schon vorher in meine Loge. Nein, unterbrechen
Sie mich nicht, ich will alles sagen, auch das Schlimmste. Nun denn, die
Gesellschaft hat mich in den Bann gethan, ich seh' es und fühl' es, und so leb'
ich denn von der Gnade derer, die meinem Hause die Ehre anthun. Und jeden
Tag kann diese Gnade zurückgezogen werden, selbst von Leuten wie Rossow
und der Baronin. Ich habe nicht den Anspruch, den andre haben. Ich will
ihn aber wieder haben, und als ich, auch ein unvergeßlicher Tag, heimlich und
voll Entsetzen in das Hans schlich, wo der erschossene Dzialinski lag und mich
mit seinen Totenaugcn ansah, als ob er sagen wollte: »Du bist Schuld,« da
hab' ich's mir in meine Seele hineingeschworen, nun, Sie wissen, was. Und ob
ich in der Welt Eitelkeiten stecke, heut und immerdar, eines dank' ich der
neuen Lehre: das Gefühl der Pflicht. Und wo dies Gefühl ist, ist auch die
Kraft." Und der Schlüssel liegt weiter im Eingeständnis Gordons in seinem
letzten Briefe: „Ein berühmter Weiser, ich weiß nicht, alter oder neuer Zeit,
soll einmal gesagt haben: Wir glaubten und vertrauten nicht genng, und das
sei der Quell all unsers Unglücks und Elends. Und ich fühle jetzt, daß er Recht
hat. Ich hätte, statt Zweifel zu hegen und Eisersucht groß zu ziehen, Ihnen
vertrauen und der Stimme meines Herzens rückhaltlos gehorchen sollen."
Aber nicht jeder Leser wird das Verständnis der Hauptmotive davontrage«,
die Kunst der Episode, welche Fontane so fein durchgebildet hat, kann dem
letzten beabsichtigten Eindruck störend werden.
Wie dem immer sei, die künstlerische Reife, die geistige Belebung, die Vor¬
trefflichkeit der Ausführung verdienen das höchste Lob. Trotz alledem bleibt der
Eindruck von „Ceeile" herzbeklemmend. Wir dürfen mit unsern Dichtern nicht
rechten, wenn sie mit so viel Ernst und so warmem Anteil ein modernes Menscheu-
schicksal heraufbeschwöre». Aber es ergeht uns dabei doch wie der armen Heldin
dieses Romans, wir „sehnen uns nach Idyll, nach Frieden und nach Unschuld."
Dem schuldigen Respekt vor der Fähigkeit des Dichters thut dies ja keinen
Eintrag.
o hat denn der Naturalismus auch auf der deutschen Bühne
seinen Umzug begonnen. In den ersten Tagen des Juni wurden
die Berliner durch die Anzeige überrascht, daß die Truppe des
Herrn Direktor Kurz sie mit den Schicksalen der Therese Naquin
bekannt machen wolle. Aber merkwürdig: obwohl Zola einer der
gelesensten Schriftsteller in Deutschland ist und unsre Zeitungen immer von
neuem beschäftigt, war der Erfolg des Stückes durchaus ungünstig; und was
noch merkwürdiger ist: der erste Notschrei des geängstigten deutschen Gewissens
erfolgte aus den Spalten des Berliner Tageblattes heraus, welches, aufs ge¬
schmackvollste in den Mantel sittlicher Entrüstung eingehüllt, in kurzen Posaunen-
stößen gegen diese Entweihung der Kunst Einspruch erhob. Wer wird nun dem
Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater seine Würde wiedergeben, wo bis dahin
nur die allerleichtfertigste Mustk, wo nur die allcrzotigsteu Verwicklungen und
die seichtesten Witze vom Berliner Publikum und den Kritikern des Berliner
Tageblattes mit Hochgenuß verdaut worden waren? Dieses Publikum hatte
am ersten Abend, soweit es „vornehm" war, gezischt; nur die hintern Bänke
hatten Beifall geklatscht. Als wir acht Tage darauf Therese Naquin uns an¬
zusehen versuchten, hatten sich im ganzen nur vierzig bis fünfzig Zuschauer ein¬
gefunden, die ziemlich lebhaft Beifall klatschten, was aber nach dem Ausspruche
des Berliner Tageblattes nicht mehr ins Gewicht fallen kann; mittlerweile
ist die unglückliche Person, und sehr wahrscheinlich für immer, von der Bühne
verschwunden.
„Therese Naquin" ist kein Stück, welches zur Erbauung oder auch nur zur
Erholung der Menschen geschrieben wurde. Es ist ein Wagnis, ein neuer
Versuch, die Berechtigung des Häßlichen in der Kunst nachzuweisen. Es scheint
anderseits dem Bemühen entsprungen, von der Bühne her geradezu belehrend
zu wirken, d. h. gewisse Zuschauer mit Dingen bekannt zu machen, von denen
sie nicht wissen, aber wissen sollten, und insofern ist es als ein höchst sittliches
Stück zu bezeichnen. Die Qualen, die des Verbrechers harren, werden mit
einer solchen psychologischen Genauigkeit, d. h. mit einer solchen Unerbittlichkeit
dem Lauschenden vorgeführt, daß jeder, der den Versucher in seiner Brust trägt,
nur mit Entsetzen und tief erschüttert das Theater verlassen kann. Zola ist
-eben keiner von den Schriftstellern, welche die Tugend philiströs, das Laster
reizend darstellen, die uns glauben machen möchten, daß wahre Leidenschaft
und Reinheit unvereinbar seien, daß jede rechtschaffene Frau von irgend einer
gründlich abgeliebten Courtisane an Edelmut und Herzensgüte übertroffen würde,
Wie das seine Landsleute so oft versuchen. Es steht zudem kein Wort in
„Therese Raquin," das an sich durch seine Rohheit verletzte; auch sind keine Ein¬
zelheiten geboten, die an sich schon schlüpfrig und gemein wären; insofern kann
man schlechterdings nicht davon reden, daß der Verfasser im Schmutz wühle,
wie in seinen Romanen. Aber während er die Schuld jedes Reizes entkleidet,
entsteht die Frage, ob es die Aufgabe der Kunst sein könne, abzustoßen, ob die
Schaubühne aufhören dürfe, ein Ort der Unterhaltung zu sein, um eine Stätte er¬
barmungsloser Belehrung zu werden. Schiller hat sich gegen die Schaubühne
als „moralische" Anstalt erklärt; ein Stück solle vor allen Dingen gefallen, dann
habe es sehr viel mehr Aussicht, die Menschen zu heben; aber in einer Zeit,
wo so viel versucht wird, wo man den plastischen Kunstwerken Farbe giebt, wo
auch Danneckers Ariadne vielleicht einmal bemalt werden wird — da darf
vielleicht auch ein Dramatiker einen Versuch wagen und darf verlangen, daß
man sich damit beschäftige.
Der erste Eindruck, den man empfängt, wenn der Vorhang vor „Therese
Raquin" aufgegangen, ist unheimlich. In einem spießbürgerlich ausgestatteten,
engen, düstern Gemach sitzt ein bleich aussehender, fröstelnder junger Mann
einem Maler Modell, schwatzt unaufhörlich in erregter, hypochondrischer Art,
und ein junges Weib sitzt daneben, mit starr ins Leere gerichteten Augen, und
sagt ab und zu auf eine Frage, die dringlich an sie gerichtet wird, ein trost¬
loses, blechernes „ja," ohne sich zu rühren. Die Langeweile, die beklemmendste
Langeweile brütet über diesem Bilde; doch unsre stille Frage, was in dieser
jungen Frau wohl vorgehen, welchen Gedanken sie wohl nachhängen, welch ein
Meer von bösen Leidenschaften in ihrem Innern vielleicht branden möge, wird
bald beantwortet. Der Ehemann, der Abgebildete, ist ausgegangen, der Maler
kommt heimlich zurück, und im Dunkeln spielt eine Liebesszene zwischen dem
Paar, mit Geständnissen und Küssen, mit so unverhohlener Seufzern und
Klagen, daß uns der Atem der Sünde bedrückend heiß daraus entgegenweht.
Der Plan, sich frei zu machen, wird gefaßt. Dann kehrt der Ehemann mit
einer Flasche Sekt zurück, ein paar köstlich gezeichnete Spießbürger, Haus¬
freunde der Familie, kommen dazu, machen sich durch ihre Trivialitäten und
kleinen Eitelkeiten lächerlich, und der Vorhang fällt über einer Dominopartie.
Wie er im zweiten Akte wieder aufgeht, sitzt die Partie wieder beisammen;
die Trauerkleider der beiden Frauen, der Mutter und der Gattin, und eine un¬
heimliche Lücke belehren uns, daß der hüstelnde Ehemann beseitigt ist. Auf
einer Kahnpartie mit dem erwähnten Paare ist er ertrunken; der Maler, der
sich so viel Mühe gegeben hat, ihn herauszufischen, hätte beinahe die Rettungs¬
medaille bekommen; die Mutter kann sich nicht trösten; sie hat den armen
Jungen sehr geliebt. Ein kleiner Backfisch ist auch dabei; die Figur an sich
ist von harmloser Anmut und könnte unter Umständen recht wohl einen Licht¬
blick in dem düstern Ganzen bilden. Der Akt schließt damit, daß der Maler
die junge Witwe heiraten soll — so plänkelt es die Hausfreunde im Interesse
ihrer größern Bequemlichkeit —, die Mutter willigt ein, und mit dem nächsten
Akte beginnt dann die eigentliche Tragödie.
Wir sehen das Paar nach der Trauung; der Schatten des Ermordeten
steht unaufhörlich zwischen ihnen. Jede Vertraulichkeit ist längst unmöglich ge¬
worden; die Frau hat einen Abscheu vor dem Mörder; seine Glut widert sie
an; er wird des ersehnten Glückes nicht teilhaftig. Sie versuchen mit gemachter
Geschäftigkeit Alltägliches zu besprechen — des Morgens um vier Uhr —, es
mißglückt immer von neuem; dann ist die Frau einen Augenblick allein, Todes¬
angst überkommt sie, es ist grauenerregend, alles, bis zur Rückkunft ihres Ge¬
liebten durch den früher so oft benutzten Eingang. Endlich sprechen sie doch
von dem Toten, wie er ausgesehen in der Morgue, ihre Gedanken fallen auf
das Bildnis dort über dem Schranke, der Tote starrt sie an, sie versuchen das
Bild zitternd herabzureißen, die Mutter kommt dazu, belauscht sie und wird
vom Schlage gerührt.
Der vierte Akt ist der schauerlichste. Die gelähmte Frau sitzt mit offenen,
anklagenden Augen sprachlos da, eine furchtbare Rächerin. Die Qual der
Leiden ist maßlos gesteigert, jedes ist dem andern zur Last, gegenseitige An¬
klagen, Zank und Hader folgen. In einer meisterhaft geführten Szene ist die
immer wiederkehrende Entgegnung des jungen Weibes ein blechernes, eigen¬
sinniges: Du hast ihn gemordet — du hast ihn gemordet! Der Mann wird
wütend. Sie soll ihren Teil an der Schuld auf sich nehmen; sie thut es
nicht. Er will sich angeben, aber er ist zu feig dazu, und sie verhöhnt ihn.
Die Nachbarn kommen wieder, die Gelähmte beginnt zum Entsetzen der Zu¬
schauer mit krampfhaft zitternder Hand auf den Tisch zu schreiben: „Element
und Therese haben .. .," da sinkt der Arm herab. Der eine ergänzt: haben
ein gutes Herz, haben mich so treu gepflegt. Schließlich gewinnt die Ärmste
auch die Sprache wieder, und zu ihren Füßen sterben die Schuldigen an Gift.
Es ist Entsetzen auf Entsetzen gehäuft, verführen kann das nicht. Aber
ist es erlaubt? Wir möchten es nicht unbedingt verneinen, wenn auch die Zahl
der Menschen, die solchen Vorgängen ein ästhetisches Interesse abgewinnen
könnten, bei uns in Deutschland noch auf lange hinaus verschwindend klein
bleiben wird. Besonders der deutsche Philister liebt es, wenn alles recht schön
und edel auf der Bühne zugeht; dann geht er tief befriedigt, mit gewölbtem
Brustkasten, in dem stolzen Bewußtsein heim, was für außerordentlich vortreff¬
liche Exemplare das Ahrens uno-aum doch aufweise, und bleibt selber so ge¬
wöhnlich, wie er immer war. Wo er aber gezwungen wird, den Ausbrüchen
der Herzensrohheit beizuwohnen, ohne daß eine klingelnde Narrenkappe ihre
Häßlichkeit dämpft und übertönt, da wird er unruhig und stöhnt über die Ent¬
würdigung der Bühne.
Junge Gemüter können natürlich ein gutes Teil Schönfärberei vertragen;
die Anforderung, daß die Kunst vor allem wahr sei, stellen doch nur die
Wenigsten. Besonders erstaunlich ist es, welches Maß von langweiligem
Bombast, von Übertreibung und Schwulst man einem deutschen Publikum nach
wie vor in Versen aufbinden kann. In „Therese Raquin" sind wir, obwohl das
Zusammenleben des schuldigen Paares die peinlichen Schrecken des „Macbeth"
mitunter noch überbot, mit Teilnahme und nicht ohne ästhetische Befriedigung
dem Gange des Stückes gefolgt, weil die Gestalten ihre eigne natürliche Sprache
redeten, weil vieles mit bewundernswerter Genauigkeit der Wirklichkeit abge¬
lauscht, weil die Begründung logisch und voll dramatischen Lebens, weil die
Charakteristik überaus reich und gelungen war. Nur der Schluß, wo die vom
Schlage gelähmte Frau im gegebenen Augenblick ihre Sprache und ihre Be¬
weglichkeit, soweit der Dichter es braucht, wiedererlangt, erschien uns als un¬
wahr, da wir das Glück oder das Unglück hatten, das medizinische Staats¬
examen gemacht zu haben. Dergleichen kommt nicht vor. Im übrigen mußte
die Handlung jedem, der dem Studium des menschlichen Herzens ernstlich nach¬
geht, von hoher Bedeutung sein, und die ablehnende Haltung unsers Publikums
dürfte lediglich den Beweis liefern, daß es noch immer durch die Vorgänge
allein, nicht durch ihre Begründung, durch ihre dramatische Notwendigkeit und
Wahrheit sich fesseln oder abstoßen läßt, daß in Bezug auf die Übereinstimmung
zwischen Form und Stoff sein Urteil noch immer haltlos umherschwankt. Wie
es Leute giebt, die bei vollkommen ungeschmälerter Empfänglichkeit das leicht¬
fertigste Buch lesen können, ohne etwas andres dabei zu empfinden, als die
Feinheit des Witzes und die Reinheit des Stils, mit der es geschrieben worden,
so werden Rohere in „Therese Raquin" nichts weiter sehen als eine Häufung von
Gemeinheit und Verbrechen, das künstlerische Problem an sich wird ihnen durch¬
aus gleichgiltig bleiben. Nur in einem Sinne ist diese Teilnahmlosigkeit er¬
freulich; Hütte das Stück heute einen großen Zulauf gehabt, so hätte das sicher
nicht auf eine plötzliche Steigerung künstlerischen Verständnisses, sondern jeden¬
falls nur aus die Unfähigkeit hingedeutet, sich an harmloseren Unterhaltungen
zu vergnügen. Man hätte „Therese Raquin" aufgesucht, wie ein Tertianer die
unsauberen Stellen in der Bibel nachliest, ohne von dem hohen Ernst dieses
unvergleichlichen Buches eine Ahnung zu haben.
Zum Schluß möchten wir noch einen Punkt erwähnen, nur um ihn er¬
wähnt zu haben, das ist der Widerspruch zwischen der augenscheinlichen Herzens¬
härte der Schuldigen und ihrer späteren Gewissensqual. Dies ist auch der
Punkt, wo der Vergleich mit Macbeth schief wird. Macbeth war ein Held,
ein Großer der Erde, und er erjagte sich eine Krone; sein Weib war das ehr¬
geizigste Geschöpf, das je einen Mann zu grausamer Energie gespornt hat; der¬
gleichen ist, wenn auch nicht verzeihlich, doch immerhin begründet. Wie kommt
aber ein Kleinbürger, der niemals seine Seele mit hohen Gedanken genährt hat,
wie kommt er dazu, einen andern zu Gunsten seiner eignen, persönlichen, jämmer-
lichen Eigenliebe zu töten? Darf man diesen niedrigen Mördern und ihren
Gesinnungsgenossen unter den Zuschauern die Genugthuung verschaffen, ihre
Begierden und ihre Konflikte als erwähnenswert hinzustellen und einem Publikum
vorzuführen? Wird das nicht eher zur Nachfolge aufmuntern?
Die Juristen behaupten, daß viele Verbrechen geradezu aus Eitelkeit be¬
gangen würden. Aber wir glauben wirklich nicht, daß die Darstellung Zolas
irgend einen verleiten könne. Der bleiche Schreck ist zu mächtig, die Folter
der Schuldigen zu sinnfällig. Im übrigen hat der Dichter auch nach der andern
Richtung hin die Handlung vortrefflich motivirt. Das Paar ist gerade fein
genug angelegt, um die Folgen seines Beginnens schon vor der Ausführung
ahnen zu können; der Mörder zwar ein Windbeutel und bloßer Büreauarbeiter,
aber ein Maler von Beruf, mit einer beweglichen Phantasie, und er kennt,
wenn nicht den Ehrgeiz, so doch die Leidenschaft. Die Frau endlich, die Sünderin,
trägt ein wildes Herz in der Brust, das durch die meisterhaft gezeichnete Enge
der Dachstube, in der sie hausen muß, in der ganzen öden Umgebung und
besonders auch durch den hypochondrischen, schwächlichen Gatten zu einer un¬
bändigen Ungeduld gestachelt worden ist. Spricht vieles dafür, daß der gemeine
Mann auch in vollkommen stumpfer Gemeinheit zu morden pflegt, um wenige
Minuten darauf in ungetrübter Heiterkeit mit den andern sich zu Tische zu setzen,
so waren Element und Therese Raquin doch gerade gebildet genug, um einen
bösen Entschluß nicht bloß zu fassen, sondern auch zu bereuen.
Die Darstellung war vortrefflich. Die beiden alten Spießbürger konnten
kaum besser gegeben werden. Die Heldin des Stückes fand in einem jungen
Gast, Fräulein Ziegler, eine besonders durch ihre verhaltene Leidenschaft oft
überraschend wirkende Darstellerin. Der hüstelnde, geschwätzige Ehemann wurde
gut charakterisirt, auch der leichtsinnige Maler war nicht ohne urwüchsige Natür¬
lichkeit. Herr Direktor Kurz hat sich durch seinen Versuch ein wirkliches Ver¬
dienst um die Kunst erworben; in seinem Interesse ist es zu bedauern, daß nur
die Kritiker und die Schriftsteller den Vorteil davon gehabt haben, insofern sie
die Technik Zolas kennen lernen durften.
er von den Lesern dieser Zeilen sich noch der Zeiten erinnert,
wo in den stattlichen Räumen des Hotel de Pologne in
Leipzig alljährlich um Advent ein großer Bazar eröffnet wurde,
der wird das Gefühl verstehen, mit dem wir Kinder dieser Stadt
jenem Ereignis entgegenschauten. Ein jeder von uns wußte schon
von dem vergangenen Jahre her, was er hier zu erwarten hatte. Wenn aber
nun wirklich der Tag kam, wo wir jene Räume betreten durften und nun all
die Korridore und Stuben und Säle mit den vielen wunderbaren Dingen in
Hellem Lichterglanze sich vor uns aufthaten, da schien es uns gerade, als wenn
wir alles dies noch gar nicht gekannt hätten, so sonderbar und märchenhaft
ward uns zu Mute. Eine geheiligte Stätte, nach der es uns immer vor allem
zog, war eine schmale Galerie in einem größern Saale, zu welcher eine enge,
steile Treppe emporführte, etwas abgelegen von dem bunten Treiben der übrigen
Verkaufsstände. Dort stand ein kleines Theater mit einem großen, rotgemalten
Portal und einem phantastischen Vorhange, vor ihm eine Reihe niedriger Holz¬
bänke und ein altes, wackliges Klavier. Nur zu gewissen Stunden am Nach¬
mittag und Abend eröffnete dieses Theater seine Vorstellungen. Um uns aber
einen guten Platz zu sichern, saßen wir Kinder oft schon eine Stunde vor Be¬
ginn, mit einer diesem Alter sonst nicht eignen Geduld, auf den harten, höl¬
zernen Bänken, unsre Phantasie einstweilen mit sinnendem Bewundern des Vor¬
hanges beschäftigend, auf dem so viel seltsame Figuren und Verzierungen in
grellen Farben gemalt waren.
Aber was ist das nur heute? Wir warten und warten, und noch immer
bleibt alles still auf dem kleinen Theater. Einige der zu unsrer Begleitung
erschienenen Erwachsenen bekunden schon die lebhafteste Langeweile und zeigen
nicht übel Lust, wieder zu gehen, wogegen natürlich aufs lebhafteste protestirt
wird. Da endlich ein Anfang! Die Seitenwand des Portals teilt sich, ein
kleiner, freundlicher alter Mann schlüpft hervor und setzt sich an das Klavier,
und unter seiner Hand erklingt von den verstimmten, scharf tönenden Saiten
eine aus Großvaters Jugend stammende Polka. Nach mehrfachen eintönige»
Wiederholungen, in denen sich der Spieler mit sichtlichem Wohlbehagen ergeht,
hört er endlich auf, tritt vorn an die Bühne, nimmt seine kleine, graue Mütze
ab und verkündet mit weicher, aber lauter Stimme den Beginn der Vorstellung,
vergißt auch nicht, vorher noch die liebe Jugend zur Ruhe zu ernähren, damit
sie alle den Sinn des Stückes richtig verstehen. Die Klingel ertönt, und in
die Höhe schwebt die rote Wand, die uns von dem Wunderbaren trennte.
Ja, das mußten wir uns gestehen, als es aus war: das war etwas Wunder¬
bares; es war beinahe das Wunderbarste, was wir je gesehen hatten, und sicher das
Seltenste und Schönste von dem ganzen Tage. Keines von uns dachte da an
Puppen und Fäden und Drähte. Für uns waren das nur lebende Wesen wie
wir! Vor allem dieser kleine lustige Mensch, den sie Kaspar riefen! Der be¬
wegte sich doch gar zu behend und geschickt, ja er machte wirklich den Mund
auf, wenn er sprach, und lachte und verdrehte die Augen und hüpfte so lustig
in die Luft, wenn er sich freute! Der war uns aber auch von allen der liebste,
viel lieber als jener andre schwarze Mann, der sein Herr war und den er nur
immer Pflaumenmus, mein liebes Pflaumenmuselchen nannte. Der kam uns gar
zu dumm und albern vor. Aber auch der ernste, unheimliche Doktor selber, der
soviel sprach, was wir nicht verstanden (es mußte auch von einer fremden
Sprache darunter sein) und in dessen Rolle der unsichtbare Spieler hinter den
Kulissen immer am wohllautendsten und eindringlichsten deklamirte, auch dieser
gefiel uns nicht so wie jene lustige kleine Person, der Kaspar. Und wir freuten
uns darum auch von ganzem Herzen, wenn es ihm gut ging, und waren
betrübt, wenn es ihm schlecht ging. Ja wenn das Pferd oder der Drache kam
und ihn stieß oder gar beim Reiten abwarf, da hörte man wohl auch manchen
von den kleinen Zuschauern in ein ängstliches Weinen ausbrechen, das die er¬
wachsenen Nachbarn nnr mit Mühe dnrch allerhand Liebkosungen wieder zu stillen
vermochten. Und es hatte doch gewiß auch eine besondre Bewandtnis mit diesem
kleinen Menschen. Kam er denn nicht immer wieder in jedem Stück, das wir
dort sahen? Und wie er sich stets zu helfen wußte! Wie beherzt stand er gar
dem bösen roten Teufel gegenüber, vor dem selbst der mächtige Doktor zitterte!
Kurz, man mußte dem braven Burschen gut sein, und die kleine Schnur geizte
auch nicht, wenn der Vorhang herunter war, ihm mit ihren kleinen Händchen
ihre Liebe und Verehrung zu beweisen. Ja, das war eine fröhliche, selige,
gnadenbringendc Weihnachtszeit, wie das alte Lied sagt, und was das Schönste
war, der Schreiber dieser Zeilen hat sie auch mit erlebt, ist selbst mit in jenen
Räumen gewesen, hat selbst mit auf jenen alten Bänken vor dem roten Vor¬
hänge gesessen, hat selbst das schrille, klirrende Stimmchen des alten Klaviers
gehört und manches Jahr oben die Puppen auf der Bühne agiren sehen. Und
da jedes Ding seinen Anfang haben muß, so sollte denn auch diese Weihnachts¬
geschichte den Anfang der heutigen Erzählung bilden, wie sie auch in Wirklich¬
keit der Anfang derjenigen mannichfachen Erlebnisse und Erfahrungen war, von
denen ich dem geduldigen Leser einiges mitteilen will.
Ich war nahe daran, das Gymnasium zu verlassen, da fiel mir eines Tages
ein Zettel an dem Eingange des nämlichen Hauses auf, wo ich als Kind vor
dem Puppenspiel gesessen hatte, ein Zettel, der eine Faustaufführung in den
Kellerräumen desselben ankündigte. Ich konnte es nicht über mich gewinnen,
bei dieser Aufführung zu fehlen, und erkannte dort bald meine alten Bekannten
aus der Kinderzeit wieder, alle die seltsam und prächtig gekleideten bunten
Wesen, die ich früher so bewundert hatte. Auch der alte Mann mit dem
freundlichen Gesicht war noch dabei. Er hatte sich, wie mich dünkte, gar nicht
verändert, und auch seine Stimme war noch so klar wie früher, denn er be¬
herrschte einen Abend hindurch den ganzen Raum, und wie es schien, ohne jede
Anstrengung. Da ich mir in der deutschen Literatur eine gewisse Kenntnis
erworben hatte, so merkte ich bald, daß seine Stücke in vielen Punkten von
dem bisher über derartige Aufführungen bekannten abwichen, und ich konnte es
trotz der poetischen Wirkung, die das Ganze auf mich machte, nicht unterlassen,
mir wenigstens bei den auffallendsten Abweichungen sofort einige Vleistift-
bemerkungen zu machen. Es blieb nicht bei dem ersten Besuche, sondern da
ich einmal die alte Neigung verspürte, kehrte ich des öfteren wieder, und so
sah ich eine Menge Vorstellungen, von denen mir außer dem eben erwähnten
Doktor Faust vor allem Gcnoveva, der verlorene Sohn und Fanny und Dur¬
mann oder der glückliche Schiffbruch, noch deutlich im Gedächtnis geblieben sind.
Als die Thcatersaison in jenen Kellerrüumen ihr Ende erreicht hatte, ver¬
schwand der alte Mann und sein Theater wieder für einige Zeit meinen Blicken.
Er mochte sich irgendwo auf dem Lande oder den benachbarten Dörfern meiner
Vaterstadt herumtreiben. Wenigstens begegnete ich dort zuweilen auf Spazier¬
gängen jenen kleinen Theaterzetteln, unter welchen der Name des mir bekannten
Besitzers zu lesen war. Aber wenn auch das vielgestaltige Treiben des Tages
eine alte Neigung noch so sehr einzuengen vermag, daß man sie nach Jahren
zuletzt gar selbst verschwunden und vergessen glaubt, ganz tilgen läßt sie sich
doch nicht; nein, gar häufig kommt sie mit einemmale aus dem Winkel, in
den man sie gedrängt hat, hervor, wächst gar bedeutend an und wird
selbst größer, als sie vorher gewesen ist. So ging es auch mir. Es war
Anfang der achtziger Jahre; der Weihnachtsbazar war ausgezogen, in
größere, neuere, modischere Räume, ohne daß er dadurch — wenigstens wie
mir schien, nach meiner früheren Erinnerung — besonders gewonnen Hütte. Da
entschloß sich auch der Unternehmer des Ganzen, den alten Liebling der Kinder¬
welt und eines gewissen Teiles der Erwachsenen wieder zu sich zu bitten, und
so schlug deun auch mein altes Puppentheater in jenen Räumen zur Weih-
nachtszeit seinen Sitz auf. Ich erhielt bald davon Kenntnis und beschloß nun,
mich mit dem alten Freunde aus meiner Kindheit persönlich näher bekannt
zu machen. Schnell führte ich meinen Entschluß aus und besuchte nun seine
Vorstellungen dort, und später an andern Orten, häufiger. So wurde ich bald
nicht nur mit den Geheimnissen seiner kleinen Bühne, sondern auch mit denen
seines Lebens vertraut. Die Zeit brachte immer mehr und mehr; ich lernte
seinen jüngeren Bruder, ebenfalls einen Puppenspieler, kennen, und so durch
diese beiden wieder andere, und ehe ich mirs versah, gewann ich einen Einblick
in jenes von mir bis dahin noch nicht gekannte, vielgestaltige Treiben der
„fahrenden Leute," das aus Holteis „Vagabunden" dem Leser in der Erinnerung
sein wird. Moderne Boudoirs waren freilich nicht die Orte, wo mich meine
Studien hinführten, sondern kleine Herbergen, Winkelkneipen der Vorstadt, Gast¬
häuser in Dörfern oder kleineren Städten und auch jener von Jahrmärkten und
Messen her bekannte stubcnähnliche Wagen, der mit einem oder zwei Pferden
bespannt die Familie der Komödianten von Ort zu Ort führt.
Es hat einen eigentümlichen Reiz, dem Gegenstande feines Interesses auf so
vielen Kreuz- und Querwegen nachzuspüren, und ich kann sagen, ich habe mich selten
getäuscht gefunden, wenn ich von einer neuen kleinen Entdeckungsreise zurück¬
kehrte. Immer brachte ich einen Gewinn mit nach Hause, sei es, daß ich eine
interessante Persönlichkeit kennen gelernt hatte, sei es,.daß ich mit besondern,
der Öffentlichkeit sich sonst entziehenden Verhältnissen vertrauter geworden war.
Es wird dem Leser eine ungefähre Ahnung geben von der Popularität, deren
sich diese Puppenbühnen auch jetzt noch immer erfreuen, wenn er hört, daß
gegenwärtig allein in Sachsen immer noch etwas über vierzig derartige Prin¬
zipale umherwandern.*) Der Großstädter ist darüber vielleicht erstaunt; kommt
ihm derartiges doch fast gar nicht zu Gesicht. Aber der Bürger der kleinen
Stadt und der Dörfler wird darin nichts Sonderbares finden, denn er kennt
ihn genau, den kleinen Bretterbau in dem bekannten Gasthause, welcher ihm
das große Theater mit den lebenden Schauspielern manchmal vollständig ersetzen
muß. Vorzüglich dem kleinen Dorfe im Gebirge, was bleibt dem anders, als
solche Puppenbühnen? Da versucht es nur höchst selten eine Schauspieler-
truppe, und wenn sie es versucht, so treibt sie die Geldnot bald wieder fort.
Aber die kleinere, weniger Ausgaben erfordernde Puppenbühne, diese kann sich
hier halten, und wenn es nicht immer baares Geld ist, so sind es doch Lebens¬
mittel für Mensch und Vieh, was man auch als „Entree" mit annimmt. Wenn
er übrigens weniger auf reichlichen Gewinn, als auf ein teilnahmvolles Publikum
sieht, so kann er manchmal ganz zufrieden sein, der Direktor dieser hölzernen
Wesen. Seine Vorstellungen sind gern gesehen, man besucht ihn stark, ja es
kommt vor, daß man vor der angekündigten Zeit schon beginnen muß, weil
kein Publikum in dem .kleinen Raume mehr Platz hat. Aber auch in den
reicheren Dörfern des platten Landes und in den kleinen Städten sind diese
Puppenspieler keine zu verachtende Konkurrenz für die Schauspielertruppen,
und wir brauchen gar nicht an jene Zeiten in London zu erinnern, wo eine
Puppenbühne um das Jahr 1675 derartige Geschäfte machte, daß die großen
Theater ihre amtliche Schließung zu bewirken sich bemühten, um den solchen Vor¬
stellungen innewohnenden Reiz zu veranschaulichen. Ein Erklärungsgrund dieser
Thatsache liegt für unsre Verhältnisse ganz bestimmt mit darin, daß das Volk
hier findet, was bei den übrigen Darstellungen bei weitem nicht so ausgeprägt
vorhanden ist, nämlich jenes drastische und komische Element, welches, aus dem
Volke stammend, dem Volke wieder entspricht und eben hier in der Figur des
Kasperle seinen originellsten Ausdruck gewinnt.
Es bringt ein gar eigentümliches Gefühl hervor, wenn man als Zuschauer
vor einer solchen kleinen Bühne sitzend der Zeiten gedenkt, wo Gottsched und
die mit ihm verbündete Ncubcrin diese Figur von dem Theater zu verbannen
sich bemühten. Wenn sie die übermütig und oft wie Unkraut wuchernden
gelten Schößlinge des Hanswurst beschneiden wollten, so thaten sie gewiß
Recht daran. Aber schlimm, wenn es ihnen gelungen wäre, den guten Stock
zugleich mit auszujäten. Nun, sie haben es nicht gekonnt; denn mit tausend
Wurzelfäden war dieser in dem mütterlichen Boden des Volkes, in dem er groß
geworden war, verzweigt. Das Beispiel der beiden, wenn auch nicht aus gleichen
Motiven entsprungen, erscheint übrigens auch heutigen Tages noch zuweilen in
ähnlicher Weise. So sind mir selbst einige Prinzipale ihrem Schicksale nach
bekannt, die den Versuch gemacht haben, den Hanswurst aus ihrem Repertoire
zu streichen. Ich kann aber versichern, daß sie es bereut haben; denn trotz
vieler nach andrer Richtung hin aufgewandten Mühe konnte es ihnen nicht
gelingen, ihr Theater auch nur für kurze Zeit in der Gunst des Publikums
zu erhalten. Es soll damit durchaus nicht gesagt sein, daß das Volk nur an
diesem Hanswurst allem Gefallen finde und z. B. ein Stück möge, in welchem
nichts als burleske Hanswurstszencn vorkommen. Dies zu glauben, wäre ganz
falsch. Nur liebt es der Sinu des Volkes, neben dem wirklichen Helden des
Stückes, zu dein es meist nur bewundernd aufblickt, auch noch einen Nebenhelden
zu haben, der, ein Gegenstück zu der Hauptfigur, seinem Empfinden näher steht
als jener, ja der eigentlich nur des Volkes eigne Gedanken und Erwägungen
bei der Handlung wiedergiebt — ähnlich dem Chor in der antiken Tragödie —
und den man daher kurzweg als die Personifikation des Volkes selbst bezeichnen
könnte. (Schluß folgt.)
das als Einleitung zum sogenannten Cerevisspiel
gesungen wird, lautet:
Lsrsvisiarn bibavt Iiomillss,
^nimslia, ostora kontss,
^.höle, g>d bruns-no
(^utturs xotas »anas.
Lie bibitur hio.
Natürlich betont man nach dem Accent, sodaß Wortton und Verston zusammen¬
fallen. Sieht man jedoch genauer zu, so findet man, daß wenigstens der zweite
Teil ein regelrechter, nach der Quantität gemessener Pentameter ist. Der Rest
aber verwandelt sich mit Leichtigkeit in einen Hexameter, wenn man anstatt esro-
visiain setzt vlna,. Und so steht es zu lesen beim Moscherosch in den satirischen
Gedichten Philanders von Sittewald (Teil 2, zweites Gesicht, Bd. 1 u. 2, S. 793,
Frankfurt, 1647). Der Verfasser erzählt da ungefähr folgendes:
Vier durstige Franzosen kommen nach Deutschland, weil sie gehört haben, daß
die Deutschen nicht mehr imstande sind, rechtschaffen zu trinken, und deshalb mit
Erlaubnis des Königs eine Trinkschule errichten wollen. Nonsiour, sagen sie unter
anderm in ihrem Kauderwelsch, tour onso ouom oxpros von ?aris dar, tour onso
Z'sin vis, of.n so Aout vin von Min v?i von al I^oirs als Kranes u. s. w. Aber
kaum haben sie ihre Absicht verkündigt, als der eine von ihnen von einer plötz¬
lichen Ohnmacht ergriffen wird, dergestalt, daß er sein letztes Stündlein heran¬
nahen fühlt. Infolgedessen erklärt er in längerer Rede, daß er sich angesichts
des Todes mit seinem grimmigsten Feinde, dem Wasser, versöhnen wolle, und be¬
schließt seine Beichte mit folgendem Bekenntnis: „Auch war das mein liebster
Spruch, den ich gelernt hatte: Vina, bitume, iwwinss, Minmlia, estsra tonlos." Zum
Beweise aber, daß es ihm ernst ist mit seiner Reue, fordert er ein Glas Wasser,
um es, was er niemals gethan hat, zu trinken. „Indem er nun — fügt der
Berichterstatter hinzu — dasselbe Glas mit Wasser an den Mund satzte und so¬
bald nit eingetrunken hatte, gab er seinen Geist auff und starb." Dann widmet
ihm einer von den anwesenden Deutschen eine Grabschrift, die folgendermaßen lautet:
Hin ligt blutta bloß
Frippon a Frcmtzoß.
Werfen, was ar that?
War a guotar prassar,
Starb doch letzt am wassar,
Ist jo jammarschad!
Die Freunde, die das hören, fangen an zu lachen und erinnern sich, ähnliche
Grabschriften der eine in Pommern, der andre in Köln gelesen zu haben. Es
sind bekannte Verse, die wir als Curiosa noch hersetzen wollen. Der angeblich in
Pommern gefundene Spruch ist folgender:
Hie liegt begraben Herr Welcher,
Ein Pfarrherr geWest ist welcher;
Er hat gelebt in Tugend und Zucht,
Ist gestorben an der Wassersucht.
Schau doch, lieber Leser frei,
Ist das nicht schad? Ey, ep!
Der andre dieser:
Hie liegt Meister Peter im grünen Graß,
Der so gern sauer Kraut aß,
Und trank gern guten Rheinischen Wein,
Gott woll seiner Seele gnädig sein.
Für unser Studentenlied scheint die vorstehende Erzählung eine etwas stark
wattirte Verpackung zu sein. Allein es schien geraten, die Geschichte, wenn auch
erheblich verkürzt, doch vollständig mitzuteilen, um im Anschluß an die aufgewor¬
fene Frage gleich ein kleines Kulturbild zu geben und nnter anderen zu zeigen,
daß die Deutschen den Franzosen nicht zu allen Zeiten im Trinken „über" ge¬
wesen sind.
G. L. Kosegarten, ist jungen Deutschen beider¬
lei Geschlechts von den Lesebüchern der Schule her bekannt. Ob er es ihnen
aber dann noch ist, wenn sie einmal das Schullesebuch zuklappen, dürfte durch
statistische Erhebungen — etwa durch Anfragen in gebildeter Gesellschaft — nur
geringe Bestätigung finden. Doch wirft dies keinen Schatten auf das Schullesebuch.
Als beredten Zeugen der klassischen Literaturzeit, dessen Gedichte fünf „Subskriptivns-
auflagen" erlebten und der von Klopstock bis zur Romantik uicht mehr und uicht
weniger als alle ihre Wandlungen mitgemacht hat, kann ihn das Lesebuch keinesfalls
umgehen. Aber für die Gestalt, für das Gepräge dieses Dichters ist es sehr be¬
zeichnend. Vergißt doch der Abiturient und die höhere Tochter nicht so leicht ihren
Fleming, ihren Hölty und manchen andern aus den untern Gegenden des deutschen
Parnasses. Bei Kosegarten dagegen, über den vor kurzem eine ausführliche Bio¬
graphie erschienen ist/') scheint weder die Literaturgeschichte, noch das im Lesebuche
etwa mitgeteilte Bruchstück der „Jukunde" oder einer sonstigen vossisirenden Ekloge
oder Hainbündlerischen Hymne imstande zu sein, auch nur das kleinste Wider-
Häkchen in das literarische Bewußtsein des mit seiner Muse gespeisten Jungdeutsch¬
lands zu schlagen, an welchem irgend eine kleine Erinnerung aus der Schule „fürs
Leben" haften könnte. Mit der Erklärung hierfür dürfte unsre Zeit der „Spe¬
zialitäten" rasch bei der Hand sein; wir hören, indem wir dies niederschreiben,
im Geiste deutlich die literarparlamentarischen Zwischenrufe, die heutzutage jedermann
niederzuschmettern meinen, der nicht seine ganz besondre — Dichterkappe aufhat oder
womöglich einem ganz besonders „innormalen" Extrem huldigt, als da sind: Farb-
losigkeit, Unnatur, toter Klassizismus u. dergl. Allein das trifft bei diesem Dichter
ganz und gar nicht zu. Er verfügt über einen, man möchte fast sagen: un¬
leidlichen Vorrat an Farben der verschiedensten Art, er ist mitunter so „natürlich,"
wie die Musen und Grazien in der Mark, er ist so wenig toter Klassizist, daß
er die heutzutage von den Dichtern zunächst erstrebte Bedingung, ein Modedichter
zu sein, aufs glänzendste erfüllt hat. Es muß also doch wohl an etwas anderen
liegen, daß dieser Dichter, der sicherlich auch dereinst eine „Zierde des Weihnachts¬
tisches" der Urgroßväter und Urgroßmutter bildete, von den Urenkeln schon ver-
vergessen ist, sobald sie im Schullesebuch die Seite über ihn umgeschlagen haben.
Dies aber ist etwas, woran die Modedichter aller Zeiten und Völker nie gern
hören und wovon sie heute am wenigsten reden; dieser Dichter besaß keinen Cha¬
rakter, und er hatte keinen Stil. Wie heutzutage ein echtes Massenjournal mit
seinen „Hausdichtern," folgte er getreulich den Politischen und literarischen Strö¬
mungen seiner Zeit, mochten sie noch so entgegengesetzt sein, mochten sie uoch so
schroff auf einander folgen. Im Jahre 1807 stimmt er einen „Trutzgesang" an für
die „gerechte Sache" gegen den „wuteutflammtcn Leuen," seinen „eiteln Nuhmes-
dmupf" und „schnöde Lust zum Raube." Im Jahre 1309 hält er am „Napoleons¬
tage" als Rektor der Greifswalder Universität eine Lobrede auf den „wutent-
flammten Leuen," der urplötzlich zum Retter und Befreier der unterdrückten Menschheit
gegen die schimpfliche Sache der gegen ihn verschwornen Despoten, dessen „eitler
Ruhmesdampf" zur Erlöscrglorie, dessen „schnöde Lust zum Raube" zur weisesten
Besorgnis für das „Heil der Menschheit," zur „zarten Schonung" für das „un-
nachläßliche Recht eines jeden auf eine freie, edle und völlig gleiche Behandlung"
geworden war. Im Jahre 1313 dichtet er dann wieder seine „vaterländischen
Gedichte" wie alle andern. Als Dichter beginnt er — mit Schiller etwa gleich¬
altrig — im Klvpstockstile seine „Cidli" zu besingen, „Hulda" und „Wonua" in
heimischen Eichenhainen nach Göttinger Muster „wvuucschauernd, wehmuts-
truuken" zu verklären; er macht als Hauslehrer seinen dummen Wertherstreich so
vewnßt, daß er in seiner Tragik fast so komisch wirkt wie Goethes bekannte
Selbstparodie, verfolgt dann Herder vom Ossium über die Volkslieder bis zu
den Legenden, Goethe von den Liedern und Rhapsodien bis zu „Hermann
und Dorothea." Ja selbst die ihm so fremde Muse Schillers und gar die
ihm persönlich unangenehme Romantik müssen ihm in Gedichten nach den „neuen
philosophischen Forderungen"") und Dramen, in Romanen und Marienliederu Töne
für seiue ewig gleich und wohlgestimmte Leier hergeben. Nur ein Ton blieb ihm
eben fremd, jener leise und doch so mächtige Ton, der nach Versen Fr. Schlegels
— sie sind uns deshalb so wert geworden, weil sie über der wundersamsten Ton¬
schöpfung eines seiner eigensten musikalischen Verkündiger stehen — „durch alle
Töne im bunten Erdentraum donet, gezogen für den, der heimlich lauschet."
Diesen Ton nennt man in der armen Sprache der Begriffe „Stil," und man kann
ihn wohl mit dem Charakter — wenn auch uicht gleich setzen, wie man es gethan
hat — so doch in mannigfache Beziehung bringen. Aus der flachen Geschicklichkeit
dieses auch einmal „höchstrenommirten" Poetischen Handwerkers blickt aber nicht bloß
sein eigner menschlicher, sondern auch der künstlerische Charakter dieser ganzen edeln
Gilde hervor. Wie bekundet er doch so sicheres Verständnis für die Bedürfnisse
des Marktes, wenn er in der „Jukunde" eine ganz moderne fadenscheinige Zcitungs-
novelle auf die vornehme Form von „Hermann und Dorothea" Pfropft, wo schon der
fortwährend wiederkehrende Name „Thekla von Thurm" gegenüber der hier einzig
am Platze erscheinenden rein menschlichen Namenlosigkeit bei Goethe ein äußerliches,
aber bezeichnendes Merkmal für solche Zwittcrschöpfung bildet. Wie gut weiß er,
worauf es ankommt, wenn man interessant erscheinen will, indem er es in Neu-
bildungen von Wörtern, anspruchsvollen Archaismen und allerlei sonstigen „Lizenzen"
nicht mangeln läßt! Aber wie verrät sich dann auch gelegentlich der geistverlassene
Kopist des Genies, wenn er z. B. im „Johannes auf Pathmos" (Dichtungen,
4. Aufl., III, 66) von einer „geschärften Sehe" (Gesicht) redet oder in der „Auf¬
fahrt der Jungfrau" (III, 31) die „Allerheiligste" bei der Verkündigung „nur noch
Laute der Wonne mit stammelnder Zunge girren" läßt.
Der treue und fleißige Zusammensteller seines Lebensbildes hat sich gelegent¬
lich bemüht, den zum mindesten sehr blassen und eiteln menschlichen Charakter seines
Helden in ein kräftigeres und reineres Licht zu setzen. Bei seinem literarischen hat
er kaum vermocht, das Urteil von Goethe, Schiller und Tieck, Goedeke und Gewinns
umzustoßen. Zunächst hat er sich auch darauf beschränkt, durch charakterisirende Aus¬
wahl aus Dichtungen, Tagcbnchblättern und Briefen Zeiten und Zustände wieder
lebendig zu macheu, die uns immer ferner zu liegen kommen und die neben ihrer
vieles erklärenden Enge und Gedrücktheit mit ihrer nur umso mächtiger angeregten
geistigen Blüte, ihrer allenthalben selbst unter deu ungünstigsten Verhältnissen hervor¬
brechenden leidenschaftlichen Hingebung an hohe, umfassende Meuschheitsbildung uns
heute uicht bloß ein schmeichelnder, sondern auch ein mahnender Spiegel sein können.
Daß Hauff ursprünglich durchaus uicht die Absicht
hatte, Clauren zu verspotten, ist nicht so neu, wie I. Br. in Ur. 26 d. Bl. an¬
nimmt: schon Schwab stellte in seiner Lebensbeschreibung des Dichters die Sache
so dar. Und wenn wir der Entstehung von Satiren und Parodien immer auf
den Grund gehen könnten, würden Nur wahrscheinlich oft auf ein ähnliches Ver¬
hältnis stoßen. Man malt die Sünde und anstatt des Teufels den Schalksnarren
dazu, und schlägt soeben auch zwei Fliegen mit einer Klappe. Wir wollen hier
nur an manche Parodien italienischer Opernmusik erinnern, die durch Uebertrei¬
bungen sich das Recht erkaufen, der lächerlich gemachten Richtung nach Herzenslust
zu fröhnen.
erhalten wir mit Beziehung auf den in Ur. 25 der Grenzboten
abgedruckten Aufsatz: Schriften zur Bühnenfrnge folgende Zuschrift:
Der verehrlichen Redaktion übersende ich ganz ergebenst zwei Belege, daß
Herrigs Luther zuerst nach Worms in Torgau aufgeführt worden ist. Hierher
kamen die Anfragen von Wittenberg, Erfurt, Halle ?c.: „Wie war's?" „Wie hat's
gewirkt?" Auch hat man z. B. überall ans die Komposition unsers Musikdirektors
Dr. Otto Taubert für das Lied „Mit Fried und Freud ?c." zurückgegriffen. Heßler,
geborner Torgauer, ist hier zum Luther geworden. Es ist hier in unsrer Stadt
Mut und Sinn für solche Sachen, warum nur immer ihren Namen verschweigen.
Könnte Ihr geschätztes Blatt nicht bei Gelegenheit auch einmal Torgau die Ehre
geben?
Wir bringen diese Zuschrift umso lieber zum Abdruck, als uns die geistige
Regsamkeit und die patriotische Gesinnung der Torgauischen Bürgerschaft, ihre Be-
mühungen um die Pflege des geschichtlichen Sinnes, die Wirksamkeit ihres treff¬
lichen Altertumsvcreins, ihr aller zwei Jahre stattfindender „Auszug der Gehar¬
nischten" aus eigner Erfahrung und Anschauung bekannt siud. Auch daß die
wackern Torgauer auf dem Gebiete des kirchlichen Festspielcs vorangegangen sind,
war uns wohlbekannt; in einer Mitteilung in Ur. 20 haben wir genan berichtet,
daß das Lutherfestspiel von Haus Herrig „im Lutherjubeljahre zu Worms, später
zu Torgau, Erfurt, Berlin und Wittenberg und der Leitung von Alexander Heßler
zur Aufführung gelangt" sei. In Ur. 25 war Torgau allerdings nicht wieder
mit erwähnt worden. Wir holen es hier also nochmals nach; ihr Verdienst soll
Wie wir schon bei Besprechung des ersten Teiles des Buches sagten, ist der
Titel dieses Sammelwerkes so zu verstehen, daß es Beiträge zur Bevölkerungs¬
statistik zu bringen bestimmt ist. Der erste Teil enthielt sehr wertvolle Mitteilungen
über die Entwicklung der deutschen, polnischen und jüdischen Bewohner der Provinz
Posen. Der jetzt erschienene, von Dr. Kuno Frankenstein verfaßt, beschäftigt sich in
der Hauptsache mit einer der interessantesten Hausindustrien seiner thüringischen
Heimat, der Kleiueiseniudustrie im Kreise Schmnlkalden, welche namentlich Asien,
Striegeln, Feilen und Raspeln, Zangen, Zwecken, Nägel, Schnallen und Sporen
liefert, und deren Geschichte und gegenwärtiger Zustand hier nach sorgfältig an¬
gestellten Vorarbeiten ausführlich dargestellt werden. Vorausgesandt ist ein Ab¬
schnitt über die wirtschaftlichen Verhältnisse des Kreises im allgemeinen, Bemchung
der Bodenfläche, Ackerbau und Viehzucht, Walduutzung, Bergbau, Gewerbe, Handel
und Verkehrsmittel. Ein andres Kapitel verbreitet sich über die Größe und Glie¬
derung der Bevölkerung nach Stadt und Land, Geschlecht, Alter, Bekenntnis und
Bildung, und das letzte behandelt die sogenannte Bevölkerungsbewegung, d. h. Ehe¬
schließungen, Geburten, Sterblichkeit und Zunahme derselben. Das Ganze ist eine
wissenschaftliche Arbeit, die musterhaft genannt zu werden verdient. Das Ergebnis
der Untersuchungen des Verfassers in Betreff der Kleineisenindustrie ist nur zum
Teil erfreulicher Art. Dies gilt z. B. von der Zangenschmiederei, in welcher sich
die Neigung zum Uebergange von kleinen Unternehmungen zu mittleren bemerkbar
macht. Dagegen ist die gegenwärtige Lage der andern Zweige, auch wo sie nicht
dein Wettbewerb der Fabriken ausgesetzt sind, fast ohne Ausnahme sehr ungünstig,
was vorzüglich drei Ursachen hat: die ganz ungenügende technische Ausbildung der
Arbeiter, die unzweckmäßige Weise und die unvorteilhaften Bedingungen der Pro¬
duktion und die mangelhaften Verkehrsverhältnisse des Kreises. Doch ließe sich die
Lage dieser Kleingewerbe verbessern, wenigstens in Betreff einiger derselben, und
zwar hauptsächlich ans zwei Wegen: durch Errichtung von Fachschulen und Lehr¬
werkstätten, die unter der Leitung tüchtiger berufsmäßiger Lehrer für eine den
heutigen Verhältnissen entsprechende theoretische und praktische Ausbildung mit be¬
sondrer Berücksichtigung des kunstgewerblichen Elementes zu sorgen bestimmt wären,
zweitens dnrch die Bildung von Genossenschaften, und zwar Rohstoff- und Magazin-
geuvsscuschaften, von denen erstere das Material billiger einkaufen, letztere das Fa¬
brikat im großen verkaufen und damit bessere Preise erzielen würden. Daneben
hat der Staat zwei wichtige Aufgaben: er hat durch Schaffung besserer Verkehrs¬
verhältnisse die Produktions- und Absatzverhältuisse des Bezirkes günstiger zu ge¬
stalten, also besonders für die baldige Ausführung der beabsichtigten Eisenbahnlinien
zu sorgen, und er hat die Fabrik- oder Arbeiterschutzgesetzgebung, wen» auch nicht
auf das gesamte Gebiet der Hausindustrie, doch auf das der Kleineisenindustrie
auszudehnen. Die Krankheitsgefahren, welche aus dieser (namentlich aus dem Be-
triebe der Schleifereien) für jugendliche Arbeiter erwachsen, sind außerordentlich groß
und sollten nicht unbeachtet bleibe«. Tausende fleißiger Arbeiter, die heute dem
Untergange entgegensehen, könnten, wie der Verfasser fest überzeugt ist, mit den an¬
geführten Maßregeln gerettet werde«. Hoffen wir, daß damit nicht gezögert werde.
Dieses nachgelassene Buch des im vorigen Frühjahre dahingcschieduen Sängers
des „Gaudeamus" und Erzählers des „Ekkehard" enthält (mit Ausnahme des letzten
Stückes, der „Skizzen ans dem Elsaß") Aufsätze aus der besten Zeit seines Schaffens,
den fünfziger Jahren. Bekanntlich hat auch er — und er erinnert insofern an
Uhland — nur eine verhältnismäßig kurze Produktionszeit gehabt. Ju der ersten
Vollkraft seiner Jahre, gerade damals, als er sich mit der Malerkunst plagte und
sich nur allmählich als in Wahrheit zum Dichter berufen selbst erkannte, schrieb
Scheffel jene Dichtungen, die ihn nachher zum Liebling der deutscheu Jugend
machten: die „Lieder aus dem Engern und Weiter«," das „Gaudenmns," den
„Trompeter von SäMngen" und den großen historischen Roman. Die Ungunst
des Schicksals im Privat- und im öffentlichen Leben verdüsterte jedoch des heitern
Mannes Gemüt, der literarische Erfolg ließ ihn sehr lange warten, und als er
eintraf, da war es um die poetische Blütezeit, um die Frische des Herzens, um
die Spontaneität des Schaffcnstriebes in dem Dichter geschehen. Er wurde immer
nüchterner, selten nnr gelang ihm ein rechter Wurf. Man ficht dies deutlich an
dem Unterschiede zwischen den „Skizzen aus dem Elsaß," die 1872 geschrieben
wurden, und den andern vorhergehenden Reisebildern. Wie trocken, wie kalt war
Scheffel inzwischen geworden! Selbst die großartige Stimmung, welche ihn un¬
mittelbar nach dem weltgeschichtlichen Kriegsjahre auf deu Wanderungen in unserm
wiedergewonnenen Reichslande notwendig erfüllen mußte, kommt zu keinem über¬
zeugenden Ausdruck. Mit dem gelehrten Eifer eines Lokalhistorikers häuft er Notiz
auf Notiz, zitirt entlegene Lokalgeschichten, verweist kompilatorisch ans Seite sound¬
soviel. Wie anders in den fünfziger Jahren! Da wandert er mit offenen Sinnen,
ein rechter Alpentourist, jugendlich nnternehmuugs-, ja abenteuerlustig, durch ent¬
legene, schwer zugängliche Felsengebicte Tirols und der Schweiz; schildert warm
schöne Landschaften, großartige oder niederdrückend öde Gebirgsszeueu; hat ein
scharfes Auge für die Bewohner des Landes und zeichnet mit Humor einzelne
Gestalten; giebt ausgeführte Kultnrbilder verborgener Volkskreise. Auch da freilich
überwiegt schon im Reisenden das historisch gelehrte Interesse das ästhetisch¬
betrachtende: wir erhalten reiche Mitteilungen über keltische Reste in den rhätischen
Alpengebieten, die Dialekte werden charcckterifirt; oder es werden Volkssagen,
Legenden, Umdichtnngen großer historischer Ereignisse in der Volksphantasie mit¬
geteilt; oder es werden die Spuren des Protestantismus in den Alpenthälern ver¬
folgt. Immer jedoch ist der Reifende unterhaltend und weiß Gelehrsamkeit an¬
mutig mit Erzählung und Schilderung zu mische», ja die Gelehrten selbst geben
ihm Stoff für die gelungenste humoristische Partie des Buches ab. Da die Aufsätze
damals gleich für den Druck in Zeitungen bestimmt waren, auch dort erschiene«,
so fehlt es nicht an Anspielungen auf Politische Tagesereignisse, die jetzt nach mehr
als dreißig Jahren nicht ohne Interesse sind.
Das erste Neiscbild „Aus den rhätischen Alpen" stammt aus den: Jahre 1S51
und gehört in die historisch-philologisch-touristische Literatur, die vornehmlich vou
Ludwig Steub gepflegt wurde, der auch öfter genannt wird. „Aus dem Hauen-
Steiner Schwarzwald" (1853) ist eine Bauernkulturstudie aus der Schule W. Nichts:
ein sehr interessantes Bild des im äußersten Winkel Badens hausenden Schwaben¬
zweigleins. Scheffel weist deu Zwiespalt im damaligen Staatsleben auf, wofür
der zäh-konservative Bauer kein Verständnis hatte. Zur Kenntnis Scheffels ist es
von Wichtigkeit, zu sehen, wie tief er in die deutsche Volksseele einzudringen wußte.
„Der Brief ans Venedig" (1855) ist nur biographisch von Belang. „Aus den
Tridentinischen Alpen" (1855) enthält sehr anziehende Berichte über abenteuerliche
Wanderungen in sehr entlegenen Felsengebieten. Der malende Gesellschafter Scheffels
wird mit „Meister Anselmus" bezeichnet, und offenbar ist Freund Feuerbach damit
gemeint, der damals Landschaftsstndien betrieb. In seinem „Vermächtnis" (zweite
Auflage, S. 64) erzählt dieser ziemlich ausführlich von dem gemeinsamen Aufent¬
halte am Gardasee: „Die vier Wochen in Tobliuo gehören zu den glücklichsten
meines an Glück ebeu nicht reichen Lebens. . . . Scheffel hat eine reizende Schil¬
derung unsers gemeinsamen Aufenthaltes in Toblino niedergeschrieben und in irgend
einer Zeitschrift drucken lassen, deren Titel ich leider vergessen habe." Nun hat
man die Briefe beider Freunde beisammen. Prölß hätte gelegentlich darauf hin¬
weisen können. Die folgenden drei Stücke der Scheffelschen Reisebilder bringen
Schilderungen aus Südfrankreich (1857) zur Zeit der großen Nhoneübcrschwenimnng.
„Ein Gang zur großen Kartause in den Alpen der Dauphine" giebt ein fesselndes
Bild der schweigsamen mönchischen Likörfabrikanten; „Avignon" eines von der
mvnumeutereichen Papstresidenz; „Ein Tag am Quell von Vaucluse" führt uus in
das durch Petrarcas Aufenthalt berühmt gewordene schöne Thal. Petrarca selbst
wird ausführlich behandelt, und mit vielem Humor werden die Stimmen deutscher
Stubengelehrten über seine Licbespoesie zusammengestellt. Den Schluß bilden die
erwähnten „Skizzen aus dem Elsaß."
Wenn irgend etwas jenen Gelehrteuhumor Scheffels herausfordern könnte, so
glauben wir, daß das Vorwort des Herausgebers seiner „Reisebilder" dazu geeignet
wäre. Uns wenigstens hat der wuchtige Ernst, mit dein der Herausgeber die harm¬
lose Aufgabe auffaßt, gedruckte Aufsätze eiues verstorbenen Autors zu einem Buche
zusammenzustellen, humoristisch angemutet. Prölß erwähut, daß Scheffel selbst keine
Neigung gehabt habe, diese „Reisebilder" selbst herauszugeben (was ganz in der
Ordnung war und für die strenge Selbstkritik des Dichters spricht). Prölß betont
die durchaus noch uicht erwiesene Wichtigkeit der biographischen Forschung zu Scheffels
Produktion mit einem Ernste, wie ihn kaum ein Goethephilolog für Goethe aufbringt.
„Er selbst ^Scheffel nämlichj hat über andern Aufgaben und Erlebnissen es versäumt,
dieselben sReisebilderj je zum Buche zusammenzufassen; daß sie dies mit demselben
Rechte verdienen, wie z. B. die Reisebilder Heinrich Heines, wird aber wohl jeder
zugeben, der nun, nachdem die biographische Forschung öd. h. aus dem scholastischen
ins rechtschaffene Deutsch übersetzt: ich, Johannes Prölßj dies nachzuholen ermög¬
licht hat, beim Lesen der folgenden Blätter mit Entzücken wahrnimmt, wie un¬
mittelbar und lebensvoll die hohen Vorzüge von Scheffels Dichtergeist" n. f. w.
Nun, Scheffel in Ehren; er hat auch vou Heine gelernt — allein mit deu Heinischen
Reisebildern halten die seinigen den Vergleich nicht aus: schon deswegen, weil ihre
Prosa nicht musterhaft ist.
er Anarchismus, diese Übertrumpfung der sozialdemokratischen
Lehre, hat als Theorie seine Vorgeschichte in den Ansichten und
Bestrebungen einer Anzahl von Juughegelicmeru, die sich in den
letzten vierziger Jahren mit der „Überwindung von Standpunkten"
auf politischem, sozialem und religiösem Gebiete beschäftigten und
es damit ziemlich weit brachten, z. B. zur Überwindung des Standpunktes, wo man
sich noch zu schämen vermag, was u. a. Mnx Stirner, dem Verfasser der Schrift
„Der Einzige und sein Eigentum," in ungewöhnlichem Maße gelang. Später
kamen dazu Schopenhauersche Moral und der mißverstandene Darwin. Praktisch
aber wurde der Anarchismus schon vorher durch den Russen Bakunin, der seine
junghegelsche „Errungenschaft" mit moskvwitischer Wildheit und Rücksichtslosigkeit
von der Schule auf das Leben übertrug und hier nach Möglichkeit (u. a.
während der Dresdener Maitage von 1849) zur Anwendung brachte. In
ähnlichem Sinne wirkten später der Belgier Dave, der Sachse Neinsdorf und
der Schwabe Most, alle drei, nachdem sie vorher Sozialdemokraten gewesen
waren. Bakunin wurde nach seinen ersten praktischen Leistungen in Deutschland
an die russische Regierung ausgeliefert und von dieser nach Sibirien in die
Verbannung geschickt. Von hier nach einigen Jahren über Japan nach London
entflohen, tauchte er bald darauf in der Schweiz auf, wo er sofort seine An¬
sichten, nach denen nicht nur alle Über- und Unterordnung der Menschen, sondern
überhaupt jede Ungleichheit derselben zu beseitigen war, zu predigen begann
und bald eine Anhängerschaft um sich sammelte, der sich 1863 auch Dave, bis
dahin Mitglied der Marxscheu „Internationale," anschloß. Beide versuchten dann
in dieser Genossenschaft ihre Grundsätze zur Geltung zu bringen, und als sie
damit auf dem Kongresse derselben, der 1872 im Haag stattfand, scheiterten,
gründeten sie eine neue Internationale, die ihre Fäden bis nach Rußland und
Spanien spann. Nachdem Bakunin im Juli 1876 gestorben war, beriefen seine
Anhänger einen Kongreß nach Gent, der auch von den Marxisten mit Einschluß
der von Liebknecht und Bebel geführten Svzinldemokrciten beschickt wurde. Die hier
versuchte Verständigung gelang nicht, und obwohl man sich schließlich zu einer
Resolution einigte, in der beide Parteien sich „der gegenseitigen Achtung
versicherten, die sich Männer schuldeten, welche die Überzeugung ihrer Würde
und das Gefühl ihrer Ehrlichkeit haben," schieden sich von jetzt an die Anar¬
chisten, die Radikalen, welche gar keine Autorität anerkannten und ohne Verzug
zum Angriff auf Staat, Gesellschaft und Eigentum vorzugehen entschlossen
waren, von den Sozialdemokraten, die wenigstens Parteiführer für nötig hielten
und Gewaltanwendung für die Gegenwart als unpraktisch verwarfen, in schär¬
ferer Weise, indes nicht so, daß nicht in der Folge häufig Angehörige des
vergleichsweise gemäßigten Flügels sich dem andern zugewendet und in ihm
eine Rolle gespielt hätten.
Ein Beispiel ist Johann Most/") 1846 zu Augsburg geboren, katholisch
getauft, anfänglich Buchbindergesell, darauf sozialistischer Apostel, erst in der
Schweiz, dann in Wien, wo er infolge einer Brandrede, in welcher er einer
Volksversammlung mit wilden Ausfällen auf die „Bourgeoisie," die „Pfaffen,"
das Militär, die Polizei und die Regierung die Köpfe erhitzt hatte, einen Monat
eingesperrt und bald darauf als Rädelsführer bei einer Volksdemonftrativn
wegen Hochverrat zu fünf Jahren schweren Kerkers verurteilt wurde. Ein
Ministerwcchsel, dem eine Amnestie für alle politischen Gefangenen folgte, befreite
ihn, und ohne Verzug begann er seine wühlerische Thätigkeit vou neuem. Darauf¬
hin ausgewiesen, versuchte er sein Treiben in Deutschland fortzusetzen, erst in
Leipzig, dann mit besserem Erfolge in Chemnitz, wo er mit rastlosem Eifer
teils als Redakteur, teils als Redner in Versammlungen der Arbeiter die soziale
Revolution predigte und gegen das Reich hetzte. Erst nach geraumer Zeit, im
September 1872, wurde dem ein Ende gemacht, indem er verhaftet, zu acht
Monaten Gefängnis verurteilt und nach seiner Freilassung ausgewiesen wurde.
Er ging darauf nach Mainz, wo er die „Volksstimme" übernahm, die er
redigirte, bis er im Januar 1874 von seinen Freunden in Chemnitz zum
Reichstagsabgeordneten für diese Stadt gewählt wurde. Als solcher bemühte
er sich vergebens, die Philippiken, die er von der Tribüne loszulassen gedachte,
an den Mann zu bringen, und während der Parlamentsferien ließ ihn der
Staatsanwalt ans Grund einer Rede, welche die Pariser Kommune verherrlicht
hatte, verhaften, worauf Most auf achtzehn Monate in die „Bastille am Plötzen¬
see" wanderte. Nachdem er im Juni 1876 wieder frei geworden war, wurde er
Redakteur der „Berliner Freien Presse," deren Abonnentenzahl unter ihm von
2000 auf 15 000 stieg. In diese Zeit fallen die journalistischen Leistungen,
mit denen er „die Geschichtsfälschungen aufdeckte," welche Mommsen und Treitschke
begangen haben sollten. Er war durch seine Rührigkeit und sein dreistes und
brutales Auftreten damals sehr populär unter den Berliner Sozialisten geworden.
Aber bei den Neuwahlen, die nach der Neichstagsauflvsung von 1878 statt¬
fanden, erhielt er kein Mandat wieder, und im Dezember dieses Jahres wurde
er auf Grund des Sozialistengesetzes ausgewiesen, nachdem er vorher noch ein
halbes Jahr in Plötzensee zugebracht hatte. Er gedachte sich darauf in Hamburg
der Propaganda für die sozialistische Revolution zu widmen, wurde aber von
den dortigen Parteigenossen ebenso kühl aufgenommen als früher von den
Leipzigern und wandte sich infolge dessen nach London, wo ihn der kommunistische
Arbeiterverein, der Nest der inzwischen fast ganz zergangener Internationale,
als wohlgeeigneten Leiter einer revolutionären Zeitung in deutscher Sprache,
mit deren Gründung man gerade umging, willkommen hieß. Dieses Organ
kam in der „Freiheit" zustande und erfreute sich auch in Deutschland bald
ausgedehnter Verbreitung, obwohl es hier von der Negierung verboten und
von den Anhängern Liebknechts teils aus Vorsicht, teils aus Neid bekämpft
wurde, wozu man sich vorzüglich des im Oktober 1879 in Zürich gegründeten
„ Sozialdemokraten" bediente. Als Most immer radikaler und zugleich immer
herrischer wurde, übertrug sich dieser Zwiespalt auch auf die Mitglieder des
Londoner Vereins, und dieser schied sich schließlich in eine rote und eine
blaue Hälfte, von denen jene in Most, diese in Heinrich Rackow ihren Führer
verehrte. Jener wirkte, abgesehen von seiner Arbeit an der „Freiheit," auch
durch geschichtliche, nationalökonomische und selbst naturwissenschaftliche Vorträge,
in denen er das verwertete, was er während seiner vielfachen Einsperrungen
mit den Augen des gebildeten Hausknechts zusammengelesen und mit dem Ver¬
stände desselben sich zurecht gelegt hatte. Außerdem machte er wiederholt
Reisen nach dem Festlande. So 1879 zu den deutschen Sozialisten in Paris,
wo er mit Dave bekannt wurde, wohin er sich dann aber nicht mehr wagen
durfte, weil er bald nach seinem Besuche in der Revolution soeig-lo den deutschen
Kaiser mit den ärgsten Schimpfreden beworfen hatte und dafür von einem
Pariser Gerichtshofe in oonwing,oig,in zu zweijährigem Gefängnisse verurteilt
worden war. Auch in Brüssel hatte er Unglück, indem ihn die Polizei nach
der ersten wühlerischen Rede, die er dortigen Proletariern hielt, nach einem
Dampfer brachte, der in Ostende zur Abfahrt nach London bereit lag. 1880
hatten die Führer der deutschen Sozialdemokratie einen geheimen Kongreß nach
Rorschach berufen, Most bekam von sächsischen Städten ein Mandat zur Teil¬
nahme und wanderte unter falschem Namen dahin, fand aber, daß die Veran¬
stalter der Sache, die ihn nicht dabei sehen wollten, die Zusammenkunft vertagt
hatten, die dann ohne ihn auf Schloß Wyder bei Winterthur stattfand. Das
war ein Mißerfolg; doch benutzte Most die Gelegenheit, in den größern Städten
der Schweiz seines Apostelamtes zu walten und mit den schon vorhandenen
revolutionären Elementen feste Verbindungen anzuknüpfen. Dies brachte ihn mit
August Reinsdorf, einem Anarchisten der Baknninschen Richtung, in Berührung,
der damals in Freiburg wohnte und mit dem er von da an einen lebhaften Brief¬
wechsel unterhielt. Der rote Sozialdemokrat hatte nicht weit bis zum Anarchisten,
und so vollzog sich die Umwandlung rasch und vollständig. Most bekam dann
von seinen vertrautesten Freunden, den Berliner Sozialisten, ein zweites Mandat
für den Kongreß, und als er es ausschlug, weil dieser „nur eine Komödie" sei,
„die zu Gunsten der Leipziger Führer (Liebknecht, Bebel nud Hasenclever) auf¬
geführt werden solle," wurde ein andrer Abgeordneter nach Wyder geschickt, der
aber zu spät eintraf. Der Kongreß beschloß, Most und Hasselmann „wegen
Untergrabung der Partcidiszipliu" aus der Genossenschaft zu entfernen. Most
antwortete darauf, indem er einige Wochen nachher bei Genf eine Konferenz
seiner Anhänger abhielt, in der sich dieselben organisirten und die „Freiheit"
als ihr Organ anerkannten, und indem er, nach London zurückgekehrt, in diesem
Blatte die Liebknechtschen Sozialdemokraten aufs heftigste angriff. Ihren Mittel¬
punkt sollte die neue anarchistische Jnternaticile in London haben, von da ans
sollte sie ein ans sieben Personen bestehendes Exekutivkomitee leiten, und allen
gleichgesinnten Vereinen des Auslandes war der Anschluß gestattet. Daneben
aber gründete Most noch eine geheime Verbindung, die „Propagandistengruppe,"
der nur die Führer angehörten und zu der alle die berüchtigten Sendlinge
Moses zählten, die in den folgenden Jahren das Festland im anarchistischen
Sinne bearbeiteten und Gruppen von Anarchisten bildeten. Nach Deutschland
gingen newe, Schneide, Eisenbauer und Dave. Der letztere wurde im Dezember
1880 in Augsburg von der Polizei ergriffen und mit den gleichzeitig ver¬
hafteten Führern der Frankfurter, Darmstädter und Berliner Gruppen vom
Reichsgerichte zu mehrjähriger Zuchthausstrafe verurteilt. Welche Sprache die
„Freiheit" schon damals führte, mögen ein paar Stellen zeigen, die der Ur. 51
vom 18. Dezember 1880 entnommen sind. Es heißt da u. ni.: „Rottet sie
aus, die erbärmliche Brut! So wird nach gewonnener Schlacht die Exekutive
einer siegreichen Proletarierarmee rufen müssen. Denn einem Revolutionär
muß im kritischen Augenblicke stets der Richtblock vor Augen schweben. Ent¬
weder er schlägt die Köpfe seiner Feinde ab, oder er wird selbst geköpft. Die
Wissenschaft giebt jetzt Mittel an die Hand, welche es ermöglichen, daß man
ganz trocken und ruhig die Bestienverfolgung im großen zu besorgen vermag.
Fürsten und Minister, Staatsmänner, Bischöfe, Prälaten und andre Groß-
Würdenträger der verschiedenen Kirchen, ein gut Teil Offizierkorps, der größte
Teil der höhern Bureaukratie, diverse Journalisten und Advokaten, endlich alle
bedeutenden Repräsentanten der Aristokratie und Bourgeoisie — das werden
die Subjekte sein, über die man den Stab zu brechen hat."
Neben diesen widerwärtigen Bluthund stellt sich in der Februarnummer
des Blattes 1881 ein schamloser Versöhner des Heiligen, dem das Christentum
ein von Gauklern erfundener Schwindel ist und der seinen Lesern zuruft: „Lese
nur die Bibel durch, vorausgesetzt, daß ihr den Ekel überwindet, der euch er¬
greifen muß, wenn ihr das infamste aller Schandbücher aufschlägt, und ihr
könnt bald bemerken, daß der Gott, den man euch da aufschwatzt, ein millionen-
köpfiger, feuerspeiender, racheschnaubender wüster Drache ist."
Die ganze brennende Wut des fanatischen Anarchisten zeigte Most in seinem
Jubelartikel über die Ermordung des Kaisers Alexander II. Es hieß da:
„Endlich! Triumph! Triumph! Das Wort des Dichters hat sich erfüllt.
Einer der scheußlichsten Tyrannen Europas, dem längst der Untergang geschworen
worden, und der deshalb in wüstem Nacheschnciuben unzählige Helden und
Heldinnen des russischen Volkes vernichten oder einkerkern ließ — der Kaiser
von Rußland ist nicht mehr. Am vergangnen Sonntage mittags, als das
Ungeheuer gerade von einer jener Belustigungen zurückkehrte, welche in einer
Augenweide an wohlgedrillten Herden stupider Blut- und Eisensklaven zu be¬
stehen Pflegen und die man militärische Revüen nennt, hat die Bestie der
Richter des Volkes, der deren Todesurteil längst gesprochen, ereilt und mit
kräftiger Hand abgethan." Das Weitere läßt sich als zu roh hier nicht wieder¬
geben. Die ganze Nummer war voll von schweren Majestätsbeleidigungen
gegen fast alle Monarchen Europas.
Jetzt schritt auch die englische Regierung ein, und der Richter schickte Most
auf sechzehn Monate ins Zuchthaus, wo der anarchistische Prometheus die
Nummer 300 bekam und zuerst mit Zerfasern von Tauenden, dann mit Flicken
von Gefangenenhemden beschäftigt wurde. Die „Freiheit" aber erschien noch
eine Weile ruhig weiter, und unmittelbar nach der Verurteilung ihres bisherigen
Redakteurs trat ein durch anarchistische Agenten aus Belgien, Frankreich,
Spanien, der Schweiz, Deutschland, Österreich und Amerika zusmnmenbernfener
Kongreß zusammen, in dem der österreichische Stubenmaler Peukert, ein
gewisser Justus Schwab, der Nihilist Hartmann und der russische Fürst Kra-
potkin das Wort führten und der zu folgenden Beschlüssen gelangte: „Die
Revolutionäre aller Länder vereinigen sich zu einer internationalen sozial-
revolutionären Genossenschaft, deren Hauptsitz in London ist, während Neben¬
komitees in Paris, Genf und Newhork gebildet werden. An jedem Orte, wo
sich Gesinnungsgenossen befinden, sind Sektionen und ein Exekutivkomitee von
drei Personen einzurichten. Die Komitees eines Landes unterhalten unter
einander und mit dem Hauptkomitee desselben durch Vermittlung von Zwischen-
adresser regelmäßige Verbindung zu fortlaufender Berichterstattung und Be¬
nachrichtigung und haben Geld zum Ankauf von Giften und Waffen zu sammeln,
sowie Örtlichkeiten geeignet zur Anlegung von Minen ausfindig zu machen.
Zur Erreichung des vorgesteckten Zieles, der Vernichtung aller Herrscher und
Minister, des Adels, der Geistlichkeit, der hervorragendsten Kapitalisten u. dergl.,
ist jedes Mittel erlaubt, und man hat in dieser Beziehung vorzüglich sich mit
dem Studium ti-r Chemie und der Anfertigung von Sprengstoffen zu be¬
schäftigen. Neben dem Londoner Hauptlomitce wird noch ein Exekutivkomitee
oder Auskunftsbüreau als zentrale Behörde zur Ausführung der Beschlüsse
der Oberleitung des Ganzen und zur Führung der Korrespondenz eingesetzt."
Der Kongreß schloß mit einem Dankvotum an Hartmann und einem Toaste
Krapotkins „auf den kühnen und großherzigen Mann, der das erste Attentat
in Deutschland begehen würde."
Die „Freiheit" erschien uuter der Leitung von zwei Geistesverwandten
Moses in London weiter, bis das Loblied, welches diese schändlichen Gesellen
auf die Mörder anstimmten, denen Lord Cavendish und Bourke im Dubliner
Phönixparke zum Opfer fielen, die Regierung zum Einschreiten bewog. Die
Redakteure Schwab und Merken bekamen einige Monate Zwangsarbeit, und
das Blatt wanderte aus, in die „freie" Schweiz, wo es noch eine Weile erschien.
Die Dynamitcxplosion, mit welcher die Fcnier am 15. März 1883 das Ne-
gierungsgebciude in Westminster zu zerstören versuchten, rief schärfere Maßregeln
gegen derartige Umtriebe hervor, und die Folge war, daß unter den deutschen
Sozialisten Londons die vorsichtigere Richtung, wie sie Nackow vertrat, die
Oberhand gewann. Inzwischen hatten energischere anarchistische Unholde, wie
Neve, Nincke und Grün, sich zu wühlerischer Arbeit nach dem Festlande begeben,
und bald bemerkte man Zeichen ihrer Wirksamkeit. Die Ermordung und Be¬
raubung des Wiener Schuhwaarenfabrikanten Merstallinger eröffnete die Reihe
der anarchistischen Schandthaten in Österreich, wo vor den drei zuletzt genannten
bereits Neinsdorf auf einer Agitationsrcise Anhänger für seine wüste, giftige
Lehre geworben hatte und Peukert in der „Zukunft" weiter für deren Ver¬
breitung und Befestigung wirkte. Auch die „Freiheit" und der „Rebell," ein
seit 1881 in geheimer Druckerei hergestelltes Auarchistenblatt, wurden in den
österreichischen Kronländern, in Nordböhmen, Mähren und Ungarn viel gelesen,
und es währte nicht lange, so trug der Same, den sie ausstreute, Früchte.
Leute mit Anlage zur Verrücktheit ließen sich durch ihre Tollheiten zu blutigen
Streichen fanatisiren, verkommene Subjekte fanden in ihnen Vorwände, mit denen
sie Verbrechen gegen Leben und Eigentum beschönigten, indem sie Raubmorde
nur zu Füllung der Ncvolutionskasse verübt haben wollten. Hierher gehören
der Schuster Stellmacher, der Buchbinder Kammerer und der Tischler Kumicz,
die aus der Schweiz nach Wien, nach Straßburg und Stuttgart reisten, um
anarchistische „Thaten" zu vollbringen. Ihre ersten Opfer waren der Apotheker
Lienhardt in Straßburg und ein Soldat der dortigen Garnison. Darauf folgte
in Stuttgart der Versuch, den Bankier Heilbronner zu erschlagen und zu be¬
rauben, und daran schlössen sich die Ermordung des Polizeibeamten Hlubeck in
Floridsdorf, die des Wiener Wechselageutcn Eifert und seiner beiden Söhne,
sowie schließlich die Erschießung des Polizciagenten Bloch bei Wien. Während
diese anarchistischen Greuelmenschen Süddeutschland und Österreich mit ihrem
Treiben heimsuchten, hatte Ncinsdorf sich in dein Elberfelder Anarchistcnkon-
ventilel gehorsame Werkzeuge zur Ausführung seiner finstern Pläne geschaffen.
Auf sein Anstiften führte der Weber Bachmann in einem dortigen Restaurant
eine Dynamitexplosion herbei, und unter seiner Leitung wurde am 27. Sep¬
tember 1883 bei der Einweihung des Niederwalddenkmals versucht, dem Kaiser
Wilhelm und seiner Umgebung das Schicksal zu bereiten, welches zwei Jahre
zuvor Alexander II. in Petersburg betroffen hatte. Man sieht, die anarchistische
Propaganda hatte mit Anwendung ihrer Theorien Erfolge erreicht, die sehr
ernste Bedenken für die Zukunft erwecken mußten — Bedenken, welche durch
die Ermordung des Frankfurter Polizeirath Rumpfs durch die Anarchisten
(13. Januar 1885) erheblich gesteigert wurden.
Wir bitten die sehr interessanten Mitteilungen, die der Verfasser unsrer
Schrift über dieses Ereignis giebt, in dem Buche selbst nachzulesen. Auch von
seiner Schilderung der Londoner Anarchistcnklubs können wir ausführlich nichts
wiedergeben, und ebensowenig dürfen wir mit ihm Most nach Amerika folgen
und das Treiben der dortigen revolutionären Sozialisten betrachten. Dagegen
wollen wir noch ein paar Worte über das Wesen der Anarchisten sagen und
ihre Presse in der Kürze charakterisiren.
Der Anarchismus ist viel weniger eine geistige Bewegung als eine Lebens¬
anschauung, die mit der sittlichen Verkommenheit seiner Trüger zusammenhängt,
und deren Gemeinheit man mit einem Mantel aus Stoffen, welche Darwin
und Schopenhauer hergeben müssen, zu einer Art Philosophie ausstaffirt. Un-
gebundenheit in jeder Beziehung ist das Streben, und daneben geht die bren¬
nende Sucht her, eine Rolle zu spielen. Die Magenfrage, die erste für überzeugte
Sozialisten, tritt bei den Anarchisten in den Hintergrund und kommt bei ihnen
nur zu Worte, wenn es Phrasen zum Fange von Arbeitern zu drechseln gilt. Der
Anarchist will vor allen Dingen frei sein von jeder Fessel, welche Gesetz, Sitte
und Vermögenslosigkeit seiner Sinnlichkeit anlegt, er will in jeder Form ge¬
nießen, jede Lust befriedigen können wie die Reichen, die er in erster Linie
beneidet. Hörte die „Freiheit," daß ein Strolch wegen geschlechtlicher Vergehen
bestraft worden war, so äußerte sie sich ergrimmt über die „Brutalität der
Ordnuugsbestie." Alle Ordnung, alle Beschränkung, die ganze Moral war
nach ihrer Meinung einfach abzuschaffen. „Wir sagen es gerade heraus — hieß
es da —, wir pfeifen auf die sogenannte Moral, wir respektiren kein Gesetz....
Was an irgend einem Träger der heutigen Ausbeutungsgesellschaft begangen
wird: Mord, Raub, Betrug, Brand u. dergl. — wir haben nichts Nachteiliges
darüber zu sagen. Sind die betreffenden Handlungen privater Natur, also
sogenannte gemeine Verbrechen, so zucken wir mit den Achseln dazu. Sind
dieselben im Interesse der revolutionären Sache begangen worden, so heißen
wir sie gut, gleichviel ob uns die Einzelheiten daran gefallen oder nicht."
Über den anarchistischen Zukunftsstaat heißt es in der „Freiheit": „Was
wir erstreben, ist einfach und klar: 1. Zerstörung der bestehenden Klassen¬
herrschaft mit allen Mitteln, d. h. durch energisches, unerbittliches revolutionäres
und internationales Handeln. 2. Errichtung einer auf Gütergemeinschaft be¬
ruhenden freien Gesellschaft. 3. Genossenschaftliche Organisation der Güter¬
erzeugung. 4. Freier Austausch der gleichwertigen Produkte durch die pro¬
duktiven Organisationen selbst und ohne Zwischenhandel und Profitmacherei.
5. Organisation des Erziehungswesens auf religionsloser, wissenschaftlicher und
glcichheitlicher Basis für beide Geschlechter. 6. Regelung aller öffentlichen
Angelegenheiten durch freie Gesellschaftsverträge der auf föderalistischer Grund¬
lage ruhenden autonomen (unabhängigen) Kommunen und Genossenschaften."
In der Nummer der „Freiheit" vom 24. Mai 1884 werden die Hauptsätze
der anarchistischen Lehre in einem Artikel mit dem Titel: „Anarchie ist Har¬
monie," wie folgt, angegeben: „In der anarchistischen Gesellschaft hat der Staat
weder Raum noch Zweck. Die Kommune als politischer Körper ist ebenfalls
überflüssig geworden. Alle Lebenszwecke der Menschen werden durch entsprechende
Organisationen der Gruppirungen erreicht. Dieselben sind nicht zentralisirt
und nur soweit föderalistisch mit einander verbunden, als zur Erreichung der
damit erstrebten Ziele unerläßlich ist. Ein Privateigentum an Land oder Kapital
existirt nicht mehr. Die Arbeitsmittel jeder Art befinden sich in den Händen
der verschiedenen gewerblichen Organisationen. Alle Menschen sind nicht nur
Produzenten, sondern auch Konsumenten, und da die letzteren stets in der Lage
sind, bei Abschluß von Lieferungsverträgen mit jeder einzelnen Produktiv¬
organisation in beliebiger Anzahl sich zu gruppiren, so kann auch von einer
Übervorteilung derselbe» durch die Produzenten nicht die Rede sein. Die Or¬
ganisation der Konsumenten versteht sich aber schon deshalb von selbst, weil in
einer freien Gesellschaft unproduktive Handelsschmarotzer undenkbar sind. . . .
Wie die Handelsprellerei, so ist auch deren Tauschmittel, das Geld, im heutigen
Sinne abgeschafft worden. Die Waaren werden nach der darin steckenden
normalen Arbeitszeit taxirt. Als Produzent empfängt jeder seinen Schein über
wirklich gethane Arbeit von der Organisation, zu welcher er gehört; als Kon¬
sument tauscht er dafür Waaren ein, die ebensoviel gethane Arbeit enthalten—
Kunst und Wissenschaft werden gleich der Waarenproduktion durch Gruppirung
der betreffenden leistungsfähigen Kräfte gepflegt, und die, welche sich der Leistungen
derselben bedienen, verstehen sich auf dem Wege freier Gesellschaftsverträge dazu,
entsprechende Teile ihrer vermittels produktiver Thätigkeit erworbenen An-
Weisungen auf fertige Waaren zu überweisen. . . . Ohne schablonenhaft zeu-
tralisirt zu sein, strebt der Unterricht die denkbar höchste Bildungsstufe für
alle an. Er erreicht dieses Ziel vermöge der föderalistischen Organisation der
Bildungsinstitute, welche zu einem geistigen Wettkampfe der Lehrkräfte heraus¬
fordert. Das solchermaßen sich stetig erweiternde Wissen aller Menschen hebt
das Glauben auf und sichert die Unmöglichkeit alter und neuer Religionen.
Vermöge einer im Interesse aller liegenden gegenseitigen Versicherungsanstalt
ist jedem Arbeitsunfähigen das Recht auf die nämliche Existenz, welche dem
Fähigen zukommt, verbürgt. Das vollkommenste Selbstbestimmungsrecht der
Frau . . . liegt auf der Hand. Die Liebe ist prostitutivnsfrei geworden; die
Ehe verzichtet auf deu kirchlichen Segen wie auf den staatlichen Stempel und
ist lediglich basirt auf die Triebe und Neigungen derer, die Geschlechtsgemeiu-
schaftcn bilden. ... Die gesellschaftlichen Zusammenhänge werden aufrecht erhalten
und gefördert durch zeitweilig zusammentretende Kongresse von Sachverständigen.
An die Stelle der Gesetzgebern tritt die Entschließung vou Fall zu Fall. Niemand
wird von oben herab regiert, jeder ist Mitglied von zahlreichen Korporationen,
denen er sich nach freier Auswahl anschließt, alle bethätigen ihren Willen, keiner
ist gezwungen, gegen seine Neigungen zu handeln. Kurze Arbeitszeit, reichlicher
Genuß, allgemeines Wissen verwandeln die seither zerklüftete Menschenwelt in
einen Bund von Brüdern und Schwestern."
Herbeigeführt werden muß dieser Himmel auf Erden durch Anwendung der
„revolutionären Kricgswissenschnft," über die Most ein eignes Schriftchen ver¬
faßt hat, in welchem die Verfertigung von Sprengstoffen und deren Benutzung
ein Hauptkapitel bildet. Nach Montecnculis Meinung von der Wichtigkeit des
Geldes bei Kriegen sagt Most in der „Freiheit" vom 12. Januar 1884: „Wir
erklären frei und offen, daß ein Revolutionär, der imstande wäre, irgendwo
hundert Millionen zu Gunsten der revolutionäre« Sache zu konfisziren, der
Menschheit vielleicht einen größern Dienst leisten würde, als wenn er zehn
Königen das Hirn aus dem Schädel schösse. . . . Man greife zu, wie und wo
man kann. Je geräuschloser das Orduungsgesindel kalt gestellt wird, mit desto
weniger Gefahr kann operirt werden. Der Revolver ist gut, wenn äußere
Gefahr droht; Dynamik sollte nur zu Haupt- und Staatsciktionen verwendet
werden, hier aber in umso größeren Quantitäten; im übrigen sind Dolch und
Gift äußerst praktische Propagandamittel."
Wer noch ärgere Äußerungen dieses nichtswürdigen, nach Blut lechzender
Wahnwitzes zu lesen wünscht, sehe auf Seite 157 »ach. Wir denken indes, es
wird mit den obigen genug sein, und sagen mir noch ein paar Worte über die
anarchistische Presse, die gegenwärtig aus elf Wochen- und Monatsschriften
besteht. Die sechs größten und verbreiterten darunter sind die „Freiheit"
(deutsch geschrieben) und der ?,rolötAr (englisch) in Newyork, die „Parole"
(deutsch) in Se. Louis, die LilieM (englisch) se, Boston, der „Borbote" (deutsch)
in Chicago und der ^.tarin, (englisch) ebendaselbst. In London erscheinen die
„Autonomie" und der „Rebell" (beide deutsch) und die englisch geschriebenen
Blätter ^.rmrokist und ?r<zsäom. In Paris endlich kommt I^v Rsvoltv heraus.
Die Devise der „Parole" lautet: „Gleiche Pflichten, gleiche Rechte, keine Herren,
keine Knechte." Der „Rebell" liebt es, Redensarten vom Stapel zu lassen wie:
„Gäbe es einen Gott, so müßte man ihn abschaffen," oder: „Nur auf den
Trümmern der heutigen Gesellschaft kaun Freiheit und Glück erblühen," oder
auch: „Besser, einen Tyrannen töten als hundert revolutionäre Reden im
Parlamente halten." Alle diese amerikanischen Anarchistcnblcitter sind auch sonst
wahre Röhrbrnnncn von Phrasen ruchloser und blutiger Faselei, alle befehden
einander, weniger wegen verschiedner Ansichten als aus persönlichen Gründen,
alle aber haben trotzdem ihr gläubiges Publikum und, wie die letzten Vorgänge
in Chicago zeigten, ihre verhängnisvolle praktische Wirkung. Dasselbe gilt auch
von den in London erscheinenden, obwohl dieselben jetzt nicht so ungescheut mit
der Sprache herausgehen dürfen als früher, und obwohl sie in Deutschland
und Österreich sich auf unterirdischen Wegen zu ihren Liebhabern schleichen
müssen. Die Zeit, wo der Anarchismus bei uns eine Gefahr war, scheint also
noch nicht ganz vorüber zu sein.
in meisten litt Wohl der Bauernstand unter dem Druck der Not
der Zeit und dem besondern der Ausbeutung seiner Arbeits¬
leistung durch die bevorrechteten Stände. Seitdem auch in dem
vor dem Osten sonst bevorzugten Süd- und Mitteldeutschland
durch die Folgen der Bauernkriege die ganze Last der wieder¬
hergestellten und verschärften Adelsherrschaft weltlicher und geistlicher Gattung
sich als Joch der Leibeigenschaft mit Steuern und Frohnden auf ihn legte,
wurde mit Herabsetzung der körperlichen Lebenshaltung auch jene Spannkraft
und jener Schwung in Empfindung und Charakter immer geringer, wie sie das
Mittelalter so vielfach literarisch bekundet hat in den Schilderungen ländlichen
Lebens, im Walther von der Vogelweide, im Nithard und im Meier Helm¬
brecht, und wie sie in der Energie der Besudelung des Ostens und in den
Zuckungen der Selbsthilfe des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts sich in
ihren geschichtlichen Wirkungen aufdrängt. Fortan ward er zur nüssi-g. von-
trilmöns xlsds. Duldend und schweigend stand er den Anforderungen seiner
Gutsherren gegenüber; mißtrauisch gegen jeden Annäherungsversuch der oberen
Stände, besonders seitdem Beamte und Geistliche dnrch die gelehrte Erziehung
oder die unvolkstümlichen Formen der Regierung und Rechtspflege ihm inner¬
lich entfremdet waren. In engen Kreis der Thätigkeit und der Teilnahme ge¬
bannt, verfiel er der Gefahr der Verrohung und Verdumpfung; die Gewandtheit
in seiner Umgebung und seiner Arbeit, die schlaue Berechnung und Festhaltung
seines Vorteils verband sich mit Eigensinn, wo man ihm drein reden wollte;
dann nahm er die Maske des ablehnenden Stumpfsinns vor. So erschien er
dem wohlwollenden Beobachter zu Ende des vorigen Jahrhunderts; so auch
noch vielfach, nachdem staatsbürgerliche Freiheit und Selbständigkeit den Bann
von ihm genommen hatte, bis in die Gegenwart. Nur eine Eigenschaft unsers
Volkscharakters früherer Zeiten blieb durch die lange Zeit der Erniedrigung,
des Schlafes aller bessern Züge uuverkümmert; sie vor allem ermöglicht eine
Gesundung des Volkes: die Arbeitsamkeit und UnVerdrossenheit in der Pflicht¬
erfüllung des täglichen Lebens, dazu die Genügsamkeit in der Beschränkung, die
aus der allgemeinen Verarmung seit dem dreißigjährigen Kriege und der Aus-
saugung des achtzehnten Jahrhunderts sich ergeben mußte. Der Volkshumor
des Mittelalters war zu Grunde gegangen, mit ihm die Volks- und Schützen¬
feste und Narrenfeste, er ist uns auch nicht wieder zu Teil geworden. Aber die
Nüchternheit und Philiströsität des Bürgers und Bauern wappnete sie statt
seiner gegen die Mühsale des Lebens. Und wenn ihm in der Heimat das Leben
gar nicht mehr möglich schien, so wanderte der Bauer „aus dem Reich," aus
dem schwäbischen, fränkischen oder oberrheinischen Kreise, wo am meisten kleine
Fürsten und Herren an ihm zapften, schweigend ans, nach Amerika, nach Ungarn
oder Rußland, um von den Früchten seines Fleißes auch etwas zu genießen.
Das völlige Darniederliegen jedes öffentlichen Geistes kann einen Teil
seiner Ursachen in den staatsrechtlichen Verhältnissen des deutschen Reiches
finden, das dem Namen nach noch immer als die äußere Form des deutschen
Volkes, richtiger der deutschen Staaten galt, obgleich es in greisenhafter Ver¬
knöcherung nur eine tote Hülse frühern Lebens mehr war. Was von vorwärts¬
strebender Kraft vorhanden war, mußte es beiseite liegen lassen und sich andre
Bahnen suchen. So warf sich die geistige Thätigkeit völlig auf den Erwerb
und Ausbau individueller Bildung, ohne jeden Zusammenhang mit den Formen
des öffentlichen Lebens. Langsam wurde eine nationale Bildung erreicht, die
auf ihrer höchsten Stufe sich etwas darauf zu Gute that, daß sie mit der Zeit
und dem Lande fast nichts mehr gemein hatte als die Sprache.
Noch während des dreißigjährigen Krieges begannen die Bestrebungen
wenigstens ein Band der nationalen Zusammengehörigkeit in der deutschen
Sprache zu retten gegenüber dem Übergewicht des Lateinischen und dann auch
des Französischen. Das Ende des Jahrhunderts sah einigen Erfolg; und noch
einige Jahrzehnte blieben diese Bildungsbestrebungen auf dem Boden der bürger¬
lichen Gesellschaft, auf deren Hebung die moralischen Wochenschriften hinzuwirken
suchten. Diese verständige und wohlmeinende Richtung der geistigen Thätigkeit,
die jedoch den eigentlichen Charakter der bürgerlichen Stände, die Wohlanständig-
keit und Spießbürgerlichkeit kaum antastet, weicht später einer einseitigen Rich¬
tung auf das Gemüt, einer Empfindsamkeit und Rührseligkeit, deren Ursprung
in der religiösen Bewegung des Pietismus zu suchen ist. Man gefiel sich für
den Privatgebrnuch in weichen Empfindungen und Thränen des Mitleids und
der Rührung, was jede Energie des Willens, jedes Streben nach eingreifender
Besserung der Lebensverhältnisse vollends untergraben mußte. Der Haupt-
vertreter dieser weinerlichen Schwächlichkeit, dieser Tugendhaftigkeit ohne Früchte,
Gellert, errang eine ungeheure Popularität und Wirksamkeit im Bürgerstande,
ja über denselben hinaus in höheren Kreisen.
Die geistige Bewegung jedoch schritt rasch über diesen Standpunkt hinweg,
von kühnem und freiern Geistern fortgeführt, und nahm, nicht zufrieden mit der
langsamen Wirkung auf die großen Massen, eine ganz ideale Richtung auf die
höchsten Ziele der Bildung, des Wissens und der Dichtung. Darin liegt eine
bewußte Abkehr von dem umgebenden wirklichen Leben, es ist der alte nationale
Zug des Individualismus, der Lossagung der Persönlichkeit von dem allgemeinen
Interesse, das weniger wertvoll erschien, eine neue geistige Aristokratie, welche
von einer Zusammengehörigkeit mit dem Volke nichts wissen will. Volkstümlich
und praktisch konnte und wollte sie nicht werden, das Weltbürgertum schien
ein höherer Standpunkt als der Patriotismus. Während Nordamerika und
Frankreich der Schonplatz revolutionärer Stimmungen und Bestrebungen wurde,
blieb in Deutschland alles auf literarische Umwälzungen eingeschränkt; eine
stärkere Betonung des Individuellen in Gemüt und Leidenschaft, die Sturm¬
und Drangperiode war ein Protest sowohl gegen die Verstandesrichtung der
vorhergehenden Zeit als gegen die Spießbürgerlichkeit des wirklichen Lebens
auch in herausgenommenen Freiheiten der persönlichen Lebensführung, aber aus¬
schließlich von jungen Leuten ausgehend, die von selbst älter wurden und teils
verkamen, teils in andre Richtungen übergingen. In Herder, noch mehr in
Goethe und Schiller reifte das neue Bildungsideal zur höchsten Verklärung der
Persönlichkeit, aber völlig vom wirklichen Leben abgelöst, dessen Sorgen und
Mühen in dem reinen Äther verflüchtigt waren. Doch bewirkte dies Bestreben,
daß die Kluft zwischen der Aristokratie der Geburt und der Bildung sich viel¬
fach ausfüllte.
So trafen die gewaltigen Folgen der französischen Revolution das deutsche
Volk in einer Zwiespältigkeit und Unsicherheit des nationalen Charakters, in
einer Abgelebtheit und Morschheit seiner Zustünde, in einer Unklarheit und Un-
ficherheit, welche der beste Bundesgenosse des Auslandes war. Trotz hoher
Bildung der Einzelnen bot das ganze Volk ein jämmerliches Schauspiel von
Unbeholfenheit, Kurzsichtigkeit und niedrigstem Eigennutze, und später von einer
Wegwerfung an Napoleon, daß sie wohl die Anzeichen völligen Unterganges
hätten sein können.
Aber der Hohn und die Verachtung, mit der die fremde Gewaltherrschaft
vorging, brachte die einen, der tiefe Sturz aus dem Reiche der Ideale die
andern zum Bewußtsein der Lage und dessen, was sie forderte. Der Begriff
der Pflicht gewann an Boden gegen den des Genusses, der Bildung und der
Glückseligkeit, nach der die Zeit vorher gestrebt hatte. Die Not näherte die
lang getrennten Stände und stählte den zu weichen Charakter der Nation zu
Entsagung, zu Opferwilligkeit, zu Vaterlandsliebe und Freiheitsmut, zu männ¬
lichem Haß gegen das Schlechte und Fremde. In den Freiheitskriegen bewies
das deutsche Volk, daß die alten Tugenden nicht ganz vergangen waren.
Durch ungeheure Anspannung der Kräfte war nach einer Krisis von
zwanzig Jahren der Boden für eine bessere Zukunft gewonnen; daß darauf
eine gewisse Ermattung, eine Nachschwäche folgte, in der alte Fehler und neues
Streben miteinander wechselten, wird uns nicht mehr so wundern, wie es die
Ungeduldigen der Zeit geärgert hat. Es ist das Bedürfnis der Ruhe, was der
nächsten Zeit nach den Freiheitskriegen das Gepräge giebt. Halb scherzhaft ist
die Bezeichnung der Biedermeierzeit dafür aufgekommen für die Zahmheit, die
Gutmütigkeit und Beschränktheit, besonders in politischen Dingen. Aber man
giebt eben doch auch zu, daß auf materiellem Gebiete durch die Tugenden der
Arbeitsamkeit, Rührigkeit, Anspruchslosigkeit und Sparsamkeit für das Bürger¬
tum eine erneute Blüte begann, als Grundlage einer kräftigeren Entfaltung des
nationalen Lebens.
Es ist wahr, die Bescheidenheit gegenüber der höhern Einsicht der gerade
regierenden war nach der einen Seite ebenso armselig wie auf der andern der
langegehegte Respekt gegen alles, was mit Sicherheit und Anspruch auf Geltung
auftrat: gegen englischen Hochmut, französische Freiheitsphrasen und amerikanische
Flegelhaftigkeit. Der biedere Deutsche, noch mit einem starken Rest von un¬
praktischer Gefühlseligkeit behaftet, ließ sich leicht „imponiren," selbst von un¬
begründeten Ansprüchen untergeordneter Völker, die für ihn etwas Romantisches
und Bestechendes hatten, wie die Polen, die Ungarn, die Griechen, für deren
Angelegenheiten er sich leichter zu begeistern vermochte als für seine heimischen
Zustände, wo alles mögliche verboten war als demokratisch und staatsgefährlich,
wie das Tabakrauchen auf der Straße oder das Turnen. Auf das Fremde
übertrug er die Empfindung und die Gemütshingebung, die ihn den Augen der
Bewunderten und Angestaunten doch nur zum Gegenstande der Verspottung
und des Mitleides, höchstens der herablassenden Schätzung als brauchbaren
untergeordneten Arbeiters, machen konnte. Dieser Mangel an Selbstgefühl,
hervorgerufen durch die Entwöhnung von Selbständigkeit, durch lange Be¬
vormundung der regierenden Staude, machte sich in unserm Jahrhundert
überall geltend, wo der Deutsche den Ansprüchen andrer Völker entgegengestellt
war. Als Bauer, Handwerker und Arbeiter ist der Deutsche überall geschätzt
worden, wo er einzeln oder in Massen eingewandert ist; aber überall hat er
sich geduckt, wie es in der Heimat nötig gewesen war, und hat in der Über¬
zeugung, nur zum Dienen und Gehorchen ans der Welt zu sein, so rasch als
möglich alles verleugnet, was seiner neuen Umgebung hätte Anstoß erregen
können. So ist es nur eine Nachwirkung lange gewöhnter heimischer Zustände,
wenn er allenthalben zum Völkerdnnger geworden ist, ja noch stolz darauf ist,
die Livree seiner neuen Herren recht sichtbar zu tragen. Und das nicht nur,
wo er vereinzelt steht, wie in England oder Nußland, sondern auch, wo er auf
eignem Grund und Boden seine wirtschaftliche Freiheit nur geltend zu machen
brauchte, wie in Nordamerika oder Ungarn, wo es nur des Mutes bedürfte,
deutsch zu bleiben, wie jene Kolonien des dreizehnten und vierzehnten Jahr¬
hunderts.
Ein andres Erbstück, in dem man lange Zeit einen unterscheidenden Zug
unsers Nationalcharakters sehen mußte, ist der sogenannte deutsche Idealismus.
Er ist die Nachwirkung jener ausschließlichen Beschäftigung mit den Vildungs-
intcressen, wie sie den bürgerlichen Ständen des vorigen Jahrhunderts aufge¬
drängt war und ihnen als Ersatz für alles andre Erhebende gelten mußte.
Es ist das, was Napoleon als deutsche Ideologie verspottete, aber in seinen
bessern Folgen unterschätzte, was den Deutschen das etwas ironische Kompliment
des Volkes der Dichter und Denker eintrug. Es war in den Augen der
fremden Völker sein Altenteil, in dessen ruhigem Genuß es ihnen die Herrschaft
über die Welt überlassen sollte. Und dies war wirklich auch die Meinung
vieler Deutschen, die es Schiller, Goethe oder W. von Humboldt gläubig nach¬
beteten, daß der Beruf der Deutschen kein politischer sei, sondern die Pflege
„ruhiger Bildung."
Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens,
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch ausi
Diese Überschätzung des Individuums, das zufrieden sich selbst zu genießen
allem Gemeinwesen und Wirken ablehnend gegenüberstand, denn nnr „gemeine
Naturen zahlen mit dem, was sie thun, edle mit dem, was sie sind," wurde im
neunzehnten Jahrhundert für die Erziehung der oberen Stände maßgebend als
das Ideal der gebildeten Menschlichkeit, der Humanität, deren Vorbilder man
im griechischen Altertum fand. Die Wiederbelebung desselben war das Ziel,
dem die Jugend nachstreben sollte. Daß des Altertums bester Teil das öffent¬
liche Leben und Wirken und dessen Tugenden gewesen war, wurde dabei freilich
ganz übersehe«. Die Entfremdung von der Gegenwart und deren dringenden
Anforderungen zu Gunsten einer eingebildeten Vollkommenheit, die ohnehin nur
sehr selten gelingen konnte, da sie eine aristokratische Lebenshaltung voraussetzte,
fand wohl von selbst im wirklichen Leben die nötige Korrektur. Aber im gauzen
mußte sie doch das Unpraktische im deutschen Volkscharakter noch verstärken
und errichtete in der sozialen Schicht der Aristokratie der klassischen Bildung
einen Unterschied zwischen Gebildeten und Ungebildeten, die sich gegenseitig nicht
mehr recht verstanden. Was Goethe mit den Worten meinte:
Der Deutsche ist gelehrt,
Wenn er sein Deutsch versteht,
das hat für uns noch in anderen Sinne Geltung — gegenüber der Verwüstung
deutschen Denkens und Redens dnrch den Bildnngsnurat der Fremdwördcrsucht.
Daß das soziale Vorrecht der Bildung der Gefahr verfiel, als Gegenstand der Re¬
präsentation, des Scheines betrachtet zu werden, zeigt der echt deutsche Streit, wer
eigentlich als gebildet gelten solle und welcher Bildungs Stoff (!) der beste sei. Das
sind freilich Dinge, die von dem Ideal Schillers und Goethes weit genug abliegen.
Aus derselben Wurzel der Überschätzung der individuellen Geistesthätigkeit,
des rein gesponnenen Gedankens entsprang die theoretische Rechthaberei, die Ver¬
suche, alles Gewordene nach erlernten allgemeinen Sätzen und Regeln einzurichten.
Der Deutsche trachtete zuerst nach dem Begriff und der Formel und war gleich
fertig mit dem Einreißen, während der Engländer zäh an dem Altgewohnten
festhält und nur ändert, was ihm wirklich im Wege steht. Der Deutsche suchte
alles in ein System zu bringen und daran seine Befriedigung zu finden, wenn
auf dem Papier und in Gedanken alles klappte; den Kräften der Wirklichkeit
die Gesetze vorzuschreiben, ist die Eigentümlichkeit des politischen Lebens in der
ersten Hälfte unsers Jahrhunderts, für den Liberalismus und die Büreaukratie.
Der Kühnheit des Gedankens entsprach noch im jetzigen Jahrhundert so
wenig wie im vorigen der Zuschnitt des geselligen Lebens der bürgerlichen
Stände. Hier dauerte die Bedächtigkeit und Schwerfälligkeit des Auftretens
fort, die übermäßige Höflichkeit und Förmlichkeit in Anrede und Briefwesen,
die Breitspurigkeit des Titelwesens, hinter dem der Mensch sich gleichsam zu
verstecken sucht, um nicht für sich etwas sein zu müssen, und damit das Bedürfnis
nach einer Bescheinigung und Anerkennung seiner Verdienste und Stellung und
Beschäftigung. Ein stolzes Ehrgefühl, ein Bewußtsein eignen Wertes verträgt
sich schlecht mit der überlieferten Bescheidenheit, desto mehr die Empfindlichkeit
und Übelnehmerei wegen Verkennung und Zurücksetzung.
Diese Betrachtungen zeigen uns meist Züge und Eigentiimlichkeiten des
Volkscharakters, die ans frühern Zuständen bis in die Gegenwart hinein¬
reichen. Aber wir werden nicht verkennen, daß diese Gegenwart neben ihnen
andre, teilweise entgegengesetzte Züge sich geltend machen sieht. So entsteht ein
widerspruchsvolles Bild, das erst bei einer spätern Beobachtung sich klären kann.
Nur weniges scheint sich mit Bestimmtheit herausheben zu lassen.
In der Hochstellung der Arbeit und der Pflichterfüllung als der Grund¬
lage des Lebens haben die im vorigen Jahrhundert so streng geschiednen Stande
des Volkes einen einigenden Mittelpunkt gefunden. Man darf wohl sagen, daß
damit die Bürgerlichkeit wieder wie im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert
den gemeinsamen nationalen Zug der Deutschen bildet. Der nationalen Er¬
hebung, welche die Fremdherrschaft beseitigte, ging auf geistigem und materiellem
Gebiet eine durch ihr Ziel geweihte Arbeit zur Aufrichtung der Nation zunächst
im preußischen Staate vorher, wo schon Friedrich der Große das Beispiel an¬
gespannter Pflichterfüllung auf dem Thron gegeben, wo Kant den kategorischen
Imperativ „du sollst" mit allem Nachdruck seinen vielfach verweichlichten Zeit¬
genossen eingeschärft hatte. Mit der Gründung der Universität Berlin wurde
die Gelehrsamkeit und Wissenschaft in den Dienst der nationalen Hebung gestellt,
die Romantiker zogen sich aus der unbefriedigender Gegenwart in die Herrlich¬
keit des Mittelalters zurück; die Dichtung selbst stieg aus den idealen Höhen
und arbeitete auf die Wiederbelebung des deutschen Geistes hin. So bildete
sich durch die Verschmelzung materieller und geistiger Arbeit ein Gebiet des
Mittelstandes, dessen Ansichten und Forderungen sich immer stärker als öffent¬
liche Meinung geltend machten und langsam, aber sicher die Scheidung der
Stände auf dem Gebiete der sittlichen Lebensführung überwand. Fortan war
die Arbeit nicht mehr dadurch entwürdigt, daß sie den untern, ihre Frucht den
obern Ständen zum Genuß gehörte. Der Segen der Arbeit ist dem deutschen
Volke seitdem in reichem Maße zu Teil geworden auf allen Gebieten seiner
Thätigkeit.
Zu den hoffnungsreichen Zügen unsers Volkscharakters gehört auch das
Erwachen und Erstarken des Gemeingeistes, das Abstreifen der Engherzigkeit
und Kurzsichtigkeit, des idyllischen Einspinnens in den kleinsten Kreis der Sorgen.
Der Deutsche besinnt sich wieder darauf, daß sein Volk in der Welt schon etwas
bedeutet habe und wieder bedeuten könne. Dazu bedürfte es der Vereinigung
der Einzelnen. Von dem vorigen Jahrhundert unterschied sie die Öffentlichkeit
und die Bestimmtheit der Ziele. Denn an geheimen Verbindungen zu recht
allgemeinen unfaßbarer Zwecken hatte es jenen nicht gefehlt. Noch die erste
allgemeine Vereinigung war von unklarer Schwärmerei, von Ungewißheit über
Zweck und Mittel nicht frei; es ist bezeichnend, daß sie da entstand, wo die
Gelehrsamkeit am meisten mit dem Bürgcrtume sich berührt: alle Angehörigen
deutscher Universitäten sollten eine Körperschaft bilden. Die Turner, Sänger
und Schützen Deutschlands fanden eine ideale Gemeinschaft auf ihren großen
Festen. Allmählich ward der Trieb zur Vereinigung praktischer; er fand greif¬
bare Ziele und errang Erfolge, die den Mut und die Schwungkraft steigerten.
Der Verein zur Gründung einer deutschen Flotte hat viel Spott erfahren, der
Gustav-Adolf-Verein zur Unterstützung deutscher Protestanten im Auslande hat
ein Vorbild gegeben, wie auch viele Einzelne nationale Erfolge erringen können;
er ist der Vorläufer des ebenso kühnen als möglichen Gedankens, fortan den
Untergang deutscher Sprache und Bevölkerung durch Unterstützung aller Art zu
verhindern. Die Kolonialvereine folgten in der Absicht, dem deutschen Stamme
noch einen Anteil an der Erde zu sichern. Und wenn in all diesen Dingen
die Erfolge noch gering sind, so ist doch ein Beweis geliefert, daß das deutsche
Volk nicht mehr alles der Vorsorge der Polizei oder des Staates zuschieben
will oder in stumpfer Gleichmütigkeit dein Ablauf des Geschickes zusieht.
Und endlich haben die Erfolge des letzten Menschenalters den alten Klein¬
mut, die Hoffnungslosigkeit, den Verzicht auf eine politische Geltung und Ent¬
wicklung doch vielfach zurückgedrängt, und der Nationalstolz ist im Wachsen
begriffen, wenn auch in sehr langsamem. Er ist die Eigenschaft eines Volkes,
das an seine Kraft, an seine Zukunft glaubt und den Gefahren mutig ins
Auge sieht.
Denn dunkel ist die Zukunft. Der Vorsprung scheint nicht mehr nachzu¬
holen zu sein, den andre Nationen gewannen während des langen Niederganges
des deutschen Volkes bis zum tiefen Sturz des dreißigjährigen Krieges und zur
langsamen Wiederaufrichtung, während der zwei Jahrhunderte, wo Deutschland
das Schlachtfeld der europäischen Mächte war. Von Westen und Osten be¬
droht die grimmige Feindschaft die neu gewonnene Weltstellung des deutschen
Volkes. Unsre Erniedrigung und Ohnmacht war die Bedingung der französischen
Vormachtstellung unter Ludwig XIV. und unter Napoleon I., und sie ist das
stärkste Hindernis der russischen Weltherrschaft, des letzten Zieles einer dräuenden
Machtentfaltung, die seit zweihundert Jahren Erfolg auf Erfolg errungen hat.
Und überdies hat sich der Schauplatz der Weltgeschichte so erweitert, scheint in
andern Erdteilen dem bisherigen Europa eine solche Überflügelung sich anzu¬
kündigen, daß man behaupten konnte, in absehbarer Zeit werde dem Winkel
zwischen den Alpen und dem Meere dieselbe Stellung in der veränderten Welt
übrig sein, wie sie jetzt den Rumänen beschicken ist.
Aber solche Schreckbilder eiuer fernen Zukunft werden das deutsche Volk
nicht entmutigen, das aus dem Spiegel seiner Geschichte, aus seiner Vergangen¬
heit den Trost gewinne» soll, daß es seinen Bestand schon aus der ärgsten Not
gerettet hat. Die schlimmsten Gefahren find nicht die, denen man ins Auge
sieht, denen man mit Vorsicht und Entschlossenheit entgegengeht. Auch in
Zukunft, so glauben wir, wird nicht ein starres, unabänderliches Schicksal den
Völkern die Lose werfen, sondern Tüchtigkeit und Mut, Ernst und Ausdauer
in der Arbeit des Friedens und des Krieges die Entscheidung bringen. Nur
wer sich selbst aufgiebt, ist verloren; der Tapfere und Beharrliche meistert das
Glück und die Zeit, und in der Stählung unsers Volkscharakters, auf die wir
bauen, liegt die Bürgschaft aufsteigender Entwicklung.
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MMv^olapük und kein Ende! Überall in den Tagesblättern erscheint
der niedliche Name und hinter ihm das gesamte Rüstzeug mo¬
derner Eiuwirkungsmittel: Vortrüge, Zusammenkünfte, Vereine,
Zeitschriften, die mit einander wetteifern in dem Bestreben, Vo¬
lapük unter die Zahl der Modesachen, der Sportgegenstände ein¬
zureihen. Zum Anknüpfen der Bekanntschaft übernehmen wir die Vermittlung,
indem wir unsern Lesern Volapük vorstellen als diejenige Sprache, welche der
katholische Geistliche Johann Martin Schieber (geboren 1831 zu Oberlauda in
Vadeu), früher auf der Bodcuseeinsel Mairan, jetzt in Konstanz lebend, in seinen
Mußestunden 1879 bis 1881 ausgesonnen und 1881 der Öffentlichkeit über¬
geben hat in der Hoffnung, daß es diesem Erzeugnisse menschlicher Erfindungs-
kunst gelingen werde, sich wie ein verknüpfendes Band um die sprachlich zer¬
rissene Welt zu schlingen. Auf diesem Hoffen beruht auch die starke Vorgrcifung,
die Herr Schleyer in dem Namen seines Werkes bekundet, denn Volapük heißt
aus dem Schleyerschen ins Deutsche übersetzt nichts andres als „Weltsprache."
Gewiß verdient ein so uneigennütziges Streben, das lediglich dem Besten der
Menschheit gilt, unsre Anerkennung, denn die Idee eines Weltverständignngs-
mittels ist des Schweißes der Edeln schon wert. Der Nutzen einer allgemein
giltigen Sprache für die Erleichterung und Hebung des Welthandels, für den
Austausch wissenschaftlicher Anregungen und Forschungsergebnisse, wie nicht
minder für den persönlichem Verkehr zwischen den Angehörigen aller Völkerstämme
ist so unbestreitbar und eröffnet für die Kultur so weite Ausblicke, daß man, auch
ohne vor dem Götzen des sogenannten Opportunismus die Kniee zu beugen,
gegen den Gedanken einer Weltsprache füglich keine Einwendungen wird erheben
können. Selbstverständlich gilt das aber nur in der gehörigen Einschränkung. Wer
etwa die Weltsprache dahin auslegte, als sollten alle Völker des Erdballs ihre
Muttersprachen aufgeben, um künftig auch im innern Verkehr mit den Stammes¬
genossen ausschließlich der allgemeinen Sprache sich zu bedienen, der würde mit
Recht als unverständiger Schwärmer dem Spott und der Lächerlichkeit anheim¬
fallen. Kein Volk oder Völkchen der Welt, und stünde es auf einer noch so
tiefen Kulturstufe, wird sich gutwillig der angestammten Sprache begeben zum
Nutzen einer andern Sprache, selbst wenn diese die denkbar größten Vorzüge
und Vollkommenheiten besäße. Noch viel weniger verzichtet ein gebildetes Volk
von freien Stücken auf seine Muttersprache, denn es würde dadurch eine Scheide-
wand aufrichten zwischen seiner Vergangenheit und seiner Gegenwart und sich
den Zutritt zu dem Jungbrunnen der eignen Literatur kurzsichtig und unver¬
nünftig abschneiden. In jedem Falle, wo es sich um beabsichtigten sprachlichen
Übergang einer Bevölkerung handelt, bedarf es eines Zwanges von gewalt-
habcnder Stelle, eines Druckes von oben herab, der aber, um überhaupt einen
Erfolg herbeizuführen, nur mit Schonung angewandt werden darf und deshalb
auch nur langsam und allmählich Erfolg hat. An Belegen hierfür ist in der
Geschichte kein Mangel; nur auf einen sei hingewiesen. Die Abwehr des ost-
wcstlichen Vorstoßes der Slawen in deutsches Gebiet hatte nach dreihundert¬
jährigem blutigen Ringen in der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts sieg¬
reichen Abschluß gefunden, die deutschen Marken waren weit über die Elbe nach
Osten vorgerückt worden. Nun konnte die innere Eroberung der gewonnenen
Länder, ihre geistige Verschmelzung mit dem deutschen Reiche beginnen. Deutsche
Fürsten, deutsche Beamten, deutsche Ansiedler arbeiteten gemeinschaftlich an diesem
Werke. Wie langsam aber ging trotzdem die sprachliche Anpassung vor sich!
Erst 1329 konnte Markgraf Friedrich der Ernsthafte von Meißen die sorbische
Sprache in dem Landstriche zwischen Saale und Mulde amtlich außer Gebrauch
setzen. Bis wann mag sich da die slawische Zunge im gemeinen bürgerlichen
Verkehr behauptet haben! Blühe doch noch heutigen Tages etwas weiter östlich
von dem eben genannten Bezirke, in der preußischen und sächsischen Lausitz, eine
nicht unbeträchtliche slawische Sprachinsel (ISO 000 Seelen), die sogenannte
Wendet, mitten im deutschen Sprachgebiete. Wenn es nun schon in einem ver¬
hältnismäßig so kleinen Landstriche der Obrigkeit solche Schwierigkeiten be¬
reitet, eine Sprachüberführung durchzusetzen, wo sollen wir da die Macht suchen,
die zur sprachlichen Einigung des ganzen Erdkreises Mittel und Wege besäße? Die
Autwort kann nur lauten: Es giebt keine und wird keine geben. Nehmen wir aber
wirklich einmal den undenkbaren Fall als eingetreten an, daß überall auf der Welt
im innern wie im äußern Verkehr eine einzige Sprache geredet würde, glaubt man
denn im Ernst, dieser Zustand würde von Dauer sein? Nur der größte Unverstand
könnte sich solcher Täuschung hingeben. Jede lebendige Sprache befindet sich in
unaufhörlicher Wandlung, nie ist eine Sprache fertig, alle ringen in ewig sich
fortspinnendcr Arbeit nach der angemessensten Form, den Gedanken durch artiku-
lirte Laute zum Ausdruck zu bringe,,. Und wie verschiedenartig muß sich trotz der
Einheit der Denkgcsetze die Form des Ausdrucks in ihrem Entwicklungsgange ge¬
stalten je nach den verschiednen Einflüssen, denen die Menschen ausgesetzt sind!
Bodenbeschaffenheit, Klima, Lebensweise, Beschäftigung und vieles andre erzeugen
die mannichfaltigsten Arten der Anschauung und Auffassung. Als Folge derselben
kann eine Verschiedenartigkeit des geistigen Fortschrittes nicht ausbleiben, und
diese wiederum führt notwendigerweise die Völker in verschiednen auseinander-
gehenden Richtungen immer weiter weg von der Spracheinheit. Aus der einen
indogermanischen Ursprache hat sich im Laufe der Jahrtausende die stattliche Reihe
von mehr als dreißig noch lebenden Sprachen gebildet, die gleich einer weit¬
läufig verwandten Vetterschaft dem oberflächlichen Beobachter kaum noch etwas
Gemeinsames zu besitzen scheinen. So lange die Verschiedenheit der beein¬
flussenden Kräfte vorhanden ist, d. h. so lange der Erdball bestehen wird, muß
auch der Erfolg derselbe bleiben, mit andern Worten, jede Spracheinheit der
Welt wird im Laufe der Zeit in eine Vielheit auseinanderfallen. Und man
darf sagen: glücklicherweise, denn allein die nationale Besonderheit der Sprachen
ist imstande, Originalität und Genialität des Geistes großzuziehen, bei der Gleich¬
macherei einer Weltsprache würde jede Eigenart unter der allgemeinen Schablone
verkümmern müssen. Das Bestreben, alle Völker für den innern sowohl wie
für den äußern Verkehr sprachlich zu uniformiren, erweist sich somit als eine
Danaidenarbeit, welcher der Erfolg versagt bleiben muß.
Trügerischen Wahnvorstellungen solcher Art huldigt wohl auch Herr
Schleyer mit seinen Anhängern nicht, obgleich der stark sozialistisch angehauchte
Volapük-Wahlspruch „Einer Menschheit eine Sprache" den Verdacht leicht er¬
wecken kann. Jedenfalls will er den Begriff der Weltsprache nur dahin ver¬
standen wissen, daß, unter Beibehaltung der angestammten Sprachen für den
Gebrauch jedes Volkes unter sich, noch ein allgemein anerkanntes Verständigungs¬
mittel für den zwischenstaatlichen Verkehr vorhanden sei, welches jeder sich an¬
eignen müsse, der in die Lage kommt, mit Angehörigen fremder Zungen in
Gedankenaustausch zu treten. Gäbe es ein solches Organ, dann hätte z. B. der
Kaufmann statt drei, vier oder noch mehr fremder Sprachen künftig nur die Welt¬
sprache zu erlernen, um seinen Handelsbriefwechsel mit allen Ländern führen zu
können. Der Morgenlandreisende brauchte sich dann nicht mehr mit dem Ara¬
bischen, Persischen, Türkischen, Italienischen und wer weiß welchen Sprachen sonst
noch herumzuschlagen, die einzige Weltsprache würde für den gewöhnlichen Be¬
darf den Nutzen aller jener einigermaßen in sich vereinigen. Von den Werken
der Gelehrten brauchten, um sie zum Gemeingut zu machen, künftig neben dem
Original nur Übersetzungen in die Weltsprache zu erscheinen, falls es die Ver¬
fasser nicht vorziehen sollten, gleich von vornherein ihren Erzeugnissen ein welt¬
sprachiges Gewand umzuhängen, wie vormals ein lateinisches.
Das Latein hat ja für die Wissenschaft bis in die Neuzeit als allgemeines
Verständigungsmittel gedient, und während des Mittelalters war seine Rolle
noch weit umfassender. Als Sprache der römischen Kirche wurde das Lateinische
von den Sendboten Roms überall zugleich mit dem Christentum zur Einführung
gebracht. Kultur und Bildung knüpften sich an die Christianisirung, durch die
Geistlichkeit wurden Schulen eingerichtet und geleitet, in deren Mittelpunkte die
Pflege der lateinischen Sprache stand. Nicht minder errang sich der Klerus
Einfluß auf staatliche Dinge, er verschaffte der Sprache Roms den Eingang in
die Schreibstuben der kaiserlichen Behörden und der landesfürstlichen Ämter und
drückte die Landessprache zur Stufe untergeordneter Bedeutung herab. Gestützt
auf die Pfeiler der Kirche, des Staates und der Wissenschaft hat das Lateinische
die wechselvollen Schicksale der Zeiten lange überdauert und die Rolle einer
mittelalterlichen Weltsprache mit Erfolg gespielt. Der erste Abfall geschah von
staatlicher Seite. Es erwachte allmählich das nationale Selbstbewußtsein der
Völker und erhob sich gegen die aufgenötigte fremde Zunge, die man nicht mit
Unrecht als ein Zeichen der päpstlichen Weltherrschaft und geistiger Knechtung
betrachtete. Im deutschen Reiche begann dieser Umschwung am Ende des drei¬
zehnten Jahrhunderts unter Rudolf von Habsburg, setzte sich fort unter Ludwig
dem Baiern und griff dann immer mehr um sich, bis die Bewegung eine ge¬
waltige Bundesgenossin an der Kirche gewann. Luther öffnete auch der großen
Menge des Volkes die Augen über den Zweck, welchen Rom bei Unterdrückung
der Muttersprache verfolgte, die Reformation übertrug den Sprachenkampf aus
den Amtsstuben der Behörden auf die Kanzel und errang in der überraschend
kurzen Zeit von wenigen Jahren einen glänzenden Sieg. So ging dem La¬
teinischen der Staat verloren, so ward es aus der Kirche wenigstens der Re¬
formation vertrieben. Aber auch in denjenigen Ländern, von denen die evan¬
gelische Lehre gar nicht oder nicht dauernd Besitz ergriff, sah sich Rom wohl
oder übel gezwungen, an der Kirchenherrschaft des Lateinischen etwas nachzu¬
lassen, den Geltungsbereich desselben gegenüber dem Vordringen der Landes¬
sprachen schrittweise zu verringern.*) Nach menschlicher Voraussicht wird aber
das Latein in dieser Beschränkung die anerkannte Weltsprache der römischen
Kirche bleiben, so lange noch ein xontitox irmximus von den Gemächern des
Vatikans oder sonst einem Mittelpunkte aus die geistige Herrschaft über seine
Gläubigen ausüben wird.
Am standhaftesten für die Weltstellung der lateinischen Sprache erwies
sich die Stütze der Wissenschaft. Der aufblühende Humanismus bemühte sich
zu derselben Zeit, wo die andern Stützen immermehr sanken, für die Sprache
Cieeros wenigstens das Feld der Wissenschaft zu retten. Nahezu zweihundert
Jahre über die Reformationszeit hinaus glückte ihm das Streben, von da ab
mußte sich auch diese letzte Hochburg dem siegreichen Nationalbewußtsein Punkt
für Puukt ergeben, und es mag nebenbei daran erinnert werden, daß 1687, also
gerade jetzt vor zweihundert Jahren, der unerschrockene Christian Thomasius
in Leipzig als erster es wagte, eine Universitätsvorlesung in deutscher Sprache
zu halten. Förmlich besiegelt wurde der völlige Sturz des Lateinischen in
neuester Zeit durch die gewaltige Vergrößerung des wissenschaftlichen Forschungs¬
gebietes. So lange sich der Begriff Wissenschaft wesentlich mit Philologie,
Theologie und Philosophie deckte, genügte das Latein vollkommen zum Ge-
dankenausdruck, denn es war durch jahrhundertelangen Gebrauch in diesen
Richtungen ausgebildet und erprobt. Anders beim Erscheinen der technischen
und der Naturwissenschaften. Neue Gedankenkreise, neue Erfindungen, von denen
das Altertum und das Mittelalter nichts ahnen konnten, stellten an Ausdrucks¬
vermögen, Bildsamkeit, kurz an die ganze Fähigkeit der Sprache aufs höchste
gesteigerte Anforderungen, denen das Lateinische nicht gewachsen war. Es zeigte
sich gegenüber solchen Aufgaben als linkisch, schleppend, ungefüg, kraftlos und
konnte den Wettbewerb mit der Schmiegsamkeit und dem Vermögen der frisch
Pulsircnden lebenden Sprachen nicht aufnehmen.
So war das alte Werkzeug, das viele Jahrhunderte hindurch den geistigen
Gedankenaustausch vermittelt hatte, unbrauchbar geworden, ohne daß ein ein¬
heitlicher Ersatz an seine Stelle getreten wäre. Die einzelnen Völker und
Stämme veröffentlichten fortan die Ergebnisse ihres wissenschaftlichen Forschens
in der angestammten Sprache, und je mehr Völker in den Kreis wissenschaft¬
licher Thätigkeit eintraten, umso weiter entfernte sich die Wissenschaft von der
vorigen Einheit, umso schwieriger ward es für die Gelehrten, die Fortschritte
der Wissenschaft regelmäßig zu verfolgen. Von der Wissenschaft gingen auch
die ersten Anregungen aus, dem Latein einen leistungsfähigen Nachfolger zu
schaffen. Die Anhänger des Volapük bezeichnen gern Leibniz als ihren Vor¬
läufer. Sehr mit Unrecht! Allerdings hat Leibniz schon 1666 in seiner
DiWLrwtio as g-res voMding-toria den Gedanken eines allgemeinen Welt¬
verständigungsmittels berührt und ist 1677 in der Schrift 1)<z eonneximiö
mehr rsL et vsrbg., auch 1679 im O^louluZ rMlosozMous nochmals darauf
zurückgekommen, aber was ihm vorschwebte, war nicht eine Weltsprache, sondern
vielmehr eine Weltschrift, die mit Umgehung jeder Sprache unmittelbar an den
Gedanken selbst anknüpfen sollte. Leibniz wollte für die Begriffe allgemein
giltige Zeichen aufstellen und einführen, die, ohne einen Lautwert zu besitzen,
von jedem Kundigen jeder Nation sofort in die heimatlichen Klänge umgesetzt
werden und zugleich als algebraische Zeichen dienen könnten, sodaß jeder Gedanke
gewissermaßen als mathematische Formel für eine Nechnuugsoperatiou sich
dem Auge darstellen würde. Gedanken solcher Art müssen damals förmlich in
der Luft gelegen haben, denn Leibniz ist weder der einzige noch der erste, der
sich bemühte, sie der Verwirklichung näher zu bringen. Bereits 1661 gaben
G. Dalgarn und der Urheber der Phlogistontheorie I. I. Becher einschlägige
Arbeiten heraus, und 1663 folgte ihnen Athanasius Kircher, 1668 der englische
Bischof I. Wilckins. Die Arbeit des letztgenannten ist ein richtiges System,
die andern Bücher über eine „Universalschrift" oder „philosophische Sprache"
sind jedoch in viel höherem Grade theoretische Erörterungen der Aufgabe, als
wirkliche Versuche zu ihrer praktischen Lösung.
Für die Idee einer Weltschrift giebt es mancherlei Analogien. Die Hiero¬
glyphen des alten Ägyptens und die Bilderschrift der Mexikaner z. B. stellen
den Gedanken unmittelbar und ohne Dazwischentreten einer bestimmten Sprache
dar. Auch die Chinesen besitzen noch heutzutage keine Buchstabenschrift, sondern
müssen für jeden Begriff ein eignes Zeichen lernen, das mit dem Lautwerte
des dadurch ausgedrückten chinesischen Wortes gar keine innere Gemeinschaft
hat. Es ist also nicht ganz undenkbar, daß jemand, der kein Wort chinesisch
versteht, dennoch einen chinesischen Text lesen, d. h. verstehen kann, wenn er
sich nur die Begriffsbedeutuug der chinesischen Zeichen genau eingeprägt hat.
Die Schwierigkeit liegt darin, daß neben den Begriffen auch ihre Form, ihre
Beziehungen zu einander auszudrücken sind. Bei den Hieroglyphen und der
mexikanischen Bilderschrift bleibt hierfür der Phantasie weitester Spielraum,
der Chinese, dessen flexionslose Sprache nur eine einzige Form eines jeden
Wortes kennt, hilft sich durch ein peinlich strenges Gesetz in der Aufeinander¬
folge der Worte. Näher steht uns noch etwas andres. Die indischen (ara¬
bischen) Ziffern und die gewöhnlichen Rechnungszeichen sind wohl jedem, der
auch nur eine niedere Schule besucht, in der ganzen zivilisirten Welt bekannt
und geläufig. Der Magyar wie der Baste, der Finne wie der Albcmese, der
Engländer wie der Tscheche, der Franzose wie der Litauer, alle verstehen sogleich
eine Formel wie 4 x ---- 100 — 10 und werden sie anstandslos durch
Worte ihrer Muttersprache wiedergeben. Gelänge es, in ähnlicher Weise für
jedes Haupt-, Eigenschafts-, Zeitwort u. s. w. ein bequemes Zeichen sowohl
aufzustellen wie zur allgemeinen Anerkanntheit zu bringen und ^zugleich die
Formen unzweifelhaft auszudrücken, so wäre ein Notbehelf für den zwischen¬
staatlichen Verkehr gefunden, allerdings keine Weltsprache (Pastlalie), sondern
sondern nur eine Weltschrift (Pcisigraphie). Mündlicher Gedankenaustausch ließe
sich damit nicht bewerkstelligen, es würde auch im persönlichen Verkehr stets
der Schreiberei bedürfen. Dazu kommt noch ein weiteres Hemmnis. Schwerlich
würde sich jemand die Mühe geben, so und so viel Tausende von willkürlichen
Zeichen bis zur Geläufigkeit auswendig zu lernen, man würde getrost und
zufrieden sein, den Zeichenschatz mit nebenstehender Übertragung in die Mutter¬
sprache und umgekehrt schwarz auf weiß in Gestalt eines Wörterbuches bei sich
zu führen. Mühsames Nachschlagen und Aufschreiben sind aber zwei so schwer¬
wiegende Übelstände, daß jeder Versuch zur praktischen Einführung des Ge¬
dankens scheitern muß. Dennoch ist der Versuch am Ende des vorigen oder
im Anfang des laufenden Jahrzehntes von einem Deutschen (Bachmeier) noch
einmal unternommen worden und zwar unter Zugrundelegung des brauchbarsten
und bequemsten Stoffes, der indischen Ziffern. Für jeden Begriff ward eine
mehrstellige Zifferreihe aufgestellt, während zum Ausdrucke der Flexion n. s. w.
die dezimalbruchartig angehängten Einer und Zehner dienen mußten.*) Es
erschien auch eine ganze Reihe von Wörterbüchern dieses Systems für die
modernen Knltursprachen, aber die Beschwerlichkeiten bei der wirklichen An¬
wendung müssen größer gewesen sein als der erwachsene oder zu erwartende
Gewinn, denn gegenwärtig hört man nicht mehr das Geringste vom Gebrauche
dieser Weltschrift.
Mit den wenigen Namen, die im vorstehenden angeführt sind, ist die
Zahl der Bearbeiter von Weltsprachen bei weitem nicht erschöpft, in dem Zeit¬
raume von mehr als zwei Jahrhunderten seit Becher und Dalgarn bis auf die
Gegenwart lassen sich an hundert Arbeiten über den Gegenstand nachweisen,
die hauptsächlich von deutschen, englischen, spanischen und französischen Verfassern
herrühren und zumeist an die Ideen des Bischofs Wilckins anknüpfen. Der
kalifornische Geschichtschreiber und Buchhändler Bancroft in San Francisco
hat in der Absicht, beim Kongreß der Vereinigten Staaten von Nordamerika
die Bildung eines Weltausschusscs zur Beratung der Grundzüge einer Welt¬
sprache zu beantragen, großen Fleiß auf die Zusammenbringung der ganzen ein¬
schlägigen Literatur verwandt. Schon vor mehreren Jahren zählte die Weltsprach¬
bibliothek desselben etwa achtzig Bände, obgleich manche von den älteren Schriften
darin fehlten und die neuesten Arbeiten wie Weltlatein und Steiners Pasilingua
wohl noch gar nicht erschienen waren. Volapük war in der Sammlung mit
einigen wenigen Nummern vertreten, zur Stunde besitzt es bereits für sich
allem ein Literaturchen.*)
Wie ist es nun gekommen, daß die Schleyersche Sprache alle andern Ver¬
suche dieser Art so bedeutend überflügelt hat? Der Erfolg ist viel weniger den
Vorzügen der Sache zu verdanken, als der Rührigkeit ihres Urhebers. Während
die Verfasser andrer Weltsprachsysteme sich damit begnügten, ihre Lehrbücher
herauszugeben und anzukündigen, hat es Herr Schleyer ausgezeichnet verstanden,
die Leute zu gewinnen und der anfänglich winzigen Zahl von Anhängern
glühenden Aposteleifer zur Weiterverbreitung der Sache einzupflanzen. Er trat
mit seinen Freunden in schriftlichen oder persönlichen Verkehr, forderte sie zur
Erteilung von Volapükunterricht auf, brachte die Gründung von Volapükvereinen
in Anregung, veranstaltete Zusammenkünfte, erteilte denen, die Proben ihrer
Kenntnisse abgelegt hatten, Fühigkcitsdiplome und entwickelt in dieser Hinsicht
fort und fort eine nachhaltige Thätigkeit. Kein Wunder, daß bei so rühriger
Propaganda die Anhängerschaft schnell gewachsen ist und noch immer wächst,**)
denn das Publikum ergreift bei vorhandenem Bedürfnis rasch und gern das-
jenige, was man ihm geschickt anpreist. Ein Kollege des Herrn Schleyer, der
Abbe Duploye in Montreuil (früher in Paris), hat dnrch gleiche Hilfsmittel im
Laufe von knapp zwanzig Jahren sein recht untermertiges Stenographiesystem
derartig über ganz Frankreich ausgebreitet, daß andre bessere Systeme völlig
daneben verschwinden. Die Erfinder der letztern verstanden sich eben nicht so
gut darauf, wie es gemacht wird, hatten Wohl auch nicht die nötige Zeit dazu,
das Bedürfnis war aber da und das Publikum nahm das, was man ihm am
geschäftigsten entgegenbrachte. Es soll hiermit kein Vorwurf gegen die Männer
erhoben sein, welche mit Thatkraft ihren Werken Anerkennung zu verschaffen
suchen, nur wider den Irrglauben muß Verwahrung eingelegt werden, als ob
große Ausbreitung immer die Folge sei von großen und alles übertreffenden
Vorzügen.
Unleugbar besitzt ja Volapük manche guten und schätzenswerten Eigen¬
schaften, aber es teilt mit der Mehrzahl gleichartiger Versuche ein tötliches
Grundgcbrechen, das der Gemachtheit, der Fabrikation. Was für eine entsetz¬
liche Oberflächlichkeit, welcher Mangel an allem Verständnis für Geist und
Wesen der Sprache, welche materialistische Rohheit liegt in der bloßen Vor¬
stellung „künstlich ersonnene und verfertigte Sprache"! Wer sich auf diesen
Standpunkt begiebt, verneint einfach den ganzen Entwicklungsgang der Sprach¬
philosophie und Sprachforschung. Schon die alten griechischen Philosophen
haben sich lange und eingehend mit dem Problem der Sprache beschäftigt und
die eleatische Schule z. B. war im allgemeinen der Ansicht, die Sprache sei
durch willkürliche Verabredung der Menschen, d. h. doch Erfindung, entstanden.
Gegen solche Auffassung erhob sich starker Widerspruch, der Meinungsstreit
wogte hin und her, ohne daß es zum Siege einer bestimmten Richtung kam.
In Platons Dialog „Kratylos" hat sich uns ein anschauliches Bild jener
Sprachphilosopheme des sokratischen Zeitalters erhalten. Als in der Neuzeit
Sprachstudien wieder zu ihrem Rechte gelangten, ward auch die Frage nach
dem Ursprünge der Sprache vielfach erörtert. Aus dem Gewirr mehr oder
minder absonderlicher Meinungen hoben sich schließlich zwei Gegensätze heraus
mit den Losungen: „Die Sprache ist eine Erfindung des menschlichen Ver¬
standes" und „Die Sprache verdankt ihren Ursprung einer übernatürlichen Offen¬
barung." Es gehört zu den Verdiensten Herders, der ein so feines Verständnis
für das unbewußte oder halbbewußte Geistesleben der Völker besaß, die Sprach-
Philvsvphie über den Widerstreit jener beiden Ansichten hinausgehoben zu haben.
In seiner Schrift „Über den Ursprung der Sprache" (1772), die von der
Berliner Akademie der Wissenschaften mit dem Preise gekrönt war, zeigte er,
daß weder die eine noch die andre Meinung zutreffe, daß die Sprache vielmehr
ein Charakteristikum der menschlichen Gattung als solcher sei, eine Gabe, mit
welcher der Schöpfer die Menschheit gleich bei ihrem Ursprünge bedacht habe.
Herder wandte sich dabei entschieden gegen die Erfindungsthevrie und betonte
'
nachdrücklich, daß die Vorstellung der Sprache als eines Erzeugnisses mensch¬
licher Erfindung der ganzen Analogie menschlicher Seelenkräfte entgegen sei.
Diesen Satz haben die bedeutendsten Nachfolger Herders bis ans die neueste
Zeit als richtig anerkannt, und z. B. Wilhelm von Humboldt sowohl wie Stein¬
thal erklären bestimmt, an menschliche Erfindung könne beim Ursprünge der
Sprache nicht gedacht werden. Gegenüber dem gereiften Urteile so gründlicher
und spekulativer Köpfe mutet einen das Unterfangen, eine Sprache künstlich
auszuklügeln, geradezu wie ein Wandalismus an, der auf tiefer denkende
unsagbar abstoßend wirken muß. Ist die Fähigkeit des Menschen, seine Ge¬
danken durch artikulirte Laute auszudrücken, eine von Natur ihm innewohnende
Gabe, so hat eine ersonnene und ausgedachte Sprache ueben irgend welcher
natürlich gewordenen denselben Wert und dieselbe Bedeutung, wie z. B. die
Nachformung eines Baumes im Vergleich zu einem im Walde wirklich auf¬
gewachsenen Holze. Gewiß kann man das Erzeugnis der Kunstfertigkeit mit
einer Menge von Vorzügen ausstatten, welche die Natur niemals zusammen
verleiht. Es lassen sich z. B. an einem glatten und schlanken Palmenstamme
ganz regelmäßig und symmetrisch die Äste einer Platane mit ihren breiten,
schattenspendenden Blättern einbohren, und auf den Ästen können die duftigen
Blüten der Akazie und Linde neben Granatäpfeln, Ananas, Feigen und wer
weiß welchen köstlichen Früchten sonst noch angebracht werden. Wer aber wird eine
solche Mißgeburt und Geschmacksverirrung dem unregelmäßig gewachsenen Wald¬
oder Gartenbäume, der nur einzelne von jenen Eigenschaften besitzt, vorziehen?
Steif, tot, starr und eckig steht der Kunstbaum neben dem Naturbaume. Der
letztere entwickelt sich in fortwährendem lebendigen Wechsel bis zum natürlichen
Absterben, ersterer bleibt, wenn er aus künstlichem Stoff hergestellt ist, beständig
leblos und dürr, oder heuchelt, wenn er aus überallher zusammengelesenen Fetzen
der Natur gebildet wurde, nur so lange Leben, wie die aneinander gefügten
Teile noch Saft von dem früheren Organismus besitzen. Die nämlichen Er¬
scheinungen müssen auch bei jeder künstlich gemachten Sprache eintreten. Von
einer Entwicklung kann beim Volapük daher füglich nicht die Rede sein, wohl
aber wird es wie alle Mechanismen durch den Gebrauch abgenützt werden und
für findige Köpfe ein verführerisches Angriffsobjckt abgeben zum Experimen¬
tiren mit allerhand Vervollkommnungen und Änderungen. Wer soll aber die
nötigen Ausbesserungen vornehmen und die Änderungsgelüste in ersprießliche
Bahnen lenken, da nicht wie bei den organischen Sprachen ein mütterlicher
Nährboden vorhanden ist, der alle Veränderungen von selbst regelt? Herr
Schleyer ist kein Jüngling mehr, besitzt auch gar nicht die Macht, den einmal
losgeschossenen Pfeil Volapük in seinem Laufe zu hindern. Noch viel weniger
wird, wenn der Erfinder mit seiner Autorität nicht mehr unter den Lebenden
weilt, eine etwa eingesetzte Kommission imstande sein, die Einheit des Volapük
gegen die auseinander gehenden Wünsche der umschlungenen Millionen zu wahren.
Daß Bedenken dieser Art nicht unbegründet sind, zeigen bereits die Thatsachen
der Gegenwart. Schon jetzt sind die Anhänger des Herrn Schleyer in Frank¬
reich auf dem besten Wege, das Volapttk in ausschließlich und einseitig fran¬
zösischem Sinne weiter zu bilden, und in Österreich heben ähnliche Sondergelüste
ihr Haupt mächtig empor, sodaß die Generalversammlung der württembergischen
Weltsprachler am 1. Mai d, I. mit Besorgnis über die Gefahr der Zersplitterung
verhandelt hat. Und was soll man gar dazu sagen, daß in den Volapükzeit-
schriften spaltenlange tiefsinnige Untersuchungen und Aufsätze darüber veröffent¬
licht werden, ob das aus vier Worten bestehende Motto, welches der Erfinder
Schleyer seinem Lehrbuche vorangesetzt hat, richtig volapükisch abgefaßt sei oder
nicht? Die Weisheit muß sich eben meistern lassen von ihren eignen Kindern!
Für die Zukunft eröffnen sich hiernach recht erbauliche Aussichten, denn, wenn
das jetzt im Anfange am grünen Holze geschieht, was soll dereinst am dürren
werden? (Schluß folgt.)
och einen Schritt weiter in die Tiefe der Seelenfreundschaften,
und wir finden unsre Heldinnen mitten in der Leidenschaft und
hart an der Grenze des Wahnsinnes.
Wie ein einsam stehender Baum, der, vom Sturme durch¬
wühlt, immer von neuem seinen blütenstüubenden Wipfel vornüber-
bengt, den Wanderer mit glänzenden Blättchen und Fäden überschüttet und,
wenn dieser gleichgiltig vorübergeht, sich ästeringcnd zurückwirft, so erscheint
uns Charlotte von Kalb.
Wunderbar sind die Gegensätze in ihrem Leben. In vornehmer und reicher
Umgebung, als das Kind hochadliger Eltern erblickt sie das Licht der Welt.
Aber sie ist zum Unglück geboren. Verwaist, verkauft und verraten ringt sie
nach Selbständigkeit, aber den Halt, den sie im Leben sucht, findet sie nur in
der Tiefe ihrer Seele. Ihr hochbegabter Geist entbehrt jeder gründlichen und
stetigen Bildung, ihr liebebedürftiges Herz findet keine Brust, an der sie aus¬
ruhen könnte. Einsam steht sie da, ohne Freundinnen, weil sie es verschmäht,
sich an Frauen anzuschließen; aber die bedeutendsten Männer weiß sie in den
Bann ihres außerordentlichen Wesens zu zwingen, freilich immer nur auf kurze
Zeit. Sie hat nichts Großes geschaffen, aber mehr als einmal ist sie in ihrer
eigentümlichen Erscheinung, gleichsam in ganzer Figur, als poetische Gestalt in
die Literatur aufgenommen worden. Ein widriges Geschick wirft seine schwersten
Geschosse nach ihr, der Heimatlosen, unermeßlich ist ihr Unglück, aber größer
noch ihre Kraft, zu dulden; sie kämpft um das Dasein, bis sie endlich erblindet,
ermattet in einem Winkel des Königsschlosses in Berlin eine letzte Zuflucht
findet. Und allen Martern zum Trotz erreicht sie das höchste Alter!
Ihr Bild im Schlosse zu Waltcrshciusen, von dem Palleske seinem Werke
„Charlotte" eine Photographie beigegeben hat, zeigt sie uns nachlässig mit auf¬
geschlagenem Buche vor einem Klavier sitzend. Ihre Gestalt ist schlank und
kräftig zugleich, das volle Haar wird von einem Bande nur lose zusammen¬
gehalten, die weit offnen Augen schauen träumerisch in die Welt, um den festen
Mund schwebt ein freundlicher Zug, aber der Gesamteindruck ist nicht unmittel¬
bar einnehmend. Etwas Fremdes und Kaltes mischt sich in diese hellblonden
Brauen, in diese blasse, weiche Hautfarbe; erst wenn man sich daran gewöhnt
hat, beginnt der Zauber einer tief innerlichen Persönlichkeit zu wirken. Ein
andres, von Wurzbach in sein Schillerbuch aufgenommenes Bild aus ihrer
Jugendzeit macht einen ähnlichen, nur etwas frischeren Eindruck. Die Zeit¬
genossen wissen viel zu erzählen von ihrem üppigen lichtbraunen Haare, das
aufgerollt die Erde berührte, und von ihren großen Angen, welche die Welt
gleichsam aufsogen. Die Literaturhistoriker streiten sich über ihren sittlichen
Wert; die einen, Stahr und Hugo Wittmann, werfen ihr Bild in den Staub,
die andern, Köpke und Palleske, erheben es in den Himmel der klassischen
Heroengestalten. Sie war eben die Titanide.
Charlotte entstammte dem reichsunmittelbaren Rittergeschlechte der Mar¬
schalk von Ostheim, die in Franken reich begütert waren. In Waltershausen
im Grabfelde wurde sie geboren, am 25. Juli 1761. Die Großmutter hatte sich
ans einen Enkel gefreut, sie rief der Neugeborenen zu: Du solltest nicht da sein.
Eine schlimme Prophezeiung! Mit einem älteren Bruder und zwei jüngeren
Schwestern zusammen verlebte sie die ersten Kinderjahre im väterlichen Schlosse.
Sie hielt sich zu dem Bruder und nahm teil an dessen Spielen; die Puppe,
dieses erste Spielzeug, das das Mädchen zu dem weiblichen Lebensberufe
hinüberleitct, blieb ihr fremd. Die Wissenschaften nahmen sie auch nicht in
Anspruch, denn außer einigem Unterrichte bei einer Französin erhielt sie wohl
wenig Unterweisung in litterarischen Dingen. In der Hauptsache blieb sie sich
und ihren Träumen überlassen, und da ihrer regen geistigen Empfänglichkeit
kein rechtes Ziel gesteckt ward, so bildete sich eine gefährliche Frühreife aus,
die alle Eindrücke, gute und schlimme, nach dem trügerischen Maßstabe der
schrankenlosen Subjektivität beurteilte. Während dieser Zeit wurde sie von
einer dem Katholizismus zugeneigten Tante nach Bamberg entführt und dort
Von einer bigotten Katholikin und deren Bruder, einem Jesuiten, in die Geheim¬
nisse des religiösen Wunderglaubens so tief eingeweiht, daß sie in einen Zustand
der Angst verfiel, der ihre Gesundheit bedrohte. In solcher Gemütsverfassung
erhielt sie die Nachricht von dem Tode des Vaters. Kein Wunder, daß die
damaligen Erschütterungen der Kindesseele noch in der Matrone nachzitterten!
Und nun erst begannen die Schicksalsschlä'ge, welche sie jeder natürlichen Stütze
im Leben und jeder geistigen Führung beraubten, ihr furchtbares Spiel. Kaum
war sie im folgenden Jahre ins Vaterhaus zurückgekehrt, so starb auch die
Mutter. Von Verwandten zu Verwandten gebracht, bald von den Geschwistern
getrennt, bald wieder mit ihnen vereinigt, wurde sie immer heimatloser und
einsamer. Als Kind habe ich mich ausgeweint, sagte sie im hohen Alter von
sich. In Meiningen empfing sie, zehn Jahre alt, den ersten regelmäßigen Unter¬
richt, aber auch hier verfolgte sie der religiöse Fanatismus und störte die ruhige
Entwicklung ihres Geistes. Neben Racine und Voltaire gab ihr der Lehrer
mystische Bekehrungsschriften in die Hände, die sie verdüsterten und ihren früh¬
reifen Ernst nährten. Die Folge davon war, daß sie zeitweilig ungesellig,
ungefüge und schwermütig erschien. Es giebt kein deutlicheres Bild von den
entgegengesetzten Strömungen, welche damals in den siebziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts die vornehmen Gesellschaftskreise Deutschlands bewegten,
als die Erziehung Charlottens. Sogar die Geheimnisse des Logenwesens und
der geheimen Verbindungen regten ihre Phantasie auf. Dabei wandelte sie fast
immer unter Gräbern. Ihre Pflegerinnen, ihre Lehrer und väterlichen Freunde,
ihr Bruder Fritz, der als vollendeter Kavalier, aber auch ohne ernste sittliche
Leitung, die Universität besuchte, ihre Schwester Wilhelmine, die als Gattin
eines Grafen nach dem Elsaß zog, alle sanken ins Grab. Mit ihrer Schwester
Lorchen stand sie allein im Leben, und immer tiefer versank sie in sich selbst.
Religiöse Erweckungen, eine ernste, meist geschichtliche Lektüre, der Umgang mit
hervorragenden Männern war die Nahrung ihres Geistes und Herzens, im
übrigen liebte sie es, von der Hochburg ihrer philosophischen Reflexionen aus
dem Treiben der Welt zuzusehen. Erst verhältnismüßig spät, im siebzehnten
oder achtzehnten Jahre, gewann sie Geschmack am Romanlesen. „Sophiens
Reise von Memel nach Sachsen" von Hermes reizte sie dazu an. Freilich warf
sie sich dann auch mit der ihr eigentümlichen Energie des Empfindens auf
diesen Genuß. Sie bevölkerte die phantastische Welt, die sie sich in müßiger
Beschaulichkeit bisher aufgebaut hatte, mit poetischen Gestalten. Und immer
rauher wurde die Wirklichkeit. Die Ostheimschen Güter hatten unter vormund¬
schaftlicher Verwaltung nicht gewonnen, der Oheim, ein Herr von Stein, wünschte
der Verantwortung enthoben zu werden und ergriff die erste beste Gelegenheit,
die Nichten zu verheiraten. Die Wahl, welche er traf, war die unglücklichste,
die sich denken läßt. Lorchen, noch fast ein Kind, wurde an den durch Goethes
scharfes Urteil zu trauriger Berühmtheit gelangten Präsidenten von Kalb ver-
geben, der im Juni 1782 den weimarischen Staatsdienst wegen grober Nach¬
lässigkeiten in der Verwaltung der Finanzen hatte verlassen müssen und seine
zerrütteten Vermögensverhältnisse durch die Heirat mit der reichen Erbin zu
verbessern trachtete; die zwciundzwanzigjährige Charlotte mußte ihre Hand dem
Bruder desselben, dem Major Heinrich von Kalb, reichen, einem militärischen
Abenteurer, der unter französischem Banner am Freiheitskriege in Amerika teil¬
genommen hatte und zur Zeit noch in französischen Diensten stand. Im Jahre
1783 fand die Verlobung statt, kurze Zeit darauf die Verheiratung. Herzens¬
neigung wirkte dabei so wenig mit, daß Charlotte in dem Bewußtsein, dem
Bräutigam in den äußern Verhältnissen nicht nachzustehen, Beruhigung suchte.
In der That waren die beiden Waisen in der unverantwortlichsten Art ver¬
handelt worden. Von ihrer Verheiratung an war ihr Leben mir noch eine
schiefe Ebene, auf der sie laugsam, aber sicher in das tiefste Elend hinabglitten.
Von Charlotte gilt dies noch mehr als von Eleonore.
Wir müssen an dieser Stelle einen Augenblick innehalten und rückwärts
blicken. Noch umgiebt die Bräute und jungen Gattinnen der Zauber einer hoch¬
adligen Erziehung, die bei aller Planlosigkeit doch den feinen Duft äußerer
Vornehmheit um sie verbreitet und sie gewöhnt hatte, alle Verhältnisse des
Lebens von einem freiern Standpunkte des gesellschaftlichen Lebens aus zu be¬
trachten. Imi vertrauten Verkehre mit dem meiningischeu Hofe hatten sie sich
die gewähltester Umgangsformen angeeignet, sodaß sie in geselliger Beziehung
hohe Ansprüche machen konnten. Die Empfänglichkeit für alles Hohe, die zarte
Scheu vor allem Niedrigen und Gewöhnlichen war ihnen geblieben. Als Knebel
die junge Eleonore von Kalb im Jahre 1784 auf einer Reise kennen lernte,
war er ganz entzückt von ihr und schrieb an seine Schwester: „Reine, kindliche
Wahrheit und gutes Verlangen habe ich nie auf einem Gesichte mehr ausgedrückt
gefunden. Jeder Muskel spannt sich in lieblicher Nundung dazu und ist voll
dieses Ausdrucks. Von allen Gestalten und Gesichtern an unserm Mittagstische
war es bei weitem das einzig edelste." Etwas reifer und selbstbewußter, aber
ähnlich geartet können wir uns Charlotte denken, als sie auf den Dornenpfad
einer unglücklichen Liebe einlenkte.
Charlotte hatte Schillers „Räuber" bald nach dem Erscheinen gelesen, aber
nicht ganz erfaßt. Nur einzelne Stellen, die ihrer Stimmung entsprachen,
hafteten in ihrem Gedächtnisse. In Bauernhand, im Hause ihrer Verwandten,
der Frau von Wolzogen, sah sie den Dichter selbst, doch nur von fern. Sie
trauerte damals um Bruder und Schwester, Schiller scheint sich absichtlich in
ehrerbietiger Entfernung gehalten zu haben.
Erst in Mannheim traf sie wieder mit ihm zusammen. Dorthin kam sie
im Mai oder Juni 1784 mit ihrem Gemahl, der sich vor Ablauf seines Ur¬
laubes dem Herzoge Maximilian von Pfalz-Zweibrücken, dem künftigen Erben
des baierischen Thrones, empfehlen wollte. Sie richtete einen Auftrag aus
Bauernhand an Schiller aus, und dieser zeigte sich erkenntlich, indem er das
Ehepaar mit den Sehenswürdigkeiten der Stadt bekannt machte. In den Ge¬
sprächen mit dem Dichter ging Charlotten eine neue Welt auf. Sie brauchte
einen Ersatz für die hoffnungslose Gegenwart, und hoffnungslos war diese,
wenn sie auch die ganze Folge von Täuschungen, welche ihrer warteten, noch
nicht ahnte. Mir den Augenblick war es ihr schon peinlich genug, daß sie dem
Gedankenkreise ihres Mannes, dessen Söldnerweisheit zwischen dem nordameri¬
kanischen Freiheitskriege und dem Bourbvnenthrone hin und her schwankte, kalt
und fremd gegenüber stand. Schiller tröstete sie mit der Philosophie der Musen;
schon bei einem Gange durch die Kunstwerke Mannheims erschien er ihr als
der Seher, dessen Begeisterung, dessen feierliche Haltung, dessen sinnender, von
hoher Sehnsucht beseelter Blick ihr als die Offenbarung des wahrhaft Geistigen
erschien. Sie ließ ihn nicht von ihrer Seite, und dies wurde ihr umso leichter,
als Schiller auch zu Herrn von Kalb bald in ein freundschaftliches Verhältnis
trat. So vergingen ein paar Tage in raschem Wechsel der Gedanken und
Ereignisse, dann reifte sie mit dem Gatten weiter nach Landau, wo damals das
französische Regiment, dem der Major angehörte, sein Standquartier hatte.
Auch Schiller war von dem Eindrucke, den Charlotte auf ihn gemacht hatte,
befriedigt. Er nennt in einem Briefe an Frau vou Wolzogen die mit den
Kalbs verlebten Tage sehr angenehm und fährt fort: „Die Frau besonders
zeigt sehr viel Geist und gehört nicht zu den gewöhnlichen Frauenzimmern."
Charlotte erinnerte sich noch im Alter gern daran, daß Schiller am ersten
Tage plötzlich von ihr weg in das Schauspielhaus gegangen sei, um, wie sie
später erfuhr, den Schauspielern einzuschärfen, bei der am Abend stattfindenden
Aufführung von „Kabale und Liebe" den Namen Kalb nicht auszusprechen. Nach
kurzer Zeit sei er wieder gekommen und habe die interessante Unterhaltung mit
ihr fortgesetzt.
Die Garnisonstadt Landau war kein passender Aufenthalt für junge Offiziers-
frcmen, Herr von Kalb brachte Charlotte nach Mannheim zurück. Der ideale
Gedankenaustausch zwischen Schiller und Charlotte war nun auf lange hinaus
gesichert, und zwar auf der breitesten Basis eines ungestörten freundschaftlichen
Verkehrs. Im Anfange freilich war die Lage eigentümlich schwierig. Fran
von Kalb sah ihrer Niederkunft entgegen und hatte dann, als glücklich ein
Sohn angekommen war, an den Folgen eines heftigen Schreckens viel zu leiden.
Schiller holte selbst einmal in der Nacht den Arzt und erntete den Dank des
Gatten, der bald nachher von Landau herüberkam. Erst nachdem sich die junge
Mutter erholt hatte, konnte die ideale Welt wieder zur vollen Geltung gelangen.
An den! Herrlichkeiten derselben nahm auch der Schauspieler Heinrich Beck tell
der mit Schiller in der Bewunderung der hochbegabten Frau wetteiferte. Es
sind aus dieser Zeit nur wenige Zeugnisse auf uns gekommen, außer einigen
Briefen die mystisch angehauchten und poetisch verschleierten Selbstbekenntnisse
der achtzigjähriger blinden Frau. Aus diesen geht hervor, daß philosophische,
besonders kunstphilosophische Betrachtungen den Hauptinhalt der Gespräche
bildeten und daß Ausflüge in die Nachbarschaft zu mancherlei neuen Bekannt¬
schaften Anlaß gaben. Schiller war in seiner Jugend sehr gesellig, er liebte
es, alle bedeutenden Menschen, die er erreichen konnte, in seinen Kreis zu ziehen,
und Charlotte teilte diese Neigung. Auch Gelegenheit zu Neckereien gab es, die
Beziehungen des Dichters zu einer schönen Schauspielerin, Amalie genannt,
wurden nicht unbeachtet gelassen. Zuweilen kam der Major von Landau herüber,
daun gab es Gastmähler, bei denen Schiller nicht fehlen durfte. Charlotte
schildert ein solches Mahl und läßt uns einen Blick in die Unterhaltung thun.
Die Gäste versuchten sich in poetischen Erzählungen, die ein Liebesabenteuer
zum Inhalt haben mußten und deren Reiz darin bestand, daß etwas Selbst¬
erlebtes zu Grunde lag. Es war eben das Treiben der Jugend, ein wenig mit
Sturm und Drang versetzt. In dieser Form scheint die Seelenfreundschaft bis
zum Ende des Jahres 1784 fortbestanden zu haben. Dann aber trat eine
Veränderung ein. Am 11. Januar 1785 erhielt Schiller die direkte Einladung
Friedrich Körners, nach Leipzig zu kommen. Er wurde dadurch in dem Ent¬
schlüsse bestärkt, Mannheim zu verlassen. Die Überzeugung, daß er unter der
Last kleinlicher Geschäfte, die sein Beruf als Theaterdichter mit sich brachte,
nichts Großes schaffen könne, dazu unangenehme Auftritte mit den empfindlichen
Schauspielern hatten ihm seinen Aufenthalt dort verleidet, er sehnte sich in
größere und freiere Verhältnisse einzutreten. Schon als ihm in den ersten Tagen
des Juni 1784 die bekannte Sendung aus Leipzig Körners, Hubers und ihrer
Bräute, Minna und Dora Stock, begeisterte Huldigungen gebracht und ihm
gezeigt hatte, daß er auch anderwärts geliebt werde, mochte sich diese Sehnsucht
in seinem Herzen geregt haben. Sieben Monate waren vergangen, ehe er seinen
Leipziger Verehrern geantwortet hatte. Der Brief vom 7. Dezember ist an
Huber gerichtet. „Ihre Briefe — schreibt er — die mich unbeschreiblich erfreuten,
trafen mich in einer der traurigsten Stimmungen meines Herzens, worüber ich
Ihnen in Briefen kein Licht geben kann. Meine damalige Gemütsverfasfnng war
diejenige nicht, worin man sich solchen Menschen, wie ich Sie mir denke, gern
zum erstenmale vor Augen bringt. Darum, mein Teuerster, behielt ich mir die
Antwort bis auf eine bessere Stunde vor." Die erwähnte düstere Stimmung
aus seinem Verhältnisse zur Frau von Kalb ableiten zu wollen, wäre sehr
gewagt, es liegt kein Anhalt vor. Wohl aber darf man daraus auf eine un¬
behagliche Gesamtstimmung schließe,,, die in der unhaltbaren Stellung zum
Mannheimer Theater ihren Grund hatte. Als der edle Körner in wahr¬
haft herzlicher Weise ihm seine Freundschaft anbietet, ist er sofort entschlossen,
das Band zu zerreißen, das ihn an Mannheim fesselt, und bei dieser Gelegen¬
heit kommt eine Hindeutung ans Frau von Kalb zum Vorschein. Am 22. Fe¬
bruar offenbart er dem neuen Freunde seine Empfindungen: „Menschen, Ver-
Hältnisse, Erdreich und Himmel sind mir zuwider. Ich habe keine Seele
hier, keine einzige, die die Leere meines Herzens füllte, keine Freundin, keinen
Freund; und was mir vielleicht noch teuer sein könnte, davon scheiden mich
Konvenienz und Situationen." Wann Schiller der vertrauten Freundin, von
der ihn Konvenienz und Situationen schieden, Mitteilung von seinem Entschlüsse
gemacht hat, läßt sich nicht genau angeben. Am 28. Februar schreibt er an
Huber: „Ich habe die Übereilung begangen, meine Abreise nach Leipzig laut
zu machen." Doch kann er Charlotte schon früher in seinen Plan eingeweiht
haben. Sie sagt in ihren Memoiren, daß er es nicht ohne lebhafte Erregung
gethan habe. Aber noch mehr geriet sie in Erregung. Zum erstenmale bricht
in ihr jene Leidenschaftlichkeit hervor, die ihrem Bilde das besondre geschichtliche
Gepräge gegeben hat. Sie erschrickt, klagt, beschwört ihn, sie nicht zu verlassen,
„denn seitdem ich Sie kenne — sagt sie ihm —, verlange ich mehr, als ich
vormals von den Tagen erbeten; nie habe ich bekannt, wie öde die Vergangen¬
heit." Der junge Dichter des tragischen Pathos war für solche Herzens-
ergießungen nicht unempfindlich, zwischen Freundschaft und Liebe schwebte schon
lange seine Neigung zu der Idealistin, war sie doch unmerklich seine Muse für
Don Karlos geworden. In die Gestalt der Königin Elisabeth verwebten sich
die Züge ihres Wesens und die Szenen ihres Verkehrs mit ihm, er selbst war
bald Posa, bald Don Karlos. Kein Wunder, daß er ihren Kampf um die
ideale Welt, die er ihr erschlossen hatte, für eine Liebeserklärung nahm und zu
ihren Füßen das fremde „Sie" wegwarf, um „Du" für „Du" einzutauschen.
Diese leidenschaftliche Stimmung dauerte wohl fort, bis Schiller im April 1785
Mannheim verließ. Wenigstens deutet das poetische Wechselgespräch zwischen
Maya und Fimcmte, das Palleske im Anhange zu Charlottens Memoiren mit¬
teilt und das ohne Zweifel sich auf den Abschied von Schiller bezieht, auf sehr
erregte Szenen hin. Trotzdem hielt sich das Verhältnis auf der ursprünglichen
idealen Höhe, und dies war ohne Zweifel Charlottens Verdienst. Der Zug
ihres Wesens, alles zu vergeistigen, war zugleich das spezifische Merkmal ihres
ganzen Daseins. Sie, die Einsame und Heimatlose von Jugend auf, hatte sich
in die Tiefe ihres Denkens geflüchtet, sich hier eine Heimat geschaffen, aus der
sie sich so leicht nicht vertreiben ließ und in der sie später die Kraft gefunden
hat, das Schwerste zu ertragen, was einem Menschen auferlegt werden kann.
Ihre Memoiren sind viel verspottet worden, aber sie sind trotz ihrer wunder¬
lichen Form eine unschätzbare und unerschöpfliche Quelle für die Erkenntnis
ihres eigentümlichen Geisteslebens. Man würde irren, wenn man meinte,
Charlotte habe immer nur eine selbstfabrizirte Weltanschauung in die Dinge
hineingetragen, viel öfter suchte sie in das Wesen derselben einzudringen, aber
für sich behielt sie nur, was mit ihrem idealen Denken übereinstimmte. „Im
Bewußtsein des Geisteslebens nur, sagt sie einmal, sind wir auch empfänglich
für das Leben in der Natur und für die Erkenntnis der Schrift. So du dir
selbst ein Trug bist, wie willst hu Wahres erfassen! Zwar in jeder Anschauung
finden wir ein Mysterium, nur verschleierte Gebilde der Seele. Wir müssen
sie verstehen, sie ehren lernen; es demütigt sich Reichtum, es belehrt Duldung,
gegenseitiges Mitleid, und auf diese Weise erkennen wir des Geistes Wege in
seinem geheimnisvollen Walten, das Leid, den Schmerz und die Auflösung des
Übels." Und ihr gesamtes inneres Leben charakterisirt sie mit den Worten:
„Wer sinnt nicht völlig dem Gebote des Geistes nach! Nur solches Denken
verbindet uns mit höherer Harmonie. Mögliches Wohlsein, eine wirksame Ge¬
sinnung, wie denn anders ist es denkbar als in solcher Verbindung? Wie sonst
göttliche Macht in dem innern Leben gegenwärtig denken? Aber das Wort
»Seele« ist den meisten ein Fremdes, Ungehöriges, ein Trug, und dies ist die
Scheidung der Kreaturen." Mit dieser Innerlichkeit ihres Wesens verband sich
auch eine hohe Wahrhaftigkeit. Sie wollte weder sich noch andre belügen, eher
war sie herb und eigenwillig. Übertünchte Höflichkeit, eitles Geschwätz war ihr
mehr als der Tod zuwider, nirgends in ihren Bekenntnissen oder in ihren
Briefen ist eine Spur von Klatsch zu finden. Die Richtung ihres Geistes, alles
objektiv zu betrachten, in das Innerste der Wesen und Ereignisse einzudringen
und mit Bezug auf einen idealen Lebensinhalt zu prüfen, gab ihr eine poetische
Weihe, die mächtig anzog. Freilich fehlte ihr die gewandte Sprachform. Lebens¬
lang trug sie die Folgen einer mangelhaften Jugendbildung, ihre Sentenzen sind
Hieroglyphen, mit Grammatik und Orthographie stand sie nicht auf dem beste»
Fuße. Darin lag eine große Gefahr. Weil ihr die Form für ihre Gedanken
fehlte, so konnte es geschehen, daß sie selbst in die Tiefe ihrer innern Anschauung
und ihres Empfindens versank, daß sie, zeitweilig wenigstens, in einen mystischen,
leidenschaftlichen Zustand geriet. Aber auch ihre Leidenschaft konnte nur idealer
Natur sein, das Ideale war nun einmal das Gesetz, unter dem ihr Leben stand.
Als Schiller sie in Mannheim kennen lernte, empfand er sogleich die
Wirkung ihres festgeschlossenen und doch so teilnehmenden Wesens. „Du bist
so selbstbestimmt — sagt der Fimante-Schiller —, so dachte ich mir das Weib
nicht, anders erscheint mir nun die Natur, und voll Bedeutung ist mir das
wandelnde Geschlecht der Menschen." Wenn dies auch etwas überschwünglich
klingt, so stimmt es in der Hauptsache doch wohl mit Schillers Gedanken und
Äußerungen überein. Er erkannte in ihr die ihm verwandte poetische Natur,
die ersehnte, begeisterte Zuhörerin und zugleich die Führerin im Leben und
Schaffen. Durch sie wurde er angeregt, in seinem Berufe als Dichter das
Höchste zu versuchen, aber sie beschwichtigte auch die dnrch eine allzu lebhafte
Phantasie erregte Heftigkeit seiner Empfindungen, und so wirkte sie in ähnlicher
Weise auf ihn ein, wie Frau von Stein auf Goethe; auch in dem späteren
Verlaufe ihrer Beziehungen zu Schiller erinnert manches an die Freundin
Goethes. Beide liebten in ihren Freunden in erster Linie die Dichter, und
so lange sie sich dessen bewußt waren, blieb das Verhältnis zu ihnen rein und
hoch ideal. Erst wenn sie selbst nicht mehr recht klar darüber waren, ob ihre
Liebe dein Dichter galt oder dem Manne, geriet das Verhältnis in Gefahr,
ungesund zu werden. Man darf dies nie vergessen, wenn man die Frauen der
klassischen Zeit recht beurteilen will. In Mannheim liebte Charlotte in Schiller
den Dichter, nicht den Mann, und Schiller war damals noch ideal genug
gestimmt, um dieses zarte Band nicht in ungestümer Weise zu zerknittern.
Darum ließ er sich auch nicht in Mannheim halten, als sein rastloser Geist
nach neuen und weiteren Kreisen des Lebens verlangte. „Die Welt fordert
meinen Geist, ich ihre Wissenschaft und Gunst," sagt Fimante treffend zu Malya.
Und mit einer mutwilligen Hast, das Ideale für etwas reelles Neues einzu¬
tauschen, schreibt er am Ende des Februar an Huber: „Mir ist über der Sehn¬
sucht, Mannheim zu verlassen, nicht anders zu Mute als den Ägyptern, da
der Würgengel herumging."
Was hat man aus Frau von Kalb gemacht! Selten ist eine Frau von
der Kritik der Nachwelt so unbarmherzig in den Staub getreten worden als
sie. Für Wittmann in den „Bildern aus der Schillerzeit" (von Ludwig Speidcl
und Hugo Wittmann) ist sie die zugleich spröde und begehrliche Frau, die des
Dichters Leidenschaft aufregt, um ihn dann mit einigen Redensarten von Pflicht
und Tugend zurückzuweisen, eine despotische Kokette, die einen Herkules für
ihren idealen Spinnrocken braucht. Warum nicht gar eine Art Unholdin, die
mit teuflischer Kälte fühlende Menschen in ihren Bannkreis lockt, um sie zu
erniedrigen und über sie zu triumphiren? Zur Erwiederung auf solche Anklagen
lassen wir Schiller selbst reden, nicht den ungestümen Jüngling, sondern den
gereiften Mann, der sich bei der alternden, verarmenden, erblindenden Frau
im Juli 1799 für ihren teilnehmenden Zuspruch am Tage der Aufführung
seines Wallenstein bedankt: „Ihr Andenken, teure Freundin, wird seinen vollen
Wert für mich behalten. Es ist mir nicht bloß ein schönes Denkmal dieses
heutigen Tages, es ist mir ein teures Pfand Ihres Wohlwollens und Ihrer
treuen Freundschaft und bringt mir die ersten schönen Zeiten unsrer Bekannt¬
schaft in das Gedächtnis zurück. Damals trugen Sie das Schicksal meines
Geistes an Ihrem freundschaftlichen Herzen und ehrten in mir ein unentwickeltes,
noch mit dem Stoffe unsicher kämpfendes Talent. Nicht durch das, was ich
war und was ich wirklich geleistet hatte, sondern durch das, was ich vielleicht
noch werden und leisten konnte, war ich Ihnen wert. Ist es mir jetzt gelungen,
Ihre damaligen Hoffnungen von mir wirklich zu machen und Ihren Anteil an
mir zu rechtfertigen, so werde ich nie vergessen, wie viel ich davon jenem
schönen und reinen Verhältnisse schuldig bin." Diese Zeilen sind das ent¬
scheidende Zeugnis für die Mannheimer Zeit. (Fortsetzung folgt.)
s scheint mir am Platze zu sein, hier gleich einiges über das
Repertoire dieser Bühnen mitzuteilen. Der in diesem Fache
nicht besonders bewanderte wird dabei vielen Titeln begegnen, von
denen er sonst nur wenig gehört hat, er wird aber auch vieles
Bekannte und selbst ganz moderne Sachen, wie z. V. Görnersche
Märchenbearbeitungen — Aschenbrödel, Schneewittchen und dem ähnliches —
antreffen. Nur eins hat sich anch in diesen verändert, und nach dem vorhin
gesagten kaun man dies nicht anders erwarten: es ist ein Kasper darin erschienen
und zwar auf die einfache Weise, daß die am meisten geeignete Person dazu
umgetauft wurde. Der Baron Monteconteeoculorum im Görnerschen Aschen¬
brödel giebt ein Beispiel einer solchen Metamorphose. Durch Extemporiren im
Text sucht dann der Spieler auch noch während der Aufführung, wie es ihm
der Augenblick eingiebt, zur Komik möglichst beizutragen, und so wird immer¬
hin eine ganz leidliche Wirkung erzielt. Wenigstens haben sich die Lacher
gefunden, und das genügt dem biederen Knnsttemvelbesitzer vollständig. Aber
neben diesen neuerdings Mode gewordenen Znubermärchen wird man auch
auf vieles stoßen, was schon bei der ersten Szene die alte Überlieferung
verrät. Ich brauche nur Namen zu nennen wie Judith und Holofernes,
Medea, der verlorene Sohn, Fanny und Durmann, Kaiser Orvsmcm, Geno-
veva, Don Juan und vor allem Doktor Faust, und man wird sofort ver¬
stehen, welche eigentümliche und interessante Partie dieser Gattung ich im
Ange habe. Aber gerade mit diesen alten Stücken scheint mir nenerdings eine
ganz eigentümliche und interessante Umwandlung vor sich zu gehen; sie werden
nämlich aus dem Repertoire der für Erwachsene bestimmten Vorstellungen all¬
mählich verdrängt und mehr zu kürzeren Kinderstückcn eingerichtet. Eine wunder¬
bare Ausnahme davon macht die Genoveva und vor allem Doktor Faust, der
mit seinem geheimnisvollen Hintergründe nach wie vor seine Wirkung mächtig
übt. Im großen und ganzen kann ich jedoch sagen, daß ich gerade jene alten
Stücke, die nicht nur den Forscher interessiren würden, sondern auch jedem
Freunde alter deutscher Volksdichtung Freude machen müssen, beinahe am meisten
in solchen Kiudervvrstellungen habe aufführen sehen. Ich will diese Gelegen¬
heit übrigens nicht vorübergehe» lassen, ohne den Wunsch zu äußern, daß man
sich doch auch die kleinsten Pnppenbühncn — die sogenannten Polichinell-
thcater — in dieser Beziehung mehr ansehen möge. Mancher frühere Ma¬
rionettenprinzipal wird durch Zufälligkeiten gedrängt, seine größere Bühne auf¬
zugeben und wandert dann oft lange Jahre mit dem kleinen Kasperletheater
«aber. Aus seinem frühern Leben bringt er aber oft eine ganze Reihe alter
Stücke mit herüber und, wenn sie in dieser Darstellung natürlich auch bedeutend
Perkürzt sind, so ist es doch immer noch der Stoff, der geblieben ist, oder
häufig selbst manche lange Satzrcihen, Fragen- und Antwortmassen, die auf ein
hinter den Fadheiten der übrigen Darstellung versteckt liegendes altes Stück
hindeuten und so von Interesse sein können. Was mich selbst betrifft, so habe
ich mich auch, soviel ich konnte, mit den Stücken dieser kleinsten Bühnen bekannt
gemacht, und ich will gleich gestehen, daß ich dabei nicht ohne Erfolg geblieben
bin. Ich glaube auch nicht, daß dies nur reiner Zufall war, denn ich weiß,
daß nicht wenige gerade der ältesten und interessantesten Puppenstücke sich für
derartige kleinere Schaustellungen leicht einrichten lassen, während sie ihres
vielfach dem Interesse der älteren Zuschauer ferner liegenden Inhaltes wegen
von dem Repertoire der heutigen Marivnettenbühne zu verschwinden beginnen,
oder doch wenigstens jene oben angedeutete Umwandlung zu Kinderstücken durch¬
machen müssen. Außer den bisher erwähnten Stücken giebt es noch eine ganze
Reihe, die je nach dem Orte, an dem das Theater spielt, verschieden sind. Unter
ihnen werden in erster Linie Sagen und Erzählungen der jedesmaligen nächsten
Umgebung immer zahlreich in dem Repertoire anzutreffen sein. Ich nenne
hier unter einer großen Menge z. B. nur Dietrich von Harms, die Kirchen-
räuber zu Großenhain, der Silberherr von Ammberg, die Grube zu Hökeu-
dorf und die Entstehung des Jahrmarktes zu Lvrcnzkirchen. Wieder andre
sind über größere Länderstrecken hin gleichmäßig beliebt und bekannt, wie z. B.
in Sachsen Kunz von Kauffungen oder der sächsische Prinzenraub und Karl
Stülpner, der edle Raubschütz. Alle diese Stücke haben durch das Personen-
thcater hindurch ihre» Weg in die Puppenkomödie gefunden; viele von ihnen
finden sich ja selbst in dem Repertoire der Persvnentheater noch heutigen Tages
vor. Was außerdem noch sammellustige und strebsame Puppenspieler für Schätze
in ihren Bibliotheken aufspeichern, ist zuweilen erstaunlich. Neben ältern,
früher beliebten, aber jetzt von unsern großen Bühnen verschwundenen Stücken
— ich erwähne nur z. B. die der Wiener Schule vom Schluß des vorigen und
Anfang dieses Jahrhunderts, z. B. das Donauweibchen, die Teufelsmühle,
der Irrwisch, das Mädchen im Turm u. s. w., oder solche etwas neuern
Datums, wie die von Kotzebue, Raupach u. a. — finden sich auch gewöhnliche
Repertoirestücke unsrer heutigen Bühnen, z. B. das Käthchen von Heilbronn,
der Freischütz und Preciosa (die letztern zwei als Schauspiel mit eingelegten
Gesängen) häufig vor. Außer diesen ist aber noch ein zahlreiches buntes
Gemisch von allem Möglichen vorhanden, das sich kaum klassisiziren läßt. Um
dies einigermaßen zu veranschaulichen, brauche ich nur Titel zu nennen wie Hamlet
oder die Komödie in der Komödie (in starker Anlehnung an Shakespeare,
nicht das alte deutsche Stück), Fridolin oder der Gang nach dem Eisenhammer
(nach der Holteischen Bearbeitung); Barbara Ubryk oder das Nonnengrab in
Krakau, Napoleon, Onkel Toms Hütte u. s. w. Ist es einem vergönnt, mit der
Zeit mehrere Handschriften desselben Stückes zu erlangen, so kann man leicht
sehen, wie es sich verändert; bisweilen liegen dem sonst von einer einzigen Hand
gleichmäßig geschriebenen Text einige besondre, von andrer Hand geschriebene
Blätter bei, die Einlagen zu dem Stücke bilden. Sie sind entweder frei aus
der dichtenden Phantasie des Prinzipals entsprungen, oder andern Stücken
— und unter diesen am meisten wieder den bekannten ältesten — oder auch
Anekdotensammlungen und ähnlichen Büchern entlehnt. Auch Streichungen sind
oft angebracht, längere ernste Szenen verkürzt, komischere durch eingestreute
Worte und Wendungen deutlicher herausgehoben. Ist auf diese Weise viel
geändert, so wird für eine neue Abschrift gesorgt, und in dieser ist dann äußerlich
von der umgestaltenden Arbeit nichts mehr zu merken. Solchen werdenden
Puppenkomödien kann man in großer Menge begegnen, ja ich glaube, sie bilden
bei weitem die größte Masse von den jetzt auf diesen Bühnen vorhandenen
Stücken.
Wenn Holtei in seinem schon erwähnten Roman den alten Puppenspieler
Dreher sagen läßt, daß seine Zunft im Aussterben begriffen sei und wohl nur noch
drei oder vier davon unter den Lebenden wären, so mag er Wohl Recht gehabt haben.
Mir ist wenigstens bisher kein einziger derartiger, einer Zunft entsprossener Komö¬
diant zu Gesicht gekommen. Natürlich sind damit auch die Zunftcigentümlichkeiten
geschwunden. Wie neue Prinzipale entstehen, ist sehr einfach. Jedes Theater
braucht einen Gehilfen; ist es nur klein, so genügt dazu schon eine einzige
Persönlichkeit, und dieser wird dann meist zugleich das nicht unwesentliche Amt
des Zettelträgers zugeschoben. Der Landbewohner weiß, wie freudig dieser
Zettelträger begrüßt wird. Er bringt die Programme der künftigen Vorstellung
zur Verteilung und holt zuletzt die sämtlichen, meist mit rührender Sorgfalt
vom Publikum aufbewahrten Zettel gegen Verabreichung eines kleinen, um ein
Geschenk bittenden gedruckten Verslcins wieder ab. Außerdem hat der Zettel¬
träger noch mannichfache andre Verrichtungen vor und hinter der Bühne zu
besorgen. Mit der Zeit lernt er natürlich die gespielten Stücke aufs genaueste
kennen, und ist er sonst kein ungeschickter Bursche, so wird es gar nicht viele
Jahre dauern, bis er Mut genug verspürt, seine Kraft als Direktor selbst zu
probiren oder in der Eigenschaft als Schwiegersohn seines Prinzipals in das
Geschäft desselben mit einzutreten. Dies ist das Dienen von der Pike auf.
Diese Zettelträger rekrutiren sich im Gebirge meist aus phantasiereichen und
abenteuerlustigen Webersöhnen, im Flachlande aus allen möglichen Gewerbe¬
arten. Es ist natürlich, daß ein Prinzipal solche Leute bevorzugen wird, die
ihm schon durch ihre Berufsart einen besondern Nutzen gewähren können, und
ihm, wie z. B. frühere Malergehilfen, bei der Instandhaltung und Vergrößerung
seiner Requisiten wichtige Dienste leisten werden. So kenne ich persönlich zwei
tüchtige und beliebte Puppenspieler, die ihre frühere Beschäftigung als Gehilfen
auf dem Malerboden eines Stadttheaters mit dem Berufe des fahrenden
Komödianten vertauscht haben. Unter dem Personal der Puppenbühnen sind
aber auch häufig Schauspieler oder Schauspielerinnen aus kleinen Truppen an¬
zutreffen, die bei besserm Gehalt oft weiter nichts zu besorgen haben, als
während der Vorstellung die wichtigsten Rollen zu sprechen, und die häufig
nicht einmal zur Lenkung der Puppen verwendet werden. Es versteht sich von
selbst, daß je nach den Familienverhältnissen des Puppenspielprinzipals alle die
bisher beschriebenen Verhältnisse sich mannichfach ändern, und daß der erwachsene
Sohn oder die erwachsene Tochter mit in den Kreis der Thätigkeit gezogen werden.
In der Regel wird man finden, daß mau mit allen diesen Leuten eine
gute Unterhaltung führen kann. Ungeschickte Köpfe gesellen sich schon gar nicht
dem Gewerbe bei, und ein halbwegs gut angelegtes Kind erzieht der tägliche
Verkehr mit dichterischen Stoffen, wenn sie auch noch so geringen Wert haben,
doch zu einem leidlichen Menschen, dem auch höhere Dinge ein Interesse ab¬
zugewinnen vermögen. In dieser Weise unterscheidet sich auch der Puppen¬
spieler vorteilhaft und bedeutend von den übrigen Vertretern des fahrenden
Gewerbes, zu denen er sonst in mannichfacher Beziehung steht. So bringen
es z. B. allein schon auf dem platten Lande die Verhältnisse der Landwirtschaft
mit sich, daß der Puppenspieler im Sommer für eine gewisse Zeit sein Gewerbe
vollständig aufgeben muß. Er wird dann für diese Zeit etwas ganz andres. Er
mietet sich Gymnastiker, Springer und ähnliche Leute und eröffnet eine „Arena,"
d. h. er wird zum sogenannten Artisten, wie der moderne r-orrmuus too1rniou8
lautet. Wenn er selbst seit seiner Jugend an derartige Turnerkünste gewöhnt
ist, so führt er auch wohl das seiner würdigste Kunststück aus, d. h. er begeht das
Turmseil und läßt sich als Direktor auf diesem bewundern, während die übrigen
„Engagisten" sich nicht so hoch versteigen dürfen. Andre Spieler schlagen ein
Polichinelltheater auf, andre wieder errichten eine kleinere Menagerie, noch
andre bilden eine Sängergesellschaft, und so thut jeder, was seiner Neigung und
seiner Fähigkeit am meisten entspricht und zusagt. Doch giebt es auch Prin¬
zipale, vor allem im Gebirge, wo die sozialen Verhältnisse anders sind, die auch
den Sommer hindurch ihr Gewerbe als reisende Komödianten fortsetzen.
Als ein Kuriosum sei hier eines kleinen, nahe der sächsischen Grenze, im
Preußischen gelegenen Fleckens gedacht, auf dem eine förmliche Kolonie von
solchen fahrenden Leuten, darunter viele Puppenspieler, sich angesiedelt hat.
Viele von diesen Puppenspielern sind Zigeuner. Sie stellen eine ziemlich
niedrige Stufe des Gewerbes dar und besitzen nur kleine Theater, die sie
schon in einer Stunde bequem aufstellen können; sie kommen mit ihrem
Wagen in einem Dorfe an, verkündigen unter Trompetenschall das, was sie
geben wollen, und packen bereits am nächsten Morgen ihre Bühne wieder zu¬
sammen, um weiter zu ziehen. Von Zeit zu Zeit geben sie ihren Künstlerberuf
auf und kehren dann zu den zurückgelassenen Familienmitgliedern in ihrem festen
Wohnsitz zurück, um dort einige Zeit von ihrem Wanderleben auszuruhen und
mit ihren Stammesverwandten in Berührung zu kommen. Diese Zigeuner
halten übrigens unter einander sehr zusammen und haben geordnete Einrichtungen,
durch welche verarmte Familien eine Unterstützung erhalten können.
Man liest öfter, daß bis vor kurzem noch sämtliche Texte der Puppen¬
komödien nur im Gedächtnis aufbewahrt worden seien und sich von einen:
Prinzipal zum andern nur mündlich fortgeerbt hätten. Ja Holtei läßt selbst
seinen alten Dreher sagen, daß jeder Spieler habe einen Eid ablegen müssen,
niemals ein Stück auf das Papier zu bringen; mit dem Ende des letzten
Puppenspielers müßten dann auch alle Stücke von der Welt verschwinden.
Obgleich nun aber die Zunft und ihre Gesetze vergingen, ist dieses mündliche
Überliefern doch auch heutigen Tages noch vielfach zu finden, nicht bei den
Puppenbühnen ersten Ranges, wohl aber an jenen kleinen, die meist in den
Vorstädten größerer Städte oder in kleinern Ortschaften in der Nähe derselben
anzutreffen sind. Diese haben niemals ein solches Publikum wie die Bühnen
jener Kollegen, die auf dem Lande oder in kleinern Städten spielen, und legen
also auch nicht das Gewicht auf eine so vollendete Aufführung wie jene.
Und da ihnen das Auswendigspielen natürlich die Lebhaftigkeit der ganzen
Puppenführnng ungemein erleichtert, so haben sie keinen Grund, auf die sonst
jetzt übliche Manier des Vom-Blatt-Lesens zurückzukommen. Ist aber, wie bei
den größer« Bühnen des Landes, die Zahl der Stücke einigermaßen größer
und rechnet das Theater auch sonst auf ein besseres Publikum, so wird man
meist finden, daß mit Ausnahme der Rolle des Kaspers, bei der man sich
immer mehr oder weniger Spielraum läßt, die Texte beinahe wortgetreu nach
dem Buche wiedergegeben werden. Ich kenne dies aus persönlicher Erfah¬
rung. Jeder Prinzipal bringt aber trotzdem Veränderungen genug in den Texten
an, denn jeder hat eben seine Ansichten, und sehr häufig müssen wegen dieser
Ansichten auch gute alte Stücke sich Beschreibungen und Zurichtungen gefallen
lassen, bei denen dem Forscher das Herz bluten würde. Ich habe bei der Ent¬
deckung von mehreren derartigen Greuelthaten das eigne Geständnis der Herren
Bearbeiter, zusammen mit deren Begründung, noch in frischester Erinnerung.
Nun darf man aber nicht etwa denken, daß mit den vorhandenen ge¬
schriebenen oder sonst überlieferten Stücken alles gethan sei, nein, fröhlich
sprießend und knospend wächst in der Stille eine neues Geschlecht von Stücken
heran. Ist es denn auch ein Wunder, wenn der Prinzipal nach jahrelangem
Sprechen von schöngesetzten Reden sich endlich in eigner Dichtung versucht?
Meist sind es wichtige politische Ereignisse oder sonstige, das allgemeine
Interesse in Anspruch nehmende Dinge, die diese Ehre erleben. Ich habe selbst
so die Belagerung von Alexandrien, die Reise nach Kamerun entstehen und auf¬
führen sehen. Dem Kundigen entgeht es nicht, daß dabei häufig eine Ähnlich¬
keit mit andern, schon bekannten Stücken vorhanden ist, und daß Redewendungen,
Fragen- und Antwortmassen aus ander» bekannten Stücken unmittelbar entlehnt
sind. Bloße Umarbeitungen von gedruckten und teils als Oper, teils als
Schauspiel, teils auch als Roman schon vorhandenen Stoffen fallen dem auch
den Zeitgeschmack berücksichtigenden Prinzipal natürlich noch leichter. Ich er¬
wähne hier als Beispiel nur den Trompeter von Scikkingen, der mir erst vor
kurzem in einer solchen Umarbeitung für das Puppentheater ausgestoßen ist.
Für das Ergebnis ist dem Unternehmer nicht bange, denn er weiß, zunächst
macht es schon der Titel seines Stückes; und dann, wenn er auch manchmal
in der ersten Zeit mühsam durch die Szenen hindurchstolpert, so sichert ihm
doch eine ordentliche Prügelei oder ein Tanz des Kasper mit der Geliebten
den schallenden Dank seiner Hörer und den gewünschten Schlußerfolg. Es ist
derselbe Genius des Volkes, der schon in längst entschwundener Zeit einem
derartigen Dichter eingab, in den Faust jene Szenen einzulegen, in welchen
Kasper auf dem mit Schwärmern gespickter Drachen abfährt und dann unter
den Scherben des großen thönernen Topfes seine kaum angefangene Luftreise
beendigt.
Doch ich würde die Grenzen dieser Mitteilungen bedeutend überschreiten,
wenn ich über derartige, im Werden begriffene Stücke Genaueres berichten
wollte. Genüge es dem Leser einstweilen, zu wissen, daß der schaffenslnstige
Trieb auch in diesem Teile des Volkslebens noch bestündig und kräftig weiter
fortwirkt.
Das Erscheinen einer neuen Auflage von Bnch-
manns Geflügelten Worten ist immer ein kleines literarisches Ereignis. Vor
wenigen Wochen ist die fünfzehnte ausgegeben worden.'") Wie hat dieses Buch
sich mit den Jahren verändert! Die sechste Auflage, die uns zufällig zum Ver¬
gleich vorliegt, hat 284, die fünfzehnte 523 Seiten! Hieraus kann man entnehmen,
wie das Buch an Vollständigkeit zugenommen hat. Ob diese Vollständigkeit freilich
immer in der rechten Richtung gesucht worden ist, ist eine Frage, die wir nicht
ohne weiteres bejahen möchten. Das Buch verzeichnet und bespricht z. B, anch
einzelne Wörter, die, wie sich nachweisen läßt, bei bestimmten Anlässen gebildet
worden sind und sich dann verbreitet haben, wie Amerika, Atlas, Gas, Aesthetik,
Sternwarte, namentlich auch Fremdwörterverdeutschuugen, deren Schöpfer sich nach¬
weisen läßt, wie Erdbeschreibung, Zerrbild, Stelldichein, lustwandeln u. a. Kann
man diese aber wirklich unter die Zitate oder unter die geflügelten Worte rechnen?
Wir glauben gern, daß es Leute giebt, die auch derlei in einem Zitateuschntze
suchen, die Herausgeber mögen da wohl seltsame Erfahrungen gemacht nud schlie߬
lich gedacht haben: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Dann dürften
aber auch Stephans Postverdeutschuugen nicht fehlen, und wenn die gegenwärtig
herrschenden Sprachreiniguugsbestrebuugcu, wie wir aufrichtigst wünschen, rechten
Erfolg haben, könnte der Büchmann bald in die Lage kommen, ein eignes Fach
für neue deutsche Wörter einzurichten. Da meinen wir denn doch, daß die Voll¬
ständigkeit nach andern Richtungen noch notwendiger zu suchen sei. Auch in der
vorliegenden fünfzehnten Auflage vermissen wir uoch eine Meuge bekannter ge¬
flügelter Worte. Von deutschen z. B. Das Bessere ist der Feind des Guten —
Davon schweigt die Geschichte — Der alte Gott lebt noch — Der Himmel ist
hoch, und der Zar ist weit (ans dem Russischen stammend?) — Die Dummen
werden nicht alle — Die Federn der Diplomaten verderben, was das Schwert gut
gemacht hat —- Gott verläßt keinen guten Deutschen — Hahn im Korbe sein —
Hand von der Butter! — Ja, wenn sie Schulze hießen — Kammerdiener sind
keine Helden — Rom ist nicht an einem Tage gebaut worden — Wem Gott ein
Amt giebt, dem giebt er auch Verstand (soll Sancho Pansa von seiner Statt¬
halterschaft sagen) — Wo nichts ist, hat der Kaiser das Recht verloren u. a.
Sollten diese alle als bloße Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten zu be¬
trachten und von einem Zitatenschatze auszuschließen sein? Auch Schwabenstreiche
und Schwabenalter sollten nicht fehlen; unter den von Gedichtsüberschriftcn stam¬
menden Zitaten vermißt man den Peter in der Fremde, aus der Bibel dürfte
die Wendung: mit Schmerzen suchen (Ev. Luc. 2, 48) nachzutragen sein. Unter
den lateinischen Zitaten sucht man vergebens nach Kunauam rstrorsum — Lud
ross. — und, was namentlich der Leipziger gar zu gern wissen möchte und was
bisher mit allem Aufwand von Gelehrsamkeit nicht nachzuweisen gewesen ist: woher
stammt IiixÄA. vult, sxxeetari, dieser klassisch gefaßte, wunderbar treffende Spruch,
der bis auf den heutigen Tag seine Giltigkeit behalten hat und sich noch immer
täglich aufs neue bewährt? Er dankt doch gewiß irgend einem geschichtlichen Er¬
eignis seinen Ursprung. Und sollte nicht aus dem Griechischem das bekannte
Me-^tiM"?,'«/ ?/es ^ete^vo ^ ^et^<7e?/«t (Tadeln wird es einer eher als nach¬
machen), das nach Plutarchs Erzählung (of gloris. ^.tinzuisusium 2) der ätherische
Maler Apollodor auf seine Bilder schrieb, ferner ^> /lÄ^>), c5 x/^c)^,^^ (was etwa
einem lateinischen 1''ig>t, xorieulnm in rs piu entspricht) und das homerische
x>>.tttetL (Ilias 1, 362) Aufnahme verdienen? Und wenn die Rodomontade
erklärt ist, warum nicht die Gaseonnade? Und wenn der Bucephalus und die
Rosinaute, diese berühmtesten Gäule der Welt, aufgenommen sind, warum nicht auch
der berühmteste Kutscher, Automedon aus der Ilias, der Wagenlenker des Achill
(16, 684. 17, 459 u. s. w.), den schon Cicero (pro Lsxto livseio 88) appellativ
für Kutscher überhaupt braucht? Und wo ist der deutsche Michel? Oder vielmehr
der teutsche Michel, denn die Schrift Grimmelshcmseus: Des weltberühmten Simpli-
cissimi Pralerey mit seinem teutschen Michel, ist doch wohl die Quelle des Wortes?
So viel zur Vervollständigung. Nun einiges zur Berichtigung, und zwar zur
Berichtigung eiuer Anzahl von Nachweise« aus deutschen Dichtern. Das Buch von
Hagedorn, worin Johann, der muntere Seifensieder, zuerst steht, heißt nicht Fabeln
und Erzählungen, sondern Versuche in poetischen Fabeln und Erzählungen. Die
Überschrift des Gedichtes vou Richey, worin die Zeile steht: Ja, Bauer, das ist
ganz ein anders! lautet nicht: Duo quum lÄeinnt Iclom, non sse lava, sondern:
Duo anno kaeiunt lahm, non kaoiunt iclom. Das Nheiuweinlied von Claudius mit
der Zeile: Am Rhein, am Rhein, da wachsen unsre Neben, ist nicht von 1778,
sondern steht bereits in dem (1775 in Lauenburg erschienenen) ersten Bande des
Vossischen Musenalmanachs für das Jahr 1776. Auch Uricms Reise um die Welt
ist älter als 1790; sie steht schon im Vossischen (Hamburger) Musenalmanach für
1736. Hinter Bürgers Weibern von Weinsberg steht bei Büchmann die Jahres¬
zahl 1774; sie sind aber erst im Vossischen Musenalmanach auf 1777 gedruckt.
Dagegen steht Höltys Rheinweinlied: „Ein Leben wie im Paradies" nicht erst im
Vossischen (Hamburger) Musenalmanach für 1777, sondern bereits im Vossischen
(Lciucubnrger) Musenalmanach für 1776, diesem vereinzelten Zwischenhaut zwischen
dem Göttinger und dem Hamburger Musenalmanach, den der Herausgeber gar nicht
gekannt zu haben scheint.'^) Langhansens Ruhe im Grabe beginnt nicht: Im
Grab' ist Ruh, sondern: Im Grabe ist Ruh; übrigens ist Langhäuser nicht auch
der Dichter, sondern uur der Dichter des Liedes; die Melodie, mit der es im
Göttinger Musenalmanach für 1792 steht, und die mit dem Namen Langhansens
versehen ist, ist älter; sie ist von Georg Karl Claudius und steht schou 1780 in
dessen Liedern für Kinder (Noch bin ich ein Kind). Die Schlußzeilen des Liedes
von Salis: „Das Grab ist tief und stille" lauten nicht: „Erlangt den wahren
Frieden — Nur wo es nicht mehr schlägt," sondern: Finde nirgends wahren
Frieden — Als wo es nicht mehr schlägt. Seumes Canadier, der noch „Europens
übertünchte Höflichkeit" uicht kannte, ist viel älter als 1801; er steht schon 1793,
wenn auch als Amerikaner, in Schillers Neuer Thalia. Friedrich Voigts Abschied
Elisas (Noch einmal, Robert, eh wir scheiden) steht bereits 1798 in der Deutschen
Monatsschrift, und zwar heißt der Robert dort Heinrich. Ein bloßer Druckfehler
ist es wohl, wenn Mahlmanns Lied: Ich denk' an euch, ihr himmlisch schönen
Tage, in Beckers Taschenbuch für 1801 verwiesen wird; es steht im Jahrgange
1802, die Seitenzahlen stimmen. Ganz falsch ist der Nachweis über den Denk¬
spruch von Streckfuß, dem die Zeile entstammt: Das Unvermeidliche mit Würde
tragen. Der Spruch steht zuerst in dem Taschenbuch Minerva für 1311 (S. 57)
und beginnt dort: „Im Glück uicht jubeln und im Sturm nicht zagen." Wenn
Streckfuß wirklich dann in seineu Gedichten daraus gemacht hat: „Im Glück
nicht stolz sein und im Leid nicht zagen," so hat er den Spruch selber damit
schmählich verdorben. Und wie kann ein 1811 gedichtetes Lied, wie das von
Wyß: Herz, mein Herz, warum so traurig? bereits 1805 in einer Sammlung
von Schweizer Kuhreiher stehen? Auch hier liegt wohl nur ein Druckfehler vor;
es ist zuerst in den Alpenrosen für 1811 gedruckt. Endlich ist auch Beckers Rhein¬
lied (Sie sollen ihn nicht haben) zu spät angesetzt. Nicht im Rheinischen Jahr-
hunde für 1341, sondern in einer Nummer der Trierischen Zeitung von 1840 ist
es zuerst gedruckt. Im November 1840 gab es bereits eine ganze Anzahl Kompo¬
sitionen davon, und in den Zeitungen stritt man sich, ob man es Rheinlied oder —
Colognaise (nach Marseillaise) nennen sollte. Die meisten dieser Fehler hätte der
Herausgeber vermeiden können, wenn er das „Liederbuch für altmodische Leute"
(Als der Großvater die Großmutter nahm; 2. Auflage; Leipzig, Gruuow; 1887)
zum Vergleich herangezogen hätte, das in seinen Anmerkungen überall genaue und
zuverlässige Nachweise giebt.
Endlich uoch ein Puukt. Ein Buch, das in vierzehn Auflagen im ganzen
deutschen Volke verbreitet ist und eben in der fünfzehnten hinausgeht, sollte sich doch
des besten Deutsch befleißigen, sich freihalten von Provinzialismen (Bcrolinismen,
wie bislang für bisher, Belag für Beleg, fortlassen für weglassen u. cihnl.), und
sollte vor allen Dingen eine Sprachsünde vermeiden, die sich Blatt für Blatt und
Seite für Seite durch das ganze Buch zieht, die abscheuliche Sprachsünde,
Büchertitel und Gcdichtsüberschriftcn als undeklinirbar, als eine Art von Sprach-
versteincrungen zu behandeln. Wo in Deutschland ist ein Mensch, der sagt: „Ich
bin gestern Abend in die Räuber gewesen" oder gar: „Ich bin in Schillers die
Räuber gewesen?" Oder wer sagt: „Dieses Lied ist aus der Wandsbecker Bote
genommen?" Jeder vernünftige Mensch sagt doch: „Ich bin in den Räubern ge¬
wesen" oder „Dieses Lied ist aus dem Wandsbecker Boten genommen." Der
Herausgeber wird nun entgegnen, er schreibe ja gar nicht so; er schreibe mit Doppel¬
punkt, Anführungszeichen und großem Anfangsbuchstaben: „Dieses Lied ist aus:
»Der Wandsbecker Bote« entnommen." Wie klingt denn aber der Doppelpunkt, wie
klingt der große Buchstabe, wie klingen die Anführungszeichen? Kann man sie
hören? Man hört doch nur: „aus der Wandsbecker Bote." Sprache kommt doch
wohl her von sprechen, und es giebt doch nicht zwei verschiedne Sprachen, eine für
die Ohren und eine für die Augen? Gleichwohl ist diese thörichte Meinung, daß
es eine besondre Papiersprache gebe, jetzt allgemein verbreitet. Woher stammt sie
nur? Aus den Schulen? Aus den Druckereien? Zu Schillers und Goethes
Zeit wußte noch niemand etwas davon. Da schrieb man, wie man spricht und
hört: aus der Braut von Messina, aus Nathan dem Weisen 2c. Jetzt liest mau
alle Tage: aus: Der Trompeter von Scickingcn, ans: Die Meistersinger von Nürn¬
berg 2c, Ist das vernünftiger Menschen würdig? Möchte doch die nächste Auf¬
lage der Geflügelten Worte einmal unerbittlich in dieser Beziehung aufräumen!
Dabei könnten auch gleich noch die schönen Genetive Claudius', Voß' u. a. beseitigt
werden. Das ist auch so eine Schulmeister- und Kvrrektorenerfindung, daß mau
einen Genetiv durch ein Apostroph bilden könne. Wie klingt denn das Apo¬
stroph? Voß drehte sich im Grabe um, wenn er läse: aus Voß' Musenalmanach.
Zu Vossens Zeit bildete man den Genetiv von Namen auf s, ß, z, dz — na, da steht
er ja schon. _
Bis vor einigen Jahrzehnten konnte man in
den deutschen Zeitungen fortwährend „Komplimentirbücher" angekündigt finden,
populäre Lehrbücher der guten Lebensart, welche offenbar viel mehr Beifall fanden,
als des geistvollen Kuustforschers Rumohr „Schule der Höflichkeit." Daun schien
das Bedürfnis weniger lebhaft und allgemein zu werden und endlich ganz zu
schwinden. Ob die Erziehung dergleichen Not- und Hilfsbücher entbehrlich gemacht
hatte, oder ob man des „guten Tones" glaubte entraten zu können, wollen wir
dahingestellt sein lassen. Plötzlich tauchen nun wieder verschiedne Schriften auf,
welche mehr oder weniger frei nach dem englischen Büchlein „Don't" Regeln auf¬
stellen, wie wir uns in der Gesellschaft zu benehmen haben, und abermals folgen
die Auflagen einander sehr rasch. Sie genügen einem neuen Bedürfnis. In den
höheren Klassen sind die englischen Anstandsgesetze allgemein angenommen worden,
begreiflicherweise wollen die andern nicht zurückbleiben, und da sie nur ausnahms¬
weise Gelegenheit haben, die englischen Sitten praktisch zu studiren, greifen sie be¬
gierig uach dem auf wenige Seiten zusammengedrängten Leitfaden. Und es ist ja
gewiß erfreulich, daß so viel Wert auf die Formen des Verkehrs gelegt wird, ebenso
gewiß, daß wir darin viel von den Engländern lernen können, entschieden mehr
als von den Franzosen, die heute so sehr beflissen sind, ihren alten Ruf der höf¬
lichste» Nation zu zerstören. Man mag immer behaupten, daß niemand den Um¬
gang mit Menschen aus dem Knigge lernen werde: über die ganze Literatur dieser
Gattung wegwerfend abzuurteilen, ist ebenso wenig gerechtfertigt wie das einstige
Absprechen über allgemeine encyklopädische Werke. Es fragt sich nnr, ob die neuen
Komplimentirbücher sich von den alten ebenso vorteilhaft unterscheiden, wie die neuen
gründlich gearbeiteten Encyklopädien von den handwerksmäßigen Kompilationen der
Vergangenheit? Findet derjenige, welcher nicht das Glück gehabt hat, in einer ge¬
bildeten Familie aufzuwachsen und unmerklich zu lernen, was sich ziemt, und der
sich dieses Mangels bewußt ist, wirklich bei dem gedruckten Ratgeber Ersatz? Wir
bedauern, diese Fragen nicht einfach bejahen zu können.
Vor allem sehen wir keineswegs ein, weshalb das „Don't auch für andre
Völker unbedingt Gesetzeskraft haben soll. Es gehört zu den nationalen Vorzügen
der Briten, daß d^r Prinz und der zukünftige Lord wie der Sprößling des Brokers
oder des kleinen Grundbesitzers in der Kinderstube genau an dieselben Vorschriften
des Benehmens gewöhnt werden. Aber daß unter diesen Vorschriften sich mancherlei
befindet, was keinen vernünftigen Grund hat, erkennen vorurteilsfreie Engländer
selbst an, wie z. B. Thackeray in dem ZZoolc ok Snobs. Anderseits wäre wohl
nicht zu wünschen, daß wir nus die ganze brutale Rücksichtslosigkeit, welche Eng¬
länder nur zu oft im öffentlichen Leben, besonders im Auslande, bekunden, syste¬
matisch angewöhne«. Wir gestehen, es weniger anstößig zu finden, wenn jemand
einmal die Gabel in die rechte Hand nimmt, als wenn er die staubigen Füße auf
den Sitz seines Nachbarn legt, odcr, wie das in London täglich gesehen werden
kann, im dichtesten Menschengedränge achtlos das brennende Kerzchen wegwirft, mit
welchem er seine Pfeife angezündet hat. Rüge man dergleichen, so wird gewöhnlich
geantwortet, die betreffenden Personen gehörten nicht zur guten Gesellschaft. Allein
ist nicht das Erscheinen eines Buches wie „Don't" ein Beweis, daß heutzutage viel
gegen den Schicklichkeits-Kodex gesündigt werden muß? Stochern nicht in den
feinsten Restaurants Herren, die entschieden ans den Titel Gentleman Anspruch er¬
heben, ohne Scheu in den Zähnen herum und tragen den dazu benutzten Federkiel
dann noch auf der Gasse zwischen den Zähnen, was doch gewiß sboekin^ ist? Die
Verehrung, deren sich einstmals das Pfund Sterling, später die „politische Erb¬
weisheit," der Freisinn und Edelmut und die Macht Alt-Englands bei uns erfreuten,
ist einigermaßen gewichen, es ist nicht notwendig, daß wir dein Hochmute der angel¬
sächsischen Rasse neue Nahrung geben durch — oder sprechen >vir gleich im Tone
der neuen Komplimentirbücher: „Es schickt sich nicht, fremde Eigenheiten nachzu¬
äffen."
Des weiteren soll jemand, der über gute Lebensart unterrichten.will, diese
doch selbst besitze», denn es schickt sich nicht, aus einer Sprache zu übersetzen, die
mau nicht völlig beherrscht, es schickt sich nicht, Sätze niederzuschreiben, bei denen
man sich nichts denkt, es schickt sich nicht, Hilfesuchenden Ratschläge zu geben, die
sie eben so klug lassen wie zuvor. „Es schickt sich nicht, taktlos zu sein. Weiß
man nicht, was Takt ist, so soll man wenigstens erst an andre, dann an sich denken,
und dies Wird den Takt einigermaßen ersetzen," so lehrt wörtlich eine in Prag er¬
schienene Bearbeitung des „Don't." Ist das nicht köstlich? Hat der Verfertiger
dieses Buches, der doch augenscheinlich nicht weiß, was Takt ist, wirklich zuerst an
andre gedacht, um deu Mangel „einigermaßen" auszugleichen? „Es schickt sich
nicht, fehlerhaft zusprechen." „Es schickt sich nicht, mir statt mich zusagen," steht
gleichlautend in mehreren Ausgaben. So viel bekannt, wissen von den Menschen,
welche fehlerhaft sprechen, die allermeisten nicht, daß sie dies thun, und der kleine
Rest will sich eben dadurch interessant machen. Es sollen ja schon Leute dadurch
ihr Glück gemacht haben, daß sie sagen: „Ick weeß man »ich" oder: ,,J woas net."
Die andern aber, wie sollen sie es anfangen, nicht in den Fehler zu verfallen?
Antwort: „Man lerne die Grammatik und lese die Werke der besten Schriftsteller."
In der That sehr einfach, doch ließe sich dasselbe noch einfacher sagen: „Man sei
gebildet." Weiter: „Es schickt sich nicht, eingebildet, aufbrausend und beleidigend
zu sein. Es schickt sich nicht, andre zu unterschätzen und sich zu überheben. Es
schickt sich uicht, selbstgefällig, eingebildet und eitel zu sei». Es schickt sich nicht,
Thatsachen zu verdrehen. Es schickt sich nicht, ein Geck oder ein Modenarr zu
sein." Sollte es nicht auch unschicklich sein, gegen die zehn Gebote zu ver¬
stoßen? Schickt es sich nicht vielleicht, geistreich, talentvoll, mutig u. s. w. zu
sein? Wir haben ferner den Satz vermißt: „Es schickt sich nicht, ein häßliches
Gesicht oder krumme Beine zu haben." Bei Tische „pöbelhaft zu sein" oder in
Gesellschaft im Schlafrock zu erscheinen, wird ebenso untersagt, wie „etwas zu tragen,
das hübsch ist!" Doch genug des Unsinns und der Gemeinplätze, unter deren Menge
die für manchen nützlichen Winke verschwinden, und die den Armen, der ein solches
Buch zur Richtschnur nimmt, nur verwirren können. Dem Prager Verleger em¬
pfehlen wir für die nächste Auflage uoch einen Satz: „Es schickt sich nicht, den Titel
eines Buches in diagonaler Richtung auf dem Umschlag anzubringen, denn das
verrät einen schlechten Geschmack."
S
o von Herzen einverstanden ich auch mit den
sonstigen Ausführungen des Artikclchens „Unentwegt" am Schlüsse von Ur. 28
dieser Blätter bin, so kann ich doch gerade hinsichtlich des anlaßgebenden Wortes
nicht zustimmen. „Unentwegt" ist weder von Johannes Scherr noch von sonst
jemandem erfunden worden; es ist ganz einfach ein schweizerischer Provinzialismus,
und als solcher denn doch nicht ganz unberechtigt. In einem Berglande ist es
eine große Sache, wenn jemand die Gabe hat, sich nicht von seinem Wege ab¬
drängen zu lassen, und es läßt sich sehr wohl denken, wie dieser Ausdruck so recht
aus dem Volksleben heraus schließlich ein bildlicher wurde. In dieser seiner be¬
sondern Bedeutung, die in der schweizerischen Presse und in dein dortigen öffent¬
lichen Leben auch durchaus festgehalten wird, dürfte das Wort doch wohl weder
dnrch „beharrlich" noch durch „standhaft" ersetzt werden können; es will wieder
etwas andres sagen, mit dem sich in höherem Grade als mit den beiden genannten
Wörtern der Begriff eines bestimmten, unerschütterlich im Auge behalten«» Zieles
verbindet. Vollkommen richtig ist es freilich, daß dieses Wort wie viele andre
unsers heutigen „Zeitungsdeutsch" ohne Rücksicht auf seine besondre Bedeutung und
wohl gar ohne Kenntnis derselben benutzt zu werden pflegt, und daß man es über¬
haupt da, wo es nicht bodenwüchfig ist, besser nicht benutzen sollte; daß es aber
in der Schweiz ein herkömmliches und in seinem besondern Sinne wohlverstandenes,
darum auch (wenigstens provinziell) nicht unberechtigtes Wort ist, das wird jeder
bestätigen, der einmal Gelegenheit hatte, schweizer Blätter regelmäßig zu lesen und
auf das öffentliche Leben der Eidgenossenschaft sowie der Kantone einen Blick zu
werfen. Gerade die Kleinlichkeit des letzteren scheint mir die HKnfige Anwendung
dieses Wortes sehr naheliegend zu machen.
Von den Reden des Fürsten Bismcirck ist bis jetzt eine anständige deutsche
Ausgabe noch nicht erschienen. Es wird keiner Ausführung bedürfen, wie schwer
es zu beklagen ist, daß das deutsche Volk die Reden seines größten Staatsmannes
nicht in einer Form besitzt, welche der Reden wie des Mannes würdig ist. Was
bisher erschienen ist, sind entweder nur Auszüge oder Ausgaben mit kleinem Druck,
mäßiger Ausstattung und ungenügender Erläuterung. Demgegenüber bildet die
französische Uebersetzung eine mustergiltige Erscheinung, und der Umstand, daß das
umfangreiche und kostspielige Werk bereits in zweiter Auflage vorliegt, beweist,
welch dringendem Bedürfnis ein solches Unternehmen entgegenkommt. Der vor¬
liegende vierte Band hat mit Recht die bisher innegehaltene chronologische Form
verlassen; er umfaßt die Reden des Reichskanzlers aus der Zeit und dem Gebiet
des Kulturkampfes. Die Veröffentlichung hat den glücklichen Zeitpunkt, an welchem
nach dem eignen feierlichen Ausspruche von Papst Leo XIII. der Kampf beendet
ist, gewählt. Mit dem Register enthält der stattliche Quartband 673 Seiten. Die
Uebersetzung rührt von jemand her, der die französische Sprache wie die deutsche
in gleicher Weise beherrscht; gegenüber der Schwierigkeit, die in dem Stoffe und
in der prägnanten Redeweise des Fürsten liegt, ist die Uebersetzung gradezu muster-
giltig zu nennen; sie ist bemüht, alle Schilderungen des Ausdrucks getreu wieder¬
zugeben. Eine kurze Einleitung giebt ein Bild von dem Gange des Kulturkampfs,
wobei der Verfasser merkwürdigerweise die Auffassung wiederspiegelt, wie sie in
Ur. 22 der Grenzboten „Der Friede mit Rom" weiter ausgeführt ist. Jede Rede
ist von Anmerkungen begleitet, welche nicht bloß einzelne Stellen erläutern, sondern
oft ausführliche Darlegungen über die Veranlassung und den Gegenstand enthalten.
Die Entwürfe und der Text der in Rede stehenden Gesetze, die Kundgebungen der
Kurie und der Dcpeschenwechsel aus der Zeit des Konzils, wie er namentlich in
deu letzten Wochen in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" veröffentlicht
worden ist, sind beigefügt — kurz, wir haben es hier mit einem Werke zu thun,
welches jedem unentbehrlich ist, der sich über eine der denkwürdigsten Perioden der
zeitgenössischen Geschichte unterrichten will. Wir können unsre Kritik nur mit der
Bemerkung beschließen, daß die deutsche Lesewelt alle Veranlassung hat, die fran¬
zösische um dieses Buch zu beneiden.
Zum großen Teil aus dem Bedürfnis des Verfassers entstanden, sich und die
ihm folgenden gegen Mißverständnisse und Vorwürfe zu verteidigen, ist diese
Sammlung von Jonrnalartikcln eine wertvolle Bereicherung unsers Wissens in
Betreff der Ursachen und Ziele der Kolonialbeweguug, die seit einiger Zeit bei
uns an der Tagesordnung ist. Dr. Peters ist einer der Führer bei einer der Rich¬
tungen, welche innerhalb derselben eingeschlagen worden sind und Erfolge aufzu-
weisen haben. Er ist ein Mann von Bildung, sogar philosophischer und noch
mehr durch Erfahrung und Beobachtung erworbener Bildung, ebenso sehr aber ein
Mann mit energischem, auf Thaten gerichtetem Willen und nur vielleicht in seinen
Erwartungen etwas sanguinischer und optimistischer, als gut zu sein scheint. Wir
sagen, scheint; denn in Dingen, die noch vielfach genauerer Untersuchung bedürfen,
ist ein endgiltiges Urteil selbstverständlich ausgeschlossen. Anderseits aber scheinen
hier Charaktere wie er, die nicht zu lange fragen und erwägen, sondern ans
Handeln gehen, so lange die Gelegenheit günstig ist, besser am Platze zu sein als
bedenkliche, welche über Vorbereitungen die rechte Stunde verpassen und dann er¬
leben müssen, daß rascher entschlossene und keck zugreifende sich der Früchte bemäch¬
tigen, die der Baum trägt. Was die Form des Buches betrifft, so würde eine
Verarbeitung der einzelnen Stücke zu einem organischen Ganzen mit geschickter
Gruppirung besser wirken als diese Aneinanderreihung, bei der Wiederholungen
nicht zu vermeiden waren; auch stört die Verschiedenheit des Tones, der bald er¬
zählend, bald Polemisch und zuweilen burschikos ist. Vieles einzelne aber ist ganz
vortrefflich. ^ Dahin gehören namentlich die Abschnitte über Deutschtum und Eng-
ländertum, die Deutschen in London, die deutsche Kolonialpolitik aus englischer
Perspektive und Nationalismus und Kosmopolitismus. Recht hübsch erzählt ist
auch der Verlauf der ersten Expedition, die Peters mit Jühlke und dem Grafen
Pfeil uach Usagara unternahm, um dort durch Verträge mit Häuptlingen des Landes
Gebiete für deutsche Kolonien zu erwerben, die, wenn nicht alles täuscht, was wir
bis jetzt vou ihnen wissen, eine reiche Zukunft im Schoße tragen. Wie bekannt,
ist Peters vor kurzem wieder nach Ostafrika abgereist, um diese Zukunft weiter
vorzubereiten, nachdem er die finanzielle Unterlage dazu mit Ausdauer und Energie
gewonnen hatte. Wünschen wir dem eifrigen und gewandten Manne recht guten
Erfolg, und hoffen wir, daß uns bald Meldungen zukomme», die uns sagen, daß
sein Werk, dem es an Hindernissen und Gefahren nicht fehlen wird, anfängt, die
Mühe zu verlohnen, die sein unzweifelhafter Patriotismus sich bisher gegeben hat.
Dies Buch ist eins der keineswegs häufig vorkommenden Bücher, die man
von Anfang bis zu Eude mit Genuß und Belehrung lesen kann. Der Verfasser
vergleicht sich einem Jäger, der vom Gebiete der Nationalökonomie aus kühne Streif-
und Beutezüge ins Gebiet der Naturwissenschaft und Philosophie macht. Gerade
diese Verbindung und Durchdringung der verschiednen Gebiete zeigt sich an der
Hand des außerordentlich kenntnisreichen Verfassers sehr fruchtbringend, und be¬
sonders werden viele Gegenstände, die sonst unerträglich trocken und nur für den
speziellen Fachgenossen genießbar sind, durch diese Art der Behandlung zu einer
leichten, anmutigen Lektüre, der man dann auch leicht verzeiht, wenn einmal die
Phantasie etwas zu weit über deu Boden der Erfahrung hinausschweift. Der sehr
reichhaltige Inhalt läßt sich nicht in wenig Worten wiedergeben. Man muß es
lesen und wird sich freuen über den gesunden Standpunkt des Verfassers, der Natur-
nnd Kulturerkenntuisse so zu vereinigen weiß, daß der Zukunft des Menschen¬
geschlechtes rin gutem Vertrauen entgegengesehen werden kann.
o manchen unsrer Leser wird wohl ein gelindes Gruseln an¬
wandeln, wenn er fern im Reiche von Oberschlesien sprechen hört.
Denn unwillkürlich wird sich ihm der Gedanke von öden und
wüsten Landstrichen und von einer zum Teil verkommenen und
auf einer niedrigen Kulturstufe stehenden Bevölkerung aufdrängen.
Nun, so schlimm wie sein Ruf ist Oberschlestcn weder in Bezug auf seine Boden¬
beschaffenheit noch auf seiue Bewohner. Und wenn diese Behauptung nicht von
einem Eingeborenen, sondern von einem Eingewanderten, der Mittel- und Nord¬
deutschland zum großen Teile kennt, ausgesprochen wird, so dürfte sie wohl
einige Glaubwürdigkeit haben. Vielmehr sind die am südlichen Fuße der
Sudeten gelegenen Hügelgelände meistens von großer Fruchtbarkeit und überall
landschaftlich schön, das Oderthal ist gleichfalls sehr fruchtbar, selbst auf dem
verschrieenen rechten Oderufer fehlt es in der Gegend des polnisch - schlesischen
Landrückens nicht an ergiebigen und schönen Landstrichen, und der vber-
schlesische Wald, der überall hier anzutreffen ist, erfreut sich nicht nur wegen
seiner vortrefflichen Hölzer und seines schnellen Wuchses bei allen Forstleuten
eines guten Rufes, sondern er kann sich auch wegen seines reichen Unterholzes
mit den schönsten Nadelholzwaldungen der ganzen Monarchie messen. Nehmen
wir noch hinzu die hohe Entwicklung des Bergbaues in dem sogenannten Hütten¬
distrikte, ein vortrefflich aufgebautes Eisenbahnnetz, wie es im Osten unsers
Vaterlandes kaum wieder vorhanden ist, und eine sehr große Menge von
Straßen, die den Verkehr bis nach den kleinsten Landstädten erleichtern, so
wird man zugeben müssen, daß es sich in Oberschlesien immer noch leben läßt
und daß das Land weit davon entfernt ist, dem Reisenden den Charakter einer
öden, unwirtlichen und unkultivirten Gegend darzubieten. Freilich giebt es,
namentlich auf dem rechten Oderufer, auch öde und unfruchtbare Landstriche.
Aber in welchen andern Provinzen des Ostens wären solche nicht vorhanden?
Erwägt man nun dagegen, daß dies dem Verkehre in so hohen?
Grade erschlossene Oberschlesien, das noch nicht 60 Kilometer von dem ganz
deutschen Breslciu, der zweiten Stadt des preußischen Staates, entfernt liegt,
das seit dem Jahre 1163, wo es sich von der Krone Polen ablöste, unter
dem deutschgesinnten Herrscherhause der Piaster stand und das seit dem Jahre
1742, also seit beinahe 150 Jahren, unausgesetzt dem Königreich Preußen an¬
gehört, in der Mehrheit seiner Bevölkerung die polnische Nationalität be¬
wahrt hat, so wird man dies sicher als eine höchst auffallende Erscheinung
ansehen, eine Erscheinung, die es verdient, daß man ihre Ursachen zu er¬
gründen sucht.
Betrachten wir zu diesem Zwecke die Bevölkerung Oberschlesiens etwas
näher, so finden wir, daß sie in nationaler Beziehung vielleicht die am meisten
gemischte der ganzen preußischen Monarchie ist. In den Kreisen Reiße und
Grottkau nämlich ist sie deutsch, zum größten Teile ist dies auch der Fall in
den Kreisen Falkenberg und Leobschütz. In den übrigen Kreisen ist dagegen die
Landbevölkerung überwiegend polnisch. Am reinsten hat sich der Charakter des
Polnischen erhalten in den an Nußland grenzenden Ostkreisen Kreuzburg, Rosen¬
berg, Lublinitz und Tarnowitz, in den an Österreich grenzenden Südostkreisen
Rybnik und Pleß und in den Binnenkrcisen Gleiwitz, Kösel und Groß-Strehlitz.
Selbst in dem dicht an der Grenze des Regierungsbezirks Breslau gelegenen
Kreise Oppeln ist rings um die Regierungshauptstadt die geschlossene Mehrheit
der Landbevölkerung polnischer Zunge. In dem eigentlichen Hüttendistrikte, in
den Kreisen Beuthen, Kattowitz, Zabrze und in den Kreisen Tarnowitz und
Gleiwitz, soweit sie hierbei in Betracht kommen, hat der rege Verkehr, Industrie
und Handel, die in den Händen der Deutschen liegen, wesentlich germanisirend
eingewirkt, sodaß hier die Kenntnis des Deutschen fast größer ist, als in dem
an deutsches Sprachgebiet grenzenden Kreise Neustadt. Neben dieser polnisch
sprechenden Mehrheit der Bevölkerung giebt es uun aber überall mehr oder
minder beträchtliche deutsche Minderheiten. In den Städten ist mit wenigen
Ausnahmen die deutsche Sprache die herrschende. Es erklärt sich dies dadurch,
daß, seitdem Oberschlesien uuter eignen Herzögen stand, diese bestrebt waren,
Deutsche aus dem Reiche in ihr Land zu ziehen, um es zu heben, und daß
diese Einwanderer als Gewerbtreibende in der Regel sich in den Städten nieder¬
ließen. Aber auch auf dem Lande giebt es inmitten einer polnisch sprechenden
Bevölkerung zahlreiche, oft schon von Friedrich dem Großen angelegte Kolonien,
die ihren deutschen Charakter und ihre deutsche Sprache bewahrt haben. Friedrich
der Große hat überhaupt für die Germanisirung Oberschlesiens außer durch
Anlegung von Kolonien auch sonst sehr viel gethan, und waren die von ihm
eingeschlagenen Bahnen von der Staatsregierung »veiter verfolgt worden, so
stünde es hier mit der Germanisirung sicher schon weit besser. Ferner befinden
sich noch an der mährischen Grenze, namentlich in den Kreisen Leobschütz und
Ratibor südlich von der Linie Leobschütz-Ratibor, zahlreiche mährische Dörfer,
und endlich giebt es noch hie und da in Oberschlesien Kolonien, in denen Nach¬
kommen der alten böhmischen Hussiten wohnen, die ihre böhmische Muttersprache
bewahrt haben.
Ganz ebenso gemischt ist die Religion der Bewohner Oberschlesiens. Bei
weitem die Mehrheit gehört der katholischen Kirche an. Wenn in der benach¬
barten Provinz Posen die Begriffe Deutsch und Evangelisch einerseits und
Polnisch und Katholisch anderseits sich in der Regel decken, so trifft dies hier
nicht zu. Denn die rein deutschen Kreise Grottkau und Reiße z. B. sind fast
ganz katholisch; so sind in ersterem Kreise nur drei evangelische Schulen und
im Kreise Reiße nur vier. Der Kreis Kreuzburg dagegen mit seiner über¬
wiegend polnischen Bevölkerung ist zum größten Teil evangelisch. Sonst darf
man wohl als feststehend ansehen, daß die Evangelischen in der Regel
deutsch sind, während die Böhmen der reformirten Kirche angehören. Ferner
befindet sich in Oberschlesien eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Altlutheranern,
die meist deutscher Zunge sind. Die Mähren endlich gehören mit nur ver¬
schwindenden Ausnahmen der katholischen Kirche an.
Was die Beschäftigung der Bewohner Oberschlesiens anlangt, so ist diese,
abgesehen von dem Hüttendistrikt, in dem der Bergbau und die Industrie zu
hoher Blüte gelangt sind, hauptsächlich der Ackerbau. Der wirtschaftlichen
Entwicklung Oberschlesiens wird sich jedoch immer der Umstand hindernd in den
Weg stellen, daß ein großer Teil des Grund und Bodens im Besitz von Gro߬
grundbesitzern ist. Ein wohlhabender Bauernstand, wie er in andern Provinzen
den Kern der Landbevölkerung bildet, ist hier mit Ausnahme der Kreise Grottkau,
Reiße, Leobschütz, Neustadt und Kreuzburg, in denen sich entweder gar keine
oder nur wenige Großgrundbesitzer mit verhältnismäßig geringem Grundbesitz
befinden, in der Regel nicht vorhanden, und der größte und wahrlich nicht der
schlechteste Teil des Grund und Bodens fast in allen übrigen Kreisen gehört
zum Großgrundbesitz, der wieder zum großen Teil in den Händen weniger
großen Magnaten vereinigt ist. Die bäuerliche Bevölkerung dagegen besitzt in
diesen Kreisen verhältnismäßig wenig und geringen Boden. Und es ist wunder¬
bar: je schlechter und ärmer der Boden ist, desto höher sind auch gewöhnlich
die infolge der Ablösung der Grundrente darauf lastenden Abgaben. Von der
Not und Armut, die hier an manchen Orten herrscht, hat man wohl ander¬
wärts kaum eine Ahnung. Giebt es doch manche Dorfschaften, deren Einwohner
nicht imstande sind, ihren Kindern täglich Brot zu essen zu geben, sondern die
sich jahraus jahrein meist von Suppe, Kartoffeln und Kraut ernähren müssen.
Wäre nicht der Wald vorhanden, in dem die Leute als Holzschläger arbeiten
und Kulturarbeiten verrichten, oder dessen Hölzer sie mit ihren armseligen Ge-
spannen abfahren, so könnten sie gar nicht bestehen. Aus jenen Gegenden
stammt denn auch ein Teil der Arbeiterbevölkerung des Httttendistrikts, und
ferner ziehen alljährlich im Frühjahr Schaaren von jungen Männern und
Mädchen als Arbeiter in die Nübengegcnden Niederschlesiens und Sachsens,
um dann im Spätherbst mit ihren sauer verdienten Ersparnissen in die Heimat
zurückzukehren und hier ihre Eltern mit ihrem Verdienst zu unterstützen.
Trotzdem trennt der Oberschlesier sich schwer von der ererbten Scholle.
Seine Genügsamkeit läßt ihn mit geringem Verdienst zufrieden sein, und so
wandert er selten aus. Seine Genügsamkeit einerseits, seine große Frömmig¬
keit und sein Patriotismus anderseits sind hervorstechende Charakterzüge des
Oberschlesiers. Dagegen fehlt ihm vielfach energisches Wollen und das Streben,
aus eigner Kraft sich ein behaglicheres Leben zu erkämpfen. Der Oberschlesier
arbeitet nicht gern mehr, als wozu ihn die Not drängt, und mit einem gewissen
Fatalismus fügt er sich in das, was ihm als Verhängnis erscheint, obwohl
er es, wenn er alle Kräfte anspannte, noch abwenden könnte. Wenn er nur
des Lebens Notdurft hat, so ist er zufrieden und denkt nicht an die Zukunft, Es
sind das freilich Eigenschaften, die mehr oder minder allen andern Angehörigen
des Slawentums eigen sind. Von Natur gutmütig und bescheiden, begeht er
in der Regel nur im Trunke, wozu er leider wie alle Slawen neigt, Aus¬
schreitungen; die Sittlichkeit steht hier im allgemeinen nicht wesentlich tiefer,
als in den übrigen östlichen Provinzen Preußens. Der Hüttendistrikt mit seiner
bunt zusammengewürfelten und dicht gedrängt lebenden Arbeiterbevölkerung, in
dem diese Verhältnisse schlimmer liegen, kann natürlich, wie alle Fabrikgegenden,
keinen Maßstab für die Beurteilung der gesamten sittlichen Zustände Ober¬
schlesiens abgeben.
Von der Staatsregierung ist viel geschehen, um die oberschlesische ärmere
Bevölkerung besser zu stellen und aus ihrer Energielosigkeit aufzurütteln. Der
Notstand in den siebziger Jahren hat die Staatsregierung veranlaßt, bessere
Verkehrswege anzulegen und Drainage-Genossenschaften zu bilden, um die nassen
Äcker zu entwässern und fruchtbarer zu machen. Flußreguliruugen, Entwässe¬
rungen und Bewässerungen sind in großem Maßstabe mit bedeutenden Kosten
zustande gebracht worden. Aber wenn auch viel gethan worden ist, so bleibt doch
immer noch viel zu thun übrig, und der wesentlichste Anteil hierbei wird doch der
Schule zufallen müssen, und dieses Ziel fällt, wie hier die Verhältnisse liegen
und wie wir noch zu zeigen versuchen werden, mit den Bestrebungen zusammen,
Oberschlesien der deutscheu Sprache und dem Deutschtum überhaupt zu gewinnen.
Diesem Bestreben stellen sich freilich, teils aus äußern, teils aus innern
Gründen, mannichfache und nicht leicht zu überwindende Schwierigkeiten ent¬
gegen. Die äußern Gründe liegen in der Armut und der geringen Leistungs¬
fähigkeit der Bevölkerung, sowie darin, daß die Bevölkerung, namentlich in den
ärmeren Gegenden, zu zerstreut wohnt.
Wie viel noch im Schulwesen zu thun übrig bleibt, dürfte am besten
daraus hervorgehen, daß nach einer oberflächlichen, von der Staatsregierung
angestellten Berechnung zur regelmäßigen Beschulung der schulpflichtigen
Jugend Oberschlesiens noch ungefähr 750 Lehrer fehlen, und daß, trotz aller
in den letzten fünfzehn Jahren errichteten Schulen, Schulwege von vier bis
sechs Kilometern immer noch nicht zu den Seltenheiten gehören. Wenn
auch die Staatsregierung mit nennenswertem Eifer fort und fort bestrebt ist,
einerseits die überfüllten Schulen, an denen oft ein einziger Lehrer noch 150
bis 200 Kinder zu unterrichten hat, durch Gründung neuer Lehrer- und Hilfs-
lehrcrstellen besser auszustatten und anderseits neue Schulen zu gründen und
mit Staatsmitteln der Unfähigkeit der Gemeinde», dies aus eignen Mitteln zu
thun, zu Hilfe zu kommen, so scheitert dies Bestreben doch vielfach an der
Unzulänglichkeit der staatlichen Mittel, namentlich wo es gilt, neue Schulbänken
herstellen zu lassen. Denn da zur Unterstützung armer Schulgemeinden bei
Schulbänken der Regierung nur ein sehr beschränkter Fonds zur Verfügung
steht, so kann nur ein geringer Teil des vorhandenen Baubedürfnisses be¬
friedigt werden. Auf der andern Seite ist der Mangel an Lehrern, namentlich
an katholischen, immer noch so groß, daß, auch wenn die Mittel bereit gestellt
würden, um die erforderlichen Bauten zur besseren Ausstattung der bestehenden
Schulen wie zur Gründung neuer Schulen auszuführen, die Frage, wie die noch
fehlenden 750 Lehrerstcllen besetzt werden sollen, unbeantwortet bleibt. Man
wird fragen: Warum sind denn nicht mehr Seminare errichtet worden?
Aber auch in dieser Beziehung wird man der Staatsregierung kaum einen
Vorwurf machen können. Seit dem Jahre 1873 sind allein in Oberschlesien vier
neue Seminare errichtet worden; keine andre Provinz des preußischen Staates ist
so reich mit Seminaren ausgestattet wie Schlesien und insbesondre Oberschlesien.
Während z. B. die Rheinprovinz, mit der Schlesien fast die gleiche Einwohner¬
zahl hat — sie zählt ebenfalls über vier Millionen Einwohner —, nur siebzehn
Seminare einschließlich zweier Lehrerinnenscmincire auszuweisen hat, hat die
Provinz Schlesien achtzehn Seminare für Lehrer, die zahlreichen Privatseminarc
für Lehrerinnen nicht mitgerechnet. Die ganze Provinz Brandenburg hat bei
einer Einwohnerzahl von etwa 3 400 000 Einwohnern überhaupt nur zehn
Seminare einschließlich eines Lehrerinncnseminars. In Oberschlesien sind dagegen
bei einer Bevölkerung von rund 1 500 000 Einwohnern allein acht Seminare
(sieben katholische und ein evangelisches) vorhanden, von denen die katholischen
Seminare ihre Abiturienten nnr nach Oberschlesien abgeben und das evange¬
lische Seminar es zum überwiegenden Teile thut. -
Wenn trotzdem in Oberschlesien noch Lehrermangel herrscht, so rührt dies
daher, daß ein großer Teil seiner jüngeren Lehrer wegen der Schwierigkeiten,
mit denen hier der Unterricht verknüpft ist, und wegen der geringeren Besol¬
dung der Lehrerstellen, so bald er kann, besser besoldete Stellen in deutscheu
Gegenden annimmt. Berlin, Breslau und der fürstbischöfliche Delegaturbczirk
Berlin mit seinen katholischen Schulen in der Mark und in Pommern ziehen
den größten Teil hiervon an sich. Und gerade die tüchtigeren Lehrer sind es in
der Regel, die zum Schaden der oberschlesischen Schulen wenige Jahre nach ihrer
Entlassung aus dem Seminar Oberschlesien den Rücken kehren. Wenn nun
auch zu erwarten steht, daß dies in Zukunft nach den jüngst getroffenen Ma߬
nahmen der Staatsregierung weniger der Fall sein dürfte, so wird dennoch
lange Zeit vergehen, ehe dem Lehrermangel abgeholfen sein wird.
Eine bessere Besoldung der selbständigen Lehrerstellcn und eine Vermin¬
derung der Hilfslehrerstellen (die Hilfslehrer, hier Adjuvcmten genannt, beziehen
nämlich außer freier Wohnung und Heizung nur 570 Mark jährliches Einkommen)
würde vielleicht gegen den Weggang der jüngeren Lehrer das beste Gegenmittel
sein, wenn nicht dadurch die Schullasteu der Schulgemeinden beziehentlich des
Staates, der vielfach aushilft, hierdurch sehr erheblich vermehrt werden würden.
Eher dürfte sich am Ende doch noch die Errichtung eines oder zweier neuen
katholischen Seminare empfehlen, denn der Mangel an katholischen Lehrern, der
jetzt in Oberschlesien vorhanden ist, wird über kurz oder lang auch in denjenigen
Gegenden zu Tage treten, die ihre Lehrerstellcn bisher mit oberschlesischen: Ersatz
besetzt haben und ihn von hier cmsdann nicht mehr erhalten können.
Die innern Schwierigkeiten, die sich der Hebung des Schulwesens bisher
in den Weg gestellt haben, beruhen, abgesehen von der bereits erwähnten Über¬
füllung der Schulen und dem unregelmäßigen Schulbesuch, der durch die weiten
und schlechten Schulwege verursacht wird, zunächst in den Sprachverhältnissen.
Ehe wir diese erörtern, wollen wir uns jedoch mit der vielfach aufgestellten
Behauptung, daß der schlechte Schulbesuch meist durch die Gleichgiltigkeit der
Bevölkerung verursacht werde, auseinandersetzen. Wer die oberschlesischen Ver¬
hältnisse aus eigner Anschauung kennt, der wird zugeben, daß die hiesige Be¬
völkerung, von bitterer Not gezwungen, ihre Kinder wohl öfters zu wirtschaft¬
lichen Verrichtungen zu Hause behält. Seitdem aber nach Aufhebung der
veralteten Bestimmungen des schlesischen Schulreglcmcnts vom Jahre 1801 eine
strengere Bestrafung der ungerechtfertigten Schulversäumnisse ermöglicht worden
ist, hat auch dies nachgelassen, und der Schulbesuch ist wesentlich besser geworden,
besser als in Posen und Westpreußen, wo schon längst schärfere Bestimmungen
in Kraft waren. Und wer gesehen hat, wie auf dem Lande Kinder von acht
bis zehn Jahren bei zehn Grad Kälte, dürftig gekleidet und barfuß, eine Viertel¬
meile weit die Schule besuchen, der wird der oberschlesischen Bevölkerung in
dieser Hinsicht gewiß keine Gleichgiltigkeit mehr vorwerfen.
Nun die Sprache. Wie wir schon sahen, ist die hauptsächlichste Sprache
der Landbevölkerung die polnische, aber auch die mährische und böhmische ist
vorhanden, die Unterrichtssprache ist aber nur die deutsche. Nur auf der Unter¬
stufe wird die biblische Geschichte den Kindern in der Muttersprache erteilt und
auf der Mittelstufe wird sie hierbei als verdolmetschendes Mittel gebraucht.
Aber schon auf der Unterstufe soll der Kernpunkt der biblischen Geschichte von
den Kindern nebenbei auch deutsch gelernt werden. Der Katechismusunterricht
wird dagegen, wie jeder andre Unterrichtszweig, von allem Anfang an gleich
in deutscher Sprache erteilt.
Die Schwierigkeiten, die sich hierbei für den Lehrer ergeben, sind sehr er¬
heblich. Stellt man sich vor, daß ein großer Teil der Kleinen, die in die
Schule eintreten, vorher kaum ein deutsches Wort gehört hat, und daß der
Lehrer diese Kinder, die doch erst Deutsch lernen sollen, gleich deutsch unterrichten
soll, erwägt mau ferner die Überfüllung der Schulen, die geringe Stundenzahl,
die in vielen Schulen wegen des Halbtagsunterrichts für die Unterstufe
wöchentlich nur zwölf beträgt, so gewinnt man annähernd eine Vorstellung von
den Schwierigkeiten, mit denen hier die Lehrer zu kämpfen haben, und man
kann es unter diesen Umständen eigentlich keinem jungen Lehrer verargen, wenn er
eine besser besoldete und leichtere Lehrerstelle in einem andern Regierungsbezirk,
sobald er sie bekommen kann, annimmt, zumal da er hier auf dem Lande viel¬
fach auch jedes Umganges in seinem Wohnort entbehren muß, was dort in der
Regel nicht der Fall ist.
Trotz aller dieser Schwierigkeiten ist es wunderbar, was in den Schulen
geleistet wird. Wo die Schulen nicht überfüllt sind, wo die Verhältnisse einen
regelmäßigen Schulbesuch gestatten und wo tüchtige Lehrer wirken, da kann so
manche utraquistische oberschlcsische Landschule in ihrer Oberstufe mit den
Leistungen rein deutscher Schulen wetteifern. Abgesehen von der harten Aus¬
sprache des Deutschen, die sich selten bei den Kindern ganz beseitigen läßt, wird
auch ein Fachmann keinen wesentlichen Unterschied zwischen einer utraquistischeu
oberschlesischen und einer rein deutschen Schule eines andern Regierungsbezirks
wahrnehmen können.
Auch in der gesamten Haltung der Kinder besteht kein wesentlicher Unter¬
schied. Die Kinder sind reinlich und sauber, sie kommen pünktlich und regel¬
mäßig zur Schule, sie sind lernbegierig und pflichttreu — Eigenschaften, die
ihnen bei den traurigen Verhältnissen des Elternhauses erst durch die Schule
beigebracht worden sind. Und selbst in den überfülltesten Schulen und unter
den ungünstigsten Verhältnissen werden die Kinder doch dahin gebracht, daß sie
bei ihrer Entlassung Deutsch verstehen und sich mündlich wie schriftlich, wenn
auch nicht frei von Polonismen, auszudrücken vermögen.
Das Verdienst, daß dies überhaupt erreicht wird, ist der Schulverwaltung
zuzuschreiben, die unausgesetzt seit dem Jahre 1873 einerseits dnrch Ver¬
besserung der Unterrichtsmethode in den Seminaren und durch Einrichtung
methodologischer Kurse zur weiteren Ausbildung von älteren und weniger be¬
fähigten Lehrern an utraquistischen Schulen, anderseits durch eine ununter¬
brochene scharfe Beaufsichtigung der Schulen durch das Schulaufsichtspersonal
(es sind allein in Oberschlesien jetzt vierunddreißig ständige Kreisschulinspeltorcn
und mir drei Kreisschulinspektoren im Nebenamt thätig), und ferner durch
Errichtung neuer Schulen und durch Gründling neuer Klassen an über¬
füllten Schulen für die Hebung des Schulwesens bedacht gewesen ist. Es ist
dies aber auch nicht zum geringsten Teile ein Verdienst der oberschlesischen
Lehrerschaft, die in ihrer Gesamtheit den Absichten der Regierung gewissenhaft
und pflichttreu nachgekommen ist.
Ehe wir die Verhältnisse schildern, die sich der in der Schule begonnenen
Germanisirung Oberschlesiens jetzt noch hindernd in den Weg stellen, wollen
wir noch in der Kürze die Maßnahmen der Staatsregierung zu begründen
suchen, um deretwillen seit dem Jahre 1873 in den Schulen die deutsche Sprache
als die Unterrichtssprache eingeführt und die polnische und mährische lediglich
auf den Religionsunterricht der Unterstufe beschränkt worden ist. Die Gründe
hierfür sind im wesentlichen dieselben, wie sie die Festsetzung ähnlicher Be¬
stimmungen in den Provinzen Posen, Westpreußen und Ostpreußen gegenüber
der polnischen, mcisurischen und litauischen Sprache verursacht haben. Sie
sind zunächst rein pädagogischer Art und gehen aus von den Schwierigkeiten,
die dem Unterricht in der Volksschule dadurch erwuchsen, daß gewissermaßen
zwei gleichberechtigte Unterrichtssprache» (deutsch und polnisch oder mährisch,
masurisch, littauisch) neben einander bestanden, und daß wegen der Kürze der
wöchentlichen Unterrichtszeit und der Menge der zu bewältigenden Unterrichts¬
fächer bei dieser Zweiheit der Unterrichtssprachen in keiner Sprache und in
keinem einzigen Fache etwas Ordentliches sich erreichen ließ, und daß natürlich
wegen Vorliebe der Schuljugend und vielfach auch der Lehrer für ihre Mutter¬
sprache, wenn eine der beiden Sprachen zu kurz kam, es in der Regel die
deutsche war.
Nun ist aber unzweifelhaft die deutsche Sprache für alle Angehörigen des
großen deutschen Reiches eine weit wichtigere Sprache als Polnisch, Mährisch,
Masurisch oder Litauisch. Denn wer die deutsche Sprache vollständig beherrscht,
findet im ganzen deutschen Reiche und weit darüber hinaus leicht sein Fort¬
kommen, während das Polnische, Mährische, Masurische oder Littauische nur
einen beschränkteren Geltungsbereich hat. Man sage nicht, daß dieser Grund
nicht stichhaltig sei. Wer in gemischtsprachigen Bezirken gelebt hat, wird es
wiederholt erfahren haben, daß der polnische Arbeiter, der des Deutschen mächtig
ist, fast immer den Vorzug vor demjenigen erhält, der nur polnisch spricht.
Denn nicht nur zur Anstellung bei allen Behörden ist die mündliche und schrift¬
liche Kenntnis der deutschen Sprache unerläßlich, auch in den meisten Privat-
stclluugen, die sich über die Stufe der gewöhnlichen Handarbeit erheben, ist
dies der Fall.
Erwägt man nun ferner noch die Schwierigkeiten, die sich für eine Schule
dadurch ergeben, daß in ihr, wie es in den sprachlich gemischten Bezirken nicht
zu den Seltenheiten gehört, die einzelnen Schüler fast zu gleichen Teilen nicht
zwei, sondern drei Muttersprachen angehören, also z. B. deutsch, polnisch und
mährisch sprechen, so wird man anerkennen müssen, daß die Lösung der Frage,
in welcher Sprache in einer Schule unterrichtet werden soll, dadurch am besten
geregelt worden ist, daß die deutsche Sprache als Unterrichtssprache hingestellt
worden ist.
Die Sprache ist nun aber das ureigenste Produkt des Geistes und Lebens
eines Volkes. Sie ist ein treues Abbild seines Charakters und seines ganzen
Wesens. Sie ist das festeste Band, welches die einzelnen Glieder eines Volkes
zu einem Ganzen vereinigt. Mit der Aneignung der deutschen Sprache werden
also auch die ursprünglich nicht deutsch sprechenden Angehörigen des preußischen
Staates, hier also die Oberschlester, am sichersten und dauerhaftesten deutscher
Gesinnung, deutscher Kultur und deutschen Wesens teilhaftig werden, und hieraus
ergiebt sich die hohe Bedeutung der politischen Gründe, um deretwillen die
Anordnung getroffen worden ist, die deutsche Sprache als Unterrichtssprache zu
bestimmen.
Nachdem feit Ende der fünfziger Jahre das Nationalitätsprinzip so große
Bedeutung im Leben der Völker und in der Politik erlangt hat, kann es keinem
Staate mehr gleichgiltig sein, ob seine Unterthanen einer oder mehreren Sprachen
angehören. Die Vorgänge in der österreichisch-ungarischen Monarchie dürften
in dieser Beziehung auch für den sorglosesten Politiker belehrend sein. Das
Ringen und Kämpfen der verschiednen Nationalitäten dieser vielsprachigen Staaten¬
verbindung um Gleichberechtigung ihrer Muttersprachen in der Schule, im
Staate und im Heere hat für die Festigkeit des Ganzen doch seine großen
Bedenken, und wäre nicht in der Liebe zu dem angestammten Kaiserhause ein
Mittelpunkt vorhanden, der die auseinandergehenden Bestrebungen des Natio¬
nalitätsprinzips zum Teil aufhöbe, so würde man für das Bestehen der Ge¬
samtmonarchie schon jetzt ernstlich bangen müssen. (Schluß folgt.)
ekundet schon das Wagestück, eine neue Sprache auszusinnen, an
und für sich mangelndes Verständnis der Grundbedingungen des
sprachlichen Organismus, so zeigt sich auch an der Ausführung
des Versuchs im einzelnen fast allenthalben Unbekanntschaft mit
den sprachwissenschaftlichen Forschungsergebnissen, deren Beachtung
manches Gebrechen hätte fernhalten können. Mag immerhin Herr Schleyer
an praktischer Sprachkenntnis ein zweiter Mithridates oder Mezzofanti sein,
in den Geist der Sprache und der Sprachen ist er nicht eingedrungen, alles
trägt bei ihm einen groben, äußerlichen, mechanischen Charakter. Der Wort¬
schatz ist wesentlich aus sechs Sprachen, insbesondre aus Englisch, Deutsch,
Französisch und Latein, zusammengesetzt. Aber wie!
Sechs Sprachen hat ein Pfiffikus
Durch die Rekord' getrieben —
Zum Teufel ist der Spiritus
Und Volapük geblieben!
Doch dieser chemische Vergleich ist zu zahm. Herr Schleyer hat anscheinend
den Prokrustes nachgeahmt, der bekanntlich seine hochgewachsenen Gäste in
eine winzige Bettstelle zwang und ihnen von ihrer Länge mittels eines Beiles
soviel abhackte, daß sie in dem Behältnis Platz fanden, den kurzen aber in einer
langen Bettstelle die Glieder verrenkte und ausrenkte, bis sie oben und unten
anstießen. Nur eine kleine Reihe von Wörtern hat unverändert im Volapük
Aufnahme gefunden, die meisten passen nicht in die Bettstelle und werden teils
gestreckt, teils verstümmelt. Aus Milch wird rniliZ, aus gut guäilc, aus
März niÄnul, aus West vWüä. Das Hauptverfahreu besteht jedoch in einer
barbarischen Anwendung von Säge und Messer. Die englischen Wörter 1-lap,
LxööK und portal z. B. beschneidet Herr Schleyer zu 18.Ä, xülc und vol; aus
den französischen Jnvolution, univorsito, s-xxotit und anlag.1 wird dnrch Zer¬
fleischung volrck, moor, xötüt und nim gebildet; die lateinischen Worte t^vulu,,
lluinsn und <zg.inxri8 müssen sich die Verstümmelung zu eg,d, llunr und Kam
gefallen lassen; aus dem deutschen Forst, Stroh und Trinker werden die vo-
lapülischen Formen tot, stol und ätinot zusammengehauen. Gewiß ist es recht
bequem und fördert das Ersindungsgeschäft außerordentlich, wenn man, statt
einen eignen Sprachschatz mühevoll nuszusinnen, allenthalben Anleihen macht
und mit dem Zusammengerafften nach Willkür verfährt, aber wer hat denn
Herrn Schleyer das Recht gegeben, so brutal") und vandalistisch mit dem Gute
fremder Organismen umzuspringen? Niemand, und es besitzt auch schlechterdings
niemand eine Befugnis zur Gestattung solcher Missethaten. Da hört mau nun
oft von Anhängern des Volapük den EinWurf, die Stenographie beschneide doch
auch erbarmungslos die altehrwürdigen Schriftzüge, um aus dem verstümmelten
Material flüchtige und bequeme Wortbilder zu gestalten, ohne daß ihr jemals
ein Vorwurf daraus gemacht werde. Ganz richtig! Aber wer sich mit diesem
Hinweis den Rücken decken will, zeigt aufs neue, daß ihm das Wesen der
Sprache ein versiegeltes Buch geblieben ist. Wie kann man in Bezug auf
Entstehung den natürlich erwachsenen Organismus der Sprache vergleichen mit
dem durch menschlichen Scharfsinn erdachten Mechanismus der Schrift! Es
gehört die volle Sprachabgestorbeuheit eines unempfindlichen Volapükschwärmers
dazu, um hierin eine Parallele zwischen Schrift und Sprache zu ziehen. Wäh¬
rend von einem Spracherfinder nirgends die Rede ist, wissen Sage und Ge¬
schichte bei verschiedenen Völkern Schrifterfinder oder Schriftanpasser nam¬
haft zu machen, z. B. Theuth (Ägypten), Kadmos (Griechenland), Fohi (China),
Miesrop (Armenien), Wulfila (Goten) u. f. w. Die Sprache entwickelt sich
auf natürliche Weise von selbst weiter, die Schrift kann ohne markirtes Ein¬
greifen des Einzelnen oder einer Körperschaft von dem Punkte, auf den sie
einmal gesetzt wurde, uicht fortkommen, sondern bleibt starr und unbeweglich
stehen. Daraus ergiebt sich der Zwiespalt zwischen Schrift und Sprache, die,
anfänglich auf Übereinstimmung berechnet, allmählich auseinandergehen, wodurch
von Zeit zu Zeit eine Nachschiebung der Schrift auf den fortgeschrittenen
Standpunkt der Sprache nötig wird, wenn nicht so heillose Zustände der Recht¬
schreibung entstehen sollen, wie z. B. in England. Was bei der Schrift mit
Fug und Recht geschehen kann, wird, an der Sprache vorgenommen, zum un¬
verantwortlichen Frevel.
So gleicht das Volapük nach seiner äußern Zusammensetzung etwa jenem
Mißgebilde, welches Horaz im Anfange der L.r8 xostiog, beschreibt: Menschen¬
kopf, Pferdchals, Vogelgefieder, Gliedmaßen aller möglichen Tiere, Fischschwanz.
8xgot,g.turn aäMssi risuiu tsuoM« ainioi? Daß im Innern eines derartig
zusammengeflickten Dinges mit dem Fabrikstempel „Opportunist" irgendein
Geist regieren könne, ist von vornherein ausgeschlossen. Nur eine einzige Idee
ist vorhanden, und diese muß denn in mehrfacher Anwendung als Agens dienen,
um das Volapükphantom zu einem Scheinleben zu galvanisiren. Herr Schleyer
verwendet nämlich die Vokalreihe a, s, i, o, n am Schlüsse der Substcmtiva
zur Bezeichnung der Kasus, als Vorschlag bei den Verden zum Ausdrucke der
Tempora. Thatsächlich ist diese Verwertung der Vokalreihe und das voraus¬
gesetzte x zur Kennzeichnung des Passivs das einzige unantastbare Originelle im
Volapük.
Es läßt sich gar nicht bestreiten, daß aus der Durchführung dieser Idee
mehrere wichtige und schätzenswerte Eigenschaften hervorgehen. Zunächst fällt
die Regelmäßigkeit und Einheitlichkeit der Formenlehre in die Augen; eine völlige
Ausnahmelosigkeit, wie man sie bei einer künstlich verfertigten Sprache doch
Wohl verlangen könnte, hat Herr Schleyer nicht erreicht.*) Und aus der Gleich¬
förmigkeit entspringt wieder die Leichtigkeit des Erlernens. Indessen bedarf es
5»in Besitze solcher Vorzüge gar nicht des Ersinderschweißes, man braucht nur
hineinzugreifen in das volle Völkerleben, um der gleichen Annehmlichkeit am
lebendigen Organismus sich freuen zu können. Die Sprache der Eskimos hat
im nordischen Stillleben sich eine unübertreffliche Ausnahmelosigkeit bewahrt,
und das Malaiische verfügt infolge großartiger Einfachheit der Formenlehre
über eine Erlernbarkeit, die sich an Leichtigkeit der volapükischen getrost an die
Seite stellen kann.
Übrigens muß hier nachdrücklichst betont werden, daß die Aneignung des
Volapük denn doch nicht so spielend geschieht, wie oft behauptet wird. Die
Regeln der Deklination, Konjugation, Steigerung und sonstigen Ableitung
werden im Volapük allerdings wegen ihrer Einheitlichkeit schneller bewältigt als
z. B. in den modernen Kultursprachen, indessen bedarf es zur Aneignung des
Wortschatzes wesentlich desselben Fleißes und derselben Ausdauer wie bei
jeder andern Sprache. Wenn die Anhänger des Volapük eine leichtere Erlern¬
barkeit desselben auch hinsichtlich der voxm voeabuloruirr in Anspruch nehmen
und mit dem Hinweis auf die Entstehung der Wörter begründen, so beruht
das eitel auf Selbsttäuschung. Niemand kann vorauswissen, aus welcher vou
den sechs darleihenden Sprachen das Gutdünken des Herrn Schleyer ein Wort
entnommen hat, und wenn man dies auch wüßte, so giebt es wiederum keine
bestimmte Antwort auf die Frage: In welcher Weise hat das Schleyerschc Beil
jenes Wort für Volapük passend zusammengehauen? Sonach ist eine Erleich¬
terung nicht einmal sür Kenner einer oder mehrerer der sechs Sprachen, ge¬
schweige denn für andre Leute vorhanden; die Aufgabe gedächtnismäßiger An¬
eignung ist hier die gleiche wie bei allen fremden Sprachen.
Als dritter Vorzug des Volapük pflegt die gedrungene Kürze hervorge¬
hoben zu werden. Aber gerade hierin offenbart sich zugleich eine bedenkliche
Schwäche, die der kundige Sprachforscher würde vermieden haben. Dadurch,
daß in vorgesetzte und angehängte Silben die wichtigsten Beziehungen gepackt
und hineingcheimmßt werden, entsteht notwendig eine unbehilfliche Schwer¬
fälligkeit der Formen und eine empfindliche Schädigung der Übersichtlichkeit
sowohl wie der Verständlichkeit. In der ganzen Sprachentwicklung läßt sich
als leitender Gedanke das Streben nach Erleichterung wahrnehmen. Die an¬
fänglichen gedrungenen Formen wurden als zu schwer, unbequem und undurch¬
sichtig allmählich abgeschliffen, man drückte die Beziehungen nicht mehr durch
Anhängsel, sondern durch besondre Wörter und zusammengesetzte Formen aus,
was den Ausdruck wesentlich erleichtert und verständlicher macht, wenn auch
auf Kosten der weniger bedeutsamen Kürze. Ja es läßt sich wohl behaupte»,
daß diejenigen Sprachen, welche durch das Streben nach Erleichterung am
meisten verfallen sind, sich auch zur besten Handlichkeit und größten Tauglichkeit
für den Verkehr abgeschliffen haben. Das Persische z. B. und das Englische,
zwei der meistgebrauchten Sprachen der Welt, haben sich der Flexion fast
ganz entledigt. Indem Herr Schleyer die weise Lehre, welche in dem Gange
der Sprachgeschichte enthalteU ist, unbeachtet ließ und sein Volapük ganz an
den Anfang sprachlicher Entwicklung setzte, statt es aus möglichst abgeschliffenen
und widerstandsfähigen Material zu bilden, hat er die Gefahr auseinander-
laufender Wandlungen unbedacht vergrößert und seiner Geschicklichkeit nicht eben
das beste Zeugnis ausgestellt. Eine lateinische Form wie Ig.uäg.bMwr ist gewiß
einfach, kurz und bezeichnend, und doch hat das Bedürfnis nach Erleichterung
und größerer Verständlichkeit im Französischen das längere it« öwisnt louvs
dafür zurecht gemacht. Es kann darum nicht zweifelhaft sein, wohin die Ent¬
scheidung sich neigen muß, wenn für den Weltverkehr die Wahl z. B. gestellt
ist zwischen
und
Sehr wunderbar müßte es zugehen, wenn neben den mancherlei sonstigen Ver-
besserungs- und Änderungsvorschlägen über kurz oder lang nicht auch der
hervorträte, die Flexion im Volapük möglichst abzuschaffen und dafür Präpo¬
sitionen oder zusammengesetzte Formen anzuwenden. Ob freilich Modows sich
etwa zu 01N8 Utum Movöl umwandeln könne, ohne daß der gebrechliche Volapük-
mcchanismus bei dem Eingriff in einen wüsten Trümmerhaufen zusammen¬
sinken würde, steht auf einem andern Blatte.
Die äußerliche Betvnnngsregel, nach welcher der Wortaecent nicht auf die
Stammsilbe, sondern beständig auf die letzte Silbe des Wortes fällt und diese
dehnt, ist kaum eine glückliche zu nennen, denn sie kann beim Sprechen leicht
dahin führen, daß durch Zurücktreten und Verschlucken des meist einsilbigen
Stammes die begriffliche Hauptsache schwindet und dadurch natürlich das Ver¬
ständnis beeinträchtigt wird. Da jedoch die Sprache Schleyers vielmehr eine
geschriebene als einen gesprochene werdeu soll, so ist dieses Bedenken von ge¬
ringerer Bedeutung.
Schwerer fällt in die Wagschale der schwankende Charakter mancher Regeln,
deren unbestimmte Fassung nicht allein unpädagogisch ist, sondern auch ver¬
hängnisvoll werden muß für die Einheit des Volapük. Nur drakonische Strenge
in den Regeln, die jedes Entweder-Oder ausschließt, würde bei einer künstlich
verfertigten Sprache die Einheit erhalten können, und es war deshalb unvor¬
sichtig von Herrn Schleyer, so mancherlei cwdia, im Volapük zu lassen. Die
MsrtW in äuoüs öffnet bei einem von Volksseele nicht getragenen Sprach¬
fabrikat willkürlichen Auslegungen und Andern» gsgelüsten Thür und Thor, wie
die Erfahrung während der wenigen Lebensjahre des Volapük schon sattsam
bewiesen hat.
Über den vielgerühmten Wohlklang des Volapük läßt sich je nach der
Landsmannschaft des Beurteilers sehr streiten. Die Völker gehen in der Ge¬
schmacksrichtung ebensosehr auseinander wie die Einzelwesen — cle Zustidus
non oft cliLxuwlläum. Jedenfalls genügt die Thatsache, daß in Kroatien schon
eine besondre Schrift mit Vorschlägen zur Herbeiführung größeren Wohlklanges
im Volapük erschienen ist, als Beweis dafür, wie wenig der gepriesene Wohl¬
laut Anerkennung findet. Darüber kaun man sich aber leicht trösten. Denn
allen hierin zu gefallen gehört zu den Unmöglichkeiten, und schließlich ist dieser
Punkt ein sehr nebensächlicher, in dein mau gern geringere Anforderungen
stellen wird, wenn nur die Formen leicht aussprechbar und mundgerecht sind.
Letzteres ist jedoch nicht durchgehends der Fall. Aus zarter Rücksicht auf die
Chinesen, deren Eintreten in den Weltverkehr sich vorbereitet, hat Herr Schleyer
zwar den Laut r aus dem Volapük vollständig verbannt und dadurch die be¬
zopften Söhne des Reiches der Mitte sich unzweifelhaft zu großem Danke ver¬
pflichtet, aber daß z. V. die Umlaute ü,, ö und ü, welche eine außerordentliche
Rolle im Volapük spielen, mehreren unsrer tultivirtesten Nachbarn, die auf
Rücksicht gewiß größern Anspruch hätten, mindestens die gleichen Schwierig¬
keiten verursachen, scheint Herr Schieber nicht bedacht zu haben. Und das
harte Zusammentreffen mehrerer Konsonanten, welches gar nicht so selten ist,
dient auch nicht dazu, dem Volapük das Gepräge des Mundgerechten aufzu¬
drücken. Formen wie dg.l8NÄliK (zehnmalig), 1c)t0in8oK (sie lieben sich), älinov-
8sa (laßt uns trinken), gletlous (Busenfreunde), icllstomÄ-z, (sie hätten getroffen)
können kaum als glatte, leicht aussprechbare bezeichnet werden.
Es ist hier nicht der Ort, auf Einzelheiten der Schleycrschen Sprache
genauer einzugehen, die erörterten allgemeinen Gesichtspunkte dürften zur Ab¬
gabe eines begründeten Urteils ausreichen. Gleich all seinen Vorgängern ver¬
dient das Volapük Beachtung als ein wohlgemeinter Versuch, das Menschen¬
geschlecht bei Erfüllung seiner Arbeiten und Aufgaben zu fördern, zu uuterstlltzeu.
Volapük besitzt auch trotz seiner Geistlosigkeit manche Vorzüge, welche den früheren
Weltsprachsystemcn abgehen, und bezeichnet somit einen gewissen Fortschritt. Es
teilt aber mit den älteren Versuchen den verhängnisvollen Fehler der Unnatur,
der Gemachtheit, und wird deshalb den ernstlichen Wettbewerb mit natürlich
erwachsenen und lebendig sich fortentwickelnden Sprachen nicht durchführen
können. Die Wissenschaft zunächst müßte in eine bedauerliche Tiefe hinabsinken,
ehe sie sich dazu hergeben könnte, auf den wackeligen internationalen Volapük-
stelzen unbeholfen umherzuspazieren, statt sich der gesunden, wenn auch nicht
so weit ausschreitenden Beine einer nationalen Natursprache mit Sicherheit zu
bedienen. Es wäre geradezu eine Beleidigung der Wissenschaft, wen» man ihr
zutraute, sie könne sich einmal soweit vergessen, das Schleyersche Fabrikat zu
ihrem amtlichen Organe zu wühlen. Ist aber das große Gebiet der Wissen¬
schaft einer vouIÄ-og-Weltsprache verschlossen, so hat diese überhaupt keinen
Anspruch mehr auf den Namen einer Weltsprache. Was sodann den mündlichen
Gebrauch bei Reisen in fremden Ländern betrifft, so wird es nach menschlicher
Voraussicht bei Erhebung selbst der denkbar leichtesten Sprache zum Wcltvcr-
ständigungsmittcl niemals dahin kommen, daß alle Leute, mit welchen ein
Reisender in Berührung treten Kinn, jene Weltsprache verstehen. Nach wie vor
wird man bei der Absicht längeren Aufenthaltes die Landessprache studiren
müssen, ohne deren Kenntnis ein wesentlicher Teil des Volkscharakters sich der
Beobachtung entzieht. Für den gewöhnlichen leichten Verkehr wäre der Gebrauch
einer Weltsprache gewiß ein großer Gewinn, aber nur ungenügende Vertraut¬
heit mit den Verhältnissen oder Selbsttäuschung kann zu der wunderlichen An¬
nahme gelangen, daß z. V. der Khedive dem haltlosen Volapük vor einer der
sestbegründeten abendländischen Kultursprachen deu Vorzug geben werde, wenn
es sich in Ägypten einmal um Beförderung einer weiter verständlichen Sprache
handelte. Oder meint man, der Sultan von Sansibar, der Emir von Afgha¬
nistan und der König der Sandwichinseln wurden sich einmal bewogen fühlen,
zur Förderung des Verkehrs in ihren Landen nicht etwa das Englische oder
das Russische oder eine andre wichtige europäische Sprache zu empfehlen, souderu
Volapük? vrizäiit ^uclMus ^.xslls,!
Bis zu welchem Grade der Blindheit und Mißachtung aller thatsächlichen
Verhältnisse die Volapükschwärmerei trotzdem gediehen ist, mag der Umstand
zeigen, daß vor kurzem die Lausauuer Revue ihre Spalten dem Vorschlage
öffnete, die Schweizer Bundesbehörden möchten ihre Erlasse und Verfügungen
künftig nicht mehr deutsch, französisch, italienisch kundgeben, sondern in Volapük!
Armes Schweizcrvolk, das für drei durchgeistigte Sprachen das Danaergeschenk
der dilettantischen Volapükgleichmacherei erhalten soll! Wäre die Auslassung
nicht so verteufelt ernst gehalten, man möchte sie für einen schlechten Hunds-
tagsferienspaß halten.
Was bleibt nun aber nach Wegnahme der erwähnten Gebiete für Volapük
als Wirkungskreis eigentlich noch übrig? Einzig und allein der zwischenstaat¬
liche Briefwechsel. Aber auch dieser kommt nur zum Teil i» Berücksichtigung,
denn die Diplomatie hat ihre eignen Verkehrsgruudsätze gebildet, welche sie zum
Besten von Volapük schwerlich aufgeben wird, der Familicnbriefwechsel über
Land und Meer bewegt sich in der gemeinsamen Muttersprache, bedarf daher
eines Weltvrgaucs nicht, und der Gedankenaustausch zwischen Gelehrten ver-
schiedner Länder kann aus den früher entwickelten Gründen einer gemachten
Sprache nicht anheimfallen. So bleibt als Angriffsvbjekt für Volapük in der
Hauptsache der große internationale Geschäfts- und Handelsverkehr bestehen,
und es scheint in der That, als ob in den Kreisen des Kaufmaunsstandes, der
Wohl auch unsichre Gewinnanssichten nicht zurückweist, die Teilnahme für
Schlehers Erfindung am größten sei, die Lohe der Begeisterung am glühendsten
emporzüngele. Man empfindet dort angesichts des wachsenden Weltverkehrs,
dem sich jetzt Mittelafrika, Sibirien, China, Japan und andre Länder über¬
raschend schnell erschließen, das Bedürfnis eines allgemeinen Verständiguugs-
mittels wohl am stärksten, sieht die Vorteile eines solchen am deutlichsten und
wirft sich deshalb, ohne sich der Schattenseiten und Nachteile bewußt zu werden,
dem als Erlöser angepriesenen Volapiik in die liebevoll geöffneten Arme.
Man muß jedoch abwarten, ob dieser Zustand von Dauer sein wird, auch nach¬
dem der erste Rausch verflogen ist. Das Feuer aufflammender Begeisterung
schlägt zwar turmhoch empor, aber wer mag beweisen, daß es kein Strohfeuer
ist, und wer für dessen dauernde Unterhaltung sorgen, wenn sich nach etlichen
Jahren herausstellt, daß man sich in Wesen und Fähigkeiten des Volapiik geirrt
hat, und daß man auch noch uicht sobald v0ig,Mi<i8We durch die ganze
Welt hin werde schreiben oder gar reisen können? Da könnte der Rückschlag
sich empfindlich bemerkbar machen, indem man Volapiik Volapiik sein läßt und
die weggelegten Grammatiker der modernen Kulturspracheu wieder aus der Ecke
hervorholt, um in deren Studium Vergessenheit zu suchen für deu Zeitverlust,
den die abenteuerliche Fahrt im Volapükkarren verursacht hat. Gelingt es der
Schleyerschen Sprache nicht, sich dauernd auf dem Gebiete des Welthandels
festzusetzen und auszubreiten, so ist der Volapükwagcn auf der einzigen fahr¬
baren Strecke als verunglückt zu betrachten. Dann kommen vielleicht wie einst
nach Phaethvns Untergang mitleidige Nymphen und setzen dem Gestürzten einen
Denkstein mit der Inschrift:
HIV > LirvL - MI - V0I^?Me - LZWNV - Wvx . MLIIVir^in -
IU?iWIIIU - IMIir . - VIWVN - ZMIVII' - ^11818 -
Wir müssen nach dem bisher Erörterten zu dem Schlüsse kommen, daß
dem Volapükmechanismus diejenige Festigkeit, Leistungskraft und Entwicklungs-
fähigkeit abgeht, welche zur Durchführung der Rolle eines wirklichen Wcltver-
ständignngsmittels nötig ist. Jeder andern künstlich verfertigten Sprache wird
das gleiche Schicksal beschieden sein. Wenn nun, wie nicht zu leugnen ist, das
Bedürfnis nach einer Weltsprache in jenem eingeschränkten Sinne besteht, aber
durch einen künstlichen Mechanismus nicht befriedigt werden kann, sollte da
keiner von den vorhandenen Sprachorganismen imstande sein, rettend einzu¬
springe»? Und giebt die Natur uns ein passendes Werkzeug in die Hand,
wozu bedarf es da überhaupt der Erfindungsarbeit? Ist es nicht der ver¬
nunftgemäßere Weg, zunächst unter den vorhandenen Mitteln Umschau zu halten
und erst dann die Kunst eintreten zu lassen, wenn die Natur versagt? Käme
es bei einer Weltsprache bloß auf leichte Erlernbarkeit und Regelmäßigkeit an,
so könnte man unbedenklich die Eskimosprache oder das Malaiische ans den
Thron setzen. Die ungeheure Lächerlichkeit des bloßen Gedankens, die Sprache
der Eskimos als Weltsprache einführen zu wollen, muß es aber auch einem Kurz¬
sichtigen klar machen, daß noch andre wichtige Erfordernisse Berücksichtigung
verlangen. Neben der Leichtigkeit des Erlernens steht zunächst widerstands¬
fähige Abgeschliffenheit und Mundgerechtheit. Sodann muß eine Bewerberin
um die Wcltsprachenwürde sich darüber schon ausgewiesen haben, daß sie voll¬
ständig ausgebildet und fähig ist, alle menschlichen Gedanken in Wissenschaft,
Kunst, Industrie, Handel u. s. w. zuverlässig und deutlich wiederzugeben. Ferner
darf die zukünftige Weltsprache eines starken Rückgrates nicht entbehren, d. h.
sie muß von einer möglichst zahlreichen Bevölkerung als Muttersprache geredet
werden, weil darin nicht allein eine Vorbereitung und Berechtigung zur Welt¬
herrschaft liegt, sondern auch eine starke Gewähr für kräftige natürliche Fort¬
entwicklung, die den neu auftauchenden Bedürfnissen sogleich Genüge schafft.
Endlich hat die abendländische Kultur, aus deren weiterem Vordringen das
Bedürfnis eines allgemeinen Verständigungsmittels wesentlich entsprungen ist,
begründeten Anspruch darauf, daß ihren Sprachen ein Vorrecht eingeräumt
wird, selbst wenn eine orientalische Sprache in diesem oder jenem Punkte
brauchbarer sein sollte. Mit der angedeuteten Möglichkeit haben wir aber gar
nicht zu rechnen, denn beim Zusammenfassen aller Bedingungen können über¬
haupt nur wenige europäische, keine morgenlündischcn Sprachen zur Wahl ge¬
stellt werden.
Es genügen alles in allem genommen den Anforderungen am meisten
folgende vier Sprachen: Englisch, Spanisch, Deutsch, Französisch. Man wird
vielleicht zuerst geneigt sein, dem Französischen die Krone zu erteilen, weil es
neben der natürlichen Ausbreitung durch seiue Eleganz und Bestimmtheit in
der ganzen gebildeten Welt zahlreiche Kenner gewonnen hat und in der Diplo¬
matie immer noch, wenn auch nicht mehr so ausschließlich wie früher, zur An¬
wendung gelangt. Indessen besitzt die Sprache der Franzosen trotz ihrer
Abgeschliffenheit eine solche Menge von grammatischen Feinheiten und Spitz¬
findigkeiten, daß ihre Erlernung für den Weltverkehr als zu schwierig erachtet
werden muß.
Dem deutschen Vaterlandsbewußtsein würde es eine Befriedigung gewähren,
wenn wir sagen könnten, unsre Muttersprache besäße alle Eigenschaften zur
Weltsprache. Solche Wünsche dürfen uns jedoch nicht blind dafür machen,
daß das Deutsche, wenn es anch größere natürliche Verbreitung besitzt als das
Französische, nicht abgeschliffen genug, zu schwer erlernbar und zu hart für die
Aussprache") ist, um erfolgreich an dem Weltsprach-Wettbewerb teilzunehmen.
Wir geben uns zufrieden mit der Wcltliteratnrrolle des Deutschen, welches in
Befolgung eines Goethischen Ausspruches thatsächlich schon das Beste aus
allen Literaturen der Welt übersetzuugsmäßig an sich gebracht hat und in
dieser Hinsicht seine Kreise immer weiter ausdehnt.
Nicht viel anders steht es mit dem Spanischen. Die Sprache der Kastilier
verfügt gewiß über viele Vorzüge: weiter verbreitet als die deutsche, bietet
sie für die Erlernung keine erheblichen Schwierigkeiten und besitzt neben Mund¬
gerechtheit einen männlich schönen Wohllaut. Dennoch kann sie die zugedachte
Rolle uicht spielen, weil sie noch zu viel vou Flexion besitzt, also zu wenig
abgeschliffen ist; auch hat sie nicht die große Klarheit und Bestimmtheit z. B.
des Französischen und ist vielleicht noch nicht genügend nach allen Seiten des
menschlichen Gedankenkreises hin ausgebildet und erprobt.
So bleibt uns allein das Englische übrig, und diesem wird sich die Palme
nicht vorenthalten lassen. Seine Erlernbarkeit ist leicht, durch unvergleichliche
Abgeschliffenheit hat es widerstandsfähige Handlichkeit erworben und zeichnet
sich bei großem Reichtume des Wortschatzes durch Kürze und Gedrungenheit
aus wie keine zweite europäische Sprache.*) Daß es mundgerecht ist, kann auch
nicht in Abrede gestellt werden, denn alle kultivirten und unkultivirten Völker,
mit denen die Briten in Berührung getreten sind, können das Englische leicht
nachsprechen. Die Grammatik ist klar und durchsichtig, die Brauchbarkeit der
Sprache in allen Gebieten menschlichen Denkens durch eine mehr als drei-
hundertjährige Literatur unzweifelhaft erwiesen. Viele Millionen Menschen in
allen fünf Erdteilen sprechen das Englische als Muttersprache, und es kann ihm
in dieser Hinsicht keine andre europäische Sprache an die Seite treten. Sonach
entspricht das Englische den gestellten Anforderungen am vollständigsten, und
es bedürfte nur der Beseitigung einer garstigen Schwäche, um die letzten Be¬
denken zu verscheuchen. Dieser Fehler ist die geradezu entsetzliche Orthographie,
bei deren Regellosigkeit der Lernende doppelt wieder zusetzen muß, was er in¬
folge der grammatischen Leichtigkeit an Zeit gewonnen hat. So lange die ortho¬
graphische Nacht Großbritanniens noch nicht ihren Tag erfährt, wird der all¬
gemeinen Anerkennung des Englischen als Weltsprache ein schweres, wennschon
nur äußerliches Hindernis im Wege stehen. Aber die Dämmerung ist bereits
angebrochen. Der vormalige Lehrer Jsaak Pitman in Bath hat schon vor
fünfzig Jahren ein einfaches und praktisches Shstem der englische» Rechtschrei¬
bung erfunden, das unter möglichster Anlehnung an das alte lautgetreu schreibt
und alle Schwierigkeiten mit einem Schlage verschwinden läßt. Jedermann,
der die gewöhnliche englische Orthographie gelernt hat, wird einen Text in
Pitmanscher „ Monographie" sofort und ohne nennenswerten Anstoß vom
Blatte lesen, obgleich Pitman für die eigentümlichen Laute der englischen
Sprache einige neue, aber dem Charakter der alten Schrift gut angepaßte
Zeichen eingeführt hat. Zur Erleichterung des Überganges ist auch eine Mittel¬
stufe geschaffen worden, die ohne den Gebrauch neuer Zeichen nur durch ge¬
regelte Anwendung des bestehenden Alphabets eine außerordentliche Verein¬
fachung und Leichtigkeit herbeiführt. In beiden Formen der Pitmanschen
Schrift sind schon Millionen Exemplare von Fibeln, Lesebüchern u. f. w. durch
das britische Reich verbreitet und haben bei privatem Jugendunterrichte so un-
geheure Zeitersparnis und so viel schnelleres Vorwärtsschreiten ermöglicht, daß
man eine öffentliche Anerkennung nur wünschen kann. Private Thätigkeit hat der
britischen Regierung ein halbes Jahrhundert lang vorgearbeitet und den Schritt
amtlicher Beglaubigung und Durchführung leicht gemacht. Die Vorteile der Pit-
manschen Mittelstufe — und nur diese könnte vorläufig in Betracht kommen —
sind so augenfällig, daß ernstlicher Widerspruch kaum zu erwarten wäre, viel¬
mehr allenthalben eine freudige Aufnahme, welche das Unbehagliche des Über¬
gangszustandes nach Möglichkeit abkürzen würde. Mit dieser Neuerung würde
dem Siegeszuge der englischen Sprache wesentlicher Vorschub geleistet und das
kleine Volapük, welches ausgesprochenermaßen der großen Mitbewerberin ein
Bein stellen will, bald auf die Seite geschleudert werden. Man komme hier nicht
mit nationalen Beklemmungen und Eifersüchteleien, es liegt nicht im deutschen
Charakter, fremden Völkern wirkliche Vorzüge oder gerechte Ansprüche streitig
zu macheu. Und andre den Briten feindlich gesinnte Nationen, wie die Russen
und Chinesen, werden sich wohl auch zu dem Standpunkte hinausarbeiten können,
daß der Besitz eines allgemeinen Verständiguugsmittels ihnen viel mehr Nutzen
schaffen muß, als sie etwa an Sebstbewunderung einbüßen. Irgend eine Sprache
muß eben einmal den Vorrang erhalten, und nach dem Stande der Dinge
können an dem Berufe des Englischen kaum Zweifel obwalten. Das britische
Weltreich hat der englischen Sprache die Wege geebnet, schon jetzt kommt man
mit ihr in allen Weltteilen weiter als mit irgend einer andern. Diesen natürlichen
Entwicklungsgang sollte man nicht in ohnmächtiger Vermessenheit zu stören,
sondern angesichts des der ganzen Menschheit zu Gute kommenden Zieles zu
fördern suchen. Wer zur Verwirklichung der Weltsprach-Jdee etwas beitragen
will, der mache sich mit der englischen Sprache vertraut, er wird sich menschlicher
Voraussicht nach keine Enttäuschung bereiten. Sollte aber wider Erwarten
eine andre Knltursprciche das Englische überflügeln, nun so ist ein wirklicher
Schade nicht angerichtet, man hat eine Sprache gelernt, mit der man auf
jeden Fall etwas ausführen kann, die auch den Schlüssel zu einer reichen, bedeu¬
tungsvollen und sittlich ernsten Weltliteratur bildet. Kommt aber das Volapük
wieder aus der Mode, so sitzt man da mit seiner Kenntnis und hat nichts
davon als den Verlust kostbarer Stunden, die auf das Erlernen und Einüben
verschwendet worden sind.
harlvtte blieb noch über ein Jahr in Mannheim. Von Zeit
zu Zeit erhielt sie einen Brief von Schiller und beantwortete
ihn mit der vollen Hingebung an den genialen Seeleufreuud,
dessen persönlichen Umgang sie schmerzlich vermißte. „Ich Wichte
nicht — schreibt sie —, wie verlassen, wie einsam ich werden
würde, als Sie gingen! Das habe ich nicht auf einmal wissen sollen. . . .
Unsre Liebe gehört zu den Eigenschaften unsrer Seele, sie kann nur mit dieser
zerstört werden, die Ewigkeit ist ihr Ziel!" Und dann fügt sie, sich selbst
vergessend, hinzu: „Guter Schiller, wie sehr freue ich mich Ihrer jetzigen
Existenz, Ihr Dasein fließt unter der Sorge Ihrer Freunde dahin." Einen
vorübergehenden Ersatz fand sie im Verkehr mit Frau von Laroche, die den
Winter 1785—86 in Mannheim zubrachte. Unterdessen hatte ihr Schwager,
der Präsident vou Kalb, angefangen, die Ostheimscheu Güter zu verwalte».
Dies wäre vielleicht selbst für einen erprobten Geschäftsmann nicht ganz leicht
gewesen, der Präsident aber faßte noch dazu die Sache mit ungeschickter Hand
an. Zunächst spielte er das Familienoberhaupt und bevormundete ohne Zurück¬
haltung Bruder und Schwägerin. Der Major hatte in der Pfalz keine An¬
stellung erhalten, er blieb in französischen Diensten, und Charlotte mußte, damit
der Aufwand der Familie möglichst vereinfacht würde, mit ihrem Söhnchen das
Landgut Kalbsrieth in der Goldenen Ane, welches ihrem Schwiegervater gehörte,
zum Aufenthalte wählen. Hier fand sie eine reiche Büchersammlung, die ihr
in der ländlichen Einsamkeit Belehrung und Zerstreuung gewährte. Besonders
Herders Werke zogen sie an. Der edle und große Geist, der aus diesen
Schriften spricht, wirkte läuternd und klärend auf ihr Denken und Fühlen ein.
Von Kindheit auf hatte sie einen Hang zu religiöser Beschaulichkeit gehabt.
An hochgebildete und charakterfeste Geistliche, an alle, welche die Welt über¬
wunden hatten, hatte sie sich mit inniger Verehrung angeschlossen, aber es war ihr
frühzeitig ein mystischer Zug eingeimpft worden. Sie schwärmte gern in der
Sehnsucht nach einem von allen sittlichen Mängeln gereinigten Klosterleben,
das den Bedrängten eine Zuflucht böte. Da wirkte nun Herders protestantische
Frömmigkeit reinigend und ermutigend auf sie ein. Ihr energischer Geist war
dem philosophischen Denken näher verwandt als dem mystischen Grübeln, Herder
wurde fortan ihr geistlicher Berater, und selbst im Ausdrucke lehnte sie sich an
ihn an, soweit es ihr möglich war. Schiller war nicht abgeneigt, die Freundin
auf längere Zeit in Kalbsrieth zu besuchen, aber Charlotte durfte, wie sie sich
selbst ausdrückt, nicht dazu raten. Dieselbe Frau, die in leidenschaftlichen, un¬
verhüllten Worten den Dichter an die Ewigkeit ihres Seelenbuudes mahnt,
lehnt es ab, mit ihm Tage lang unter einem Dache zu wohnen. Es herrschte
noch ein feierlicher Ernst in ihrer Idealwelt.
Als sie so in freiwilliger und unfreiwilliger Abgeschlossenheit ihre innere
Welt aufbaute, bemerkte sie auf einmal, daß sich ein Schatten über das Buch
ergoß, welches sie eben ausgeschlagen hatte, und daß die Zeilen sich verwirrten.
Eine hitzige Epidemie wütete in der Umgegend, zwei ihrer Dienerinnen lagen
krank, und bei ihr selbst stellte sich das Übel in Gestalt eines Augenleidens
ein, von dem sie nie wieder befreit wurde. Der Präsident riet zu einem Wechsel
des Aufenthaltsortes. Charlotte ging zu einer befreundeten Dame, der Frau
von Üchtritz nach Gotha, und von da nach Weimar, wo sie ihren bleibenden
Wohnsitz nahm. So war denn die geniale Idealistin im Mittelpunkte der
schöngeistigen Bestrebungen, in der Heimat des Genies. Aber man kann nicht
sagen, daß sie ohne weiteres dahin gepaßt hätte.
Köpke sagt in seiner Biographie der Frau von Kalb ganz richtig, dnß ihr
Weimar um eine ganze Entwicklungsperiode voraus war. Die Zeit des schranken¬
losen Idealismus, die Sturm- und Drangzeit war hier längst vorüber, ein
kritischer Realismus war zur Herrschaft gelangt, die Gesellschaft hatte etwas
Abwartendes, fast Abwehrendes, wie ihr tonangebender Genius Goethe selbst.
Charlotte stieg noch auf der Himmelsleiter ihrer idealen Sehnsucht auf und
nieder, bald über die Wolken hinaus, bald in die dunkelste Tiefe ihres sorgen¬
vollen Herzens hinab. Und sie wußte, daß sie nie anders werden konnte, daß
sie so bleiben mußte. Im Gegensatze zu der Welt, in der sie sich fremd fühlte,
bildete sich nun in ihr die wunderbare Stimmung aus, die ihr fortan eigen¬
tümlich blieb und ihrer Person bald etwas unendlich Anziehendes, man möchte
sagen rührend Kindliches, bald etwas Herdes und Abstoßendes verlieh, ein
wunderbares Gemisch von Selbstbewußtsein und Demut, von Verachtung der
Welt und stiller Dankbarkeit für jedes freundschaftliche Entgegenkommen. Sie
mischte sich nicht in das kleinliche Getriebe von Neigungen, Abneigungen und Eifer¬
süchteleien des Hoflebens, hocherhobenen Hauptes ging sie mitten hindurch durch
die vielfach verflochtenen Fäden vertraulichen und mißtrauischen Verkehrs, der
die in einsamer Landstadt zusammengedrängte Geistesgenossenschaft zu einer
großen Familie machte, aber sie duldete gern das Fremde, sie, die Heimatlose,
erhob keinen Anspruch und richtete nie über den Einzelnen. Das ist ihre Größe.
Nur mit wenigen verkehrte sie. Die Herzogin-Mutter Amalie war ihr ge¬
wogen, im Wielandschen Hause war sie gern gesehen, mit der Frau Reinhold,
der Tochter Wielands, sogar befreundet, Frau von Stein und Frau vou Scharbe
kamen ihr freundlich entgegen. Frau von Stein hatte schon früher Charlottens
Aufmerksamkeit erregt, wie überhaupt anmutige Frauengestalten ihr einen
ästhetischen Genuß bereiteten, in den sich keine Spur von Neid mischte. Vor
zehn Jahren hatten sich beide Frauen in Meiningen gesehen, und Frau von Kalb
konnte nicht vergessen, wie lieblich die Stein im weißen Taftkleidc und mit
der dunkeln Rose im braunen Haare gewesen sei. Jetzt belohnte Frau vou Stein
die neidlose Verehrerin damit, daß sie ihr von dem in Italien weilenden Goethe
erzählte und dessen Briefe lesen ließ. Die beiden Frauen erkannten wohl die
Ähnlichkeit ihrer Aufgabe in der klassischen Welt. Ganz unbedingt schloß sich
Fran von Kalb an Herder an. In seine Denkweise hatte sie sich schon ein¬
gelebt, seine Predigten, sein freundliches Entgegenkommen im gesellschaftlichen
Verkehr, die Würde und Hoheit seiner Person ergänzten den Einfluß, den seine
Schriften auf sie ausgeübt hatten. Auch der schwermütige Ernst, dem er sich
mehr und mehr hingab, zog sie an. „Ich sah — sagt sie — die Leiden derer,
die sich tieferen Forschungen geweiht hatten." Herder wurde ihr Berater, ihr
Trost; so oft sie uur konnte, verkehrte sie in seinem Hanse und verwunderte
sich in Demut, daß er sie duldete. So gehörte sie denn recht eigentlich zu dem
Herderschen Kreise, dem auch Knebel nahe stand und dem sich ebenso entschieden
Frau von Stein zuwandte, als Goethe seine eignen Wege ging. Im übrigen
hielt sie sich sehr zurück; mit dem Hofe hatte sie wenig Berührung, der Herzog
beachtete sie fast gar nicht.
Am 21. Juli 1787, ein paar Monate später als Charlotte, kam Schiller
nach Weimar. Das erste Wiedersehen hatte etwas Gepreßtes, Betäubendes,
doch fand Schiller die Freundin unverändert, sodaß er sich schon in der ersten
Stunde des Zusammenseins mit ihr nicht anders fühlte, als hätte er sie erst
gestern verlassen. Vierzehn Tage später schreibt er an Körner: „Ich habe dir
nicht geschrieben, welche sonderbare Folgen meine Erscheinung auf sie gehabt
hat. Sie hat mich mit einer heftigen, bangen Unruhe erwartet. Mein letzter
Brief, der ihr meine Ankunft gewiß versicherte, setzte sie in eine Unruhe, die
auf ihre Gesundheit wirkte. Ihre Seele hing nur noch an diesem Gedanken, und
als sie mich hatte, war ihre Empfänglichkeit für Frende dahin. Ein langes Harren
hatte sie erschöpft, und Freude wirkte bei ihr Lähmung. Sie war fünf, sechs
Tage nach der ersten Woche meines Hierseins fast jedem Gefühl abgestorben,
nur die Empfindung dieser Ohnmacht blieb ihr und machte sie elend. Jetzt
fängt sie an, sich zu erholen, ihre Gesundheit stellt sich wieder her, und ihr
Geist wird freier. Jetzt erst können wir einander etwas sein. Aber noch ge¬
nießen wir uns nicht in einem zweckmäßigen Lebensplane, wie ich mir ver¬
sprochen hatte. Alles ist nur Zurüstung für die Zukunft." Aus dieser ersten
Zeit stammen einige interessante Äußerungen Schillers über Frau von Kalb
und sein Verhältnis zu ihr. Er schildert sie seinem Freunde Körner als eine
große, sonderbare weibliche Seele, die ein wirkliches Studium für ihn sei und
einem größeren Geiste als dem seinigen zu schaffen geben könne. Mit jedem
Fortschritte seines Umganges mit ihr entdecke er neue Erscheinungen in ihr,
die ihn wie schöne Partien in einer weiten Landschaft überraschten und ent¬
zückten. Sein Verhältnis zu ihr sei wie die geoffenbarte Religion auf den
Glauben gestützt. Wie bei dieser die Resultate lauger Prüfungen und lang¬
samer Fortschritte des menschlichen Geistes auf eine mystische Weise avcmcirt
seien, weil die Vernunft zu langsam dahin gelangt sein würde, so hätten auch
sie mit der Ahnung des Resultates angefangen und müßten nun ihr Verhältnis
verstandesmüßig untersuchen und befestigen. Da gebe es denn Epochen des
Fanatismus, des Skeptizismus, des Aberglaubens und Unglaubens, und am
Ende werde ein reiner und billiger Vernunftglaube der allein seligmachende
sein. Wahrscheinlich sei der Keim einer unerschütterlichen Freundschaft in beiden
vorhanden, aber er warte noch der Entwicklung. In Charlottens Gemüt sei
übrigens mehr Einheit als in dem seinigen, obgleich sie wandelbarer in Launen
und Stimmungen sei. Lange Einsamkeit und ein eigensinniger Hang ihres
Wesens hätten sein Bild in ihrer Seele tiefer und fester gegründet, als dies
bei ihm der Fall mit dem ihrigen habe sein können. In Wirklichkeit war das
Verhältnis wohl inniger, als diese kritische Betrachtung vermuten läßt. Schiller
widmete sich der Freundin ganz, soweit seine Arbeiten und der notwendige
Verkehr mit andern es zuließen. Täglich war er bei ihr, oft zweimal, zuweilen
von früh bis abends. Er ging mit ihr spazieren und begleitete sie in die
Gesellschaft. Die Weimarer waren an Seelcnfreundschafte» gewöhnt, sie re-
spektirten die Vertraulichkeit der beiden Fremden, äußerlich wenigstens, so
sehr, daß sie beide häufig zusammen einluden. Diese Rücksicht nahmen sogar
die Herzogin und die Herzogin-Mutter. Doch mag es auch an Klatsch und
übler Nachrede nicht gefehlt haben. Charlotte vergalt die Hingebung ihres
Dichters ähnlich wie die Stein mit schwesterlicher Zärtlichkeit. Sie sorgte für
seine äußere Bequemlichkeit, verschaffte ihm einen passenden Diener, half ihm
seine Häuslichkeit einrichten und erleichterte ihm als Führerin und Beraterin
feinen Eintritt in die Hofkreise. Man kann sie Schritt für Schritt verfolgen,
diese beiden in ihren Idealismus lind ihre Freundschaft eingeschlossenen Fremden,
wie sie mit einander die selbstbewußte und formgcrechte Weimarische Gesellschaft
durchwandern und ihre Betrachtungen anstellen. Mit aufrichtiger Bewunderung
sahen sie zur Herzogin Luise auf; ihre gleichsam jungfräuliche Strenge und
durch eine hohe Bildung erzeugte Milde schildert Charlotte noch in ihren
Memoiren mit warmen Worten. Natürlich brachte Charlotte auch den Arbeiten
ihres Freundes das lebhafteste Interesse entgegen. Besonders rührten sie die
Szenen in Don Karlos, die ihr eignes Bild wiederspiegelten.
Im Anfang wirkte diese Bethätigung einer innigen Freundschaft außer¬
ordentlich belebend auf Charlotte ein. Sie ward gesund, gesellig und heiter,
fast mutwillig. Mitten im idealsten Fluge ihrer Gedanken konnte sie herzlich
lachen, so frei und sicher fühlte sie sich. Allmählich aber mischte sich etwas
Beängstigendes und Leidenschaftliches in das Zusammenleben mit dem Freunde.
Schiller war doch nicht mehr, wie in Mannheim, der bald unbändig aufwallende,
bald weiblich sanfte Jüngling des Sturmes und Dranges, der sich bereitwillig
in die moralische Pflege der jungen Frau begeben hatte. Der Aufenthalt in
Dresden war nicht günstig für seine sittliche Entwicklung gewesen. Andeutungen
in Hubers Briefen und bekannte Thatsachen lassen erkennen, das; der sinnliche
Teil seines Wesens gewaltsam zur Geltung zu kommen suchte. Er bot nicht
mehr wie in Mannheim jedem schönen Mädchen Herz und Hand zugleich an,
sondern war im Notfalle bereit, das Herz allein und die Hand allein zu ver¬
schenken. In deu Armen einer schönen Glücksritterin in Dresden aus der
Klasse der Demimoude, des Fräulein Arnim, hatte er den Mut dazu gewonnen.
Es war kein Zeichen von feinem sittlichen Takte, daß er seiner Seelenfreundin
in Weimar das Bild der Arnim zeigen und rühmen konnte. Charlotte sollte
noch mehr darunter zu leiden haben.
Auch in geistiger Beziehung stand Schiller im Begriff, ein andrer zu
werden. Schon durch seine geschichtlichen und philosophischen Studien war er
von dem idealen Traumleben der Sturm- nud Drangperiode abgelenkt worden;
in Weimar schloß er sich mehr und mehr an Wieland an, der mit ihm einen
förmlichen Kursus der Kunstpoesie durcharbeitete und ihn dringend auf die
klassischen Dichtungen der Alten als auf die unvergänglichen Muster hinwies.
Überhaupt war die Weimarer Luft dem Sturm und Drang nicht günstig, und
Schiller sträubte sich nicht gegen die Umwandlung seiner Ideen. Mit Don
Karlos schließt 1787 die Zeit seines unbegrenzten Idealismus ab, Don Karlos
aber ist ans dem Boden seiner Liebe zu Charlotte erwachsen und mit dieser
bis zum Abschluß aufs innigste verwebt gewesen. Als Don Karlos vollendet
war, begann seine Seclenfrenndschaft mit der Idealistin zu ermatten. Denn
Charlotte änderte sich nicht, sie blieb, was sie war, die Heldin der Sturm¬
und Draugzeit. Ehe aber Schiller sich vollkommen klärte, ehe er geistig die
Freundin winklich überragte, umfing ihn eine Zeit lang die Trübe, welche jeden
Übergang kennzeichnet. Daher hat in dieser Zeit das Pathos seiner Empfin¬
dungen zuweilen etwas Ungesundes, wie wir schon in seinem Verhalten gegen
Karoline von Beulwitz gesehen haben. Seine vulkanische Natur warf einen
glühenden Aschenregen aus, der die friedliche Umgebung versengte. Auch in
Charlotte sah er nicht mehr allein die geistige Schwester, sondern ebenso sehr
das Weib, welches seine sinnliche Natur aufregte. Er suchte sie geflissentlich
allein zu sehen, er bat sie schriftlich, zu ihm zu kommen, weil er nicht ausgehen
könne. Charlotte mußte abschlagen, abweisen, und Schiller zürnte ihr deswegen.
Sie war wirklich in einer schlimmen Lage. Ihr Augenleiden wurde trotz der
sorgfältigen Behandlung des jungen Hufeland, der sich damals in Weimar
niederließ, nicht vollständig gehoben, ihre Vermögensverhältnisse verschlechterten
sich zusehends. Hatte doch der Präsident die Familie in seinem Eifer, die
Ostheimschen Güter zu verwalten, in einen kostspieligen und langwierigen Prozeß
verwickelt, zu dessen Bestreitung die Güter immer von neuem mit Schulden
belastet werden mußten! Dazu kam nun das auffällige Benehmen des Freundes,
in dessen Umgänge sie ihre Heiterkeit, ihre Gesundheit wiedergewonnen hatte.
Im Herbst des Jahres 1787 kam ihr Gemahl nach Deutschland zurück, der
Prozeß verlangte seine Gegenwart. Charlotte reiste ihm bis Kalbsrieth ent¬
gegen und brachte ihn im Dezember nach Weimar. Schiller findet in ihm
ganz den „alten," aber er zweifelt, ob die Gegenwart des Mannes ihn lassen
werde, wie er sei, anderseits fürchtet er, daß des Majors Billigkeit und Stärke
durch Einmischung fremder Personen und dnrch die dienstfertige Ohrenblüserei
auf eine harte Probe gestellt werden könnte. Infolge dessen zog er sich mehr
und mehr von Charlotten zurück. Diese bewahrte ihre wiedergewonnene Heiter¬
keit, so gut es anging, und führte ihren Mann in die Gesellschaft ein, wo er
durch seine Erzählungen aus Amerika und Frankreich Aufmerksamkeit erregte,
aber sie fand immer wieder, daß ihre Bestrebungen von denen ihres Mannes
weit ablagen und daß sich darum eine Harmonie der Gemüter nicht herstellen
ließ. Je mehr sich Schiller von ihr entfernte, desto mehr fühlte sie, wie viel
sie an ihm verlor. Und daß der Erwählte ihrer Seele auch an ihrer irdischen
und weiblichen Existenz Gefallen funde, sie ganz liebte und begehrte, hatte doch
etwas Berauschendes für sie. Gewiß hatte es ihr weh gethan, ihn fern halten
zu müssen. Wie, wenn sich eine Form finden ließ, in welcher sie ihm Erholung,
Gewährung hoffen lassen konnte, ohne daß die bürgerliche Gesellschaft, deren
Urteil sie fürchtete, sie zu verdammen ein Recht hätte! So keimte in ihr der
Wunsch, sich von ihrem Manne scheiden zu lassen, und ihre Liebe ward zur
Leidenschaft. Als der Major im Frühjahr 1788 wieder nach Frankreich zurück¬
ging, ward die Trennung der Ehe noch nicht beschlossen, aber Geschiedenheit
im äußern und innern Leben, doch „nie mit Vorwurf, denn dies Loos war
das erträglichste." Freilich, fast zu gleicher Zeit verließ auch Schiller Weimar.
Er hatte im Winter, während Charlotte durch die Gegenwart ihres Mannes
gebunden war, gern mit Lottchen von Lengefeld verkehrt, die sich damals in
Weimar aufhielt, und bezog Mitte Mai das Sommerlogis in Volkstädt bei
Rudolstadt. Im traulichen Verkehr mit den Schwestern von Lengefeld verflogen
ihm die Sommermonate wie ein schöner Traum. Die reine, klare, in der Milde
ihrer jungfräulichen Liebe strahlende Charlotte von Lengefeld war berufen, dem
Dichter den sittlichen Frieden wieder zu geben. Aber auch sie nicht ohne schwere
Kämpfe! Zwar trug sich Schiller immer mit Heiratsgedanken, um dem Zwie¬
spalt in seinem Innern zu entgehen, allein die dämonischen Mächte in ihm
drängten ihn fort und fort nach der Peripherie hin. Wahrend die wahre Liebe ihn
schon mit ihren ersten Blumenketten umwand, schrieb er an Charlotte von Kalb,
die seiner hcirrie, einen langen, langen Brief, worin er sie beschwor, sich von
ihrem Manne scheiden zu lassen. Die Erstarrung der Falschheit dürfe sie nicht
dulden, es sei ein Wahn, wenn sie meine, ohne ein bestimmtes Abbrechen den
Frieden wieder zu gewinnen. Sie solle zu ihm kommen in seine Berge, er
erwarte sie. Wahrscheinlich stellte er ihr ein Zusammenleben im Geiste in
Aussicht, wie ein Jahr später noch der Schwester seiner Verlobten, der Frau
von Veulwitz. Charlotte antwortete nicht mit einem Briefe, sondern mit einem
ganzen Hefte, sie mußte ihm doch ihr Innerstes, ihr Leben enthüllen. Das
Schreiben ist nicht erhalten geblieben, es ist vernichtet worden, wie das Schillers,
aber aus ihren Memoiren läßt sich schließen, daß sie die Ehe als das Band
der Vereinigung forderte. Schiller antwortete nicht. Am 12. November kam
er selbst nach Weimar zurück und überbrachte ihr einen Brief von Lottchen
von Leugefeld, in welchem diese um ihre Freundschaft bat, aber die Herzens¬
ergüsse, welche sie erwartete, blieben aus. Mehr und mehr zog er sich von
ihr zurück. Schon von Rudolstadt aus hatte er an Körner geschrieben: „Ich
widerrufe nichts, was ich von ihr ^der Kalb) geurteilt habe, sie ist ein geist¬
volles und edles Geschöpf, ihr Einfluß aber auf mich ist nicht wohlthätig ge¬
wesen." Von dieser Umwandlung hatte Charlotte noch keine Ahnung. Sie
freute sich, wenn der geliebte Mann sie einmal besuchte, und lenkte gern in den
Gang einer geistvollen, ernsten Unterhaltung ein, sodaß auch der verwandelte
Freund ihr seine Bewunderung nicht versagen konnte. Ja sie schrieb sogar an
ihren Gatten und deutete ihm die Veränderung um, die für seinen nud ihren
Frieden unvermeidlich wäre, das heißt Wohl, sie schlug ihm die Scheidung vor.
Aber sie erhielt keine Antwort. Im Frühjahr 1789 kam Herder aus Italien
zurück. Da eilte Charlotte in ihrer Herzensangst zu ihm und fragte ihn um
Rat. Auch er empfahl ihr, die Ehe mit dein Major aufzulösen. Es waren
schwere, sorgenvolle Wochen, die sie durchlebte. Schiller trat seine Professur
in Jena an, ohne ihr ein Wort des Trostes zu hinterlassen. Was sollte sie
thun? In ihrem Kummer las sie die Betrachtungen Montaigncs über die
Freundschaft und vertiefte sich in Herders Predigten. So stellte sie mühsam
eine künstliche Ruhe in sich her und suchte sich diese in äußerer Abgeschlossenheit
zu bewahren. Gegen Ende des Sommers war Schiller vier Tage in Weimar
und widmete ihr wieder einmal jede sreie Stunde. Er war oft in sinnender
Betrachtung, und es schien ihr, als ob er ihr etwas zu vertrauen, zu bekennen
hätte. „Noch einmal — sagt sie — wurde mein Leben wie durch einen Lebens¬
strahl erleuchtet, ich war umso erregter, als ich bedachtsam sein wollte." Sie
war begeistert, entzückt, sie hätte sterben mögen in diesen seligen Augenblicken.
Die Arme! Sie wußte nicht, daß sich Schiller am 3. August mit Charlotte
von Lengefcld heimlich verlobt hatte. Gegen Weihnachten kamen die Brüder
von Kalb nach Weimar. Sie hatten nichts gegen die Trennung, aber dann
sollte sie auch den Sohn hergeben. Das konnte sie nicht. War doch das
Kind bisher ihr einziger Trost gewesen in langer, schwerer Zeit. Mit allen
Fasern ihres Herzens klammerte sie sich an den Knaben an, und mit furcht¬
barer Deutlichkeit sah sie die trostlose Lage, in die sie geraten war. Die
Leidenschaft im Herzen, die starre, kalte Welt vor sich, Ade und Verlassenheit,
wohin sie blickte! Das Gefühl der inner«? und äußern Not überwältigte sie
so, daß sie in eine tvdesähnliche Erstarrung fiel, ans der sie erst am andern
Tage erwachte. Und nun erst sollte sie auch den letzten Trost verlieren. Während
sie unter dem Mißtrauen litt, das sie selbst im Kreise der nächsten Angehörigen
wach gerufen hatte, lüftete sich der Schleier über Schillers Verlobung. Da
gewann die Leidenschaft, die wider ihren Willen in ihr erregt worden war und
in einer starken Natur wie der ihrigen zu einer ungestümen Macht anschwellen
mußte, Gewalt über sie. Es ist ohne Zweifel alles wahr, was ihre Gegner
ihr in dieser Zeit vorwerfen: daß sie Schillers Braut mit boshaften Be¬
merkungen verfolgte, daß sie einen anonymen Brief an sie schrieb, worin sie
ihr die Liebe zu Schiller als eine Thorheit verdächtigte, daß sie die Briefe der
Liebenden erbrach, wenn sie deren habhaft werden konnte, daß sie sich noch in
dieser letzten Frist verzweifelt an den Geliebten wendete, ihn mit Briefen und
Einladungen zu vertraulichen Besprechungen bestürmte und dann wieder ihre
Liebe zu ihm als eine Tollheit, einen ungeschickten Traum brandmarkte, der
schon lange nicht mehr in ihrer Erinnerung sei, daß sie kurz vor der Hochzeit,
als Lotte sie bei Frau von Stein traf, aussah wie ein rasender Mensch, bei
dem der Paroxhsmus vorüber ist, so erschöpft, so verstört. Es ist alles wahr
und erklärlich. „Sie saß unter uus — schreibt Lotte in einem Briefe an
Schiller — wie eine Erscheinung aus einem andern Planeten und als gehörte
sie gar nicht zu uns. Ich fürchtete wirklich für ihren Verstand. Sie ist mir
sehr aufgefallen, und hätte sie nicht wieder die unverzeihlicher Härten und das
Ungraziöse in ihrem Wesen, sie könnte mein Mitleid erregen." Schiller war
in nicht geringer Verlegenheit. Bald sucht er leicht über den heilet» Punkt
hinwegzukommen, bald das Benehmen der gekränkten Frau als eine unbegreifliche
Anmaßung hinzustellen. „Ich habe eben einen Brief an die Kalb geendigt
— schreibt er am 8. Februar 1790 seiner Braut —, und zwar eine Antwort
auf einen, den ich heute von ihr erhalten habe. Sie beträgt sich wie gewöhnlich
sehr ungraziös, und ich habe mich, däucht mir, sehr schön an ihr gerächt. . . .
Ich habe ihr von unsrer Glückseligkeit geschrieben, dieses war meine Rache, sie
hat sie reichlich verdient." Und einige Tage später, kurz vor der Hochzeit:
„Sie draug in mich in ihren letzten Briefen, sie nur auf einen Augenblick zu
besuchen, weil sie mir etwas sehr wichtiges zu sagen habe. Da ich es neulich
endlich ganz abschlug, so eröffnete sie mir in ihrem letzten Briefe die Sache,
um derentwillen sie so nötig fand, mich zu sprechen. Dies war nun offenbar
nicht die Wahrheit, denn ihr Anliegen ist dnrch einen Brief noch leichter ab¬
zuthun gewesen. Sie war nie wahr gegen mich als etwa in einer leidenschaft-
lichen Stunde, mit Klugheit und List wollte sie mich umstricken. Sie ist jetzt
nicht edel und nicht einmal edel genug, um mir Achtung einzuflößen." Schiller
erntete, als er in den Kreis der reinen Liebe eintrat, die bittern Früchte dessen,
was er in der trüben, verworrenen Übergangszeit selbst gesät hatte. Es gehörte
die grundlose Liebe einer Lotte von Lengefeld dazu, die Kluft auszufüllen,
welche die Braut noch von dem Bräutigam trennte. Wie sie in frommer Hin¬
gebung und Selbstlosigkeit den Mann ihrer Liebe von der Schwester erwarb,
so rang sie um ihn mit der frühern Geliebten. Sie macht Schiller keine Vor¬
würfe, aber mit dem scharfen Auge der Eifersucht überwacht sie jedes Wort,
jede Handlung der leidenschaftlich erregten Frau und schöpft die Zuversicht in
dem schweren Kampfe aus dem Bewußtsein, daß sie ihrem Verlobten zu seinem
eignen Besten helfend zur Seite stehe. „Nein gewiß, Lieber — schreibt sie
am 22. Januar 1790, also wahrscheinlich in der Zeit, als sich die Krisis bereits
dem Ende zuneigte —, sie ist nicht gemacht, dir zu gehören, sie hat so viele
Härten in ihrem Wesen, die dich nicht glücklich gemacht hätten. Unsre Ver¬
bindung wäre bei einem nähern Verhältnisse mit dir ganz zerstört worden, du
wärst gar nicht mehr für uns da gewesen. Wir wären uns fremder geworden
und zuletzt ganz getrennt, denn sie hätte uns nicht in deinem Herzen wissen
mögen. Ein guter Genius bildete mein Wesen, um einst wohlthätig auf das
deine wirken zu können."
Der Paroxysmus der Leidenschaft war bei der heroischen Dulderin vorüber¬
gehend. Sie ergriff die Zügel ihres Lebens von neuem, riß ihre Gedanken von
dem Abgrunde zurück, aus dem ihr der Wahnsinn entgegenstarrte, und erhob
das Haupt wieder zu der Sternenwelt ihrer allgemeinen Ideen. Ihre Briefe
erbat sie sich von Schiller zurück, um sie noch einmal zu lesen und mit den
seinigen zu sammeln und zu heften. Als Schiller kurz vor seiner Hochzeit nach
Erfurt reiste, um die Braut abzuholen, übergab er ihr das Andenken an eine
stürmische Zeit eigenhändig. Es war der Abschied, den er von ihrem Herzen
nahm. Charlotte sammelte und heftete die Blätter nicht. Trauernd saß sie
vor dem schwarzen Kästchen, in dem sie lagen, wie vor dem Sarge ihrer Liebe.
Dann nahm sie ein Blatt nach dem andern heraus und warf es in die Flammen.
Das Opfer war vollbracht, der Schleier war gefallen, der das Urbild der
Elisabeth im Don Karlos vor der Nachwelt verhüllen sollte. „Ich ehre uns
— sprach sie vor sich hin, als die letzten Zettelchen in schwarzen Staub zusammen¬
sanken — wenn ich sie vernichte." Ihre Liebe zu dem Dichter war der Segen
und der Fluch ihres Lebens. In der stürmischen Zeit der Entwicklung hatte
sie sich zu ihm gefunden, sich zu seiner Führern: erboten, und er hatte ihr dafür
von seinem Wesen gegeben. Jetzt wuchs der Geistesheros über sie hinaus,
vergebens klammerte sie sich an seine Fersen, er schob sie beiseite, aber ihr blieb
die geistige Erbschaft seiner ersten Periode, ihr blieb die Gährung, die er glücklich
überwunden hatte. So war es der Fran von Stein mit Goethe ergangen,
so mußte es ihr ergehen. Aber während Frau von Stein ihrem Grolle in
kleinlichen Angriffen auf den Ungetreuen Luft machte, entweihte Fran von Kalb
ihre Trauer nie durch Klage und Verleumdung. Sie wollte größer sein als
ihr Schicksal. Und nachdem sie den furchtbaren Schlag ganz überwunden hatte,
bot sie Schiller mit unumwölkter Stirn selbst die Hand zu einem neuen Bunde
gegenseitiger Achtung und Anfmerksamkeit. Im Mai 1793 bat sie brieflich den
alten Freund, ihr einen Hauslehrer für ihren Fritz zu empfehlen. Schiller
antwortete sichtlich erfreut in freundschaftlich entgegenkommender Weise und er¬
füllte ihre Bitte. So war denn das Unrecht auf beiden Seiten gesühnt, die
Verständigung auf einem höheren Gebiete des Lebens angebahnt, und der herz¬
liche Verkehr wurde bis zu Schillers Tode nicht wieder unterbrochen. Wohl
blieb Schiller anfangs gern auf dem neutralen Boden eines höflichen Verkehrs
mit ihr, weil er ihrer Reizbarkeit, ihrem exzentrischen Gebahren nicht recht
traute; aber nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß sie immer ruhiger wurde,
redete er sie wieder mit dem alten, traulichen „Charlotte" an, und mit der
Herzogin Amalie zusammen hob sie seinen zweiten Sohn Ernst aus der Taufe.
Als er 1799 nach Weimar übersiedelte, bezog er das Haus, welches sie auf¬
geben mußte, weil es für sie zu groß war, und sie überließ ihm einen Teil
ihrer Einrichtung. (Schluß folgt.)
ZWW
^SM>lagen der Schriftsteller sind schon oft und viel vernommen worden,
über zu geringe Einnahmen, über Schädigung ihrer Rechte in
der einen oder andern Weise. Wenn man aber von der Gesetz¬
gebung besseren Schutz dieser Rechte verlangt, so ist doch klar,
daß die eigentliche Ursache des Übels, das Überwiegen des An¬
gebots über die Nachfrage, ans diesem Wege nicht gehoben werden kann.
Und von der andern Seite wird dieser Klage alle Berechtigung abge¬
sprochen. Ein unzufriedenes Geschlecht, diese Literaten, heißt es. denn wer
hätte wohl größere Einnahmen aufzuzeigen als mancher Schriftsteller? Die
Wahrheit nun ist, wie auch zur Genüge bekannt sein dürfte, daß, wenn überhaupt
von einer Ungerechtigkeit des lesenden Publikums gegen die Schriftsteller die
Rede sein kann, hauptsächlich die gediegenere und wertvollere schriftstellerische
Produktion hiervon betroffen wird, da das Publikum seine Auswahl keineswegs
de,n innern Wert der Literaturerzeugnisse entsprechend trifft. Und man kann
im allgemeinen wohl behaupten, daß der Lohn schriftstellerischer Arbeit (soweit
er aus dem Lesebedürfnis des Publikums erwächst) steigt im umgekehrten Ver-
hältnis zu dem Maße geistiger Anstrengung, welche diese Arbeit erforderte, zu
der geistigen Bedeutung und Begabung des Verfassers. Je tiefer und gründ¬
licher ein Schriftsteller irgend einen Gegenstand des Wissens oder gar die für
den denkenden Menschen so anziehenden Fragen uach deu Rätseln des Daseins
und dem Ursprung aller Dinge behandelt, desto mehr entfremdet er sich der
Denkweise der großen Mehrzahl, desto enger ist der Leserkreis, den er sich ver¬
schaffen kann. Wie schlecht hätte es nicht um manchen großen Denker gestanden,
wenn ihm der Absatz seiner Werke den Lebensunterhalt hätte verschaffen sollen!
Aber auch die Empfänglichkeit für die Schönheiten der Literatur ist wohl
weniger verbreitet, als man annehmen sollte, und die weitere Verbreitung der
Werke manches gefeierten Dichters mag manchmal mehr dem Ruhm eines großen
Namens zuzuschreiben sein, als dem Genusse, den der Leser davon empfindet.
Aber nicht die Schriftstellerei höheren Ranges wollte ich besprechen, viel¬
mehr ist es meine Absicht, auf einem Gebiete, welches doch der Fassungskraft
und der Denkweise der Mehrzahl viel näher liegt, dem der Tagespresse, nach¬
zuweisen, daß auch hier die große Masse der Lesenden der innern Bedeutung
schriftstellerischer Leistungen keineswegs gerecht zu werden vermag. Das Lesen
einer Zeitung ist heute ein unentbehrliches Bedürfnis geworden. In die nie¬
drigsten Hütten hält nachgerade die Zeitung ihren Eingang, denn wer für sich
allein die Mittel nicht hat, hält sie doch mit einem oder mehreren Nachbarn
zusammen. Man mag einkehren, in welchem Hause man will, in der Stadt
oder auf dem Lande, bei Gebildeten oder bei Ungebildeten, so wird man finden,
daß die Zeit, wo die Zeitung ins Haus gebracht wird, mit einer gewissen
Spannung und Ungeduld erwartet wird. Und ist die Ersehnte da, so können
kaum die Bedürfnisse der Leselustigen zeitig genug befriedigt werden. Man
reißt einander das Blatt aus der Hand, oder mehrere Personen gleichzeitig
sehen dem Glücklichen, der es zuerst erfaßte, über die Schulter. Jung und Alt
sind gleich empfänglich für diesen Hochgenuß des Zeitungslesers. Die Zeitung
ist so unentbehrlich wie das tägliche Brot, wie die Luft, die man atmet.
Wenn sie einmal ausbleibt, macht ein gewisses Gefühl des Unbehagens sich
geltend, und man ermangelt in solchem Falle gewiß nicht, auf das Postamt,
auf die Zeitungsexpedition oder wer immer diese Unregelmäßigkeit verschuldet
haben mag, weidlich zu schelten.
Glücklicher Zeitungsschreiber, der du solche Szenen erlebst! Wohl mag
dein Herz klopfen in freudiger Erregung, wohl mag sich ein Gefühl der Be¬
friedigung, des Stolzes in deinem Innern regen, daß deine Arbeit gewürdigt
wird, daß du dir das Zeugnis geben kannst, ein unentbehrliches Mitglied der
menschlichen Gesellschaft zu sein, der du ein so dringendes Bedürfnis deiner
Mitmenschen befriedigst! Denn der Zeitungsschreiber, mag er aus einer niedri¬
geren Stufe stehen als der Bücherschreiber, oder gar als jene hohen Lehrer
des Menschengeschlechtes, deren Werke unvergänglichen Wert haben, ist doch
„sozusagen auch ein Mensch," er hat sich ein höheres Ziel gestellt, als den
Gelderlverb allein, es ist ihm nicht gleichgültig, welche Beachtung seinen Worten
geschenkt wird, er will auf seine Mitmenschen wirken, will seinen Ansichten
Geltung verschaffen, seine Gedanken uuter das Volk bringen.
Freilich diese Gedanken dürfen nicht zu hoch sein. Denn — grausame
Enttäuschung! was war es denn, was die Lesegier des Zeitungslesers ver¬
schlang? Ich darf dreist behaupte», daß für die Art von Zeitungsleseru, die
ich hier im Ange habe, der Lesestoff umso anziehender ist, ein je geringeres
Maß geistiger Begabung und geistiger Anstrengung zur Herstellung desselben
erforderlich war. Tagesereignisse, nicht vorwiegend etwa weltcrschütternde oder
politisch bedeutsame, sondern solche, die nur in einem kleinen Umkreise von
Wichtigkeit sind und Beachtung finden, ferner „sensationelle" Nachrichten,
schauderhafte Mordthaten oder Unglücksfälle, alle jene Neuigkeiten, die in der
Rubrik enthalten sind, welche unter dem Titel „Buntes Allerlei" oder einem
ähnlichen in keiner Zeitung fehlen darf, ferner der Inhalt des Feuilletons,
eine Erzählung, an deren künstlerischen Wert der Leser nicht allzu hohe An¬
forderungen zu stellen pflegt, auch die Anzeigen — das ist es, was durchmustert
wird; dann ist der Zeitungsleser oder die Zeitungsleserin fertig. Daneben bleibt
dein Leitartikel, den du mit großem Fleiß ausgearbeitet hattest, unbeachtet. Das,
wodurch die Ereignisse für den denkenden Menschen erst eine Bedeutuug erhalten,
die Beziehung, in der sie zu dem Ganzen des Geschehens stehen, ist für Leser
solchen Schlages nicht vorhanden, es reizt sie nicht, andrer Urteil hierüber zu
prüfen und sich ein eignes zu bilden; die Thätigkeit des menschlichen Geistes,
welche dieser Aufgabe sich widmet, hat für sie keinen Wert.
Besser darum, wenn die Zeitung solchen Erörterungen möglichst wenig
Raum gestattet, noch besser, wenn sie solche Aufsätze überhaupt gar nicht ent¬
hält. Mir ist eine Provinzialzeitung, die wohl richtiger ein erweitertes Lokal¬
blatt zu nennen wäre, bekannt, welche trotz der geringen Bedeutung ihres
Inhalts, oder vielleicht gerade dadurch, im Laufe der Jahre sich einen ver¬
hältnismäßig weiten Leserkreis erworben und ihrem Besitzer Wohlstand verschafft
hat. Diese Zeitung berichtet zwar über die politischen Ereignisse, diese werden
auch darin besprochen, sie bringt aber möglichst wenige Originalaufsütze und
nimmt überhaupt keine ausgesprochene politische Haltung ein; im übrigen liefert
sie Lokalkorrespondenzen und Anzeigen. Und dn ist nun merkwürdig, daß eigentlich
jedermann mit diesem Blatte unzufrieden ist und darauf schilt, weil jedermann
findet, daß es doch gar zu dürftig, sein Inhalt zu nichtssagend sei, aber — jeder¬
mann hält und liest es, was selbstverständlich für das Bestehen eines Blattes
das Haupterfordernis ist. Das Publikum hat dieses Blatt großgezogen und
darf sich also nicht beklagen, daß es seinem Geschmack nicht entspricht; von dem
Herausgeber aber ist nicht zu erwarten, daß er die Tendenz des Blattes ändere,
weil das einfach — nicht nötig ist.
Für den einsichtigen und verwöhnten Zeitungsleser, der eine eingehende,
von gediegenem Urteil und politischer Reife zeugende Besprechung der Tages¬
ereignisse von seiner Zeitung verlangt, würde es unbegreiflich sein, wie genügsam
in dieser Beziehung durchgängig ein ländliches oder kleinstädtisches Publikum
ist, unbegreiflich, welchen Reiz es für eine solche auf Neuigkeiten erpichte Leser¬
schaft haben kann, das, was man oft schon weiß und anderweitig erfahren hat,
schwarz auf weiß gedruckt, vou einigen passenden oder unpassenden Bemerkungen
eines Dorfkorrespondenten begleitet, vor sich zu sehen, sich berichten zu lassen,
daß des Nachbars Knecht sich in der Dreschmaschine den Arm gequetscht hat,
oder daß in Nummelshausen ein Hausbrand stattgefunden hat, oder zu ersehen,
daß der oder jener einen Knecht oder eine Magd sucht. Denn auch die An¬
zeigen haben ein über ihren praktischen Nutzen hinausgehendes Interesse, sie
sind Quellen der Unterhaltung. Es wird ferner dem großstädtischen Leser, der
täglich sein halbes Dutzend oder wie viele Zeitungen durchliest oder richtiger
durchfliegt, seltsam vorkommen, wenn er erfährt, daß eine Provinzialzeituug
vou mäßigem Umfang für eine gewisse Klasse von Lesern sich nicht eignet, weil
sie zu — reichhaltig ist. Der Kleinbauer, der Handwerker oder der Arbeiter hat
sich an das „vertikale" Lesen noch nicht gewöhnt, er muß jede Zeile einzeln
vornehmen, liest gründlich und mit Bedacht, daher er denn in seinen Feier¬
stunden keinen sehr umfangreichen Stoff bewältigen kann.
So kommt es, daß das Lesebedürfnis dieses Publikums meistens durch
Lokalblätter befriedigt wird, welche, weit davon entfernt die Verbreitung jenes
oben erwähnten Blattes zu erreiche», über den Umkreis von wenigett Meilen
nicht Hinaufkommen und deren Abonnentenzahl einige hundert oder ein halbes
tausend manchmal nicht übersteigt. Diese Blätter vermögen die größeren
Blätter vollständig zu verdrängen, denn: „es steht in der größeren Zeitung
zu wenig aus unsrer Gegend, zu wenig, was uns interessirt." Die größere
Zeitung kann sich begreiflicherweise nicht in der gewünschten Breite und Aus¬
führlichkeit mit jedem in dieser Gegend vorfallenden Ereignis beschäftigen. Und
wo es einer Zeitung gelingt, sich einen größern Leserkreis zu verschaffen, oder
wo sie sich einen solchen von der Zeit her, als noch die Zahl der Zeitungen
viel geringer war, erhalten hat, mag dieses oftmals ebenso sehr den Anzeigen
als dem Inhalt des redaktionellen Teiles zU verdanken sein. Denn die weitere
Verbreitung von Anzeigen hat natürlich, abgesehen von dem, wie oben bemerkt,
an die Anzeigen sich knüpfenden Interesse, immer einen Wert, daher auch zU
diesem Zweck Zeitungen gehalten und benutzt werden.
Wenn es nun wahr ist, was immer von dem Einfluß der Presse behauptet
wird, daß Man das, was man täglich liest, schließlich auch glaubt, so ist von
solchen Winkelblättchcn kein besonders bildender und veredelnder Einfluß auf
ihren Leserkreis zu erwarten. Wenn schon bei der Tagespresse besseren Schlages
über Phrase und Wortschwall geklagt wird, so erscheinen diese Untugenden doch
bei dieser Zwcrgpresse gesteigert, und wennschon bei der Polemik der größeren
Blätter nicht immer der feinste Ton innegehalten wird, so tragen die Streitig¬
keiten dieser Blättchen ein noch viel kleinlicheres Gepräge. Von dem Abhub
der größeren Blätter zum Teil sich nährend, mit schwächeren Kräften als diese
ausgerüstet, bringen sie die Ansichten der politischen Parteien oft nur in ver¬
zerrter Gestalt vor das Publikum. Und wenn dann in einer Kleinstadt gar
mehrere solcher Zeitungen herausgegeben werden, die dann einen grimmigen
Kampf ums Dasein zu führen gezwungen sind, so mischt sich gar zu leicht
Brotneid und persönliche Bitterkeit hinein. Die politische Meinungsverschieden¬
heit wird dann oft nur das Aushängeschild sein, hinter dem sich persönliche
Beweggründe bergen. Und so entsteht jene falsche sittliche Entrüstung, die
sich auf unwichtige Gegenstände richtet und aus kleinlichen, persönlichen Beweg¬
gründen entspringt, und die auf den Unbeteiligten entweder einen anwidernden
oder einen komischen Eindruck machen muß. Wie köstlich hat das Dickens in
seinen Pickwickiern geschildert, wo zwei kleinstädtische Redakteure vollständig
in dem Wcchue befangen sind, daß die ganze Welt sich um sie und ihre Privat¬
zänkereien drehe. Übrigens könnten wir von England, meine ich, lernen. Die
dort bestehende Einrichtung, daß kleinere Ausgaben der größeren Blätter für
die Bewohner des Landes und der Kleinstadt veranstaltet werden, würde sich
auch bei uns empfehlen und diesen Leuten einen bessern Lesestoff verschaffen.
Außer diesen kleinen Blätter werden nun freilich hin und wieder von
Privatleuten, sowie in größeren Wirtschaftslokalen, Klubzimmern u. s. w. größere
Zeitungen, oder wenigstens eine größere, meistens die verbreitetste Zeitung der
Provinz, gehalten. Aber diese tragen die geringsten Lesespuren. Und doch besteht
dies Publikum, welches dem politischen Teile der Zeitungen so geringes Interesse
schenkt, aus denselben Personen, die durch das Wahlrecht die Bestimmung über
Wohl oder Wehe des Vaterlandes in der Hand halten, von denen daher auch eine
Einsicht in das, was dem Vaterlande frommt, mit Recht verlangt werden darf.
Ganz abgesehen davon aber, wie man sich zu den politischen Tagesfragen
stellt, ob man ihnen geringere Bedeutung beilegt oder mit Leib und Seele ein
Parteimann ist, nicht so sehr Gleichgiltigkeit gegen diese Fragen, als der Mangel
höherer geistiger Interessen überhaupt ist es, was ich in den vorstehenden
Zeilen dem Publikum zum Vorwurf mache, wie aus seiner wenig kritische,:
Auswahl des Lesestoffes hervorgeht. Und daß dieses so ist, muß jeden schmerzen,
der an der Tagespresse arbeitet und wohl zur Belehrung und Aufklärung
seiner Mitmenschen beitragen möchte. Denn auch für die bessere Tagespresse
gilt es ja, daß sie nicht zu tief und gründlich Verfahren darf, was auch schon
die Beschränkung des Raumes verbietet.
Man wird mir erwiedern, daß ich ungerecht sei, indem ich von einem
Publikum, das auf keiner hohen Bildungsstufe stehe, Interessen und Bedürf¬
nisse erwarte, die dasselbe gar nicht besitzen könne, oder von vielbeschäftigten
Leuten einen Zeitaufwand verlange, den sie sich nicht gestatten können. Um
höheren geistigen Bedürfnissen zu genügen, um wissenschaftliche Gegenstände
eingehender zu erörtern, gediegeneren literarischen Kräften Gelegenheit zur Ver¬
wendung zu geben, dazu seien außer den Büchern ja die Zeitschriften vorhanden.
Da will ich denn ein andres Beispiel anführen. In einer wohlhabenden Pro-
vinzialstadt von 30 — 40 000 Einwohnern besteht ein Verein, der sich zu
geselligen und literarischen Zwecken zusammengethan hat. Dieser Verein, dem
anzugehören auch ich längere Zeit die Ehre hatte, umfaßt die sogenannte
„Elite" dieser Stadt in Hinsicht ans Intelligenz und Wohlhabenheit; es sind
darin Beamte, Lehrer, Kaufleute u. f. w. vertreten. Von diesem Verein werden
mehrere größere Zeitungen und einige Zeitschriften gehalten. Aber das für
literarische Zwecke bestimmte Geld steht beständig in Gefahr, zu Gunsten der
zu Vergnüguugszwecken ausgegebenen Summe beschnitten zu werden, da die
Mehrzahl der Mitglieder nicht genügend literarische Bedürfnisse besitzt, um
hierfür eine erhebliche Summe zu opfern, und dann sich weigert, für die Minder¬
zahl die Kosten tragen zu helfen. Und wenn man den Besuch des Lesezimmers
mustert, so muß man sich nur darüber wundern, daß überhaupt noch so viel
für Lesestoff ausgegeben wird. Hauptsächlich die illustrirten Zeitschriften sind es,
welche das Interesse erregen, während andre Schriften oft unbenutzt liegen
bleiben oder doch nur von den wenigsten Mitgliedern des Vereins benutzt werden.
Diejenigen „oberen Zehntausend," die an geistiger Begabung die Mehrzahl
überragen, die man die geistige Aristokratie nennt, die nach geistiger Nahrung
Verlangen tragen, die den Gcistesprodukten der Schriftsteller ihres Volkes leb¬
haftes Interesse entgegenbringen, die an einer denkenden Betrachtung Gefallen
finden — wo sind sie zu finden? Ich weiß nicht, ob ihre Zahl größer oder
geringer ist als die Zahl derjenigen, welche in Hinsicht auf materiellen Wohl¬
stand die Spitze der Gesellschaft bilden, aber das weiß ich, daß nnter dem Volke
der Denker die Zahl derjenigen, welche diesen Namen und Unrecht führen, bei
weitem überwiegt. Wer zählt die aufkeimenden Talente, die durch diesen Mangel
an idealen Interessen gezwungen werden, ihre Leistungen auf ein niedrigeres
Maß herabzudrücken, als wozu sie befähigt wären und den Beruf in sich fühlen!
Ich habe hier die Verhältnisse einer Provinz geschildert, welche un In¬
telligenz wohl hinter keiner Gegend des deutschen Reiches zurücksteht, vielmehr
in Hinsicht auf Schulbildung und Prozentsatz der Verbrechen die günstigsten
Zahlen auszuweisen hat, sodaß kein Grund zu der Annahme ist, daß es in der
beregten Sache anderswo besser stehe. Wenn dies aber so ist, wenn selbst
Zeitungen und Zeitschriften, sobald das Lesen derselben mehr Zeit, Aufmerk¬
samkeit und ein eingehenderes Verständnis erfordert, so wenig gelesen werden,
so kann man sich nicht wundern, daß es für die zahlreichen jährlich erscheinenden
Bücher erst recht an genügendem Absatz fehlt.
Dies Übel wird schwer abzustellen sein, denn es beruht auf einem selt-
Samen Mißverhältnis, das in der Natur des deutschen Volkes begründet zu
sein scheint: daß das schreiblustigste Volk zugleich das lesefaulste ist. Da muß
wohl das Übel der Überproduktion von selbst sich einstellen. Und wenn mau
auf volkswirtschaftlichen Gebiete darum gestritten hat, ob Überproduktion oder
Unterkonsumtion der eigentliche Grund des Übels sei, indem einige behaupten,
allein die mangelnde Kaufkraft der Konsumenten sei an der Stockung des Ab¬
satzes Schuld, diese müsse man daher zu heben suchen, so unterliegt es wohl
keinem Zweifel, daß im vorliegenden Falle die Hebung der Unterkonsumtion,
welche wohl nur durch allgemeinere Verbreitung größerer Bildung zu erreichen
wäre, zu keinem Ziele führen würde, da höchstwahrscheinlich auch die Zahl der
Schriftsteller infolge hiervon zunehmen würde.
Der Theologe wird leicht geneigt sein, die, welche sich gegen sein Wort
verschließen oder es mißachten, eines sittlichen Mangels zu zeihen. Dies ist
dem Schriftsteller verwehrt; er weiß, daß die, welche seinem Wort solche Gleich-
giltigkeit bezeigen, darum nicht schlechter sind, er muß die Welt nehmen, wie
sie ist, kann sie nicht umgestalten. Und wenn ihn ein bitteres Gefühl über¬
kommen will, wird er sich doch bei ruhiger Überlegung die Neigungen des
Publikums gar wohl erklären können und entschuldigen müssen, wird sich sagen
müssen, wie viel anregender und aufheiternder das lebendige Wort, der lebendige
Verkehr mit Menschen ist, als das geschriebene Wort, sodaß jene Art der Er¬
holung immer vorwiegend aufgesucht werden wird; er wird sich sagen müssen,
daß das Lesen gehaltvoller Schriften eine Sammlung und Ruhe erfordert, die in
unsrer vielbeschäftigten Zeit immer nur der kleinere:! Zahl zngünglich ist und
von ihr begehrt wird. Auch ist es nur zu wohl begreiflich, daß der Leser nie
ganz und gar dem Schriftsteller nachempfinden, nie sich völlig in die Stim-
mung, die ihn zum Schaffen trieb, hineinversetzen kann, daher seinem Werke
geringeren Wert beizulegen geneigt sein wird.
Wohl aber darf der Schriftsteller darauf hinweisen, daß derjenige, welcher
das geschriebene Wort geringschätzt, welcher seine Muße nie dazu benutzt, an
gediegenem und gehaltvollen Lesestoff seinen Geist zu bilde», sich höheren und
reicheren Lebensgenusses beraubt, denn allerdings werden in der Schrift Wert¬
vollcrc Gedanken niedergelegt, als das flüchtige Tagesgespräch sie zu enthalten
pflegt. Und noch etwas hat der Schriftsteller, was ihn trösten und entschädigen
kann: jenen Lohn, der sich unvertummcrt und unverkürzt als die Frucht jedes
geistigen Schaffens von selbst einstellt, unzertrennbar davon, lvie die Wirkung
von ihrer Ursache, das ist der Reiz, der in dem geistigen Schaffen selbst liegt,
der Genuß und die Befriedigung, die er dabei empfindet, sodann dasjenige,
»wofür er sich hält in seinem Herzen," ein wenig Genugthuung, ein klein wenig
Stolz wohl gar. Dieses kann ihm niemand rauben, und es ist unabhängig
davon, wie viel Wert von andern seinen Worten beigelegt wird.
le zuerst den v-ni/ Ugvs aus Petersburg telegraphirt wurde
und wie sich seitdem bestätigt hat, ist endlich ein Ausgleich ge¬
funden worden, der die Streitfrage wegen der Nordgrenze Afgha¬
nistans befriedigend gelöst hat. Nach diesem Abkommen erhält
Nußland das zwischen den Flüssen Kaschk und Margab liegende
Gebiet, welches den Pendsche-Turkmenen durch die letzte Absteckung der dortigen
Grenze genommen wurde, und nimmt dafür die von den Engländern vorgeschlagene
Grenzlinie am Oxus an, wobei es auf gewisse Landstriche verzichtet, auf die
es nach dem Vertrage von 1873 Anspruch hatte. So der englische Bericht.
Nach russischen Blättern verbliebe infolge dieser Verständigung Chodscha Sales
dem Emir von Afghanistan, und Rußland bekäme dafür das Stück Land bei
Pendsche, welches früher dem Turkmeneustcimme der Sarhks gehörte. Näheres
ist abzuwarten. Schon jetzt aber muß vor einem Mißverständnisse gewarnt
werden, nach welchem mit dem Abkommen die afghanische Frage überhaupt aus
der Welt geschafft wäre. Es ist vielmehr nur eine der vielen einzelnen Fragen,
in welche jene zerfällt, bis auf weiteres zum Austrage gebracht worden, und
wenn sie die nächste war, so darf bezweifelt werden, daß sie auch die wichtigste
war. Mit andern Worten: es ist nur ein Stillstehen Rußlands auf einem der
Wege, die es über das nördliche Vorland Indiens an die Grenzen des letzteren
führen können, und es giebt neben diesen im Osten einen Weg, der wahrscheinlich
bald ebenfalls ins Auge gefaßt werden wird. Bleiben wir aber bei der afgha¬
nischen Frage, so ist jetzt die Gefahr für England nicht beschworen, sondern nur
vertagt. Als Nußland in Mittelasien langsam, aber stetig vordrang, eins der
dortigen Chcmcite nach dem andern eroberte oder von sich abhängig machte und
Stamm auf Stamm der Nomaden der Steppen seinem Unterthanenverbcinde
einverleibte, sahen britische Politiker die Zeit voraus, wo die Reihe auch an die
Gebiete des Emirs kommen mußte, und begriffen, daß England einer Eroberung
Afghanistans nicht Gewehr bei Fuß zusehe» darf. Von den Felsenpässen dieses
Emirats würde Rußland auf die Ebnen am obern Indus wie auf ein nach
langem Wüstenzuge endlich nahe gelegenes gelobtes Land hinabsehen. Die Af¬
ghanen, jetzt seine Verbündeten, konnten als Vortrab der Streitkräfte dienen,
welche zur Besitznahme aufzubrechen bestimmt wären. Schon fegten sie in diesen
letzten Jahrzehnten einmal in Gestalt eines mächtigen Reitersturmes hinab in
diese reichen Gefilde, und es ist sicher, daß diese Gefahr von den Völkern am
Indus nicht überall als solche aufgefaßt werden würde, von nicht wenigen viel¬
mehr als nahe gerückte Befreiung. Englands Politik mußte daher schon längst
dahin gerichtet sein, Afghanistan vor dem Hereinziehen in die russische Macht¬
sphäre zu bewahren, und das konnte nur durch Eroberung und Einverleibung
des Landes oder, und zwar weniger sicher, durch Errichtung eines festen Bünd¬
nisses geschehen, welches England zur Schutzmacht Afghanistans machte. Zu
dem ersten Wege war man nicht stark oder nicht entschlossen genug, und so
betrat man den zweiten. Der Protektor Afghanistans mußte aber genau wissen,
bis wohin das Gebiet reichte, das er zu schützen berechtigt und verpflichtet war.
Die Grenzen asiatischer Länder sind meist sehr unbestimmt, und dies gilt ganz
besonders von Afghanistan, wo es an Gebiete stößt, welche Rußland beansprucht.
Es giebt hier häufig ausgedehnte Striche unfruchtbaren und völlig unbewohnten
Landes, und in andern Gegenden ziehen Hirtenstamme umher, die keine festen
Wohnsitze haben, nach denen sich die Grenzen bestimmen ließen. Vor Jahren
schon erkannte man in dieser Unsicherheit einen Nachteil und eine Gefahr, zumal
da jene Stämme großenteils sich nicht darauf beschränkten, friedlich der Vieh¬
zucht obzuliegen, sondern auch Raubzüge unternahmen, die das menschenarme Land
noch mehr entvölkerten, und bei denen, eben wegen der Unklarheit der Grenzen,
kein Unterschied zwischen afghanischen und russischen Unterthanen gemacht wurde,
und ebensowenig feststand, wer berechtigt war, sie zu ahnden. Russische Nomaden
oder russische Truppen konnten jeden Tag unwissentlich Land besetzen, welches der
Emir für sein Eigentum hielt, und ebenso leicht konnten die Afghanen, deren
Moral zu wünschen übrig läßt, in solche Irrtümer verfallen, wo es sich um
Striche handelte, welche die Russen für sich beanspruchten. Die Gefährlichkeit
dieser Zustände wurde von der englischen Regierung, wie es scheint, stärker
empfunden als von der russischen. Jene schlug eine Absteckung der Nordwest¬
grenze Afghanistans vor, und diese ging darauf ein, und die Sache kam auch
in Gang, stockte indes mehrmals, sodaß der Verdacht entstand, Rußland habe
ein Interesse daran, die Frage in der Schwebe zu lassen, um zu jeder Zeit
Vorwande bereit zu haben, mit denen sich weitere Übergriffe und Einverleibungen
rechtfertigen ließen. Das jetzige Abkommen scheint diese Ansicht zu widerlegen.
Wenigstens nehmen dies englische Preßstimmen an, indem sie erfreut sagen:
Es siud von beiden Seiten Zugeständnisse gemacht worden, und Rußland hat
Versöhnlichkeit und billigen Sinn gezeigt. Hätte der Zar fernerer Aggression
die Thür offen zu lassen gewünscht, so würde er den von ihm Beauftragten
die Weisung erteilt haben, die Verhandlungen weiter zu verschleppen oder unter
einem geeigneten Vorwande ganz abzubrechen. Er hat nichts der Art gethan,
und so dürfen wir schließen, daß er den Frieden in Mittelasien wünscht und
Freundschaft mit England, der Schutzmacht des EmirS, zu halten beabsichtigt.
Das mag für die Gegenwart zutreffen, aber niemand, der die Verhältnisse
kennt, wird damit alle Gefahr für beseitigt ansehe». Die Afghanen sind ein
unruhiges Volk, und ihr Emir ist ein schwacher Herrscher, auf den nicht zu
bauen wäre, auch wenn man sich auf seine Treue verlassen dürfte. Es würde
nicht sehr überraschen, wenn eines Tages die Nachricht einträfe, er sei dnrch
einen Aufstand oder eine Verschwörung gestürzt worden. Auch wird es trotz
der Grenzregulirung schwierig sein, alle möglichen Zusammenstöße der wandernden
Stämme, welche dem Zaren Unterthan sind, mit ihren unter der Botmäßigkeit
des Emirs stehenden Verwandten, die ebenfalls fortwährend ihre Weidegründe
wechseln, zu verhindern. Indes ist immerhin jetzt eins für England gewonnen:
es weiß, wo Afghanistan beginnt und aufhört. Sehr optimistisch aber und
sehr wie die Freude des schwächeren Teiles, einen Vorwand zur Verhüllung
seiner Schwäche und zur Beschönigung eines Zurückweichens in Gladstonescher
Manier gefunden zu haben, sieht es ans, wenn englische Blätter darauf hin
ungefähr folgendermaßen Wünsche und Hoffnungen aussprechen. Es ist kein
Grund vorhanden, daß Rußland und England sich über ein Land wie Afgha¬
nistan streiten, das, wie einer von seinen Herrschern meinte, „nicht viel mehr als
Menschen und Steine erzeugt." Es ist sogar nicht unmöglich, daß aus diesem
Ausgleiche sich ein herzliches Einvernehmen, wo nicht ein politisches Bündnis
zwischen dem Reiche des Zaren und dem der Königin Viktoria entwickelt. Un¬
streitig lagen Befürchtungen wegen Indiens jener Feindschaft gegen Rußland
zu Grunde, welche so lange unsre Politik gegenüber dieser Macht färbte. Man
dachte, Rußlands Absichten auf Konstantinopel hingen mit dem Plane zusammen,
über Kleinasien nach dem Indus vorzudringen. Man nahm an, der Sultan
werde, zum Vasallen des Zaren geworden, von diesem bewogen werden, als
Chalif die Muslim Indiens gegen die englischen Giaurs aufzubieten. Alis
solchen Gründen standen wir Jahrzehnte hindurch der Pforte mit aller Energie
zur Seite. Das ist jetzt vorüber wie der Haß des englischen Volkes gegen den
Zaren als Vorkämpfer der Despotie gegen die Freiheit der Völker. Wenn man
die Engländer jetzt fragt, ob sie in den Balkanländern türkische oder russische
Regenten vorziehen, so antworten sie, dies sei ihnen gleichgiltig, es liege ihnen
nur daran, die Serben, Rumänen und Bulgaren frei und unabhängig von
andern Mächten ihre Fürsten und Volksvertretungen wählen zu sehen, „Aber
— so fährt eine dieser Preßstimmen sehr charakteristisch fort — wir denken nicht
daran, für diese Rechte zu kämpfen. Das ist ihre Sache, nicht unsre. Selbst was
die diplomatische Aktion betrifft, geht es uns nichts an, wenn Rußland seinen
Einfluß in Sofia und Philippopel wieder gewinnt. Es hat einen starken und
naturgemäßen Anspruch auf die Dankbarkeit des Bulgareuvolkcs. Ohne große
russische Opfer an Geld und Blut würde es gar kein Bulgarien geben. Wir,
die wir für die Unabhängigkeit des Landes nicht einen Finger gerührt haben,
sind nicht berechtigt, dem Zaren in den Arm zu fallen, und zwar anch dann
nicht, wenn sein Anspruch auf Dank über die Billigkeit hinausgeht.... In der
That, unsre Stellung zu dieser Frage sollte genau diejenige sein, welche das
deutsche Reich eingenommen hat. Was auch Nußland, Oesterreich und die Bul¬
garen in gemeinsamer Verständigung beschließen, sollten wir bereitwillig unter¬
schreiben; denn die ganze orientalische Frage ist, soweit sie nicht Indien mit
betrifft, für uns nur in zweiter Reihe von Bedeutung. Aeghptcu ist ein Land
für sich. Hier stehen unsre Rechte — wir würden richtiger zu sagen glauben,
unsre Bedürfnisse — in vorderster Linie, wogegen Oesterreich und durch dieses
Deutschland mehr Interesse an den Balkanländern und an Konstantinopel hat.
Das unsre gleicht hier dem von Italien und Frankreich, das heißt, es ist nur
ein indirektes Interesse, besonders so lange wir den Suezkanal behalten und
Aegypten frei von fremder Einmischung in seine Angelegenheiten sehen."
Anderswo heißt es: „Sollte dieses denkwürdige Ereignis öder Abschluß
der afghanischen Grcnzrcgulirung ist gemeint j zum Ausgange einer neuen
Wendung in den Stellungen Englands und Rußlands in der ganzen Welt
führen, so würde dies ein großer Gewinn für die Sache des Weltfriedens sein.
Es giebt mehr als einen Grund, weshalb beide Staaten Freunde sein sollten.
Die Gemahlin des jetzigen Zaren und die zukünftige Königin von England
sind Schwestern, und die beiden Herrscherfamilien sind durch andre Bande
miteinander verknüpft. In Asien haben beide Reiche zivilisatorische Aufgaben
erfüllt und streitsüchtigen Völkern und Stämmen die Segnungen des Friedens
gebracht. Die Welt ist weit genug sür beide. Rußland kann an keine In¬
vasion Englands denken, und dieses kann jenes nicht ernstlich angreifen. Uns
in Indien anfallen, hieße zuerst die Unabhängigkeit der Afghanen beseitigen,
und das wäre eine Aufgabe, welche deu moskowitischen Legionen sehr schwer
fallen sollte, wenn der Emir die gesamten Kräfte des britischen Reiches hinter
sich hätte. England hat jetzt allen Grund, sich mit Rußland auf guten Fuß
zu stellen, wo es jenseits des Kanals eine Republik erblickt, die uns in den
letzten Jahren alle möglichen Beweise feindseliger Gesinnung gegeben hat. Es
hieße vielleicht die neue Erkenntnis der Lage in eine zu grobe und schroffe
Form bringen, wenn man John Bull ins Ohr sagen wollte: »Mache die Augen
auf! Frankreich ist der Feind, nicht Rußland.« Indes geben die Umstände diese
Bemerkung ein. Wir haben allerlei üble Erfahrungen mit den Franzosen
gemacht. Wir sehen dicht neben uns einen Nachbar, der kein getreuer Nachbar
ist. Er leidet unter der Erinnerung an eine ungeheure Niederlage, die er
ohne Verbündeten nicht rächen und wettmachen kaun. Aber er meint, Trost
in seinem Unglück finden zu können, wenn er Streit mit einer großen Nation
vom Zaune bricht, welche ausgedehnte überseeische Besitzungen und eine sehr
kleine Armee hat. Es hieße weniger wagen und würde weniger kosten, uns
zu Leibe zu gehen als mit den Deutschen aufs neue zusammenzustoßen. Wir
sind nicht in der Verfassung, solche Gefahren geringzuschätzen, und es wird
gut sein, wenn man bei uns, statt immerfort die Augen nach Norden zu richten,
lieber nach Osten blickt und dort die Zeichen der Zeit liest. Die neulich hervor-
getretene Gegnerschaft Frankreichs in Konstantinopel ^in der ägyptischen An¬
gelegenheit^ wurde von Rußland geteilt, aber wir nehmen an, daß der Bot¬
schafter des Zaren uns damit nur für unsre mutmaßliche Unterstützung der
Battenbcrgischen Ansprüche und Bestrebungen bezahlte. Es wäre sicherlich
der Mühe wert, wenn unsre Negierung Rußland von dieser Verbindung
zu trennen versuchte. Deutschland verfolgt augenscheinlich diese Politik trotz
schwerer Provokationen, und die britischen Staatsmänner können nichts klügeres
thun, als das Beispiel des Fürsten Bismarck nachzuahmen."
Die letzten Betrachtungen sind auf dem, rechten Wege. Frankreich ist der
nächste Feind Englands.wie Deutschlands und wird es bleiben, so lange ihm
nicht die Zähne ausgebrochen sind. Was die Engländer dagegen von der
Möglichkeit einer Verständigung Großbritanniens mit Nußland über die afgha¬
nische Angelegenheit sagen, kann nur für einige Jahre Geltung beanspruchen.
Der geschichtliche Prozeß, der sich hier vollzieht, läßt sich nicht aufhalten,
wenigstens nicht mit den geringen militärischen Mitteln, über welche England
gegenwärtig verfügt. Die Grenzpfähle, die man nun setzen wird, werden eher
fallen als sie verrotten.
le Stimmung der so Pcitriotischen Bürgerschaft ist seit dem 7. Juli
doch bedrückt; nach den Äußerungen Gramonts in der französischen
Kammer hält man den Krieg fast für unvermeidlich, und wir
hier kennen die Franzosen und ihre kriegerische Anlage aus nächster
Nähe. Wenn man nach Metz kommt, sieht man gleich an der
äußern Erscheinung der französischen Wachtposten, daß sie sich alle als Herren
der Welt betrachten. Es wird ein schwerer Krieg werden, so sagen wir uns
alle, wenn wir uns am Abend im alten Kasinogarten von der Hitze des Tages
erholen. Aber es bricht doch immer die Zuversicht durch, daß, wenn wir auch
in den ersten Treffen besiegt werden sollten, es doch zuletzt gut gehen wird.
Wir verdanken doch dem Jahre 1866 viel von diesem Vertrauen auf den schlie߬
lichen Sieg.
Der Telegraph hat uns gewiß gemacht, daß die Kriegserklärung in Berlin
übergeben ist. Wir gehen jetzt täglich auf die Höhe am alten Exerzierplatz und
beschauen von dort über das herrliche Thal hinweg die Spicherer Berge, wo
sich die Franzosen allmählich sammeln. Dicht bei dem AbHange nach Südwesten,
wo hohe Pappeln den Exerzierplatz von der Landstraße aus begrenzen, haben
unsre Ulanen ihre Wache, und Jnfanteriepatronillen von den Vierzigern sind
rührig und streifen durch Flur und Dorf bis dicht an die Grenze bei Se. Umnak,
der goldnen Brenne und Schönecken. Die schnelle Bewegung unsrer Posten
hat den Vierzigern schon den Namen xisäs as cliabls verschafft. Auch die
Franzosen sieht man in steter Bewegung. Am Wirtshaus an der goldnen
Brenne reiten die oll^sssurs Z. ollsvs,! unruhig hin und her. Von der Spicherer
Höhe entsendet von Zeit zu Zeit ein Chassepot seine Kugel auf die preußischen
Patrouillen. Unsre Leute sind doch erstaunt über die ungeheure Tragkraft der
Chasfepots und machen bedenkliche Gesichter, wenn sie an die eignen Zünd-
ncidclgewehre denken, die nicht halb so weit tragen.
Die Tage werden immer aufregender. Ein Füsilier Krauß hat den ersten
Franzosen erschossen und ist deswegen Gefreiter geworden, dagegen hat auch
ein soeben eingetretener Ulan sein junges Leben lassen müssen. An dem Wirts¬
hause am Exerzierplatze sammeln sich unsre Bürger gern, um mit bewaffneten
und unbewaffneten Augen die Berge und Häuser an der Grenze zu beobachten.
Die Franzosen fühlen sich dadurch verletzt und senden uns Granaten, die die
Mauern des Wirtshauses durchlöchern und an den Spiegeln und Tischen Zer¬
störungen anrichten. Unsre Leute waren gewarnt und flüchteten. Eine Granate
flog sogar über die Höhe herüber bis unten am Hahnen bei dem Versorgungs¬
haus. Wir glaubten, die roten Massen würden schon jetzt einen Angriff
machen und die Höhen verlassen. Aber es war noch nicht so weit. Die Chasseurs
ritten zuweilen von der goldnen Brenne auf preußisches Gebiet, und es kam
dabei auch einmal zu einem komischen Zwischenfall. Die Ulanen ritten den
Chasseurs entgegen, nachdem der Rittmeister von L. seinen Leuten gesagt hatte,
daß die Chasseurs die afrikanische Gewohnheit hätten, den Kampf mit einem
Gebrüll zu eröffnen. Kaum hatte er dieses Gebrüll angekündigt, so erscholl es,
und lachend eilte die Schwadron zum Angriff, aber die Chasseurs hielten nicht
stand, sondern kehrten zurück. Fast zu sehr sank durch ähnliche Erfahrungen
die Achtung vor den Feinden.
Gestern Abend wurde ein französischer Deserteur eingebracht, den ein
Gensdarm in einem Wirtshause zu Clarenthal gefaßt hatte. Wir examinirten
ihn im Gasthaus zur Post, wo der Regimentskommandeur meist seine Anord¬
nungen trifft. Der Franzose war gut uniformirt, doch hatte er sein Gewehr
zurückgelassen. Er erlog schnell eine Geschichte, die ihn würdig machen sollte,
als Kriegsgefangener zu gelten. Den folgenden Tag wurde er ins Innere
geschafft.
Wir hören, daß in Metz sich alles zum Überschreiten der Grenze anschickt,
die Kanonen sind auf der Hauptstation zum Transport fertig. Der Minister
Leboeuf versichert, alles sei g.relüpröt, wir müssen es glauben. Es wurde das
Wunderlichste angekündigt und geglaubt. Bald hörte man aus „bester Quelle,"
die Frauzosen seien schon in der Simbach in einer Zahl von 30 000 Mann
angelangt und könnten in zwei Stunden hier sein, bald sollten sie von der ent¬
gegengesetzten Seite, von Ludweiler her, sich in Massen nähern. Jetzt nehmen
wir alle solche Gerüchte kühl auf. Aber doch kaufen sich viele Bürger Vorräte
von Brot, Hülsenfrüchten und Schinken. Denn es ist bekannt geworden, daß,
wenn wirklich ein größerer Anmarsch der Franzosen erfolgt (und er ist von
dem kommandirenden General von Gruben als wahrscheinlich bezeichnet worden),
die wenigen Mann Ulanen und Infanterie (750 Mann) fechtend zurückgehen
sollen. Ein unbehaglicher Gedanke, so allein zu sein mitten unter den Feinden.
Der General tröstete, es werde nur auf wenige Tage der Übermut der Feinde
z» ertragen sein. Wir räumten in unsern Wohnungen einige Zimmer aus und
sorgten für Matratzen und Stroh, um die fremde Soldateska beim ersten An¬
sturm unterzubringen und nicht alles improvisiren zu müssen.
Ein kleiner militärischer Versuch, von der Pfalz ans nachts einen Viadukt
der französischen Eisenbahn zwischen Bieses und Saargemünd zu sprengen, ist nicht
nach Wunsch gelungen. Ein Ulanen-Rittmeister hatte das Wagnis mit einigen
freiwillig teilnehmenden Mannschaften unternommen, er hatte Jäger und Berg¬
leute zu Hilfe genommen. In der ersten Nacht konnte er nicht unbemerkt an
die Eisenbahn gelangen, er mußte also eine zweite Nacht abwarten. Nun wurde
zum Werke geschritten. Die Postenkette wurde aufgestellt. Der Rittmeister revi-
dirte sie in der Nacht selbst, er fand die äußerst ermüdeten, sonst so rüstigen Mann¬
schaften, auf die alles ankam, trotz der kritischen Lage und der Nähe des Feindes
schlaftrunken. Nachdem er die Leute geweckt und ihnen ihre Verantwortlichkeit
eingeschärft hatte, ging es eine kleine Weile gut. Nach fünfzehn Minuten fand
der Rittmeister sie wieder eingeschlafen. Er kannte seine Leute und — wachte selbst
für sie, bis die Sprengung stattgefunden hatte. Leider war nicht viel zerstört
worden, in vierundzwanzig Stunden können die Feinde den Schaden ausgebessert
haben.
So sind trotz unsrer Hoffnung die Franzosen doch über unsre Grenze
und in unsre Stadt gerückt. Wir waren umso sicherer geworden, als sich am
frühen Morgen zwei preußische Geschütze durch die Stadt auf die Höhe begeben
hatten, wie wir vermuteten, als Vorläufer eines größeren Heeres. Aber dort soll
den Führern der Geschütze ein höherer Offizier gesagt haben, daß sie recht bald ans
das andre Saarnfcr zurückgehen mochten, wenn sie ihre Kanonen retten wollten.
So geschah es denn; das eine Geschütz nahm am Halbcrg eine vorteilhafte
Stellung südlich von Se. Johann, das andere nördlich über Maistatt. Nun
ahnten wir auch, daß etwas Größeres bevorstehe. Gegen elf Uhr hörten wir
von jenseits unsrer hochgelegenen Gärten schießen, die Schulen wurden eiligst
geschlossen. Eine französische Kugel, die sich verirrt hatte, war schon dnrch das
offne Fenster über die Köpfe der Quintaner weg in die Wand eingedrungen.
Unsre Vierziger schössen sich wacker herum mit den Feinden, drei Kompagnien
gegen drei Divisionen, wie man sagt. Man konnte in der Stadt den Knall
der Chasscpots und der Zündnndelgewchre Wohl unterscheiden. Die Dachziegel
klirrten schließlich von den Kugeln. An gut gelegenen Punkten faßten unsre
Leute, obgleich das Zurückgehen befohlen war, Posrv; die geübtesten Schützen
erlegten noch manche, wiewohl sie in großem Nachteil waren gegen die höher
stehenden Massen der besser bewaffneten Feinde. Die Ermüdung wurde zuletzt
bei der übermenschlichen Anstrengung unsrer wenigen Leute zu groß. Ich sah
einen Trupp von den höhern Straßen auf den Ludwigsplatz zurückgehen, um
über die neue Brücke auf die andre Saarseite zu gelangen, voran der Haupt¬
mann, dann aufgelöst, müde, grimmig die Mannschaften. Ich hörte einen sagen:
Wir sind doch zu früh gewichen. Von meinem Fenster hätte ich ihm zurufen
mögen, es sei vielmehr die höchste Zeit gewesen, denn Hunderte von Nothosen er¬
schienen in den nahen Gärten, freilich ohne sich herunter zu wagen. Unsre Ulanen
waren weg, die drei Kompanien auch, so weit sie nicht getötet oder versprengt
waren. Das Schießen hörte auf, gegen zwei Stunden lang war es ganz still,
was fast mehr beängstigend war, als das heftige Schießen vorher. Denn es
war ein heftiges Schießen von den Gärten her nicht bloß, sondern auch von
dem Exerzierplatz aus. Dort von dem östlichen und nördlichen Rande des Platzes
aus donnerten die Kanonen in der Richtung nach dem Se. Johanner Bahnhof
und nach dem Rastphul zu, wo sich preußische Infanterie zeigte. Den Bahnhof
beschoß man mit dem Erfolg, daß der Speisesaal ausbrannte, Fehlschüsse beschä¬
digten Privatgebäude, Balkone, setzten Speicher in Brand, aber man wollte
offenbar nur fiskalisches Eigentum zerstören. Zum erstenmale hörten wir auch
von dort das seltsame Geprassel der Mitrailleusen.
Als die entsetzliche Kanonade und das Gewehrfeuer schwieg und unsre Leute,
wie wir glaubten, fort waren, zog noch ein kleines Kommando beherzter Männer
meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Reserveoffizier kam bei mir vorbei, ein
Gefangener in Zivil, einen Stock in der Hand, folgte ihm, den Schluß bildete
ein preußischer Soldat. Offenbar sprach der Zivilist mit dem Soldaten französisch,
der Offizier drehte sich plötzlich um, entriß dem Franzosen den Stock und warf
ihn weit weg, und der Soldat machte dem Franzosen mit dem Bajonnet klar,
was ihm bevorstehe, wenn er noch einmal das gemeine Schimpfwort wieder¬
holte, das er eben von den Preußen gebraucht hatte. Es war der Redakteur
des Pariser Blattes ^Mix8, der soeben aus der Uniform in einen Zivilanzug
hatte schlüpfen wollen und dabei von dem scharfen Auge des Offiziers (in dem
nahe gelegenen Wirtshause) betroffen worden war. Da er sich zu langsam be¬
wegte, brachte man ihn auf einen Wagen, in welchen sich ein Leichnam befand,*)
und so wurde er transportirt.
Inzwischen war die ganze Umgegend, links von der Saar bis nach Se. U
m-
nak, in dem unbestrittenen Besitze der Feinde. Gegen zwei Uhr brachte ein Gym¬
nasiallehrer D. einen kleinen Schüler und seine Schwester nach Umnak, um sie nicht
ohne Schutz zu lassen. Auf dem Wege ließen sich mehrere französische Offiziere,
die völlig sorglos nach Umnak schlenderten, in ein Gespräch mit ihm ein; sie
riefen einen Soldaten herbei, der dem Deutschen die Einrichtung des Chassepot-
gewchres zeigen mußte, und waren ganz großmütig und liebenswürdig. Sie
zogen Kartoffeln und Äpfel aus den Taschen und bemerkten, indem sie die In¬
tendantur beschimpften, daß sie in den letzten Tagen keine andre Nahrungs¬
mittel bekommen hatten als diese. Als sie in die Nähe des Halbergs kamen,
deuteten sie ärgerlich auf die Gegend, wo das eine Geschütz der Preußen ge¬
standen hatte. Das Geschütz habe ihnen vielen Schaden zugefügt, ja es sei
nicht anders möglich, als daß dabei noch Mitrailleusen gestanden hätten. Als
der Gymnasiallehrer versicherte, die Preußen Hütten diese Waffe gar nicht, er¬
wiederten sie, daß das wohl gesagt werde, aber mit einer Kanone könne man
nicht so schnell schießen, als es vom Berge her geschehen sei.
Man kam nach Umnak und ging in eine große Bierbrauerei. Der ganze
Hof war voll französischer Soldaten, die wacker zechten und sich um ihre Offi¬
ziere nicht im geringsten kümmerten. Die Unordnung wurde immer größer.
Die Fässer wurden allmählich leer; ein Offizier wollte nicht glauben, daß das
Bier zu Ende sei, und ging mit in den Keller, wo er jedes Faß durch Klopfe»
untersuchte. Er fand wirklich noch volle Fässer; der Brauereibesitzer erklärte,
dieses Bier sei noch nicht fertig, sein Genuß gefährlich. Aber der Offizier hielt
wenig von der Gefahr, ließ das Bier in Gebrauch nehmen, was das Gute
hatte, daß die Soldaten sich bald zurückziehen mußten.
Die Inspektion des Kellers war für den Bierwirt sehr aufregend, denn
hinter den Fässern im Dunkel des Kellers war ein preußischer Soldat versteckt,
der sich nicht schnell genug hatte zurückziehen können. Er wurde glücklicher¬
weise nicht entdeckt. In der späten Nacht gab man ihm Banernkleider und
brachte ihn über die Saar.
Es liegt seit dem 2. August ein schmerzlicher Druck auf unsrer Stadt,
wir sind wie abgeschnitten von der Welt, keine Zeitung, keine Post, nicht
einmal Glockengeläute und Predigt. Dagegen fühlt mau sich an der andern
Seite der Saar noch in Preußen. Die Franzosen sind angewiesen, nicht über
die Saar zu gehen. Denn die regelrecht und stetig fortschreitende Mvbilisirung
der preußischen Armee muß bald die Saarufer erreichen, die Franzosen erblickten
schon im Geiste Massen von Preußen in den dunkeln Wälder» der östlichen
Höhen, und in der That zeigten sich auch schon ostpreußische Kürassiere von
Zeit zu Zeit zwische» Neunkirchen und Se. Johann. Hierbei zeigte sich komischer¬
weise, daß die Ostpreußen meinten, schon östlich von der Saar wohnten fran¬
zösisch redende Stämme. Ein Lehrer, der von Se. Johann nach Dudweiler
ging und eine etwas verwegene Sommertracht trug, wurde von einem Kavalle¬
risten arretirt und vor den Offizier gebracht, der ihn in französischer Sprache
ausfragte und zur Rede stellte. Es löste sich bald alles zu beiderseitiger Zu¬
friedenheit. Unser geographischer Wissensstolz ist, wie man daraus sieht, nicht
ganz berechtigt. Auch unsre Ulanen waren, wie sich zeigte, nicht ganz ver-
schwunden. Der Patriotismus der Bürger von Se. Johann ging zuweilen so
weit, daß sie französische Soldaten, die dem Verbote zuwider in Se. Johann
ihr Bier tranken, den preußischen Patrouillen in die Hände lieferten, sodaß der
Bürgermeister von Se. Johann die Einwohner vor den militärischen Folgen
solcher Einmischung warnen mußte.
Wir hatten gleich nach dem Überfall vom 2. erwartet, daß man die Stadt
mit Soldaten belegen würde. Aber es geschah nicht. Man blieb auf den
Höhen und in den Gartenhäusern am Triller. Dorthin schleppte man aus den
nächsten Häusern einige Möbel für die Offiziere, damit sie nicht alle Bequem¬
lichkeiten vermißten. Frossard selbst blieb in seinem Grenzwirtshaus an der
goldnen Brenne und dem Hause des Herrn Kind, eines Deutsch-Franzosen,
das daran stieß. Wenn nun auch die Stadt keine Einquartierung bekam, so
war es doch stets auf den Straßen voll von französischen Soldaten. Sie be¬
trugen sich in ihrer Weise liebenswürdig, besonders gegen die Kinder, denen sie
Bonbons schenkten, und gegen die Dienstmädchen am Brunnen; das hinderte
sie freilich nicht, diesen die gekaufte Milch auszutrinken und ihnen das für die
Herrschaft bestimmte Brot zu entreißen. Unter den ersten, die nach dem Über¬
fall von den Höhen in die Stadt herunterstiegen, war ein Offizier, der einen
hungrigen Trupp von etwa vierzig Soldaten führte. Der Offizier ging zuerst
zu einem in Saarbrücken wohnenden französischen Bekannten, und einige Angen-
blicke darauf stellte er seine Mannschaften an die vier Fenster des Gasthauses
zur Post und ging selbst hinein in das Haus zum Wirt. Mit vorgehaltenem
Revolver fragte er den Wirt, der des Französischen ganz mächtig war, wie viel
Preußen am 2. den Franzosen gegenüber gestanden hätten; die Antwort, etwa
750, fand er lächerlich, der Wirt wiederholte die Zahl und fügte hinzu, die
Verstärkung, die sie hätten haben sollen, sei noch nicht zur Stelle gewesen, be¬
finde sich aber in den Wäldern bei Se. Johann; darauf fragte der Offizier
weiter, welche Straßen in der Stadt unterminirt seien. Die Antwort, daß die
Preußen dieses Verfahren nicht kennten, erregte wieder das Lächeln des Siegers.
Dann kam er zur Hauptsache. Er befahl dem Wirt, für sich und die Mann¬
schaften draußen am offenen Fenster Rotwein zu bringen. Dies geschah; als
der Wein dem Offizier vorgesetzt wurde, ließ der Offizier den Wirt zuerst
trinken. Den Leuten mußte nun auch Brot gereicht werden. Damit war ihnen
offenbar am meisten gedient, sie zerrissen die Brote sofort in handliche Stücke
und griffen tapfer zu. Sie hatten von ihrer Verwaltung zwar Geld genug
bekommen, aber die Verpflegung war sehr mangelhaft. Selbst die Schuhe der
französischen Soldaten sahen aus, als hätten sie schon eine ganze Kampagne
durchgemacht. Aber auch ihr Geld stand, wie sich zeigte, nicht im Verhältnis
zu ihren Bedürfnissen. Nur anfangs zahlten sie für das Fleisch. Brot und den
Tabak, den sie in den Luder fanden. Nachher zogen sie vor, diese Dinge zu
entnehmen, ohne zu zahlen. Das Geld könnten sie immer noch auf ihrem
weiteren Zuge durch Deutschland gebrauchen. Denn obgleich die Offiziere
wußten, daß man nicht die Saar überschreiten dürfe, meinten die Soldaten,
man breche demnächst nach Frankfurt auf.
Fortsetzung.
Soeben hörte ich, daß ein Offizier, ein Oberst, von seinem Gartenhäuschen
aus einen Brief an den Bürgermeister Schmidtborn geschrieben hat. Er bittet,
der Bürgermeister möge ihn zu einem Dejeuner mit seiner Anwesenheit beehren,
möge aber das Frühstück womöglich mitbringen. Der Bürgermeister schickt ihm
denn auch ein recht ansehnliches, indes erlauben ihm, wie er schreibt, seine
Pflichten nicht, selbst oben zu erscheinen.
Die preußische Seite der Saargegend wird immer belebter von Soldaten.
Viele Züge der Eisenbahn kommen des Nachts nach Se. Johann. Von Zeit
zu Zeit wird des Nachts von den Franzosen über die Stadt hinweg nach der
Eisenbahn hin geschossen, was schauerlich genug klingt. Es waren aber mehr
Kundgebungen, Schaden geschah nicht.
Daß die Hilfe immer näher kam, war uns gewiß. Ein keckes Reiterstück
richtete unsern Mut besonders auf. Ich hörte soeben, daß ein braunschweigischer
Husar, vor Begier, einmal einen Franzosen zu sehen, allein über die alte Brücke
von Se. Johann nach Saarbrücken gesprengt sei. Die an der Brückenstraße
und am Schloßberg ausgestellten französischen Schildwachen, in der Meinung, es
folge dem einen zum mindesten eine Schwadron, schössen hastig ihr Gewehr ab
und flüchtete» hinauf und dann rechts nach der Schloßstraße. Ihre Angst
steckte die andern französischen Soldaten in derselben Straße an, sodaß fliehende
Gruppen in Menge zu sehen waren. Inzwischen hatte der Husar eine zu
scharfe Wendung nach rechts gemacht und war gestürzt, ohne sich jedoch Schaden
zu thun. Die nahestehenden Bürger halfen ihm wieder zurecht, und er kehrte
unverwundet zurück, zufrieden, einmal einige Franzosen gesehen zu haben.*)
So etwas machte uns ordentlich stolz.
Gestern habe ich auch den General Frossard gesehen, er machte mit ziem¬
lich großem Gefolge einen Ritt durch die Stadt, eine äußerst bunte Gesellschaft.
Der General ritt ein sehr schönes Pferd, die andern stachen sehr dagegen ab.
Die Offiziere sahen heiter aus. Meine Kinder standen an der Thür voll Neu-
gier, und der General warf ihnen Kußhciudchen zu. Der Zug erinnerte mich
in der Buntheit und der Art des Reitens an die Art, wie die Banden der
populären Kunstreiter vor ihren Produktionen durch die Stadt reiten, um Aus¬
sehen zu erregen. Frossard ritt auch zum Bürgermeister und erkundigte sich,
ob die Franzosen auch ihre Bedürfnisse bezahlten, sie hätten strenge Befehle in
dieser Beziehung. Die Antwort des Bürgermeisters veranlaßte den General,
die strengen Befehle noch einmal einzuschärfen, und es wurde auch besser da¬
durch. Dabei wäre fast ein Konflikt ausgebrochen. Ein betrunkener franzö¬
sischer Offizier verlangte durchaus, daß auf dem Rathause die französische Triko¬
lore aufgezogen würde. Als mau ihn endlich verstand, sagte der Bürgermeister,
eine französische Fahne sei nicht vorhanden, wenn aber der Offizier eine solche
besitze, so ließe sich die Sache schon bewerkstelligen. Dabei geberdete sich der
Betrunkene wie rasend und schoß mehrmals seinen Revolver ab, ohne zu treffen.
Er hatte geglaubt, es sei bei uns wie in Frankreich, wo jede Mairie die Fahne
des Landes zeigt, und sah in dem Fehlen der Trikolore eine Absicht.
(Schluß folgt.)
Wen die Wanderlust ins Gebiet der Ostalpen zieht, dem sei diese Karte als
ein trefflicher Führer von uns empfohlen. Sie verschafft dem Reisenden im voraus
ein wohlausgeprägtes Bild von den Abstufungen der Berge und Thäler, von den
Spiegeln der Seen, den Adern der Flüsse, die ihn zu sich locken, und an Ort und
Stelle wird er sich mit Hilfe der sorgfältigen, durch verschiedne Farbentöne dem
ersten Blick verständlich gemachten Zeichnung mühelos zurechtfinden. Von den neun
Blättern, welche die Rnvensteinsche Ost-Alpenkarte ausmachen werden, sind sechs
ausgegeben, im Maßstab von 1:250 000. Das uns vorliegende Blatt erstreckt
sich im Westen und Osten vom Tegernsee zum Traunsce, im Norden und Süden
von der Salzach-Mündung zum Zeller See. Nach der Mitte zu thront und
leuchtet die Mozartstadt Salzburg. Wenn wir sagen, daß es ein Genuß für sich
ist, auf dieser Karte mit den Augen zu ruhen, über sie hinzuschweifen, so haben
wir derselben nur ihr Recht angethan. Daß sie das Tiefe sanft vor uns hin¬
breitet, das Flüssige in Bewegung setzt, das Starre höher und höher aufsteigen
läßt, giebt ein Zeugnis von der lebendigen Schilderungskraft, welche ihr innewohnt.
Man wird an dieses wohlgemeinte Büchlein eines Offiziers, der mit berech¬
tigtem Hochgefühl an die ruhmreichen Tage Ves letzten Krieges zurückdenkt, an dem
er teilgenommen hat, keinen strengen Maßstab anlegen. Es ist gewiß erfreulich,
bei einem Soldaten eine so ausgebreitete Belesenheit in der schönen Literatur der
alten und neuen Zeit, ganz besonders in der Poesie, welche das Kriegsjahr 1870
geschaffen hat, zu begegnen. Die gesammelten schönen Stellen hat Hauptmann
Teicher zwanglos geordnet, meist chronologisch, und durch einen Text verbunden,
der den Krieg von seiner die Sittlichkeit fördernden Seite beleuchtet. Den größern
Teil des Büchleins nehmen die Erinnerungen, häufig interessant persönlicher Art,
an den letzten Krieg ein, und in den Zitaten begegnen wir Dichtern, die uns
bisher ganz unbekannt geblieben sind. Natürlich sind die Meister Lingg, Geibel,
Greif, Freiligrath, Dahn u. ni. fleißig benutzt. Interessant sind einige Volkslieder
aus dem Kriegsjahre 1870.
Schneller, als zu erwarten war, ist die Antwort auf meinen Aufsatz über Scherer er¬
schienen.*) Und sehr charakteristisch ist diese Antwort ausgefallen. Gegen den sachlichen
Inhalt meines Aufsatzes wird nicht das mindeste vorgebracht. Was noch von bleibenden
Verdiensten Schcrers in der Faustfrage, selbst mit Zuhilfenahme der Vorlesungen desselben,
zusammengestellt wird, ist von ganz minimaler Bedeutung und ist ohne jeden Einfluß auf
das Urteil über die von mir bekämpfte und früher von so manchem als eine epochemachende
wissenschaftliche That ersten Ranges verherrlichte Prosahypothese.
Außerdem werden der Arbeit Schercrs bloß noch allgemeine Lvbspriiche von Scharfsinn,
sicherem Stilgefühl und tiefbohrendem Ernst gespendet, Lvbspriiche, deren Haltlosigkeit den
Lesern meines Aufsatzes nicht erst besonders dargethan zu werden braucht. Ebensowenig
kann man Gedanken, deren Verschieben so leicht nachzuweisen ist, als tsrmsntg, oognitionis
anpreisen.
Die Herren mögen übrigens selber eingesehen haben, wie wenig sie durch das alles
ihr Fiasko abzuschwächen imstande sein werden. Sie steifen sich deshalb umsomehr auf die
Behauptung, mein Angriff sei unedel, weil er so bald nach Scherers Tode erfolgt sei. Erich
Schmidt versteigt sich svgcir bis zu dem Ausdrucke „Leichenschändung." Herr Schmidt wird
wohl wissen, daß ich ihn durch die Gerichte über die Bedeutung dieses Ausdrucks belehren
lassen könnte, aber ich will davon absehen, weil wir in der Gelehrtenrepublik auch ohne Straf¬
richter fertig werden müssen. Ich selber habe dem Gefühl Ausdruck gegeben, daß es mir
peinlich sei, so früh gegen den Heimgegangenen aufzutreten. Aber wenn die persönlichen
Freunde Scherers eine Art von wissenschaftlichem Trauerjahr respektirt zu sehen wünschen,
so mögen sie diese Trauerzeit nicht dazu mißbrauchen, wertlose, längst widerlegte und abge¬
thane Behauptungen ihres Gönners zu verherrliche». Eine solche geräuschvolle Anpreisung
von etwas Unbrauchbaren: und Wertlosem wird nun einmal im Sprachgebrauch als „Hum¬
bug" bezeichnet. Wenn nun gar die Absicht hervortritt, solchen Behauptungen durch fort¬
währende Wiederholung und geflissentliche Ignorirung der Gegengründe eine Art Einbürge¬
rung zu erschleichen, dann sind alle Anhänger wissenschaftlicher Forschung verpflichtet, solchem
Unfug zu steuern.
Dies habe ich gethan, und wie ich wohl sagen darf, mit Erfolg. Nicht die Trauer,
nicht das Klagelied der persönlichen Freunde habe ich stören wollen, aber das kann man
schlechterdings nicht dulden, daß diese Trauer und dieses Klagelied tendenziös benutzt werde,
WMWM
/MZsM^is die Hegelsche Philosophie mit ihrem Kauderwelsch alle Bil¬
dung in Deutschland beherrschte, sagte Ludwig Börne in be¬
greiflichen Scherze, es fehle uns an Büchern, die Thatsachen
enthielten und keine Meinungen. Die gleiche Sehnsucht ist auch
in den fünfziger und sechziger Jahren öfters zum Ausdruck ge¬
kommen, als zwar nicht die Philosophie, wohl aber eine alle Katheder und
Lehrbücher beherrschende Volkswirtschaftslehre ihren Triumph in Deutschland
und einigen benachbarten Ländern feierte. Sie galt in den Zeitungen als
der selbstverständliche Niederschlag der Schulgedanken, und wie der französische
Bürgersmann, der kein Urteil haben kann, doch aus dem Feuilleton eifrig ent¬
nimmt es «zu'it kg-ut xsvssr ac pedes vKoss-IZ,, was er, um nicht aufzufallen,
von der neuen Tragödie oder dem neuesten Roman zu halten hat, so war es
bei uns mit Freihandel und Schutzzoll, Innungen, Versicherungszwang und
den zahllosen Fragen, die mit jenen Worten zusammenhängen. Es waren eben
gar keine Fragen, sondern ausgemachte Dinge, über die jeder so gut aufgeklärt
war, wie über die Bewegung der Erde um die Sonne.
Diese Sicherheit ist geschwunden, und wenn die Unsicherheit und der Zweifel
formell etwas Unbehagliches ist, so darf es auch auf unserm Gebiete nicht
wunderbar erscheinen, daß sich viele Zeitungen und Schriftsteller noch nicht
recht darüber beruhigen können, daß die manchesterliche Glaubenseinheit nicht
mehr den früheren Zauber übt. Die Freiheit hat ihr Schönes, aber auch ihre
Sorgen; der Diener, der während der Abwesenheit seines Herrn anfängt, frei
zu sein, macht dabei so seltsame Erfahrungen, daß er jubelt, wenn das Kom¬
mandowort der zurückgekehrten Herrschaft ihm wieder genau sagt, was er jeden
Angenblick zu thun, zu lassen, zu sagen und zu glauben hat. Man lese im
Thomas von Kempen, um die Seligkeit einer völlig mönchischen Bestimmtheit
durch eine feste Autorität lebhaft zu empfinden.
Diese Auflösung der volkswirtschaftlichen Glaubenssicherheit ist wesentlich
mit veranlaßt worden durch die Schriften, die der Verein für Sozialpolitik
veröffentlicht hat. Er hat eine Reihe von Untersuchungen herausgegeben
(Leipzig, Duncker und Humblot, bis jetzt 35 Bände), die in gewissem Maße
Börnes Wunsch erfüllen, insofern sie zwar die Meinungen nicht ausschließe»,
was ja abgeschmackt wäre, aber doch die Thatsachen vor allem ehren, auch die
„impertinentesten" Thatsachen nicht verschweigen, die gar nicht in das geheiligte
System passen. Sie haben anfangs eine etwas einsame Stellung gehabt, dürfen
aber jetzt ihre Bestrebungen für leidlich anerkannt ansehen. Ein Blick ans die
Titel der Schriften des Vereins und die Namen seiner Mitglieder erivcckt die
bestimmte Vorstellung, daß in der Achtung der Besten in unserm Vaterlande
ein volkswirtschaftlicher Umschwung stattgefunden hat. Gewiß nicht bloß durch
Schriften, auch nicht durch die des Vereins für Sozialpolitik ist dieser Um¬
schwung bewirkt worden. Die Not der Zeit sprach ein gewichtiges Wort mit,
und vor allem war der praktische Vorgang des gewaltigen Reichskanzlers in
der Zollfrage, der sozialen Frage (der Staatshilfe und genossenschaftlichen
Organisation) und in der sonstigen Freimachung von alten Überlieferungen von
entscheidender Wichtigkeit. Denn es sind die Thaten, die die Volkskreise be¬
stimmen. Aber ein überaus wichtiger Umstand in der Wendung zum Besseren
und eine Fundgrube für die noch ausstehenden Reformen in Gesetzgebung, Ver¬
waltung und Vereinsbildung bleiben jene Sammlungen volkswirtschaftlicher
Thatsachen doch, die wir in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik besitzen.
Wir richten die Aufmerksamkeit diesmal nur auf den neuesten Band, der
nicht weniger als siebenundzwanzig kleinere oder größere Abhandlungen über
Wucher auf dem Lande enthält. Nach Anleitung eines Fragebogens, den der
Verein mit Hilfe eines sachkundige» Herrn (H. Thiel in Berlin) aufgestellt und
versandt hatte, behandeln die Berichte die Wncherzuständc, vom Westen nach
dem Osten Deutschlands hin fortschreitend, im Reichsland, in Baden, Württem¬
berg, Hohenzollern, Hessen, Baiern, der Rheinpfalz, im preußischen Saargebiet, in
den Dörfern um Trier, Wiesbaden, Kassel, in Westfalen, Hannover, Oldenburg,
der Provinz Sachsen, Thüringen, Schleswig-Holstein, Brandenburg, dem König¬
reich Sachsen, Mecklenburg, Posen, Schlesien, Pommern, Westpreußen und Ost¬
preußen.
Es ist selbstverständlich, daß die verschiednen Berichterstatter ihre Aufgabe
ungleich angefaßt haben; trotzdem ist das Studium des Bandes reich an An¬
regung und^ um es gleich hier zu sagen, es bietet mich öfter zu einer gewissen
Aufregung Anlaß. Vielleicht geht es noch andern Leuten so wie mir, daß sich
ihnen bei vielen Beispielen von Wucherfällen unwillkürlich die Hand ballt.
Sollen wir uns dieses Gefühles schämen? Ich meine nicht, denn es sind die
hilflosesten Elemente unsers Volkes, deren schamlose Ausbeutung uns so in Auf¬
regung versetzt. Es ist eben der Wucher auf dem Lande, der geschildert wird;
die Wucherer wohnen meist in der Stadt und sind gut organisirt, aber ihre
Opfer wohnen auf dem Lande, besonders da, wo wenig Industrie und fast nur
kleinbäuerliche Wirtschaft (auf eigne Rechnung) besteht. Dort herrscht das ganze
Elend der Unbildung und Unwissenheit, und zwar keineswegs überall gemildert
durch Einfachheit des Lebens, Sittlichkeit und Fleiß, vielmehr oft noch gesteigert
durch Bauernstolz, sorgloses in den Tag hinein leben, oder gar durch Trunksucht.
Beiläufig stimmen ziemlich alle Berichterstatter darin überein, daß die Wunder-
erscheinungen, in denen sich Leichtsinn und Trunksucht den Wucherern als Ge¬
sellen erbieten, geradezu unheilbar und von den Maßregeln auszuschließen sind,
mit denen man den anderweitigen Handgriffen des Wucherers begegnen möchte.
Der letzte Wucherer verläßt das Erdenhaus erst mit dem letzten Säufer, wie
es scheint. Aber vorher hat er noch eine Anzahl andrer Opfer zu Grunde ge¬
richtet, die nicht lasterhaft, sondern nur hilflos sind, und die im ganzen Um¬
fange unsre Teilnahme verdienen.
Der Wucher auf dem Lande ist alt, wie man denken kann. Das erste
Gutachten (von Metz in Straßburg) teilt eine Schrift aus dem Jahre 1779
mit, in der ein Elsüsser die wesentlichen Züge des Wuchers, wie er ihn kannte,
so zeichnet, daß sie noch heute völlig zutreffen. Man kann seine Darstellung
geradezu typisch nennen. Auch der besondre Umstand gehört dahin, daß damals
der Wucher fast nur von Juden geübt wurde. Mit Bedauern hebt er hervor,
daß sich im Elsaß die Zahl der Juden seit 1689 auf das Dreißigfache vermehrt
habe. In allen Berichten finden wir die Andeutung, daß sich zwar auch Christen
am Wucher beteiligen, namentlich öfter als „Zutreiber" und als Rückhalt für
Kapitalbedürfnisse der kleinen jüdischen Wucherer; aber überall treten doch die
Juden in den Vordergrund, besonders im Viehwucher. Ein Bericht sagt, daß
neun Zehntel aller Wuchcrfülle auf Juden zurückgehen. Es wird das Wohl
nur für gewisse jndcurciche Gegenden der Wirklichkeit entsprechen. Die vom
Christentum geförderte Hnmanitüt hat die schon bestehenden Vereine gegen den
Wucher dazu veranlaßt, bei ihrem wohlthätigen Streben jede religiöse An¬
feindung von vornherein abzuweisen. Man hat sogar vortreffliche Männer
israelitischen Glaubens in den Vorstand solcher Vereine gezogen, eine Maßregel,
die gleichzeitig von der Gerechtigkeit wie von der Klugheit geboten zu sein
schien, aber das kann den thatsächlichen Befund nicht umstoßen, daß die jüdische
Nasse sich seit Jahrhunderten vorzugsweise am Wucher beteiligt. Wer sich
bemüht, den Ursachen dieser Thatsache nachzugehen, wird zugleich vieles finden,
was die Juden entschuldigt, die Christen anklagt, aber das Gebiet dieser Polemik
ist nebensächlich und unfruchtbar, so lange die Gesetzgebung über die Verhältnisse
er bürgerlichen Rechte zu den verschiedenen Bekenntnissen nicht völlig geändert wird.
Um nicht bei diesen allgemeineren Bemerkungen in lauter trüben Vor¬
stellungen stecken zu bleiben, füge ich hinzu, daß sämtliche Berichte versichern,
der Wucher sei zwar zum Teil noch schlimm, nehme aber ersichtlich ab; besonders
habe die neue Fassung des Wucherparagraphen im deutschen Strafgesetzbuch
vom 24. Mai 1880 (Z 302 a u. f.) die Wucherer geschreckt und manches Gute,
freilich neben Umgehuugskünsten, bewirkt. Nach dem Bericht über Braunschweig
scheint es dort in Bezug auf die Gegenwart sogar glänzend zu stehen. Es
verdiente eine besondre Untersuchung, wodurch die ausgezeichnete Lage dieses
Ländchens in Bezug auf Wucher sich erklären mag. Aber es ist erfreulich, daß
die Abnahme des Wuchers in deutschen Landen im allgemeinen nicht zu be¬
streikn ist. Freilich treten, wenn sich gegen die optimistischen Ansichten guter
Menschen irgendwo ein Verein gegen den Wucher bildet, auch zahlreiche üble
Fälle an den Tag, die früher niemand kannte. Aber das allgemeine Ergebnis
einer allmählichen Besserung der Lage wird dadurch nicht wieder zweifelhaft
gemacht. Wir dürfen uus daran halten, denn ich spreche das Wort „allmählich,"
wenn ich vou einer Besserung allgemeiner Verhältnisse spreche, mit solcher nach¬
drücklichen Betonung aus, daß uns die Thatsache, deren wir uns freuen, Wohl
ermutigen, aber nie in unserm Streben lähmen und schlaff machen kann.
Es wird aber gut sein, wenn wir in die Wucherfälle einen Blick thun.
Beginnen wir mit einem badischen Wucherer, Salomon Kaufmann, einem Juden
aus Mannheim, der endlich außer zu einer Geldstrafe von 8000 Mark zu einer
Gefängnisstrafe von 8^ Jahren verurteilt wurde. Dieser galt nach den Akten
schon seit Jahren als einer der schlimmsten Wucherer der Bergstraße und der
Pfalz; die Aussagen von zweihundert meist bäuerlichen Schuldnern entrollen ein
geradzu haearsträubendes Bild von dem Treiben dieses Mannes. Er hat einen
scharfen Verstand, erstaunliches Gedächtnis und rechnerische und hcmdelsmcinnische
Begabung, ist ohne Mitleid, ja brutal in der Behandlung seiner Opfer. Wen
er gefaßt hat, den hält er umklammert, so lange dieser eine Mark Geldes, eine
Scholle Landes sein eigen nennt. Schon in der ersten Urkunde Schürze er die
Schlinge, die er dem Opfer später um den Hals werfen will. Als Objekte
seiner Thätigkeit sucht er sich namentlich Landleute aus von geringer Einsicht
und großer Unwissenheit, von einigem Vermögen und Unerfcchrenheit in Geld¬
geschäften. Die Bauern unterschrieben die von ihm gefertigten Urkunden in der
Regel ohne Prüfung, teils in gutem Glauben, teils weil der Wucherer eilig
that und drängte, teils weil sie überhaupt nicht lesen konnten, oder doch das
Geschreibsel des Wucherers nicht, der unleserlich schrieb und einen eigentümlichen
Urkundenjargon erfunden hatte. Hauptsächlich liebte er die Einschmuggelung
höherer als der vereinbarten Schuldsummen, ferner von Zinsen, wo diese schon
in der Provision vorausbezahlt waren, und die Vermehrung der Provisionen
dadurch, daß ihr Prozentsatz statt auf ein Jahr auf ein Vierteljahr eingestellt
wurde. Wurden Termine bewilligt, so hieß der Beisatz häufig, „wenn ein Ziel
nicht wird eingehalten, so ist das obere Kapital ganz verfallen." Eine weitere
Kunst bestand in der Festsetzung der Zahlungstermine vor der Ernte, vordem
Tabakverkauf, wo kein Bauer Geld hat. Bei der Abrechnung wurden von dem
Wucherer längst bezahlte Zinsen nochmals berechnet; bei Abschlagszahlungen
auittirte er oft gar nicht, oft nur zum Teil, oft alles als Provision, sodaß
zuweilen, je mehr bezahlt wurde, desto mehr die Schuld anwuchs.
Dies die allgemeine Darstellung, deren Belege man in unserm Buche
(S. 27) verfolgen kann. Sie betreffen meist solche Fälle, die nach dem Wucher¬
gesetz vou 1880 beurteilt werden können. Die Geschäfte mit Geld sind infolge
dieses Gesetzes nicht mehr so häufig, aber man weiß sie zu verstecken, wie schon
die obige Wucherschilderung zeigt und wie wir noch weiter sehen werden.
Gewöhnlich ist der Wucher ein zusammenhängender, fortschreitender Prozeß,
mannichfaltig nur in den Gegenstünden, aber einförmig in der Tendenz und dem
schließlichen Verderben. Hat ein Wucherer erfahren, daß ein Bauer aus irgend
einer Ursache in Geldverlegenheit ist — und er erfährt durch seine Leute alles —,
so geht er hin, und indem er dem Bauer Stillschweigen über das Geschäft
zusichert, sängt er damit an, den Bauer über eine größere als die geliehene
Summe einen Schuldschein ausstellen zu lassen und Bedingungen über Rück¬
zahlung hineinzusetzen, die der Bauer nicht halten kann. Zeigt sich eine neue
Geldnot des Bauern, so kündigt der Wucherer die ganze Schuld. In der Regel
hat der Bauer noch einige Stück Vieh im Stalle. Der Wucherer kauft ihm
zu einem Spottpreise ein Stück Vieh ab und gewährt für das nicht zurück¬
gezahlte Darlehen Aufstand; denn er weiß wohl, daß es nur eine Frage der
Zeit ist, wenn er die Schlinge über den Bauer werfen kann. Ist zu einem
Viehgeschäft keine Gelegenheit, so geht der Wucherer gerichtlich vor, erwirkt sich
einen vollstreckbaren Zahlbefehl und läßt den Betrag in das Hypothekenbuch
eintragen. Je nach den Verhältnissen geht er an die Pfändung von Mobiliar
und Vieh, oder an die Beschlagnahme von Immobilien. Das Vieh steigert er
selbst zu geringem Preise an, denn die andern Bauern wissen wohl, warum sie
nicht höher bieten, und verkauft es auf dem Markte mit 20 bis 30 Prozent
Gewinn. Ebenso billig erwirbt er die Grundstücke des Schuldners, er hat dann
wieder andre Leute zur Hand, die sie ihm gern zu hohen Preisen abkaufen,
weil sie durch diese Gefälligkeit ihren eignen Ruin etwas hinausschieben.
Ein psychologisch interessanter Gang der Dinge zeigt sich dann, wenn der
Wucherer begüterte Grundbesitzer in seine Netze bringt (S. 158), aber die Einzel¬
heiten sind zu schmerzlich, um sie wiederzugeben. Es giebt Wucherer, die aus¬
nahmsweise bei einem Geschäft z. B. mit Steigprotokollen statt zehn Prozent
abzuziehen, noch fünf Prozent zulegen. Auf die Frage eines Notars, warum
er so großartig sei, antwortete ein Wucherer in einem solchen Falle: „Das ist
ein reiches Dorf, und in diese Verhältnisse möchte ich gern hineinkommen"
(S. 175). Er wird es wohl durchgesetzt haben.
Weil es dem Wucherer nicht auf große, in einem Zuge zu erledigende
Geschäfte ankommt, sondern auf eine lange Reihe in einander greifender ver¬
wickelter Geschäfte, in die immer mehr abhängige Personen hineingezogen werden,
bis keiner von den Schuldnern mehr etwas zu verlieren hat, so ist der Wechsel
nicht so beliebt bei ihm, denn der Wechsel hat doch mehr die Tendenz, ein
Geschäft zu lösen, und die gewöhnlichen Bauern haben eine stille Furcht vor
dem „Qnerschreibcn." Der Bauer schreibt sich leider meist gar nichts auf; im
Saargebiet kam es uicht selten vor, daß ein Bauer auf die vorwurfsvolle
Frage, warum er sich keine Notizen gemacht habe, naiv erwiederte, „wozu er
das denn thun solle, es stehe ja alles in den Büchern des Handelsmannes."
Es ist menschenfreundlich, wenn die Vereinsmitglieder selbst einen solchen
Menschen noch nicht als unrettbar fallen lassen.
In den Gegenden des Zwerggrundbesitzes, wie er z. B. an der Saar be¬
steht, ist der „Umschlag" in Grund und Boden das ergiebigste Gebiet des
Wuchers. Der Wucherer kauft begehrte Grundstücke vorweg, und wenn er sie
mit Nutzen losschlägt, sieht er es gern, wenn der Käufer nicht gleich alles be¬
zahlen kann und so in sein großes Schuldbuch kommt. Muß ein Bauer ein
Grundstück verkaufen, so kann er das nicht, ohne den Handelsmann zu Hilfe
zu nehmen. Es wird versteigert, die Ansteigercr bekommen die Berechtigung,
ihre Schuld in fünf, sechs, ja zwölf Jahrestermincn zu tilgen. Der Verkäufer
hat aber Geld nötig, er tritt dem Handelsmann die ganze Reihe der Teil-
fordernngen ab. Dafür muß er ihm 5 bis 10 Prozent Aufgeld und eine
Provision von 2 bis 10 Prozent ablassen. Der Wucherer aber freut sich nicht
nur über diesen enormen Prosit, er hat auch wieder Jahr für Jahr Gelegen¬
heit, die neuen Schuldner bei ihren Schwächen zu fassen, und er weiß sie ganz
sicher herauszufinden. S. 127 unsers Buches finden sich einige thatsächliche
Fälle: Bei einem Wertgegenstände von 3900 Mark betrug das Aufgeld fünf
Prozent, die Provision fünfzehn Prozent 780 Mark, die Konventionalstrafe
780 Mark. Bei einem andern Wertgegenstände von 9000 Mark betrug das
Aufgeld Prozent, die Provision sechs Prozent ---- 1140 Mark, die Konven¬
tionalstrafe 875 Mark. Die Versteigerung kam in diesem Falle nicht zur Aus¬
führung, der Handelsmann schrieb nichtsdestoweniger dem Besitzer zur Last:
Provision 540 Mark, Aufgeld 600 Mark, Konventionalstrafe 375 Mark, zusammen
1515 Mark. In einigen Gegenden hilft der Wucherer bei solchen Versteige¬
rungen der Kauflust nach. Denn der früher so bekannte Übereifer, den Land¬
besitz zu vermehren (Landhunger), hat seit längeren Jahren begreiflicherweise
nachgelassen. Darum veranstaltet er im Steigernugslvkal, gewöhnlich einem
Wirtshaus, ein Freitrinken in Schnaps, „auch Weiber fehlen nicht, sie sind
die ersten, deren gerodete Gesichter und verglaste Augen die Wirkungen des
Getränkes verraten." Dann genügt ein Wink des freigebigen Versteigerers,
den Preis zu einer Höhe zu treiben, die das Grundstück für den Erwerber
unrentabel, ihn selbst zur Beute des Wucherers macht. Diese Traktirerei vor
und bei dem Versteigern ist übrigens gesetzlich verboten, freilich erst auf Antrag
eines Vereins gegen den Wucher, der den natürlichen Anschluß an die Regie-
rungs- und Gerichtsbehörden mit Eifer pflegt.
Ein bedeutender Zweig des Wuchers ist, wie schon erwähnt, der Vieh-
handel und die Vichleihe; er kommt nach den Berichten viel allgemeiner in
Betracht als ein andrer Zweig. Der kleine Bauer kaun ohne Vieh nicht ge¬
deihen, und wiederum traut er sich uicht die Einsicht zu, auf dem Markte
richtig zu wählen und zu kaufen. Der Handelsmann dagegen weiß alles nötige,
wie der Bauer glaubt. So ist er deun in dessen Hand bei Kauf und Verkauf,
bei Tausch und Viehleihe, diesem leider so entwürdigenden und ganze Gehöfte
verderbenden Geschäfte. Noch schlimmer ist der Wucher beim Pferdehandel,
den viele Handelsleute als Spezialität betreiben. Auch hier einige Beispiele
(S. 135 ff.), die zugleich in einen andern Teil der Frage eingreifen, indem
sie zeigen, daß das Dasein von Vereinen gegen den Wucher vieles Elend ver¬
hindert. Wenn nämlich die Wucherer erfahren, daß der Verein vorkommenden
Falles die Viehprozcsse seiner Mitglieder in die Hand nimmt und die Kosten
und den Rechtsbeistand stellt, nehmen sie ihre unsauberen Klagen noch recht¬
zeitig zurück, denn sie haben erlebt, daß ein einziger verlorener Pferdcprozeß
2000 Mark gekostet hat. A. verkaufte im Oktober 1885 ein Pferd an den
Händler B. Dieser nahm das Pferd uicht ab, weil es lahme. Der Verein
klagt für A., das Landgericht in Trier verurteilt deu B. Nach dein Urteil ist
das Pferd in Wirklichkeit nicht lahm gewesen, B. hat selbst nicht an die Lahm¬
heit des Tieres geglaubt, er wollte nur das Pferd bei A. billig überwintern
lassen. Eine Witwe A. verkaufte im Juni 1885 ein Pferd an Cohn. Cohn
teilt am 21. Juni mit, daß das Pferd nach Leipzig verkauft und dort krepirt
sei, er läßt der A. eine Aufforderung des Rcchtscmwalts zugehen, des Inhalts,
umgehend Kaufpreis, Kosten und Zinsen zu zahlen. Nach dem Rate des Vereins
antwortete die A. gar nicht, die freche Klage wurde in Wirklichkeit nicht ver¬
sucht; das Tier war ganz gesund gewesen. So geht es ins Unendliche fort,
alle möglichen Fehler werden dem gekauften Tiere angedichtet, es ist ein „Wiud-
schöpfer," ein „Krampenzieher," ein „Zuugenschläger"; vielleicht schüchtert es
doch den Verkäufer ein, sodaß er einen Teil des Kaufpreises nachläßt, und das
ist ja der Zweck.
Verschiedene Berichterstatter weisen darauf hin, daß die mannichfcichen Ge¬
schäfte, die wir ans diesem Gebiete antreffen, im einzelnen durchaus nicht
wucherisch zu sein brauchen, sondern erst in ihrem Zusammenhange zum Wucher
werden. So wird vom Wucherer ein Darlehen in einen Kauf umgekleidet. Ein
Bauer braucht 3000 Mark, der Wucherer kauft sein Haus sür 4000 Mark
und zahlt baar 3000 Mark. Der Bauer soll das Haus zu bestimmter Zeit
für 5000 Mark zurückkaufen; er kann es aber nicht, so bleiben die 4000 Mark
auf seinem Besitz stehen, die einen privilegirten Rang haben für den Fall
späterer Zwangsvollstreckung. Mittlerweile hat der Wucherer 1000 Mark ver¬
dient. So sind auch Geldbedürfnisse für die Militärzeit dem Wucherer will¬
kommen, er giebt Vorschüsse auf das Erbteil des jungen Mannes, das ihm
dann nach und nach zu Teil wird, manchmal treibt er auch die andern Erben
dem Verderben entgegen. Doch es würde zu weit führen, die einzelnen Formen
des Wuchers genauer zu beschreiben. Wenden wir uns lieber den Mitteln zu,
die die Berichterstatter zur Abhilfe gegen den Wucher empfehlen.
Es lag dabei nahe, weiter auszuholen und die ganze Lage der Landwirt¬
schaft in Erwägung zu ziehen. So wird die Wechselfähigkeit der Bauern be-
sprochen, es wird von der Notwendigkeit eines Heimstättengesetzes gehandelt,
durch welches ein gewisser Besitz mäßigen Umfanges dem Verschütteten unter
allen Umständen verbleiben muß, und auch andre weitgreifende Reformen werden
von einzelnen Berichterstattern angedeutet. Aber auch in dem engen Rahmen
des Wuchers selbst finden sich Maßregeln praktischer Art zur Genüge in den
Gutachten entwickelt.
Die Hauptsache wird immer bleiben, die Hilfe des Wucherers entbehrlich
zu machen durch Kassen öffentlicher Art, die kleinen Leuten zu helfen verpflichtet
sind und keine Erwerbsanstalten sein dürfen. Diese Kassen müssen in der Art
billigen Kredit gewähren, daß sie zugleich zwangsweise die Schuld amortisiren;
schon um nicht den Schein auf sich zu laden, als wollten sie vor allem das
Kreditwesen erleichtern. Diese Kassen müssen insbesondre auch die Steigerungs¬
protokolle zu mäßigem Abschlag übernehmen, um die Wucherer fernzuhalten. Es
sind ganz gefahrlose Geschäfte, bei denen Verluste kaum vorkommen (S. 140 ff.).
Mehrere Berichterstatter heben freilich einen Nachteil hervor, den diese Kassen
im Vergleich mit dem aus Eigennutz verschwiegenen Handelsmann haben- Der
Bauer will eben seine mißliche Lage vor der Öffentlichkeit, auch vor einer
öffentlichen Kasse verbergen. Nun haben etliche vorgeschlagen, man solle das
dadurch ausgleichen, daß auch der Handelsmann, wie er es ja eigentlich muß,
eine öffentlich kontrolirbare Buchführung innehatte. Aber dieser Gedanke läßt
sich nur sür einzelne Formen der Prozeßführung durchführen, im ganzen ist er
unpraktisch.
Wichtiger ist die Einwirkung, die solche gut eingerichtete Kassen durch
ländliche Vertrauenspersonen (Agenten) auf die kleinen Grundbesitzer üben können.
Durch diese Leute wird das Mißtrauen gegen die Darlchnsbank und ihre Art
zu handeln leichter gehoben und in Vertrauen verwandelt. Durch die Be¬
sprechung aller ökonomischen Verhältnisse wird die äußerst mangelhafte Schul¬
bildung auf diesem Punkte wesentlich ergänzt, die Notwendigkeit ordentlichen
Anschreibens erkannt, und es ist sehr wohl zu hoffen, daß für ganze Bezirke
die Bank bei uns denselben wohlthätigen Einfluß üben werde, wie die kleinen
Banken in Schottland ihn geübt haben und noch üben. In den ersten zehn
Jahren werden dies freilich die Kassen, wenn sie auch gut eingerichtet sind,
nicht leisten können, ohne daß ein besondrer Verein gegen den Wucher im Be¬
zirke ihnen zu Hilfe kommt, der durch Vertrauensmänner überall gegenwärtig
ist und kundige Juristen unter seinen Mitgliedern zählt. Denn es ist wahr
(S. 145), daß „zur Besserung der Zustände niemand mehr beitragen kann als
die Notarien, deren größere Zahl gegenwärtig das Wucherwesen als ein not¬
wendiges Übel ansieht und den Dingen ihren Lauf läßt." Es ist darum be¬
sonders ehrenwert und erfreulich, daß Notarien sich nicht selten als Mitglieder
von Vereinen gegen den Wucher lebhaft beteiligen. Diese Vereine, die schon
glückliche praktische Erfolge errungen haben und mehr und mehr um sich greifen,
haben sich nicht bloß um die Gründung und richtigere Gestaltung von Dar-
lehns- und Sparkassen bemüht, sie haben auch gegen die so beliebte Ver¬
dunkelung des Schuldenverhältnisses durch den Wucherer auf „Abrechnung"
geklagt, sie haben den „Weinkauf" fast ganz beseitigt, chikcmöse Viehprozesse
für die Bauern geführt und dem schwerbedrückten kleinen Manne wieder das
Gefühl erweckt, daß er nicht ohne Hilfe dastehe im Kampfe mit dem über¬
mächtigen Handelsmanne. Wer das nicht für ein schönes Ziel anerkennt, mit
dem können wir nicht verhandeln. Wir stimmen völlig dem bei, was der Ver¬
fasser des achten Aufsatzes (S. 149) am Schlüsse seiner trefflichen Arbeit sagt:
„Die Gelegenheit von der Befreiung der Einzelwillkür ist tief ersehnt und wird
(von dem Kleinbesitz) dankenden Herzens benutzt werden. Es wird sich zeigen,
daß der Kleinbesitz, welcher das festeste Bollwerk darstellt gegen den Umsturz,
auch wirtschaftlich volle Lebensberechtigung in Anspruch nehmen darf. Mit
einer für viele erstaunlichen Schnelligkeit wird namentlich die wirtschaftliche
Reife sich entwickeln und aus dem abzehrenden Zwergwirte ein gesunder Klein¬
bauer hervorgehen als des Staates feste und kräftige Stütze." Es sind
prophetisch gehaltene Worte, aber sie beruhen auf festem Grunde, sie stammen
von dem Abgeordneten Landrat Knebel in Beckingen a. d. S., dem Leiter des
Vereins gegen den Wucher im Saargebiet, eines Vereins, der bereits für viele
ähnliche das Vorbild geworden ist, weil er eine Thatsache ist, deren heilsame
Natur sich jedermann aufdrängt.
Wir scheiden hiermit von dem Sammelwerke, aus dem wir geschöpft haben,
mit Dank gegen den Verein, der es veranstaltet hat, und gegen die Männer,
die das Material zusammengebracht haben. Mögen die Thatsachen, die es
darlegt, immerhin zunächst schmerzlich sein: schon Baco erkannte, daß das Bessere
leichter aus der klar gewordenen Verkehrtheit, als ans der Konfusion hervorgehe.
und in Oberschlesien ist, wie schon erwähnt, die Bevölkerung un¬
zweifelhaft lvhal und Pcitriotisch gesinnt. Freilich muß man bei
diesem Urteil von dein Ergebnis der Wahlen absehen, wo der
Oberschlesier in seiner Mehrheit trotz seiner Loyalität der Geist¬
lichkeit blindlings folgt. Aber wenn auch der Oberschlesier polnisch
spricht, so will er doch kein Pole sein, und das Wort Polack gilt ihm sogar
als Schimpfwort. Es ist in dieser Beziehung trotz der Gleichheit der Sprache
zwischen ihm und dem Bewohner der benachbarten Provinz Posen ein wesent¬
licher Unterschied vorhanden, denn der Posener huldigt immer noch großpolnischen
Ideen, und der Gedanke, daß einst das ehemalige Königreich Polen in alter
Macht und Herrlichkeit wieder erstehen könnte, ist dort, von Geistlichkeit, Adel
und Presse genährt, immer noch nicht ganz geschwunden. Es ist dies ein wesent¬
liches Hindernis, das sich der Befestigung der dortigen Verhältnisse und dem
Einleben der polnischen Bevölkerung in den Organismus des auf rein deutscher
Grundlage beruhenden preußischen Staates entgegenstellt. Hiervon ist in Ober¬
schlesien nicht die Rede. Immerhin hat aber der Umstand, daß die polnische
Sprache, so verderbt sie auch durch Germanismen und durch dialektische Eigen¬
tümlichkeiten ist, noch die Umgangssprache bildet, sein Bedenkliches. Da das
Land im Norden, Osten und Südosten von rein polnischen Landesteilen um¬
geben ist, im Süden an Mähren grenzt, wo die Wogen der panslawistischen
Bewegung hochgehen, so hat es nicht an Bestrebungen gefehlt, auch die pol¬
nische und mährische Bevölkerung Oberschlesiens für die panslawistischen und die
großpolnischen und mährischen Bestrebungen zu gewinnen. So lange das deutsche
Reich mächtig und glücklich nach außen hin dasteht, hat dies bei der Wachsam¬
keit, welche die preußischen Behörden auf diese Bestrebungen haben, verhältnis¬
mäßig wenig zu bedeuten. Aber man darf, die Erfahrung hat es gelehrt, solche
Bestrebungen nie unterschätzen, sie können in unglücklichen Zeitläuften leicht zu
großer Mächtigkeit anschwellen. Und der Umstand, daß die polnische und
mährische Bevölkerung im Verhältnis zur deutschen, wie sichere Ermittelungen
ergeben haben, in den letzten Jahrzehnten wesentlich an Zahl zugenommen hat,
giebt doch zu denken und läßt das Bestreben der Staatsregierung, dieser auf¬
fallenden Erscheinung entgegenzutreten, gerechtfertigt erscheinen. Zum Teil mag
die Vermehrung der polnischen und mährischen Bevölkerung durch Einwanderung
erfolgt sein, daher erklären sich die Answeisungsmaßrcgeln, die leider jetzt für
die deutsche Bevölkerung in den russischen Grenzprovinzen sehr bedenkliche Folgen
nach sich ziehen. Anderseits aber dürfte der Grund dafür auch darin zu suchen
sein, daß in den geiuischtsprachigen Bezirken eine nicht unwesentliche Ver¬
schiebung des ursprünglichen Besitzstandes der verschiednen Sprachen dadurch
hervorgerufen worden ist, daß allerdings nicht ganz ohne Verschulden des
Staates, der das ruhig mit angesehen hat, ein beträchtlicher Teil der ursprüng¬
lich deutschen Bevölkerung polonisirt worden ist. So vielfach diese Behauptung
auch von gegnerischer Seite angegriffen worden ist, so ist sie doch in keiner
Weise bisher widerlegt worden. Und es steht unzweifelhaft fest, daß diese Ver¬
schiebung sich hauptsächlich vollzogen hat seit den vierziger Jahren bis zu Ende
der sechziger Jahre.
Unwillkürlich wird man sich fragen: Wie ist dies möglich gewesen? Die
Antwort darauf haben wir teilweise schon gegeben, indem wir nachwiesen, wie
in dem Nebeneinanderbestehen von mehreren Unterrichtssprachen in der Schule
die deutsche Sprache vielfach zu kurz gekommen ist. Gerade die deutschen
Minderheiten haben hierunter am meisten gelitten und sind an vielen Orten
ganz verloren gegangen. Es ist daher nicht mehr als billig, daß der Staat
durch das jetzige Unterrichtsverfahren sie vor der Gefahr, polonisirt zu werden,
schützt. Der wichtigste Grund zur Erklärung dieser Erscheinung ist jedoch ent¬
schieden der, daß von der Geistlichkeit in der Kirche der polnischen und mährischen
Sprache zu viel und der deutschen Sprache zu wenig Interesse entgegenge¬
bracht worden ist. Es sei ferne von uns, dieses Verhalten der Geistlichkeit im
allgemeinen als aus staatsfeindlicher Gesinnung hervorgegangen bezeichnen zu
wollen. Wenn dies hie und da auch im einzelnen zutreffen mag, im großen
und ganzen wird es nicht der Fall gewesen sein. Aber trotzdem können wir
die Geistlichkeit von dem Vorwurfe nicht freisprechen, daß sie das Deutsche im
Verhältnis zum Polnischen und Mährischen in den Gottesdiensten zu wenig
berücksichtigt hat und noch jetzt zu wenig berücksichtigt.
Lassen wir die Gründe, die früher die Geistlichkeit hierbei geleitet haben
mögen, hierbei außer Acht und suchen wir diejenigen auf, die hierbei jetzt noch
maßgebend sind, so dürften sie zumeist darin zu suchen sein, daß die Geistlichkeit
im Interesse ihrer älteren Gemeindeglieder die Gottesdienste in der Muttersprache
derselben noch zu sehr begünstigt. Hin und wieder mag auch Wohl die Be¬
quemlichkeit den einen oder den andern Geistlichen veranlassen, der alten Ge¬
wohnheit treu zu bleiben, die Gottesdienste, sowie er es bisher igethan hat, nur
in der Muttersprache der Mehrheit der Gemeinde abzuhalten. Aber in keiner
Weise dürften doch die deutschen Minderheiten in ihrem Rechte auf Abhaltung
deutscher Gottesdienste benachteiligt werden. Es wird schwerlich ein besonnener
Mann der Geistlichkeit einen Vorwurf daraus machen wollen, daß sie im Inter¬
esse ihrer älteren Gemeindeglieder einen Teil der Gottesdienste in derjenigen
Sprache abhält, in der sie sie von Jugend auf erhalten haben und in der sie
ihnen lieb und erbaulich sind. Aber ebenso wird wohl gefordert werden dürfen,
daß die deutsche Minderheit, die oft dem fremdsprachigen Gottesdienste gar nicht
zu folgen vermag, in gleicher Weise Berücksichtigung erfährt, wie die nichtdeutsche
Mehrheit. Und erwägt man nun weiter, daß die heranwachsende polnische und
mährische Jugend in der Schule mit Ausnahme der Unterstufe ihren Religions¬
unterricht nur in der deutschen Sprache erhalten hat und dem deutschen Gottes¬
dienste mindestens ebenso gut zu folgen vermag, wie dem in ihrer Muttersprache
abgehaltenen, so wird man diese Forderung in Betreff der Abhaltung deutscher
Gottesdienste umso entschiedener stellen müssen. Durch die Kirche und ihre
Vorliebe für polnische und mährische Gottesdienste ist seiner Zeit der Polvni-
sirung deutscher Elemente in Oberschlesien Vorschub geleistet worden, und die
Kirche ist auch der Grund, warum wir gegenwärtig in der Verbreitung der
deutschen Sprache in Oberschlesien nicht weiter kommen und thatsächlich nur
um den Besitzstand des Bestehenden kämpfen.
Vonseiten der Staatsregierung ist dies auch längst erkannt worden. Sie
hat daher bei dem Fürstbischof und auch beim Konsistorium in Breslau auf
Einrichtung oder Vermehrung deutscher Gottesdienste gedrungen. Vom Konsi¬
storium ist auch diesem Ansinnen in bereitwilligster Weise entsprochen worden,
obwohl es hie und da auch auf nicht unerheblichen Widerstand gestoßen ist.
Weniger erfolgreich sind die gleichen Schritte bei der katholischen Geistlichkeit
geblieben. Hie und da sind zwar auch hier deutsche Gottesdienste abwechselnd
mit polnische« oder mährischen eingerichtet worden. Im großen und ganzen
ist es aber beim Alten geblieben, und es bleibt daher in dieser Beziehung noch
sehr viel zu thun übrig.
Die Geistlichkeit ist aber dem Deutschtum auch geradezu cmgriffsweisc ent¬
gegengetreten, und zwar ist dies durch die Unterrichtssprache beim Beicht-
und Kommunion- oder Konfirmandenunterricht geschehen. Das ganze Katcchis-
musuntcrricht der Schuljugend wird nur in deutscher Sprache erteilt. Das
zwölfjährige polnische oder mährische Kind hat ebenso wie das deutsche Kind,
wenn es in den Beichtunterricht tritt, den Katechismus nur in deutscher Sprache
erlernt. Im Beichtunterricht macht aber der Geistliche einen Unterschied zwischen
dem deutschen und dem nichtdeutschen Kinde dadurch, daß er jedem den Beicht-
und Kommunion- oder Konfirmandenunterricht nur in seiner Muttersprache
erteilt. Das arme polnische oder mährische Kind muß nun den Katechismus,
den es in deutscher Sprache erlernt hat, noch einmal in seiner Muttersprache
erlernen, obwohl es ihn in der deutschen ganz gut versteht. Die Schwierig¬
keiten, die ihm dadurch erwachsen, sind nicht gering. Es kann nicht einmal
polnisch oder mährisch lesen, es muß dies erst lernen, um den Katechismus in
schM Muttersprache auswendig lernen zu können. Und dabei erhält es in der
SHulc nach wie vor seinen Katechismusunterricht in deutscher Sprache. Wenn
man^yunj eWggt, daß der Beicht- und Kommunionunterricht innerhalb zweier
Jahre bei vier- bis fünfmonatlicher Dauer wöchentlich nur in zwei Stunden
erteilt wird, ferner, wie viel Zeit durch das Einprägen des ursprünglich fremden
Memorirstosfes dem Geistlichen hierbei noch verloren geht, endlich, daß im
Beicht- und Kommunionunterricht in der Regel weit mehr Kinder bei einander
vereinigt sind als in der Schule und daß der Geistliche sich daher ohnehin
weniger dem einzelnen Kinde widmen kaun als der Lehrer, so fragt man sich
unwillkürlich: Wie tief kann der Geistliche nnter solchen Umständen bei der
Erteilung dieses Unterrichtes in den Stoff eindringen, und von welchem Nutzen
kann dieser wichtige Unterricht, der nach dem Angeführten doch immer nur
oberflächlich gehalten werden kann, schließlich für das ganze spätere Leben der
betreffenden Kinder sein? Jedem, der das Angeführte unparteiisch erwägt,
werden sich von selbst gerechte Zweifel über den Nutzen der Erteilung des
Beicht- und Kommunionunterrichts an polnische und mährische Kinder in ihrer
Muttersprache aufdrängen, und er wird wahrscheinlich zu dem Schlüsse kommen,
daß es für die betreffenden Kinder heilsamer wäre, wenn sie den betreffenden
kirchlichen Unterricht, nachdem sie den Katechismusunterricht in der Schule nur
in deutscher Sprache erhalten haben, statt in ihrer Muttersprache auch in
deutscher Sprache erhielten, und daß dies für ihr ganzes Leben von größerem und
bleibenderen Nutzen sein würde. Dagegen wird uns sicher jeder auch darin
beistimmen, daß hierdurch der Aufgabe der Schule, das Deutschtum zu verbreiten,
nnter den gegenwärtigen Verhältnissen in der denkbar wirksamsten Weise ent¬
gegengearbeitet wird. Denn es wird nicht nur der Wert des in der Schule
deutsch erteilten Religionsunterrichtes im Gegensatz zu dem von der Geistlichkeit
in der Muttersprache erteilten Beicht- und Kommunionunterricht in den Augen
der nicht deutschredenden Bevölkerung in ungerechtfertigter Weise herabgedrückt,
sondern die deutsche Sprache verliert als Ncligionssprache überhaupt bei ihnen
ihren Wert gegenüber der Muttersprache. Polnisch oder mährisch beten und
singen, so schließen die Leute, ist verdienstlicher als deutsch beten und singen,
und polnischer oder mährischer Gottesdienst ist Gott wohlgefälliger als deutscher.
Und so wird bei der nicht deutschredenden Bevölkerung nicht nur der in der
Schule deutsch erteilte Religionsunterricht, sondern auch der deutsche Gottes¬
dienst und die deutsche Sprache überhaupt herabgesetzt, und die ganz müh¬
same Arbeit der Schule, deutsche Sprache und deutsches Wesen zu verbreiten,
durchkreuzt.
Die Staatsregierung hat sich denn anch längst diesen Erwägungen nicht
verschließen können und ist bei den beiden zuständigen höchsten Kirchenbehörden
der Provinz wegen Abhilfe vorstellig geworden. Während aber vom Konsistorium
in der bereitwilligsten Weise auf diese Wünsche der Negierung eingegangen
worden ist, sodaß von der evangelischen Geistlichkeit der Konfirmandenunterricht
jetzt in der ganzen Provinz im Anschluß an den in der Schule deutsch erteilten
Religionsunterricht nur in deutscher Sprache erteilt wird, hat man auf katho-
lischer Seite noch keine nennenswerten Änderungen wahrgenommen. Hie und
da haben einige wenige Geistliche den Anfang gemacht, den Beicht- und Kom-
munionunterricht nur in deutscher Sprache zu erteilen. Im allgemeinen ist es
jedoch beim Alten geblieben. Soll es aber mit der Förderung der deutschen
Sprache und des deutschen Wesens unter den Oberschlesicrn, die trotz ihrer
polnischen Sprache keine Polen sein wollen, vorwärts gehen, so ist es dringend
notwendig, daß auch von der katholischen Geistlichkeit das gleiche Entgegen¬
kommen gezeigt werde, wie von der evangelischen. Die Staatsregierung wird
sich daher der Verpflichtung nicht entziehen können, sobald der erledigte fürst-
bischöfliche Stuhl in Breslau wieder besetzt sein wird, mit allem Nachdruck auf
die Änderung der bisherigen Zustände zu dringen. Dadurch daß die Staats-
regierung im Nachtragsetat für 1886/87, um die deutschen Minderheiten in
gemischtsprachigen Bezirken zu erhalten, zur Gründung neuer, wie zur besseren
Ausstattung der bestehenden deutschen und gemischtsprachigen Volksschulen auch
für Oberschlesien eine nicht unbedeutende Summe ausgeworfen und mit aner¬
kennenswerter Beschleunigung diese Summe hierfür verwendet hat, ist dem
geschilderten Mißstände nicht abgeholfen worden. Es bleibt noch immer zu
erstreben, daß die Geistlichkeit der Weiterverbreitung der deutschen Sprache kein
Hindernis mehr in den Weg legt, sondern auch in dieser Beziehung die Absichten
der Staatsregierung, die ja lediglich im eigensten Interesse der gesamten Be¬
völkerung Oberschlesiens liegen, loyal unterstützt und fördert.
Aber auch in noch andrer Weise als durch die Volksschule wird die
Weiterverbreitung und Befestigung der deutschen Sprache in Oberschlesien zu
erstreben sein. Als eine sehr wichtige Hilfe wird dabei das Fortbildungsschul-
wcseu in Betracht kommen müssen.
Die Kenntnis der deutschen Sprache ist nämlich den mit vollendetem vier¬
zehnten Lebensjahre aus der Schule entlassenen Kindern nichtdeutscher Sprache
noch viel zu wenig in Fleisch und Blut übergegangen. Und zwar gilt dies
in der Regel noch mehr von den Kindern auf dem Lande, als von denen in
der Stadt, weil jene außerhalb der Schule oft kein deutsches Wort hören.
Bleiben nun solche Kinder in einer Gegend, in der die polnische Sprache die
ausschließliche Umgangssprache ist, so werden sie, da sie dort auch in der
Kirche selten Deutsch hören werden, bald ihre Kenntnis des Deutschen wieder
verlieren. Hier müssen die Fortbildungsschulen eintreten, und zwar sind die
ländlichen Fortbildungsschulen dazu eher nötig als die städtischen. Über die Not¬
wendigkeit der Fortbildungsschulen im allgemeinen noch etwas anzuführen ist
wohl überflüssig, wir wollen nur darauf hinweisen, daß erst auf der diesjährigen
allgemeinen deutscheu Leserversammlung in Gotha die Notwendigkeit der
Gründung städtischer Fortbildungsschulen einen^der Hauptgegenstände der Ver¬
handlungen gebildet hat. Was dort im allgemeinen über die Notwendigkeit der
Befestigung und Ergänzung der Schulkenntnisse durch die Fortbildungsschulen
gesagt worden ist, das gilt in besondern? Maße für Oberschlesien, wie für alle
gemischtsprachigen Gegenden und namentlich für die Landschulen derselben.
Wir haben schon gesehen, wie die Überfüllung der Schulen, Halbtags¬
unterricht, weiter und schlechter Schulweg die Arbeit der Lehrer an vielen länd¬
lichen Orten nicht unwesentlich beeinträchtigen. Die Folge hiervon ist eine un¬
vollkommene Ausbildung der Schüler, namentlich auch im Deutschen. Hier
erhaltend und ergänzend einzutreten, wird nun Sache der Fortbildungsschulen
sein müssen. Wenn die aus der Schule entlassene männliche Jugend noch drei
Jahre lang die Fortbildungsschule, wenn auch wöchentlich nur in zwei Stunden,
regelmäßig besucht, so wird sie ihre in der Schule gewonnene Fertigkeit im
mündlichen und schriftlichen Gebrauch der deutschen Sprache nicht so leicht ver¬
lieren, wie es jetzt so oft der Fall ist. Es ist manchmal geradezu überraschend,
wie schnell die aus der Schule entlassene Jugend das Deutsch wieder verlernt
hat. Wer gerichtlichen Terminen beiwohnt, kann sein blaues Wunder in
dieser Beziehung sehen. Forscht man weiter nach und erfährt man, daß solche
junge Leute bei ihrer Entlassung aus der Schule befriedigende Kenntnisse im
Deutschen gehabt haben, so findet man keinen andern Grund zur Erklärung
dieser Erscheinung, als den, daß die in der Schule erworbene Fertigkeit im
Gebrauch der deutschen Sprache, weil sie noch nicht fest und sicher gewesen ist,
gegenüber der polnischen Umgangs- und Kirchensprache bald wieder verschwunden
ist. Die Fortbildungsschulen würden sicher hiergegen einen schützenden Damm
bilden. Die Kosten derselben müßten vom Staate getragen werden. Sie
würden, da zur Erteilung dieses Unterrichts jeder Elementarlehrer befähigt ist,
nicht erheblich sein, sie würden sich unsrer Meinung nach auch bezahlt machen,
da durch die Einrichtung von Fortbildungsschulen, namentlich von ländlichen,
der Weiterverbreitung der deutschen Sprache mehr Vorschub geleistet werden
würde, als durch Gründung neuer Landschulen und durch Vermehrung der
Lehrerstellen an den bestehenden Schulen. Wenn diese zu errichtenden länd¬
lichen Fortbildungsschulen erfolgreich wirken sollen, so ist freilich notwendig, daß
sie von den Schülern auch regelmäßig besucht werden. Da wir für obligatorische
Fortbildungsschulen nicht besonders eingenommen sind, weil bis jetzt die gesetz¬
liche Handhabe fehlt, um die Zucht in einer solchen von widerwilligen Elementen
besuchten Schule aufrecht zu erhalten, so ist es von der größten Wichtigkeit,
daß der Lehrplan und der Unterricht in den Fortbildungsschulen derartig ein¬
gerichtet werden, daß die Schüler aus eignem Antriebe diesen Unterricht regel¬
mäßig besuchen, oder daß die Eltern oder Dienstherren sie von selbst und un¬
gezwungen hinschicken. Als ein sehr zweckmäßiges Mittel dürfte sich hierzu
empfehlen, den Unterricht so einzurichten, daß er den praktischen Bedürfnissen
der zukünftigen Lebensstellung der Schüler genügt, daß sie etwas lernen, was
von unmittelbarem praktischen Nutzen für sie wäre. Es müßten daher einiges
aus der Landwirtschaftslehre, also einfache Bodenkunde, Kenntnis und Anbau
der wichtigsten einheimischen Kulturpflanzen, Pflege und Zucht der landwirt¬
schaftlichen Haustiere, das Wichtigste über die Krankheiten der letzteren und die
bei solchen gesetzlich geforderte Anzeigepflicht Lehrgegenstände sein, die neben
Deutsch und Rechnen, letztere beiden immer in Beziehung auf die Bedürfnisse
des praktischen Lebens, im Unterrichtsplan keiner ländlichen Fortbildungsschule
fehlen dürften. Einiges über allgemeine Gesundheitslehre und über die bei an¬
steckenden Krankheiten erforderliche Desinfektion würden sich anzuschließen haben.
Durch einen derartig eingerichteten Lehr- und Unterrichtsplan würden sich die
ländlichen Fortbildungsschulen sehr bald bei den Eltern oder Dienstherren in
Gunst setzen, sie würden dann auch die deutsche Sprache, in der selbstverständlich
unterrichtet werden muß, zu Gunst und Ansehen bringen. Natürlich soll es dem
Lehrer unbenommen sein, auch idealere Zwecke im Unterricht der ländlichen
Fortbildungsschule zu verfolgen. Ja es wird von ihm sogar gefordert werden
müssen, ab und zu bei passenden Gelegenheiten den Patriotismus seiner Schüler
durch Heranziehung der ruhmreichen Geschichte unsers Volkes zu wecken und sie
mit Liebe zu Kaiser und Reich, zum angestammten Herrscherhause und zum
Vaterlande zu erfüllen.
Das sind im wesentlichen die Grundzüge, wie wir die ländlichen Fort¬
bildungsschulen eingerichtet sehen möchten.
Endlich wollen wir nicht unerwähnt lassen, daß auch die deutsche Heeres¬
verwaltung nicht unwesentlich zur Verbreitung deutscher Sprache und deutschen
Wesens beitragen kann und in der That beiträgt. Infolge der allgemeinen
Wehrpflicht muß jeder waffenfähige junge Mann drei Jahre bei der Fahne
dienen. Wenn nun bisher schon die gedienten Leute durch ihre Kenntnis der
deutschen Sprache sich vorteilhaft vor den nicht gedienten auszeichneten, so wird
dies in Zukunft noch viel mehr der Fall sein, nachdem vom Kriegsministerium
die Anordnung getroffen worden ist, daß die Rekruten nicht deutscher Mutter¬
sprache ihre Militärpflicht in deutschen Garnisonorten ableisten müssen. Der
stete Verkehr mit nur deutschsprechenden Leuten wird ihnen in höherm Maße
deutsche Sprachfertigkeit gewähren, als sie sie in Garnisonorten erlangen
konnten, wo ihnen Gelegenheit geboten war, im Verkehr mit Zivilpersonen auch
ihre Muttersprache zu benutzen. Von dieser neuerdings getroffenen Anordnung
ist in Zukunft für die Germanisirung Oberschlesiens viel zu hoffen.
Wir haben bisher diejenigen Maßnahmen besprochen, die unsrer Meinung
nach von der Staatsregierung ernstlich in Anwendung gebracht werden müssen,
um in Oberschlesien die Verbreitung der deutschen Sprache und deutschen Wesens
in höherm Maße als bisher zu befördern^ Aber auch Vonseiten der deutschen
Bevölkerung Oberschlesiens muß noch manches geschehen, um die Bestrebungen
des Staates in dieser Beziehung zu unterstützen. Wir haben schon ausgeführt,
daß ein großer Teil des Grund und Bodens in Oberschlesien zu dem Areal
der Rittergüter gehört. Diese befinden sich fast ausnahmslos in deutschen
Händen. Obwohl nun diese deutschen Besitzer schlechterdings keine Sympathie
für das Polnische haben, ja obwohl ihnen dieses vielfach sogar unbequem und
lästig ist, so wird doch merkwürdigerweise von den Beamten derselben, die
wieder fast ausnahmslos Deutsche sind, mit den Arbeitern in der Regel
nur polnisch gesprochen. Daß dadurch die deutsche Sprache nicht gefördert
werden kann, liegt auf der Hand. Es mag ja unter Umständen für den be¬
treffenden Beamten bequemer sein, seine Befehle kurz polnisch zu geben, als sie
deutsch zu umschreiben. Aber soll es mit der deutschen Sprache weiter vor¬
wärts gehen, so wird auch hier Wandel geschaffen werden müssen. Der Anfang
hierzu mag ja etwas anstrengend sein, aber wenn beharrlich deutsch gesprochen
wird, so werden die Arbeiter, bei dem angebornen Geschick, das alle Nach¬
kommen slawischer Nationalität für fremde Sprachen haben, und bei der Unter¬
stützung, die jetzt hierin die Schule gewährt, bald deutsche Befehle ebenso leicht
verstehen wie polnische. Ganz ebenso verhält es sich mit den deutschen Ge¬
schäftstreibenden, Fabrikbesitzern und Handwerkern. Auch diese müßten im Ver¬
kehr mit ihren polnisch sprechenden Arbeitern und Dienstboten immer nur die
deutsche Sprache gebrauchen. Auch bei der Eisenbahnverwaltung, beim Forst¬
fach und in der Bergwerks- und Hüttenverwaltung müßte dieser Gebrauch streng
durchgeführt werden. Wie sorglos in dieser Beziehung oft verfahren worden
ist, wollen wir nur an einem Beispiele zeigen. Bis vor kurzer Zeit ist, wie bei
Gelegenheit amtlich zur Kenntnis gekommen ist, selbst in einer Anzahl fiskalischer
Berg- und Hüttenwerke von einigen königlichen Beamten gegenüber den Ar¬
beitern vielfach die polnische Sprache gebraucht worden, obwohl es doch eigentlich
selbstverständlich gewesen wäre, daß dort deutsch gesprochen und hierdurch das
Bestreben der Regierung, die deutsche Sprache weiter zu verbreiten, unter¬
stützt worden wäre.
Kämen die angeführten Maßnahmen in Kirche, Schule und Verkehr streng
und allseitig zur Durchführung, so würde spätestens in einem Menschenalter in
Oberschlesien wohl kaum noch ein Mensch gefunden werden, der des Deutschen
nicht mächtig wäre. Aber nur durch Anwendung der von uns angeführten
Mittel und auf keine andre Weise ist es möglich, Oberschlesien in friedlicher
Weise und ohne jede Anwendung von Zwangsmitteln dauernd und sicher für
die deutsche Sprache und das Deutschtum zu gewinnen.
is die Folgen der großen französischen Staatsumwälzung auch
im deutschen Leben sich immer mehr in störender Weise fühlbar
machten, klagte Goethe, daß das Franztum jetzt, so wie es einst
das Luthertum gethan habe, ruhige Bildung zurückdränge. Diese
Worte sind lange Zeit vorwiegend so gedeutet worden, als ob
sich in ihnen der Ärger des „Kuustgreiscs" Luft mache, der es unangenehm
empfand, daß der Wellenschlag einer mächtigen politischen Bewegung die Zirkel
feiner ästhetischen Weltbetrachtung durchbrach. Nachdem wir dnrch Clemens
Theodor Perthes und Ludwig Häußer, besonders aber ganz neuerdings durch
Woldemar Wenck von den geistigen Zuständen Deutschlands beim Ausbruch der
Revolution ein volleres und richtigeres Bild erhalten haben, tritt auch das
Goethische Urteil in eine andre Beleuchtung und dürfte jetzt als umfassender
Ausdruck geschichtlicher Wahrheit auch solchen erscheinen, deren persönliche
Neigung mehr der politischen That, als der künstlerischen Betrachtung zugekehrt
ist. In den Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ist für
Deutschland das Geburtsdatum jener Macht zu setzen, die im modernen Staats¬
leben regelmäßig als die entscheidende angerufen wird — der öffentlichen Meinung.
Ihrem Erstarken entspricht das Wachstum einer politischen Presse. Aber nicht
bloß auf dem Gebiete der Publizistik, sondern im gesamten staatlichen Leben der
Deutschen können nur mit Erstaunen die Fortschritte wahrgenommen werden,
mit denen unser Volk am Vorabende des Bastillenstnrmes den einst so viel be¬
wunderten und thöricht nachgeahmten westlichen Nachbar endgiltig überholt zu
haben glaubte. Mehr als nur geschichtlichen Wert darf eine Betrachtung be¬
anspruchen, welche aufzeigt, in welchen besondern Richtungen jener erfreuliche
Aufschwung des staatlichen und nationalen Lebens zur Geltung gekommen war
und wo dann doch das Verhängnis begründet lag, durch welches unser Vater¬
land nochmals, und in stärkerem Maße als je vordem, französischem Über¬
gewicht unterworfen werden sollte.
Dem Beispiel Friedrichs des Großen, seinen Thaten als Feldherr und
Regent war vor allem die Wendung zum Bessern zu danken, welche das deutsche
Leben seit Beginn der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts aufweist.
Preußen vornehmlich hatte sich als Musterstaat des Fortschritts bewährt, und
hier hatte sich eine staatliche Gesinnung, ein gemeinsames Volksbewußtsein aus¬
gebildet — preußisch und zugleich deutsch —, wie es anderwärts nicht zu finden
war. Aber auch in Süddeutschland war der Name eines Patrioten zu Ehren
gekommen. Ein freudig patriotisches Bewußtsein spricht sich in den Worten aus,
mit denen Christian Daniel Schubart im Jahre 1774 zu Augsburg seine
„Deutsche Chronik" eröffnete. „Haben wir jemals — sagt hier der später so
unglücklich gewordene Dichter und Publizist — Ursache gehabt, stolz auf unser
Vaterland zu sein, so ist es gewiß der gegenwärtige Zeitpunkt. Der Ausländer
blickt itzo mit Neid auf eine Nation hin, die er sonst durch Ränke und Moden
zu bezwingen suchte, aber niemals bezwang. Wir, die wir sonsten zur knech¬
tischen Herde der Nachahmer hinabgestoßen wurden, stehen nun als Kolosse auf
europäischem Boden und werden an Mut und Genie Originale vor unsern
Nachbarn. Wir haben einen Kaiser Josef und einen König Friedrich, die, auf
jeder Seite betrachtet, die Einzigen in der Welt sind." Das deutsche Selbst¬
bewußtsein scheute nicht mehr den Vergleich mit den Fremden, im Gegenteil,
wenn unsre Vorzüge gegen die jeder andern Nation in die Wagschale geworfen
wurden, so schien die Entscheidung zu unsern Gunsten zu fallen. Allerdings
tritt auch sofort in charakteristischer Weise hervor, daß vornehmlich auf persön¬
liche Eigenschaften Gewicht gelegt wurde; sonst hätte der Zweifel sich melden
müssen, ob Deutschland nicht mit einem großen Herrscher besser fahren würde,
als mit zweien. So viel war noch übrig vom einheitlichen Reichsgedanken,
daß diese Erwägung nicht ganz außerhalb des Gesichtskreises der Zeit blieb.
Ruft doch Schubart selbst an einer andern Stelle aus: „Ich bin Cäsarianer!"
Aber freilich, die Größe seines Friedrich, dem er von Kindesbeinen an, neben
Klopstock, die glühendste Bewunderung gezollt hatte, hätte Schubart darum
nicht missen mögen. Ja für eine ferne Zukunft wagte er sogar den Traum
zu träumen, daß einem andern Friedrich alle diese Macht zufallen würde, die
jetzt nur vom deutschen Namen umfaßt wurde. Ein politisches Phantasiegemälde
des Franzosen Mercier, betitelt „Das Jahr 2440," hatte damals viele Leser ge¬
funden. Schubart macht in seiner Chronik (Jahrgang 1776, S. 587) darauf
aufmerksam, daß schon früher in ähnlicher prophetischer Weise ein Engländer
ein Leben Georgs VI., eine Chronik des zwanzigsten Jahrhunderts, geschrieben
habe. Und der Engländer, meint Schubart, übertreffe den Franzosen an Wahr¬
scheinlichkeit der Schlüsse bezüglich der Veränderungen, welche bis zu dem von
ihm herausgegriffenen Zeitpunkte in den europäischen Zuständen eingetroffen sein
würden. Unter den angeführten Phantasien interesstren uns heutzutage vor¬
nehmlich zwei: „In Italien herrscht ein König in Venedig und ein König in
Neapel, der nun seinen Thron in Rom aufschlug und dem Bischof manchmal
die Ehre erweist, ihn zur Tafel zu ziehen. In Teutschland herrscht Kaiser
Friedrich, der die preußischen und österreichischen Staaten zusammen besitzt, die
Schweiz eroberte und die Türken aus Europa drängte. Alle Kurfürstentümer,
Herzogtümer, Fürstentümer, Freistaaten sind verschwunden. Elsaß und Loth¬
ringen sind wieder teutsche Provinzen." Den Ideen der Zeit gemäß ist der
hier geträumte Friedrich nicht als Nachfahre der Staufer, sondern jedenfalls als
Hohenzoller zu denken, aber erst im zwanzigsten Jahrhundert soll ihm all diese
Herrlichkeit eines neu erstandenen, von Grund aus umgestalteten deutschen
Kaisertums zufallen. Die Hohenzollern sowohl wie die deutsche Nation hatten
somit noch lange Zeit, um zum Ziele zu kommen, sie brauchten sich nicht gar
zu sehr zu beeilen und sich über den sichersten und kürzesten Weg den Kopf zu
zerbrechen. Vor der Hand konnten auch weiter schauende Patrioten sich dabei
beruhigen, daß, wenn die Häuser Habsburg und Brandenburg nur wollten,
Deutschland einig und die geeinte Macht desselben jedem auswärtigen Gegner
gewachsen war.
Dieses Verhältnis des Hand in Hand Gehens der beiden führenden Mächte
malt sich der Patriot mit besondrer Vorliebe aus. Hoch erfreut ist der Ver¬
fasser der „Deutschen Chronik," wenn er am Schlüsse des Jahres 1775 aus¬
rufen darf: „Deutschland, von Josef und Friedrich bewacht, mitten im Frieden
von einer halben Million Krieger beschützt!" Mit Begeisterung stellt er sich
schon eine Verbrüderung auch zur See vor. „Es scheint, schreibt er (1775,
S. 242), als wenn wir jetzt auf einmal zwei deutsche Seemächte bekommen
sollten.
Schon ziehen sie in Sturm und Wetter
Heran; Neptun, erhebe dich!
Empfang des Meeres neue Götter:
Josef und Fricoerich!
In Ostende und Niepoort macht der Kaiser alle Anstalten, eine Flotte zu er¬
richten. Dies hat die Holländer so aufmerksam gemacht, daß sie nicht nur die
Ausfuhr alles Schiffgerätes, sondern auch ihren Einwohnern verboten haben,
einer fremden Macht zur See zu dienen. In den preußischen Häfen Stettin,
Memel und Emden sind bereits verschiedne Schiffe zum Auslaufen fertig, und
wenn Friedrich noch Danzig bekommt, so wird's ihm ein Leichtes sein, eine
Seemacht zu errichten, die in kurzem der russischen gleichkommt. Dann sollen's
fremde Nationen mit Staunen erfahren, was deutscher Mut auch auf'in Meere
vermag. Auch von uns wird's dann heißen:
Sie siegen in der finstern Schlacht,
Wo Schiff an Schiff sich donnernd legt."
Durch die Siege Friedrichs hatte die ganze Nation wieder das Vertrauen
zu ihrer kriegerischen Tüchtigkeit gewonnen. Im Jahrgang 1775 der „Chronik"
(S. 155) urteilt Schubart: „Die Vorzüge der Deutschen vor andern Nationen
sind nirgends auffallender, als in der Kriegskunst. Daher sind auch deutsche
Offiziere in der ganzen Welt willkommen. Welches Land kann uns Friedriche,
Heinriche. Ferdinande, Londons, Zieten und noch andre unsterbliche Helden
entgegensetzen? Sonst rühmten sich die Franzosen, die größten Meister in der
Kriegskunst zu sein. Aber jetzt!" Auch sonst sehen wir auf allen möglichen
Gebieten der Erfindung den deutschen Geist den Vorrang behaupten. „Wenn
der Ausländer uns phlegmatische Kerls nennt, uns Genie und Witz abspricht
und uns gern unter der Sklavenherde der Nachahmer zum Thore 'naustreiben
möchte, und wir dann dastehen und auf die Brust schlagen und sprechen: Habt
ihr auch erfunden, was wir erfunden haben? so muß er uns mit Ehrfurcht
ansehen und Gott danken, wenn wir nur Kameraden mit ihm sein wollen. Der
Kerl hat's Pulver nicht erfunden, pflegt man im Sprichwort von einem dummen
Menschen zu sagen, aber wir Haben's erfunden. Die ganze Geschützwissenschaft
ist unser; die Buchdruckerkunst ist unser; die Kupferstecherkunst und Sammetstich
und Holzschnitt sind unser. Ha, majestätische Orgel, du bist unser Geschöpf
und auch du, zärtlich girrendes Klarinett! Wir haben Göttergebäude hingetürmt
und den Riß, wie Gott, als er Welten schuf, aus uns selber genommen; der
Sklave der Säulenordnungen nennt sie gotisch, aber der Seher, der wie Goethe
sieht, bleibt staunend vor diesen Gebäuden stehen und bemerkt die lichthellen
Züge altdeutscher Geisteskraft. Und noch giebt's große Seelen unter uns, die
so lange in die Nacht hineinschauen, bis es dämmert oder bis ein Flämmlein
auffährt, das den umnachteten Pfad beleuchtet. Eben dieses stete Hirschauer,
eben diese Geduld und dies Harren, das den Erfinder und Entdecker charak-
terisirt, ist unser Eigentum und hebt uns über alle Nationen der Welt empor."
Angesichts solcher Überlegenheit des deutschen Geistes glaubt Schubart die
Hoffnung begründet, daß die deutsche Sprache auch in aristokratischen und fürst¬
lichen Kreisen, wo sie noch so vielfach hinter die französische zurückgesetzt wird,
sich bald die gebührende Geltung verschaffen werde. „Die regierende Mark¬
gräfin von Baden-Durlach, Klopstocks große Beschützerin, gehört uuter die ein¬
sichtsvollste» nud belesensten Damen der Welt, und hält sich nicht für zu groß
und vornehm, deutsch zu können" (1774, S. 443).
War überhaupt französische Sprache und Literatur noch von Nöten, um
Lücken unsrer eignen Bildung auszufüllen oder um für die Nacheiferung der
Deutschen Muster und Vorbild abzugeben? Leibniz, Thomasius, Gottsched u. a.
hatten in patriotischem Sinne das Studium und die Nachahmung der Franzosen
empfohlen, damit ihre Landsleute umso rascher dazu gelangen sollten, es ihnen
gleichzuthun. Und noch nicht lange war es her, daß Voltaire gemeint hatte,
mehr Geist und weniger Konsonanten, dies wäre die Voraussetzung, unter
welcher es die Deutschen möglicherweise auch in der Literatur zu etwas bringen
könnten. Im Jahre 1774 aber, als Schubart seine Chronik anfing, hatte ein
Süddeutscher in den „Leiden des jungen Werthers" und ein Norddeutscher in
der „Lenore" gezeigt, daß deutscher Geist und Konsonantensprache Werke schaffen
konnten, denen an Ursprünglichkeit, Tiefe und zauberischer Gewalt nichts Fran¬
zösisches zu vergleichen war.
Freilich in Sitten und Gebräuchen, in Mode und Tand steckte noch überall
des Französischen übergenug. Und gerade hier entlädt sich am heftigsten Schu-
barts patriotischer Zorn. Macht es ihm doch immer ganz besondres Vergnügen,
den windigen Rokoko-Franzosen und seinen noch windigeren Nachäffer in Gegen¬
satz zu stellen zum Kerndeutschen, zu „ganzen Kerls," wie etwa Klopstock, Fritz
Stolberg oder Goethe. Das Franzosentum, wie es chcirakterisirt ist durch die
Namen der Pompadour und Dübarry, ist die ständige Zielscheibe seines Spottes
und Hohnes. Daß der deutsche Adel sich noch immer nicht dieser zu seichter,
schwächlicher, weibischer Afterbildung ausgearteten Kultur entziehen will, ist
der Hauptvorwurf. den Schubart gegen die deutsche Aristokratie erhebt, deren
Rechte und Vorrechte er sonst zu achten geneigt ist. „Ich hab' es gesehen,
welchen elenden Leuten unser Adel seine Kinder zur Erziehung anvertraut. Der
Kerl darf nur eine Drahtpuppe sein, in modischen Kleidern stolziren, ein gut
gekräuseltes Haar haben, dem Unsinn seines gnädigen Patrons Beifall zunicken,
der gnädigen Fran am Pntztisch ein Feenmärchen vorlesen und mit ihrer
Kammerjungfer vertraut sein, so ist er der beste Hofmeister von der Welt. Da
schießt denn der Innrer wie ein Pilz neben ihm auf, weiß nichts von Gott,
Weisheit und Tugend — genug, das Herrchen ist alle Tage frisirt, schießt
Spatzen, familiarisirt sich mit seinen Hunden, tanzt ein Menuett, klimpert was
Ärmliches auf dem Klavier und leckt den ankommenden gnädigen Fräuleins
sehr artig die Hände. Und bei diesen Leuten soll der Schriftsteller den guten
Ton studiren? Daß Gott erbarm!"
Das wirkliche und ernsthafte staatliche Leben hatte sich im vorigen Jahr¬
hundert aus dem Reiche und seinen Organen beinahe ganz zurückgezogen in die
einzelnen Territorien, die je nach ihrer verschiedenen Größe, Art und Beschciffeu-
heit freilich ein sehr verschiedenes Bild darboten. Sofern eigentliche staatliche
Thätigkeit in Frage kommt, haftet daher der Blick des patriotischen Publizisten
vorzugsweise an den Handlungen der halb- oder mehr als halbsonveräncn
Partikulargewaltcn. Hier trat nun freilich ganz besonders die Zweiseitigkeit
der Zeit und ihrer Entwicklung zu Tage. Es war die Zeit des aufgeklärten
Absolutismus. Unendlich viel, ja beinahe alles hing bei dieser Regierungsform
von der Persönlichkeit des Regenten ab. War dieser wohlwollend und tüchtig,
so mochte das Volk sich nicht wohl etwas Besseres wünschen, als einen solchen
Landesvater; kam das Regiment an einen herzlosen Egoisten und Lüstling, so
war es, als ob Land und Leute einem Räuber in die Hände gefallen wären.
Im Vergleiche mit Frankreich gewährte die Vielherrschaft im deutschen Vater¬
lande den Patrioten den Trost, daß doch von so vielen Staatsoberhäuptern
nicht alle zugleich schlecht sein könnten. In der That hat Deutschland gerade
in dieser Zeit, sogar auch in geistlichen Staaten, eine Reihe von regierenden
Herren auszuweisen, deren Andenken verdient, in Ehren gehalten zu werden,
auch ganz abgesehen von Friedrich und der großen Habsburgerin Theresia. Da
gab es denn viel Löbliches und Erfreuliches zu berichten von Maßnahmen
einer aufgeklärten Verwaltung, einer vorsorglicher Polizei und einer aufs all¬
gemeine Wohl bedachten Volkswirtschaftspflege. Wer einmal, wie Schubart und
wie die ungeheure Mehrheit der gebildeten Deutschen jener Zeit, die Monarchie
in der Form unumschränkter Fürstengewalt grundsätzlich als die den kontinen¬
talen Zuständen angemessenste Regierungsform betrachtete, der durfte wohl
stolz sein ans mauches, was in gut regierten deutschen Ländern doch weit
besser war, als in dem durch Druck und Willkür des Hofes, durch Mätressen¬
regiment und einen sittlich verkommenen Hofadel heruntergebrachten Frankreich.
In rührender Weise erzählt die Chronik vom 20. November 1775: „Die Unter¬
thanen des Fürsten von Dessau sollten im letzten deutschen Kriege eine starke
Kontribution bezahlen. Das wird ihnen weh thun, dachte der edelmütigste
Fürst. Verkaufte sein Silberzeug, Juwelen und andre Kostbarkeiten und zahlte
die Summe selbst, und da er die Not seiner Unterthanen erkannte, verließ er
sein Land und reiste einige Jahre als bloßer Kavalier, in der Absicht, seinem
Volke die Abgaben zu ersparen und Schulden, die er nicht gemacht hatte, ab¬
zutragen." Das Ideal einer wohlwollenden und aufgeklärten Verwaltung
aber lag dem Chronikschreiber, namentlich seit das Blatt in Ulm herauskam,
ganz in der Nähe. Es ist die Verwaltung Karl Friedrichs in der Markgraf¬
schaft Vadeu-Durlach. „Dorther — schreibt Schubart (1774, S. 447) — er¬
halten wir in drei Bänden eine vollständige Sammlung aller Baden-Dnrlachscheu
Anstalten und Verordnungen, von Herrn Gerstlacher gesammelt und mit einer
sehr lehrreichen Vorrede herausgegeben. Diese Anstalten und Verordnungen
verbreiten sich über die wichtigsten Gegenstände des Staates, über Kirchen- und
Schulwesen, über das Leben und die Gesundheit der Menschen, die Versorgung
der Armen und Steuerung des Bettels, die innere Landessicherheit, die Ver¬
sorgung der Witwen und Waisen, die Verhütung der Feuersgefahr und Ent¬
schädigung der durch Brand verunglückten, die Förderung der Kommunen, die
Erhaltung der Wege und Straßen, die Beförderung des Nahrungsstandes und
der Landwirtschaft und endlich die Pflege der Professionen und Handwerke.
Baden-Durlach gehört seit der weisen Regierung des jetzigen Fürsten unter die
glücklichsten und am besten eingerichteten Staaten der Welt, sodaß andre
Provinzen mit nachahmender Eifersucht darauf Hinblicken. Was der spekulative
Weise bei der nächtlichen Lampe wünscht und niederschreibe, ist hier verwirklicht.
Welche Anstalten zur Glückseligkeit des Volkes! Welche bis ins kleinste ausge¬
arbeitete Polizei! Das beste, herrlichste Kollegium, das man über die Polizei
und Kameralwissenschaften lesen kann, ist wohl diese Sammlung. Alles läßt sich,
mit geringer Änderung, auf jeden Staat anwenden. Heil dir, Karl Friedrich,
vor Gott und allem Volke!" Am 7. Dezember 1775 wird hervorgehoben, daß
das Beispiel Karl Friedrichs erst kürzlich Nachahmung gefunden habe durch
vortreffliche Polizeieinrichtungen in Wien, München und Mannheim. Von jener
Opposition gegen Vielregiererei und jenem Widerstreben gegen büreaukratische
Bevormundung und überflüssige Belästigung durch polizeiliches Reglementiren,
welches später einen Hauptzug des deutschen Liberalismus ausmachte, ist bei
Schubart, der sich doch persönlich gern in „genialischer" Freiheit des Lebens auf¬
lohte, keine Spur zu finden. Er befreundet sich mit der Zensur, wenn diese von der
guten Absicht geleitet ist, unsittliche und pfäffisch verdummende Bücher zu unter¬
drücken. Manche Willkürmaßregel Josefs II. findet darum seinen vollen Beifall.
Von Ludwig XVI. rühmt er, daß vernünftige Sparsamkeit aus allen seinen
Anstalten hervorleuchte. „Da der Franzose bisher nur zu viel seinem Vergnügen
aufopferte, so will der König einen großen Teil des Aufgewendeten zum all¬
gemeinen Besten verwenden. Er will diesem leichtfertigen Volke Gutes thun,
wenn es sich auch dagegen sträubt." Von diesem Standpunkte aus werden
Luxusgesetze und Kleiderordnungen gepriesen. Ja der Landgraf von Hessen
wird höchlich belobt, weil er eine Verordnung erlassen hat des Inhalts: daß
in Zukunft niemand von Bürgern oder Bauern, noch auch ein herrschaftlicher
Livree-Bedienter seine Kinder von den gemeinen Hantirungen ab- und zum
Studiren oder zu dem Stande der sogenannten Honoratiorum erziehen solle,
er habe denn vorher hinlängliche Attestata von der Fähigkeit, Talenten u. s. w.
beigebracht und die hohe gnädigste Einwilligung dazu erhalten. „Möchte doch
— ruft Schubart aus — diese Verordnung in unserm lieben Vaterlande allgemein
werden! Warum sind wir mit so vielen Stümpern und Dünnungen im Reiche
der Gelehrsamkeit überschwemmt? Weil nicht der Staat, sondern der Vater
über die künftige Bestimmung seines Sohnes entscheidet." Dem Staate war
der aufgeklärte Patriot jener Zeit bereit, alles zuzugestehen, wenn nur der
Staat selbst und sein Herrscher aufgeklärt waren. Hierin mag wohl der Haupt¬
grund zu suchen sein, warum Schubart, der die Schattenseiten fürstlicher Will¬
kürherrschaft zu beobachten hinlängliche Gelegenheit hatte, der überdies an mehr
als einem Orte die Freiheit Englands und den Charakter des freien Engländers
preist, doch niemals auf eine verfassungsmäßige Beschränkung der monarchischen
Gewalt auch nur leise hindeutete. Wenigstens nicht in den Jahrgängen 1774—77
seiner Chronik, welche vor seine zehnjährige Gefangenschaft auf dem Asperg
und vor die französische Revolution fallen. Daß eine solche Andeutung dem
Chronisten zu gefährlich erschienen wäre, ist nicht anzunehmen; einem Schrift¬
steller von Schubarts Federgewandtheit mußte es ein Leichtes sein, für einen
derartigen Gedanken — wenn nur der Verfasser selbst im klar bewußten Besitz
desselben war — eine unverfängliche Einkleidung zu finden. Die Sache ist
umso auffälliger, da Schubart ein Schwabe war und, nach mehrjährigem Aufent¬
halt in der herzoglichen Residenz Ludwigsburg, ein halber Württemberger. In
Württemberg aber hatte sich eine auf Vertrag vom Jahre 1514 beruhende
landständischc Verfassung erhalten, deren Gerechtsame soeben gegen willkürliche
Eingriffe des Herzogs Karl Eugen mit großer Hartnäckigkeit verteidigt worden
waren, was zu einem Konflikt führte, der erst nach vieljühriger Dauer durch
ausländische Vermittlung leidlich beigelegt wurde. Schubart thut der württem-
bergischen Verfassung und des württembergischen Verfassungsstreites nirgends
Erwähnung, nicht mit einem einzigen Worte. Offenbar sah die öffentliche
Meinung der damaligen Zeit in dieser Verfassung und dem ihr zu Grunde
liegenden Tübinger Vertrage uicht, wie wir heute zu thun geneigt wären, die
entwicklungsfähige Grundlage eines Rechtsstaates, man erblickte darin nur die
wohlerworbene» Vorrechte einzelner Klaffen von Privilegirten. Der moderne
konstitutionelle Gedanke kam als revolutionäre Offenbarung aus Frankreich
herüber; man forderte jetzt nicht selten mit Ungestüm als Menschenrecht, was
man da, wo es als Vertragsrecht bestand, mit kaltem und gleichgiltigem Auge
betrachtet hatte. Vor der Revolution galt bei dem aufgeklärten Deutschen, wie
er durchschnittlich war, die Abwesenheit konstitutioneller Bürgschaften ebenso¬
wenig als ein Mangel und als Zeichen unentwickelten staatlichen Bewußtseins,
als man ein Gefühl dafür hatte, wie wenig das ewige Bevormunden und
Dreinreden der Polizei geziemend sei für die Würde des reifen Mannes und
selbständigen Staatsbürgers.
-lustitig. t'unäawMwlli i-LMoruni. In grausamster Weise sollte Schubart
durch eignes Schicksal belehrt werden, was ein Staat sei, dessen Grundlage
nicht gefestigt ist durch unverbrüchliche Grundsätze des Rechtes. Am 23. Ja¬
nuar 1777 ließ der Herzog von Württemberg den unbequemen Zeitungsschreiber,
nachdem er ihn vom sicheren Ulmischen Gebiete hatte weglocken lassen, durch
seiue Schergen „gefänglich niederwerfen" und nach der Festung Asperg schleppen.
Ohne je vor einen Richter gestellt zu werden, ohne je mit einem Worte zu er¬
fahren, womit er den Herzog so sehr erbittert hatte, brachte der unglückliche
Gefangene zunächst 377 Tage in einem finstern, dumpfen Mauerloche zu, von
allem Verkehr mit menschlichen Wesen abgeschnitten, und dann unter etwas er¬
leichterten Bedingungen noch weitere neun Jahre im gewöhnlichen Festungs¬
kerker. Den menschenfreundlichen Bemühungen des Grafen Hertzberg und des
Preußischen Hofes gelang es endlich im Jahre 1787, Schubarts Befreiung zu
erwirken. Mit derselben launenhaften Willkür, mit welcher der wttrttembergische
Despot den Mann, dessen Wort oder Feder ihn gereizt haben mochte, zu un¬
menschlicher Kerkerqual verurteilt hatte, ernannte er ihn jetzt zu seinem Musik¬
direktor, zum Hof- und Theaterdichter, und gestattete ihm, die „Chronik" zensur¬
frei fortzusetzen. Schubart, stets den Eindrücken des Augenblickes offen, war
jetzt mit dem Herzog wieder vollkommen ausgesöhnt. Seine Chronik verriet in
Ton und Manier gegen früher kaum eine Änderung. Nicht ohne einige Über¬
raschung wird man wahrnehmen, daß das Urteil, obwohl es unmittelbar unter
den Augen des Herzogs geäußert wird, an manchen Stellen freier und unum¬
wundener, in der Form derber hervortritt, als dies früher der Fall gewesen
war. In den zehn Jahren, die Schubart auf der Festung zugebracht hatte,
hatte die publizistische Presse in Deutschland und die Freiheit der Meinungs¬
äußerung gewaltige Fortschritte gemacht. Und drüben über den Vogesen grollte
schon vernehmlich genug der Vulkan, dessen furchtbar großartiger Ausbruch bald
die Aufmerksamkeit aller Völker Europas und der Deutschen insbesondre in
solchem Maße in Anspruch nehmen sollte, daß darüber lange Zeit ganz ver¬
gessen wurde, was die Deutschen bis dahin selbständig und von unmittelbaren
französischen Einflüssen unabhängig mit Bezug auf Staat und Gesellschaft
gedacht, erstrebt und geleistet hatten. Die Welt hat sich gewöhnt, mit dem
Vastillenftnrm vom 14. Juli 1789 den Anbruch einer neuen Zeit zu datiren und
die gesamte fortschrittliche Bewegung der Neuzeit von dem Anstoße herzuleiten,
den der tiers stg,t> durch sein Auftreten in der Nationalversammlung zunächst
dem französischen Volke gegeben hatte. Es gleicht beinahe der Wiederentdeckuug
eines verschollenen Landes, wenn die Geschichtsforschung heutiger Zeit das Ge¬
dächtnis der Männer, der Gedanken und Bestrebungen wieder auffrischt, welche
auf deutschem Boden vor 1789 jene „ruhige Bildung" herbeigeführt haben,
die durch das Franzium erst zurückgedrängt und dann gar in Vergessenheit
gebracht worden ist. Vergessenheit ist die härteste Strafe, welche die Gerechtig¬
keit der Geschichte zuerkennt. Ganz schuldlos wird sich keiner bekennen dürfen,
der dieser Strafe verfallen ist. Die Schuld des Geschlechtes, welchem Schubcirt
angehört, die Schuld, welche den schwäbischen Publizisten ganz insbesondre trifft,
lag in dem Mangel einer Vertiefung des nationalen Gedankens. Weil alle
diese Männer, so Vortreffliches sie im einzelnen gedacht und erstrebt haben
mochten, doch uicht die staatliche Einheit als notwendiges und höchstes Ziel
aller nationalen Bestrebungen erfaßt haben, deswegen konnte der Sturm aus
Westen, entfesselt von einem Volke, das im einheitlichen Nationalstaate sein
höchstes Gut erblickte, alles wegfegen, was an politischen Ideen und Bestre¬
bungen in Deutschland minder tief gewurzelt dastand. In welcher Weise von
Schubcirt und seinen Zeitgenossen das „Nationalinteresse" aufgefaßt wurde,
davon kann sich das heutige Geschlecht in Deutschland schwer eine Vorstellung
machen. Es verlohnt sich der Mühe, näher zu betrachten, was die „Chronik"
von 1787 (S. 181) in dieser Hinsicht äußert. Posselt hatte in Karlsruhe, bei
der ersten Wiederkehr des Todestages Friedrichs des Großen, eine Gedächtnis¬
rede auf den verewigten König gehalten. Schubart, mit Posselt eng befreundet,
rühmt diesen Vortrag in begeisterten Worten. Unter den „erhabenen, kühnen,
allen deutschen Patrioten ewig wichtigen Gegenständen, welche hier auf drei
Bogen zusammengedrängt sind," hebt er aber besonders die Art und Weise hervor,
in welcher Posselt des Fürstenbundes Erwähnung gethan hat, dessen Stifter
Friedrich war, welchem Europa überhaupt, und ganz vorzüglich Deutschland,
so großen Dank dafür schuldig ist. Und nun sagt Schubart wörtlich: „Diese
Rede hat ausnehmend viel Nationalinteresse; gegen Universalmonarchie und für
deutschen Bund ist gewiß noch niemals so zusammengedrängt vollständig ge¬
schrieben worden als hier. Besonders hat Posselt zwei Gesichtspunkte auf¬
gefaßt, die man bisher wie Klippen vermied — die eine, was dieser Bund für
den Kaiser sein kann, die andre, was er für jeden einzelnen Mann in Deutsch-
land wirklich ist. Die Nation muß wissen, daß ihr so viel daran liegt als
ihren Fürsten, daß Deutschland nicht unter einen komme." Hier finden wir
die staatliche Einheit der Nation gerade aus dem Grunde verneint, weil von
Schubart in der erlauchten Republik deutscher Fürsten Preußen die Führung
zugedacht ist. Schubart hat sich früher als „Cäsarianer" bekannt, den Schritt
zu dem kühnen Gedanken einer Trennung von Habsburg wagt er nicht zu thun;
um den zum größten Teile undeutschen Einfluß Österreichs auf Deutschland
möglichst unschädlich zu machen, denkt er sich als das wirksamste Mittel eine
dauernde Vereinigung des hohen Adels deutscher Nation in hündischen Formen
unter Preußens Leitung. Die Zurückweisung Österreichs kleidet sich in die
Form der Verwerfung der Universalmonarchie, ein krankhaftes Furchtgefühl,
das namentlich auch den begeisterten Lobredner des Fürstenbundes, den Historiker
Johannes Müller, verfolgte. Gerade wegen seines Interesses für nationale
Kultur in ihrer lebendigen Besonderheit war Müller der entschiedene Gegner
der nationalen Einheit der Deutschen. Denn — so war sein Gedankengang —
wenn es erst dem Hause Österreich gelungen wäre, die gesamte riesenhafte Kriegs¬
macht der deutschen Nation in seiner Hand zu vereinigen, dann könnte das
Ergebnis nur das sein, daß ein eiserner, von keiner rivalisirenden Macht mehr
in Schranken gehaltener Despotismus zunächst jede Freiheit in Deutschland
unterdrücken und mit der despotisch beherrschten Macht Deutschlands alles
nationale Sonderdasein der europäischen Völker vernichten würde. Eine Er¬
innerung an Karl V. und eine gewisse Vorahnung Metternichs geben dieser
Auffassung einen Schein von Berechtigung. Sie ist jedenfalls das sprechendste
Beispiel dafür, wie die verworrene Gestaltung der staatlichen Verhältnisse im
römischen Reiche deutscher Nation auch den hellblickendsten und geistreichsten
Politikern es unendlich schwierig machte, auch nur theoretisch zu einer be¬
friedigenden Lösung der nationalen Frage zu gelangen. Daß namentlich ein
Süddeutscher, heute vor hundert Jahren, noch nicht den Mut hatte, das lösende
Wort des Rätsels in dem einfachen: „Ausschluß Österreichs" zu finden, ist
schwerlich irgend einem zu verdenken.
Wenn wir hier von einer Schuld sprachen, so verstehen wir das Wort
im geschichtlichen Sinne, ohne damit einen sittlichen Vorwurf für den Einzelnen
zu verbinden. Dagegen ist höchst bemerkenswert, daß Schubart daran erinnert,
was ein „Fürstenbund" für jeden einzelnen Mann in Deutschland wirklich sei
oder sein könne, beziehentlich sein solle. Es bricht hier die Ahnung durch, welche
sich zu klarerer Vorstellung freilich erst fast ein halbes Jahrhundert später unter
den Deutschen erhob, daß ohne eine Beteiligung des Volkes an der Verbindung,
in welcher Form sie auch immer ermöglicht werden würde, dieser letzteren
eine eigentlich nationale Bedeutung nicht zukomme. Kein Deutschland ohne
deutschen Reichstag! Freilich haben wir es hier nur mit dämmernden Ideen
zu thun, aber sie beweisen, daß, auch ohne französisches Zuthun, deutsche
Patrioten auf dem Wege waren, trotz aller Verwicklungen und Verworrenheiten
die Gedanken zu finden, welche den Bann lösen sollten, der seit Jahrhunderten
die selbständige nationale Entwicklung des deutschen Volkes in Fesseln hielt.
A'^MO
Mn dem Maße, wie die Leidenschaft von ihr wich, näherte sich
Charlotte ihrem Manne wieder. Im Frühjahr 1790 eilte der
Major nach Frankreich zurück, bereit, in den bereits ausgebrochenen
politischen Stürmen für das Königtum zu kämpfen. Er fand
das Regiment Ro^al LrMs, zu dem er gehörte, aufgelöst, aber
er verschaffte sich Zutritt zum Könige und bot seine Dienste an. Durch Graf
von Fersen, seinen früheren Chef, wurde ihm bedeutet, daß er gerufen werden
solle, sobald es Zeit sei, bis dahin aber solle er, um keinen Verdacht zu
erregen, nicht in Frankreich bleiben. So kam er nach Weimar zurück und
wartete auf den Ruf, aber vergeblich. Ohne Amt, ohne jede ernste Thätigkeit
vergeudete er seine Tage im Kreise der Seinen und am Hofe. Unterdessen sank
das Vermögen der Familie immer mehr zusammen. Der Präsident führte den
kostspieligen Prozeß weiter und beteiligte sich an gewagten Spekulationen, wie
an dem Ankaufe von Salinen und Hüttenwerken in Frankreich. Charlotte
widmete sich, um ihre Gedanken auf einen festen Punkt zu richten, mit beson¬
derer Sorgfalt ihren Kindern, denn zu dem Sohne Fritz war in dem Leidens¬
jahre 1790 noch eine Tochter gekommen. Der Hauslehrer, welchen Schiller
ihr für Fritz empfahl, war der Dichter Hölderlin aus Schwaben. Die Wahl
war nicht glücklich. Hölderlin, in dessen ungemein zartbesaiteten und reizbaren
Geistesleben schon damals krankhafte Störungen als Vorboten des spätern
Wahnsinns aufzuckten, paßte nicht zu ihr, und sie nicht zu ihm, am wenigsten
aber eignete er sich zum Erzieher. Dies sah er selbst ein, und Frau von Kalb
erkannte es auch, aber sie hielt ihn fest, so lange sie konnte, weil sie sich gewöhnt
hatte, ihn wie einen der Ihrigen mit mütterlicher Sorgfalt zu pflegen. Hölderlin
verehrte sie wie ein höheres Wesen, und manches in seinem Hyperion, dessen
erste Ausarbeitung in diese Zeit fällt, erinnert an ihren Einfluß, Nachdem er
etwa ein Jahr in ihrem Hause zugebracht hatte, Eude 1794, schied er von ihr.
In dieser ruhigeren Zeit ihres Lebens erhielt Frau von Kalb manche
Beweise von Achtung und Freundschaft aus dem engeren Kreise der hervor¬
ragenden Weimarischen Männer und Frauen. Bei der Herzogin-Mutter war
sie immer gern gesehen; wie Schiller, so begegnete ihr auch Goethe mit herz¬
licher Höflichkeit und hoher Achtung, ihre Begeisterung für seine Iphigenie
machte ihm Freude, und in teilnehmender Weise erkundigte er sich nach ihr. Die
arme Frau mußte daran denken, ihre ganze Familie, den Mann dazu, zu er¬
nähren, eine schreckliche Aussicht, da ihr Augenlicht immer mehr schwand. Schon
im Jahre 1794 suchte sie durch Vertrieb von Wein etwas zu gewinnen, Goethe
sollte ihr dabei helfen, und er bemühte sich treulich, Kundschaft für sie an¬
zuwerben.
In dieser Zeit, als geistige Vereinsamung, zunehmendes Augenleiden und
der Verfall des Vermögens die geniale Frau immer tiefer zur gemeinen Wirk¬
lichkeit herabzogen, geriet sie, die Fünfuuddreißigjährige, noch einmal in den
Strudel der Seeleufreundschaft und der leidenschaftlichen Liebe. Daß dies zu
einer neuen Niederlage führen mußte, war vorauszusehen. Im Juni 1796 kam
Jean Paul Friedrich Richter nach Weimar. Der sentimentale Satiriker, der
in Ahnungen verhüllte ewige Jüngling mit der unerschöpflichen Phantasie
und der unübersehbaren Belesenheit hatte durch seine wunderlichen Romane
außerordentliches Aufsehen gemacht, besonders die literaturbeflissenen Damen
im mittleren Alter waren außer Rand und Band vor Entzücken. Es gab deren
viele, die dem ersten Flügelschlage der klassischen Dichtung mit klopfendem Herzen
gelauscht, vielleicht selbst im Rate der Dichter gesessen hatten und nun, erschreckt von
dem kritischen Zeitalter Kants, Fichtes und der Romantiker, vor dem „Tnebsande
der Zeit" in ihr Inneres geflüchtet waren. Diese begrüßten Jean Paul als
den Apostel der Innerlichkeit, als den Seher, als den Priester der Religion
des Wahren, Guten und Schönen, und zwar mit einer solchen Zärtlichkeit, daß
er sich ihrer kaum erwehren konnte. Fürstinnen sandten ihm selbstgefertigte
Geschenke nebst innigen Grüßen, eine ganze Schaar adlicher Damen überhäufte
ihn mit Geständnissen der zärtlichsten Hingebung. Die meisten beriefen sich
auf Hesperus als diejenige Dichtung, welche die Begeisterung in ihrem Herzen
entflammt habe. Der arme Schnlmeisterssohn that, was er in der Fülle seines
Idealismus und seines bürgerlich ehrsamen Gemütes thun konnte: er umwand
die Damen mit den Blumenketten seiner schlagfertigen Phantasie, studirte sie
als die Vorbilder zu neuen Romanen, ruhte von Zeit zu Zeit an ihrem Herzen
aus und strebte, wie von einer unwiderstehlichen Naturnotwendigkeit getrieben,
den idyllischen, prosaisch einfachen Verhältnissen zu, aus denen er hervorgegangen
war. Julie von Krüdener, Josephine von Sydow, Charlotte von Kalb, Emilie
von Berlepsch und Karoline von Feuchtersleben waren unter der großen Menge
von Verehrerinnen diejenigen, welche ihm persönlich am nächsten traten. Die
drei ersten waren verheiratet, und außer Karoline von Feuchtersleben sind alle
als Schriftstellerinnen aufgetreten. Mit allen hat der Dichter des Hesperus
einen kleinen Roman durchgespielt, mit zweien hat er sich in der Übereilung
verlobt, aber möglichst bald das Band wieder gelöst und sich endlich mit Karo¬
line, der Tochter des Obertribunalrates Mayer in Berlin, verheiratet, einem
schlichten, von aller Phantasterei weit entfernten Mädchen. Jean Paul erscheint in
diesen Beziehungen zur Frauenwelt unreif und unmännlich, wenn sich auch
vieles mit der Thorheit der nicht mehr jungen Damen und mit seinem Bestreben,
Studien zu machen, entschuldigen läßt. Die Auflösung seiner Verlobung mit
Karoline von Feuchtersleben, die sich erst mit ihrer ganzen adelsstolzen Familie
hatte verfeinden müssen, ehe sie ihm ihre Hand zusagen konnte, war im Grnnde
doch nichts andres als ein schmählicher Verrat.
Charlotte von Kalb hatte schon im Februar 1796 an Jean Paul ge¬
schrieben, um ihm ihre Wertschätzung auszudrücken. Aus dem warmen Tone
aufrichtiger Höflichkeit ward bald Vertraulichkeit, und schon die zweite Zuschrift
endet mit der Wendung: „Nicht wahr, niemand, niemand sieht meine Briefe?"
Bald kam er selbst. Der Gedanken- und Gefühlsaustausch begann, aber er blieb
noch immer im untadeligem Reiche des Idealen, denn wenn Charlotte zuweilen
im Fluge der Begeisterung ihren Freund mit „du" anredet und ausruft: „Um
Gotteswillen, zeige dich keinem andern als mir, alle, die dich fassen, werden für
dich sterben wollen. Nein, nein, sie flie Welt^I soll ihn nicht haben, oder ich
will vergehen; ich will erst vernichtet sein, dann kann sie ihn haben!" so darf
das nicht Wunder nehmen, war sie doch die unveränderliche Tochter der Sturm¬
und Drangzeit. Jean Paul war nur vier Wochen in Weimar, und drei von
diesen verbrachte Charlotte in Jena, wo sie eine kranke Freundin pflegte. Was
sie in der Freundschaft suchte, drückt sie sehr gut in dem Abschiedsbriefe aus,
den sie Jean Paul uach Weimar schreibt: „Wenn ich Sie nicht wiedersehe, so weiß
ich doch nun das Wesen zu finden, dem ich meine geheimsten Gedanken und
Gesinnungen mitteilen kann. Was gleich einer Ephemere nur in mir lebte, mit
dem Sonnenblicke entstand, am Abend vergangen war, erhält nun ein zweites,
längeres Leben, wenn ich es dem sage, der mich versteht, mich berichtigt, wo
ich irre, mir anch die Schätze seines Geistes vertraulich mitteilt." Als sie den
Freund in Hof wußte, suchte sie ihn für ihre kaufmännischen Unternehmungen
zu intercsstren. Bald aber trat eine Entfremdung ein. Charlotte liebte nur
eine gewisse Seite der Jecin-Paulschen Schreibweise: das Phantastische, Bilder¬
reiche, Ahnungsvolle, Religiöse, dagegen stieß sie das Spaßhafte und satirische
entschieden ab. Herders Widerwille gegen diese tragikomischen Schattenbilder
des Lebens, Schillers und Goethes sehr kühle Beurteilung der Jean-Paulschen
Muse konnte sie darin nur bestärken. Überdies war Jean Paul anderwärts an¬
genehm beschäftigt. Erst ließ er sich die Huldigungen der Frau von Krüdener
gefallen, dann, im Juni 1797, ward er ganz von den weichen Fesseln der liebens¬
würdigen Schriftstellerin Emilie von Berlepsch umstrickt, die von ihrem Manne
geschieden war und Heilung für ihr tiefverwundetes Herz in einer idealen Liebe
suchte. Was nur irgend eine Verehrerin ihren: Ideale, eine Liebende dem Ge¬
liebten sagen kann, das sagt sie Jean Paul. Er ist ihr eine unvergeßliche Er¬
scheinung aus jener verschleierten, selig geahnten Welt, der Freund ihres wahren
Selbst, der geliebteste, der ganz die Liebe kennt, womit sie ihn liebt, mehr ein
Genius, als ein Mensch. Ihr Geist beugt sich vor dem seinigen, den sie hoch
auf glänzenden Flügeln schweben sieht, daß es ihr scheint, als dürfe er sich kaum
niederlassen und etwas dauernd berühren, viel weniger von ihr, der Liebenden,
gefesselt werden. In Leipzig, wohin er ihr zugefallen von Hof ans gekommen
war, ergoß sich das Übermaß ihrer Liebe über ihn; sie war bereit, ihr ganzes
Vermögen für ihn hinzugeben, nur um ihn glücklich zu wissen, und wenn er an
der ewigen Harmonie ihrer Seelen zweifelte, so verfiel sie in Krämpfe und
Ohnmachten. In dieser Bedrängnis ging sein Inneres, wie er sagt, auseinander;
er versprach ihr die Ehe, aber fast unmittelbar darauf nahm er sein gegebenes
Wort zurück, und uach zwei „aus der glühendsten Holle gehobenen Tagen" war
er wieder frei. Aber Emilie krankte an ihrer Liebe. Er macht mit ihr eine
Reise nach der sächsischen Schweiz, um sie zu zerstreuen. Vergebens; sie geht
nach Schottland, allein sie kommt noch elender zurück, als sie gegangen ist,
und beruhigt sich nur einigermaßen, als Jean Paul, im Begriffe, sich mit Karo¬
line von Feuchtersleben zu verloben, ihr zusagt, daß er sie nach seiner Ver¬
heiratung zu sich nehmen wolle. Sich und alles, was sie besitzt, will sie in
seine Hände geben, will nichts thun als leben, lieben und sich lieben lassen.
Dies hindert sie aber nicht, sich (im Mai 1801) mit einem mecklenburgischen
Gutsbesitzer zu verloben, und so wurde endlich der gordische Knoten auf die
einfachste Weise gelöst.*)
Schon die erste Hälfte dieses Abenteuers, die sich im Winter 1797 bis
1798 in Leipzig abspielte, hätte Jean Paul mahnen sollen, exzentrischen Frauen
gegenüber auf seiner Hut zu sein. Aber davon war er noch sehr weit entfernt.
Die Korrespondenz mit Frau von Kalb erhält nach einigen Unterbrechungen
wieder einen neuen Aufschwung, und der Major außer Dienst nimmt warmen
Anteil an der Seelenfreundschaft seiner Gattin. Charlotte schreibt gemessen, zu¬
weilen etwas stolz zurückhaltend, doch macht sie aus ihrem Ärger über Emilie
von Berlepsch kein Hehl. „Wenn es auch wahr ist — schreibt sie ihm — daß
Sie Charlotte über diese Minerva, Venus, Ninon und Sappho vergessen und
ganz entbehren können, so soll sie doch dieses Glaubens noch nicht leben." Am
26. Oktober 1798 siedelte Jean Paul nach Weimar über, um dieselbe Zeit also,
als die Berlepsch nach Schottland reiste; wenige Tage darauf kehrte auch Char-
todte von Kalbsrieth, wo sie mit ihrem Manne den Sommer zugebracht hatte,
dahin zurück. Der Major kam bald nach. Und nun begann der verhätschelte
Dichter des Hesperus mit der halbblinden, sorgenbeladenen Frau fast unter den
Augen ihres podagrakranken und geistig gebrochenen Mannes jenes frevelhafte
Liebesspiel, das die Schwärmerin noch einmal an den Rand des Wahnsinns
drängte. Charlotte stürzte sich rückhaltslos in die neue Leidenschaft. Die Billets,
welche sie im Dezember 1798 Tag für Tag an den zärtlichen Freund abgehen
ließ, sind Zeugnis genug dafür. „Am Montag war es mir, als sähen Sie
Geister. Den Dienstag habe ich nur vegetirt. Es hat mir auf keiner Re-
doute noch so Wohlgefallen, wie auf der letzten; wenn es so fort geht, will ich
doch sehen, wie jugendlich ich in vierzig Jahren sein werde. . . . Ich gehe mit
leichtem Schritte den Berg hinan, denn die Wahrheit, die Liebe und die Be¬
geisterung begleiten mich. .. . Ich fange an zu zittern, und Todeskälte umfaßt
mich. Ich kann nichts thun, bis ich weiß, ob Sie den Abend kommen. Schreiben
Sie bald, damit ich weiß, ob ich auch schreiben und arbeiten kann. Oder ob —
ach — denke dir das Widrigste, das ist es. Die Villele, die so spät kommen,
sind immer Todesboten. . . . Meine Seele wird ruhig sein. Sie werden
von nichts hören, als was von der Wahrheit, der Güte kommt. Ich will dann
auch lange keinen Besuch von Ihnen erwarten; so wollen auch Sie mich nie
wieder sehen. . . . Ich habe kein Auge geschlossen. Diese Stelle in dem Billet
»Warum erlaubst — die Bedingungen — zeigen kann« hat mir alle Rast ge¬
nommen. Hab ich denn diese Bedingungen je gefordert — nenne sie mir, damit
ich es beantworten kann. . . . Ich habe heftiges Kopfweh. Ich wünschte, daß
mir dieses Rätsel endlich gelöst würde. Ich bin auch fest und gehe von keiner
Wahrheit, keinem Vorsatz und keiner Überzeugung ab. Ewig will ich sein, was
ich bin — und mein Herz und meine Seele, meine Natur nie, nie wieder ver¬
leugnen! . . . »Daß ich meine Lippen auf die Wunden deines Herzens legen
werde. Sei still, liebe Seele!« Ich habe seit gestern um zehn Uhr nichts andres
gedacht. »Werde ruhig und hoffend!« Bei der ewigen Wahrheit, bei meiner
Seligkeit, ich will es werden. Prüfe dich nnr, was deine Liebe für mich dir
ist. Ob sie deinem Herzen unentbehrlich ist, ob sie unendlich ist. Es ist mir, als
hörte ich nur meine Liebe. . . . Von einem mächtigen Geiste vernichtet zu werden,
ist viel erhabener als die höchste Ehre, Genuß und Fülle, so die Welt geben
kann. O nimm mich auf, damit ich sterben kann, denn ich kann entfernt von
dir nicht leben und nicht sterben. Heiliger Gott, gieb deinem Unsterblichen
alles — alle die Seligkeit, die deine Erschaffenen entbehrten, alle die Seligkeit,
die sie verkennen! Gieb ihm mein Herz, gieb ihm meine Wonne! Laß mich
nur in seiner Nähe, daß ich sein Antlitz schaue! Laß mir den Schmerz, laß
mir die Thränen um ihn. . . . Ach komm, ich beschwöre dich um meine Selig¬
keit, komm jetzo, du wirst Ruhe finden. Laß mich nicht in den fürchterlichen
Leiden allein. Bis den Abend kann ich's nicht tragen. . . . Kommen Sie ja!
Sie müssen mich hören! Ich schreite fort, ich bin unveränderlich bis in Tod!
Bis in Tod!"
Und was sagte der angebetete Dichter zu alle dem? Er schreibt an seinen
Freund Otto am 28. Dezember 1798: „Durch meinen bisherigen Nachsommer
wehen jetzt die Leidenschaften. Jene Frau — künftig heiße sie die Titanide,
weil ich dem Zufall nicht traue —, die von Weimar zuerst an mich schrieb,
die ich dir bei meinem ersten Hiersein als eine Titanide malte, mit der ich,
wie du weißt, einmal eine Szene hatte, wo ich (wie in Leipzig) im Pulver¬
magazin Tabak rauchte, diese ist seit einigen Wochen vom Lande zurück und
will mich heiraten. Nimm meine» Leichtsinn nicht falsch. Weiter! Die alte Lebens¬
weise kehrte bald um, nur verklärter. Kurz, nach einem Souper bei Herder und
einem bei ihr, wo er bei ihr war — er achtet sie tief und höher als die Berlepsch
und küßte sie sogar im Feuer neben seiner Frau — und als der Widerschein
dieser Altarsflamme auf mich fiel, sagte sie es mir geradezu. Im Lenz, im
Lenz! Mit drei Worten! O, ich sagte der hohen, heißen Seele einige Tage
darauf Nein! Und da ich eine Größe, Glut, Beredsamkeit hörte wie nie, so
bestand ich darauf, daß sie keinen Schritt für, wie ich keinen gegen die Sache
thun wolle, denn sie glaubt, ihre Schwester und deren Manu, der Präsident,
würden alles thun. Ach! im März wäre alles vorbei, nämlich die Hochzeit.
Ich habe endlich Festigkeit des Herzens gelernt — ich bin ganz schuldlos —
ich sehe die hohe, geniale Liebe, die ich dir nicht mit diesem schwarzen Wasser
malen kann — aber es paßt nicht zu meinen Träumen. Wild bin ich ordentlich.
Sieh! Gerade um diese Zeit 97, gerade da ich Hermineu malte, und jetzt, da
ich in den gedruckten Briefen an dich im Jänner mein künftiges Leben malen
will, da kehret dieser Sturm zurück. Sonderbar setzt sich das Schicksal an
meinen Schreibtisch und tunkt ein. Noch sonderbarer werde ich zu höheren
Zwecken erzogen, die länger stehen sollen als mein Glück und mein Grab. Ich
meine, ich kann dir nicht sagen, mit welcher ernsten Berechnung auf meinen
Titan das Geschick mich durch alle diese Feuerproben in und außer mir, durch
Weimar und durch gewisse Weiber sührt. Jetzt kann ich ihn machen, indes ich
früher manchen Fehler leichter dargestellt und begangen als gesehen hätte. Ach,
ich suche im ausgeleerten Leben außer der liebenden, altväterlichen, mein Jvdiz
Paliugenisircnden Ruhe auch nichts weiter, als ein Instrument zu sein in der
Hand des Verhängnisses, es werfe mich dann weg in die stille Höhle, wenn
es mich gebraucht. Jene, der iBerlcpsch, Verhältnisse banden meine Augen und
Hände zu, und ich versäumte vielleicht ein Herz, das mein gehörte. Soll ich
immer so spielen und hoffen und ausschlagen und verfehlen? Solche Weiber
wie die beiden verblenden gegen jede stille weibliche Luna. Ihre ^Charlottens)
Verwandten begegnen mir mit schöner Liebe, und ich kann ruhig vor ihnen
stehen, weil mein obiges Nein eisern steht. Ich habe zu viele Ursachen dazu, diese
Titanide ist viel leichter zu wenden wie die Berlepsch." Deutlicher konnte Jean
Paul sein Verhalten gegen Frau von Kalb nicht zeichnen. Er arbeitete damals
am Titan, dieser großangelegten Faustidylle, in der die sich überschätzende
und überbietende Menschenkraft samt der irdischen Hölle, die sie sich be¬
reitet, vorgeführt wird. Zu Linda mußte ihm Charlotte sitzen. Die unvor¬
sichtigen Äußerungen in seinen Briefen, wie: „Ich reiche dir die Hand über Zeit
und Raum; es war eine Zeit, ehe ich dich kannte und liebte, die Ewigkeit
beginnt für deu Liebenden," oder: „Sie könnte niemand verdrängen als Sie.
Sie bleiben meinem Herzen, was Sie waren. Solche Stunden wie unsre sind
mit einem ewigen Feuer bezeichnet," oder: „Daß ich meine Lippen auf die
Wunden deines Herzens legen werde. Sei still, liebe Seele! Werde ruhig
und hoffend!" sind nur Stilübungen. In Linda, der hohen, junonischen Gestalt
mit dem vollen, blonden Haar und dem Schatten vor den großen, seelenvollen
Augen ist Charlotte gemalt. Sie ist die Titanide, die keine andere Macht aner¬
kennt als die der aus dem innersten Geistcsgrnnde aufsteigenden Idee, die sich
kühn über die Launen des Schicksals hinwegsetzt und in der Kraft ihres „Fel¬
senich" selbst des Glaubens nicht bedarf. Er läßt sie ohne Schuld in Schuld
geraten, dem dunkeln Verhängnisse verfallen und untergehen.
Durch Jean Pauls Zurückweisung wurde Charlotte in die tiefste Trauer
hinabgestoßen, aber von ihrer Liebe zu dem Dichter wurde sie nicht getrennt.
Möglich, daß sie noch lange hoffte, Jean Paul werde sie am Ende noch allen
andern vorziehen, wahrscheinlicher indes, daß sie instinktmüßig in der Fortdauer
ihrer Liebe einen Halt, eine Stütze suchte. Wieder ringt sie mit dem Wahn¬
sinn, ihre nächsten Briefe enthalten die Ausrufungen einer Verzückten. Sie
hört den Spott der Welt, aber sie verachtet die Welt. „Haß, Haß und das
Hohnlachen der grinsenden Ohnmacht wird bald nachkommen. Verachten kann
mich niemand, es ist ja der Kampf eines Geistes um dich und um deinen Geist."
Mit Riesenkraft reißt sie sich noch einmal von dem geistigen Abgrunde zurück.
Zunächst übt sie sich im Heroismus der Entsagung. Sie nimmt Unsre Herold
aus Hof, die sie für die Stillverlobte Jean Pauls hält, zu sich. In einem
der folgenden Briefe (vom 5. Januar 1799) teilt sie Jean Paul einen Traum
mit, indem sie sich sieht, wie sie zu Gunsten Amönens auf den Geliebten ver¬
zichtet. Jean Paul könnte nichts Schöneres geschrieben haben. Man sieht,
wie er auf sie, sie auf ihn eingewirkt hatte. Überhaupt ist ihre Beredsamkeit
in dieser Zeit außerordentlich. „Ich lese in meinen Briefen — sagt sie —,
ich mag schreiben, was ich will, nur die Worte: Halte meine Seele fest, dann
will ich den Flug ins Unendliche wagen! Ich will nichts, aber dir will ich
das Ölblatt und den Myrtenzweig bringen und Violen und Rosen um dein
Haupt winden. Die Sorge soll entfliehen, und die Innigkeit soll jeden Augen¬
blick des Lebens — er mag Namen haben, wie er will — mit gleichem Werte
fassen, und dein Vertrauen, deine Erinnerungen sollen gleich einer Perlenschnur
seliger, bereichernder Ideen in meiner Seele verwahrt sein. Und nur du sollst
mich immer schöner dadurch geschmückt erblicken. Nenne mich nicht Titanide.
Man fühlt wenig Mitleid, Liebe und Schmerz für das Kühne, Sonderbare.
Schon bemerkst du die mächtigen Stürme der Seele, die an meinem Wesen
vorübergingen. Gebiete ihnen zu schweigen und fasse jetzt auf ewig die nahe
liebende Seele!" Jean Paul selbst war tief gerührt. „Es giebt — schreibt er
am 6. Januar an Otto — nichts Heiligeres und Erhabeneres als ihre Liebe.
Sie ist weniger sinnlich als irgend ein Mädchen, man halte nur ihre ästhe¬
tische Philosophie über die Unschuld der Sinnlichkeit nicht für die Neigung zu
letzterer." Nur sehr allmählich, während sich Jean Paul wieder in eine Frauen¬
liebe und eine trügerische Verlobung stürzte, lösten sich die LiebcSbekenntnisse,
die sich aus Charlottens gequälten Herzen losrangen, in lautere Freundschaft
auf. Aber das Ungraziöse und Harte, welches schon Schillers Braut und
Jean Paul bei seiner ersten Bekanntschaft aufgefallen war, nahm sichtlich zu:
ein nervöses Lachen, welches oft die ernsteste Rede unterbrach, unzarte Äuße¬
rungen über sittliche Dinge, die ihr selbst heilig waren, ein aufdringliches Hasten
und Jagen nach Erwerbsquellen der allergewöhnlichsten Art und andres mehr,
das in ihrer äußern Erscheinung haftete. Wir dürfen sie uns vorstellen, wie
Jean Paul sie seinem Freunde Otto bereits am 12. Juni 1796 schildert:
„Sie ist stark, voll, auch das Gesicht. Drei Viertel Zeit brachte sie mit
Lachen hin — dessen Hälfte aber nur Nervenschwäche ist — und ein Viertel
mit Ernst, wobei sie die großen, fast ganz zugesunkenen Augenlider himmlisch
in die Höhe hebt, wie wenn Wolken den Mond wechselsweise verhüllen und
entblößen. Sie sind ein sonderbarer Mensch, das sagte sie mir dreißigmal."
Den Sommer 1799 brachte Charlotte mit ihrem Manne zum größern
Teile in Kalbsrieth zu, dann kehrte sie zurück, um Weimar für immer zu ver¬
lassen. Sie wandte sich zunächst nach Waltershausen bei Meiningen, ihrem
Geburtsorte, immer noch in der Hoffnung, daß wenigstens das Stammgut aus
der Schuldenmasse gerettet werden könnte. Jean Paul blieb noch in Weimar,
wechselte aber bald darauf häufig seinen Wohnort, bis er sich verheiratete und
in Bayreuth eine Heimat fand. Charlotte blieb immer mit ihm in Briefwechsel,
sah ihn auch einigemale und brachte seiner Familie ihre herzlichste Teilnahme
entgegen. Ihr letzter Brief an ihn ist vom August 1817, mit seiner Frau
stand sie noch bis 1821 im Briefwechsel.*) Sie suchte bei dem Freunde Er¬
hebung des Geistes und nicht selten auch Rat und Hilfe in materiellen Dingen.
Jean Paul befriedigte die unermüdliche Freundin, so gut er konnte. Im April
1805 bittet er Jacobi, der Frau von Kalb einen Besuch zu machen, und fährt
fort: „Sie war eine innige Freundin Herders, Goethes, Schillers u. s. w., ihr
Äußeres verschließt mit rauher Eichenrinde einen zarten Blütengeist. Sie hat
mehr auf meine Bildung eingegriffen, als alle übrigen Weiber zusammen."
Als Jacobi sich mit der seltsamen Frau nicht befreunden konnte, schrieb er ihm
im Dezember desselben Jahres: „Du alter Weltmann und Weltweiser, du warst
imstande, in der rohen, krustigen, erdscholligen Außenseite snümlich der mora¬
lischen, nicht der bloßen körperlichen^ doch die schöne, auch von Herder und
Goethe so geachtete Oreade zu verkennen, die im Berge wohnt, genannt Frau
von Kalb?" Ntthreud ist es, wie er am 7. April 1820 sich für sie bei dem
Oberjustizrat Hornthal in Würzburg verwendet: „Ew. :c. verzeihen mir, daß
ich eine vieljährige, geistvolle und leidende Freundin an Ihren Richterstuhl
geleite. Ihr ganzes Leben war ein quälendes Durchdrängen durch den ver¬
wachsenen Wald eines Prozesses. Noch ist sie im Dickicht der Justiz, und wenn
es sich endlich lichten sollte, wird sie Gerechtigkeit und — Grab zugleich vor
sich haben. Aber sie arbeitet für ihre Kinder, nicht für ihren kurzen Wintertag
des Lebens." Zuweilen freilich verlor mich er die Geduld, wenn die arme
Bedrängte ihn mit abenteuerlichen Plänen bestürmte, an deren Verwirklichung
er mithelfen sollte. So schreibt er im September 1809 an einen Freund:
„Die tolle Bittschrift an die Berliner würde ich nicht schreiben, welche ohnehin,
da ich nicht da wohne, zu viel Anmaßung meines Namens voraussetzte. Aber
vollends an Deutschland? Was geht sie Deutschland an? Müßt' ich mich nicht
schämen, es zu bekennen, daß ich für eine Person, welche als Adliche noch immer
Hilfsquellen haben muß, welche selber ökonomisch oft mit Phantasterei und
Leichtsinn handelte und deren Leiden doch z. B. gegen die Leiden eines Haus¬
vaters mit Familie ein kleines ist, ganz Deutschland aufgerufen?"
Über Charlottens Ausgang ist nur wenig zu sagen. Im Juli 1804 ver¬
ließ sie Waltershnusen und siedelte mit den Kindern nach Berlin über. Der
Prozeß wegen der Ostheimschen Lebensgüter dauerte fort, ohne daß ein Ende
abzusehen war, alle ihre Besitzungen waren tief verschuldet. Doch hatte sie im
Jahre 1806 noch 1200 Reichsthaler jährliche Einkünfte. Ihr Mann folgte
ihr nicht nach, er blieb in Franken zurück, da er immer noch auf eine Anstellung
im baierischen Militärdienste hoffte. Charlotte war ganz auf sich angewiesen.
Schon seit dem Jahre 1800 trug sie sich mit dem Gedanken, ein Erziehungs-
institut für die Töchter aus vornehmen Familien zu gründen. Sie legte Schiller
ihren Plan vor, aber dieser riet ihr entschieden ab. „Sie sind — schrieb er ihr —
wenn ich es kurz sagen soll, viel zu individuell gebildet, und diese Beschäftigung
verlangt gerade das Gegenteil, eine ganz allgemeine generische Form." Auch
Jean Paul, dem sie noch 1806 ihre pädagogischen Ansichten entwickelte, zeigte
sich sehr ungläubig. „Geben Sie sich keine lange Mühe mit dem Abraten des
Erziehers — schrieb er bereits im August 1800 an Herders Gattin —, die
Zöglinge werden fehlen." In Berlin trat sie Fichte näher, den sie schon in
Jena kennen gelernt hatte. So wenig sie mit seiner Kritik der geoffenbarten
Religion einverstanden war, so sehr fühlte sie sich zu seinem Idealismus hin¬
gezogen. Sie lebte schon lange im Ich, brachte seiner Philosophie also von
vornherein das beste Verständnis entgegen. Fichte verkehrte gern und oft mit
ihr; was er theoretisch verarbeitete, sah er in ihr verkörpert. Freilich wurde
sie durch widrige äußere Verhältnisse immer wieder aus ihrer Höhe zur kalten,
harten Erde herabgezogen. Im Jahre 1806 war der Zusammensturz ihres
Vermögens eine Thatsache, die Einkünfte blieben aus, und der Prozeß verlor
sich im Staube der Aktenbündel. Ihr Mann, der alle seine Hoffnungen
schwinden sah, machte in München seinein elenden Leben durch einen Schuß ein
Ende. „Er, der ein so bitteres Los finden mußte durch mich!" schrieb sie an
Jean Paul. Gewiß war sie nicht schuldlos an der Zerrissenheit und dem Un¬
glücke ihrer Familie. Dem Manne war sie nichts gewesen, hatte ihm nichts
sein wollen, und haushälterisch vermochte die geniale Idealistin auch nicht zu
sein. Aber sie verlor den Mut nicht. „Wer nur die Wahrheit seiner äußer¬
lichen Verhältnisse einsieht, kann sich erst darnach einrichten," sagt sie in einem
Briefe an Jean Paul, „und hier — fährt sie fort — achtet keiner auf die
äußere Beschränkung." Nach allen Seiten schaut sie aus, um Unterstützung
zu finden, der König von Baiern, der Fürst-Primas Dalberg, selbst eine reiche
Oberforstmeistersfrau bei Kalbsrieth sollten gewonnen werden, Jean Paul soll
vermitteln, er muß viel anhören.
Im Jahre 1309 öffnete sich endlich eine erfreuliche Aussicht. Ihre Haupt¬
stütze im Unglück, ihre einzige Tochter Edda, wurde Hofdame der Prinzessin
Wilhelm. Der ältere Sohn Fritz hatte sich der militärischen Laufbahn zuge¬
wendet, nur für den sechzehnjähriger August hatte sie noch zu sorgen. Durch
einen kleinen Handel mit Modewaaren und Thee suchte sie etwas zu erwerben.
Die Kriegsjahre 1812 und 1813 regten sie noch einmal innerlich auf. Ihre
Söhne kämpften im preußischen Heere, ihre Tochter half der edeln Prinzessin
im vaterländischen Frauenvereine. Ungefähr um diese Zeit starb ihr Schwager,
der Präsident, der sie ins Unglück gestürzt hatte. Sie beklagte und verklagte
ihn nicht. Unterdes wurde es immer dunkler vor ihren Augen, und 1821 er¬
blindete sie ganz. Aber das Asyl, in dem sie die letzten Tage erwarten sollte,
war ihr schon bereitet. Durch die Verwendung der Prinzessin Wilhelm erhielt
sie eine abgelegene Wohnung im königlichen Schlosse. Hier traf sie der letzte
schwere Schlag des Schicksals. Im Jahre 1825 erschoß sich ihr jüngster Sohn
August in einer pommerschen Festung. Auch er scheint ein Opfer des furcht¬
baren Prozesses geworden zu sein, denn er hatte gehofft, den alten Stammsitz
Waltershausen für sich retten zu können, es war ihm aber nicht gelungen.
Am 12. Mai 1843 endete die zweiundachtzigjährige, im Feuer des Leidens ge¬
härtete Frau ihr irdisches Dasein.
Charlotte von Kalb ist nicht wie die meisten Dichterfreuudinnen der klassischen
Zeit als Schriftstellerin aufgetreten. Die Formlosigkeit ihrer Ausdrucksweise
hinderte sie daran. Aber den Versuch hat sie gemacht. Im Sommer 1817
schreibt sie an Jean Paul, sie habe, durch die ökonomischen Verhältnisse ge¬
zwungen, ein kleines dialogisirtcs Werkchen von zehn Bogen unter dem Titel:
„Johannes, ein Traum, erweckt durch eine dämonische Sage," drucken lassen
und in eignen Verlag genommen. „Der Gegenstand — fügt sie hinzu — be¬
trifft eine Sache, die in diesen Jahren viel Jammer erregt hat, nämlich den
Wucher... Meinen Namen habe ich nicht beidrucken lassen, möchte ihn auch
nicht bekannt haben." Die ganze Angelegenheit war ein totgeborenes Unter¬
nehmen. Nach ihrem Tode ließ ihre Tochter zwei Bändchen Erinnerungen
drucken, welche ihr die Mutter diktirt hatte. Das erste Bändchen enthält die
Memoiren, welche bis 1791 reichen, also hauptsächlich ihre Beziehungen zu
Schiller in einer aphoristischen, idealisirenden, hie und da aber mit feinen Be¬
merkungen und zarten Schilderungen durchwehten Schreibweise darlegen; das
zweite Bändchen enthält einen Roman „Cornelia," der in der mystischen, dem
Klosterleben zugewandten Anschauungsweise ihrer Jugend wurzelt und in einem
wirren Durcheinander von Episoden und Bekenntnissen manches selbsterlebte
enthält. Hier wie in ihrem Leben trifft das Urteil Herders zu, der als den
Kern ihres Wesens eine gewaltige Einbildungskraft annimmt und sagt, diese
habe ihr zwar eine ungewöhnliche Elastizität des Gemütes verliehen, sie aber
gehindert, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist, und sie ihr immer nur in
schwankenden Bildern gezeigt.
le Deutschen hatten in ihrem Nibelungenliede, in der Gudrun
und in den Dichtungen der Minnesänger wertvolle Denkmale
ihrer literarischen Vergangenheit. Die Tschechen, welche seit dem
Ende des vorigen Jahrhunderts sich auf die ihrige zu besinnen
anfingen, wobei sie von Deutschland her angeregt und ermuntert
wurden, mußten auch etwas der Art haben, und stehe da, es währte nicht
lange, so bekamen sie es.
Am 16. September 1817 entdeckte Wenzel Hanka im Gewölbe des Kirch¬
turms zu Königinhof eine Anzahl von Gedichten in altböhmischer Sprache. Nach
der einen Lesart fielen sie von einem Schranke, nach der andern fand er sie
unter uralten Pfeilspitzen. Es waren zwölf ganze und zwei der Länge nach
durchgeschnittene Blätter, die mit sehr kleiner Schrift bedeckt waren und, wie
nähere Besichtigung zeigte, vierzehn Gedichte und Bruchstücke von solchen enthielten.
1819 ging ihr Text in Begleitung einer neutschechischen und einer deutschen
Übersetzung gedruckt in die Welt, die den Schatz mit freudigem Erstaunen
aufnahm, welches u. a. auch von Goethe und Grimm geteilt wurde. 1845
folgte eine besondre deutsche Übersetzung, besorgt vom Grafen Thun, 1852 eine
Polyglotte der Handschrift, die sie fast allen Völkern Europas zugänglich machte,
1873 erschien eine illustrirte Ausgabe des Fundes, der, wie inzwischen die Ge¬
brüder Jiretschek nachgewiesen hatten, aus dem dreizehnten Jahrhundert stammte
und teils ans epischen, teils aus lyrischen Dichtungen bestand. Von jenen bezog
sich die erste auf die von der Hajekschen Chronik berichtete Vertreibung der
Polen aus Prag, die 1004 stattgefunden hatte, die zweite behandelte die Niederlage
einer sächsischen Kriegerschaar, die dritte schilderte den Sieg, den 1241 die von
Jaroslaw geführten Tschechen bei Olmütz über die Mongolen erfochten hatten
oder erfochten haben sollten, das vierte Gedicht betraf die Besiegung Vlaslaws,
den der Chronist Kosinas erwähnt, das fünfte beschrieb ein Turnier mittel¬
alterlicher Tschechenritter, das sechste endlich erzählte den siegreichen Kampf
der heidnischen Häuptlinge Zaboj und Slavoj mit einem christlichen Heere
unter einem gewissen Lübek, der 805 stattgefunden haben sollte.
Die Ansehen der Handschrift Hcuckas wurde, nachdem letztere durch Scha-
fariks Einleitung und Palaekys Anmerkungen zu der Thunschen Ausgabe zu
einem Nationalschatze ersten Ranges erhoben worden war, ein Gegenstand eifer¬
vollen Streites. Schon Kopitar bezweifelte sie, während Grimm und Pertz sie
anerkannten. Später, 18S8, erhoben Sembera, dann Büdinger und Watten¬
bach, jener 18S9, dieser 1863, vom historischen, endlich Feifalik (1860) von
paläographischem Standpunkte schwere Bedenken gegen sie, wogegen Nebesky
und die Jiretschcks mit Verteidigungsschriften für sie zu Felde zogen. Der Streit
schlummerte dann einige Zeit. Die deutschen Gelehrten hielten ihn für ent¬
schieden und zwar gegen Hankas Machwerk, die tschechischen ließen ihn aus „patrio¬
tischen" Gründen ruhen, auch wo sie den Deutschen im Stillen beipflichteten,
zumal da sie fürchten mußten, durch Zweifel an dem Werte des gefeierten „alt¬
tschechischen Literaturdenkmals," sich unter ihrer Nation bittere Feindschaft
auf den Hals zu ziehen. Da hatten im vorigen Jahre zwei jüngere tschechische
Professoren den Mut, sich über diese Bedenken ihrer Kollegen hinwegzusetzen
und der Wahrheit die Ehre zu geben. Im Februarhefte der vom Professor Ma-
saryk redigirten Monatsschrift „Athenäum" veröffentlichte Professor Gebauer einen
Artikel „Über die Notwendigkeit weiterer Prüfungen der Königinhofer und der
Grüueberger Handschrift," in welchem beide gründlich zerfasert und damit für
alle Vorurteilsfreien endgiltig abgethan wurden. Hier soll uns nur das, was
Über die erstgenannte zu sagen war, einigermaßen ausführlich beschäftigen. Von
dem andern Schwindelprodukte genüge, zu sagen, daß es im Jahre 1817 von
Franz Kovar im Archive des Schlosses Grüneberg „entdeckt" worden sein und
aus dem neunten Jahrhundert stammen soll, daß es zwei Bruchstücke epischer
Gedichte: „Die Landtage" und „Libussas Gericht" enthält, und daß es gleich
der Hankaschcn Fälschung sich noch heute der Ehre erfreut, im böhmischen Na¬
tionalmuseum als kostbare Reliquie aufbewahrt zu werden, obgleich schon nach
Kovitars und Büdingers Untersuchungen kein Verständiger mehr daran zweifeln
konnte, daß es ein Fabrikat unsers Jahrhunderts ist.
Die paläographische Prüfung der Königinhofer Handschrift zeigt vierund¬
siebzig Nasnren auf zwölf kleinen Blättern, während mittelalterliche Schreiber
Irrtümer weniger mit dem Radirmesser als durch Unterpunttiren berichtigen.
Ferner wird in allen alten Handschriften in der Weise korrigirt, daß unge¬
bräuchlich gewordene Wortforme» vom Abschreiber durch neuere, verständlichere
ersetzt werden. Bei Hankas Fund verhält sich's umgekehrt, und man fragt sich:
Konnte ein Schreiber des dreizehnten Jahrhunderts beim Radiren und Ver¬
bessern seiner ersten Niederschrift auf den Gedanken geraten, verständliche Worte
durch unverständliche, veraltete zu ersetzen, zumal da die Gedichte keine Reime
haben, die auf ältere Formen erhaltend wirken konnten? Zeigt es nicht deutlich
den modernen Fälscher, wenn er eine neutschechische Form hinschreibt und dann
die philologisch erschlossene alte dafür anbringt? Hanka hatte die Handschrift
mehrere Jahre in seiner Verwahrung, und je mehr er seine grammatische
Kenntnis erweiterte, desto mehr Fehler fand er in seiner ersten Niederschrift zu
berichtige!?, und nur die „alte Tinte," d. h. die aus dem Jahre 1317, fehlte
ihm, um die Fälschung vollkommen zu machen.
Im Jahre 1817 kannte man das Alttschcchische trotz der bahnbrechenden
Arbeiten Dobrovskhs nur sehr unvollkommen. Seine Schüler, zu denen Hanka
gehörte, kamen ihm auch nicht entfernt nahe, und von einer Fälschung, die aus
diesen Kreisen hervorging, wird man daher g. priori eine Sprache erwarten
können, welche den Ergebnissen der neuesten Forschung keineswegs entspricht.
Das Urteil der historischen Grammatik lautet denn auch für die Königinhofer
Handschrift geradezu vernichtend. Ihre Sprache ist in ihrem syntaktischen Ge-
füge ganz modern, sie macht den Eindruck des Altertümlichen nur durch alte
Wörter, von denen überdies viele russische, polnische und serbische Fremdwörter
sind, und dieses Bild wird dnrch die häufigen Germanismen des Textes nicht
verschönert. Gebauer war in der Lage, die Sprache des letzteren mit der einer
gewaltigen Menge unzweifelhaft echter literarischer Denkmäler aus dem tsche¬
chischen Mittelalter zu vergleichen, und das Ergebnis seiner Vergleichung
ist: in den ungefähr 6400 Wörtern der Königinhofer Handschrift, deren
Sprache man bisher in weiten Kreisen als ein Alttschechisch reinsten Wassers
betrachtet hatte, finden sich über siebenhundert Verstöße gegen alle Regeln
der alttschechischen Grammatik. Unter andern sind die Formen des Kompa¬
rativs meist unrichtig angewendet, für die nominale Form des Adjektivs zeigt
sich große Vorliebe, und ebenso manierirt ist die Vorliebe für Adverbialformen
auf o, endlich begegnet man auch Abweichungen von der Syntax. Zum Beispiel
bedeutet als alttfchechisch xroxtsr, neutschechisch Zseunärirn, und in Hankas Hand¬
schrift kommt es nur in letzterer Bedeutung vor, U8i1no entspricht alttschechisch
dem lateinischen on)1ö8t<z, und ctrukcl^ dem lateinischen intörclurn, in der Hand¬
schrift aber hat jenes wie im Neutschechischen die Bedeutung von tortiter, dieses
die von olim.
Man hat die Gedichte der Königinhofer Handschrift mit einem erratischen
Blocke verglichen, der in der gesamten tschechischen Literatur ohne alle Ver¬
bindung daliege, und das Gleichnis trifft zu, wenn man sie nur mit den ächten
Dichtungen des spätern tschechischen Mittelalters zusammenhält, sie unterscheiden
sich von diesen in formaler wie in stofflicher Hinsicht wie Tag von Nacht,
d. h. wie moderne Fabrikate von alten Schöpfungen. Es trifft aber nicht zu,
wenn man es auch auf die tschechische Literatur der ersten fünfzehn Jahre unsers
Jahrhunderts anwendet, von der sich Hankas Entdeckung weder nach ihrer Form
noch nach ihrem Inhalte sehr wesentlich unterscheidet. 1806 übersetzte Jung¬
mann Chateaubriands „Atala," 1811 Miltons „Verlornes Paradies," 1803
ließ Nejedly seinen „Hlciscitel" erscheinen, 1814 gab Puchmaier eine Sammlung
„Neuer Gedichte" mit Beiträgen von Marck und andern heraus, und in allen
diesen Werken fanden sich bereits sehr viele von den Worten und Satzbildungen,
die man später und bis vor kurzem in der Königinhofer Handschrift als etwas
ungewöhnliches, vollkommen neues anstaunte. Ja die Übereinstimmung dieser
Poesien des neunzehnten Jahrhunderts mit jener ist so groß, daß sich fast das
ganze Glossar der letzteren in seinen Worten, Konstruktionen und Figuren mit
Stellen aus der ersteren belegen ließe. Wenn wir die Königinhofer Hand¬
schrift noch für ächt halten wollen, so muß dem alten Tschechen des dreizehnten
Jahrhunderts prophetische Gabe verliehen gewesen sein. Der Grundgedanke des
„Jaroslav" stammt aus „Des Knaben Wunderhorn," die Szene am Hostein in
demselben epischen Fragmente erinnert an viele Stellen in Tassos (Z-LruWlsurmg
lldsrickg., das russische Jgorlied, ein Kunstprodukt des ausgehenden achtzehnten
Jahrhunderts, muß dem Dichter des dreizehnten auch schon vorgelegen haben,
zwei Verse der Prophezeiung im „Jaroslav" sind wörtlich der alttschechischen
Übersetzung des Mlliono Marco Polos entnommen, deren älteste Handschrift
erst im fünfzehnten Jahrhundert entstand. Unter den lyrischen Stücken der
Handschrift finden „Die Rose," „Die Erdbeeren" und „Zbyhon" in einer Samm¬
lung russischer Volkslieder, die zuerst 1790, dann 1806 und 1815 in neuen
Auflagen erschien, nicht bloß Parallelen, sondern ihre Originale.
Man hat die Gedichte der Handschrift wegen ihres Naturgefühls, wegen
der Empfindsamkeit und wegen der Ideen der Humanität, der Freiheit und der
Vaterlandsliebe, die sie atmen, bewundert, dabei aber den Schluß zu ziehen
vergessen, daß sie wegen dieser Gefühle und Ideen nicht im Mittelalter ent¬
standen sein können, das davon nichts wußte. Man hat sie dann als volks¬
tümlich gepriesen und, als sich das nicht mehr gut behaupten ließ, wenigstens
gemeint, sie seien auf Grund uralter slawischer Volksdichtungen entstanden und
für das Volk geschrieben worden. Volkstümlich oder nicht heißt aber hier ächt
oder unächt, und so betrachten wir mit Massaryk zunächst einige der lyrischen
Gedichte von diesem Gesichtspunkte aus. Ju dem russischen Vorbilde des
„Zbyhon" wird zuerst ein Tauber gefragt, warum er so traurig sei, und er ant¬
wortet, seine Taube sei ihm erschossen. Dann ergeht dieselbe Frage an einen
Jüngling, und er erwiedert, sein Mädchen sei mit einem andern vermählt worden.
Der tschechische Nachahmer aber läßt den Jüngling sich am Anblick des girrenden
Taubenmäunchens begeistern. „Wärest du bewaffnet sagt er, so würdest dn mit
dem Ränber kämpfen"; worauf er sich rüstet, die Burg erstürmt, alles darin um¬
bringt und schließlich des Taubers Weibchen findet und befreit. Das sind weder
volkstümliche noch geschickte Zusätze. Die Taube gilt nirgends als tapferer Vogel,
und ein junger Held, der erst die ganze Besatzung einer Burg mordet und
dann die Nacht hindurch mit seinem Mädchen das Lager teilt, girrt nicht
empfindsam mit Tauben. In dem Volksliede, welches im „Sträußchen" der
Handschrift verballhornt ist, blüht zu Häupten eines Burschen ein Rosmarin¬
strauch. Er läßt ihn in ein Wasser fallen, damit ihn die ausfische, die sein
Schatz zu werden bestimmt ist. Müllers Ludmilla geht mit andern Mädchen
zum Bache, um Wasser zu schöpfen, der Nosmarinstrauß schwimmt auf sie zu,
und als sie sich darnach bückt, fällt und ertrinkt sie. Das Lied schließt mit ihrem
Begräbnis. Ganz uuvolkstümlich und unnatürlich dagegen der Nachahmer, bei
dem das Mädchen erst, nachdem sie ins Wasser gefallen ist, mit der Blume sich
unterhält; ein Volkslied von einem Strauße aus Veilchen und Rosen redet, die
man nur im Treibhause beieinander sehen kann, und das Mädchen von jemand
spricht, der den „Strauß" in die Erde gepflanzt hat. Die slawische Volks¬
dichtung liebt konkrete Schilderungen. „Die Erdbeeren" der Handschrift und
„Der Hirsch" zeigen davon nicht das Geringste. Im letzteren Liede pflegt ein
ungenannter Jüngling über ungenannte Berge und Thäler zu wandeln und
„dort" Feindesschcmren zu vernichten, die ebenfalls ungenannt bleiben. Zuletzt
wird er von ihnen erschlagen. Der „parallele" Hirsch aber bleibt am Leben
und springt noch mit raschen Füßen durch den Wald, als auf dem Grabe des
jungen Anonymus schon eine hohe Eiche steht. Die anonymen Jungfrauen, die
ihn betrauern, klagen auch jetzt noch um ihn. Abgeschmackt zwar, aber nicht
volkstümlich ist die Gradation im „Kukuk": „Wie könnte Getreide reifen, wenn
es immer Frühling wäre? Wie könnten Äpfel reifen, wenn es immer Sommer
wäre? Wie könnten die Ähren im Schober frieren, wenn es immer Herbst wäre?
Wie sollte das Mägdlein traurig sein, wenn es immer allein wäre?" Bei den
epischen Stücken der Handschrift tritt der Mangel an konkreter Anschauung, die
das Volkslied und namentlich das slawische charakterisirt, noch häufiger hervor.
Es wimmelt hier geradezu von „rechts" und „links," von „dahin" und „dorthin,"
von „vorn" und „hinten" und andern unbestimmten Ausdrücken. Das angeb¬
liche Nationalepos „Zaboj" ist ein so nebelhaftes Opus, daß man nicht einmal
weiß, ob der darin geschilderte Kampf in Böhmen spielt. Der Eingang läßt
auf eine Melodramenbühne dritter Güte schließen. Aus einem schwarzen Walde
sieht man einen Felsen aufragen. Auf diesen stellt sich der Held und weint
wie eine Taube. Dann begeistert er sich zu Thaten und eilt von einem zum
andern, versammelt sie in tiefer Nacht in Waldeseinsamkeit und entzündet sie
durch ein Lied zum Kampfe, wobei er sich (wohl aus Vorsicht, schwerlich aus
Gründen der Akustik) auf die tiefste Stelle postirt. Dann abermalige mitter¬
nächtliche Versammlung, darauf tagelanger Marsch ohne irgendwelche Anfechtung,
sodaß die bisherige Vorsicht des Helden unbegreiflich erscheint, endlich Zusammen¬
stoß mit dem Gegner. Kaum ist dieser geschlagen, so erschallt das Kommando:
„Bringet aus allen Thälern Rosse herbei, der ganze Wald sei Gewieher." Es
geschieht, und nun wird verfolgt, wieder Tage lang und natürlich wieder ohne
andre Bezeichnungen als „wilder Strom," „blauer Berg," „grauer Berg"
u. dergl. — eine Verfolgung, die sich mehr mit der Landschaft als mit dem
flüchtigen Feinde beschäftigt, und von der es u. a. heißt: „Es flogen Ebnen,
Berge und Wälder — rechts und links, alles fliegt zurück." Offenbar hat
Hanka — Verzeihung, dem Dichter des dreizehnten Jahrhunderts, dessen Epos
jener unter verrosteten Pfeilspitzen fand — der bekannte Vers in Bürgers
„Leonore" vorgeschwebt. Diese Ballade bringt uns noch auf eine Bemerkung:
die Epen der Königinhofer Handschrift sind eigentlich Balladen. Man sehe
sich den „Jaroslav" an. Er holt weit aus und erzählt sehr kurz. Er
berichtet, von den Schwaneneiern Ledas anfangend, den ganzen Mongolen- oder
Tatareneinfall. Nach drei Proömien erzählt er von der Exkursion der ta¬
tarischen Prinzessin, von ihrer Ermordung, von einer großen Schlacht mit
Wunderzeichen und Hexenkünsten, von der Unterwerfung Ungarns und Polens;
er berichtet ferner von der Einschließung einer Kriegerschaar auf dem Hostein,
von den Kämpfen daselbst, er bringt ihre Gebete, die Wunder der Mutter
Gottes und schließlich die Schlacht bei Olmütz, wo der Held des Gedichts
auftritt — das alles aber wird uns in nicht ganz dreihundert zehnsilbigen
Versen mitgeteilt, sodaß von irgendwelcher epischen Breite nicht die Rede sein
kann. Dieselbe balladenhafte Kürze treffen wir in den übrigen erzählenden
Gedichten der Handschrift. Man hat ihre „unerreichte Schönheit" gepriesen,
in Wahrheit darf man sie kaum poetisches Mittelgut nennen. Wie sie graphisch
und sprachlich das dürftige Wissen der „tschechischen Renaissance" wiederspiegeln,
so zeigen sie auch das schwächliche dichterische Vermögen derselben. Die mächtige,
reich entfaltete klassische Literatur der Deutschen und noch mehr deren Romantiker,
die zwar als Kritiker bedeutend, als Poeten aber meist recht impotent waren,
bot den damaligen tschechischen Vcrsifexen die Muster und die literarischen
Richtungen, die Sprache schöpften sie aus den wenigen, ihnen bekannten alt¬
tschechischen Gedichten, und die Ideen der Freiheit, Humanität und Nationalität,
welche ihre mittelalterlichen Helden vertreten, hatte ihnen Frankreich geliefert.
Die Gedichte der Königinhofer Handschrift sind Mache, größtenteils ungeschickte
Mache, und nur die geringe Bildung und der verblendete Fanatismus jener
Renaissance der Tschechen konnte darin etwas andres, Seitenstücke zu dem
Nibelungenliede und zu den Minnesängern erblicken. Eher könnte man sie jetzt
Seitenstücke zur Mormonenbibel nennen. Jener nationale Fanatismus aber
will auch die letzte Aufdeckung des Hankaschen Humbugs nicht anerkannt wissen.
Unverkennbar gepreßten Herzens sprach die Prager Tschechenpresse über das
Auftreten Gebauers und Masarhks, und ein Blatt erklärte es gerade heraus für
ungehörig, daß sie angesichts des Kampfes mit den Deutschen solche Er¬
örterungen angestellt hätten. Die Königinhofer Handschrift sei dem tschechischen
Volke so ans Herz gewachsen, daß es unrecht sei, sie mit dem Sezirmesser
einer eiskalten linguistischen Chirurgie loszutrennen. Und anderswo wurde
bemerkt: „Und wäre diese Banknote auch wirklich Fälschung — wir haben zu
viel dafür gekauft, um das eingestehen zu können: unsre Wiedergeburt, unsre
poetische Literatur." Hörten wir recht? Wiedergeburt eines Volkes auf Grund
einer Fälschung? Poetische Literatur, erwachsen aus Schwindel? Je nun, sie
sagen's selber, und da muß es wohl richtig sein. Wir gratuliren dazu.
ente waren weniger Franzosen in der Stadt sichtbar, es muß
etwas bei ihnen vorgehen. Auch bringt die Post wieder einige
Sachen und Briefe von Se. Johann zu uns herüber in mög¬
lichst privater Form. So kam eine lakonische Anfrage an mich:
,Lebt ihr noch?" Ich ersah daraus, daß man eine kurze
Zeitungsnotiz, die Franzosen hätten unsre Städte in Brand geschossen, doch
allzu wörtlich genommen hatte. Man behandelt uns im Gegenteil sehr
glimpflich, wie Leute, die man einst für sich gewinnen und behalten will. Man
hatte schon einen Maire für unsre Stadt im Auge, auch einen Direktor der
fiskalischen Saarkohleubergwerke, die an Frankreich übergehen sollten. Damit
wird es wohl nichts werden.
Soeben wird auf den Höhen in eigentümlicher Weise mit französischen
Signalen operirt. Einige wollen behaupten, die Franzosen seien im Begriff,
abzuziehen. Ein Mann, der von Umnak kam, wußte noch mehr zu erzählen
und begeisterte uns sehr. Er sagte, gestern Abend sei bei dem Obersten in U
m¬
nak eine Depesche angekommen, wonach die Franzosen in der Gegend von
Weißenburg eine Schlappe erlitten hätten. Darauf hätte der Oberst die Offi¬
ziere um sich versammelt, in aller Heimlichkeit. Und als die Offiziere wieder
entlassen worden seien, habe er zu seinem Quartierwirt gesagt: „Wir verlasse»
Umnak morgen. Wenn Sie mein Regiment noch einmal sehen wollen, müssen
Sie uns in Paris besuchen." Das war für uns wie Manna; eine wahre
Prophetie. Der Siegeszug nach Berlin war demnach aufgegeben worden. Wir
hatten geglaubt, die ersten Treffen würden für uns unglücklich sein. Nach dem,
was uns aus Umnak gemeldet worden ist, muß gleich das erste Treffen für
uns siegreich gewesen sein.
In der tiefen Nacht ertönten noch einmal Signale. Dann wurde alles
still. Wir hoffen, daß morgen die Höhen verlassen sind und daß die Wacht¬
posten am Triller nicht mehr da sind, um in unsre Häuser hineinsehen zu können.
Das war gestern ein aufregender Tag, wie ihn unsre Städte schwerlich
je erlebt haben. Er sollte noch nicht ein Tag der Schlacht werden, aber er
wurde es doch, und ein Tag des Sieges, freilich eines schwer erkauften Sieges.
Schon am Morgen ritten starke Kavalleriemassen durch die Stadt den
Metzer Weg hinauf (Nheinbaben). Sie kamen nicht weit, ihre Spitzen wurden
von Spicheren her mit Schüssen begrüßt, es galt für sie also, nachdem sich die
Unmöglichkeit herausgestellt hatte, auf irgend einem Wege die Berge hinauf¬
zukommen, eine geschützte Stellung aufzusuchen.
Der Tag wurde schon heiß, als gegen zehn Uhr die ersten Jnfanterie-
regimenter Ur. 39 und 74 in langen Zügen durch Saarbrücken hinauf mar-
schirten, sie waren zum Teil schon ermüdet, alle staubig und durstig. An den
Hauptstraßen standen die Einwohner, besonders Frauen und Mädchen, und
hielten eine Menge von Gefäßen bereit, voll Wein und Wasser. Viele konnten
sich im Vorbeigehen laben, und man sah, wie Wohl es ihnen that. Manchen
Soldaten wurden Zigarren in die Taschen gesteckt. Es war, als müsse jeder
unsrer Mitbürger nach so langen Tagen den preußischen Soldaten noch etwas
Liebes anthun. Die Soldaten empfanden das auch. Die Stimmung war vor¬
trefflich, freilich die Offiziere sahen sehr ernst drein. Wir hörten bald, daß
man fürchtete, den Feind nicht mehr zu erreichen, und daß die Kriegsarbeit
dann, wenn sich die Korps um Metz gegen uns in aller Stärke und mit un¬
gebrochenen Mute sammelten, für uns schwieriger sein würde. Die Ansicht,
daß der Feind im Abmarsch sei, war richtig, aber eine starke Macht war auf
den Spicherer Bergen zurückgeblieben, und als diese angegriffen wurde, warf
Frossard von Forbach aus seine ganze Schaar wieder nach der preußischen
Seite. Auf der Landstraße drängte sich alles nach Stieringen und der goldenen
Brenne, auch der Stieringer Wald und der Wald bei Schönecken wurde besetzt.
Mittlerweile kamen immer mehr Regimenter durch die Städte, sie mußten
auf verschiednen Wegen links und rechts die Höhen gewinnen, um sich nicht zu
hindern. Einen besonders ernsten Eindruck machten auf uns die Krankenträger,
die durch so vieles auf das bevorstehende Elend hinwiesen, von dem doch nie¬
mand etwas wissen wollte. Denn so glücklich ist der Mensch organisirt, daß,
wenn ihn eine große, kraftvolle Idee erfaßt, die andern Nebengedanken für eine
Weile keinen Raum in ihm finden. Die Führer trieben zur Eile, denn man
hörte, daß der Feind standhalte, und die Kanonen dröhnten weithin. Im Lauf¬
schritt gings durch die Stadt, bis an die Höhe. Wir sahen, wie andre von
unsern Truppen die Eisenbahnbrücke stromabwärts am Schanzenberg benutzten,
UM auf den Stieringcr Wald vorzurücken. Durch die Städte zogen über beide
Brücken ganze Züge von Artillerie, nach denen wir uns besonders gesehnt hatten.
Ein schmerzlicher Gedanke erfüllte uns doch, die wir ortskundig waren
und die Steilheit und Höhe der Berge aus Erfahrung kannten. Wir wünschten
so sehr, man möge den hervorspringenden roten Berg nicht zum Angriffspunkt
wählen, sondern einen kleinen Umweg machen, um hinter Umnak in Sicherheit
den Stiftswald zu ersteigen und so durch den Giffertswald in gleicher Ebene
die Franzosen anzugreifen. Allerdings benutzte man später auch den Gifferts¬
wald, aber die ersten und die meisten Angriffe gingen doch durch das freie Feld
nach dem steilen Berge zu, auf dessen AbHange nur einige Bäume, Obstbäume
und Pappeln, geringe Deckung boten. Gerade die freie Strecke bis an den Fuß
der Höhe war höchst gefährlich bei der weittragenden Waffe der Franzosen.
Am Fuße des Berges konnte man sich eher etwas sicher fühlen. Weiter nach
oben zu dringen ist für den Touristen, der nur seinen Stock trägt, im Sommer
schon beschwerlich. Jetzt kletterten unsre Soldaten, ohne Tornister, aber dennoch
schwer genug belastet, hinauf. Hie und da mußten sie, um sich zu halten, die
Hand zu Hilfe nehmen, und oben, kurz bevor sie die erste Terrasse erstiegen,
kamen sie in ein entsetzliches Feuer aus vorbereiteten Schießgräben. Es war
für die Zuschauer niederschlagend, wie die ersten müden Züge, die den Sturm
versuchten, tot oder verwundet den Berg herunter rollten. Wir fürchteten, die
französischen noch frischen Jnfanteristen möchten herabsteigen und die erschöpften
Stürmer einfach niederschlagen. Aber das Plateau des Berges war nicht ganz
ohne Abstufungen und bot unsrer Korpsartillerie, die in der Ferne gut auf¬
gestellt war, genug Angriffspunkte. War ein Sturmversnch von unsrer Infanterie
mißlungen, so zerstoben die anrückenden Massen der Franzosen vor den Granaten,
die mit der größten Sicherheit auf sie geschleudert wurden.
Doch wir wollen nicht beschreiben, was allein die Männer vom Fache
beurteilen können und was sie jedenfalls genau darstellen werden. Wir hatten
uns auf der Lerchesflur aufgestellt, etwa 25 Minuten von dem roten Berge.
Wir sahen wohl, daß unsre Soldaten schwer ringen mußten und nicht vorwärts
kamen. Und als nun auch von Stieringen her ungeheure Massen herankamen,
glaubten wir schon, daß der Tag für uns verloren sei. Aber es war nur
Täuschung. Es trafen immer noch neue preußische Truppen ein. Die Heerführer,
zu denen von Alvensleben (vom dritten Armeekorps) gestoßen war, verfolgten
ihren Plan mit aller Energie, es gelang fogar, einige Artillerie auf die Höhe
zu bringen. Die Preußen hielten auch den wichtigen Stieringer Wald, freilich
mit unglaublichen Mühen und Opfern. So ging es doch allmählich vorwärts.
Als ich die Höhe des Hahnen wieder aufsuchte, sah ich am Wege auf Holz¬
balken zwei Soldaten vom 39. Regiment sitzen, ganz blaß und erschöpft von
dem ersten mißlungenen Sturm. Ich nahm einige Zigarren heraus, um sie
ihnen zu geben. In demselben Augenblicke wurde ein verwundeter Unteroffizier
von einem brandenburgischen Regiment die Landstraße herunter getragen, er
war offenbar noch in dem Zustande, in dem die Wunde die Kräfte eher erregt
als vermindert, und rief mir zu: „Geben Sie den Kerls keine Zigarren, sie
haben sich ganz schlapp gehalten, geben Sie sie unsern Leuten." Ich ließ mich
natürlich nicht von meinem Vorsatz abbringen. Der eine von den Müden
sagte nichts, der andre sagte ruhig: „Was will der Mann?" Wiewohl ich jene
Kritik von dem so allgemein verbreiteten militärischen Sondergeist aus begriff,
so war doch etwas an der Sache, wie ich erfuhr. Bald nachher traf ich ein
Jägerbataillon, das mich fragte, ob sie nicht zu spät kämen, um in den Gang
der Schlacht einzugreifen; ich konnte ihnen versichern, daß noch recht viel zu
thun sei.
Die immer schneller wachsende Zahl von Verwundeten zeigte auch dem
Laien, wie mörderisch die Schlacht war. Die Einwohner machten sich eilig
mit Wagen auf, um bei dem Transport der Verwundeten Hilfe zu leisten.
Sie fuhren oft weit hinein in die Reihen der Kämpfer. Selbst Frauen und
Mädchen aus der Stadt und Umgegend — ich nenne Maistatt — gingen mit
Todesverachtung zu den daliegenden Verwundeten. Die Steinbrüche wurden zum
Verbandplatze gewählt, da sie so guten Schutz boten und als an der Landstraße
befindlich leicht von den Transportwagen zu erreichen waren. Gegen Abend
drangen die vaterländischen Soldaten von allen Seiten auf die Spicherer Berge,
vom Giffertswalde, von dem steinernen Vizinalwege, vom Noten Berge, wo
der Kampf am heftigsten gewesen war, von der nordwestlichen Thalseite durch
alle Schluchten, auch von der goldenen Brenne aus, nachdem die dort auf¬
gestellten Franzosen nach Forbach zu gewichen waren. Der Rückzug der Fran¬
zosen wurde erst in der Dämmerung allgemein bemerkbar. Bald nachher hörte
man bei ihnen die abgeschmacktesten Vorwürfe gegen ihre Führer. So hieß
es, die Generäle Hütten sie zuletzt dadurch zum Rückzug gezwungen, daß sie
ihnen die Patronen vorenthalten hätten.
Es war ein unbeschreiblich großes Glück, das wir empfanden, als wir uns
sicher von den roten Hosen befreit fühlten. Aber es ist bis jetzt nicht recht
möglich, sich der Freude hinzugeben. Das Elend, das die Schlacht im Gefolge
hat, ist zu groß. Im Laufe des 6. August hatte mich ein Stabsarzt V. be¬
sucht, den ich von Berlin her kannte; ich bewog ihn, bei mir zu wohnen, aber
ich sah ihn kaum. Denn sehr bald hatte er in der Ulaucnlaserne, in der eins
der Lazarete aufgeschlagen war, mit den Opfern der Schlacht unablässig zu
thun. Außerdem wohnten drei Diakonissen bei uns. Dazu kamen am Abend
des 6. aus der Schlacht zu mir sechsunddreißig unverwundete Soldaten und
Unteroffiziere vom 48. Regiment, die sich so gut als möglich einrichteten. Alle
andern hatten in ähnlicher Weise ihre Räume für die müden Soldaten herzu¬
geben, und wie gern thaten es alle! Aber das schlimmere war die ungeheure
Zahl der Verwundeten. Alle verfügbaren Räume waren längst ermittelt. Die
Kasernen, einige Kliniken, große Vvlksschulgebäude, das Gymnasium, die Ge¬
werbeschule, große Privatwohnungen, alles wurde mit Hilft der Johanniter
in Stand gesetzt, um Verwundete aufzunehmen. Die anscheinend leicht Verwun¬
deten wurden möglichst bald nach dein Rhein und weiter gesandt. Dennoch war
die Not groß. Auf großen Wagen wurden die neu gebrachten verwundeten
von einer Thür zur andern gefahren und überall gefragt, ob noch eine Mög¬
lichkeit sei, jemand zu verpflegen. So fanden noch viele ein Unterkommen.
Aber auch französische Verwundete wurden gern aufgenommen. Ein Bankier,
der viele Beziehungen zu Frankreich unterhielt, hatte sich eine größere Anzahl
leicht verwundeter französischer Offiziere ausgebeten, denen ihre Burschen Bei¬
stand leisteten. Die Freude über den Sieg ließ die bittern Gefühle gegen die
Feinde, die all das Elend verschuldet hatten, nicht recht aufkommen. Ein Um¬
stand verbitterte ewigen der besten Familien ihre Bereitwilligkeit, ihre Säle zu
Lazareteu umzuwandeln; es war die Not um ärztliche Hilfe. Wie viele Ärzte
auch in den Tagen in den Städten arbeiteten, sie waren in den offiziellen
Stellen so beschäftigt, daß sie nicht auch die zerstreuten Punkte, wo Verwundete
lagen, besuchen konnten. Und wie denn die Ärzte auch Menschen bleiben, so
ist es nicht ganz unbegreiflich, daß eiuer von ihnen einer Dame, die gegen
zwanzig verwundete Preußen in ihrem Hause verpflegte, einen Vorwurf daraus
machte, daß sie so gehandelt habe, da sie doch habe wissen können, wie schwer
sie ärztliche Pflege für die Leute haben werde.
Meine beiden Verwundeten haben es besser, denn ich habe meinen Doktor
im Hause. Der eine ist ein Westfale aus Langschede, durch den Ellenbogen
geschossen; der offizielle Arzt hat ihn für leicht verwundet erklärt, Doktor V.
aber schüttelt den Kopf dazu.*) Der andre Verwundete war in der That leicht
verwundet; Schuß durch die Fußsohle. Ich sah ihn erst gestern. Er war aus
dem Lazaret entfernt worden, ging mit seinem Gewehr über die Straße nach
dem Bahnhof zu, er hinkte und von Zeit zu Zeit lehnte er sich an die nächste
Mauer, finsteren Blickes. Ich wollte nicht glauben, daß er die fünfzehn Mi¬
nuten zum Bahnhof zurücklegen könne, und nahm ihn ins Haus. Auf meine
Fragen gab er Antworten, die mir zeigten, daß er verbittert war über die
Ausweisung aus dem Lazaret uach so mühevoller Kampfesarbeit. Ich tröstete
ihn, schrieb für ihn an seine Frau in der Neumark, und darauf schlief er un¬
unterbrochen zwanzig Stunden. Nun erst konnte man vernünftig mit ihm reden.
Dies ist mir eine Kleinigkeit gegen die großen Ansammlungen von Leid
in den Lazareten selbst. Ich spreche nur von dem, was im Gymnasium er¬
richtet ist. Aula und Klassen sind für diese Zwecke eingerichtet, in einem
Klassenzimmer am Eingang ist der Operationssaal der Ärzte, die von Johan-
nitern unterstützt werden. Schnell hatten sich am Abend der Schlacht alle
Räume mit Kranken gefüllt, die sechs ersten Verwundeten waren dem Tode schon
nahe und nicht mehr imstande, ihre Namen anzugeben. Die Marke, die sie
trugen, gab erst Aufschluß über ihr Nationale. Man mußte auch den Kor¬
ridor des Gebäudes zu Hilfe nehmen, und auf dem Stroh lagen bald zwei
Reihen von Verwundeten, zwischen welchen die Pfleger sich vorsichtig hindurch
winden mußten. Nach vierundzwanzig Stunden war diese Not an Raum zu
Ende, denn man hatte so viele beerdigen müssen, daß die übrigen hinreichenden
Platz fanden. Ich bekam von einem bekannten Kollegen aus Düsseldorf E.
den Auftrag, mich nach seinem Sohne, einem Vizefeldwebel, der verwundet in
der Aula liege, umzusehen, und es gelang ihn aufzufinden, schon gestern, am
Sonntag. Der Wärter sagte mir, E. sei von einer Kugel tötlich in die Brust
geschossen und werde den Sonntag nicht überleben. Aber wie so häufig, um¬
hüllte eine täuschende Hoffnung die letzten Stunden des trefflichen jungen
Mannes. Als ich an sein Lager trat und ihn fragte, was ich seinen: Vater
schreiben sollte und wie es ihm gehe, sagte er mit oft unterbrochener Rede,
indem sich die Brust mühsam erweiterte, um Luft zu bekommen, es gehe ihm
besser und bald werde es ihm ganz gut gehen. Er meinte es in dem nächsten
natürlichen Sinne, wir wußten, daß die Hoffnung eitel war und daß das Wort
sich in einem andern Sinn erfüllen mußte. Heute schon hat man ihn in dem
gemeinsamen Begräbnisplatz, dem „Ehrenthal," angesichts der Spicherer Berge
begraben. Dort wird ihn am nächsten Sonntag der Vater aufsuchen und sich
die schwere Aufgabe vergegenwärtigen müssen, den Verlust vieler Hoffnungen
um des Vaterlandes willen freudig zu tragen.
Ich will doch noch nachtragen, daß ich neulich auf dem hintern Kirchen¬
platz die französischen unverwundeten Kriegsgefangenen mir angesehen habe.
Man hatte die bunte Schaar oberflächlich eingegrenzt, ein paar Soldaten von
uns hielten sie in Ordnung und gestatteten mir in die ganz sorglos schwatzende,
rauchende, umherliegende Gesellschaft einzutreten. Nur wenige zeigten eine etwas
ernste Haltung. Einer trat zu mir und beteuerte, daß er gar nicht kriegerisch
gegen uns gestimmt gewesen sei, bloß die Nummer seines Regiments habe ihn
von Perpignan hierher gebracht. Ein andrer erkundigte sich, was das in der
Nähe befindliche große Haus vorstelle. Als er hörte, es sei eine städtische
Volksschule, war er voll Respekt; er hatte eine dunkle Ahnung, daß Preußen
ein Land der Schulen und der Kasernen sei. Ich sagte ihm nicht, daß jene
große Schule jetzt keine Schule, sondern ein Ort sei, wo mehr als hundert
Preußen gepflegt würden, die von ihm und seines gleichen bei Spicheren ver¬
wundet worden seien. Er würde alles von sich auf Napoleon und Eugenie
abgewälzt haben, wie es die Franzosen gern machten.
Viel sympathischer, als diese verkommenen Menschen, berührten mich doch
einige französische Verwundete. Den einen fand ich gestern am Gymnasium auf
einem Wagen neben andern Verwundeten. Es war ein blutjunger Mensch. Ich
war ärgerlich bei dem Gedanken, daß er erst so spät nach der Schlacht in die
Stadt gebracht worden sei, und fragte ihn teilnehmend, ob er wirklich so lange
unter den Verwundeten draußen gelegen habe. Er verneinte es und sagte, er
sei gut besorgt worden. Dabei ging etwas wie freudige Erregung über sein
Gesicht, als ob er sich gefreut hätte, daß sich in Feindes Land doch Menschen
um ihn kümmerten.
Die Welt von Klatsch und der
Jahrmarkt der Eitelkeiten, der um das Weimarische Pantheon — leider bis tief
in seine Vorhallen hinein — aufgeschlagen ist, erfährt durch I. Eckardts neue Ver¬
öffentlichung über Garlieb Merkel*) glücklicherweise nur scheinbar eine Erweiterung.
Es handelt sich zumeist nur um Wiederauffrischung älterer, unbemerkt gebliebener
Bücher des andern der Weimarer Dioskurenfeinde, durch gleichfalls schon ver¬
öffentlichte hinterlassene Aufzeichnungen ergänzt. Dem Ganzen ist durch Weglassung
des Ueberflüssigen, Störenden und Veralteten eine einheitliche Gestalt gegeben, so¬
weit davon bei diesem krausen Anekdotenschwall die Rede sein kann. Gleichwohl
hat das Büchelchen mcmnichfaches, auch allgemeineres Interesse. Der Forscher
wird zwar wenig neue Züge zu den bekannten Bildern finden, ja manches deckt
sich geradezu z. B. mit Böttiger und Falk. Gerade dort, wo Merkel wegen seiner
Beziehungen zugleich zu dem Herderschen und den Berliner Kreisen beachtenswert
wäre, bei Jean Paul, versagt leider Eckardts Quelle. Aber die wenn auch sehr
Merkelisch, und das heißt bei dem Charakter des Mannes soviel als „mehr als
subjektiv" gefärbten Berichte über „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung" und
insbesondre über die Berliner Zustände werden auch Spezialforschern manchen neuen
und bemerkenswerten Zug bieten. Die literarische und politische Charakteristik der
Berliner jüdischen und französischen Kolonie ist im Hinblick auf die spätere Ent¬
wicklung gegenwärtig fogar sehr interessant, die wenigen, aber offenbar treuen
Striche zu dem meist doch wohl zu sehr idealisirten Bilde der „Madame Herz"
(anderseits wieder als unparteiische Berichtigung der Böttigerschen Fratze) recht
dankenswert. Weniger die ebenso anmaßlichen als leeren und faden Reiseskizzen
aus Dänemark, die bei Merkels Haß gegen Schiller für dessen dänische Freunde
wenig günstig, zugleich aber, was sehr verräterisch ist, ganz besonders wenig „inhalt¬
reich" ausfallen.
Wer ist dieser Garlieb Merkel? wird am Ende aber mancher fragen, der sich
sonst, wenn von Schiller und Goethe die Rede ist, immerhin für gut unterrichtet
halten darf. Wir haben ihn den andern der Weimarischen Diosknrcnfeinde genannt,
und er ist wirklich der zweite Führer jener literarischen Partei im damaligen
Weimar und Deutschland, die gegen die Doppelherrschaft Goethes und Schillers
„frvndirte" und die in diesen Blättern unter dem Titel „Die Unzufriedenen in der
Schiller-Goethe-Zeit" schon einmal ihr literarisches Denkmal gefunden hat. Der
eine und zugleich der erste von ihnen hieß August vou Kotzebue. Er verlangt
schon deshalb den Vortritt, weil man ihn doch wenigstens dem Namen nach noch
sehr gut kennt, während man den „charmanter kleinen Merkel" (Goethe) so gründlich
vergessen hat, daß selbst der Literaturforscher sich erst auf den Namen besinnen muß.
Wieder ein Beweis, daß mau etwas ganz sein muß im Guten wie im Schlimmen,
um auf die Nachwelt zu kommen. Und ganz so schlimm war der hübsche, kleine
Livländer gar nicht, der mit der unbefangenen Absicht, ein Stück Voltaire zu spielen,
sicherlich mit einer derartigen Ansicht Von sich selbst zu Ende des vorigen Jahr¬
hunderts nach Deutschland kam und nun anfangs sehr erstaunt, später erklärlicher¬
weise sehr erbost war, eine andre Zeit, ein andres Land und darin ganz andre
Geister zu finden als Voltaire. Ja die aus den schlimmen Seiten seiner Natur
entsprungenen Einwirkungen auf unsre Geistesgeschichte (sogar die literarischen
Flegeleien gegen Schiller in seiner verbreiteten Berliner Zeitung „Der Freimütige")
sind bei ihrer Erfolglosigkeit lange nicht so schlimm, als der offenbar durch seine
guten erlangte Einfluß ans Herder, welcher ohne Frage sehr viel zu dem un-
erfreulichen und für den großen Mann selbst allcrpeinlichsten Verhalten Herders in
der Schiller-Goethe-Zeit beitrug. Vergessen aber wollen wir gerade deshalb nicht,
daß dieser Freund und böse Engel Herders, gleichviel auf welche Weise und aus
welchen Beweggründen, mit unter den ersten zu einer entschlossenen Erkenntnis der
einseitigen Lebcnsentwicklung des damaligen Deutschlands gelaugte, und daß eben
jene Berliner Zeitung, welche die Dramen Schillers mit ebenso leichtfertigen als
gemeinen Kritiken empfing, derselbe „Freimütige" ist, der in der Vorgeschichte der großen
nationalen Erhebung von 1813 einen so wichtigen und ehrenvollen Platz einnimmt.
Die Besprechung der neuen Auflage von Bttchmanu in Ur. 3V
d. Bl. nennt unter den vermißten Redensarten auch „Hand vou der Butter!" Da
haben wir ein köstliches Beispiel für die Wanderungen und Wandlungen des Ge¬
flügelten. Das Wort stammt aus Süddeutschland und kündet in Oesterreich richtig und
vollständig „Hand von der Butten, 's sind Weinbeerln drin!" Butte ist das Holzgefäß,
in welchem Trauben, Gemüse u. dergl. auf den Markt gebracht werden; die Warnung
richtet sich also gegen Näscher im weitesten Sinne. Aus dem im Norden unver¬
ständlichen Butte, das als Bütte eine etwas andre Bedeutung hat, ist nun, wie
wir sehen, Butter geworden, und damit anch der Sinn des Wortes verändert.
Bei diesem Anlaß sei noch eins erwähnt. In den ersten Auflagen des genannten
Buches war angegeben, das Wort viltomniei!, v^vario/. werde dem Basilio im
„Barbier von Sevilla" in den Mund gelegt, komme aber dort nicht vor. Jetzt ist
es weggelassen worden. Das Zitat ist aber wirklich dem „Barbier" entnommen,
freilich nicht Beaumarchais' Kombdie, sondern dem Texte zu Rossinis Oper.
Man könnte diese feinsinnigen, höchst interessanten Studien mit Dank und
Freude annehmen, wenn nicht in dem Prinzip ihrer ganzen Anschauungsweise
etwas fremdartiges läge, gegen das wir Verwahrung einlegen müssen. Es giebt
kaum einen Zweig der Naturwissenschnftcu, der so anregend ans unser Gemüt
wirkte und so viel Gedanken hervorriefe, als die vergleichende Anatomie und Physio¬
logie. In den Formen aller Lebewesen und auch des menschlichen Körpers Ana¬
logien zu suchen und zu finden, ist eine höchst anziehende Beschäftigung, die den
verlockenden Reiz auf den Forscher ausübt, daß er eine Form stets aus der andern
durch Entwicklung abzuleiten versucht. So wird uns in dieser Schrift als historische
Begebenheit dargestellt, wie der Mensch im Laufe von einigen tausend Jahren aus
den Ahnenreihen der sogenannten niedern und unwillkommenen Tiere durch den
Charakter der Säugetiere und Affen hindurch sich zu seiner jetzigen Form entwickelt
habe. Die Organe, die er für seinen jetzigen Beruf uicht brauchen konnte, ver¬
kümmerten und schrumpften ein, zeigen uus aber uoch in mannichfachen trümmer-
haften Spuren, daß sie früher eine größere Bedeutung gehabt haben. Als sein
Gebiß sich verfeinerte und ihm nicht mehr als hauptsächliche Waffe dienen konnte,
da entwickelte sich sein Gehirn zu größerm Umfange, sodaß er sich selber neue
Waffen erfand. Seine Hände und Füße bekamen uach und unes die wunderbar
zweckmäßige Form, die sie jetzt haben, und so ging es weiter durch alle Organe.
Die geistreiche Darstellung hat nur den einen Fehler, daß sie das als historische
Begebenheit betrachtet, was nur auf Analogieschlüssen aus der vergleichenden
Beobachtung vou Formen beruht, und nicht ein einziges mal nachweist, daß diese
Verwandlungen sich wirklich ereignet haben. Die Versicherung, daß dieselben inner¬
halb einiger tausend Jahre günz bestimmt möglich seien, kann uns nicht über den
Mangel jedes thatsächlichen Beweises in der Gegenwart hinweghelfen. Ans der
Thatsache, daß hie und da ein Mensch mit einer kurzen schwanzartigen Ver¬
längerung der Wirbelsäule gefunden wurde, ist der Schluß uoch keineswegs gerecht¬
fertigt, daß die Zeit, wo unsre Ahnen noch alle lange Schwänze hatten, in der
Vergangenheit gar nicht weit zurückliegt. Aus der Thatsache, daß wir jetzt einen
glatten Muskel dicht unter der Haut am Halse haben, folgt nicht ohne weiteres,
daß unsre Ahnen derartige Muskeln unter der ganzen Haut gehabt haben, wie die
rudern Säugetiere. Dagegen, daß mau deu menschlichen Körper bei wissenschaft¬
licher Betrachtung völlig in Analogie mit dem tierischen Körper stellt, ist nichts
einzuwenden; aber wir haben kein Bedürfnis, den Menschen überhaupt der ver¬
gleichenden Anatomie zu Liebe mit den Tieren und namentlich den Affen in eine
vollkommene Einheit zu verschmelzen.
Werber ist eine der wenigen sympathischen Erscheinungen aus der Zeit des
tiefsten Niederganges der deutschen Literatur. Ein ritterlicher Maun, Kriegs-
oberster in anhaltmischen Diensten während des dreißigjährigen Krieges, als solcher
und auch wegen seiner diplomatischen Gewandtheit wohl angesehen und im besten
Rufe, hatte er sich zur Zeit einer barbarischen Verwilderung des nationalen Lebens
doch Sinn und Bedürfnis für geistige Arbeit bewahrt. Er teilte mit den Zeit¬
genossen den Schmerz über den tiefen literarischen Stand Deutschlands im Ver¬
gleich mit der hohen Bildung Italiens und Frankreichs. Eines der bedeutendsten
Mitglieder der „Fruchtbringenden Gesellschaft," „der Vielgekörnte" hieß er als solcher,
strebte er redlich, das seinige zur Hebung des deutschen Ansehens auf poetischem
Gebiete beizutragen. Aber er war keine produktive Dichternatur; er hatte wohl
den richtigen Instinkt für Poetische Schönheit, aber kein klares Bewußtsein der¬
selben, und darum schwankte sein Geschmack zwischen gut und schlecht unklar hin
und her. Er hatte vor Opitz schon die Notwendigkeit strengerer metrischer Gesetze
erkannt und praktisch vertreten, und doch gewann ihm dieser den Ruhm ab, der
erste gewesen zu sein, welcher jene Forderungen aufstellte. Werders erfolgreichste
Thätigkeit war die Uebersetzung Tassos und Ariosts. Die Werke dieser Italiener
hatten die Runde durch ganz Europa gemacht, sie wurden bis zum Jahre 1600
in alle Sprachen übersetzt, nur die Deutschen hatten keine Uebersetzung. Dies em¬
pfanden die Gebildeten jener Zeit als nationale Schmach, und Werber übernahm
es, sie zu tilgen. So entstanden seine Uebersetzungen, die sich noch bis ins acht¬
zehnte Jahrhundert, bis auf Gries, eines guten Rufes erfreuten und heute von
den Germanisten als verdienstvolle Leistungen des Sprachgefühls in einer Zeit des
Stillstandes des deutschen Geisteslebens anerkannt werden.
Dies in flüchtigen Umrissen das Bild Werders, wie es sich uns nach dem
Lesen der Schrift Witkowskis vor Augen stellt. Sie ist mit großem Fleiß und
großer Sorgfalt geschrieben. Es muß dies umso tobender hervorgehoben werden,
als gerade die Literatur des siebzehnten Jahrhunderts zu den sprödesten Stoffen
der Liternturgeschichte gehört. Sich durch Bände voll bombastischer Langeweile
und Oede hindurcharbeiten zu müssen, ist kein Vergnügen. Witkowski hat es über
sich gewonnen und sich dabei die Klarheit des Urteils über seinen Helden zu wahren
gewußt. Mit richtigen: Gefühl sind auch die menschlichen Charakterseiten Diederichs
hervorgehoben.
Zahlreiche Schriftsteller sind gegenwärtig bemüht, der Hauptstadt des deutschen
Reiches dasjenige, was nach ihrer Ansicht dieser noch zur Weltstadt fehlt, zu liefern,
den „Berliner Roman." Was wir davon bisher zu Gesicht bekommen haben, zeugt
indessen vielmehr für eifrige Lektüre der Pariser und Londoner Penny-Romane,
als für das Studium des heutigen Berlins und die Kraft, die Ergebnisse solches
Studiums künstlerisch zu gestalten. Es geschieht deshalb eigentlich dem Verfasser
der hier genannten Erzählung kein Dienst, wenn eine Ankündigung derselben sagt,
„die Personen dieser brillant erzählten, im modernsten Berlin spielenden Geschichte
seien von so überzeugender Lebenswahrheit, daß man wohlgetrossene Personen darin
zu erblicken meine." Es mag sein, daß dem Verfasser wirkliche Menschen Modell
gestanden haben, er giebt selbst gelegentlich so etwas zu verstehen; aber gerade dies
haben wir daran auszusetzen. Denn die Figuren seiner Erzählung sind im höheren
Sinne nach dem Leben gezeichnet, sie vergegenwärtigen Charaktere, wie sie sich in
der heutigen Gesellschaft überall herausgebildet haben. Künstlercliquenwesen, Zeitungs¬
reklame, Unverstand bei Mäcenen und Notizlern, blindes nachsprechen des großen
Publikums — alles das findet sich ja überall, wo ein sogenanntes Kunstleben be¬
steht. Aber daß es so treu geschildert ist, rechnen wir dem Dichter zu hohem
Verdienst an. Ebenso treu sind die Szenerien gemalt, in welchen das Spezifisch-
Berlinische zu suchen ist. Außerdem berührt das unbekümmerte Aussprechen eines
künstlerischen Glaubensbekenntnisses, das Eintreten für das Sittenbild im Sinne der
Metsu, Pieter de Hooghe u. s. w. und gegen die gemalte Tapezierarbeit und die
Modelle mit antiken Namen äußerst wohlthuend. Allerdings wird er sich dafür
den unwissenden „Kunstschreibern" beizählen lassen müssen. Daß er wirklich ein
ausgezeichneter und origineller Erzähler ist, brauchte Hopfen nicht erst jetzt zu be¬
weisen. Nur möchten wir wissen, was ihm die sachliche Endung des Adjektivs an¬
gethan hat, das er sie so konsequent verschluckt. Da liest man immer nur „meisterlich
Wirken," „wunderlich Spiel" und so fort, und was dann und wann gute Wirkung
machen würde, erscheint bei der häufigen Wiederholung manirirt.
Romane gehören ja Wohl zu den Büchern, welche auch Künstler lesen. Viel¬
leicht schreibt einer oder der andre sich des jungen Knorr Wort in sein Notizbuch:
„Man muß gute Bilder malen und sich um den Rest, der drum und dran hängt,
nicht kümmern I"
Ein höchst wunderliches Opus, das eher alles andre enthält als das, was
man nach dem Titel zu erwarten berechtigt ist. Eine Art Vorrede trivialsten In¬
haltes, der sich in schwülstigen Phrasen ergießt, schreckt schon vom Lesen ab. Die
Salbaderei beginnt: „Unter der hehren Gestalt der Germania wendete sich schon
der Rufer zum Streit aufwärts nach dem erklirrenden Schwert, und sein Auge
haftete forschend an der leuchtenden Krone. Der Friedensengel senkte trauernd deu
Palmenzweig, bereit, neue ferne Gräber mit frischem Lorber zu schmücken. Aus den
Gräbern der Helden klang zum erstrahlenden Heer der freudige Anruf: »Vor der
Schlacht!« Doch der gehobene Fuß sank zurück: »Noch nicht!« Des greisen Helden¬
kaisers milde versöhnende Hand hatte noch einmal die lodernde Fackel gelöscht. Doch
fern in West und Ost stehen schwere Wetterwolken, und der vorausblickende Mann
sichert die edelste Habe unter wetterfestem Dach. Wo seine Kraft nicht ausreicht,
schaut er aus nach der treuen Gefährtin, die der Allmächtige an seine Seite gestellt
hat. So widme ich denn dieses für den Grundbau deutscher Einigkeit bestimmte
Sandkorn den Töchtern jener Germaninnen, deren zürnender Blick den ermattenden
Knaben zurückscheuchte in die tosende Schlacht, den deutschen Frauen!" Sollte
man's glauben: eine Ode Klopstockscher Stiles, um den einfachen Satz auszudrücken:
1386 hätten wir beinahe Krieg bekommen, und es kann am Ende noch etwas der
Art geben! Und das geschmacklose Bild von dem Sandkorn, das für den Grund¬
bau der deutschen Einigkeit bestimmt ist! Und weiter die Logik, die dieses Sand¬
korn den deutschen Frauen verehrt, welche dann, hübsch nach Ständen geordnet
— die Kaiserin, zu welcher der Verfasser „in Ehrfurcht," die Fürstinnen, zu denen
er „ehrerbietig emporsieht," zuletzt die übrigen, die er bloß grüßt — aufmarschiren,
um feierlich ermahnt zu werden, zu sorgen und zu helfen, daß „uns neue Demü¬
tigungen, neue Opfer erspart bleiben." Wer darüber nicht den Appetit zum Weiter¬
lesen verloren hat, erfährt in weitschweifigster Auseinandersetzung allerlei, aber wenig
Neues und Brauchbares über die Geschichte des Elsaß unter den Galliern, den
Römern, den Franken, den deutschen Kaisern, über die Kampfmittel Deutschlands
und Frankreichs zur See, über die in Aussicht stehenden Seekämpfe, über Kriegs-
Pläne im allgemeinen und besondern, über Kampfwcise der Infanterie, .Kavallerie
und Artillerie, über Repetirgewehre, Ferienkolonien, „Humanitätsdusel" u. s. w. Je
weniger Genaues der Verfasser über einen Gegenstand zu sagen weiß, desto breiter
und schwunghafter Pflegt er zu werden. Zuletzt behalten wir von all seinem Gerede
so gut wie nichts in den Händen, was uns über die Hauptsache aufklären könnte:
wann wird der Krieg etwa ausbrechen, was wird ungefähr sein Gang sein, wer
wird voraussichtlich siegen. Weshalb wir dann das Buch erwähnen? Nun, zur
Warnung und als ein Beispiel für die Art, wie man nicht schreiben soll, als ein
Beispiel, das in seiner Art geradezu ein „Phänomen" ist.
Der Verfasser, Professor des Staats- und Kirchenrechts an der Tübinger
Universität, giebt hier eine Art von Geschichte der deutschen Parlamente und
Parteien in ihrem Verhältnisse zu Bismarck, die nach einem Rückblicke ans die
politische Lage ««mittelbar nach 1850 mit dem Regierungsantritte König Wilhelms I.
beginnt und mit der Rückkehr der Nntionalliberalen zur Fahne des Reichskanzlers,
wie sie sich im Heidelberger Programm vom März 1884 ankündigte, abschließt.
Wesentlich neues erfahren wir aus der Schrift nicht, sie empfiehlt sich aber dnrch
den Standpunkt, von welchem aus die betreffenden Vorgänge betrachtet werden, und
dadurch, daß auch auf die Entwicklung der Dinge in Süddeutschland gebührende
Rücksicht genommen wird. Der Verfasser ist eine von den nicht häufigru Aus¬
nahmen unter unsern juristischen Gelehrten, insofern er mit den unbesungenen und
vorurteilsloser Augen des Realpolitikers sieht und darnach urteilt. Er gehört in¬
folge dessen keiner von den verschiednen Parteien an, sondern nimmt eine Mittel¬
stellung zwischen den gemäßigten Liberalen und den ähnlich denkenden Konservativen
ein. Seine Darstellung ist klar und übersichtlich, und wir bedauern nur das eine,
daß sie uns nicht auch über die neuesten Siege Bismarcks über die liberalen Dok¬
trinäre und das Zentrum mit seinen Anhängseln berichtet. Immerhin wird sie
dazu beitragen, die, welche sehen wollen, deutlicher erkennen zu lassen, was wir an
unserm Kanzler besitzen und wie wenig seine Gegner zu bedeuten haben. Partei-
Handwerker rechts und links, beschränkt und arm an positiven Gedanken gegen¬
über dem Wirken des weitschanendcn, von der Energie neuer Ideen erfüllten
schöpferischen Staatstunstlers; Verdunkelungen, Verlegenheiten, zuletzt immer der
Sieg des Genius, immer neuer Fortschritt zur Vollendung, sei es durch Kom¬
promiß, sei es durch Niederwerfung der feindlichen Mächte, unwiderstehlich, wie
eine Naturnotwendigkeit, wie die wolkenbrccheude, Sonne — das ist der Eindruck,
welchen auch diese Schrift zurückläßt, wie jede verständige und geradsinnige Be¬
trachtung des Ganges unsrer Geschicke im letzte« Vierteljahrhundert.
er Gegenstand, der hier dem Leser vor Augen geführt werden soll,
ist zwar etwas trocken, wie es bei Erörterungen staatsrechtlicher
Natur immer mehr oder weniger der Fall sein wird. Dafür
ist er aber auch in hohem Grade lehrreich, und namentlich bei
der gegenwärtigen politischen Lage unsers Vaterlandes wird er
nicht verfehlen, das Interesse aller derer zu erwecken, welche Sinn und Ver¬
ständnis für die historisch-politische Entwicklung unsers Reiches und Volkes
haben. Was aber die Hauptsache ist: der Gegenstand ist geradezu auffallend
wenig bekannt, auch in den gebildeten, ja sogar den gelehrten Kreisen unsrer
Nation. Das sollte jedoch nicht der Fall sein. Denn Hiswrig, irmAstra ist
immer noch ein wahres Wort, und erst die genauere Kenntnis der Vergangenheit
setzt uns in deu Stand, uus ein klares Urteil über die Gegenwart zu bilden
und daraus richtige Schlüsse für die Zukunft zu ziehen.
Jeder Gebildete hat zwar oft gehört, vielleicht auch selber es oft ausge-
sprochen, daß in dem alten deutschen Reiche die Zustände nicht eben erbaulich
waren, daß alle Einrichtungen des Reiches in einen erbärmlichen Verfall geraten
waren, kurz, daß es mit dem alten Reiche jämmerlich aussah. Jedermann
weiß, daß sich schon in Goethes Faust die lustigen Brüder in Auerbachs
Keller wundern, wie dieses heilige römische Reich überhaupt noch zusammen¬
halte. Aber damit ist es denn auch zu Ende; abgesehen von den wenigen,
welche in dieser Hinsicht Fachstudien gemacht haben, sind die Einzelheiten der
Verfassung unsers eilten Reiches in weiteren Kreisen so gut wie gänzlich un¬
bekannt. Es dürfte daher nicht bloß nicht überflüssig, sondern namentlich unter
den heutigen Verhältnissen recht zeitgemäß und anziehend sein, dem Leser
einmal ein etwas eingehenderes Bild der Zustände im alten Reiche vor Augen
zu führen.
Das heilige römische Reich deutscher Nation, sacrum Iinxorwm, Ronrg.no-
Llsrnmniouin, war eigentlich nicht, wie man nach der landläufigen Überlieferung
Wohl sagt, von Karl dem Großen gegründet worden, sondern von jenen beiden
gewaltigen Heidenfürsten sächsischen Stammes, Heinrich I. und Otto I. Von
letzterem Kaiser rührt auch der Name her, der in späteren Jahrhunderten zu
so vielfachem Spotte Veranlassung gab; man Pflegte ja zu sagen, es heiße
heiliges römisches Reich, weil es weder heilig sei, noch römisch, noch Reich
(oder reich, was ebenso richtig war). Jenes heilige Reich war eigentlich und
thatsächlich aufgelöst durch den westfälischen Frieden, und jene beiden ivstrn-
nröQw of-vis NonWtsi'iousis und OsnaornAsnÄs waren gewissermaßen die
Todesurkunden, durch welche die gelahrten und wohlfürsichtigen diplomatischen
Giftküche der damaligen Zeit beglaubigten, daß jenes mächtige Reich der
Ottonen, der Heinriche und Friedriche unter den Trümmern und der Asche
seiner Städte und Dörfer, unter den Leichen vieler Tausende seiner Einwohner,
unter Blut und Thränen der wenigen und heruntergekommenen Überlebenden
abgeschieden sei aus der Reihe der lebendigen Staaten. Und wahrlich, wie ein
Toter nnter Lebenden, wie ein Gespenst, behängen mit prunkenden, aber faden¬
scheinigen und mottenzerfressenem Flitterkram, stand das alte Reich da unter
den lebenskräftigen Staatenbildungen der Neuzeit.
Der westfälische Friede hatte aus dem Reiche ein buntes, fast unüberseh¬
bares Gemisch größerer, kleiner und kleinster Staaten gemacht, die in Wahrheit
selbständig und fast unabhängig von der Reichsgewalt waren. Sogar das
Mg toeäsruin war durch jenen Frieden jedem Reichsstände gewährleistet, d. h.
das Recht, nicht bloß unter einander, sondern auch mit dem Auslande Bündnisse
abzuschließen, allerdings mit dem klugen Vorbehalte, daß solche Bündnisse niemals
gegen Kaiser und Reich gerichtet sein dürften. Was dieser Vorbehalt wert ge¬
wesen ist, zeigt die Geschichte. Aber die Rcichspublizisten, alle Partikularistischen
und zentrifugalen Elemente im Reiche konnten nicht genug des Lobes finden
für diesen Frieden, durch den die sogenannte livsrtg.8 AvrmMieg,, die deutsche
Libertüt, begründet und gesichert sei. Das edle Wort „Freiheit" für diesen
Zustand anzuwenden, wäre grober Mißbrauch. Denn in Wirklichkeit bestand
jene Libertüt darin, daß jeder kleine und kleinste Winkeltyrann gegen seine
unglücklichen Unterthanen sich die schamlosesten Willkürlichkeiten und Ungesetzlich¬
keiten erlauben konnte, ohne daß Kaiser und Reich dem drangsalirtcn Volke
.Hilfe schaffen konnten; sie bestand darin, daß jedes noch so kleine Territorium,
jede noch so verrottete Reichsstadt die thörichtsten und widersinnigsten Gesetze
und Einrichtungen schaffen oder aufrecht erhalten konnte, natürlich alles zu
Nutz und Frommen eines wvhledeln Bürgermeisters, eines ehrbaren und ein¬
sichtigen Nates und jener Klüngel- und Vetterngesellschaft, welche man in den
meisten Reichsstädten als die Geschlechter bezeichnete.
Freilich jener gewaltige Staatsmann, der damals Schweden lenkte, der
schlaue Axel Oxenstjerna, hatte für den im deutschen Reiche herrschenden Zu¬
stand eine weit weniger schmeichelhafte Bezeichnung, nämlich: vontuÄo cUvi-
vitus oräinÄtÄ, die von Gott geordnete Verwirrung. Und diese Verwirrung
aufrecht zu erhalten, war fast das Hauptstreben aller Mächte Enropas, namentlich
aber der beiden Bürgen des westfälischen Friedens, Schwedens und Frankreichs.
Daß besonders die Macht und das Übergewicht des letzteren Staates wesentlich
auf der Zersplitterung Deutschlands beruhte, ist allbekannt; daß seine Politik
dahin ging, diesen Zustand der Schwäche zu verewigen, ist also von französischem
Standpunkte aus nur ganz natürlich. Wußte doch sogar der berühmteste Geschichts-
schreiber und Staatsmann des neuern Frankreichs, Adolf Thiers, der Politik des
zweiten Kaiserreiches keinen schwereren Fehler vorzuwerfen, als den, daß der dritte
Napoleon die Einigung Italiens und Deutschlands nicht zu hindern verstanden habe.
Wollen wir den Zustand des deutschen Reiches etwa um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts etwas genauer kennen lernen, so müssen wir natürlich
zunächst das Reichsgebiet festzustellen versuchen, so weit dies eben möglich ist.
Denn selbst in dieser Beziehung tritt uns sofort die bemerkenswerteste Eigen¬
tümlichkeit alles dessen, was irgendwie mit dem alten Reiche zu thun hatte,
entgegen: der schroffe Widerspruch zwischen Namen und Wesen, zwischen Schein
und Wirklichkeit, zwischen Ansprüchen und wirklicher Macht. Wo eigentlich
die Grenzpfühle des heiligen Reiches standen, hat merkwürdigerweise kein Ge¬
lehrter genau feststellen können, trotz der Unzahl dickleibiger, gelehrter Werke,
die über diese Frage geschrieben worden sind. Daß zwar die Ansprüche, welche
zu den Zeiten Heinrichs III. berechtigt gewesen waren, daß z. B. die Könige von
Dänemark, von Polen, von Ungarn Vasallen des römischen Kaisers waren, nicht
mehr aufrecht erhalten werden konnten, war unzweifelhaft. Trotzdem bestanden
bis zuletzt die drei Erzkcmzlerämtcr: der Erzbischof von Mainz war des heiligen
römischen Reiches Erzkanzler durch Germanien, der von Trier durch Gallien
und Arelat, der von Köln durch Italien. Der Herzog von Savoyen, der aber
den Reichstag nicht beschickte, galt als Reichsvikar in Italien. Von den Be¬
sitzungen des Reiches in Gallien, von dem Königreiche Arelat oder Burgund,
von den Reichslehen in Italien, die sich ehemals von den Felsterrassen der
Riviera und den lombardischen Flächen fast bis Neapel hin erstreckt hatten, war
keine Spur mehr vorhanden. Die Unabhängigkeit der vereinigte!, Niederlande
und des Gebietes der Eidgenossen war im westfälischen Frieden anerkannt worden.
In ebendemselben Frieden waren Vorpommern, Wismar, die Herzogtümer
Bremen und Verden an Schweden abgetreten worden. Die staatsrechtliche
Stellung von Schleswig-Holstein war eben so unklar, wie sie es immer gewesen
ist bis zum Jahre 1866. Schon zu den Zeiten des Schmalkaldener Bundes¬
krieges hatte Frankreich die drei lothringischen Bistümer Metz, Toul und Verdun
an sich gerissen. Im Jahre 1648 war der österreichische Teil des Elsaß, der
sogenannte Sundgau, in französischen Besitz gekommen. Der übrige Teil des
Elsaß mit Straßburg, die Freigrafschaft Burgund, Teile von Flandern und
Hennegau hatten infolge der Raubkriege Ludwigs XIV. dasselbe Schicksal gehabt.
Endlich waren nach dem polnischen Erbfolgekriege zur Sicherung der prag¬
matischen Sanktion die Herzogtümer Lothringen und Bar, die Stammlande des
Gemahls der Maria Theresia, anfänglich an den verjagten Polenkönig Stanis-
laus Lescynski abgetreten worden und nach dessen Tode an Frankreich gefallen.
Das hinderte aber durchaus nicht, daß unsre gelehrtesten Staatsrechtslehrer
des vorigen Jahrhunderts alle diese g.vulW Inixerü, diese abgerissenen Glieder
des Reiches, ohne weiteres entweder alle oder doch einen Teil derselben dem
Reiche zurechneten.
Der größere Teil des Gebietes, welcher mit Recht als zum Reiche gehörig
angesehen werden kann, war eingeteilt in zehn Kreise, die eirouli Illixsrü. Die
erste Einteilung in Kreise, und zwar in vier, hatte bereits Kaiser Wenzel im
Landfrieden zu Nürnberg 1383 versucht. Maximilian I. hat dann im Jahre
1500 sechs Kreise gebildet. Die bis zur Auflösung des Reiches bestehende Ein¬
teilung in zehn Kreise wurde auf dem Reichstage zu Köln im Jahre 1312
durchgeführt. Daher wurde auch Wohl von den sechs alten und den vier neuen
Kreisen gesprochen. Außerdem unterschied man bisweilen die vorderen, west¬
lichen, und die Hinteren, östlichen Neichskreise. Die Namen der Kreise in der
Reihenfolge, in welcher sie am leichtesten zu behalten sind, heißen: der öster¬
reichische, der baierische, der schwäbische, der fränkische, der oberrheinische, der
niederrheinische oder Kurkreis (von den vier Kurfürstentümern, die darin lagen,
Mainz, Trier, Köln, Pfalz), der burgundische, der westfälische, der ober- und
der niedersächsische Kreis.
Von der Kreiseinteilung ausgeschlossen waren zunächst die Lande der Krone
Böhmen, die ja unsre tschechischen Bundesbrüder jetzt als die Lande der Wenzels¬
krone zu bezeichnen belieben, nämlich: Böhmen, Mähren, Schlesien, die Ober-
und die Niederlausitz. Nicht „eingekreist" waren dann zweiundvierzig kleinere
Gebietsteile, darunter im Rheinlande z. B. Elten, Burtscheid, Dhck, in West¬
falen die Probstei Cappenberg, die Herrschaften Rhaden. Nheda, Landskron:e.
Dazu kommen dann die sogenannten Neichsdörfer und die gauerbschaftlicheu
Gebiete, d. h. solche, welche mehreren „Dynasten" gemeinsam gehörten. Ebenso
gehörten den Kreisen nicht an die zahllosen Gebiete der Reichsritterschaft, der
nMlitÄS luixerii, welche sich in drei Ritterkreise teilte, den schwäbischen, den
fränkischen und den rheinischen. Auch die Lande der Eidgenossen haben niemals
einem Reichskreise angehört.
Ob das Land des deutschen Ordens, Preußen, und ob gar die Besitzungen
der Schwertbrüder in den jetzt russischen Ostseeprovinzen dem deutschen Reiche
zuzurechnen waren oder nicht, war stets streitig.
Es würde viel zu weit führen, die Zusammensetzung jedes einzelnen dieser
Kreise auch nur ganz kurz anzugeben. Aber das Bild, welches dem Leser vor¬
geführt werden soll, würde geradezu unvollständig sein, wenn nicht wenigstens
ein oder der andre dieser Kreise einer genaueren Betrachtung unterzogen würde,
um zu erkennen, wie bunt, mannichfaltig und willkürlich die Gebiete derselben
zusammengewürfelt waren.
Das großartigste Bild jener oben angeführten eoutuÄo eliviniws oräw-z.tA
bildete der schwäbische Kreis, der darum auch förmlich sprichwörtlich war. Die
Stunde dieses Kreises, der etwa sechshundert Geviertmeilen umfaßte, teilten sich
auf ihren Kreistagen in fünf Bänke. Auf der ersten saßen vier geistliche Stifter
und Fürsten; die zweite wurde beschickt vou dreizehn weltlichen Fürsten und
Stiftern; auf der dritten waren vertreten siebzehn Prälaten und vier Äbtissinnen;
auf der vierten hatten sechsundzwanzig Grafen und Herren ihren Sitz; dann
folgten endlich auf der fünften Bank die Vertreter von 37, sage und schreibe
siebenunddreißig freien Reichsstädten! Das waren in Summn fünfundneunzig
Stände. Dazu kamen dann noch vier unmittelbare Reichslande, die aber nicht
die Neichsstandschaft besaßen, also insgesamt neunundneunzig Territorien. Wenn
man uun noch bedenkt, daß dazwischen in buntesten Gemisch die Gebiete von
mehreren Hunderten von Reichsrittern eingestreut lagen, und endlich, daß der
ganze Kreis durchzogen wurde von einer Kette der sogenannten vorderöster¬
reichischen Besitzungen des Hauses Habsburg, so braucht man sich nicht darüber
zu wundern, daß das gesegnete Schwaben das berufene Paradies war für alle
Bummler, Landstreicher lind Strolche. So leicht wie hier konnte man sich
nirgends sonst der Verfolgung entziehen, so leicht wie hier nirgends sonst der
Behörde ein Schnippchen schlagen.
So zersplittert wie der schwäbische, war allerdings kein andrer Reichskreis.
Wunderlich genug zusammengesetzt freilich waren alle. Beispielsweise sei noch
erwähnt, daß zum niederrheinischen oder Kurkreise auch Erfurt und das Eichs¬
feld, Besitzungen des Kurfttrsteu von Mainz, gehörten, während Hesse«-Kassel
zum oberrheinischen Kreise gezählt wurde. Zu den sechsundfünfzig Ständen
des westfälischen Kreises gehörten auch die Bischöfe von Lttttich, deren Be¬
sitzungen in den Niederlanden liegen, die rheinischen Herzöge von Jülich-Cleve-
Berg, die rheinischen Reichsstädte Köln und Aachen, die folgenden Bestandteile
der jetzigen Provinz Hannover: Osnabrück, Werden, Lingen, Hoya, Diepholz.
Im ganzen Reiche gab es 296 Stände, welche auf den Reichstagen teils
Viril-, teils Anteil an Kuriatstimmen hatten. Dazu kamen dann nahezu
1500 reichsritterschaftliche und andre kleine Territorien, sodaß das Reich in
fast 1800 von einander ziemlich unabhängige Gebiete zerfiel, welche sich der
allerverschiedensten Verfassungen, Einrichtungen, Gesetze, Münzen, Maße, Ge¬
wichte u. s. w. erfreuten. Dennoch wurde bis zu Ende die Fiktion aufrecht er¬
halten, daß es im ganzen Reiche nur einen einzigen „Souverän" gebe. Denn
souverän, das bestritt kein Reichsrechtslehrer, souverän war allein der Kaiser.
Der Kaiser! Damit sind wir zu dem zweiten Hauptteile unsrer Darstellung
gelangt, in welcher die Reichsgewalt und ihre Träger besprochen werden sollen.
Denn daß der Kaiser allein der oberste Träger der Reichsgewalt war, das hätte
sicher kein Staatsmann, kein Staatsrechtslehrer des vorigen Jahrhunderts zu
bestreiten gewagt. Und wie das Reichsgebiet keine genau zu bestimmenden Grenzen
hatte, ebenso war die Kaisermacht in der Theorie fast unbegrenzt. Aber in wie
grellem Widerspruche stand die nackte, thatsächliche Wirklichkeit mit diesen schranken¬
losen Ansprüchen, mit diesem hohlen Gepränge der Kaiserherrlichkcit, dem doch das
wahre Wesen, die Kaisermacht, fehlte! Thatsächlich waren längst alle eigentlichen
und wertvollen Hoheitsrechte der alten Monarchie auf die Landesfürsten überge¬
gangen, und wenn der Kaiser keine starke Hausmacht hatte, auf die er sich stützen
konnte, so bedeutete er so gut wie nichts. Auf das Reich konnte er sich nicht stützen;
dieses gewährte ihm nichts, nicht Macht, nicht Ehre und Ansehen, nicht einmal
dürftigen Lebensunterhalt. Als jener Kaiser aus baierischen Geschlechte, Karl VII.,
der noch dazu auf Betreiben Friedrichs des Großen gewählt war, dnrch die
Truppen der „Königin von Ungarn und Böhmen" aus seiner Residenz und
seinem Lande verjagt worden war, war er nicht nur den herbsten Entbehrungen
ausgesetzt, sondern lebte zu Frankfurt zeitweilig geradezu von der Mildthätigkeit
einiger reichen Bürger dieser Stadt.
Trotzdem wurde wenigstens standhaft der äußere Schein gewahrt, als ob
die Kaisermacht noch immer dieselbe wäre, wie sie es gewesen war, als Karl der
Große, Otto I., Heinrich III., Friedrich der Rotbart Szepter und Schwert des
heiligen Reiches führten.
Großartig war zunächst der Titel: Von Gottes Gnaden erwählter Römischer
Kaiser, elsotuL RoiriMviurQ Iinxsrawr, zu allen Zeiten Mehrer des Reiches,
sömxsr ^uzusws, in Germanien König. Dann pflegte die lange Reihe der
Titel der kaiserlichen Erdtaube zu folgen. Der Merkwürdigkeit wegen sei er¬
wähnt, daß der deutsche Kaiser sich auch „König von Jerusalem" nannte, ein
Titel, den einst jener gewaltige Staufer, Friedrich II., auf seinem Kreuzzuge
angenommen hatte. Der Kaiser hatte den Vorrang vor allen Fürsten der
Christenheit, galt als oberster Schutzherr der Kirche und führte als solcher den
Titel: Advokat und weltliches Haupt der Christenheit.
Diesen Titeln entsprach der bei der Krönung entfaltete Prunk. Da er¬
schienen die Reichskleinodien, zunächst die Reichskrone Karls des Großen, vierzehn
Pfund schwer. Die Inschrift auf einem Bügel dieser Krone lautet freilich:
(Nnoirrkäus v. Sr. Il.oui. Imxsr. ^uZ. (Konrad III. aus dem Hause Hohen-
staufen); doch könnte diese ja auch später angebracht worden sein. Dann der
Reichsapfel, inwendig hohl und merkwürdigerweise mit Pech ausgegossen, wofür
man eine sehr tiefsinnige, symbolische Deutung erfunden hatte; ein Monogramm
darauf deutet wahrscheinlich ebenfalls auf Konrad III. Das Rcichsszepter war
aus Silber, nur leicht vergoldet. Das angebliche Schwert Karls des Großen
zeigt auf der einen Seite des Knopfes einen einköpfigen Adler, auf der andern
den doppelschwänzigen Wappenlöwen Böhmens; die Klinge trägt die be¬
kannte Jnschrieft: Leu-i«of vineit,, Lnrisws rgM^t, (M'istus iirixerat. Diese
Stücke, ebenso wie die zahlreichen andern Reichskleinodien, werden jetzt in
Wien aufbewahrt. Die Stücke des kaiserlichen Krönungsornates waren gleich¬
falls halb imponirend, halb lächerlich in ihrem fadenscheinigen Prunke. Die
Alba, die Tunika, die Dalmatika, die Stola, der Gürtel, der Mantel, das
Pluviale, Handschuhe, Strümpfe, Sandalen u. s. w. Halb großartig, halb
grotesk waren auch die Krönungszeremonien, die ans der meisterhaften Schilde¬
rung der Krönung Josefs II. in Goethes Wahrheit und Dichtung allgemein
bekannt sind.
Betrachten wir nun als Gegensatz zu diesen Ansprüchen und Titeln, zu
diesem Prunke und diesen Feierlichkeiten die Macht und die Rechte, welche dem
Kaiser wirklich noch verblieben waren. Es waren folgende: 1. Das Recht,
Reichsgesetze zu veröffentlichen; 2. das Recht, hinsichtlich der Reichslehen die
Lehensherrlichkeit auszuüben; 3. das Recht, gewisse Reichsümter zu besetzen;
4. das Recht, das Reich auswärtigen Mächten gegenüber zu vertreten; 5. die
Schirmvogtei über die Kirche; 6. das Recht der ersten Bitte, d. h. das Recht
des Kaisers, in den reichsunmittelbaren Stiftern einmal während seiner Re¬
gierungszeit ein Kanonirat zu vergeben; 7. das Recht, Panisbricfe zu ver¬
teilen, d. h. das Recht, einem Stifte oder Kloster im Reiche die Verpflichtung
aufzuerlegen, bestimmte Personen, meist Militärinvaliden, aus Lebenszeit zu ver¬
pflegen; 8. das Recht, gewisse Justizprivilegien zu verteilen.
Dazu kamen dann noch die sogenannten kaiserlichen Reservatrechte, d. h.
solche, welche er nur in einzelnen Reichslanden, meistens auch nur unter Mit¬
wirkung der Landesherren, ausüben durfte. Zu diesen Reservatrechtcn gehörten
z. B. die Ernennung von Notarien, die Anlegung von Zöllen, die Erteilung
des Mttnzrechtes, die Errichtung von Universitäten, die Verleihung des Rechtes,
Doktoren zu ernennen, das Recht der Standeserhöhung, die Verleihung des Adels,
und andre Sachen von ähnlicher Wichtigkeit.
Diesen Rechten entsprach dann auch das kaiserliche Einkommen, worüber
noch bei den Rcichssinanzen gesprochen werden soll.
Neben und nach dem Kaiser standen dann als höchste Träger der Reichs¬
gewalt die Erzbeamtcn des Reiches. Auch in Bezug auf diese macht man dieselbe
Beobachtung wie bei allen Einrichtungen des alten Reiches: Titel, Prunk, hohle
Form, aber nicht viel dahinter. Denn diese höchsten Beamten traten fast nur
bei der Wahl und Krönung eines Kaisers in Thätigkeit. Die Erzürnter, Modi-
oWeig. Imxmü, standen den Kurfürsten zu. Deren gab es anfänglich sieben,
gemäß den Bestimmungen der „Goldenen Bulle," jenes Neichsgrnndgesetzes, das
Kaiser Karl IV. im Jahre 1356 erlassen hatte, und das im Originale noch
heute zu Frankfurt im Römer aufbewahrt wird. Während des dreißigjährigen
Krieges war infolge bekannter Ereignisse die pfälzische Kurwürde auf Baiern,
also von der älteren Linie des Hauses Wittelsbach ans die jüngere übergegangen.
Da jedoch im westfälischen Frieden die pfälzische Kurwürde wieder hergestellt
wurde, gab es fortan acht Kurfürsten im Reiche. Durch die Erhebung Han¬
novers zum Kurfürstentum« im Jahre 1692 wuchs die Zahl auf neun, ver¬
ringerte sich jedoch wieder auf acht, als nach dem Aussterben der baierischen
Wittelsbacher im Jahre 1777 die Pfalz mit Vaiern vereinigt wurde. So blieb
es bis zum Neichsdeputationshauptschlusse im Jahre 1803, der ja gewissermaßen
schon der Anfang vom Ende des alten Reiches ist. (Schluß folgt.)
achten der allgemeinen Forderung einer Herabsetzung der Proze߬
kosten zunächst durch das unterm 29. Juni 1881 veröffentlichte
Gesetz über die Gerichtsgebühren teilweise Folge gegeben war,
wurde vom Reichstage unterm 14. Juni 1881 beschlossen, die
Reichsregierung zu ersuchen, mit der weitergehenden Verbesserung
des Gerichtskostengesetzes eine solche der Gebührenordnung für Rechtsanwälte
zu verbinden und eine Vorlage darüber womöglich schon in der nächsten Session
an den Reichstag gelangen zu lassen. Diese Aufforderung wurde durch Beschlüsse
vom Is. Dezember 1882, 24. Juni 1884 und 6. Februar 1885 wiederholt,
durch den letzten Beschluß insbesondere auch insoweit, als die geforderte Herab¬
setzung sich auf die Auwaltsgebühren bezieht. Ebenso hatten die verbündeten
Regierungen bei diesen Verhandlungen anerkannt, daß die ferneren Veränderungen
auch dieses Gebiet mit zu umfassen haben würden.
Als nun aber im vergangenen Winter ein zunächst dein Bundesrate zu¬
gegangener Gesetzentwurf bekannt wurde, der eine Ermäßigung der Anwalts¬
gebühren anstrebte, wiederholte sich die oft beobachtete Thatsache, daß die davon
betroffenen Kreise nicht allein jede Berechtigung dieses Vorgehens lebhaft be¬
stritten, sondern sogar versuchten, ihren Stand als gewissermaßen von sicherer
Vernichtung bedroht darzustellen, wobei es denn auch nicht unterblieb, daß gegen
die Reichsregierung und gegen diejenigen Autoritäten, auf welche sie sich bezog,
gegen die Oberlandesgerichtspräsidenten und die richterlichen Kreise im all¬
gemeinen, ein Ton angeschlagen wurde, der mindestens als unangemessen bezeichnet
werden mußte und es notwendig den in dieser Weise angegriffenen erschweren
muß, ihr sachliches Urteil nicht durch die Folgen einer gewissen Gereiztheit zu
Ungunsten der Anwälte trüben zu lassen. Oder soll man es ohne Unwillen
lesen, wenn z. B. die indische Anwaltskammer behauptet, daß die vorgeschlagene
Ermäßigung das Bestehen eines großen Teiles der Anwälte geradezu gefährde
und ein Anwaltsproletariat unvermeidlich mache, und dann hinzufügt: „Wenn
der Entwurf dieses beabsichtigt, so hat die Reichsregierung den richtigen Weg
eingeschlagen"? Oder soll man es als passend bezeichnen, wenn dieselbe Kammer
erklärt, die Motive des Entwurfs seien „einfach unverständlich" und bewiesen,
„daß man von der Bedeutung der Schlußverhandlung in den betreffenden
Regierungskreisen kaum eine Ahnung habe." Auch wenn der von der Delegirten-
versammlung der deutschen Anwaltskammervorstäude gewählte Ausschuß in seiner
an den Reichstag gerichteten Petition erklärt: „Man darf Wohl sagen, daß die
Begründung des Entwurfes im Punkte der Auslagen wenigstens von großen
Gesichtspunkten, die doch den Gesetzgeber nie verlassen sollten, sich völlig frei
hält," so ist dieser höhnische Ton einfach ungehörig.
Diesem Tone entspricht es denn auch völlig, wenn die Delegirtenversammlung
„einstimmig den Entwurf als den Grundsätzen der Einführung dieser Gesetze
widersprechend und als an sich grundsatzlos, verfrüht, ungerecht gegenüber dem
Anwaltsstande und ebenso gefährlich wie demütigend" erklärte. Gerade auf
die „Demütigung," welche angeblich der Anwaltsstand dnrch Beschneidung seiner
Gebühren erfahre, wird wiederholt großer Nachdruck gelegt und ebenso oft
betont, daß ,,der Anwaltsstand den Gerichten ebenbürtig gegenüberstehe." Es
wird deshalb behauptet, daß der Entwurf die Anwälte in ihrem Vermögen
und in ihrer Ehre (!) treffe, und die Erwartung ausgesprochen, daß „der von
der Begründung deutlich angezeigte Weg, die Axt an die Freiheit der Anwalt¬
schaft zu legen, die Billigung des Reichstages nicht finden werde." Niemals
werde „der Stand zugestehen, daß für sein Wohl und Wehe die Überzeugung
einzelner Gerichtsbehörden oder der Gerichte überhaupt, denen er vollkommen
ebenbürtig gegenüberstehe, die alleinige Entscheidungsquelle bilde." Das „will¬
kürliche Ermessen des Gerichts sei nach Möglichkeit auszuschließen" und „die
durch die Begründung in der Presse und im Publikum wachgerufenen Strömungen
gegen deu Anwaltstand zur Wahrung des ihm zukommenden Ansehens weit von
sich zu weisen."
Es ist offenbar etwas krankhaft Gereiztes, dieses Ehrgefühl, mit welchem
so gepoltert wird. Was hat denn die ganze Vorlage mit dem Ehrgefühl, was
hat die Höhe der Gebühren mit der Ehre des Anwaltstandes zu thun? Aber
ebenso wie dann, wenn es sich um höchst materielle Interessen der Geistlichen
handelt, sofort die Kirche in Gefahr ist, so wird auch bei dieser einfachen Ein-
kvmmcnsfrcige die Ehrenfahue entfaltet und der heilige Krieg gepredigt. Die
Menschen sind doch überall gleich!
Man mag den Gerichten nachsagen, was man will, so wird man doch
schwerlich unser Volk von der Absicht abbringen, daß bei der Frage der Anwalts-
gebnhren sie doch immerhin die berufensten Urteiler seien, und daß es weniger
fehlerhaft sei, hier eine denkbare Einseitigkeit in Kauf zu nehmen, als sich einfach
bei der Ansicht der Anwälte selbst zu beruhigen. Es ist gewiß richtig, daß der
Gesichtspunkt, von welchem der Anwalt und der Richter die Gebühren des
Urwalds betrachten, verschieden ist, aber wenn es richtig wäre, daß die Richter
allgemein den Gebühreuforderungen der Anwälte wenig günstig seien, so könnte
der Grund hierfür nur in schlechten Erfahrungen gefunden werden, welche vielleicht
bei einzelnen Anwälten gemacht worden wären. Aber einerseits müßte man
doch Bedenken tragen, diesem Umstände eine Beeinträchtigung der Fähigkeit der
Richter zur unbefangenen Würdigung beizumessen, und anderseits würde, selbst
wenn dies als möglich zugegeben wäre, immerhin keine andre Instanz ge¬
sunden werden können, welche außer den Anwälten selbst eine ausreichende
Sachkenntnis besitzt, um in die Geheimnisse der Gebnhrenrechnung einzudringen
und über die in Betracht kommenden Fragen ein maßgebendes Urteil ab¬
zugeben.
Eine Befragung der Gerichte über ihre Erfahrungen auf dem Gebiete der
Auwaltsgebühren kaun nur dem krankhaften Selbstgefühl als eine Herabsetzung
des Auwaltstaudes erscheinen. Denn so wenig bis jetzt bekannt geworden ist,
daß im geselligen Verkehr ein Gegensatz zwischen Richtern und Anwälten und
insbesondre ein Anspruch der ersteren auf Bevorzugung sich geltend gemacht
habe, und so wenig dies dadurch hervorgerufen ist, daß in der beiderseitigen
geschäftlichen Thätigkeit der Richter in der bevorzugten Stellung desjenigen
erscheint, dem die Entscheidung anvertraut ist, so wenig kann der Anwaltstand
dadurch in seiner Ehre sich beeinträchtigt fühlen, daß man über eine durchaus
in den Kreis der geschäftlichen Angelegenheiten fallende Frage das Urteil der
Gerichte herbeizieht.
Diese einleitenden Bemerkungen schienen erforderlich, um für den Unter¬
zeichneten als richterlichen Beamten gewissermaßen die Befugnis zu einem eignen
Urteile zu erstreiten und den durch die bezeichneten mehr leidenschaftlichen als
durchdachten Angriffe aufgewühlten Boden wieder soweit zu ebnen, daß eine
ruhige Erwägung des Für und Wider eine Unterlage findet. Daß bei letz¬
terer, unbeschadet der energische» Abwehr unbegründeter Ansprüche, kein den
Anwälten grundsätzlich abgeneigter Standpunkt vertreten wird, dürfte aus den
nachfolgenden Erörterungen sich ergebe«.
Was den für die Bemessung der Auwaltsgebühren maßgebenden Gesichts¬
punkt betrifft, so bezeichnet die Begründung des Gesetzentwurfes denselben nur
negativ, indem sie ausspricht, es könne, nachdem durch Freigebung der Anwalt-
schaft die Anzahl der Anwälte dem Einflüsse des Staates durchaus entzogen
sei, nicht als Aufgabe der Gesetzgebung angesehen werden, jeder beliebigen Zahl
von Anwälten an allen Orten ein ausreichendes Einkommen zu sichern. Dieser
Satz ist, ungeachtet seiner scheinbaren Härte, unzweifelhaft richtig und auch
in allen Äußerungen der Anwaltskammern als solcher anerkannt. Aber auch
die positive Fassung: „Angemessene Einnahme bei angemessener Arbeit" wird
keinem Widerspruche begegnen; der näheren Bestimmung bedürfen nur die beiden
Begriffe: angemessene Einnahme und angemessene Arbeit.
In beiden Beziehungen wird von den Verhältnissen der entsprechenden Be-
amtenklasseu ausgegangen werden dürfen, insofern insbesondre die Frage der An-
gemessenheit des Einkommens niemals schlechthin, sondern immer nur vergleichs¬
weise beantwortet werden kann. Angemessen ist dasjenige Einkommen, bei welchem
jemand so leben kann, wie es die mit ihm ans gleicher gesellschaftlicher Stufe
stehenden können. Gehen >vir also von der oben betonten gesellschaftlichen
Gleichstellung des Richters und des Urwalds aus, so muß dem Anwälte ein
solches Einkommen gegeben werden, wie es der Richter besitzt.
Hierbei darf selbstverständlich nicht außer Acht gelassen werden, daß der
Richter nicht bloß seinen Gehalt bezieht, und zwar ohne Rücksicht auf etwaige
vorübergehende Behinderung dnrch Krankheit und Urlaub, sondern daß er auch
bei eintretender Invalidität oder in höherem Alter eine Pension bezieht, sowie
daß eine gleiche Versorgung seiner Hinterbliebenen zuteil wird, freilich vorläufig
in den meisten Staaten gegen Beitragspflicht des Beamte». Den Betrag dieser
Nebenvergünstigungen auszurechnen und darnach einen bestimmten Zuschlag zu
demi Richtergehalte zu ermitteln, macht keine Schwierigkeit, da bei der heutigen
Entwicklung der Alters-, Lebens- und Unfallversicherung auch der Anwalt sich
geradezu jene Vorteile verschaffen kann, oder wenigstens die statistischen Unter¬
lagen für die Berechnung derselben zu gewinnen sind.
Ebenso leicht ausführbar ist es, ausgehend von den Geschäftsverhältnissen
der Richter gewissermaßen einen Normalarbeitstag festzustellen, welcher bei Aus¬
messung der Gebühren zu Gründe zu legen ist, und damit erledigt sich auch
der Einwand, daß die hier verteidigte Gleichmäßigkeit zwischen dem Einkommen
des Urwalds und dem des Richters aus dem Grunde ungerechtfertigt sei, weil
die Kräfte des ersteren sich rascher abnutzten. Geschieht dies, weil der Anwalt
etwa durchschnittlich täglich länger arbeitet als der Richter, so sind anch diese
Überstunden bei unsrer Berechnung nicht in Anschlag gebracht.
Es würde nun aber durchaus unrichtig sein, wenn man zur Beurteilung
der Angemessenheit der jetzt geltenden Gebührensätze einfach die ermittelten that¬
sächlichen Eiukvmmensbeträge auf den besprochenen Normalarbeitstag reduziren
und dann mit dem erörterten Jdealmaßstabe vergleichen wollte. Man würde
dabei außer Acht lassen, daß zur Zeit in Deutschland nicht unerheblich mehr
Anwälte vorhanden sind, als zur zweckentsprechenden Erledigung der Geschäfte
erforderlich sind. Dies wird nicht allein in der Begründung der Regierungs¬
vorlage anerkannt, sondern auch in der Eingabe des Delegirteuausschusscs
wenigstens für „manche Städte" zugegeben. Da aber trotzdem der Ausschuß
bestreitet, daß bei der Bemessung das Einkommen eines vollbeschäftigten Urwalds
zu Grunde zu legen sei, so scheint es erforderlich, auf diesen Punkt etwas näher
einzugehen.
Hütten wir, wie früher, eine geschlossene Anwaltschaft, so unterläge es
keinem Zweifel, daß zur Ermittlung der an jedem Gerichte zuzulassenden An¬
zahl geprüft werden müßte, wie viel Anwälte bei normaler Beschäftigung er¬
forderlich seien, um die regelmäßig vorkommenden Arbeiten zu bewältigen, und
es würde dann nicht schwer fallen, auch die angemessene Höhe der Gebühren
nach dem oben angegebenen Maßstabe zu ermitteln. Man hat bekanntlich diese
Geschlossenheit der Anwaltschaft im Jahre 1879 aufgegeben und statt dessen
jedem, der die vorgeschriebenen Prüfungen bestanden hat, gestattet, sich an einem
beliebigen Gerichte — mit Ausnahme des Reichsgerichts — als Anwalt nieder¬
zulassen. Ob man diese Änderung für segensreich halten soll, wird davon ab¬
hängen, ob man die dadurch geschaffenen Übelstünde oder Vorteile als über¬
wiegend ansieht; denn daß das neue System neben offenbaren Vorzügen auch
ebenso unzweifelhafte Nachteile mit sich gebracht hat, wird niemand bestreiten.
Als einer der wesentlichsten Übelstände aber wird gerade der hier interessirende
Einfluß bezeichnet werden müssen, daß die Freigebung der Anwaltschaft jede
Einwirkung der gesetzlich festzusetzenden Gebühren ans die Höhe des Einkommens
ausschließt. Es ist eitel Täuschung, wenn man sich einbildet, durch höhere Ge¬
bühren auf die Dauer höhere Einnahmen schaffen zu können. Ein solcher Ver¬
such ist ebenso innerlich widerspruchsvoll, als wenn man glauben wollte, im
freien Meere den Wasserspiegel an einer bestimmten Stelle durch Zugießen von
Wasser erhöhen zu können; wollte man dies, so müßte man doch zunächst die
Wasserfläche in einen Hafen und mit Schleußen einschließen, sonst wäre alles
Bemühen erfolglos. Es ist ein nicht allein an sich einleuchtender, sondern auch
durch die tägliche Erfahrung bestätigter volkswirtschaftlicher Grundsatz, daß
unter denjenigen Lebensberufen. welche einerseits bezüglich wissenschaftlicher und
finanzieller Vorbedingungen sowie anderseits bezüglich ihrer sozialen Stellung
einigermaßen gleiche Lebensbedingungen biete», eine stete Ausgleichung stattfindet,
die sich fast mit derselben Gesetzmäßigkeit vollzieht, wie der, daß in dem einen
Schenkel einer gebogenen Röhre das Wasser nicht höher steht als in dem
andern. Die Bemntenstelluugen sind diesem Wettbewerb durch die Beschränkung
ihrer Zahl insoweit entzogen, als bei ihnen lediglich die Zahl der unbesoldeten
Anwärter bis zu einer nicht unmittelbar beeinflußten Höhe steigen kaun, während
die Einkünfte der Stellungen von Angebot und Nachfrage unberührt bleiben.
Bei den freien Berufen dagegen, insbesondre derjenigen der Anwälte, Ärzte,
Bauleute u. s. w., ist es völlig unabweisbar, daß zu der eiuen dieser Laufbahueu
so lange ein stetes Zuströmen stattfindet, bis ihre allgemeinen Lebensbedingungen
sich mit denjenigen der übrigen Berufe ausgeglichen haben. Es ist deshalb
— mit einer einzigen, gleich zu erörternden Einschränkung — für die dauernden
Erträgnisse der Anwaltschaft ganz gleichgiltig, wie hoch die Gebührensätze be¬
messen werden; wollte man sie auf das Doppelte der jetzigen Höhe heraushetzen,
so würde es nur eine Frage der Zeit sein, wenn der dadurch bewirkte Anreiz
einen so starken Zudrang herbeigeführt haben würde, daß genan die früheren
Einnahmeverhältnisse wieder hergestellt sein würden.
Das Gleiche gilt in umgekehrter Weise für die Ermäßigung der Gebühren,
jedoch mit der bereits angedeuteten Einschränkung, daß hier eine gewisse untere
Grenze anzuerkennen ist, an welcher angelangt die weitere Herabsetzn»«, nicht
mehr durch Nachlassen des Zustromes und dadurch verursachte Zahlvermindernng
sich ausgleichen könnte; das ist der Punkt, wo die zur ordnungsmäßigen Er¬
ledigung der Gesamtarbeit erforderliche Zahl von Anwälten in ganz Dentschland
nicht mehr vorhanden sein würde. Da aber vorläufig noch wenig Aussicht
vorhanden ist, daß eine solche Verminderung eintreten könnte, so gilt bis auf
weiteres noch der oben aufgestellte Satz, daß es Täuschung ist, wenn die An¬
wälte glauben, bei freier Anwaltschaft dnrch höhere Gebührensätze sich irgendwie
nachhaltig eine bestimmte Höhe ihres Einkommens sichern zu können, und nur
dies meint die Begründung des Entwurfes, wenn sie sagt, es sei erwünscht,
dnrch eine Ermäßigung der Gebührensätze den gegenwärtig in der Aussicht auf
unverhältnismäßig hohe Einnahmen liegenden Anreiz zur Ergreifung des Anwalts¬
berufes zu vermindern. Es ist deshalb ein völlig unberechtigter Angriff, wenn
die Eingabe des Delegirtenausschusses meint, es könne der Überfüllung der
gelehrten Stände nicht dadurch abgeholfen werden, daß die Stellungen, welche
diese Stände böten, mit zur Lebenshaltung ungenügenden Mitteln ausgerüstet
würden. Es ist vielmehr an sich durchans berechtigt, wenn der Entwurf eine
Herabsetzung der Gebühren zu einer Zeit vorschlägt, wo der Rückgang des
durchschnittlichen Anwaltseinkommens auf denjenigen niedrigsten Stand, der
von selbst dem weiteren Zudrange und der damit verbundenen weiteren Min¬
derung Schranken setzt, noch nicht eingetreten, vielmehr noch eine Stopfung
jenes Zudranges möglich ist. Wollte man erst jenen Zeitpunkt abwarten, so
würde freilich auch eine Ermäßigung nicht zu einer dauernden Überschreitung
der oben bezeichneten Grenze führen, sondern wieder ihre Ausgleichung finden
in einer notwendig eintretenden Beschränkung der Anzahl. Allein diese Aus¬
gleichung würde sich nur vollziehen unter erheblicher Schädigung der davon
betroffenen Anwälte.
Hiernach muß eine Herabsetzung der Anwaltskosten unter der Voraussetzung
als grundsätzlich berechtigt anerkannt werden, daß einerseits zur Zeit mehr
Anwälte, als zur ordnungsmäßigen Heranziehung der Geschäfte erforderlich sind,
vorhanden sind, und daß anderseits, wie durch den noch immer wachsenden
Zudrang bewiesen zu werden scheint, diese unnötig große Anzahl bei den jetzigen
Gebührensätzen ein derartiges Auskommen findet, daß die Anwaltschaft immerhin
günstigere Lebensbedingungen bietet, als die andern Berufe.
Man kann bei einer Erörterung wie der vorliegenden kaum vermeiden,
der schon angedeuteten Frage näher zu treten, ob denn die Freigebung der
Anwaltschaft als eine segensreiche Maßregel anzuerkennen sei, oder ob es nicht
vielmehr wünschenswert sei, wieder, wie früher, für jedes Gericht eine bestimmte
Anzahl von Anwälten festzusetzen, über die hinaus keine weitere Zulassung
stattfindet. Es soll jedoch dieser Versuchung hier widerstanden werden, weil
man davon wird ausgehen dürfen, daß in dieser Frage für die Gesetzgebung
so lange kein Grund zum Einschreiten vorliegt, als dies von dem beteiligten
Stande selbst nicht gewünscht wird. Man könnte freilich hiergegen anführen,
daß der Gesetzgeber Schäden, die er als solche erkennt, abstellen soll, ohne auf
die Aufforderung der dadurch betroffenen zu warten, und daß die Übelstände,
welche hier in Frage stehen, keineswegs ihre Wirkungen auf den Kreis der
Anwälte beschränke», vielmehr durchaus das öffentliche Interesse in Mitleiden¬
schaft ziehen. Allein dem gegenüber wäre zu erwiedern, einerseits, daß durch die
Rücksicht auf das Wohlergehen der Anwälte ganz überwiegend der den Gesetz¬
geber bestimmende Beweggrund sein müßte, anderseits, daß bei einer Frage,
die, wie die vorliegende, immerhin sehr verschiedene Auffassungen und Stand¬
punkte zuläßt, es nicht ungerechtfertigt erscheint, wenn der Gesetzgeber eine
Anregung desjenigen Standes erwartet, welcher durch seine allgemeine Urteils¬
fähigkeit und seine besondere genaue Kenntnis der einschlügigen thatsächlichen
Verhältnisse ganz vorwiegend berufen ist, für die eine oder die andre Ansicht
den Ausschlag zu geben.
Es genügt für den Zweck dieser Erörterung, darauf hingewiesen zu haben,
daß bei einer unbeschränkten Zahl von Anwälten die Annahme, es könne durch
die Gesetzgebung auf ein ausreichendes Einkommen durch entsprechende Gebühren¬
sätze hingewirkt werden, ganz hinfällig ist, und daß bei dem zur Zeit vorhandenen
starken Wettbewerb eine allmähliche Herabdrückung des Durchschnittseinkommens
unter das an sich wünschenswerte Maß ganz unvermeidlich eintreten muß. Auf
der andern Seite ist zuzugeben, daß auch mit der Beschränkung der Anwälte
auf eine bestimmte Zahl Übelstände erheblicher Art verbunden sind, insbesondre
der, daß, wenn man nicht der Regierung eine völlig freie Answcchl zugestehen
will, vielleicht die tüchtigen durch die weniger tüchtigen beeinträchtigt werden
können. Von der Abwägung dieser mit dem einen oder dem andern System
notwendig verbundenen Mängel wird es abhängen, ob man der freien oder der
geschlossenen Anwaltschaft den Vorzug einzuräumen hat, und jedenfalls wird
mau, wie schon bemerkt, um dieser Frage näher zu treten, eine Anregung der
beteiligten Kreise erwarten dürfen.
Jedenfalls kann aber, so lange an der jetzigen Grundlage nicht gerüttelt
werden soll, der Staat sich nur auf den Standpunkt stellen, daß er dem Anwalt¬
stande als einem Ganzen gewissermaßen eine Gesamtsumme anbietet, welche sich,
wie oben ausgeführt ist, berechnet aus dem als angemessen erachteten Normal¬
einkommen, vervielfältigt mit der Zahl von Anwälten, welche zur ordnungsmäßige»
Erledigung der Geschäfte bei sämtlichen deutschen Gerichten erforderlich sind.
Unterziehen wir nunmehr nach Feststellung des grundlegenden Gesichts¬
punktes die in den Äußerungen der Auwaltsvereine gegen die Vorlage erhobenen
Angriffe einer näheren Prüfung, so sind in der That einige derselben als voll-
begründet anzuerkennen, während andre sich als durchaus hinfällig erweisen.
Wenn zunächst die Zugrundelegung eines „vvllbeschäftigten" Anwaltes mit
dem Hinweise darauf bekämpft wird, daß der Anfänger nicht sofort vollbeschnftigt
sein werde und ebenso die Beschäftigung bei höherem Alter nachlasse, so ist dem
allerdings zu entgegnen, daß auch der Beamte nicht sofort den Durchschnittssatz
oder gar den Höchftbetrag seines Gehaltes bezieht. Immerhin aber ist es
richtiger, von dem Einkommen eines „Mittelbeschäftigten" auszugehen, da die
örtlichen Verhältnisse nicht immer eine volle Beschäftigung zulassen.
Ebenso ist zuzugeben, daß es keine angemessene Unterlage bietet, wenn die
Begründung des Entwurfs die Auwaltskoften in Vergleich setzt mit den Gerichts¬
kosten und davon ausgeht, dnß erstere keinesfalls die letzteren übersteigen dürften,
und ferner, wenn ein so starkes Gewicht darauf gelegt wird, daß die Kosten
einen gewissen Prozentsatz des Streitwertes innehalten müßten. Die Schwierigkeit
eines Prozesses und die dadurch erforderte Arbeit ist grundsätzlich durchaus
unabhängig von der Höhe des Streitwertes, und es würde deshalb am meisten
der Gerechtigkeit entsprechen, diese Beziehung durchaus unberücksichtigt zu lassen
und die Gebühr nach dem Maße der Arbeit zu bestimmen. Man hat jedoch
von jeher dem Werte des Streitgegenstandes einen maßgebende» Einfluß auf
die Hohe der Gebühren eingeräumt, indem man einerseits berücksichtigte, daß mit
dieser Höhe sich die Verantwortlichkeit steigert, anderseits beabsichtigte, dadurch
den unbemittelteren Bevölkerungsklassen, von welchen überwiegend die gering¬
wertigen Prozesse geführt werden, eine Erleichterung auf Kosten der wohl¬
habenderen Parteien einzuräumen. Insofern kommt in der Gebührenfestsctzuug
ein unverkennbar sozialpolitischer Umstand zum Ausdruck.
Man kann freilich jene Ungleichheit auch aus einem andern Gesichtspunkte
zu rechtfertigen versuchen, indem man nämlich davon ausgeht, daß grundsätzlich
der Staat den Rechtsschutz nach Maßgabe seines allgemeinen Berufes ohne be¬
sondre Vergütung zu leisten habe, sodaß die auferlegten Gebühren lediglich den
Charakter einer Gerichtssteuer trügen, welche wie alle Steuern fortschreitend zu
gestalten sei. Aber dieser auch in der Eingabe des Delegirtcnausschusses zum
Ausgangspunkt genommene Gedanke unterliegt doch sehr erheblichen Bedenken.
Nicht allein, daß diese bekanntlich auch auf dem sozialdemokratischen Programm
erscheinende Forderung der unentgeltlichen Rechtspflege praktisch betrachtet zu
einer ganz ungemessenen Vermehrung der Prozesse führen wurde, sondern es
muß auch grundsätzlich für verkehrt gehalten werden, die Kosten einer Staats¬
einrichtung, welche nur in ihrer allgemeinen Form allen Staatsbürgern zu Gute
kommt, in ihrer konkreten Anwendung aber nur denjenigen Nutzen schafft, welche
in die Lage kommen, Prozesse führen zu müssen, dessen ungeachtet ausschließlich
oder auch nur vorwiegend aus den gemeinsamen Steuern zu bestreiten.
Bekanntlich erlangen die einzelnen deutschen Staaten längst keinen zu¬
reichenden Ersatz ihrer Aufwendungen für das Gerichtswesen aus den Gerichts-
kosten, und wenngleich der Einwand des Delegirteuausschusses als begründet
anerkant werden muß, daß den Ausgaben nicht, wie es in der Begründung der
Vorlage geschieht, lediglich die Einnahmen aus Zivilprozessen gegenübergestellt
werden dürfen, so ergiebt doch selbst die jener Eingabe beigefügte Berechnung
aller Einnahmen ans der Gerichtsverwaltung — obwohl hier unberechtigter¬
weise die Soll-Einnahme zu Grunde gelegt ist — immer noch einen erheblichen
Fehlbetrag, und es ist deshalb durchaus ungerechtfertigt, wenn die Ausführungen
der Anwälte bei jedem einzelnen zur Beurteilung gezogenen Posten ihr Auge
vergleichend auf deu betreffende» Ansatz der Gerichtskostcntabelle richten und
vielen der vorgeschlagenen Änderungen nnr deshalb widersprechen, weil nicht auch
eine gleiche Ermäßigung der betreffenden Gerichtsgebühr beabsichtigt sei. Diese
Vergleichung der Gerichtskosten ist uuter allen Umständen verkehrt, mag sie zu
Ungunsten oder zu Gunsten der Anwälte erfolgen. Einerseits kann der Staat
Rücksichten nehmen, welche er den Anwälten nicht zumuten darf, anderseits bleibt
das Gesamtergebnis für den Staat immer noch ungünstig genug, er legt ohnehin
noch ein hübsches Stück Geld zu. während doch der Anwalt nach allen An¬
schlägen immer eine angemessene Vergütung seiner Mühe erhalte» soll. Einfach
wunderlich aber ist es, wenn auch hier wieder einmal der Ehrenpunkt herbei¬
gezogen und behauptet wird, die Ehre des Anwaltstandes erfordere, daß die
Entschädigung für eine bestimmte Arbeit bei ihm nicht geringer bemessen werde,
als für eine entsprechende Thätigkeit des Gerichts.
Nicht minder unzutreffend ist die mit feststehender Gleichmäßigkeit wieder¬
kehrende Behauptung, die Negierung wolle die insgesamt zu teure Rechtspflege
jetzt lediglich auf Kosten der Anwälte billiger machen. Sind nicht dnrch die
Novelle vom 29. Juni 1831 ausschließlich die Gerichtskosten herabgesetzt worden,
sodaß es jetzt nur der zweite Schritt ist, wenn man auch die Anwaltsgebühren
ermäßigt? Es ist doch gleichgiltig, ob man diese beiden Schritte gleichzeitig
thut oder mit dein einen voranging und mit dem andern nachfolgt.
Dagegen ist der fernere Vorwurf in vollem Maße begründet, daß die
Regierungsvorlage in keiner Weise ausreichendes Material biete, um die Haupt¬
frage: „Verdienen die Anwälte jetzt mehr als erforderlich?" mit irgend welcher
Bestimmtheit beantworten zu können. Wer infolge seines Berufs mitten in den
einschlägigen Verhältnissen steht, sei es als Anwalt oder als Richter, wird sich
freilich hierüber ein mehr oder minder feststehendes Urteil gebildet haben, allein
er wird zugeben müssen, daß dieses, abgesehen von der selbstverständlichen Be¬
grenzung auf einen bestimmten Bezirk, mehr oder weniger auf einem allgemeinen
Eindrucke beruht und durchaus derjenigen festen Unterlage entbehrt, welche er¬
forderlich ist, um darauf eingreifende Maßregeln der Gesetzgebung zu gründen.
Die Regierungsvertreter haben diese Feststellung aus dem Grunde für un¬
erheblich erklärt, weil sie der höheren Forderung gegenüber, eine notwendige
Entlastung des rechtsuchenden Publikums herbeizuführen, nicht ins Gewicht fallen
könnten. Allein der Anspruch der Anwälte, bei angemessener Zahl und Be¬
schäftigung auch ein angemessenes Auskommen zu haben, ist schlechterdings
und unter allen Umständen begründet. Sollte deshalb von den beiden fest¬
stehenden Thatsachen ausgegangen werden müssen, daß einerseits die Proze߬
kosten eine Ermäßigung erfordern, anderseits die Einnahmen der Anwälte eine
Verringerung nicht ertragen, so gäbe es in der That keinen andern Ausweg,
als daß die Gesamtheit, der Staat, den Ausfall trüge und seine Gerichtsgebtthren
ermäßigte.
Weiter ist von den Regierungsvertretern behauptet worden, daß die For¬
derung einer statistischen Ermittelung des Anwaltseinkommens unausführbar und
auch ohne Nutzen sei, da der etwa festgestellte Betrag doch nur ein Durchschnitts¬
wert sein könne und deshalb die Verteilung auf die einzelnen Anwälte gar nicht
erkennen lasse. Was zunächst den letzteren Einwand betrifft, so ist allerdings
zuzugeben, daß mit Ermittelung eines Durchschnittseinkommens etwa für ganz
Deutschland in der That nicht das Geringste gewonnen wäre. Aber man wird
auch eben aus diesem Grunde nicht den Durchschnitt, sondern die Einzeleinnahmen,
wie sie sich in den verschiednen Gerichtsbezirken gestalten, als dasjenige Ziel
unsers Wissens bezeichnen müssen, auf welches die anzustellenden Ermittelungen
zu richten sind.
Dieses Ziel kann nun — und damit kommen wir auf den andern Einwand —
nicht erreicht werden durch eine Durchsicht verschiedner gerichtlicher Akten aus
gewissen Zeiträumen, zumal da diese letzteren, wie ganz richtig hervorgehoben
wird, manche Arten von Einnahmen gar nicht ersehen lassen. Erfolg kann das
ganze Ermittelungsverfahren nur haben, wenn unmittelbar an die Quelle, nämlich
an die Geschäftsbücher der Anwälte, herangetreten wird. Nun ist es richtig,
daß niemand in der Welt, weder die Regierungen, noch auch die Anwaltskammern,
die Einsicht dieser Bücher zu verlangen berechtigt ist. Allein es muß, zumal
bei dem aus den Kreisen der Anwälte selbst fast allgemein geäußerten Wunsche
nach Anstellung solcher Ermittelungen, als eine Forderung der Billigkeit er¬
scheinen, den Anwälten wenigstens das Angebot solcher Untersuchung zu machen,
umsomehr als sich erwarten läßt, daß bei Einschlagung eines geeigneten Ver¬
fahrens, welches für Sicherung der nötigen Diskretion Sorge trägt — etwa Er¬
nennung von Vertrauensmännern durch die Vorstände der Anwaltskammern,
welchen die Mitglieder der Kammer ihre Bücher vorzulegen hätten — nur eine
geringe Minderzahl ihre Mitwirkung versagen würde. Sollten aber wider Er¬
warten solche Weigerungen in so erheblichem Umfange erfolgen, daß dadurch das
angestrebte Ziel vereitelt würde, so bliebe immer noch der jetzt eingeschlagene
Weg übrig, und es könnten sich dann die Anwälte nicht beklagen, wenn ihren
Einwendungen keine Beachtung zuteil würde.
Die Vertreter der verbündeten Regierungen haben diesem in der eingesetzten
Reichstagskommission hervorgetretenen Wunsche insoweit Rechnung zu tragen
versucht, als sie im Laufe der Verhandlungen eine Denkschrift vorgelegt haben,
nach welcher auf Grund der im Jahre 1882 bezüglich der Gerichtskosten bei
den Landgerichten veranstalteten Erhebungen eine Berechnung sowohl der An¬
waltseinnahmen als der als notwendig anzuerkennenden Anzahl von Anwälten
für ganz Deutschland unternommen wird, und bei welcher die Verteilung der
Gesamteinnahme von 20 Millionen Mark ein Durchschnittseinkommen von rund
5250 Mark oder 7000 Mark ergiebt, je nachdem man die thatsächlich vor¬
handene Zahl von 3800 Landgerichtsanwälten zu Grnnde legt, oder diese auf
die Anzahl der als notwendig anzuerkennenden 2800 ermäßigt. Allein diese
Angaben unterliegen dem erheblichen Bedenken, daß die dabei versuchte Er¬
mittelung der Anwaltseinnahmeu ans den Gerichtskosten immerhin recht unsicher
bleibt, und außerdem, wie schon hervorgehoben ist, eine Durchschnittsziffer für ganz
Deutschland kaum ausreichenden Anhalt für die zu treffende Entscheidung bildet.
Es muß deshalb nach wie vor die Beibringung von statistischen Ermittelungen
als durchaus erforderlich bezeichnet werden, und diese werden sich neben den
bereits hervorgehobenen Punkten für diejenigen Länder, in welchen die Anwälte
zugleich Notare sind, u. ni. auch auf die Einnahmen aus dem Notariat zu er¬
strecken haben.
Aber es bleibt noch ein andrer wichtiger Umstand, welcher zweckmäßig in
den Kreis der Ermittelungen wird eingeschlossen werden müssen. Es ist schon
bei den Verhandlungen im Reichstage darauf hingewiesen worden, daß bei dem
jetzigen System der Pauschsätze die Thätigkeit in kleinen Sachen, welche wegen
des geringern Wertes durchaus keine geringere Mühe erfordern als die großen,
offenbar nicht ausreichend vergolten wird, der Anwalt vielmehr darauf hin¬
gewiesen ist, den hier entstehenden Fehlbetrag durch den Überschuß der höheren
Wertklasfen zu decken. Es ist deshalb nicht zulässig, bei der Ausmessung der
höheren Gebühren das Verhältnis zwischen Mühe und Vergütung lediglich inner¬
halb dieser Klassen zu berücksichtigen, sondern es ist auch dabei jene Ausgleichung
dabei ins Auge zu fassen.
Nun ist aber nicht zu verkennen, daß eine solche Ausgleichung bei den
bisherigen Taxen sich nur in sehr unvollkommneren Maße vollzieht, indem die
Prozesse mit hohen und mit niedrigen Wertbeträgen sich sehr ungleich verteilen,
und — um gleich den springenden Punkt zu bezeichnen — es muß, ohne dem
Ergebnis der oben empfohlenen Ermittlung vorzugreifen, als sehr wahrscheinlich
bezeichnet werden, daß zwar die Gebühren der Landgerichtsanwälte eine Schmä¬
lerung vertragen, daß aber diejenigen Anwälte, welche ausschließlich oder doch
überwiegend bei den Amtsgerichten thätig sind, schon jetzt kaum ein ausreichendes
Einkommen haben, um sich und ihre Familie davon standesgemäß zu erhalten.
Nun kann man freilich die Frage aufwerfen, ob es überhaupt wünschenswert
sei, daß die amtsgerichtlichen Prozesse von Anwälten geführt werden. Aber
wenn auch zugegeben werden muß, daß das Vorhandensein von Anwälten auch
bei den kleineren Amtsgerichten nicht als ein Ziel betrachtet werden kann, auf
dessen Erreichung der Gesetzgeber in erster Linie bedacht sein mußte, so ist es
doch immerhin eine Annehmlichkeit für das rechtsuchende Publikum, wenn es
nicht gezwungen ist, wegen einer Angelegenheit, die ihrer Natur nach die Zu¬
ziehung eines Anwaltes erfordert, wiederholt weite Reisen nach dem Sitze des
Landgerichts zu unternehmen.
Dieses Ziel wird bei der jetzigen beschränkten Zuständigkeit der Amts¬
gerichte selbst ohne Schmälerung der jetzt bestehenden Gebührensätze sich nicht
erreichen lassen, weil die bei einem mittleren Amtsgerichte vorkommenden
Geschäfte nicht ausreichen, einen Anwalt genügend zu beschäftigen. Es dürste
deshalb geboten sein, bei dieser Überlegung eine andre Frage mit in den Kreis
der Erwägungen zu ziehen, über welche auch sonst schon vielfach verhandelt
worden ist, nämlich die Frage der Ausdehnung der amtsgcrichtlichen Zu¬
ständigkeit mindestens auf die Wertstufen bis 500 Mark. Durch eine solche
Änderung würden die Einnahmeverhältnisse wesentlich zu Gunsten der Amts¬
gerichtsanwälte verschoben und diesen die Möglichkeit des Bestehens auch an
solchen Orten geschaffen werden, an welchen sie bisher nicht vorhanden war.
Der Vorschlag, die Zuständigkeitsgrenze nicht bei 300, sondern bei 500 Mark
zu setzen, ist bereits in der Neichstagskommission zur Beratung der Gerichts¬
verfassung gemacht und dort nach eingehender Beratung mit vierzehn gegen
zwölf Stimmen hauptsächlich aus dem Grunde abgelehnt worden, weil mau
eine unzureichende Beschäftigung der Landgerichte befürchtete, auch meinte, daß
das amtsgerichtliche Verfahren bei größeren Sachen sich langsamer gestalten
würde als das landgerichtliche. Daß diese Befürchtungen unbegründet waren,
wird heute wohl ziemlich allseitg zugegeben werden, und ohne die schon damals
eingehend erörterten Gründe nochmals zu würdigen, soll nur darauf hingewiesen
werden, daß bei dieser Maßregel das Interesse des Publikums mit dem der
Anwälte sich vollkommen deckt.
Zunächst in materieller Beziehung, denn es ist nicht zweifelhaft, daß mit
der Dezentralisirung, der Ausbreitung der jetzt wesentlich auf die Landgerichts¬
sitze beschränkten Anwälte auf das ganze Land die Gesamtmenge des zur
Bearbeitung durch Rechtsanwälte gelangenden Materials und des auf die
Gesamthöhe der dem Stande zufließenden Einnahmen sich in eben dem Maße
steigert, wie es der Bevölkerung möglich wird, sich den durchaus wünschens¬
werten und jetzt entbehrten Rechtsbeistand zu verschaffen.
Aber auch in ideeller Hinsicht ist mit dieser Dezentralisirung eine Hebung
des Standes und in demselben Maße ein Vorteil für die Bevölkerung ver¬
bunden. Es geht dem Anwälte wie dem Richter: an einem großen Orte steht
er dem Publikum fern, an einem kleinen ist er der natürliche Berater. Sein
Gesichtskreis wird ein andrer, er wird aus einem juristisch-geschäftlichen zu
einem menschlich-teilnehmenden, seine Thätigkeit aus einer extensiven zu einer
unendlich mehr befriedigenden intensiven, und die Bevölkerung wird durchsetzt
von Elementen, welche, so segensreich sie wirken könnten, ihr bisher fast ent¬
zogen waren.
Die Regierungsvertreter haben sich bei den Kommissionsverhandlungcn
diesen von mehreren Seiten befürworteten Zwecken durchaus geneigt erwiesen,
ebenso wie aus dem Kreise des Publikums (so kürzlich wieder von der Mannheimer
Handelskammer) wiederholt darauf bezügliche Wünsche geäußert worden sind.
Jedenfalls ist der eben hervorgehobene enge Zusammenhang mit der Ge¬
bührenfrage nicht zu verkennen, und es wäre vielleicht erwünscht, die ganze
Gcbührenänderung bis dahin zu vertage», daß auch die Änderung in der Or¬
ganisation der Gerichte zur Ausführung reif wäre. Überhaupt — und damit
möge zum Schlüsse noch das von der Regierung gegen die Forderung von
statistischen Erhebungen gerichtete Bedenken entkräftet werden — wird es in
der That nicht als erheblicher Übelstand betrachtet werden können, daß die
Vorlage in der laufenden Session nicht mehr hat erledigt werden können. Be¬
sondere Eile hat die Sache nicht, und daß der jetzige Entwurf einen etwas
stückwerkartigen, wenig organischen Charakter zeigt, dürfte sich ebensowenig be-
streiten lassen. Häufig werden Gesetze durch einen beim ersten male gescheiterten
Anlauf nur besser, und so darf auch bei der vorliegenden Frage der Hoffnung
Raum gegeben werden, daß ein in einer späteren Session wiederholter Entwurf
in der Lage sei, manchen der jetzt ausgesprochenen Bedenken Rechnung zu tragen.
Nachtrag. Die Beratungen der Reichstagskommission haben ihren vor¬
läufigen Abschluß erreicht mit dem am 10. Juni gefaßten Beschlusse: I. In
eine weitere sachliche Beratung der Vorlage zunächst nicht einzutreten. II. Beim
Plenum zu beantragen: Der Reichstag wolle beschließen, den Bundesrat um
Vornahme von Ermittlungen zu ersuchen behufs Feststellung folgender Punkte:
1. welche Zahl von Anwälten zur Erledigung der ihnen in bürgerlichen Rechts-
streitigkeiten zufallenden oder zugefallenen Aufgaben nötig ist, und zwar a) bei
den einzelnen Oberlandesgerichten, l>) bei den einzelnen Landgerichten, o) bei
den einzelnen Amtsgerichten; 2. wie hoch sich der Gesamtbetrag der Gebühren¬
beträge der Anwälte für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten in den einzelnen zu 1
erwähnten Klassen herausstellt, und zwar: a) unter Zugrundelegung der gegen¬
wärtigen Gebührensätze, d) unter Zugrundelegung der im Entwürfe vorgeschlagenen
Ermäßigungen. 3. Wie hoch daneben das Durchschnittseinkommen eines deutschen
Urwalds bei jeder zu 1 erwähnten Klasse insgesamt zu veranschlagen ist. 4. Wie
hoch sich in den einzelnen Vundesstaaten Ausgaben und Einnahmen s,) bei der
streitigen Zivilgerichtsbarkeit, d) bei der Strafgerichtsbarkeit, e) bei der frei¬
willigen Gerichtsbarkeit belaufen.
in September vergangnen Jahres hatten sich in manchen kleinen
Orten Tirols Freunde zusammengethan, um mit heitern, unschul¬
digen Festen die hundertjährige Wiederkehr der Tage zu feiern, an
welchen Goethe auf seiner Reise nach Italien dieses oder jenes
Städtchen berührt hatte. Später stellten die Deutschen in Ve¬
nedig an dem Hause, das er dort bewohnt hatte, eine Erinnerungstafel
auf. Aber schon so bescheidne Veranstaltungen erregten Besorgnisse. Ein¬
flußreiche Tagesblätter brachten Untersuchungen, ob die Durchreise Goethes hier
und dort für ihn, für den Ort, für die Nation von Bedeutung gewesen sei. Jene
Männer und Frauen, die zu Goethes Andenken in fröhlicher Herbstfreude die
Gläser hatten klingen lassen, mußten sich wohlmeinende Zurechtweisungen ge¬
fallen lassen. Es war ein Flüstern hin und her, als ob eine Gefahr drohte,
gegen die mau sich bei Zeiten waffnen müßte.
Die Deutschen haben eine alte Furcht, ihre großen Männer möchten zu
stolz werden. Will sich solcher Übermut wieder offenbaren, dann schleicht mancher
umher, beklommen spähend, wo wohl der beste Platz sei, seinen Knüppel hin¬
zuwerfen, damit der zu hoch gewordene Landsmann stolpere und sich seiner
Menschlichkeit bewußt werde. Solcher nachbarlichen Fürsorge haben sich sonst
nur die Lebenden zu erfreuen; Goethe hat sie während seines langen Lebens
genug erfahren. Unsterblich aber wie er und aus dem Staube sich immer
wieder selbst erzeugend sind auch jene Bekümmerten, die seine bloße Existenz
quält und drückt, denen jede laute Erinnerung an ihn wehe thut.
Vor kurzem fragte mich ein unterrichteter und sonst eben nicht unbillig
denkender Mann, ob ich den Aufsatz gelesen hätte, der den Nachweis führt, daß
Goethe seine gerühmten tiefen Gedanken aus den Schriften des Giordano Bruno
abgeschrieben habe? Es war aber auch an der Zeit! sagte er. Und dabei
zuckte es über sein Gesicht wie ein Wetterleuchten, das einen heitern Zukunfts¬
tag verspricht, einen Tag, an dem ehrliche Arbeit, bürgerliche Tugend und
wohlverbriefte Würde allein gelten werden, an dem jene übergepriesenen Über¬
menschen neben den alten ägyptischen Porphyrstatuen und andern Kolossen in den
Antiquitätenkammern verschlossen stehen werden.
Es sind jetzt hundert Jahre verflossen, seit Goethe seine Reise nach Italien
machte. Das Jahr 1787 brachte er ganz in Italien zu. Warum sollte man
sich nicht freudig daran erinnern, sich nicht von neuem der Geschenke erfreuen,
die er uns reichlich von dort heimgebracht hat? Es ist ein Fest für alle und
für jeden Einzelnen von uns, daß Goethe hundert Jahre vor uns gelebt und
gewirkt hat, sodaß der Same, den er mit segnender Hand ausstreute, Zeit hatte
zu keimen, daß wir nun Blüten sehen und uns an den reifenden Früchten er¬
quicken können.
Zuweilen gemahnt es einen, als wandelte er noch unter uns. Mißwollen
störte ihn nie; wurde er mit seinen Gaben abgewiesen, gleich brachte er neue
und reichere herbei. So überhäuft er uus noch heute, das Widerstreben in
alter Weise bekämpfend, mit unschätzbaren Geschenken. Die nun geöffneten
Schreine seines Hauses boten uns vergangnes Jahr jene merkwürdigen Briefe
an Behrisch mit der Schilderung des frühen Ausbruchs eines leidenschaftlichen
Herzens, und, als sollte des Guten kein Ende sein, werden uns zur hundert¬
jährigen Wiederkehr der Reisejahre Goethes Briefe und Tagebücher aus Italien
bescheert, aus denen er später durch Weglassen und Zusetzen die italienische Reise
zusammenstellte. Sie sind im Auftrage der Goethegesellschaft von Erich Schmidt
herausgegeben worden, mit sorgfältigen Erklärungen und einer feinen Einleitung.*)
Sie gewähren uns einen neuen Einblick in diese wichtige Periode seines
Lebens. Wo Goethe so viel des Erlebten mit allen seinen Bedingungen und
Wirkungen mitgeteilt hat, erscheint es fast verwegen, anders als mit seinen
Worten Ereignisse seines Lebens schildern zu wollen. Und doch ist es wieder
eine Pflicht, sobald uns eine neue Quelle für die Kenntnis dieses Lebens er¬
schlossen wird, darauf hinzuweisen, das Neue mit dem Bekannten zu vergleichen
und in dasselbe einzuordnen.
Goethe hatte sich, als er seine Reiseeindrücke in späteren Jahren zu jenem
bekannten Buche über die italienische Reise zusammenstellte, von seinen Freunden
die Briefe und Tagebücher, die er von Italien aus an sie gesandt hatte, zurück¬
geben lassen. Nachdem er sie ausgezogen und verarbeitet hatte, vernichtete er
einen großen Teil, mehr als die Hälfte; nur die Schriftstücke über den ersten
Teil der Reise bis zum Aufenthalt in Neapel im Frühling 1787 blieben, mehr
zufällig, vollständig erhalten. Eben diese sind uns jetzt bekannt gemacht worden,
und sie zeigen, daß wir Veranlassung und Stimmung während der Reise nicht
immer richtig beurteilt haben.
Zehn Jahre hatte Goethe in Weimar gelebt. Was ihn im Drange der
Geschäfte, was ihn in den stillen Stunden geistiger Sammlung und künstlerischen
Schaffens erfüllte, haben uns in einem treuen Bilde seine Briefe an Charlotte
von Stein erhalten. Wie er sich erst von dem stille», seinen Wesen der außer¬
ordentlichen Frau angezogen fühlte, wie sie seine dumpfe Jugend beschwichtigte
— seine Besänftiger» nennt er sie —, davon hat er in der Iphigenie ein
poetisches Gleichnis hingestellt. Seine ruhige Neigung wird bald zur heftigen
Leidenschaft, die er ihr in unzähligen Briefen bekennt. So weit es ihrer schönen,
aber ebenen, flutenlosen Seele möglich ist, erwiedert sie die treue Liebe mit auf¬
richtiger Neigung. Diese Briefe, immer gleich in ihrem Wesen wie die Wogen des
bewegten Meeres, aber in ihren Gestalten immer wechselnd, sind das kostbarste
Besitztum unsrer Literatur geworden. Sie sind mit nichts zu vergleichen, was
sonst von Zeugnissen erregter Seelenzustände bekannt geworden ist. Wie Goethes
Lieder, üben die Bände, in denen sie gesammelt stehen, einen leisen Zwang aus,
sie immer und immer wieder zur Hand zu nehmen.
Auf diese in ihrer Einfachheit so tief poetischen Ergüsse, auf diese nie er¬
müdende Schilderung eines bedrängten Herzens folgten als das nächste Be¬
kenntnis aus Goethes Leben die Bücher der italienischen Reise in ihrer klassischen
Ruhe: rein objektive Darstellung des Geschauten und Erlebten. Das acht¬
zehnte Jahrhundert hatte eine berühmte Beschreibung einer Reise nach Italien,
Sternes sentimentale Reise, ein Buch, das in der europäischen Literatur Epoche
machte. Nichts als Empfindungen enthält es, jeder äußere Gegenstand läßt
aus der Seele Schmerzen und Freuden in Garben und eine ganze Gircmdola
von Witzfunken aufsprühen. Man merkt es kaum, so wenig wird man auf die
äußeren Umstände aufmerksam gemacht, daß der Reisende abbricht, noch ehe er
den Boden Italiens betreten hat; denn es war eben nicht eine Reise hierhin und
dorthin, sondern eine Reise in das eigne Herz. Wie hatte dieses Buch noch auf
den Werther eingewirkt! In Goethes italienischer Reise aber ist nun gar nichts
mehr davon, nicht einmal etwas von dem, was man geistreich nennt, kein Witz,
kein Einfall; immer stehen die Dinge da, wie sie sind, und wenn sie einmal ge¬
rückt und gedreht werden, so ist es nur, um sie an den Platz zu stellen, von
dem aus ihre Stimme besser vernehmbar wird.
Ist es uns zu verdenken, wenn wir früher schlössen, Goethe habe jene
ewige Spannung der Liebe nicht mehr ertragen können, es habe ihn endlich
jenes „süße Gift der unbefriedigten Liebe" krank gemacht, er habe in der Ent¬
fernung, die eine Trennung vorbereiten sollte, in ruhiger Betrachtung von süd¬
licher Natur und Kunst gesunden, die ersehnte Ruhe finden wollen?
Andres lehren uns die neu bekannt gewordenen Briefe, die er regelmäßig
an jedem Posttage an Frau von Stein sandte, während er daneben, wenigstens
bis zur Ankunft in Rom, ein an sie gerichtetes Tagebuch führte. Es steht
alles darin, was wir in der italienischen Reise lesen, aber in wie anderen Lichte
erscheint es! Was er sieht, was er erlebt, sieht er, erlebt er nur für die ge¬
liebte Frau; nicht wie ein Gegensatz zu den Briefen an Charlotte während der
letzten Jahre, sondern wie eine höchste Steigerung alles dessen, was wir dort
mit Anteil und Bewunderung lesen. Waren in den früheren Briefen nur die
zärtlichen, die sehnsuchtsvoll bekümmerten Töne angeschlagen, so bricht nun in
den Briefen aus Italien wie mit Naturgewalt hervor, was früher der leiden¬
schaftlichen Rede und Gegenrede aufgespart war. Sein erstes ist, als er endlich
in das so lange ersehnte Rom kommt, an sie zu schreiben; an sie ist auch wieder
sein letztes Wort gerichtet, ehe er die Stadt verläßt. In dem vollen Bewußt¬
sein, die wichtigste Periode seines Lebens abgeschlossen zu haben, sucht er in
einem tief ergreifenden Briefe die ganze Summe seines Verhältnisses zu ihr zu
ziehen. Ein Vorwurf von ihr über seine geheime Abreise reißt ihn aus seiner
ganzen Thätigkeit, und mit rührenden Worten fleht er sie an: „Erleichtere mir
meine Rückkehr zu dir, damit ich nicht in der weiten Welt verbannt bleibe, sieh
mich nicht von dir geschieden an, nichts auf der Welt könnte mir ersetzen, was
ich in dir verlöre." Aber nicht nur in solchen Augenblicken, wo in Schmerz und
Liebe seine große Seele hervorbricht, jeden Tag und jede Stunde gedenkt er ihrer.
Das Tagebuch wollte er erst schreiben, daß es mitteilsam wäre, daß sich auch die
andern Freunde daran erfreuen könnten; „es ging aber nicht — sagt er —, es
ist allein für dich." Im großen und im kleinen gewinnt die Darstellung ein
neues Interesse. Bei der Erklärung der italienischen Uhr z. B. heißt es in der
gedruckten Reise mit etwas gezwungener Wendung: „Um mich ferner in einem
wichtigen Punkte der Landesgewohnheit gleich zu stellen, habe ich mir ein
Hilfsmittel erdacht, wie ich ihre Stundeneinteilung mir leichter zueignen möchte."
Jetzt lesen wir die einfachen Worte: „Damit dir die italienische Uhr leichter be¬
greiflich werde, habe ich gegenüberstehendes Bild erdacht." Sie soll die be¬
ständige Teilnehmerin sein an allem, was er gewinnt, mit ihm soll sie
reicher werden, unerschöpflich ist er in der Wiederholung, daß alles nur für
sie bestimmt ist. „Wozu sähe ich das alles, wenn ich es dir nicht mitteilen
könnte" — „Behalte es aber für dich, wie es nur für dich geschrieben ist."
Vielleicht ist keine Stelle für den Unterschied des gedruckten Buches und
der Briefe, aus denen es entstanden ist, bezeichnender, als das Blatt vom
27. Oktober 1786 aus Temi. das aus einer Abschrift der Frau von Stein
schon früher bekannt geworden war, ohne daß man seine Wichtigkeit erkannt
hätte. In der italienischen Reise heißt es: „Wieder in einer Höhle sitzend, die
vor einem Jahre vom Erdbeben gelitten; das Städtchen liegt in einer köstlichen
Gegend, die ich auf einem Rundgänge um dasselbe mit Freuden beschaute, am
Anfange einer schönen Pleine zwischen Bergen, die alle noch Kalk sind u. s. w."
In den Briefen lesen wir: „Wieder in einer Höhle sitzend, die vor einem Jahre
vom Erdbeben gelitten, wende ich mein Gebet zu dir, mein lieber Schutzgeist.
Wie verwöhnt ich bin, fühle ich erst jetzt, zehn Jahre mit dir zu leben, von
dir geliebt zu sein und nun in einer fremden Welt. Ich sagte mirs voraus,
und nur die höchste Notwendigkeit konnte mich zwingen, den Entschluß zu fassen.
Laß uns keinen andern Gedanken haben, als unser Leben miteinander zu en¬
digen." Hierauf folgt die Beschreibung der Lage von Temi, die er nur wenig
verändert drucken ließ. Daß er selbst in so bewegter Stimmung klar und rein
zu sehen vermochte, daß ihm die sichere Hand niemals versagte, das Geschaute
darzustellen, hat zu dem Mythus von Goethes Kälte geführt; als lebten wir
tausend Jahre von ihm entfernt, als wäre jede Kunde verschollen von seinem
reichen Herzen, das immer voll und offen war.
Wie einst Sterne, so reiste auch Goethe mit seinem Herzen, nur daß
Menschenherzen so verschiede» sind wie Menschengesichter. Nicht neben seiner
Liebe besteht seine Objektivität, sondern sie wird recht eigentlich genährt durch
das, was heimlich in ihm ist. Auf dem Grunde eines klaren Bergsees sprudeln
Quellen, langsam wachsen in ihm vielfach verschlungene Pflanzen, und von der
verschlossenen Muschel bis zu dem flüchtigen Fische hegt er ein Reich bunt¬
bewegten Lebens. Die stille Oberfläche aber spiegelt, was ihn umsteht und um¬
drängt, Felsen, Wiesen und Wald, und was über ihm wandelt, die Sonne bei
Tage, und zur Nachtzeit den Mond und Sterne.
Worin bestand nun jene höchste Notwendigkeit, die ihn zwang, sich von
seiner Liebe loszureißen? Er hat sich oft darüber ausgesprochen, nicht nur an
die Freundin, auch an Herder und an den Herzog. Ja wie seine reine Seele
keinen Unterschied kennt zwischen hoch und gering, wenn er einmal schätzen und
lieben gelernt hat, fühlt er es als eine Pflicht, sich auch gegen den Diener zu
erklären, den er zurückgelassen, gegen ein Kind, das er mit liebender Sorgfalt
erzogen hat. Seine Gründe hat er nie einfacher ausgesprochen als in jenem
Briefe an Fritz Stein: „Mache dir keine traurige Vorstellung von meinem
Außenbleiben. Es war mir höchst nötig, daß ich wieder eine Masse von Kennt¬
nissen, von neuen Begriffen mir eigen machte, an denen ich wieder eine Weile
verdauen kann. Es wird mir und all den Meinen zu Gute kommen."
Er hatte sich erschöpft, im Geschäftsleben verloren, nicht zum wenigsten
vielleicht in den jahrelang währenden Mitteilungen an Charlotte. Er bedarf
neuer Eindrücke, wenn er seine Gestaltungskraft nicht verlieren soll, als Künstler
fühlt er sich bedroht. Kein äußerer Zweck treibt ihn, nicht bestimmte Studien,
nicht einmal die Absicht, sich in den bildenden Künsten zu vervollkommnen, für
die er sich in quälenden Jugendtagen bestimmt glaubte. Eigne bildkünstlerische
Thätigkeit kommt in Italien erst später hinzu, mehr angeregt durch seinen Um¬
gang mit Künstlern, niemals als Selbstzweck, sondern nur um für Anschaue»
und Aufnehmen empfänglicher zu werden. „Ich will, sagt er, so lange ich hier
bin — und das ist das eigentliche Programm seiner Reise die Augen auf¬
thun, bescheiden sehen und erwarten, was sich mir in der Seele bildet." „Wie
eine Flasche sich leicht füllt, die man oben offen unter das Wasser stößt, so
kann man hier leicht sich ausfülle», wenn man empfänglich und bereit ist."
„Ich bin fleißig — sagt er ein andermal —, ich nehme von allen Seiten ein
und wachse von innen heraus." Italien hat er zum Ziele seiner Reise gewählt,
weil er hier in Natur und Kunst des Neuen am »leisten sehen kann; er. der
der Todfeind aller leeren Worte ist, will endlich, was ihm von früher Jugend
an in Texten und Kommentaren vom Altertume überliefert wurde, durch Auf¬
suchen der klassischen Gegenden, Ruinen und Kunstüberreste vor sich lebendig
machen. Er will seine Seele erweitern und reinigen, ihr zunächst den „höchsten
anschauenden Begriff von Natur und Kunst" geben. „Ich will nicht mehr
ruhen, bis mir nichts mehr Wort und Tradition, sondern lebendiger Begriff
ist." Nichts wäre vergeblicher, als wenn man um Goethes Aufenthalt in Italien
eine Darstellung der damaligen Zustände der Gesellschaft, der Wissenschaft,
überhaupt der höhern Kultur des Landes gruppiren wollte; nicht auf das gegen¬
wärtige, „auf das Rom, das alle zehn Jahre wechselt," sondern auf das Blei¬
bende in Natur und Kunst kam es ihm an.
Man hat es Goethe oft zum Vorwürfe gemacht, daß er für gewisse Zeiten
der italienischen Kunst keinen Sinn und kein Auge hatte; gewichtige Stimmen
wie die Niebuhrs hielten mit ihrem Tadel nicht zurück. Die bildende Kunst
nahm in jener Zeit eine eigentümliche Stellung ein. Ein sonderbarer Umschwung
bereitet sich vor oder hat sich schou halb vollzöge». Die Kunst lag im Sterben,
und überall standen Literaten, die ihr erhebende Totengebete vorsprachen. Das
Geschlecht der großen Freskomaler, das durch Jahrhunderte hindurch die römischen
Kirchen und Paläste mit rauschenden Darstellungen geschmückt hatte, war ab¬
gestorben und versprach keine neuen Schößlinge mehr. Die letzten dieser Arbeiten
hatte schon schlecht und recht ein zugewanderter Deutscher ausgeführt. Die
Kunst hatte keinen utütterlichen Boden mehr. Die Zeit reifte heran, in der
ein Däne in Rom unter dem Beifall Deutschlands griechische Skulptur nach¬
ahmte. Soll man es beklagen oder belächeln, daß es hente noch Bildungs¬
schichten giebt, in welchen dieses Ereignis als eine Blüte der Kunst ge¬
priesen wird?
Nichts ist inniger mit dem Boden verwachsen, nichts so fein mit unsicht¬
baren Fäden an das innerste Wesen eines Volkes geknüpft als seine bildende Kunst,
das Wiederspiel seiner Sprache. Wie ein Volk in diese sein Empfinden, die ganze
weite Erfahrung seiner Kinderjahre legt, so ist jene das Abbild dessen, was es mit
treuen Augen im Vaterlande hat wachsen sehen, was ihm in Mannesjahren die
Phantasie als Ideal ausgebildet hat. Ein Künstler, der mit seinem Volke nicht
mehr zusammenlebt, der aus der Seele des Volkes nicht seine tägliche Nahrung
ziehen kann, ist wie ein Fisch ohne Wasser, wenn er nicht wie ein glatter
Salamander ist, der sich in jedem Elemente zurecht findet. Ausführung und
Gegenstand hingen bisher notwendig zusammen, Bemühen mußte man sich um
die technischen Mittel, die Bewältigung der Formen lernte der Schüler. Aber
niemals bemühte sich ein Künstler um die Gegenstände. Die waren da, sie
erzeugte der Tag. Die Vorstellungen, deren die allgewaltige Kirche, deren
die Frömmigkeit oder die Prachtliebe des Einzelnen bedürfte, sie riefen nur
nach dem Künstler, damit er sie verkörpere. Niemand hatte bisher noch so
niedrig von der Kunst gedacht, daß er an ihrer Kraft gezweifelt Hütte, die auf¬
gegebenen Stoffe zu bewältigen. Es war eine gute Zeit, in der überall das
Bedürfnis nach Kunst früher da war, als das Kunstwerk, das es be¬
friedigen sollte.
Diese Zeit war nun vorbei, der natürliche Zusammenhang von Poesie und
Religion des Volkes mit der bildenden Kunst war schnell vergessen, man hatte
die Kunst gleichsam abgezogen, sie als besondere köstliche Drogue für seltenen
Gebrauch beiseite gestellt. Die Kunst war erschöpft, und man glaubte, nicht
das Alter, sondern schlechte Nahrung habe sie auf den Tod gebracht. Durch
erlesene Krankenkost wollte man ihr wieder aufhelfen. Es beginnt das Suchen
nach fruchtbaren Gegenständen für die Kunst. Goethe selbst hat manche schöne
Tage mit Nachsinnen über neue Aufgaben verdorben. Das allgemeine Heil¬
mittel glaubte man in Stoffen aus der antiken Poesie in Nachbildung antiker
Kunstwerke zu finden.
Inzwischen war nämlich ein weittragendes Ereignis eingetreten. Eben als
sich die Kunst ausgelebt hatte, trat ein Pfadfinder auf, der das Interesse für
sie in andrer Weise neu zu beleben wußte. Winkelmann hatte die Kunstgeschichte
begründet. Weil er aber mit antiker Kunst begonnen hatte, in ihr mit Weitsicht
aus beschränktem Material eine geschichtliche Entwicklung entdeckt, auf die
Mannichfaltigkeit und das Besondere ihrer Gegenstände aufmerksam gemacht
hatte, meinte man mit leicht begreiflicher Verwechslung in der Nachahmung
dieser Kunst, vor allen in der Inspiration durch dieselben Gegenstände, die
Rettung aus Zuständen der Schwäche zu finden, und vergaß, daß jene Gegen¬
stände und Formen des Wichtigsten ermangelten, was sie zu ihrer Zeit aus¬
gezeichnet hatte, der Gemeinverständlichkeit.
Noch andre Umstünde wirkten zusammen, das Interesse ausschließlich auf
die klassische Kunst zu beschränken. Die Aufklärung, kirchenfeindlich, war voll
Scheu vor jenen märchenhaften oder pomphaften Darstellungen aus dem christ¬
lichen Mythenkreise, die bald zwei Jahrtausende lang die Kunst fast ausschließlich
beschäftigt hatten, und wies zum Ersatze auf die olympischen Götter, die harmlos
und lustig genug schienen. Warnungen von dieser Seite klingen nach in jenen
uns am befremdlichsten scheinenden Stellen der italienischen Reise, wo von christ¬
lichen Stoffen als von abscheulichen, nie genug zu verurteilenden Gegenständen
gesprochen wird. Für den Deutschen kamen noch die neueren ästhetischen
Schriften in Betracht, die gerade auf Goethes Jugend gewirkt hatten. Diese
Schriftsteller, im protestantischen, knnstarmen Norden erzogen, waren unbekannt
mit großen Leistungen der neuen Kunst, waren mit ihren Beispielen auf die
Antike augewiesen, an die sie beim Mangel eigener Anschauung wenigstens von
der Literatur her anknüpfen konnten.
Das Interesse für antike Kunst war so von verschiedenen Seiten in einem
früher ungeahnten Maße wachgerufen. Goethen hatte es schon in der Heimat
erfaßt, darauf war er vorbereitet, der Betrachtung dieser Werke gab er sich
mit ganzer Seele hin.
Man darf nicht verlangen, daß er auch die Arbeit des geschichtliche»
Forschers hätte leisten sollen. Auf diese kam es aber für die ältere italienische
Kunst zunächst an, auf sie erst konnte die ästhetische Würdigung folgen. Es
mag paradox erscheinen, aber für die geschichtliche Forschung war Goethe zu
objektiv. Sie setzt eine subjektive Beweglichkeit voraus, die seinem Wesen, dem
es angemessen war, die Gegenstände ruhig an sich herankommen zu lassen, ihre
Reife abzuwarten, ewig fern lag.
Nichts ist bezeichnender für die einfache Folgerichtigkeit seiner Natur, als
sein Verhalten gegenüber der älteren italienischen Kunst. Er tritt ihr dort
nahe, wo wirklich der einzelne Künstler mit vollem Ernste die Antike studirt
hatte. Er ist der erste, der wieder den vollen Wert Mantegnas zu erkennen
vermag, jenes Künstlers, der sich an der Statue gebildet hatte, der in der
plastischen Durchführung feiner Kompositionen weiter ging, als irgend einer
seiner Zeitgenosse», zuweilen sogar zu weit für ihren malerischen Zusammenhang.
Unter den Architekten tritt ihm Palladio am nächsten, der eingehend, in mancher
Beziehung noch heute musterhaft, die römischen Bauwerke durchforscht hatte.
Sorgfältig und beifällig beachtet er, wie die unerschöpfliche Phantasie jenes geist¬
reichen Künstlers immer neue Auswege findet, den modernen Bedürfnissen die
alten Formen anzupassen. Italienische Medaillen sammelt er zu einer Zeit,
wo Künstler wie Pisancllv, die heute in aller Munde sind, kaum dem Namen
nach bekannt waren, weil ihm ihre Werke von den antiken Münzen her, die sie
nachzubilden versuchten, vertraulich waren. Man muß nicht verlangen, daß er
Mauern hätte einrennen sollen. Er trat freimütig ein, wo eine Thür offen stand.
Im ganzen übersehen, setzt es uns im Gegenteile in Erstaunen, wie breit
sein künstlerisches Interesse war: das Altertum von der ägyptischen Skulptur
an, für deren feine Naturbeobachtung ihn, sogleich das Auge aufgegangen war,
die griechische Kunst, deren Bedeutung er ahnt — welche ausgebildete Empfäng¬
lichkeit setzt es voraus, aus einer schwächlichen Zeichnung sogleich den Wert der
Parthenonskulpturen zu erkennen! — die Renaissance von Raffaels und Michel¬
angelos römischen Jahren an bis zu den Werken, die sich in die Zeit seiner
eignen Jugend erstrecken. Selbst für Tiepolo hat er noch einen milden Blick.
Bilder niederländischer Landschafter leben beständig in seiner Phantasie; tirolische
Vordergründe erinnern ihn an Everdingen, und noch in Neapel möchte er die
Mondnacht von Art van der Neer dargestellt sehen. Nehmen wir dazu, dasz
er schon lange für heimische Maler wie Albrecht Dürer, sür nordische Baukunst
das rechte Wort gefunden hatte, so sehen wir ihn das ganze Gebiet der alten
und neuen Kunst umfassen. Nur wenige Jahrhunderte der italienischen Kunst
sind ihm verschlossen; freilich sind das vierzehnte und das fünfzehnte darunter,
die wir heute so übermäßig schätzen, daß sich fast der Begriff der Kunst mit
ihren Werken deckt. Zwar nur uns Deutschen und den Engländern. Ein kunst¬
gebildeter Franzose würde bei Goethe wenig vermissen, vielleicht das Repertoire
eher zu reich finden. Auch wir sollten uns zuweilen die Frage stellen, ob unsre
Reiseführer, die das arglose Publikum auf Fra Angelico und Signorelli Hetzen,
des Gute» nicht zu viel thun. Künstler dieser Art zu verstehen, bedarf es
langer Vorbildung, die sich nicht jeder verschaffen kann, während Guidos Sanft¬
mut, Annibciles Erfindnngsreichtum, die Größe Ludovico Caracals, an denen
heute der Reisende vvrbeigewieseu wird, leicht begreiflich wären. Mit weniger
Treeento und Quattrocento würde mehr Freude und vielleicht auch mehr echtes
Verständnis für Kunst unter die modernen Reisenden kommen.
Nicht von den Künstlern und Dichtern, wie so oft behauptet wird, ist die
Beschäftigung mit der italienischen Kunst des Mittelalters und der Früh-
renaissance ausgegangen. Ehe noch von Romantik, Ncizarenertum oder Prü-
raffaelismus die Rede war, hatte sich die Forschung jener Zeit wieder zu¬
gewandt. Folgerichtig hatten, nachdem Winkelmann die klassische Kunst ge¬
schichtlich behandelt hatte, Gelehrte den folgenden Zeiten ihre Studien ge¬
widmet. Agincourt, der seinem Werte nach noch immer nicht richtig gewürdigte
Begründer der modernen Kunstgeschichte, hatte schon Jahre vor Goethes Ankunft
in Rom eine reiche Sammlung von Abbildungen nach Kunstwerken des Mittel¬
alters und der Renaissance angelegt, die er nun mit großem geschichtlichem
Takte ordnete und erklärte. Goethe hat diese Sammlung in Rom gesehen, sie
macht ihm in jenen Tagen, in denen er ganz in der Antike lebt, auf jene spätere
Kunst nicht vorbereitet ist, wenig Eindruck. Nur der Fortdauer der Kunstübung
in den mittleren Zeiten wird er sich bewußt. „Man sieht — sagt er —,
wie der Menschengeist währeud deu trüben und dunkeln Zeiten immer ge¬
schäftig war."
Das Erscheinen von Agincourts ausführlichen Werke, das er später in
Deutschland kennen lernte, die ähnlichen Bemühungen Ottleys und der beiden
Lasinio machen ihn in folgenden Jahren mit den großen Meistern von Florenz
und Pisa bekannt. Und nun versäumt er keinen Augenblick, sich ihnen ganz
hinzugeben. Der zweite Teil des Faust ist voll von Anspielungen auf Werke
der alten italienischen Kunst.
Alles Studium der Natur und Kunst kommt, wie er es geahnt hatte,
wieder dem Dichter zu Gute. Schon bei der rhythmischen Durchbildung der
Iphigenie benutzt er Bilder und Büsten, um sich ihr Bild lebendiger aus¬
zugestalten. Im Tasso, dem Mittelpunkte seiner poetischen Thätigkeit in Italien,
schießt Leidenschaft, Poesie, Kunst und italienische Natur wie in einem Brenn¬
punkte zusammen. Über die Entstehung dieses Werkes erhalten wir durch die
Briefe aus Italien neue Belehrung. Im Oktober 1780, also zu einer Zeit,
in der das Verhältnis zur Stein noch nicht seinen späteren heftigen Charakter
angenommen hatte, war der Plan zu dem Stücke entstanden. Zwei Alte wurden
ausgeführt. Sie waren wie die erste Iphigenie in einer Art rhythmischer Prosa
abgefaßt. Von einer Nachricht in Mansos alter Biographie des Tasso aus¬
gehend, die ihm durch Heinses Übersetzung in der Iris wieder vor Augen ge¬
kommen war, sollte es schildern, wie Tassos verborgene Liebe zu einer Dame
des Hofes von einem ferraresischcn Edelmanne, der sich in sein Vertrauen ein-
zuschleichen gewußt hatte, verraten wird. Tasso stellt ihn zur Rede, schlägt ihn
ins Gesicht und muß nach einem Zweikampfe, in welchem der Verräter fällt,
aus Ferrarci fliehen, eine Begebenheit, die zum Ursprung seiner späteren Leiden
wurde. Ein persönliches Erlebnis mag Goethen auf diesen Stoff geführt haben.
Er hatte einen Genossen der Geniezeit, der den Stil seiner Jugenddichtungen
mit viel Geschick nachzuahmen versucht hatte, Reinhold Lenz, in Weimar auf¬
genommen. In diesem hatte sich ein geheimer Haß gegen Goethe entwickelt.
Er konnte die immer wachsende Größe seines Vorbildes nicht ertragen. Er war
Goethes erster wirklicher Feind aus Neid. Es war ein Verhältnis gleich dem
zwischen Vandinelli und Michelangelo. Wie Bandinelli glaubte, wenn er nur
des Michelangelo Marmorblöcke habe, könne er des Michelangelo Dinge machen,
so suchte sich Leuz in kindischer Weise des Materials zu versichern, an dem
sich Goethes Empfindungen bildeten. Er suchte sich die Neigung der Frauen
zuzuwenden, die Goethe liebten. Dann wollte er alles machen, was Goethe
machte, nur besser, um zu zeigen, wie es hätte geschehen sollen. Erst hatte er
bei Friederiken Goethes Vertrauen mißbraucht, nun in Weimar drängte er sich
an die Stein und beging eine jener ihm eigentümlichen, halb läppischen, halb
verschmitzten Indiskretionen, von denen seine Komödien und schamlosen, aus dein
Nachlasse veröffentlichten Fragmente genug Beispiele geben.
Nur kurze Zeit arbeitete Goethe am Tasso. Das Abenteuer mit Lenz
mag für ihn bald alle Bedeutung und damit auch der Stoff seine Anziehungs¬
kraft verloren haben. Das Fragment nahm er nach Rom mit, um es gelegentlich
für die neue Ausgabe seiner Werke zu überarbeiten.
Merkwürdig ist nun, wo des Tasso in der italienischen Reise zum ersten¬
male mit Bedeutung gedacht wird. Als Goethe sich anschickt, Rom zu verlassen,
schreibt er noch in den letzten Augenblicken vor der Abreise an die Stein. Der
Brief, der uns jetzt in der ursprünglichen Fassung vorliegt, hat in dem Buche eine
weitgehende Änderung erfahren. Hier lesen wir nach einleitenden Bemerkungen
über die Fortsetzung seiner Reise, die aus dein Originalbriefe beibehalten wurden,
seinen Bericht über seine Absichten, weitere Studien und Arbeiten betreffend,
wobei Tasso als die wichtigste zunächst vorzunehmende Arbeit hervorgehoben
wird, wovon im Originalbriefe nichts enthalten ist. Der Stein schreibt er im
Gegenteil, er wolle nicht eingehen auf das, was er in Rom sich zu eigen gemacht
habe; alles drängt ihn, ihr in diesem merkwürdigen Augenblicke wieder einmal
seine ganze Liebe zu bekennen, in Worten, welche über die nur zu ost besprochene
Natur dieses Verhältnisse völlige Klarheit verbreiten: „An dir hänge ich mit
allen Fasern meines Wesens. Es ist entsetzlich, was mich oft die Erinnerungen
zerreißen. Ach, liebe Lotte, du weißt nicht, welche Gewalt ich mir angethan
habe und anthue, und daß der Gedanke, dich nicht zu besitzen, mich doch im
Grunde, ich mag's nennen, stellen und legen, wie ich will, aufreibt und aufzehrt.
Ich mag meiner Liebe zu dir Formen geben, wie ich will, immer, immer —
verzeihe mir, daß ich dir wieder einmal sage, was so lange stockt und ver¬
stummt."
Nicht das erstemal, höre» wir, kann er den Ausdruck leidenschaftlicher
Sehnsucht nicht zurückhalten. Manche Stellen in früheren Briefen an die
Stein werden nun verständlich. Wie sein Tasso Leonoren, ist er mit zu kühnen
Wünschen an sie herangetreten, wenn auch im Leben nur eine oft schwer aus¬
gleichbare Verstimmung, nicht wie im Drama ewige Trennung, die Folge war.
Als Goethe für den Druck seiner Reise nach Jahren diese Briefstelle, die nicht
mitteilsam war, las, kam ihm sogleich der Tasso in den Sinn, in welchem diese
Gefühle nachgebildet sind.
In der Folge ist in den Briefen an Herder und an den Herzog häufig von
der Arbeit am Tasso die Rede, zugleich aber davon, daß er alles, was er
bisher daran gemacht habe, wegwerfen müsse. Das darf uns nicht überraschen.
War Tasso früher eine Geschichte verrateuer Freundschaft, so wird er jetzt
zum Trauerspiele der unbefriedigten Liebe. Goethe hatte in Italien eine neue
Biographie des Dichters kennen gelernt und hier die Anekdote gesunden, daß
Tasso, von Leidenschaft bezwungen, die Prinzessin einmal vor dem versammelten
Hofe geküßt habe. Das war zum Mittelpunkte der neuen Dichtung geworden,
in die er ein Bekenntnis über die zehn letzten Jahre seines Lebens legt: alle
Zweifel an einer künstlerischen Begabung, Zwang und Widerspruch seines künst¬
lerischen Gewissens gegen Hof- und Geschäftsleben, als Anfang und Ende aber
die Liebe zu jeuer Frau, der sein ganzes Wesen hinzugeben ihm für immer ver¬
sagt war. Daß ein gutes Teil seines Lebens in diesem Stücke liege, hat er
im Alter selbst gegen Eckermann bekannt. Nicht der Bruch mit der Stein, wie
gefabelt wurde — der Plan war längst gemacht, das Stück fast vollendet, als
jenes Ereignis eintrat, das Stück enthält zudem auch nichts von einem Znrück-
tritte des Mannes, vielmehr das gerade Gegenteil —, sondern sein Leben mit
ihr, dieses beständig sich erneuernde Anziehen und Abstoßen wird in geschlossener
Handlung versinnbildlicht, geschmückt mit allem, was Italien an Kunst und
Poesie, was es in seinen Lustgürten an berauschender Landschaft bot. Im
Boboligarten zu Florenz war der neue Plan durchgeführt worden. Tasso ist
das poetische Denkmal der italienischen Reise. Vielleicht hat die Vorstellung
der Trennung mit jener befreienden Wirkung, welche die Poesie auf Goethe
hatte, vorgcwirkt und so die wirkliche Trennung von der Geliebten erleichtert.
Nach der Rückkehr aus Italien geht bald eine große Veränderung in der
Art von Goethes Dichtungen vor sich, jene persönlichen Bekenntnisse, die vom
Werther bis zum Tasso vorherrschen, verschwinden. Das beginnende Ver¬
hältnis mit Christianer findet sich noch in den Römischen Elegien dargestellt,
seit er sie aber in sein Haus aufgenommen, mit ihr eine für sein Gewissen
giltige Ehe geschlossen hat, erscheint sie nicht mehr in seiner Poesie, das Glück
der Ehe ist kein Gegenstand der Mitteilung. Beruhigt und befriedigt, wie er
ist, sind ihm seine Zustände keine psychologischen Probleme mehr. Mit dem
Grvßkophta knüpft er wieder an ein Jugendwerk, die Mitschuldigen, an. Un¬
beteiligt, fast belustigt, sieht er darin dem Treiben hochstehenden Gesindels zu.
Dann folgt die Natürliche Tochter. Als wären die Menschen von Krystall,
sieht man ihnen bis in das Herz. Endlich die letzten Bücher des Wilhelm.
In der Zeit der Bekenntnispoesie erdacht, werden sie nur ausgeführt nach langer
Vorbereitung und Läuterung, als er auf jene Jahre des Entwerfeus schon
selbst wie ein Unbeteiligter hinsah. Hier erscheint die alte Freundin als Na-
talie. Nicht nur das ganze Wesen, selbst kleine Züge weisen auf diesen Zu¬
sammenhang. Wie in jener bedeutenden Nacht, wo Wilhelm und Natalie zu¬
sammen um Felix sorgen, diese Sorge um ein Kind ihre Herzen verbindet, um
ein Kind, das nur dem einen von ihnen angehört, so hatten Goethe und Char¬
lotte Fritzen zwischen sich gestellt, das Kind, das sie mit gleicher Liebe gemein¬
sam erzogen. Nun berichten auch noch die Briefe aus Italien, daß Goethe den
Knaben mit auf die Reise hatte nehmen wollen, wiederholt bedauert er, diesen
Plan uicht durchgeführt zu haben. Das führt auf Wilhelm zurück, der es zur
Bedingung seiner Abreise macht, Felix mitnehmen zu dürfen. Gewiß eine
Reminiscenz an jene ersten Ncisewochen, in denen Goethe das liebe Kind so schwer
entbehrte. Nicht Skizzen sind diese letzten Bücher des Wilhelm, sondern ein
wohlgestimmtes Bild, in dem das Einzelne sich bescheiden dem Gesamtkolorit
unterordnet. Wie von einem hohen Berge sieht man herab, wenn die weite
Landschaft unten liegt und alles Einzelne durch die zarten Schichten der da¬
zwischen liegenden Luft verbunden und halb verschleiert wird. Hatte er in der
Iphigenie Charlotte gebildet, sänftigend und bestimmend, wie sie ihn an Weimar
fesselte, in Leonore die Frau, die ihn durch ihre Liebe entzückte und erschütterte,
so ist Natalie das verklärte Abbild der Verlornen unvergeßlichen Freundin, das
still durch die zarte, blaue Luft des Mittags von Goethes Poesie schreitet. Zu
derselben Zeit schrieb er die Verse:
schwänden dem innern Auge die Bilder sämtlicher Blumen,
Eleonore, dein Bild brächte das Herz sich zurück.
Nach diesen Dichtungen, an die sich Hermann und Dorothea, Reineke und
so manches andre schließt, beginnt eine neue Periode in Goethes Schaffen, in
welcher er als Historiker auftritt. Nun macht er sich an die großartige Ge¬
schichte seines Lebens. Bei der Schilderung des Selbsterlcbten und des selbst¬
erworbenen erfaßt ihn ein echt geschichtlicher Geist; es ist ein schönes Wort
Wetters, daß kein Neuer dem Geiste der griechischen Historiker so nahe gekommen
sei, wie Goethe in Dichtung und Wahrheit. Als Fortsetzung dieses Werkes
giebt er die italienische Reise heraus. „Aus meinem Leben, zweiter Teil" stand
auf dem Titel der ersten Auflage. Nach der Geschichte seiner Entwicklung
brachte er die Geschichte seiner reichsten Lebensjahre. Aber nur das ganze
Bildungselement, das in dieser Reise lag, kommt zur Erscheinung, alles Per¬
sönliche wird getilgt, sogar kleine Novellen werden der Täuschung halber dazu
erfunden. Was sich auf seine große Liebe bezog, lag in der tiefsten Kammer
seines Herzens verborgen.
Wie er nun das vorhandene Material benutzt, verbindet, ergänzt, ist selbst
wieder eine der größten künstlerischen Leistungen. Sollen wir bedauern, daß
durch diese Arbeit ein beträchtlicher Teil der ursprünglichen Aufzeichnungen ver¬
loren ging? Abgesehen davon, daß es müßig wäre, wäre es auch thöricht.
Unübersehbar sind die Wirkungen, welche das Buch in den siebzig verflossenen
Jahren ausgeübt, unberechenbar, was Deutschland durch diese Wirkungen ge¬
wonnen hat. Daß die Betrachtung der Werke der bildenden Kunst ein hohes
Bildungsmittel für jeden ist, wurde erst durch die italienische Reise den
Deutschen zum Bewußtsein gebracht; die Sehnsucht, die das Buch in so vielen
nach Italien erregte, von denen viele dann wirklich nach Italien kamen, die
ohne diese Anregung nie dorthin gedacht hätten, hat es allein schon zu einem
der größten Freudenbringer gemacht; der Fähigkeit, die es entwickelte, objektiv
zu sehen, auf der Reise die Augen offen zu haben, hat die deutsche Kultur
manches von dem Besten in ihr zu verdanken.
Eine freudige Anerkennung der Wirkungen der italienischen Reise wird uns
aber nicht hindern, zu genießen, was von den ursprünglichen Aufzeichnungen
gerettet wurde. Es ist nicht Neugierde oder literarische Klatschsucht, wenn wir
in Goethes Leben immer tiefer einzudringen suchen, wenn uns alles, was er
erlebte und empfand, zum Problem wird. Es kommt nicht wie bei andern
Kleinliches ans Licht. Durch jede neue Mitteilung wird er größer, oder wir
Wie ein Kurort entsteht.
lernen vielmehr seine Größe von neuer Seite bewundern. Wenn er nie eine
Zeile von seinen Gedichten und Dramen geschrieben hätte, so würde er allein
durch seine eignen Aufzeichnungen über sich noch immer als der größte Mann
seiner Nation, als die Blüte der neueren Jahrhunderte erscheinen. Möge daher
sein Leben ein beständiges Vorbild und Studium bleiben, wie er vorahnend von
seinem Humanus aussprach:
Sein Leben wird den köstlichsten Geschichten
Gewiß dereinst von Enkeln gleichgesetzt.
uf welche Weise sich Seneca zu einem großen Kapitalisten empor¬
arbeitete, haben die historischen Rechenkünstler mit Genauigkeit
nachzuweisen vermocht. Daß der Diktator Gambetta sich hätte
eines Urgroßvaters rühmen können, der auf den traulichen Ruf¬
namen Gamberle hörte und ein biederer Schwabe war, ist viel¬
leicht kein bloßes Wortspiel. Wir erfahren alles und jedes, wenn
wir es wissen wollen, über die vielgewundenen Lebenswege von Leuten, welche
sich aus der großen Menge menschlicher Nullen zu der Bedeutung von Neun¬
zahlen emporarbeiteten. Aber fertigen und stattlich uns begegnenden oder wohl
gar auf uns hcrabblickenden Dingen ihr Entstehen, ihr mühsames Gcwordensein
abzufragen, will uns nicht immer gelingen, dünkt uns auch häufig eine müßige
Aufgabe, zumal wenn wir zu den Besserwissern zählen, die sich lediglich um
die Frage kümmern, warum denn noch nicht alles bis zum letzten Tüpfelchen
der Vollkommenheit gediehen ist und warum man uns nicht um Rat gefragt hat.
Ich sitze hier in einem Badeorte, der mich durch ein paar Moorbäder
von einem mir plötzlich auf einer Reise angeflogenen sehr schmerzhaften Hüftweh
geheilt hat, und da ich zu den Kurgästen gehöre, deren Dankbarkeit sich nicht
im Bewundern von Frauenkleidern und im Beklatschen von Kurmusikanten
erschöpft, so bin ich liebevoll auf die Suche uach vergilbten Spuren der Ent¬
stehungsgeschichte dieses Hygiea-Asyls gegangen. Was ich ermittelte, sei im
Nachstehenden mitgeteilt. Große Mühe habe ich nicht darauf zu verwenden
brauchen, denn mein Glücksstern führte mich auf einen Vorgänger, der vor drei
Jahrzehnten mit Bienenfleiß alles zusammengetragen hat, was in Kanzleien
der verstäubtesteu Art sich in der Form vou Aktenbündeln allmählich über diesen
Gegenstand gesammelt hatte. Meine Aufgabe bleibt für den vorliegenden Zweck
somit sehr einfach. Ich habe durch das Moor von Protokollen, Gutachten,
Regiermigsrestciptcn, chemischen Analysen u. s. w. mir einen Weg mittels einer
genügenden Anzahl standhaltender Bretter zu densum, damit ich in dem Wüste
nicht versinke, und wenn ich soweit für mein Fortkommen Sorge trug, dann
von Station zu Station das Berichtenswcrte ins Auge zu fassen und in ge¬
drängter Kürze übersichtlich zusammen zu tragen. Irre ich nicht, so wird sich
daraus ein Stück Kulturgeschichte ergeben, dessen unerfreuliche Seiten zahlreich
sind, aber in ihrer häufig humoristisch stimmenden Wirkung den alten Erfahrungs¬
satz bestätigen, daß es uus Menschen gar nicht so übermäßig schwer fällt, die
Leiden andrer zu ertragen. Und damit sei mit dem Bretterlagen bescheidentlich
der Anfang gemacht.
Mein Führer ist Dr. MI. Johann Gottlieb Jahr, mehrerer gelehrten
Gesellschaften ordentliches und korrespvndircndes Mitglied. Mein Thema ist
„Elstcrbrnnn beim Tcinnigt," wie das jetzige königliche Bad Elster im sächsischen
Vogtlande von dem Chronisten Trommler benannt wird. Die früheste Hin¬
weisung auf die Heilkraft der Elstcrqucllen will man in dem Stiftungsbriefe
der Kirche zu Se. Johannes in Planen vom Jahre 1122 finden, worin die
Elster mit der Bezeichnung heilige Elster erwähnt wird. Bessere Bürgschaft
für die Beurteilung der Heilquellen in den nächstfolgenden beiden Jahrhunderten
bietet das sogenannte Wahlcnbüchlein. Dort heißt es, „daß bei dem Quell
der lustigen Fichtclbergischen Saalschwestcr und Wassernymphe Elster ein fast
guter Born sich befunden, der von den alten Wahlen oder Venetianern, die in
jener Zeit das Vogelart nach allen Seiten hin durchstreiften, um Gold und
Edelsteine aufzusuchen, gar wohl gekannt und in Ehren gehalten worden sei,
indem er zur Leibesnotdurft Wohl dienlich und absonderlich gegen die bösen
Leibeswetter zu gebrauchen sei." Das letztere, ohne Zweifel einst vielgebrauchte
Wort verdient wohl auf seinen genanen Sinn geprüft und darnach wieder in
seine ihm abhanden gekommenen Rechte eingesetzt zu werden.
Eine lange Zeit vergeht nun, während der von der „lustigen Saal¬
schwester" nichts verlautet. Dies soll ja ein gutes Zeichen sein, insofern einem
weiblichen Wesen lediglich häusliche Pflichten obliegen. Die Wassernymphe
Elster hatte aber Pflichten, welche die ganze, von bösen Leiveswetteru heim¬
gesuchte Menschheit angingen. Es wird also wohl in Betracht gezogen werden
müssen, daß die Heimsuchungen des dreißigjährigen Krieges das Vogelart in
besonders barbarischer Weise drangsalirt haben, sodaß nach dem endlichen
Friedensschlüsse sieben Achtel der einst zahlreichen Bevölkerung des Landes ge¬
storben oder verdorben oder weggezogen waren; besonders die Holkesche Truppe
hatte arg gewirtschaftet, hatte die Vogtländer „fast geschunden," kein Wunder,
daß der Elstersäuerling, wie die Quelle im Laufe der Zeit benamst worden
war, für die von jenen sauern Tagen in die Kur genommenen kaum noch er¬
heblichen Reiz haben mochte.
Zwei Jahrzehnte waren nach dem Friedensschlüsse noch nötig, ehe die
Sorge, es könne wieder der alte Hader entbrennen, sich einigermaßen legte.
Im Jahre 1669 glaubte der Stadtarzt Georg Leisner in Plauen, des be¬
ängstigenden Geredes sei genug geschehen. Er tauchte daher seinen Gänsekiel
ein und verfaßte ein ebenso gelehrtes wie poetisches Schriftchen, das er drucken
ließ und dem damaligen Herrn des Vogtlandes, dem Herzog Moritz von
Sachsen-Zeitz, zueignete. Es handelte von „unserm Elstersäuerling," der nahe
dem Dorfe Elster auf einer Wiese entspringe. „Der Ort ist lustig und schön,"
schreibt der Verfasser; in geringer Entfernung liegt aber auch das Städtlein
Adorf, „allwo diensthafte Leute und ziemliche gut'e Bequemlichkeit an Logia-
mentcn und Viktualien, als Kälbern, Lämmern, Hünern und Willbret, wie auch
an Fischen, so die besten seynd, nemlichen Forellen, Ellritzen, Schmerlen und
anderen Speisen, so zur Kur dienlichen, zu erlangen. Von daraus kan manu
in den Grunde uff Wiesen, biß an den Brunn, fast stets an der Elster hinauf
spatzieren." Er fügt hinzu, gebraucht werde der Säuerling zur Sommerzeit,
und dann könne man, „wenn eine Herde von Schafen und Rindern der andern
nachweidet und die Hirten und Schäfer ihre Schalmeyen und Hirtenlieder hören
lassen, mit dem königlichen Propheten David aus dem 65. Psalm ausrufen:
Die Hügel umbher sind lustig, die Anger sind voll Schafe" :c. Bisher werde
der Säuerling, heißt es weiter, „zum gewöhnlichen Trank genutzt," er selbst
aber, der Stadtarzt, habe das Wässerlein „bei vielen unterschiedlichen Patienten
mit Nutzen gebraucht." Seine Analyse des Brunnens würde heute- freilich
einiges Kopfschütteln erregen, er wies nach, das Wässerlein enthalte „einen
Eiscnschlicht, einen Vitriolum, ein ganz süßes vvlatitisches oder flüchtiges Salz
und ein fixes krystallinisch Salz." Aber der Herzog ließ sich doch weitern
Bericht über den Brunnen erstatten, wobei sich ergab, er liege auf der Wiese
eines gewissen Barthol Gläser und sei „mit einem Stück hohlen Baum um¬
fasset," erhalte aber viel „wildes Wasser" zugemischt. Dieser wie noch ein
andrer angrenzender Wiesenbesitzer sollten nun Maßnahmen treffen, um das
wilde Wasser abzulenken, was sie nach manchen Einwendungen endlich zu thun
einwilligten. Die Sachverständigen konnten sich aber nicht über das Material,
in welchem die Brnnncnfassung zu beschaffen sei, einigen, und so blieb die
„lustige Saalnymphe," wenn auch nicht in ihrem alten durchlöcherte» Kleide,
der hölzernen Brunnenröhre, so doch in einer nur wenig bessern hölzernen
„Ausschrotung," und mußte sich die Zudringlichkeiten des „wilden Wassers"
nach wie vor gefallen lassen.
Dieser Zustand dauerte bis ins achtzehnte Jahrhundert. Wir hören dann
von einem höchsteignen Besuche des Herzogs Moritz Wilhelm und von so¬
genannten Rutengängern, die ihn begleiteten, auch wurden im Juni 1704 für
„die herzvielgeliebte Frau Gemahlin des ehesten" eine Anzahl Flaschen mit
Säuerling nach Moritzburg an der Elster zu senden befohlen; drei Wochen
später mußte dieser Befehl aber wiederholt werde», und wie es scheint, reiste in
den nun endlich mit wohlvcrsiegeltem „Gvrg" abgefertigten zwölf Flaschen soviel
wildes Wasser mit nach Moritzburg, daß der Frau Herzogin Erwartungen über
die Wirkung des Säuerlings nicht ganz erfüllt wurden.
Im Oktober 1707 ergeht ein etwas bündigerer Befehl des Herzogs, die
Quelle gut zu fassen und die wilden Wasser zu verstopfen. Am 4. Juni 1709
ist die Angelegenheit so weit gediehen, daß für 37 Mfl. 7 Gr. statt einer Quelle
— man hatte diesmal mit aufmerksamerer Zunge gekostet — drei Quellen ge¬
faßt worden sind, „so alle mineralisch, eine aber stärker als die andere schmackte."
Das Erlöschen des fürstlichen Hanfes Sachsen-Zeitz verurteilte aber bald
darauf den Heilbrunnen Wiederuni zu langjähriger Vernachlässigung. Erst unter
der vormundschaftlichen Regierung des Prinzen Xaver erinnert man sich der
Gerüchte, welche früher über des Elsterbrunnens Aehnlichkeit mit der berühmten
Egerquelle verlautet hatten. 1765 im August wird auf ergangene behördliche
Anfrage näheres darüber von Adorf nach Dresden berichtet, aber so wenig er¬
freuliches und zu Opfern ermunterndes, daß wiederum ganze zwei Jahrzehnte
ins Land gehen, ehe die Regierung sich die Mühe nochmaligen Erkundigens
machen zu solle» glaubt. 1786 wird endlich der Stadt- und Amtsphysitus
I/lo. Leisner mit der Aufforderung begrüßt, eine abermalige genaue chemische
Untersuchung des Gesundbrunnens zu Elster zu veranstalte», auch über alles
denselben betreffende zu berichten.
I^lo. Leisner hat jedoch, wie aus seiner Antwort hervorgeht, die vor zwanzig
Jahren bei der damaligen Untersuchung zu den Akten berechneten Kosten noch
immer nicht erstattet bekommen, meldet daher nur, „bei seinem Gedenken" sei
der Brunnen von Kurgäste» nicht besticht worden, „sondern werde lediglich von
den Inwohnern zu gewöhnlichen Getränken verwendet." „Dies — so fügt der
Chronist Joh, Gottlieb Jahr hinzu — die lakonische und verdrießliche Antwort
des Amts- und Stadtphysikus I.i<z. Leisncr zu Planen." Von dem schönen
Enthusiasmus seines Großvaters, der überall um den Brunnen herum „Hirten¬
gesang und Schalmeienklang" erlauscht hatte, war jedenfalls auf den I^lo. Leisncr
nicht gar viel vererbt worden.
Die Regierung ließ aber ihr Interesse für den Brunnen diesmal nicht ein¬
schläfern. Was dem I^lo. Leisner an Lust und Liebe zur Sache fehlte, fand sich in
reichlichem Maße bei dem Zeicheumeister Sprungk in Planen, der mit dem Aufriß
des Brunnens und seiner ganzen Umgebung betraut worden war. Verlegung des
Elsterflusses einerseits, anderseits Ankauf des Ritterguts Elster zur Beseitigung „der
zweierlei Grundherrschaft und zweierlei Jurisdictiones" wurden nun als die Vor¬
bedingungen einer gedeihlichen Lösung der in Angriff zu nehmenden Aufgabe erkannt.
Weder das eine noch das andre mochte aber im Handumdrehen zu bewerk¬
stelligen sein, und da die politischen Wirren in Frankreich die Blicke überhaupt in
die Ferne lenkten, so erging von Dresden nach Voigtsberg nur die Weisung — und
zwar im Juni 1788 —, den Brunnen „reinigen, fassen und herstellen zu lassen."
Das war freilich auch diesmal leichter befohlen als befolgt. Der Voigts-
berger Amtmann geriet in große Verlegenheit. Es sollten ja Anno 1709 drei
mineralische Quellen gefunden und gefaßt worden sein. Um welche handelte
sich's? Wieder mußten der Licenciat und der Zeichenmeister um Auskunft an¬
gegangen werden. Beide wußten nur zu berichten, daß seit achtzig Jahren
lediglich ein Brunnen im Gebrauch gewesen sei; vermutlich habe man überhaupt
nur noch mit einer Quelle zu thun. Nun kam von neuem der Befehl, diese
eine zu fassen und gegen das wilde Wasser zu schützen.
Der Zeichenmeister zeigte sich diesen« Auftrage, so weit er überhaupt aus¬
führbar war, gewachsen, und bei dieser Gelegenheit plauderte der Bauer Glcisel,
dem die Bruunenwiese zu eigen war, aus, er sei acht lange Jahre von gichtischen
Zufällen ganz lontrakt gewesen und habe endlich nach dem Gebrauche einiger
wenigen warmen Bäder aus dem Sauerbrunnen seine Kräfte zurück erlangt.
Das klang nicht übel. Heute würde eine solche Kunde durch alle Blatter
die Runde gemacht und ein Heer von Spekulanten auf die Beine gebracht haben.
Anders Anno 1788. Auch jetzt gelaugte man mit der Sache nur so weit, daß
der Brunnen einigermaßen ans seinen eignen Zufluß eingedämmt wurde; gab es
elementare Ereignisse von Belang, so stand er nach wie vor wehrlos. Wenige
Jahre später — im Jahre 1795 '— hatte sich aber auch schon wieder der Mi߬
brauch eingeschlichen, daß der nächstbetciligte Bauer das Wässerungswehr zum
Vorteil seines Wiesenertrages beliebig hoch aufbäumte, wo dann die „lustige
Elstcrnymphe" wieder tief im wilden Wasser saß.
So trat die Angelegenheit in das neue, in das rührige neunzehnte Jahr¬
hundert hinüber, vor der Hand freilich ohne etwas von dem Wesen eines unter¬
nehmenderen Geistes zu spüren. Von Zeit zu Zeit wurde die Quelle aber¬
maligen Analysen unterworfen, worüber die Berichte aber nicht eben schleunig
einliefen. Ein Brunnengräber namens Einsiedel verhalf dann im Jahre 1805
zur Auffindung drei neuer mineralischer Quellen, deren eine besonders für Augeu-
kranke wichtig sein sollte; sie wurde deshalb die Augenquelle genannt. Die Kriegs¬
wirren, welche mit der Schlacht von Jena die Hoffnung auf einen inoclus vivsnäi
erträglicher Art mit dem ungeberdigcn Frcmzoscntnme zerstörten, drückten aber wie
auf alle friedliche Thätigkeit, so auch auf das Interesse für den Sauerbrunnen.
Erst ein Mann, der im stillen auf eigne Faust im Elsterbette selbst drei
neue Quellen ans Tageslicht förderte und dadurch, wie wenigstens behauptet
wurde, den Gehalt der alten offiziellen Quelle gefährdete, brachte die Nymphen¬
frage wieder in Fluß. Es war der Besitzer des Rittergutes Elster namens
Vögele. Aufmerksam gemacht durch Luftblasen auf der Elster, hatte er auf
seinem Gebiete dem Flüßchen einen andern Lauf gegeben, d. h. zu stände ge¬
bracht, was von den Sachkundigen längst als einziges Mittel gegen die wilden
Wasser empfohlen worden war. Seine Eigenmächtigkeit konnte aber keineswegs
gebilligt werden. Er hatte einen hölzernen, mit Säulen geschmückten Ban her¬
stelle» lassen, um für die Kranken ein Unterkommen zu schaffen lind solcher
Art den Grund zu einem benutzbaren und vielleicht auch dereinst sich bezahlt
machenden Kurorte zu legen. Das durfte nicht sein; so durfte nicht mit einem
„Regal" verfahre» werden; denn der Amtmann Schubert in Voigtsberg betonte
in seiner Eingabe, „daß seines Wissens dergleichen Mineralquellen sowohl als
öffentliche Flüsse unter die Regalien gehörten, worüber die Aufsicht dem be¬
treffenden Amte zuständig." Einstweilen wurde dem Rittergutsbesitzer im
September 1810 bei zwanzig Thalern Strafe verboten, in der Angelegenheit bis
auf Eingang allerhöchster Entschließung irgend etwas weiteres vorzunehmen.
Die schlechten Zeiten mochten die Verhältnisse Vögeies indessen schon
früher zerrüttet haben; sein jetzt eingereichtes Gesuch um Ersatz der von ihm
ans den Qucllenfnnd ausgegebenen 450 Thaler Kosten wurde abgewiesen, und
das Rittergut kam unter den Sequester.
Obschon nun eine von der Regierung veranlaßte Rundreise des Freiberger
Professors Lampadius einen sehr günstigen Bericht über den Wert dieser wie
andrer vogtländischer Heilquellen zur Folge hatte, wurde doch im Jahre 1813
die von Vögele durchgeführte Ableitung der Elster mit Genehmigung der
Regierung wieder rückgängig gemacht, sodaß die neuen Quellen Bögeles wie
vor ihrer Entdeckung sich damit begnügen mußten, dnrch Luftblasen von ihrem
Dasein notdürftige Kunde zu geben. Warum den Bauern, welche für ihren
Wiesenertrag die Elster nicht entbehren wollten, dies ihr Begehren zugestanden
wurde, statt daß man sie dnrch ein mäßiges Sümmchen entschädigte, dafür ist
ohne Zweifel die Antwort in den leeren Staatskassen jenes Jahres — 1813 —
zu finden; die Bauern hatten ihr Anliegen nnmittelbcir an den König zu bringen
gewußt, und dieser machte es nicht abschlagen können, ohne das Recht zu beugen.
Drei Jahre später beginnen dann wieder Anfragen, wie es mit den Elster-
qncllen stehe. Es erfolgt kein Bescheid, weshalb die Anfragen im Jahre daraus
wiederholt werden. Nach Verlauf zweier weiteren Jahre — bis 1819 — langt
dann in Dresden ein Bericht an, ans welchem hervorgeht, daß der traurige
Ausgang von Vögeles Unternehmen den Freunden der Heilquelle nicht ganz
die Hoffnung benommen hatte, die Segnungen des „lustigen" Wässerchens doch
noch auf irgend welche Weise für die seiner bedürftigen zu retten. So gut es
ohne Hilfe der Dresdner R. gieruug gehen wollte, hatte man sich nämlich selbst
geholfen. Die Ableitung des Flttßchcns war von neuem ins Werk gesetzt
worden. Unter Beistand des Kreishanptmanns war eine Art Notbehelf von
Bad ins Werk gesetzt worden; 1818 hatten 200 Personen sich der Wohlthaten
der Quelle erfreut.
Dieser immerhin noch sehr kümmerliche Zustand dauert nun weitere zehn
Jahre; es ist vom Wärmen des Wassers in Kesseln unter freiem Himmel die
Rede, nicht minder vom Baden in einem Zelt, auch in einem Schuppen; einmal
wird eines Beitrages von 16 Groschen Erwähnung gethan, jedenfalls nicht für
ein einzelnes Bad, sondern für eine ganze Kur — vielleicht ein Vorläufer der
heutigen, keineswegs hoch bemessenen Kurtaxe von 1ö Mark. Dem Wunsche,
die Regierung möge diese bescheidenen Anfänge ans Staatskosten in eine Kur-
austalt verwandeln, standen aber auch jetzt noch Bedeuten entgegen; lieber wollte
man abwarten, ob sich nicht ein Privatunternehmer melde. Ein solcher hätte-
jedoch begreiflicherweise zunächst erst einen Berg von örtlichen Schwierigkeiten
und Rechtsansprüchen verwickelter Art überwinden müssen, und so verstrichen
wieder sechzehn Jahre, ohne daß die Angelegenheit von der Stelle rückte; denn
Einforderung und Erstattung von Gutachten, Aufrissen, An- und Vorschlägen
und ähnliches mehrten zwar das bei dem königlichen Sanitätskolleginm zu
Dresden reichlich aufgehäufte Aktenmaterial, kamen aber der Quellnhmphe sonst
nicht zu statten. Dennoch fand sich in dem Gutachten des Hof- und Medizinal¬
rath Dr. Clarus in Leipzig vom Jahre 1828 die Ueberzeugung niedergelegt,
„das; diese schätzbare, in ihrer Art in Sachsen einzige Naturgabe, nach rich¬
tigen Grundsätzen beurteilt und verwaltet, sowohl zur Erleichterung und
Heilung vieler Krankheiten als auch zur Beförderung des Wohlstandes dieser,
so vieler andrer Nahrungszweige entbehrenden und übervölkerten Gegend benutzt
werden könne."
Nach und uach hatte sich jedoch auch in Deutschland das Vorurteil gegen
Aktienunternehmungen, wie sie in England und Frankreich schon länger ein¬
gebürgert waren, vermindert, und so trat im Jahre 1835 in Adorf unter dem
Vorsitze des frühern Adorfer Bürgermeisters Todt ein Verein zusammen, der
eine Elsterbad-Aktiengesellschaft gründete. Diese hat Tüchtigeres geleistet, als
seit der ersten in vorigen Jahrhunderten geschehenen Auffindung der Elstcrheil-
quellen zu ihrer Sicherung und Verwertung geleistet worden ist. Ans allerlei
äußern und innern Gründen ist aber die Staatsregierung, welche der Aktien¬
gesellschaft im Laufe der Zeit ansehnliche Summen vorgeschossen hatte, doch
endlich genötigt gewesen, das Elsterbad in eigene Verwaltung zu nehmen, was
sie jedenfalls nicht zu bereuen gehabt hat. Wie sehr auch das Land damit
einverstanden war, geht aus dem Umstände hervor, daß die Kammern im
Jahre 1850 die von der Regierung für die neue Anstalt geforderten 75000 Thaler
aus freien Stücken auf 90 000 Thaler erhöhten.
Ich könnte jetzt mit einer Aufzählung der wirklich ungemein lobenswerten
Einrichtungen schließen, welche diese Staatsanstalt in die Reihe der besten Kur¬
orte erhoben haben. Bei der unzweifelhaft großen Heilkrüftigkeit seiner Quelle»
und der überaus lieblichen, schattenreichen, zwischen grünen Thälern und be¬
waldeten Hügeln wechselnden Umgebung bietet Bad Elster bis jetzt noch die
Annehmlichkeit, kein Modebad in unangenehmem Sinne zu sein, und die Ma߬
nahmen der Verwaltung werden ohne Zweifel dahin gerichtet sein, ihm diesen
Charakter, der einen immer wachsenden Besuch keineswegs ausschließt, zu er¬
halten. Aber über diesen Gegenstand noch weiteres zu sagen, fehlt hier der Raum;
auch giebt es Schriften darüber in wünschenswerter Menge, unter ihnen zwei von
dem gründlichsten Kenner des Bades, von dem Geheimen Hofrat Dr. Flechsig.
Dagegen sei hier noch mit wenigen Worten ein Rückblick geworfen auf die
oben chronologisch aufgeführten Zustände, durch welche die Quelle sich hat durch¬
kämpfen müssen, bis sie endlich auf den Ehrenplatz gestellt worden ist, zu welchem
jetzt alljährlich viele Tausende pilgern. Welche Unzahl von Luftblasen hat sie
durch das wilde Wasser Jahrhunderte lang bei Tag und bei Nacht cmporsenden
müssen, ehe diese einzige, ihr von der Natur zugemessene Mitteilungsfähigkeit
Beachtung sand! Und als endlich ihre Stunde geschlagen hatte, da dauerte
die Freude kaum lange genug, daß sie Zeit hatte, ihre Heilkräfte ordentlich zu
bethätigen, allen kund zu machen. Um ein paar Fuder Heu mehr oder weniger
im Jahr machten die Bauern, von denen sie doch den einen nach achtjährigen
„Kontraktsein" kurirt hatte, dem ohnehin durch Napoleon genugsam geplagten
Könige den Kopf so marin, daß er einwilligte, man möge dem wilden Wasser
nieder seinen Lauf lassen. Fast möchte mau es ein Wunder nennen, daß heute
überhaupt von einem Bade Elster die Rede sein kann. Wäre einer minder ge¬
duldigen Nymphe so wenig Huld entgegen gebracht worden, sie hätte sich gewiß
anderswohin gewandt, und jetzt hätten wir das leere Nachsehen.
Um nicht unbillig zu urteilen, muß man sich aber auf den Standpunkt
des Kulturhistorikers stellen. Nicht viele Anblicke giebt es, die über den Unter¬
schied zwischen einst und jetzt besser unterrichten als der hier sich bietende. In
wenigen Stunden vermittelt die Eisenbahn heute den Verkehr nach allen Rich¬
tungen, und was für Gebresten in diesem oder jenem Kurorte Heilung zu hoffen
haben, steht in hundert Büchern zu lesen. Wie anders einst! Zur Zeit, als
die Elsterquelle die Dörfler der Umgegend schon von manchem Gliederreißen
geheilt hatte, herrschte auf balnevlogischem Gebiete noch so tiefe Finsternis,
daß ein sächsischer Landesvater, um eine ihm angeratene Kur zu beginnen
— damals handelte sich's, denke ich, um Nauheim —, erst einen Stall¬
meister auf Kundschaft nach Ort und Gelegenheit aussenden mußte, und
daß dieser so lange Zeit am Rhein und am Main hin und her trabte
und fragte, bis die schlechte Jahreszeit darüber herankam, weshalb der
Kurritt des bresthaften hohen Herrn um ein ganzes Jahr hinausgeschoben
werden mußte und sehr übel ablief. Wer anders als die nächsten Nachbarn
hätte in solcher unwegsamen Zeit von einer selbst gut gepflegten Elster-
quclle Nutzen ziehen können? Auch die Chemie lag noch in den Windeln.
Der mchrgenaunte luiv. Leisner gab Anno 1709 „als hierzu von Hoch Fürstl.
Amte Voigtsberg requirirter Medicus" nach damaligem Herkommen in Barsch
und Bogen eine Analyse des Elster-Sauerbrunnens, wonach der Brunnen „vor¬
nehmlich ans einem Lais nitroso, so etwas weniges von einer Nwörs. Nartis,
oder vielmehr atuminosg, und Lats eoinmurn, nebst einem 8xiritu aktluzreo und
vielem Wasser bestehe." Die heutige Analyse z. B. der Marienquelle — einer
der drei Quellen, welche im Gebrauch sind — weiß von dem genauen Gewichts¬
verhältnisse der sämtlichen in der Quelle ermittelten festen Bestandteile zu be¬
richten; sie heißen — um sie hier in Reih und Glied aufmarschiren zu lassen —
doppelt kohlensaures Eisenoxydul, doppelt kohlensaures Manganoxydul, doppelt
kohlensaures Natron, doppelt kohlensaurer Kalk, doppelt kohlensaure Magnesia,
doppelt kohlensaures Lithion, ferner Chlornatrium, Chlorkalium, schwefelsaures
Natron und endlich Kieselsäure, denen sich dann in Kubikzentimetern noch eine
vierstellige Ziffer für die Rubrik „völlig freie Kohlensäure" gesellt.
Vermutlich wird die Scheidekunst künftiger Jahrhunderte auch dieser Analyse
nicht zugestehen, das letzte Wort über die Marienquelle gesprochen zu haben,
aber einstweilen mag der Unterschied zwischen Einst und Jetzt beim Bergleichen
der beiden erwähnten Analysen uns in erquickender Weise zum Bewußtsein
kommen.
a saßen wir nun, meine Mutter und ich, in der großen Stadt
und beobachteten von unsern Fenstern aus das bewegte Treiben
auf den Gassen und Straßen. Ein verwitweter Gymnasialdirektor
hatte uns einen Teil seiner Dienstwohnung vermietet. Unser
Lebensunterhalt kostete nicht viel, daher befanden wir uns in der
angenehmen Lage, reichlich Gastfreundschaft üben zu können. Viele meiner
Kunstgenossinnen, welche mit mir die Malerakademie besuchten, gingen täglich
bei uns ein und aus.
Im Mansardenstübchen des Hauses wohnte ein Student der Theologie
mit einem guten Gesicht; er hieß Steffens. Unser Wirt gewährte ihm unent¬
geltlich Wohnung, Licht und Feuerung. Als die Mutter dies ersuhr, lud sie
Herrn Steffens ein, jeden Nachmittag bei uus Kaffee zu trinken. Hierdurch
ward er unser täglicher Gast.
Eines Tages gingen wir gemeinsam aus, um Schlittschuh zu fahre». Weil
aber das Eis nicht mehr blank war, entschlossen wir uns zu einem Spazier¬
gange in den Wald. Dort begegnete uus ein Herr, der schon von weitem
meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Als er näher kam, sah ich, daß lauge
blonde Locken ein schönes Jünglingsgesicht umrahmten.
Klaus, wie kommst du hierher? rief Steffens freudig überrascht und stellte
mir den uns begrüßenden als Herrn Studiosus Schwauenburg vor. Wir unter¬
hielten uns eine Weile lebhaft miteinander. Dann empfahl er sich wieder.
Kaum war er fort, so fragte Steffens erregt: Nun, was sagen Sie zu
meinem Freunde?
Ja, antwortete ich, er scheint ein bißchen absonderlich zu sein, aber er ge¬
fällt mir wohl. Schwanenburg ist durch und durch Idealist, fuhr Steffens fort
und schilderte mir seinen Freund Klaus in lebhaften schönen Farben. Dies
bewirkte, daß ich mich gegen die Mutter besonders günstig über meine neue
Bekanntschaft aussprach.
Einige Zeit darauf begegnete mir Herr Schwaneuburg wieder. Trotz
Schnee und Eis schien er an Hitze zu leiden; wenigstens trug er seinen Hut
unterm Arme. Sobald er mich erkannte, rief er aus: O wie schön ist es, daß
ich Sie treffe, ich habe mich soeben längere Zeit mit Ihnen unterhalten. Als
er meine Verwunderung bemerkte, fuhr er fort, während er sich ohne weiteres
mir anschloß: Sie müssen wissen, es ist meine Eigentümlichkeit, meine Gedanken
in ein Zwiegespräch zu kleiden. Seitdem ich Sie kenne, spreche ich viel mit
Ihnen. Früher hielt ich meine Gedaukengespräche mit einer edeln, älteren Frau.
Jetzt ist aber deren Bild bei mir verwischt; ich habe sie zu lange nicht gesehen.
Dann erzählte mir Herr Schwanenbnrg, worüber er mit nur geredet habe:
Als Waisenknabe von fremden Menschen erzogen, sei im besondern Sinne des
Wortes der liebe Gott sei» Vater gewesen, an den er sich in allen großen und
kleinen Angelegenheiten des Lebens gewendet habe; er habe sonst auch niemand
gehabt, dem er sich habe anvertrauen mögen. Hierdurch sei sein Verhältnis
zu Gott ein sehr inniges geworden, und mit Begeisterung habe er bei den großen
orthodoxen Professoren Kolleg gehört. Seine Vaterstadt habe ihn erziehen
lassen und gewähre ihm jetzt auch die Mittel zum Studium der Theologie.
Jetzt habe er vollständig seinen Bibelglauben verloren und dadurch sei sein
persönliches Verhältnis zu Gott auch wesentlich erschüttert worden. Er beab¬
sichtige nun vom Studium der Theologie zurückzutreten, mit so großen äußern
Nachteilen dies auch für ihn verbunden sein möge. Ich glaube wohl, es ist
ein Wesen da, unfaßbar, unbegreiflich groß — ein Mittelpunkt, der wie die
Sonne am Firmament alles durchleuchtet, ein Licht, ein ewiges Licht! Aber
ich kann es nicht ausdrücken, was ich denke, was ich innerlich schaue, sagte er
stotternd und mit zitternder Stimme.
Wenn er über die erhabensten Dinge redete, so brachte er überhaupt alles
nur stoßweise über die Lippen; was ihn bewegte, war zu groß für die mensch¬
liche Sprache. Durch den Ausruf: Ich kann ja gar nicht sprechen, ich habe nie
gewußt, daß ich nicht sprechen kann, unterbrach er wiederholt seine eigne Rede.
So war ich plötzlich, bei unsrer zweiten Begegnung, die Vertraute eines
Abtrünnigen geworden. Ich riet ihm, sich vertrauensvoll an einen Geistlichen
zu wenden, und fügte hinzu, daß er in hohem Maße meine Teilnahme errege.
Was soll ich aber nun anfangen? fiel er mir ins Wort, muß ich doch darauf
gefaßt sein, daß meine Vaterstadt ihre Hand von mir zurückziehen wird. Ich
erteilte einen Rat, über den ich in diesem Augenblick selbst lachen muß. Ich
riet ihm: Werden Sie Seemann, als solcher verdienen Sie gleich, was Sie
brauchen, und die frische Luft wirkt wohlthätig auf die Nerven. Auf diese
Antwort war er nicht gefaßt; er sah mich bestürzt an und empfahl sich.
Einige Stunden später hatte er bereits seinem Freunde Steffens, aber nur
ganz beiläufig, ohne etwas über den Inhalt unsers Gesprächs hinzuzufügen,
erzählt, daß er mich gesprochen habe. Nach acht Tagen kam nun Steffens in
großer innerer Erregung zu uns, und brachte die Nachricht, Schwanenburg
habe den Glauben verloren und wolle Philologie studiren. Als er hörte,
daß sein Freund mir dies alles selbst bereits anvertraut habe, war er sehr
verwundert; merkwürdig war es ja auch.
Später machte Schwcmenburg bei uns Besuch und nahm an unsern Lese¬
abenden Teil. An diese denke ich mit Entzücken. Unser Hauswirt, der Direktor,
führte den Vorsitz und gab dem Ganzen die Weihe. Auch übte er Kritik und
legte oft seine Freude über mein „Organ" an den Tag, worunter er meine
Aussprache verstand. Die andern nutzten dies aber auf und neckten mich mit
meinem „Organ." Der Direktor selbst las vorzüglich. Es war geradezu er¬
schütternd, wenn er, z. B. als Kreon in der Antigone, durch seine Stimme der
Leidenschaft Ausdruck lieh. Auch verstand er es meisterhaft, durch eine hin¬
geworfene Bemerkung unser Interesse für das Gelesene zu erhöhen. Und vor
allen Dingen besaß er eine rührende Geduld. Die Mutter schüttelte manchmal
den Kopf, wenn ich ihn so hartnäckig mit meinen Fragen belästigte, aber ich
fühlte, daß es ihm Freude machte, mir Rede und Antwort zu stehen.
Auf der Akademie gab ich mir unsägliche Mühe. Die Professoren und
Lehrer rühmten meinen Fleiß und behaupteten, ich machte Fortschritte. Ich
selbst merkte nichts davon. Plötzlich bekam ich kranke Finger und mußte mich
schmerzhafte» Operationen unterziehen. Nun konnte ich monatelang nicht malen.
Kaum war dieses Leiden gehoben, da verfiel ich einer innern Krankheit, die
einen guten Teil meiner Kräfte aufrieb.
Als Wiedergeneseude folgte ich der Aufforderung eines Verwandten, seinem
Hausstande vorzustehen, da seine Frau und seine Kinder gleichzeitig darnieder¬
lägen. Plötzlich stand ich vor einem Wirkungskreise mit großer Verantwort¬
lichkeit, aber davor scheute ich mich nicht. Mit Gottvertrauen ging ich an die
Arbeit, und des Himmels Segen ruhte auf allem, was ich anordnete oder selbst
that. Meine Krankenpflege wurde vom schönsten Erfolge gekrönt, und des Onkels
Häuslichkeit ließ nach seiner Versicherung nichts zu wünschen übrig. Das
wollte aber etwas sagen, denn er war ein Pedant, wenn auch ein liebens¬
würdiger.
Als ich sah, daß ich entbehrlich wurde, kehrte ich zur Mutter zurück, in
deren Stillleben inzwischen als ein Ereignis der Weggang unsers täglichen
Gastes gefallen war. Herr Steffens hatte auswärts eine Stelle als Haus¬
lehrer angenommen.
Als ich nun meine akademischen Studien wieder fortsetzte, gelangte ich
von Tag zu Tag mehr zu der Überzeugung, daß ich Wohl eine gemachte, aber
keine geborne Künstlerin würde werden können. Der Gedanke drückte mich nieder.
Dies merkte die Mutter, und in ihrer feinen Herzensgüte bat sie mich, ihret¬
wegen von der künstlerischen Laufbahn zurückzutreten. Ich fügte mich diesem
Wunsche.
Da saß ich nun wieder ohne Beruf und Wirkungskreis. Aber zwischen
nur jetzt und der Elisabeth vor ihrer zweiten Wallfahrt in die Residenz bestand
ein großer, gewaltiger Unterschied. Damals jagte ich dem vermeintlichen goldnen
Glücke nach — und jetzt, ich wünschte nichts andres, als Gottes Willen zu
erfüllen.
Ich war reich an überflüssiger Zeit. Mein Gewissen verbot mir, diese
in den landläufigen Tändeleien zu vergeuden; aber es widerstrebte mir anch
jede Thätigkeit, durch die ich andern das Arbeitsfeld und dadurch das Brot
geschmälert hätte. Meine Mutter und ich besaßen, was wir zum Lebensunterhalt
bedurften. Früher kannte ich nur Menschen mit gegebenen Pflichten, und die
beneidete ich, oder Menschen ohne solche, und zu denen hatte ich mich gerechnet.
Ich war zu dieser Einteilung gelangt, weil ich nur an häusliche oder Berufs¬
pflichten gedacht und mich überhaupt mit meinen Gedanken nur in den engsten
Kreisen des menschlichen Daseins bewegt hatte. Durch Zeit und Erfahrungen
war mein Blick weiter geworden.
Die Bilder, die meine Seele jetzt bewegten, zeigten mir das Leben in
seiner ganzen nackten Wirklichkeit. Es waren meist nur Umrisse und' Skizzen,
aber auch packende Ausführungen in den grellsten Farben, und sie führten mir
insgesamt Arme, Kranke und Elende vor, deren Blicke gegen mich zu sprühen
schienen. Aber welche Ansprüche konnten sie an mich erheben, an mich, das
schwache Mädchen? Es giebt eine Lichtahnung, welche dem Durchbruch der
Sonne vorausgeht. In diesem Zustande befand sich jetzt meine Seele, als ihr
allmählich klar wurde, daß niemand ans Erden ohne Pflichten gegen die All¬
gemeinheit sei, und daß es ein Verbrechen gegen Gott und Menschen sei, wenn
jemand den Egoismus zum obersten Gesetz für sich erhebe. Tag und Nacht
befand ich mich in Sinnen und Gedankenspinnen; oft rang ich förmlich, „bis
die Morgenröte anbrach." Da erkannte ich, daß meine Gedanken sich gerade
um den Kernpunkt des ganzen Christentums bewegten und daß die von mir
gepriesenen „Pflichten gegen die Allgemeinheit" in der Liebe zu Gott und zum
Nächsten erst ihre rechte Gestalt und Beleuchtung erhielte».
Um dieselbe Zeit fügte es sich, daß ich vou der Kanzel aus dem Munde
eines großen Gottesgelehrten begeisterte Worte vernahm, die mich tief erschüt¬
terten. „Geh hin und kümmere dich um die Armen!" — hiermit schloß er
seine Predigt in bittendem Tone.
Ich sträubte mich in gewissem Sinne dagegen; meiner persönlichen Eigen¬
tümlichkeit widerstrebte alles, was nicht sauber, zierlich, blumcndnftig war. Aber
der Mahnruf ließ mir keine Ruhe, er hatte eine vollständige Umwälzung in
meinem Innern hervorgerufen, und was ich auch unternehmen mochte, er be¬
schäftigte mich immer wieder von neuem. Gleichzeitig forschte ich in der Bibel
und fand überall Bestätigungen meiner innersten Erlebnisse. In „Erlebnisse"
hatten sich meine anfänglich flüchtigen Gedanken allmählich umgewandelt.
In wie anderm Lichte erschien mir jetzt aber manches, was ich in dem
Buche der Bücher fand! So das Lazarus-Evangelium. War es bisher nur
für mich ein Histörchen von dreizehn Versen mit guter Moral gewesen: so er¬
kannte ich jetzt darin die Flammenschrift der göttlichen Weltordnung. Gott ist
die Liebe, und seine Liebe verlangt, daß wir Menschen uns untereinander lieben.
Statt dessen gehen wir teilnahmlos an einander vorüber und kümmern
uns nicht um einander. Mancher blickt sogar über den Kopf seines Neben¬
menschen kaltblütig hinweg, obgleich dessen Elend ihm unmittelbar vor Augen
liegt. So ist es bei dem reichen Manne im Evangelium der Fall. Der arme
Lazarus war eigens von mitleidigen Menschen, die außer stände waren, selbst
zu helfen, vor die Thür des reichen Mannes gelegt worden, damit dieser ihn
beachte. Trotzdem bekümmerte sich der Reiche gar nicht um ihn. Das ist
frevelhafte Auflehnung gegen des Allmächtigen unzweideutiges Gebot und ver¬
langt Sühne, denn Gott ist die Liebe, aber auch die ewige Gerechtigkeit. Wegen
seines Ungehorsams wird der Reiche den Höllenqualen überliefert. Ein fürchter¬
licher Ernst leuchtet aus dieser Erzählung hervor. Überhaupt läßt unser Heiland
es an Deutlichkeit nie fehlen, wenn von den Pflichten der Besitzenden die Rede
ist. Sagt er doch, daß ein Kameel leichter durch ein Nadelöhr gehe, als daß
ein Reicher ins Reich Gottes komme. Würde der Herr wohl diesen großartigen
Vergleich gewählt haben, wenn er nicht die ganze Schwere des Gedankens auch
durch die Wucht des Ausdrucks hätte zur Geltung bringen wollen?
Je mehr ich mich in alles dies vertiefte, desto entschiedner verlangte mein
Gewissen, mich in irgend einer Weise an der Linderung des sozialen Elends zu
beteiligen.
Eine Unterbrechung meines Lebens bildete eine Reise in die sächsische
Schweiz, die mich körperlich erfrischte. Anderseits fühlte ich mich aber auch,
während die schönsten Naturbilder an mir vorüberglitten, oft wieder innerlich
beunruhigt. Beim Nachdenken über die Pflichten der Wohlhabenden gegen die
Armen malte ich mir aus, welche Verbesserung in der Lage der Armen ein¬
treten würde, wenn alle unverheirateten oder verwitweten Frauen den Überfluß
ihrer Zeit und Kräfte der Armenpflege widmeten.
Im Zusammenhange mit diesen Vorstellungen kam mir der Wunsch, einen
neuen Stand berufsmäßiger Armenpflegerinnen ins Leben zu rufen. Diese
sollten in ihren häuslichen Verhältnissen bleiben, aber dauernde Anlehnung an
eine Behörde finden, die ihnen allgemeine Verhaltungsregeln und Unterweisung
über die besondern örtlichen Verhältnisse erteilte. Ich stellte mir vor, daß
Tausende von deutschen Frauen und Jungfrauen sich glücklich schätzen würden,
plötzlich in einen menschenfreundlichen Wirkungskreis und einen ehrenvollen
Beruf eintreten zu können.
Zunächst handelte es sich darum, eine Persönlichkeit zu finden, welche die
Welt sür diese Idee einzunehmen und zu gewinnen verstünde. Daß ich selbst
hierzu befähigt oder geeignet wäre, glaubte ich wohl; auch stand mir das Pro¬
gramm, wie alle Einzelheiten zu behandeln wären, klar vor Augen. Anderseits
sagte ich mir, daß, wenn ich die Sache überhaupt in die Hand nehmen und be¬
ginnen wollte, ich mein Leben laug meine ganze Persönlichkeit ausschließlich daran
setzen müßte. Ich verhehlte mir nicht, daß ich in demselben Augenblicke, wo ich
einen Aufruf an meine Mitschwestern erließe, im Interesse der Sache, mithin
aus rein praktischen Gründen, mir jeden Gedanken an eine etwaige Verheiratung
aus dem Sinne schlagen müßte.
Das vermochte ich nicht. Bald wollte ich es, bald wieder nicht, heute war
ich so, morgen wieder anders gesinnt. Ich schwankte hin und her und hatte
schwere innere Kämpfe zu bestehen. Zu einem Abschluß gelangte ich nicht. Das
einzige, wozu ich mich entschloß, war, daß ich mich persönlich einem Geistlichen
für die Armenpflege zur Verfügung stellte.
Während dieser Zeit verkehrte Herr Schwauenburg viel bei uus. sein
Umsatteln hatte nicht die ungünstigen äußeren Folgen nach sich gezogen, die
er anfangs befürchtet hatte. Zu meiner inneren Beruhigung trug er nicht bei.
Der schöne Jüngling fesselte mich; von Liebe zu ihm war zwar keine Rede bei
mir, aber ich hegte die Empfindung, daß er vielleicht mit der Zeit Gewalt
über mein Herz gewinnen könnte. Hiervor fürchtete ich mich. Ich sagte mir,
daß eine Gemeinschaft mit jemand, der ausgesprochenermaßen nnter den Spöttern
sitze, eine Unmöglichkeit sei.
Nachdem er gelegentlich einmal wieder mit einer gewissen Leichtfertigkeit
sich seiner Gottesleugnung gerühmt hatte, beriet ich mit der Mutter, ihn schrift¬
lich zu ersuchen, den Verkehr bei uus aufzugeben; die Verschiedenheit unsrer
religiösen Anschcinuugeu lasse dies wünschenswert erscheinen. Als er wiederkam,
händigte ich ihm persönlich den Brief ein. Er las ihn sofort und wurde ganz
bestürzt, schien aber meine Gründe zu verstehen. Vielleicht war dies die erste
empfindliche Folge, welche sein Abfall vom Glaube» uach sich gezogen hatte.
Wir nahmen stillen, freundlichem Abschied von einander.
Umsomehr überraschte es uns, als tags darauf Herr Schwauenburg sich
bei mir melden ließ. Die Mutter ging ins Nebenzimmer. Klaus erschien in
feierlicher Kleidung und mit der Miene eines Menschen, der etwas auf dem Herzen
hat. Während ich auf dem Sofa Platz nahm, setzte er sich mir gegenüber
und hielt eine längere, wenn auch bisweilen dnrch Pausen unterbrochene Rede.
Er bat mich zunächst, meine Gesundheit bei der Krankenpflege nicht aufs Spiel
zu setzen, sondern mich für meine Mutter zu erhalten und — für ihn. Dann
malte er aus, welche Vorzüge ein gemeinsames Leben und Wirken in sich schließe
und wie köstlich es sein würde, wem? er nnr erst seine Studien beendigt Hütte
und wir im Verein die Not vieler Armen lindern könnten. Er schloß mit Ver¬
sicherungen, wie hoch und wert er mich schütze und wie lieb er mich habe.
Wie sollte ich dies alles deuten und verstehen? Du hättest kein weibliches
/
Herz haben müssen, wenn du dich anders benommen hättest! ist mir später zu
meinem Troste gesagt worden. Arglos glaubte ich, Herr Schwanenburg habe
mir einen Antrag gemacht, und während ich in sein schönes, reines Antlitz blickte,
dachte keine Faser meines Herzens daran, daß ich einem Gottesleugner gegen¬
überstehe, sondern mein Herz schmiegte sich bereits an das seinige. Aber während
meine Brust von der zartesten Empfindung schwoll und meine Lippen nur wenige
Worte leise hervorzubringen vermochten, durchzuckte plötzlich meine Seele eine
Ahnung und siehe da! sie hatte das Nichtige getroffen. Der Phantast hatte
gar nicht an eine Heirat, sondern nur an ein wirtschaftliches Zusammenleben
gedacht. Ich fühlte mich aufs tiefste beleidigt und gekränkt. I» dieser Demütigung
erblickte ich eine Strafe des Allmächtigen. Hätte ich der inneren Stimme, die
mich ganz und gar für die soziale Arbeit gewinnen wollte, nicht ein so ent¬
schiedenes Nein entgegengesetzt, so würde mir der Gedanke an eine eheliche Ver¬
bindung gar nicht so nahe gelegen und mich nicht irregeleitet haben. Außer¬
dem betrachtete ich den Vorfall wie eine Prüfung, in der ich mich nicht bewährt
hatte. Ich sagte mir, daß ich nicht würdig sei, schon jetzt mit meiner großen
Idee an die Öffentlichkeit zu treten, da ich noch nicht die Kraft besäße, nur
ihr zu leben, und ich beschloß daher, ruhig zu warten, bis ein unzweideutiger
Ruf von außen an mich Herauträte. (Schluß folgt.)
Eine „Geschichte" der Gegenwart läßt sich bekanntermaßen aus vielen Gründen
nicht schreiben, wohl aber einen brauchbaren Rückblick nuf die Ereignisse der jüngsten
Vergangenheit, und einen solchen sind wir seit fast zwei Jahrzehnten gewohnt, ans
der Hand des Verfassers zu empfangen. Geschickte Anordnung des Stoffes, Frische
und Übersichtlichkeit der Darstellung kaum entschwundener Dinge und ein verstän¬
diges politisches Urteil über sie machen den neuen Band, wie die vorigen, allen
Zeitnngslesern empfehlenswert. Was verschiednen Blättern über das Verhalten des
Königs von Baiern im Jahre 1870 und namentlich über dessen Kaiserbrief nach¬
erzählt wird, bedarf teils der Berichtigung, teils der Ergänzung, die sich gegen¬
wärtig aber noch nicht geben läßt.
Der Verfasser behandelt den nicht bloß für Fachleute, -sondern für die weitesten
Kreise interessanten Gegenstand zum erstenmale in vollkommen befriedigender Weise,
d. h. wissenschaftlich und doch auch für Laien verständlich und lehrreich. Das erste
Buch bespricht die Mülhäuser und oberelsässische Baumwollcniudustrie von ihrer
Entstehung bis zu ihrer Aufnahme in das französische Zollgebiet, das zweite be¬
handelt sie als Glied der französischen Volkswirtschaft, das'dritte und letzte stellt
sie in der Gegenwart dar, wo sie ein Glied der deutscheu ist. Die geschichtlichen
Teile des Buches beruhen auf fleißigem, umfänglichen und von guter Kritik be¬
gleiteten Studium der vorhandnen Literatur, der Teil, welcher sich mit den gegen¬
wärtigen Zustünden beschäftigt, zugleich auf Erkundigungen an Ort und Stelle,
Aussagen von Arbeitern und eigner Beobachtung. Das Bild, welches aus diesem
Material entstanden ist, macht durchweg den Eindruck, daß der Verfasser die Wahr¬
heit, nichts als die Wahrheit und möglichst die volle Wahrheit zu sagen beabsichtigte,
und wenn ihm das gelungen ist, so hat er sich ein sehr anerkennenswertes Ver¬
dienst erworben. Er hat damit ein völlig neues Licht über gewisse Dinge verbreitet,
die uus bisher als geradezu ideal gepriesen wurden, nach seinem Berichte aber in
vielen Beziehungen, wo nicht in allen, ungefähr das Gegenteil davon siud und in
manchen geradezu greuelhaft genannt werden müssen. Wir gedenken gelegentlich
darauf zurückzukommen und durch Auszüge des Wichtigsten aus dieser Darstellung
dazu beizutragen, daß der Wahrheit ihr Recht zu Teil wird, und daß die Andeutungen
des Verfassers zur Besserung dieser traurigen Zustände an der richtigen Stelle
Beachtung finden.
Dies Buch zerfällt in vier Abschnitte, von denen die ersten beiden sich auf
Montenegro, die beiden letzten auf Serbien beziehen. Zunächst werde« die kriege¬
rischen Ereignisse geschildert, die 1806 bis 1814 in und bei Ragusa und Cattaro
sowie in den Bergen von Montenegro stattfanden, dann beleuchtet der Verfasser
die Taktik der türkischen Generale Mnchtar, Mahmud, Derwisch, Suleiman und
Ali Scchib Pascha in den neuesten Feldzügen gegen die Tschernagorzen, und stellt
sie meist als sehr ungeschickt dar, wobei aber nicht vergessen werden darf, daß der
Kritiker Mouteuegriner, Panslawist und abgesagter Feind der Osmanli ist. Dieselben
Eigenschaften beeinflussen sein Urteil zum großen Teile in dem dritten Aufsatze,
welcher die Operationen des Korps Horwatowitsch im türkisch-serbischen Kriege von
1876—78 behandelt. Doch wird man nach dem Grundsätze ^.uäi^tur ot altsi-g,
xars gegenüber dem bekannten sehr abfälligen Ausspruch Kaiser Alexanders II. über
die Kriegstüchtigkeit der Serben wohl thun, auch von diesem Versuch einer Ehren¬
rettung derselben Kenntnis zu nehmen. Der vierte Aufsatz ist aus Giorgjewitschs
Geschichte des serbischen Kriegssanitätswesens geschöpft und ergänzt und berichtet
die Mitteilungen, die Gopeevic in seinem „Bulgarien und Ostrumelien" über den
serbisch-bulgarischen Krieg gemacht hat. Wir haben schon bei andern Schriften des
Verfassers auf die ungehobelte Schreibweise desselben aufmerksam gemacht, auch hier
ist sie wieder zu rügen. Rücksichtslose Wahrheitsliebe ziert den Kritiker, aber
schimpfen darf sie nicht.
em Range nach am höchsten standen die drei geistlichen Kur¬
fürsten, deren Titel als Erzkanzler in den verschiednen Teilen des
Reiches bereits angeführt sind. Der Kurfürst von Mainz war
Primas des Reiches und Direktor des Reichstages, wovon
noch die Rede sein wird. Ihm stand das in früheren Jahr¬
hunderten hochbedeutsame Recht zu, das Kurfürstenkollegium zur Kaiserwahl
zu berufen und den zu erwählenden Kaiser vorzuschlagen. Bei der Krönung
führten die Erzbischöfe von Trier und Köln den Kaiser zum Altare, wo er
dann von dem Erzbischof von Mainz gekrönt wurde. Die Erzämter der welt¬
lichen Kurfürsten waren folgende: der Pfalzgraf bei Rhein war des heiligen
Reiches Erztruchseß, der König von Böheim Erzschenk, der Herzog von Sachsen-
Wittcnberg Erzmarschalk, der Markgraf von Brandenburg Erzkcimmerer. Zu
diesen alten Erzämtern trat später für Hannover das Erzschatzmeisteramt. Der
Kurfürst von der Pfalz war bei Erledigung des Kaiserthrones Reichsverweser,
viegrius Imxsrü, für die Länder Mris Z?rM0ovi<;i, der von Sachsen für die
Länder M'is Laxoniei.
Wenn Schiller singt:
Die Speisen trug der Pfalzgraf des Rheins,
Es schenkte der Böhme des perlenden Weins,
so klingt das poetisch recht schön; aber in Wirklichkeit war das ganz anders.
In früheren Jahrhunderten hatten zwar die weltlichen Kurfürsten ihr Wahl¬
recht in Person ausgeübt; ihre Thätigkeit bei der Krönung aber Pflegte auch
damals höchstens darin zu bestehen, daß sie dem Kaiser die Reichsinsignien
vorcmtrngeu. Später pflegten sie für ihre Person gänzlich unbeteiligt zu
bleiben; sie waren eben selbst zu große Herren geworden, hatten auch Wohl
Streit oder gar Krieg mit dem Kaiser. Ihr Wahlrecht ließen sie durch Ge¬
sandte ausüben, und bei der Krönung glänzten sie durch Abwesenheit. Man
lese nur bei Goethe, welch unheimlichen Eindruck ihre leeren Prunktafeln bei
dem Kröuuugsmahlc im Römer machten.
Um diesem Mißstände abzuhelfen, war man auf ein äußerst scharfsinniges
Auskunftsmittel verfallen. Da des Reiches Erzbcamte nicht erschienen, so
traten an ihre Stelle die Reichserbbecuntcn, sudoMomlss Iroxcrii, welche ihr
Amt von den Kurfürsten zu Lehen trugen. Erbtruchscß war der Graf von
Waldburg; Erbschenken waren bis 1713 die Schenken von Limburg, darnach
die Grafen von Althan; das Erbmarschallamt stand den Grafen von Pappen¬
heim zu, die Erbkümmererwürdc den Fürsten von Hohenzollern, und Erbschcch-
mcister war der Gras von Sinzendorf. Daneben hatte man dann noch andre
Erbämter geschaffen, z. B. das Postmcistcramt, das den Fürsten von Thurn
und Taxis gehörte, das Erbstallmeisteramt, das von den Grafen, später Fürsten
von Schwarzburg bekleidet wurde u. f. w. Der Merkwürdigkeit wegen soll hier
nicht vergessen werden, daß sogar des heiligen römischen Reiches Erbthürhüter¬
amt vorhanden war, welches „denen Grafen von Werthern erd- und eigentüm¬
lich zustand."
In allen mir einigermaßen wichtigen Fragen der Reichsregiernng war der
Kaiser an die Zustimmung des Reichstages gebunden. Bei der Betrachtung
dieser wichtigsten Einrichtung des alten Reiches finden wir das allgemeine
Kennzeichen aller Neichseinrichtungen am schärfsten ausgeprägt, nämlich den
schreienden Widerspruch zwischen der äußeren, würdevollen Form und der inneren
Hohlheit und Nichtigkeit, den schroffen Gegensatz zwischen den aufrecht erhaltenen
Machtansprüchen und der wirklichen Macht und Bedeutung.
Zu den Zeiten der Macht und Größe des Reiches waren die Reichstage
von deu Kaisern je nach Bedarf in längeren oder kürzeren Zwischenräumen
berufen worden und hatten sich in den verschiedensten Städten des Reiches ver¬
sammelt, so in Speier, Worms, Mainz, in Augsburg, Regensburg, Forchheim,
in Erfurt, Goslar u. s. w. Der letzte derartige Reichstag, der mit einem förm¬
liche» NeiclMagsabschiede, rsosWiis Imxvrii, entlassen wurde, war im Jahre
1654 zu Regensburg abgehalten worden. Seit 1665 tagte in dieser Stadt
der ständige Reichstag, den man spottweise Wohl die „lange Reichsnacht deutscher
Nation" genannt hat, und der sich erst im Jahre 1806 mit dem Reiche selbst
auflöste.
Dieser Reichstag, vvirM», oder cliaktg, Inixsiii, wurde nicht mehr, wie das
früher üblich gewesen war, von den Fürsten in Person besucht, sondern durch
Gesandte beschickt. Er bestand aus drei Kollegien: das erste und vornehmste
bildeten die Kurfürsten, ^luotorss Iinxsrii, von denen schon das nötige mit¬
geteilt ist. Das zweite Kollegium war der Fürsteurat, Lvii^of ?rin<zixnnr;
dies war die Versammlung und Vertretung des hohen Adels von Deutschland.
Er zerfiel in zwei Bänke, die geistliche Bank, svWmrun voolösisstivum, und
die weltliche Bank, »os-innuin Ls,«zen1g.r<z. Die erstere zählte siebenunddreißig
Stimmen, nämlich fünfunddreißig Virilstimmcn und zwei Kuriatstimmen; die
beiden Kurier waren die schwäbische Prälatenbank mit zmeiundzwanzig, und die
rheinische Prälatenbank mit achtzehn Stimmen, im ganzen vierzig Stimmen.
Die weltliche Fürstenbank zählte fünfundsechzig Stimmen, einundsechzig Viril-
nnd vier Kuriatstimmen. Die vier Kurieu wurden gebildet durch die LoUvZii,.
Oomiwiri,, die wctterauische Grafenkurie mit siebenundzwanzig, die schwäbische
mit sechsundzwanzig, die fränkische mit sechzehn und die westfälische mit vier-
unddreißig Stimmen, zusammen hundertunddrei Stimmen.
Das dritte Kollegium war das der Reichsstädte, welches erst durch den
westfälischen Frieden Sitz und Stimme auf Reichstagen erlangt hatte. Die
beiden andern Kollegien hießen daher auch: »mbo svxerwra oollsZia Imxvrü.
Die Reichsstädte teilten sich in die rheinische Städtebank mit vierzehn, und die
schwäbische Städtebank mit siebenunddreißig, zusammen einundfünfzig Stimmen.
Im ganzen hatten also zweihnudertsechsundueuuzig Reichsstände, die Mitglieder
der beiden geistlichen »ut vier weltlichen Kurier einzeln gezählt, Sitz und
Stimme auf dem deutschen Reichstage.
Der Kaiser war zu Regensburg vertreten durch den Priuzipalkomnnssarius,
dem in der Regel ein Kvukommissarius zur Seite zu stehen pflegte. Der Kur¬
fürst von Mainz war Direktor des Reichstages; sein Gesandter hieß daher der
Direktvrialgescmdte. Kam jedoch bei irgendeiner Angelegenheit die Konfession
in Frage, so trat die sogenannte illo in xartss ein, und der Reichstag trennte
sich in ein oorxus gvMgsIieorum oder svMgLlienm und ein vorvus og.tnoliouni.
Der Direktor des ersteren war der Kursttrst von Sachsen, während letzteres von
Mainz geleitet wurde.
Näher auf die Geschäftsordnung, die Abstimmungswcise u. s. w. einzugehen,
würde wiederum zu weit führe». Daß es fast unmöglich war, eine Beschlu߬
fassung im Plenum herbeizuführen, ergiebt sich schon aus der Zusammensetzung
der Versammlung. Man denke, welche Zeit dazu gehörte, bis diese Gesandten
Instruktionen eingeholt hatten! Wenn es aber wirklich gelungen war, einen von
den drei Kollegien in Übereinstimmung gefaßten Entschluß zu Stande zu bringen,
so war das immer erst ein Reichsgutachten, sultr^wiu, Iropgrii. Gesetzeskraft er¬
hielt es erst durch das kaiserliche Natifikationsdekret und die darauf folgende Ver¬
öffentlichung. Dann endlich kam ein Reichsschluß, ein oonolri8urQ luixorii, heraus.
Wenn Wirklich etwas geschaffen werden sollte, z. B. die Vollziehung von
Friedensschlüssen, die Visitation der Reichsgerichte u, s. w., so half man sich
mit sogenannten Reichsdeputationen, deren Beschlüsse dann allgemein giltig
waren. Aber viel nützte das auch nicht. Kurz, es ist nicht übertrieben, zu
sagen, daß in den fast anderthalb Jahrhunderten seines Bestehens der Regens-
burger Reichstag überhaupt fast niemals etwas Wesentliches, Wichtiges und
Förderliches für die deutsche Nation zu stände gebracht hat.
Dagegen wurde mit der ernstesten und wichtigsten Miene um die thörichtsten
und lächerlichsten Kleinigkeiten gestritten, z. B. über Titulaturen, ob mir den
kurfürstlichen oder auch den fürstlichen Gesandten der Titel Exzellenz zustünde,
welche Gesandten das Recht hätten, auf roten, welche nur auf grünen Sesseln
zu sitzen, welchen ein Sitz auf dem Teppich zukäme, welche dagegen außerhalb
desselben sitzen müßten, oder schließlich, welche ihre Sessel wenigstens auf die
Fransen desselben setzen dürften, wie viele Schritte ein kurfürstlicher Gesandter
einem fürstlichen entgegenkommen müsse u. s. w. Man stritt mit größtem Ernste
darüber, wie viele Maien den Gesandten zu stecken seien, in welcher Reihe bei
Festmahlen die Gesundheiten ausgebracht werden müßten, über den Tafelrang,
über das Recht auf goldene und auf silberne Bestecke, über die Menge des
Ehrenweines, den die Stadt Regensburg bei festlichen Gelegenheiten zu
liefern hatte.
Kann man sich da Wundern, daß die fremden Nationen, namentlich die
Franzosen, über diese «jM'old^ Msirmnclizs spotteten und die Deutschen einfach
als <Mös (Zi>>rr«Z68 bezeichneten, daß dieser Reichstag, dem man schon lange den
Beinamen 1s. Lorbonus äixl0ius,tiauö as l'Duropö gegeben hatte, der Hohn und
das Gelächter von ganz Europa geworden war? In welchem Ansehen er im
eignen Lande stand, kann man daraus ersehen, daß es in dem größern Teile
von Deutschland hellen Jubel erregte, als der Gesandte Friedrichs des Großen,
der Freiherr von Plotho, den Neichsbvten, der ihm den Beschluß der Reichs¬
exekution gegen seinen Herrn überbrachte, einfach die Treppe hinunterwerfen ließ.
Von den übrigen Reichsbehörden sollen hier nur noch zwei kurz erwähnt
werden, damit das Bild von der Verfassung des alten Reiches nicht unvoll¬
ständig bleibe.
Das Reichsknmmergericht, süuriczrs. Inixerialis, hatte zu allererst seinen Sitz
in Frankfurt, dann längere Zeit in Speier, und nach dessen Verwüstung durch
die Franzosen, seit 1689, in Wetzlar. Es bestand aus einem Präsidenten (dem
Reichskammerrichter), zwei Vizepräsidenten und fünfundzwanzig Assessoren, die
teils vom Kaiser, teils von den Kurfürsten, teils von den Kreisen ernannt
wurden. Der Beiname dieses höchsten Gerichtshofes der deutschen Nation, die
„Neichsrnmpelkammer," kennzeichnet zur Genüge seine segensreiche Wirksamkeit.
Über die wahrhaft ungeheuerliche Verschleppung der Rechtsstreite dort trösteten
sich unsre Altvordern mit dem Scherzworte: ^in'ruu liess sM'-me, non sx-
8xirg,ut. Kam aber wirklich einmal ein rechtskräftiges Urteil heraus, so pflegten
sich in der Regel anch nur einigermaßen starke Neichsstcinde diesen Entschei-
dungen einfach nicht zu fügen.
Eine ähnliche Einrichtung war der Ncichshofrat in Wien, omrsilwrn auli-
ouin, dessen Mitglieder vom Kaiser nach Belieben ernannt wurden. Auf
seine Entscheidungen namentlich bezieht sich das bekannte Wort: Visirrm vult
«zxxsotÄri.
Auf die Verfassung der einzelnen Reichskreise, von denen jeder wieder ein
Bild des ganzen Reiches darbot, einzugehen, würde wieder zu weit führen.
Dagegen ist es unumgänglich notwendig, noch einen Blick zu werfen auf
die beiden Säulen, ans denen das Wesen des Staates, die Macht, hauptsächlich
beruht, nämlich auf die Neichsfincmzen und das Reichsheerwesen. Geld und
Soldaten, der letzte Thaler und der letzte Mann, nach einem bekannten Aus-
spruche des großen Friedrich, sind es, die dem Staate Halt und Macht geben,
und nach denen sein Ansehen und seine Bedeutung zu bemessen sind. Hier ist
nichts mit prunkenden Titeln, mit übermäßigen Ansprüchen, mit trvdelhaftem
Flitterkram zu machen. Hier offenbart sich daher auch am deutlichsten die Er¬
bärmlichkeit und Hohlheit aller Rcichseinrichtnngen.
Betrachten wir zunächst das Einkommen des Kaisers aus dem Reiche, was
mau jetzt seine Zivilliste nennen würde. Früher war dieses sehr bedeutend ge¬
wesen, namentlich durch den Ertrag der ungeheuern Reichsgüter. Zu den Zeiten
Friedrich Barbarossas schätzte man es auf nahezu sechzig Tonnen Goldes, jede
zu 100 000 Goldgulden. Die Staatsrechtslehrer Spittler und Meiners aber
berechneten es im Jahre 1784 auf 18884 Gulden 32 Kreuzer, sodaß, wie mau
wohl beizufügen Pflegte, ein kurhaunoverschcr Kammerpräsident ein größeres
Einkommen hatte als der Kaiser als solcher. Und in welch erbärmlicher Weise
wurde diese erbärmliche Summe zusammengebettelt! Es verteilte sich nttmlich
auf die folgenden „Titel": 1. Die Geldstrafen, auf welche die Reichsgerichte
erkannten; 2. der Opferpfennig der Juden in Frankfurt (3000 Gulden) und
Worms (100 Gulden); 3. einige reichsstädtische Abgaben; 4. die Lehnsgelder;
5. die Krönungsgeschenke.
Das Geld für die gemeinsamen Ncichsausgaben wurde durch Reichssteuern
aufgebracht. Von der ersten Klasse derselben, den sogenannten ordentlichen
Reichsstenern, gab es im vorigen Jahrhundert nur uoch den „Kammerzieler,"
eine Abgabe, welche in halbjährlichen Raten nach der „Usual-Matrikel" von
1720, zuletzt umgearbeitet 1757, erhoben wurde. Der Ertrag dieser Steuer,
der sich auf etwa 39000 Thaler beließ war bestimmt zur Deckung der Kosten
des Neichskammergerichtes.
Bei den außerordentlichen Reichssteueru unterschied man regelmäßige und
unregelmäßige. Von den ersteren war die einzige, die noch erhoben wurde,
der sogenannte „gemeine Pfennig" oder der „Römer-Monat," für dessen Bei-
treibung in gewissen Orten des Reiches, den „Legestädten," Reichs-Pfeuuig-
meister angestellt waren. Der wunderliche Name rührte von dem unter
Karl V. beabsichtigten Römerzuge her, und die Steuer wurde berechnet nach
der Wormser Matrikel von 1521, in welcher die Kosten für einen Reiter auf
zwölf Gulden, für einen Fußknecht auf vier Gulden monatlich festgestellt waren.
Diese Stimmen mußten für jeden Kopf des Kontingents eines Neichsstandes
so oft gezahlt werden, wie der Reichstag Römer-Monate bewilligt hatte.
Nach dem Staatsrechte von Schmalz belief sich der ganze Römer-Monat
auf 88 464 Gulden, eine erbärmliche Summe, die überdies niemals vollständig
einging. Hieraus bildete man dann die Reichs-Operationskasse, aus der die
gauzeu Kohle» eines Neichskrieges bestritten werden sollten, während die Kosten
für Aufstellung und Ausrüstung der einzelnen Truppenteile von den Kreisen
getragen wurden. Wie es also mit dem, was nach dem bekannten Ausspruche
von Montecuceoli zum Kriegführen am nötigsten ist, bei einem Reichskriege
aussah, kann man sich leicht vorstellet«. Noch in den zwanziger Jahren dieses
Jahrhunderts mußte der Bundestag zu Frankfurt sich mit Forderungen an die
Reichs-Operationslasse aus dem Jahre 1793 befassen.
Von unregelmäßigen Rcichsstcueru hatte in früheren Jahrzehnten die
Türkensteuer eine große Rolle gespielt; im vorigen Jahrhundert sind jedoch
solche Steuern nicht mehr vorgekommen.
Im engsten Zusammenhange mit den Reichs-Finanzen stand das Neichs-
Heerweseu, und es befand sich selbstverständlich in einem ebenso verrotteten und
verwahrlosten Zustande wie jene.
Durch einen Reichstagsbeschluß vom Jahre 1681 war das ganze Reichs-
heer auf 12 000 Reiter und 28 000 Fußgänger, also auf rund 40 000 Maun.
festgestellt worden. Hierzu mußte jeder der zehn Reichskreise eine bestimmte
Anzahl stellen, welche dann wieder auf die einzelnen Stände des Kreises ver¬
teilt wurde. Die Mannschaft, welche einem Kreise zufiel, nannte man sein
Kontingent.
Um ein Bild von der wunderlichen Verteilung jener 40 000 Mann ans
die Kreise zu geben, seien folgende Ziffern angeführt. Der österreichische Kreis
stellte 8028 Mann, der baierische 800 Mann zu Roß, 1494 Mann zu Fuß,
der schwäbische 1231 Reiter, 2707 Fußgänger, der fränkische 980 zu Pferde,
1902 zu Fuß. Im Jahre 1733 stellte der oberrheinische Kreis an dreifacher
Anzahl 200 Reiter, 6023 Fußgänger; der niederrheinische oder Kurkreis wurde
dem oberrheinischen gleich gerechnet. Das Kontingent des westfälischen, des bur-
gundischen, des ober- und uiedersüchsischeu sollte dem des schwäbischen gleich
sein und etwas weniger als ein Neuntel und mehr als ein Zehntel der gesamten
Streitmacht betragen. Wurde nun der Anteil eines Kreises auf die einzelnen
Stände desselben verteilt, so führte das dazu, daß einzelne unter ihnen einen,
drei oder fünf Manu stellen mußten, oder daß gar z. B. ein hochwürdiger
Prälat und eine Äbtissin zusammen drei Krieger aufbringen mußten; für den
halben Mann wurde dann natürlich Geld bezahlt.
Diese Kriegsmacht von 40 000 Mann nannte man die g.rrng.wrs. a.Ä sim-
pluin; doch wurde auch Wohl eine -irmg-tura s.ä cluxlnur oder g,Ä trixluni be¬
schlossen; im Jahre 1793 sollte sogar das Fünffache der einfachen Armatur
aufgeboten werden.
Die bekannteste Mobilmachung der Reichsarmee ist die vom Jahre 1757.
Am 17. Januar 1757 wurde zu Regensburg auf Antrag des kaiserlichen Prin-
zipalkommissarius gegen den „in Empörung begriffenen Kurfürsten von Branden¬
burg" (Friedrich den Großen nämlich) Neichsexekntion beschlossen, und zwar
sollte eine Min^wrg. trixlunr auf die Beine gebracht werden, um dem an¬
geblich vergewaltigten Kurfürsten von Sachsen „eilende Reichshilfe" zu senden.
Daß der Volkswitz, und zwar nicht allein in Preußen, hieraus sofort „elende
Neichshilfe" machte, ist bekannt.
Ein Reichsheer in der dreifachen Stärke hätte eigentlich 120 000 Mann
stark sein sollen. Davon mußten jedoch zunächst die Kontingente der preußischen
Lande und der mit Preußen verbundenen Staaten, wie Hessen-Kassel, Braun-
schweig und Gotha, abgerechnet werden. Aber man war weit davon entfernt,
so viele Mannschaft aufzustellen, wie dann übrig geblieben wäre. Den wirk¬
lichen, vollen Bestand bezeichnete man originellerweise als den „Jdealfuß," da
ja bekanntlich Ideale hienieden niemals erreicht werden. Den Gegensatz dazu
bildete der „Usnalfnß"; dieser wurde vielfach dadurch hergestellt, daß die Stände-
versammlungen der einzelnen Kreise auf eigne Faust einige tausend Mann von
dem Jdealfuße strichen. Für den schwäbischen Kreis war der Jdealfuß auf
3963 Reiter und 8121 Fußsoldaten festgesetzt, der Usnalfnß aber nur auf
1184 Reiter und 6760 Fußsoldaten, d. h. man hatte einfach etwa 2800 Reiter
und 1260 Fußgänger gestrichen. Aber anch das konnte nicht durchgeführt
werden; manche Stände konnten wegen übermäßiger Verschuldung überhaupt
nicht einen Mann ans die Beine bringen. In Wirklichkeit stellte der Kreis nur
734 Reiter und 4766 Fußsoldaten, d. h. über 3200 Reiter und über 3350 Fu߬
gänger weniger, als er nach dem Jdealfnßc hätte stellen sollen. Wie wunderlich
die Zusammensetzung war, davon nur ein Beispiel: bei dem zweiten Regimente
des baierischen Kreises ernannte Salzburg den Obersten, Pfalz-Neuburg den
Oberstleutnant, und Passan den Oberstwachtmeister. Und was waren das für
Offiziere und Mannschaften! Wie buntscheckig die Uniformirnng und Ausrüstung,
wie jammervoll die Bewaffnung! Von 100 Gewehren gingen durchschnittlich
75 nicht los. Statt der Flintensteine, die noch fehlten, hatten manche Truppen¬
teile Holzstückchen, die Feuersteinen ähnlich gemacht waren, an ihren Ge¬
wehren. Von den 2199 Reitern des Neichsheeres hatten 149 überhaupt keine
Pferde, 125 solche, die gänzlich dienstnnfähig waren, 219 solche, die mit groben
Fehlern behaftet waren. Von den Kavalleristen hatten viele überhaupt noch
nie zu Pferde gesessen. Die Artillerie war meist gebildet aus den Büchsen-
mcistern der Reichsstädte, die zwar oft genug mit deu Donnerbüchsen auf den
Wällen blinden Lärm gemacht, aber mit bespannten Geschützen noch niemals
exerzirt hatten. Schlecht war die Verpflegung, unzulänglich und unregelmäßig
die Besoldung, Zuchtlosigkeit oben und unten, und daher wahrhaft ungeheuerlich
die Fahnenflucht.
Einzelne größere Reichsfürsten hatten zwar Truppenteile gestellt, die allen
Anforderungen entsprachen, und um dem Ganzen etwas Halt zu geben, hatte
man ein österreichisches Korps beigefügt. So hatte denn der Reichsfeldherr,
Josef von Hildburghausen, etwa 34000 Manu in der Nähe von Fürth zusammen¬
gebracht und trat mit ihnen den Marsch nach Thüringen an, um „mit dem
bösen Fritzen anzubinden." Dieser brannte schon lange darauf, den Reichs¬
völkern, wie er sich ausdrückte, das vonsiliuin übsuircli zu erteilen. Er ver¬
wandelte es bei Roßbach in ein vonÄlimn eurreiM; die Reichsarmee erwarb
sich den Namen „die Reißciusarmec," und die Preußen sangen:
Und wenn der große Friedrich kommt
Und klopft nur nuf die Hosen,
So läuft die ganze Reichsarmee,
Pcmdurcu und Franzosen.
So weit war es also gekommen, daß sogar das Heer des Reiches, dessen Be¬
völkerung doch von jeher die kriegstüchtigste und die waffenfrohfte Europas
gewesen war, dastand als Spott und Hohn des Inlandes und Auslandes.
Wenn man so überblickt, in welch elendem, verrotteten Zustande sich die
Verfassung des alten Reiches und alle seine Einrichtungen befanden, so ist es
fast als ein Wunder anzusehen, daß das deutsche Volk das wieder hat werde»
können, was es heute ist, daß Deutschland nicht ebenfalls ausgeschieden ist aus
der Reihe der großen Ncitioncu, wie jenes große Slawenreich im Osten von
uns. Der polnische Reichstag ist sprichwörtlich geworden; aber war der deutsche
Reichstag zu Regensburg etwa besser? Daß die Gesandten des deutschen Reichs¬
tages jemals mitten in der Sitzung die Schwerter gezogen und im Versamm¬
lungssaale förmliche Gefechte geliefert hätten, wie das bei jenen heißblütigen
und tollköpfiger Sarmaten mehrfach vorgekommen ist, kann man den Perücken
von Regensburg zwar nicht nachsagen. Aber gewirkt und geschafft zum Nutzen des
Reiches und der Nation hat der deutsche Reichstag nicht mehr als der polnische.
Wenn dennoch das deutsche Volk vor dem schrecklichen Geschicke Polens
bewahrt geblieben ist, so beruht das hauptsächlich auf zwei Ursachen. Zunächst
steckte, trotz all des politischen Jammers, in der Gesamtheit des deutschen Volkes
immer ein tiefer und tüchtiger sittlicher Kern. Gegenüber der Verschwendung,
der Lüderlichkeit, dem Wankelmutc, der Treulosigkeit, die bei den Polen herrschten,
hatten sich die Deutschen Sparsamkeit und Arbeitsamkeit, Einfachheit und Sitt¬
lichkeit im Familienleben, Standhaftigkeit und Treue bewahrt.
Aber so hohen Wert wir auch diesem gesunden sittlichen Kerne des deutschen
Volkes beilegen wollen, den Untergang unsrer Nation hätte er allein nicht ver¬
hindern können. Jene Franzosen- und Nheinbundsschmach im Anfange unsers
Jahrhunderts haben die guten Eigenschaften des deutschen Volkes thatsächlich
nicht verhindert. Daß unter der eisernen Rute der Fremdherrschaft unsre
Nationalität nicht zu Grunde gegangen ist, daß Deutschland zu nie geahnter
Größe, Macht und Herrlichkeit wieder emporgestiegen ist, das verdanken wir
einem deutschen Herrschergeschlechts, das in Jahrhunderte langem Ringen und
Kämpfen Polen, Schweden, Dänen und Franzosen vom Boden des Vaterlandes
hinweggefegt, allen ausländischen und undeutschen Einfluß ausgetilgt hat, die
zerrissenen Glieder des deutschen Volks- und Neichskörpers zusammengefaßt,
geeinigt und gekräftigt hat, wir verdanken es, nächst Gott, nur den Hohenzollern
und ihrem Staate.
'.^v»'-
^?^S^Lin den schönsten Früchten patriotischer Humanität gehören die
Leistungen der freiwilligen Fürsorge für die kranken oder verwun¬
deten Opfer des Krieges. Während man noch bis über die
Mitte unsers Jahrhunderts hinaus diejenigen, welche für die
Gesamtheit ihres Volkes ihr Leben in die Wagschale geworfen
hatten, vom Augenblicke der militärischen Unbrauchbarkeit an fast ausnahmslos
ihrem Schicksale, d. h. dem Wundfieber, dem Durst, dem Typhus, der Todes¬
mattigkeit, überließ, ist es jetzt allgemein als sittliche Notwendigkeit anerkannt,
daß dem Heere der Wasserträger eine Hilfsschar von Krankenträgern, Ärzten,
Pflegern und Pflegerinnen folge. Unter dem Schutze des Genfer Kreuzes haben
die Schlachtfelder der neuesten Kriege einen Eifer der Barmherzigkeit sich ent¬
falten sehen, wie ihn keiner unsrer Väter auch nur ahnen konnte. Deutschland
wird es nie vergessen, was ihm 1870/71 seine Johanniter, seine Vereine vom
roten Kreuz, seine Felddiakonen, Diakonissen, barmherzigen Schwestern u. s. w.
gewesen sind. Sie waren zugleich Trost derer, die draußen unter dem Kugel¬
regen ihr Hurrah riefen, und derer, die daheim um ihre Söhne, Gatten und
Brüder bangem.
Die über alles Erwarten schnelle Entwicklung der auf dem Blutfelde Sol-
ferinos zuerst von Henri Durand gefaßten und dann mit bewundernswerter
Energie von der Genfer gemeinnützigen Gesellschaft weiter verfolgten Pläne ist
eigentlich eine Folge des Grundsatzes von der allgemeinen Wehrpflicht des Volkes.
So lange geworbene Soldatenhaufen für Geld sich dem blutigen Spiel entgegen¬
führen ließen, konnte man den Mangel an Fürsorge für ihre Leiden noch etwa
notdürftig damit entschuldigen, daß es dem Tode verkaufte Gladiatoren seien, die
für uns kämpften. Jetzt aber stehen unsre Brüder im Felde, die denselben An¬
spruch auf Lebenserhaltung haben wie wir, die sich stellvertretend für uns der
Gefahr weihen, und deren Tod in jedem Falle eine unersetzliche Einbuße an geistiger
und körperlicher Volkskraft bedeutet. Darum ist es auch nichts andres als eine
folgerichtige Weiterbildung des Gedankens der allgemeinen Kriegspslicht, wenn
man alle geeigneten Leute, die aus irgend einem Grunde nicht mit der Waffe
dienen können, dem Sanitätswesen im wesentlichen unter denselben Bedingungen
zurechnet, unter denen das aktive Militär steht.
Daraus würde folgen, daß das ganze Kriegssanitätswesen eine öffentliche
obligatorische Einrichtung sei und für Freiwilligkeit in ihm ebensowenig eine Stelle
sei, wie eine solche etwa für freiwillige Artillerie zu finden sein dürfte. In der
That ist man besonders in zuständigen militärischen Kreisen nach 1371 wieder¬
holt in der Bahn dieser Gedanken gegangen. Zwar erwies es sich als un¬
möglich, die Mitarbeit der freiwilligen Krankenpflege zu verbieten, da man
schlechterdings in die Armee nicht die erforderliche große Masse nichtkämpfender
Glieder aufnehmen konnte, auch gern die pekuniäre Fiirsorge für die Heilung
der Leiden des Krieges wenigstens zu einem großen Teile der privaten Gaben¬
freudigkeit überlassen wollte. Aber man wollte doch um der strengeren Disziplin
und der größeren taktischen Beweglichkeit willen im Heere alles vermeiden, was
nicht selbst Heer sei. So kommt es, daß die jetzt maßgebende Kriegssanitäts¬
ordnung von 1873 bestimmt, die freiwillige Krankenpflege sei kein selbständiger
Faktor neben der staatlichen, und eine Mitwirkung könne ihr nur insoweit „ein¬
geräumt werden," als sie dem staatlichen Organismus eingefügt und von der
Staatsbehörde geleitet werde. Diesen Hauptsatz führt sie weiter dahin aus, daß
freiwillig künftig nur der Eintritt in das Sanitätskorps sein wird, daß aber
vom Augenblicke des Eintrittes alle Organe der privaten Hilfsbereitschaft unter
dem Zwange der Kriegsgesetze stehen, ferner, daß das Personal der freiwilligen
Krankenpflege ein sittlich hochstehendes und technisch schon hinreichend geschultes
sein soll. Schlechte Erfahrungen, welche man 1870 mit großen Scharen schnell
zusammengeraffter, sittlich zweifelhafter, praktisch fast unbrauchbarer Helfer ge¬
macht hatte, legten es nahe, diese Gesichtspunkte besonders scharf gesetzlich
festzustellen.
Auf Grund dieser Kriegssanitätsordnung wird nun von den Zentralorganen
der freiwilligen Krankenpflege unablässig auf den nächstfolgenden Krieg gerüstet,
und zwar hat sich im allgemeinen die Arbeitsteilung derart gestaltet, daß die
Johanniter während des Friedens mehr für die Bereitstellung des weiblichen,
die Landesvercine vom roten Kreuz mehr für Auswahl und Schulung des männ-
lichen Pflegepersonals sich bemühen. Jenes ist um vieles leichter als dieses,
da einesteils Diakonissenhäuser und Klöster schon eine bedeutende Anzahl be¬
währtester Helferinnen bereit haben, anderseits eine halbjährige Ausbildung ge¬
eigneter Mädchen, auf die mau für den Kriegsfall rechnen kann, nicht allzugroßen
Schwierigkeiten zu begegnen pflegt. Männer ausfindig zu machen, ist ungeheuer
schwer, weil von vornherein von allen denen abgesehen werden muß, die in irgend
einem unmittelbaren Militärverhältnis stehen, und weil eine zeitweilige Unter¬
brechung des Bcrufswirkens bei vielen willigen und tüchtigen Kräften geradezu
unmöglich erscheint. Auch sind sehr viele nicht militärpflichtige Männer während
eines Krieges im Staatsdienst oder im Handel als unabkömmlich zu betrachten.
Es ist daher gar nicht verwunderlich, daß auf den Vereinstagen der deutschen
Vereine zur Pflege verwundeter und erkrankter Krieger, öfter fast im Tone der
Resignation über die Hemmnisse, welche der Ausbildung von Männern entgegen¬
stehen, geklagt worden ist. Man konnte wohl Anfänge von Krankenträgerkolonnen
aufweisen, aber keine Pfleger. Drei Vorschläge sind in dieser Hinsicht gemacht
worden: entweder man wollte Vonseiten der Vereine vom roten Kreuz die in
Privatkundschaft arbeitenden Berufskrankenpfleger sittlich heben und so organi-
siren, daß sie für den Krieg eine regelmäßige Sanitätstruppe zu bilden im¬
stande wären, oder man wollte Angehörige andrer Berufe auf ein oder zwei
Jahr in Lazarete einstellen, dann aber wieder in ihren bürgerlichen Kreis zurück¬
kehren lassen, oder man wollte die Brüderhäuser und Diakonissenanstalten ver¬
anlassen, ihr Personal, ähnlich wie es nicht wenige Diakonissenhäuser thun, für
den Kriegsfall dem roten Kreuz zur Verfügung zu stellen. Vou diesen Vor¬
schlägen kann der zweite deshalb am wenigsten in Frage kommen, weil sich
ohne Zweifel fast nur verfahrene Existenzen zu längerer Berufsunterbrechung
bereit finden ließen, der erste und der dritte aber sind darum unpraktisch, weil
die Zahl und der Wert frei praltizirender Krankenwärter verhältnismäßig gering
ist, die evangelischen Brüderhäuser aber die Krankenpflege nur als Nebenarbeit
ansehen und infolgedessen kaum mehr als siebzig geschulte Pfleger ausweisen,
von denen etwa ein Drittel selbst militärpflichtig, ein andres Drittel unab¬
kömmlich sein dürste. Alle drei Vorschläge haben außerdem den Fehler, daß
sie der geistig und sittlich befähigtsten Helfer, d. i. der Angehörigen der Bil¬
dungsstände, nicht gedenken. Wer aber weiß, wie unbeschreiblich großen Wert
es hat, wenn der Helfer des Verwundeten in allen Beziehungen sein Freund,
Ratgeber und Tröster werden kann, wird sich von den Leistungen der freiwilligen
Krankenpflege in dem Maße mehr versprechen, als er Einsicht, Thatkraft, Takt
und Sittlichkeit in ihr vereinigt sieht.
Endlich seit dem Frühjahr 1886 scheint ein Weg gefunden zu sein, auf
dem sich die Aufgabe der männlichen Pflegkräfte lösen läßt. Das Zentralkomitee
der deutschen Vereine vom roten Kreuz wandte sich nämlich mit der Aufforderung,
eine freie Genossenschaft freiwilliger Krankenpfleger zu bilden, an das größte und
weitaus leistungsfähigste der evangelischen Bruderhäuser, das Rauhe Haus zu
Horn bei Hamburg. Dieses hat in seinem mehr als funfzigjährigen Wirken
hinreichend bewiesen, daß es mit seiner jetzt etwa 430 Männer umfassenden
Bruderschaft großen christlich-humanen Aufgaben gewachsen ist; es hat an der
Organisation der deutschen evangelischen Rettungshäuser, der Herbergen zur
Heimat, der Arbeiterkolonien den wichtigsten Anteil. Auch war die von dem
nun verstorbenen' Gründer der Anstalten des Rauben Hauses, Dr. tneol. Wiehern,
1866 und 1870 ins Leben gerufene Felddiakonie von militärischen und medi¬
zinischen Autoritäten aufs freundlichste anerkannt worden. Hatte nun auch zuerst
die Direktion des Rauben Hauses (Prediger I. Wiehern) das Bedenken, ob es
möglich sein werde, den streng evangelisch-konfessionellen Charakter der Anstalt
mit dem allgemeineren patriotisch-humane« Geiste des neuen Unternehmens so
zu vereinigen, daß beides gedeihen könne, so überwand doch die Größe und
Wichtigkeit der Aufgabe die vorhandenen Zweifel, und eine in den Räumen des
königlichen Hausministeriums zu Berlin Ende Mai vorigen Jahres abgehaltene
Versammlung der Verbandsvorsteher und Vertrauensmänner der Bruderschaft
stellte die Grundsätze fest, nach denen man arbeiten wollte.
Das Wesentlichste an den Einrichtungen der Genossenschaft freiwilliger
Krankenpfleger im Kriege ist dieses. Sie wendet sich in erster Linie an militär¬
freie Studenten aller Fakultäten, dann aber auch an jeden deutschen Mann,
welcher die nötigen Bürgschaften für verständnisvolles, treues Wirken zu bieten
imstande ist, und sammelt ihre Mitglieder zu Ortsgruppen, welche ihre eigne
verwaltende und technische Leitung haben. In der Ortsgruppe macht nun zu¬
nächst der künftige Krankenpfleger einen sechswöchentlichen vorbereitenden Kursus
durch, der, in den Abendstunden abgehalten, ihn in seiner sonstigen Thätigkeit
möglichst wenig hemmen soll. In diesen Kursen erhält er auf Grund eines kleinen
Leitfadens der Chirurgie theoretischen Unterricht und wird an gesunden Personen
(bezahlten Handwerkern u. s. w.) in den einfachsten Handreichungen seines
Dienstes unterwiesen. Dann tritt er zu einem einmaligen vierwöchentlichen
Kursus in ein Lazaret oder öffentliches Krankenhaus ein und wird hier in
Theorie und Praxis der Wundenbehandluug und der im Kriege häufigeren
pathologischen Aufgaben von besonders hierfür gewonnenen Ärzten eingeführt.
Hat er diesen Hauptkursus mit Erfolg beendet, so sorgen von Zeit zu Zeit
Wiederholungskurse in der Art der Vorbereituugskurse dafür, daß das Gelernte
nicht in längerer Friedenszeit der Vergessenheit anheimfalle.
Ein unvermeidlicher Mangel dieser Einrichtung ist es freilich, daß solche
Leute, welche uicht in den Mittelpunkten der Ortsgruppen wohnen, sich nur
schwer beteiligen können, und es ist doch nur zu hoffen, daß die Zahl der Orts¬
gruppen beständig wachse. Bis jetzt giebt es im preußische-, Bereich, auf welchen
(mit Einschluß des hamburgischen Gebiets) sich die Genossenschaft des Rauben
Hauses beschränkt, thätige Mittelpunkte in Berlin. Halle, Greifswald, Breslau,
Hamburg, Stettin, Flensburg, Guben und Halberstadt, Am eifrigsten wird in
Berlin gearbeitet. Die Zahl derer, welche sich bis zum 30. Juni 1887 zur
Teilnahme überhaupt gemeldet hatten, betrug 426. Von diesen wurden an¬
genommen 204, und zwar allein 108, welche in Berlin wohnhaft sind. Den
Lazaretkursus haben bis jetzt 100 Pfleger in 27 verschiedenen Krankenhäusern
durchgemacht. Am Vorbereitungskursus nehmen z. Z. in Berlin 25 Herren
und am Wiederholungskursus 36 teil.
Diese Zahlen zeigen, wie sehr alles noch in den Anfängen ist, denn was
sind 204 Pfleger bei einem Masscnkriege, wie er uns vielleicht bevorsteht? Aber
uns scheint, als sei das Unternehmen zugleich so praktisch und so ideal auf¬
gefaßt, daß es eine Zukunft haben muß. Vor kurzem hatten wir Gelegenheit,
einem Übungsabende des Vorbereitungskursus in Berlin beizuwohnen. In dem
geräumigen Saale des ersten Berliner Jünglingsvereins, Oranienstraße 105,
versammelten sich etwa fünfzig junge Leute, offenbar meist Studenten, zerteilten
sich in sechs oder acht Gruppen und begannen unter Leitung eines Assistenz¬
arztes erster Klasse vom zweiten Garderegiment zu Fuß die in ihrer Mitte
halb entkleidet sitzenden Scheinverwundeten vorschriftsmäßig zu verbinden. Hier
wurde ein gebrochenes Bein in Metallschienen gelegt und zart umwickelt, dort
ward ein Verband für eine Achselwunde hergestellt; die einen beschäftigten sich
mit Anfertigung einer Kompresse auf einem angeblich von der Kugel gestreiften
Kopfe, die andern suchten einen Leidenden richtig zu lagern. In allen Gruppen
war ein Eifer, als ob es wirklich gälte, den geduldigen, stummen Objekten das
Leben zu retten. Im Laufe des Abends erschien Generalarzt Dr. Mehlhausen
zur Inspektion und sprach von Gruppe zu Gruppe gehend mehrfach seine An¬
erkennung aus. Auch hören wir, daß der vortragende Rat im Kriegsministerium
Generalarzt v. Coler am 19. Juli einer von Direktor Wiehern veranstalteten
Prüfung beigewohnt und seiner Freude Ausdruck gegeben hat.
Was die nichtpreußischen Teile Deutschlands betrifft, so beginnt man auch
in diesen mehrfach, der Angelegenheit sein Interesse zuzuwenden. Es wäre zu
wünschen, daß dies im engsten Anschluß an die Organisation des Rauben Hauses
und mit demselben Eifer geschähe, der diese beseelt. Wir Deutschen haben
wahrlich jetzt nicht Zeit, mit Kriegsrüstungen irgend welcher Art zu zögern.
Wie die aktive Armee jeden Tag benutzt, um fertig zu sein, sobald die Trom¬
pete klingt, so muß auch die Schar der freiwilligen Hilfe lieber heute als
morgen sagen können: Wir sind bereit.
eder die Verechtigungsfrage noch der Streit zwischen realistischer
und humanistischer Bildung, weder die sogenannte Überbürdung
noch andre hygieinische Fragen drücken mir die Feder in die
Hand. Einem Vater von drei Kindern, deren ältestes erst acht
Jahre zählt, liegen kleinere Sorgen näher am Herzen. Auch
denke ich heute weniger an das, was die Kinder, als an das, was die Eltern
zu den Schulplagen rechnen.
Jeder Lehrer ist ein Autokrat auf seinem kleinen Gebiete, und er soll es
sein. Sein Machtwort verlangt unbedingten Gehorsam. Wo bliebe auch die
Disziplin, wenn die Schule nicht von der Herrschaft dieses unbeschränkten Re¬
giments durchdrungen wäre! Verständige Eltern werden denn auch stets dafür
sorgen, daß der Lehrer diese volle Autorität in den Augen der Kinder behält,
sollte dafür auch gelegentlich das Opfer der eignen Einsicht gebracht werden
müssen. Der Glaube der Kinder an die Unfehlbarkeit der Eltern wird auf dem
Altar der Schule niedergelegt, der Lehrer tritt für einige Zeit die Erbschaft an.
Wie es Scilvatore Farina vor einiger Zeit in der Deutschen Rundschau
höchst ergötzlich schilderte, so geht es auch uns: „Lieber Vater, heißt es Ab¬
wechselung oder Abwechslung?" „Abwechselung, mein Junge." „Aber Herr
Richter sagte heute, es hieße Abwechslung." „Dann schreibe nur so, wie Herr
Richter sagt." Oder: „Vater, wie schreibt man denn Einsame?" „Mit einem
al, mein Junge," antworte ich, noch stolz auf dieses seltene al, das ich so
oft auf dem Schilde unsers Aichmeisters hatte prangen sehen, und an dessen
Richtigkeit zu zweifeln ich für eine Beleidigung meiner Erzieher gehalten haben
würde. Mittags kommt mein Otto nach Hause und zeigt mir sein Schreibheft.
Er hatte geschrieben: Der Aichmeister aicht auf dem Aichamte die Gewichte.
„Herr Richter sagt, das würde alles mit el geschrieben, so habe ich in diesem
Satze drei Fehler und bin einen heruntergekommen." Entrüstet rufe ich aus:
„Ach, Herr Richter ist wohl nicht ganz . . .," verschlucke aber noch rechtzeitig
den unpädagogischen Schluß. Ich stürze mich auf den kleinen Puttkamer in
der Überzeugung, daß er mir Recht geben werde; aber ich erbleiche, denn nach
der neuen Orthographie wird eichen wahrhaftig mit el geschrieben. Duden be¬
stätigt meine Schande, und Wilmanns beweist mir umständlich und haarklein,
warum ich entschieden im Unrecht war. Wie konnte ich anch Herrn Richters Kor¬
rektur einen Augenblick beanstanden! Kleinmütig kehre ich zu meinem Söhnchen
zurück: „Wir alten Leute (ich mache mich zum Greise, um meines Kindes
Achtung vor meiner Schulbildung nicht ganz zu verlieren) schreiben noch immer
aichen, aber wenn man jetzt eichen schreibt, so hättest du das wissen sollen,
sonst hätte dir Herr Richter keinen Fehler angerechnet. Künftig frage mich
nach dergleichen nicht mehr!"
Am nächsten Tage kommt Otto harmlos vergnügt aus der Schule zurück.
Im Ausgabenbuch steht: Aus dem Gedächtnis je fünfzehn Wörter mit ih, mit
le und mit ich und fünfzehn Eigenschaftswörter mit der Endung ern ins „gute
Heft" schreiben. „Gut — sage ich —, gleich nach dem Essen kannst du
in meiner Stube arbeiten, nachher gehen wir zusammen schwimmen." Ich
dachte mir gar nichts Arges dabei. Mit dem ih und le war der Junge auch
bald fertig, dann aber stutzte er bei den Wörtern mit ich und ern und rief
mich zu Hilfe, und da merkte ich erst, wie wenig Wörter der Art es überhaupt
giebt. Wir suchten gemeinschaftlich, ich zermarterte mein Gehirn, blätterte in
allen möglichen Büchern aufs Geratewohl, um passende Beispiele herauszufischen,
aber nach zweistündiger mühevoller Arbeit hatten wir doch erst acht ichs und
fünf crus zusammengetragen. Ich lief zu meiner Frau, die fand aber auch
nur, was wir schon hatten. Nun hielt ich es für das Beste, abzubrechen. „Viel¬
leicht fällt uns unterwegs noch etwas ein," trösteten wir uns gegenseitig und
gingen schwimmen. Aber auch hier war die Ernte kläglich genug. Am Abend
war die Schularbeit mein letzter Gedanke, und als ich eben einschlafen wollte,
ging mir noch das Wort „Überzieher" durch den Kopf; ich weckte meine Frau
und sagte es ihr, um es vor der Vergessenheit zu retten. Als mein Junge
am nächsten Tage aus der Schule kam, erwartete ich die Zensur seiner Arbeit
mit begreiflicher Neugierde. „Nun?" „Herr Richter hat meine Arbeit heute gar
nicht gelesen." „Nicht einmal gelesen!" Diese Klage der Gräfin Orstna wollte sich
von meinen Lippen lösen, aber ich fragte nur: „Hatten denn die andern Jungen
mehr Wörter als du?" „Nein, noch weniger, aber Herr Richter meinte, es
wäre schon gut, wenn wir so viel Wörter schrieben, als wir wüßten." Schon
gut, Herr Richter, Sie hatten aber fünfzehn von jeder Sorte gefordert, und
da wäre es mir doch sehr lieb gewesen, wenn ich Sie gestern — vielleicht auf
der Schwimmanstalt — getroffen hätte, um Sie zu fragen, ob Sie selbst mög¬
licherweise noch einige seltene Exemplare in Ihrer Brust verschlossen hätten.
Sie hätten uns damit einige bange Stunden erspart; aber ich bin überzeugt,
auch Sie hätten die verlangten fünfzehn nicht zusammengebracht.
Doch das alles sind ja Schwierigkeiten, aus denen Kinder und Eltern
schließlich immer noch wieder herauskommen. Weit ernster ist eine andre Frage,
nämlich die des Religionsunterrichtes in den Vorschulen. In der Septimci,
welche mein Sohn besucht, dient ein 327 Seiten langes Buch „Zahns biblische
Geschichten" als Grundlage. Auf dem Titelblatt steht die empfehlende Be¬
merkung „Neue Orthographie," und ich will, ohne es gerade selbst festgestellt
zu haben, gern glauben, daß in dem Buch keinerlei Verstöße gegen den kleinen
Puttkamer vorkommen. Umso mehr Verstöße finden sich darin gegen den ge¬
sunden Menschenverstand, gegen den guten Geschmack und gegen meine päda¬
gogische Anschauung. Da drängt sich gleich in der Geschichte vom Paradiese
die für achtjährige Kinder gewiß recht entbehrliche Belehrung auf, daß die vier
Hauptwasser im Paradiese „Pison, Gihon, Hidekel und Phrat" hießen. Ferner
erfährt das Kind, daß mitten im Garten der Baum des Lebens stand. Auf
der nächsten Seite aber wird es darin wieder schwankend gemacht, denn bei
der Erzählung des Sündenfalls heißt es, daß der Baum der Erkenntnis und
nicht der Baum des Lebens den oben bezeichneten Platz inne gehabt habe. Wer
eine Ahnung davon hat, wie feinfühlig gerade Kinder im Auffinden von selbst
scheinbaren Widersprüchen zu sein pflegen, dem wird ein Widerspruch in diesem
Punkte umso bedenklicher sein, als der Erzähler bei weniger wichtigen Gegen¬
ständen, z. B. bei der Beschreibung der Arche Noahs, durch peinliche Genauig¬
keit dem Bedürfnisse eines kindlichen Gemütes über und über Genüge leistet.
Durch den Druck ganz besonders hervorgehoben und außerdem noch durch eine
ausgestreckte Hand gekennzeichnet ist folgende Stelle: „Und ich will Feindschaft
setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem
Samen. Derselbe soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse
stechen." Ich frage: Was soll sich ein Kind bei diesem Ausspruch denken, der
doch entschieden weit über sein Verständnis hinausgeht, und über dessen Sinn
selbst die Theologen vielleicht heute noch nicht im klaren sind? Ich meine, es
kann sich eben gar nichts dabei denken, und das wird am Ende noch das Beste
sein. Dasselbe gilt wohl auch von den bekannten Worten: „Du sollst mit
Schmerzen Kinder gebären." Oder erwartet Herr Zahn etwa, daß die Mutter
ihrem kleinen Sprößling zu diesem Text einige nähere Erläuterungen geben
werde? Ferner heißt es: „Und Moses ward gelehrt in aller Weisheit der
Ägypter und ward mächtig in Werken und Worten. Aber durch den Glauben
wollte er uicht mehr ein Sohn heißen der Tochter Pharao, und erwählte viel
lieber, mit dem Volk Gottes Ungemach zu leiden, denn die zeitliche Ergötzung
der Sünde zu haben." Ein Geistlicher mag hieran im Konfirmandenunterricht
oder auf der Kanzel erbauliche Erörterungen knüpfen, aber ich frage immer
wieder: Was soll das einem Kinde?
Ich will hier nicht weitere Beispiele häufen, obwohl sich deren noch mehrere
von jeder Seite des Buches hinzufügen ließen. Ich will einmal annehmen, daß
das alles Wort für Wort in der Bibel stehe, und daß die Bibel Wort für
Wort objektive Wahrheit enthalte. Ich kenne aber auch eine gute Regel, die
freilich nicht gerade in der Bibel steht: „Alles, was du sagst, soll wahr sein,
aber du sollst nicht alles sagen, was wahr ist." Wird man behaupten wollen,
daß eine wortgetreue Wiedergabe aller dieser Geschichten aus dem Alten Testa¬
ment mit ihren sittlich doch oft wenig hochstehenden Helden, mit ihren An¬
stößigkeiten, ihrem Wust von unvermittelter und widerspruchsvollen Sätzen für
die Kindererziehung unentbehrlich sei? Ich glaube im Sinne von taufenden
gebildeter christlicher Eltern zu sprechen, wenn ich vielmehr behaupte, daß hier
der Weizen mit einer ganz ungebührlichen Menge von Spreu belastet ist, und
daß es ein Segen für die Kinder wie eine Herzeuserleichterung für die Eltern
wäre, wenn man sich endlich dazu entschließen könnte, solche Unterrichtsbücher
einer gründlichen Durchsicht und Verbesserung zu unterwerfen, wobei alles aus¬
zumerzen wäre, was nicht zur Bildung des Kindes in geschichtlicher, religiöser
oder sittlicher Richtung beiträgt. Für den Nest würde sich dann freilich dringend
eine Form empfehlen, welche sich nicht nur durch die neue Orthographie, sondern
im ganzen sprachlichen Ausdruck, in Grammatik und Satzbildung mehr als jetzt
der im übrigen Leben anerkannten Denk- und Sprechweise näherte, sodaß nicht
mehr eine eben der biblischen Geschichte entnommene Konstruktion in dem
darauf folgenden deutschen Unterrichte als Fehler gerügt zu werden brauchte.
Oder meint man, auch an diesem Widerspruche im kirchlichen Interesse festhalten
zu müssen? Wie die Dinge jetzt liegen, bleiben die biblischen Geschichten den
Kindern seitenlang ein völlig unverstandenes und unverständliches Gedächtnis¬
werk. Bei der öffentlichen Prüfung wissen sie freilich auf bestimmte Fragen
des Lehrers die ihnen in den Mund gelegte Antwort zu geben. Daheim aber
merken die Eltern, wie die Sache steht. Der Junge soll das Kapitel „Abra¬
hams Berufung" durchlesen und am nächsten Tage in der Klasse erzählen
können. Er kommt zum Überhöre» zu mir und erzählt, ist aber nicht imstande,
mit seinen eignen Worten zu erzählen, sondern verfällt ungeachtet wiederholter
Mahnungen immer wieder in ein wörtliches Aussagen des Gelesenen. Er
lernt eben leichter und lieber seitenlang auswendig, als daß er den Inhalt sich
so zu eigen machte, daß er ihn wiedergeben könnte wie irgend eine andre Ge¬
schichte aus seinem Lesebuch.
Das einfache Gefühl sträubt sich dermaßen gegen diese ganze Art des
Unterrichts, daß von der Beaufsichtigung der häuslichen Arbeiten die biblischen
Geschichten der unerquicklichste Teil bleiben, welchen die Eltern sich am liebsten
gegenseitig zuschieben, wenn nicht ganz abwälzen möchten. Die Lehrer denken
zum Teil ähnlich. In dem genannten Buche, welches eigens für die betreffende
Klasse bestimmt ist, klammern sie einzelne Stellen und anstößige Ausdrücke mit
Bleistift ein, wodurch sie doch stillschweigend zugeben, daß das gar nicht erst
hätte gedruckt werden sollen. Aber wie lange kann solches Feigenblatt für
Kinderaugen undurchsichtig bleiben? Lehrer, mit denen ich darüber sprach,
sagten mir achselzuckend, sie selbst wären in einer Zwangslage, das Provinzial-
schulkollegium wache mit Strenge über dem starren Festhalten an der gegebenen
Norm. Dich also, hohes Provinzialschulkollegium, bitten wir in dem drückenden
Gefühl einer gewissen Vergewaltigung inständigst, Fühlung zu gewinnen mit
der ehrlichen Anschauung so vieler Eltern, die doch auch, sozusagen, Menschen
sind und gern etwas mehr Einfluß auf die Ausbildung ihrer Kinder haben
möchten. Und kannst du ohne Voreingenommenheit dich überzeugen, daß in
dem, was ich hier gesagt habe, etwas Wahres liege, so schaffe Wandel! Du
kannst ja viel.
Und weil dn so mächtig bist, hohes Provinzialschulkollegium. so komme ich
noch mit einer andern Bitte. Vor Jahren gab es in Berlin eine Schule, in
welcher die bekannten Leßhaftschen Schreibhefte eingeführt waren. Wöchentlich
ein- oder zweimal wurden da Übungen im Schnellschreiben abgehalten, und wer
am schnellsten, d. h. in der gegebenen Zeit die meisten Seiten voll geschrieben
hatte, der wurde Erster. Im Umsehen war so ein Heft vollgeschrieben, und
der Vater mußte ein neues Heft kaufen, wobei natürlich Herr Leßhaft den
meisten Vorteil hatte. Derartiges ist mir zwar aus neuerer Zeit nicht wieder
zu Ohren gekommen; aber wenn ein Schüler bei Versetzung in eine höhere
Klasse sein eben begonnenes Heft nicht weiterführen darf, wenn ferner ein neues
Heft gekauft werden muß, weil ein Mitschüler sein Tintenfaß über den Umschlag
des alten ausgegossen hat, so kostet auch dies unnützes Geld.*) Welcher Vater
endlich hätte nicht über die endlosen Ausgaben für gedruckte Schulbücher zu
klagen! Sie sind ja zum Teil unerläßlich, zum Teil aber auch sehr wohl zu
vermeiden. Als ich kürzlich mit meinen drei Geschwistern in meinem alten
Vaterhause zusammentraf, fanden wir in einer Ecke des Bücherschrankes noch
unser altes „Lesebuch für preußische Schulen," herausgegeben von den Lehrern
der höheren Bürgerschule zu Potsdam. Obgleich wir als Kinder verschiedene
Schulen unsrer Vaterstadt besucht hatten, waren wir doch alle mit demselben
schönen Lesebuche groß geworden. Nach vielen Jahren war es jetzt für uns
eine ordentliche Erbauung, gemeinschaftlich die lieben alten Geschichten noch
einmal durchzulesen und uns in unsre Kinderzeit zurückzudenken.
Jetzt ist das alles anders; in jeder Stadt andre Lehrmittel, in verschiednen
auf gleicher Stufe stehenden Schulen der nämlichen Stadt verschiedne Schul¬
bücher. Mir ist eine Familie bekannt, in welcher in Zeit von zwei Jahren für
vier Kinder an demselben Orte nicht weniger als fünf neue Atlanten haben an¬
geschafft werden müsse»! Für kinderreiche Eltern, welche noch obendrein Ver¬
setzungen aus einer Stadt in die andre unterworfen sind, ist das eine harte
Ausgabe. Auf die in manchen Schulen vorhandenen, nur für gänzlich Unbe¬
mittelte bestimmten Büchervorräte zurückzugreifen, steht doch nicht jedem an.
Dabei schwellen in den höhern Klassen die für einen Tag erforderlichen Bücher
bisweilen zu solchen Massen an, daß schon ihr viermaliger Transport auf dem
Schulwege eine gehörige Arbeitsleistung beansprucht. Möchten doch die ma߬
gebenden Behörden auch dieser Angelegenheit einmal ernste Fürsorge widmen.
Ihre Erledigung im Sinne der vorstehenden Erörterungen scheint mir nicht gar
zu schwierig zu sein.
Wie kommt es aber, daß ein Nichtlehrer sich gedrungen fühlt, diese Dinge
zu beleuchten? Giebt es hierfür nicht berufene Organe? Gewiß, aber auem-
Äoqus äormiwt bonus Homerus, und da mag es einem Vater wohl anstehen,
die Aufmerksamkeit auf diesen oder jenen Punkt zu lenken, wo seiner Meinung
nach etwas nicht in Ordnung ist, oder die notwendige Abgrenzung der Pflichten
zwischen Schule und Haus nicht innegehalten wird. Was hat die Schule vom
Hause zu fordern? Daß die Kinder in Hochachtung vor der Schule erzogen
und bestärkt, daß sie zum regelmäßigen Schulbesuch und zum ordnungsmäßigen
Anfertigen ihrer Schularbeiten angehalten und vor Zerstreuung bewahrt werden.
Nicht aber sollen die Eltern, sei es unmittelbar oder mittelbar, genötigt werden,
der Schule vorzuarbeiten oder nachzuhelfen, so lange es sich um Kinder durch¬
schnittlicher Begabung handelt. Der Schulzwang legt den Zwang, Schule zu
halten, auf die Schultern der Lehrer, nicht der Eltern. Ich denke dabei
natürlich nicht an die allerdings in der überwiegenden Mehrzahl befindlichen
Eltern, welche der Schule mehr oder weniger gleichgiltig gegenüberstehen und
sie womöglich nur als eine die freie Verfügung über die Kinder beschränkende
Last, oder im günstigeren Falle als eine gute Einrichtung, um die Kinder für
einige Stunden los zu sein, ansehen, sondern an diejenigen, welche den Absichten
des Lehrers und den Bildungsfortschritten der Kinder mit liebevoller Aufmerk¬
samkeit nachgehen. Aber auch von diesen darf ein eigentliches Mitarbeiten an
dem täglichen Pensum nicht gefordert werden, weil sie keine Zeit dazu haben,
ohne andre Pflichten zu versäumen. Verstimmung und Überbürdung der Eltern
ist die Folge einer derartig unrichtigen Arbeitsteilung zwischen Schule und
Haus. Die Lehrer werden erwiedern: „Ja, das wollen wir auch gar nicht, die
Kinder sollen ihre Aufgaben allein erledigen." Gewiß; wenn diese Aufgaben
aber über Verständnis und Leistungsfähigkeit der Kinder hinausgehen, so tritt
jene Nötigung zur Hilfe der Eltern ein. Und dies liegt in vielen Fällen nicht
an mangelhaftem Fleiß und Auffassungsvermögen der Kinder, sondern — ganz
offen gesagt — an einer unzureichenden Befähigung der Lehrer, den Kleinen
Verständnis und Liebe zur Erfüllung ihrer Aufgaben beizubringen. Gewiß ist
das nicht immer leicht, es ist oft eine große Kunst, aber ich meine, dazu eben
haben wir unsre Lehrer, wie wir einen Rechtsanwalt auch nicht nur zur Er¬
ledigung zweifelloser juristischer Fragen und einen Arzt nicht nur zur Be¬
handlung solcher Krankheiten herbeirufen, die auch ohne seine Hilfe einen glück¬
lichen Verlauf zu nehmen Pflegen.
Den Mut zu dieser Aussprache finde ich einerseits in dem Bewußtsein,
in meiner Hochachtung vor der mühevollen und segensreichen Arbeit des Lehrers
hinter niemand zurückzustehen, anderseits in der Überzeugung, daß die erwähnten
Übelstände zwar nicht die Regel bilden, aber doch recht häufigen Erfahrungen
entsprechen.
Am wenigsten möchte ich den einzelnen Lehrer für den Unverstand im
Religionsunterricht verantwortlich machen: hier walten höhere Mächte, denen
Lehrer und Eltern meistens machtlos gegenüberstehen. Wie bedenklich es
ist, durch einseitige Betonung eines religiösen Standpunktes im Schulunterricht
kleiner Kinder den überzeugten Widerspruch der Eltern herauszufordern, liegt
auf der Hand. Es ist natürlich nicht leicht, diese Klippe zu vermeiden, denn
auch hier heißt es: So viel Köpfe, so viel Sinne, und es wird unmöglich sein,
es allen recht zu machen. Der richtige Weg scheint mir in einer weisen Be¬
schränkung gegeben zu fein. Jedenfalls sollten Einseitigsten und Ausschrei¬
tungen unterbleiben, wie ich sie oben in einigen Beispielen angedeutet habe.
Jedes Staatsgesetz hat Anspruch auf unsern vollen Respekt. Wo es aber
mit zwingender Gewalt uns Lasten auferlegt, wird es nur dann seine segens¬
reiche Wirksamkeit ganz entfalten können, wenn es sich dauernd auch der Sym¬
pathie des Volkes zu erfreuen hat. Dies gilt vom Heere und — von der
Schule.
s ist Vielleicht ein gutes und günstiges Zeichen, daß der Natura¬
lismus, obgleich er nach wie vor mit dem ganzen Fanatismus
eines neuen Glaubens auftritt, und zwar eines solchen, der die
Welt mit Feuer und Schwert unterwerfen und hundert alexan-
drinische Bibliotheken für eine verbrennen möchte, doch für not¬
wendig oder wenigstens ersprießlich erachtet, an die Stelle der bloßen Drohungen
und prahlerischer Znkunftsverheißungen einige Auseinnndersetznngen, ja eine Art
von Verständigung treten zu lassen. Und auch das kann als charakteristisch
gelten, daß diejenigen, welche diese Auseinandersetzungen unternehmen, den Ge¬
brauch des Wortes „naturalistisch" scheuen und von einer realistischen Ästhetik,
einer realistischen Poesie sprechen. Gemeine ist aber damit, wenigstens bei dem
ersten Schriftsteller, der, wie von vornherein zugestanden sei, mit anständiger
Polemik, in anständigem Vortrag über diese Dinge spricht, nicht das, was wir
poetischen Realismus nennen, was alle große und echte Poesie längst besessen
hat, was keine, auch bei den kühnsten Flügen des Gedankens und dem höchsten
Schwunge der Stimmung, je entbehren kann; gemeint ist in der Schrift, welche
wir hier im Auge haben: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der
Poesie, Prolegomena zu einer realistischen Ästhetik von Wilhelm Bölsche
(Leipzig, Carl Reißner, 1887), sobald man genauer zusieht, nur das, was als
„naturalistische" Richtung in Zola und Ibsen, in den Goncourts und ihren
nordischen Schülern zu Tage tritt.
Als^wir diese „Prolegomena" einigemale durchgelesen hatten (sie verdienen
es wohl), fühlten wir uns lebhaft an eine Stelle Macaulays erinnert. Sie
findet sich im siebzehnten Kapitel seiner Geschichte von England und erörtert,
daß der Gründer der Quäker, George Fox, einige Konvertiten gemacht habe,
„denen er mit Ausnahme der Kraft seiner Überzeugung in allen Dingen uner¬
meßlich untergeordnet war. Durch diese Neubekehrten wurden seine rohen Lehren
in eine Form gefeilt, welche etwas weniger abschreckend für den gesunden Ver¬
stand und den guten Geschmack war. Keiner der von ihm aufgestellten Sätze
ward widerrufen, keine unschickliche oder lächerliche Handlung, welche Fox voll¬
bracht oder gebilligt hatte, ward verurteilt; aber was an seinen Theorien und
Handlungen in plumper Weise abgeschmackt war, ward gemildert oder wenigstens
nicht dem Publikum aufgedrängt."
Sollen wir diese Charakteristik ohne weiteres auf den naturalistischen oder,
wie er sich selbst nennt, realistischen Ästhetiker anwenden, welcher mit so edler
Pietät für unsre große Literatur, mit so reinem Wunsche, aufklärend, verstän¬
digend, versöhnend zu wirken, vor dem Publikum erscheint? Wer auf gut Glück
gewisse Sätze der Schrift „Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie"
herausgreift, wie: „Eine realistische Dichtung ganz ohne Ideal, das ist mir etwas
Unverständliches. Im Märchen mag gelegentlich alles schwarz sein. Im Leben
giebt es dunkle Sterne und dunkle Menschenherzen. Aber um den finstern
Bruder, mit dem ihn am Himmel das Gesetz der Schwere verkettet, kreist der
helle Sirius — neben den kranken Seelen wandeln gesunde. Wer die Welt
schildern will, wie sie ist, wird sich dem nicht verschließen dürfen" oder: „Gerade
den jüngeren, die jetzt so viel Lärm schlagen, kann nicht genug ans Herz gelegt
werden, daß Realisten sein nicht heißen darf, die Fühlung mit den großen Tra¬
ditionen unsrer Literatur verlieren. Vor allem: vergeßt nicht, daß ihr der
deutschen Literatur angehört, daß hinter euch Goethe und Schiller stehen" —
dem lacht vielleicht das Herz, und jedenfalls hat er zunächst die Genugthuung,
daß gesundes Gefühl und gesunde Einsicht nicht überall vom sensationshungrigen
Humbug aufgefressen worden sind.
Leider aber sind Sätze wie die angeführten keine Gewähr für den Geist
und Inhalt der „Prolegomena." Wir glauben dem Verfasser aufs Wort, daß
diese und ähnliche Darlegungen keine Aushängeschilder, sondern seim — ja wie
sollen wir's nennen — seine Nebenbeimeiuung, seine Supplementürüberzeugung
sind. In der Hauptsache erweist sich aber die Schrift als ein neuer Versuch,
den Begriff einer nicht wissenschaftlichen, aber von der Wissenschaft abhängenden
Poesie unserm Publikum geläufig zu machen und Herrn Emil Zola (vor dessen
künstlerischen und bessern literarischen Eigenschaften wir unsre Hochachtung oft
genug bezeugt haben, um uns dies hier ersparen zu dürfen) als den ma߬
gebenden, auf dem besten Wege befindlichen Schriftsteller der Zeit hinzustellen.
W. Bölsche ist ein zu gebildeter Mann, um nicht zu wissen, daß der Aber¬
glaube, die „naturwissenschaftliche Bildung" werde an sich große Dichter und
Dichterwerke hervorbringen, ungefähr auf gleicher Linie mit dem Aberglauben
unsrer gelehrten Schlesier des siebzehnten Jahrhunderts steht, die von einem,
der „in der griechischen und lateinischen Sprache wohl durchtrieben" war, er¬
staunliche poetische Leistungen erwarteten. Der Verfasser der „Prolegomena"
gesteht zu, daß seine „Prämissen," von denen gleich noch zu sprechen sein wird,
nicht die Naturgeschichte des poetischen Genius selbst umschließen. „Geniale
Anlage muß der Mensch besitzen, um überhaupt als Dichter auftreten zu können,
und zwar eine ganz bestimmte Form genialer Anlage, die sich von der für
andre Geistesgebiete individuell unterscheidet." Diese Anlage, die spezifisch
dichterische Begabung vorausgesetzt, die, Herr Bölsche und hunderttausend Na¬
turalisten mögen sagen, was sie wollen, mit der schöpferischen Phantasie und
der erhöhten Teilnahme an den Erscheinungen, an der Fülle des Lebens zu¬
sammenfällt, ist es nun die wohl erwogene Meinung des Verfassers, daß die
Poesie vom Schatz sicherer Erkenntnisse über Menschen und Naturerscheinungen,
den die neueste Naturwissenschaft darbiete, sich das Beste aneignen und frühere
irrige Grundanschauungen fahren lassen müsse. Es kann, nach Herrn Bölsche,
nicht mehr ungerügt hingehen, wenn die Poesie eine Psychologie bei den
lebendigen Figuren ihrer Erzeugnisse verwertet, die durch die Fortschritte der
modernen wissenschaftlichen Psychologie entschieden als falsch dargethan sei.
Er erhebt die Forderung, daß alle ernste Poesie, die mehr als Fabnlirkunst für
Kiuder sein wolle, sich fortan auf Grund des psychologischen Experiments er¬
heben müsse, daß sie hinter sich werfen müsse die alte Idee der Willensfreiheit,
des willkürlichen Handelns und Denkens (als ob die echte Poesie, die immer
aus dem Leben geschöpft hat, je irgendwie und irgendwann dem Begriffe der
Gesetzmäßigkeit alles Lebens, aller Handlungen und psychischen Vorgänge wider¬
sprochen hätte), abrechnen müsse mit dem Phantom der persönlichen Unsterb¬
lichkeit (während Herr Bölsche ein paar Seiten weiter bereitwillig einräumt,
daß hinter der physischen Welt eine andre, wenn auch unbekannte, stehe, von
welcher der scharfsinnigste Naturforscher so viel wisse wie ein Bergmann oder
Köhler), sich entwinden müsse dem sentimentalen, nervös überspannten Liebes-
begrisf, der alles Normale, Natürliche, Gesetzmäßige aufhebe, sich hingeben
müsse an das „realistische Ideal," welches die seitherige historische Dichtung nur
als berechtigte Pionierarbeit ansehen könne. „Größer und glänzender als sie,
/
folgt ihr freilich jetzt die Aufgabe, das Geschichtliche nicht darzustellen in
künstlich belebten Bildern des Vergangenen, sondern in seiner lebendigen Be¬
thätigung mitten unter uns, in seinen fortschwirrenden Fäden, in seiner Macht
über die Gegenwart."
Wenn mein's so hört, möcht's leidlich scheinen,
Steht aber doch immer schief darum,
Denn
das ist keine Poesie oder vielmehr nur ein Bruchteil derselben, die sämtlichen Dar¬
legungen des Verfassers beruhen auf einer großen Überschätzung des Gewinnes,
den die moderne Spezialwissenschaft der lebendigen, das Leben notwendig in
seiner Ganzheit erfassender Poesie bringen kann, sie beruhen auf einer Kritik
der Literatur vergangener Jahrtausende, die schlechterdings unberechtigt ist, sie
beruhen auf einem völligen Jgnoriren der Thatsache, daß der darstellende Dichter
und jeder Künstler überhaupt es ebenso mit der Erscheinung als mit dem Wesen
der Dinge zu thun hat, daß er also, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse oder
Thatsachen der Erscheinung auch zu Grunde liegen mögen, in seiner Wiedergabe
der Erscheinung gebunden ist und sich all der veralteten unwissenschaftlichen Bilder
und Redensarten zu bedienen hat, welche Homer, Sophokles, Shakespeare, Cer¬
vantes und Goethe eben auch anwenden mußten. Die moderne Wissenschaft weiß
uns sehr viel von der Sonne zu sagen, und für sie schirrt allerdings Helios die
Rosse nicht mehr an. Aber die Sonne steigt für Millionen Augen noch immer
im Osten empor und sinkt im Westen ins Meer, und ihre Wirkungen auf Thun
und Lasten, Lust und Unlust des einzelnen Menschen sind die gleichen wie in
Homers Zeiten, auch wenn der moderne Dichter noch so gut über Sonnenferne,
Sonnendurchmesser, Sonnenflecke und Prvtuberanzen unterrichtet wäre. Der
Mond wird durch die sämtlichen Forschungen Schröters und Mädlers, ja selbst
durch das leidenschaftlichste Interesse eines modernen Dichters für Mondgebirge
und Mondkrater in seiner Erscheinung nicht verändert, sein Licht füllt noch
immer Busch und Thal, und die Stille einer schönen Mondnacht wird fort¬
fahren, hier und dort eine Seele ganz zu füllen. Die Beispiele ließen sich ver¬
tausendfachen, und der Verfasser der „Prolegomena" würde es sicher mit uns
für eine Albernheit erklären, wenn irgend ein Dichter den Versuch machen wollte,
die mittelst Fernröhren, Spektralanalysen und astronomischen Berechnungen ge¬
wonnenen Ergebnisse in die poetisch unerläßliche Wiedergabe von Naturbildern
und aus der Natur empfangener Stimmungen zu verweben. Für den rechten
Dichter giebt es in diesem Betracht kaum Unterschiede zwischen alt und neu,
die Linden rauschen über Turgenjews düster sinnenden modernen Menschen noch
ebenso wie über Meister Gottfrieds Tristan und Isolde.
Aber — sagt unser naturalistischer oder, wie er will, naturwissenschaftlicher
Realist — die Menschen haben sich geändert, der Mensch ist ein andrer ge-
worden, jedenfalls hat die moderne Wissenschaft Dinge ergründet, von denen
Shakespeare und Goethe vielleicht etwas geahnt, sicher nichts „gewußt" haben.
Der Verfasser folgert daraus fröhlich, daß die Wissenschaft vorangegangen, die
Literatur zurückgeblieben sei. Obgleich er weiß, daß das poetische Talent von
der wissenschaftlichen Begabung so charakteristisch verschieden ist, daß, wenn sich
beide Anlagen in ein und derselben Menschennatur vorfinden, die geistige Arbeit
beider eine so getrennte sein muß, als die Ergebnisse verschiedne sind, obgleich
er zugesteht, daß in all den Dingen, welche dem Dichter nützen können, die
moderne Naturwissenschaft der Dichtung noch herzlich wenig geboten hat, ob¬
gleich er wissen müßte, daß beinahe jedes Drama und jeder Roman wirklich
gestaltungskräftiger Dichtung, uach den strengsten Forderungen seiner natur¬
wissenschaftlichen realistischen Ästhetik durchkorrigirt, nur gewisse einzelne Züge,
einzelne Sätze verlieren könnte, obgleich er nicht verschweigt, daß die wissen¬
schaftliche Psychologie und Physiologie durch Gründe, die jedermann kennt, ge¬
zwungen sind, ihre Studien überwiegend am erkrankten Organismus zu machen,
sich fast durchweg mit Psychiatrie und Pathologie decken und die psychia¬
trischen und pathologischen Gaben an die Dichtung selbst für Danaergeschenke
erklärt, zieht er frischweg gegen das zu Felde, was er idealistische Poesie tauft
und was in neun Füllen unter zehn lebendiger, natürlicher, gesetzmäßiger, also
dem, womit die Poesie am meisten zu thun hat, entsprechender ist, als jene
äußersten Krankheitsfälle, welche die Wissenschaft wohlweislich als äußerste Kon¬
sequenzen, als seltene, abnorme Erscheinungen betrachtet und bespricht und welche
durch die neueste naturalistische Dichtung mit einemmale zu Typen des Mensch¬
lichen gemacht werden sollen. Er selbst räumt ein, daß durch die Welt, die
Natur wie ein roter Faden „der fortwirkende Hang zum Glück und zur Ge¬
sundheit" hindurchgeht, „an allem Vorhandenen haftet"; mit dieser unbestrittenen
Wahrheit aber ist die Poesie gerechtfertigt, welche diesem fortwirkenden Hange
folgt und auf ihre uralten Gerechtsame, Menschenglück und -Leid unmittelbar nach
lebendigen Eindrücken darzustellen, nicht verzichtet. Daß sie bei innerlich wahr¬
hafter Darstellung, der lebendige Anschauung und lebendige Empfindung zu
Grunde liegt, mit den wahren Erkenntnissen der Naturwissenschaft gar nicht in
Widerspruch geraten kann, ist für uns ebenso gewiß, als daß sie, mit aller ge¬
bührenden Hochachtung vor den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, tausend
Dinge nicht brauchen kann, welche für die Wissenschaft sehr wichtig sind. Wenn
der Verfasser der „Prolegomena" sagt, daß Wasser für jeden vernünftigen Menschen
„das Produkt zweier Elemente, des Wasserstoffs und des Sauerstoffs, bleibt,"
so hat er natürlich Recht. Aber er soll erst beweisen, welcher Unterschied sich
für die dichterische Darstellung der Erquickung eines brennend Durstigen nach
langer Wanderung daraus ergiebt, daß an dem einen Quell ein verschmachtender
Mensch trinkt, der nie eine Ahnung davon hatte, daß man das Wasser noch
wieder in seine Elemente teilt, und am andern Quell ein verschmachtender junger
/
Doktor der Philosophie, der bei Dubois-Reymond in Berlin und bei Haeckel
in Jena gründlichst Naturwissenschaft studirt hat.
Denn, um gleich das letzte zu sagen, auch dieser formvolle und scheinbar
besonnene Vorfechter einer realistischen Ästhetik bedient sich des alten Kunstgriffs,
den Dichter zu treffen, indem man seinen Narren, den hohlen Dichterling, an
seiner Statt dem Publikum borführt. Wenn Herr Bölsche ausruft: „Eine echte
realistische Dichtung ist kein leichter Scherz, 's ist eine harte Arbeit. Einen
Menschen bauen, der naturgeschichtlich echt ausschaut und doch sich so zum
Typischen, zum Allgemeinen, zum Idealen erhebt, daß er imstande ist, uns zu
interessiren aus mehr als einem Gesichtspunkte, das ist zugleich das Höchste
und das Schwerste, was der Genius schaffen kann," wer wird ihm widersprechen
wollen? Die echte Dichtung, die wahre Menschenschöpfung, das literarische
Kunstwerk waren nie ein Scherz, der wahre Dichter, nicht bloß der große, sondern
jeder wirkliche, der wahren dramatischen oder epischen Darstellung fähige Dichter
hat den Ernst der Arbeit erfahren. Was Herr Bölsche „die ungeheure Masse
der kleinen Dichter" nennt, ist der Hauptsache nach die Masse der Dilettanten,
der bloßen Nachstammler vorgestammelter Phrasen, der überlieferten Wieder¬
holung abgestandener Redensarten. Was geht das die Literatur im höheren
Sinne an? Und glaubt unser Realist wirklich, die Herren würden verschwinden,
wenn die Poesie in seinem Sinne umgestaltet wäre? So viel sich jetzt über¬
sehen läßt, würde an die Stelle einer blöden, verhältnismäßig aber harmlosen
Wiederküuuug für poetisch geltender Situationen und Phrasen eine blöde und
unter Umständen gefährliche Wiederholung für realistisch geltender häßlicher
Situationen und halbverstandener Kraftworte aus dem anatomisch-physiologischen
Lexikon treten.
Wie dem auch sei: wir Protestiren aufs schärfste wider Gegenüberstellungen
wie die folgende: „Der stillvergnügte Poet, der im einsamen Kämmerlein von
Sinnen und Minnen träumt, hat für gewöhnlich nur sehr problematische Kennt¬
nisse davon, welcher Riesenarbeit sich der dichtende Genius unterzieht, der im
treibenden Banne seiner Gedanken bis zum Unschönsten, was die Welt im ge¬
bräuchlichen Sinne hat, dem Krankensaale, vordringt." Der also verherrlichte
naturalistische Poet steht in Wahrheit nicht dem harmlos pfeifenden Minnelyriker
gegenüber, sondern dem lebendigen, schaffenden Dichter, der aber die Freude am
jungen Leben, den „Trieb nach Glück, Frieden, Wohlsein, harmonischem Ausleben
des Zuerkannten" noch nicht verachten gelernt hat, weil er nicht roh sensationell ist.
Mit dem Wahrheitsdrange des Dichters, der tief ins Leben eindringen, aus
dem Leben herausschaffen will, hat die rohe Effektlust, welche die Gier nach
dem um jeden Preis Neuen, und dabei doch nur scheinbar Neuen, befriedigen
will, nichts, gar nichts zu schaffen. Wir Protestiren ferner gegen die falschen
Konsequenzen, die der Herr Verfasser der „Prolegomena" aus an sich richtigen
Prämissen zieht. Wenn er dem Publikum erzählt, daß die Dichter den Begriff
der Liebe durch Hypersentimentalität, künstliche Gefühle, moralische Unnatur in
Grund und Boden hinein verfälscht hätten, wenn er andeutet, daß es in der
Poesie üblich sei, lauter Jammer und Träume darzustellen, die ersten Regungen
des Wohlgefallens an einer schönen Erscheinung, die individuelle Sympathie
(ohne die es im Leben nicht abgeht und also wohl auch in der Dichtung der
Zukunft nicht abgehen wird) zu vergöttlichen, die bräutliche und eheliche Liebe
als „gemein" darzustellen, wenn er versichert, daß „nur die strenge Beobachtung
der Gesetze und Erscheinungen des Körperlichen in seinen verschiednen Phasen"
zu neuen Zielen führen könne, so hören wir wohl die Botschaft, allein uns
fehlt der Glaube. Wo ist die echte Poesie, die vergißt, daß die Spitze von
Amors Pfeil mit Verlangen gesalbt ist, wo sind die deutschen gestaltenden
Dichter, die zu allen Sorten abnormer Liebe erziehen? Was hat unsre große,
ernste, lebendige, lebenswarme Literatur im höher» Sinne mit Gvuvernanten-
romcmen, in denen sich die Liebespaare nur heiraten, um mit einander und
einigen guten Freunden Thee zu trinken, mit Backfischlyrik oder mit den Fratzen
impotenter Anbetungslust zu schaffen? Wer will uns anderseits ausreden, daß
das gemeinsame Leben von Mann und Weib in dem Zeugungsakte erschöpft
sei? Die „Bcgleitphänomene" gesteht Herr Bölsche zu, auf die eben kommt es
an, die entscheiden für den Dichter, womit und mit wem er zu thun hat. Herr
Bölsche nimmt die großen Dichter unsers Volkes aus und beschuldigt nur die
„Kleinen," das „nervöse Hungergefühl" über die gesunde Befriedigung des
Appetits gesetzt zu haben. Wir wissen nicht, ob er je das leuchtend schöne
letzte Gespräch zwischen der blonden Lisbeth und der Baronin Clelia in Immer-
manns „Münchhausen," ob er eine Reihe der köstlichsten Novellen von Gott¬
fried Keller oder Theodor Storm gelesen hat. Wir dächten aber, für jede
gesunde Empfindung wäre es klar genug, daß diese „Kleinen" die Liebe in keiner
Weise gefälscht und leidlich Bescheid von ihr gewußt haben.
Auch hier wirft der realistische Ästhetiker die Begriffe wunderlich durch¬
einander. „Der vermessene Ausspruch muß mit Macht widerlegt werden, das Ge¬
wöhnliche, jene Liebe, die der einfache Spießbürger auch erlebt, wenn er gesund
ist, sei zu gering für den edeln Schwung der Poesie," lesen wir bei Bölsche. Wenn
er gesund ist. Gesund in dichterischem Sinne ist nur ein Mensch, der einer
starken, warmen, treuen, wahrhaften Neigung fähig ist. Ist er dies, so giebt
es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Herrn und Knecht. Der Spießbürger,
von dem sich der Poet abkehrt, mit allem Recht abkehrt, kann die gesunde,
normale Liebe eben nicht erleben. Ohne das freudige Gefühl der Sympathie,
ohne die Regungen des Gemütes, ohne „Begleitphänomene" heiratet er die
Häßliche, die Unliebenswürdige, die Keifige und die Essigsaure, weil sie zehn¬
tausend Thaler oder einen Seifcnsiederladen besitzt. Wenn es Hypersentimen¬
talität ist, dergleichen nicht als das Gesunde und Gesetzmäßige anzusehen, so
hoffen wir, die deutsche Literatur behält diese Sentimentalität. Um die Streit-
frage an einem Beispiel zu verdeutlichen, sei an Hermann und Dorothea er¬
innert. Hermann ist kein Spießbürger, weil er die Neigung zu Dorothea zu
fassen, zu behaupten, zum glücklichen Ende zu führen weiß. Er wäre in unsern
Augen nicht ein einfacher, sondern ein kläglicher Spießbürger, wenn er sich
ohne den leisesten Zug der eignen Natur die zweite Kaufmannstochter auf¬
reden ließe.
Doch genug von alledem, die „Prolegomena" haben uns eben wieder ge¬
zeigt, daß die realistische und die spezifisch naturalistische Anschauung von und
in der Literatur sich zunächst noch nicht begegnen können, selbst wo es einem
Vermittler so ernst um die Versöhnung ist, wie Herrn W. Bölsche nach seiner
Versicherung.
eine Laiengedanken darüber in Ur. 22 d. Bl. sind in Ur. 26 zweier
Erwiderungen von Fachmusikern gewürdigt worden. Ich fühle
mich als Laie damit geehrt und habe daran gelernt. Eine dritte
Erwiderung ist leider ihres gar nicht musikalischen Tones halber
nicht zum Druck gekommen, ich weiß davon auch nur, daß da
von „Sonntagstonleiter" die Rede gewesen, also dabei das Spottregister ge¬
zogen worden ist, und möchte schon wissen, wie die musikalisch-harmonischen
Dinge in der Spottregion geklungen haben mögen.
Was ich an den beiden gedruckten Erwiderungen für mich gelernt habe,
hat vielleicht auch allgemeinen Wert, sodaß ich es wohl kurz vorbringen darf,
zugleich als Ausdruck meines Dankes. Einmal bin ich erstaunt zu sehen, wie
die Kleinigkeit, als die ich sie bei mir immer behandelt habe, bei allem beiläufigen
Ärger darüber, doch eine weiter tragende Bedeutung hat, als ich wußte, und
wie sie noch andre musikalische Grundfragen anregt, als ich Laie gesehen hatte.
Ich hatte alles Gewicht auf den Rhythmus gelegt, und daraus die musikalische
Unmöglichkeit der gewöhnlichen überlieferten einfachen Tonleiter abgeleitet, nein,
bewiesen, glaub ich, und muß leider dabei bleiben. Aber die harmonische Seite
der Frage, welche in der ersten Erwiderung so gründlich und geistvoll in den
Vordergrund gezogen wird, ist mir als Ergänzung meiner privaten Gedanken
hochwillkomner, zumal das längst in mir arbeitenden Ahnungen zur Klarheit
verhilft, wofür ich herzlich dankbar bin.
Ich habe daran nun klar gelernt, daß zu dem Tonraume, der für das
natürlichste Tongebilde, die einfache Melodie, gegeben ist als Geburth- und
Wohnstätte, das obere e, (um bei Odur zu bleiben) gar nicht mit gehört, und
auch sein dienstbarer Anhang, das d nicht, daß beide vielmehr der grundlegende
Ansatz zu dem höheren Tvnraume und seiner Tonbewegung sind, die über dem
ersten liegen, daß dagegen zu dem naturgegebenen ersten Tonraume zwischen
« und A mit seinen beiden Stufen auch darüber hinaus das a und das untere 1i
noch mit gehören als notwendige Anhänge für die melodische Bewegung auf
und ab, um dieser oben und unten gleichsam die Tritt- oder Antrittstelle zu
geben zu neuem Anlauf auf und ab. Das war mir längst still aufgefallen an
den Tongängen des echten Volksliedes mit seiner wunderbaren einfach tiefen
Wirkung, an dem ich viel herumgesonnen habe in stillen Augenblicken, um mög¬
lichst hinter das Geheimnis der großen Wirkung mit so einfachen Mitteln zu
kommen, immer fern von aller musikalischen Wissenschaft, nur mit dem Privat¬
gefühl und nur für mich. So ist mirs um eine lebhafte Frende, mein stilles
Gefühl von seiten musikwissenschaftlicher Erkenntnis bestärkt und erhellt zu finden.
Auch die Lücke zwischen a und u oder der Sprung an dieser Stelle ist mir
nun deutlich, wie ich denn an seiner grelleren Darstellung in der Molltonleiter,
wo die Lücke sogar bis zur kleinen Terz oder übermäßigen Sekunde auseinander¬
gezogen erscheint (g-s-n), schou vor laugen Jahren (noch vor Mendelssohns Wir¬
kung) viel mit Verwunderung herumgeklügelt oder gehorcht und gefühlt habe,
wenn ich mirs endlos wiederholt auf- und absteigend vorspielte.
So bin ich denn auch mit der Gestaltung der Tonleiter von Herzen ein¬
verstanden, wie sie Herr F. D. giebt in rhythmisch harmonischer Herstellung,
indem er sie nur bis zu s. aufsteigen laßt und da herabschwenkt nach <z, das
aber mit feinem n und einem wiederholten e> zu einer Schleife (mir gefüllt das
Bild nun einmal) ausgestaltet wird und damit dem Tongange einen tresslichen
Abschluß giebt, bei demi auch das liebe u an seiner rechten Stelle und in seinem
wahren Werte mit auftritt, sodaß alle Töne zu ihrem natürlichen Rechte kommen.
Freilich muß man dabei vom Standpunkt der Schulüberlieferung aus auf die
Anklage gefaßt sein, daß ja damit der eigentlichen Tonleiter der Kopf abge¬
schnitten sei, da oben Il und o fehlen, als wollte man aus dem ABC das
T N und Z ausmerzen und doch sagen, man lehre die Schüler das wahre ABC.
Aber der Vergleich ist hinkend wie je einer, er stammt aus bloßen engen Schul¬
gedanken. Übrigens habe ich selbst am Schlüsse meiner Auslassung, allerdings
nur beiläufig in Parenthese, weil ich auch noch an der überlieferten vermeint¬
lichen Vollständigkeit hing, einen Tongang angegeben, bei dem das obere d.
und o anklingen und doch das Ganze rhythmisch wird, indem am Schlüsse eine
Schleife c-et-o angesetzt ist. die einen melodisch-rhythmischen Abschluß giebt; es
ist aber dazu hüpfender Rhythmus nötig, also:
Vielleicht darf ich da auch einen Tongang mit vorbringen, den ich mir
lange schon gern klimpere, ohne irgend an die Tonleiter zu denken, der aber
nichts ist als die Tonleiter in ähnlicher Weise rhythmisch-melodisch ausgestaltet,
was mir erst durch Herrn F. D. Kar geworden ist; es ist aber auch die ganze
Tonleiter im alten Sinne, dabei mit Zuziehung des Tonraumes von, Grundton
bis zur untern Dominante, die ja auch als Ansatz oder Antrittsstelle dient für
den Tonverlauf einfacher Melodien mit Benutzung der Stufentöne und als Unter¬
brechung des eintönigen Auf und Ab der Leiter; die vorletzten vier Töne werden
mir beim Spielen von selbst gewöhnlich zu etwas länger angehaltenen, was
ein angenehmes getragenes Ausklingen giebt, anch an der entsprechenden Stelle
des ersten Satzes schon anwendbar:
Die linke Hand kann dazu den harmonischen Hintergrund leicht belebend an¬
deuten. Ich schlage da gewöhnlich bei dem Z des ersten Taktes das nächste
untere g' an, bei dem et des zweiten Taktes das entsprechende it, bei dem -i des
dritten das e, bei dem ä des vierten das untere s, womit die Stelle der beiden
Takte auch harmonisch, nicht bloß melodisch der Mittel- oder Knotenpunkt des
kleinen Ganzen wird; beim fünften Takte schlage ich ä, beim sechsten us an, beim
siebenten und achten aber als dem Abschluß des ersten Satzes mit den Tönen
oben einklingend A, n und ä. Im zweiten Satze ebenso, nur daß am Schlüsse
dreimal unter sich wiederholt, sodaß von der rechten Hand uoch einmal das
harmonische Grundgewebe anklingt, mit der Dominante unter und dem ersten
Stufentou über dem Grundton, mit der linken aber zugleich der allbeherrschende
Grundton in der Tiefe. So ist mir das kleine Ganze wahrhaft behaglich und
beruhigend oder abspannend nach angestrengter Kopfarbeit.
Was mich aber in der ersten Erwiderung am meisten erfreut und bereichert
hat, das ist die Stelle, die darin der Natur eingeräumt wird als einer Macht,
die mitzusprechen, ja das letzte Wort zu sprechen habe, wenn da von einer „von
der Natur gegebenen," ja „von der Natur gewollten Tonleiter" geredet wird.
Das schlug bei mir in alte stille Lieblingsgedanken ein wie ein belebender und
beleuchtender elektrischer Funke. Denn mir leuchtete schou lange bei meinem
privaten Grübeln wie ein fernes Licht der stille Gedanke, daß hinter dem ganzen
Tonwesen eigentlich ein großer stiller Wille steht, dessen Weisungen oder Wünsche
man zu erlauschen und zu befolgen hat, auch wo man seine Gründe uoch nicht
erkennt. Da kommt mirs nun vor, als ob dieser musikalische Wille, die Natur
im Tonwesen, gewisse Dinge gebiete oder fordere, andere erlaube oder zulasse,
noch andere aber verwehre und verbiete.
Sie fordert vor allem andern gegliederte Bewegung, d. h. Rhythmus (der
mir immer wie ein geistiges oder seelisches Schreiten oder Tanzen erscheint),
und wie sehr diese Forderung als allererste voransteht, sieht man daran, daß
dazu nicht einmal die gewöhnliche Bewegung auf und ab durchaus nötig ist,
denn auch die Bewegung auf einer Linie, das Verharren auf einem Tone kann
aus dem unendlichen Bereich der bloßen Geräusche schon über die Schwelle in
den Garten des musikalischen Klangwesens eintreten, sobald der eine Ton in
Absätzen gegliedert auftritt. Eine Dmnpfpfeifc, die ihren einen Ton langsm
klingen läßt, ist noch fern vom Klangreiche, so fest auch der Ton in sich
auftrete und auf bestimmter Stelle der Tonleiter stehe; sobald aber die Pfeife
einmal wie ermüdet atmend Absätze macht, kommt sie auf den Weg zum Klang¬
reiche wie durch einen unbewußten und ungewollten Versuch einer Gliederung
des einen Tones. Was aber ein Ton durch kunstgerechte Gliederung Musika-
kcilisches vermag, das zeigt die Trommel; wenn da der eine Ton durch die
Macht des wechselnden und gemischten Rhythmus schon den Eindruck einer Me¬
lodie macht, ob auch nur als schattenhafte Skizze, so kann da, wenn die beiden
Klöppel verschieden arbeiten in kunstgerecht verschiedenem Rhythmus, wobei zwei
rhythmische Bewegungen sich widersprechen und gleichsam bekämpfen und doch
ebeu dadurch ein höheres, schönes Ganze herstellen — da kann mit der Trom¬
mel für das Ohr sogar schon ein Vorgefühl von Harmonie und Fugenkunst
gegeben werden, alles in und mit einem Tone. So entschieden und unaus¬
weichlich ist der Rhythmus der erste und oberste Maßstab alles Tonlebens nach
dem Willen der Natur, und mit diesem Maßstabe habe ich die alte Tonleiter
gemessen, anfangs im Gefühl (in dem die Natur zu uns spricht oder flüstert),
später zugleich mit wissenschaftlicher Erkenntnis. Gerade das aber ist es, was bei
meinen Herren Erwiderern doch nicht zu ganzer Geltung gekommen ist und was
ich deshalb schärfer dargelegt wiederholen muß oder müßte. Aber Freunde, die
auch in der Musikwissenschaft genügend eingeweiht sind, haben mir daneben in
der Sache vollständig Recht gegeben, das beruhigt mich.
Mutter Natur ist übrigens auch hier in gewissen Grenzen gar mild und
nachsichtig gegenüber der Freiheit des Menschenwillens, die ihren Kindern nun
einmal notwendig ist, damit sie sich durch eignes Wollen und Erfahren in die
von ihr gewollten besten Wege finden lernen. Denn wenn sie z. B. für den
Verlauf der einfachen Tvnreihe gewisse Abstände fest gebietet, so willkürlich diese
dem Verstände angesetzt erscheinen mögen, der ganz frei nur seinem Rechnen und
nicht dem Ohre folgend, die Einteilung der Tönemasse wohl ganz anders und
richtiger zu machen glauben müßte, so erlaubt sie doch mancherlei Abweichungen
von diesen Abständen, wenn der frei werdende Menschenwille links und rechts
wegstrebt in andre benachbarte Tongänge, falls er nur am Schlüsse in das vou
//
ihr gegebene Grundgefüge wieder treulich ergeben einlenkt, also aus der gesuchten
Freiheit in die strenge Ordnung fromm zurückkehrt. Und wenn sie, wo der
Mensch künstlich zwei oder mehrere Töne oder Tongänge neben einander, mit
oder gegen einander gehen läßt, auch da zwar gewisse wechselnde Abstände ge¬
bietet, so läßt sie doch auch hier zu, daß von diesen Abstünden, an denen die
tiefere Einheit der zwei Gänge hängt, abgewichen werde, so weit sogar, daß sie
gegen einander gehend sich feindlich so nahe kommen dürfen, als wollten sie sich
aneinander zerreiben; sie läßt es wenigstens für einen rasch vorübergehenden
Augenblick zu, sobald gleich darauf das Gegeneinander wieder in ein Zusammen¬
gehen in den von ihr gegrabenen Geleisen zurückschlägt, in denen nun die Seele
um so beglückter wieder den Willen der Mutter fühlt und sich ihm hingiebt nach
dem kecken Versuch, ihre Geleise zerstören zu wollen. Ich habe es oft versucht,
solche Gegnerschaft aufs äußerste zu treiben, aus Neugier, um zu sehen, wie
weit jene Freiheit geht und an welche Bedingungen sie gebunden ist, wenn man
z. B. zwei halbe Töne dicht neben einander zugleich klingen lassen will: ein
Schmerz des Gefühls gebietet rasche Rückkehr in die Geleise der Natur, die sich
in dem Schmerze ausspricht, die Grenze ihres Anlassens ist erreicht.
Über diese Grenze hinaus aber liegen Dinge, die sie geradezu verbietet oder
verwehrt. So z. B. das Zusammenklingen von drei halben Tönen dicht neben
einander, das ich naseweis auch wiederholt versucht habe: mit keinen künstlichsten
Mitteln, welche man in vorbereitenden oder begleitenden Tongängen oder Ver¬
bindungen ausklügeln kann, wird es möglich, die drei Töne, die nach einander
ganz wohl und schön klingen können je nach der Umgebung, mit einander er¬
klingen zu lassen, daß daraus nur eine sogenannte Dissonanz würde, dieses
Pfefferkorn an das musikalische Gericht (es giebt auch überpfefferte Musik für
überreizte Gaumen), der Schmerz für das Gefühl ist dabei so grell, für die
Seele so quälend, wie ein versuchtes Zerreiben oder Zermalmen, daß man willig
und froh das Verbot der Natur anerkennt und gut heißt.
Unter das von ihr Verbotene oder Verwehrte muß ich nun aber auch die
einfache Tonleiter in ihrer gewöhnlichen Gestalt rechnen und kann nicht anders.
Das Verbot geht da vom verletzten Rhythmus aus: daß der Grundton, vollends
als befriedigender und zusammenfaffendcr Abschluß eines Torganges, nicht auf
herrschender Stelle in der gegliederten Bewegung stehe, sondern ans einer unter¬
geordneten, dienenden (guter und schlechter Taktteil verhalten sich wie Herr und
Diener), das verbietet oder verwehrt Mutter Natur, und es ist nirgends möglich,
außer etwa wo man Spaß treiben wollte; wie soll es das hier sein können?
Wenn daher der zweite Herr Erwiderer ihr sogar die Ehre anthut, ihr eine
musikalische Individualität zuzuschreiben, so kann ich das schon begreifen aus
langem gemütlichen Umgang damit, aber ein Individuum kann sie doch nicht
sein und nur durch leichte Änderung werden. Ein Individuum ist ein gegliedertes
Naturganze, aber jene Tonleiter ist kein Ganzes, da ihr der rhythmische Kopf
fehlt, und ist nicht gegliedert, da zu der Gliederung nur der Anlauf genommen
ist, der aber vor der Krönung durch den Kopf traurig abbricht, und eben des¬
halb wendet sich die Natur davon ab, es ist Menschenmache aus falschen Schul¬
gedanken kommend, von der Vergleichung mit dem A B C. Man denke sich z. V.
nur bei diesem am Schlüsse das A wiederholt, um den Irrtum in, der Gleich¬
stellung beider zu sehen. Vielleicht ist auch ein dunkler Gedanke an die Zahlen¬
reihe im Spiele: 1 bis 8, wie beim Zählen 1 bis 10, und mein Vorschlag,
die 3 und 5 zu wiederhole», um die Gliederung in den melodischen Stufen oder
Absätzen fühlbar zu machen, kann wohl da wie eine Art Nechnungsbetrug er¬
scheinen.
Die Streitfrage kann aber wohl einen gemütlichen und beruhigenden Ab¬
schluß finden durch eine Antwort, die mir nur auf Umwegen und durch Zu¬
fallsspiel zugekommen ist. Ein Freund von mir fand sie in der betreffenden
Nummer d. Bl., die in seinem Lesekreise umging, meinem grollenden Aufsatze in
aller Stille beigeschrieben. Da hat mit Bleistift einfach dabei gestanden:
Das ist wirklich wie ein El des Columbus. Da ist die ganze Tonleiter da,
und jeder Ton doch nur einmal, daß der Lernende ja nicht getäuscht werde,
und sie hat rhythmische Bewegung bekommen mit kunstgerechten Kopf und Fuß,
durch das kleine Mittelchen, daß das, was am Abschluß dort als Lücke gähnt,
dem ersten Grundton beigelegt ist, sodaß der Grundton oben und unten nun
seiner Würde entsprechend wichtiger und herrschender auftritt und den übrigen
Tongang hübsch in die Mitte nimmt. Mir scheint es, als könnten alle Be¬
teiligten damit zufrieden sein, wenn jeder in der Strenge seiner Forderungen
ein Pflöckchen zurücksteckt, meine beiden Erwiderer von ihren so verschiedenen
Standpunkten aus, meine Wenigkeit und wohl auch — Mutter Natur. Ich
bedaure, dem Tonleiter-Columbus uur auf diesem Umwege und ins Ungewisse
danken zu können.
olches Stillehalten war keine leichte Aufgabe. Täglich steigerte
sich mein Wunsch, ein Scherflein zur Lösung der sozialen Frage
beizutragen, und immer mehr wurde ich von der Überzeugung
durchdrungen, daß meine Lieblingsidee richtig sei und zu ver¬
werten sei.
Meine Erfahrungen erweiterten sich durch meine praktische Armenpflege in
ergiebiger Weise. Ich that Einblicke in Verhältnisse, welche für meine allgemeine
Lebensbeurteilung von großer Bedeutung waren. Dabei gab es viel zu denken,
zu beten, zu schreiben und zu rechnen. Fortwährend befanden sich mein Geist
und mein Körper in der größten Thätigkeit. Im Verkehr mit den Armen
gewannen meine Betrachtungen allmählich eine immer festere Gestaltung. Ich
will versuchen, einige derselben zu Papier zu bringen.
Die Triebfeder des natürlichen Menschen ist der Egoismus. Jeder sucht
das Seine. Hierin liegt die Hauptursache des Elends und Jammers ans Erden.
Diesem Gebahren widersetzt sich das Christentum. Es packt die seufzende Menschheit
in ihrem Kernpunkt, und während es sich bemüht, den Egoismus wie ein Unkraut
auszujäten, sucht es der selbstlosen Liebe Eingang in die Herzen der Menschen
zu verschaffen. Nach christlicher Weltanschauung soll das ganze Leben von
einem strahlenden Mittelpunkte aus durchleuchtet und erfüllt werden — von
der Sonne der Liebe.
Langsam, aber sicher erobert das Christentum die Welt. Nach den Prophe¬
zeiungen sollen im tausendjährigen Reiche Liebe und Friede schon hier ans Erden
zur Herrschaft gelangen; dann wird der alte Drache, der das Seine flicht, ge¬
bunden sein. Wann, dies eintreten wird, wissen wir nicht; daß aber diese Zeit
einmal kommen muß, liegt im Wesen des Christentums selbst begründet. Die
Periode der Glückseligkeit wird anbrechen, sobald aller Menschen Thun und
Lassen ausschließlich von der Liebe beseelt wird.
Die alten Völker erlangten eine Zeit der größten Blüte, dann sanken und
versanken sie. Schwarzseher wähnen, demnächst werde auch das deutsche Volk,
nachdem es jetzt den höchsten Gipfel erreicht habe, seinem Untergange entgegen¬
gehen. Es sind Unken, und ihre Rufe Unkenrufe. Sie ahnen nichts von jenen
ewigen Kräften des Christentums, welche die Völker fortdauernd verjüngen und
immer wieder neue Blüten treiben lassen. O mein geliebtes, deutsches Volk,
vertiefe dich in deinen Glauben, du Volk, das reich an Liebe und Gemüt, so
recht zum Glauben geschaffen ist!
Neben dem Christentume zieht sich durch das Leben der Völker die Ver-
irrung der roten Fahne. Die Farbe weist auf das Blut der Besitzenden hin.
„Von unten nach oben — zwingen und nehmen" heißen die Stichworte der
Sozialdemokratie, während die christliche Weltordnung das Herabsteigen der
Reichen und Großen zu den Armen und Niederen erheischt. Die Sozial¬
demokratie sagt: Du sollst; die freiwillige Liebe spricht: Ich will. Hinter diesem
Liebeswillen steht aber dennoch ein Muß. Die Liebe kann nicht anders; sie
muß durch Geben und Helfen aus sich heraustreten, wenn sie Liebe sein will.
Es ist ein freiwillig erwähltes Müssen. Ist der Glaube das innere Erlebnis
eines Menschen und die Religion der Liebe die seinige geworden, so muß er
Werke der Liebe verrichten. — Dessen war ich mir bewußt.
In gleicher Weise hatte ich aber auch die Notwendigkeit erkannt, daß gerade
von diesen Ideen eine richtige Armenpflegerin beseelt sein müsse. Ich sagte mir,
daß die Schwere des ganzen Berufs eine mächtige Grundlage erfordere, eine
feste innere Überzeugung, nicht aber nur die Aufwallung einiger erregten Augen¬
blicke. Ferner war mir aus eigner Erfahrung klar geworden, daß eine Armen-
Pflegerin auch von Krankenpflege mindestens so viel verstehen müsse, um, wenn
Gefahr im Verzug sei, selbst Hilfe leisten zu können. Die Ansicht, daß es zur
Armenpflege nur einer Portion gesunden Menschenverstandes bedürfe, ist un¬
richtig. Die Armut ist eine soziale Krankheit, welche bald dieser, bald jener
Ursache zuzuschreiben ist und zu deren Heilung in ähnlicher Weise bestimmte Kennt¬
nisse erforderlich sind, wie zur richtigen Behandlung eines körperlichen Leidens.
In diese Zeit stillen Nachdenkens und innerer Betrachtungen fiel das äußere
Ereignis, daß wir unsre bisherige Wohnung verlassen mußten. Unser Direktor,
an welchen die Mutter und ich uns immer vertrauensvoller angeschlossen hatten,
gab aus persönlichen Gründen seine Stellung auf, und gemeinsam mit ihm
mußten wir zu Ostern die Dienstwohnung räumen. Er beabsichtigte, seine
Muße zunächst zur Verwirklichung eines lange gehegten Wunsches zu verwenden
und Holland zu bereisen. Seit Jahren hatte er sich mit Vorliebe für hollän¬
dische Literatur und Kunst interessirt. So ähnlich dem Deutschen und doch so
verschieden! pflegte er auszurufen, wenn die Rede darauf kam.
Beim Abschied waren wir alle drei tief bewegt. Als ich jedoch ein ge¬
wisses Naß aus Mutters Augen und aus denen des lieben Mannes perlen
sah, faßte ich mich schnell und mußte lachen. Weichheitsthränen andrer bringen
mich leicht zum Lachen. Als dies der Direktor bemerkte, streichelte er mir
Scheitel und Schläfe unter dem Ausruf: Du ewiger Frühling, Gott behüte
Sie! Ich glaube, daß ich errötete. Jedenfalls fühlte ich mich dadurch beschämt,
daß er meinen Übermut so gütig aufgefaßt hatte. Dann gingen wir aus¬
einander.
Nach dem Umzüge nahm ich meine unterbrochene Arbeit wieder auf. Fünf¬
undzwanzig Familien hatte ich mit Lebensmitteln und gutem Rat zu versorgen.
Beim Erteilen des letztern vermißte ich oft schmerzlich, daß ich in der Kranken¬
pflege selbst nicht besser geschult war, und daß mir häufig die Kenntnisse über
milde Stiftungen, Freistellen und sonstige Armenvergünstigungen im engern
Vaterlande fehlten. Zusammenstellungen darüber gab es nur bei den Mini¬
sterien, wenigstens vermutete ich das. Jeder Armenpfleger war mithin in die
Notwendigkeit versetzt, mühsam und allmählich aus der Praxis sich selbst zu
unterrichten, und hiervon hing wieder in hohem Maße der Erfolg seiner Wirk¬
samkeit ab. Daß aber niemand darauf verfallen war, seine Erfahrungen im
Interesse der guten Sache und zur Orientirung andrer an einer Zentralstelle,
wenn auch nur handschriftlich, niederzulegen, das entzog sich damals meiner
Beurteilung.
Eine neue Unterbrechung erlitt mein Leben durch eine Reise nach dem
Bodensee. Es würde mir ein großer Genuß sein, bei dieser Reise in der Er¬
innerung etwas zu verweilen; aber ich fürchte, die Aufmerksamkeit des Lesers
zu weit abzulenken. Hätte er mich erst in das Land begleitet, von dem Scheffel
einst sang:
Das Land der Alamannen mit seiner Berge Schnee,
Mit seinem blauen Auge, dem klaren Bodensee,
Mit seinen gelben Haaren, dem Ährenschmuck der Auen,
Recht wie ein deutsches Antlitz ist solches Land zu schauen,
wer weiß, ob er sich dann noch von mir über das soziale Elend und über
berufsmäßige Armenpflegerinnen etwas vorsnmmen ließe. Ich beschränke mich
daher auf die Bemerkung, daß, wo ich gestanden oder verweilt habe, auf der
Maien-An, im Lorettowalde, „uf dem Nil," an den Gräbern von Mesmer und
Annette von Droste-Hülshoff, auf der Dagobertsburg, in Lindau, in Bregenz
und Se. Gallen, sich überall nur die Überzeugung in mir befestigte, daß ich
fortfahren müsse, für meine Idee zu wirken und Anhänger dafür zu werben.
Mit diesem Gedanken kehrte ich in die Heimat zurück und begann von neuem
zu grübeln.
Da ereignete es sich, daß mir für die erste praktische Ausführung meiner
Idee ein kleines Kapital zur Verfügung gestellt wurde. Diese angenehme Über-
raschung ermutigte mich wesentlich. Durch Geld wird das Sicherheitsgefühl
in merkwürdiger Weise erhöht. Dies ist aber unbedingt notwendig, um in einer
Sache handelnd auftreten zu können.
Das mir anvertraute Kapital verpflichtete mich, auf die Ausführung meiner
Idee mit noch größerem Eifer bedacht zu sein. Bisher war ich überall auf
Widerspruch gestoßen. Das Endergebnis der meisten Urteile hatte gelautet,
daß die Idee höchst schätzenswert, aber unausführbar sei. Wenn ich um Be¬
gründung bat, wurde ich vielfach mit Achselzucken abgefertigt. Dies veranlaßte
mich, meinen ganzen Plan zunächst einmal einer namhaften Autorität zur Be¬
urteilung vorzulegen.
Eine glückliche Fügung führte mich zu einem Gelehrten, der als Bahn¬
brecher in der praktischen Staats- und Kameralwissenschaft Weltruf besaß und
damit ein warmes Herz für das Elend und die Leiden der Menschheit verband.
Der große Mann empfing mich aufs freundlichste und besaß die Geduld,
mich wirklich anzuhören. Ich durfte mich gründlich aussprechen, ohne durch
kleine Unzweidentigkeiten ermahnt zu werden, mich kurz zu fassen. Ich hebe
dies mit aufrichtiger Dankbarkeit hervor. Dann wurde mir eine schriftliche
Begutachtung meiner Idee in Aussicht gestellt und die Erlaubnis erteilt, von
dieser im Interesse meiner Sache Gebrauch zu machen.
Das Schreiben, welches ich nach einigen Tagen erhielt, lautete:
Was Sie, gnädiges Fräulein, die Güte hatten, mir von Ihrem Plane aus¬
einanderzusetzen, hat mich in hohem Grade interessirt; und ich trage nach reiflicher
Prüfung kein Bedenken, diesen Plan, wenn ich ihn recht verstanden habe, als einen
durchaus praktischen zu bezeichnen, welcher dem schon bestehenden evangelischen
Diakonisscnwescn nicht den mindesten Eintrag thut, vielmehr eine segensreiche Er¬
gänzung desselben für Gebiete, welche der Dicikonissenaustalt selbst verschlossen sind,
bilden würde.
Sie denken also an „Armenpflegerinncn," die ganz auf derselben evangelischen
Grundlage stehen, wie die Diakonissen, auch in ähnlicher Weise vorgebildet sind,
die sich aber durch eine losere Organisation von den Diakonissen unterscheiden,
indem sie in ihrer Familie bleiben, dafür aber auch von ihrem Berufe keinen
Lebensunterhalt erwarten. Bei der unermeßlichen Größe des „zur Ernte weißen
Feldes" (Evang. Joh. 4, 35; Evang. Luk, 10, 2) ist eine solche Beihilfe im Interesse
der Armen sicher wünschenswert. Ich bezweifle auch nicht, daß es in unsern
wohlhabenderen Familien manche Frauen und viele Jungfrauen giebt, welche das
edle Bedürfnis fühlen, ihren Ueberfluß an Muße durch ernstlich betriebene Armen¬
pflege für sich und andre nützlich zu verwenden, die aber gleichwohl durch Familien¬
gründe verhindert sind, einer Diakonissenanstalt beizutreten. Es wäre im höchsten
Grade bedauerlich, wenn solche schöne Kräfte ganz oder aus Mangel an jeder
amtlichen Organisation halb unbenutzt blieben.
Eine solche Organisation konnte man sich etwa so vorstellen. Die Frau oder
Jungfrau, welche sich am Wohnort ihrer Familie der Armenpflege widmen will,
meldet sich beim Vorstande einer angesehenen Diakonissenanstalt, wird von diesem
geprüft und, wenn sie geeignet befunden ist, der Armenbehörde empfohlen. Sie
erhält dann bei dieser eine ähnliche Anlehnung, wie es eine berufene Diakonisse
haben würde» nur mit dem Unterschiede, daß sie nicht besoldet wird, daß sie darum
aber auch, sowohl in Betreff ihres Wirkungskreises, wie ihrer Kündigungsfrist,
gegenüber der vorgesetzten Armeubehörde und gegenüber der Diakouissennnstalt
freier dasteht. Solche „Armenpflegerinnen" würden, wie ich glaube, an Orten,
wo es keine Diakonissen giebt, einen bortrefflichen Ersatz derselben, vielleicht auch
eine Vorstufe der Einführung von Diakonissen bilden. Sie würden, um auf die
Analogie eines mir näher bekannten Gebietes zu verweisen, für das Diakonissen-
Wesen eine ähnlich heilsame Ergänzung sein, wie die Polikliniken für ein Hospital,
die Privatdozenten für eine Universität.
Die vorhin erwähnte Prüfung der Angemeldeten und die Korrespondenz,
welche für die Wohlbestandeuen mit den Armenbehörden n. s. w. geführt werden
müßte, find nicht ohne (obwohl nur geringfügige) Kosten möglich. Indes würde
schon das beträchtliche Geschenk, welches Sie, gnädiges Fräulein, wenn ich Sie
recht verstanden habe, der in Anspruch genommenen Diakonissenaustalt zudenken,
hierfür eine Zeit laug aufkommen. Und ich bezweifle nicht, wenn Ihre schütte Idee
breiteren Anklang findet, so würden sich auch für die alsdann natürlich wachsenden
Kosten anderweitige, durch Liberalität gewährte Deckungsmittel einstellen: wie ja
eine solche Hoffnung bei wahrhaft guten Werken selten getäuscht wird.
Dies Schreiben machte mich sehr glücklich. Ich empfand eine der reinsten
Freuden, welche das Leben bieten kann. Von ausgezeichnetster Seite war die
mir ans Herz gewachsene Idee einer Prüfung unterzogen und für gut und
praktisch erklärt worden. Von neuem verkehrte ich eifrig mit dem Pfarrer,
unter dessen Leitung ich Armenpflege geübt hatte. Dieser setzte sich mit dankens¬
werter Bereitwilligkeit rin mehreren größeren Diakonissenanstalten und mit einer
Hauptstelle für die innere Mission in Verbindung. Die Ansicht der ersteren
über die Sache war geteilt; einige verwarfen den ganzen Plan von vornherein,
andre erklärten ihn für eine schützenswerte Idee, zu deren Ausführung ihnen
jedoch schlechterdings die Kräfte fehlten. In ähnlicher Weise begründete auch
die Hauptstelle für innere Mission ihre Ablehnung.
So stand ich wieder hilff- und aussichtslos da. Anderseits erstarkte aber
mein Glaube an meine Idee mit jeder Zurückweisung, die mir zu Teil ward,
mehr und mehr.
Plötzlich, nachdem -ich inzwischen wieder vergeblich an verschiedne Thüren
geklopft hatte, fand ich in einem Mitgliede einer städtischen Armenbehörde einen
Beschützer meiner Bestrebungen. Der Mann hatte durch einen Prediger von
der Sache gehört und war für meine Idee in hohem Maße eingenommen.
Nachdem ich ihn über alle meine bisherigen Bemühungen gründlich unterrichtet
hatte, verhieß er, den ganzen Plan den städtischen Behörden warm zu em¬
pfehlen. Gleichzeitig fragte er mich, ob ich eintretenden Falls mich bereit finden
lassen würde, persönlich die Errichtung und Leitung einer Jnstrultionsschule für
Armenpflegerinnen zu übernehmen. Ich bejahte dies.
Jahrelang hatte ich mich in Geduld gefügt. Nun aber, obgleich ich hoffte,
meine Idee in kürzester Zeit verwirklicht zu sehen, regte mich das Warten derart
auf, daß ich mir Gewalt anthun mußte, um die Ruhe zu bewahren, welche Ge¬
wissen und Erziehung mir geboten.
In dieser Weise verflossen wieder Monate, und sehnsüchtig harrte ich von
Tag zu Tag auf eine Berufung. Ich begriff nicht, meshalb die Entscheidung
der Behörde so lange auf sich warten ließe; fehlte mir doch damals noch jedes
Verständnis für büreaukratische Behandlung einer Sache.
Eines Tages hörte ich draußen sprechen. Ich erkannte schon die tiefe
Baßstimme und lief mit dem Rufe: Herr Direktor, Herr Direktor! in die Vor¬
halle. Wie es möglich war, weiß ich heute noch nicht; als aber die Mutter
gleichfalls dem alten Freunde entgegeneilte, hielt er mich mit seinen Armen
umfangen. Sein Herz war mit ihm durchgegangen.
Er und ich, wir erschraken beide, während die Mutter gar nichts so Un¬
geheuerliches darin zu erblicken schien. Ihr Erstaunen begann erst am Tage
darauf, als der Direktor um meine Hand anhielt. Hierauf war die Mutter
nicht vorbereitet. Sie überließ vollständig mir die Entscheidung.
Ich erklärte dem Manne, der mich heiß und aufrichtig liebte, daß ich bereit
sei, ihm vertrauensvoll die Hand zu reichen, falls ich in nächster Zeit nicht
eine Berufung Vonseiten der städtischen Behörde zu erwarten habe; er solle nur
gütigst selbst über den Stand der Sache Erkundigungen einziehen.
Infolgedessen setzte sich der Direktor mit meinem Gönner in der städtischen
Armeubehörde in Verbindung. Letzterer erklärte, daß noch Jahre vergehen
könnten, bis man sich überhaupt über die Prinzipienfrage würde geeinigt haben,
ob weibliche Personen in der öffentlichen Armenpflege zu verwenden seien oder
nicht. Bevor dies aber feststehe, entziehe sich die Art und Weise der Aus¬
bildung der Armenpflegerinnen selbstverständlich jeglicher Erörterung. Hierdurch
wurden meine Gewissensskrupel vollständig gehoben, und ich gab dem Direktor
mein Jawort.
Einige Tage später bemächtigte sich aber meiner eine gewisse Unruhe.
Mein Verlobter bemerkte es wohl, war aber zu zartfühlend, mich zu erforschen.
Mich quälte die Frage, wer zukünftig für meine Idee Propaganda machen
würde. Bald verfiel ich auf diesen, bald auf jenen, aber ich fand niemand,
dem ich volles und aufrichtiges Vertrauen hätte schenken mögen.
Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Konnte ein Mensch
meine Idee besser und schöner zu der seinigen machen, als mein geliebter zu¬
künftiger Eheherr? Und zwar umsomehr, als er aus vollster Seele mit meinen
sozialen Anschauungen übereinstimmte?
So ist es denn auch gekommen, und ihm verdanke ich zunächst die An¬
regung und Vermittlung zur Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen.
Zum Schluß sei es mir nur noch vergönnt, einer Überzeugung Ausdruck
zu leihen, die sich durch meine Erfahrungen zu großer Bestimmtheit in mir ge¬
festigt hat: die evangelische Kirche in ihrer bisherigen Entwicklung gebietet
/
nicht über Kräfte, welche weltlichen, berufsmäßigen Armenpflegerinnen (im
Gegensatz zu Diakonissen) Anleitung und dauernde Anlehnung gewähren könnten,
und städtische Behörden sind wegen der überall sich gleichbleibenden Besonder¬
heit ihres Geschäftsganges keine geeigneten Organe, um die Tausende von ge¬
bundenen, zur segensreichsten Wirksamkeit befähigten weiblichen Kräfte frei zu
machen und in ihren Diensten zu verwenden. Da bleibt denn nichts andres
übrig, als den Staat in dem Sinne zu Hilfe zu rufen, daß für die Zukunft
bei Abfassung von Synodalordnungen, sowie bei Erteilung von Direktiven an
städtische Armenbehörden auf die Verwertung freiwilliger weiblicher Kräfte von
ihm Rücksicht genommen werde. Mit diesem Wunsche schließe ich meine Er¬
innerungen.
Von schriftstellernden Damen muß sich die Welt viel
gefallen lassen, aber malende Damen scheinen uns noch mehr bieten zu wollen.
Alles was bisher nach männlichen Begriffen in dem Zwischengebiete zwischen den
unverrückbaren Gesetzen der Moral und den ans den Lebensregeln des gebildeten
menschlichen Zusammenlebens stammenden Gewohnheiten Rechtens war, stellt der
Fall Schmidt von Preuschen auf den Kopf. Daß dabei der Tod, der lateinisch
eine Frau ist, mit einem männlichen Beiworte zusammengekoppelt wird und in
dieser seltsamen Verbindung durch die Zeitungen läuft, nimmt uns weiter nicht
mehr Wunder; denn jede Dame hat einen unüberwindlichen Haß gegen die pedan¬
tischen Vorschriften der Grammatik, und daß die Tagespresse an irgend welchem
Unsinn, der ihr mit dem nötigen Selbstvertrauen aufgetischt wird, Kritik üben
sollte, wird heutzutage schwerlich noch jemand erwarten.*)
Frau Schmidt geb. von Preuschen war bisher als Malerin von Stillleben und
Blumenstücken bekannt; vor einiger Zeit wandte sie sich höheren Zielen zu und
malte einen Tod als Kaiser. Die Aufnahme-Jury der Berliner Kunstausstellung
weist das Bild zurück. So weit ist die Sache außerordentlich einfach: wie un¬
zähligen bedeutenden und unbedeutenden Malern ist dergleichen Mißgeschick begegnet!
Was thut aber ein Mann dabei? Er schimpft vielleicht über die Richter, klagt sie
der Voreingenommenheit u. s. w. an, ist einige Wochen oder Monate lang trübe
gestimmt, endlich aber beruhigt er sich und fängt ein neues Bild an, von dein er
hofft, daß es ihm mehr Beifall eintragen werde.
Ganz anders die Künstlerin. Das erste ist, daß sie nach Berlin reist und
auf ein müßiges Gerede hin, wonach nur der Gegenstand des Bildes den Grund
der Zurückweisung bilden soll, dem Präsidenten der Akademie zu Leibe geht. Was
soll der Unglückliche thun? Erzürnte und besonders in ihrem Künstlerstolze be¬
leidigte Damen sind furchtbar und werden von der schwachen Männerwelt gern
möglichst zart angefaßt. Er wird ihr also, um die Pille zu versüßen, zu verstehen
gegeben haben, der Gegenstand des Gemäldes sei die Ursache der Zurückweisung.
Daraus entnimmt die Künstlerin die beruhigende Gewißheit, daß das Bild vor¬
trefflich gemalt und nur in seiner Tendenz mißverstanden sei.
Was hätte nun ein Mann gethan? Die Frage, ob er die Verzuckerung der
Abweisungspille für baare Münze genommen hätte, lassen wir beiseite; gesetzt,
er hätte es wirklich gethan, so wäre er nach Hanse gegangen, hätte sich darüber
geärgert, in seinem Streben, etwas recht „Sensationelles" zu malen, einen so
unpassenden Vorwurf gewählt zu habe», hätte vielleicht auch über die Jury ge¬
schimpft, aber — er hätte deu Gegenstand einer Privatuuterredung nicht durch die
Zeitungen gezerrt, um für sich und die künftige Privatausstellnng seines Bildes
Reklame zu machen.
Ganz anders die Malerin. Erstens wird dem Unglück, von dem die künftige»
Besucher der Ausstellung betroffen werden sollen, die denkbar größte Verbreitung ge¬
geben, und zweitens schreibt Frau Schmidt geb. von Preuschen an den deutscheu Kaiser!
Etwas ärgeres ist wirklich kaum denkbar. Die Entscheidung des Kaisers in einer
Sache anzurufen, die erstens so unbedeutend ist wie nur denkbar, von der das Ober¬
haupt des Reiches keine Kenntnis hatte, und über die ihn zu informiren sich Fran
von Preuschen — in ihrer eignen Sache — herausnahm!
Dank dem unendlichen Wohlwollen des Monarchen erreichte sie ihren Zweck;
der Jury wurde die Weisung, der Gegenstand sei für deu Kaiser kein Grund zum
Anstoß. Selbstverständlich mischte er sich sonst nicht in die Sache.
Bei dem Zeitungslärm, der nun wieder anfing, indem die Malerin möglichst
Viel Kapital aus dem kaiserlichen Bescheide zu schlagen versuchte, konnte die Jury
nicht mehr schweigen, und der Telegraph meldete am 6. August: „Gegenüber der
von den Blättern veröffentlichen Erklärung der Malerin Schmidt von Preuschen
wegen Ablehnung ihres Gemäldes Nors Imperator vou der Ausstellung teilt der
Präsident der Akademie, Becker, das Votum der Ausstellungskommission mit, also
lautend: »Nicht der Stoff an und für sich, sondern der unkünstlcrische Ausdruck
eiues schiefen Gedankens ist der Grund der Ablehnung.«" Dieses einstimmig ab¬
gegebene Urteil sei dem Kaiser berichtet worden.
Bis jetzt sind die Mitglieder der Jury für Ehrenmänner gehalten worden,
die ihr schweres Amt gewissenhaft verwalten; dieser Gedanke kommt aber der
Malerin ebenso wenig in den Sinu, wie der, daß der Mensch sich manchmal ein
kompetentes Urteil über seine Leistungen gefallen lassen muß. Erstens nämlich
sagt sie in ihrer, wie die Nationalzcitung sagt, „ruhig und sachlich gehaltenen"
Erklärung, unterzeichnet „im August 1887," kaltblütig: „Trotz dieser Allerhöchsten
Kundgebung hat die Jury auf der Zurückweisung des Bildes beharre» zu sollen
geglaubt, und zwar nicht mehr aus dem anfänglich mir uuter andern als einzigen
angegebenen Ablchnungsgruud, souderu, wie nunmehr verlautet, aus dem neuent¬
deckten Grund „unkünstlerischcr Behandlung eines nnküustlerischen Gegenstandes" —
mit andern Worten, sie wirft der Jury vor, die Unwahrheit gesagt zu haben.
Zweitens behauptet sie, sie müsse gegenüber dem neuen, angeblich mit künstlerischen
Mo.tiven belegten Verdikt der Jury, das geeignet sei, ihre künstlerische Ehre zu
verletzen, entschiedene Verwahrung einlegen.
Damit sollte man glauben, sei die Sache zu Ende — denn die „künstlerische
Ehre" kann man wohl auf sich beruhen lassen —, aber nein, die Hauptsache kommt
noch; denn der Schlußsatz der „ruhig und sachlich gehaltenen" Erklärung lautet:
„Es handelt sich hier nicht, wie ich ohne Unbescheidenheit Wohl sagen darf, um die
Arbeit eines namenlose» Anfängers, und daher hätte die Jury füglich das Urteil
über den künstlerischen Wert meines Bildes der Kritik der Presse und des Publi¬
kums überlassen können. Ich werfe getrost meinen künstlerischen Ruf gegen das
Urteil der Jury in die Wagschale! Für eine demnächst zu erfolgende Separat-
cmsstellnng Von Nors Imperator rufe ich das gesunde Urteil des Publikums zum
Richter auf in meiner ehrlichen Sache!"
Dies ist wohl das Ungeheuerlichste, was selbst eine weibliche Feder jemals
geschrieben hat. Die Jury, welche die geschworene Pflicht hat, unvollkommene
Bilder zurückzuweisen, soll füglich die Kritik über den Kaiser Tod — so weit sich
eine so unsinnige Benennung überhaupt übersetzen läßt — der Kritik der Presse
und des Publikums überlassen!
Doch es ist unnütz, näher auf diesen Gedankengang einzugehen; der Zweck
liegt ja auf der Hand. Das Bild wird privatim ausgestellt, das gute Publikum
strömt massenweise hin, und ein Kunstwerk, welches in der Ausstellung wahrschein¬
lich kaum angesehen worden wäre, gewährt der bisherigen Schöpferin von Still¬
leben und Blumenstücken den Ruf einer großen Geschichtsmaleriu. Wer klug ist,
bleibt zu Hause.
Zu deu obigen Bemerkungen wird uns von unserm geschätzten Mitarbeiter
Herrn Dr. Adolf Rosenberg in Berlin noch folgendes geschrieben: „Nach den Ver¬
sicherungen der mit dem Vertriebe der Zeitungsinserate beauftragten Agenten ist die
Ausstellung des Bildes, die übrigeus in einem Teppichbazar stattfindet, in den ersten
beiden Tagen »von weit über tausend Personen« besucht worden. Da überdies die
Photographie des Bildes in den Schaufenstern der Kunst- und Buchhandlungen zu
sehen ist, dürfte der Neugier und Sensationslust des Publikums genügt sein. Die
Folge ist: überall Kopfschütteln und Enttäuschung! Auch der Laie sieht die groben
Verstöße gegen Perspektive und Zeichnung, die namentlich an dem von der Estrade
herabstürzenden Thronsessel und an dem Knochengerüst des Todes auffalle», und
findet das Urteil der Jury, die sich auch auf die technischen Mängel des Bildes
berufen hat, nur gerechtfertigt. Die malerische Durchführung übersteigt nicht das
Durchschnittsmaß, welches ähnliche Dekorationsstücke der Ausstellung kennzeichnet.
Die Dame ist nur das Opfer einer starken Selbsttäuschung geworden, indem sie
einer sehr unfruchtbaren Arbeit eine Bedeutung beigelegt hat, welche ihr vollkommen
abgeht. Schlimmer ist, daß sie sich zur Begründung einer neuen Gattung der
Malerei, des »historischen Stilllebens,« berufen glaubt, ohne zu bemerken, daß diese
Bezeichnung widersinnig ist. Was sie selbst unter »historischem Stillleben« versteht,
ist ein Allegorie, ein Spiel mit Symbolen und Emblemen, welches an den schlech¬
testen Geschmack des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts erinnert und nur
mit einem neuen koloristischen Mäntelchen behängt worden ist. Dieses Urteil wird
manchem hart und ungnlaut erscheinen; aber es ist notwendig, einen entstehenden
Unsinn im Keime zu ersticken, ehe er um sich greift und gedankenlose Nachahmer
findet." ____
In unsrer letzten Besprechung der neuen Ausgabe
von Büchmanus Geflügelten Worten war unter den vermißten auch das in Leipzig
Viel gebrauchte Wort angeführt: I^ixsiu. vult sxxöotg.ri — zu Deutsch: Leipzig läßt
gern auf sich warten, oder freier angewendet: In Leipzig muß man Geduld haben,
da geht alles etwas langsam. Zugleich war bemerkt, daß über die Entstehung
dieses Wortes bisher nicht das geringste bekannt geworden sei.
Der in der vorliegenden Nummer abgedruckte Aufsatz von Pope über die
Verfassung des deutschen Reiches im vorigen Jahrhundert bringt unerwartet die
richtige Erklärung des Wortes. Wenn es wahr ist, daß man im siebzehnten und
achtzehnten Jahrhundert von dem schleppenden Geschäftsgange des Reichshofratcs sagte:
ViormÄ vult oxpoct^ri — und dies wird sich ja wohl nachweisen lassen —, dann
liegt in diesem Spruche unzweifelhaft nur eine in Juristenkreisen vorgenommene
Übertragung von Leipzig auf Wien vor. Von Leipzig ist das Wort zuerst ge¬
braucht worden. Leipzig hatte im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert einen
städtischen Schöppenstuhl, der in Mitteldeutschland ein vielbefragtes Rechtsvrakel war.
Durch die lange Verschleppung der ihm zum Verspruch eingesandten Rechtsfragen
wurde aber dieser Schöppenstuhl im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts so berüchtigt,
daß Kurfürst August wegen der vielfachen Klagen, die darüber laut geworden waren,
endlich im Jahre 1574 eingriff, den städtischen Schöppenstuhl aufhob und durch
einen kurfürstlichen ersetzte. Von den jahrelang ausbleibenden Urtcln dieses städtischen
Leipziger Schöppenstuhles hat mau zuerst gesagt: lavsis, vult oxvvetlcri.
Der Verfasser hat sich durch seine Werke über die Anfänge des Rechtes und
der Gesetzgebung bekannt gemacht, und ist als Mitglied des indischen Rates auch
praktischer Staatsmann gewesen. Die hier zusammengestellten vier Abhandlungen,
die ursprünglich im yuartorlv lisvimv erschienen, setzen ein englisches Publikum
voraus, enthalten aber in ihren Ergebnissen vieles, was sie auch dem unsern als
beachtenswert empfehlen läßt. Unter volkstümlicher Regierung begreift der Verfasser
die Demokratie in ihren verschiednen Gestalten, und seine Schrift besteht in einer
Untersuchung des Wesens und Wirkens derselben nach den Gesetzen und Erfahrungen
des Völkerlebens, mit denen er wohlvertraut ist, und aus denen er nüchtern und
ruhig seine Schlüsse zieht. Der erste Abschnitt handelt von den Aussichten der
volkstümlichen Regierungsweise und zeigt, daß Regierungen dieser Art stets auf
sehr schwachen Füßen gestanden haben. Der zweite betrachtet das Wesen der
Demokratie und giebt einige Gründe an, nach denen man erkennt, daß die äußerste
Form, zu der sie hinneigt, von allen Arten zu regieren die meisten Schwierigkeiten
bietet. Der dritte, „Das Zeitalter des Fortschritts" überschrieben, kommt zu dem
Schlüsse, daß ein fortwährender Wechsel, wie ihn in der Gegenwart viele ver¬
langen, mit deu normalen Kräften, welche das menschliche Dasein beherrschen, nicht
übereinstimmt, und daß die volkstümliche Regierung, vorzüglich, wenn sie sich rein
demokratisch gestaltet, der größten politischen Weisheit bedarf, wenn sie den Staat
nicht ins Unheil stürzen soll. So scheint dem Verfasser vieles gegen ihren Erfolg
und ihre Dauer zu sprechen, aber er meint schließlich doch hoffen zu dürfen, es
Iverde dem menschlichen Verstände möglich sein, Mittel gegen die Fehler der Demo¬
kratie zu ersinnen, und um dies zu beweisen, betrachtet er im letzten Abschnitte die
Verfassung der Vereinigten Staaten, in welcher er das Problem wenigstens an¬
nähernd gelöst findet. Es ist hier nicht der Ort, die Gründe auseinanderzusetzen,
ans denen wir ihm hierin nicht beipflichten können. Desto mehr können wir uns
viele andre von seinen Urteilen aneignen.
Wieder einmal einer jener historischen Romane, die gleich in der Vorrede un¬
befangen einräumen, daß der poetische Zweck in ihnen das untergeordnete, neben¬
sächliche sei. „Ein längerer Aufenthalt in Genf — erläutert der Verfasser — gab
mir Gelegenheit, an der Universitätsbibliothek einen Einblick in die Akten zu thun,
welche den berühmten Prozeß des spanischen Arztes Michael Scrvetus behandeln.
Je mehr ich mich in dieselben vertiefte, desto mehr wuchs meine Teilnahme, desto
mehr der Wunsch, die sehr wenig bekannten, höchst interessanten begleitenden That¬
sachen in die Öffentlichkeit zu bringen und häufig verbreitetet: falschen Anschauungen
damit entgegenzutreten. Die bloßen Aktenstücke dem Druck zu übergeben, wäre
nicht zweckentsprechend. Nur wenige würden sich entschließen, diese trockene Speise
zu versuchen; deshalb habe ich die Geschichte des Spaniers in die Form einer
Erzählung gekleidet, die manches Beiwerk enthält, in der Hauptsache aber ans voller,
ccktenmäßig verbürgter Wahrheit beruht." Wollte man kurz sein und hätte der
Verfasser nicht schon durch deu Ernst, mit dem er die Sache anfaßt, durch die klare
Darstellung einen Anspruch auf mehr erworben, so könnte man sagen, daß alle
Kritik seines Zeitbildes (das er freilich nicht ausdrücklich als „Roman" bezeichnet,
wie viele andre gethan haben würden) schon in seiner Vorrede liegt. Unumwundener
kann der außerpoctische Zweck einer Erzählung nicht zugestanden werden, als es
durch Herrn Andrae geschieht, und so ist denn die alte Frage anch hier wieder
angeregt, welchen Sinn und Zweck es hat, die poetische Form für eine Arbeit zu
wähle», welche „die dnmaligeu Verhältnisse, die Lage der Parteien verdeutlichen,
Recht und Unrecht auf beiden Seiten kiarlegen soll" — alles Absichten, die ganz
gewiß gut, klar, lebensvoll, selbst farbig in einer rein historischen Darstellung auch
ausgeführt und erreicht werden können. Die Antwort dürfte wie immer lauten,
daß eine Erzählung denn doch noch mehr Leser habe als der vortrefflichste historische
Versuch, und wir können das nicht widerlegen, lediglich beklagen. Denn eben da¬
durch erhält sich jene Zwittergattuug, welche den wahren, nach jeder Seite hin voll¬
berechtigter historischen Roman mit in Verruf bringt, welche die Anschauungen des
Publikums und anch eines Teiles der Kritik fortgesetzt verwirrt, welche die wunder¬
liche Vorstellung, als ob es ein besondres Verdienst sei, historische Kenntnisse durch
Romane zu verbreiten, bei Schriftstellern und Lesern immer aufs neue wachruft.
Keine Kraft ist nutzloser verbraucht als die, welche an solches Zwitterwerk und
-Wesen gesetzt wird. Und doch geschieht es immer von neuem, nnr weil sich die
Vorstellung als unausrottbar erweist, daß es dem großen Publikum ein für allemal
uicht gefallen werde, von historischen Vorgängen in einfacher, rein historischer
Form Kenntnis zu nehmen.
Nur in diesem Sinne kann auch der Verfasser des „Martyriums in Genf"
davon sprechen, daß sein Stoff unbekannt sei. Allen denen, welche die Geschichte
des sechzehnten Jahrhunderts mehr als oberflächlich kennen, ist er leider nnr zu
bekannt. Die Leiden des spanischen Arztes Servet, den Jean Calvin, der Re¬
formator Genfs, bei langsamen Feuer verbrennen ließ, gehören zu den schwärzesten
Schatten, welche über das Bild des großen Reformators fallen, der Name Miguel
Servet erklingt, wo katholische Historiker und Kritiker den Vorwurf blutiger und
erbarmungsloser Unduldsamkeit vou ihrer Kirche ans die evangelische herüberznwälzen
suchen, an Servets Geschichte haben schon einzelne Dichter angeknüpft, welche den
Kampf zwischen Calvins herbem Rigorismus und den natürlichen Lebensregungen
darzustellen unternahmen. Die Darstellung der Vorgänge, durch welche Servet
auf deu Scheiterhaufen geführt wurde, hat ihre besondern Schwierigkeiten. Wenn
es einen Stoff giebt, der die Belebung und Beleuchtung durch unsre Empfindungen
und Gesinnungen nicht verträgt, so ist es der Kampf zwischen Servet und Calvin.
Es sind in diesem ganzen Stück Geschichte beinahe keine von denjenigen Fäden vor¬
handen, welche unser Innenleben mit dem vergangner Tage verknüpfen. In diesem
Prozeß erscheint uns schlechthin alles starr, dumpf, ohne einen Hauch menschlichen
Gefühls; die Ueberhebung des Mannes, der selbst im Kampfe wider die alte
Kirche steht und einen in diesem Kampfe von ihm abweichenden aus der Welt
hiuwegtilgt, macht uns das Blut gerinnen. Bestenfalls können wir uns in die
Verhältnisse und den Widerstreit der Empfindungen zurückversetzen, können uns ans
den Aktenstücken der Zeit belehren, wie unselig sich die Dinge damals verkettet
hatten und wie weit der Verfasser des Buches vo Luristmnisini Institution« durch
ein unseliges dämonisches Selbstvertrauen sein grausames Schicksal heraufbeschworen
hat. Wir vermöchten allenfalls auch dichterisch klar zu machen, daß die Refor¬
matoren des sechzehnten Jahrhunderts gerade darum so fanatisch und unbarmherzig
gegen Schwarmgeister und skeptische Sektirer ciuftrateu, weil sie selbst einen ge¬
heimen Stachel empfanden, sich mit blutendem Herzen der Zerstörung des Glaubens
und der Kirche Christi angeklagt hörten. Aber viel würde die mögliche poetische
Belebung dieser Seite der Sache auch nicht helfen; gegenüber den brutalen Mi߬
handlungen, die Servet im Genfer Kerker erfuhr, gegenüber dem Scheiterhaufen,
zu dem man absichtlich feuchtgrüncs Holz verwendete, um die Qual des armen
Zweiflers zu verlängern, wallt doch ein Gefühl leidenschaftlichen Mitleids und
zornigen Abscheus in uns auf, und alle Berufung auf den Geist und die Härte der
Zeit, „das starre Formenwesen derselben," wie Herr Andrae sagt, erweist sich als nutzlos.
Ohne darum behaupten zu wollen, daß eine poetische Behandlung dieser Vor¬
gänge, die schließlich licht und versöhnend wirkte oder die wenigstens ebenso tiefes
Mitleid mit Calvin einflößte als mit seinem Opfer, geradezu zu den Unmöglich¬
keiten gehöre, würde doch eine Dichterkraft ersten Ranges dazu gehören, um uns
die Zeit, die Männer, die Stimmungen, rin die es sich handelt, die Zustände,
welche auf Entschließungen und Empfindungen derselben einwirkten, einigermaßen
nahe zu bringen. Von außen her und ohne Verwandlung des historisch Ueber¬
lieferten in Fleisch und Blut, ohne innerste Belebung der Prozeßakten geht es
nicht. Der Verfasser hat eiuen glücklichen Gedanken gehabt, er giebt Servet einen
Schüler an die Seite, welcher demselben persönlich treu bleibt, aber sich von seinen
„Irrtümern" über die heilige Dreieinigkeit gleichfalls abwendet. In dessen Seele
hinein könnten alle innern Erlebnisse verlegt werden, um welche es sich hier handelt,
aus dessen Seele heraus vermöchten wir vielleicht den wahren lebendigen Anteil
an den Vorgängen zu gewinnen, denen wir jetzt zwar nicht anteilslos, aber mit
einer Mischung von Grauen und Abscheu gegenüberstehen. Der Verfasser ist
darauf nicht nnsgegangcn — er hat offenbar geglaubt, daß ein Stück Rcforniations-
geschichte an sich, eines vou denen dazu, in welchem sich das Gewoge und der
Fanatismus der Geister und Parteien so deutlich malt, ein Vorgang, bei dem sich
obenein Gottes unerforschliches Walten kundgiebt — „denn die Verbrennung des
Scrvetus hat es uicht gehindert, daß das junge Scuueukorn der Reformation stets
reicher und voller emporblühte" — an sich genügen müsse, Interesse zu erregen. Der
Einzelne kann für den weitverbreiteten Irrtum nicht besonders verantwortlich ge¬
macht werden. Gewiß bleibt, daß mit Büchern wie diesem „Martyrium in Genf"
weder dem Geschichtssinn gedient wird (denn wer von Servet, seinem Leben und
Ende erst durch die Erzählung Kenntnis erhält und sich mit dieser Kenntnis be¬
gnügt, der wird kaum für gut unterrichtet gelten können), noch dem Bedürfnis nach
poetischem Genuß Befriedigung wird (denn die Erzählung wandelt sich nicht in jenes
warme und unmittelbare Leben, das uns unwiderstehlich in seine Kreise hineineinzieht).
Bücher wie dies, das übrigens in gutem Deutsch geschrieben und in seiner Weise
durchaus achtbar ist, rufen immer wieder Kämpfer gegen das Lebeusrecht einer ganzen
Kunstgattung, gegen das Recht des historischen Romans, in die Schranken. An
ihnen wird zu erweisen versucht, daß der historische Roman nicht sein könne, was er
sein muß: in erster Linie eine Dichtung. Der Fehler liegt aber offenbar nicht in der
Gattung, sondern in dem falschen Begriff, den Schriftsteller und Leser vou der Gat¬
tung mitbringen. Wenn, wie es hier geschehen ist, von vornherein ans die Arbeit des
Dichters verzichtet wird, so kann natürlich auch keine rein dichterische Wirkung eintreten.
Ans dem Titel steht auch uoch „zweite Auflage"-, aber darauf legt man ja
bei einem neuen Opus kein Gewicht mehr, seit es allgemein bekannt ist, wie heut¬
zutage nicht selten zwei und mehr Auflagen zugleich das Licht der Welt erblicken,
oder wie man umgekehrt ein älteres Opus ohne weiteres mit einem neuen Um¬
schlage bekleidet. Die vorliegende Erzählung könnte selbst mit der zwanzigsten Auf¬
lage zu glänzen suchen, sie würde doch kein besonderes ästhetisches Wohlgefallen
erzeugen. Der Held ist ein Schuster, Leonhnrd Labesam genannt. Er hantiert mit
Pech und hat auch in seinem Leben allerhand Pech. Dagegen wäre nichts ein¬
zuwenden, wenn er nur uicht gar so ein Alltngsmensch wäre, und wenn sein
Lcbenspech das Interesse des Lesers fcstznkleben vermochte. Leonhard hat einmal
in seiner Jugend Talent und Lust zum Studium verspürt. Allein Vater und
Mutter und die „schlechten Zeiten" waren dagegen, und so blieb der Ast beim
Baume, Leonhard beim Vater auf dem „Schnstcrthrone." Es dauert nicht lange,
so stirbt die Mutter, sozusagen „plötzlich." Der junge Schuster trauert sehr, der
alte noch mehr; denn Seraphine (so ist ihr Name) war eine sehr brave, aber mich
eine tapfere Frau gewesen, welche gern das große Messer geführt hatte. Der
Vater bringt den Verdruß uicht mehr aus dem Leibe und beginnt ihn im Wirts¬
haus mit Wein und Bier zu ertränken. Das scheint allmählich zu gelingen, hat
aber natürlich „angeheiterte Zustände" im Gefolge, und in einem solchen fällt er
einmal in einen Bach, stirbt daselbst ebenfalls plötzlich und folgt so seiner schönen
Hälfte aus dieser bald zu trocknen, bald zu nassen Welt in ein besseres Jenseits nach.
Man sieht: das ist ebenso erhaben wie erbaulich. Hier sollte in der Erzählung ein
Kapitel schließen. Allein wozu eine Einteilung in Kapitel, in Bücher oder der¬
gleichen, wozu eine Gliederung des Stoffes? Hören wir weiter.
Den Verlust des Vaters erträgt der Sohn viel leichter als den der Mutter.
Das kaun man ihm nicht übel nehmen; denn erstens hat der Vater nichts mehr
arbeiten mögen, sondern nur vom kargen Schusterverdienste des Sohnes weggegessen
und abgetrunken; alsdann fühlt Leonhard, obwohl erst achtzehnjährig, um diese
Zeit eine trostsame Liebesneigung in seinein Herzen keimen. CM heißt sie, die
er sich, oder richtiger, die ihn gleich bei der ersten Rede, welche sie selbander thun,
mit einem Kusse erkoren hat. Sie passen recht gut zusammen: sie ist lang und
er nicht kurz; sie ist dünn wie eine „Hopfenstange" und wird daher gemeiniglich
der „lange Stecken" zubenannt, wie sie selbst dem Geliebten zögernd mitteilt; er
ist nicht dicker und hat eiuen „Buckel," über den die Leute lachen. Beide nahen:
sie mit Zwirn und er mit Schusterdraht; beide meiden die Leute, sind gern allein,
aber noch lieber zu zweien. Beide sind auch sonst ein Herz und eine Seele, und
so zwei wie die zwei müssen natürlich einander heiraten. Da die tugendsame CM
dem einsamen Leonhard zuvor schon einige Zeit das Hauswesen geführt hat, so
ist es immerhin erklärlich, wenn auch nicht gerade erbaulich, daß sie bereits einen
„Prinzen" (so nennt ihn der entzückte Vater) als „Brautschatz" mit in die Ehe bringt.
Es ist nur so aus „Dummheit" geschehen, läßt der Verfasser später seinen Helden sagen.
Aber das Kind stirbt rasch, und die Mutter hinterher langsam. Der Nähr¬
vater ist wieder allein. Und da ihm auch ein reicher Nachbar in der Schufterei
Fabrikkonknrrenz macht, erinnert er sich an die Wanderlust seiner Jugend, die er
jetzt befriedigen kann, und macht sich alsbald auf die Socken. Von wo er weg
reist und wohin er reist, erfahren wir nicht; allein der Leser braucht ja nicht neu¬
gierig zu sein, und für den Verfasser ist es ohne Zweifel bequem, wenn er sich die
Lvkalfarben ersparen kann. Auf der Reise bettelt Leonhard uicht, arbeitet auch
uicht, hat aber doch zu esse«: wenn das Brot ausgeht, stehen gleich Haselnüsse da,
die er verspeisen kann und die ihn sättigen; alsdann hat er das Glück, ein Wirts¬
haus zu finden, wo „Milch und Wein" ausgeschenkt wird und eine junge Wirtin
ihn ohne weiteres mit Milch und Brot, mit einer wunderschönen Fernsicht und
ihrer Lebensgeschichte traktirt, überdies ihm noch einen guten Rat erteilt, wie er
fttrderhin ein neues Leben und ersprießliche Thätigkeit entfalten könne: zwei
Stunden entfernt wohne eine Schusterswitwe; sie sei ohne Erwerb, doch wären die
„Kundschaften" für ihn in ausreichender Anzahl vorhanden. Sie Schusterin, er
Schuster; sie Witwe, er Witwer: da liegt natürlich wieder nichts näher, als daß
sie sich „gegenseitig zu gefallen thun und zusammen wirtschaften." Gesagt, gethan.
Da sie bereits in Jahren, kommt auch dem genügsamen Labesam nie ein Gedanke,
welcher über die Wirtschafter!» hinaufginge, und so lebt er in friedsamer Schuster¬
thätigkeit fort bis zu seinem Greisenalter. Da stirbt wieder die Hausgenossin
Plötzlich, und Labesam ist wieder allein. Er fühlt, daß seine Hände alt und „zittrig,"
aber seine Füße noch gut und kräftig sind; darum fällt ihm jetzt ein: „Muß es
denn das Schustern sein? ich will noch wandern." Er steigt nnn von dem Berg¬
land in die Ebene und wird da Schäfer: „So hab' ich mir geholfen, und die
Schafe sind's zufrieden," sagt Leonhard, um sich selbst über diesen plötzlichen
Staudeswechsel zu beruhigen. Auch daran darf sich der Leser nicht stoßen, daß in
jenem Jrgendheim die Menschen ans den Bergen und die Schafe in der Ebene
wohnen. Warum auch nicht? In der Ebene kann Leonhard den Schafen viel
leichter nachkommen als im Geschröfe, und das ist ausreichender Grund genug, daß
es so und nicht anders ist.
Also hütet Leonhard in der Ebene von Jrgendheim die Schafe und hat keine
andre Not, als daß ihm nach einander die guten Zähne ausfallen. Doch auch
gegen dieses Uebel ist in der allheilenden Natur Linderung geboten: kann er
Hartes nicht mehr beißen, so ist er Weiches. An Stelle der trauten Cilli und der
guten alten Witwe findet Leonhard einen neuen Lebensgefährten an einem lieben
Hündlein namens „Pintsch." Dieser war „nicht bissig, denn er war alt und hatte
gleichfalls keine Zähne mehr." Die beiden lebten noch eine Zeit laug vergnügt und
fröhlich beisammen, bis Leonhard eines schönen Herbstabends sanft entschlief.
Mit der Geburt Leonhcirds hat die erste Seite des Buches begonnen, mit dem
Tode desselben schließt die letzte. Die Erzählung zeigt, wie wenig ein gesund an¬
gelegter Mensch braucht, um glücklich und zufrieden zu sein: der arme Schuster
Labesmn redet sich allen Ernstes ein, daß er „der Welt den Nahm abschöpfe."
Aber zu einer kunstmäßigen Ausführung dieses trefflichen Grundgedankens finden
sich nur vereinzelte Anläufe. Von sittlichen Konflikten, die geschlichtet werden, von
psychologischen Problemen, die gestellt und gelöst werden müßten, von einer äußeren
und inneren Motivirung der Handlung scheint der Verfasser kaum eine Ahnung
zu haben: Skizze reiht sich an Skizze, wie in einem Guckkasten; einzelne davon
sind hübsch entworfen, andre aber machen entschieden mehr einen komischen oder
parodistischen Eindruck, obgleich es dem Verfasser damit schrecklich crust gewesen ist.
Wo Labesam über die Dinge in sich oder außer sich nachzudenken sucht, entpuppt
er sich als Salonschuster — die Bezeichnung in dem Sinne genommen, welchen
Desrcggers Salontiroler in Umlauf gebracht hat.
Wahrscheinlich soll diese Erzählung als eine Frucht der neuesten „realistischen
Kunstanschauung" gelten; „realistisch" nennt man sie, aber die einzelnen Bestand¬
teile sind banal, ihre Zusainmenwnrfelung phantastisch.
In einem warm empfundenen Sonett ist dieses Gedicht dem Meister der
Novelle in Versen, Paul Heyse, zugeeignet:
Errötend trat ich ein in deine Sphäre,
Ein unbcratner Pilger, scheu beklommen;
Du aber hießest gütig mich willkommen,
Als ob die Sehnsucht schon Erfüllung wäre.
Heysesche Anmut in der Führung der Handlung, verbunden mit spielend leichter
Herrschaft über die schwierige Form der Ottavs rims und einer nicht gewöhnlichen
Tiefe der sittlichen Weltanschauung zeichnet die Dichtung aus. Romantik und
Realismus sind geistreich vereinigt, im Ton des Vortrages die Art Byrons in
seinem „Don Juan," durch allerlei Seitensprünge und Glossen den Leser zu spannen
und zu necken, glücklich nachgeahmt; und zuweilen sind die Seitenhiebe auf das
Leben und die Literatur der Gegenwart witziger als die Handlung selbst. Der
Dichter stellt seinen Helden selbst, nachdem er die der Moderomane an uns hat
vorüber ziehen lassen, in folgender Weise vor:
Mein Held ist alles, und mein Held ist nichts. Ich wast' ihn aus dem weitverzweigten Orden
Der Weltcubummler, die durch's Leben schlendern,
Als wär's ein Boulevard zum Stundenmorden,
Ein Mnskenscherz, ein Spiel mit Lievespsiindern,
Die an des Meeres flutumrauschteu Borden,
Im Hochgebirg, in allen Wunderländern
Niemals entgehn trotz redlichem Versuch
Der Langenweile fürchterlichem Fluch.
Gaston heißt dieser Held. Er ist seines Zeichens Architekt und ist bei einer Preis¬
konkurrenz durchgefallen. Darüber weltschmerzlich gestimmt, hat er die Kunst an
den Nagel gehängt und müßig Europa und Amerika durchbummelt, ohne Befriedigung
zu finden. In Heidelberg, „wo auf schroffem Fels sich zeigt, ein Greuel stilge¬
rechten Sinnen, der Plumpe Backsteinbau des Schlvßhotels," an der Table d'böte
lernt er die adliche Witwe Konstanze kennen: die gefährliche Frau von dreißig
Jahren, die noch immer mädchenhaft schön und anziehend ist und doch von des
Lebens Ernst gekostet hat. Sie ist in der glücklichen Lage, von dem Joch einer
verhaßten Vernunftehe befreit aufzuatmen. Sofort ist Gaston in die schöne Witwe
verliebt. Allein seine voreilige Liebeserklärung stimmt sie ironisch; lachend erteilt
sie seinen Werbungen. „Was haben Sie gethan, mich zu erringen?" fragt sie
spöttisch und stolz, und stellt als Preis ihrer Hand dem müßigen Weltschmerzler
die Bedingung:
Froh dürfen Sie und ehrlich
Nach meiner Hand an jenem Tage trachten,
An dem Sie Ihre erste That vollbrachten.
Nun stürzt sich Gaston ins volle Leben, um die erlösende und gewinnende „That"
zu vollbringen. Er geht nach Berlin, und wir machen mit ihm eine stürmische
Wahlversammlung mit, bei der er enttäuscht wird. Schließlich, nach mancherlei
Versuchen, erkennt er die Wahrheit, welche die Wittwe selbst kaum geahnt haben
mag: daß „Thaten lebendig aus dem Innern quellen" müssen. Der Zufall ver¬
hilft ihm endlich zu einer solchen: Gaston rettet, ein neuer Tempelherr, ein Mädchen
aus brennendem Hause. Allein nun liebt er Gertrud, diese Liebe macht ihn wieder
künstlerisch produktiv, die schöne Witwe hat inzwischen ihren ersten, dem Willen der
Eltern geopferten Geliebten, den Maler Berenger, wiedergefunden und geheiratet.
Daß diese so hübsch entworfene Handlung schließlich doch mit den anfänglich be¬
spöttelten konventionellen Motiven weitergeführt wird, auch die Klippen der Senti¬
mentalität nicht ganz umschifft, und in der Charakteristik der wenigen Figuren nicht
viel über die geistreiche Abstraktion hinauskommt — soll nicht geleugnet werden.
Aber der Autor ist jung, zeichnet sich durch literarischen Geschmack aus, und darum
verdient sein Streben Aufmunterung.
Man kann hundert gegen eins wetten, daß sich hinter diesem „Kurt Delbrück"
eine Dame verbirgt. Diese Geschichte kann nur eine Frau geschrieben haben.
Harmlos in der Erfindung und Darstellung, mädchenhaft im Empfinden, zugeschnitten
für den Geschmack und Horizont der reiferen weiblichen Jugend, und doch keines¬
wegs ganz der Poesie des kleinbürgerlichen Alltagslebens entbehrend, weil es in
seiner beschränkten Sphäre spiegelklar und wahr angeschaut und wiedergegeben ist,
säuberlich, sogar auffallend säuberlich in der äußeren Sprachform, die ängstlich jeden
Hiatus vermeidet — so stellt sich dies Gedicht unzweifelhaft als Frauenarbeit dar.
Wir wollen sie keineswegs gering schätzen, erkennen vielmehr bereitwillig die Be¬
gabung dieses verdächtigen „Kurt Delbrück" an, der ganz das Zeug in sich hätte,
die Lücke der seligen Marlitt mit Anstand auszufüllen; ja wir stehen nicht an zu
sagen, daß uns diese in den Grenzen der Häuslichkeit verharrende Individualität
sympathischer ist; sie ist ein Beweis sür die Gesundheit unsers kleinbürgerlichen
Lebens, trotz aller störenden Bewegungen der Zeit. Nur halten wir es nicht für
ein Zeichen guten Geschmacks, Urteile, sei es noch so angesehener Männer, über
die Dichtung, die ihnen im Manuskript vorlag, derselben als Motto vorzudruckcn,
wie es hier geschehen ist. Das erinnert an die bischöflichen Erlaubnisscheine zur
Drucklegung von Werken, wie sie katholische Geistliche brauchen und in früheren
Zeiten ihren Büchern vordruckten. Gegen das wohlwollende Urteil selbst haben wir
nichts einzuwenden.
icht jeder berühmte Gelehrte ist „populär," d. h. der großen
Masse bekannt; ja nach den Beispielen, die wir selbst erleben, kann
man sogar behaupten, daß die „Popularität" eines Gelehrten
meistens mit seiner Wissenschaft nicht zusammenhängt und daß
die Wissenschaft durch die Popularität nicht selten leidet. In den
Tagen des Göttinger Uuiversitätsjubiläums ist von Professor Weber weniger
als Erfinder des Telegraphen, mehr als gesinnungstreuen Staatsmann gesprochen
worden, der zu den sieben von Ernst August wegen ihrer Verfassungstreue ge-
maßregelten Göttinger Dozenten gehörte. Chevreuil ist in Frankreich erst po¬
pulär geworden, als man sein hundertjähriges Geburtstngsfest zu einer öffent¬
lichen Feier benutzte. Dem Berliner Fortschrittswühler ist Virchow nicht sowohl
wegen seiner Cellularpathologie als wegen seiner Phrasen und Tiraden auf Ti-
voli und im Parlament der berühmte Gelehrte, und sein Hauptverdienst wird
vou der gedankenlosen großen Menge nach den Reden geschätzt, die er gegen
den Reichskanzler gehalten hat; selbst die vielen nicht eingetroffenen Prophe¬
zeiungen auf dem ihm fremden Gebiete der hohen Politik sind nicht imstande
gewesen, seine Berühmtheit als Staatsmann in den Augen der Fortschritts¬
wähler herabzusetzen. Daß das gleiche sssnus Qoniwum, Mommsen als popu¬
lären Historiker feiert, rührt sicherlich uicht daher, daß seine Wühler seine Ver¬
dienste um die Herausgabe der römischen Inschriften und seine Auffassung von
der römischen Geschichte kannten; seine Leidenschaftlichkeit als oppositioneller
Abgeordneter — eine Eigenschaft, die gerade dem Historiker fern bleiben sollte —
hat Mommsen in der Presse und in den Versammlungen fortschrittlicher Wähler
zum Geistesheros gestempelt. In den Zeiten des Antisemitismus wurde es
Mommsen nachgesehen, daß er die Juden als ein zersetzendes Element im Volke
bezeichnet hatte. Bei seinen Beleidigungen gegen den Reichskanzler Pries man
seine vom Heroenkultus freie Gesinnung und vergaß seinen Dithyrambus auf Cäsar.
Ganz anders Ranke; er hat sich niemals in die Arena begeben, um den Beifall
des süßen Pöbels zu erringen, und so kam es, daß der größte Historiker, den
Deutschland besessen hat, der Menge unbekannt blieb. Während für Virchow
und Mommsen lärmende politische Demonstrationen in Szene gesetzt wurden,
blieb Ranke Jahrzehnte lang von seinen Mitbürgern unbeachtet. Seine Lehren
und seine Schriften wirkten nur auf den großen Kreis seiner Schüler und auf
den kleinern der Gebildeten in der Nation, welche ebenso Belehrung wie Genuß
aus der vornehmen Objektivität schöpften, die für Rankes Arbeiten charakte¬
ristisch ist.
Ranke hat sich zwar nicht immer von der Tagespolitik fern gehalten, aber
sein Eintreten war wiederum nur das des Gelehrten, der innerhalb seines eignen
Feldes und allein mit den ihm eignen Waffen der wissenschaftlichen Überzeugung
seine Meinung darlegt. Diese bisher nicht völlig bekannte Thätigkeit Rankes
ist jetzt in dankenswerter Weise in dem von Alfred Dove herausgegebenen (bei
Duncker und Humblot) erschienenen Bande nachgelassener Schriften: Zur Ge¬
schichte Deutschlands und Frankreichs im neunzehnten Jahrhundert
im Zusammenhang der Öffentlichkeit übergeben worden.
Der größte Teil des Inhalts dieses Bandes war allerdings schon bekannt.
Diejenigen Aufsätze, welche sich auf die deutsch-französischen Verhältnisse be¬
ziehen, sind in den beiden Bänden der von Ranke 1832 bis 1836 heraus¬
gegebene» „Historisch-Politischen Zeitschrift" erschienen. Damals war die Absicht
der Mittelpartei, durch Herausgabe einer solchen Zeitschrift in allgemeinen Auf¬
sätze» klärend und belehrend für die von rechts und links bekämpfte preußische
Politik einzutreten. Von beiden Seiten wurde diese Zeitschrift heftig angegriffen,
und es zeigte sich nur zu bald, daß die vornehme Höhe, auf der sie sich hielt,
keine populäre Wirkung äußern konnte. Es zeigte sich aber auch, daß Ranke
selbst nicht der Mann war, um in die Tagespolitik herunterzusteigen; die von
ihm der Zeitschrift überlieferten Aufsätze sind wesentlich historische und betreffen
die äußern politischen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, für welche damals
bei dem Drange nach einer Lösung der innern Verfassungsfragen nach dem be¬
liebten französischen Muster nicht viel Anklang zu finden war.
Auch der zweite Teil des Bandes, welcher den Briefwechsel Friedrich
Wilhelms IV. mit Bunsen betrifft, ist schon 1873 veröffentlicht worden und
sollte als Vorstudie zu den: Leben des vielgeprüften Königs dienen.
Zum erstenmale dagegen werden hier acht politische Denkschriften aus den
Jahren 1848 bis 1851 veröffentlicht, welche für Friedrich Wilhelm IV. bestimmt
und an dessen Flügeladjutanten, den nachmaligen Statthalter in Elsaß-Loth¬
ringen, Freiherrn von Manteuffel, gerichtet waren. Diese Denkschriften beziehen
sich sowohl auf die innere Verfassungsfrage Preußens wie insbesondre auf sein
Verhältnis zu dem nach Einheit ringenden Deutschland. Mit ihnen berührt
Ranke die brennendsten Fragen der Tagespolitik, aber auch hier zeigt sich der
Meister, der von dem geschichtlichen Boden aus nicht zögert, seine Meinung
über die Gestaltung der politischen Dinge von ebenso großer Tragweite als
Verantwortlichkeit abzugeben. Nach beiden Richtungen zieht sich ein Grund¬
gedanke durch alle diese Schriften; das preußische Königtum und die preußische
Armee sind die Grundpfeiler jeder Neuordnung in Preußen wie in seinen Be¬
ziehungen zu Deutschland. Ranke rät dazu, daß Preußen eine Verfassung er¬
halte, aber er will, daß das Königtum wie bisher in Preußen das Ureigne,
Unabgeleitete und Ursprüngliche bleibe und nicht auf dem Boden der Volks-
souverünität umgewandelt werde. Mit einem Schlagwort wird dieses moderne
auf der Volkssouveränität beruhende Königtum gekennzeichnet; es ist eine „Un-
ehrlichkeit." Da es auf dem Volkswillen beruht, so macht es alle Schwankungen
desselben durch. Es ist eine „Unwahrheit," denn dieses moderne Konstitntions-
wesen hat eine natürliche republikanische Tendenz und behält das Königtum nur
als den Notbehelf bei, unter dessen Deckmantel die Parteien abwechselnd den
Staat bequemer regieren können. Wenn man die Verhältnisse in den romanische»
Staaten seit den Tagen betrachtet, wo Ranke diesem Gedanken Ausdruck gab,
so wird man von der Nichtigkeit desselben betroffen werden. Man wird aber
noch mehr die staatsmännische Weisheit des Mannes bewundern, wenn man sich
in die Erinnerung zurückruft, daß sein Programm von der selbständigen Stellung
des Königtums innerhalb des Verfassungsrahmens in schweren Zeiten vom
Kaiser Wilhelm und seinem mutigen Minister Bismarck verwirklicht worden ist.
Noch die Botschaft, in welcher den Bestrebungen der Fortschrittspartei gegenüber
König Wilhelm hervorhebt, daß in Preußen der Herrscher auch thatsächlich
regiert und seinen Willen zur Geltung bringt, hat diesem Rankeschen Stand¬
punkte volle Anerkennung widerfahren lassen.
Eine weitere höchst interessante Beleuchtung erhält die soziale Frage in
diesen Ncuckcschen Denkschriften. Der große Geschichtsforscher weiß, daß die
Masse» eigentlich nur von den Führern zu deren eignen politischen Zwecken
gemißbraucht werden. Er hat nicht nötig, um die Stimmen der Wähler zu
werben, und darf deshalb mit der ihm eigentümlichen Offenheit aussprechen,
daß die Massen glücklicherweise kein politisches, sondern nur ein soziales
Interesse, die Erleichterung ihres Zustandes haben, wodurch ihr Lebensunterhalt
gesichert werde. Dieses Interesse hielt Ranke für ein durchaus berechtigtes,
zumal in Preußen wegen der allgemeinen Dienstpflicht. Hier kommt Ranke
zu dem bemerkenswerten Satz: „Wer mit seinem Leben dem Staat dient, hat
auch für seinen Unterhalt ein Anrecht an denselben." Aus diesem Gedanken
folgert er dann weiter, „daß der Staat unter gewissen Bedingungen, nament¬
lich mit Wahrung der privaten Thätigkeit, die Arbeit organistren und viel-
leicht das Recht auf Arbeit anerkennen sollte." Es ist in der That staunens¬
wert und mehr als Zufall, daß sich auch auf dem schwierigsten Gebiete der
sozialen Frage Deutschlands -größter Historiker und größter Staatsmann be¬
gegnen, daß ihren Gedanken sogar dasselbe Schlagwort „Recht auf Arbeit"
entspringt. Freilich geht Ranke nicht näher auf diesen inhaltreichen Satz
ein. Die „Negulnrisiruug der Thätigkeit der Handarbeiter" hat er noch
nicht völlig durchdacht; er spricht nur von einer Organisirung der dienstpflich¬
tigen Arbeiter in Friedenszeiten bei öffentlichen Bauten u. dergl. Aber sein
Gedanke enthält das großartige sozialpolitische Programm, welches der Reichs¬
kanzler in eine Wirklichkeit gebracht hat, wie sie Ranke kaum in seinen kühnsten
Erwartungen für möglich gehalten hat.
Auch Rankes Ansicht über die deutsche Frage ist eine ganz besondre und
eine solche, wie sie sich nachträglich verwirklicht hat. Es sind nicht billige
Prophezeiungen, die g, 1a Virchow ebenso kühn ausgesprochen werden, als sie
nicht eintreffen. Es ist die Überzeugung des prüfenden Historikers, der die Auf¬
gabe Preußens begriffen hat. In jener Zeit, wo die Reaktion des Jahres 1851
in dein Anschluß an Österreich das einzige Heil Deutschlands sieht, ist es
Ranke, der eine solche Verbindung bekämpft; in seiner Ansicht über den Aus¬
schluß vou Österreich und über die Unterordnung der kleinen deutschen Fürsten
unter preußischen Oberbefehl begegnet sich wiederum Ranke mit der Politik Wis¬
marers am Bundestage.
Es würde zu weit führen, hier die einzelnen Stationen zu beleuchten, die
Ranke bei den wechselnden Phasen der preußischen Politik durchmachte, um
seinem Könige die erbetene Beleuchtung der politischen Verhältnisse zu geben.
Es ist aber herzerfreuend, aus seinen Denkschriften zu sehen, wie er nicht einen
Augenblick den preußischen Beruf in Deutschland verkannt, nicht einen Augen¬
blick die unveräußerlichen Rechte Preußens dem Drange der Verhältnisse ge¬
opfert hat.
Diese Denkschriften bilden einen lebendigen Kommentar zu einer Äußerung
des Reichskanzlers, die er den Erben Rankes gegenüber gethan hat. Wenn er
nach dem Tode des großen Historikers den Söhnen desselben schrieb: „Ich
bin mit Ihrem Herrn Vater aufs innigste verbunden gewesen durch die Ge¬
meinsamkeit der politischen Gesiminngen," so erhält dieser Ausspruch durch die
jetzt veröffentlichten Denkschriften eine bisher nicht bekannte Grundlage.
Für uns aber ist es eine ganz besondre Genugthuung, diese Übereinstim¬
mung zwischen dem größten Geschichtschreiber und dem größten Staatsmanne,
die das deutsche Volk besessen hat, auch urkundlich bestätigt zu sehen. Diese Genug¬
thuung ist umso größer, je seltener in der Geschichte und der Politik Theorie und
Praxis sich begegnen. Hat Alexander der Große den Achill beneidet, weil er in
Homer den Herold seiner Thaten gefunden hatte, so darf Fürst Bismarck Be¬
friedigung empfinden, daß das, was er für Preußen und Deutschland, für die
soziale Frage und die Neuordnung der Erwerbsverhältnisse gethan hat, sich in
Übereinstimmung mit den geschichtlichen Grundlagen befindet, wie sie in objektiver
Würdigung von Ranke erkannt worden sind.
le Aufgabe, über die Bedeutung des Religiousuuterrichts in den
oberen Klassen des Gymnasiums zu sprechen, ist, wenn doch eine
bestimmte Klasscngrenze festzustellen ist, dahin z» verstehen, daß
dieser Unterricht in seiner Bedeutung für die Klassen von Ober-
sekunda an ins Auge zu fassen ist. Bis zur Untersekunda ein¬
schließlich ist die Bedeutung des Religionsunterrichts für das Gymnasium die¬
selbe, wie in allen Schulen ohne Ausnahme, wenigstens im wesentlichen, nämlich
die Einpflanzung der elementaren Grundlehren der christlichen Religion in die
Seele der heranwachsenden, kirchlich noch unmündigen Glieder der Gemeinde.
Dieser Unterricht erhält mit der Konfirmation seinen Abschluß. In unsern
Gymnasien geht aber der Religionsunterricht fort, und so ist es von selbst ver¬
ständlich, daß er entsprechend dem höheren Bilduugsstande der oberen Klassen
sich in seinem Unterrichtsstoffe erweitere und nach seiner Methode vertiefe.
Wie diese Erweiterung und Vertiefung stattzufinden habe, das ist als eine Frage
von technisch-schulmäßiger Art für die vorliegende Betrachtung auszuschließen;
hier handelt es sich nur um die Bedeutung eines solchen erweiterten und ver¬
tieften Unterrichts.
Da liegt denn nun die Frage so: Hat der Religionsunterricht in den
höheren Klassen des Gymnasiums eine Bedeutung, und welche hat er? Denn
es sind auch Stimmen genug dahin laut geworden, daß dieser Unterricht ohne
Bedeutung für das Gymnasium und darum als überflüssig zu betrachten sei.
Also, hat er eine Bedeutung, und welche? Und da kommen wir freilich, um
das gleich im Anfange zu sagen, zu einem ganz andern Ergebnis, als die
Gegner dieses Unterrichts.
Denn wenn es wahr ist, was Goethe einmal sagte, daß Frömmigkeit zu
allen Zeiten das Mittel gewesen sei, um durch die reinste Gemütsruhe zur
höchsten Kultur zu gelangen, und wenn wiederum die Religionslehre keinen
andern letzten Zweck haben kann als den, Frömmigkeit, d. h. Sinn für das
Ewige im Zeitlichen zu erzengen, so ist es keine Frage, daß keine andre Di¬
sziplin, zumal heutzutage, eine größere Bedeutung beanspruchen darf als die
Religionslehre. Denn nächst den Zeiten, welche dem Auftreten des Christen¬
tums unmittelbar vorausgingen, hat es keine Zeit wieder gegeben, die so darauf
angelegt gewesen wäre, den Menschen nicht zur „reinen Gemütsruhe" kommen
zu lassen, wie die unsre. Der Grund hiervon ist das Unfertige der mo¬
dernen Verhältnisse, denen das Unfertige unsrer modernen Anschauungen
entspricht.
Dieser Charakter des Unfertigen, der einerseits die Möglichkeit neuen Wachs¬
tums und damit neuer Lebensfülle in sich birgt, anderseits aber viel wirkliches
Unheil in sich schließt, viel bereits verbreitet hat und noch viel verbreiten wird
darum, weil die heutigen Menschen im ganzen sich keine Zeit nehmen, oft auch
uicht nehmen können, im Betrachten wie im Handeln zur Reife zu kommen,
dieser Charakter des Unfertigen, des Nichtgegohrenseins und Nichtausgähren-
lasseus findet seine heilsame Gegenwirkung in der Religionswissenschaft und
Religionslehre.
Wenn, soweit vom Christentum die Rede ist, zu allen Zeiten das Ver¬
hältnis der Religion zum Leben ein und dasselbe gewesen ist, nämlich daß der
Mensch das Licht des Lebens habe, wenn weiter dieses Licht des Lebens er-
fahrungsmäßig bis auf diesen Tag nur der Abglanz einer Gerechtigkeit, einer
6ex«tot7t)i^ ist, die ihre Vollendung in der historischen Erscheinung Christi zeigt,
eine religiöse Bollendnng, die, wiederum erfahrungsmäßig, bis jetzt nicht
übertroffen worden ist und denkbar anch nicht übertroffen werden kann, wenn
endlich in der religiösen Erleuchtung und Stärkung, die von ihm als dem
Mittelpunkte der Geister ausgeht, ebenfalls erfahrungsmäßig jene „reinste Ge¬
mütsruhe" möglich ist gegenüber einer falschen Gemütsruhe, der Apathie und
Gleichgiltigkeit, also, wenn in der christlichen Welt das Verhältnis der Religion
zum Leben zu allen Zeiten ein und dasselbe gewesen ist — das Verhältnis der
Religionswissenschaft und damit der Religionslehre ist nach dem Inhalte des
verschiedenen Zeitalters, dem „Zeitgeist," ein stets verschiedenes.
Dieser Zeitgeist selbst ist heutzutage das Suchen, der Zeitcharakter, wie
gesagt, das Unfertige, das Unreife und Unruhige. Und wie das Gemüt dieser
Welt, so ist ihre Spekulation. Der theoretische Ausdruck dieser unfertigen
Spekulation ist der Materialismus, eine so unfertige Theorie, daß sie, diese
materialistische, diese sogenannte moderne Weltanschauung eigentlich gar keine
Theorie ist, also auch kein Ausdruck eines bestimmten Geistes sein kann. Ja
der Materialismus verzichtet selbst auf alle Theorie, er stellt sich, als hätte er
die Theorie überhaupt überwunden. Aber dieses Verzichten ist doch nur, wie
es im Altertum bei den Skeptikern war, ein Mangel der Spekulation selbst,
der den Mangel des Geistes schlecht verdeckt. Warum, wenn der Materialismus
keine Theorie braucht, warum sucht er noch nach einem Prinzip? Freilich, so
lange er dieses, sein eignes Prinzip, noch nicht gefunden hat, so lange thut er
gut, die Theorie selbst zu verneinen. Und dieses Prinzip hat er bis jetzt nicht
gefunden. Er hat lauter Fragezeichen dafür, keine einzige Antwort auf die
für ihn doch wichtigsten, weil, wofür sie ihm doch gelten, letzten Fragen nach
den Begriffen von Kraft, Stoff, Atom, auf die Frage nach den elementaren
Bestandteilen der Welt, nach dem Begriff der Bewegung, ja nach dem der
Materie selbst. Der Materialismus kann wohl sagen: das und das und das
ist Materie, aber sagen, was die Materie ist, das kann er nicht. Auch für ihn
ist das ein Rätsel. Nur weiß er das nicht, und das unterscheidet den Mate¬
rialismus, diese falsche Spekulation, von der echten, der wahrhaft philosophischen,
die gegenüber den Rätseln der Welt das Bekenntnis des Sokrates hat, wodurch
er sich von den Sophisten zu unterscheiden behauptete, c-l<5«> or«, 066^ «16«,
ich weiß, daß ich nichts weiß.
Ist nun diese moderne und, wie sie sich besonders seit Haeckels Auftreten
gern nennt, diese monistische Weltanschauung auf den untersten Stufen schon
unfertig, so sehr, daß nicht einmal in den allerersten Elementen der Erkenntnis
eine Übereinstimmung stattfindet, wie wird's erst, sobald sie sich zu höheren
Fragen versteigt, wenn sie hinantritt an den Schöpfer des organischen Lebens,
wenn sie eine Erklärung sucht für die in lebendiger Mannichfciltigkeit dahin¬
fließende und doch immer sich stetig gleichbleibende Kette der Erscheinungen?
Wie, wenn sie von der doch untergeordneten Frage nach der Art der Zusammen¬
setzung der Körper aus Elementen sich zu der Frage verliert nach der bestän¬
digen Thätigkeit, welche in der organischen Materie wirkt, mit Zweckmäßigkeit
und nach Gesetzen eines vernünftigen Planes wirkt, kurz, wenn sie, diese mo¬
derne, materialistische und monistische Weltanschauung, den eigentlich organischen
Begriff, den Zweckbegriff sucht? Da ist der heutige Materialismus so ratlos,
wie er immer gewesen ist (denn neu ist er nicht, sondern sehr alt); er ist so
ratlos, daß er das alles, den Begriff der wirkenden Thätigkeit, den der be¬
wußten Zweckmäßigkeit, ja den des Organischen selbst lieber für ein Phantom,
für eine Gespenstererscheinuug ausgiebt, alle wahre Wissenschaft allein in das
Mikroskop und in das Messer verlegt und vor lauter Analyse keine einzige
Synthese mehr besitzt, ja daß ihm die letzte Synthese, der Begriff des Lebens
selbst, etwas, weil von ihm Unbegriffenes, darum Zufälliges ist, d. h. etwas
Verstandloses. Bei dem Verstandlosen aber anzukommen, dazu bedarf es keiner
Kunst; man braucht nur alles zu analysiren und die Synthese, als wäre sie
nichts, liege» zu lasten. Das nennt dann diese sogenannte exakte Wissen¬
schaft „mikroskopisch denken." Dieses Denken ist aber Negiren des Lebens,
der Tod:
Du hast die Teile in der Hand,
Fehlt leider nur das geistige Band.
Nun ist darüber wohl bei allen Sachkundigen kein Streit, daß es die Auf¬
gabe des Gymnasiums in dieser Zeit ist, das „geistige Band" in der Hand zu
behalten, die Synthese und gegenüber dem mikroskopischen Denken dasjenige
Denken zu Pflegen, das, wie Hermann Lotze sagt, Rechenschaft zu geben sucht
von einer Welt der Werte und des Guten. Nicht als ob damit Abstand ge¬
nommen werden sollte von der Betrachtung der natürlichen Weltordnung, von
dem nachzuweisenden Zusammenhang in ihr und den Gesetzen, nach welchen die
Kette der sich bedingenden Ereignisse sich bildet, aber indem das Gymnasium
die einseitige Kenntnis des Natnrzusammenhanges, selbst wenn sie, was doch die
Schule nicht kann, in umfassender Weise geboten werden könnte, als nur frag¬
mentarisch und darum für eine harmonische Ausbildung als mangelhaft be¬
trachtet, hält es dies vielmehr als sein schönes Erbe fest, die Erkenntnis zu
fördern, daß „der göttliche Gedanke, der die Gestaltungsformen der Welt wirkt,
in unauflöslicher Verkettung mit dem Reiche der Wertbestimmungen und des
Guten steht." Für das humanistische Gymnasium wird die Frage: was die
allgemeinen Gesetze des Naturlaufes sind, immer mit der höheren zugleich zu
stellen sein, wie diese natürlichen Gesetze mit der auch sie wirkenden sittlichen
Weltordnung, dem göttlichen Gedanken, zusammenhängen, und in welcher Be¬
ziehung sie zu dem ewig Wertvollen, dem Guten und Schönen stehen. Die
Gesetze dieses Reiches des ewig Wertvollen, d. h. das Gesetz der Freiheit gegen¬
über dem Gesetze der Notwendigkeit, das Gesetz des Geistes gegenüber dem Gesetze
der Natur in die denkende Betrachtung zu erheben und damit zum freien Besitze
einer edeln, über das Gemeine und den Stumpfsinn alles bloß Irdischen hin¬
ausgehobenen Persönlichkeit zu machen, das ist vorzugsweise die Aufgabe des
humanistischen Gymnasiums, wenn wir diese Aufgabe prinzipiell, also vom philo¬
sophischen Gesichtspunkte aus, erfassen. Ein solches sittliches Denken setzt Goethe
dem mikroskopischen gegenüber und nennt es das plastische.
Dieses plastische Denken nun finden wir zunächst in allen bedeutenden Er¬
zeugnissen des antiken Geistes. Darum lesen wir im Gymnasium die Klassiker
und bestimmen sie zum Hauptmittel aller freien Menschenbildung, aller liberalen
Erziehung, zum Bildner des morio lidsralitoi' säucaiiäus, ganz allein darum,
weil in den Produkten ihrer Bildung die Plastik des sittlichen Geistes in mensch¬
lich vollendeten Formen auftritt. Hier wirkt diese sittliche Plastik, wie sie be¬
sonders bei den Griechen zum Ausdruck kommt, ordnend, müßigend, reinigend,
befreiend. Und zwar ist es nicht der sittliche Gedanke allein, dem die reinigende
und befreiende Macht zukommt, es sind diese bestimmten in klarer Größe und
maßvoller Schönheit sich gebenden Persönlichkeiten, diese schönen, reinen Menschen¬
kunstwerke, deren eigenster Abdruck nur die durch ihren Meißel oder ihr Wort
geschaffenen Kunstwerke sind.
Aber es ist doch nur die eine Seite echten, wahren Menschentums, diese
Ausbildung zu freier Humanität, die den Geist ans seinen eignen Tiefen herauf-
zieht, ihn vom Drucke und der Dienstbarkeit dunkler Leidenschaft befreit und
den Menschen sich selber giebt, es ist das nur die eine Seite der Erziehung
und Bildung zu höchster Kultur, und falsch ist es, wie es so oft geschieht, sie
in dieser Einseitigkeit fest zu halten.
Denn alles, was den Menschen befreit, ohne ihn zugleich an eine höhere
Welt zu knüpfen und damit zugleich weltfrei, d. h. erst wahrhaft frei zu machen,
mit andern Worten, alles, was den Menschen nicht zugleich heiligt, kann ihm
verderblich werden und wird es oft. Von diesem Gesichtspunkte aus aufgefaßt
und ouro. MMo 8g,1is verstanden, ist das Paradoxon des alten Kirchenvaters
Augustinus richtig, daß die Tugenden der Heiden glänzende Laster sind, und
die alte Kulturwelt mußte in ihrem eignen Ruin zusammenstürzen, weil diese
Kultur nur eine menschliche war, ohne die befruchtenden Kräfte einer höheren
Welt. Das wolle man ja nicht vergessen. Diese rein menschliche Kultur der
Alten hatte in sich selbst keinen festen Stützpunkt und hatte auch in ihren
edelsten Geistern, in Sophokles wie in Plato, in Seneca wie in Taeitus, das
Gefühl davon. Je mehr sie fortschritt, desto mehr zehrte sie sich auf in Sehn¬
sucht und Verlangen nach einem solchen Stützpunkte, im Verlangen nach einer
andern Welt. Dieser Prozeß geht von Plato an und endigt mit Plotin. Zu¬
letzt verzweifelt der Geist an sich selbst, findet nur in dem Heraustreten aus sich,
in der Ekstase, die Wahrheit und sucht damit sein andres, die Befruchtung von
einer andern Welt.
Und diese befruchtenden Kräfte einer andern Welt, diese Geburt aus dem
neuen Geiste, die Geburt vou oben, ist gekommen und kommt fort und fort
mit der Verkündigung des Gottesreiches. Darum ist uns der Träger dieses
Reiches der Ewiggesegnete und Ewigsegnende. „Ist jemand in Christo, sagt
der Apostel, so ist er eine neue Kreatur"; und das Jvhannesevangelium giebt
der Bedeutung dieser in der Geschichte einzigartigen Persönlichkeit Christi ihren
wahren Ausdruck, wenn es ihn das Wort sagen läßt: „Ich bin der Weg, die
Wahrheit und das Leben." Er ist es, und er bleibt es. Denn wir alle, die
in seine Gemeinschaft getreten sind, wir haben keinen beliebigen Weg durch diese
Welt, wenn wir nicht verderben wollen, mögen wir es zugestehen oder nicht,
sondern nur den einen Weg nach oben, d. h. den engen Weg, den opferreichen,
den ardens- und dornenvollen, den Kreuzes- und Leidensweg, und doch den
einzig schon hier beglückenden und beseligenden. Auf ihm hat Christus selbst,
man mag seine Persönlichkeit nehmen, wie man will, er hat auf ihm die Welt
überwunden, auf dem Wege des Opfers, nicht auf dem der Selbstsucht, d. h.
der Leidenschaft und Gier, der Sucht nach Herrschaft und Lust. Nach diesem
Wege schaut der Sozialismus aus, der wohl auch schon sich hie und da in
Parallele mit der ersten Christenheit gestellt hat und eine neue Ordnung der
Gesellschaft bringen zu können vermeint, wie jene sie einst brachte. Er ist
dazu aber nicht imstande, weil er das Opfer, das Gebet und die Arbeit miß-
achtet. Denn auch das letztere thut er. Ich ging einmal, ehe das Sozialisten¬
gesetz die Wut der Geister gebändigt hatte, ich glaube, es war im Jahre 1873,
an einem Bau vorüber, um meine Schulstunde, griechische Formenlehre, zu
geben. Da wollte eben ein Steinträger mit seiner Schicht Ziegelsteine die
Leiter betreten; das Gesicht voll Verbissenheit nach mir gewendet sprach er laut:
„Vieharbeit!" Gewiß wollte er mir, dem Lehrer mit den Büchern unter dem
Arme, zu verstehen geben, welch großer, nicht von Gerechtigkeit in der gesell¬
schaftlichen Ordnung zeugender und darum zu beseitigender Unterschied zwischen
meiner und seiner Thätigkeit sei. Ob der Mann Wohl nicht zufriedener gewesen
wäre, wenn er begriffen hätte, daß es der Sinn ist, der die Arbeit adelt, und
daß mit dem entsprechenden Sinne auch das Steinetragen eine edle Arbeit,
umgekehrt auch die griechische Formenlehre, ja auch Homer und Sophokles
„Vieharbeit" werden kann! Wer diesen Sinn hat, nach protestantisch-evangelischer
Lehre kann ich auch sagen: wer den Glauben hat, der darf auch in jedem Beruf
und bei jeder Arbeit „den Trotz behalten," wie Luther sagt, und soll wissen,
„daß die noch so heiligen . . . Werke der Mönche und Priester in den Augen
Gottes gar nicht höher stehen als die Werke eines auf dem Felde arbeitenden
Bauern oder einer in ihrem Hause arbeitenden, sorgenden Frau, sondern daß
bei ihm alles nur nach dem Glauben gemessen wird." (Luther, Von der baby¬
lonischen Gefangenschaft der Kirche.) Diesen, alle Arbeit adelnden und den
Menschen erst beglückenden Sinn giebt allein das Evangelium, den Sinn, zu
welchem der Apostel die Korinther auffordert mit dem Worte: „Mnrret nicht,
gleichwie jener etliche murrten," und den Jesus selbst verlangt, wenn er zu
den Mühseligen und Beladenen sagt: „Nehmet auf euch mein Joch und lernet
von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr
Ruhe finden für eure Seelen." Es giebt also keinen beliebigen Weg durch
diese Welt.
Es giebt auch keine beliebige Wahrheit, das Wort in seiner höchsten, uns
über Gott und das eigne Menschenwesen aufklärenden Bedeutung genommen;
da giebt es keine beliebige Wahrheit, etwa des oder jenes philosophischen
Systems, des oder jenes sozialistischen Schriftstellers und Zeitungsliteraten,
sondern die eine Wahrheit, daß „Gott war in Christo," d. h., wenn wir wissen
wollen, was Gottes Wesen ist, sein Wille, seine Stellung zu uns, sein Nat-
schlvß mit uns, den von ihm Getrennten und doch zu ihm Bestimmter, so müssen
wir uns zu den Füßen dessen setzen und in sein Angesicht schauen, von dem
das Johannesevangclium, dieses Evangelium, das, mag es verfaßt sein von wem
es will, dem Bewußtsein der Erlösten seinen angemessenen Ausdruck giebt, den
Satz aussagt: „In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der
Menschen."
Und auch vom Leben haben wir uns nicht diesen oder jenen beliebigen Be¬
griff zu machen, dies oder jenes Leben für gut und wertvoll oder für elend und
armselig zu halten; wir haben vielmehr einen ganz bestimmten Inhalt, dessen
Vergegenwärtigung allein das Leben wertvoll, dessen Mangel es allein elend
macht. In Gott leben, mit dem Herzen im Himmel sein und mit Kopf und
Händen auf Erde» schalten und walten, das ist es, was Menschenwerk segnet,
der Seele Freiheit bringt und ewigen Genuß. Denn hier giebt es keinen Tod.
Das Geheimnis des Sterbens wird offenbar als ein neues Werden, und damit
wird das Dunkel der Erde Licht. Im andern Falle gilt das Wort Goethes:
Und so lang du das nicht hast,
Dieses Stirb und Werde,
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunkeln Erde.
Das haben freilich schon die Alten in ihren edelsten Geistern gewußt. Was
Demokrit sagt: ^eov c/e ^c>,.^e^ «^rcw v^«»-?«^,
„es wird dich Gottes würdig machen, wenn du nichts seiner Unwürdiges thust,"
das könnte mit so mancher Stelle aus Plato oder Epiktet auch im Evangelium
stehen. Die Lehre ist da. Aber deu selbst, der „nichts Gottes Unwürdiges"
gethan hat, an dem, wie der Apostel es meint, „keine Sünde erfunden" ward,
diesen einen Freien und sittlich Vollendeten unter den Menschenkindern, durch
dessen von ihm ausgehende Geisteskraft auch wir frei werden können von den
Banden eines gottentfremdeten Lebens, den haben sie nicht gekannt. Sie haben
ihn nur ersehnt, so viele ihrer in der Selbsterkenntnis standen, und ihre höchsten
Geister, die Propheten unter den Juden und unter den Heiden, haben ihn ge¬
ahnt. Man vergleiche nur, was Plato im zweiten Buche seiner Republik von
dem Gerechten, dem ä/xo-to^ sagt.
Dies, diese Bedeutung des Christentums wie für alle, so auch für unsre
Zeit, in einer dem Bildungsstande der Klasse entsprechenden Weise den Schülern
des oberen Gymnasiums klar zu machen und damit ihnen, wenn sie die Schule
verlassen und in die Welt eintreten, ein Urteil für die großen Fragen der
Gegenwart zu ermöglichen, das giebt auch dem Religionsunterrichte in den
oberen Klassen des Gymnasiums gerade heutzutage seine große Bedeutung.
Wie dieser Unterricht gestaltet sein müsse, das ist, wie gesagt, eine Frage
für sich. So viel steht fest, daß der, welcher ihn recht geben soll, nicht im
Sattel eines toten, archaistischen Systems sitzen darf; er würde damit nur ein
lahmes Roß vorreiten, was am wenigsten Eindruck macht bei jungen Leuten,
die sich die nächste Stunde schon im reinen Äther platonischer Schönheit oder
thukydideischer Wahrheitsstrenge baden. Der Lehrer für diesen Unterricht muß
einerseits in der Theologie historisch-kritisch gut geschult sein, um eine sichere und un¬
befangene Stellung gegenüber der heiligen Schrift und dem Bekenntnis behaupten
zu können, anderseits muß er die Höhe der philosophischen Bildung einnehmen,
die ihn zur Behandlung der höchsten Lebensfragen befähigt. Was den Unter¬
richt in diesem Fache besonders schwer macht, ist, daß die Stunde alles geben
muß, die häusliche Arbeit wenig oder nichts zu leisten hat. Wo aber dieser
Unterricht die Höhe einnimmt, die er einnehmen kann und soll, da ist er, was
seinen Wert anlangt, nichts Nebensächliches, sondern von der größten Bedeutung.'
Er steht als Bildungsmittel geradezu neben den alten Sprachen. Man weist
vielfach jetzt der Mathematik diese Stellung zu; aber das entspricht nicht dem
innersten Wesen des Gymnasiums. Für dieses sind mir die mathematischen
Grundlagen, weil und soweit sie zur allgemeine» Bildung gehörig sind, zu
geben, mehr nicht. In Prima sollte darum der mathematische Unterricht nicht
mehr „obligatorisch," sondern nur „fakultativ" sein. Denn erstens hat die Be¬
merkung, die der große Geschichtsschreiber Gibbon in seinem I-lig über seiue
mathematischen Studien machte, wenn er sagt: „Ich kann keineswegs beklagen,
daß ich von den mathematischen Studien abstand (etwa im siebzehnten Jahre),
bevor meine Seele durch die Gewohnheit strenger Beweisführung verhärtete,
die so gefährlich für die feineren Gefühle moralischer Evidenz ist, welche doch
die Handlungen und Meinungen unsers Lebens bestimmen müssen" — diese
Bemerkung hat insofern eine für die Erziehung allgemeine Giltigkeit, als ja
die Mathematik auf dem Gymnasium überhaupt nur eine formal bildende Kraft
hat und haben soll; und sodann sind, wie die Erfahrung lehrt, die meisten von
den Schülern, die das Gymnasium bis zur Prima gefördert hat, gerade nicht
sonderlich mit der Anlage für das mathematische Fach ausgerüstet. Die mathe¬
matisch begabten Schüler suchen meist die Realschule auf. Wegen dieses häufig
vorkommenden Mangels an mathematischen Anlagen bei den sonst tüchtigste«
Schülern tritt oft das manchen verblüffende, aber im Grunde sehr erklärliche
Ergebnis zu Tage, daß, je weiter in der Prima mit der Mathematik fortge¬
schritten wird, desto verwirrter die Köpfe vieler auf diesem Gebiete werden.
Erklärlich ist das. In dem Alter, in welchem die größere Anzahl der Primaner
steht, taugt es nicht mehr, deu Geist mit einer Arbeit zu beladen, die heterogen
mit der Anlage ist. Es wird das aber vielfach verkannt oder nicht zugestanden,,
besonders von den mathematischen Lehrern selbst. Sie empfinden bei diesem
Urteil so, als ob darin für ihre Wissenschaft eine Geringschätzung läge, woran
kein Mensch denkt und denken kann. Denn die Mathematik und die Natur¬
wissenschaften, die ohne sie nichts sind, sind in unsrer heutigen Welt die «iArm-
tnrg, tonixoris. Wer wollte da so thöricht sein und gering von einer Wissen¬
schaft denken, die die Zeit beherrscht! Er spräche sich selbst das Urteil. Aber
etwas andres ist die Frage, ob sie in die oberste Klasse des Gymnasiums als
„obligatorischer" Unterrichtsgegenstand paßt. Das ist zu bestreiten. „Fakul¬
tativ" aber muß sie allerdings gelehrt werde» in der Prima des Gymnasiums.
Denn das Gymnasium muß denen, die dieses Fach und was damit zusammen¬
hängt, das Gebiet der Naturwissenschaften, später zum Bernfsstudium erwähle»
wollen, die für die Universität nötige Vorbereitung bieten, gerade so, wie es sie
dem Theologen mit dein Hebräischen, dem Neuphilologen mit dem Englischen bietet.
Daß es mit dem Religionsunterricht anders steht, hoffe ich in dem Ge¬
sagten nachgewiesen zu haben. Ich will aber, um die Bedeutung desselben
nachzuweisen, noch einen Punkt erwähnen, der von dem größten Gewicht für
unser Volksleben ist.
Unser Volk trennt eine tiefgehende, alte Glaubensspaltnng. Man darf
nicht denken, daß man diese beseitige durch Nichtberücksichtigung des religiösen
Gebietes. Die liberale Partei hat seit fast zwei Geschlechtern den großen Fehler
begangen, daß sie die Kirche sich selber überlassen wollte, weil sie damit den
Staat von ihrem Einfluß frei zu machen glaubte. Das ist die unheilvollste
politische Lehre gewesen, die seit 1348 befolgt worden ist. Die Kirche wird
für den Staat stets eine ungeheure Bedeutung haben, und eine Bedeutung, die
umso unheilvoller werden kann, je mehr der Staat sie frei läßt. Denn die Kirche
giebt mit ihrer Lehre ein bestimmtes System, und für viele Millionen, für die
Masse des Volkes ist das das einzige System, das sie in sich aufnehmen;
darum hängen sie mit allen Fasern der Seele daran, und je mehr sie daran
hängen, desto mehr werde» sie im Streitfall für die Kirche gegen den Staat
Partei nehmen. Kritik, die das Urteil geschärft hat, kennen sie nicht. Nehmen
wir nun auch den Gebildeten unsers Volkes, deuen, die einst seine Führer werden
sollen, den zukünftigen Richtern, Verwaltern, Staatsmännern, Abgeordneten,
Ärzten, ja selbst den Lehrern an höheren Anstalten, die für viele einzige Ge¬
legenheit, wo sie mit einer genauen Kenntnis der Bibel, und zwar auch einer
literarhistorischen, und mit einer genügenden Kenntnis der Geschichte und be¬
sonders der Lehren der Kirche in deren Werden und Gewordensein ausgerüstet
werden, so nehmen wir ihnen die beste Gelegenheit, sich ein selbständiges Urteil
in Fragen zu bilden, über deren Belang ich heutzutage Wohl nicht zu sprechen
brauche. Damit sind dann auch diese einst, wie gesagt, zu Leitern des Volkes
bestimmten jungen Männer für ihre weitere Entwicklung dem Zufall preis¬
gegeben. Ob sie je zu solcher Kenntnis kommen, die sie auf dem Gebiete der
Religion orientirt, ob sie urteilslos in diesen Dingen sich einer fanatischen
Partei ergeben — die Partei empfängt aber heutzutage die jungen Leute schon
bei ihrem Eintritt in das akademische Leben —, ob sie also, bald zu Fanatikern
geworden, in deren Fahrwasser dahin segeln, oder ob sie mit Einsicht und
Weisheit sich zurecht finden, dafür ist dann keine Gelegenheit geboten. Gerade
die tüchtigsten, die energischsten Naturen verfallen dann der Partei der Ent¬
schiedener, d. h. der Fanatiker. Daran denken die Liberalen nicht, die für Ab¬
schaffung des Religionsunterrichts in den oberen Klassen des Gymnasiums sprechen.
Diese Liberalen arbeiten für die Klerikalen. Unserm modernen, unserm deutschen
Staate zumal kaun um solcher Urteilslosigkeit seiner einstigen Diener gar nichts
gelegen sein. Sein erster Gedanke muß auf die Einheit der Geister gerichtet
sein, die die Grundlage des Volkstums ist. Die Kirche, die katholische wie die
protestantische, wenigstens soweit sie konfessionell gerichtet ist, wird nie etwas
dazu beitragen, den Riß zu heilen, der unser Volk teilt. Damit ist es von
selbst als eine dauernde Aufgabe unsers Staates hingestellt, daß er „eine stete
Wacht hält gegen klerikalen Einfluß." Diese geistige Einheit aber, die zu er¬
streben im höchste» Interesse des Staates liegt, wird, wie bei uns nun einmal
die Dinge liegen, nur eine Einheit sein können, die trotz der getrennten Kirche
besteht, also eine sittliche, gebaut auf die Erkenntnis der ewigen Werte, und
das Wirken für eine solche Einheit wird »ur zugleich ein Wirken für die Kirche
Vonseiten des Staates sein, soweit diese selbst sittliche Werte vertritt und be¬
fördert. Darum darf auch der Religionsunterricht in den obern Klassen des
Gymnasiums kein einseitig kirchlicher sein; wie er im Auftrage des Staates
zu leiten ist, so ist er auch im Sinne des Staates zu geben, das will hier
heißen, so zu geben, daß er auf die sittliche Einheit des Volkes zustrebt. So
ist er zugleich wahrhaft fricdenschaffend und im Sinne der Bergpredigt, welche
die Friedfertigen, den Frieden schaffenden, die «t^,/o?rotot> als Kinder Gottes
preist. Und so hat denn dieser Religionsunterricht auch abgesehen von der
religiösen eine hervorragende politisch-sittliche Bedeutung und steht darum als
Bildungsmittel, welches den Menschen an Geist und Herz ergreift und für
seine ganze Auffassung des bürgerlichen und staatlichen Lebens entscheidend
wirkt, unendlich hoch.
Allerdings, wo er unter dieser Höhe bleibt, und das wird besonders da
sein, wo er einseitig kirchlich und beschränkt konfessionell betrieben wird, da kann
man fragen, ob er nicht besser wegfalle. Da aber gerade in dem Fache des
Religionsunterrichts der Kreis, aus dem die Auswahl der Kräfte frei steht, fehr
groß ist, insofern, wenn anders ihnen die Stellung darnach geboten wird, aus
dem ganzen Bestände der gereiften und durchgebildeten Theologen, nicht etwa
selbst noch unfertiger und unerfahrener Kandidaten, diese wohl frei steht, und
da sich gerade im Hinblick auf die Bedeutung und Wichtigkeit der Sache die
wissenschaftlich Tüchtigsten bei entsprechender Stellung zum Eintritt in den
Schuldienst am Gymnasium werden bereit finden lassen, so hat die Behörde
es mehr oder weniger in ihrer Hand, gerade dieses Fach auf diejenige Höhe zu
erheben, die ihm zukommt.
er Name Friedrich Nochlitzens (geb. in Leipzig den 12. Februar
1769. geht. daselbst den 16. Dezember 1842) wird den meisten
Lesern in doppelter Beziehung vertraut sein: der Freund der
Literaturgeschichte, insbesondre der Gocthefreund, kennt und verehrt
Rochlitz um der herzlichen Freundschaft willen, in der er zu Goethe
stand und die ebenso dnrch die mannichfachsten literarischen und Kunstinteressen
wie durch die Ähnlichkeit mancher ihrer Charakterzüge genährt wurde; der
ernstere Musikfreund schätzt ihn und wird ihn noch lange schätzen als den
Begründer, langjährigen Herausgeber und thätigsten Mitarbeiter der ehemals
berühmten „Allgemeinen musikalischen Zeitung" — sie erschien bei Breitkopf
und Härtel von 1798 bis 1848 und wurde von Rochlitz von 1793 bis 1818
geleitet —, als hervorragenden Musikschriftsteller und Musikkritiker, der seiner
Zeit eine ähnliche, ja eine noch bedeutendere Stellung eingenommen hat, als
sie gegenwärtig etwa Hanslick einnimmt, vor allem als den Verfasser des klas¬
sisch gewordenen Buches „Für Freunde der Tonkunst," in dessen vier Bänden
(1824—1832) Rochlitz ein gutes Teil dessen, was er früher in die Musikalische
Zeitung geschrieben hatte, vereinigt hat, endlich als Herausgeber einer auch heute
noch nicht veralteten großen, historisch geordneten Sammlung vorzüglicher Ge¬
sangstücke (3 Bände. 1838—1840).
Seine Beziehungen zu Goethe hat Biedermann im zweiten Bande seines
bekannten Werkes „Goethe und Leipzig" (Leipzig, 1865, S. 229—264) dargestellt,
nachdem die Briefe Goethes an ihn, 62 an der Zahl, ans den Jahren 1800
bis 1831 stammend, schon von O. Jahr in seiner Sammlung „Goethes
Briefe an Leipziger Freunde" (Leipzig, 1849) mitgeteilt worden waren (in der
zweiten Auflage von 1867 um einen vermehrt). Seine Bedeutung als Musiker
und Musikschriftsteller hat A. Dörffel gewürdigt in einer biographischen Skizze,
die der vierten Auflage des Buches „Für Freunde der Tonkunst" (Leipzig, 1868)
beigegeben ist, begleitet von vollständigen Verzeichnissen der Schriften und Kom¬
positionen Nochlitzens und einer Zusammenstellung seiner Kritiken über die Sym¬
phonien Beethovens, wie er sie bei Gelegenheit ihrer ersten Aufführungen im
Leipziger Gcwandhauskonzert für die Musikalische Zeitung geschrieben hat (Mit¬
teilungen aus diesen für ihre Zeit sehr wichtigen Kritiken in Dvrffels Geschichte
der Gewandhauskonzerte).
Die mannichfachen dichterischen Versuche Nochlitzens sind vergessen, und
Wohl mit Recht, obwohl ihnen Goethe — freilich immer auf freundliche Wieder¬
vergeltung rechnend — viel Teilnahme widmete und z. B. manchen seiner
Theaterstücke in Weimar und Lauchstädt zur Aufführung verhalf. Nur der
Oratorientext: „Das Ende des Gerechten" hat sich durch Schichts Komposition
lange erhalten; der schöne und noch heute gern gehörte Grabgesang: „Wir
drücken dir die Augen zu" stammt daraus.
Weniger ist bisher darüber bekannt geworden, daß Rochlitz auch der bil¬
denden Kunst das lebhafteste Interesse zuwandte. Zwar fehlt es weder bei
Biedermann uoch in Goethes Briefen an Rochlitz an Hinweisen darauf; viel
deutlicher aber tritt — neben manchem andern — gerade diese Seite seiner
Persönlichkeit zu Tage aus zwei Schriftstücken von ihm, die bisher unbekannt
gewesen sind: 1. aus seiner Einladung zur Gründung eines Kunstvereins in
Leipzig vom Jahre 1826, die sich in den Akten des Leipziger Kunstvereins
befindet, und 2. aus seinem Testament vom Jahre 1839, das im Archiv des
Leipziger Amtsgerichts aufbewahrt wird. Zum Verständnis beider Schriftstücke
wird es nur weniger einleitender Bemerkungen bedürfen.
Die erste Anregung zur Gründung eines Kunstvereins in Leipzig ging von
dem allen Knnstfvrschern durch sein grundlegendes Werk über die Denkmale der
Baukunst des Mittelalters in Sachsen wohlbekannten or, Puttrich aus. Dieser
hatte sich bereits 1824 mit dem Buchhändler Weigel wiederholt darüber besprochen,
„ob es nicht möglich sei, in Sachsen, und namentlich in Leipzig, eine Vereinigung
von Künstlern und Kunstliebhabern zutreffen, welche denselben Zweck beabsichtigten,
als der ihnen nur vom Hörensagen bekannte Kunstverein zu München." Um die Be¬
strebungen des Münchner Vereins kennen zu lernen, hatte er sich dnrch den Hofmaler
Quaglio in München einen Abdruck der dortigen Satzungen (von 1824) kommen
lassen. Im Oktober 1825 kam der Buchhändler Ambrosius Barth unnbhäugig
von den Genannten auf denselben Gedanken und machte Puttrich davon Mit¬
teilung, und da um dieselbe Zeit auch der Maler Börner aus München nach
Leipzig gekommen war und ihnen über die Verhältnisse des Münchner Vereins
manches mitgeteilt hatte, so lud Puttrich die beiden andern zu einigen Vor¬
besprechungen ein, bei denen die Münchner und auch die inzwischen noch bekannt
gewordenen Berliner Satzungen zu Grunde gelegt und den Leipziger Verhält¬
nissen angepaßt wurden. Ihr Plan ging dahin, „in Leipzig und Dresden zwei
Hauptbranchen des Kunstvereins zu bilden, welche ein Corpus ausmachen und
gleiche Gerechtsame haben, jedoch jederzeit vereint agiren sollen." Die erste
Zusammenkunft fand am 15. Oktober 1825 in Pnttrichs Wohnung statt; es
hatten sich Barth und Börner dazu eingefunden, und man besprach die Münchner
Satzungen. Am 18. Oktober nahm man die Berliner Statuten vor. Zu weitern
Beratungen wurden noch die bekannten Kunstfreunde Quandt und Dr. Hillig
zugezogen, und auf Quandts Rat ließ man den Gedanken, einen Doppclverein
zu schaffen, wieder fallen. Man stellte nun eine Liste von Personen auf, die
zu einer größern Versammlung eingeladen werden sollten, im ganzen 151. Um
jedoch den Plan vorher noch einem engern Kreise vorzulegen, veranstaltete man
am 3. November und am 18. Dezember zwei Versammlungen, an denen nun¬
mehr vierzehn Personen teilnahmen — unter andern auch der Universitäts-
baumeister Geutebrück, der Knnstakademiedircktor Schmorr von Carolsfcld, der
Domherr Stieglitz und Rochlitz. Puttrich hatte die Priorität des Gedankens
an Barth abgetreten und sich cinsbedungcn, daß sein Name „seiner sonstigen
Geschäftsverhältnisse halber" dabei nicht genannt werde. Doch lag der Statuten-
entwnrf Puttrichs zur Beratung vor, ebenso sein Entwurf eines Schreibens an
den sächsischen König, worin dieser gebeten wurde, den Verein zu „bestätigen."
Man wünschte eine Art von königlicher Protektion, weil man dadurch mehr
Leute zum Beitritt zu bewegen hoffte. Bei diesen mündlichen Beratungen konnte
man sich aber, wie es scheint, nicht über alle Punkte einigen, nicht einmal über
die Frage, ob Leipzig überhaupt der geeignete Boden für einen Kunstverein sei.
Daher beschloß man, den Statutenentwurf in Umlauf zu setzen und von jedem
eine kleine schriftliche Meinungsäußerung einzuholen. Unter diesen kleinen Gut¬
achten fand das Rochlitzsche so sehr den allgemeinen Beifall, daß man ihn er¬
suchte, nunmehr das Einladungsschreiben abzufassen, mit dem man sich an
weitere Kreise wenden wollte. Dieses Einladungsschreiben ist es, welches im
nachfolgenden mitgeteilt wird. Es lautet:
Seitdem in den letzten Dezennien die Ansichten und Urteile unterrichteter
Freunde der bildenden Kunst sich so sehr verändert, höher und fester gestellt haben,
seitdem auch die Bessern der Meister dieser Kunst, und die Deutschen vornehmlich,
in den bedeutendern ihrer Werke offenbar eine höhere Richtung des Geistes, einen
reinern Sinn und auch einen treuem Fleiß darlegen, als (mit sehr wenigen Aus¬
nahmen) früher eine lange Zeit geschehen ist: seitdem hat sich auch die Achtung
und der Anteil, wie für diese Kunst in ihren Werken überhaupt, so für die vor¬
züglichern ihrer jetzigen Meister und deren Werke im allgemeinen gemehrt, und
man darf, in Hinsicht auf alles dies, mit weniger Verlegenheit als in Deutschland
seit fast zwei Jahrhunderten, auf das zurückblicken, was man in der Geschichte
früherer Zeiten aufgezeichnet findet, denn, man siehet hier und da jetzt etwas, jenem
ähnliches sich regen, und erfährt es, wenngleich nur noch vereinzelt, wohl auch an
sich selbst. Da es etwas Gutes und Schönes ist, so schließt sich an diese Be¬
merkung und Erfahrung der Wunsch, daß jenes noch Vereinzelte sich ausbreiten
und zu etwas Gemeinsamen, allmählich vielleicht zu etwas Allgemeinen, werden
möchte; und da kein rechtlicher Wunsch ein leerer bleiben soll, so gehet er über in
den Versuch, etwas, wie wenig es auch den Umständen nach sein möge, hierzu
beizutragen. Dergleichen Versuche sind nun auch, und, wie es scheint, nicht ohne
erwünschten Erfolg, in einigen der Hauptstädte Deutschlands seit kurzem gemacht
worden. In Leipzig noch nicht. Gleichwohl könnte ein solcher Versuch, obschon
nach anderm Maßstabe, auch hier gemacht werden, da diese Stadt, wenngleich nicht
durch Umfang und Volkszahl, noch auch durch Reichtum an Hülff- und Erleich¬
terungsmitteln mancher Art, doch aber durch andere Eigenschaften und Vorteile,
die wir einander nicht vorrühmen wollen, und die zugleich als Hülff- und Er-
leichterungsmittel andrer Art dienen können, neben jene größern Städte Wohl treten
darf. Soll irgend etwas Gesamtes oder Gemeinsames versucht werden, so müssen
einige den Anfang machen: und so machen wir — da wenigstens uns die Gegen¬
stände nicht fremd und wir uus des uneigennützigsten Willens bewußt sind —
hiermit diesen Anfang. Soll irgend ein Versuch gelingen, so müssen die Anfangenden
mit etwas Bestimmter, Wohlerwogenen, dem Zwecke, den Kräften, den Mitteln
und den örtlichen, wie andern speziellen Verhältnissen angemessenen hervortreten:
und so treten wir hervor und folgendem EntWurfe zu einem
Vereine
der Freunde der bildenden Kunst in Leipzig
zur Förderung dieser Kunst
im sächsischen Vaterlnude,
durch lebende, zunächst sächsische Künstler.
Wir hoffen, unserm EntWurfe jene notwendigen Eigenschaften beimessen zu dürfen.
Wir legen ihn vor zur Prüfung und, findet mau ihn zu billigen, zur Aufnahme,
welche denn ohne allen guten Erfolg gar nicht bleiben kann.
So weit es von uns abhängt, wird mithin künftig in Leipzig ein solcher
Verein bestehen. Er täuscht sich nicht mit hochfliegenden, allgemeinen Ideen, noch
mit Erwartung großer Opfer zu seiner Unterstützung oder eines weiten Ausgrejfcus
in den Gang der Dinge im allgemeinen. Er fängt klein an; er thut das Nächste,
das Erste und Nötigste: doch thut ers nach Grundsätzen und in einer Verfassung,
die jede Erweiterung, wenn sie nötig und ratsam werden sollte, zulassen. Er
verspricht den teilnehmenden Kunstfreunde« nichts, als was ans der Sache selbst
hervorgehen oder unmittelbar sich an sie schließen wird: er verspricht den Künstlern
nichts, als was ein guter, georductthätiger Wille, bei mancherlei Beschränkungen
von außen und sehr mäßigen Mitteln, ihnen sicher leisten kann.
Der Zweck des Vereins ist mit seiner Benennung ausgesprochen, und bedarf
es dabei nur noch folgender Erläuterungen. Wir verstehen unter dem sächsischen
Vaterlande nicht bloß das königliche, sondern das gesamte Sachsen, nnter welchen
Regierungen es stehe; wir denken bei der bildenden Kunst zuvörderst (aus leicht
zu entdeckenden Ursachen) an Malerei, Zeichnungsknnst, Kupferstecherei, Lithographie,
Stein- und Stahlschneidekunst, ohne darum die andern Zweige derselben ausschließen
zu wollen; wir nennen sächsische Künstler die in Sachsen jetzt lebenden, woher
sie auch gebürtig, und die in Sachsen geborenen, wo anch eben jetzt ihr Aufenthalt
sei; wir laden ein die Freunde der bildenden Kunst in Leipzig, weil wir diese
zunächst kennen, auf sie zunächst zu wirken vermögen, wir ihres Beitritts am ge¬
wissesten sind, und weil sie, der Sache nach, den eigentlichen Stamm des Vereins
bilden müssen; erklären aber ausdrücklich, daß wir den Beitritt Auswärtiger dem
Verein selbst für ehrenvoll, nützlich und erfreulich erachten. Daß, wenn von
Künstlern die Rede ist, nicht Anfänger oder andere Personen gemeinet sind, die
etwas, gemeinhin wohl gleichfalls zur Kunst Gezähltes und an sich nicht Uebles,
Artiges, oder zu besondern Zwecken Brauchbares liefern, fondern Meister oder die
ihnen an die Seite zu stellen; und wenn von Werken gesprochen wird, nicht
Arbeiten jener Art mit eingeschlossen sind, auch nicht Copiecn im allgemeinen und
gewöhnliche Porträts: dies braucht Wohl kaum erklärt zu werden.
In dieser Maßgabe will nun der Verein die bildende Kunst fördern,
dadurch, daß er
1. solchen vorzüglichen Künstlern erleichtert, ihre bedeutendern Arbeiten von ihrer
Seite ohne alle Weitläufigkeiten und mit den geringsten oder gar keinen Kosten
bekannt zu machen, gesunde Urteile über sie, und Nachricht über ihren Eindruck
auf Kenner und Nichtkenner, doch gebildete, zu erfahren, und auch — so weit
das nämlich vom Vereine abhängt — sie zu verkaufen;
2. den am Vereine teilnehmenden (aber unter gewissen Bedingungen, auch
jedem andern, der es wünscht) anständige und bequeme Gelegenheit giebt, der¬
gleichen neue Werke kennen zu lernen; sich darüber mit Kunstverständigen zu be¬
sprechen; was sie zu besitzen wünschen, ohne alle Weitläufigkeit und ohne das ge¬
ringste Zwischeninteresse, von den Künstlern zu kaufen, und auch auf andre, hernach
anzugebende Weise, ihre Kenntnisse und ihren Geschmack in der bildenden Kunst,
so wie ihre Freude an ihr zu nähren.
Das erste (die Erleichterung des Künstlers) wird der Verein dadurch bewirken,
daß er für ein sehr anständiges und in jeder Hinsicht zum Zwecke geeignetes Locale
sorgt, wo die ihm anvertrauten Werke, sicher vor jeder Beschädigung, vorteilhaft
für ihre Wirkung, und ohne alle Kosten für die Meister, mit den Namen der
letztern und den von ihnen bestimmten, äußersten Verkaufspreisen aufgestellt werden;
daß er dies Locale zu festgesetzten Tagen und Stunden wöchentlich für die Mit¬
glieder, und monatlich einmal für jedermann, eröffnet; daß er nur die Kosten der
Zusendung den Künstlern zumutet: die der Zurückscndung, wenn das Werk nicht
verkauft wird, selber trägt, ja, im Fall der Künstler es verlangt, für diejenigen
Werke, die in ihrer Art wirklich trefflich befunden, aber nicht verkauft werden, ihm
auch die Kosten der Zusendung erstattet; und endlich dadurch, daß er, der Verein,
so weit sein Fonds reicht, von Zeit zu Zeit einiges des Vorzüglichsten, was ihm
zugesendet worden, selbst erkauft — welches dann cingesammlet wird als ein
Eigentum, nicht der einzelnen, derzeitigen Mitglieder, sondern des Vereins als
Körperschaft für jede Zukunft; weshalb es auch für immer in seinem Locale, und
damit zugleich zur Betrachtung und zum Genusse des gesamten Publikums, aufgestellt
bleibt. (Nur während der akademischen Ausstellungen wird die unsrige ausgesetzt.)
Das zweite (die Erleichterung des Kunstfreundes) wird der Verein bewirken —
zunächst schon durch das meiste von dem, was so eben angeführt ist: der Kunst¬
freund wird auf eine bequeme und angenehme Weise mit den besten sächsischen
(aber auch manchen fremden) Künstlern unsrer Tage durch vorzügliche ihrer Ar¬
beiten, und sonach mit dem jedesmaligen Stande der Kunst in diesem Bereiche,
bekannt; er kann sich leicht mit andern darüber besprechen; bekömmt darüber, und
über verwandte Gegenstände, briefliche oder andre Nachrichten, Urteile pp. mitge¬
teilt u. dergl. in. Aber es wird auch — zuweilen durch wissenschaftliche Vorträge
einzelner Mitglieder über die bildende Kunst überhaupt, ihre Geschichte, ihre größten
Meister voriger Zeit, deren Hauptwerke PP.. und immer durch die nähere Ver¬
bindung der Teilnehmenden uuter einander, sein Interesse an dieser Kunst im all¬
gemeinen vermehrt, durch gegenseitige Mitteilung manche Ansicht, manches Urteil
berichtigt oder befestigt, und selbst der Genuß, wie bei jedem gemeinschaftlichen ge¬
schieht, erweitert, gesteigert und was sonst natürliche Folge jedes Znsammcntreteus
Gebildeter und Wohlgesinnter zu einem gemeinsamen, löblichen Zwecke zu sein pflegt.
Das speziellere, sowohl der Organisation und Verfassung als der Verwaltung
des Vereins, wird jedem Mitglied« vorgelegt werden, wenn es sich für ein solches
erklärt hat. Bis dahin kaun den Eingeladenen, wie uns scheint, folgendes hierüber
genügen.
Wir Unterzeichneten, die wir den Verein zu stiften und zu begründen wünschen,
machen darum, wenn er nun ins Leben tritt, uicht auf den geringsten Vorzug in
ihm, in welcherlei Hinsicht es sei, Ansprüche; sondern wir stellen uns jedem andern
Mitgliede vollkommen gleich: uur daß wir, zur unumgänglich nötigen weitern Vor¬
bereitung und Einleitung des Vereins und seiner Angelegenheiten, für dieses sein
erstes Jahr die Beamten aus unsrer Mitte wählen.
Es wird nämlich die Verwaltung der Geschäfte des Vereins von Vieren seiner
Mitglieder — allerdings freiwillig und ohne alle Rücksicht auf eignen Vorteil, bloß
in Ueberzeugung, für etwas Gutes und Schönes thätig zu sein — besorgt. Die
Anteile dieser Männer an der Verwaltung gehen aus ihren Benennungen hervor:
ein Vorsteher leitet das Allgemeine; ein Sekretär besorgt die Korrespondenz;
ein Kassirer steht dem Oekonomischen vor und legt davon Rechnung ab; und ein
Konservator übernimmt die Zu- und Znrücksendnngen, die Ausstellung und Auf¬
bewahrung der eingesandten Kunstwerke. Die drei ersten werden durch Stimmen¬
mehrheit sämtlicher Mitglieder des Vereins stets ans ein Jahr gewählt, sind aber
wieder wählbar. Konservator ist und bleibt Herr Professor Schmorr, Direktor der
hiesigen Malerakademie, als hierzu vor allen geeignet. Zur Erleichterung dieser
Männer, oder für Vorfälle, wo sie sich mit uoch einigen Mitgliedern vertraulich
zu beraten wünschen, wählen sie selbst von Jahr zu Jahr noch vier Mitglieder,
mit welchen vereint sie uun, und für solche Fälle, einen Ausschuß der Gesellschaft
bilden. Zu Geschäften eines Syndikats, wenn sie nötig werden sollten, bevoll¬
mächtigt der Sekretär im Namen des gesamten Vereins.
Die notwendigen Ausgaben des Vereins werden bestritten vou deu jährlichen
Geldbeiträgen der Mitglieder und vom Ertrage der Eröffnungen des Locale für
jedermann, wo jede Person, die nicht Mitglied ist, vier Groschen für den Ein¬
tritt zu zahlen hat. Der jährliche Beitrag jedes Mitgliedes wird von ihm selbst
bei Unterzeichnung seines Namens zum Beitritt in dem ihm zugesandten Protokoll
freiwillig, uach seinen Verhältnissen und seiner Liebe zur Sache, bestimmt; doch
darf dieser Beitrag nicht geringer als jährlich vier Thaler sein.
Da es eine der Hcmptabsichteu des Vereins ist, achtungswürdigen Künstlern
zum Verkauf ihrer Arbeiten behülflich zu sein, so muß er wünschen, daß die ihm
eingesandten nicht schon verkauft seien. Doch ist er weit entfernt, solche, bei denen
letztes der Fall ist und die ihm der Künstler oder Eigentümer zusendet, bloß, damit
sie selbst oder ihre Urheber bekannter werden, nicht mit Vergnügen aufnehmen zu
wollen: doch hat dann der Einsender die Transportkosten zu tragen, ohne jedoch
für die Aufstellung und sorgfältige Aufbewahrung etwas zu entrichten zu haben.
In der Regel bleibt jedes dem Vereine anvertrauet« Kunstwerk drei Monate
demselben zur Aufstellung in seinem Locale überlassen: doch werden Ausnahmen
zugestanden, sowohl für kürzere, als für längere Zeit. Die letztere kann, wenn
der Künstler es wünscht, nach den ersten drei Monaten noch drei dauern; voraus¬
gesetzt, daß der Verein nicht selbst Gründe hat, es nach den ersten dreien zurück¬
zusenden. Käufer der im Locale des Vereins aufgestellten Werke köunen zwar
allerdings dieser Zeitbestimmung nicht unterworfen werden: sie werden aber ersucht,
sich ihr, wo möglich, zu Gunsten der Künstler selbst, wie des Instituts, freiwillig
zu unterwerfen.
Künstler, die Werke anderer als der oben vorzugsweise angeführten Kunstzweige,
z. B. Bildhauerarbeiten, Bossiruugen pp. oder auch vorzüglich gelungene Copieen
ganz ausgezeichneter Werke und Porträts einzusenden wünschen, haben deshalb
zuvor beim Sekretär anzufragen, können aber schneller Antwort gewärtig sein. Die-
jenigen, welche entweder einen höhern jährlichen Beitrag als vier Thaler oder
besondere Schenkungen dem Institute zuwenden, werden, so wie diese ihre Gaben,
im Protokolle des Vereins, das stets zu jedermanns Durchsicht offen daliegt, be¬
sonders aufgezeichnet; auch wird ihrer und ihrer Gaben bei den jährlichen Berichten
über den Fortgang des Instituts besonders gedacht.
Der verwilligte Beitrag jedes Mitgliedes wird gegen Quittung des Kassirers
jedes Jahr zu Anfange desselben abgeholt.
Die sämtlichen Vorarbeiten zur Stiftung und Eröffnung des Vereins werden
von uns Unterzeichneten ununterbrochen fortgesetzt. Findet das Unternehmen — wie
wir glauben voraussetzen zu dürfen — eine nur einigermaßen günstige Teilnahme
und eine nur uicht allzugeringe Unterstützung, so kann, allem Ansehen nach, das
erste Zusammentreten, und damit die feste Begründung des Vereins selbst, bald
zu stände kommeu. Bestimmtere Nachricht hierüber wird den Mitgliedern bekannt
gemacht, sobald sie gegeben werden kann.
Mögen diese unsre einfachen Worte mit denselben freundlichen, rücksichtlosen
Gesinnungen aufgenommen und gedeutet werden, mit welchen wir sie aussprechen!
Leipzig, im Januar 1826.
Wie es kam. daß diese Bestrebungen doch zunächst keinen Erfolg hatten,
und daß der beabsichtigte Verein dann erst elf Jahre später, 1837, aus neuen
Anfängen heraus zu stände kam. soll demnächst an andrer Stelle gezeigt werden;
der Verein feiert in diesem Jahre sein fünfzigjähriges Bestehen.
(Schluß folgt.)
n Walter Scotts Olcl NortÄlit/ wird von einem Manne erzählt,
der auf einem alten Klepper jahraus jahrein im Lande umher-
reitet, um auf den Friedhöfen die Grabsteine der Puritaner von
Moos zu reinigen und die verwitterten Inschriften wieder leserlich
zu machen. Ein Buch, das über die Inschriften auf den Grab¬
steinen der verschiednen Völker und Zeiten gewissenhaft berichtete, soll noch ge¬
schrieben werden, und da diese Denkmäler verdämmernder Sitten und Gebräuche
im Laufe der Zeit entweder völlig untergehen — z. B. beim Bedauem eines
Friedhofes — oder doch früher oder später ihre Lesbarkeit einbüßen, wäre es
gut, die Arbeit würde bald in Angriff genommen.
Nicht minder verdienstlich würde eine ästhetische Friedhofsstudie sein, deren
Gegenstand also vorwiegend der Kunstsinn sein dürfte, der aus den Grabmälern
der verschiednen Völker und Zeiten spräche, seien diese Grabmäler nun gigantisch
Wie die Hünengräber des Nordens, wie die Steinbauten des Orients oder
winzig wie die gemalten Bildnisse der Verstorbenen auf einigen Schweizer Kirch¬
höfen und wie die nüchtern anmutenden Photographien auf dem übrigens so
schönen Halleiner Friedhofe. Gerade diese bürgerliche oder bäuerliche Kleinseitc
der Kunst auf den Gräbern ist neben den zahllosen Untersuchungen, die den
Pyramiden, Kolumbarien !c. gelten, bisher als kulturgeschichtlich beachtenswert
so gut wie nicht ins Auge gefaßt worden.
Eine Wanderung über den alten und den neuen Münchner Friedhof bietet
nun zwar nach dieser Richtung auch bei mußevollem Umschauen nichts Erhebliches.
Sie sei aber immerhin als Anlaß zu der eben vorgetragenen Anregung benutzt;
nimmt das Besprechen von Bilder- und Skulpturausstellungen doch nachgerade
ein so beträchtliches Heer von Federn in Anspruch, daß es hohe Zeit ist, den
unzweifelhaften Überschuß an flüssigem ästhetischen Urteil auf ein weniger dicht
umlagertes Gebiet hinzulenken. Ausdrücklich bemerkt sei hierbei in Bezug auf
die weiter unten zu erwähnenden Denkmäler, Inschriften u. f. w., daß ich nicht
in der Lage bin, die darüber von mir mitgeteilten Daten, Namen u. f. w. noch¬
mals ans ihre genaue Richtigkeit zu prüfen, was aber nicht hindert, daß meine
ihnen zu Grunde liegenden Taschenbuchnotizen in der Hauptsache von Irrtümern
frei sein dürften.
München, als Kunststadt ersten Ranges, hat durch diese seine Eigenschaft
wenn nicht die Verpflichtung, so doch das Recht, das I,g.i88<zr darf und das
I^aisssr altfr nicht in uneingeschränkten Maße gelten zu lassen, wo es sich um
Schöpfungen handelt, die dem Bereiche der Kunst angehören oder angehören
sollten.
Wie allerorten, wird auch in München nach dieser Richtung auf öffent¬
liche wie auf Privatbauten ein im ganzen verdienstlicher und anerkennungs¬
würdiger Einfluß geübt. In geringerem Grade kann ein solcher selbstverständlich
da sich geltend machen, wo mit Gefühlen zu rechnen ist, und nirgends möchte
die fremde Einmischung minder am Platze sein als auf dem Gottesacker;
über eine gewisse äußere Anordnung in Bezug auf die Raumverhältnisse,
auf die zum Bepflanzen der Gräber geeigneten Bäume, auf den Unterhalt und
die Pflege des Gräberschmucks — über diese und ähnliche meist schon herkömm¬
liche Anordnungen hinauszugehen, ist unratsam, auch vom ästhetischen Stand¬
punkte aus; überflutet doch schon aus ökonomischen Gründen von selbst der
fabrikmäßig auf Vorrat hergestellte Gräberschmuck das individuell dem einzelnen
Falle angemessene, und widerstrebt doch dem in Trauer versenkte» Empfinden
mit Fug und Recht jede Maßregelung, die sich als solche ihm in den Weg
stellt. Also, wenn dies noch ausdrücklich betont werden muß: Vorschriften, Ver¬
bote, Gebote haben sich ans den Friedhöfen nicht fühlbarer zu machen, als dies
die allgemeinen örtlichen Bedingungen erheischen; mit dem Einlaufen in den
letzten irdischen Ruhehafen hat die Ungleichheit unter den Menschen ihr Ende er-
reicht; jeder richte den Raum, wo er sein Liebstes bestattet hat, so ein, wie es
seinem Herzen Bedürfnis ist.
Und doch nicht in solcher Weise, daß etwas dagegen einzuwenden ist? Das
scheint ein Widerspruch. Ohne allen Zweifel. Damit aber dieser Widerspruch
als solcher verschwinde, bedarf es eben der Erweckung des Interesses der ästhetisch
Empfindenden für die Friedhöfe und der Verbreitung der dann aus solchem
allseitiger werdenden Interesse sich nach und nach herausarbeitenden Grundsätze.
Somit soll im Nachstehenden die Wiedergabe einiger wenigen Anblicke unter
den Grabmälern der erwähnten beiden vielbesuchten und mit Recht oft gepriesenen
Friedhöfe zum Nachdenken über den Gegenstand anregen. Dabei verbietet
sich's, Namen zu nennen, es sei denn im Zusammenhange mit Grabmälern, auf
welche die Aufmerksamkeit im günstigen Sinne zu lenken ist, und welche daher
öfter betrachtet und in ihrem Gegensatze zu den verfehlteren Arbeiten dieser Art
gewürdigt werden sollten.
Um mit dieser angenehmeren Seite der Aufgabe zu beginnen, hebe ich aus
der Reihe umfangreicher Denkmäler dasjenige hervor, welches eiuer jungen
Mutter gewidmet ist, der Freir Charlotte Säger geb. Könick, geb. 1842, geht. 1874.
Es ist in weißem Marmor ausgeführt und stellt eine weibliche Gestalt dar, die
schon mit der einen Hand die Klinke der schwarzen Grabthür berührt und sich
dabei schmerzensvoll von einem sie zurückhaltender Töchterchen losmacht, während
ein am Boden sitzendes nacktes Kindchen vergebens die Füße der Scheidenden
zu umklammern sucht. Die Ausführung ist in hohem Grade löblich, die Wirkung
des Ganzen tief ergreifend. Eine nicht minder beachtenswerte Arbeit, in großen
Verhältnissen ausgeführt, ist eine Bronzegruppe: eine Knieende, welche ein herab¬
schwebender Engel küßt. Ob in der Auffassung des Künstlers die Knieende
abgerufen wird, oder ob es eine Trauernde ist, welcher aus seligen Höhen ein
Trostgruß wird, blieb mir zweifelhaft, da sich wegen örtlicher Hindernisse die
Grabschrift zur Zeit nicht prüfen ließ. Weiter verdient ein im Jahre 1882
errichtetes Denkmal mit Muße betrachtet zu werden: ein trauerndes junges
Mädchen, das sich auf eine trümmerhafte Säule stützt; die Inschrift gilt der im
sechzehnten Jahre aus dem Leben abgerufenen Emilie Mine Merole. Wiederum
von edler Wirkung ist eine wie im Schlummer ruhende weibliche Gestalt. Das
Grabmal ist dem Andenken der im Alter von vierundzwanzig Jahren verstorbenen
Frau Antonie Sutuer geb. Vogel gewidmet, geht. 1820. Auch einer im neun¬
zehnten Jahre Entschlafenen — Mcigdalene Beckers — ist durch eine schwebende
weibliche Gestalt (Relief) mit dem Mohnstengel in der Hand ein künstlerischer
Nachruf von schöner Einfachheit geworden. Minder einfach, aber nicht ohne
Schönheit und Würde, ist das der Nieslerschen Familiengrabstätte zugehörige
Marmorrelief: ein ungeflügelter Engel hebt eine weibliche Gestalt, deren einer
Fuß noch den Sarg berührt, gen Himmel. Aus den Wolken ruft ihr eine
Posaune den Willkommengruß entgegen. Hoch darüber das Jesuskind mit dem
Kreuze. Unter den zahlreichen Kindergräbern fesselt den Kunstfreund dasjenige
des im Jahre 1834 in zartem Alter verstorbenen Söhnchens von Franz Hanf-
ftnngel: ein nacktes schlafendes Kind, ein überaus liebliches Skulpturwerk in
Bronze; darüber in angemessener Hohe Christus am Kreuze. schlechtweg an
biblische Motive knüpfen andre Kinderdenkmäler an, besonders freundlich an¬
sprechend verschiedne „Lasset die Kindlein zu mir kommen," unter ihnen sehr
lieblich ausgeführt das den Kindern eines Münchner Buchbindermeisters ge¬
widmete: Christus heißt zwei Kinder willkommen. Günstig in jeder Beziehung
wirkt das Grabdenkmal Wilhelm Kaulbachs, ein in edeln Verhältnissen gehal¬
tenes und von einem bestrickend malerischen Zuge erfülltes Werk: eine schwebende
weibliche Figur von dunkeln: Metall, niederblickend auf das Grab des Meisters,
in der Linken Palette und Pinsel, in der Rechten den Kranz haltend; die Vor¬
tragsweise ganz im Sinne des Schöpfers der Berliner Treppengemälde.
Mit diesem Denkmal sei die Reihe der hier zu erwähnenden freier ge¬
stalteten Bildhauerwerke der beiden Münchner Friedhöfe abgeschlossen. Es
würden sich ihnen bei eingehenderer Musterung sicherlich noch manche nicht
minder verdienstliche anfügen lassen. Für deu Zweck der gegenwärtigen Zeilen
mußte es genügen, durch Herausheben einiger wirklich künstlerisch gelungenen
Lösungen der immerhin nicht leichten Ausgaben dem Gegenstande selbst eine
etwas allgemeinere Beachtung zuzuwenden.
Eine andre Gattung von Denkmälern hat sich's angelegen sein lassen, die
äußere Erscheinung der oder des Verstorbenen festzuhalten. Möglich, daß ähn¬
liches auch bereits bei einzelnen der vorhin besprochenen der Fall war. Näherten
sich die Gesichtszüge der entschlafenen Person im Leben dem idealen Typus,
den die übrigen Seiten des Werkes zur Voraussetzung hatten, so durfte sich
der Künstler die Benutzung dieses glücklichen Anklanges Wohl gestatten. Wie
weit in dieser Richtung die Ähnlichkeit wiedergegeben werden darf, dafür bietet
das Nietscheldenkmal auf der Brühlschen Terrasse in Dresden ungefähr einen
Maßstab. Der Schöpfer desselben, Professor Schilling, hat einem der Schüler,
welche unterhalb der Kolossalbttste des Meisters sitzen und die Technik der Bild¬
hauerei in werkthätigen Hantirungen veranschaulichen, die Züge eines früh ver¬
storbenen Nietschelschülers geliehen; es ist die Figur auf der Rückseite, der so¬
genannte Kohlenspitzer. Man erkennt auf den ersten Blick, daß es ein Porträt
ist. Aber die Züge des Verstorbenen waren für die bildnerische Wiedergabe
auch neben Idealgestalten unbedenklich verwendbar, und so freut sich der Be¬
schauer an dem wohlgelungenen, pietätvollen Wagnis.
Man wird nun hin und wieder unter den porträtartigen Werken der
beiden Friedhöfe solche finden, die stimmungsvoll wirken, aber auch andre,
die verstimmen, obwohl beide Gattungen aus tüchtigen Künstlerhänden hervor¬
gegangen sind. Zu deu ersteren zählt vor allem die dunkle Erzbüste des Malers
Flüggen, gestorben 1859. Sie steht auf einem müßig hohen roten Obelisk.
Die Ähnlichkeit gilt für groß. Hier kam die Natur dem Bildner durch Ge¬
sichtszüge, deren entschlossene Klarheit und Festigkeit weit über das Leben hinaus¬
blicken, auf halbem Wege entgegen. In andern: Sinne ansprechend ist ein dem
Oberstallmeister Freiherrn von Kesling gewidmetes und ihn in ganzer Figur
darstellendes Denkmal in dunkelm Metall, eine gewissenhafte und ernst stimmende
Arbeit. Dann ist als ein tüchtiges Werk die auf dem Paradebett ruhende Gestalt
des Generalleutnants Freiherrn von Leistner zu nennen, des ersten Adjutanten
des Prinzen Karl von Baiern, der dem Verstorbenen auch das Denkmal er¬
richten ließ. Um großartiger zu wirken, müßte es freilich etwas mehr für sich
allein aufgestellt sein, nicht im Gedränge der übrigen Gräber.
Auch Bernhard Nütlings dunkle Erzbüste (vom Jahre 1881), durch die
Attribute von Lorberkranz und Maske deutlich als der Öffentlichkeit an¬
gehörend charakterisirt, erfüllt ihren Zweck aufs beste. Ebenso wird wohl
in den meisten Fällen dem Helfer so mancher Kranken eine Büste auf seiner
letzten Ruhestätte geziemen; in dieser Eigenschaft lebt das Bild des im Jahre
1866 verstorbenen Hofrats Professor Dr. Jakob Braun mit Fug und Recht
auf seinem Grabe fort. Nicht minder erinnert man sich gegenüber der Büste
des im Jahre 1826 verstorbenen trefflichen Optikers Josef Frauenhofer und des
ihr gesellten Attributs, des Teleskops, dankbar seiner Verdienste um unsre
Kenntnis der Himmelskörper. Gewidmet wurde sie ihm von Josef von Utzschneider,
und auch die Marmorbttste dieses „edelsten Vaterlandsfreundes," wie die In¬
schrift des für ihn im Jahre 1840 errichteten Denkmals ihn preist, würde man
auf dem Grabe des trefflichen Mannes nur ungern vermissen. Als Vertreter
der öffentlichen Meinung eines großen Teiles der Münchner Bevölkerung hat
auch Julius Knorr, der Verleger der Münchner Neuesten Nachrichten, denen
zugezählt werden dürfen, deren Andenken nicht einzig durch eine Grabschrift
äußerlich festzuhalten war. Seine Büste trägt aber vielleicht für die Stille der
Umgebung einen zu lebhaften Ausdruck und würde an einem andern Platze
besser ihren Zweck erreichen. Das bescheidene Profilrelief des als Greis ver¬
storbenen Buchhändlers Lindauer hat, damit verglichen, etwas wohthuend har¬
monisch wirkendes. Nicht minder bescheiden ist der Platz, den ein Bildhauer
von ansehnlichem Rufe auf dem seiner verstorbenen Mutter gewidmeten Jdeal-
denkmal dem sorgfältig in Marmor ausgeführten Kopfe der Verewigten ange¬
wiesen hat, nämlich unterhalb des Hauptwerkes selbst. Die liebevolle Aus¬
führung dieses Hauptwerkes wie jenes Porträtzusatzes erregt wirklich Bewunderung.
Daß diese Bewunderung aber nicht rein ist, erklärt sich leicht. Wir können an
jedem Porträtdenkmal die Probe machen, daß die ungeschmeichelte Porträttreue,
also der Schein der Wirklichkeit, daß dieser genrehafte Teil des Kunstwerkes den
allegorischen Teil desselben überragen muß. Beethoven sagt einmal: „Eine
Dissonanz muß stark auftreten." Die gebrechliche Wirklichkeit, das aus Ähn¬
lichkeit abzielende Bildnis, ist, verglichen mit der Harmonie der Idealgestalten,
die Dissonanz. Sie muß sich stark und mutig durchsetzen. Man stelle sich
irgend ein Denkmal vor, bei welchem die Figur oder die Büste dessen, dem es
gewidmet ist, nicht oben thront, sondern sich dem frei und ideal gestalteten
allegorischen Teile des Werkes unterordnen muß: schon in der bloßen Vor¬
stellung wendet man sich von einer solchen Schöpfung ab.
Es wäre hier nun der Platz, an den Denkmälern von Personen, welche
nicht eigentlichen Anspruch auf ein tiefgehendes allgemeineres Interesse erheben
konnten, den Nachweis zu führen, daß ihnen durch entsprechend bescheiden ge¬
haltene Monumente der bessere Dienst erwiesen worden wäre. Aber die Acht¬
losigkeit, mit welcher bisher die monumentale Seite unsrer Friedhöfe dem Zufall
einer mehr oder minder verständigen Beratung der Denkmalbesteller überlassen
worden ist, trägt denn doch an den allerorten sich dem Beschauer aufdrängenden
Geschmacklosigkeiten die Hauptschuld, und so wäre es unbillig, Werke, welche
der gute Wille, häufig mit erheblichen Opfern, stiftete, einer strengen Prüfung
mit Namennennung zu unterziehen. Dahin ist, wie allerorten, auch auf den
Münchner Friedhöfen eine nicht geringe Anzahl größerer, ideal gehaltener
Marmorskulpturen zu zählen, welche die Grabstätten von Brauereibesitzern,
Gußwerkinhabern und Männern ähnlicher ehrenhafter, aber von idealen Zielen
weitabliegender Betriebe zu verherrlichen bestimmt sind. Ein sinnreicher Künstler
wird auch für die Ruhestätten solcher Verstorbenen monumentale Pläne vor¬
zulegen imstande sein, die den Überlebenden zur Befriedigung gereichen, zumal
da die christliche Kunst, wie für deutsche Gemüter ja schon die Votivbilder
Hans Holbeins und andrer heimischer Meister beweisen, das bürgerliche Leben
in mannichfacher Weise mit den heiligen Gestalten aus dem Jenseits künstlerisch
zu verknüpfen weiß. Nach dieser Richtung empfiehlt sich eine Betrachtung der
„August Stürzerschen Familiengrabstelle," welche durch ein Votivdeukmal mit
knieenden Familienangehörigen geschmückt ist, vor allem inmitten einer über¬
wiegend katholischen Bevölkerung immer noch eine mit Recht sich behauptende
Überliefcruugskunstform. Auch das Grab von Josef Görres mag man sich
darauf in ruhiger Sammlung ansehen, indem man sich in das Wesen dieses
merkwürdigen Mystikers hineindenkt. Unter Glas erblickt man hoch oben in
den Wolken die Mutter Gottes mit dem Christuskinde, zu ihr aufblickend
den Apostel, dessen Attribut das Schwert ist, und ihm gegenüber einen
Knieenden im geistlichen Ornat, das Gebetbuch in der Linken. Etwa ein Dutzend
Namen der Familien Görres, Jochner und Steingau bekunden darunter ohne
weitere Zusätze, daß die Familienglieder hier beisammen ruhen. Solche Arbeiten
sind auch für den Andersgläubigen ein wahres Labsal, verglichen mit jenen
großen klagenden allegorischen Gestalten, wie die fabrikmäßig arbeitenden
Steinmetzwerkstätten sie für jedermann feil haben, handle sich's nun um
einen Helden, der den Tod fürs Vaterland auf dem Schlachtfelde fand,
um einen Liebling der Musen, der in den Herzen unzähliger die veredelnde
Flamme der Kunstbegeisterung entzündete, oder aber um einen beliebigen
Privatmann.
Man wird diesen Äußerungen, wenn man den ästhetischen Standpunkt fest
hält, ihre Berechtigung nicht wohl versagen können. Wir haben in der Poesie
ja auch sehr scharf sich sondernde Formen, wenn nicht für die verschiedenen
Schichten der Gesellschaft, so doch für die Begebenheiten höheren oder minder
hervorragenden Ranges, und wo das Gefühl für diese Unterschiede nicht zu
seinem Rechte gelangt, ist die Wirkung verstimmend. Wie sollte es in der
Skulptur anders sein, in derjenigen Kunst, die am wenigsten vom Hauch des
bloß Flüchtigvorübergehenden weiß, die vielmehr in ihrer wuchtigen Schwere
die Forderung an den Beschauer richtet, sie ernsthaft beim Worte zu nehmen
und sich ihr gegenüber selbst zu sammeln.
Der im Vorstehenden mehrfach betonte Unterschied zwischen öffentlicher
und privater Lebensstellung wird verstündigerweise auch auf dem Friedhofe
nicht verwischt werden dürfen, und vielleicht wäre vor allem die landläufige
Meinung zu berichtigen: was man einem geliebten Toten an künstlerischem
Schmuck angedeihen lasse, stehe auf der nämlichen privaten Stufe wie eine auf
dem Grabe gepflanzte Trauerweide oder ein Blumenflor, in dessen Betrachten
man in liebendem Heimgedenken sich oft und gern vergangener freundlicher
Zeiten erinnert. Allerdings wird die Mehrzahl der Gräber auch in Zukunft
nicht aus dem Rahmen dieses letztern tröstlichen Pflegeschmuckes und dessen,
was an hölzernem Kreuz oder steinerner Schriftplatte zu ihm gehört, hinaus¬
treten, und innerhalb dieses bescheidenen Kreises bleibt die einzelne teure und
den Überlebenden geheiligte Stelle ausgeschlossen von dem Zusammenhange mit
den übrigen. Was aber ihre Unscheinbarkeit diesen Gräbern sichert, geht jenen
andern Gräbern verloren, welche mit weithin der Menge ins Auge fallenden
Monumenten ausgestattet werden. Sie wollen gesehen sein, ihr Schmuck ist
eine vor andern dargebrachte Huldigung oder eine pietätvolle Leistung, deren
Erfüllung öffentlich geschieht, weil eine solche erwartet wird oder erwartet werden
kann. Und sind selbst, wie es ja oft genug vorkommen mag, die Beweggründe
zu solcher hervorragenden Ausstattung eines Grabes bloße Eingebungen per¬
sönlicher Empfindungen, so ändert dieses private Verhältnis heraustretender
Monumente doch nichts an dessen thatsächlichem Verhältnis zur Öffentlichkeit.
Dieses besteht und stellt das Werk unter die Kontrole ihrer mehr oder weniger
anspruchsvollen ästhetischen Forderungen.
Zum Schluß sei noch der Wunsch ausgesprochen, daß für die zahlreichen
Büsten verdienter Männer, für welche die Münchner Kirchhofsarkaden zu einer
Art Ruhmeshalle werden sollen, eine bessere Unterkunft gefunden werden möge.
Schwanthaler, Franz Brulliot, Heinrich Klee, Jgnciz von Reisach und die vielen
sich ihnen anreihenden Männer, welche man auf diese Weise zu ehren gedenkt,
konnten keinen unerfreulicher», aber auch keinen für die Beschauung ungeeigneten
Platz zugewiesen erhalten, als dies hier geschehen ist. Schon weil die Büsten
viel zu hoch angebracht sind, mehr noch weil der Verkehr in den Arkaden fast
nie ruht, kann kaum irgend jemand anders als im Vorübergehen ihnen Beachtung
schenken. Was hat man sich überhaupt dabei gedacht, als man eine solche Menge
von Marmorbüsten ohne alle Nötigung in Reih und Glied gerade an einem Orte
versammelte, wo doch immer nur der Einzelne Anspruch auf unsre Teilnahme
hat, nie und nimmer die Korporation? Man baue für sie eine eigne Ruhmes¬
oder Dankbarkcitshalle, fern von den Schauern der Gräbernähe, und noch künftige
Geschlechter werden den Tag segnen, wo die Übersiedelung an eine minder an
die Vergänglichkeit alles Irdischen mahnende Weihestätte ins Werk gesetzt wurde.
or kurzem ist in diesen Blättern eine neue Ausgabe — die fünf¬
zehnte — von Büchmanns „Geflügelten Worten" besprochen
worden. Die Besprechung hob hervor, daß, trotz des Reichtums
des in diesem Buche enthaltenen Zitatenschatzes, doch eine Menge
üblicher Redeweisen darin nicht zu finden sei. Es führt uns
dies zu der Frage: Was sind denn eigentlich geflügelte Worte? Sind es wirklich
nur diejenigen in unsrer Sprache heimischen Redeweisen, deren Entstehung
man kennt?"
Allerdings hat Büchmann nur dies unter seinen „geflügelten Worten ver¬
standen. Er bestimmte den Begriff derselben dahin, daß es „allgemein angewendete
Worte" seien, deren Verfasser sich angeben läßt. Damit war von vornherein einem
Vorwurf der UnVollständigkeit der Sammlung begegnet, insofern nicht derjenige,
welcher die Unvollstündigkeit rügen wollte, zugleich anzugeben wußte, wie die
von ihm vermißte Redeweise entstanden sei. Der gegenwärtige Herausgeber
(Robert-tornow) bemerkte in der Einleitung der früheren Ausgaben, daß die
Büchmannsche Begriffsbestimmung nicht ganz passe, weil darnach eine Menge
Bibelworte, alle homerischen und viele andre gebräuchliche Zitate aus der
Sammlung wegfallen müßten. Er selbst bestimmte den Begriff dahin: „Ein
geflügeltes Wort ist ein landläufiges Zitat." In der Einleitung der neuesten
Aufgabe geht er davon aus, daß diese Begriffsbestimmung bereits vollständig
gesiegt habe. „Hieran ist nicht zu rütteln, weil der Gebrauch Tyrann der
Sprache ist."
Nun ließe sich ja vielleicht diese Begriffsbestimmung auch von einem ob¬
jektiven Standpunkte aus verteidigen, wenn wir wirklich die „geflügelten Worte"
Büchmanns immer nur im Bewußtsein eines Zitates gebrauchten. Ist denn
das aber wirklich der Fall? Wenn jemand sagt: „Die schönen Tage von
Amnjuez sind nun zu Ende," so mag er ja wohl daran denken, daß er sich
Worte aus Don Carlos aneignet. Wer aber davon spricht, daß man nicht
„eine Katze im Sack kaufen" solle, wer von „frommen Wünschen" redet, oder
wer sagt: „Der Teufel ist los," wird in den seltensten Fällen sich bewußt
sein, mit diesen Worten ein Zitat zu gebrauchen, obgleich Büchmann nachge¬
wiesen hat, woher jene Redeweisen stammen. Im Volksmnnde unterscheiden sie
sich nicht im geringsten von andern, deren Ursprung bisher noch kein Gelehrter
nachzuweisen vermocht hat.
Es würde daher für die Begriffsbestimmung der geflügelten Worte vom
Vüchmannschen Standpunkte nichts andres übrig bleiben, als daß es Redeweisen
seien, deren Ursprung die Gelehrtenwelt oder, um es noch bestimmter auszudrücken,
deren Ursprung Büchmann und sein Nachfolger nachzuweisen vermögen. Daß
dies kein objektiver Begriff des geflügelten Wortes ist, liegt auf der Hand.
Es ist ein subjektiver, zufälliger äußerer Umstand in die Begriffsbestimmung
hineingetragen.
Offenbar geht der objektive Begriff des geflügelten Wortes viel weiter.
Es bedeutet eine Redeweise, die, von einem Einzelnen ausgehend, Verbreitung
im ganzen Volke gefunden hat. Daß für eine erhebliche Anzahl solcher Rede¬
weisen Büchmann die Urheberschaft nachgewiesen und dadurch der Vergessenheit
entrissen hat, ist ein unzweifelhaftes Verdienst. Aber die so entstandene Samm¬
lung erschöpft bei weitem nicht die geflügelten Worte, die in unsrer Sprache
lebendig sind. Bei unzähligen Redeweisen läßt sich, wenn wir auch ihre Ent¬
stehung nicht kennen, doch schon », xriori nicht bezweifeln, daß sie die Geistes¬
schöpfung einzelner, von da aus aber Gemeingut des ganzen Volkes geworden
sind. Die Annahme dieser Entstehung rechtfertigt sich dadurch, daß sie ein
durchaus individuelles Gepräge tragen. Es sind das nicht allein Sprichwörter,
d. h, Lebensregeln und Lebenswahrheiten, die in einer volkstümlich gewordenen
Form aufgestellt sind, sondern es sind vor allem auch bildliche Ausdrücke, von
denen unsre Sprache geradezu wimmelt. Sie leben im Munde des Volkes
mehr noch als in unsrer Schriftsprache. Manche gelten nicht einmal für salon¬
fähig. Viele sind aber auch in unsrer Schriftsprache verwendbar, und sie dienen
unsern Schriftstellern dazu, ihren Gedanken einen kräftigeren, volkstümlichen
Ausdruck zu geben.
Aus dem überreichen Bilderschatze, den unsre Sprache aufweist und der
ohne Zweifel aus „geflügelten Worten" hervorgegangen ist, wollen wir hier nur
eine kleine Blumenlese zusammenstellen.
Ganz im Volksmunde zu Hause sind die Redeweisen: sich den Kopf zer-
brechen; den Kopf verlieren; seinen Kopf auf etwas setzen; mit dem Kopfe wider
die Wand rennen; es brannte ihm der Kopf; jemand vor den Kopf stoßen;
Hals über Kopf; ein Auge auf etwas haben; es sticht einem etwas ins Auge;
ein Auge zudrücken; die Augen verdrehen; ein Dorn im Auge; einem Sand in
die Augen streuen; es paßt etwas wie die Faust aufs Auge; mit blauem Auge
davon kommen; wie aus den Augen geschnitten; einem den Staar stechen;
die Ohren spitzen; die Ohren steif halten; die Ohren hängen lasten; sich hinter
den Ohren kratzen; es hinter den Ohren haben; sich etwas hinters Ohr schreiben;
einen übers Ohr hauen; einem das Fell über die Ohren ziehen; jemand
einen Floh ins Ohr setzen; eine feine Nase haben; in etwas seine Nase
hineinstecken; die Nase hoch tragen; die Nase rümpfen; einem etwas an der
Nase ansehen; einem eine Nase drehen; an der Nase herumführen; mit langer
Nase abziehen; eine Nase (Verweis) bekommen; ein großes (böses) Maul haben;
den Mund voll nehmen; Maulhelden; einem nach dem Maule schwatzen;
einen das Maul stopfen; sich den Mund verbrennen; einem die Worte im
Munde herumdrehen; sich den Mund wischen; die Zunge im Zaum halten;
einem um den Bart gehen; Haare auf den Zähnen haben; jemand auf
den Zahn fühlen; einem die Zähne weisen; sich selbst ins Gesicht schlagen;
jemand auf den Händen tragen; im Handumdrehen; die Hand im Spiele
haben; die Hände in den Schoß legen; einem auf die Finger sehen; lange
Finger machen; sich etwas an den Fingern abzählen; eine Faust in der Tasche
machen; wenn einem das Feuer auf den Nägeln brennt; auf großem (vornehmem,
gespanntem) Fuße leben; einem auf den Fuß treten; auf Freiers Füßen
gehen; einem ein Bein stellen; einem Beine machen; die Beine unter die
Arme nehmen; aus der Haut fahren; seine Haut zu Markte tragen; kein gutes
Haar an jemand lassen; sich keine grauen Haare über etwas wachsen lassen;
etwas an den Haaren herbeiziehen; frisch von der Leber weg sprechen; es
lief ihm eine Laus über die Leber; sein Herz ausschütten; sein Herz auf
der Zunge haben; das Herz fiel ihm in die Kniekehlen; Sitzfleisch haben;
einen hohen Gaul reiten; vom Pferd auf den Esel kommen; wo sich der
Esel gewälzt hat 2e.; wenn dem Esel zu wohl ist ?c.; man schlägt auf den
Sack, und den Esel meint man; da stehen die Ochsen am Berge; den Stier bei
den Hörnern fassen; etwas auf seine Hörner nehmen; eine melkende Kuh; auf
den Hund kommen; kommt man über den Hund, so kommt man auch über den
Schwanz; da ist der Hund an den Knüppel gebunden; da liegt der Hund
begraben; da ist der Hund erfroren; damit lockt man keinen Hund vom
Ofen; ein blöder Hund wird selten fett; wie ein begossener Pudel; Hunde¬
haare hineinhacken; wie Hund und Katze leben; einen Katzenbuckel machen;
um etwas herumgehen, wie die Katze um den heißen Brei; er ging weg wie
die Katze vom Taubenschlag; er spielt wie die Katze mit der Maus; der Katze
die Schellen anhängen; naß wie eine Katze; keine Katze im Hause; wenn die
Katze nicht zu Hause ist, tanzen die Mäuse auf dem Tische; mit Speck fängt
man Mäuse; da beißt keine Maus einen Faden davon ab; arm wie eine Kirchen¬
maus; Hahn im Korbe; ein Haupthahn; da kräht kein Hahn darnach; auch ein
kluges Huhn legt in die Nesseln; mit jemand ein Hühnchen zu pflücken haben;
das El will klüger sein, als die Henne; es schwillt ihm der Kamm; ein weißer
Rabe; er läuft wie ein Wiesel; er ergriff das Hasenpanier; man will erst sehen,
wie Hase läuft; da liegt der Hase im Pfeffer; das Karnickel hat angefangen.
Es liegt auf der Hand, daß diese Zusammenstellung bildlicher Ausdrücke
(welche wir hier nur der Bildersprache, die sich an die Teile des menschlichen
Körpers und die bekanntesten Tiere anknüpft, entnommen haben) noch unendlich
vermehrt werden könnte. Manche solcher Ausdrücke reichen weit in die Jahr¬
hunderte zurück. Wir finden sie z. B. schon in den Schriften Luthers, der sie
aber ohne Zweifel auch schon als bestehendes Sprachgut vorgefunden und benutzt
hat. Manches Wort dieser Art, das wir in alten Schriften finden, ist auch
im Laufe der Zeit wieder verloren gegangen und der Volkssprache fremd ge¬
worden. In ihrer Bedeutung für die Sprache sind diese bildlichen Ausdrucks¬
weisen verschieden. Manche haben keinen neuen Begriff der Sprache zugeführt,
dienen vielmehr nur zur Steigerung des Ausdruckes für bereits gegebene Be¬
griffe. So die Steigerung vieler Beiwörter durch ein hinzugefügtes Bild.
Wir sagen z. B.: leichenblaß, puterrot, pechschwarz, hundeelend, fuchswild, sau¬
grob, aalglatt, spinnefeind, knochenhart, windelweich, nagelneu, steinreich,
blutarm sehr arm), freßdick, kanonenvvll u. s. w. Andre Ausdrücke
dieser Art haben wirklich unsre Sprache um einen bisher fehlenden Begriff be¬
reichert. Das Wort „Katzenjammer," das einmal irgend jemand als Scherz¬
wort gebraucht hat, ist die allgemein übliche Bezeichnung des betreffenden Zu¬
standes geworden, für den wir sonst keine einfache Bezeichnung haben. In
ähnlicher Weise haben sich auch folgende Worte ganz in unsre Sprache ein¬
gebürgert: Treppenwitz, Knittelverse, Eselsbrücke, Güterschlächter, Haarspalter,
Ohrenbläser, Schleppenträger, blinder Passagier, gelehrtes Haus u. s. w.
Alle solche Worte und Ausdrucksweisen sind ohne Zweifel von Einzelnen
ausgegangen und dann zu geflügelten Worten geworden. Das Wunderbare
dabei ist nur das, daß sie auf dem Wege von Mund zum Ohr eine so all¬
gemeine Verbreitung gefunden haben. Jedermann im Volke kennt sie, versteht
mit der Feinheit des Sprachgefühls ihre charakteristische Bedeutung und macht
von ihnen nach Umständen und persönlicher Neigung Gebrauch. Das Entstehen
solcher geflügelten Worte aus dem Volte heraus hat auch heute noch nicht
aufgehört. Wer hat nicht einmal im Laufe der letzten Jahre von einem „faulen
Zauber" gehört? Bis vor kurzer Zeit kannte man diesen Ausdruck noch nicht.
Im Kreise der Biertrinker heißt seit einiger Zeit der auf dein Bierseidel stehende
Schaum „der Feldwebel"; ohne Zweifel in Erinnerung an die breite weiße
Borte, die den Kragen des Feldwebels ziert. In Leipzig nennt man das ein¬
fachste Gericht, das man sich in einer Bierwirtschaft bestellen kann: Butterbrot
und gewöhnlichen Kuhtüse, scherzweise einen „Truthuhn," im Erzgebirge einen
„Schieböcker" (d. h. Schiebeböcker); Geld nennt man in Sachsen gern „Asche,"
Geld bezahlen „Asche abladen." Wer hat diese Ausdrücke erfunden? Niemand
weiß es. Es sind geflügelte Worte, mitten aus dem Volke. So findet also auch
auf diesem Lebensgebiete ohne Unterbrechung ein Vergehen und Entstehen statt.
Betrachten wir die ungeheure Menge fliegender Worte, die unsre Sprache
beleben, so erscheint uns die von Büchmann veranstaltete Sammlung solcher
Worte, deren Urheber man kennt, nur als ein geringer Teil des Gesamtbestandcs.
Sie bildet gewissermaßen, wenn man anders unsre Sprachgeschichte mit der
Geschichte unsers Erdballs vergleichen darf, nur das Alluvium, welches obenauf
liegt, während zahlreiche weitere Schichten noch darunter liegen. Man kann
sagen, daß gerade diese geflügelten Worte, bekannten und unbekannten Ursprungs,
in ihrer steten Bereitschaft, unsern Gedanken einen charakteristischen Ausdruck
zu leihen, einen Hauptbestandteil der Sprache bilden, von welcher Schiller sagt,
daß sie für uns dichtet und denkt.
er Mann, aus dessen Aufzeichnungen das hier folgende Bruchstück
mitgeteilt wird, ruht schon in kühler Erde. Er ist lange Zeit
preußischer Staatsminister gewesen. Ein alter pommerscher Ari¬
stokrat im besten Sinne des Wortes, hielt er es stets mit der
politischen Rechten und erwartete nur von ihr das Heil des
Vaterlandes. Wer objektiv genug ist, zu begreifen, daß allen Bäumen nicht ein
und dieselbe Rinde wachsen kann, wird, auch wenn er von einer andern poli¬
tischen Überzeugung geleitet wird, doch nicht ohne Interesse auf diese Auf¬
zeichnungen blicken, deren Verfasser jedenfalls von edelstem Streben beseelt und
jederzeit bemüht war, den Aufgaben seines schwierigen und verantwortungsvollen
Amtes mit der Gewissenhaftigkeit eines deutschen Mannes von echtem Schrot
und Korn gerecht zu werden. Wie ernst er es mit seiner einstigen Stellung
als Landrat nahm (er war, als er zur Paulskirche abgeordnet wurde, Landrat
des L.schen Kreises), mag folgende schriftliche Äußerung von ihm bezeigen: „Bei
der Verwaltung des Kreises gewahrte ich sehr bald, daß es bei einem Landrat
weit mehr auf einen ehrlichen und festen Charakter, als auf ein hohes Maß
positiver Gelehrsamkeit ankomme. Ohne Scheu und ohne Rücksicht das Schlechte
offen verdammen, das Gute unterstützen, ohne Ansehen der Person Unparteilich¬
keit und Gerechtigkeit üben, gegen alle Eingesessenen ohne Ermüdung bei Tage
wie bei Nacht gefällig sein, die Not der Nebenmenschen immer viel höher an¬
schlagen als die eigne Lage, mit ihnen gemeinsam um Regen und Sonnenschein
bitten, mit ihnen leben und sorgen und, wenn es gilt, auch gelegentlich essen,
trinken und jagen, im gesellschaftlichen Verkehr immer erhorchen, wo den einzelnen
der Schuh drückt, und ihm dann beibringen, das aber, was man einmal für
recht und gut erkannt hat, mit unerschütterlicher Konsequenz festhalten und,
wenn nötig, mit eiserner Faust durchführen, das scheint mir die Aufgabe eines
tüchtigen Landrates zu sein. Aber niemals vergesse derselbe, daß polizeiliche
Maßregeln nur dann wirksam sind, wenn sie sofort auf frischer That excludirt
und nicht wie gerichtliche Verhandlungen in die Länge gezogen werden. Dabei
mvß sich jedoch der Landrat vor einer Täuschung hüten. Er ist ständischer
Beamter; er ist vom Kreise, von seinen Mitständen, zum Oberhaupte des Kreises,
zu dessen Vertreter gewühlt. Gleichzeitig aber ist er auch Beamter der Re¬
gierung, er hat sie im Kreise zu vertreten, er ist ihr eommi8S!iriu8 xsrpötrras
im Kreise. Das ist scheinbar, aber auch nur scheinbar eine Doppelstellung.
Die alte Aristokratie hält leider noch immer an dem Grundsatze fest: „Der beste
Landrat ist der, welcher in Vertretung der Rechte seines Kreises stets der Re¬
gierung mit blanker Degenspitze entgegentritt." Das ist eine Täuschung, das
ist grundfalsch. Der Kampf des ständischen Wesens mit der Büreaukratie ist
uralt. Man kann ihn aufwärts verfolgen bis in die Zeiten, wo die Hohen-
zollern in unser Land kamen. Möglich, daß dieser Kampf vor Jahrhunderten
seine Berechtigung hatte, heute hat er sie nicht mehr. Heute hat jede Regierung
— und ich kenne deren viele — das Bewußtsein, daß es ihre Pflicht ist, dem
Lande zu dienen; so denkt jeder Oberpräsident, so jeder Minister. Jeder ge¬
bildete junge Mann, der heute bei einer Regierung eintritt, weiß, daß er dazu
da ist, dem Vaterlande zu dienen, und er spottet der alten zopfigen Auffassung,
daß das Land dazu da sei, sich von den büreaukratischen Gelüsten einer Regierung
tyrannisiren zu lassen. Wenn er von diesem Bewußtsein nicht durchdrungen ist,
so trägt die Schuld sein Präsident, der ihn hätte richtiger erziehen und leiten
sollen. Ein tüchtiger Landrat soll die guten Absichten der Negierung seinem
Kreise verdolmetschen, sie in ihrer Anwendung richtig formen, d. h. den Eigen¬
tümlichkeiten des Kreises anpassen, und wenn sie je von oben in unverdaulicher
Form kommen sollten, soll er rückhaltlos die vorgesetzten Behörden darauf auf¬
merksam machen. Dadurch gewinnt er die richtige und ehrenvolle Stellung des
Vermittlers und wird mit der Regierung so wie mit seinem Kreise in Eintracht
leben und beider Achtung gewinnen. Mich hat diese Auffassung des lcmdrät-
lichen Berufes durch alle höhern Stellen, die mir später anvertraut wurden,
stets begleitet; immer habe ich die Aufgabe des Landrath unter diesem Gesichts¬
punkte betrachtet und mich dabei wohl befunden, in keiner Stellung mich aber so
vollkommen glücklich gefühlt, als gerade in der landrätlichen."
Diese Auffassung von den damaligen Aufgaben des Landrath charakterisirt
hinlänglich den Mann, dessen Aufzeichnungen ans einer bewegten Zeit uns hier
vorliegen; man mag zu einer Partei gehören, zu welcher man wolle, immer
wird man zugeben müssen, daß dieser Landrat und spätere Minister ein ganzer,
gewissenhafter und zielbewußter Mann war. Das Bruchstück, das wir dem ge¬
neigten Leser vermitteln, bezieht sich auf die Zeit von 1348 und 1849; nur solche
Stellen, die uns für ein größeres Publikum unwesentlich erschienen, haben wir
ausgeschieden, und mir hie und da ist eine kleine formale Änderung der flüchtigen,
ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Niederschrift vorgenommen
worden.
Wir lassen nun den Verfasser selbst erzählen.
Jm April 1848 hatte der König befohlen, daß ein aus allgemeinen Volks¬
wahlen hervorgegangener Reichstag in Frankfurt a. M. zusammentreten sollte;
die dort zu beratende Verfassung für Deutschland sollte später mit den deutschen
Regierungen vereinbart werden. Um diese allgemeinen Volkswahlen zu ermög¬
lichen, wurde das System der UrWahlen eingeführt und so die unterste Volks¬
schicht in den Kreis der Wähler hineingezogen. Die diese Schicht bildenden
Elemente hatten bisher der Politik so fern gestanden, daß sie sich auch nicht
annähernd eine richtige Vorstellung von der Aufgabe der Versammlung zu
machen imstande waren, für welche sie wählen sollten. Sie glaubten fest, es
handle sich um eine Gesetzgebung, wonach jeder Besitzlose ein Stück Land er¬
halten solle. So wenigstens im L.schen Kreise, wo das Volk von dieser tollen
Idee auf keine Weise abzubringen war — ich fürchte, in vielen andern Kreisen
des Landes wird es nicht besser ausgesehen haben. Aus einem solchen Wahl-
körper ist meine Wahl hervorgegangen. Zwar war ich bereits von dem Ver¬
einigten Landtage in Berlin, welcher zuerst mit der Wahl beauftragt war, für
diese Mission gewählt worden; allein alle diese Wahlen wurden für ungiltig er¬
klärt, denn nicht privilegirte Körperschaften, sondern das Volk selbst sollte fortan
wählen. Mich traf das Schicksal, auch von dieser Seite gerufen zu werden.
Die auf solche Weise zu stände gekommene Versammlung in Frankfurt nannte
sich selbst das „Neichsparlament," wurde aber vom Publikum nach ihrem Ver¬
sammlungsorte kurzweg die „Paulskirche" genannt. In diese Paulskirche sollte
ich nun eintreten und einen Kreis verlassen, den ich bisher mit Liebe verwaltet
hatte. Über elf Monate lang habe ich dem Reichsparlament angehört; nur von
dem, was mir persönlich begegnet oder aufgefallen ist, soll hier flüchtig die
Rede sein.
Es war an einem Sonntage des Monats Mai, als ich vormittags in
Frankfurt eintraf. Ein bescheidenes Quartier war schnell beschafft. Nachmittags
sollte eine Art Eröffnungsfeierlichkeit stattfinden. Man versammelte sich im alten
Nömcrsaale, an dessen Wänden die Bilder aller deutschen Kaiser seit Karl dem
Großen hingen. Hier hielt Soiron, ein badischer Abgeordneter, auf einem
Stuhle bequem ausgestreckt, in einem abgetragenen Überröcke mit schwarz-wei߬
goldener Schleife und bunten Beinkleidern eine Ansprache an die Versammlung, die
jedes preußische Herz zuschnüren mußte. Dann ging es unter Glockeugeläut in
feierlichem Zuge in die Paulskirche, wo ein jeder nach Belieben — ich etwas
rechtsweg — Platz nahm. Ein Antrag, unsre Thätigkeit mit Gebet zu be¬
ginnen, wurde in wahrhaft höhnischer Weise verworfen, und nun ging es an
endlose Debatten über die leersten und nichtsnutzigsten Formalitäten; erst die
Nacht machte den Redeübungen ein Ende.
Am folgenden Vormittage begannen die Verhandlungen. Erst mußte aber
ein Präsident gewählt werden. Die Wahl fiel auf den darmstädtischen Minister
Heinrich von Gagern; erster Vizepräsident wurde obengenannter Herr Soiron.
Gagern, ein großer, schöner, echt deutscher Mann, etwa fünfzig Jahre alt, ver¬
stand gut und würdevoll zu reprcisentiren, er besaß entschiednes Präsidialtalent,
imponirte der Versammlung und dem Publikum, und seine Wahl mußte nach
allen Seiten hin als eine glückliche angesehen werden; denn, wenngleich er in
meinen Angen ein unpraktischer Schwärmer war, so muß ich doch zu seiner
Ehre bekennen, daß er alle Ungehörigkeiten, die von seinen Gesimmngsgcuosfen
ausgingen, mit vollster Unparteilichkeit und guter Energie zurückwies.
Überhaupt läßt sich nicht leugnen, daß in der Paulskirche recht bedeutende,
vielleicht die bedeutendsten Männer des damaligen Deutschlands saßen. Ich er¬
innere an Radowitz, Vincke, Schwerin, E. M. Arndt, Uhland, Graf Arnim; selbst
Robert Blum, Franz Naveau u. a. muß ich trotz ihrer extremen Richtung als
bedeutend anerkennen.
Nachdem wir uns während der nächsten Tage flüchtig mit einander bekannt
gemacht hatten, fingen wir an, uns in Fraktionen zu sondern. Radowitz gründete
eine äußerste Rechte, welcher ich mich anschloß. Die Versammlungen fanden
zuerst in dem sogenannten „steinernen Hause" statt. Radowitz war streng
katholisch; er hatte sich zunächst mit einigen katholischen Geistlichen umgeben.
Außerdem waren vorzugsweise Preußen in dieser Fraktion; ich nenne v. Treskow-
Grochvlin, welcher bis zum letzten Augenblicke am treuesten zur preußischen
Fahne hielt, v. Schlotheim, zuletzt Präsident in Potsdam, Schultz, damals
Oberregierungsrat in Potsdam, Tanun, damals Gerichtsdirektor in Zielenzig,
v. Boddien, damals Rittmeister, Deetz, Hauptmann; später traten auch Schwerin,
Vincke, Flottwell für einige Zeit zu uns über. Von Ausländern erinnere ich
mich außer an einige katholische Geistliche nur noch an Detmold und v. Vothmer
ans Hannover, Rothenhan aus Baiern, Arneth aus Wien.
Der Aufenthalt in Frankfurt war in der ersten Zeit recht ungemütlich.
Wenn sich das Leben auch für einige Stunden des Tages durch die Fraktions¬
bildung etwas gebessert hatte, so blieb unsre Stellung in der Paulskirche doch
immer eine trostlose. Nicht nnr daß unsre Partei in allen wichtigen Fragen
ohne Ausnahme überstimmt wurde, auch der Preußenhaß, der sich bei den Ab¬
geordneten aus deu süddeutschen Staaten kundgab, und das Mißtrauen der
Österreicher verstimmten uns und bereiteten uns mancherlei Widerwärtigkeiten.
Dadurch wurde unsre Stellung mit jedem Tage schwieriger. Ich habe uuter
allen Österreichern damals nur einen einzigen Abgeordneten kennen gelernt, mit
dem es möglich war, einen Gegenstand in Ruhe und objektiv zu besprechen;
das war Herr v. Arneth, ein feiner, liebenswürdiger Mann aus Wien. Dabei
litt die Versammlung sogar an übergroßer Gelehrsamkeit. Es war beschlossen
worden, vor der Verfassung zunächst die Grundrechte des deutschen Volkes zu
beraten, welche das Fundament der Verfassung werden sollten. Wenn nun ein
deutscher Professor irgend einen nichtssagenden Gemeinplatz (wie z. B. „die
Wissenschaft ist frei") als sein Thema verarbeiten konnte, dann fühlte er sich
so recht behaglich und heimisch und konnte stundenlange, einschläfernde Reden
halten, die unsre Geduld auf eine harte Probe stellten, uns aber gleichzeitig
überzeugten, daß auf diesem rein theoretisirender Wege das eigentliche Ziel
niemals erreicht werden würde. Diese Überzeugung drückte denn wie ein Alp
auf uns; mir wurde immer klarer, daß bei den sich so vielfach widersprechenden
Interessen der einzelnen deutsche» Staaten eine so bunte, teils doktrinäre, teils
unerfahrene Versammlung eine Verfassung für das gesamte Deutschland niemals
zu stände bringen würde und daß sich ein solches Ziel wohl nur auf dem
Schlachtfelde würde erreichet? lassen. Zwischeuein wurden dann gelegentlich unsre
Schlafanwandlungen verscheucht, wenn Robert Blum, Schlüssel, Franz Raveau,
Simon von Trier und Genossen ihre staatsmünnische Weisheit zum besten
gaben, und man die Ziele erkannte, auf welche diese Herren eigentlich lossteuerte».
Sie erklärten ganz offen, daß es durchaus notwendig sei, alle Monarchien zu
beseitigen; ganz Europa müsse eine einzige große Republik werden, Adel und
Orden seien abzuschaffen; selbst die Familiennamen seien überflüssig, ja öfters
schädlich, weil z. B. eine Familie, die wiederholt hervorragende Männer ge¬
liefert habe, sich leicht einbilden könnte, sie wäre etwas besseres als eine andre;
statt der Familiennamen würden europäische Nummern genügen. Man erkannte
zwar an, daß die Verwirklichung dieses Ideales auf Schwierigkeiten stoßen
würde. So würde Rußland, dieser unheilvolle Koloß, gewiß den meisten Wider¬
stand leisten; aber man dürfe nicht müde werden, dort eine Umsturzpartei zu
gründen und in Thätigkeit zu setzen, und wenn es derselben erst gelänge, den
Kaiser und das ganze Fürstenhaus zu beseitigen (man sagte: zu zermalmen),
so würde man mit dem Volke schon fertig werden und der Zarenthron würde
fallen. Die spätern Ereignisse haben mich belehrt, daß man in der That nicht
müde geworden ist, an diesem Plane weiter zu arbeiten.
Es ist wohl natürlich, daß man sich nach dem Genusse so vieler und teil¬
weise so abenteuerlicher Reden nach einer Auffrischung unter Gottes freiem
Himmel sehnte. Als daher die Pfingstfeiertage nahten und mit ihnen eine
Unterbrechung unsrer Verhandlungen eintrat, machte ich mit den? Landrat Grafen
Goltz ans Chvdzicsen. dem Landrat Brescius aus Züllichau und dem Ober¬
förster von Massow aus Schlesien (später Oberforstmeister in Potsdam) einen
Ausflug nach der Schweiz. Eine Beschreibung dieser Reise unterlasse ich, will
aber eines Zwischenfallcs Erwähnung thun. Wir fuhren in einem Fischerboote
in der Richtung nach Luzern über den Vierwaldstcitter See. Bei heiterm
Himmel und völliger Windstille hatten wir unser Fahrzeug bestiegen. Wir
sprachen gerade über den Wechsel der Witterung und daß doch wohl ein ur¬
plötzlicher Orkan kaum zu erwarten sei, als unsre Schiffer erschreckt riefen:
„Der Föhn von Uri kommt!" Wir entdeckten denn auch sofort, anfänglich noch
in großer Entfernung, mächtig aufgetürmte Wellen, welche durch einen ans den
Schluchten des Rigi kommenden Orkan aufgepeitscht und uns immer näher ge¬
trieben wurden. Schon hatte» sie unser Fahrzeug erreicht, als wir dasselbe erst
näher betrachteten und von seiner Zerbrechlichkeit eine etwas beängstigende Über¬
zeugung gewannen. Selbst die Besitzer des Bootes erklärten, daß es einen
besonders heftigen Wellenstoß nicht aushalten könne. Keiner von uns glaubte
mehr an die Möglichkeit eiuer Rettung. Der Schiffsführer lag der Länge nach
auf dem Fußboden und geberdete sich wie ein Verzweifelnder. Auf der Bank
mir gegenüber saß Graf Goltz; obgleich er so korpulent war, daß man ihn in
der Paulskirche scherzhaft den „Ncichsschwerpunkt" nannte, konnte er doch nicht
schwimmen. Er klammerte sich daher an meine Kniee und drückte dabei seine
Finger mir mit solcher Kraft ins Fleisch, daß ich noch lange die Erinnerung
an jene Szene in Gestalt bläulicher Flecke am Leibe getragen habe. Wir
drängten zum Landen. Die Ruderer fürchteten zwar die felsigen Ufcrhöhcn,
doch endlich gelang es uns, auf der Westküste, nördlich vom Pilatus, eine Bucht
zu gewinnen, wo dann ein jeder von uus durch einen kühnen Tellssprung den
festen Erd- oder Steinboden erreichte. Wir eilten nach Luzern und unterhielten
uns dort des Abends beim Schoppen sehr gemütlich über das eben überstandene
Abenteuer. Dasselbe kam uus so merkwürdig vor, daß wir verabredeten, so
lange noch zwei von uns lebten, alljährlich an diesem Gedenktage zusammen¬
zukommen und uns mit Dank gegen Gott der wunderbaren Errettung ans Ge¬
fahr zu erinnern. Dieser schöne Vorsatz ist denn anch in der That nicht ein
einzigesmal zur Ausführung gekommen.
Nach achttägiger Abwesenheit trafen wir wieder in Frankfurt ein, wo die
alte Melodie unverdrossen weiter gesungen wurde; es war entsetzlich langweilig.
Im Laufe des Sommers überzeugte sich die Versammlung von der Not¬
wendigkeit, dem deutscheu Reiche ein Oberhaupt zu geben. Es wurde der Erz¬
herzog Johann von Österreich zum „Reichsverweser" gewählt. Man war auf
diesen hohen Herrn gekommen, weil er bei Gelegenheit einer größern Festtafel
am Rhein, der auch unser König beigewohnt hatte und die mit verschiednen
Toasten auf Preußen und Österreich gewürzt worden war. ausgerufen haben
sollte: „Nicht Preußen, nicht Österreich. Deutschland sei unser Panier!" Dies
war also unser Mann. Er zog mit seiner Gemahlin, die er aus niederm
Stande gewählt hatte, in Frankfurt ein und fing an, dort zu regieren. Dies
Regiment war aber ein kläglich schwaches und gab zu allerlei geflügelten
Worten Veranlassung, in denen sich die Unzufriedenheit und die Enttäuschung
der wahren Reichsfreunde in herbster Weise aussprach. Er umgab sich sofort
mit einem zahlreichen Ministerium, Unterstaatssekretären?c., die alle der Mittel¬
partei der Paulskirche angehörten und sich sehr gern in diese hohen Ämter
berufen ließen. Gagern wurde Premierminister, legte daher sein Präsidium
nieder, welches nun Simson aus Königsberg übernahm und mit anerkennens¬
werten Takt und Geschick weiterführte. Von dem neuen Regimente merkte man
nichts, in der Paulskirche blieb alles beim Alten, und die Verhältnisse bewahrten
denselben Fortgang oder vielmehr Stillstand. Nur in der Mitte des September
unterbrach sie ein interessantes, aber freilich wenig erfreuliches Ereignis. Der
Wahnsinn des Volkes hatte in diesen Tagen seinen Höhepunkt erreicht und
konnte bei einer so schwachen Negierung ziemlich ungehindert walten. Unserm
Jahrhundert wird es schwerlich, der Nachwelt sicher nie gelingen, die Beweggründe
für das damalige Verhalten des dentschen Volkes klar zu erkennen; was ich
darüber weiß oder mir kombinire, will ich hier niederschreiben.
Preußen hatte sein Gardckorps nach Schleswig geschickt, um diese Provinz
für Deutschland zu retten. In Berlin schien man zu der Überzeugung gelangt
zu sein, daß sich ohne ein starkes stehendes Heer der Thron nicht schützen lasse.
Einzelne Linienrcgimentcr waren dorthin gezogen worden. Aber solche Be¬
satzungen waren zu schwach für die große Stadt; sie hatten es nicht verhindern
tonnen, daß sogar das Zeughaus geplündert wurde. Die Negierung wollte sich
ermannen, konnte das aber nur, wenn sie einen festen Rückhalt hatte. Man sah
daher sehnsüchtig nach den Garden, die sich uuter Wrcmgels Führung glänzend
geschlagen, das ihnen gesteckte Ziel aber noch lange nicht erreicht hatten. Man
wollte den Frieden, Es wurde ein Waffenstillstand zu Malmö geschlossen, und
dieser sollte von der deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche rati-
habirt werden. Die Demokratie wollte das nicht, ja die ganze liberale Partei
war diesem Ansinnen entgegen. Man fürchtete offenbar, daß sich wieder ein
starkes Königtum in Deutschland erheben würde, schützte aber als Grund der
Weigerung die Ausrede vor, daß Schleswig ja noch nicht deutsch wäre. Die
eigentliche Demokratie hatte indessen noch viel weiter gesteckte Ziele im Auge.
Durch einen gewaltigen Stoß, der von Frankfurt aus die Welt erschütter»
sollte, hoffte man die europäische Republik vorzubereiten. Die demokratischen
Mitglieder der Versammlung zogen die Fäden, welche sie über den ganzen Süden
Deutschlands gesponnen hatten, so stark wie möglich an. In jeder kleinen Stadt,
in jedem Dorfe war eine Art Bürgerwehr errichtet, die man „Turner" nannte.
Alle diese Massen, denen es nicht an Bewaffnung fehlte, wurde» von nah und fern
nach Frankfurt herangezogen.
Schon am 16. September, als die Frage des Malmöer Waffenstillstandes
zum erstenmale zur Beratung, aber noch nicht zum Abschlüsse kam, war eine
ungeheure Menge dieser Turner in den Straßen Frankfurts und auf der obersten
Galerie der Paulskirche zu sehen. Um die Leute kennen zu lernen, welche für
die Berliner Negierung stimmen würden, und um sie demnächst als Missethäter
brandmarken zu können, fanden über sehr viele Amendements namentliche Ab¬
stimmungen statt. Während dieser namentlicher Abstimmungen (es waren deren
vierzehn; jede dauerte ungefähr eine halbe Stunde, in welcher Zeit man nur
einmal, wenn der Name verlesen wurde, ein Ja oder Nein zu rufen hatte)
benutzte ich meine Muße, um Briefe zu schreiben. Diese Briefe trug ich dann
in einer Pause selbst zur Post. Auf dem Rückwege zur Paulskirche fand ich
aber deu Platz vor derselben von einer solchen Menschenmenge angefüllt, daß
mir das Durchdrängen schon schwer wurde. Die Sitzung, welche, wie gewöhnlich,
um zehn Uhr vormittags begonnen hatte, währte bis in den dunkeln Abend;
das Lokal war auf Erleuchtung nicht eingerichtet, und die provisorische Er¬
leuchtung durch einige Stearinkerzen auf dem Präsidententische genügte gerade,
um zu erkennen, wie finster es war, und um den Helden der obersten Galerie
ihr Spiel zu erleichtern, wenn sie im Zwielicht ihre Knüttel auf die Köpfe der
Rechten herabwarfen, so oft ein Ja oder Nein der Abstimmung ihren Beifall
nicht fand. Nach dem Schluß der Sitzung, etwa um sieben Uhr abends, begaben
sich die meisten Mitglieder der Rechten nach dem „Englischen Hofe," um dort
zu speisen. Ich selbst hatte an diesem Tage einen Besuch, den ich als Gast
mit dorthin nahm. Unser Hunger war noch nicht gestillt, als plötzlich ein Stein
auf den Tisch flog. Vor den Fenstern wütete ein großer Volkshaufe, der das
Haus angriff, weil es notorisch der Versammlungsort der Rechten war. Wir
verteidigten die Festung, so gut wir konnten. Die Fensterladen wurden ge¬
schlossen, die Thüren verrammelt, und an jedes Fenster stellten sich zwei Mann
mit Flaschen oder Stühlen bewaffnet; der heftige Steinhagel aber zertrümmerte
bald die Fensterladen, und durch diese Breschen steckten schon einige „Turner"
ihre wutverzerrten Gesichter. Ich erinnere mich, daß ich einem derselben mit
einer Flasche so kräftig entgegenfuhr, daß er sich schnell zurückzog und es mir
zweifelhaft blieb, ob ihn nicht der bloße Schreck vom.weitern Vordringen abstehen
ließ. Endlich meldeten uns die Kellner, daß sie auf dem Hofe eine Thür ge¬
öffnet hätten, durch welche wir in ein Hintergäßchen entkommen könnten.
Dringend forderten sie uns zu dieser Flucht auf, die dem tobenden Volke das
Ziel seiner Wut entziehen und so das Hans außer Gefahr setzen würde. Wir
folgten widerwillig. Ich darf nicht verschweigen, daß mich beim Hinaustreten
ins Freie ein Gefühl beschlich, wie es ein Kommandant haben mag, der seine
Festung aufgiebt. Ich mischte mich nnn selbst unter den Volkshaufen und
habe mehrere Nachtstunden hindurch mich mit demselben auf dem Frankfurter
Straßenpflaster herumgetrieben, immer hoffend, ich würde endlich doch noch
erfahren, was die Leute eigentlich wollten. Aber nein! Niemand in der wüsten
Menge schien dies selbst zu wissen. Skandal machen, Fenster einwerfen, Laternen
zertrümmern und recht viel Branntwein saufen war offenbar der einzige Zweck;
an Branntwein trug jedes Mitglied dieser souveränen Menge eine wohlgefülltc
Flasche bei sich. Die Anstifter des Unfugs ließen sich nirgends sehen; sie allein
werden genau gewußt haben, zu welchem Zwecke das widerliche Treiben dienen
sollte. Mir erschien das Ganze als eine Art Vorübung, um die Truppe für
größere Unternehmungen schlagfertig zu machen und ihr die Lust an solchen
zu reizen. Die Bürgerwehr erschien in dieser Nacht ebenso wenig, wie an den
folgenden Tagen des Aufstandes, obgleich Frankfurt ein gut ausgerüstetes und
gedrilltes Bataillon besaß; „aber — so sagte mir einige Tage später ein mir
bekannter Weinhändler — wir wußten ja gar nicht, auf welcher Seite der Sieg
sein würde, darum blieben wir noch zu Hause." Ab und zu begegneten wir
starken Patrouillen der österreichischen Garnison. Sie begrüßten sich jedesmal
mit unserm Haufen unter dem gegenseitigen Zurufe: „Gute Kameraden!" und
schienen gern die ihnen gastfrei gebotene Flasche anzunehmen. Bei solchem
Verhalten war von jener Seite im Fall eines ernstern Zusammenstoßes kaum
auf Schutz zu rechnen. (Fortsetzung folgt.)
Die Mehrzahl unsrer Leser wird diesen Namen
mit einem Fragezeichen begrüßen: Wer war, wer ist Johann Georg Kastner? Ein
von deutschen Eltern in Straßburg entflammter (geb. den 9. März 1810) Musiker,
welcher seit 1835 in Paris wirkte und daselbst (19. Dezember) 1867 gestorben ist.
Um die Musik in Frankreich hat sich Kastner mannichfache Verdienste erworben.
Sein Name ist mit der neuesten Geschichte der Militärmusik, des Schulgesangs,
der Männerchöre in diesem Lande eng verknüpft. Die von dem Instrumenten-
macher Sax erfundenen Verbesserungen der Blasinstrumente, welche mittlerweile in
allen musikalischen Ländern angenommen, nachgeahmt oder wenigstens in einzelnen
Teilen benutzt worden sind, wären ohne das Eingreifen Kastners kaum zur Geltung
gekommen. Der musikalische Unterricht verdankt Kastner eine Reihe von Lehr¬
büchern, in denen ein reiches, vielseitiges Wissen nud eine außerordentlich feine
Beobachtung in sehr eingänglicher und fördernder Form niedergelegt sind. In
Deutschland ist er innerhalb der Fachkreise wenig, außerhalb derselben Wohl gar
nicht bekannt geworden. Ju unsern musikalischen Wörterbüchern wird er ziemlich
kurz behandelt; die gleichzeitigen Zeitschriften enthalten in der Periode, wo er als
Opernkomponist nach einer Stellung rang, spärliche Notizen; deutsche Musiker,
welche sich in Paris aufhielte», widmen ihm anerkennende Zeilen, die mehr dem
liebenswürdigen Menschen als dem Künstler gelten. Die ausführlichste Skizze
Kastners, der wir in der deutschen Literatur begegnet sind, giebt Hanslick in seinem
Berichte über die Pariser Weltausstellung vom Jahre 1867, und in ihr ist die
Lebensarbeit und das künstlerische Wesen Kastners als das eines interessanten
Sonderlings aufgefaßt.
Ueber diesen I. G. Kastner nun hat kürzlich Hermann Ludwig, der ge¬
schätzte, auch den Lesern der Grenzboten als Mitarbeiter bekannte Straßburger
Philolog, eine Biographie veröffentlicht, die drei starke Bände umfaßt.'") Auch wir
sind hierüber erstaunt gewesen. Die zwei Bände, in denen Spitta einen I. S. Bach
behandelt hat, wenn sie auch einige hundert Seiten mehr haben, sehen gegen diesen
dreibändigen Kastner kümmerlich aus. Monumentale Ausstattung mit Kopfleisten,
breiten Rändern, größtem Buchstabenformat, reichliche Facsimiles von Künstler- und
Ministerbriefen, prachtvolle Photographische Drucke, eine Notenbeilage in Satz und
Papier gleich elegant! Doch man kommt schließlich über eine solche Nebensache
hinweg, zumal da der sachlich ganz unpassende Anhang über Kastners Sohn, den
früh verstorbenen Physiker Friedrich Kastner, die deutliche Erklärung abgiebt, daß
diese Biographie in erster Linie aus dem Wunsche der Familie hervorgegangen ist,
und daß die liebevollen Angehörigen die Größe dieses literarischen Denkmals nicht
nach dem Gegenstande, sondern nach dem Maße des eignen Herzens bestimmten.
Es wäre aber doch Schade, wenn die Bekanntschaft mit der Biographie, welche
H. Ludwig von Kastner gegeben hat, bloß auf den engen Kreis der Familie und
der Persönlich Bekannten beschränkt bliebe. Auch das Gehege der großen Biblio¬
theken, in welches sie augenblicklich der Kostenpreis verweist, ist für sie zu eng.
Das Buch verdient eine weitere Beachtung, nicht bloß die Von Musikern und
Musikfreunden; es ist für die ganze gebildete Welt interessant, und deshalb fühlen
wir uns veranlaßt, es an dieser Stelle zur Anzeige zu bringen.
Ihre Bedeutung verdankt diese Biographie dem Biographen, seiner weit¬
blickenden Auffassung und seiner ebenso geistvollen Behandlung des Stoffes. Her¬
mann Ludwig betrachtet das Leben und Schaffen des elsässischen Musikers als einen
Fall, welcher in allgemein belehrender Weise das Zusammentreffen und gemein¬
schaftliche Wirken deutschen und französischen Geistes zeigen kann. Seine Arbeit
hat ein friedliches Ziel und führt aus der augenblicklichen Erregung und Spannung,
welche zwischen zwei begabten Völkern besteht, den Blick auf ein ideales Bild: auf
eine Nachbarschaft der beiden Länder, in der das eine das andre fördert, wo der
Austausch des geistigen Erbgutes und der geistigen Arbeit den Halt und den
Mittelpunkt des freuudschnftlicheu Zusammenlebens bildet. Ein solches Verhältnis
ist keine bloße Znknnftsphantcisic, sondern seine Möglichkeit zu beweisen findet der
Verfasser die Mittel in der Geschichte seines Kastner und in der Geschichte des
Elsaß. Wir können ihm hier seinen langen historischen Weg nicht im einzelnen
nachgehen, aber wir dürfen den Lesern empfehlen, dies zu thun. Der erste Band
der Biographie enthält in der gegen sechzig Seiten betragenden Einleitung eine
Schilderung von dem Geschick und dem Wesen elsässischen Volkes und Landes,
welche auch neben und nach dem bekannten Werke von Scherer und Martin ihren
selbständigen Wert behauptet. Sie übertrifft und ergänzt jene vorzügliche Arbeit
in der lebendigen und liebevollen Darstellung des geistigen Lebens in dem alten
allemannischen Stamm. Der Gottfried, der den Triften schrieb, Sebastian Braut,
Erwin von Steinbach — man braucht kein Eingeborner zu sein, um sich über die
stattliche Reihe stolzer Namen zu freuen, die das Land unter den Vogesen deutscher
Kunst und Wissenschaft gestellt hat. Wie schön, daß wir das Elsaß und das reiche
Stück bedeutender Vergangenheit, das in seiner Geschichte liegt, wieder unser nennen
können, daß wir uns uicht mehr zu schämen brauchen, wenn wir den Namen
hören! Der Verfasser teilt uns nichts neues mit, wenn er den Umschlag im Denken
und Fühlen in den geistigen Leistungen der elsässischen Bevölkerung mit dem Ende
und den Wirkungen der großen Revolution und mit den Feldzügen Napoleons I.
zusammenfallen läßt. Aber er zeigt diesen Wandel an sehr anschaulichen, hübsch
herausgegriffenen und von fernerstehenden nicht gekannten Beispielen aus jeder Art
des Volkslebens. Namentlich in der Geschichte des Straßburger Vereinswesens
spiegelt sich die Größe der Veränderung wieder. Die Meistersinger und die Pom-
piers werden hier zeitlich zu Nachbarn! Von der Zeit ab, wo sich im Elsaß die
französische Staatsangehörigkeit auch innerlich, durch Schule und Kirche, fühlbar
macht, spricht der Verfasser von einer doppelten Nationalität der gebildeten Elsässer:
einer uatioimlito xolitiguv und einer ng,t,loua.IitL wol'ano. Man würde das im ge¬
meinen Leben auch so ausdrücken können: deutsches und französisches Wesen be¬
rühren sich von jener Zeit ab im Elsaß und im Elsässer, sie bedrängen sich und
suchen nach Ausgleich. Freilich hat sich dieser Ausgleich thatsächlich immer sehr
einseitig zu Gunsten der französischen Seite vollzogen. H. Ludwig denkt darüber
Wohl etwas optimistisch, hat aber wenigstens in dem Falle Kastner Recht. Denn
dieser giebt ein Beispiel und einen Beweis dafür, daß sich deutsche Art bis zu
einer gewissen Grenze auch im Mittelpunkte des Franzosentums bewähren und
bethätigen läßt und fruchtbringend wirken kann. Kastner blieb in Paris ein
deutscher Idealist und verwendete als solcher einen beträchtlichen Teil seiner besten
Zeit und seiner besten Kraft an Aufgaben, welche als unproduktive außer dem
Gesichtskreise der Durchschuittsfrcmzosen gelegen hätten. Allerdings ohne Schule zu
machen! Die merkwürdigsten Früchte dieser deutscheu Richtung in Kastner sind seine
livros-xa-rtition«. Das sind Abhandlungen halb geschichtlicher, halb philosophischer Natur
über Themata, die entweder so nah oder so fern liegen, daß kein Mensch daran denkt,
sie zum Gegenstande eingehender Betrachtung zu machen. Wir führen von jedem
Extrem ein Beispiel an: die eine von diesen sieben livrss-xiu'titions handelt über die
Pariser Straßenausrufe (los voix alö Z?aris), eine andre über die Sphärenmusik und
die Aeolsharfe (la. tun-po ä'liois on l-i, musiciuo eosmeÄcmö). Wenn der Ge¬
lehrte fertig ist, kommt Kastner ein zweitesmal als Komponist und giebt von der
Sache ein musikalisches Bild, worin sich alle Farben vereinigen, über die das musi¬
kalische Paris seiner Zeit nur verfügen konnte. Kastner, dem Forscher, fehlte es
freilich an Kritik, Kastner, dein Musiker, an Selbständigkeit des Ausdrucks. Aber
die Mängel des litterarischen Teiles werden nahezu aufgewogen durch den ganz un-
geheuern Fleiß, mit dem alles Material, welches zur Sache in irgend welcher Be¬
ziehung steht, zusammengetragen ist. Ob diese Arbeiten durch eine korrigirende
Hand wissenschaftlich vollbttrtig gemacht werden können, lassen wir dahingestellt;
aber wer sich mit denselben Fragen zu thun macht und weiß nichts von Kastner,
ist zu bedauern. Der Schwäche im musikalischen Teile dieser livros-vin'titions steht
die Klarheit und der poetische Gehalt der Intentionen gegenüber und stärker als
diese Vorzüge eine wirkliche Ursprünglichkeit in der Jnstrumentation. Wie Kastner
die Aeolsharfe und andre Klänge der Luft- und Waldmusik mit den Mitteln unsers
heutigen Orchesters nachgeahmt hat, das beruht auf einer eignen und starken Be¬
gabung, und wäre Kastner Geschäftsmann gewesen, so hätte ihm der Ruhm eines
Spezialisten auf dem akustisch schaffenden Gebiet nicht fehlen können. Er ist hier
Berlioz überlegen; wenn wir auch nicht mit dem Verfasser annehmen wollen, daß
letzterer von Kastner seine Anregungen empfangen habe. Denn das widerspricht
dem chronologischen Bestande. Die hier erwähnten positiven Seiten der livros-
WrtÄions mögen der Anlaß gewesen sein, daß Kastner für eines dieser Werke, den
vauso ro^oabro, von Friedrich Wilhelm IV, dekorirt und zum Mitglied? der Berliner
Akademie ernannt wurde. Auch an weitern Ehrenbezeugungen hat es ihm nicht
gefehlt. Doch diese machen einen Menschen nicht bedeutend; Kastners Leistungen
als Musiker sind das nicht. Seine Opern hatten kein Glück, und das war nicht
bloß die Folge von äußerlichen Verhältnissen. In Berichten, die wir über Auf¬
führungen von Kastners Werken in der Neuen Zeitschrift für Musik finden, sind
die Gründe für das Fehlen des nachhaltigen Erfolges ans der Musik sehr deutlich
angegeben, und wenn wir nach dem Musterbeispiel, welches Ludwig aus Kastners
Hauptwerke I>o cisrnisr roi Ap ^una mitteilt, ein Urteil aussprechen dürfen, so kann
das nur abfällig sein. Wie freundlich sich auch Meyerbeer über dieses Werk aus¬
gesprochen haben mag, was wir hier als Probe zu scheu bekommen, ist nichts als
eine zu jener Zeit landläufige Nachahmung des Rossini-Stils. Kastners Kompo¬
sitionen lassen wir fallen. Es sind hübsche Sachen darunter, namentlich unter
seinen Männerchören; aber das Feld, wo er hätte allein stehen können, hat er nicht
gefunden.
Trotz dieses Abzuges bleibt eine originale Natur stehen, deren Pläne und
Thaten zu übersehen sich verlohnt. Zur Hauptfigur für ein Historienbild reicht er
nicht aus, aber er ist eigenartig, reich und liebenswürdig genug, um die Mitte
eines bewegten Genrebildes einzunehmen. Die Kunst und die Fülle des Inhaltes,
welche im Hintergrunde des von H. Ludwig gegebenen Gemäldes liegt, ist so be¬
deutend, daß man nicht stark genug darauf verweisen kann: Bilder aus der
elsässischen und der Pariser Musikgeschichte, aus dem Volksleben und dem Familien¬
leben, die man zu Genuß oder zu Belehrung immer wieder gern aufschlagen wird.
Welch prächtige Leute, diese Bonrscmlts, die Schwiegereltern Knstuers, und Wie
bedeutend ihr Salon: ein kleines Pantheon! Diese Biographie, ein Werk, welches
einen interessanten Gegenstand von hohen Gesichtspunkten aus meisterlich darstellt,
hat allen Anspruch und alle Aussicht, eins der begehrtesten Meder zu werden.
Aber bitte: nur ja in einen Band zusammengedrängt!
ist es, das Ernst von Wildenbruch als getreuer Ritter
der Frau Hermine Schmidt von Preuschen, deren Seusationsbild Nors iwxor^lor
von der Hängekommission der Berliner akademischen Kunstausstellung zurückgewiesen
wurde, verkündet: „Der Künstlername ist ein Recht." Wildenbruchs Brief, der
bezeichnenderweise durch das „Berliner Tageblatt" seinen Weg in die Öffentlich¬
keit gefunden hat, wird seinen Anhängern und Verehrern, die seinen Bestrebungen
als dramatischer Dichter mit jenem vollen Anteil gefolgt sind, den man allem
ernsten Streben entgegenbringe» muß, weniger Frende bereitet haben als seinen
Gegnern. Die Bilderangelegenheit an sich ist es nicht, die uns besonders kümmert.
Aber die eigentümliche Theorie, das „neue Gebot," welches der Dichter, sich mit
Frau Schmidt im Schmerzgefühl über mangelnde Anerkennung — hat er dazu
wohl ein Recht? — eins fühlend, aufstellt, verdient einige Worte der Erörterung.
Die Kernstelle des Wildenbruchschen Briefes lautet:
..... Der Vorgang ist ein neuer bedauerlicher Beweis für die Machtlosigkeit
der künstlerischen Persönlichkeit in Deutschland; eine Machtlosigkeit, die der Maler
gegenüber der Ausstellungsjury, der dramatische Dichter gegenüber den Bühnen¬
verwaltungen empfinden lernt. Die einzige Waffe, die dem Künstler zu Gebote
steht, die er sich selbst mit Hingabe seiner Lebenskräfte schmieden muß, ist der
Name, deu er sich erringt. Eine richtige Auffassung würde dahin führen, daß die
Jury oder die Bühne sagte: »Ein Bild oder ein Drama, das unter diesem Namen
geht, muß unter allen Umständen der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, denn
nicht wir übernehmen die Verantwortlichkeit, sondern der Träger des Namens für
sich selbst.« Und wie gestaltet sich die Sache in Wirklichkeit? Jury und Bühne
stellen sich dem Träger des bewährtesten Namens ganz mit demselben Unfehlbar¬
keitsbewußtsein gegenüber wie dein namenlosen Anfänger. Davon, daß ein Künstler¬
name ein Recht ist, wissen sie nichts. ..."
Wenn Wildenbruch einen wohlerworbenen Künstlernamen eine Waffe nennt,
die der Künstler gegenüber Hängekommissioncn und Bühnenverwaltungen zu ge¬
brauchen vermag, so ist das völlig zutreffend, und mancher namenlose und doch
leistnngskrciftige Anfänger wird seinen glücklichen Kollegen um diese Waffe, welche
das Thor der Kunstinstitute lind das Herz des Publikums entriegelt, beneiden.
Alls der Waffe aber im Handumdrehen ein Recht zu machen, ist eine Logik, der
man aufs entschiedenste entgegentreten muß. Wir sind vielmehr der ernsthafte»
Meinung, daß auch der „namhafte" Künstler sich mit jedem neuen Werke Anteil
und Beifall von neuem verdienen müsse. Auch bei unsern größten Geistern unter¬
scheiden wir zwischen den Werken, durch welche sie sich ans die Höhe der Klassizität
erhoben, und den minderwertigen, bei denen der Vater Homer einmal zu schlafen
beliebte. Uodlssso oblixo! Der Besitz einer Waffe giebt in unserm vielgerühmten
Zeitalter der Bildung und Gesittung dem Stärkern durchaus kein Recht gegenüber
dem Schwächern, wohl aber haftet ans ihr eine hohe Pflicht: nur wahrhaft Gutes
und Edles zu schaffen, daß auf Waffe und Wappen kein Tadel komme. Es ist
eine alte Klage in den Vorhallen, die zu den Tempeln der Kunst führen — gleich¬
viel, welcher Muse sie geweiht sind: daß es dem Alifänger so sehr erschwert werde,
zur Geltung und zu Gehör zu kommen. Wäre es nicht die offene Verkündung
der Cliquenwirtschaft, wenn vor allem die bewährten Namen das Recht hätten, die
Ncpertoirskalender und die Saalwände zu belegen? Wie sollte es schließlich möglich
sein, für den namenlosen Anfänger auch mir das bescheidenste Plätzchen herauszu¬
schlagen?
Und wo hören die Namenträger auf, wo fangen die Namenlosen an? Wer
soll die Grenze bestimmen, wenn nicht eben wieder eine verhaßte Jury, und wie
soll sie bestimmt werden? Das letztere ist ebenso wenig möglich, als man bei
einer Kompagnie Soldaten, die sich der Größe nach aufgestellt hat, ohne Willkür
entscheiden kann: Hier, bei diesem Manne, hören die Großen auf, und bei seinem
Nebenmanne fangen die Kleinen an. Und dann giebt es der Namenträger so viele,
deren Namen und Berühmtheit, von der Tagesmode getragen, an sich zweifellos,
aber doch von höchst fragwürdigen sittlichen wie künstlerischen Werte ist. Wir
wollen nicht durch Beispiele anzüglich werden; aber wie viel Bühnendichter giebt
es z. B. — Wildenbruch nehmen wir selbstverständlich aus —, die auf ein oder
zwei leidliche und gefällige Stücke hin, die ihnen einen „bewährtesten Namen"
gemacht haben, Winter für Winter die Bühnen mit seichten und schwächlichen
Erzeugnisse überschwemmen und, für die ErstlingsauffiHruugeu wenigstens, zutrau¬
liche Direktionen und zutrauliches Publikum finden? Hier ist — leider! — „der
Künstlername ein Recht"; da wo sich die Wildenbruchsche Forderung verwirklicht
findet, ist sie meistens zu Mißbrauch und Täuschung des Publikums ausgeartet,
und deshalb sollte es ein Manu wie Wildenbruch vor allem verschmähen, das Recht
des Stärkern zu verkünden.
Erst heute kam mir der Aufsatz
„Die Tonleiter im Musikunterricht. Aus Tagebuchblättern eines Svnntagsphilo-
sophen" zu Gesicht, an dessen Schluß es heißt: „Was aber zu solchen Laienvorschlage
die Herren Musiker zu sagen haben? Ich möchte es schon wissen,"
"
Nun bin ich zwar auch nicht Musiker „von Fach, habe mich jedoch theoretisch
und praktisch viel mit Musik beschäftigt, habe mich, was für die angeregte Frage
vielleicht ein wenig ins Gewicht fallen dürfte, gerade mit der rhythmischen Seite,
zunächst der Poesie in ihrer Beziehung zur Musik, vielfach — auch schriftstellerisch —
befaßt, habe endlich am hiesigen Gymnasium neben meinem Hauptberufe fast den
gesamten Gesangunterricht nahezu 27 Jahre erteilt, und darum erlnnbe ich mir,
meine Ansicht in der beregten Angelegenheit mitzuteilen.
Ich kann nur fügen, daß meines Erachtens der in dem genannten Aufsatze
gemachte Vorschlag feinen rhythmischen und melodischen Sinn verrät. Der Zweck
meiner Zeilen aber ist, diesen Vorschlag für die Uebung der aufsteigenden Ton¬
leiter durch weitere Gründe zu stützen und den für die absteigende etwas umzu¬
gestalten,
1. Durch die Gliederung der steigenden Tonleiter
in dreiteiligem Takte ist nicht nur das, um was es dem Verfasser zu thun war,
nämlich ein Abschluß der Tonreihe, erreicht, welcher rhythmisch und melodisch korrekt
ist und darum Ohr und Gefühl vollkommen befriedigt, sondern es tritt dnrch die
Wiederholung der Quinte oder Dominante auch das obere Tetrachord, zx bis v, gegen¬
über dem untern V bis l bestimmt hervor,*) und der übelklingende und deshalb im
älteren Gesang streug vermiedene Tritiums, d. h. die übermäßige Quart l' bis b,
wird dadurch weniger fühlbar."
2. Ebenso wichtig ist es, daß durch die drei „Knotenpunkte die Tonika, die
Terz und die Quinte wegen ihres zweimaligen Auftretens stärker ins Ohr fallen,
wodurch das reine Anflügen der übrigen Töne erleichtert wird. Hat man es doch
anch schon für natürlich erklärt, den Gesangunterricht nicht mit der Tonleiter zu
beginnen, sondern mit der Uebung der Töne, die dem Stammakkord angehören:
v v x c ---- 1, 3, 5, 8, darauf die des Quartsextenntkordcs folgen zu lassen:
v t' -1 o ----- 1, 4, 6, 8, und dann erst zur Tonleiter überzugehen. Die Methode,
für die schon längst durch gedruckte Wandtafeln gesorgt ist, die aber ohne Zeitverlust
durch Anschreiben an jede mit Notensystem versehene Schultafel ausgeführt werden
kann, scheint mir nach meinen Erfahrungen in der That natürlicher. Es läßt sich
dann auch bei diesen Uebungen, um einen richtigen Schluß der Toureihe zu ge¬
winnen, dasselbe Mittel anwenden, welches in diesen Blättern für die Tonleiter
empfohlen ist, nämlich die dreiteilige Taktart:
e o F > o g c> j 0 — jj
Daß hier eine dreigliedrige Periode herauskommt, darf kein Bedenken erregen.
Deun diese Gliederung ist im Volksliede wie in der Kunstmusik nichts seltenes.
Wer aber dennoch Anstoß daran nehmen sollte, der mag sich durch Wetterführung
in folgender Weise helfen:
V o F I o 8 o j 0 o g> j <z —
und umgekehrt:
oxojLoxjox<^o_^
Ebenso ist es mit der Uebung des Quartscxtenakkordes:
e k ->, i o n. t j e k a j o — !>
und it -I. l > 0 l g. > o s j e —»
Noch mehr würde es sich empfehlen, mit Uebungen nachstehender Art zu be¬
ginnen (in geradem oder zweiteiligein Takt):
e o j c? ö j L g > c! — j o N ! ° L > ° 8^! s ^ ! L ° > L ° l 8 v! 8 ^ I o s ! v ^ ! o s > o ^ !>
Aehnlich abwärts. Auch dreiteiliger Takt läßt sich leicht verwenden. Alles ähnlich
bei Uebung des Quartsexteuakkordes.
3. Die vorgeschlagene Gliederung für die absteigende Tonleiter halte ich auch
für zweckmäßig:
od.g.j??to><l0IIie— >j
Indessen würde ich doch einer andern, der aufsteigenden Tonleiter nachgebildeten,
vom Verfasser ebenfalls gebilligten Form den Vorzug geben, nämlich dieser:
0 b. s, A 1 s l 0 <l j O — j>
und zwar einmal, weil dadurch das untere Tetrachord k bis L sich bestimmt abhebt
und abermals der Tritmms in den Hintergrund gedrängt wird, und ferner, weil
die Wiederholung vou u, und k der oben empfohlenen Uebung des Quartsexten¬
akkordes entspricht.
An die vorausgeschickten Uebungen der beiden Akkorde würde sich nun die der
Tonleiter in den vorgeschlagenen Gliederungen anschließen.
Auf wenigen Bogen stellt hier Pfarrer Schneegans zu Münster a. Stein,
der beste Kenner des Nahethals und seiner Geschichte, das Leben der beiden ritter¬
lichen Freunde dar. Er thut es kurz vor der vierhundertjährigen Jubelfeier Hutteus,
die auf den 21. April des nächst«: Jahres fallen wird. Er thut es in einer
volkstümlichen Sprache, die jedem verständlich ist, ohne diesen verständlichen Ton
durch Opfer zu erkaufen. Daß trotz der vorzüglichen größern Schriften von
David Strauß über Hütten und von Ulmann über Sickingen die beiden genannten
Männer dem deutschen Volke uicht hinlänglich bekannt geworden sind, kann man
ohne große Umschweife bei der ersten besten Rundfrage sich zur Gewißheit bringen.
So war denn wirklich eine Lücke auszufüllen, und Schneegans hat einen guten
Griff gethan. Beide Männer haben in nationaler Beziehung und in kirchlicher
eine sehr scharfe Stellung eingenommen. In kirchlicher Beziehung besteht ja bis
heute derselbe scharfe Gegensatz in Deutschland, und es ist auch uicht zu erwarten,
daß er so bald verschwinden werde. Darum hat der Verfasser diese konfessionellen
Gegensätze, ohne sie ganz zu übergehen, doch in deu Hintergrund gedrängt. Desto
mehr treten bei seinen Helden die Keime deutscher Größe und Einheit hervor, die
sie zuerst in ihren: Wirken und ihren Schriften ausstreuten, und ihre damit zu¬
sammenhängenden Ahnungen höherer freierer Kultur, an der jetzt doch auch Mil¬
lionen freudigen Anteil haben, die den alten Glauben festhalten. So möge denn
das Büchlein wirken, was es kann, um jene deutscheu Männer dem Volke wieder
wert zu machen.
Diese Schrift eines zweifellos begabten und belesenen jungen Gelehrten, dem
es auch nicht an literarischer Gewandtheit mangelt, leidet vor allein an einem
Grundfehler. Die Haltung des Essayisten zu seinem Helden ist eine apologetische.
Er zürnt allen denen, die je seinem Liebling durch ein ablehnendes Urteil zu
nahe getreten sind; er hat große Mühe, sich einzugestehen, daß sein Held nicht
immer und überall das menschliche und künstlerische Ideal erreicht hat; grollend
spricht er von jenen Gegnern, widerwillig erkennt er die Grenzen Uhlands an,
und dieses gemischte Gefühl beeinträchtigt die Sicherheit des Griffels, der ein
lebensvolles Bild zu zeichnen bestrebt ist, führt zu Widersprüchen und Unklarheiten
und bringt einen stellenweise panegyrisch-rhetorischen Ton in die Darstellung, welcher
nirgends überflüssiger ist als bei einer Biographie Uhlands. Denn welches Dichters
Bild steht so makellos, so rein, so unangefochten, so allverehrt im deutschen Pan¬
theon da als das seinige? Der apologetische Ton in der Schrift Fischers ist umso
verwunderlicher, als gerade der Meister deutscher Kritik, dem diese Studie zu¬
geeignet ist, Friedrich Bischer, in seinem Essay über Uhland (in den Kritischen
Gängen) mit unübertroffener Schärfe die Grundziige des großen Schwaben ge¬
zeichnet hat. Wenn Fischer beispielsweise alle Poesie des Weltschmerzes, wie sie
sich bei Byron und Heine gestaltete, immer kurzweg als die Lyrik des eiteln, sich
selbst bespiegelnden Subjekts verurteilt, so geht er doch offenbar zu weit. Freilich hat
Heine Uhland angegriffen. S. 184 spricht Fischer von der verwandelten Stimmung
der fünfziger Jahre und sagt: „Der freche Spötter, der einst über Uhlands Ritter¬
romantik in seiner geistreich-liederlichen Weise gewitzelt hatte, lag zu Paris in
einer jahrelang währenden Auflösung, selbst geschmäht und verlassen, fast mehr,
als er's verdient hatte." Nun, gar so verlassen war Heine in seiner Matratzen¬
gruft nicht. Ist nicht jeder hervorragende Deutsche, der nach Paris kam, zu ihm
gepilgert? Hat er nicht gerade in diese:: seinen Jammerjahren durch den „No-
manzero," wie durch seine Bekehrung die Augen der ganzen Welt auf sich ge¬
lenkt? Haben nicht Laube und Meißner für ihn Lärm gemacht? Freilich war's
nicht schön von Heine, sich so gegen Uhland auszulassen, wie er es gethan hat;
aber in der Art, wie Fischer jugendlich meint, ist er denu doch nicht gerade dafür
gestraft worden. Auch Goethe hat bekanntlich zu Uhlands Anfängen kein ent¬
gegenkommendes Verhältnis bekundet. Fischer weist sehr hübsch die wahrscheinlichen
Motive dieser Goethischen Ablehnung nach; allein ganz verzeihen kann er dem
Alten das halbverstandene Urteil auch nicht. Bei der Besprechung der Unterschiede
zwischen der Lyrik Uhlands und Goethes sagt er (S. 76) u. a.: „Die Natur
spielt bei Uhland keine kleinere Rolle als bei Goethe; aber bei jenem finden wir
nur rein stimmnngsmäßige Naturbetrachtung, bei Goethe auch in den Gedichten
nicht selten eine mehr spekulative Art der Versenkung in die Geheimnisse des Natur-
lebens." Goethes Gedichte und „spekulative Art" — das ist eine Entdeckung,
die dazu gemacht ist, um die minder reiche Uhlandsche Natnrbctrnchtung als die
„reinere" Poesie hinzustellen; denn „die spekulative Art" ist ja, nach Fischer, jenes
Philosophische Ingrediens, welches zwar sehr wirksam, aber doch prosaisch zur Poesie
der Klassiker hinzutritt und ihre Uebermacht begründet. Dagegen mit Mörike, dem
Freunde und Landsmanne Uhlands, da ist es anders bestellt, der ist bei Fischer
trotz des größeren Reichtums gleichwohl unangefochten ein größerer Dichter als
Uhland! Fischer sagt (S. 83): „Uhland ist kein Pantheist und kein Mystiker; jene
Liebesleidenschaft, mit der Mörike den Wogen des Flusses »den sehnsuchtsvollen
Leib« zum Kuß entgegenwirft, jene zauberhafte Mystik, die ans seinem »Besuch in
Urach« oder dem »Gesang zu Zweien in der Nacht« redet, ist ihm iMlcmd^ fremd.
Seine Empfindung ist ruhiger, klarer, gefaßter." Hier, bei dem Goethe so ver¬
wandten Mörike ist also keine Rede mehr von der „spekulativen Art" der Natur¬
betrachtung; Mörikes Beseelung der Natur ist „zauberhaft" und nicht prosaisch
„spekulativ" wie die Goethes! Dieser Widerspruch Fischers ist die Folge seiner Partei¬
lichkeit für Uhland. Ein andres Urteil aber muß noch mehr Wunder nehmen, weil
es den wesentlichen Charakterzug der Uhlandschcn Lyrik mit Stillschweigen über¬
geht. Fischer verfolgt nämlich sorgfältig die Spuren, welche die Kenntnis der
Lyrik Goethes und der Romantiker in Uhlcmds Gedichten hinterlassen hat, aber
seltsam: die Nächstliegende Forschung, den Vergleich mit den deutschen Volks¬
liedern, die Uhland so leidenschaftlich studirt und gesammelt hat — diese
Untersuchung hat Fischer merkwürdigerweise ganz zu macheu unterlassen. Und
doch hat man von jeher in Uhlcmds Lyrik die größte Verwandtschaft mit dem Volks¬
liede anerkannt und ans diese Verwandtschaft vornehmlich die außerordentlichen
Erfolge seiner Gedichte zurückgeführt! Fischer glaubt aber ganz im Gegenteil gegen
diese Ansicht polcmisiren zu müssen; ihm scheint sie wie ein Vorwurf zu klingen,
und apologetisch fügt er hinzu: „Und es thut der künstlerischen Größe Uhlcmds
keinen Eintrag, daß er ein paar Lieder gedichtet hat, die Soldaten und Mägde
fingen" (S. 89). Nein, wahrlich! Uhland hat sich dessen nicht zu schämen;
die meisten Kritiker sind sogar der Ansicht, daß diese Volkstümlichkeit nicht
bloß ein „paar Liedern" Uhlcmds innewohne, sondern daß sie sein herrlichster
Ruhmestitel sei! An Stelle dieser Erkenntnis aber tischt uns Fischer die ab¬
gestandene Weisheit der alten schwäbischen Kritiker auf, indem er als das indivi¬
duellste Kennzeichen des Uhlandschen Wesens anmerkt: „Er ist als Dichter wirklich
bloß Dichter---- Uhlcmds Poesie ist im wesentlichen und jedenfalls da, wo sie ihre
höchste Entfaltung erreicht hat, zeitlos, man könnte auch sagen kulturlos" (S. 7S)
Wir mißverstehen Fischer, wie er befürchtet, durchaus nicht; aber wir glauben, daß
ihm der Vergleich der Uhlandschen Lyrik mit den deutschen Volksliedern schon jene
Kultur offenbart hätte, die er nicht findet und die zu finden Pflicht historisch-kritischer
Methode ist. Denn wenn alles vermißt wird, was von zeitgenössischer Geistes¬
strömung in Uhlcmds Lyrik hätte auftreten können, so bleibt noch immer jener
Reichtum allerdings zeit-, aber nicht kulturloser deutscher volkstümlicher Anschauungen
und Motive, die Uhland bei seinen Studien gesammelt (vergl. or. Hasseusteius
„Ludwig Uhland," Leipzig, Reißner, 1887) und die er seinem Wesen assimilirt
hat. Fischer hat demnach in seiner Charakteristik der Gedichte Uhlcmds das Wesent¬
liche derselben ganz übersehen.
Dahin führte den jungen Forscher nur die ungerechtfertigte Apologie seines Helden.
Scherzes halber mag eine — wir fügen hinzu vereinzelte — Stilblüte derselben hier
ihre Stelle finden: „Ich wüßte keinen andern unsrer Dichter ihm in seiner Art zu ver¬
gleichen; denn er ragt um Haupteslänge empor über die, deuen er seiue poetische»
Ideale entlehnt hat, wie Wer die, welche auf seinen Schultern und in seinem
Sinne weiter gedichtet haben" (S. 92). Wie laug muß Uhlcmds Haupt gewesen
sein, wenn es fogar über diejenigen emporragen soll, die auf seinen Schultern stehe»!
se Rußland nach heute geltendem Rechte oder doch nach einer
herrschend gewordenen und von niemand ernstlich angefochtenen
Übung berechtigt, die unzweifelhaften, feierlichen Zusagen früherer
Kaiser hinsichtlich der inneren Verhältnisse der Ostseeprovinzen,
ihrer Sprache, ihrer Religion, ihrer Einrichtungen ze, als nicht
erfolgt zu betrachten und an die Bewohner jener Provinzen das Ansinnen zu
richten, sich gutwillig oder mit roher Gewalt zu Nationalrussen machen zu lassen?
Hören wir zunächst, wie Rußland selbst dies sein Beginnen rechtfertigt.
Daß die erwähnten Zusagen vorliegen, bestreitet niemand; aber russischerseits
erklärt man sie für veraltet und unter heutigen Umständen nicht mehr rechts¬
verbindlich. Das heutige Staatsrecht, so meinen die russischen Wortführer,
erkennt innerhalb eines Staatswesens keinerlei Zusagen oder Verträgen das
Recht zu, der Entwicklung und Ausgestaltung eines solchen Staatswesens nach
seinen besondern Bedürfnissen hindernd in den Weg zu treten; weder Verpflich¬
tungen, die man einem Auslandsstaate gegenüber eingegangen ist, noch Zusagen,
die man neu hinzugetretenen Staatsangehörigen früher einmal gemacht hat,
könnten das Recht eines Staates beschränken, die zu seiner Festigung und zu
seiner Sicherung gegen jetzige oder künftige Gefahren oder zu sonst einem in
der Natur dieses Staatswesens liegenden Zwecke erforderlichen Maßregeln zu
ergreifen. Um die Frage, wie die Ballen zu Rußland gekommen seien und
welche Versprechungen man ihnen damals — kaum ahnend, wie Rußland sich
entfalten würde — gemacht habe, handle es sich heute nicht mehr; jedenfalls
seien sie jetzt Angehörige des russischen Staates, hätten gewaltige Stürme mit
diesem erlebt und seien darin von Nußland beschützt worden, seien mit Rußland
aufgeblüht und aller Vorteile eines sich entwickelnden großen Staatswesens teil¬
haftig geworden. Heute, angesichts einer Bewegung, welche Rußland zu einem
gewaltigen, auf eignen und eigenartigen Ideen sich aufbauenden Nationalstaate
zu machen gedenke, könne es unmöglich zulässig sein, daß diese Leute sich
weigerten, hieran teilzunehmen, und daß sie ihre fremde Sprache und Sitte
mitten unter russischem Wesen forterhalten wollten. Das Höchste, was sie für
diese Sprache und Sitte beanspruchen dürften, sei Duldung. In allem, was
das Staats- und das Kulturleben betreffe, müßten sie sich einfügen lassen nicht
nnr in die äußern Erscheinungsformen, sondern auch in den Geist des russischen
Volkes und Staates; was sie diesem zu bringen hätten, wolle man dankbar
annehmen, aber es dürfe nichts geben, was innerhalb des russischen Volks¬
körpers ein Sonderleben führe, sonder», was ein Glied desselben sein wolle,
das müsse auch vollständig darin aufgehen. Übrigens, fügt man derartigen
Gedanken stets etwas spöttisch hinzu, andre Völker und Staaten, Deutschland
voran, machte» es ja gegenüber den auf ihrem Gebiete lebenden Angehörigen
andrer Völker genau so, und wenn es einerseits kein vertragsmäßiges Recht
irgend eines Staates gebe, sich in diese innern russischen Verhältnisse einzumischen,
so bestehe also anderseits auch kein moralisches Recht hierzu.
Ohne weiteres als haltlos bezeichnen kann man diesen Standpunkt nicht.
Es ist wahr: für jedes Staatswesen ist sein eignes Bestehen und seine eigne
Entwicklung höchstes Gesetz, und man muß ihm vom Standpunkte des heutigen
Staatsrechtcs aus das Recht zugestehen, sich um dieses höchsten Gesetzes willen
selbst über nicht minder wohlbegründete Ansprüche, die ein Teil des jetzigen
Stacitsganzen erheben könnte, hinwegzusetzen. Die Umstände und Bedingungen,
unter denen dies geschehen darf, können mannichfaltiger Art sein. Die Starke
der öffentlichen Meinung, die handgreifliche Notwendigkeit, zwischen Hemmnissen
der einheitlichen Staatsgewalt ein Ende zu machen, die unvcrhältnismcißige
Geringfügigkeit des im Wege stehenden Einzelrechts und der daran sich knüpfenden
Interessen — das alles kann maßgebend sein; keinesfalls wird der allgemeine
Satz, daß ein Staat nicht unbedingt an die Berücksichtigung innerhalb seines
Gebietes bestehender Sonderrechte gebunden sei, große Anfechtung finden können.
Ebensowenig wird es sich bestreiten lassen, daß es für die Russen ein berechtigter
Standpunkt sein mag, das deutsche Sondcrvolkstum nicht nur an weiterer Aus¬
breitung zu hindern, sondern ihm auch für den Fortbestand in den seit sechs¬
hundert Jahren von ihm beherrschten Gebiete die Adern zu unterbinden. Die
Hauptstadt Rußlands ist Se. Petersburg geworden, nud es läßt sich unmöglich
bestreiten, daß aus der Lage dieser Stadt in der Nähe deutscher Ostseeprovinzen
dem russischen Staatswesen große Gefahren erwachsen könnten; dann mögen
die Ballen sich mit noch so großem Rechte ihrer stets an den Tag gelegten
loyalen Gesinnung rühmen: daß in ihnen eine starke Hinneigung zu Deutsch-
land halb unbewußt vorhanden ist, und daß der Drang, in Deutschland den
eigentlichen Schwerpunkt für ihr politisches und nationales Empfinden zu sehen,
selbst in ihren Zeitungen einen sehr deutlichen Ausdruck findet, das läßt sich
unmöglich in Abrede stellen. Wer weiß, welche Zeitverhältnisse eintreten können,
unter deren Einfluß diese Stimmung der baltischen Deutschen vielleicht eine
größere Bedeutung gewönne? Dazu kommt die ungeheure Wichtigkeit, welche
die baltischen Häfen als solche für Nußland besitzen. Se. Petersburg könnte
kein so wirksames und für Rußland so nützliches Organ für die Berührung des
russischen Staates und Volkstums mit dem Westen sein, wenn nicht in seiner
Nähe eine gewaltige Handelsbewegung sich vollzöge, für welche Nußland selbst
das Hinterland bildet; und mögen die baltischen Handelsstädte noch so viele
Klagen haben, so können sie doch schließlich nicht bestreiten, daß Rußland sich
bemüht hat und noch fortwährend bemüht, durch Eisenbahnbauten (deren gegen¬
wärtig wieder eine im Bau und eine zweite beabsichtigt ist), Hafenanlagen u. tgi.
den Handel der baltischen Städte, mit andern Worten seinen eignen Handel, zu
fördern. Die baltischen Städte können nicht gedacht werden ohne das innere
Rußland, und ebenso sind sie für dieses von höchster Bedeutung. Wenn nun
schon der einzelne Mensch immer sich selbst der nächste ist, so noch mehr ein
Volk. Der Einzelne kann großmütig auf seinen Vorteil verzichten, ein Volk
kaun und darf dies nicht, und es ist von einem geschichtsphilosophischen Stand¬
punkte aus immer nur zu loben, wenn ein Volk entschlossen ist, um jeden Preis
die seinein Staatswesen drohenden Gefahren aus dem Wege zu räumen oder
schou im Keime zu ersticken. Endlich ist auch das nicht zu leugnen, daß die
Russen in andern europäischen Staaten Beispiele für ihr Verfahren die Hülle
und Fülle finden. Die edeln Magyaren mit ihrem Vorgehen gegen die Deutschen
und insbesondre gegen die siebenbürger Sachsen, der von der heutigen öster¬
reichischen Negierung begünstigte Ansturm der Tschechen, Polen, Slowenen ze.
gegen die deutscheu Mitbewohner der betreffenden Provinzen, die langjährige,
jetzt freilich in ihr Gegenteil umschlagende Unterdrückung der Flamänder in
Belgien durch die wallonisch-französische Minderheit, die frühere, in ihren Wir¬
kungen noch lange nicht wieder gut gemachte Behandlung Irlands — das alles
sind Dinge, die Nußland gegenüber der österreichischen oder englischen Negierung
durchaus rechtfertigen würden, wenn es Vorstellungen derselben mit dem Rate
begegnete, sich doch um ihre eignen Angelegenheiten zu bekümmern. In Dentsch-
land, denkt wohl mancher gute Reichsbürger, käme etwas derartiges nicht vor,
lind es ist ja gewiß wahr, daß Gewaltsamkeiten, Sprachenzwang und ähnliches
von uns niemals ausgeübt worden sind und nicht in unsrer Natur liegen.
Dennoch sind wir gegenwärtig an der Arbeit, zu dem bewußten Zwecke der
Germanisirung einen großartigen Enteignungsprvzeß in gewissen Provinzen
durchzuführen, und auch das ist richtig, daß für Deutschland oder Preußen
dem Polentum gegenüber wirklich internationale Verpflichtungen bestehen, die
immerhin ohne Zwang so ausgelegt werden tonnen, daß unsre Negierung einer
solchen Auslegung gegenüber als rechtsbrüchig erschiene. Ohne weiteres läßt
sich also das russische Verfahren nicht als unzulässig bezeichnen, mag man
unserseits auch noch so viel sittliche Berechtigung besitzen, es ein rohes, gewalt¬
thätiges, die persönliche und Gewissensfreiheit unterdrückendes zu nennen, und
mag es noch so richtig sein, daß die Russen sehr thöricht handeln, sich eines
solchen Organes für die Aneignung westeuropäischer Kultur, wie es z, B. die
Universität Dorpat in ihrem jetzigen Bestände ist, zu berauben. Das wäre ja
schließlich Sache der Russen, und wenn sie sagen, die Nussifikation der Ostsee¬
provinzen sei ihnen wichtiger als alles, was die Universität Dorpat dem rus¬
sischen Staate leisten könne, so läßt sich dagegen weiter nichts einwenden. Es
müßte also, um vom allgemeinen und nicht einseitig deutsch-nationalen Stand¬
punkte aus unsre Verurteilung des russischen Verfahrens begründen zu können,
eine andre Grundlage gefunden werden. Eine solche bietet sich aber in der That,
wie uns scheinen will, aus einem wohlbekannten und heute noch einigermaßen
gütigen Falle.
Preußen hatte Österreich gegenüber die Verpflichtung übernommen, daß
den Nvrdschleswigern die Abstimmung darüber, ob sie zu Dänemark oder zu
Preußen gehören wollten, vorbehalten werden solle, und wurde durch aus¬
drücklichen Staatsvertrag von dieser Verpflichtung befreit. Die Sache selbst
ist damit staatsrechtlich erledigt; niemand hat ein vertragsmäßiges Recht, sich
um die düuischrcdenden Nordschleswiger — so wenig wie um die deutschrcdenden
Ballen — zu bekümmern, und diese selbst haben keine andern Rechte als jeder
andre preußisch-deutsche Staatsbürger. Es springt jedoch in die Augen, daß
gerade dieser letztere Punkt den ungeheuern Unterschied darstellt, der zwischen
der Lage der Nordschleswiger und der Ballen besteht. Erstere mögen sich in
dem ihnen aufgezwungenen neuen Staatsverbande sehr unbehaglich fühlen, aber
sie teilen alle Rechte, die ihre neuen Mitbürger genießen, und diese Rechte sind
von der Art, daß jedenfalls von irgend einem Gewisfenszwange oder einer ge¬
waltsamen Verdrängung ihrer Sprache und Sitte nicht entfernt die Rede sein
kann. Alle übrigen etwa in Betracht kommenden Punkte sind vollends derart,
daß die Härte des gegen die Ballen geübten Verfahrens in der auffälligsten
Weise zu Tage tritt. Nie siud die Ballen dem russischen Staatswesen feindlich
gegenüber getreten, nie haben sie früher die gleiche Bedrückung geübt, von der
sie jetzt betroffen werden; bis heute noch ist nicht die leiseste bewußte Idee einer
Losreißung von Nußland in den Kopf eines Ballen gekommen, und was die
eingeborne lettische und esthnische Bevölkerung betrifft, so kann man wohl von
einer früheren Herrschaft der Deutschen über sie, aber nicht von einer dnrch
die letztern geübten, über die allgemeinen Rechtsbegriffe einer früheren Zeit
hinausgehenden Unterdrückung reden. Diese „Herrschaft" mag oft drückend
genug gewesen sein, wenn sie mich jedenfalls nicht härter (vielmehr wohl un-
zweifelhaft weit gelinder) war als diejenige, die im übrigen Nußland über die
Leibeignen geübt wurde; von derartigen Rohheiten und Quälereien aber, wie sie
zur Zeit der Dänenherrschaft in den deutschredenden Teilen Schleswigs ausgeübt
worden sind, ist hier sicherlich niemals die Rede gewesen. Alles spricht also
dafür, daß für die deutschen Ballen weit mehr, mindestens aber dasselbe gelten
müßte wie für die Dänen Nordschleswigs. Dennoch sind die letzter» voll¬
berechtigte Staatsbürger, die erstern teilen höchstens die allgemeinere Recht¬
losigkeit der Bewohner des russischen Reiches; die Nordschleswiger durch Gesetze
und Vcrwaltungsmaßregeln ihrer Sprache berauben zu wollen, fällt sicherlich
auch dem leidenschaftlichsten Anhänger des Germanisirungsgrundsatzes nicht ein,
in den russischen Ostseeprovinzen aber ist dieser Prozeß in vollem Gange; von
einem eigentlichen, die Gewissen beschwerenden und auf Übertritte künstlich hin¬
wirkenden religiösen Drucke ist selbst während des Kulturkampfes nirgends in
Deutschland etwas zu verspüren gewesen, auch in vormals französischen oder
polnischen Landesteilen nicht, die evangelische Kirche der Ostseeprovinzen aber
steht gegenwärtig unter einer förmlichen Verfolgung und einem, kaum die Formen
des Rechts beobachtenden, in nicht seltenen Fällen aber in den schamlosesten
Gewaltthaten sich kundgebenden Unterdrückungs- und Beraubungsverfahren.
Freilich, es ist niemand da, der eine staatsrechtliche Befugnis hätte, diese Be¬
schwerden von außen her geltend zu machen, so wenig wie jemand staatsrechtlich
einen Einspruch gegen die Austreibung deutscher Besitzer und Beamten erheben
kann, die sich gegenwärtig in den östlichen Gouvernements vollzieht. Mögen
die Russen immerhin erklären, der ungeheure wirtschaftliche Nachteil, den sie
mit diesen Austreibungen ihrem eigenen Staatswesen zufügen, gehe nur sie
etwas an; die Rohheit, mit der z. B. die Austreibung deutscher Bauern aus
Volhynien bewerkstelligt worden ist, wird sich deshalb doch die öffentliche Be-
und Verurteilung ebenso gut gefallen lassen müssen wie das Verfahren gegen
Kirche und Schule in den baltischen Provinzen.
Es ist einem Volke im Interesse seines nationalen Staatswesens vieles
gestattet, wenn nur dem allgemeinen Kulturfortschritt damit keine Hindernisse in
den Weg gelegt werden. Aber — ganz davon zu schweigen, daß es mit der
nationalen Geschlossenheit des russischen Staatswesens sehr zweifelhaft aussieht;
man denke an die Kleinrussen, die zahlreichen finnischen und tatarischen Elemente,
mit denen die Bevölkerung durchsetzt ist, und vor allem an die zwar verwandten,
aber doch entschieden nicht russischen Polen, Litauer und Letten — kein Volk
hat das Recht, dem Wahne seiner absoluten nationalen Eigenart und hierauf
gebauten hochmütigen Voraussetzungen ein anderes Volkstum zum Opfer zu
bringen, und alles, was einem Volkstum ernsthaft und bleibend zu Gute kommen
soll, muß doch auch einen Gesichtspunkt entdecken lassen, von dem aus es
der allgemeinen Kultur, dem Fortschritte des ganzen Menschengeschlechts dient.
In dieser Hinsicht aber begegnen wir unter den Verfechtern einer rücksichtslosen
nationalrussischen Politik wohl allerhand Redensarten von der angeblichen Kultur¬
bedeutung des russischen Gcmeindeprinzips, von den Elementen einer frischeren
und edleren Kultur, die im russischen Volkstum lägen, im Gegensatze zu der
„faulen" des europäischen Westens, von der elementaren Kraft, welche ein noch
unberührter und unverdorbener Volksgeist aus sich zu entwickeln vermöge, n, s. w.
am Ende auch von der besondern Befähigung zu volkstümlicher Wirksamkeit,
welche der russisch-griechischen Kirche eigen sei (dieser in der weitgehendsten Weise
von dem teils bis zur Unglaublichkeit äußerlichen, teils abscheulichen Sektircr-
tnm durchwühlten und mit einer Kircheudieuerschaft ausgerüsteten Kirche, welche
an sich, nach dem Urteile aller Kenner, in ihrer sittlichen und geistigen Nichts¬
nutzigkeit zu den schwersten inneren Gefahren Rußlands gehört). Über diese
im allgemeinen noch etwas mehr als bloß verschwommenen Redensarten hinaus
haben wir jedoch bis heute nichts gehört. Wir können nicht wissen, ob von
allen diesen schönen Dingen jemals etwas Wirkliches sein wird, wie es die Ver-
künder derselben ebensowenig wissen; aber das unterliegt keinem Zweifel, daß
unsre Kultur, die doch immerhin manches ausgerichtet und für Rußland selbst
die vielbchauptete nationale Wiedergeburt erst ermöglicht hat, mit diesen Dingen
nichts anzufangen weiß. Sogar das steht uns noch nicht völlig fest, ob sie
etwas andres sind als der Ausdruck bitterer Verlegenheit darüber, daß alle gegen¬
wärtigen Erscheinungen des russischen Volks- und Staatslebens so unerfreulicher,
ja trostloser Art sind, und daß man, da sich doch den Leuten nicht gut geradezu
sagen läßt: man thue uur in einer gewissen Verzweiflung alles, wovon sich irgend
denken lasse, daß dabei irgend etwas für eine durchgehende Besserung der rus¬
sischen Verhältnisse Herauskommen könne, und kümmere sich bei der im Falle
des Mißglückens doch hoffnungslosen Lage Rußlands sehr wenig darum, ob
andre in ihrer Art brauchbare Elemente mit zu Grunde gingen, daß man, da eine
solche offene Darlegung doch gar zu barbarisch erscheinen würde, eben nnr nach
Erdichtungen und nach hochtönenden Worten dafür sucht, um doch irgend etwas
sagen zu können. Sei es aber auch anders und gebe es wirklich eine Grund¬
lage für jene russischen Verhimmeluugcn eines jetzigen oder künftigen russischen
Volkstums, so sind wir doch jedenfalls berechtigt zu sagen, daß man billiger¬
weise niemand nötigen kann, an etwas noch völlig Unerprvbtem und dabei
seinem eignen Wesen so tief wie nur möglich Widerstreitendem teilzunehmen,
oder ihn, gar dies sein eignes Wesen zu opfern. Die Kultur des deutschen
Bürgertums und des deutschen Adels in den russischen Ostseeprovinzen, unvoll¬
kommen und an manchen Schattenseiten leidend, wie dies bei allen menschlichen
Dingen der Fall ist, ist doch unendlich viel höher als die russische; gerade in
dem rohen Ankämpfen gegen sie liegt der deutlichste Beweis, daß es sich so
verhält — das ungeheure Reich fürchtet deu geistigen Einfluß, fürchtet die
stille Propaganda dieser paarmalhuuderttausend deutschen Edelleute und Bürger
und glaubt seine ersehnte oder geträumte nationale Sonderkultur nicht durchsetzen
zu können, wenn es dieses kleine, spröde deutsche Element nicht zerstört. Denn
daß die Kultur der Ballen mit tausend Fäden am Deutschtum hängt und aus
ihm ihre Lebenskraft saugt, braucht für jeden, der einen Blick auf baltische Ver¬
hältnisse geworfen hat, nicht erst bewiesen zu werden.
Also: das Recht, alle einheimischen Verhältnisse der eignen staatlichen und
nationalen Entwicklung dienstbar zu macheu, hat jeder moderne Staat, und
braucht sich dabei durch frühere Zusagen oder früher erworbene Rechte eines
Bruchteils von Staatsangehörigen nicht beirren zu lassen. Aber er muß auch
wirklich etwas bieten können — er darf seinen Angehörigen nichts nehmen,
wofür er ihnen keinen Ersatz zu bieten vermag, und darf sie nicht in eine Rich¬
tung hineinzwingen wollen, an der nur eins sicher wäre, nämlich daß alle
Grundlagen der bisherigen Kultur zerstört werden würden. Geschieht dies unter
Umständen, wobei die Unterdrückung des Bruchteils zugleich als Aufhebung der
Gewissens- und Religionsfreiheit und als grobe Vergewaltigung von Gemeinde¬
rechten und Gemeindeeigentum auftritt, so wird das Verfahren zur Barbarei.
Möge es immerhin wahr sein, daß niemand das Recht hat, sich in die Art zu
mischen, wie Nußland mit seinen deutschen Ostseeprovinzen und mit den ver¬
brieften Rechten derselben umspringt: uns wird man die Berechtigung nicht ab¬
sprechen können, diese russische Politik nicht nur als eine grenzenlos thörichte
zu kennzeichnen, als eine Politik, die sich ohne Zweifel am russischen Volks¬
körper selbst bald furchtbar rächen wird, sondern auch als eine solche, die eines
zivilisirten Staates unwürdig ist und durch die das wahre Wesen der angeblich
sich ausbildenden besondern russischen Kultur in einer Weise enthüllt wird, die
dieser „Kultur" das denkbar schärfste Urteil spricht.
chon wiederholt sind in Parlament und Presse Stimmen laut
geworden, welche die Aufhebung der den Zweikampf betreffenden
Strafbestimmungen (M 201 bis 210 des Neichsstrafgesetzbuches)
und die Ausdehnung der gesetzlichen Bestimmungen über die
„Verbrechen und Vergehen wider das Leben" und über die
„Körperverletzung" (§s 211 bis 233 des Neichsstrafgesetzbuches) auf die im Zwei¬
kampf begangenen Verletzungen verlangten. So lange es sich nur um Kund-
gebungen von Heißspornen handelt, welche mit einer solchen Maßregel nicht ein
Gebot der Gerechtigkeit erfüllen, sondern lediglich eine Verschärfung der den
Duellanten drohenden Strafe herbeiführen wollen, um auf diese Weise durch
Abschreckung eine Abnahme der Duelle zu erreichen, haben solche Stimmen keinen
Wert. Denn erstens ist die Anschauung überwunden, die im Strafgesetz nicht
ein Mittel gerechter Vergeltung, sondern nur ein Mittel der Abschreckung sieht,
die Anschauung, welche den Verbrecher nur gestraft wissen will, us xsevöwr
und uicht Hrüa xooe.at.nrQ sse. Und zweitens beweist die Geschichte, daß eine
Verschärfung der Duellgesetze immer nur zur Verheimlichung der Duelle führt
und deshalb die Gefahr der Ausartung derselben in sich birgt.
Vor kurzem aber ist ein Mann aufgetreten, der in der Beseitigung des den
Zweikampf betreffenden Abschnittes des Neichsstrafgcsetzbuches nicht sowohl eine
Verschärfung des Gesetzes, als vielmehr eine Erweiterung desselben zu Gunsten
des sittlich höher stehenden und zu Ungunsten des sittlich tiefer stehenden Duel¬
lanten erblickt. Es ist dies Herr Major a. D. Hilder, der in seiner Flugschrift:
Das Duell und die Offiziere das Vorhandensein irgend eines aus der recht¬
lichen Natur des Zweikampfes oder aus Billigkeitsrücksichten hergeleiteten
Grundes für eine besondre Behandlung des Zweikampfes durch das Strafgesetz
leugnet. Für ihn, als Nichtjuristen, war es natürlicherweise ein Wagnis, sich
auf eine nähere juristische Ausführung dieser Ansichten einzulassen, und wir
müssen dieses Wagnis denn auch für derart gescheitert erachten, daß eine Kritik
jener Ausführungen für jeden überflüssig ist, der im Reichsstrafgesetzbnch Be¬
scheid weiß. Dennoch halten wir es für angemessen, dem neuen Gesichtspunkte,
von dem Herr Major a. D. Hilder ausgeht, neue Einwendungen entgegen¬
zustellen, und anstatt, wie es bisher nur geschehen ist, jene strafrechtspolitischen
Gründe zu prüfen, die Frage zu erörtern, ob die rechtliche Natur des Zwei¬
kampfes nach heutigem Recht oder Billigkeitsgründe die Aufhebung der Duell¬
paragraphen rechtfertigen würden.
Die rechtliche Natur einer strafbaren Handlung ist entscheidend für den
Platz, der ihr im System gebührt. Das entscheidende Merkmal für die recht¬
liche Natur ist das angegriffene Objekt. Darnach teilt man die Verbrechen*)
ein in solche gegen den Staat, solche gegen die Person, solche gegen das Ver¬
mögen u. s. w. Nicht immer ist es leicht, das angegriffene Objekt zu erkennen,
und so ist es gekommen, daß verschiedne Verbrechen von einigen Gesetzbüchern
in diese Klassen eingereiht sind, von andern in jene. Zu diesen Verbrechen
gehört der Zweikampf; bald ist er als unerlaubte Selbsthilfe, d. i. als Ver¬
brechen gegen den Staat, bald als versuchte oder vollendete Tötung, d. i. als
Verbrechen gegen die Person, aufgefaßt worden. Das Reichsstrafgesetzbuch hat
die einzelnen Arten strafbarer Handlungen nicht in derartige Klassen zusammen¬
gefaßt. Seine materiellen Bestimmungen allein können uns daher Aufschluß
darüber geben, zu welchen von jenen Klaffen uach geltendem Rechte der Zwei¬
kampf gerechnet werden muß.
Man könnte hier entgegenhalten, daß, indem das Gesetz dem Zweikampf
seine Stellung zwischen der Beleidigung und den Verbrechen und Vergehen
wider das Leben anweist, es mittelbar die Person als Angrisfsobjett bezeichne.
Allein dies ist nicht richtig. Wie die Motive des preußischen Strafgesetzbuches,
dem das Neichsstrafgcsctzbuch gefolgt ist, angeben, ist man zur Einfügung des
Zweikampfes hinter die „Beleidigung" lediglich durch die Erwägung veranlaßt
worden, daß die Hauptbedeutung des Duells in seinem Zwecke, die gekränkte
Ehre herzustellen, liege. Hier ist ein doppelter Fehler begangen worden.
Erstens nämlich hat man nur den Zweck der einen der beiden gleichbedeutenden
Parteien im Zweikampfe, nämlich den des Forderers, berücksichtigt. Sodann
hat man den Nachdruck auf einen Umstand gelegt, der bei der Einordnung der
strafbaren Handlungen überhaupt nicht in Betracht kommen darf. Wäre der
Zweck eines Verbrechens für seine rechtliche Natur maßgebend, so müßte man
den Raubmord zu den Eigentums-, den politischen Mord zu den Staats- und
den Lustmord zu den Fleischesverbrechen zählen. Die vom Neichsstrafgcsctzbuch
beliebte Einfügung des Zweikampfes zwischen Verbrechen gegen die Person
beruht also auf falscher Grundlage und bietet für unsre Untersuchungen keinen
Anhalt.
Was ist nun aus den materiellen Bestimmungen des Neichsstrafgcsetzbuchcs
herauszulesen? Z 205*) stellt den Zweikampf schlechthin unter Strafe ohne
Rücksicht darauf, ob dabei etwas herauskommt oder nicht. Legt es somit kein
Gewicht darauf, ob einer der Duellanten verletzt wird — nur für Tötung hat
es eine besondre Bestimmung —, so kann es auch füglich kein Gewicht darauf
legen, ob auf feiten der Parteien auch nur die Absicht vorliegt, den Gegner zu
verletzen. Aber, könnte man sagen, wer diese Absicht beim Duell nicht hat, der
kämpft auch keinen Zweikcuupf; schießt jemand im Duell absichtlich vorbei, so
kann Z 205 ans ihn keine Anwendung finden. Dieser Ansicht gegenüber weisen
wir auf Z 201**) hin, welcher schon die Herausforderung zum Zweikampf und
deren Annahme mit Strafe bedroht. Ist kein Zweikampf bei derjenigen Partei
vorhanden, welche den Gegner schont, so ist doch auch keine Herausforderung
und keine Annahme bei derjenigen Partei vorhanden, welche den Gegner zu
schonen beabsichtigt. Soll etwa § 201 auf denjenigen keine Anwendung finden,
welcher mit der Herausforderung oder Annahme nur dem herkömmlichen Befehl
seiner Standesgenossen Folge leisten und sich vor dem Vorwurf der Feigheit
schützen will? Diese Folgerung hat doch gewiß nicht in den Absichten des Gesetz¬
gebers gelegen.
Mithin ist die Absicht, den Gegner zu verletzen, für die Beurteilung der
Schuldfrage unerheblich. Der Zweikampf ist daher kein Verbrechen gegen die
Person.
Eine zweite Erwägung fuhrt uns nicht nur zu diesem negativen Satze, son¬
dern zugleich zu einem positiven Ergebnis. Kartellträger werden nach Z 203*)
des Neichsstrafgesetzbnchcs bestraft, dagegen Sekundanten und zum Zweikampf
zugezogene Zeugen, zu denen der Unparteiische zu rechnen ist, nach Z 209**) nicht.
Unzweifelhaft sind die Sekundanten und der Unparteiische in höherem Grade
als Teilnehmer bei dem Akt des wechselseitigen Angriffs der Parteien auf ein¬
ander, d. i. bei der gegen die Person gerichteten Thätigkeit derselben, zu be¬
trachten, als die Kartcllträger, die bei dem Ausfechten der Forderung gar nicht
zugegen zu sein brauchen. Warum gehen nun jene straflos aus, während diese
bestraft werden? Der Grund kann nur darin liegen, daß nicht die gegen ein¬
ander gerichteten Handlungen der Parteien, sondern die durch die Vorbereitungs¬
handlungen verabredete, von beiden Parteien gemeinsam unternommene Aus¬
schließung der über Leben und Tod allein zuständigen Staatsgewalt das Strafbare
am Zweikampf ist; d. h. der Zweikampf ist kein Verbrechen gegen die Person,
sondern ein solches gegen den Staat. Den Heroismus, durch Schonung des
Gegners die eigne Lebensgefahr im Zweikampf zu erhöhen, verlangt das Gesetz
von niemand, wohl aber verlangt es Achtung vor der Staatsgewalt. An
der Ausschließung der letzteren haben die Sekundanten und die Zeugen keinen
Anteil. Sie ersetzen im Gegenteil in gewisser Hinsicht die Staatsgewalt, indem
sie dafür sorgen, daß sich der Zweikampf wenigstens innerhalb der herkömm¬
lichen oder vereinbarten Regeln vollziehe. So liegt in ihrem Vorrecht der
Straflosigkeit nicht mehr als eine logische Folgerung.
An dem nunmehr gewonnenen Ergebnis kann auch der Umstand nichts
ändern, daß Z 206***) dem, der seinen Gegner im Zweikampf tötet, eine weit
höhere Strafe androht, als Z 205 für den Zweikampf schlechthin festsetzt. Ans
den ersten Anblick scheint es allerdings, als ob hier in der Tötung im Zwei¬
kampf ein besondres Verbrechen gegen die Person dem Zweikampf gegenüber¬
gestellt würde. Allein der Gesetzgeber drückt sich nur ungenau aus. Z 206 will
nichts weiter, als eine schwerere Form des Zweikampfes aufstellen; er richtet
sich nicht gegen die Tötung im Zweikampf, sondern gegen den Zweikampf mit
tätlichem Erfolge. Weil bei einem solchen die Ausschließung der Staatsgewalt
ganz besonders schlimme Früchte gezeitigt hat, deshalb muß er auch eine
schwerere Strafe nach sich ziehen. Ja wenn der Getötete noch bestraft werden
könnte, so müßte folgerichtig auch ihn die schwerere Strafe treffen, da sein Ver¬
brechen dasselbe ist, wie das des Töters: Zweikampf mit tötlichen Erfolge.
Hier wird es auch klar, wodurch der Gesetzgeber zu der ungenauen Fassung
des § 206 verleitet worden ist. Wegen Zweikampfes mit tötlichen Erfolge
kann eben nur der bestraft werden, der seinen Gegner im Zweikampfe getötet
hat. Eine Erstreckung der Straferhöhung auf den Mitthäter des Verbrechens
wäre ebenso ein Schlag in die Luft, wie etwa eine Strafandrohung auf Selbstmord.
Die Richtigkeit dieser Auffassung des Z 206 ergiebt sich schlagend bei An¬
wendung desselben zur Entscheidung der Frage, ob ein Versuch aus diesem
Paragraphen möglich ist. Diese Frage zu verneinen haben diejenigen keinen
Grund, welche die Tötung im Zweikampfe nicht als erschwerten Zweikampf,
sondern als ein selbständiges Verbrechen betrachten; und bejaht der Richter die
Frage, so muß er sich für berechtigt halten, auf Grund des § 44*) denjenigen
Duellanten, welcher versucht hat, den Gegner im Zweikampf zu töten, mit einer
weit über die Grenze des H 205 hinausgehenden Strafe zu belegen. Daß diese
Folgerung völlig der Absicht des Gesetzgebers widerspricht, liegt auf der Hand,
ist wohl auch allgemein anerkannt. Wer dagegen in dem Thatbestande des
§ 206 nicht ein neues Verbrechen, sondern nur eine schwerere Form des bereits
im Z 205 behandelten Verbrechens erblickt, gelangt zu einer den Absichten des
Gesetzgebers entsprechenden Handhabung des Gesetzes. Nach dieser Auffassung
stellt sich die Tötung im Zweikampf nicht als Verbrechen, sondern uur als
strafschärfender Umstand dar. Die Folge ist, daß der oben als für den Zwei¬
kampf giltig erwiesene Satz von der Straflosigkeit der Angriffe der Parteien
gegen einander und der durch diese Angriffe herbeigeführten Verletzungen, auch
auf die Tötung im Zweikampf erstreckt werden muß; und was für die Tötung
selbst gilt, kann für den Versuch derselben nicht ausgeschlossen sein. Es ist
klar, daß der Versuch, durch ein Verbrechen einen an sich nicht strafbaren, son¬
dern nur bei seinem Eintritt infolge des Verbrechens strafschärfender Erfolg zu
erzielen, nicht an sich bestraft werden kann, sondern seine Strafe in der Strafe
für jenes Verbrechen finden muß, welches den Erfolg nach sich ziehen sollte.
Man braucht also nur im Auge zu behalten, daß jede im Zweikampf gegen den
Gegner gerichtete Handlung straflos ist, um zu erkennen, daß, wer in § 206
nur eine schwerere Form des bereits im K 206 bezeichneten Verbrechens sieht, den¬
jenigen, welcher seinen Gegner im Zweikampfe zu töten sucht, nicht wegen Versuchs
aus Z 206, sondern nur wegen vollendeten Verbrechens aus Z 205 bestrafen kann.
Wir fassen zusammen: Der Zweikampf ist kein Verbrechen gegen die Person,
sondern ein Verbrechen gegen den Staat; strafbar sind nicht die Angriffe der
Parteien aufeinander und die durch diese Augriffe erfolgten Verletzungen, sondern
die Ausschließung der Staatsgewalt aus einem Gebiet, auf dem sie allein zu¬
ständig ist. Haben nun diejenigen Recht, welche die Behandlung des Zwei-
knmpfes durch das Neichsstrafgesetzbuch in einem besondern Abschnitt als jeg¬
licher rechtlichen Begründung entbehrend bezeichnen? Ist es richtig, daß die
in diesen, Abschnitt unter Strafe gestellten Handlungen auch nach andern Para¬
graphen des Reichsstrafgesctzbnches abgeurteilt werden könnten? Nein, gerade
das Gegenteil ist der Fall. Die in dem in Rede stehenden Abschnitte aufge¬
führten Staatsverbrechen würden nach Aufhebung desselben straffrei sein, während
die in jenen Handlungen enthaltenen, nach geltendem Rechte straffreien, gegen
die Person gerichteten Thätigkeiten anderweitigen Strafbestimmungen unterliegen,
mithin strafbar sein würden. Das Durchbrechen der Rechte der Staatsgewalten
wäre gestattet, und nur gewisse mögliche Erfolge dieses Durchbruches wären ver¬
boten! Man wird zugeben müssen: Die rechtliche Natur des Zweikampfes erheischt
auf das gebieterischste die Behandlung desselben als eines besondern Verbrechens.
Aber schon wiederholt — sagt man — ist ans Billigkeitsgründen von der
strengen juristischen Folgerung abgewichen worden. Billigkeitsgrüude erfordern
die Aufhebung der Duellparagraphen. Zwischen einem Mörder und dem, welcher
in leichtfertiger Weise ein Duell heraufbeschwört und daun seinen unschuldigen,
friedliebenden Gegnc-r tötet, besteht kein Unterschied der Strafwürdigkeit.
Ebensowenig besteht ein Unterschied der Straflosigkeit zwischen dem, welcher
einen rohe», ihn mit dem Knotenstock überfallenden Gesellen niederschlägt, und
demjenigen, welcher sein durch ein leichtfertiges Duell angegriffenes Leben da- '
durch verteidigt, daß er seinen Gegner tötet. Wenn der Mörder mit dem Tode be¬
straft wird, warum nicht auch jener leichtfertige Duellant? Wenn jener Überfallene
wegen Notwehr freigesprochen wird, warum nicht auch jeuer schuldlose Duellant?*)
Wer so spricht, hat einen wenig geläuterten Gerechtigkeitssinn. Nicht nur
die strengen Regeln des Zweikampfes, sondern vor allem die vor einem solchen
Von den Parteien einander stillschweigend gewährte Einwilligung, daß innerhalb
der hergebrachten und der für den bestimmten Fall vereinbarten Regeln jeder
den andern verletzen darf, begründen den himmelweiter Unterschied zwischen der
Strafbarkeit einer im Zweikampf und einer bei andrer Gelegenheit einem
Menschen beigebrachten Verletzung. Der rohe Geselle, welcher einen harmlosen
Wanderer mit dem Knotenstocke überfällt, hat diesen nicht vorher gefragt, ob
er mit dem Überfall einverstanden sei; er hat ihm auch nicht zur Gegenwehr
einen gleichen Knotenstock in die Hand gedrückt; er hat auch keinen Unparteiischen
bestellt, welcher dafür sorgen soll, daß Licht und Sonne gleich verteilt sind.
Der Duellant dagegen, welcher seinen schuldlosen, friedliebenden Gegner im
Zweikampf tötet, hätte diesem kein Haar gekrümmt, wenn er nicht einge¬
willigt und wenn nicht zuvor ein von beiden Teilen gleich anerkannter Ehren¬
mann für gleiche Waffen und gleiche Verteilung aller Vorteile und Nachteile
gesorgt hätte. Unter Berücksichtigung dieser Umstände wird man selbst für die
schwersten Fälle der „Tötung im Zweikampf" eine weit mildere Strafe, als
sie dem gemeinen Mörder gebührt, für gerecht anerkennen müssen. Daß ander¬
seits auch derjenige, welcher zum Zweikampf ohne Verschulden gedrängt worden
ist, Strafe verdient, weil er sich gegen die öffentliche Ordnung vergangen hat, daß
mithin seine Freisprechung gänzlich ungerechtfertigt wäre, geht aus dein oben
gesagten hervor.
Die Folgen einer Aufhebung der Duellparagraphen würden aber auch ganz
andre sein, als die Vorkämpfer einer solchen Maßregel glaube». Würde den
im Zweikampfe enthaltenen, gegen Leib oder Leben gerichteten Handlungen der
Schutz jener Paragraphen entzogen, so würde sich der Richter genötigt sehen,
sie nach den Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuches über die Verbrechen gegen
Leib und Leben (Sechzehnter und Siebzehnter Abschnitt) zu beurteilen. Denn
würde er aber nur in den seltensten, und zwar keineswegs gerade in den
schwersten Fällen zu einer Verurteilung kommen, da beiden Parteien fast
immer der Notwehrparagraph*) zur Seite stünde.
Angriffe gegen Leib oder Leben eines Menschen sind rechtswidrig ohne
Rücksicht darauf, ob sie von einem leichtfertigen oder von einem friedliebenden
Menschen ausgehen, und bleiben es auch dem gegenüber, der auf die Unver¬
letzlichkeit der eignen Person verzichtet. Denn das Gesetz erkennt einen solchen
Verzicht so wenig an, daß es sogar das „ausdrückliche und ernste Verlangen"
eines Menschen, getötet zu werden, nicht als Strafausschließnngsgrund.für den¬
jenigen gelten läßt, welcher diesem Verlangen nachkommt (§ 216). Sobald ein
Duellant die Pistole zum Schuß gegen seinen Gegner erhebt, oder sobald der
Unparteiische das Zeichen zur Eröffnung des Zweikampfes gegeben hat — aber
auch keinen Augenblick früher —, wird ferner der Angriff gegenwärtig.
Von diesem Augenblicke an wird schließlich die Verletzung des angreifenden
Gegners zur Verteidigung erforderlich, sei es auch, falls dem Ange¬
griffenen zu diesem Zeitpunkte die Verletzung nach den Regeln des Zweikampfes
nicht erlaubt ist, durch Übertretung derselben; denn eine andre erfolgreiche Ver¬
teidigung, als die Verletzung des Gegners, etwa der Rücktritt vom Zweikampf,
ist nun nicht mehr möglich. Sämtliche Erfordernisse des Z 53 sind somit von
jenem Augenblicke an erfüllt.
Dies führt zu folgenden Ungeheuerlichkeiten:
1. Bei solchen Zweikämpfen, deren vereinbarte oder herkömmliche Regeln
Gleichzeitigkeit der Angriffe beider Parteien vorschreiben, also namentlich bei
allen Duellen mit der blanken Waffe, müssen die innerhalb jener Regeln er¬
folgten oder versuchten Verletzungen des Gegners, als durch Notwehr geboten,
straffrei bleiben. Bei dieser Art von Duellen machen sich die Thäter also nur dann
strafbar, wenn sie durch Übertretung der Regeln eine Verletzung des Gegners
herbeiführen, denn da ihnen jene Regeln genügende Verteidigungsmittel an die
Hand geben, so ist eine Übertretung derselben zur Verteidigung nicht erforderlich.
2. Bei solchen Zweikämpfen, in denen eine Abwechselung des Zweikampfes
vorgeschrieben ist, also bei gewissen Arten von Pistolenduellen, wird die durch
Gebrauch der herkömmlichen oder verabredeten Rechte des Duellanten herbei¬
geführte Verletzung des Gegners «ach der ganzen Schwere des Gesetzes bestraft,
da im Augenblicke der Herbeiführung der Verletzung nicht mit einem gegen¬
wärtigen, sondern nur mit einem zukünftigen Angriffe des Gegners zu rechnen,
daher überdies eine Verteidigung zur Abwendung desselben noch nicht er¬
forderlich, vielmehr nur wünschenswert war. Wird dagegen von der einen
Partei eine Verletzung der andern zu einem Zeitpunkte, zu welchem die letztere
an der Reihe des Angriffs war, bewirkt, also mittels einer Übertretung der
Zweikampfsregeln, so bleibt diese Verletzung straffrei, da sie zur Abwendung
eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffes, gegen welchen jene Regeln keine
Verteidigung gewährten, erforderlich war.
Aus dem Gesagten wird ersichtlich, daß eine Aufhebung der Duellpara-
grapheu keineswegs die Folge haben würde, daß der leichtfertige Duellant als
Mörder oder dergleichen bestraft und der schuldlose, friedliebende wegen Not¬
wehr freigesprochen werden würde. Sie würde vielmehr in manchen Fällen
nur zur Bevorrechtung der Feigen und zur Achtung der Ehrenhaften, in andern
zur völligen Machtlosigkeit des Gesetzes den Duellanten gegenüber führen.
Billigkeitsgründe erheischen daher ebenso dringend eine gesonderte gesetzliche Be¬
handlung des Zweikampfes, wie seine rechtliche Natur.
Das Ergebnis unsrer Untersuchungen ist, daß der Zweikampf sich als be¬
sondres Verbrechen erweist, welches nach seinem besondern Maßstabe gemessen
sein will. Das Verfahren des Reichsstrafgesetzbuches, ihn in einem eignen Ab¬
schnitte zu behandeln, ist daher durchaus gerechtfertigt. Damit ist freilich noch
nicht erwiesen, ob die einzelnen Bestimmungen desselben nicht verbesserungsfähig
sind. Wir geben die Verbesserungsfähigkeit derselben, wenn anch im wesent¬
lichen nur in Bezug auf die Strafandrohungen, zu, müssen aber bestreiten, daß
ein dringendes Bedürfnis für Verbesserungen vorliege. Immer aber müßten
bei Veränderungen des Gesetzes die Grundsätze desselben festgehalten werden,
daß der Zweikampf kein Verbrechen gegen die Person, sondern ein Verbrechen
gegen den Staat, daß strafbar nicht der einzelne Angriff jedes Duellanten gegen
den andern ist, sondern allein ihr gemeinsamer Angriff gegen die Staatsgewalt.
on der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt das Cha¬
rakterbild von Goethes Frau in der deutschen Literaturgeschichte.
Nur daß die Partei der Mißgünstigen erheblich überwiegt. Neuer¬
dings mehren sich aber doch die Stimmen, welche verlangen, daß
ein nun bald hundertjähriges Unrecht an dieser Frau wieder gut
gemacht werde. Im Frühjahre 1888 sind hundert Jahre verflossen, seitdem
der große Goethe seine „kleine Freundin" fand, und seit diesen hundert Jahren
ist dieses Wesen von Berufenen und Unberufenen, von Frommen und Welt¬
kindern, von Männern und Frauen mit Vorwürfen und Verleumdungen über¬
schüttet worden, so überschüttet worden, daß es schwere Mühe kostet, die Arme
unter diesem Berge wieder herauszugrabcn. Der erste, der sich dieser Mühe
in neuerer Zeit unterzog, war ein bmerischer Gymnasiallehrer I. Herzfelder,
der eine kleine Monographie veröffentlicht hat: Christiane Vulpius. Eine Studie
zu Goethes Leben. (München, M. Rieger, 1884.) Er hat im Anschluß an
die von Riemer und Keil eingenommene Stellung zum erstenmale das Thema
monographisch behandelt und alle einschlägigen Beweisstellen mit großem Fleiße
gesammelt. So groß dies Verdienst ist, so ist es doch von noch größerem
Werte, daß sich neuerdings gerade Frauen ihrer vielverleumdeten Schwester an¬
genommen haben: so geschah dies im vorigen Jahre durch die bekannte Roman¬
schriftstellerin Emma Brauns in einer Reihe von Aufsätzen „ Christiane von
Goethe" in der „Saale-Zeitung" (Ur. 103 bis 115). Auch die neueste Publi¬
kation über diesen Gegenstand dürfte, obwohl der Herausgeber nicht genannt
ist, von einer Frau herrühren. Die mit Fleiß und Sorgfalt ausgearbeitete,
prächtig ausgestattete Schrift hat den Titel: Briefe von Goethes Fran an
Nikolaus Meyer. Mit Einleitung, Facsimiles, einer Lebensskizze Nikolaus
Meyers und Porträts. Straßburg, Karl I. Trübner, 1887. (41 Seiten Text
in Quart auf Büttenpapier nebst 8 Blatt Facsimiles.)
„Briefe von Goethes Fran" — so lautet der Titel. Damit ist schon von
vornherein Stellung genommen gegen die allgemein übliche Redeweise von einer
„Christiane Vulpius." Diese Redewendung nimmt dieser Frau ein Recht weg,
das sie durch jahrelange Prüfungen und Duldungen sich ehrlich erworben hat:
das Ehrenrecht, den Ehrennamen „Christiane von Goethe" zu führen. Daß
sie sich dieses Namens würdig bewiesen hat, diesem Nachweis ist auch diese neue
Publikation gewidmet. Die Einleitung spricht zunächst von den Briefen und
von ihrer Verfasserin. Die „freundschaftlichen Briefe von Goethe und seiner
Frau an Nikolaus Meyer" sind schon im Jahre 1856 bei Härtung in Leipzig
herausgegeben worden, aber, was bei der schlechten Kalligraphie und Ortho¬
graphie der Verfasserin zu entschuldigen ist, ungenau, mit vielen Lesefehlern.
Die beigegebenen Facsimiles zeigen allerdings eine sehr schlechte Hand und eine
äußerst mangelhafte Rechtschreibung. Aber mit Recht macht der Herausgeber
darauf aufmerksam, daß sehr bedeutende Persönlichkeiten der damaligen Zeit nicht
viel besser schrieben: z. B. Blücher und Goethes eigne Mutter, die „Frau Rat."
Man kann also nicht ohne weiteres sagen, schon in der Form zeige sich Christiane
als ein „bloßes Naturkind" ohne geistige Bildung. Aber auch der Inhalt zeigt
uns die Verfasserin nicht als eine ungebildete Person. Zwar finden wir keine
geistreichen Wendungen, keine witzigen Pointen, aber neben allerlei hausbackenen
Mitteilungen finden wir doch viele Nachrichten über literarische Vorgänge und
Zustände, über das Kommen und Gehen berühmter Persönlichkeiten. In dem¬
selben Briefe, in dem sie um „fünfzig Pfund Butter" bittet, meldet sie auch
die Aufführung der Jungfrau von Orleans und der Natürlichen Tochter; in
demselben Briefe, in dem sie für „die schönen Fische" dankt, meldet sie die An¬
kunft der Frau von Stael; sie spricht viel von ihrer Tanzlust, aber sie meldet
auch, daß Goethe den Götz für das Theater umarbeitet, daß die Vorlesungen
von Gall beginnen und daß ein neues Stück von Schiller einstudirt wird. Wir
erhalten aus den Briefen den Eindruck harmloser Gutmütigkeit, naiver Em¬
pfänglichkeit, treuer Anhänglichkeit, sorgsamer Hausfraulichkeit. Rührend ist die
dankbare Anhänglichkeit an den Adressaten, Nikolaus Meyer. Dieser hatte den
Winter 1799 bis 1800 in Goethes Hause zugebracht; die vergleichende Ana¬
tomie war das Band zwischen dem jungen Mediziner und Goethe. Die Mit¬
teilungen über diesen Mann, welche zum Teil aus persönlichen Quellen geflossen
sind — die Publikation ist der Tochter desselben gewidmet —, lassen ihn als
einen liebenswürdigen und ideal gerichteten Menschen erkennen, der aus persön¬
lichem Umgange die Vielverkannte ihrem wahren Werte nach schätzen lernte
und dem sie daher in allen Dingen offenes Vertrauen schenkte, dessen Freund-
schaft ihr inmitten der vielen Anfeindungen und Anfechtungen ein Trost war.
Daß diese Anfeindungen unverdient waren, wird nun immer mehr erkannt und
anerkannt werden. Goethe hätte dieses Wesen nie zu seiner Frau erhoben,
wenn sie es nicht verdient hätte; sie verdiente es durch ihre treue Sorge um
ihn, für dessen leibliches und geistiges Wohl sie unermüdlich thätig war. Auch
für sein geistiges Wohl: ihre harmonische Natur schuf ihm eine angenehme
Atmosphäre im Hause; sie trug seine Launen und heiterte ihn auf. So schreibt
sie am 21. April 1802: „Ich lebe wegen des Geheime Rats sehr in Sorge,
er ist manchmal sehr Hypochonder, und ich stehe viel aus; weil es aber Krank¬
heit, so thue ich alles gern." Sie konnte das nur, weil sie neben den schönen
Eigenschaften ihres Herzens auch „vielen natürlichen Verstand" besaß, wie Meyer
von ihr rühmt. Die Frau Rat nannte sie ihre „liebe Tochter"; alle, welche
sie persönlich kannten, loben sie in jeder Hinsicht; uur diejenigen, welche sie
nicht kennen und welche sie beneiden, klagen sie an und verleumden sie. Am
wenigsten schön hat sich Frau von Stein in diesem Punkte benommen: wäre
ihre Freundschaft für Goethe weniger selbstsüchtig gewesen, so hätte sie ganz
anders gehandelt; sie hätte als erfahrene Frau Goethes Verhalten verstehen
und billigen sollen — dann hätte sie sich wahrhaft als seiner Freundschaft
würdig bewiesen. Goethe aber hat sich auch in diesem Punkte als der große
„Lebenskünstler" bewiesen, als der er sich immer zeigte. Er verschaffte sich die
Annehmlichkeiten eines häuslichen Lebeus, ohne die vielen lästigen Pflichten einer
„fatalen Ehe" — wie seine Mutter sagte — auf sich nehmen zu müssen, welche
ihn in seinem Schaffen gehindert hätten. Daß er das weibliche Wesen, das ihm
in uneigennütziger Hingebung jene angenehme Situation schuf, dann nach achtzehn
Jahren zu seiner Frau erhob, zeigt, daß er bei der Wahl seiner „Hausfreuudiu"
ein glückliches Auge bewies.
An dem Meere ging ich und suchte mir Muscheln, In einer
Feind ich ein Perlchen; es bleibt nun mir am Herzen verwahrt.
Aber freilich: er brachte dies „Perlchen" auf illegitimem Wege in seinen Besitz,
und die Sittenrichter alter und neuer Zeit haben denn auch tausendfach die
„Unsittlichkeit" des Mannes herausgestrichen, dessen geistige Größe sie nicht
leugnen konnten, auch wenn sie ihnen unsympathisch und unfaßbar blieb. Über
diese „Unsittlichkeit" nur so vieles. Es ist allgemein bekannt, daß das vorige
Jahrhundert in diesen Dingen viel weitherzigere Anschauungen hatte, als die
Zeit nach den Befreiungskriegen; Riemer sagt mit Recht: „Keine Zeit begreift
die frühere, noch will sie als eine andre gelten lassen; und doch besteht in
dieser verschiednen Möglichkeit des Verschiedenen alles Leben und Dasein, die
Welt selbst." Wir sollen also nicht den Maßstab unsrer Zeit auf jene Zeit
übertragen; wohl aber können wir Goethes Verhalten messend vergleichen mit
dem Verhalten seiner Zeitgenossen. Und da sei doch daran erinnert, daß solche
Verhältnisse damals nichts besonders Anstößiges waren; so hatte z, B, Lichten-
berg in Göttingen ein Blumenmädchen vom Lande in sein Haus aufgenommen.
Vor allem aber sei daran erinnert, daß doch auch Hamann in einer solchen
„Gewissensehe" gelebt hat; nur daß Hamann, einer der Erneuerer des religiösen
Lebens in Deutschland und noch jetzt eine Leuchte der evangelischen Frömmig¬
keit, dasjenige nicht für notwendig gehalten hat, was Goethe that — die „Haus¬
freundin" zur gesetzlich anerkannten Hausfrau zu macheu. Wenn nun der fromme
Hamann so handelte, ohne den Ruhm seiner Frömmigkeit bis auf den heutigen
Tag zu verlieren, so darf doch das „Weltkind" Goethe auf dieselbe Billigkeit
Anspruch erheben, die er doch aus dem genannten Grunde noch viel mehr ver¬
dient als Hamann. Auch denke man an die Zeit, in welcher Goethe seine
Christiane fand; es war, wie der Herausgeber des Briefwechsels mit Recht be¬
tont, die Zeit der Rückkehr aus Italien: „In dem wundervollen Lande, wo
einerseits vom großen alten Heidentum und anderseits von ungebrochener
Menschlichkeit ein kräftiger Zug durch Kunst und Leben geht, entwickelte sich in
ihm mächtig der bis dahin unklare Hang zu einem freien, naturgemäßen Dasein."
Und Goethe selbst erzählt: „Aus Italien, dem formreichen, war ich in das
gestaltlose Deutschland zurückgewiesen, heiteren Himmel mit einem düsteren zu
vertauschen. Die Freunde, statt mich zu trösten und an sich zu ziehen, brachten
mich zur Verzweiflung." In diesem Zustande brachte ihm sein Glücksstern jene
„herrliche Mädchengestalt" entgegen, von der er selbst sagt:
Lange sucht' ich ein Weib mir, ich suchte, da fand ich nur Dirnen.
Endlich erhascht' ich dich mir, Dirnchen, da fand ich ein Weib.
Aber wenn man auch geneigt ist, Goethe selbst loszusprechen und seine
Handlungsweise wenigstens nach dem bekannten Satze zu entschuldigen: torck
oonrxrönärs est tont xg-räolmsi', so bleibt doch in den meisten noch die Neigung
übrig, Christiane selbst vom Standpunkte der Sittlichkeit aus zu verwerfen.
Besonders Frauen sind mit dem Verwerfungsurteil rasch bei der Hand. Hierüber
findet sich in der Einleitung zu der neuen Publikation die bemerkenswerte Stelle:
„Was den sittlichen Standpunkt der Weimarer Gesellschaft betrifft, so scheint
er ein etwas verschwommener gewesen zu sein. Das Verhältnis der Frau von
Stein zu Goethe beunruhigte die Gesellschaft in keiner Weise. Dieses Ver¬
hältnis wurde aber von den Mitlebenden weit mehr für ein Liebesverhältnis
gehalten als jetzt. Als sich Goethe Christianer zuwendete, wurde Frau von
Stein aufrichtig bedauert; man kondolirte ihr förmlich. Christiane dagegen
verachtete man, weil sie seine Geliebte geworden war. Eine gesunde Moral
muß anders urteilen. Sollte überhaupt zu Gericht gesessen werden, so mußte
das freie Mädchen entschuldbarer erscheinen, als die Frau, die ein Recht über
sich nicht mehr hatte."
as Ringen Paul Heyses um die Palme des Dramatikers ist eine
der bemerkenswertesten Erscheinungen in unserm literarischen Leben.
Er begnügt sich nicht mit dem Ruhme, der Liebling unter den
Novellisten zu sein. Neben seinen Novellen schafft er jahraus
jahrein dramatische Dichtungen, Trauerspiele, Lustspiele, einaktige
und mehraktige, die weit weniger Leser finden, die nur vereinzelt aufgeführt
werden und es nur zu jenem Achtungserfolge bringen, der dem vornehmen Ver¬
fasser in jedem Falle gebührt; dann verschwinden sie wieder von der theatralischen
Tagesordnung. Die dramatische Muse ist ihm bisher spröde geblieben, sie hat
ihm keinen dauernden Erfolg in ihrem Bereiche gegönnt. Und dennoch läßt
sich Heyse nicht abschrecken, dennoch setzt er all sein Können — und dieses ist
wahrlich nicht gering — daran, ein gutes Drama von bleibendem Werte zu
schaffen. Dieses hohe Künstlerstreben, diese ideale Zuversicht in sich selbst muß
uns Achtung abgewinnen. Wenn für nichts andres, so kann dieses große
Ringen als ein Zeugnis dafür dienen, daß selbst in unsrer Zeit, wo so viele
Talente keinem andern als dem goldnen Lohne nachstreben, es doch noch Dichter
giebt, die mit Hintansetzung jedes andern Vorteils der Kunst und einzig ihr
allein dienen.
Allein es tritt noch etwas andres, besseres bei Paul Heyses Ringen um
die Gunst der dramatischen Muse zu Tage: er bewältigt sie doch! Kürzlich
hat er wieder ein Bändchen seiner dramatischen Dichtungen, das siebzehnte
in der Reihe, yinausgeschickt: Die Weisheit Salomos, Schauspiel in fünf
Akten (Berlin, Hertz, 1887). Wenn ihm je ein dramatischer Wurf gelungen ist,
so ist es dieser. Dieses Schauspiel, so edel in seiner sprachlichen Form, so
geistreich in seinem Gehalt, so kunstvoll und sicher in seiner Technik, so er¬
greifend und fesselnd in seiner Wirkung auf jeden verständnisvollen Leser, muß
wohl die beliebte Einwendung gegen Heyses dramatische Bemühungen verstummen
machen: es ist keine dramatisirte Novelle, es ist keine psychologische Filigran¬
arbeit, sondern ein Werk großen Stils. Wenn man auch zuweilen Bedenken
gegen die Wahrscheinlichkeit einer Figur oder einer Szene haben mag, so find
das dramatische Pathos und der hinreißende Zug der Handlung doch stark
genug, den nüchternen Zweifel niederzuschlagen. Mit ungestörter Befriedigung
genießt man dieses Schauspiel von der Weisheit Salomos, die an der treuen
Liebe eines natürlichen, unschuldigen Mädchens zu ihrem Hirtenknaben, aller
mächtigen Versuchung Trotz bietend, ihren Meister gefunden hat. Das schole-
rige Problem: einen wahrhaft weisen Mann in seiner Weisheit ohne den ge¬
ringsten Stich ins Predigerartige, ohne die geringste Lehrhaftigkeit, lebensvoll,
unsrer menschlichen Teilnahme sicher darzustellen, ihn am Schicksal selbst noch
den weiseren Meister finden zu lassen, ihm in schwerer Prüfung die gelassene
Hoheit zu bewahren, daß er nicht aufhöre, der wahre Weise zu sein, dessen
Pflicht es zunächst ist, Herr über seine Leidenschaften zu sein — dieses
schwierige Problem, den weisen Weltmann verliebt und doch nicht unweise
darzustellen, hat Paul Heyse in seinem Schauspiel mit großer Kunst bewältigt.
Dabei ist es ihm gelungen, auch in den Gestalten der Mitspieler, in der an¬
mutigen Sulamith und in der leidenschaftlichen Königin von Saba zwei über¬
zeugende Frauenfiguren zu schaffen, jede reich im einzelnen mit Charakterzügen
ausgestattet, wirksame Gegenbilder, die sich zwanglos um den Helden gruppiren
und von ihm beleuchtet werden, wie sie wiederum ihn beleuchten. Und über
der gesamten Dichtung, die etwa im idealen Stile des Lessingschen „Nathan"
gehalten ist, lagert ein Hauch vornehmer Lebensbetrachtung, wie es sich eben
für das Grundmotiv schickt. Die Sprache ist ohne Aufdringlichkeit auf den
Ton der biblischen Redeweise gestimmt, Wendungen aus den Sprüchen Salomos
und aus dem Hohenliede sind kunstvoll an passenden Stellen verwoben. So
ist bei allem Klassizismus des Stils doch dem historisch-realistischeren Em¬
pfinden der Gegenwart Genüge gethan. Die Gestalt des Königs Salomo, wie
sie Heyse geschaffen hat, ist ein historisches Idealbild, und die Umgebung, in die
er gestellt wird, ist als die biblisch-jüdische mit wenigen Andeutungen, aber un¬
verkennbar gezeichnet; selbst die sagenverklärte Weisheit Salomos im Richteramte
ist mit Geschick aufgenommen worden.
Die Handlung des Schauspiels fäugt ab ovo an — auch eine Tugend
desselben. Soeben ist die Königin Bailis von Saba mit reichem Gefolge zum
Besuche des Königs Salomo angelangt. Die erste Szene exponirt zunächst
die beiden verschiednen Volkscharaktere. Salomos Haushofmeister Abdiel macht
die Dienerschaft auf die barbarischen Unarten der heidnischen Ankömmlinge auf¬
merksam und verbietet ihnen, darüber zu spotten. Dann erscheinen mit großem
Gefolge Salomo und Bailis. Die Königin ist verstimmt, sie schweigt, sie ent¬
läßt das ganze Gefolge und will mit dem verwunderten Könige allein bleiben:
ohne lärmende Musik, ohne äußerlichen Pomp. Nicht zum mächtigen Herrscher,
fondern zum weisen Manne, zum Herzenskündiger, ist sie gekommen. Auch nicht,
um sich von ihm die bekannten Nätselfragen beantworten zu lassen. Sie ist
eine tiefere Natur, welche die Unklarheit über die letzten Lebensfragen schmerzlich
bedrängt.
In dem gcpriesnen Richter Israels,
Dem Herzenskind'ger, hofft' ich den zu finden,
Der mir die bangen Rätsel lösen könnte:
Wozu wir leben? Ob es Stillung giebt
Mir unsrer Seele Durst? Ob eine Rast
Im co'gen Wechsel dieser Erdendinge?
Ob irgend eine Stunde kommen mag,
Da wir die Wahrheit schauen schleierlos,
Und tausend Fragen mehr.
Sie fragt mehr, als ein Weiser beantworten kann, und dies ist bezeichnend für
ihren stürmischen Charakter wie für ihren sehnsüchtigen, unbefriedigten Zustand.
Sie gesteht offen, daß sie sich gleich beim ersten Anblick Salomos enttäuscht
gefühlt habe; sie hat nicht den gefunden, den sie erwartete.
Nicht ein Greis,
Dem der Erfahrung Schnee das Herz gekühlt,
Der Pflug des Denkens tief die Stirne fürchte:
Ein Fürst im Flor der Jahre, dem das Auge
Gleich einer Kriegesfackel glüht, ein Held
Ju königlichem Prunk. Statt weiser Worte
Gesang und Harfenspiel, statt ernster Männer
Gefährten seiner Forschung, eine Schar
Von blüh'nden Jungfrauen--
Damit fordert sie endlich ihren bis dahin lächelnd zuhörenden Gastfreund heraus.
Kannst du nicht den Schein vom Wesen trennen? erwiedert ihr Salomo, und
wie er als König prächtig die Königin aufnahm, so begegnet er jetzt als Weiser
der Weisheit suchenden. „In wachsender innerer Erregung" schüttet er vor der
immermehr überrascht aufhorchenden die Goldkörner seiner Lehre aus. Es ist
die bekannte Lehre von der Eitelkeit der Welt, jeuer biblische Pessimismus, der
sich vom modernen nur durch einen festen Gottesglauben unterscheidet.
Wozu wir leben?
Stirb, so erfährst du's; früher nicht. So lang
Im Fleisch wir wandeln, lehrt uns Tag um Tag
Nur eins: daß alles eitel. Was denn ist
Der Mensch, daß er zu dauern sich vermäße?
Das Kind der Zeit, wie faßt es Ewiges?
Was heut noch ist, schon morgen ist's gewesen.
. .. Denn Glanz und Macht sind eitel,
Die Lust ist eitel und der Schmerz, das Gute
So wie das Böse. Den Gerechten sah ich
Gebeugt vom Unglück und den Gottvcrgeßnen
In Freuden leben. Da bedünkte mich,
Es sei auch eitel, nach der Weisheit trachten,
Und schrie zu meinem Gotte: Herr mein Gott,
Ist es nicht besser, nie das Licht zu schau'u,
Als jegliches, was es bescheint, erkennen
In seiner Nichtigkeit?Bailis (die mit steigender Spannung zugehört hat). Und er? Gab er
Dir Antwort?Salomo. Nicht in Worten. Doch er hauchte
Mir plötzlich einen Mut ins Herz und kühlte
Das Fieber meiner Angst. Und aufgethan
Ward mir das Auge, daß ich klar erkannte:
Wir Menschen haben nur den Augenblick,
Das Ew'ge ist für Gott allein. Er schuf uns,
Daß wir wie Mücken in der Sonne spielen,
Am bunten Strahl uns wärmend, bis die Nacht
Den Schein verschlingt. Wir sollen fröhlich sein
In unserm Thun, uns freu'n des guten Tags,
Bemühe, den bösen auch für gut zu nehmen.
Was lieblich ist, ob es auch eitel wäre,
Genießen wir's, denn dies ist unser Teil;
Was drüber ist, hat Gott sich vorbehalten.
Dieses mächtige Heraustreten des weisen Mannes kann nicht ohne Wirkung auf
die empfängliche Königin bleiben: sie verliebt sich sogleich in den König. Allein
zunächst äußert sich nur ihre weibliche Natur in der Unbefriedigung von dieser
Lehre des blasirten Weltmannes und „zögernd, mit leiser Stimme" fragt sie:
Und auch, wovon die Dichter aller Zeiten
Gesungen, auch die Liebe — (stockt)
Snlomo. Kennst du sie?
Nur aus dem Lied der Dichter. Doch sie sagen,
Sie sei unsterblich.Bailis (halblaut).
Salomo. Und ich sage dir,
Der ich sie wohl gekannt: auch Lieb' ist eitel
Und schwindet wie ein Feuer auf der Haide,
Vom Wind entfacht, von Rcgenflut gelöscht.
Wie denn? Es wandelt stündlich sich der Mensch,
Und sollte doch das Herz in seiner Brust
Beständig sein? Doch ist von allem Eilein
Sie wohl das köstlichste. Denn Schönheit labt
Die Sinnen.
Kaum hat Salomo diesen skeptischen Hymnus auf die Liebe mit einer artigen
Schmeichelei für die schöne Königin und einem höflich kühlen Kuß auf ihre
Stirne, unter dem sie zusammenschauert, beschlossen, so naht auch schon das
Schicksal, welches diese Lehre erproben soll.
Es ist nämlich inzwischen dennoch zu einem Zusammenstoße zwischen den
Gästen und den Einheimischen gekommen. Salomos Gärtner Saphat ist ein
eigentümlicher Patron: er wacht mit Argusaugen über die Frucht- und Blumen¬
schätze des seiner Obhut überlassenen Gartens. Schon im Beginne des Stückes
hat er mit Salomos Hofmeister Abdiel einen Zank deswegen gehabt. Die
königliche Tafel sollte mit den schönsten Früchten reich geschmückt werden, Saphat
sandte aber nur zwei bescheidene Körbchen, unter dem Vorwande, daß es bei
der frühen Jahreszeit nicht mehr reife Früchte gäbe.
Hat nicht auch die edle Frucht
Gleichwie ein andres Gottgcschöpf ein Recht,
Das Licht zu trinken, bis ihr Stimdlein kommt?
Murrend muß er sich endlich dazu verstehen, fünf Körbe für die Tafel zu füllen.
Bei dieser Arbeit nnn ist Saphat von dem Feldhauptmann der Königin von
Saba, Ben Jsbah, gestört worden. Der stolze, in der Gunst seiner Herrin sich
horrende Soldat hat einfach in die vollen Körbe gegriffen und nach Belieben
die süßesten Früchte weggenascht. Vergebens bat, mahnte, warnte der treue
Gärtner den rücksichtslosen Gast, Ben Jsbah warf ihm in trotzigem Übermute
die mühsam gefüllten Körbe um, Saphat wurde wild und schlug mit seinem
Stäbe nach Ben Jsbah. Darauf zog dieser sei» Schwert, und es wäre dem
alten Manne übel ergangen, wenn nicht noch rechtzeitig der Hofmeister dazwischen
getreten wäre und die Streitenden vor den höchsten Richter, den König selbst,
geführt hätte. Diese Gruppe unterbricht nun das philosophische Zwiegespräch
Salomos mit der Bailis, indem sie nicht ohne Lärm unangemeldet hereinstürzt.
Halb verborgen hinter den Dienern, die Saphat führen, schleicht sich dessen
siebzehnjähriges Töchterlein Sulamith, besorgt um das Schicksal ihres Vaters,
mit herein. Zornig verlangt der beleidigte Feldhauptmann Genugthuung und
nicht weniger als den Kopf des Sklaven, der sich ihn zu schlagen erfrechte.
Allein der König läßt beide Parteien zu Worte kommen, fährt auch dem
schimpfenden Fremden gelegentlich übers Maul, und entscheidet schließlich:
Jedes Land hat eigne Sitt' und Brauch.
Wir lassen nicht sofort das Haupt entgelten,
Was eine allzurasche Hand gefehlt,
Eh' noch der Kopf sich recht besinnen konnte.
Drum stelle deine Fort'rung mäßiger,
Und was du heischest, soll dir werden.
Ben Jsbah fordert demnach die Hand des Gärtners, sie soll vom Rumpf ge¬
trennt und den Hunden vorgeworfen werden. Dcirob stößt die halb verborgene
Sulamith einen Angstschrei aus. Da die Königin die Forderung Jsbcchs als
in ihrem Lande Rechtens erklärt, so stimmt Salomo dem Urteil zu. Da schreit
Sulamith ein zweites mal auf und erregt damit die Aufmerksamkeit des könig¬
lichen Richters. Nun stürzt das schöne Mädchen vor ihm auf die Kniee und
fleht um Gnade für ihren alten Vater.
Herr, ich bin
Ein armes Ding, nie hätt' ich mir getraut,
Den Mund zu öffnen hier im Königssaal,
Ja wenn du nur von fern vorübcrschrittst,
Da stockte mir der Atem in der Brust,
Und kaum das Auge wagte dir zu folgen.
O schilt mich nun nicht dreist und ehrfurchtslos,
Daß ich die Knie dir zu umfassen wage
Und flehend suche deines Auges Strahl
Und stammte: Gnade! Gnade!
Das Flehen des schönen Kindes verfehlt seine Wirkung nicht: Salomo nimmt
die Schuld ganz auf sich. Der Diener Saphat habe unfreien Willens, als
Werkzeug eines andern, gehandelt, er habe bloß des Königs Gebot, der Un¬
berufenen Hände von seines Gartens Früchten abzuwehren, ausgeführt.
Mein aber ist die Schuld, daß ich ihm nicht
Gesagt: die edeln Gäste meines Hauses
Sind frei, darin zu schalten nach Gelüst.
Dem Beschimpften bietet Salomo mit gut gespieltem Ernst die Genugthuung,
ihn, den König, an derselben Körperstelle und mit demselben Stäbe schlagen
zu dürfen, wo er selbst geschlagen worden ist. Ben Jsbcch läßt sich von diesem
Edelsinn bezwingen und bietet dem königlichen Richter versöhnt die Hand. Nun
brechen sie alle zum Mahle auf. „Unser Herz soll fröhlich sein," ruft Salomo
und wendet das letzte Wort an die schöne Gärtnerin: „Auch deines. Sulamith!"
Und wie in Grillparzers Liebestragödie die abgehende Hero durch ihr Um¬
wenden nach dem blitzartig liebgewonnenen Leander ihr Gefühl verrät, so dient
auch hier die gleiche Bewegung dazu, den Sinu Salomos zu verraten.
Nach diesem schönen ersten Akte können wir uns kürzer fassen. Der König
liebt Sulamith, Bailis liebt den König. Warum der König Sulamith liebt,
erklärt er selbst im Gespräche mit ihr.
Weisheit hab' ich selbst. Am Weibe
Dünkt uns ein lieblich Schweigen tausendfach
Beredter, als eine wohlgefügte Rede. . . .
Sie MalkisZ kam in Pracht, mit ihrem Geist zu prunken,
Und ihr antwortete mein Geist, du sprachst
Zu meinen: Herzen, und mein Herz vernahm
Den holden Seelcnlaut und gab ihm Antwort.
Allein Sulamith liebt schon einen andern, sie liebt den Hirten Hadad, mit
dem sie bis vor kurzem die Lämmer geweidet hat. Zwar ist er arm, ein
reicher Oheim quält ihn durch seinen Geiz, Sulamiths Vater will deshalb
von diesem Bräutigam nichts wissen, und das schöne Töchterchen hat schwer
zu kämpfen, um Liebe und Gehorsam in Einklang zu bringen. Die Liebe ist
indes stärker; Sulamith läßt sich an den Abenden von Hadad im Garten finden,
und wenn sie es auch nach keuscher Mädchenart nicht zugestehen will, den
armen Hirten wegen seiner Armut boshaft zappeln läßt, ihm mit dem Ab¬
schiede droht, so ist sie doch aufrichtig treu. Dann findet sie der so schnell ver-
verlicbte König im Garten. Ihre muntern Antworten auf seine Schmeicheleien,
ihre von jeder Koketterie freie Bescheidenheit entzücken ihn. Sie hat natürlich
schon darüber nachgedacht, ob wohl die Königin von Saba den König Salomo
heiraten werde, sie weist immer auf diese als die schönere und tingere hin, was
den werbenden König nur noch mehr für das schöne Kind einnimmt. Aber
Sulamith kann nicht Gefühle heucheln, die sie nicht besitzt. Als der König
einen Kuß von ihr wünscht, da sagt sie „ergeben und mit einem Seufzer":
„Wenn du es wünschest, Herr, so küsse mich! Was dürft' ich dir verweigern,
die ich viel zu arm, um meines Dankes Schuld zu zahlen!" So erfahren in
Liebessachen ist indes der weise Salomo auch, um an solchem Kuß kein Genüge
zu finden, aber er hofft, mit der Zeit das Mädchen zu gewinnen. Diese Szene
wird von der Königin Bailis belauscht. Auch sie ist leidenschaftlich erregt in den
Garten gekommen, sich in der Abendkühle zu ergehen. Der Amme Adischa ge¬
steht sie halb widerwillig ihre Liebe zum König. Allein der Anblick des dem
Hirtenmädchen nachgehenden Weisen, die Urteile, die sie von ihm über sich er¬
lauscht, erregen ihre Eifersucht, ihren Neid und Zorn. Sie weckt den Vater
Saphat, teilt ihm die Gefahr mit, in der Sulamith schwebe, und nimmt ihm
das Versprechen ab, die Tochter zu ihr zu schicken; sie werde Sulamith in ihren
Schutz nehmen. So gedenkt sie, die unbequeme Nebenbuhlerin unschädlich zu
machen. Als aber tags darauf die schöne Gärtnerin bei der Königin erscheint,
die nach unruhig verbrachter Nacht in reizbarer Laune auf dem Lager ruht, da
entstehen neue verhängnisvolle Mißverständnisse. Die Gnade der Königin ist
der verliebten Sulamith sehr unwillkommen; sie will nicht in die Fremde, sie
will daheim bei ihrem Volke bleiben. Nein, ruft die Königin;
Gesteh's!
Du hingst dein Herz an einen Einzigen;
Von ihm zu scheiden, dünkte bittrer dir
Als Tod.
Von diesem Scharfblick ist die naive Sulamith ganz verblüfft, und da sie wegen
ihres verbotenen Verkehrs mit Hadad auch ein schlechtes Gewissen hat, bittet sie die
Königin, sie nicht zu verraten. Aber sie nennt Hcidads Namen nicht, die schwärme¬
rische Ausdrucksweise der Verliebten deutet Bailis wieder auf den König als
Liebhaber, und da eben Salomos Besuch angekündigt wird, so muß Ben Jsbah
vorläufig Sulamith im Schlosse selbst verwahren, damit sie nie mehr Gelegenheit
finde, den König zu sehen.
Mühsam beruhigt empfängt Bailis den König. Er ist zerstreut und un¬
empfänglich; ihre ziemlich unverblümte Liebeserklärung will er nicht verstehen
und deutet sie trocken auf ein politisches Bündnis der Völker. Dieses zu schließen,
will er mit ihr in den Tempel gehen. Zuvor entfernt sich Bailis für eine kleine
Weile, um ihren großen Schmuck anzulegen. In dieser Zwischenzeit erkundigt
sich Salomo bei seinem Diener angelegentlich nach Sulamith. Sie ist ent¬
schwunden, sagt man ihm. Dies Verschwinden beschäftigt ihn nun derart, daß
er seine Pflicht, die Königin zu erwarten, vergißt und in Gedanken verloren sich
selbst auf den Weg macht, Sulamith zu suchen. Im größten Staat erscheint
hierauf die Königin von Saba, von der freudigen Hoffnung erfüllt, den leiden¬
schaftlich geliebten Mann zu erobern: da findet sie das Gemach leer. Diese
Beleidigung verletzt ihren Stolz aufs tiefste, und nun will sie sich an dem un¬
höflichen Könige rächen:
Kund thun will ich vor aller Welt,
Eitel sei dieses Königs
Gepriesene Wahrheit.
Verströmen soll er Knabcnthräncn,
Und dieses Herz, das mich verschmäht,
In ungestillten Wünschen Tag und Nacht
Soll sich's verzehren! (Gebieterisch!) Ruf mir Ben Jsbah!
Er soll das Mädchen sogleich aus Jerusalem weg nach Saba führen — doch
überwältigt vom Schmerz bricht die Königin plötzlich zusammen und sinkt um.
Der folgende (vierte) Akt bringt die Lösung dieses Mißverständnisses. Zur
Sulamith, die, einer Taube im goldenen Käfig gleich, in einem königlichen
Gemach gefangen gehalten wird, hat sich Hadad geschlichen. Nun offenbart sich
ihre bisher verborgene Leidenschaft für den braunen Hirten. Allein in eine ge¬
waltsame Befreiung, wie sie Hadad plant, willigt sie nicht ein. Da nahen die
Königin und Ben Jsbah, Sulamith drängt Hadad zur Thür hinaus. Bailis
verkündet der irrtümlich beneideten Nebenbuhlerin, daß sie auf der Stelle werde
nach Saba werde geführt werden. In ihrer Angst schreit Sulamith nach Hadad
um Hilfe, dieser kommt mit entblößtem Dolche hereingestürzt, und nun erklärt
sich zur aufrichtigen Befriedigung der Königin der Hirte Hadad als der Bräu¬
tigam Sulamiths, die er aus Armut noch nicht habe heiraten können. Nur um
dem verhaßten König einen Streich zu spielen, will Bailis das Paar augen¬
blicklich kopuliren lassen, der Armut werde sie schon abhelfen. Da erscheint
plötzlich Salomo. Rasch unterrichtet von der boshaften Königin, gerät auch
feine Leidenschaft ins Spiel. Er sagt es offen, daß er selbst Sulamith heim¬
zuführen die Absicht habe: „Meiner eignen Krone Glanz zu schmücken mit diesem
Kleinod." Das Mädchen sei unerfahren, deshalb müsse ihr Zeit zur Überlegung
gelassen werden: Sulamith solle acht Tage in seinem Hause, umgeben nur
von Frauen, verweilen, und dann solle sie sich entscheiden für ihn, den König,
oder den Hirten. Da bricht Hadad mit einigermaßen überraschender Kühnheit
und Einsicht gegen den königlichen Nebenbuhler los, und als einen Räuber,
der dem Armen sein einzig Lamm raubt, beschimpft er ihn. Dieser will auch
aufbrausen, doch bezwingt er sich rasch und befiehlt „völlig gelassen," den frechen
Knaben ins Tollhaus zu sperren. Das bringt Hadad vollends zum Nasen, und
mit dem Messer stürzt er auf den König los, „der ihn mit festem Blick er¬
wartet hat und ihm das hochgeschwungene Messer rasch aus der Faust windet."
Und „gelassen" sagt Salomo: „Noch ist's nicht Zeit." Hadad soll seinen Mord¬
versuch mit dem Kopfe büßen. Da stürzt Sulamith Salomo mit rührendem
Flehen zu Füßen. Ihr kann er nichts verweigern. Hadad lebe! ruft er, doch unter
der Bedingung: es wähle sich Sulamith eiuen Hüter, der sie beschützt vor dieses
Wilden Glut. Und sie kehre heim in des Vaters Haus, sieben Tage bete sie
dort zum Herrn, daß er ihr Herz erleuchte, am achten Morgen fälle sie die
Entscheidung.
Nun ist auch Salomo, wie wir dies seinem tief empfundenen und sehr wirk¬
samen Monologe, der den fünften Akt eröffnet, entnehmen, am Ende seiner
Weisheit. Vergeht er sich etwa wie sein Vater David gegen das Weib des Urias?
Ist denn nicht Salumith frei? Muß der erste Geliebte gleich ihr bester sein?
Weil er mit ihr im Bach
Die Lämmer weidete? — und ich, der ich
Ein treuer Hirte meines Volkes war,
Mit ihm nicht dürft' ich um die Wette werben,
Daß sie sich frei entschlösse — ? Frei! Da liegt's.
Ist noch ihr Wille frei, da sich's für ihn
Um Tod und Leben handelt? Doch wie vieles
Thun wir, gehorchend der Notwendigkeit,
Was uns, die blindlings tasten ihren Pfad,
Zum Glücke führt. , . ,Und du, Herr mein Gott,
Der du die Herzen prüfst, du weißt, ich will
Das Glück uur dieses Kindes. Daß auch meins
An seinem Lächeln hängt, ist's meine Schuld?
So führe du's hinaus in deiner Weisheit,
Vor der die unsre Thorheit ist.
Beiläufig: dieser Monolog ist künstlerisch ein Meisterstück. Der Stempel der
höchsten Vollendung wird hier der Gestalt Salomos aufgedrückt. Er führt
uns in das Herz dieses Mannes ein und gewinnt ihm das unsrige, indem wir ihn
in wahrhaft menschlicher Demut mit jener Weisheit verkehren sehen, der er in
erhabener Frömmigkeit die seinige unterordnet. Und das wirksamste ist, daß
wir gerade vor der Katastrophe dieses Selbstgespräch vernehmen. Nun halten
wir den König der edelsten Handlung fähig, die uns der Ausgang des Stückes
zu glauben zumutet.
Saphat, der trotz seines Hasses derer von Saba so unlogisch bereitwillig
sein Töchterchen der Königin Bailis überliefert hat, ist nun wieder umgestimmt:
er hat Sulamith beredet, die Frist von acht Tagen abzukürzen und gleich am
nächsten Morgen dem verliebten Salomo ihr Jawort zu schicken. Eine gehor¬
same Tochter und auch verpflichtet durch die That Hadads, hat sie sich schwer¬
wütig in ihr Schicksal ergeben, denn durch die Verbindung mit dem Könige
allein kann sie den geliebten Hirten retten. Schon sind des Herrn Dienerinnen
gekommen, sie zum Hochzeitszuge zu schmücken. Die Königin von Saba selbst,
die, um Abschied zu nehmen, nirgend anders als im Garten der Braut Salomo
treffen zu können hoffte, ruft beim Anblick der geschmückten Sulamith aus:
„Halt aus mein Herz! Ha, wie sie schön ist!" Salomo ist glücklich. Der
spöttische» Königin antwortet er in Tönen des Hohenliedes:
Wo viele Weisheit ist, da ist viel Gramms.
Nur junge Thorheit lehrt der Nichtigkeit
Des Lebens spotten. Lieb' ist wie ein Wein,
Der unsre trunkne Seele fröhlich macht,
Daß wir die Welt anlächelt, wie das Kindlein
Die Mutterbrust, die es ernährt. O Freundin,
Sei du auch fröhlich mit mir Fröhlichen.
Denn fremder Freuden sich erfreuen ist
Der Weisheit Krone.
Im Gefolge Sulamiths ist aber auch Hcidad in Ketten mitgekommen; etwas
unvorsichtig jedenfalls. In der realen Welt wäre dies zweifellos vermieden
worden, im Schauspiel Heyses bedürfte es allerdings dieses schwach motivirten
Zusammentreffens, um der Handlung zu dem bewegten Schlüsse zu verhelfen. Als
Hadad die herrlich geschmückte Sulamith erblickt, da bricht er, nachdem er sie
erst sprachlos angestarrt hat, in die rührende Klage aus: „Lieber den Tod als
die Entsagung!" Schon ist er jedoch im Abgehen begriffen, schon will Salomo
Sulamiths Hand ergreifen, um sie unter Führung des Priesters zum Altar zu
geleiten, da verliert das Mädchen die mühsam behaltene Fassung, blickt plötzlich
auf, schlägt die Hände vors Gesicht, wendet sich nach der Seite, wo Hadad sich
entfernt, und ruft mit ausbrechender Leidenschaft: „Hadad! O mein Hadad!"
Zornig fährt Salomo auf, aber Sulamith ist nicht mehr zu halten: „Ich fühl's,
ruft sie, ich stürbe, wenn ich nicht sagte, wie es mir ums Herz." Und Stück
für Stück streift sie Diadem und Mantel und Spangen ab, mit denen man sie
geschmückt hat, und sinkt dem glücklich überraschten Hadad in die Arme. spottend
ruft die verschmähte Königin von Saba dem also verlassenen Könige Salomo zu:
Wie nun? Wie stimmt zu deinen Hvchzeitswonne»,
Mein Freund, dies Brautlied? Nun erkenn' auch ich,
Daß alles eitel. Glück weissagte dir
Dein Herz von diesem Bunde, Und dies Kind —
Aus deinen Armen flüchtet's in den Tod.
Nun, weiser Freund, bewähre deine Weisheit!
Und der weise Mann zögert nicht, sich als solcher zu bewähren. Nachdem er
in sichtbarem Kampfe dagestanden hat, richtet er sich plötzlich zu voller Würde
auf und findet sogar den heitern Ton wieder. Dieses unvernünftige Kind Sula¬
mith hat mit einem Hauche alle seine Macht und Weisheit in den Staub ge¬
stürzt —
Und ich — das litt ich wehrlos? Daß hinfort
Die Kinder hinter mir ein Spottlied sängen:
„Er schlug mit seinem Schwert Zchntausendc,
Ihn aber überwand ein Hirtenmägdlein"?
Nun, bei dem em'gen Gott, ihr triumphirt
Zu früh. So hoch will ich mich über euch
Erheben, daß ihr euch besiegt sollt geben
Und zeugen, daß ich doch der Stärkre bin.
Und mit demselben Mantel, in dem er, der König, zur Hochzeit schreiten wollte,
läßt er Hadad bekleiden. Wie Bailis die Sulamith, so will er den Bräutigam
aussteuern.
Und bleiben wir nicht noch in ihrer Schuld?
Was sie uns lehrten, ist's nicht köstlicher
Als alle Schätze: daß nicht alles eitel?
Daß es ein Ewiges giebt im Wandelbaren:
Die Liebe, die da stärker als der Tod,
Die nicht der Hölle Pforten überwinden?
Das Stück schließt, indem Salomo zur Königin gewendet, ihr Glück auf den
Heimweg wünschend, dieselben Worte gebraucht, die er im Rausche seiner so
schnell enttäuschten Hoffnungen gesprochen:
Dann denk des Freundes,
Der heut von neuem lernte: fremder Freuden
Sich neidlos freu'n ist aller Weisheit Krone.
Wir haben mit einiger Ausführlichkeit den Inhalt des Hehsescheu Schau¬
spiels wiedergegeben, aber wir hoffen, unsre Leser werden uns Dank dafür
wissen, denn es ist ein Werk von bleibendem Werte, das hier dem unverdrossen
aufwärts strebenden Dichter gelungen ist. Es wird sich auch gewiß auf der
Bühne bewähren; das Münchner Hoftheater hat eine Aufführung der „Weisheit
Salomos" für den kommenden Winter angekündigt, und andre Bühnen werden
folgen.
Eines noch lehrt uns dies gelungene Werk: unsre jüngsten Vühnenreformer
zerbrechen sich die Köpfe mit den abenteuerlichsten Projekten, dem deutscheu
Drama aufzuhelfen. Die jetzige Bühuencinrichtung ist ihnen nicht recht, der
traditionelle Geschmack muß über den Haufen geworfen werden, eine nie aus¬
gebeutete poetische Stoffwelt muß aus dem Schutt der Bibliotheken hervor¬
gezogen und auf die Bretter gebracht werden. Sie machen sehr viel Lärm,
diese Stürmer, haben aber bisher nicht ein einziges erträgliches Drama geschaffen.
Heyse hat sich einen der ältesten Stoffe gewählt, hat ihn im Stile unsrer Klassiker
dargestellt, ohne weitere reformatorische Tendenzen, und siehe da! die Wirkung
ist so neu, so rein und so stark, als Hütten wir niemals noch die alte Geschichte
vom König Salomo und der schönen Sulamith gehört. Freilich ist Paul Heyse
ein rechter Künstler, er kann etwas und arbeitet, ohne sich um die Schreier zu
kümmern und um den wüsten Tageslärm, in der Stille an der eignen Vollendung
unbeirrt fort. Möge ihm in dieser Kttnstlerruhe noch manches Werk wie diese
„Weisheit Salomos" gelingen.
le zentralisirende Kraft Berlins bewährt sich auch auf dem Ge¬
biete der bildenden Künste in einem stetig wachsenden Maße.
Nach der vorjährigen Jubiläumsausstellung wäre es natürlich
und vielleicht auch unter höheren Gesichtspunkten notwendig ge¬
wesen, wenn mau ein Jahr überschlagen und eine Abklärung der
empfangenen Eindrücke in der Künstlerwelt abgewartet hätte. Aber die Künstler
selbst wären mit einer Unterbrechung am wenigsten zufrieden gewesen. Die
Künstlerschaft Berlins hat durch Zuzug von außen eine so starke Vermehrung
erfahren, daß die drei vorhandenen permanenten Ausstellungslokale dem künstle¬
rischen Schaffen nicht mehr genügen, ganz abgesehen Havon, daß sie einen be¬
stimmt ausgeprägten Charakter haben, die eine Teilnahme des großen Publikums
wie der Allgemeinheit der Künstler ausschließt. Das eine, vom Berliner Künstler¬
verein unterhaltene und geleitete, bietet den einzelnen Ausstellern nicht die
günstigen Aussichten auf Verkauf wie die beiden andern, welche Unternehmungen
von Kunsthändlern sind. Der Künstlerverein darf bei seinen geschäftlichen Ma߬
nahmen nicht die einen zum Nachteil der andern bevorzugen, sondern muß alle
Aussteller mit gleichem Maße messen. Jene kleinen Kunstgriffe, welche die
zaubernden Kauflustigen zur That anspornen, welche aus dem nur schaulustigen
Besucher einen Käufer machen, sind dem Vereine und seinen Organen versagt.
Die Kunsthändler ziehen dagegen meist nur diejenigen Werke heran, von deren
Verkauf sie sich den meisten Gewinn versprechen, was wieder eine größere
Zahlungsleistung an die Aussteller zur Folge und schließlich zur Voraussetzung
hat. Dadurch hat sich mit der Zeit ein Spezialitäteuwesen gebildet. Der eine
der beiden privaten Knnstsalons befaßt sich nur mit der gangbarsten Waare aus
den Berliner, Düsseldorfer und Münchner Ateliers, meist mit den Modegrößen
des Tages, die auf ein bestimmtes Publikum, auf ein sicheres Absatzgebiet rechnen
können. Der zweite Berliner Privatsalon umgiebt sich mit einer Art von
idealem Nimbus. Die geschäftliche Seite tritt scheinbar hinter der Neigung
zurück, düstern Phantasten, kranken Träumern, kraftgenialischen Naturen und
verkannten Genies eine trauliche Stätte für die Ablagerung ihrer mehr oder
minder anfechtbaren, selten ganz vorwurfsfreien Schöpfungen zu bereiten. Im
Grunde genommen leidet auch unter dieser Flagge die geschäftliche Seite des
Unternehmens keinen Schaden. In unsrer Zeit, wo das Seltsame, Abenteuer¬
liche und Verschrobene — um keinen stärkeren Ausdruck zu gebrauchen — stets
ein starkes Echo findet, fehlt es nicht an gleichgestimmten Seelen, die alles
Erreichbare von Böcklin, Gabriel Max, Thoma, Max Klinger und ähnlichen
Gestirnen, welche einsam ihre Bahnen wandeln, an sich zu bringen suchen,
ebenso wie jederzeit Kraus, Vautier, A. und O. Ueberhand, Defregger, I. Brandt
zu Markte gebracht werden können.
Diesen drei Privatausstellungen tritt demnach die große, von der Akademie
und unter dem Schutze des Staates veranstaltete Jahresausstellung gewisser¬
maßen als neutrales Gebiet gegenüber, zu welchem der Eintritt durch keine andre
Legitimation als die der künstlerischen Befähigung gewonnen wird. Hier wird
dem Publikum die Unbefangenheit des Urteils durch keine Mittelspersonen getrübt,
welche ein geschäftliches Interesse an der Bevorzugung dieses oder jenes Kunst¬
werkes haben. Nur die Jury übt ihr reinigendes Amt, dessen Wirksamkeit dem
Publikum meist eben nur in Form von Zahlen bekannt wird. Es ist eine seltene
Ausnahme, daß einmal ein zurückgewiesener Künstler seinem Ingrimm öffentlich
Luft macht. Die Mehrzahl geht still nach Hanse und hütet sich, einen Mi߬
erfolg an die große Glocke zu hängen. Eine völlig vereinzelte, noch nicht da¬
gewesene Erscheinung war in diesem Jahre das unbesonnene Gebahren einer
Künstlerin, welche um eines in stofflicher und technischer Beziehung gleich be¬
denklichen und deshalb ausgeschlossenen Stilllebens halber die Welt bis zum
Kaiser hinauf in Bewegung setzte.
An den Pforten der Kunstausstellung also wieder ein öffentlicher Skandal
wie im vorigen Jahre, wo einige Künstler einen Angriff auf die Freiheit und
Unabhängigkeit der Kritik versuchten und sich ohne Legitimation zu Wortführern
eiuer großen Körperschaft auswarfen. Wie damals die Demonstration für die
Urheber ohne Ergebnis verlief, weil die Kritik nicht durch einen Einzelnen, der
getroffen werden sollte, sondern durch eine Gesamtheit dargestellt wird, die sich
immer wieder erneuert, so ist auch diesmal der Sturmlauf einer gekränkten
Malerin gegen die Jury vergeblich gewesen. Es war daher nur folgerichtig,
daß der große Teil der Presse, welcher sich im vorigen Jahre gegen die un¬
berechtigte Einmischung der Künstler in die Geschäfte der Kritik ablehnend ver¬
hielt, jetzt die Rechte der Jury gegen die Angriffe einer Künstlerin geschützt hat.
Die Zusammensetzung der Jury ans vier Vertretern des Senats, aus fünf Mit¬
gliedern der Kunstakademie und aus vier Abgesandten des Berliner Kunstvereins
kommt allen billigen Anforderungen so sehr entgegen, daß jeder Verdacht un¬
gerechter, von engherzigen Gesichtspunkten aufgehender Urteilssprüche ausge¬
schlossen ist. Irrtümer und Mißgriffe sind wie bei allem Menschenwerk un¬
vermeidlich, aber auch natürlich und entschuldbar. Die Grundbedingungen,
welche eiuen freien Wettbewerb aller irgendwie fähigen Kräfte ermöglichen, sind
jedenfalls gegeben. Der Senat der Akademie, welcher die Verantwortung für
den Inhalt und die Beschaffenheit der Ausstellung zu tragen hat, ist sogar den
unabhängigen Mitgliedern der Jury gegenüber im Nachteil. Wenn Klagen
gegen die Jury zu erheben sind, so wären sie nach unsrer Meinung eher gegen
zu große Nachsicht als gegen übergroße Strenge zu richten. So hätte, damit
wir nur ein Beispiel hervorheben, eine ungeheuerliche Leinwand mit einem Preis¬
urteil von Max Klinger, eine Mischung von Sandro Botticelli, englischen
Präraffaeliten, Böcklin und eigner Launenhaftigkeit, noch dazu von einem
plastischen Nahmen umgeben, auf dem die moderne Polychromie einen wahren
Veitstanz ausführt, ohne Schaden für das Publikum und vielleicht auch zu
Nutz und Frommen des Künstlers wegbleiben können. Aber die Jury ist von
dem Grundsatze ausgegangen, daß die Künstler selbst die Folgen von Geschmacks¬
verirrungen zu tragen haben, und daß sie ihr Wächteramt nur zu üben habe,
sobald von solchen Geschmacksverwirrungen dem öffentlichen Anstünde oder der
öffentlichen Ordnung Gefahr droht. Daß die Jury gegen das Mittelgut nicht
strenger eingeschritten ist, hat ebenfalls seinen guten Grund. Soll sie Künstlern,
die ihre Hoffnung, vielleicht ihre letzte, auf die Ausstellung der Akademie gesetzt
haben, die Möglichkeit abschneiden, noch einmal um die Gunst des Publikums
zu ringen? Man vergesse nicht, daß eine öffentliche Ausstellung nicht bloß den
Zweck' hat, die Schaulust des Publikums auf möglichst angenehme Weise zu be¬
friedigen, sondern daß sie auch die Interessen der Aussteller zu wahren hat,
welche eine derartige Veranstaltung, ein jeder nach seinen Kräften, überhaupt
ermöglicht haben. Endlich ist zu berücksichtigen, daß eine kritisch gesichtete Aus¬
stellung ein umso verkehrteres Bild von dem wirklichen Zustande unsrer Kunst
geben würde, je schärfer die Sichtung erfolgt wäre. Wir liefen sogar Gefahr,
daß eine solche Musterausstellung äußerst langweilig sein könnte. Würde man
diesen Grundsatz z. B. auf die gegenwärtige anwenden, so bekämen wir fast
ausschließlich Landschaften zu sehen, welche nicht bloß ihrer Zahl nach, sondern
auch nach ihrer künstlerischen Beschaffenheit bei weitem das Übergewicht über
Porträt-, Genre- und Geschichtsmalerei behaupten. Unter zehn deutschen Aus¬
stellungen würde mindestens bei acht ein gleiches Verhältnis eintreten, da
kein zweites Gebiet der Kunst so stark bebaut wird wie die Landschaftsmalerei,
vielleicht weil es am leichtesten zugänglich ist und der Erfolg am meisten die
Mühen belohnt.
Indessen läßt sich nicht verkennen, daß die Jury von Jahr zu Jahr weniger
Ursache hat, das Schwert des Engels vor dem Paradiese zu gebrauchen. Wenn
unsre Kunst auch während der letzten zehn Jahre keinen neuen geistigen Inhalt
gewonnen hat, wenn ihr auch keine Ideale erschienen sind, welche sich allseitiger
Schätzung und Anerkennung erfreuen, so hat sie doch ihr Aschenbrödelkleid ab¬
gestreift. Wir haben nicht mehr nötig, Franzosen, Italiener und Spanier wegen
ihrer technischen Fertigkeiten zu beneiden. Unsre Kunst hat ihre provinzielle
Befangenheit und Unbeholfenheit abgelegt und beherrscht jetzt, ohne ihren ratio-
malen Charakter aufgegeben zu haben, alle Formen der Darstellung mit der¬
selben Leichtigkeit und sprechenden Lebendigkeit, wie die Künstler romanischer
Rasse. Was ihr daneben an Ernst und Tiefe oder, wie die Fremden sagen, an
Schwerfälligkeit und Pedanterie geblieben ist, ist eben das Nationale. Während
noch vor zehn Jahren auf unsern öffentlichen Ausstellungen das Verhältnis
von dilettantischen oder doch technisch ungeschickten und reizlosen Arbeiten zu
einwandsfreien, nicht am Stoffe klebenden Schöpfungen wie 10:1 war, sind
diese Zahlen jetzt umzukehren. Das setzt eine gewaltige Summe von Energie
und Thätigkeit voraus, die umso höher zu schätzen ist, als die Sicherheit der
formalen Darstellung auf jedem Gebiete der Kunst die notwendige Grund¬
bedingung zu einer neuen geistigen Erhebung ist. In einem Jahrzehnt ist er¬
rungen worden, was man fünfzig Jahre lang — meist geflissentlich — vernach¬
lässigt und als nebensächlich betrachtet hatte.
Die Berliner Ausstellung von 1887 legt für diese günstige Wendung ein
sehr umfassendes Zeugnis ab, und sie hat nach dieser Richtung in der Geschichte
der neueren deutschen Kunst, soweit diese aus dem von Ausstellungen gelieferten
Material aufgebaut werden kann, eine erheblich größere Bedeutung als die
äußerlich glänzendere Generalversammlung des vorigen Jahres. Ob es nur
Zufall oder Absicht Vonseiten der deutschen Künstler war, daß der Schwerpunkt
auf die Schöpfungen der Vergangenheit siel, wird sich schwerlich feststellen
lassen. Soviel ist aber sicher, daß die deutsche Kunst im allgemeinen durch die
mit größerer oder geringerer Sorgfalt, aber doch meist mit feiner Über¬
legung zusammengebrachten Einzelausstellungen fremder Nationen verdunkelt
oder doch stark beeinträchtigt worden ist, und daß die neueste deutsche
Kunst im besondern nicht so vertreten war, daß ihre Bedeutung und ihr
wirkliches Aussehen nach dem vorhandenen Material hätte erkannt werden
können. Diejenigen, welche sich durch das äußere Gepräge der Jubiläums¬
ausstellung und durch die für deutsche Verhältnisse ungeheure Masse des Ge¬
botenen nicht haben blenden lassen, sind nicht im Unrecht, wenn sie sagen, daß
sich von 3500 Kunstwerken etwa ein Dutzend dauernd ihrer Erinnerung ein¬
geprägt habe.
Wir wollen nun keineswegs behaupten, daß der bleibende Kunstgewinn aus
dieser Ausstellung ein größerer sei. Aber in ihrer Beschränkung auf die deutsche
Künstlerschaft bietet sie nicht nur eine Reihe von Charakterzügen, aus denen
sich ein ziemlich treues Bild der gegenwärtigen deutschen Kunst herstellen läßt,
sondern sie giebt auch die Ziele zu erkennen, aus die unsre Kunst losstrebt.
Der Weg, der zu diesen Zielen führt, ist mit Steinen bestreut und mit Dornen
besetzt. Er hat auch Seitenpfade, welche in die Irre führen, und selbst die
Tapfersten werden sich noch oft den Fuß verstauchen und das Kleid zerreißen,
ehe sie zum Ziele gelangen. Auch die unbefangenen Zuschauer, die Unbeteiligten
an dem Wettkampfe wissen nicht, ob dieses Ziel das richtige, ob es der auf-
gewendeten Mühen und Opfer wert ist. Aber schon der frische Wind, der die
Segel schwellt, giebt Hoffnung und Zuversicht.
Die neue Triebkraft geht freilich nicht auf geistige Quellen zurück, sondern
sie gründet sich, wie ich schon hervorgehoben habe, im wesentlichen auf die
fortschreitende Entwicklung der Technik oder, wenn man es lieber hört, der
Darstellungskunst, die sich alles von frühern Geschlechtern ersonnene unter-
thänig gemacht hat und im Besitz dieser materiellen Mittel kühn die Natur
zum Wettkampf mit der bildenden oder vielmehr nachbildenden Kunst heraus¬
fordert, den Schein der Wirklichkeit ebenbürtig machen will. Diese Erscheinung
steht in unserm Kulturleben keineswegs vereinzelt da, sondern in Zusammen¬
hang mit allen Bestrebungen der Gegenwart, welche das fromme Wort Hallers:
„Ins Innre der Natur dringt kein erschaffener Geist" noch energischer und
handgreiflicher widerlegen wollen, als es Goethe vermocht hat. Was Natur¬
forscher, Ingenieure, Chemiker, Ärzte, Techniker jeglicher Art in unerschrockener,
alle Vorurteile und Wahnvorstellungen überwindender Arbeit erreicht haben,
will sich auch die bildende Kunst erringen. Man wende nicht dagegen ein,
daß die Kunst ihre bevorzugte Stellung, ihre Ideale preisgebe und sich zur
Dienerin des Materialismus mache. Der Trieb zur Erkenntnis der Wahrheit,
die in der vorwiegenden Meinung unsers Zeitalters dasselbe wie Natur bedeutet,
ist bei dem Naturforscher ebenso gut ein idealistischer wie bei dem Künstler, und
der Techniker, welcher die geheimen Kräfte der Natur erforscht und sie sich
dienstbar macht, ist während dieses Kampfes ein Vertreter des Idealismus,
des höchsten Strebens menschlichen Geistes, auch wenn er gelegentlich so trübe
Erfahrungen machen muß, wie einst die Männer, welche den Ossa auf den
Pelion türmen wollten.
Viel anfechtbarer als das Ziel der neueren oder, wenn man bereits die
Bezeichnung wagen will, der „neuen" Kunst sind die gewählten Mittel. Der
schlimmste und am schwersten zu entkräftende Einwand der Gegner wird immer
der folgende sein: „Wenn ihr wirklich zu euerm Ziele gelangt seid, was habt
ihr im günstigsten Falle erreicht? Ein nüchternes Abbild der Natur, welches
die Camera des Photographen, namentlich der vervollkommnete Apparat des
Augenblicksphotographeu, ebenso gut auf mechanischem Wege zu stände bringt,
ohne daß eine lange akademische Bildung und eingehende Vorstudien nötig sind.
Ja ihr Maler werdet dein Augenblicksphotographen gegenüber sogar stets im
Nachteil bleiben; denn ihr könnt nur einen Moment in einer Reihe von Be¬
wegungen festhalten, während der Augeublicksphotograph die Bewegung selbst
zur Anschauung bringen kann, wenn er seine Einzclaufnahmen durch den von
Ottomar Anschütz in Lissa erfundenen »Schnellfeder,« eine vertikal gestellte
Drehscheibe, zu einem Gesamtbilde zusammenfassen läßt."
Auf abstrakte Fragen lasten sich nicht immer abstrakte Antworten geben.
Es sei gestattet, aus unsrer Ausstellung zwei Beispiele herauszugreifen, welche
den Unterschied zwischen der mechanischen Arbeit des Augenblicksphotographen
und dem geistigen Schaffen des Malers, der einen Moment, einen Ausschnitt
aus der Natur festhalten will, klar machen werden. Anton von Werner hat
den Fürsten Bismarck dargestellt, wie er am Bundesratstische stehend, in der
Linken ein Schriftstück, mit der Rechten nach hinten unter den Uniformrock
greifend, als wollte er sein Taschentuch hervorziehen, vor dem Reichstage eine
Rede hält. Der Kopf ist dem Beschauer fast im Profil zugekehrt, der Mund
ist halb geöffnet — denn er redet ja —, und auch im übrigen, in dem Beiwerk
der Umgebung, Stuhl, Tisch und Wand, ist die Wirklichkeit mit jenem Respekt
nachgebildet, welchen Anton von Werner in gleichem Maße einem menschlichen
Antlitz wie einem Uniformknopf entgegenbringt. Der Aufwand zeichnerischer
und malerischer Handfertigkeit ist in diesem Falle vergeblich gewesen. Genau
dasselbe würde ein Photograph erreicht haben. Es ist sogar nicht ausgeschlossen,
daß ein Photograph, wenn er Einsicht, Klugheit und Geschmack hat, einen viel
günstigeren Augenblick erfaßt und ein Abbild geliefert hätte, welches die Ge¬
nialität des gewaltigen Mannes viel deutlicher und überzeugender zur Anschauung
bringt als das Wernersche Bild. Wenn eine so hergestellte Photographie nachher
in Farben gesetzt wird, kann eine gleiche Wirkung erzielt werden wie mit einem
Gemälde A- von Werners, der nicht Kolorist in höherem Sinne ist, sondern
kühl und bedächtig den einen Farbenton neben den andern setzt. Ein solches
künstlerisches Verfahren kann also durch die Photographie ersetzt werden,
und wenn es allgemein angenommen würde, wäre die Zeit gekommen, wo,
wie Professor Otto Knille schön sagt, die Maler nur noch als „zweibeinige
Aufnahmeapparate zwischen Natur und Mitbürgern" zu wirken haben werden.
Das zweite Beispiel. Franz Skarbina hat auf einem seiner lebensvollen,
dem unmittelbaren Studium der Natur entsprossenen Aquarell die Szene ge¬
schildert, welche sich täglich vor dem kaiserlichen Palais abspielt, den Vorttber-
marsch der Schloßwache und den Jubel des Volkes, der stürmisch ausbricht,
sobald sich die Gestalt des geliebten Monarchen hinter dem Eckfenster zeigt.
Auch dieser „Blick aus des Kaisers Fenster" könnte vermittels der Photo¬
graphie festgehalten werden, und derartige Versuche sind auch am neunzigsten
Geburtstage des Kaisers gemacht worden. Aber diese Versuche haben zugleich
gelehrt, daß die Photographie, wenigstens gegenwärtig noch, ohnmächtig ist,
wo es sich um Beherrschung der Massen und zugleich um Hervorhebung des
Einzelnen handelt. Und in Bezug auf letzteren Punkt wird die Maschine vor¬
aussichtlich für immer versagen. Sie wird niemals mehr als ein Abbild des
Zufalls, also stets etwas Unvollkommenes geben, während der Maler insofern
zu einer gewissen Vollkommenheit gelangen kann, als die Möglichkeit für ihn
vorhanden ist, den ihm vor Augen schwebenden Zweck oder sein Ideal zu er¬
reichen. Skarbina hat mit seinem nächsten Zwecke, einen fesselnden Augenblick
aus der Wirklichkeit möglichst lebendig zu veranschaulichen, die höhere Absicht
verbunden, zu zeigen, wie die Begeisterung für den Kaiser Hoch und Niedrig
zu einer gemeinsamen Huldigung vereinigt und wie verschiedenartig sich diese
Begeisterung unter dem Eindrucke der ehrwürdigen Erscheinung des Kaisers
äußert. Der Künstler ist seiner Absicht sehr nahe gekommen. Er hat aus einer
Fülle von Individuen, ans einem reichen Beobachtungs- und Studienmaterial
Typen herausgegriffen, welche das Publikum vollkommen charakterisiren, das
sich unter dem Fenster des Kaisers zu versammeln pflegt, von dem gewohnheits¬
müßigen Hurrahschreier, der vor der Musik einhermarschirt, bis zu dem Pa¬
trioten aus der Provinz oder dem Auslande, welcher in diesem Augenblicke die
höchste Weihe seines Berliner Aufenthaltes erblickt. Mit dieser gleichsam kri¬
tischen Thätigkeit des Künstlers kann die Maschine des Photographen und selbst
ein „zweibeiniger Aufuahmeappcirat" nicht wetteifern. Man sieht also an diesem
Beispiel, wie weit noch das Gebiet ist, auf welchem sich der Künstler tummeln
kann, ohne mit dem Photographen zusammenzustoßen oder von ihm überflügelt
zu werden, und dieses Gebiet wird dem Künstler auch für den Fall erhalten
bleiben, daß der Realismus die ausschließliche Herrschaft in der Kunst ge¬
winnen sollte.
Die Aussichten dazu sind vorhanden. Die Abkehr von der Vergangenheit
ist in beständigem Wachsen: die meisten Künstler malen nur noch Bilder idealen
Inhalts, um ihre Kenntnis der Körperformen zu zeigen, oder Historienbilder,
um den Glanz und die Mannichfaltigkeit ihres Kolorits an prächtigen Kostümen
und malerischen Stoffen zu erproben. Nur diese Virtuosität in äußerlichen
Dingen vermag in der That großen Kompositionen wie Ernst Hildebrcmds
„Tullia" (Tullia treibt ihr Gespann über den Leichnam ihres Vaters), Hugo
Vogels „Ernst der Bekenner, Herzog von Braunschweig und Lüneburg" (der
Herzog empfängt in Celle zum ersten male das Abendmahl in beiderlei Gestalt)
und Albert Baurs großer Dekoration für das TextilmuscuM der königlichen
Webschule in Krefeld einiges Interesse zu leihen. Diese Bilder sind, wenn man
von zwei improvisirten Dekorationen absieht, die Geselschap in sklavischer Nach¬
ahmung der Ausdrucksweise des Cornelius zum Schmuck der Kunstakademie für
den neunzigsten Geburtstag des Kaisers gemalt hat, zugleich die einzigen Vertreter
der Malerei großen Stils auf der Ausstellung. Das ist ein schlechter Trost für
diejenigen, welche in dieser Gattung der Malerei ihren Gipfel sehen. Indessen
hat auch die ästhetische Kritik mit der Zunahme realistischer Kunstanschauung
ihren apriorischen Standpunkt aufgegeben und sich zur empirischen Methode be¬
kennen müssen. Auch in der Ästhetik macheu Kleider nicht mehr die Leute, und
ebenso scharf wie mau derjenigen Gattung des historischen Romans zu Leibe
geht, welche das Schaffen der dichterischen Phantasie in den Dienst trockener
Pädagogik stellt, muß man auch das Geschichtsbild bekämpfen, welches seinen
höchsten Ruhm in der treuen Nachbildung der Kleider, der Umgebung und des
Beiwerks sucht. Dieser Ruhm ist uicht fein und überdies sehr wohlfeil. Was
Hugo Vogel gemalt hat, ist so glatt, so gefeilt und unanstößig wie ein histo¬
rischer Roman von Julius Wolfs. Man sieht, wie der ganze bunte Teppich
sorgfältig aus einer Reihe von Modellen, die hübsch still gesessen oder gestanden
haben, zusammengewebt, wie jede Falte arrangirt und auf ihre Wirkung hin
ausgeprobt ist. Aber der geniale Funke, der Blitz, welcher die Modellpuppen
zum Leben erweckt, ist ausgeblieben. Solche Geschichtsbilder lassen sich aus
Bestellung zu Dutzenden anfertigen, wenn der Maler nur Geduld hat, und
Geduld ist allemal da vorhanden, wo das Genie fehlt. In jüngster Zeit sind
Kostümfeste, historische Festzuge und lebende Bilder nach geschichtlichen Gemälden
sehr in die Mode gekommen. Die Herren und Damen, welche sich während
der Proben in den antiken, mittelalterlichen, Renaissance- und Rokoko-Kostümen
äußerst wohl oder doch sehr wichtig gefühlt haben, lassen sich zum Schluß,
einzeln und in Gruppen, Photographiren. Diese Neigung kann ein geschäfts¬
kundiger Historienmaler, welchem der Born eigner Erfindung nur spärlich quillt,
sehr leicht zu seinem Vorteil ausbeuten. Wenn er die kostümirten Herren und
Damen, je nach ihrer Tracht, auf einen „historischen Mittelpunkt" hin. etwa auf
Huß vor dem Konzil, Luther auf dem Reichstage zu Worms, Kaiser Maximilian,
Königin Elisabeth, Ludwig XIV. oder den großen Kurfürsten gruppirte und dann
Photographiren ließe, würde er ebenso gute Geschichtsbilder zu stände bringen
wie Hugo Vogel.
Albert Baurs Dekorationsgemülde hat einen gewissermaßen belehrenden
Zweck und verlangt deshalb eine andre Beurteilung. Es bildet den ersten Teil
einer Reihe von Darstellungen, in welchen die Entwicklung der Seideniudnstrie
in Europa geschildert werden soll, und zeigt den Empfang der byzantinischen
Mönche, welche in hohlen Bambusstäben die ersten Seidenranpeneier aus China
nach Europa bringen, durch Kaiser Justinian. Was durch Fleiß, Mühe und
Gewissenhaftigkeit erreicht werden kann, ist von dem Maler erreicht worden,
und schwerlich würde ein Künstler, der genialer angelegt ist als Albert Baur,
dem zeremoniellen Vorgange interessantere Seiten abgewonnen haben. Es fragt
sich nnr, ob das Thema richtig gestellt ist, und auf diese Frage muß die Ant¬
wort Nein lauten. Was wir sehen, ist nichts als eine feierliche Prachtentfaltung
des byzantinischen Hofes aus einem Anlaß, welchen ein unbefangener Beschauer
aus der Darstellung selbst nicht entnehmen kann, und an dem Orte, für den
das Gemälde bestimmt ist, wird eine ausführliche Erlnutenmgstafel notwendig
sein. Während die dem Hauptbilde angehängten, grau in grau gemalten Seiten-
stücke, welche das Auffinden und Abwickeln des Coconfadens und das Kochen,
Haspeln und Weben desselben dnrch weibliche Figuren darstellen, nnr die bei¬
läufigen Anmerkungen zu dem Mittelbilde geben sollten, führen sie in Wirk¬
lichkeit den Forscher erst auf die richtige Spur zur Erklärung der feierlichen
Zeremonie in der Mitte. Volkstümlich wird die zu neuem Leben erweckte,
monumentale Kunst unsrer Tage durch solche Aufgaben nicht werden.
Ernst Hildebrcmds „Tullia" zeigt in vielen Teilen das Gepräge genialer Be¬
gabung. Aber Tullia ist uns ebenso viel wie Hekuba. Ein ungeheurer Auf¬
wand von zeichnerischer und malerischer Fähigkeit ist hier an einen Stoff ver¬
schwendet, der trotz seines tragischen Inhalts unser Herz nicht in Mitleidenschaft
ziehen, nicht erschüttern kann. Zunächst tritt wieder der Mangel störend auf,
daß der dargestellte Vorgang uicht allgemein verständlich ist. Das Kostüm der
Figuren und die Umgebung, der Tempel und die Bronzegruppe der säugenden
Wölfin machen zwar jedem Gebildeten klar, daß Rom der Schauplatz der Er¬
eignisse ist. Aber was will die unheimliche, in höchster Leidenschaft entflammte
Frau hoch oben auf dem Wagen? Befiehlt sie dem Wagenlenker, welcher die
Pferde entsetzt zurückreißt, über den nackten, auf die Straße geworfenen Leichnam
des ehrwürdigen Greises hinwegznfcihren, oder fordert sie das Gegenteil? Erst
aus den Mienen, dem Gebahren des umstehenden Volkes läßt sich letzteres
schließen. Es bereitet sich also vor unsern Augen ein schreckliches Ereignis vor,
das immerhin ein Frevel ist, aber vielleicht zu entschuldigen wäre, wenn man
wüßte, was für die Insassin des Wagens bei ihrem Treiben zur Eile auf dem
Spiele steht. Hier versagt das Bild selbst die Sprache, und man muß zum
Kataloge greifen, um zu erfahren, daß die Tochter des römischen Königs Ser-
vius Tullius, auf deren Antrieb ihr Vater den Tod durch Mörderhand er¬
litten hat, im Begriffe steht, über die Leiche des Ermordeten hinwegzufahren.
Wenn das Verständnis eines Kunstwerkes erst mühsam hergestellt werden muß,
geht ein großer Teil seiner Wirkung verloren, und je strenger sich ein Ge¬
schichtsmaler an die reine Überlieferung hält, je enger er sich an die als zu¬
verlässig und sicher erkannten Erscheinungsformen der Vergangenheit anschließt,
desto weniger wird er auf das Verständnis seiner Zeitgenossen rechnen können.
Trotz aller tanagräischen Terrakotten und der jetzt so schwungvoll betriebenen
Polychromie werden wir Deutsche, das muß immer wieder rücksichtslos aus¬
gesprochen werden, dem griechisch-römischen Altertume stets kühl gegenüberstehen,
soweit es sich um seine materiellen Erscheinungsformen handelt. Was wir aus
dem Schrifttum der Griechen und Römer in unsre geistige Kultur herüberge¬
nommen haben, werden wir stets dankbar anerkennen, und wir werden auch
nicht vergessen, daß ihre Baukunst und ihre Plastik zu wiederholten malen die
Lehrerinnen der Menschheit gewesen sind. Sollten sie es aber noch einmal
werden, so müßte eine solche Thatsache die völlige Vernichtung unsrer gegen¬
wärtigen Kultur zur Voraussetzung haben, und es fragt sich dann, ob nicht
die mühsam erhaltenen Ueberreste des klassischen Altertums das Schicksal der
allgemeinen Vernichtung teilen würden.
Aber wir wollen uns nicht in Phantasien ergehen, sondern nur unsre An¬
sicht dahin äußern, daß mit der Autorität der Antike ein zu starker Kultus ge¬
trieben wird und zahlreiche Künstler in einem Irrtume befangen sind, wenn sie
glauben, schon durch Behandlung antiker Stoffe ihres Erfolges sicher zu sein.
Die Schwärmerei für die Antike ist genau so Modesache wie die Begeisterung
für die Renaissance und das Rokvkozeitalter, und wenn man schärfer zusieht,
wird man die Beobachtung machen, daß, je weiter sich die archäologischen Ro¬
mane sowie die Bilder antiken Inhalts von der echten Antike entfernen und
je mehr sie dem modernen Geschmack und der modernen Empfindsamkeit ent¬
gegenkommen, sie auf einen desto stärkern Erfolg bei dem großen, den Markt
beherrschenden Publikum rechnen können. Wir erinnern nur an das sü߬
liche Zeug von Illustrationen, welches Thumann zu Hamerlings „Amor
lind Psyche" gezeichnet hat, und an die glatten Genrebilder Alma Tademas,
welcher moderne Modepuppen in griechische und römische Kostüme steckt
und dafür um seiner täuschenden Echtheit willen ein Heer gedankenloser Be¬
wunderer findet.
Je energischer und schneller sich die Abkehr unsrer Kunst von künstlichen
Wiederbelebungsversuchen vergangener Kulturperioden vollziehen wird, desto eher
wird sie einen neuen Inhalt gewinne». Es ist unbestreitbar, daß die Nieder¬
länder und Italiener des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts ihren Dar¬
stellungen aus der heiligen und profanen Geschichte einen großen Teil ihres
unvergänglichen Reizes dadurch verliehen haben, daß sie die Figuren in Trachten
ihrer eignen Zeit auftreten und sich in Gebäuden oder Landschaften bewegen ließen,
welche die Künstler mit eignen Augen gesehen hatten. Dadurch haben diese
Schilderungen das Gepräge größter Wahrheit und Lebendigkeit gewonnen, ohne
etwas an Würde oder, wo es darauf ankommt, an Größe des Stils einzubüßen.
Wir können ihnen auf dieses Gebiet nicht folgen, weil uns die Naivität fehlt,
von der sie erfüllt waren, weil wir wider besseres Wissen malen würden und
alsdann an Stelle des naiven das Gekünstelte und Erborgte träte. Aber eine
andre Lehre können unsre Künstler von ihnen annehmen, nur das zu malen,
was sie gesehen und beobachtet haben. Diese Forderung soll nicht nur so auf¬
gefaßt werden, als wollten wir damit die freie Thätigkeit der Phantasie aus¬
schließen und das Schaffen des Malers an das Modell fesseln. Das kann
uns nicht in den Sinn kommen. Wir wollen das Recht der idealen Malerei
keineswegs in Frage stellen; aber es läßt sich nicht verhehlen, daß sie sich
gegenwärtig in Formen bewegt, die sich längst ausgelebt haben, in Allegorien,
die zu Gemeinplätzen geworden und nicht mehr imstande sind, einen gebildeten
Geist zu beschäftigen, während sie auf die Masse des Volkes nach wie vor ein¬
druckslos bleiben. Unsre ideale Kunst braucht also einen neuen Inhalt und
eine neue Form; die Schilderung des Lebens unsrer Zeit findet dagegen eine
Ausdrucksform, welche allen seinen Regungen völlig gerecht wird. Der uner¬
schöpfliche, sich stetig erneuernde Reiz der niederländischen Kunst liegt uicht in
ihren allegorischen und historischen Gemälden, sondern in ihren Schilderungen
des Lebens und der Natur ihrer Zeit. Es ist eine der Hauptaufgaben
der Kunst, daß sie der Nachwelt ein Abbild ihrer Zeit hinterlasse,
und je tiefer sie in ihrer Zeit, in ihrem Volke wurzelt, desto nachhaltiger
werden ihre Wirkungen sein. Die italienische Kunst hatte bis zum Tode Raf-
faels einen scharf ausgeprägten nationalen Charakter. Selbst in den idealsten
Schöpfungen Raffaels' fühlt man den Zusammenhang mit den Menschen, unter
denen er lebte. Sobald sich aber die italienische Kunst, zumeist verlockt durch
die schrankenlose Subjektivität Michelangelos, von dem vaterländischen Boden
erhob und nach dem Ausdruck allgemeiner Schönheit strebte, verlor sie mit dem
nationalen Inhalt Seele und Leben, und ein gedankenloses Formenspiel trat
an die Stelle der Kunst. Es ist einer der charakteristischen Züge der Berliner
Ausstellung, daß sie uns eine stattliche Reihe von Kunstwerken vor Augen
fuhrt, welche beweisen, daß die Erkenntnis von der Notwendigkeit der Einkehr
of Volkstum, des Anschlusses an die Gegenwart unter den Künstlern immer
mehr um sich greift.
eben mir her im Gedränge ging ein. Mann, der mir sein Herz
auszuschütten begann; er erklärte mir, daß, wenn aus Deutsch¬
land noch etwas werdeu sollte, die ganze Rechte der Pauls¬
kirche totgeschlagen und jeder Preuße aus Frankfurt vertrieben
werdeu müßte. Meine Einwendungen dagegen fruchteten nicht
viel. Plötzlich, im Schein einer Laterne, sah er mich genauer an und sagte:
„Heeren Se mal, Sie sehen mich so bekennt aus!" Mir pochte das Herz; er
konnte mich ja in der Paulskirche gesehen haben. „Ja, antwortete ich
schnell, ich habe es längst vermutet, wir müssen uns schon früher einmal
getroffen haben." — „Na, waren Se vielleicht bei de schleswigschen Frei¬
scharen?" — „Ja, versteht sich," war meine Antwort. — „Na, denn sind wir
alte Kameraden, und denn müssen Se en Schluck aus meiner Flasche nehmen." —
„Prosit!" sagte ich und setzte zum Schein die Flasche an meine Lippen. — „Nee,
das ist doch merkwürdig, wie man sich in der Welt immer wieder zusammen¬
findet!" Der Zug wälzte sich inzwischen an meiner Wohnung vorüber; ich hatte
genug und drückte mich.
Am folgenden Tage, am Sonntag, trat ich um ein Uhr in den Speisesaal
unsers Gasthauses und wurde durch die freundliche Helle desselben überrascht:
lauter neue Fensterscheiben! Bei Tische verabredete ich mit Schwerin und dem
Fürsten Lichnowski einen Ausflug nach Homburg, das man mit der Eisenbahn
in wenigen Minuten erreichen konnte. Lichnowski war sehr heiter und trug
uns nach der Tafel einige spanische Lieder vor, die er eben aus dem Lande des
Weines und der Gesänge mit heimgebracht hatte. Als wir des Abends von
Homburg zurückkehrten, erfuhren wir, was inzwischen in Frankfurt vorgegangen
war. Sämtliche in der freien Stadt anwesenden „Turner" — man schätzte ihre
Zahl auf 40 000 — wären auf einem freien Platze vor dem Thore (der Pfingst-
weide) versammelt gewesen. Die Führer der Demokratie, Robert Blum,
Schlöffet u. a., hätten dort zündende Reden gehalten. Endlich sei beschlossen
worden, an, folgenden Tage eine Sturmpetition an die Paulskirche zu erlassen:
die Mitglieder der Rechten und alle Preußen sollten sofort aus der Versammlung
ausscheiden; geschähe dies nicht, so würde das souveräne Volk eindringen und
ein Blutbad anrichten. Die Regierung hätte Kenntnis von diesem Beschlusse
und Hütte sofort in die Nachbarschaft telegraphirt, um womöglich noch in heu¬
tiger Nacht einige Bataillone heranzuziehen.
Wir gingen erst spät auseinander und wünschten uns ungestörte Ruhe;
doch mag mancher in dieser Nacht unruhige Träume gehabt haben.
Montag den 18. September, als ich früh aus dem Fenster meiner Woh¬
nung sah, bemerkte ich viel Landvolk, das anscheinend aus der nächsten Um¬
gegend in die Stadt zog und mit Flinten, Piken, Heu- und Mistgabeln, ja auch
mit Dreschflegeln bewaffnet war. Plötzlich entstand eine wirre Bewegung unter
diesen Leuten; man lief wie toll durcheinander und schrie und schimpfte. Ich
hörte den Ruf: „Die Praiße sind da!" Einzelne warfen die Waffen fort und
drückten sich in die nächsten Häuser, um sich zu verstecken. Mein Hauswirt
stürzte in mein Zimmer: „Um Gottes Willen, die Preußen sind da! stellen Sie
in der Paulskirche sofort den Antrag, daß sie zurückgeschickt werden, sonst
werden unsre Kinder in der Wiege gemordet, ja es wird in der ganzen Stadt
kein Stein auf dem andern bleiben!" Ich gab mir alle Mühe, den Mann zu
beruhigen. Vergeblich.
Ich ging zur Sitzung. Vor der Paulskirche fand ich — welche Über¬
raschung! — ein Bataillon Preußen aufgestellt. Wie hoch mir das Herz schlug,
unsre blauen Jungen zu sehen, kann nur der ermessen, der je in ähnlicher Lage
war. Es war ein Bataillon des schlesischen Füsilierregiments, das man von
Mainz herübergeschickt hatte. Ich wechselte einige Worte mit einem mir bekannten
Offizier und betrat dann in gehobener Stimmung unser Haus.
Es stauben die langweiligen Grundrechte auf der Tagesordnung. Die ge¬
lehrten Reden der Herren Professoren vermochten nirgends rechte Teilnahme
zu erwecken. Ein Antrag der Linken, „das Militär müsse zurückgezogen werden,
weil man nicht unter den Waffen beraten dürfe," wurde vom Ministerium
zurückgewiesen. Endlich wurde der Tags zuvor auf der Pfingstweide beschlossene
Antrag wohl stilisirt dem Präsidenten übergeben. Dieser verlas ihn mit würde¬
voller Ruhe und sagte dann mit einer Unbefangenheit, die den Verdacht einer
leisen Ironie erwecken konnte: „Ich werde diesen Antrag dem Ausschuß für
die Geschäftsordnung überweisen." Wir riefen Bravo. Man wußte aber sehr
Wohl, daß dann der Antrag, wenn überhaupt, erst nach Wochen zur Beratung
kommen würde — und dabei harrte das Volk vor der Thür der Antwort.
Unzweifelhaft bestanden Fäden der Verbindung zwischen der äußersten Linken
und der draußen wartenden, aufgestachelter Menge. Letztere wollte eindringen;
einige Abgeordnete, unter denen ich den Oberproknrator vom Rhein, v. Kosteritz,
erkannte, hielten die Thür zu. Das Ringen an der Thür begann. Da erschien
eine preußische Patrouille; der Unteroffizier kommandirte: „Fällt's Gewehr!"
und der Volkshaufe stiebte wie ein Flug Spatzen auseinander. Man erzählte
in der Paulskirche, einer der Aufständischen habe einen Bajonnctstich in den
Schenkel erhalten. Das Gerücht durchlief schnell alle Bänke und hatte den
Antrag der Linken zur Folge, daß es jetzt die höchste Zeit sei, die Truppen
zurückzuziehen; die Preußen fingen an zu morden, es wäre schon Blut geflossen,
und die Wut des Löwen, der einmal Blut geleckt habe, wäre bekanntlich un¬
berechenbar. Aber die Preußen blieben auf ihrem Posten.
Was außerhalb unsers Hauses geschah, erfuhr man im Innern nicht; wir
wähnten sogar, es herrsche draußen Ruhe. Die Sitzung hingegen war sehr
unruhig, sodaß sie der Präsident früher als gewöhnlich schloß. Aber wie hatte
sich inzwischen das Aussehen der Straßen geändert! Überall waren Barrikaden
errichtet. Ich mußte bis zu meiner Wohnung deren fünf Passiren, indem ich
über einige hinüberkletterte, andre durch die Nachbarhäuser umging. Nachdem
ich Toilette gemacht hatte, begab ich mich zum Mittagessen nach dem „Englischen
Hofe," wo ich eine zahlreiche Gesellschaft fand. Ich saß an der Tafel neben
Lichnowski; dieser erzählte mir, daß er gleich nach Tische mit Auerswald fort¬
reiten wolle, um darmstädtische Truppen, welche im Anmärsche seien, auf ihm
bekannten Schleichwegen durch die Gärten in die Stadt zu führen, da eine
Verstärkung unsrer Garnison sehr wünschenswert wäre. Frühzeitig stand er
vom Mittagstisch auf und empfahl sich. Bald darauf klopfte es ans Fenster.
Es war Lichnowski, der schon zu Pferde saß und mich fragte, ob er nicht seine
Zigarrentasche habe liegen lassen. Ich fand sie auf seinem Platze und reichte
sie ihm hinaus. Ein zweiter Herr war mit mir ans Fenster getreten. Neben
Lichnowski hielt Auerswald draußen ebenfalls zu Pferde. „Aber, meine Herren
— sagte mein Nachbar — wie können Sie bei diesen Unruhen einen Spazierritt
unternehmen?" — „Allerhöchster Dienst," war die Antwort. Sie sprengten
davon; wir sahen ihnen nach und ahnten nicht, daß wir sie lebend nicht wieder¬
sehen sollten.
Als ich mich wieder ins Zimmer zurückwandte, stellte mir der Landschaftsrat
Kratz ans Wintershagen einen Gerichtsdirektor vor, der eben aus dem Bade
gekommen war und in der Kratzschen Wohnung, die jetzt von den Aufständischen
besetzt war, eine größere Summe Geldes zurückgelassen hatte. Ich schlug ihm
vor, wir wollten in die Stadt gehen und den Versuch machen, ob wir nicht in
sein Haus gelangen könnten. An der Ecke seiner Straße fanden wir einen
Halbzug österreichischer Infanterie, der gedeckt hinter einem vorspringenden
Hanse stand und mit der Besatzung der Kratzschen Wohnung ab und zu Schüsse
wechselte. Der Offizier, der einem Manne das Gewehr abgenommen hatte, lag
gerade im Anschlage und drückte auf einen „Turner" ab, der sich am Fenster
zeigte. Als bald darauf das Schießen aufhörte, wagten wir uns gemeinsam
mit jenem Offizier in das Haus, vor dessen Thür ein Doppelposten gestellt
worden war. Ohne Hindernis gelangten wir in das zwei Treppen hoch ge¬
legene Kratzsche Zimmer. Der Schrank, welcher das Geld des Gerichtsdirektors
enthielt, stand unerbrochen mitten im Zimmer; er war so aufgestellt, daß er
gegen Kugeln, welche durch das Fenster drangen, einigermaßen als Deckung
hatte dienen können. Zwischen dem Schrank und dem Fenster lag ein wohl¬
gekleideter „Turner" auf dem Fußboden; eine Kugel war ihm durchs Herz und
zum Rücken herausgegangen. Der Österreicher hatte gut getroffen. Die übrige
Besatzung des Hauses war verschwunden. Der Gerichtsdirektor nahm sein Geld
an sich, und nun durchsuchten wir das Gebäude und fanden in einem Keller
die hinter Kisten versteckten Aufständischen, denen der jüdische Hauswirt allerlei
Vorschub geleistet hatte; sie wurden sämtlich festgenommen und auf die Wache
gebracht.
Ich habe dieses an sich geringfügigen Ereignisses ausführlicher gedacht,
um zu zeigen, wie wenig Mut und Ausdauer die meisten jener Leute hatten,
die für eine ihnen selbst ganz unklare Idee und auf den Ruf ihnen gänzlich
unbekannter Personen, hauptsächlich nur aus Liebe zur Rauferei, die Waffen
führten, und wie leicht sie einzuschüchtern waren. Auch von andern Seiten ist
mir diese Ansicht bestätigt worden.
Noch vor Einbruch des Abends traf darmstädtische Artillerie ein; sie
räumte die Barrikaden schnell ans, und damit hatte der Krieg sein Ende er¬
reicht. Von der Dunkelheit begünstigt, mögen sich wohl die „Turner" zurück¬
gezogen haben; am folgenden Tage war nichts mehr von ihnen zu sehen.
Wir durchwanderten nun ungehindert die Straßen. Die Stadt war in
ein großes Kriegslager verwandelt. Infanterie, Kavallerie, Artillerie und Pio¬
niere lagen bunt durcheinander — Preußen, Österreicher, Baiern, Württem¬
bergs. Badenser, Darmstädter und Nassauer — es wahr eine wahre Muster-
karte. Von preußischen Regimentern fanden wir das 35. und 38. vor; obgleich
die Leute kaum etwas im Leibe hatten und nun auf dem harten Steinpflaster
bivcckiren mußten, waren sie doch munter und gutes Mutes. Auf Veranlassung
einiger uns bekannten Offiziere trugen uns die Sänger der Kompagnien, zur
höchsten Verwunderung der Frankfurter, ein paar Soldatenlieder vor. Wir
schleppten aus Bäckerladen und Brauereien herbei, was noch irgend aufzutreiben
war, und bemühten uns, so den braven Leuten ihr hartes Los doch etwas zu
erleichtern.
Am späten Abend kehrten wir wieder in unser Hotel zurück. Dort traf
uns die anfangs bezweifelte Nachricht, daß Auerswald und Lichnowski ermordet
seien. Um Truppen in die Stadt zu führen, waren sie fortgeritten, aber schon
vom Thore aus von rohen Pöbelhaufen verfolgt worden, die, wie man uns
versicherte, ein hervorragendes Mitglied der Linken hinterhergehetzt hatte.
Wären sie auf der großen Straße schnell vorwärts geritten, so wären sie sicher
der Gefahr entgangen; leider hatten sie sich in Seitengassen begeben, jagten
dort, von Schüssen und Steinwürfen verfolgt, zwischen hohen Gartenzäunen
hin und her und sprengten endlich in einen offenstehenden Garten hinein. Der
Besitzer stand vor der Thür seines im Garten gelegenen Häuschens; er stellte
schnell die Pferde in seinen Kuhstall und nahm die Verfolgten unter sein Dach.
Lichnowski verbarg sich im Keller; Auerswald begab sich auf den Boden, legte
sich dort in das Bett eines Lehrlings, zog eine Schlafmütze über die Ohren
und spielte den Kranken. Beide wurden gefunden, heraufgeschleppt und, ob¬
gleich sie keine Waffen bei sich geführt hatten, in scheußlicher Weise ermordet.
Lichnowski wurde an einen Baum gebunden und so als Zielscheibe für Sensen-
Hiebe und Schüsse benutzt. Auerswald erhielt zuerst von einem Weibe einen
Schlag mit dem Sonnenschirm ins Gesicht und dann aus nächster Nähe einen
Schuß durch den Kopf; er blieb auf der Stelle tot; seine Leiche wurde nach
mehreren Stunden gefunden. Lichnowski starb nicht so schnell. Er ließ sich
noch in das Bethmannsche Gartenhaus tragen, wo er im Beisein mehrerer schnell
herbeigerufenen Priester verschied. Dort hatte ihn unser Berichterstatter als
noch nicht erkaltete Leiche gefunden.
Nach dieser Mitteilung konnten wir an der Wahrheit derselben nicht mehr
zweifeln. Wir waren alle sehr ergriffen und blieben noch länger zusammen,
um unsern Gefühlen durch gegenseitige Aussprache Luft zu machen. Die Be¬
weggründe zu diesem empörenden Doppelmorde erschienen uns umso weniger
begreiflich, als die Ermordete» keineswegs hervorragende Mitglieder der Versamm¬
lung gewesen waren, ja nicht einmal der entschiedenen Rechten angehört hatten.
Am folgenden Morgen früh ging ich zu der unheilvollen Stelle hin und
ließ mir von dem Gärtner den vollständigen Hergang der traurigen Begebenheit
noch einmal ausführlich erzählen. Der Bericht entsprach völlig dem uns schon
gestern mitgeteilten. Ich trat an den Platz, wo Auerswald gefallen war. Der
Schuß durch den Kopf hatte ihn sofort getötet; er hatte also nach dem Falle
gleich stillgelegen. Deshalb war auch nur eine und zwar eine ganz kleine Blut¬
lache vorhanden. Das Blut war nicht in die Erde gezogen, sondern auf dem
dichten Lehmboden geronnen und zu einem festen Körper erstarrt. Ich nahm
ein Teilchen davon auf ein Stück Papier und schickte es in meinem nächsten
Briefe in die Heimat.
Einige Tage später wurden beide Opfer beerdigt, gleichzeitig mit den ge¬
fallenen Soldaten (einem Offizier und vier Gemeinen). Von den Aufständischen
waren, wenn ich nicht irre, siebzehn geblieben, deren Leichen ich mir im städ¬
tischen Hospital ansah; die Anzahl der Verwundeten wurde nicht bekannt gemacht.
Mit dieser betrübenden Katastrophe war der Kampf vollständig beendet.
Die Truppen blieben noch einige Tage in der Stadt, teils um die Trümmer
der Barrikaden wegzuräumen, teils um für etwaige Fälle zur Hand zu sein.
Aber diese traten nicht mehr ein. Es war so ruhig in der Stadt geworden,
daß sich sogar einige Helden der Bürgerwehr auf der Straße zu zeigen wagten.
Auf unsre Verhandlungen hatten diese Ereignisse nur geringen Einfluß.
Die Linke war jetzt ziemlich gedrückt und kleinmütig; aber auch die Rechte
konnte ihr Haupt nicht sicher erheben, da mehrere Mitglieder aus der Fraktion
ausschieden, weil diese der Gegenstand der Volksangriffe sei. Unser Häuflein
wurde sehr klein. Meinerseits konnte ich diese ängstliche Auffassung nicht
billigen und stellte daher im Hause den Antrag, die intellektuellen Urheber des
Aufstandes, welche offenbar in unsrer Mitte wären, gerichtlich zu verfolgen,
was natürlich nicht geschah. Aber dieser Antrag zog mir eine Mißtrauens¬
adresse der Demokratie meines Heimatskreises zu, wo unsre stenographischen
Berichte fleißig gelesen wurden; in dieser Adresse war die Aufforderung ent¬
halten, ich sollte sofort heimkehren. Daß ich solche Stimmen nicht beachtete,
versteht sich von selbst; einen sehr komischen Eindruck aber machte es auf mich,
daß ich gleich darauf eine Vertrauensadresfe aus meinem Kreise erhielt, die zum
Teil dieselben Unterschriften trug wie jene!
In der Paulskirche herrschte eine schwüle Luft. Die Linke sah, wie Preuße»
sich erhob, und konnte dieses Unglück nicht verhindern. Der König hatte die
Garden zurückberufen; Wrangel war in Berlin eingezogen und hatte das Rumpf-
Parlament, das gegen den Willen der Negierung tagte, vertrieben. Über Berlin
war der Belagerungszustand verhängt; der König hatte ein konservatives Mini¬
sterium berufen, und der an die Spitze dieses Ministeriums gestellte Graf
Brandenburg hatte das Wort gesprochen: „Bis hierher und nicht weiter." Die
Demokratie wollte aber noch nicht die Flinte ins Korn werfen. Ein letzter
Versuch sollte noch gemacht, eine neue Revolution heraufbeschworen werden.
Robert Vlum wurde nach Wien geschickt, um dort den Aufstand zu organisiren.
Sein Treiben wurde entdeckt, und der hochbegabte, aber durch blinde Leidenschaft
üre geleitete Mann fand sein Ende auf dem Sandhaufen in der Brigittenau.
In dieser Zeit, es mochte in den letzten Tagen des November sein, erhielt
ich Plötzlich ein Schreiben vom Grafen Brandenburg: ich solle sofort nach
Berlin kommen. Was wollte man von mir? Was war der Zweck dieser Be¬
rufung? Ich grübelte vergebens und ging endlich zu Nadowitz, der, wie ich
wußte, wenige Tage vorher von Berlin zurückgekommen war. Er war ein
Vertrauter des Königs und konnte am besten unterrichtet sein. Nadowitz zögerte,
mit der Sprache herauszurücken, endlich nahm er mir das Wort ab, vorläufig
noch nicht über die Sache zu sprechen, und erklärte mir dann: der König sei
entschlossen, eine feste Regierung wieder herzustellen; Wrangel solle mit starker
Faust alle revolutionären Bestrebungen nicht nur in Berlin, sondern auch in
der Umgebung der Hauptstadt niederhalten; er solle zum Generalgouvemeur
der Marken ernannt und ihm ein Zivilgouverneur an die Seite gestellt werden;
für diese letztere Stelle wäre ich bestimmt. Wo beide gemeinsam handeln
würden, sollten sie diktatorische Gewalt haben. „Reisen Sie — so schloß er —
so schnell wie möglich nach Berlin!" Das that ich, aber es sollte eine Reise
mit Hindernissen werden.
Damals gab es noch keine direkte Eisenbahnverbindung zwischen Berlin
und Frankfurt. Von Frankfurt aus fuhr man bis Eisenach mit der Post; erst
dort traf man die Bahn. Es hatte nun aber am Tage meiner Abreise von
Frankfurt heftig geschneit; die Straße war so stark verweht, daß die Post sich
mehrere Stunden verspätete und wir den Anschluß an den von Eisenach nach
Berlin gehenden Zug verfehlten. Erst nach mehreren Stunden Aufenthalt konnte
ich den nächsten Zug benutzen. In meiner Wagenabteilung genoß ich die
Gesellschaft der Gattin eines Frankfurter Bankiers, die mir mit ihrer Ge¬
sprächigkeit stark zusetzte. Sie war stolz auf ihren Gemahl, der ebenfalls der
Paulskirche angehörte, und interessirte sich aufs lebhafteste für alle politischen
Fragen des Tages. Ueber die Berliner Zustände äußerte sie sich sehr abfällig;
sie schimpfte auf die „Reaktion" und sprach offen ihre Hoffnung auf eine zweite
Volkserhebung aus. Eingedenk der mir möglicherweise bevorstehenden Aufgabe
übte ich die diplomatische Kunst des Schweigens so lange, als nur das Thema
„Berlin" verhandelt wurde. Als sie aber auch Robert Blums trauriges Ende
erwähnte, das damals gerade bekannt geworden war, und sich in maßlosen
Schimpfereien auf die Gewalthaber Deutschlands erging, löste der Zorn auch
meine Zunge. „Dem Aermsten ist nur sein Recht geworden; warum ging er
dorthin?" — „Er war ja geschickt; gerechter Gott! die Linke hatte ihn doch
hingeschickt!" — „Geschickt? So? Nun, dann bedaure ich, daß seine Auftrag¬
geber nicht mitgegangen sind!" Dieses unvorsichtige Wort des Amantes sollte
mir böse Früchte tragen. Der Zug war in Merseburg. Der dortige Bahnhof
war angefüllt mit betrunkenen, brüllenden Volke und mit zahlreicher Bürger¬
wehr, die auch nicht mehr ganz nüchtern war. Meine Reisegefährtin verließ
den Wagen, um nicht wiederzukehren. Ich sah, wie sie mit mehreren Bürger¬
wehrmännern heimlich flüsterte und dabei ans mich deutete; dann verschwand
sie im Gedränge. Gleich darauf taumelte ein Bürgerwehrmann an mein
Koupee: „Den Paß!" — „Ich habe keinen." Jetzt erschienen mehrere Be¬
waffnete und brüllten im Chor: „Den Paß!" — „Ich habe schon gesagt, daß
ich keinen Paß habe; hätte ich aber einen, so würde ich ihn doch nicht vor¬
zeigen, denn, meine Herren, Sie haben gar kein Recht, darnach zu fragen." —
„So? das wollen wir doch sehen. Hierher, Kameraden!" Nun drängte sich
ein Haufe erregter Menschen an meine Wagenthür. Eine Stimme rief: „Ohne
Legitimation kommen Sie keinen Schritt weiter! Wir sind hier, um jeden
Wagen zu untersuchen, damit kein Militär nach Berlin kommt; dort brennt der
Straßenkampf l^dies war eine TatareimachrickA der König will von hier mehr
Militär heranziehen, das dulden wir nicht." — „Das ist gewiß auch so ein
verkappter Leutnant, hetzte eine andre Stimme, er sieht gerade so aus." Ich
hatte nämlich einen Militärmantel um. „Meine Herren, sagte ich uneinge-
schttchtert und in der Hoffnung, die Aufgeregten durch einen Scherz umzu¬
stimmen, betrachten Sie gefälligst meinen Körperumfang: ist das die Taille
eines Leutnants? Sie sollten mich doch wenigstens zum Stabsoffizier machen." —
„Ach was! murrte eine dritte Stimme, reißt ihn heraus! Wir haben heute schon
den Hinckeldey angehalten, der auch nach Berlin beordert war; wir werden doch
mit diesem Burschen keine Umstände machen! Der geht in Stücke, wenn wir
ihn anpacken." — „Hoho, versetzte ich gelassen, dazu gehören zwei: einer, der
anpackt, und einer, der sich anpacken läßt. Ich rate niemand, mir zu nahe zu
kommen." Jetzt wurde mir die Spitze eines Bajonnets vor die Brust ge¬
halten. Als das Eisen meinen Mantel berührte, griff ich es an und stieß es
mit Aufbietung aller meiner Kräfte zurück. „Damit bleibt mir vom Leibe,
damit versteht ihr nicht umzugehen." Der zurückgestoßene Bürgersoldat tau¬
melte und fiel auf den Rücken; es war wohl weniger die Kraft meines Stoßes,
als vielmehr der Branntwein, der ihn umgeworfen hatte. Die Menge aber
geriet nun in Wut und stürmte laut brüllend auf meine Wagenthür ein. Da
drängte sich ein Herr durch die andern, der eine Autorität zu sein schien.
„Mein Herr, redete er mich würdevoll an, haben Sie keine Legitimation vor¬
zuzeigen? Ich bin der Stadtsekrctär N. N. und Kommandeur der Bürger¬
wehr." — „Gewiß eine sehr hohe Stellung, sagte ich, aber sie giebt Ihnen
keine Befugnis, Polizei zu üben." — „Sie haben vollkommen Recht, flüsterte
er mir zu, das will ich auch nicht; ich möchte Sie mir aus dieser Lage be¬
freien, damit der Zug endlich abgehen kann. Es genügt mir jedes Blatt
Papier, das Sie mir geben; die mißtrauischen Leute sollen nur sehen, daß ich
ein von Ihnen kommendes Papier lese." Dieser Ton klang anders und
rührte mein Herz; ich hatte aufrichtiges Mitleid mit dem armen Befehlshaber
dieser trunkenen Horde. Ich griff in die Tasche; den Brief vom Grafen
Brandenburg durfte ich nicht vorzeigen, das hätte mir schlecht bekommen können;
da fand ich noch die Quittung meines Schusters, den ich im Augenblicke meiner
Abreise bezahlt hatte; sie trug meinen Namen — das genügte. „Meine Herren,
rief der Kommandeur seinen Leuten zu, dies ist ein Abgeordneter aus der
Paulskirche, der stets für die Rechte des deutschen Volkes gestritten hat." —
Hurrah!" brüllten nun die Tapfern, und der Zug dampfte ab. Als wir aus
dem Bahnhofe hinausfuhren, sagte ein Mitreisender zu mir: „Dafür mögen
Sie sich bei der Dame bedanken, die uns vorhin verlassen hat." Ich weiß
nicht, ob er Recht hatte. (Schluß folgt.)
Ein Gedicht voll heiterer Anmut und reich an Geist, das mit Witz, wenn
auch nicht ganz ursprünglichr Originalität, Mythologie und Weltlichkeit durchein¬
ander schlingt, Märchen und Phantasterei keck mit innerer Logik in der Psycho¬
logischen Entwicklung vereinigt und so im scheinbar übermütigen Spiele der Phan¬
tasie doch ein der Tiefe nicht entbehrendes Bildchen menschlicher Schwäche und
Stärke gestaltet. Das Ganze tönt ans in einen edeln Hymnus auf die holde
Aphrodite, welche, Liebende zu beschützen, selbst vom Olymp herniedersteigt und sich
den Menschen offenbart. Jcison, der einzige Sohn eines reichen, geizigen Kauf¬
mannes, liebt das arme Blumenmädchen Jole; er kann sie aber nicht heiraten,
weil der Alte nicht einwilligt. Droben im Olymp haben sich deshalb zwei Par-
leim gebildet: die eifernde Hera vertritt den Standpunkt der Vernunftehe und
arbeitet daran, die Liebenden zu trennen; Aphrodite beschützt das Werk Amors
und arbeitet der Ehestifterin entgegen. Darob großes Weibergezänk Vor dem
Richterstuhl des gemütlichen Zeus im Schlafrock. Da Hera nahe daran ist, „die
Nerven zu bekommen," vermittelt er zwischen der gefürchteten Gattin und der ge-
liebtesten Tochter. Sie verpflichten sich, ihre Hände künftig aus dem Spiele des
irdischen Paares zu lassen, aber auch nicht „sei's durch Trug, sei's durch Gewalt¬
that handelnd in das Schicksal jener" einzugreifen. Und nun der beste Zug der
Erfindung des Epigonen: Jason ist durch den Widerstand seines Alten mürrisch,
mißmutig, verzagt, hypochondrisch geworden: ein recht schwacher Mensch, Plage er
seine geliebte Jole mit Mißtrauen, mit Eifersucht; er will sie auf die Probe stellen,
ob sie denn des Opfers, das er ihr durch seine Entzweiung mit dem Vater bringt,
würdig sei. Wie jedes rechte Mädchen, erwiedert Jole das Mißtrauen mit Ironie:
das wahre Gefühl verbirgt sich umso spröder, je zudringlicher es sich zu äußern
herausgefordert wird — eines der schönsten Lustspielmotive. Natürlich entsteht
daraus ein Mißverständnis zwischen den Liebenden, Jason ist unglücklich, ver¬
zweifelt, Jole nicht minder — das hat alles die hinterlistige Hera angerichtet,
welche des Schwures vor Zeus nicht gedachte. Nun kommen allerhand phantastische
Verwicklungen, aus denen Aphrodite, die sich nun auch des Schwures für entbunden
hält, weil ihn die Gegnerin gebrochen hat, dem Liebespaare zu einem glücklichen
Zusammenkommen verhilft. Die von wirklicher Anmut durchwehte Geschichte ist
auch in der Sprachfvrm flüssig und kunstvoll gehalten, sodaß man fast bedauern
möchte, daß sich der Verfasser in den Mantel der Anonymität hüllt.
Vor etwa einem Jahre konnten wir an dieser Stelle Schneidecks „Auszug
nach Kasta," eine humorvolle Schilderung deutschen Studentenlebens, mit aufrich¬
tiger Anerkennung besprechen. Mit Interesse nehmen wir daher dieses neue
Büchlein seiner dichterischen Muße zur Hand, aber unser Urteil wird diesmal etwas
kritischer ausfallen. Schucideck steckt noch so sehr im Stofflichen der Poesie, er
durchgeistigt seine Erfindungen zu wenig. Seine besondre Begabung ist die be¬
schreibende Kleinmalerei, er ist namentlich ein aufmerksamer und glücklicher Be¬
obachter des alltäglichen Lebens. Das gereicht auch der räumlich größten der
sechs Dichtungen des Bilderbuches zum Vorteil. In dieser hat er den deutschen
Weihnachtsabend mit seiner ganzen Traulichkeit und Gemütlichkeit sorgfältig ab¬
konterfeit; hier bewegt er sich auf dem ihm vertrautesten Boden des deutschen
Bürgertums; auch das Studeuteutum wird hier wieder mit Geschick verherrlicht.
Aber die Gefahr droht ihm von seiner Tugend: zur Kleinmalerei gesellt sich leicht
die Breite, die Redseligkeit. Darum gelingen ihm Gedichte wie „Liebesbotschaft,"
„Die Rast" schon weniger, so sinnig sie auch sind. Es fehlt ihm die Kraft der
Kürze, die Plastik im Gestalten, die schlagende Charakteristik, die Wucht des Natur¬
lauts; Kinder und Erwachsene reden gleich weise; Zorn und ruhige Reflexion sind
ihm gleich reich an Worten. Dieses Unvermögen, im höhern Sinne zu stilisiren,
bei aller Gewandtheit im metrischen Ausdrucke, bannt Schneideck in sein begrenztes
Gebiet der Familienidylle, deren poetischer Gehalt nicht gerade reich ist. Hier
sollte er seine künstlerische Erziehung ansetzen und hinausstreben, Talent ist vor¬
handen.
ir würden mit umso größerer Befriedigung ans alle Erfolge, mit
denen Gott Unsre Negierung gesegnet hat, zurückblicken, wenn
es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vater¬
lande dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und den
Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Bei¬
standes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen.
Es sind von Herzen kommende und zu Herzen gehende Worte, die unser
Kaiser in seiner Botschaft vom 17. November 1831 an die neu einberufenen
Vertreter des deutschen Volkes gerichtet hat, es sind zugleich Worte von staats-
männischer Einsicht und welthistorischer Bedeutung. Sie bekunden, daß unser
greiser Monarch, dem Deutschland die Wiedererlangung seiner Einheit und seiner
Machtstellung unter den europäischen Staaten verdankt, sich für die Not und
die Leiden seines Volkes ein mitfühlendes Herz bewahrt hat, sie zeigen aber
auch, wie reiche Gnade gerade ihm und seiner Negierung zu Teil geworden ist,
uidcm Gott ihm Berater zur Seite gestellt hat, die durch die Macht und die
Überlegenheit ihres Geistes nicht nur dem Vaterlande die Errungenschaften sieg¬
reicher Kriege gegenüber den Zetteleien ränkevoller Neider zu bewahren gewußt
haben, sondern mit richtigem Verständnis für das innere Volksleben auch die¬
jenigen Reformen und Umgestaltungen ins Werk zu setzen sich bemühten, die
dem modernen Staat bei der immer größer werdenden Kluft zwischen Reich und
Arm vor dem Verfall zu bewahren und ihm durch die Verschmelzung der
Gegensätze allein neue Lebenssäfte zuzuführen imstande sind.
Wir stehen an einem Wendepunkte in der Entwicklung des Staatslebens.
Die französische Revolution hatte das Volk von dem Druck der bevorzugten
Stände befreit, aber sie hatte zugleich alle Schranken gebrochen, die dem Ein¬
zelnen in Handel und Gewerbe zum Besten der Allgemeinheit auferlegt waren.
Die völlige Freiheit und Ungebundenheit begünstigte die wirtschaftlich Starken
zum Nachteil der wirtschaftlich Schwachen, und so bildeten sich anstatt der
frühern Scheidungen zwischen Adel und Volk in dem zur Herrschaft gelangten
Bürgertum neue Gegensätze, die besitzenden Klassen auf der einen, die nicht be¬
sitzenden auf der andern Seite. Wie früher die Leibeigenen unter der Herr¬
schaft der Gutsherren, so stehen jetzt die auf die Arbeit ihrer Hände angewiesenen
Volksmassen unter der Herrschaft des Kapitals. Nur daß die Herrschaft des
Kapitals schlimmer zu tragen ist. Den Gutsherrn verbanden die mannichfachsten
Beziehungen mit seinen Hörigen, und hatten die letztern es auch schwer, so
brauchten sie um des Lebens Notdurft und Nahrung sich nicht abzusorgen.
Den Fabrikherrn verknüpft nichts mit seinen Arbeitern als das persönliche Inter¬
esse, und ist diesem Genüge gethan, so löst er sein Verhältnis zu ihnen, und
kein Gesetz der Welt kann ihn zwingen, sich um sie weiter zu bekümmern. Und
dieses, nachdem die Arbeiter vielleicht Jahre hindurch für einen Lohn beschäftigt
gewesen sind, der ihnen unter Mithilfe von Frau und Kind kaum das tägliche
Brot gewährte, geschweige denn, daß er es ihnen ermöglicht hätte, für die Zeiten
der Not einen Sparpfennig zurückzulegen!
Daß solche Zustände auf die Dauer unhaltbar und für den Bestand des
Staates mit den größten Gefahren verbunden sind, darauf ist schon seit Jahr¬
zehnten von einsichtsvollen Männern aller Nationen hingewiesen worden. Aber
den ersten praktischen Versuch mit gesetzgeberischen Reformen in dieser Beziehung
gewagt zu haben mit Überwindung eines große» Widerstandes bei der Volks¬
vertretung, das ist neben der Entschließung unsers Kaisers das große und un¬
erreichte Verdienst des Fürsten Bismarck.
Der Arbeiter kann sich gegen die immer größer und größer werdende Macht
des Kapitals nicht mehr schützen, es ist der Staat, der dem Schwachen zu
Hilfe kommen, seine Lebensbedingungen erleichtern und im ganzen Volke das
Bewußtsein wieder erwecken muß, daß jeder, der seine Kräfte im Dienste der
Nation verbraucht hat, hiermit zugleich sich ein Recht erworben hat auf Hilfe
bei Krankheit, bei Unglücksfällen und im Alter.
Seit Erlaß der ersten kaiserlichen Botschaft hat die sozialpolitische
Gesetzgebung in Deutschland bedeutende Erfolge auszuweisen. Das Kranken-
versichernngs- sowie das Unfallversicherungsgesetz sind bereits in Kraft und
haben seit der Zeit ihres Bestehens eine allseitig befriedigende und segens¬
reiche Wirksamkeit ausgeübt. Durch Spezialgesetze ist dann der anfangs
beschränkte Kreis der unter die genannten Gesetze fallenden Personen von Jahr
zu Jahr erweitert worden, sodaß in Kürze die gesamte Arbeiterbevölkerung
gegen die äußerste Not bei Erkrankungen und Betriebsunfällen gesetzlich geschützt
sein wird.
Es bleibt nun noch ein Punkt des kaiserlichen Programms zu erfüllen:
die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter. Aber auch diese sieht ihrer
baldigen gesetzlichen Regelung entgegen. Die betreffenden Entwürfe sind von
der Regierung bereits durchberateu worden und sollen nach Eröffnung der neuen
Session an den Reichstag zur Vorlage gelangen. Die augenblickliche Zusammen¬
setzung des letztern aber bürgt dafür, daß die Bemühungen der Regierung nicht
vergeblich gewesen sein werden, daß zwischen den verschiednen Parteien vielmehr
eine Einigung erzielt werden und ein brauchbares Gesetz aus den Beratungen
des Hauses hervorgehen wird.
Den im ganzen wenig bekannten und auch praktischen Politikern fern¬
liegenden Gegenstand der Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter zu be¬
sprechen und einige wesentliche Punkte, über die man sich bei Durchführung der¬
selben wird schlüssig machen müssen, einer Untersuchung zu unterziehen, ist der
Zweck des vorliegenden Aufsatzes. Ins Auge fassen wollen wir namentlich den
Gegenstand der Versicherung, die Technik ihres Betriebes, die Höhe der Kosten
und die Aufbringung derselbe» bei den Beteiligten, endlich die Organisation und
Verwaltung.
Zweck der Invaliden- und Altersversorgnngsversicherung ist, den Arbeitern
für den Fall der Invalidität oder mit Erreichung eines bestimmten Lebens¬
alters, vielleicht des fünfundsechzigsten Jahres, bis zu ihrem Tode eine jähr¬
liche Rente zu sichern. Wer, so lange er arbeitsfähig war, für sich und seine
Familie gesorgt und seine Kräfte im Dienste der menschlichen Gesellschaft ver¬
braucht hat, der soll im Alter und bei vorzeitiger Invalidität vor der äußersten
Not geschützt werden. Fassen wir den Satz in dieser allgemeinen Form, so
werden wir keinen Arbeiter männlichen oder weiblichen Geschlechts von den
Wohlthaten der Versicherung ausschließen können. Es wird sich also die Ver¬
hinderungspflicht zu erstrecken haben ans sämtliche Fabrikarbeiter, auf die unselb¬
ständigen Handwerker, auf die Hilfsarbeiter, die Ort und Arbeitsgelegenheit
wechseln, auf alle gegen Stücklohn bei sich zu Hause beschäftigten Personen,
vorausgesetzt, daß ihr Arbeitsverdienst einen gewissen höchsten Satz nicht über¬
schreitet, endlich auf die Dienstboten. Bei der Schwierigkeit der Organisation
wird man indes wie bei der Kranken- und Unfallversicherung auch hier nur
schrittweise vorgehen können und einzelne Arbeiterklassen von den Wohlthaten
der Versicherung ausschließen müssen. Die Ausdehnung derselben auf immer
weitere streife wird dann einer spätern Gesetzgebung zufallen.
Es ist natürlich, daß das Recht auf Invaliden- und Altersrente erst durch
eine gewisse Arbeitszeit erworben werden muß, dem: man kann Industriellen
und Arbeitern, die vorzugsweise die Lasten der Versicherung zu tragen haben
werden, nicht zumuten, daß sie Lehrlinge und schwächliche oder kränkliche, bisher
anderweitig thätig gewesene Personen ihr Leben lang unterhalten sollten, wenn
sie nach gar zu kurzer Arbeitszeit invalid werden. Innerhalb einer Wartefrist
(Karenzzeit) wird also von Zahlung einer Rente im Jnvaliditätsfcille abzusehen
sein. Als genügende und zweckmäßige Wartefrist erscheint mir der Zeitraum
von drei Jahren. Innerhalb derselben können für einen Beruf zu schwächliche
Personen immer in leichtere und für sie geeignetere Erwerbszweige übergeführt
werden, und anderseits pflegen Berufskrankheiten, für die vornehmlich die In¬
dustrie verantwortlich zu machen ist, in so kurzer Zeit sich noch nicht auszu¬
bilden. Sollte in dem einen oder andern Falle der Invalidität eine Be¬
rufskrankheit vorliegen, so müßte natürlich die Industrie zur Entschädigung
herangezogen werden.
Ganz in derselben Weise kann nun aber das Recht auf Versorgung bei
Invalidität und im Alter durch bloße vorübergehende Beschüftigungslosigkeit
eines Arbeiters nicht wieder verloren gehen. Denn das Recht ist erworben
durch jahrelange vorangegangene Arbeit und Beitragsleistung. Selbst bei
Strikes müßte, weil der Charakter der Versicherung ein öffentlich rechtlicher ist,
der Anspruch auf Versorgung gewahrt bleiben, ebenso natürlich bei unverschul¬
deter Erwerbslosigkeit, die durch Auflösung einer- Fabrik oder allgemein durch
Handelskrisen herbeigeführt ist. Der Zeitraum eines Jahres dürfte als An-
sprnchsfrist, als Frist, innerhalb deren bei eintretender Invalidität noch An¬
sprüche auf Rente erhoben werden können, genügen. Nur daß diese Frist bei
unverschuldeter Erwerbslosigkeit hinausgeschoben werden müßte, während bei
Frauen das Recht auf Versorgungsanspruch mit der Verheiratung erlöschen
könnte. Immer aber sollte auch für die spätere Zeit die Industrie bei den¬
jenigen Erkrankungen noch haftbar bleiben, die auf die frühere Beschäftigungsart
zurückzuführen sind.
Was die Höhe der zu zahlenden Renten anbetrifft, so wünschen wir, uns
einzig und allein nach den Bedürfnissen des Arbeiterstandes richten zu können.
Das ist aber nicht möglich. Die Invaliden- und Altersversicherung der Arbeiter
wird mit der Zeit alljährlich Hunderte von Millionen Mark kosten, und wenn
die Kosten auch erst in Jahrzehnten auf diesen Betrag anwachsen werden, so
bilden sie doch schon zu Anfang eine beträchtliche Belastung der betreffenden
Kreise. Also suchen wir erst die größte Not zu beseitigen und, wenn wir in
allen Fällen uicht völlig Ausreichendes gewähren können, gewähren wir einen
Teil des Ausreichenden, das Notwendigste. Haben die beteiligten Kreise erst
das segensreiche der Einrichtung empfunden und sich an die Ausgaben dafür
gewöhnt, so werden sie später leichter zu veranlassen sein, auch das Fehlende
noch zu bewilligen.
Der durch Betriebsunfall erwerbsunfähig gewordene Arbeiter erhält eine
Rente bis zu 66^g Prozent des Arbeitsverdienstes. Die Invalidenversicherung
wird oft mit wenigerem schon ausreichende Unterstützung gewähren. Denn ein
Betriebsunfall ereilt den Arbeiter oft in dem kräftigsten Mannesalter, in dem
er eine zahlreiche Familie zu ernähren hat. Durch Krankheit invalide wird der
Arbeiter aber doch meist erst in den spätern Lebensjahren; er steht dann schon
vielfach mit seiner Frau allein da, die Kinder sind erwachsen und unterstützen
ihn wohl gar. Sehen wir also für den verheirateten invaliden und alters¬
schwachen Arbeiter eine Rente von 33 ^ Prozent des Lohnes, mindestens jedoch
160 Mark fest, so reicht sie in der großen Mehrzahl der Fälle zum Unterhalte
aus, jedenfalls bietet sie eine wesentliche Unterstützung. Für den alleinstehenden
Arbeiter dürften zunächst 25 Prozent des Lohnes, als geringster Betrag
120 Mark festzusetzen sein, für die Arbeiterin 120 Mark.
Diese niedrigen Sätze genügen bei uns in Deutschland in vielen Gegenden
nahezu zum Unterhalte zweier Personen, bez. einer Person ans dem Arbeiter-
stande. Anders ist es freilich in den großen Städten, wo auch mit 300 Mark
eine Familie bei der größten Einschränkung nicht bestehen kann. Doch hindert
nichts solche auf ihre Rente angewiesene Personen, ihren Wohnsitz zu ändern.
Thun sie das nicht, so geht daraus hervor, daß — vielleicht infolge des Vor¬
handenseins von Anverwandten oder aus andern Gründen — die Lebens-
bedingungen in der Großstadt für sie günstiger liegen. Jedenfalls trägt die
Maßregel, für die größern Städte den niedrigsten Betrag der Invalidenrente
nicht höher festzusetzen, mit dazu bei, die Großstädte zu entlasten und die über¬
schüssige Bevölkerung auf die Provinzen zu verteilen.
Hören wir von Altersversorgung auf dem Wege der Versicherung, so
denken wir dabei heutzutage stets an einen Versicherungsvertrag, auf Grund
dessen sich der Versicherte durch jährliche Zahlungen während einer Reihe
von Jahren das Recht auf eine Jahresrente im Alter erwirbt. Der Zweck der
Fürsorge sür das Alter wird also erreicht durch das Zurücklegen regelmäßiger
Ersparnisse in jüngern Jahren. Die Ersparnisse werden bei einer Lebensver¬
sicherungsgesellschaft verzinsbar angelegt und wachsen bis zum Beginn der
Rentenzahlungen zu einem Kapital an, welches hinreicht, um die ausbedungene
Pension bis an das Lebensende des Empfangsberechtigten zahlen zu können.
Dieses in ein System gebrachte Sparen ist der einzige Weg, um eine Fürsorge
für die Zeiten der Erwerbsunfähigkeit durch Privatversicheruug zu ermöglichen.
Dasselbe Sparsystem aber der staatlich organisnten Invaliden- und Altersver¬
sorgung der Arbeiter zu Grunde zu legen, wie Herr W. Wirrig in seinein
Aufsatze „Die Altersversicherung" im letzten Dezembcrhefte der Preußischen
Jahrbücher vorschlägt, ist ein Unding.
Das Sparen führt eben nur zum Ziele, wenn es regelmäßig geschieht.
Es muß ständig überwacht, es müssen die Einlagen bescheinigt und gebucht, es
müssen endlich die für die einzelnen Einleger angesammelten Gelder von Jahr
zu Jahr von neuem berechnet werden. Nun denke man an die Unmenge von
Mühe und Arbeit, die allein hierdurch der Verwaltung der Sammelstellen er¬
wachsen würde. Bei Lebensvcrsichernugs-Gesellschaften auch nur mäßigen Um¬
fanges, bei denen vielleicht 25000 Versicherungen in Kraft bestehen, sind jahr¬
aus jahrein drei Beamte nur mit Ausfertigen der Versicherungsscheine (Policen),
drei weitere mit Ausschreibe» der Quittungen, fernere drei mit Erledigung der
reinen Nechnungsarbeiten beschäftigt. Das ganze Personal setzt sich zusammen
aus fünfundzwanzig bis dreißig Mann, und berechnen wir für jeden 2000 Mark
Gehalt, so ergiebt das schon Verwaltungskosten von 55000 Mark jährlich.
Bei der staatlichen Organisation handelt es sich aber um dreizehn Millionen
Versicherungen. Das würde allein für Beamtengehalte 28^ Millionen Mark
ergeben!
Und doch liegen bei den Versicherungsgesellschaften die Verhältnisse noch
einfacher! Hier hat man es mit Versicherungen zu thun, die freiwillig abge¬
schlossen werden, deren Inhaber ein eignes Interesse daran haben, die Prämien
pünktlich zu zahlen. Thun sie dies nicht, so erlöschen die Versicherungen einfach,
die Gesellschaft hat ihren Gewinn dabei; ihr kann es gleichgiltig sein, ob in
jedem Falle der Zweck der Altersversorgung erreicht wird, wenn nur gleichzeitig
durch Ausdehnung des Geschäfts für immer neuen Zugang an Versicherungen
Sorge getragen wird.
Bei der staatlich organisirten Versicherung liegt die Sache anders. Hier
soll der Zweck der Versorgung in jedem einzelnen Falle erreicht werden. Demnach
sind anch für alle Versichernngspslichtigen Beiträge einzuziehen, und zwar regel¬
mäßig. So lange der einzelne Arbeiter in einundderselben Fabrik beschäftigt
bleibt, kommt der Arbeitgeber für den Beitrag auf. Das wäre ja noch einfach.
Nun aber wechselt der Arbeiter seinen Brodherrn. Da sind Schreibereien er¬
forderlich. Lange andauernde Arbeitslosigkeit bei wirtschaftlichen Krisen machen
eine Prämienzahlung zur Unmöglichkeit. In solchen Fällen sollen die Alters-
versorgnugskassen die fehlenden Beträge decken. Aber es wird sich oft um eine
namhafte Summe handeln, die die einzelnen Kassen nicht so gutwillig werden
hergeben wollen. Untersuchungen in jedem Falle, vielleicht für den einzelnen
Arbeiter, Streitigkeiten, Prozesse werden die Folge sein.
Kurz, soll das Sparsystcm für die staatliche Organisation grundlegend
werden, so wird für jeden einzelnen Arbeiter eine besondre Kontrole erforder¬
lich werden, und bei dreizehn Millionen getrennt zu hunderten Versicherungen mit
ihren ständig Ort und Arbeitsgelegenheit wechselnden, oft arbeitslosen Inhabern
wird der Verwaltungsapparat umfangreich und schwerfällig werden, und die
Kosten dafür werden ins Unermeßliche steigen.
Aber noch ein Punkt läßt die Einführung des Sparsystems bei der staat¬
lichen Altersversorgung mindestens bedenklich erscheinen. Der Zweck der Ver-
sorgung wird hier erreicht durch regelmäßige Beitrage, die in den jüngern Jahren
bis zum Eintritt der Rentenzahlung entrichtet werden. Es ist natürlich, daß
diese Beiträge umso höher ausfallen, je später mit Zahlung derselben begonnen
wird. Was soll nun mit den ältern Arbeitern werden, die voraussichtlich nur
noch wenige Jahre arbeitsfähig bleiben werden, und für die der jährlich zu er¬
hebende Beitrag die später zu empfangende Rente nahezu erreicht oder gar über¬
steigt? Entweder man schließt diese ganz von der Versicherung aus, und dann
wird die Alters- und Invalidenversicherung, die doch augenblickliche Notstände
beseitigen soll, erst in Jahrzehnten wirksame Abhilfe schaffen. Oder man ent¬
schließt sich, die für die ältern Altersklassen erforderlichen Summen, die aufzu¬
bringen den in erster Linie beteiligten eine Unmöglichkeit ist, ans Staats- und
Kommunalmitteln beizusteuern, und dann sind die Kosten für die Organisation
zu Anfang am höchsten, und anstatt sämtliche Beteiligte ganz allmählich an
die ganz neuen Ausgaben zu gewöhnen, belastet man sie gleich so stark, daß in
der einen oder andern Hinsicht üble Folgen kaum zu vermeiden sein dürften.
Nein, soll die Alters- und Jnvalidenversorgung der Arbeiter staatlich ge¬
regelt werden, so kann dies wieder, wie bei der Unfallversicherung, nur auf dem
Wege des Umlageverfahrens geschehen. Anstatt für die noch in Arbeit stehenden
Arbeiter Prämienzahlungen zu leisten und so Kapitalien anzusammeln, aus
denen wieder die Renten für die Altersschwachen und Invaliden bestritten werden,
müßten Arbeiter, Industrielle und Staat einfach alljährlich die Summen auf¬
bringen, die für jene Neutcnzahlnngen erforderlich sind. Die Erspcirnng an
Verwaltungskosten wäre bedeutend. Mit den einzelnen Arbeitern hätte es die
Verwaltung erst von dem Augenblicke an zu thun, wo sie in den Rentcngcnnß
träten. Für die Beiträge haftbar wären nur die Unternehmer nach Verhältnis
der Arbeiterzahl und des Arbeitslohnes. Ihnen fiele auch die Verrechnung
mit ihren Arbeitern zu. Ein Wechsel des Arbeitgebers käme bei den Arbeitern
gar nicht in Betracht. An die Stelle der Überwachung von Millionen von Ar¬
beitern träte die Überwachung der einzelnen Fabriken, und daß diese ohne be¬
sonders bedeutende Kosten durchzuführen ist, dafür haben die Berufsgenossen-
schaften den Beweis geliefert.
Nun sagen die Anhänger der Privatversicherung, das Umlagcverfahren sei
unwissenschaftlich. Aber worin besteht die vermeintliche Unwissenschaftlichkeit?
Etwa darin, daß man bei ihm mit den vier Spezies auskommt und statistische
Tabellen und etwas Wahrscheinlichkcitsrechnuug entbehren kann? Zunächst be¬
sitzen wir noch keine zuverlässigen Juvaliditätstafelu, und dann kommen, abge¬
sehen von den verschieden großen Zuschüssen in den ersten Jahren nach Eintritt
des Beharrungszustaudes, in dem die Anzahl der durch Tod ausscheidenden
Versorgungsberechtigtcn gleich der Anzahl der neu hinzukommenden ist, Umlage-
und Anlageverfahren auf dasselbe heraus. Bei jenem wird aufgebracht, was
in jedem Jahre für Rentenzahlungen ausgegeben ist, bei diesem vermindert sich
diese Summe einfach um die Zinsen aus dem vorhandenen Deckungskapital.
Und dieses durch höhere Beiträge in den ersten Jahren noch anzusammeln, ist
unvernünftig. Denn Staat und Industrie können in andrer Weise aus ihren
Kapitalien größeren Nutzen ziehen, als wie es hier geschehen müßte, sie in ersten
Hypotheken oder in 3^ prozentigen Staatspapieren anzulegen.
Auch ist der Einwand unberechtigt, daß beim Umlageverfahrcn die Zukunft
auf Kosten der Gegenwart belastet werde. Man muß sich nur von der Vor¬
stellung frei machen, als ob zur Altersversorgung der Arbeiter Spareinlagen
notwendig seien. So lange man hieran festhält, sind die jetzt nicht gemachten
Einlagen allerdings von unseru Nachfolgern nachträglich aufzubringen. Geht
man aber von dem Grundsatze aus, daß die Industrie neben Löhnen für die
Arbeitsfähigen auch die Renten für die Arbeitsinvaliden zu zahlen habe, so
fällt jener Einwand in sich zusammen.
Endlich bieten Staat und Industrie auch ohne ein vorhandenes Deckungs¬
kapital genügende Sicherheit für die Erfüllung ihrer Leistungen. Hat die Alters¬
versorgung erst einige Jahre des Wirkens hinter sich, hat das Volk ihre Seg¬
nungen erprobt, und haben sich die Beteiligten an die Ausgaben dafür gewöhnt,
dann werden auch in schlechten Zeiten nach einem unglücklichen Kriege die
Kosten dafür aufgebracht werden, ebenso wie bei gesteigerter Thatkraft in solchen
Fällen ja auch alle übrigen Geldmittel beschafft werden, die für Erhaltung des
Staatsganzen erforderlich sind. Und sollte» wirklich im Laufe der Jahrhunderte
Staat nud Industrie nicht mehr imstande sein, die Invaliden der Arbeit zu
versorgen, ja dann haben sich, was wir nicht wünschen wollen, auch die Lebens¬
bedingungen in Deutschland von Grund auf geändert, dann ist das jetzt auf¬
blühende Deutschland dem Verfall nahe, dann liegen Handel und Wandel
danieder, dann sind die Preise gesunken, dann ist vielleicht die Bevölkerung
dezimirt, dann — brauchen wir keine Invaliden- und Altersversorgung der
Arbeiter mehr.
Es handelt sich nun um die Kosten der Alters- und Invalidenversicherung,
und diese sind — in dieser Beziehung dürfen wir uns keinen Täuschungen hin¬
geben — nicht gering. Freilich, das statistische Material über die Absterbe¬
ordnung bei den einzelnen Arbeiterklassen ist noch unvollkommen, und zumal
über die Dauer der Arbeitsfähigkeit und den Eintritt der Invalidität besitzen
wir zuverlässige Beobachtungen nur für Eisenbahnarbeiter. Indes werden die
für die letzteren von Behm zusammengestellten Zahlen, mögen sie nun auf die
übrigen Arbeiterklassen mehr oder weniger anwendbar sein, uns immerhin ein
annäherndes Bild von den Kosten der Versicherung geben.
Und zwar wollen wir die Berechnung zunächst für den Beharrungszustand
machen, der nach vierzig oder auch fünfzig Jahren eintreten dürfte, und bei
dem sämtliche vorhandenen Invaliden versorgungsberechtigt sein werden. Dabei
nehmen wir an, daß die Invalidenrente gezahlt werden soll vom Eintritt der
Invalidität, spätestens aber von Erreichung des fünfundsechzigsten Lebens¬
jahres an.
Nach Behm fallen auf 333 075 arbeitsfähige Personen im Alter von
zwanzig bis fünfundsechzig Jahren
Wenn nun an jeden dieser 84144 unterstützungsbedürftigen Arbeitsinvaliden
eine Rente von hundert Mark gezahlt würde, so käme auf den einzelnen arbeits¬
fähigen Arbeiter ein Beitrag
Für den männlichen Arbeiter hatten wir eine Rente von 25 Prozent bis
30 Prozent des Lohnes, mindestens aber 160 und 120 Mark, zu Grunde ge¬
legt. Im Durchschnitt können wir also dreißig Mark Rente auf hundert Mark
Lohn rechnen und im Verhältnis zu dem letzteren stellt sich der Beitrag des
Arbeiters auf
Nach der Berufsstatistik zählt Deutschland 7 250 000 männliche Arbeiter und
bei einer Lohnsumme von durchschnittlich 750 Mark würden nach obiger Be¬
rechnung für die Altersversorgung an Beiträgen für die männlichen Arbeiter
in ganz Deutschland aufzubringen sein:
Erhalten die Arbeiterinnen eine Rente von je 120 M, so würde bei 5 750000
in Arbeit stehenden Frauen alljährlich ein Beitrag aufzubringen sein von
oder rund 580 Millionen. Das wären die Kosten für die Invaliden- und
Altersversicherung im ganzen Reiche, aber wohlverstanden die Kosten nach
Eintritt des Beharrungsznstandes, der nach vierzig oder fünfzig Jahren zu er¬
warten wäre.
Nun aber soll die Versicherung, wie das ja natürlich ist, nur ausgedehnt
werden auf die jetzt arbeitsfähigen Arbeiter. In den ersten Jahren werden
also Renten nur an diejenigen zu zahlen sein, welche im Laufe dieser Zeit in-
valide werden, und nur ganz allmählich wird der Stamm der Rentenbezieher
anwachsen, wie es bei der Unfallversicherung genau so ist.
In den ersten Jahren sind aber die Kosten bedeutend niedriger.
Nach Behm werden von 341639 Personen im Alter von zwanzig bis
fünfundsechzig Jahren:
und da diese Renten wieder aufzubringen wären von den 333 075 Arbeits¬
fähigen unter fünfundsechzig Jahren, so fiele bei 100 Mark jährlicher Rente
auf den Einzelnen ein Beitrag von 2,57 Mark. In Prozenten des Arbeitslohnes
würde dieser Beitrag sich unter denselben Annahmen wie vorhin, wenn wir
30 Mark Rente auf 100 Mark Lohn rechnen, auf
stellen, und für die männlichen 7 250000 Arbeiter wäre zu zahlen ein Beitrag von
während für die Arbeiterinnen zu zahlen wäre:
Die Beiträge des ersten Jahres würden sich also stellen
oder rund 60 Millionen.
Dies die Kostenberechnung, soweit sie sich nach dem unvollständigen Material
geben ließ. Sie ist noch etwas zu hoch ausgefallen, da die durch Unfall invalid
gewordenen Arbeiter, die durch die Unfallversicherung zu entschädigen sind und
die gerade bei den Eisenbahnarbeitern einen großen Prozentsatz der Invaliden
bilden, nicht berücksichtigt sind. Doch haben wir dagegen keine Verwaltungs¬
kosten berechnet. Wir wollten und konnten bei dem vorhandenen ungenügenden
Material ja auch nur eine ungefähre Übersicht über die Kosten der Versicherung
erhalten.
Die Kosten erscheinen hoch, höher, als mancher vielleicht vorausgesetzt
hat, d. h. wenn man sie für sich betrachtet. Vergleicht man sie aber mit den
gleichzeitig gezählten Arbeitslöhnen, so stellt sich die Sache in weit günstigerem
Lichte dar. Wie wir schon früher gesehen haben, betrug der Beitrag für die
Versicherung noch nicht ^ Prozent vom Arbeitslohn im ersten Jahre, und
nach Eintritt des Beharruugszustandes 7^ Prozent desselben. Berücksichtigt
man nun, daß der Beharrungszustand erst in nahezu einem halben Jahrhundert
eintreten wird, daß bis dahin die Beiträge ganz allmählich steigen werden,
daß also den Beitragspflichtigen Zeit gelassen ist, sich an die Abgabe zu ge¬
wöhnen, so wird man sich sagen müssen, daß von irgend einer Gefahr für den
Fortbestand unsrer Industrie gar nicht die Rede sein kann, selbst wenn ihr,
wie bei der Unfallversicherung, die Tragung der Kosten allein zufiele. Bei der
heutigen wirtschaftlichen Lage mit ihrer planlos betriebenen Produktion und
den infolge dessen steten Absatzstockungen sind Schwankungen in den Lohnver¬
hältnissen von zehn, ja zwanzig Prozent während eines Jahres nichts außer¬
gewöhnliches, und dem Wettbewerb des Auslandes kann durch internationale
Verträge, die auch dort die Arbeiterversicherung regeln, und wo das nicht
angeht, durch Schutzzölle abgeholfen werden.
Wir kommen nun zur Aufbringung der Kosten. Die Alters- und Jn-
validenversorgung wird zum Wohle und Nutzen des Arbeiters geschaffen, und
somit müßte unter andern Verhältnissen auch der Arbeiter allein die Kosten
tragen. Nun aber wird wohl von keiner Seite bestritten, daß infolge der
wirtschaftlichen und sozialen Mißstände unserer Zeit der Arbeitslohn nahezu
auf den kleinsten Satz herabgedrückt ist, mit dem gerade die allernotwmdigsten
Bedürfnisse des Arbeiters bestritten werden können. Der Arbeiter kann sich,
obgleich neben ihm noch Frau und Kind von früh bis spät an die Maschine
gebannt sind, zur Not genügend nähren und kleiden. Die wenigen Spar¬
pfennige, die er vielleicht zurücklegt, reichen gerade hiu, ihn in Zeiten des
Arbeitsmangels nicht verhungern zu lassen. Für die fernere Zukunft Erspar¬
nisse zurückzulegen, hinreichend, ihn einmal im Alter sorgenfrei leben zu lassen,
daran ist bis jetzt nicht zu denken gewesen.
Nun soll die Altersversorgung als ein neues Bedürfnis hingestellt werden,
das zu befriedigen der Arbeiter nicht nur berechtigt, sondern angehalten werden
soll. Bei Feststellung des gegenwärtigen Arbeitslohnes ist auf Befriedigung
dieses Bedürfnisses bei dem Arbeiter keine genügende Rücksicht genommen, folg¬
lich muß die Industrie das Fehlende ergänzen, sie muß einen Teil des Bei¬
trages für die Altersversorgung aus ihrer Tasche bezahlen als Entgelt dafür,
daß der Lohn des Arbeiters zu niedrig ist, um von ihm die Kosten für die
Fürsorge im Alter allein bestreiten zu können.
Es kommt aber noch ein Grund hinzu, der den Unternehmer als beitrags¬
pflichtig zu den Kosten der Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter er¬
scheinen läßt. Ein Krebsschade der heutigen Produktionsweise sind die Berufs¬
krankheiten, die durch ständige Berührung mit giftigen Stoffen oder durch zu
anhaltende einseitige Beschäftigung den Arbeiter in frühen Jahren zum Krüppel
und Invaliden machen. Hier sind die Unternehmer ohne allen Zweifel ver¬
pflichtet, für die Berufsinvaliden und ihre Familien Sorge zu tragen, zumal
da der Arbeitslohn in solchen Leben und Gesundheit gefährdenden Betrieben in
gar keinem Verhältnis zu dem Verbrauch an Arbeitskraft steht, und gerade hier
dürfte die Versicherung berufen sein, am ehesten Wandel zu schaffen.
Können heute die Arbeiter bei den ersten Krankheitserscheinungen entlassen
werden, können somit die Unternehmer jegliche Verpflichtung von sich abwälzen, so
werden die gestmdheitsgefährdenden Betriebe jetzt diejenigen sein, welche die
meisten Jnvaliditätsfälle zu verzeichnen und die meisten Kosten aufzubringen
haben werden. Im eignen Interesse werden sie also bestrebt sein, diese Kosten
zu mindern und den Eintritt der Invalidität bei ihren Arbeitern hinauszuschieben
durch möglichste Beseitigung der gesundheitsschädlichen Einflüsse bei der Arbeit
sowohl wie durch Verkürzung der Arbeitszeit.
Wie die Arbeiter und Unternehmer, so ist endlich auch der Staat bei der
Altersversorgung der Arbeiter interessirt. Die Arbeiterfrage droht wie ein
dunkles Gespenst am politischen Horizont. Alles, was geeignet ist, eine fried¬
liche Lösung derselben herbeizuführen, erhöht die allgemeine Sicherheit und ver¬
mindert die Gefahr eines gewaltsamen Umsturzes alles Bestehenden. Und so
kann ein Beitrag aus Staatsmitteln angesehen werden als ein Opfer, das die
Allgemeinheit ihrer Ruhe und Sicherheit darbringt. Die Altersversorgung aber
kommt dem Staate auch unmittelbar zu Gute. Durch sie werden viele Armen¬
unterstützungen unnötig, und diese wurden bisher aufgebracht von den Gemeinden,
also den Gliedern des Staates.
Arbeiter, Unternehmer und Staat kommen also bei der Invaliden- und
Altersversorgung der Arbeiter in Betracht, und- demgemäß erscheint es zweck¬
entsprechend, die Lasten ans sie gleichmäßig zu verteilen. Wenn viele es un¬
billig finden möchten, daß der Arbeiter bei seinem niedrigen Lohne auch zu den
Lasten herangezogen wird, so ist zu bedenken, daß gegenüber den kleinen von
ihm geforderten Beiträgen der unmittelbare Nutzen der Einrichtung ihm allein
zufällt, daß der Beitrag von ihm nur entrichtet werden soll, so lange er Be¬
schäftigung hat, und daß mit der Zeit dieser Beitrag durch Lohnerhöhung doch
auf den Unternehmer abgewälzt werden dürfte, während anderseits durch
ihn dem Arbeiter wieder ein Anrecht auf Teilnahme an der Verwaltung ge¬
wahrt wird.
Was die Organisation der Versicherung anlangt, so erscheint es mit Bezug
auf die Unfallversicherung als das Zweckmäßigste, wenn sie wieder auf genossen¬
schaftlicher Grundlage aufgebaut wird, wenn neben den Beiträgen des Staates
die bisherigen Berufsgenossenschaften auch die Träger der Alters- und Inva¬
lidenversicherung werden, und die Genossenschaftsorgane neben der Unfallver¬
sicherung auch die Verwaltung der letzteren übernehmen. Die Beiträge werden
hier wie dort von den einzelnen Betrieben erhoben, und wenn die Betriebe,
die zur Unfallversicherung beisteuern, an demselben Umfange auch zur Alters¬
versorgung herangezogen werden, so entscheidet über die Beitragshöhe jeder Fabrik
ein und dasselbe Genosfenschaftskataster. Zudem läßt, wie bei der Unfallver¬
sicherung die gleiche Vetriebsgefcchr, so hier die gleiche Gesundheitsgefährdung
die Scheidung der Industrie in einzelne ihrer Natur nach zusammengehörige
Gruppen behufs gerechterer Verteilung der Lasten nur wünschenswert erscheinen.
Nur müssen die Kosten für Unfall- und Altersversicherung getrennt und von
den letzteren ein Drittel zu Lasten des Staates gebucht werden, während die
Verrechnung mit den einzelnen Arbeitern Sache des Unternehmers ist.
Ich bin am Schlüsse. Die Frage der Witwenversorgung, die eigentlich
auch hierher gehört, habe ich mir für eine spätere Zeit zu erörtern vorbehalten,
da wegen der Fülle des Stoffes die zu erwartenden Gesetzesvorlagen sich
jedenfalls zunächst nur mit der Invaliden- und Altersversicherung der Arbeiter
beschäftigen werden. Den Vorlagen selbst wünsche ich das beste Entgegen¬
kommen des Reichstages, damit unsre segensreiche sozialpolitische Gesetzgebung
nicht ins Stocken gerate und der Wunsch unsers Kaisers sich erfülle, das Frie¬
denswerk der Arbeiterversicherung an seinem Lebensabend vollendet zu sehen.
u den vielen Artikeln der preußischen Berfassungsurkunde, die
bisher nur tote Buchstaben geblieben sind, gehören in erster Linie
die über das Schulwesen (21 bis 26). Ihre Giltigkeit ist durch
Art. 112 ausdrücklich bis zum Erlaß des im Art. 26 verheißenen
Unterrichtsgesetzes verschoben, letzteres aber innerhalb eines nun¬
mehr siebenunddreißigjährigen Zeitraums seit Erlaß der Verfassung trotz wieder¬
holter Anläufe nicht zu stände gekommen. Und dabei herrschen im preußischen
Staate wohl auf keinem Rechtsgebiete so verworrene Verhältnisse, wie auf dem
des Volksschulwesens: nicht zwei Provinzen im Staate giebt es, die auf diesem
Gebiete nicht Abweichungen von einander zeigten.
Inzwischen haben aber auch die in der Verfassung ausgesprochenen Grund¬
sätze für eine einheitliche Regelung des Vvlksschulwesens mannichfache Angriffe
erfahren, sodaß es mindestens sehr zweifelhaft ist, ob, wenn es dereinst zu einer
solchen Regelung kommt, sie streng nach den Vorschriften der Verfassung erfolgen
oder nicht vielmehr die letztere Abänderungen erfahren wird. Die eine der
hierbei in erster Linie in Betracht kommenden Fragen, die nach dem Träger
der Schulunterhaltungslast, ist freilich wohl insofern entschieden, als man über¬
zeugt ist, daß das im Gebiet des Landrechts, in Hannover und Schleswig-
Holstein herrschende „Sozietätsprinzip" nicht länger haltbar ist. Denn dieses
Prinzip, nach welchem die Schullast auf besondern Verbänden der zur Schule
gewiesenen Hausväter, d. h. wirtschaftlich selbständigen Personen ruht, eignete
sich wohl für eine Zeit, in welcher Gutsunterthänigkeit, das Gebundensein an
die Scholle und andre Umstände wesentliche Schwankungen in der Leistungs¬
fähigkeit der Hausväter hinderten, Paßt aber ganz und gar nicht zu unsern
heutigen Verhältnissen mit ihrer Mobilisirung des Grundeigentums, Freizügigkeit
und ausgebildeten Industrie. Es bleibt also als Träger der Schullast, da an
eine gänzliche Übernahme derselben auf den Staat nicht zu denken ist, nur, wie
dies bereits die Verfassung vorsieht, die politische Gemeinde übrig, die im Fall
des Unvermögens durch den Staat unterstützt werden muß. Wie weit freilich
die Beteiligung des Staates zu gehen haben wird, das ist wieder eine zur Zeit
noch ungelöste, viel umstrittene Frage.
Herrscht somit wenigstens über den Hauptträger der Schullast Überein¬
stimmung, so ist dieses in keiner Weise bezüglich der Art der Aufbringung der
Fall. Es bieten sich hierzu zwei Wege, die Aufbringung durch Gebühren der¬
jenigen, welche die Schule benutzen, d. h. durch Schulgeld, oder durch Beiträge,
Steuern der Mitglieder des Unterhaltungspflichtigen Verbandes, ohne Rücksicht
darauf, ob sie die Schule benutzen oder nicht.
Die Verfassung enthält im Art. 26 den Grundsatz: „In der öffentlichen
Volksschule wird der Unterricht unentgeltlich erteilt," verwirft also den ersten
Weg und verlangt die Einschlagung des zweiten. Etwas neues enthält dieser,
den Menschenrechten der französischen Verfassung vom 3. September 1791 ent¬
lehnte Grundsatz für Altpreußen nicht; denn bereits im H 32 Teil II Tit. 12
des Allgemeinen Landrechts heißt es: „Gegen Erlegung dieser Beiträge — d. h.
eben der Schulsteuer — sind alsdann die Kinder der Contribuenten von Ent¬
richtung eines Schulgeldes für immer frei."
Obwohl somit der Grundsatz der Unentgeltlichkeit des Volksschulnnterrichts
und damit der Aufbringung der Schullasten durch Steuern der preußischen Gesetz¬
gebung bereits seit einem Jahrhundert angehört, ist er in der Praxis noch keines¬
wegs durchgeführt, vielmehr werden in Preußen noch etwa 13 Millionen Mark
jährlich an Schulgeld erhoben, und es ist auch in der Theorie die Frage der
Aufhebung des Schulgeldes an den Volksschulen noch offen und viel bestritten.
Die Gründe, die von den Gegnern und den Freunden des Schulgeldes für
für ihre Ansichten ins Feld geführt werden, sind finanzielle, soziale, schultechnische
und rechtliche. Das Schwergewicht liegt jedoch auf beiden Seiten in den finan¬
ziellen Gründen.
Den Ausgangspunkt bildet für beide Parteien die Natur des Schulgeldes.
Die Gegner desselben streiten ihm die Gcbühreneigenschaft vollständig ab und
nennen es geradezu eine Kopfsteuer, während die Verteidiger des Schulgeldes
darauf beharren, daß es nichts als eine reine Gebühr sei. Die erstern meinen,
daß, weil der Staat den Besuch der Schule als eine Zwnngspflicht fordere,
und zwar in seinem Interesse und in dem der Gemeinde fordere, von einer
Gebühr für den Schulbesuch nicht die Rede sein könne, da es zu dem Wesen
der Gebühr gehöre, daß die betreffende Staatsthätigkeit aus freien Stücken
und im Privatinteresse der Einzelnen in Anspruch genommen werde. Die An¬
hänger des Schulgeldes dagegen gehen davon aus, daß der Schulunterricht in
erster Linie dem Einzelnen und erst in zweiter dem Staat und der Gemeinde
Nutzen bringe, es daher durchaus billig sei, mindestens einen Teil der Schul¬
unterhaltungskosten durch Gebühren der die Schule benutzenden und nur den
Nest dnrch Beiträge von Gemeinde und Staat zu decken.
Von dieser verschiednen Grundauffassung ausgehend, führen beide Parteien
sodann weitere finanzielle Gründe für ihre Ansichten ins Feld. Die Gegner
des Schulgeldes, von ihrer Auffassung desselben als einer Steuer ausgehend,
suchen zu zeigen, daß es den Grundsätzen der Besteuerung nicht genüge, und
zwar weder denen der Gerechtigkeit noch den Steuerverwaltuugsgrundsätzen.
Die Gerechtigkeitsgrundsätze sind die der Allgemeinheit und die der Gleich¬
mäßigkeit. Dem Grundsatz der Allgemeinheit widerstreitet natürlich das Schul¬
geld, weil es nur von denjenigen Mitgliedern des schulunterhaltungspflichtigen
Verbandes erhoben wird, welche Kinder zur Schule schicken. Dem Grundsatz
der Gleichmäßigkeit aber soll das Schulgeld deshalb nicht genügen, weil es
nicht nur keine Rücksicht auf die Höhe des Einkommens der Schulgeldpflichtigen
nimmt, sondern sogar für diejenigen, welche infolge einer großen Kinderzahl
besonders große Ausgaben haben, eine höhere Abgabe darstellt als für die,
welche keine oder wenige Kinder haben und dadurch leistungsfähiger als andre
mit gleichem Einkommen, aber stärkerer Familie sind.
Von den Steuerverwaltungsgrundsätzen kommen die Bequemlichkeit und
die leichte und wohlfeile Erhebung in Betracht. Die erstere verlangt die Er¬
hebung zu einem Zeitpunkte, wo die Pflichtigen voraussichtlich gerade im Besitz
der Zahlmittel sind und diese am leichtesten entbehren können. Nun hat aber
ein Familienvater, namentlich in den untern Stünden, die größten Ausgaben
>ur seine Familie während des schulpflichtigen Alters der Kinder; vorher,
während der ersten Lebensjahre, kosten die Kinder nicht so viel, und nach dem
Austritt aus der Volksschule können sie sich ihr Brot mindestens zum Teil
selbst verdienen. Also, folgert man hieraus, hat das Mitglied des schulunter¬
haltungspflichtigen Verbandes seinen Hauptbeitrag für die Schule gerade in
einer Zeit zu entrichten, in welcher ihm die Zahlung am unbequemsten ist.
Der Grundsatz der Bequemlichkeit fordert weiter die Auflösung der Gesamt¬
leistung in eine möglichst große Zahl kleiner Teilleistungen, da diese weniger
empfindlich sind, als wenige größere. Auch diesem Grundsatz soll die Deckung
der Schullast durch Schulgeld weniger entsprechen, als diejenige durch Schul¬
steuern, da ersteres sich auf die wenigen Jahre der Schulpflichtigkeit der Kinder
beschränkt, letztere die ganze Dauer der Zugehörigkeit des Beitragspflichtigen
zu der die Steuer fordernden Gemeinwirtschaft umfassen.
Gegen das Erfordernis einer leichten und billigen Erhebung endlich soll
das Schulgeld verstoßen wegen der nötigen zahlreichen Zwangsvollstreckungen
und der Mühe, zu bestimmen, wem das Schulgeld zu erlassen sei und
wem nicht.
Auf der andern Seite rühmen die Anhänger des Schulgeldes als Vorzüge
desselben vor Steuern die geringe Höhe desselben und seine Entrichtung in
kurze» Terminen, weshalb es von dem Armen leichter als Steuern aufzubringen
und in vielen Füllen noch einzutreiben sei, wo die Steuern ihres höhern Be¬
trages wegen als uneinziehbar niedergeschlagen werden müßten. Was ferner
von den Gegnern des Schulgeldes als ein Mangel desselben gerügt wird, die
Beschränkung desselben auf die wenigen Jahre der Schulpflichtigkeit der Kinder,
wird von den Anhängern desselben gerade als ein Vorzug gerühmt, da diese
Periode gerade die der größten Rüstigkeit und Erwerbsfähigkeit sei.
Nicht nur infolge dieser Umstände leichter, sondern auch lieber als eine
Steuer, soll das Schulgeld gezahlt werden, weil jeder Vater, wenn er dieses
zahle, genau wisse, welche Gegenleistung er dafür empfange und diese jederzeit
vor Augen habe, während der Vorteil des Einzelnen aus der Verwendung von
Steuern sich der Erkenntnis des Einzelnen mehr entziehe. Wenn aber trotz der
größern Bereitwilligkeit zur Zahlung das Schulgeld für den Beitragspflichtigen
unerschwinglich sei, so soll in diesem Falle das Schulgeld den Vorzug der
größern Leichtigkeit einer Ermäßigung vor Steuern haben.
Diesen aus dem Wesen des Schulgeldes hergeleiteten Vorzügen stellt man
noch besondre Unzuträglichkeiten an die Seite, welche angeblich eintreten würden,
wenn man allgemein das Schulgeld durch Steuern ersetzte. Für viele würde
dadurch eine Neubelastung eintreten, und auch die, für welche nur eine Verän¬
derung der Zahlungsweise eintreten würde, würden die veränderte Last drücken¬
der als die bisherige empfinden nach dem alten Erfahrungssätze, daß jede neue
Zahluugsweise einer Abgabe, mag sie noch so große Vorzüge vor der bis¬
herigen haben, immer zunächst als drückender wie die bisherige, an die man
sich gewöhnt hat, empfunden wird.
Endlich soll eine Ersetzung des Schulgeldes durch Steuern auch der Ge¬
rechtigkeit ius Gesicht schlagen, also ein Vorwurf, den, wie wir gesehen haben,
die Gegner des Schulgeldes ihrerseits gerade diesem machen. Die Anhänger
des Schulgeldes behaupten nämlich, durch die Aufhebung desselben werde den
Reichen eine Last abgenommen und auf die Schultern der minder Begüterten
gelegt, die wirklich Armen aber würden nicht erleichtert, da sie schon jetzt
Schulgelderlaß genössen, der leidende Teil sei also der ohnedies am meisten
von den Steuern getroffene Mittelstand.
Legen wir nun an die für und wider das Schulgeld vom finanzwisfen-
schaftlichen Standpunkt aus geltend gemachten Gründe die Sonde der Kritik,
so kommen wir, wie so häufig, zu dem Ergebnis, daß das Nichtige in der
Mitte liegt, allerdings nicht ganz, sondern mehr auf der Seite der Gegner des
Schulgeldes. Wenn diese dem Schulgeld die Gebühreneigenschaft völlig ab-
sprechen, so schießen sie damit sicher über das Ziel hinaus. Richtig mag es
ja sein, daß den hervorragendsten Nutzen aus der Schulbildung Staat und
Gemeinde ziehen, und daß dieser Nutzen auch den Staat veranlaßt hat, die
Regelung des Volksschulwesens in die Hand zu nehmen. Aber immerhin hat
auch der Einzelne einen recht bedeutenden Vorteil von der Schulbildung, und
daher ist die Aufbringung eines Teiles der Schulnnterhaltungskostcn durch Ge¬
bühren an sich gerechtfertigt. Dem Schulgeld aber die Gebühreneigenschaft deshalb
abzusprechen, weil der Staat einen Zwang zur Benutzung der Volksschule aus¬
übe, können wir nicht billigen. Zum Wesen der Gebühr gehört nichts weiter, als
daß ein bestimmtes besonderes Entgelt für einen vom Staat oder einer andern
Zwangsgcmeinwirtschaft geleisteten Dienst in einer von dieser Zwangsgcmein-
wirtschaft einseitig bestimmten Weise und festgesetzten Höhe erhoben wird. Es
ist also nur nötig, daß der den Dienst in Anspruch nehmende einen besondern
Vorteil davon hat, gleichviel, ob diese Inanspruchnahme eine freiwillige oder eine
von der betreffenden Zwangsgemeinwirtschaft befohlene ist. Dagegen reicht aller¬
dings die Gebühreueigmschaft nur so weit, als der Vorteil des Einzelnen durch
die Abgabe nicht überstiegen wird und die begehrte Thätigkeit nicht im eignen
Interesse der Zwangsgemeinwirtschaft erfolgt. Wo aber liegt beim Schulgeld diese
Grenze, wer vermöchte das Verhältnis des Privatinteresses an der Volksschul¬
bildung zu dem allgemeinen in Zahlen zu bestimmen? Sicher ist es unrichtig,
anzunehmen, daß dies Privatinteresse für alle dieselbe Schule besuchenden gleich
sei, wie dies doch der annehmen muß, der das Schulgeld in seiner heutigen
Gestaltung als eine reine Gebühr rechtfertigen will. Gelehrt wird ja allerdings
allen Schülern dasselbe, aber der Wert, den das Gelehrte für den Einzelnen
hat, ist je nach der Lebensstellung, den Vermögensverhältnissen :e. ein himmel¬
weit verschiedener: der Tagelöhner, der Floßknecht hat von seinen Schnlkenntnisfcn
nicht annähernd den Nutzen, wie etwa der wohlhabende Bauer, Viehhändler:c.
Also ein für alle gleiches Schulgeld ist unter keinen Umständen gerechtfertigt.
Wenn nun aber auch dem Schulgeld in gewissem Umfang die Eigenschaft
einer mindestens in der Theorie gerechtfertigte,: Gebühr nicht abzusprechen ist,
so wird es doch in der Praxis durchaus wie eine Steuer empfunden und muß
so empfunden werden. Es liegt dies einmal an dem vom Staate geübten
Schulzwange, sodann aber daran, daß der Vorteil des Einzelnen von der Schule
erst in weiter Ferne liegt und auch dann sich nicht in Zahlen nachweisen und
mit den Aufwendungen an Schulgeld vergleichen läßt. Wenn daher das Schul¬
geld mit den Grundsätzen einer gerechten lind zweckmäßigen Besteuerung in Wider¬
spruch steht, so muß sich dies ebenso fühlbar machen, wie bei einer reinen
Steuer. Daß aber solche Widersprüche vorhanden sind, daß insbesondre das
Schulgeld die von den Gegnern desselben hervorgehobenen schweren Mängel
einer in umgekehrtem Verhältnis zur Leistungsfähigkeit stehenden Kopfsteuer
hat, läßt sich nicht in Abrede stellen.
Wenn somit die Ersetzung des Schulgeldes durch Steuern zu einer ge¬
rechteren Belastung führt, so ist dagegen nicht ohne weiteres zuzugeben, daß
die Belastung allgemein eine geringere sein werde; die Verteilung der Schullast
wird eben, wenn sie nicht mehr nach der Kinderzahl, sondern nach dem Ein¬
kommen erfolgt, eine vollständig andre und muß für die einen zu einer Mehr-,
für die andern zu einer Minderbelastung gegen früher führen. Eine Mehr¬
belastung wird eintreten für die Personen mit großem Einkommen und mit
wenig Kindern, eine Minderbelastnng für die ärmern Klaffen, die zudem in der
Regel die größte Kinderzahl zur Volksschule schicken. Eine solche Wirkung kann
man aber doch nur als segensreich bezeichnen. Denn einmal ist es nur gerecht
und entspricht der Richtung unsrer Zeit, die cirmern Klassen auf Kosten der
Leistungsfähigeren, d. h. derjenigen, die entweder schlechthin hohe Einkommen
beziehen oder deren Einkommen infolge der geringen Anzahl der darauf ange¬
wiesenen Personen einen höhern Wert hat, zu entlasten. Sodann aber ist bei
der Schullaft eine solche Richtung ganz besonders gerechtfertigt, weil schon die
allgemeine Schulpflicht an sich dem Armem mittelbar schwere Geldopfer auf¬
erlegt, die der Wohlhabende nicht kennt. Denn ohne die allgemeine Schulpflicht
könnte der Arme seine Kinder unbeschränkt entweder zum Erwerbe benutzen,
oder doch zur Vertretung der Hausfrau oder andrer erwachsenen Hausgenossen
im Haushalte, sodaß diese dann ungehindert dem Erwerbe nachgehen könnten.
Die Schulpflicht macht dies größtenteils unmöglich und entzieht dadurch dem
Armen ein Einkommen von ungleich höherem Betrage, als der der gezählten
Schulabgaben ist. Gerade auf diesen Punkt kann nicht entschieden genug hin¬
gewiesen werden. Wenn man aber sagt, daß durch die Ersetzung des Schul¬
geldes durch Steuern gerade der Mittelstand besonders schwer getroffen werden
würde, so ist daran so viel richtig, daß allerdings z. Z. sich gerade die größten
Einkommen am meisten der Besteuerung entziehen. Indessen liegt dies zum
großen Teil an einer sehr wohl zu beseitigenden Mangelhaftigkeit der Erhebungs-
vvrschriften und kommt jedenfalls gegenüber der augenfälligen, durch das Kopf-
schulgeld eintretenden Überlastung der ärmern Klaffen zu Gunsten der wohl¬
habenderen nicht in Betracht. Dagegen muß man allerdings darin den Verfechtern
des Schulgeldes Recht geben, wenn sie sagen, daß bei einer allgemeinen Auf¬
hebung des Schulgeldes die dadurch herbeigeführte neue Belastungsweise zunächst
drückender als die bisherige empfunden werden wird. Indes dieser vorüber¬
gehende Umstand warnt wohl vor unnötigen oder unsichern Versuchen in der
Besteuerung, kann aber nicht für notwendig erkannten Verbesserungen entgegen¬
gehalten werden.
Die dargelegten finanzpolitischen Gründe fordern also die Beseitigung des
Schulgeldes. Was man sonst von Gründen hierfür angeführt hat, ist teils
weniger durchschlagend, teils ganz verfehlt. Das erste gilt namentlich von
einem der für Beseitigung des Schulgeldes vom sozialen Standpunkte aus
geltend gemachten Gründe, nämlich dem, daß durch die Unentgeltlichkeit des
Volksschnlunterrichts eine Vereinigung der Kinder aller Stände in der Volks¬
schule und dadurch eine Milderung der sozialen Klassenunterschiede erzielt werde;
denn durch die Unentgeltlichkeit des Volksschuluuterrichts würden Privatschulen
mit Volksschulzielen so gut wie ausgeschlossen, dann müßten also alle diejenigen,
denen es ihre Mittel nicht erlauben, ihre Kinder in höhere Unterrichts-
anstalten zu schicken, die aber bei Beibehaltung des Schulgeldes mit Zuhilfe¬
nahme der Ersparnis an diesen, den Besuch einer Privatschule für ihre Kinder
hätten erschwingen können, die öffentlichen Volksschulen benutzen. Da ferner die
höhern Lehranstalten bereits eine gewisse Vorbildung voraussetzen und zur An¬
eignung dieser nur bei einzelnen Anstalten besondre Vorschulen bestehen, so
müßten, wo solche nicht vorhanden sind, auch die sür den demnächstigen Eintritt
in eine höhere Lehranstalt bestimmten Kinder bis zu diesem Zeitpunkte die öffent¬
lichen Volksschulen besuchen.
Wenn wir diesen Umstünden eine weniger große soziale Bedeutung bei¬
messen, wie dies von vielen Seiten geschieht, so führt uns hierzu die Erwägung,
daß die Kinder derjenigen, deren Vermögenslage nicht einmal den Besuch einer
Mittelschule gestattet, schon jetzt bei weitem zum größten Teile die öffentliche
Volksschule besuchen, da das Schulgeld der Privatschulen stets wesentlich höher
als das der Volksschulen ist, und weil an den meisten Orten Privatschulen gar
nicht bestehen. Die wirklich Reichen aber können immer durch häuslichen Unter¬
richt ihre Kinder von der Volksschule fernhalten.
Man hat noch eine ganze Reihe sozialer Gründe für Beseitigung des Schul¬
geldes angeführt, die zum Teil sehr gewichtig klingen, sich aber bei näherer
Betrachtung als mehr oder weniger verfehlt erweisen. Da ist zunächst der
Vorwurf gegen das Schulgeld, daß dadurch ein großer Teil der Bevölkerung,
nämlich alle, welche Schulgelderlaß wegen Armut genössen, zu Almosencmpfängcrn
herabgewürdigt würden und hierdurch in ihnen Haß gegen die Besitzenden gesäet
oder bei schwächeren Charakteren der Grund zu gewerbsmäßiger Bettelhaftigkeit
gelegt werde. Aus diesem Grunde die Abschaffung des Schulgeldes verlangen,
heißt denn doch das Kind mit dem Bade ausschütten. Man braucht, um diesem
Übelstande zu begegnen, nur nicht mehr, wie es jetzt geschieht, das Erlcchgesnch
jedes Einzelnen abzuwarten, sondern von vornherein, wie bei der Steuerein¬
schätzung, Unbemittelte gar nicht zur Zahlung heranzuziehen; dann kann man
in der Befreiung vom Schulgeld ebenso wenig ein Almosen sehen wie in dem
Steuererlaß.
Ebenso schießt auch der Vorwurf über das Ziel hinaus, das Schulgeld
führe zur Errichtung besondrer Armen- oder doch in ihren Schuldgeldsätzen
verschieden abgestufter Volksschulen mit entsprechend verschieden guten Ein¬
richtungen und scharfe dadurch die sozialen Gegensätze. Solche Einrichtungen
zu treffen nötigt das Schulgeld durchaus nicht, es kann vielmehr durch die Auf-
sichtsbehörden sehr wohl verhindert werden, und es kann genau so wie bei der
Unentgeltlichkeit des Unterrichts eine allgemeine Volksschule bestehen, in die
jedermann seine Kinder schickt, gleichviel, ob er schulgeldpflichtig ist oder Erlaß
genießt.
Lediglich durch Änderungen in dem Erhebungssystem des Schulgeldes be¬
gegnet man auch der ja nicht ganz zu leugnenden Gefahr, daß einerseits die
Kinder derer, welche Schulgeld zahlen, diejenigen der wegen Armut befreiten
verachten und zum Stolz verleitet werden, die Befreiten aber ihrerseits Neid
und Haß gegen die besitzenden Klassen einsaugen, und daß anderseits der Lehrer
die Schulgeld zahlenden Kinder bevorzugt. Es braucht nämlich nur, wie dies
übrigens schou vielfach durchgeführt ist und immer allgemeiner angestrebt wird,
die Einrichtung getroffen werden, daß die Eltern nicht mehr das Schulgeld durch
ihre Kinder dem Lehrer schicken und daß es für ihn nicht mehr ein schwankendes
Diensteinkommen bildet, sondern daß das Schulgeld wie die Steuern zur Gemeinde-
vder besondern Schulkasse erhoben und aus dieser Kasse dem Lehrer ein von
dem Schulgeldertrage unabhängiges festes Gehalt gezahlt wird. Dann wird
den Kindern der Unterschied, ob ihre Eltern Schulgeld zahlen oder nicht, ebenso
wenig zum Bewußtsein gebracht, wie der, ob die Eltern steuerpflichtig oder
steuerfrei sind, und der Lehrer hat gar kein Interesse mehr daran, ob der ein¬
zelne Schüler zu den schulgeldpflichtigen oder zu den befreiten gehört.
Ticfergreifend muß schon die Umgestaltung des Schulgeldsystems sein, will
man damit den der freien Schule nachgerühmten Vorzug, daß sie in den ärmern
Klassen das Bewußtsein erwecke, daß der Staat für sie gerade fo wie für die
Reichen sorge, ihnen denselben Unterricht ohne schwerere Opfer biete, auch er¬
reichen; aber unmöglich ist dies keineswegs. Man braucht uur Personen bis
zu einem gewissen Einkommen grundsätzlich vom Schulgelde freizulassen und bei
höhern Einkommen es nach diesem abzustufen. Dann kann sich der Arme
ebenso wenig wie über die Steuern beschweren, und der Befreite braucht ebenso
wenig das drückende Gefühl, die Benutzung der Schule werde ihm nur aus
Gnade und Barmherzigkeit gestattet, zu haben, wie ein Steuerfreier bei Be¬
nutzung einer Staatseinrichtung.
Schließlich sei noch ein für die Aufhebung des Schulgeldes geltend ge¬
machter sozialer Gesichtspunkt erwähnt, welcher dem, der ihn aufgestellt hat,
sticht, alle Ehre macht, aber leider auf einer großen Verkennung der Ver¬
hältnisse beruht. Es ist dies die Behauptung, die Unentgeltlichkeit des Unter¬
richts werde bei denen, die den freien Unterricht genossen hätten, Dankbarkeit
und Anhänglichkeit gegen Staat und Gemeinde, welche ihnen diese Wohlthat
verschafft hätten, erzeugen. Wer dies erwartet, übersieht zunächst, daß auch nach
Aufhebung des Schulgeldes die Benutzung der Schule nichts weniger als un¬
entgeltlich ist, daß sich vielmehr nur die Aufbringungsart der Unterhaltungs¬
kosten ändert; sodann aber setzt er Menschen voraus, wie sie uicht die Regel,
sondern nur die seltene Ausnahme bilden. Gewiß, es wäre gut um die Welt
bestellt, wenn die Mehrzahl der Menschen ein derartig ausgeprägtes Dank¬
barkeitsgefühl besäße!
Vom schultechnischen Standpunkte aus hat man für die Aufhebung des
Schulgeldes geltend gemacht, daß es für den Lehrer ein demütigendes, ihn mit
seiner Lage unzufrieden machendes und dadurch seine Leistungsfähigkeit beein¬
trächtigendes Bewußtsein sei, durch Beiträge der Eltern seiner Schüler unter¬
halten zu werden. Hiervon kann aber keine Rede sein, wenn die oben erwähnte
Einrichtung eingeführt wird, daß das Schulgeld zu einer Kaffe fließt, aus
welchem der Lehrer ein festes Gehalt empfängt; dann ist es für ihn genau
dasselbe, als wenn die Beiträge zu seiner Besoldung in Form von Steuern
erhoben werden.
Etwas mehr Berechtigung kann man dem Hinweis darauf zugestehen, daß,
wenn die Schulunterhaltungskosten durch Steuern aller Gemeindeglieder auf¬
gebracht werden, das Interesse an der Schule und damit die Kontrole über sie
eine allgemeinere sei, als wenn die Schule durch Schulgelder unterhalten werde,
da im erstern Fall alle Gemeindeglieder, im letzter» nur die Schulgeld zahlenden
an dem Gedeihen der Schule Anteil nähmen. Indes große Bedeutung hat
dieser Umstand auch nicht; denn allein durch Schulgeld wird wohl keine Schule
unterhalten, sondern zum Teil fast überall durch Steuern, sodciß schon jetzt
jeder Steuerzahler an der Schule beteiligt ist; allerdings würde sich diese
Teilnahme wohl mit Erhöhung der Steuern steigern.
Vollständig verfehlt ist es endlich, die Forderung der Beseitigung des
Schulgeldes auf rechtliche, aus der Verfassung hergeleitete Gründe zu stützen.
Man behauptet nämlich einmal, der verfassungsmäßigen Forderung des Staates,
daß jeder Bürger sich die Vvlksschulbildnng aneignen müsse, entspreche die Pflicht
des Staates, dafür zu sorgen, daß dies jedem Bürger ohne besondre Kosten
möglich sei; und sodann will man in der Aufbringung der Schullasten durch
Schulgeld eiuen Widerspruch mit dem verfassungsmäßigen Grundsatze, daß die
Volksschule von der Gemeinde zu unterhalten ist, erblicken, da durch das Schul-
geldsystcm die Schullast aus einer Gcmcindelast eine solche einzelner Gemeinde¬
glieder werde. Beides ist entschieden zu bestreiten. Der allgemeinen Schul¬
pflicht entspricht nur die Pflicht des Staates, dafür zu sorgen, daß die nötigen
Schulen vorhanden sind, und daß deren Benutzung jedem, auch dem Ärmsten,
offen steht. Dieser Pflicht genügt aber der Staat, da ja der Arme Erlaß des
Schulgeldes genießt. Daß die Erfüllung keine Kosten bereite, gehört keineswegs
zum Wesen der Staatsbürgerpflichten. Wenn aber die Verfassung den Ge¬
meinden die Schulunterhaltungspflicht auferlegt, so liegt darin keineswegs das
Verbot, die Unterhaltungskosten ganz oder zum Teil durch Gebühre» derjenigen
Gemeindemitglieder, welche die Schule benutzen, zu decken.
Es bleibt uns noch die Betrachtung der sür das Schulgeld ins Treffen
geführten sozialen, schultechnischen und rechtlichen Gründe übrig. Die sozialen
gehen davon aus, daß die Aufhebung des Schulgeldes gegen die elterliche Er¬
ziehungspflicht und das elterliche Erziehungsrecht verstoße. Denn die erstere
verlange von den Eltern nicht nur die Sorge für das körperliche, sondern auch
die für das geistige Wohl der Kinder, und dazu gehöre die Sorge für ein ge¬
wisses niedrigstes Maß an Schulbildung, ohne welches ein angemessenes Fort¬
kommen nicht möglich sei. Werde nun durch Übernahme der ganzen Schullast
auf Staat oder Gemeinde diese Sorge den Eltern abgenommen, so schwache
dies bei ihnen das Gefühl der Verantwortlichkeit für das Wohl der Kinder
und verleite zu leichtsinnigem Heiraten und damit zu proletarischer Volksver¬
mehrung. Anderseits würden bei Aufhebung des Schulgeldes die Schulsteuern
natürlich um den bisher durch das Schulgeld gedeckte» Betrag steigen. Wenn
also ein Vater aus irgend welchen, z. B. religiösen Gründen seine Kinder außer¬
halb der öffentlichen Volksschule unterrichten lassen wolle, so würde er dann
die Kosten dieses besondern Unterrichts und die volle Volksschullast zu tragen
haben, während er, wenn ein Teil der letztern durch Schulgeld gedeckt wird, für
diesen Teil, sofern er die Volksschule nicht benutzt, nicht mit auszukommen hat.
Hierin sieht man eine erhebliche Beeinträchtigung der Freiheit der Eltern in der
Wahl des Unterrichts ihrer Kinder: viele würden dann durch die höhere Schul¬
last gezwungen sein, ihre Kinder in der öffentlichen Volksschule zu lassen und
gehindert werden, ihnen eine höhere Bildung zu verschaffen, was dann wiederum
zu Unzufriedenheit und Mißgunst gegen die Wohlhabenden führen werde.
Diesen Ausführungen liegt aber doch eine starke Überschätzung der Be¬
deutung des Schulgeldes zu Grunde. Abgenommen sollen ja dem Einzelnen
die Kosten des Unterrichts durchaus nicht werden, sie sollen ihm nur in andrer
Form auferlegt werden. Wenn man aber sagt, das Schulgeld führe die Auf¬
wendung für Unterrichtszwecke deutlicher zu Gemüte als eine Steuer, so muß
man darauf erwiedern, daß bei dem, der sich seiner Pflicht, für den Unterricht
seiner Kinder zu sorge», so wenig bewußt ist, daß er hieran durch Abnötignng
von Zahlungen gemahnt werden muß, dieser Zweck auch dadurch nicht erreicht
werden wird, daß er alle Wochen oder Monate ein paar Groschen Schulgeld
zahlen muß. Wer auf einer so niedrigen Bildungsstufe steht, der schimpft
höchstens über das Schulgeld als eine unnütze Verteuerung der Kindererziehung.
Von einer Eheschließung aber hat wohl der Gedanke an das zu zahlende
Schulgeld noch niemand abgehalten, dazu ist der Betrag desselben im Verhältnis
zu den übrigen Kosten eines Hausstandes viel zu gering. Ob es ferner nötig
ist, die Verheiratung zu erschweren, erscheint mir mindestens sehr zweifel¬
haft; in manchen, namentlich den höhern Schichten der Bevölkerung macht sich
vielmehr vielfach eine auf Egoismus beruhende Neigung zum Hagestolzentum
geltend, der es angenehmer erscheint, sein Vermögen allein zu verzehren, als
mit einer weniger besitzenden Frau und Kindern zu teilen. Mit dem durch Fern-
Haltung seiner Kinder von der öffentlichen Volksschule ersparten Schulgeld endlich
ermöglicht niemand die Benutzung einer Privatschule oder höhern Lehranstalt,
da bei allen diesen das Schulgeld sehr viel höher als bei den öffentlichen
Volksschulen ist. Und für wen wirklich die infolge der Aufhebung des Schul¬
geldes eintretende Erhöhung der Schulsteuern eine solche Rolle spielt, daß er
deshalb seine Kinder keine höhere Lehranstalt besuchen lassen kaun, der thut
auch sehr viel besser daran, dies zu unterlassen. Er würde sonst in der großen
Mehrzahl der Fälle seine Kinder nur zu geistigen Proletariern erziehen, sie in
Kreise bringen, in welchen sie sich ihrer Vermögensverhältnisse wegen stets beengt
und daher immer unzufrieden fühlen würden. (Schluß folgt.)
chon vor 1839 hatte Rochlitz ein Testament gemacht und
wohl auch gerichtlich niedergelegt. Veränderungen der dama¬
ligen Umstände bewogen ihn aber, dieses Testament wieder zu¬
rückzuziehen und im Oktober und November 1839 ein neues
abzufassen, das er am 11. November bei dem Leipziger Stadt¬
gerichte niederlegte. Dieses nebst einem Kodizill, das er noch im Oktober
1842, also wenige Wochen vor seinem Tode, niederschrieb und das sich in seinein
Nachlaß vorfand — wird in seinem vollen Wortlaute im folgenden mitgeteilt.
Mancher wird vielleicht fragen, ob es nicht genügt hätte, hier eine Aus¬
wahl aus den Bestimmungen des Testaments zu treffen, nur das kunst- und
literargeschichtlich merkwürdige mitzuteilen, alles übrige aber wegzulassen. Diese
Frage scheint auf den ersten Blick berechtigt. Dennoch schien es zweckmüßiger,
das Ganze unverkürzt mitzuteilen. Schon aus stilistischen Gründen. Es handelt
sich nicht um ein nach der Notarschablone jener Zeit abgefaßtes Schriftstück,
sondern um ein Erzeugnis aus Nvchlitzens Feder, das vom Anfang bis zum Ende
von ihm selbst niedergeschrieben ist, und das als ein wohlgegliedertes Ganze
auch verdient, nicht zerpflückt, sondern im Zusammenhange gelesen zu werden.
Aber auch um des Inhalts willen. Nicht nur, daß die Beziehungen zu Ver¬
wandten und Freunden, wie sie sich aus dem Testament ergeben, das, was
Biedermann von biographischen Notizen über Rochlitz beigebracht hat, willkommen
ergänzen: die ganze Persönlichkeit des Mannes, sein frommer Sinn, seine herz¬
liche Anhänglichkeit an die Seinigen, sein Wohlwollen, seine Gerechtigkeit, seine
Gewissenhaftigkeit, seine peinliche Ordnungsliebe — die er übrigens mit Goethe
gemein hatte, und über die man doch ja nicht, wie man es Goethe gegenüber
gethan hat, spötteln, sondern um die man ihn beneiden sollte, als um einen
Vorzug, der bei der ruhigen, behaglichen Lebensführung jener Zeit noch häufiger
möglich war, als in dem hastigen, arbcitsgierigen Treiben unsrer Tage —, dies
alles würde nicht aus Auszügen, es kann nur aus dem Ganzen lebendig hervor¬
treten. Selbst die kleinen Geschenke, die er unbedeutenden Personen aussetzt,
werden interessant durch die Art der Begründung und Einkleidung, in der es
geschieht. Die Schlußsätze des Testaments wird auch der Kühlste nicht ohne
Rührung lesen.
Im Bewußtsein der heiligen Gegenwart Gottes und mit dem herzlichen
Wunsche, auch nach meinem Tode andern, wiefern ichs vermag, zu nützen oder
Freude zu machen, unternehme ich jetzt, auf den Grund eines frühern, mein Testa¬
ment und meinen letzten Willen nochmals abzufassen: eben jetzt, wo ich nur allzugut
fühle, daß die Zeit meines irdischen Daseins nur noch sehr kurz sein kann, wo auch
dnrch veränderte Verhältnisse verschiedener hier Beteiligten, so wie durch den Tod
einiger meiner Freunde, die gleichfalls bedacht waren, beträchtliche Veränderungen
jenes meines frühern Testaments teils ratsam, teils nötig geworden sind.
Ueber alle Bestimmungen dieses meinen letzten Willens erkläre ich hier ein-
leitungsweise im allgemeinen und setze fest:
1. Seit dem am 23. März 1834 erfolgten Tode meiner seligen Fran und
dem sogleich darauf erfolgten vollkommenen und gerichtlich bestätigten Abschluß aller
und jeder Ansprüche der Verwandten von ihrer Seite an mich oder meine Habe
— »vorüber die vollständigen Dokumente, besonders gesammlet und vollzogen, sich
unter meinen Papieren befinden — ist niemand mehr vorhanden, der auf mich
und nach meinem Tode auf meine Habe Anspruch zu macheu berechtigt wäre: nur
meinen natürlichen Erben stehet dies zu; denn was hier in in einem Testamente
unter II, 1 angeführt wird, ist nicht eigentlich als Teil meiner Habe, sondern, wie
dort auch nachgewiesen, als mir für meine Lebenszeit überlassenes Fideikommiß zu
betrachten. Jene meine natürlichen Erben nun aber bestimme und erkläre ich jetzt
zugleich als testamentarische — mithin zunächst und zugleich als meinen Universal¬
erben meinen geliebten Bruder Wilhelm Rochlitz — und überlasse ihnen nach
meinem Tode alles, was ich besitze, außer, wofür ich eine andere Bestimmung in
diesem meinem Testamente ausdrücklich festsetze.
2. Daß einem jeden der nachbenannten Erben oder Legatarieu das, was
ich ihm bestimme, das ihm Nützlichste oder Erfreulichste, überhaupt, nach seiner
Lage, seinen Eigentümlichkeiten und besondern Verhältnissen das Angemessenste sei,
was ich mir irgend habe aussinnen können: daran wird Wohl keiner dieser Be¬
teiligten zweifeln; denn sie alle wissen, daß Unbedachtsamkeit überhaupt nie mein
Fehler gewesen sei, und kennen auch die Gesinnungen, die ich gegen sie hege.
Darum erwarte ich mit voller Zuversicht, es werde ein jeder mit dem ihm Zu¬
gedachtem zufrieden sein und der genauen Ausführung dieses meines letzten Willens
— aus welcherlei Ursachen es auch geschehen möchte — keine Schwierigkeiten in
den Weg zu legen suchen, noch auch nur Weitläufigkeiten und was Zwist herbei¬
führen konnte verursachen. Sollte, wider alles Vermuten, letzteres aber dennoch
geschehen: so verordne ich hiermit ausdrücklich, daß ein solcher damit des ihm be-
stimmten Anteils gänzlich verlustig wird und dieser sein Anteil der hiesigen Armcn-
cmstcilt zufallen soll, welche dann wohl wissen würde ihre Sache durchzuführen.
3. Sollte Gott mein Leben mir noch einige Zeit fristen und sollten in dieser
Zeit Umstände eintreten, welche Abänderungen auch dieses meines Testaments oder
Zusätze zu demselben nötig machten oder doch anrieten: so behalte ich hier mir
ausdrücklich vor, kodizillarisch solche Abänderungen oder Zusätze vollgültig abfassen
zu können, und sollen alle solche Verordnungen, wenn sie von spätern: Datum als
dies Testament und von mir eigenhändig geschrieben oder doch unterschrieben sind,
vollkommen so betrachtet werden, als ob sie wörtlich diesem meinem Testamente
einverleibt wären.
Meine sämtlichen Verfügungen betreffen
In dieser Ordnung lasse ich sie hier folgen.
Dieses mein gesamtes baares Vermögen, wie es ohne Ausnahme möglichst
sicher angelegt ist, worüber sämtliche Dokumente sich da befinden, wo man die
Abschrift dieses meines Testaments gefunden haben wird, und worüber überdies
die nähern Nachweisungen meine Rechnungsbücher enthalten — teile ich zuvörderst
und im allgemeinen nach dem ganz einfachen Plane ein, daß ich alles, was ich
durch Fleiß mir erworben und durch Liebe zu Mäßigkeit und Ordnung mir er¬
halten, meinen Anverwandten von cilternlicher Seite bestimme: das hingegen,
was ich von meiner sel. Frau (nach Uebereinkommen mit ihr zu Gunsten ihrer
Kinder erster Ehe) nur als mir ausgesetztes baares Legat ererbt habe — fünf¬
tausend Thaler nämlich — zu andern Dispositionen verschiedener Art bestimme.
Ueber jenes mein selbsterworbenes Kapital kann ich kurz sein. Es erhält
dasselbe mein geliebter jüngerer Bruder, Wilhelm Rochlitz, gewesener Stndtrat, hier
in Leipzig: er, als mein natürlich nächster, nun aber auch mein testamentarischer
und Universalerbe; doch unter der Bedingung, daß er davon eintausend Thaler
der Witwe und den Kindern meines vor mehr als dreißig Jahren in Milan in
Kurland verstorbenen ältern Bruders abgebe und (mit den in solchen Fällen zu
seiner eignen Sicherheit nötigen Maßregeln) diesen, wenn auch mir gänzlich un¬
bekannten Personen zusende.
Ausführlicher muß ich über die Anwendung der vorhin bezeichneten ererbten
fünftausend Thaler sein. Hiervon erhalten
1. meine lieben Stiefenkel Paul von Gutschmidt und Julins von Gutschmidt
ein jeder fünfhundert Thaler, als ein Merkmal meiner herzlichen Zuneigung.
(Sind sie noch nicht mündig, so werden diese eintausend Thaler an ihren Herrn
Vormund, den Dom-Kapitular Herrn Dr. Friederici hier in Leipzig, ausgezahlt.
2. Franziska Kühler, aus Leipzig gebürtig und nun seit sieben Jahren ein
Mitglied meines Hauses, hat sich in dieser ganzen Zeit, und besonders auch in den
schwierigsten, traurigsten, zum Teil selbst für ihre Gesundheit gefährlichen Abschnitten
derselben bei den Krankheiten und dem langsamen Absterben meiner sel. Frau und
meiner sel. Stieftochter, hernach seit fünf Jahren als Verwalterin meines Haus¬
wesens und Pflegerin meines Alters so redlich, sorgsam, mit Einsicht und herz¬
lichem Anteil thätig bewiesen und immer gleich sich bewährt — daß ich, wie weit
ich es vermag, ihre künftige Existenz zu erleichtern und einigermaßen zu sichern
Von Herzen wünschen muß. Ich bestimme ihr daher als Eigentum zweitausend
Thaler. Und da sie, nach eignem, freiem Entschluß, bis zu meinem Tode in gegen¬
wärtigen Verhältnis bei mir bleiben will, ich müßte denn selbst eine Aenderung
wünschen: so lege ich jenen zweitausend Thalern noch fünfhundert zu für den
Fall, daß sie wirklich bei meinem Tode noch als Verwalterin meines Hauswesens
und meine Pflegerin bei mir ist.
3. Zweihundert Thaler bestimme ich zur Errichtung meines Grabsteins und
der übrigen Einrichtung des zu meiner dereinstigen Ruhestätte von mir gerichtlich ge-
löseten Platzes. (Ein Weiteres darüber unter No. III, 2 dieses meines Testaments.)
4. Zweihundert Thaler empfängt die hiesige Armen- und
5. zweihundert Thaler die hiesige Blindenanstalt;
6. einhundert Thaler der hiesige Missionsverein, und
7. einhundert Thaler das hiesige Institut für alte kranke Musiker des Konzert-
Orchesters: alle diese vier Anstalten nicht zur Vermehrung ihrer angelegten Kapi¬
talien, sondern als Beitrag zu ihren laufenden Ausgaben.
8. Zweihundert Thaler empfängt Herr or. Fink hier in Leipzig, seit vielen
Jahren mir ein werter Freund.
9. Zweihundert Thaler empfängt Auguste Böhm, die Malerin, ältere Tochter
des hiesigen Kupferstechers, Herrn Böhm: eine Freundin, welcher ich viele erheiterte
Stunden meiner spätern Lebensjahre verdanke.
10. Zweihundert Thaler empfängt Herr Bernhard Kühler, der Bruder
Franziskas. Er, den ich als streng gewissenhaften Mann und gründlichen Juristen
kenne und hochschätze, möge für dieses mein Geschenk meinem lieben Bruder bei
der Ausführung dieses meines Testaments mit Rat oder was sonst nötig beistehen;
wenn nämlich dieser es wünscht und ihn dazu auffordert.
11. Fünfzig Thaler empfängt mein Arzt und werter Freund, Herr Doktor
und Professor Cerulli, den allerdings ein so Unbedeutendes nicht erfreuen kann,
der aber es als ein, wenn auch noch so kleines Merkmal meiner Erkenntlichkeit
nicht verschmähen wird. (Daß ihm, außer diesem, das unter uns längst festgesetzte
jährliche Honorar für das Jahr, worin ich abgeschieden, gezahlt werde, versteht
sich von selbst.)
12. Dreißig Thaler bekömmt, die als Köchin bei mir zur Zeit meines Todes
im Dienste steht, doch vorausgesetzt, daß sie die Pflichten ihres Dienstes treulich
erfüllet und Anhänglichkeit an mein Haus bewiesen hat — worüber Franziska
Kühler am besten wird entscheiden können; und
zwanzig Thaler mein Lohnbedienter, Schmidt, der seit beträchtlicher Reihe von
Jahren und Treue, Willigkeit und Anhänglichkeit mir zugethan gewesen — wenn
er nämlich bei meinem Tode noch in meinem Dienste ist.
Für einen jeden oder eine jede dieser Legatarien schreibt mein lieber Bruder
den Punkt, welcher ihn oder sie betrifft, ab und übergiebt diese seine Abschrift mit
dem ihnen Ausgesetzten.
Sollten sich unter meinen Dokumenten noch Schuldverschreibungen über kleine,
fünf und zwanzig Thaler nicht übersteigende Beträge, die andere von mir geliehen
haben, vorfinden: so werden diese Verschreibungen vernichtet, und niemand wird
ihretwegen angegangen.
1. Sämtliche Oelgemälde, welche aus dem Nachlaß des ersten Gemahls meiner
sel. Frau, des Herrn Banquiers Daniel Winkler, stammen und in meinen
Zimmern aufgehangen sind, bekömmt, nach dem Testamente dieser meiner sel.
Frau, zu welchem ich unbedingte Zustimmung gegeben hatte, ihr Sohn erster Ehe,
der Herr Amtshauptmann Georg von Winkler, jetzt in Pirna; und er besitzt über
dieselben seit seiner Uebernahme der mütterlichen Erbschaft im Jahre 1834 ein
vollständiges Verzeichnis, wie sich ein gleiches auch unter meinen Dokumenten über
alle jene Erbschaftsangclegcnheiten befindet; und es ist darüber nur noch anzu¬
merken, daß Herr Georg von Winkler einen namhaften Teil des gesamten Nach¬
lasses dieser Gemälde auf Veranlassung meines Beziehens einer andern, an Raum
sie sämtlich aufzustellen nicht wie die frühere geeigneten Wohnung, durch seinen
hierzu Beauftragten, den Herrn Domkapitular Dr, Friederici in Leipzig, schon von
mir erhalten hat.*) Seitdem habe ich die jetzt noch in meiner Wohnung befind¬
lichen Gemälde in den besten Stand setzen, auch mit Goldrahmen schmücken lassen,
und wünsche, daß sie beim Empfang in dieser Gestalt dem Herrn von Winkler
um so mehr Frende machen.
(Ueber vier Oelgemälde, die gleichfals in meinem Zimmer hangen, aber gar
nicht zum Daniel-Winklerschen Nachlaß gehören, mithin auch im Verzeichnisse des
Herrn von Winkler, wie in dem meinigen, nicht aufgezeichnet find, werde ich im
Verfolg der Nummern dieses Abschnitts meines Testaments besonders verfügen.)
2. Meine sämtlichen Prctivsa, wie sie in dem grünen Maroquin-Kästchen
beisammen liegen und zu welchen ich auch noch meine sehr gute Repetiruhr mit
goldner Kette und Zubehör wenigstens darum gezählt haben will, weil sie das
erste Weihnachtsgeschenk war, womit meine sel. Frau noch als Braut mich er-
freuete, erhalten, mit Ausschluß der beiden, vorhin unter No. I, 1 angeführten,
meine lieben Enkel: Emma Preußer, geborne von Gutschmid, und Ottilie, Rosa,
Hugo von Gutschmid zu möglichst gleichen Teilen, was den äußern Wert (Preis)
betrifft; dem innern, durch Abstammung derselben, durch eigene Liebhaberei der
Empfänger u. tgi. zu bestimmenden Werte nach, wählen die vier Teilhabenden
(mit ihren Ratgebern) nach ihren Geburtsjahren, meine geliebte Emma zuerst, Hugo
zuletzt. Von den kostbaren Geschenken meiner verehrten Gönnerin seit nicht wenigen
Jahren, der Frau Großherzogin-Großfürstin Maria Paulowna von Weimar wünsche
ich, daß wenigstens die Dose mit ihrem Namen in Brillanten unverkauft bleibe.
3. Meinen guten, lieben Preußers insgesamt, den Aeltern und den Kindern,
möchte ich gar zu gern noch etwas Besonderes hinterlassen, das ihnen nicht nur
als Erinnerungsmittel dienen, sondern zugleich fortwährend lieb bleiben und einige
Freude machen könnte. Ich finde hierzu geeignet nur das Folgende, was zwar
unter meine sehr lieben Besitztümer gehört, aber freilich einen einigermaßen beträcht¬
lichen Wert nur für die hat, die ihm einen solchen selbst beimessen wollen; nämlich:
s.) Das Porträt meiner sel. Frau, das in meiner Schlafstube hängt.
Wenn auch als Kunstwerk nicht ausgezeichnet, ist es doch das ähnlichste von allen
vorhanden gewesenen.
b) Von den obenerwähnten uicht-winklcrischen Oelgemälden die, von Anton
Graff in seinen frühern und besten Jahren vortrefflich ausgeführte Kopie der be¬
rühmten Magdalena von Battoni in der Dresdener Gallerte.
e) Meine Auswahl der besten Blätter altrömischer Denkmale, von Volpato
in Umrissen radirt und von du Gros in Farben ausgeführt; folglich auch die Ofen¬
schirme, zu welchen ich deren einige verwendet habe. (Die übrigen liegen in der
Kupferstichmappe der „Engländer" zu Ende; wohin sie bloß darum gebracht worden
sind, weil eben da noch Raum übrig war.)
A) Aus meiner Bibliothek: das schöne Exemplar der frühen, nicht in den
Handel gekommenen Ausgabe von Göthe's Hermann und Dorothea in Groß-
Oktav, das der Dichter selbst mir geschenkt hat; und die Prachtausgabe von Pyrkers
Werken — letztere vorzüglich um ihrer dritten Abteilung willen.
(Ein kleiner Zusatz folgt unter No. 7: „Kupferstich-Sammlung.")
4. Meine teuern Freunde, der Herr Oberprediger Dr. Wolf in Leipzig und
dessen Gattin, empfangen als kleine Merkmale meines Danks für das, was sie im
Leben mir gewesen sind: das zweite jener nicht-winklerischen Oelgemälde, den Alten,
der, deutend auf einen Totenkopf, heitern Sinnes die Hinfälligkeit alles Irdischen
betrachtet (gemalt von Hoffmeister); die drei Statuen des Matthäus, Johannes
und Paulus, uach Peter Bischer zu Se. Sebald in Nürnberg, mit den dazu ge¬
hörigen Postamenten, und aus meiner Bibliothek die Ausgabe der Werke Schillers
in 12 Bänden Groß-Oktav mit Kupfern, in Maroqninband.
5. Meine teuern Freunde, der Herr Kirchen- und Schulrat Dr. Meißner in
Leipzig und dessen Gattin, empfangen, gleichfalls als kleine Merkmale meines
Danks für das, was sie im Leben mir gewesen sind: sämtliche Zeichnungen, die
in Nahmen, unter Glas, in meiner grünen Wohnstube aufgehangen sind; aus meiner
Bibliothek das Exemplar der Werke Göthe's in 20 Oktavbänden, welches der
Dichter selbst mir geschenkt und mit dem vor« eingehefteten Blatte, von seiner
eigenen Hand geschrieben, mir zugesandt hat. Diesem füge ich bei die gesammelten
Briefe und Briefchen Göthe's an mich, die sich in besonderer Mappe in einem
der Schubkästen meines Bureaus befinden.
6. Das dritte jener nicht-winklerischen Oelgemälde, das schöne, sprecheudähnliche
Porträt Joseph Haydns, zu Wien in dessen 60. Lebensjahre gemalt, das in
meiner Schlafstube hängt, erhält der Musikdirektor Herr or. Felix Mcndelssohn-
Bartholdy in Leipzig, um ihm, der durch seine Werke mir so oft Frende gemacht,
auch, wiefern ichs vermag, einige Frende zu machen.
7. Das vierte und letzte jener nicht-winklerischen Oelgemälde, die heitere
Landschaft mit Landleuten u. s. w. von Brandt in Wien, empfängt der Domkapitular
Herr or. Friederici in Leipzig, als Zeichen, daß ich so manche Gefälligkeit, die er
ehedem mir erwiesen hat, im Andenken behalten habe.
8. Meine große Sammlung von Kupferstichen, wie diese, chronologisch und
nach den Nationen der Maler geordnet, in folgenden Mappen liegen: Italiener
in vier, Deutsche in zwei, Niederländer in zwei, Franzosen in zwei, und Engländer
in einer — wozu als Anhange betrachtet werden können: die in Nadirung oder
Lithographie nachgeahmten Zeichnungen großer Meister in besonderer Mappe, und
die gehefteten oder sonst als fortlaufend abgesonderten ganzen Werke: diese Sammlung,
welche zu stände zu bringen und für meinen Zweck (vorzügliche Belege zu einer
möglichst vollständigen Geschichte der Malerei aller Nationen darzustellen) nach und
nach zu vervollkommnen, ich mir fast vierzig Jahre lang ernstlich habe angelegen
sein lassen: diese Sammlung bestimme ich, mit Ausnahme der sehr wenigen, für
das Ganze unbeträchtlichen Blätter, die ich in der Folge anführen werde, — ganz
Wie sie ist, zu einer öffentlichen Versteigerung, mit öffentlicher Angabe, daß sie
meine nachgelassene Sammlung sei.*) Ueber den Ertrag dieser Versteigerung setze
ich folgendes fest: Nachdem von ihm alle Unkosten abgezogen sind, empfangen
von diesem reinen Ertrage eintausend Thaler die fünf Kinder meines lieben
Bruders, Wilhelm Rochlitz in Leipzig, zu gleichen Teilen, mithin ein jedes zwei¬
hundert Thaler; das übrige erhalten die Witwe und Kinder meines längstver¬
storbenen Bruders Carl Rochlitz, in Mienen, als Vermehrung dessen, was ihnen in
der ersten Abteilung dieses meines Testaments ausgesetzt worden ist.
Jene wenigen Blätter, deren ich als eine Ausnahme gedachte, die mithin, ehe
sonst Etwas mit der Sammlung geschieht, herauszunehmen und in meinem Ver¬
zeichnis auszustreichen sind, beschränke ich auf folgende:
Raphnel. Desnoyers: Maria und Elisabeth mit ihren Kindern in Landschaft.
(Mappe: Italiener I.)
del Sarto. Bettelini: Das Begräbnis Christi. (Mappe: Italiener II.)
Guercino. Bettelini: Eine Mutter, die ihrem Kinde einen Vogel vorhält.
(Mappe: Italiener III.)
Hamilton. Simon: Szene aus Shakspeare. (Mappe: Engläuder.)
Diese vier Blätter erhält meine Enkelin, Emma Prenßer.
Nnphael. Oeri: Vermählung der Maria. (Mappe: Italiener I.)
Guido Reni. Rousselet: Die betende Magdalena. (Mappe: Italiener III.)
Dürer. Müller: Kruzifix in der Kirche zu Nürnberg. (Mappe: Deutsche I.)
Mengs. Zöllner: Die Himmelfahrt Christi. (Mappe: Deutsche I.)
Diese vier Blätter erhält meine Pflegerin, Franziska Kühler.
9. Meine Sammlung Handzeichnungen der vorzüglichsten Meister aller
Jahrhunderte, wie sie sich, chronologisch und nach den Nationen der Maler ge¬
ordnet, in fünf Portefeuille« befindet, deren Istes die Italiener, 2tes die Deutschen,
3tes die Niederländer, 4tes die Franzosen und Sees (das größte, ohne Bezeichnung
auf dem Rücken) Blätter aller dieser im größten Format enthält — empfangen,
und zwar in und mit diesen Portefeuille» selbst, nebst dem von mir abgefaßten
Verzeichnis, meine verehrten Gönner, Seine königl. Hoheit, der Großherzog Karl
Friedrich von Sachsen-Weimar, und Ihre königl. und kaiserl. Hoheit, die Frau
Großherzogin Maria Paulowna, seine Gemahlin, für ihr Museum. Ich werde an
beide Herrschaften einen Brief hinterlassen, und einen zweiten an den Herrn ge¬
heimen Rat und Kanzler, Friedrich von Müller in Weimar, dem jenes beides,
(Brief und Portefeuillen) zur Uebergabe — welche dieser mein vieljähriger Freund
gern übernehmen wird — zuzusenden ist.
10. Meine, für ihre Fächer wahrhaft auserlesene, gut gebundene, gut erhal¬
tene, auch vollkommen geordnete Bibliothek bestimme ich meinem lieben Bruder
Wilhelm Rochlitz. Er wird sie, aber (die wenigen vorhin besonders genannten
Werke abgerechnet) unzerteilt und mit Nennung meines Namens in öffentlicher
Auktion zum Verkaufe bringen und des Ertrags sich hoffentlich erfreuen.
11. Vou meiner Sammlung Musiknlieu werden die zahlreichen Werke für
Kirchenmusik (Oratorien mit eingeschlossen), mögen sie gestochen, in Typen gedruckt
oder in Handschriften sein, ausgesondert; nud diese vermache ich der so dürftigen
musikalischen Bibliothek der hiesigen Thomasschule: alles übrige wird als Anhang
zu meiner Büchersammlung und zu Gunsten meines Bruders versteigert.
12. Franziska Kühler bekömmt noch die kleine Mahagonie-Kommode in meiner
Wohnstube, zunächst zur Erinnerung an meine sel. Iran, welcher sie in letzter,
lauger Krankheit so treulich beigestanden, und die sich dieses Schränkchcns täglich
bediente; ferner bekömmt sie die Büste der Frciu Großfürstin von Weimar in
meinem Saale, zunächst zur Erinnerung, wie huldvoll sich diese erhabene Frau auch
gegen sie vor vier Jahren in Weimar erwiesen hat.
Zum Schluß aller dieser, das Mein und Dein betreffenden Verordnungen
setze ich — und, wie ich hoffe, ganz überflüssig — noch hinzu:
Ich weiß recht Wohl, daß dieses mein Testament in der Form von dem ge¬
wöhnlichen advokatischen abweicht; daß es meinen freien, entschiedenen letzten Willen
zwar bestimmt und deutlich, doch nicht überall in solchen Ausdrücken und Formeln
nnsspricht, wie sie unter gewissen Übeln, hier aber geltend zu machen wohl gar
nicht möglichen Umständen von einem „zierlichen Testamente" verlangt werden
können. Für den Fall nun, daß dieses Verlangen dennoch irgend woher geltend
zu machen versucht würde, lege ich diesem meinem Testamente hiermit ausdrücklich
die Kraft eines Kodizills, einer Schenkung ans den Todesfall oder einer andern zu
Recht beständigen, wenn auch minder feierlichen letzten Willenserklärung bei, ver¬
lange, daß dieser mein letzter Wille durchgängig bei Kräften erhalten werde, und
verweise in jener hier angeregten Hinsicht nochmals auf das zurück, was ich in
der Einleitung zu diesem meinem Testamente unter Nummer 2 festgesetzt habe.
1. Meine Beerdigung wird so einfach und prunklos veranstaltet, als die Schick¬
lichkeit zuläßt. So einfach werden auch alle Ankündigungen meines Todes abgefaßt:
nichts von Zeitungslob oder Zeitungslamenten!
2. Ueber den Ankauf meines Ruheplatzes auf dem Gottesacker liegt das Doku¬
ment bei meinen übrigen Dokumenten, und für die Errichtung meines Grabsteins
und was dazu gehört, ist oben unter I, 3 gesorgt. Alles dies wird anständig,
doch nur also eingerichtet, daß, wer meinem Staube seinen Gruß bringen will,
den Ort, wo er ruht, leicht finde: nichts von symbolischen Andeutungen u. tgi.;
nur die Inschrift:
Friedrich Rochlitz,
zu Leipzig geb. 1769, geht.....,
und
die Seinigen.
Und Wie ich jedes Jahr an einem ein- für allemal festgesetzten Tage mit meinem
Bruder, niemals ohne gute Eindrücke, besonders auch für Erhaltung fcunilicn-
gcmäfzer Eintracht und Liebe, das Grab unserer geliebten Mutter besucht habe: so
wünsche ich, und zu denselben Absichten, daß er mit den Seinigen, und dereinst
diese unter sich, ein Gleiches mit meinem Grabe festsetzen und ausführen mögen.
3. Von allen meinen Arbeiten, die ich, vollendet oder nicht, hinterlasse (es
sind deren nicht wenige), wird nichts gedruckt oder sonst in fremde Hände gegeben,
mit einziger Ausnahme des umfassenden Werkes: „Sammlung vorzüglicher Gesang¬
stücke" PP., eigentlich einer „Geschichte der Tonkunst für die Kirche und das Ora¬
torium von ältester bis zu neuer Zeit mit vielen urkundlichen Belegen" — von
welchem Werke bis jetzt allein aus Schuld der Verleger, der Gebrüder Schott in
Mainz, nur der erste Folio-Band in zwei Heften, und der erste dieser Hefte nur
in sehr verdorbener Ausgabe öffentlich erschienen, eine zweite berichtigte Ausgabe
desselben aber längst von den Verlegern mir zugesagt und das Manuskript zu ihr
längst in ihren Händen ist. Dies Manuskript nun, so wie das des zweiten Bandes,
gleichfalls längst in den Händen dieser Verleger, und das des dritten Bandes,
welcher das Werk beschließt, ebenfalls vollendet und in einem Schränkchen meiner
Bibliothek aufbewahrt: dies gesamte Manuskript, wie weit es bei meinem Tode
noch nicht öffentlich erschienen ist, vermache ich Herrn Dr. Fink in Leipzig, um es
— allerdings, was das Honorar betrifft, zu seinem Vorteile — herauszugeben.
Daß das Werk, wenigstens von seinem zweiten Bande an, nicht Wenigen Nutze»
und Freude verschaffen könne: das weiß ich; und so muß ich auch wttnscheu, daß
es nicht im Verborgenen liegen bleibe.
Uebrigens ergehe es mir im Leben und Sterben nach Gottes Weisen und
gnädigem Willen. Diesem seinem Willen unter allen Umständen demütig, ver¬
trauensvoll und hoffnungsfreudig mich zu fügen, und auch schwere Leiden, sollten
sie über mich verhängt werden, in Geduld und Stille zu tragen: dazu verleihe er,
mein himmlischer Vater, nach seiner Erbarmung mir Kraft und Ausdauer. Dann
wird der hohe, allen redlichen Christen gemeinsame Glaube meinen Geist erhellen,
wenn meine Augen sich verdunkeln, und mein Herz erwärmen, wenn meine Glieder
erkalten.
Allen, die durch Achtung, Zutrauen, Freundschaft, Liebe, oder wodurch sonst,
mein Leben mir erleichtert und aufgeheitert haben, sei mein herzlicher Dank ge¬
bracht. Meiner Uebereilungen, Schwächen und Fehltritte möge man nicht zu hart
gedenken. Was ich Gutes gewollt und, wenn auch unvollkommen, doch redlich
betrieben habe: möge das nicht ohne Nachwirkung bleiben und seine Früchte bringen.
Manches hat Gott mir gelingen lassen und manches treue Herz mir zugewendet:
nicht mir, ihm sei Preis und Dank für beides.
So lebet denn wohl, ihr alle, die ihr in mein Dasein verflochten gewesen
seid. Euer und mein himmlischer Vater sei mit euch. Freude gebe er euch an
Gutem, das ihr wirket; an innerm Frieden, den ihr erhaltet und befördert; an
denen, die ihr liebt; und dereinst die Gnade, daß ihr, fest im Vertrauen auf ihn,
gern den Weg gehet, den ich gegangen sein werde, wenn ihr dies leset. —
Dieses ist mein Testament und letzter Wille, von mir selbst abgefaßt, eigen¬
händig geschrieben, eigenhändig untersiegelt, in der ersten Woche des Novembers
1839, und in der zweiten Woche desselben Monats und Jahres dem hiesigen ge¬
ehrten Stadtgericht in Person übergeben.
Leipzig,
den 6. November
1839.
In diesem Testamente habe ich mir ausdrücklich vorbehalten, Abänderungen
oder Zusähe zu ihm verordnen zu können, die dann vollkommen so gelten u.
ausgeführt werden sollen, als ob sie im Testamente ständen. Jetzt finde ich manch-
fache Veranlassungen, mich dieses Vorbehalts zu bedienen, und thue es unter der
Erklärung, daß alle testamentarischer Anordnungen, welche ich jetzt nicht ausdrücklich
aufhebe oder ändere, in voller Kraft bleiben. Wie jenes mein Testament, so fasse
ich auch diese meine kvdizillarischen Verordnungen bei ungestörter Geisteskraft, und
schreibe sie, wie jenes, eigenhändig hier nieder.
1. In meinem Testamente ist mein geliebter Bruder, Wilhelm Rochlitz, zu
meinem Universalerben erklärt; hierbei bleibt es auch, sowie bei allem, was daraus
folgt und dort angegeben ist, durchgängig und ohne Beschränkung oder sonstige
Abänderung. Seitdem fordern aber öftere Krankheitsanfälle, denen dieser mein
Bruder ausgesetzt gewesen ist, mich auf, an die Möglichkeit zu denken, daß Gott
ihn früher noch, als mich selbst, aus diesem Leben abriefe. Obwohl nun in diesem,
zwar nicht wahrscheinlichen, doch möglichen Falle, es sich von selbst ergäbe, daß
dann die Seinigen, nämlich seine Frau und Kinder, soweit diese dann noch am
Leben sein würden, in allem, was mein Testament für ihn verordnet hat, an seine
Stelle treten würden, mithin ihnen nach meinem Tode alles dort ihm Bestimmte
und Auferlegte zu empfangen und zu leisten zukäme: so setze ich hier doch noch
ausdrücklich, und auf Grund des in meinem Testamente geschehenen Vorbehalts,
fest, daß dieses ohne alle Einschränkung also sein und geschehen soll, indem ich
nur hinzufüge, daß diese Personen meinen Nachlaß nach Köpfen unter sich teilen
sollen. Bei dieser Gelegenheit spreche ich zugleich die Bestimmung ans: Niemand,
wer es anch sei, soll befugt sein, wegen dessen, was er aus irgend einem Titel
von meinem Nachlasse zu empfangen haben wird, weder von meinem Bruder
Wilhelm, noch von dessen eventuell an seine Stelle tretenden Wittwe und Kindern,
meinen Erben, eine Kautiousbestellung zu fordern, indem ich, Kraft meines Be¬
fugnisses dazu, die Kantionsbestcllung ausdrücklich erlasse.
2. Abänderungen.
Testament I, 8. Dieser, Herrn Dr. Fink betreffende Artikel fällt gänzlich weg,
und ich verfüge über die dort ausgeworfenen 200 Thaler hier in der Folge anders.
So bekömmt
Testament I, 7, statt der dort bestimmten 100 Thaler das hiesige Konzert¬
institut einhundert u. fünfzig: aber diese erhält nicht das Orchester in seine, seitdem
beträchtlich angewachsene Kasse, sondern das Direktorium des gesamten Instituts
in die seinige, die jetzt es bedarf. — Desgleichen
Testament I, 11 erhält Herr I)r. und Prof. Cerulli, mein Arzt, uicht, wie
dort angegeben, 60, sondern einhundert Thaler.
Einhundert Thaler empfängt der alternde und bedürftige Akademikus und
Sprachlehrer Hinze, hier in Leipzig.
Die Verfügungen, Testament II, 4 und S verlangen beträchtliche Verän¬
derungen, schon darum, weil Gott meinen teuern Freund, den Prediger Dr. Wolf,
früher als mich abgerufen hat. Jetzt bestimme ich für seine Wittwe, meine Freundin,
folgende Kleinigkeiten, von denen ich hoffe, daß sie ihr einigermaßen lieb sein
können. Sie empfängt
s.) die drei Statuen des Matthäus, Johannes und Paulus nach Peter Bischer
zu Se. Sebald in Nürnberg, mit den dazu gehörigen Postamenten; und
v) meinen Sophatisch von Birnbaum mit der Decke und den Sophakissen, die
dafür gearbeitet sind.
Meine Freunde, der Herr Kirchenrat Dr. Meißner in Leipzig und dessen
Gattin, empfangen als kleine Merkmale meines Danks für alle das, was sie im
Leben mir gewesen sind:
ki) sämtliche Zeichnungen, die, in Nahmen unter Glas, in meiner Wohnstube
aufgehangen sind;
d) das zweite, nicht-Winklerische Oelgemälde: den Alten, der, deutend auf einen
Totenkopf, ruhig-heitern Sinnes die Hinfälligkeit alles Irdischen überdenkt; und
e) zur Erinnerung an manches Vergangene aus unsern gemeinschaftlichen Be¬
schäftigungen, meinen Arbeitsstuhl, den Ernesti-Müllerschen.
Testament II, 7. Unter den vier Kupferstichen, welche meiner geliebten Enkelin
Emma Preußer aus meiner Sammlung im Testamente bestimmt sind, wird ihr,
statt des vierten nach Hamilton, ausgehändigt der nach Mnrillos (dem heiligen
Antonius erscheint das Christuskind) in der Mappe: Italiener IV.
(Corollarium. Bei dieser Gelegenheit will ich noch folgendes zum Borten
meines Universalerben erinnern. Was im Testamente über die Abfassung des Cata-
logus zum Behuf der öffentlichen Versteigerung meiner Kupferstichsammlung auge¬
merkt ist, das kann man jetzt sich ersparen. Ich habe nämlich in letzter Zeit meinen
eignen Catalogus so eingerichtet, daß er für die Versteigerung nur ganz so, wie
er ist — auch mit der Vorrede — braucht abgedruckt zu werden, und es weiter
nichts bedarf, außer, daß sämtliche Blätter, die in den Mappen nach den Nationen
und der Zeitfolge ihrer Meister geordnet liegen, in die alphabetische Reihenfolge,
wie sie in meinem handschriftlichen Catalogus verzeichnet sind, gelegt werden; wozu
man durchaus uicht nötig hat, die Sammlung fremden Händen zu übergeben.)
Zu: Testament II, 11. Die Partituren aus meiner Musikaliensammlung,
welche ich für die musikalische Bibliothek der Thomasschule bestimmt habe, und die
ans den übrigen ausgesondert werden sollten, sind nun, von mir selbst ausgesondert,
in drei Lagen gebracht, auch durch ein schriftliches Beiblatt bezeichnet; sodaß sie
ganz so, wie man sie findet, zu übergebe» sind.
Zu: Testament III, 3. Was hier über mein Werk „Sammlung" pp. Mainz,
bei Schott, verfügt ist, muß, da indes der Druck desselben weiter fortgerückt ist,
also verändert werden. Der 2te Band in zwei Abteilungen ist erschienen, und ich
habe das Honorar dafür erhalten. Der 3te Band in 3 Abteilungen ist jetzt in
Arbeit der Stecher und der Vollendung nahe. Wenn von ihm die 3te Abteilung
ausgegeben wird, hat der Verleger das Honorar dafür, zweihundert Thaler, an
meinen Bruder zu zahle»; so wie er, wenn von der Iten Abteilung des Iten Bandes
die mir zugesagte 2te verbesserte Auflage erscheint, gleichfalls das Honorar dafür,
fünfzig Thaler, an »leinen Bruder zu zahlen hat.
Meinen jugendlichen Freundinnen, Jsidore und Annette Preußer, hinterließe
ich gern Etwas, das ihnen angenehm und einigermaßen nützlich sein könnte, finde
aber nur folgende Kleinigkeiten, in welchen sie wenigstens meinen gute» Willen er¬
kennen mögen. Sie empfangen die Prachtausgabe der Wolfschen Encyklopädie in
4 Klein-Foliobänden, mit den ersten Abdrücken der Kupfer, ans meiner Biblio¬
thek; und die Prachtausgabe sämtlicher Kompositionen Beethovens für das Piano-
forte, mit oder ohne Begleitung. (Man findet sie, besonders eingepackt, in meiner
Musikaliensammlung.)
Herr Kapellmeister or. Felix Mendelssohn-Bartholdy empfängt das sprechend
ähnliche Porträt Joseph Haydn's, in Oel ausgeführt, über welches ich einige No¬
tizen auf den Rücken des Nahmens geschrieben habe; und das mäßige Packet Musik¬
stücke, von mir selbst verfaßt und mit eige»er Hand abgeschrieben. Man findet es
uuter meinen Musikalien, besonders eingepackt und mit der Aufschrift: Anhang.
Ich hoffe, letztes werde wenigstens darum einiges Interesse für thu haben, weil
es gewissermaßen einen Abriß meines ganzen Lebens, von frühen Jünglingsjahren
an bis ins Alter, nach dieser Nebenrichtuug meiner Thätigkeit hin, bezeichnet.
Beide kleine Gaben werden Mendelssohn mit dem hier beiliegenden Briefe an ihn
übergeben.
Frau Hofrätin Keil, geb. Löhr, mir eine teure Freundin seit vielen Jahren,
empfängt für ihre reiche Sammlung Handschriften ausgezeichneter Personen die ge-
fanden Briefe, und Briefchen Göthes an mich, wie sie in der besondern Perga¬
mentmappe (unter II, ö im Testamente näher bezeichnet) zusammengelegt sind.
Herr Gottlob von Quandt auf Dittersbach, Eschdorf PP. in Dresden, erhält
aus meiner Bibliothek das Exemplar der Werke Göthes in 20 Bänden (gleichfalls
unter II, 5 im Testamente näher bezeichnet), zugleich mit dem hier beiliegenden Briefe.
Der Herr geheime Rat und Kanzler, Friedrich von Müller, in Weimar (der¬
selbe, an welchen ebenfalls ein Brief hier beiliegt), empfängt den schwarz einge¬
faßten rötlichen Marmortisch in meiner Visitenstnbe. Er wird sich erinnern, bei
welcher besondern Gelegenheit die Frau Großherzogin-Großfürstin von Weimar mich
mit diesem gleichfalls besondern Geschenk erfreute, und.ich darf hoffen, dem treuen
Freunde eben hiermit einige Frende zu machen. (Herr von Müller wird, auf ge¬
hörige Anfrage bei ihm, selbst bestimmen, auf welche Weis« ihm dieses Andenken
gesendet werden soll.)
Eigenhändig von mir geschrieben und besiegelt, Leipzig, den 6. Oktober 1342.
Zur Ergänzung des Testamentes uur noch wenige Bemerkungen. Es
ergiebt sich aus dem Testament unzweifelhaft, daß Rochlitz nicht bloß, wie es
nach der Darstellung bei Biedermann scheinen könnte, durch Erbschaft, also durch
Zufall in den Besitz von Kunstwerken gelaugt, sondern daß er selbst ein eifriger
Kunstfreund und Kunstsammler war; seine beiden Sammlungen von Kupferstichen
und Handzeichnungen hatte er selbst in jahrzehntelangem planvollen Sammeln
zusammengebracht. Die Kupferstichsammlung wurde im Mai 1843 in Leipzig
versteigert, erreichte aber nicht die von ihm gehoffte Summe; uach Abzug aller
Gebühren blieben nur 916 Thaler übrig. Die Handzeichnungen — 306 Num¬
mern, von Börner auf 1300 Thaler abgeschätzt — kamen an das Weimarer
Museum. Unter dem 18. Januar 1843 teilte der Kanzler von Müller dem
Leipziger Stadtgericht mit, daß die Sammlung vom Großherzog und von der
Großherzogin dankbar angenommen worden sei. „Ihre kaiserliche und königliche
Hoheiten beabsichtigen durch die Amiahme dieses Legates dem würdigen Testator
auch in den hiesigen großherzoglichen Museen ein Andenken zu stiften, wie es
seinen in Weimar längst gewürdigten Verdiensten um Kunst und Wissenschaft
entsprechend ist." Es befand sich übrigens unter diesen Handzeichnungen auch
ein Blatt von Goethe: Ansicht eines Teiles der Ruinen des Heidelberger Schlosses
(von Börner auf 1 Thaler 10 Groschen gewürdigt). Unter den für die Geschwister
Gutschmidt bestimmten „Pretiosen" waren außer der erwähnten Dose noch ein
zweites Geschenk der Großherzogin, ein Nadel mit Edelsteinen und Brillanten,
ferner vier Medaillen mit dem Bildnis Goethes (eine kleine und eine große
bronzene, eine eiserne und eine silberne) und eine silberne Medaille mit dem
Bildnis Wielands, unter den „Zeichnungen unter Glas," die der Kirchenrat
Meißner bekam, ein Porträt Goethes und ein Porträt Lavaters, ersteres also
doch wohl dasjenige, das ihm Goethe selbst 1816 geschenkt hatte (vergl. Bieder¬
mann II, S. 243). Die Goethebriefe wurden am 19. Januar 1843 Frau Hen-
riette Keil, geb. Löhr ausgehändigt.
Unter den Abänderungen des Kvdizills ist eine auffällig: die, welche sich
auf Dr. Fink bezieht, den bekannten Herausgeber des stets in Verbindung mit
seinem Namen genannten „Musikalischen Hausschatzes," den Nachfolger Rochlitzcns
in der Leitung der „Allgemeinen musikalischen Zeitung." Nochlitzens Freund¬
schaft zu Fink scheint also später erkaltet zu sein. Über die Ursache davon wissen
wir nichts; vielleicht waren es nur Abweichungen in ihren Kunstanschauungen,
die das Verhältnis gelockert hatten: nach allem, was wir sonst über Rochlitz
und Fink wissen, müssen sie z. B. einer Erscheinung wie Robert Schumann
grundverschieden gegenübergestanden haben.
Der Grabstein Rochlitzens wurde genau nach seiner Angabe hergestellt. Das
Grab befindet sich noch wohlerhalten auf dem alten Leipziger Johannisfriedhofe.
HM
«or hundert Jahren schrieb Lessing die seitdem oft angeführten
Worte nieder: „Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein
Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation
sind! Ich rede nicht vou der politischen Verfassung, sondern bloß
von dem sittlichen Charakter. Fast sollte man sagen, dieser sei,
keinen eignen haben zu wollen." Inzwischen ist das deutsche Volk eine Nation
geworden: es ist politisch eine Einheit geworden, und hat unter den Völkern
Europas ein Ansehen und eine Macht gewonnen, wie sie Lessing kaum geahnt
hat. Aber noch mehr. Seitdem Lessing jene schmerzlich ironischen Worte ge¬
schrieben hat, ist das Streben nach dem Besitz, nach Wiedergewinnung oder
Neubildung des Nationalcharakters herrschend für das ganze Leben unsers
Volkes geworden. Die Idee der Nationalität hat dem Jahrhundert, das zwischen
uns und Lessing liegt, den Stempel aufgedrückt. Erst uach ihm, der mit zu
jenen Heroen des dentschen Geistes gehört, welche das von den Erfolgen des
wälschen Nachbars eingeschüchterte deutsche Nationalgefühl wieder aufrichten
halfen, erst uach Lessing ist das deutsche Volk zum Nationalgefühl gelangt.
Der Begriff der Nationalität, als eines großen, geistigen und sittlichen Or¬
ganismus, ist erst in unserm Jahrhundert ausgearbeitet und mit der konkreten
Kenntnis seiner wirklichen Lebensformen ausgefüllt worden. Wir kennen jetzt
ein nationales deutsches Recht, ursprünglich deutsche Sitte, eine original deutsche
Kunst und Poesie. Lessing hatte nur die ahnungsvolle Idee einer Wissenschaft,
welche das ihm folgende Jahrhundert zu schaffen sich angelegen sein ließ: Herder
faßte zuerst den Begriff von Volkspoesie und von Volk als geistiger Einheit
überhaupt; nach ihm kamen die Romantiker mit ihrer schwärmerischen Liebe der
deutschen Vergangenheit, und aus ihren Kreisen erwuchs die Germanistik: un¬
mittelbar eine Schöpfung Jakob Grimms, die seitdem auf allen deutschen Hoch¬
schulen gepflegt wird.
Man kann also jetzt sagen, die Deutschen sind eine Nation, sie haben ein
Nationalgefühl, sie haben ein Nationalbewußtsein. Wohl darf man mit der
Sicherheit dieses Gefühls noch nicht allzugroß thun, wohl wird es noch Arbeit
genug kosten, es zu befestigen, es zu läutern, auf daß es das Volk so warm
und belebend wie das gesunde Blut den Leib des Einzelnen durchströme. Aber
Gottlob, es ist da, der Deutsche fühlt sich überall klar als Deutscher und be¬
harrt darauf.
Haben wir Deutsche aber auch ein Nattonaltheater? Diese Frage wirst
Hans Pöhnl in seinem sehr kuriosen Vorwort zu den Volksbühnenspielen auf,
die er kürzlich herausgegeben hat.*)
Es ist in der letzten Zeit sehr viel vom Theater die Rede gewesen. In
den hervorragendsten Theaterstädten, in Wien und Berlin, sind wichtige Ver¬
änderungen vorgegangen: alte Theater sind verschwunden, neue sind erstanden,
alte Direktoren sind abgetreten, neue sind aufgetreten. Da regt sich die Theater¬
lust, dort ist sie im Schwinden, hier gedeihen die Bühnen, dort vegetiren sie.
Auch im Geschmack sind Veränderungen vorgegangen: die niedere Gattung von
Bühnenwerken gewinnt das Oberwasser, Operette und Ausstattungsstück herrschen,
und die Produktion der edleren Werke, des feinen Lustspiels, des ernsten Dramas
ist ins Stocken geraten. Nur um die alltäglichen Bedürfnisse des Publikums
zu befriedigen, holte man wieder die Werke der klassischen Literaturen hervor.
In Berlin wurde Schiller neu inszenirt, in Wien wurden Sophokles und Cal-
deron zu Hilfe gerufen, und man machte gute Geschäfte dabei. Überall ein
reges Leben, ein unablässiges Grübeln und Trachten, die Forderungen der Zeit
zu befriedigen, und überall daher lebhafte Debatten, in welche Berufene und
Unberufene eingreifen, Streber, die bei solchen Gelegenheiten sich durch ein recht
ungewaschenes Maul „ohne Schminke" bemerkbar zu machen suchen, ideale
Schwärmer, welchen die Not der Zeit die seltsamsten Einfälle eingiebt, für die
sie, ohne zu überzeugen, Propaganda machen. So ist die Frage des deutschen
Theaters wieder auf der literarischen Tagesordnung, und es wird niemand
behaupten können, daß in Deutschland kein Interesse fürs Theater vorhanden sei.
Die Frage jedoch, welche Pöhnl auswirft: „Haben wir ein National¬
theater?" — diese Frage hat die andern nicht beschäftigt. Allen ist es zunächst
um die Befriedigung praktischer Bedürfntsfe zu thun: es fehlt uns an guten
neuen Stücken und wir fahnden nach ihnen. Man bespricht die thatsächliche»
Übelstände in der Geschäftsführung und in der künstlerischen Leitung der ein¬
zelnen Bühnen; da beklagt eine Partei die Zurücksetzung eines bedeutenden
Dramatikers, dort die Bevorzugung der Franzosen — kurz, es sind immer ein¬
zelne Verhältnisse, die in Betracht kommen, und alle Klagen laufen genau be¬
sehen in den einen Wunsch zusammen: die liebe Vorsehung möge uns einen
dramatischen Genius bescheeren, der nicht bloß seine Freunde, sondern auch die
Nation zu befriedigen und das Publikum ins Theater zu locken vermöchte.
Da erscheint Herr Hans Pöhnl, wirft fünf „Volksbühnenspiele" ans den
Markt und schreibt dazu eine gewaltige Vorrede, in der er den Nachweis zu
erbringen sucht, daß wir Deutsche überhaupt noch kein nationales Theater be¬
sitzen, daß hierin das A und O aller Theatermisere stecke, und daß schließlich
seine eignen Volksbühnenstücke jenes vielgesuchte erlösende Heil bringen: „Will
unsre moderne Bühne dazu berufen sein, eine deutsche Volksbühne im Sinne
eines nationalen Vildungsinstituts zu werden, so muß sie daran gehen, unser
Publikum mit diesen ^meinen, Pöhnlschen^ Dichtungen vertraut zu machen."
Zuversichtlicher kann selbst derjenige nicht sprechen, der sich als unmittelbaren
Abgesandten Gottes fühlt. Indes wir lassen uns nicht von diesem gewaltigen
Selbstgefühl abschrecken; man ist an solche Erscheinungen im Gebiete aller Künste
gewöhnt, wenn auch zum Glück die größere Anzahl von Dichtern den guten
Geschmack hat, das eigne Lob nicht den eignen Werken vorzudrucken. Und
Pöhnl hat auch seine gute Seite. Bescheiden ist er zwar nicht, aber er ist
sicherlich ein ehrlicher Mann. Man gewinnt die Überzeugung, daß ihm die
Kunst am Herzen liegt, daß er ihr sein Dasein gewidmet hat, daß er in ihr
aufgeht. Und da heutzutage in allen künstlerischen Dingen ein ideales Streben
so selten geworden ist, so thut es wohl, einem Idealisten vom reinsten Wasser
zu begegnen, mag man auch noch so bedenklich zu seiner Idee den Kopf schütteln
und am Ende die Befürchtung hegen, es sei diese Idee in seinem Kopfe zu einer
fixen geworden.
Zunächst wollen wir uns die Dramen selbst ansehen, welche der Ver¬
jüngungsquell des deutschen Nationaltheaters zu werden berufen sein sollen;
und zwar deshalb zunächst, weil man häufig die Erfahrung machen kann, daß
Theorie und Praxis eines Menschen verschieden sind, ohne daß er sich dessen
bewußt wird, daß entweder der Dichter oder der Theoretiker in demselben Manne
stärker ist, daß er trotz der fehlerhaften Theorie eine gute Praxis bekundet, oder
umgekehrt.
Die fünf Dramen Pöhnls behandeln durchweg alte deutsche Sagen, die
teils in Volksbüchern, teils in andrer Form viel verbreitet sind: das erste be¬
handelt die Sage vom armen Heinrich, welche uns Hartmann von der Ane
mit so schlichter Anmut erzählt hat; das zweite bringt die abenteuerliche Ge¬
schichte von der schönen Magelone; das dritte stellt die deutsche Wandlung
des uralten Motivs der Witwe von Ephesus dar, nämlich die Geschichte der
Gismunda; das vierte behandelt das Feenmärchen Ritter Staufenberg
und die schöne Meerfei, eine Variation der schönen Melusine, die uns durch
den duftigen Aquarellenzyklus Moritz vou Schwinds in schönster Erinnerung ge¬
blieben ist; das fünfte endlich führt in Pöhnls geliebte Heimat Wien und ver¬
herrlicht die Gestalt des lieben Augustin. Man darf Wohl annehmen, daß
diese Geschichten jedem Leser bekannt sind, und es ist daher unnötig, sie wieder¬
zuerzählen.
Es läßt sich nun gar nicht leugnen, daß Pöhnl sich in diesen Stücken als
ein begabter Dramatiker bekundet. Er versteht zu exponiren, zu spannen, drastisch
zu wirken, stimmungsvolle Szenen zu schaffen. Er weiß Charaktere einander
gegenüber zu stellen, ja sogar dichterische Symbolik kennt er. Man muß sein
Bemühen anerkennen, realistisch zu motiviren, die Menschen erst nach und nach
zur Entfaltung ihres Innersten zu leiten. Seine Gestaltungskraft ist auch nicht
unbedeutend, die leidenschaftliche Gismunda, der starre Tancred, der hypochon¬
drische arme Heinrich: das sind Menschen, die leben, denen wir nachempfinden
können. Allein nicht überall ist es Pöhnl gelungen, das wunderliche und wunder¬
bare Märchen uns, das heißt denen, die nicht mehr Kinder sind, sondern mit
nüchterner Weltkenntnis im Parterre sitzen und die Vorgänge da oben auf
der Bühne betrachten, wahrscheinlich und erträglich zu machen. Es bleibt uns
doch ein bloßes Spiel, wenn wir die herzensgute Hadwig bereit sehen, buch¬
stäblich ihr Herzblut für die Genesung des armen Heinrichs zu vergießen. Wir
wissen ja, daß es damit nicht ernst gemeint sein kann, und bleiben deshalb
kühle Zuschauer. Ebenso bei der Magelone, wo Seeräuber das junge Glück
der Liebenden stören — für unsre Weltordnung giebt es keine Seeräuber. Im
Theater sind wir Zuschauer ja auch naiv, aber doch naiv in unsrer Art, als
Kinder des neunzehnten Jahrhunderts. Wir find nicht Fanatiker des Modernen
in der Weise, daß wir auf der Bühne unsre Alltagsmisere, unsre soziale Frage,
unsern Stadtskandal, unsre allernächste geschichtliche Vergangenheit ansehen wollen.
Durchaus nicht! Wir gehen mit, wenn uns Antigone vorgeführt wird, oder
Heinrich der Löwe, oder Napoleon, wir sind gleich bereit, jede Geschichte anzu¬
hören, wenn sie nur in einer Art dargestellt wird, die unsrer Art, die Welt zu
nehmen, die Menschen zu beurteilen, entspricht. Darum hat uns die leidenschaft¬
liche Gismunda gefesselt, wenn wir auch den alten Tancred schlechtweg für einen
alten Narren halten müssen und damit viel an der tragischen Ergriffenheit ein¬
büßen. Dagegen kommt uns doch im Ritter Staufenberg die ganze Geschichte,
die auf der Bühne vorgeht, närrisch vor, höchstens ini Ballet würden wir sie
ertragen. Man denke: der edle Ritter Dimmringer von Staufenberg verliebt sich
in die schöne Wassernixe Freudilla, die am Psingstsonntag am Zwölfstein er¬
scheint. Sie wird die Seinige unter der Bedingung, daß er niemals ein andres
Weib, nicht etwa besitze, nein, nur nicht kirchlich heirate — für unser sittliches
Empfinden eine Rohheit sondergleichen. Kaum hat er diesen Eid geleistet,
so tritt der König Heinrich an ihn mit dem auszeichnenden Antrage heran,
seine Nichte Agnes zu ehelichen, als Mitgift solle sie Körnten erhalten. Staufen¬
berg sagt ja dazu, weil er nicht den Mut findet, nein zu sagen. Er fühlt
Reue, will zurücktreten, aber Ritter und Geistliche überreden ihn, der Nixe das
Wort zu brechen. Beim Hochzeitsmahl aber stirbt Staufenberg an seinem reue¬
vollen Schmerze über die verlorene Nixe, vermutlich an gebrochenem Herzen.
Und für diese kindische Geschichte will uns Pöhnl warm machen! Diese Hand¬
lung soll uns ein Bild davon geben, wie sich die deutsche Nation die sittliche
Weltordnung gedacht hat! Dieses Volksbühnenspiel soll aus dem Volksglauben
erwachsen sein, um vom kunstreichen Dichter allen Ständen der Nation, Hoch
und Niedrig, Gelehrte» und Umgekehrten, vorgeführt zu werden! Ist das nicht
gar zu läppisch?
Zu alledem kommen aber auch uoch allerlei mitlaufende Schrullen, welche
selbst die unleugbaren Vorzüge dieser Bühnenspielc aufzufinden schwer machen.
Es ist die Schrulle der germanistischen Schulmeisteret, welche Pöhnl plagt.
Haben zuweilen Lessing die Bühne zur Kanzel der religiösen Toleranz und
Schiller zur Kanzel der politischen Freiheit gemacht, so benutzt Pöhnl die Bühne
dazu, Lehrkurse über deutsche Volks- und Sagenkunde zu eröffnen. So groß
der Unterschied ist zwischen der Begeisterung, die unsterbliche Ideen entfacht,
und der Langenweile, die auf dem Katheder des Autiauars, und wärs
zehnmal ein germanistischer, lagert — so gewaltig ist der Abstand, der Pöhul
von dem ihm so verhaßten großen Schiller trennt. Die andre Schrulle, welche
Pöhnl plagt, ist gleichfalls philologischer Art. Die Sprache Schillers und
Goethes ist ihm nicht deutsch genug, der fünffüßige Jambus, der Vers unsrer
dramatischen Meisterwerke, ist ihm mich nicht national genug. Pöhnl mußte
deutscher sein, und die rechte deutsche Sprache fand er nur in den Werken von
Hans Sachs und Jakob Ayrer. Allein anstatt das Muster Goethes in dessen
Gedichten nach Hans Sachsscher Tonart zu befolgen, anstatt diese Sprache eben
nur als künstlerisches Rohmaterial zu betrachten, welches nur von dem ge¬
läuterten Geschmack der modernen Poesie fruchtbringend verwertet werden kann
(wie es z. B. auch Martin Greif nach Goethes Beispiele gethan hat, in zwei
vortrefflichen Gelegenheitsdichtungen), hat sich Pöhnl gerade mit den veralteten
und geschmacklosen Eigenheiten jener Sprache erfüllt, sodaß sein eignes härten¬
reiches holperiges Deutsch nicht als eine freischöpferische Widergeburt, sondern
als eine sklavische Nachahmung der Sprache Ayrers erscheint. Auch offenbare
grammatische Fehler ahmt er nach. So heißt es im „Staufenberg":
Gott sei Dank, euch Schmuck ich wieder
An meine Brust, liebwerte Brüder. (II, S. 1S3.)
Oder einige Seiten später:
Der Dritte den Geldbeutel erworb,
Der Vierte einen Eierkorb. (II, S. 168.)
Oder:
Er hat ein Madchen aufgegessen
Und ihre Zopf' sind ihm geschloffen
Zur Nah' heraus, dörr' sie am Ofen. (II, S. 159.)
Oder mau höre eine beliebige Stelle ans dem „armen Heinrich," um von dem
polternden Ton der Rede selbst an lyrischen Stellen ein Bild zu gewinnen.
Der Turmwächter „Berthold spricht mit tiefernstem, aber männlichstarkem
Humor" beim Aufgehen des Vorhanges im ersten Akt:
Halai! Der junge Tag ist flügg',
Schlägt jach der Nachtwolk' ins Genick
Die blut'ge Goldklau! Droht uns Sturm?
Bausback'ger Riese, schnaub' vom Turm
Pechschwarze Flagg' und Wetterhahn!
Sturz um! Reiß aus! Wen ficht es an?
Allein sind wir zwei alte Knaben
Mit unsrer Sipp, Nachteul' und Raben.
Verdorben, was das Glück erworben,
Heißt's hier, und da ist bald gestorben!
Halai! Was sich vernehmen läßt,
Hcrzjnmmer heult und Trübsal bläst. (I, S. 143.)
Und von solchem Gestammel behauptet Pvhnl in seiner Vorrede: „Dieses
Publikum, welches »Ekkehard« versteht und Grimmsche Märchen begreifen kann,
muß auch jene Sprache verstehen, wie sie z. B. aus dem armen Heinrich Hart¬
manns von der Ane in mein Bühnenspiel hinttberflutct." Verstehen wird man
ja schließlich dieses apostrophirte, konsonantenrcichc, paläontologische Deutsch zur
Not, aber Geschmack wird man nicht daran finden, und an die sprachschöpferische
Prosa der Grimmschcn Märchen reicht Pöhnl auch in seinen besten Stellen nicht
hinan. Vor allem haben die Brüder Grimm nicht das Altertümliche mit dem
nationalen verwechselt, sie haben in ihrer Sprache die Überladung an Bildern
vermieden und nicht in der Unbeholfenheit und Schwerfälligkeit des Ausdrucks
seine Volkstümlichkeit gesucht. Dasselbe gilt von Scheffels „Ekkehard."
So ist es also mit den Dramen Pöhnls nach einer unparteiischen Be¬
trachtung bestellt. Er ist keineswegs ohne Begabung, er versteht auch das
Handwerk, welches beim Bühnendichter so wichtig ist, in ausreichendem
Maße. Auch nicht die Wahl seiner Stoffe ist es, die Widerspruch hervorruft,
denn diese Wahl bleibt jedem Dichter ganz frei gestellt, und wenn Römer,
Griechen, Spanier, Engländer auf der deutschen Bühne sich tummeln dürfen,
so ist auch Platz genug für die alten Deutschen und für die Gestalten des
deutschen Märchens und der deutschen Sage. Nur ist ein Bühnenspiel noch
nicht deswegen national, weil deutsche Helme und blonde Zöpfe zur Schau
getragen werden und eine Sprache geradebrecht wird, wie sie vor dreihundert
Jahren in einer unfertigen Literatur üblich war.
Und damit haben wir auch die Antwort auf das Vorwort gegeben, welches
Pöhnl, aller literarischen Tradition, ja allem literarischen Auslande Hohn
sprechend, geschrieben hat. Auch hier ist Wahrheit und Unwahrheit, Treffendes
und Übertriebenes bunt durcheinander geworfen. Pöhnl geht von der richtigen
Beobachtung aus, die schon Unzählige vor ihm gemacht haben, daß sich unsre
Literatur in eine für die Gebildeten und in eine für die Ungebildeten scheide;
wenige Dichter vermögen beide Volksschichten zu befriedigen, wie Uhland, Reuter,
Jeremias Gotthelf, Raimund und noch einige wenige, zu denen man aber
Schiller und Goethe nicht zählen kann. Daraus aber vorschnell den Schluß
zu ziehen, daß Schiller und Goethe, weil sie nicht volkstümlich im Sinne der
Genannten, daher auch nicht nationale Dichter seien, ist doch ein offenbarer
Irrtum, und mit diesem Gruudirrtum operirt nun Pöhul in der unseligsten
Weise. Er beruft sich auf Jakob Grimm, der sagte: „Wenn dichtende und
bildende Kunst sich aus dem Volksglauben erhebeu, so schmücken und schützen
sie ihn durch unvergängliche Werke." Folgt daraus, daß die Künste im Volks¬
glauben aufzugehen haben, um national zu sein? Nein, nicht im entferntesten,
und es ist auch niemals Jakob Grimms Meinung gewesen, der Goethe so sehr
zu schätzen wußte. Pöhul aber ist ein fanatischer Anhänger dieses Volks¬
glaubens; um ihn wieder lebendig zu sehen, wäre er gern bereit, das ganze
Christentum und die ganze Kultur des letzte» Jahrtausends zu opfern. Den
Zwiespalt in der deutschen Geistesbildung erkennt er wohl, aber statt sie in
ihrer geschichtlichen Notwendigkeit zu erfassen, statt die Denker zu ehren, welche
unerschrocken weiter dachten, nachdem einmal der Volksglaube wurmstichig ge¬
worden war, schlägt sich Pöhnl auf die Seite des Altertums und wird ein Don
Quixote der Germanistik. Aristophanes. der die alten Götter gegen die Skepsis
des Sokrates in Schutz nahm, er ist Pöhnls Vorbild — auch eine antiquarische
Schrulle. Während der zweitausend Jahre hat aber die Menschheit den Sokrates
mehr als den Aristophanes verehrt, und sagt nicht Pöhnl selbst: „Und was
alle behaupten, muß doch einleuchtender sein, als eine Weisheit, die irgend ein
genialer Gründling so über Nacht aus dem Finger saugt"? Folglich ist Pöhnl
ein Gründling, und die mißachteten Kant und Hegel waren Genies. Nur dieser
Umstand läßt ihn übersehen, daß der deutsche Volksglaube durch das Christen¬
tum zwar nicht verdrängt, aber doch gewiß auf die dunkelsten Volksweise be¬
schränkt wurde, daß der mythologische Gehalt der altererbter Sitten dem Volke
im Laufe der Zeiten ans dem Bewußtsein geschwunden ist, daß die Rekonstruktion
jenes ganzen Gebäudes halb heidnischer, halb christlicher, halb abergläubischer
Weltanschauung nur im germanistischen Seminar möglich ist, und daß jene
Motive nur dann poetisch brauchbar sind für unsre Zeit, wenn wir sie im
vollen Bewußtsein ihrer Kindlichkeit, mit der ganzen Ironie unsrer Bildung cm-
schauen (Gottfr. Kellers „Legenden"). Die Versuche Richard Wagners, die
Götterwelt der Edda bühneufähig zu machen, sind gänzlich mißglückt, sie glitten
an dem Nationalbewußtsein der Gegenwart spurlos ab, und selbst der „Parsifal"
in seiner geschmacklosen Verquickung von Schopenhauer und Evangelium hat
nur die Wagnerianer, aber nicht die deutsche Nation gerührt. Und doch ver¬
steigt sich Pöhnl zu folgender tollen Zusammenstellung: „Die unbefangene
Welt- und Naturanschauung war nicht die künstlerische Lebensaufgabe dieses
Dreigestirns: Schiller gab der Nation die politische Freiheit, Goethe vernichtete
das zopfige Philistertum, Richard Wagner, der größte deutsche Kulturheros
unter den dreien, erweckte unser deutsches Nationalbewußtsein."
Von diesem engherzigen Begriff des nationalen aus und mit der blind¬
wütigen Gehässigkeit eines Fanatikers hält nun Pöhnl Rundschau über die Ent¬
wicklung des deutschen Theaters seit Lessing. Die Urteile, die er über Schiller
und Goethe von seinem „nationalen" Standpunkte fällt, wetteifern an Haß mit
denjenigen, welche etwa die Jesuiten über unsre Klassiker niederschrieben. Goethe
ist für diesen Anwalt unsrer Nationalität überhaupt „deutsch und menschlich
verständig" nur dort, wo er Hans Sachs nachahmt. Goethe ist nach Pöhnls
Urteil nur Nachahmungsvirtuose: „seine deutschen Lieder sind zumeist überzierte
Volkslieder, daneben stellen sich die römischen Elegien nach Properz, die vene-
tianischen Epigramme nach Martial, Sonette nach Petrarka, der Divan nach
Hafis, Hermann und Dorothea nach Vossens Luise, die Achilleis nach der Ilias,
Reineke Fuchs nach dem Volksbuch" u. s. w. Pöhul zählt alle Werke auf und
findet überall Goethe als Nachahmer von Dichtern wie Voß! Eine andre
„nationale" Auslassung: „Man hat uns von vielen Seiten klar machen wollen,
Goethe habe in seinen Frauengestalten das Ideal deutscher Weiblichkeit ge¬
schaffen! Das deutsche Weib! die mit dem Manne ins Schlachtfeld zog, die
Leib und Leben opferte, um die Sittenreinheit ihrer Seele zu wahren, sollte
sich in Gretchen, Klürchen, Ottilie wieder erkennen?" Pöhnl möchte am liebsten
wieder ein Bärenfell tragen und mit Büffelhörnern sein Haupt schmücken, haben
es doch die alten Germanen so gemacht! Für Pöhnl ist Goethe — derselbe
Goethe, in dessen sittlicher Weltanschauung die Pietät, die Ehrfurcht, der Glaube
an das Dasein eines unfaßbarer höchsten Wesens eine so hohe Bedeutung
hatten — nichts als der „frivole deutsche Voltaire"! Was für Blasen doch
der Fanatismus treibt! Wie roh Pöhnl in seiner thörichten Überschätzung des
Volkstümlichen werden kann, offenbart folgende Äußerung, die selbst den in
„deutschen" Versen geschriebenen „Faust" angreift: „Faust hat sich nach dem
Volksbuch dem unfruchtbaren Bücherstudium ergeben, er verkehrte nicht mit der
Welt. So kam es, daß den Einsamen allerlei Teufel ansonsten. Er krankte
an Übersinnlichkeit. Bekanntlich verbot der Teufel seinen Werkzeugen, das Sakra¬
ment der Ehe einzugehen. Faust buhlt mit einem Gespenst, der Helena. Der
Mythos verzeichnet eine psychologische Thatsache in selbstredender Form. Ich
werde das Ding nicht beim Namen nennen, das der Volksglaube eben darum
mystisch gestaltete, daß es unausgesprochen bliebe." Also Goethe hat die Faust¬
sage gar nicht verstanden, wenn er sie als den poetischen Ausdruck des Titanis¬
mus auffaßte; für Pöhnl ist das Motiv rein pathologischer Natur. Und das
wäre dann nationale Poesie? Dieser naturalistische Zug fehlte gerade noch.
Ich denke, diese Proben von Pöhnlscher Literaturgeschichte werden genügen.
Nicht glimpflicher kommen Schiller, Grillpcirzer, Kleist, Hebbel weg, darum nicht,
weil sie nicht durchweg „nationale" Stoffe behandelt habe». Merkwürdig ist
Pöhnls Schwärmerei für Lessing: eine von seinem Standpunkte ganz unbegreif¬
liche Liebe. Wieviel Schnitzer sich Pöhnl in rein historischen Thatsachen zu
Schulden kommen läßt, wie er in seinem Haß Geschichte fälscht (z. B. „Im
Handumdrehen spricht aus Karl Moor dem Räuber Professor Schiller über
das Ideal der Humanität"'; oder: „In eben der Weise, als Lessing von Werk
zu Werk an Kunstfertigkeit zunimmt, schrumpft Schillers Potenz von Werk zu
Werk zusammen" — so! als ob „Tell," „Demetrius" nicht Schillers letzte
Arbeiten wären!) — dies wollen wir nicht weiter ausführen. Alle seine schiefen
Urteile zu wiederholen und zu beleuchten, lohnt wahrlich die Mühe nicht. Seine
ganze Dramaturgie, soweit sie richtig ist, hat Otto Ludwig vorweg genommen,
und was er nicht von diesem gelernt hat, ist original Pöhulschc Schrulle. So
schlau ist dieser neue Prophet aber auch, sich mit den zeitgenössische» Macht¬
habern der Bühneuwelt auf leidlichen Fuß zu stelle«. München ist natürlich
die deutscheste Stadt, weil es seinen „Armen Heinrich" aufgeführt hat und der
Regisseur Savits, der das Stück ins Szene setzte, ist der nationalste Mann u. s. f.
Der Schluß ist: wir besitzen kein Nationaltheater, wir stecken in der „Kunst¬
simpelei," weil wir nicht Hans Sachs, Jakob Ayrer, Nestroy und Hans Pöhnl
spielen. Es ist die Schule Richard Wagners, die aus diesem Tone sprechen
lehrte. Aber Wagner war doch wenigstens ein produktiver Künstler, er setzte
nicht einen Stolz darein, sich mit dem Erzeugnisse toter Dichter zu schmücken,
wie Pöhnl es von sich rühmt, kein Bild zu gebrauchen, das nicht bei Haus
Sachs oder Ayrer zu finden wäre. Wagner hatte das volle Gefühl seiner
Gegenwart, war ein lebendiger Mensch, bei all seinen Schrullen: Pöhnl leidet
am Atavismus. Darum wird ein richtiger Grundgedanke von ihm verzerrt
und karrikirt. Er selbst ist eine Verkörperung aller unklaren Bestrebungen unsrer
Zeit; der ehrliche Wille, den wir ihm nicht absprechen wollen, steht bei ihm im
Dienste eines verschrobenen Geistes und im letzten Grunde — seiner dichterischen
Ohnmacht.
er Aufenthalt in Merseburg hatte ziemlich lange gedauert. Ich
würde vielleicht der Menge gegenüber doch einigermaßen die Ruhe
verloren haben, wenn ich nicht jeden Augenblick gehofft hätte,
daß der Zug abgehen und mich der Gefahr entziehen würde.
Aber nein, die Beamte» hatten Gefallen an der Szene gefunden
und wollten sie ausspielen lassen; ohne die Dazwischenkunft des vernünftigen
Bürgevwchrkvmmandantcu hätte es nur schlecht ergehen können.
Einen erneuter längern Aufenthalt in Magdeburg benutzte ich dazu, einige
gewöhnliche Kneipen zu besuchen, um mich über die Volksstimmung zu unter¬
richten. Der Befehl zur Einberufung der Landwehr war eben angekommen.
Überall hörte ich die Äußerung: „Die Wehrmänner werden doch nicht so dumm
sein und sich einkleiden lassen?"
Abends erreichten wir Berlin. Ich fuhr sogleich zum Grafen Branden¬
burg. „Nicht zu Hause; im Kriegsministerium." Dort fand ich Flur, Treppen
und Hofraum mit einer Kompagnie der Gardejüger besetzt und drängte mich nach
einem Saale durch, in welchem mich der Oberst von Griesheim, damals Untcr-
stacitssekretcir im Kriegsministerium, empfing; er bat mich, etwas zu warten,
da das Ministerium gerade Sitzung habe. Wir nahmen beide auf einem Sopha
Platz, und ich lernte einen tüchtigen Mann kennen, der voll des besten Mutes
war. Er erzählte mir, das Ministerium habe sich für permanent erklärt, die
Herren blieben Tag und Nacht in diesem Hause zusammen (ich glaube, es waren
erst drei oder vier Minister in Berlin: Brandenburg, Manteuffel, Stockhausen
und vielleicht Rabe), sie hätten sich ihre Frauen und Bedienungen, auch Köche
hierher kommen lassen, da sie es jetzt noch nicht wagen dürften, sich auf der
Straße zu zeigen. Das müsse durchaus bald anders werden. In den Pro¬
vinzen habe man die Landwehr einberufen; wo diese sich schwierig zeige, würden
Linicnbataillone nachhelfen. Mohne Kolonnen sollten das Land durchziehen
und der Schlange des Aufruhrs den Kopf zertreten; der Geist der Ordnung
und Gesetzlichkeit müsse wieder hergestellt werden.
Inzwischen erschien Graf Brandenburg. Er trug mir auf, mich uach der
Sitzung, die bald geschlossen werden würde, zu Herrn von Manteuffel zu be¬
geben, welcher beauftragt sei, mir die nötigen Eröffnungen zu machen. Dies
geschah; aber es war Unerwartetes, was ich erfuhr. Herr von Manteuffel
erklärte mir: Wrangel sei zum Militärgouverneur über die Marken ernannt;
man habe nun allerdings noch vor kurzem die Absicht gehabt, ihm einen Zivil¬
gouverneur in meiner Person an die Seite zu stellen, und dazu sei ich einberufen
worden. Neuerdings aber hätten König und Ministerium einen andern Beschluß
gefaßt. Wrangel sollte mit unbeschränkter Gewalt seine Aufgabe erfüllen, ihm
untergeordnet sollte der Polizeipräsident von Berlin sein, Obcrrcgierungsrat
von Hinckeldey aus Merseburg, dem dieser Posten übertragen worden sei. Ich
könnte unter diesen Umständen zurückreisen, möchte mich aber vorher noch beim
Grafen Brandenburg melden. Das that ich am folgenden Tage; er sagte mir
dasselbe und schlug mir schließlich vor, wahrscheinlich mir um mich für meine
vergebliche Neise zu entschädigen, ob ich die Stelle des Unterstaatssekretärs im
Handelsministerium annehmen wollte. Ich lehnte jedoch ab, weil mir die Vor¬
bereitung für solchen Dienst fehlte.
Abends vorher hatte ich noch meinen Bruder aufgesucht, der eben mit den
Garden aus Schleswig zurückgekehrt war; das Bataillon „Kaiser Franz," bei
welchem er stand, lag im Seehandlungsgebäude, wo ich ihn endlich in einem
großen Saale fand; sämtliche Offiziere lagen, mit ihren Mänteln zugedeckt, auf
einer Streu und schliefen vortrefflich; ich mußte meinen Bruder erst längere
Zeit rütteln, ehe er erwachte und meinen Gruß erwiedern konnte.
Ich war nun in Berlin fertig und hätte nach Frankfurt zurückkehren
können, benutzte aber die Nähe meiner Heimat, um dorthin einen Abstecher zu
machen. Am 6. Dezember wurde mir dort ein Töchterchen geboren. Gleich
darauf wurde im Lande die oktroyirte Verfassung vom 5. Dezember publizirt;
auf Grund derselben fanden im Januar 1849 neue Wahlen statt, die nicht viel
besser ausfielen, als die frühere». Diese Verfassung ist längst cmtiquirt; daher
kann ich es mir erlassen, sie näher zu beleuchten, doch will ich hier eines Wortes
gedenken, das Radowitz in Frankfurt über sie zu mir sagte. Er war im No¬
vember in Berlin gewesen und hatte sie mit beraten helfen. „Sie soll," sagte
er, „der erste Schritt zum bessern sein, aber sie ist noch immer zu unpraktisch
ausgeklügelt; zu theoretisch-liberal, als daß ein preußischer König damit regieren
könnte. Das wird das Volk, wenn es erst zur Besinnung kommt, schon selber
einsehen; in einer bessern Vertretung wird es der Krone manches Recht zurück¬
geben, welches ihr jetzt genommen oder allzusehr beschränkt ist. Dann erhalten
wir auf gesetzmäßigem Wege eine Verfassung, die auch ein König mit gutem
Gewissen beschwören kann." Und so geschah es im Jahre 1850.
Nachdem ich zwischen Weihnachten und Neujahr mein Töchterchen hatte
taufen lassen, reiste ich nach Frankfurt zurück. Der erste Bekannte, dem ich
dort begegnete, war mein Freund Arneth aus Wien. Er fragte mich: „Wo
kommen Sie her?" — „Aus meiner Heimat." — „Auch ich war zu Hause;
ich habe taufen lassen." — „Ich auch. Knabe oder Mädchen?" — „Ein Knabe.
Und bei Ihnen?" — „Ein Mädchen. Wie haben Sie Ihren Knaben genannt?" —
„Max. Und Sie Ihr Töchterchen?" — „Thekla."
In Frankfurt hatte sich das Leben etwas geändert; man fing an, aufzu¬
atmen, teils weil man nun schon in Deutschland Regierungen wußte, die den
Mut und die Kraft hatten, zu ihren Pflichten zurückzukehren, teils weil man
den Unsinn der radikalen demokratischen Bestrebungen in immer weitern Kreisen
erkannte. Die Verhandlungen in der Paulskirche wurden weniger langweilig.
Die schier endlose Beratung der Grundrechte lag hinter uns, man ging zur
Verfassung über, und dieser Übergang von der Phrase auf ein rein praktisches
Gebiet hatte die Herren Theoretiker mundtot gemacht; man hörte keine stunden¬
langen Reden mehr. Zwar siegte bei allen Abstimmungen immer noch die
Linke, so daß auch die Verfassung recht kläglich ausfiel; die Rechte begriff aber,
daß eine solche Verfassung in Deutschland niemals Eingang finden würde, und
besonders aus diesem Grunde wurde sie ruhiger und zuversichtlicher. Ja es
kam schou vor, daß Leute, die nach den Septemberereignissen der Rechten treulos
geworden waren, jetzt zu ihr zurückkehrten.
Unter solchen Umständen näherten wir uns dem Ende unsrer Verhand¬
lungen. Der König von Preußen war bereits zum erblichen Kaiser des deutschen
Reiches gewählt worden. Das konnte man sich immerhin gefallen lassen; aber
es blieb fraglich, ob der König eine Verfassung annehmen und beschwören konnte,
welche noch keiner einzigen deutsche» Regierung, weder den Fürsten noch den
freien Städten, zur Begutachtung vorgelegen hatte. Um ihm solchen Entschluß
zu erleichtern, machte die Rechte einen Versuch, die Fürsten durch Vertrauens¬
männer zu einer Reise nach Berlin und zur Huldigung zu bestimmen. Dieser
Versuch mißlang. Nur die beiden Fürsten von Hohenzollern ließen sich bereit
finden; ja sie gingen noch weiter, indem sie ihre Kronen dem König zu Füßen
legten, worauf ihre Länder der preußischen Monarchie einverleibt wurden. Die
übrigen Fürsten lehnten unsern Vorschlag durchaus ab. Nun war ja mit
Bestimmtheit vorauszusehen, daß die Paulskirche die von ihr beschlossene Ver¬
fassung publiziren und dem Lande wie den Fürsten zu oktroyiren versuchen
würde. So kam es auch. Noch in der letzten Sitzung half ich einen Antrag
einbringen, der von Nadowitz und andern Mitgliedern der Rechten unterzeichnet
war: das ausgearbeitete Verfassungswerk zuerst allen deutschen Regierungen zur
Begutachtung vorzulegen. Das wurde natürlich abgelehnt. Unter Glocken¬
geläute wurde die neue Verfassung ausgerufen und der Beschluß gefaßt, eine
aus wenigstens fünfzehn Mitgliedern bestehende Deputation sofort nach Berlin
zu senden, die dem König die deutsche Kaiserkrone aufs Haupt setzen solle. Die
Antwort des Königs war vorauszusehen, dennoch war ich begierig, Form und
Begründung der Ablehnung zu erfahren; deshalb eilte ich der Deputation voraus
nach Berlin. Die äußerste Rechte war in der Frage, ob die Kaiserkrone anzu¬
nehmen oder abzulehnen sei, geteilter Ansicht; ich selbst — das bekenne ich
offen — habe eine Zeit lang die Annahme gewünscht, weil ich die Beseitigung
der wirren Zustände in Deutschland für dringend notwendig und unsern König,
als den mächtigsten deutschen Fürsten, für allein befähigt hielt, diese schwierige
Aufgabe zu lösen; ich hoffte im Stillen, daß er vielleicht doch noch annehmen
und später sein Verhältnis mit den übrigen deutschen Fürsten regeln würde.
Durch meine Bekanntschaft mit einem Grafen Keller, der mir eine Empfeh¬
lung an seinen Bruder, den Hofmarschall, mitgab, gelang es mir, einen Platz,
ich kann wohl sagen einen Versteck in dem silbernen Balkon des Rittersaales
zu gewinnen, von wo aus ich jedes Wort der Ansprache und der königlichen
Erwiederung hören konnte. Simson hielt in wohlgesetzter schwungvoller Rede
die feierliche Ansprache. Des Königs Antwort ist bekannt; sie war hinreißend
schön und mußte auch den überzeugen, der aus obengenannten Gründen die
Annahme im Prinzip gewünscht hatte.
In jenem Balkon befanden sich mit mir noch zwei andre Herren, von
denen mir einer bekannt war; es war der Gemahl meiner Reisegefährtin von
Eisenach nach Merseburg, ein angesehener Bankier ans Frankfurt und Mitglied
der Paulskirche; Gott weiß, durch welche Verbindungen er sich das Plätzchen
im Balkon verschafft hatte. Der andre Herr war mir damals noch unbekannt.
Beim Heraustreten sagte der Frankfurter Geldmann in höchster Aufregung:
„Jetzt ist alles verloren! Jetzt wird die Revolution an allen Ecken Deutschlands
losbrechen; wir werden jämmerlich untergehen!" — „Nein, erwiederte ich, es
ist nichts verloren. Wohl uns, daß wir einen solchen König haben! Bricht
irgendwo eine Revolution aus, so wird unser treffliches Kriegsherr sie nieder¬
schlagen; diejenigen aber, welche die Revolution schüren, werden wir mit eignen
Händen aufhängen." Der unbekannte Herr trat nun an mich heran, drückte
mir die Hand und sagte warm: „Solch kräftiges Wort habe ich lange nicht
gehört; wir müssen Freunde werden; darf ich um Ihren Namen bitten?" Auf
diese Weise machte ich die Bekanntschaft des Oberstkümmerers Grafen von Redern.
Enttäuscht und niedergeschlagen kehrte die Parlamentsdeputativn nach Frank¬
furt zurück. Ich blieb noch einige Tage in Berlin und benutzte diese Zeit, um
das Abgeordnetenhaus kennen zu lernen, welches einberufen war, die oktroyirte
Verfassung vom 5. Dezember 1848 zu beraten. Die Einberufung war offenbar
zu früh geschehen; das Land war noch viel zu wenig beruhigt, um verständige
Wahlen treffen zu können; die Zusammensetzung war daher eine möglichst un¬
glückliche. Nachdem des Königs Antwort an die Frankfurter Deputation be¬
kannt geworden war, hörte man dort Reden, die der Paulskirche würdig waren,
ja diese noch übertrafen. Ich erinnere mich einer Szene, die folgenreich war.
Der Abgeordnete von Bodelschwingh, bis zum 18. März 1848 Minister, betrat
die Tribüne, um einigen Exaltados zu antworten. Er führte aus, daß es dem
Könige ein leichtes gewesen wäre, den ruchlosen Aufstand am 18. März nieder¬
zuschlagen, daß er aber in seiner unendlichen Milde jedes fernere Blutvergießen
hätte vermeiden wollen und deshalb die Truppen zurückgezogen hätte. Da tobte
die Linke: „Das ist eine Lästerung der ruhmreichen Revolution, herunter von
der Tribüne!" Bodelschwingh blieb ruhig stehen, und nun erhob sich ein Tumult,
wie ich ihn selbst in Frankfurt nicht erlebt hatte. Da sprang ein Abgeordneter
(von Kleist-Retzow) zum Präsidenten hinauf und drückte diesem den Hut auf
den Kopf. Das war nach parlamentarischem Brauch das Zeichen, daß die
Sitzung geschlossen sei. Der Präsident verkündete die nächste Versammlung auf
nachmittags vier Uhr. Ich war wieder dort. Bodelschwingh bestieg die Tribüne
und beendete den vormittags angefangenen Satz uneingeschüchtert und in zäher
Entschlossenheit. Das Haus hielt sich jetzt so ziemlich in seinen Schranken.
Beim Herausgehen sagte ich aber zu meinem Begleiter: „Ich glaube, die Herren
Abgeordneten können die Koffer packen." Am folgenden Tage wurde der Landtag
aufgelöst. Auch ich reiste in meine Heimat.
Nachdem die Deputation nach Frankfurt zurückgekehrt war, wurden die
Verhandlungen in der Paulskirche fortgesetzt. Zum Teil wurden die bis dahin
zurückgelegten Petitionen beraten, in der Hauptsache aber erwogen, was nun in
dieser ungewissen Lage zu thun sei. Die unglaublichsten Reden wurden gehalten,
die tollsten Beschlüsse gefaßt, die blutigste Revolution gepredigt. Da rief der
König die preußischen Abgeordneten zurück. Nun maßte sich die Versammlung
das Recht an, darüber zu entscheiden, ob der König zu solcher Rückberufung
überhaupt ein Recht habe, und entschied sich natürlich für „Nein." Die steno¬
graphischen Berichte weisen nach, daß diese Frage zur namentlicher Abstimmung
kam und von vier- bis fünfhundert Stimmen verneint wurde; nur ein einziger
(von Treskvw-Grocholin) hatte den Mut, laut und bestimmt „Ja" zu rufen.
Viele Preußen blieben dort; einige kehrten zurück.
Als ich diese Verhandlung auf meinem Gute in den Zeitungen las, schrieb
ich sofort an den Präsidenten: Ich könnte es mit meinen Pflichten als preußischer
Unterthan nicht vereinigen, einer Versammlung, die so abgestimmt hätte, länger
anzugehören. Ich trat aus und übernahm wieder meine Landratsgeschäfte.
tammverwandtschaft und Waffenbrüderschaft mit England ist eine
Losung, an der die Preußen, die selbst oder deren Vater bei
Belle-Alliance gefochten hatten, sich lange Zeit zu erwärmen
liebten. Wer im Verkehr mit Engländern oder durch unbefangenes
Lesen ihrer Zeitungen und Geschichtswerke beobachtet hatte, wie
die Zuneigung, die sich in diesen Worten ausspricht, auf der andern Seite auf¬
genommen wurde, der wußte, daß man sich dort Preußens und Deutschlands
nur dann freundlich erinnert, wenn man ihrer bedarf, und daß der durchschnitt¬
liche John Bull ungefähr den Eindruck hatte, wie wenn el» bestäubter Wan¬
derer dem Vorübergehenden zuruft: Der Herr da mit dem prächtigen Ge¬
spann ist mein Vetter! Das Bild ist nicht zu stark; ist doch in dem Brief¬
wechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen zu lesen, daß der König, der in
der Neuenburger Sache, nach der Fcbruarreovlution, nach dem 2. Dezember
immer wieder ans England Hoffnungen setzte, die immer wieder getäuscht wurden,
im Jahre 1862 seinem Freunde schrieb, man habe in London seine, des Königs,
Anmahnmigen „wie das Gebell eines Hündchens überhört."
Das jüngere Geschlecht hat angesichts der Ereignisse, welche es erlebt hat,
vor den Erfahrungen, welche es macht, und in dem berechtigten Selbstgefühl,
in welchem es aufwachsen konnte, den Geschmack an solchen Artigkeiten verloren,
man durfte sie für abgethan halten. Seit einiger Zeit spukt aber die alte
Redensart wieder, meistens in Verbindung mit einer Schönmalerei der heutigen
Zustände und der früheren Politik Englands. Wenn nun im Nachstehenden der
Versuch gemacht wird, sie auf ihren Grund und die darin steckende Erwartung
auf ihren Wert anzusehen, so liegt die Absicht fern, in dem Leser Verstimmung
gegen das englische Volk zu erregen. Mag jeder lieben und hassen, wen er will,
und seine Freundschaften mit Engländern schätzen und Pflegen, aber, wenn er
über Staatsangelegenheiten redet oder denkt, sich gegenwärtig halten, was der
einst von den deutschen Liberalen gefeierte und mit mancher Liebeserklärung be¬
ehrte Lord Palmerston wenige Tage nach der Februarrevolution im Unterhause
sagte: „Was die romantische Vorstellung betrifft, daß Völker oder Regierungen
erheblich oder dauernd durch Freundschaft und Gott weiß was sonst beeinflußt
werden, so sage ich, daß diejenigen, welche solche Vorstellungen hegen und den
Verkehr zwischen Einzelnen auf den Verkehr zwischen Völkern anwenden, sich
in einem leeren Traum ergehen."
stammverwandt sind die Norddeutschen auch und noch mehr mit den
Holländern, den Vlamländern, den Dänen, den Schweden, den Norwegern; aber
der Verwandtschaft mit ihnen wird nur auf wissenschaftlichem Gebiete gedacht,
in der Völkerkunde, der Sprachlehre. Mit den Dänen haben wir Kriege führen
müssen. Die Holländer sind in den oberen Stünden unterrichtete und umgäng¬
liche Leute; aber trotz der Verwandtschaft mit uns sind sie in der Verfolgung
ihrer Interessen zuweilen recht unangenehme Nachbarn gewesen und haben sich
von ihrer verstorbenen Königin, einer Deutschen, einreden lassen, daß wir uns
mit feindlichen Absichten gegen sie trügen. Die Schweden waren 1813 Waffen¬
brüder der Preußen und wären 1864 gern Waffenbrüder der Dänen geworden,
wenn sie sich stark genug dazu gefühlt hätten. Sie alle haben sich durch ihr
Interesse, wie sie es eben verstanden, bestimmen lassen. Und haben es die Eng¬
länder jemals anders gemacht?
Der vor wenigen Jahren veröffentlichte Schriftenwechsel zwischen der Ber¬
liner und der Londoner Regierung zeigt, daß die letztere unter Zustimmung der
öffentlichen Meinung unsern Versuchen, etwas von der Welt, die noch nicht weg¬
gegeben ist, zu erwerben, mit Anmaßlichkeit, Mißgunst und Hinterlist begegnete,
bis endlich sehr deutsch mit Lord Granville gesprochen und ihm begreiflich ge¬
macht wurde, daß er Deutschlands auf andern Gebieten bedürfte. Auch nachdem
die Abgrenzung geschehen ist, haben unsre Landsleute jenseits der Meere sich
von den Engländern eines nichts weniger als verwandtschaftlichen Verhaltens
zu versehen.
In dem Kriege von 1870 und 1871 beobachtete England eine Neutralität,
die mit dem Buchstaben des Völkerrechts verträglich war, sachlich aber sich als
eine Begünstigung unsers Feindes darstellte. Während damals unsre junge
Flotte, abgesehen von dem kühnen Streifzuge des Kapitäns Weikhmann mit der
Korvette „Augusta," die See gegen die Franzosen nicht halten konnte, versah
England die letztern mit allen möglichen Kriegsbedürfnissen, erklärte sich
freilich bereit, uns ebenso zu versorgen, wenn wir den Waffenfabriken von
Birmingham etwas zu verdienen geben wollten. Ja es ist uns ein Fall er-
innerlich, wo die englische Regierung Frankreich zu Gefallen nicht nur eine
ausdrückliche Vorschrift des Völkerrechts verletzt, sondern auch ihren eignen
Hoheitsrechten etwas vergeben hat. Ein deutscher Kauffahrer wurde innerhalb
der englischen Hoheitsgrenze, dicht unter dem hohen Vorgebirge Veechy Head,
auf dem sich eine Küstenwache befindet, von einem französischen Kreuzer auf¬
gebracht. Man hat aber nie gehört, daß die Reklamationen der deutschen Ne¬
gierung, die doch sicher nicht ausgeblieben sind, einen Erfolg gehabt hätten.
Thatsache ist, daß die englische Negierung die französische nicht veranlaßt hat,
die auf englischem Gebiete gemachte Prise freizugeben. Portugal und Spanien
haben während jenes Krieges aus die Gefahr eines Konfliktes mit Frankreich
hin über Beobachtung des Völkerrechts und Achtung ihres Gebietes gewacht.
Als die alte und schwerfällige preußische Korvette „Arkona" von einem fran¬
zösischen Geschwader bis in die spanischen Gewässer vor Vigo verfolgt worden
war, legte der spanische Panzer „Numancia" sich vor das preußische Schiff.
Freilich fehlte es nicht an Sympathie einzelner; Thomas Carlyle erhob seine
mächtige Stimme für unsre gerechte Sache, und wie es die Gepflogenheit der
Parteiregieruug mit sich bringt, hatten die Toryblätter hin und wieder ein Wort
des Tadels für das damalige liberale Ministerium. Ob wir aber besser ge¬
fahren wären, wenn Veaconsfield am Ruder gewesen wäre und seinen Plan
einer intimen, neutralen, aber bewaffneten Allianz mit Rußland, von dem Gran-
ville 1878 einer Deputation von Manchestermännern erzählte, zur Aus¬
führung gebracht hätte, das steht dahin.
Weiter rückwärts schreitend kommen wir zu der Schleswig-holsteinischen
Sache, die in den Krieg von 1866 auslief. Die Londoner Presse Pflegt heute
die Verantwortlichkeit für die damalige Haltung Englands dem verstorbenen
Palmerston aufzubürden und mag bei ihren Lesern, welche für die auswärtige
Politik ein erstaunlich kurzes Gedächtnis haben, Glauben finden. Allerdings
hat er 1853 mit der ihm eignen Insolenz erklärt, es sei das Geschäft Eng¬
lands, zu verhüten, daß die Herzogtümer von Dänemark getrennt würden; aber
alle seine Nachfolger im Auswärtigen Amte dachten ebenso, und die öffentliche
Meinung war einverstanden, weil sie Kiel nicht wollte zu einem deutschen
Kriegshafen werden sehen. In einer an die französische Negierung gerichteten
Depesche vom 24. Januar 1864 schreibt Lord John Russell: Ihrer Majestät
Regierung suche, um die Zerstückelung der dünischen Monarchie zu verhindern,
das Einverständnis und die Mitwirkung Frankreichs, Rußlands und Schwedens
nach, in der Absicht, Dänemark in seinem Widerstande, wenn nötig, materielle
Unterstützung zu gewähren. Einige Tage später wurde die englische Flotte
heimbeordert. Nachdem Louis Napoleon es nicht in seinem Interesse gefunden
hatte, in dieser Sache Waffenbrüderschaft mit England zu machen, lehnte zwar
Russell unter dem 19. Februar das Hilfsgesuch Dänemarks ab, Disraeli aber
stellte am 28. Juni den Antrag, Ihrer Majestät das große Bedauern des
Hauses darüber auszudrücken, daß die Regierung die Politik, die Integrität
Dänemarks zu wahren, nicht festgehalten habe. Mit der schwachen Majorität
von 313 gegen 295 wurde der Antrag abgelehnt. Am 8. Mai 1866 erklärte
Clarendon den Krieg, der auszubrechen drohte, für grundlos und nicht zu recht¬
fertigen. Um die Reihe englischer Staatsmänner aller Farben zu vervoll¬
ständigen, sei noch erwähnt, daß Lord Grey am 9. Mai 1864 dem Oberhause
die unrichtige Mitteilung machte, daß die österreichische Flotte von der dänischen
bei Helgoland geschlagen sei und damit lebhafte Cheers erntete.
Als die preußische Regierung es nicht im Interesse des Staates fand, sich
an dem Kriege gegen Rußland zu beteiligen, in welchen die Engländer nach
einem Worte Lord Clarendons wie ein steuerlvses Schiff getrieben (ärikwct)
waren, richtiger gesagt, sich hatten von Louis Napoleon bugsiren lassen, machte
sich die schlechte Laune, die im Parlament, in der Regierung, in der Presse,
bei Hofe herrschte, durch sehr verletzende Äußerungen Luft, z. B. dnrch den in
den Grenzboten vom 16. Februar 1882 (Ur. 8) beleuchteten Brief des Prinzen
Albert an Herrn von Stvckmar vom 8. Mai 1854. Und als die Negierung
von ihrer Not um Mannschaften dazu getrieben wurde, eine deutsche Legion
anzuwerben, erging man sich im Unterhause in wenig schmeichelhaften Äußerungen
über diese Waffenbrüder.
Unter dem frischen Eindrnck der Schlacht bei Bette-Alliance, die man in
Deutschland nicht Schlacht bei Waterloo nennen sollte, fand Blücher in England
einen sympathischen Empfang; aber die preußischen Militärschriftsteller haben
heute noch damit zu thun, die abgüustigen Entstellungen der englischen über
den 18. Juni 1815 zu berichtigen. Was England auf dem Wiener Kongreß
Preußen gewesen war, hat Treitschke im ersten Bande seiner deutschen Geschichte
anschaulich gemacht; seitdem hat der Briefwechsel Talleyrands mit Ludwig XVIII.
noch den Punkt auf das i gesetzt. In den von Talleyrand selbst verfaßten
Instruktionen, welche der König ihm nach Wien mitgab, heißt es u. a.: „In
Italien kommt es darauf an, zu verhindern, daß Österreich herrsche, indem man
seinem Einfluß widerstrebende Einflüsse entgegensetzt; in Deutschland gilt das¬
selbe für Preußen. Die körperliche Beschaffenheit dieser Monarchie macht ihr
den Ehrgeiz gewissermaßen zu einer Notwendigkeit. Wie man sagt, haben die
Verbündeten sich verpflichtet, derselben das Machtverhältnis zurückzugeben,
welches sie vor ihrem Falle hatte, das heißt zehn Millionen Einwohner. Ließe
man das geschehen, so würde Preuße» bald zwanzig Millionen haben und ganz
Deutschland sich unterwerfen. Es ist daher nötig, seinem Ehrgeiz einen Zügel
anzulegen, indem man erstens seinen Besitzstand in Deutschland soviel wie mög¬
lich beschränkt und zweitens durch die Gestaltung des Bundes seinen Einfluß
beschränkt. Sein Besitzstand wird beschränkt werden dnrch die Erhaltung aller
kleinen und die Vergrößerung aller Mittelstaaten. Die Botschafter des Königs
werden daher mit allen Mitteln die Sache des Königs von Sachsen verteidigen
und alles, was an ihnen ist, thun, um zu verhindern, daß Sachsen eine preußische
Provinz werde. Gleichermaßen muß verhindert werden, daß Preußen Mainz
erwerbe und auch nur irgend einen Teil des Gebietes links von der Mosel,
muß man Holland behilflich sein, seine Grenze soweit wie möglich auf dem
rechten Ufer der Maas vorzuschieben, muß man die Ansprüche auf Vergrößerung,
welche Baiern, Hessen, Braunschweig und besonders Hannover erheben werden,
unterstützen, damit die für Preußen zur Verfügung bleibenden Gebiete so klein
wie möglich werden."
In der Ausführung dieses Planes stieß Talleyrand anfangs auf starken
Widerstand bei dem englischen Bevollmächtigten Lord Castlerecigh. Dieser, so
berichtet er am 19. Oktober 1814 dem Könige, wolle Preußen so stark wie
möglich machen und eng mit Österreich verbinden, um beide Frankreich entgegen¬
zusetzen. Dem Zwecke würde nichts besser entspreche», als Sachsen an Preußen
zu geben. England sei in diesem Punkte fest entschlossen und dringe in Öster¬
reich, sich einverstanden zu erklären. In der That hatte Castlerecigh in den
ersten Tagen des Monats*) an den Fürsten Hardenberg ein Schreiben gerichtet,
in welchem er mit dem Bestreben, beredt zu sein, sogar mit einem Anfluge von
Wärme, den Anspruch Preußens auf Sachse» billigt und die dagegen erhobenen
Einwände widerlegt. „Ist es ungerecht — schreibt er —, daß die Verbündeten,
nach den Anstrengungen, welche sie für die Sache Europas gemacht haben, bis
auf einen gewissen Punkt entschädigt werden für die Gefahren, welche sie be¬
standen, für die Verluste, welche sie erlitten haben? Niemand wird so unver¬
nünftig sein, einen solchen Satz zu verteidigen. Welches andre Mittel gäbe es,
sie zu entschädigen, als ans Kosten der Mächte, die sich vergrößert haben dank
ihrem Eifer für den gemeinen Feind, und die der gemeinen Sache der Befreiung
Europas ihre Hilfe versagten, als sich eine günstige Gelegenheit fand, dazu mit¬
zuwirken? Solches ist ganz besonders der Fall des Königs von Sachsen und
seines Verhaltens, das ihn vor alle» andern Souveräne» auszeichnet. Welcher
andern Macht könnte die Last der Entschädigung Preußens gerechter auferlegt
werde» als derjenigen, welche das erste und hauptsächlichste Werkzeug der Zer¬
stückelung Preußens gewesen ist, und später durch ihre Winkelzüge oder ihre
Feigherzigkeit oder ihre» Ehrgeiz wesentlich die Opfer verursacht hat, welche
Preußen zu bringen hatte, um einen Teil des Verlorne» wieder z» gewinnen?
sCastlereagh »».'int die polnischen Provinzen, die Preußen ii» Tilsiter Frieden
abtreten mußte und die zu dem Herzogtum Warschau, dem Geschenk Napoleons
an den König von Sachen, geschlagen wurden.^ Der König vo» Sachsen hat
kein Recht, wieder eingesetzt oder entschädigt zu werden; er mag sich an die
Milde (inäulAsnoo) der Eroberer sseiner Länder^ wenden, und wenn sie ihm eine
Entschädigung in einem andern Teile Europas anbieten und diese ihm nicht im
richtigen Verhältnis zu dem, was er verloren hat, zu stehen scheint, so kann
er sich nur beklagen, daß das Anerbieten ungenügend, nicht daß es ungerecht
sei. Es muß endlich bemerkt werden, daß die Sprache, welche der König von
Sachsen führt, um sein Verhalten zu verteidigen, der Art ist, daß der Befehls¬
haber einer Festung, der ähnlich spräche, Gefahr liefe, kriegsrechtlich erschossen
zu werden."
Und der Mann, der im Oktober dies geschrieben hatte, schlug, noch ehe
das Jahr zu Ende gegangen war, ein bewaffnetes Bündnis zwischen England,
Frankreich und Osterreich vor, das auch für Baiern und die andern Rheinbündlcr
offen gehalten werden sollte. Am 3. Januar 1816 wurde der Vertrag zwischen
den drei zuerst genannten im Geheimen unterzeichnet. Er besagt in der Haupt¬
sache, daß jeder der vertragschließenden Teile sich darauf einrichten werde, dem¬
jenigen von ihnen, der etwa angegriffen würde, binnen sechs Wochen 120000
Mann zu Hilfe zu schicken, wobei England sich vorbehält, Soldtruppen zu
stellen oder anstatt eines Jnfanteristen zwanzig Pfund, anstatt eines Reiters
dreißig Pfund zu zahlen. Der Vertrag ist im Eingange motivirt durch
„neuerdings kundgegebene Prätensionen," die nicht näher bezeichnet werden, und
nennt sich defensiv. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß Talleyrand
darauf rechnete, das Bündnis, nachdem ihm so vieles gelungen war, in ein
offensives gegen Preußen zu verwandeln; hatte er doch schon lange vorher in
den König gedrungen, das Heer zu Verstürken und kriegsbereit zu machen, auch
befriedigende Antwort aus Paris erhalten.
Man traut seinen Augen nicht bei dem Anblick, daß der Vertreter Eng¬
lands, das zwanzig Jahre gegen Napoleon Krieg geführt hatte, die Hand dazu
bietet, daß 120 000 Maun französische Truppen zwar mit der weißen Kokarde
am Kopfe, aber, wie sich drei Monate später zeigte, mit Napoleon im Herzen
gegen Preußen zu Felde ziehen sollten. Wie war er dazu gebracht worden?
Zunächst durch eine Einblasung — eigne Gedanken hatte er nicht —, die ihm
gemacht worden sein muß, unmittelbar, nachdem er den oben auszugsweise mit¬
geteilten Brief an Hardenberg geschrieben hatte. Hardenberg verlangt am
10. Oktober die Zustimmung Castlereaghs dazu, daß Sachsen, was von den
Russen besetzt war, vou Preußen provisorisch in Verwaltung genommen werde.
Der Engländer antwortet am 11.: „Es giebt in Betreff der europäischen Politik
keinen Grundsatz, dem ich mehr Wichtigkeit beilegte als der substanziellen
Wiederherstellung Preußens. Die rühmlichen Dienste, welche es in dem letzten
Kriege geleistet hat, geben ihm die hervorragendsten Rechte auf unsre Dank¬
barkeit ; aber ein noch stärkerer Beweggrund liegt in der Notwendigkeit, Preußen
als die einzige feste Grundlage zu betrachten für jede denkbare Anordnung zur
Sicherung Norddeutschlands gegen die sehr großen Gefahren, die es bedrohen
könnten. In einer solchen Krisis müssen wir über Preußen wachen. Mit
seinen Streitkräften würden wir die unsrigen verbinden müssen, und um diese
Aufgabe zu erfüllen, ist es nötig, daß die preußische Monarchie sudstMtiöllö
se hollah ist, ausgerüstet mit allem, was einem unabhängigen Staate zu¬
kommt, fähig, sich Achtung zu verschaffen und Vertrauen einzuflößen. Was
die sächsische Frage betrifft, so erkläre ich Ihnen, daß ich kein sittliches oder
politisches Widerstreben gegen die Einverleibung des ganzen Landes in die
preußische Monarchie hegen könnte, wenn diese Maßregel notwendig wäre, um
Europa ein so großes Gut zu sichern, wie schmerzlich auch für meine Person
der Gedanke wäre, ein so altes Fürstenhaus so schwer betroffen zu sehen."
Doch dann kommt ein Aber. „Wenn aber die Einverleibung Sachsens dazu
dienen soll, Preußen für die Verluste zu entschädigen, welche es durch beun¬
ruhigende und gefährliche Unternehmungen Rußlands erleiden könnte, und Preußen
dazu bringen soll, sich mit nichtverteidigungsfähigcn Grenzen in offenbare Ab¬
hängigkeit von Rußland zu begeben... so halte ich mich durchaus nicht für
ermächtigt, Ew. :c. die geringste Hoffnung zu machen, daß Großbritannien im
Angesichte Europas in eine solche Abmachung willigen werde."
Dabei bleibt Castlereagh. Wenn Preußen, welches durch übereilten Abschluß
des Bündnisses mit Rußland im Februar 1813 sich in die unglückliche Lage
gebracht hatte, eine schlechte Grenze in Polen annehmen zu müssen, diese Ab¬
machung umwirft und sich eine bessere Ostgrenze verschafft, so wird England
ihm Sachsen zubilligen; wenn nicht, dann nicht. Da Friedrich Wilhelm III.
in der richtigen Erkenntnis, daß der Kaiser Alexander der einzige sei, auf den
er sich verlassen könne, mit ihm kein Zerwürfnis haben will, aber dabei bleibt,
Sachsen zu fordern, so schlägt Castlereagh den beiden Gegnern Preußens,
Frankreich und Osterreich, ein Bündnis vor.
Es drängt sich von neuem die Frage auf, wie er dazu gebracht worden
ist, diese bei Talleyrand und Metternich sehr begreifliche, aber bei ihm, kann man
fragen, perfide oder alberne Stellung einzunehmen. Die Antwort ist: Irgend
jemand hat ihm ein Geheimnis verraten, das Geheimnis, daß Leipzig ein großer
Handelsplatz sei. Am 31. Oktober berichtet Talleyrand dem Könige: es sei
Castlereagh vorgestellt worden, daß es doch nicht dem Interesse Englands ent¬
spräche, einen so wichtigen Handelsplatz an einen Staat zu geben, mit dem
England doch vielleicht nicht immer in Frieden leben würde, anstatt es in der
Hand eines Fürsten zu lassen, mit dem England nie in Streit geraten könne.
Der Lord sei über diese Vorhaltung erstaunt («ztonng) gewesen und beginne zu
fürchten, daß sein Plan dem Handelsinteresse Englands schädlich werden könnte.
(Von einem der Teilnehmer des Kongresses ist die Äußerung aufbewahrt: es
sei zum Erstaunen, was alles englische Staatsmänner nicht wüßten.)
Auf der Rückkehr von Gent nach Paris konnte Talleyrand dem Könige
vortragen, daß er seine Instruktion ausgeführt habe: Preußen bestehe aus zwei
unzusammenhängenden Stücken, habe Mainz nicht erhalten, von Sachsen nnr
einen Teil, und seine Grenze gegen Holland sei unvorteilhaft. Als Deutscher
kann man von dem Wirken und den Erfolgen Talleyrands nicht ohne Ingrimm
lesen; als Mensch muß man sich der Geisteskraft freuen, die mit einer so nie¬
drigen Seele in einem so garstigen Körper wohnte. Das Wort Legitimität in
dem von ihm erfundenen Sinne hatte wie eine verblendende Zauberformel in
den arabische» Märchen gewirkt.
Das Verdienst, Preußen um Ostfriesland gebracht, von der Nordsee ab¬
gedrängt zu haben, nimmt er uicht für sich in Anspruch; es gebührt dem
hannövrisch-englischen Grafen Münster.
Zu zeigen, aus welchen Gründen, mit welchen Absichten England während
des siebenjährigen Krieges Waffenbrüderschaft mit Preußen machte, würde eine
umständliche Darlegung erfordern, ein Zurückgehen auf die Zeiten des Aachener
Kongresses von 1748, in denen Georgs II. ausdrücklich gegen Preußen ge¬
richtetes System des „Gleichgewichts" sich entwickelte, das Drossen ins Licht
gestellt hat. Begnügen wir uns damit anzuführen, was Friedrich II. nnter
dem 13. Oktober 1755 an den Herzog Karl von Braunschweig schrieb: „Diese
Leute ^die englischen Diplomaten^ wollen, daß ich Frankreich an die Luft setze
und mich an dem Ruhm faltige, ihr Hannoverland gerettet zu haben, das mich
gar nichts angeht; entweder sie wollen mich gröblichst düpiren, oder sie sind
Narren und von lächerlichem Selbstgefühl."
Unser Rückblick führt uns noch nach Straßburg. Wenn Deutschland 1714
im Rastadter Frieden den Elsaß wiedergewonnen hätte, so würde es ihn nach
aller Wahrscheinlichkeit anch 1814 im ersten Pariser Frieden behauptet haben;
das Land wäre uicht verwälscht worden und 1870 nicht erst zu erobern ge¬
wesen. Wie es zugegangen ist, daß es anders gekommen, lassen wir uns von
Ranke erzählen.
Nachdem Frankreich mit seinen übrigen Gegnern 1713 Friedensverträge
geschlossen hatte, die man unter dem Namen des Utrechter Friedens zusammen¬
zufassen pflegt, beschloß der Kaiser, die Waffen in der Hand zu behalten. Ein
großer Teil des Reiches stand dabei ans seiner Seite. Die vorderen Reichs-
kreise, durch ein besondres Abkommen mit der großen Allianz vereinigt, hatten
den Krieg mit Standhaftigkeit ausgehalten, ihre Subsidien gewährt nur in der
Hoffnung, durch eine haltbare Einrichtung der Grenzlande gegen Frankreich
sichergestellt zu werden; sie hatten ans die Herstellung des Elsaß, der Bis¬
tümer und selbst der freien Grafschaft gerechnet. Auch waren die englischen
Minister bei Eröffnung der Unterhandlungen noch der Meinung, die Bestim¬
mungen des westfälischen Friedens und zwar nach der deutschen Auslegung her¬
zustellen; später hielten sie fest, daß wenigstens Straßburg von Frankreich
zurückgegeben werden müsse. Nach und nach aber ließen sie diese Gesichtspunkte
fallen. Wenn ihnen Ludwig XIV. an allen andern Seiten so vieles einräumte,
so forderte er dafür eine minder eifrige Befürwortung der Interessen deS Kaisers.
Die Antipathie der Engländer, Welche der Kaiser Mf sich bezogen hatte, fiel
über ni ihren Wirkungen Sus dets Reich zurück, Vergebens beriefen sich die
Reichskreise Mf das geheiligte Kö'Nigswort, die Unter dem großen Siegel des
Landes verpfändete Ehre von England. Die Torhininister hielten für gut, die
Wen i!N Bezug auf Händel und Kolonien MA Frankreich gewährten Zugeständ¬
nisse, deren sie bedurften, Ani sich zu behaupten, durch Nachgiebigkeit in Bezug
auf die deutschen Grenzen zU erwiedern. Straßburg diente zur Ausgleichung
für Se. Christoph und Neufundland, Soweit Ranke.
Straßburg ward dein Stockfisch geopfert. Aber die Engländer haben uns
Ungefähr hundert Jahre später Noch einmal um den Elsaß gebracht, worüber
wir Treitschke reden lassen. Nach der zweiten Einnahme von Paris machte
Wellington einen Meisterstreich britischer Diplomatie, der dem gewandtesten
Londoner Stockjobber zur Ehre gereichte. Ohne bei den verbündeten Höfen
auch nur anzufragen, ließ er Ludwig XVIII. unter dem Schutze englischer
Bajonnette in die Tuilerien einziehen. Als die drei Monarchen am Abend des
10. Juli in Paris eintrafen, saß König Ludwig seit zwei Tagen wieder auf
seinem Throne und empfing sie als leutseliger Hausherr. Was frommte es,
daß Blücher jede seiner Einladungen ausschlug? Die zweite Restauration
war vollzogen, durch England allein; an die Wiedervertreibung der Bourbonen
konnte keine der andern Mächte im Ernste denken. Durch diese vollendete That¬
sache vereitelte die britische Politik zugleich die gerechten Forderungen der
deutschen Nation. Die Abtrennung von Elsaß-Lothringen war möglich, wenn
die Alliirten sich zunächst unter sich einigten und dann den Bourbonen in das
verkleinerte Königreich zurückriefen; sie war unerreichbar, wenn Man darüber
Mit einem befreundeten Könige verhandeln mußte.
Die Leistungen Englands während des dreißigjährigen Krieges faßt Ranke
in Bezug auf Deutschland so zusammen: Von einer vollkräftigen Einwirkung
auf die großen Fragen der Religion und des Staates, welche den Kontinent
beschäftigten, trat Karl I. zurück, um vor allen Dingen König von Britannien
zu sein. Man kann freilich fragen, ob er moralisch berechtigt war, sich von
den kontinentalen Angelegenheiten loszusagen, nachdem er soviel dazu beigetragen
hatte, die Verwirrung zu vermehren, die protestantische Sache ins Verderben
zu führen.
Wie es trotzdem und alledem gekommen, daß sich in Preußen eine ver¬
trauensvolle Zuneigung zu England gebildet und lange erhalten hat, das wäre
eine dankbare Aufgabe für die junge Wissenschaft der Völkerpsychologie, deren
Losung unter anderm eine vergleichende Durchforschung der Literatur beider
Länder erfordern würde bis auf Rousseaus Mylord Edouard zurück; man muß
alte Jahrgänge der „Taschenbücher" mit Goldschnitt und zierlichem Gehäuse,
die unsre Väter oder Mütter einander zu Neujahr zu verehren liebten, und
längst vergessene Romane durchblättern, um zu sehen, eine wie reiche Nachkommen-
schaft Von „Söhnen des hochherzigen Albions" jene Figur der neuen Heloise
erzeugt hat. Jetzt dürfte die Schule von deutschen Staatsmännern, welche in die
Politik, um rin Palmerston zu reden, romantische Vorstellungen von Englands
Freundschaft übertrug, mit einem gewichtigen, theologisch angehauchten Herrn
ausgestorben sein, der 1875 in einem Privatgespräch ein dauerndes Schutz- und
Trutzbündnis zwischen Deutschland und dem evangelischen England als sein Ideal
bezeichnete und es übel vermerkte, als ihm in bescheidner Form entgegnet wurde,
daß England sich nur auf zeitweilige Bündnisse zur Erreichung einzelner Zwecke
einzulassen Pflege und sich an Kriegshändeln in Mitteleuropa überhaupt nicht
mehr beteiligen werde; auch das in London oft ausgesprochene Wort in Betreff
Antwerpens werde man eintretenden Falls dort schwerlich gut machen. Die
deutsche Politik, dessen können wir sicher sein, wird auch künftig die Engländer
für das nehmen, was sie sind, und von ihnen nichts andres erwarten, als was
das englische Interesse, so oder so verstanden, erheischt.
er Versuch der Verbündeten Regierungen, durch deu jüngst dem
Reichstage vorgelegten Gesetzentwurf über Verminderung einiger
Anwaltsgcbühren eine geringe Erleichterung in der Prozeßkosten¬
last herbeizuführen, ist von der deutschen Rechtsanwaltschaft glück-
. lich abgeschlagen worden. In dem Hefte Ur. 33 dieser Zeitschrift
hat der Berichterstatter der Kommission, der im Reichstage die Bearbeitung
des Entwurfs übertragen worden war, über diesen Gegenstand bereits eine aus¬
führliche Mitteilung veröffentlicht. Gern erkennen wir an, daß er in dieser
kritischen Angelegenheit sich ein gewisses Maß von Unbefangenheit bewahrt hat.
Es zeigt sich dies namentlich in der Art und Weise, wie er die aus Anwalts-
krcisen hervorgetretene, wenig maßvolle Bekämpfung des Entwurfs beurteilt.
Auch sind manche der von ihm angeregten Gedanken wohl beachtungswert.
Gleichwohl halten wir eine nochmalige Besprechung der Angelegenheit aus einem
etwas weiteren Gesichtskreise für geboten.
Die Kommission hat ihre Thätigkeit mit dem Antrage geschlossen, den
Entwurf abzulehnen und statt dessen eine Resolution zu fassen, die wir nur
als eine höchst wunderliche bezeichnen können. Der Reichstag hat denn auch
vorgezogen, diesen Bericht nicht weiter in Beratung zu nehmen. Dieses Er¬
gebnis war schon nach der Wahl der Kommission vorauszusehen. In den
Parlamenten bildet die Kommissionsbcrufung die unscheinbarste Form, in welcher
man den Vorlagen Gunst oder Ungunst zu Teil werden läßt. Die sonst so
beliebte Öffentlichkeit tritt dabei völlig zurück. Die Mitglieder der Kommissionen
werden von den Fraktionen gestellt. Aber man erfährt nicht, wer innerhalb
der Fraktionen sie auswählt. Berechtigte und unberechtigte Einflüsse können
sich, offen oder insgeheim, dabei geltend machen. Die Kommissionen selbst er¬
statten ihre Berichte unter dem Schutze der Anonymität. Man erfährt nicht,
wer die Anträge gestellt, auch nicht, wer dafür und dawider gestimmt hat. Die
Kommissionsanträge sind also Anträge mystischer Personen. Freilich sind die
Ansichten vieler Mitglieder schon im voraus zur Genüge bekannt. Und darnach
werden die Kommissionen berufen. Im vorliegenden Falle war die (aus einund-
zwanzig Mitgliedern bestehende) Kommission so zusammengesetzt, daß das Er¬
gebnis zu Gunsten der Anwälte von vornherein gesichert war. Neben den fünf
Mitgliedern, welche selbst Anwälte sind, waren in überwiegender Zahl Freunde
höchster Anwaltsgebühren in ihr vertreten. Nicht allein die Freisinnigen und
das Zentrum, sondern auch die Nationalliberalen hatten in diesem Sinne ge¬
wählt. Das Schicksal des Entwurfs stand damit fest. Deshalb waren aber
auch für die übrigen Mitglieder, wie sich mehrfach kundgab, die Kommissions¬
verhandlungen nur von geringem Interesse.
Das Scheitern des Entwurfs können wir insofern nicht gerade bedauern,
als auch wir wünschen, daß eine Herabsetzung der Anwaltsgebühren Hand in
Hand gehe mit einer entsprechenden Herabsetzung der Gerichtsgebühren. Nur
aus einer Verbindung beider läßt sich eine einigermaßen fühlbare Erleichterung
der jetzt den Prozeß so schwer betastenden Kosten hoffen. So viel bekannt ist,
haben bisher die Regierungen einer Herabsetzung der Gerichtsgebührcn vorzugs¬
weise aus finanziellen Gründen widerstrebt. Ob jetzt, wo die lange dauernde
Obstruktion des Reichstages in der Bewilligung der für das Reich notwendigen
Geldmittel glücklich gelöst ist, vielleicht gehofft werden darf, daß jene finanziellen
Rücksichten in der Gerichtskostenfrage zurücktreten, wissen wir nicht. Aber wir
müssen auch hier wiederum betonen, daß die Rechtspflege nicht dazu berufen
ist, eine Finanzquelle abzugeben, und daß daher die Höhe der aufzulegenden
Kosten nur nach den eignen Interessen der Rechtspflege (und zwar verstehen
wir darunter nicht in erster Linie das Interesse der Juristen, sondern das
Interesse eines vernünftigen Rechtsschutzes) bemessen werden sollte. Von diesem
Standpunkte aus betrachtet, sind aber die jetzt den Prozeß betastenden Kosten
für deutsche Verhältnisse viel zu hoch.
Freilich erscheint es zweifelhaft, ob selbst für den Fall, daß die Regierungen
sich zu einer gleichzeitigen Herabsetzung der Gerichtskosten entschlössen, der Reichs¬
tag geneigt sein würde, auf eine Herabsetzung der Auwaltsgebührcn einzugehen.
Wenn schon die jetzt versuchte höchst geringfügige Minderung dieser Gebühren
einen solchen Sturm der Entrüstung bei unsern Anwälten hervorgerufen hat,
mit welchem Schmerzensschrei würden sie wohl einer ernstlichen Herabsetzung
dieser Gebühren begegnen! Und dieser Schmerzeiisschrei würde gewiß Auch im
Reichstage lebhaften Anklang finden. Der Einfluß der Anwälte ist dort eben
zu groß. Die Neichstagskflmmission hatte dje Ablehnung des Entwurfs in die
Form gekleidet, daß sie beantragte, vom Bundesrat zunächst noch ein? Reihe
von Feststellungen zu verlangen. Zwar hatte die Neichsregierung schon ein
Schriftstück vorgelegt, worin auf Grund umfassender ExHebungen bei den Ge¬
richten der Versuch gemacht war, annähernd die Bedürfniszahl der Anwälte
und das mutmaßlich denselben jetzt zufließend« durchschnittliche Einkommen
festzustellen. Diese Ermittlung war aber den Männern der Kommission bei
weitem nicht gründlich genug. Sie beantragten, der Bundesrat solle erst fest¬
stellen lassen, wie viel Anwälte bei jedem einzelnen Gericht exforderlich seien,
ferner wie viel Einkommen jeder einzelne deutsche Anwalt habe, im allgemeinen
sowohl als insbesondre aus Zivilsachen, und ferner sowohl jetzt als nach dem
neuen Entwürfe; endlich wie hoch in den einzelnen Bundesstaaten die Ausgaben
und Einnahme» seien bej Zivilrechtspflege, bei der Strafrechtspflege und bei
dex freiwilligen Gerichtsbarkeit (welche, beiläufig bemerkt, ,g,ax nicht getrennt
verwaltet werden). Dieser Antrag ist in der Kommission mit zehn gegen fünf
Stimmen (sechs Stimmen fehlten bei der Abstimmung) angenommen worden.
Auch der oben erwähnte Berichterstatter verteidigt ihn und hält dessen Aus¬
führung wenigstens eines Versuches wert. Hiernach, und du überhaupt der
Beschluß von berufenen Männern gefaßt worden ist, müssen wir ja annehmen,
daß er auch ernstlich gemeint gewesen sei. Sachlich rechnen wir ihn in seiner
völligen Unausführbarkeit zu den unglaublichen Verixinugen, denen sich Juristen,
die jhre Interessen verfechten, hingeben können. Jeder Versuch der Ausführung
mit feinen handgreiflichen Täuschungen könnte nur das Gelächter aller Unbe¬
fangenen herausfordern. Wollten wir dem objektiven Eindruck Raum geben,
den jener Beschluß macht, so würden wir ihn für einen bittern Hohn halten,
mittels dessen man eine verhaßte Vorlage von sich abgewiesen hat.
Beharrt dex Reichstag in der von der Kommission bethätigten Stimmung,
eine jede Minderung der Anwaltsgebühren ablehnen zu wollen — denn darauf
läuft ja doch die beantragte Resolution hinaus —, so würden wohl auch die
Regierungen wenig Neigung haben, an den Gerichtsgebühren etwas abzulassen,
und es bliebe alles beim Alten. Das Verhältnis würde dann in dex That
an die bekannte Anekdote erinnern, wo zwei Wagenführer, die uneins geworden sind,
ihren Streit damit austragen, daß jeder auf die Fahrgäste des ander» losschlägt;
nur mit dem Unterschiede, daß es hier der nämliche Fahrgast wäre, auf den von
beiden Seiten geschlagen würde: das deutsche Volk, welches die Prozesse führt.
Obgleich nun hiernach der Bericht der Kommission in seinem Hauptergebnis
völlig wertlos ist, so enthält ex doch manches, was in andrer Beziehung Be¬
achtung verdient. Um die Reformpläne von dex Höhe der Anwaltskosten ab¬
zuleiten, wies man in der Kommission von verschiednen Seiten darauf hin, wie
so manches andre in unsern neuen Justizeinrichtungen verfehlt sei. So bildet
der Bericht das erste offizielle Aktenstück, welches offen ausspricht, daß auch
auf unsre pielgerühmte neue Justizorganisation das Sprichwort passe: „Es ist
nicht alles Gold, was glänzt." Es wird darin die Frage angeregt, ob nicht
die Entlastung der Parteien von übermäßigen Kosten „in erster Linie dadurch
erreicht werden müsse, daß das jetzige viel zu formalistisch konstruirte Proze߬
verfahren einfacher und zweckentsprechender gestaltet werde." Es wird darauf
hingewiesen, wie gerade die sogenannten Nebenkosten, insbesondre Schreibge¬
bühren u»d Zustellungskvsten. den heutigen Prozeß übermäßig verteuern; und
zwax uns.omehr, als sie unabhängig von der Höhe des Streitgegenstandes er¬
wachsen. Von einzelnen Seiten wurde auch zur Erwägung gegeben, ob nicht
durch eine Beschränkung der Zahl der Anwälte das Einkommen derselben in
höherm Maße zu sichern und der Gefahr eines Anwaltsproletariats zu begegnen
sei; desgleichen, ob es sich nicht empfehle, zur Vereinfachung des Prozesses die
amtsgerichtliche Zuständigkeit zu erweitern; Fragen, die auch schon in dieser
Zeitschrift (Heft 8 dieses Jahrganges) angeregt und besprochen worden sind.
Vor allem aber wurde „von vielen Mitgliedern das ganze Institut der
Gerichtsvollzieher angegriffen"; wobei sogar ein früherer eifriger Verteidiger
dieses Instituts und Befürworter höchster Gerichtsvollziehergebühren eingestand,
sich zu einer andern Ansicht bekehrt zu haben. „Die jetzige Einrichtung setze
bei den völlig selbständig gestellten, deshalb aber auch mit einem hohen Maße
von Verantwortlichkeit belasteten Gerichtsvollziehern geistige und Charakter¬
eigenschaften voraus, deren Vorhandensein in denjenigen Kreisen, auf welche man
bei der Auswahl im wesentlichen angewiesen sei, nicht in ausreichendem Maße
als gewährleistet angesehen werden könne." So lautet der Bericht.
Diese Klagen über die Gerichtsvollzieher und die an sie geknüpften Ein¬
richtungen haben in der Presse ein lautes Echo gefunden. Verschiedne Blätter
haben bestätigt, wie sehr die daraus hervorgegangenen Mißstände im Publikum
empfunden werden. Die „Nationalzeitung" veröffentlichte mehrere Artikel, worin
teils die Kostspieligkeit und Umständlichkeit des ganzen Zustellungswesens, teils
die damit verbundenen ständigen Gefahren für das materielle Recht, endlich
auch die Mißstände, welche das in die Hände der Gerichtsvollzieher gelegte
Hilfsvollstreckungswesen aufweist, eine eingehende Darstellung fanden. Die
„norddeutsche Allgemeine Zeitung" gab diese Artikel umfassend wieder, nachdem
sie schon früher den Eingang des gedachten Kommissionsberichts veröffentlicht hatte.
Wir wollen versuchen, für weitere Kreise verständlich zu machen, um was
es sich bei den hiernach offen zu Tage getretenen Klagen handelt.
In dem frühern Prozesse lag nicht allein die Entscheidung des Falles,
sondern auch die Leitung des ganzen Verfahrens, sowie auch der Vollziehungs-
instanz in den Händen des Richters. Wohl mochte es Richter geben, die dabei
ziemlich gedankenlos zu Werke gingen. Immerhin aber lag das Ganze doch
in der Hand eines denkenden Menschen, der die Verantwortung dafür trug und
der in seiner richterlichen Stellung eine höhere Bürgschaft persönlicher Unan¬
tastbarkeit darbot. Für die Erledigung untergeordneter Aufgaben bediente sich
der Richter allerdings eines untergeordneten Werkzeuges, des Gerichtsdieners.
Aber dieser übte seine Thätigkeit nicht selbständig, sondern nur im besondern
Auftrage und unter ständiger Aufsicht des Richters. Das alles sollte im
neuen Prozeß anders werden. In blinder Nachahmung französischer Einrich¬
tungen (in die man sich zu einer Zeit hineingedacht hatte, als noch französisches
Wesen überhaupt in Deutschland als Ausbund aller Vortrefflichkeit galt) stellte
man den Grundsatz auf, „daß der Richter der Reinheit seines Richtcrberufes
wiedergegeben werden müsse." Das heißt, er sollte dasitzen wie ein Pagode
und lediglich auf die mündliche Verhandlung der Anwälte seinen Spruch ab¬
geben. Dagegen sollte das ganze übrige Prozeßverfahren und ebenso die Voll¬
ziehungsinstanz, die bisher gewissermaßen Handarbeit des Richters gewesen
waren, zu einer Maschinenarbeit des Gesetzes werden. Um dies zu erreichen,
mußte man zunächst das Gesetz selbst höchst umfangreich gestalten. Da es
doch nicht möglich war, alles ohne den denkenden Menschengeist fertig zu bringen,
so wurde der angeordnete mechanische Betrieb wieder vielfach durchbrochen durch
Bestimmungen, wonach der Richter oder der Gerichtspräsident in den Betrieb
eingreifen soll. Dadurch ist natürlich der ganze Bau höchst verwickelt ge¬
worden. Und dies alles hat die Folge gehabt, daß es heute in unsern Rechts¬
streiten von Prozeßfragen wimmelt. Alle unsre Präjudizienbücher sind etwa
zu einem Dritten mit Entscheidungen über Prozeßfragen angefüllt. Niemals hat
das rechtsuchende Publikum unter diesen ganz nutzlos heraufbeschwornen Fragen
so viel zu leiden gehabt. Auch die Summe der Ausführungsverordnungen für
das ganze neue Verfahren ist Legion. Und einzelnes darunter hat sich bereits
bitter gerächt. Hat man doch die gleichfalls im Sinne jenes Grundsatzes in
Preußen angeordnete Trennung der Gerichtskostenverwaltnng von den Gerichten,
da sie sich als völlig unerträglich erwies, schon vor mehreren Jahren mit großen
Mühen und Kosten wieder rückgängig machen müssen.
Daß man mit der Lostrennung des Richters aus dem ganzen übrigen
Betriebe des Prozesses denselben zur Kälte und Gleichgiltigkeit gegen die Partei¬
interessen förmlich erzieht, mochte allerdings solchen entgehen, die selbst viel¬
leicht niemals mit andern Empfindungen den Parteiinteressen gegenüber ge¬
standen hatten. Um aber überhaupt jenen mechanischen Betrieb des Prozesses
zu ermöglichen, mußte ein eignes Organ dafür geschaffen werden. Das ist der
Gerichtsvollzieher. Die Gerichtsvollzieher sind Männer von halber Bildung,
meist aus dem Schreiber- oder Untcroffiziersstande hervorgegangen. Früher
hielt man dafür, daß Menschen von dieser Bildungsstufe, die ja persönlich
durchaus achtungswert sein können, doch keine selbständige Stellung im Staats¬
leben anzuvertrauen sei. Hier aber wies man ihnen wichtige Aufgabe» der
Rechtspflege zur selbständigen Ausführung zu. Der Gerichtsvollzieher handelt
nicht, wie der frühere Gerichtsdiener, im Auftrage des Richters, sonderm „im
Auftrage der Partei," die ihn sonderbarerweise mit Handlungen beauftragen
kann, zu denen sie selbst gar keine Befugnis hat. In der Hand der Gerichts¬
vollzieher liegt die Vermittlung des ganzen Prozeßbetriebes; in ihrer Hand
liegt die Vollziehung der Urteile. Wer sich eine Vorstellung davon machen will,
welche Aufgaben ihnen damit gestellt sind, der lese einmal die vom preußischen
Justizminister erlassene Gcschäftsanweisung für die Gerichtsvollzieher vom
24. Juli 1879 mit ihren einhundertachtunddreißig Paragraphen.*) und beant¬
worte sich dann die Frage, ob das Geschäfte sind, die man Menschen von halber
Bildung völlig selbständig zu überlassen wohlgethan habe. Natürlich gehen alle
Fehler und Irrungen, welche die Gerichtsvollzieher bei Ausführung ihrer Ge¬
schäfte begehen, auf Gefahr und Kosten der Parteien.
Die Gerichtsvollzieher erledigen ihre Geschäfte gegen Gcbührenbezug. Die
Gebühren sind sehr reichlich bemessen. So bekommt z. B. der Gerichtsvollzieher,
der Geschäfte an einem auswärtigen Orte besorgt, für jedes dieser Geschäfte die
vollen Reisekosten; sodaß ein Gerichtsvollzieher, der gleichzeitig auswärts drei
Geschäfte vornimmt, die nämlichen Reisekosten dreimal ersetzt bekommt. Alles
Gebührenwesen trägt die Gefahr in sich, daß der Beamte vorzugsweise vom
Standpunkte seines Gebührenbezuges seine Amtsthätigkeit bemißt. Diese Gefahr
wird umso größer, wenn der Beamte nicht in einer höheren Bildung und Ehren¬
stellung ein Gegengewicht gegen die an ihn herantretenden Versuchungen findet.
Kein Zweifel, daß die große Masse der Gerichtsvollzieher — und es soll ihnen
daraus gar kein Vorwurf gemacht werden — lediglich vom Standpunkte des
Gebührenbezuges seine Geschäfte betreibt. Für eine so verwickelte Thätigkeit
lassen sich auch keine Gebührengesetze geben, die nicht in ihrer Anwendung vielfach
freien Spielraum ließen. Die daran sich knüpfende Folge ergiebt sich von
selbst. Es giebt Gerichtsvollzieher, deren Einkommen sich auf Tausende beläuft.
Überdies liegt die Gefahr nahe, daß bei dem unmittelbaren Verkehr der Ge¬
richtsvollzieher mit den Parteien noch ganz andre Versuchungen an sie heran¬
treten. Über die Wirksamkeit der Gerichtsvollzieher in der Vollziehuugsinstanz
äußert sich einer der oben gedachten Zeitungsberichte wie folgt: „Die Zwangsvoll¬
streckung ist in den Händen der Gerichtsvollzieher unverhältnismäßig kostspielig
und unsicher geworden. Darüber sind Richter, Rechtsanwälte, Publikum einig,
und selbst die Gerichtsvollzieher werden nicht widersprechen. Niemals sind so
viele Beschwerden über Rechtsanwälte gekommen, als seitdem sie durch die Ge¬
richtsvollzieher die Exekution betreiben. Die Gerichtsvollzieher selbst kommen
zum großen Teile aus dem Disziplinarverfahren kaum heraus. Der Wett¬
bewerb und der eigne Diensteifer, nicht minder das Drängen des Gläubigers
nach einem Resultat bestimmen den Gerichtsvollzieher zu scharfem Vorgehe^
denn andernfalls ist er in Gefahr, Ruf und Kundschaft zu Verlieren. So ar¬
beitet er hart an der Grenze der gesetzlichen Schranken der Exekution und ist
in zweifelhaften Fällen leicht geneigt, nach der schärfsten Auslegung auszu-
biegen. Daraus entstehen dann zahllose Konflikte Mit andern Exekutionen, Mit
Schuldnern, mit der Aufsichtsbehörde, Prozesse, Beschwerden nett vor allem
Kosten. Die Rückkehr zum alten Exekutionswesen würde nach jeder Richtung
als eine Wohlthat empfunden werden."
Sagen wir es kurz: Durch Schaffung der Gerichtsvollzieher hat nött
wesentliche Aufgaben der Justiz einem Heere untergeordneter Beamten zeer Aus¬
beutung preisgegeben. Die Thatsache, daß nur allzu häufig Gerichtsvollzieher
in Untersuchung genommen und nicht selten auch entlassen werden müssen,
spricht für sich selbst. Und doch gelangt bei weitem nicht alles, was auf diesem
Gebiete vorgeht, zur öffentlichen Kenntnis.
Aber auch das ganze Verfahre«, welches mit der Einführung der Gerichts¬
vollzieher zusammenhängt, erweist sich für die Parteiinteressen nichts weniger
als heilbringend. So vor allem die auf die Parteien übergewälzte ZnstclluNgs-
pflicht. Früher galten die Fristen, Welche die Parteien bei ihren Hanölungen
zu wahren hatten, für gewahrt, wenn innerhalb der Frist die Partei ihre
Schrift bei Gericht eingereicht hatte. Das war einfach und sicher. Weil nun
aber das Gericht Nichts Mehr mit dem Prozeßbetrieb zu thun haben soll, müssen
jetzt die Parteien auf ihre Gefahr ihre Schriften innerhalb der Frist dem
Gegner durch den Gerichtsvollzieher zustellen lassen. Versäumt der Gerichts¬
vollzieher die Zustellung oder macht er einen Fehler dabei, so verliert in der
Regel die Partei ihren Prozeß. Auch die Bestimmungen darüber, an wen
die Zustellung in jeder Prozeßlage erfolgen muß, sind so verwickelt und künstlich,
daß selbst die tüchtigsten Anwälte sich Nicht vor Irrungen bewahren können. So
gehen jahraus jahrein eine Menge Prozesse an der Zustellungsfräge zu Grunde.
Völlig begründet ist auch der Vorwurf, den der mehrerwähnte Kommissions¬
bericht in der Richtung erhöben hatte, daß durch die gesteigerten Schreibgebühren
der heutige Prozeß erheblich verteuert werde. Wenn man glauben sollte, daß
durch die Mündlichkeit die Vielschreibcrei aufgehört habe, so würde man sich
gründlich irren. IM Gegenteil, sie ist erst recht losgegangen. Und die Kösten-
gesctze haben durch reichliche Abschriftgebühren dafür gesorgt, daß Vonseiten der
dabei Jnteressirten keinesfalls zu wenig geschehe. UM dies darzulegett, bedarf
es jedoch eines Überblickes über den ganzen Prozeßgang, der ja auch sonst
wohl für weitere Kreise von Interesse ist.
Der Prozeß beginnt Mit der schriftlichen Klage, die dem Gerichtspräsidenten
zur Anberaumung eines Verhändlungstermines eingereicht und dann dem Gegner
zugestellt werden muß. Gleich diese Klagschrift, die früher zweimal abgeschrieben
wurde, muß jetzt dreimal abgeschrieben werden, weil man doch ein schlechtes
Konzept dem Gerichtspräsidenten zur Terminsbestimmung nicht vorlegen kann.
Nächst der Klagschrift sollen dann die Parteien weitere Schriften wechseln; und
die besseren Anwälte thun dies auch, schon um sich selbst genügend für die münd¬
liche Verhandlung vorzubereiten. Kommt es nun aber zu dieser Verhandlung,
so gelten alle diese Schriften nichts. Das Gericht braucht sie nicht zu lesen,
sondern kann sie ruhig beiseite legen. Wirklich verfahren auch manche Gerichte
so. Der Anwalt muß also bei der mündlichen Verhandlung alles so vortragen,
als hätte er gar nichts geschrieben. Versäumt er etwas dabei, so gilt es für
das Gericht nicht; und es braucht es auch nicht zu beachten, wenn vielleicht
das Versäumte in den Schriften klar vor Augen liegt. Natürlich vermehrt sich
dadurch wieder die Gefahr, welche die Partei zu tragen hat. Ist nun die
mündliche Verhandlung zu Ende, dann hat das Gericht auf Grund dessen, was
es aus der mündlichen Verhandlung im Gedächtnis behalten hat, den ganzen
Prozeß von neuem aufzuschreiben. Das nennt man den „Thatbestand des
Urteils." Das so Aufgeschriebene soll nun die eigentliche „Mündlichkeit" sein.
Natürlich ist es aber nichts andres, als eine vom Richter nachträglich an¬
gefertigte Schrift. Was die Parteien auf Grund ihrer unmittelbaren Kenntnis
der Thatsachen niedergeschrieben haben, gilt nichts und darf ums Leben nicht
beachtet werden. Was aber der Richter vom Hörensagen niederschreibe, das ist
der wahre Inhalt des Prozesses und gilt nicht allein für den zunächst erken¬
nenden Richter, sondern auch für die höheren Instanzen. Hat sich der Richter
dabei geirrt, was doch einer vorüberrauschenden Rede gegenüber leicht möglich
ist, so hängt die Partei daran fest. Die Mittel zur Abhilfe und Berichtigung
sind höchst kläglicher Natur und regelmäßig ohne Erfolg. Natürlich werden
nun auch, durch den hinzukommenden „Thatbestand," in welchen der Richter,
vielleicht schon aus Gewissenhaftigkeit, alles mögliche hineinschreibt, die Urteile
viel umfangreicher.
Früher wurde das ergangene Urteil beiden Teilen von Amtswegen durch
das Gericht behändigt. Damit begann die Frist für die Rechtskraft zu laufen.
Mit zwei Ausfertigungen war alles abgethan. Die Parteien hatten niemals
Not, durch Zustellungsurkunden die Zustellung nachweisen zu müssen; denn
diese war stets gerichtskundig. Das war für die Parteien eine große Wohlthat.
Aber zu den „Prinzipien" des neuen Prozesses paßte das nicht. Hat der Richter
sein Urteil mündlich verkündigt und schriftlich zu den Akten niedergelegt, so
kümmert er sich um nichts mehr. Die Parteien erhalten das Urteil nicht mehr
von Amts wegen zugestellt. Sie müssen bei der „Gerichtsschreiberei" um eine
Abschrift bitten. Da der Anwalt sich nicht auf mündliche Verhandlungen mit
der Gerichtsschreiberei einlassen kann, so schreibt er jedesmal einen Brief. Das
giebt jedesmal eine Abschriftsgebühr, wenn auch nur von zehn Pfennigen.
Die Gerichtsschreiberei fertigt nun jeder Partei auf ihre Bitte eine Abschrift
zu. Jede Partei läßt dann von der Abschrift wieder eine Abschrift machen und
diese, um die Rechtskraft herbeizuführen, dem Gegner durch den Gerichts¬
vollzieher zustellen. Sind mehrere Personen innerhalb derselben Partei vor¬
handen, die nicht durch einen gemeinsamen Anwalt vertreten sind, so muß für
jede Person eine Abschrift angefertigt und ihr zugestellt werden. (Früher ließ
das Gericht die Ausfertigung nur einem der Beteiligten zustellen, den übrigen
nur vorweisen, was vollkommen genügte.) Die Urkunden über die Zustellung
müssen sorgfältigst aufbewahrt werden; denn an ihnen hängt der ganze Prozeß.
Will die eigne Partei des Urwalds das Urteil haben, so darf er doch nicht
wagen, die Urteilsausfertigung, auf welcher das wichtige Dokument der Zu-
stellungsbescheiuigung steht, aus den Händen zu geben. Es wird also eine neue
Abschrift angefertigt. So häuft sich Abschrift auf Abschrift. Erwägt mau nun
zugleich, wie dickleibig die Urteile durch den eingereihten Thatbestand oft ge¬
worden sind, und ferner, daß die neuen Kvstengesetze die Abschriftsgcbühren
erheblich gesteigert haben, so begreift man, daß diese Gebühren allein schon im
Prozeß zu einem hübschen Sümmchen aufwachsen können.
Wie mit den Urteilen, wird es übrigens auch mit allen andern bei Gericht
eingehenden Aktenstücken (z. B. Zeugen- oder Eidesprotokollen) gehalten. Stets
muß der Anwalt besonders um Abschrift bitte«. Um sicher zu gehen, schreibt
er jedesmal an die Gerichtsschreiberei einen Brief, und das kostet jedesmal eine
Abschriftsgcbuhr. So wimmelt es förmlich in den heutigen Prozeßrechnnugcn
von Abschriftsgebührcn. Das sind die Segnungen der „reinen Mündlichkeit."
Wir wollen übrigens nicht verschweigen, daß jüngst in einer Zeitschrift
(Echo vom 14. Juli 1887) auch „ein Aktenabschreiber" sich gemeldet und dringend
gebeten hat, die Abschriftsgebührcu doch ja nicht herabzusetzen. Auch ein Abschreiber
habe eine fühlende Seele, und es müßte ihm peinlich sein, wenn er nicht für
seinen Prinzipal (den Anwalt) die vollen Kosten verdiene. Sehr bezeichnend für
den Standpunkt, von dem auf manchen Seiten die Kostenfrage betrachtet wird.
Gleichwohl ist die Klage des mehrerwähnten Kvmmissionsberichts, daß in
den Nebenkosten der Hauptgrund für die Verteuerung der Prozesse liege, doch
nur Schein. Die gegen den Gerichtsvollzieher erhobenen Beschuldigungen machen
fast den Eindruck, als ob dieser nnr der Sündenbock habe sein sollen, den man
für die Fehler des Ganzen preiszugeben bereit sei. In erster Linie liegt der
Grund der Verteuerung der Prozesse in der sehr erheblichen Steigerung der
Hanptgcbührcn für Gericht und Anwälte. Und wenn an diesen nichts geändert
wird, so wird auch eine Änderung der Ncbengebühren kaum als eine Erleich¬
terung empfunden werden. Freilich erklären nun die Anwälte, sie könnten un¬
möglich irgend etwas entbehren. Und wenn man sie darauf hinweist, daß doch
früher die Gebühren weit geringer gewesen seien, daß sie sogar (in Preußen)
bis zum Jahre 1375 nur etwa die Hälfte der jetzigen Gebühren betragen haben,
so antworten sie, wie der Kommissionsbericht ausweist: „daß das neue Ver¬
fahren an die Zeit und die Arbeitskraft des Anwaltes erheblich höhere An-
forderungen stelle." Damit ist natürlich gemeint, daß jetzt die Anwälte alles
dem Gerichte mündlich vortragen müssen, während sie früher bei ihren Vor¬
trügen in den erstatteten Schriften eine Unterstützung fanden. Sonderbar nur,
daß dieses die Anwälte so schwer belastende Verfahren vorzugsweise aus An¬
waltskreisen protegirt worden ist. Anderseits erklären nun auch die Regierungen,
daß sie die Gerichtskosten nicht herabsetzen können, weil jetzt die Justiz weit
mehr koste als früher. Aber wie kommt es denn, daß sie jetzt mehr kostet?
Die Zahl der Prozesse ist doch erheblich zurückgegangen. Und doch braucht
es jetzt mehr Richter, um sie zu bewältigen? Es ist nur daraus zu erklären,
daß die mündlichen Verhandlungen sich in allzu großer Breite hinziehen und
die Richter in der schwierigen und verantwortlichen Anfertigung des That¬
bestandes eine ihre Zeit weit mehr belastende Arbeit bekommen haben. Und
was ist denn der Nutzen von allen diesen neuen „Belastungen"? Weshalb läßt
man erst Schriften anfertigen und wirft sie dann nutzlos beiseite, um den
Urwald den ganzen Prozeß, wie den Knaben eine gut gelernte Lektion, noch¬
mals mündlich aufsagen zu lassen? Weshalb hat man die Aufgabe, den Proze߬
stoff festzustellen, die doch naturgemäß den Parteien obliegt, naturwidrig dem
Richter ausgelastet? Alles nur um den theatralischen Schein herzustellen, als
ob wirklich die Anwälte nur so hintraten und ihre Sache aus dem Stegreif
führten, dann aber das Gericht ebenso aus dem Stegreif seinen Urteilsspruch
gäbe. Ist denn dadurch nun die Rechtsprechung auch wirklich besser geworden?
Wer kau» das heute noch im Ernste behaupten wollen? Auch heute wie früher
ergehe» gute und schlechte Urteile. Die Zahl der letzteren hat sich aber jeden¬
falls dadurch vermehrt, daß heute unzählige Prozesse an Formfragen scheitern,
von denen mau früher nichts wußte.*) Und sie wird auch auf dem Gebiete des
materiellen Rechtes sich »och weiter vermehren, je mehr die entsittlichende
Wirkung des neuen Verfahrens um sich greift und die Gerichte bedacht sein
werden, jenen Schein zur Wirklichkeit zu machen, d. h. ohne Vorbereitung
lediglich auf die mündliche Verhandlung ihre Urteile zu sprechen. Unsre Rechts¬
zustünde sind nun einmal nicht von der Art, daß der Richter gute Entscheidungen
aus dem Ärmel schütteln kann. Auch ganz abgesehen davon, daß es unmöglich
ist, auf diese Weise einen brauchbaren Nachwuchs an Juristen heranzuziehen.
Alle jene neuen Belastungen von Anwälten und Richtern haben also zu
nichts anderm geführt, als die Gefahren des Prozesses für die Parteien zu ver¬
größern und die Kosten zu vermehren. Das ist der ganze Witz von der Sache.
Während auf allen andern Lebensgebieten das deutsche Reich durch die
einheitlichen Einrichtungen, die es geschaffen, zugleich die Volkswohlfahrt mächtig
gehoben hat, ist es ein eigentümliches Schicksal gewesen, daß ihm dies nur auf
den, Rechtsgebiete nicht gelungen ist. Doktrinarismus und Egoismus des
Juristenstandes haben sich die Hand geboten, um ein Rechtsverfahren zu schaffen,
das für den größten Teil von Deutschland keinen Fortschritt, sondern einen
Rückschritt enthält. Und dieses Gebäude hat man überdies mit Kostengesetzen
gekrönt, welche die Nechtsverfolgung in unerhörter Weise erschweren. Dem
Laien ist es natürlich sehr schwer, über den innern Wert des Verfahrens eine
Anschauung zu gewinnen. Er fühlt es nur höchst schmerzlich, wenn er seinen
Prozeß auf Gründe hin, die ihm unbegreiflich sind, verliert. Aber die Kosten
des heutigen Prozesses werden bereits allgemein schwer empfunden.*) Ihre
Höhe, die in vielen Fällen zur Unerschwinglichkeit wird, hat den Glauben, in
der Justiz ein wirklichen Schutz des Rechtes zu besitzen, erschüttert. Vielfach
wird jetzt schon lieber Unrecht hingenommen, als daß man die Kosten eines
Prozesses daran wagt. Wer aber nicht umhin kann, einen Prozeß zu führen,
betrachtet es als ein Schicksal, dem er eben verfallen ist. Das Gefühl der
Ausbeutung durch die Justiz, das doch zunächst nur in den Einrichtungen seinen
Grund hat, überträgt sich unwillkürlich auch auf den Juristcnstand selbst.
Feiner fühlende Anwälte empfinden dies schon jetzt oft schmerzlich genug. Vor
Jahren wurde einmal über unsre Industrie ein ominöses Wort gesprochen.
Man würde heute, wie wir glauben, es zu preisen haben, wenn man von
unserm Rechtsverfahren nichts schlimmeres sagen könnte.
om schultechnischen Standpunkte behauptet man, daß das Schul¬
geld das Interesse der Eltern an der Schule und den Eifer des
Lehrers erhöhe. Man geht davon ans, daß der Deutsche nur
das schätze, was ihn etwas koste, dagegen gering achte, was
ihm unentgeltlich geboten werde. Da ihm nun bei jeder Schul¬
geldzahlung vor Augen geführt werde, was ihm die Schule koste, so achte
er auch darauf, daß seine Kinder sie regelmäßig besuchten, und daß ihnen ein
guter Unterricht geboten werde. Zwinge schon dies den Lehrer zu eifriger
Pflichterfüllung, so auch sein eignes Ehrgefühl, das von ihm verlange, daß er,
da auch der Ärmste ihm Schulgeld zahlen muß, auch das möglichst Beste im
Unterricht für das Schulgeld biete. Ein weiterer Sporn für die öffentlichen
Volksschulen soll in dem Wettbewerb der Privatschulen liegen, und dieser würde
ja wegfallen bei Aufhebung des Schulgeldes, da alsdann Privatschulen mit den
Volksschulzielen nicht mehr bestehen könnten.
Es mag nun dahingestellt bleiben, inwieweit jener angebliche Charakterzug
unsers Volkes vorhanden ist. Jedenfalls kommt man damit zu ganz unhalt-
baren Forderungen; denn dann müßte man jede wohlthätige Einrichtung, von
der man wünscht, daß das Volk sie recht hoch schätze, ihn, möglichst teuer machen.
Damit ließe sich dann z. B. auch die unsinnigste, überflüssigste Steigerung der
Kirchensteuer» rechtfertigen. Sieht man aber selbst von diesen Folgerungen ab,
so bleibt auch ohne Schulgeld die Schule durch die Steuer dem Einzelnen
gerade teuer genug, um sie schätzen zu lernen. Wenn man dagegen einwendet,
daß, wenn die Schullasten nur mit den allgemeinen Steuern erhoben werden,
die Kohle« der Schule dem Einzelnen nicht so zum Bewußtsein kämen, so trifft
dies doch nur bei dem Ungebildeten zu, da jeder Gebildete sich doch klar macht,
wofür er Steuern zahlt. Wenn aber der Ungebildete aus diesem Grnnde seine
Kinder weniger regelmäßig zur Schule schicken sollte, als wenn er Schulgeld
zahlt, so läßt sich dem durch Strafen abhelfen, nimmermehr aber ist es deshalb
gerechtfertigt, für die ganze Bevölkerung das Schulgeld beizubehalten. Von einer
Kontrole der Schule durch Personen, die an Bildung so tief stehen, kann selbst¬
verständlich keine Rede sein. Und weshalb es dem Lehrer mehr Ehrensache sein
soll, Gutes im Unterricht zu leisten, wenn die Beiträge zu seiner Besoldung in
Form von Schulgeld aufgebracht werden, ist vollends nicht abzusehen; die
Steuern werden doch wahrhaftig auch nicht bloß von den Reichen bezahlt! Von
einem wirklichen Wettbewerb der Privatschulen mit den öffentlichen Volksschulen
endlich kann, vielleicht abgesehen von ein paar Orten, überhaupt nicht die Rede
sein; die Zahl solcher Privatschulen, die sich auf das Ziel der Volksschule be¬
schränken, ist sicher äußerst gering.
Einem der für Beibehaltung des Schulgeldes sprechenden Gründe wird
man dagegen nicht bestreiten können, daß er zutreffend sei. Man weist nämlich
darauf hin, wie durch die Uncntgeltlichkeit des Vvlksschnlnnterrichts die an
manchen Orten bestehende Verbindung der Volksschule mit einer über sie hinaus¬
gehenden Schule unmöglich gemacht wird; denn Schulgeldfreiheit kann nur für
den Unterricht der öffentlichen Volksschule gefordert werden, die Grenze aber,
Mo dieser aufhört und der höhere beginnt, wird sich bei solchen vereinigten
Schulen meist nicht mit Sicherheit ziehen lassen. Es bleibt also dann nichts
übrig, als entweder neben der bisherige» Schule eine besondre Volksschule zu
"richten, wozu in der Regel die Mittel fehlen werden, oder die bestehende
Schule auf die Stufe der Volksschule herabzudrücken. Indes so zutreffend
dieser Einwand gegen die Aufhebung des Schulgeldes auch an sich ist, so greift
er doch uur bei einer so verschwindenden Anzahl von Schulen Platz, daß er
gegenüber den allgemeinen für die Aufhebung des Schulgeldes sprechenden
Gründen nicht in Betracht kommt.
Was endlich die rechtlichen Gründe anlangt, so behauptet man, die Auf¬
hebung des Schulgeldes widerstreite dem im Volke lebenden Rechtsbewußtsein,
welches vou jeher dahin gegangen sei, daß der Unterricht bezahlt werde, und
welches deshalb auch gesetzliche, die Unentgeltlichkeit regelnde Bestimmungen nicht
habe zur Durchführung gelangen lassen; sie widerstreite aber auch dem Geiste
der Verfassung, denn sie mache die verfassungsmäßige Unterrichtsfreiheit durch
die mehrerwähnte thatsächliche Ausschließung von Privatschulen großenteils hin¬
fällig und den Volksschulunterricht zum Staatsmonopol. An diesen Behaup-
tungen ist soviel richtig, daß ursprünglich, abgesehen vou den kirchlichen Schulen,
allgemein Schulgeld erhoben wurde, sowie daß, als später die preußische Gesetz¬
gebung den Grundsatz der Aufhebung des Schulgeldes aussprach, dieser nicht durch-
zudringen vermochte. Mindestens anfechtbar aber ist die Behauptung, daß dies
feinen Grund in dem Rechtsgefühl des Volkes gehabt habe. Der wahre Grund
wird vielmehr in dem Widerstande der besitzende» Klassen zu suchen sein. Ruht
doch die Steuerlast naturgemäß stets hauptsächlich auf diesen, und daß das
Schulgeld eine Bevorzugung der Wohlhabenden auf Kosten der Ärmeren be¬
deutet, ist bereits oben hervorgehoben. Es war daher natürlich, daß die wohl¬
habenden Klassen der Aufhebung des Schulgeldes entschiedenen Widerstand ent¬
gegensetzten, welchen rücksichtslos zu brechen die Negierung sich scheute und im
landrcchtlichen Gebiet auch kaum die Mittel besaß, da das Landrecht selbst nur
nebensächliche Geltung beanspruchte. Mag man aber selbst, was wir nicht ver¬
mögen, in dem Schulgelde eine von dem allgemeinen Rechtsbewußtsein des
Volkes gebilligte Einrichtung erkennen, so schließt dies nicht ans, auch eine solche
abzuschaffen, wenn sie sich minder gut als eine andre erweist.
Vollends verfehlt aber ist die Berufung auf die Verfassung. Die Ver¬
fassung sagt: ,,Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei," und: „Unterricht zu
erteilen und Unterrichtsanstalten zu gründen und zu leiten, steht jedem frei,
wenn er seine sittliche, wissenschaftliche und technische Befähigung den betreffenden
Staatsbehörden nachgewiesen hat." Damit wird lediglich zum Ausdruck gebracht,
daß der Staat Privatunterricht gestatte und ihn keinen andern Beschränkungen,
als den ausgesprochenen, unterwerfe. Keineswegs liegt dagegen hierin die Zusage,
dafür zu sorgen, daß nicht ein Wettbewerb des Staates oder der Gemeinde
die Gründung von Privatschulen thatsächlich unmöglich mache.
Wir haben gesehen, daß allerdings dringende Gründe für eine allgemeine
Beseitigung des Schulgeldes bei den öffentlichen Volksschulen sprechen, und
daher wird diese in ein künftiges Unterrichtsgesetz als Grundsatz aufzunehmen
sein. Es fragt sich aber, ob die thatsächlichen Verhältnisse so liegen, daß die
Abschaffung ausnahmslos ausgesprochen werden kann, oder ob sie nicht vielmehr
ausnahmsweise die Beibehaltung des Schulgeldes erfordern. Wir gehen bei
der Beantwortung dieser Frage von der Wohl sicher zutreffenden Annahme aus,
daß das künftige Unterrichtsgesetz das „Sozietätsprinzip" fallen läßt und das
„Kommunalprinzip" durchführt. Dann liegen durchaus genügende Gründe
vor, die Möglichkeit der Beibehaltung des Schulgeldes in einzelnen Fällen
vorzusehen.
Solche Gründe liegen einmal in den Verhältnissen der Gemeinde und
sodann in denen der Gutsbezirke. Was die erstern anlangt, so hat man viel¬
fach die Zwangsbeseitigung des Schulgeldes als einen unzulässigen Eingriff in
die Selbstverwaltung der Gemeinden dargestellt. Dieser Ansicht in solcher
Allgemeinheit vermögen wir uns nicht anzuschließen. Die selbständige Finanz¬
verwaltung der Gemeinden hat sich nie so weit erstreckt, daß es ihnen ohne Ein¬
schränkung überlassen geblieben wäre, ihre Ausgaben auf jede beliebige Weise
zu decken. Der Staat hat sich und muß sich stets eine Aufsicht vorbehalten,
und vermöge dieser hat er gewisse Aufbringungsarten der Gemeindebcdürfnisse,
sei es allgemein durch Gesetz, sei es im Einzelfall durch Verfügungen seiner
Behörden, untersagt; man denke nur an das Verbot von Zuschlägen zur
Wandergewcrbesteuer wie an die weitgehenden Beschränkungen im Besteuerungs-
recht der Landgemeinden. Dazu kommt, daß die bisherige Selbständigkeit der
Gemeinden in Beziehung auf die Aufbringung der Gemeindelasten durchaus
kein Uo1i ins tMAörs darstellt, im Gegenteil einer gesetzlichen Regelung und
Einschränkung dringend bedarf.
Dagegen kann es in einzelnen Fällen mit Rücksicht ans obwaltende besondre
Verhältnisse allerdings eine Härte sein, gleichzeitig mit der Aufbürduug einer so
erheblichen Last wie der Schnlunterhaltung der Gemeinde die Möglichkeit zu
nehmen, diese nach ihrem Dafürhalten zum Teil uach dem Bcsteuerungs- und
zum andern Teil nach dem Gebührcnprinzip aufzubringen; es kann sich vielmehr
empfehlen, der Gemeinde bei Deckung der neuen Ausgabe möglichst freie Hand
zu lassen.
Die letztere Erwägung verlangt ihre volle Berechtigung durch die Rücksicht
auf die Zustünde, die gegenwärtig in den Haushalten unsrer Gemeinden herrschen.
Ein wirkliches wissenschaftliches System wird man bei den Steuern der Mehr¬
zahl der Gemeinden vergebens suchen. Entweder bilden sie, wie meist, namentlich
in den Landgemeinden, ein systemloses, lediglich den augenblicklichen Bedürfnissen
entsprungenes Konglomerat von Zuschlägen zu den direkten Staatssteucru oder
eine ebenso zufällig gebildete Vereinigung besondrer direkter und indirekter Ge¬
meindesteuern. Jedenfalls rührt an den meisten Orten das Gemeindesteuer-
systcm aus einer Zeit her, wo die Ausgaben der Gemeinde unvergleichlich ge¬
ringer waren als heutzutage. Bei der steten Steigerung der Lasten hat man
dann meist ohne Rücksicht auf die Grundsätze der Finanzwissenschaft und ohne
an die Erhaltung eines dieser entsprechenden Systems zu denken, willkürlich
entweder neue Steuern eingeführt oder die bestehenden erhöht. Es ist aber klar,
daß weder ein — diesen Namen nicht verdienendes — System von Zuschlägen,
noch ein solches besondrer Gemeindesteuern, selbst wenn es früher passend war,
dieses bleibt, wenn sich die Gemeindebedürfnisse so bedeutend steigern, wie dies
in der neuesten Zeit bei den meisten Gemeinden der Fall gewesen ist. Es ent¬
stehen dann notwendigerweise Härten bei gewissen Steuern, die bei fortgesetzter
Erhöhung bis zur Unerträglichkeit gehen. Namentlich wird dies dann geschehen,
wenn die Neubelastnngen für Zwecke eintreten, die bisher noch nicht verfolgt
wurden, wie z. B. wenn eine Gemeinde große Aufwendungen für Straßenbauten
macht und diese durch Erhöhungen innerhalb des bestehenden, ausschließlich oder
vorherrschend Personalsteuern umfassenden Gemeindesteuersystems deckt. In ganz
hervorragendem Maße muß dies der Fall sein, wenn die Gemeinden die bisher
eine Sozietätslast bildenden, in ihrer Höhe vielleicht alle bisherigen Gemeinde¬
ausgaben übersteigenden Schulunterhaltungskosten übernehmen müssen. Vielfach,
sogar wohl meistenteils wird es ja möglich sein, diese innerhalb des Rahmens der
bestehenden Gemeindesteuern durch angemessene Verteilung auf diese ohne Un¬
gerechtigkeiten, welche die Nachteile des Schulgeldes überwiegen, aufzubringen;
aber in vielen Fällen wird sich dies auch nicht durchführen lassen, würde es
vielmehr einer gänzlichen Umgestaltung des bestehenden Gemeindesteucrsystems
bedürfen. Eine solche aber ohne eine einheitliche gesetzliche Regelung der Ge¬
meindesteuerfrage, die alle verschiednen in Betracht kommenden Gesichtspunkte
berücksichtigt, von Fall zu Fall vorzunehmen, dürfte äußerst bedenklich sein:
einmal würde dadurch die längst angestrebte einheitliche Gemeindestenergcsetzgebuug
sehr erschwert, sodann aber würde dies in der betroffenen Gemeinde einen Wider¬
stand hervorrufen, der vielleicht die Durchführung des ganzen Unterrichtsgesctzes
in Frage stellen oder doch, wenn dieser Widerstand rücksichtslos gebrochen
würde, eine nachhaltige, den Zwecken des Staates und insbesondre der Schule
gefährliche Unzufriedenheit zurücklassen würde. Außerdem könnte eine derartige
Maßregel manchen Gemeinden durch Vertreibung und Fernhaltung bestimmter
Eiuwohnerklassen schwere finanzielle Schäden zufügen.
Vielleicht noch schwerer, weil meist in natürlichen Umständen liegend,
dürften bei einzelnen Gemeinden die Vevölkcrungsverhältnisse ins Gewicht fallen,
und zwar entweder die Zusammensetzung der Einwohnerschaft oder der schnelle
Wechsel derselben. So giebt es sehr zahlreiche Gemeinden, in denen die Zahl der
nur ein geringes Einkommen beziehenden Bewohner unverhältnismäßig überwiegt.
Diese zu alle» Gemeindebedürfnissen heranzuziehen, kann einerseits unbillig sein,
weil sie von den Gemcindeeinrichtungcn zum großen Teile gar keinen Nutzen
haben — und in beschränktem Umfange wird man bei der Gemeindebesteuerung
doch den Grundsatz von Leistung und Gegenleistung anerkennen müssen —,
anderseits infolge der verhältnismäßig hohen Belastung zu zahlreichen Exekutionen
und damit hohen Erhebungskosten führen. Für solche Fälle wird es, da für
die einfachen Verhältnisse kleiner Gemeinden und ihres Haushaltes die Ein¬
führung eines vollständigen Zwecksteuersystems nicht zu empfehlen sein wird,
oft ein sehr angemessener Ausweg sei, die kleinen Bewohner im übrigen von
Gemeindesteuern frei zu lassen und nur zu einem mäßigen Schulgelde heranzu-
ziehen. Die hierdurch herbeigeführte gänzliche Freilassung der Kinderlosen
kann nicht schwer ins Gewicht fallen, da gerade die niedern Stände in frühern
Jahren als die höher», und sobald es ihnen irgend möglich ist, zu hei¬
raten Pflegen, die unverheiratet bleibenden daher auch thatsächlich meist die
ärmsten sind.
Anderseits kann auch gerade das Vorhandensein zahlreicher wohlhabender,
unangesessener Einwohner die Beibehaltung eines Schulgeldes dringend wün¬
schenswert machen, nämlich dann, wenn an einem Orte besonders viele Personen
ihren Wohnsitz haben, deren Einkommen lediglich aus auswärts gelegenem
Grundbesitz oder auswärts betriebenen Gewerben, Bergwerken ?c. fließt. Diese
Personen können, während sie alle Anstalten ihrer Wohnsitzgemeinde in dem¬
selben Maße wie die andern Einwohner benutzen, von dieser nur mit einem
Viertel ihres Einkommens zu den Gemeindesteuern herangezogen werden, ohne
daß sie in andrer Weise der Wohnsitzgemeinde einen entsprechenden Nutzen
bringen. In derartigen Fällen kann daher die möglichst umfassende Anwendung
des Gebührenprinzips und damit auch die Erhebung von Schulgeld das
einzige Mittel sein, diese Einwohncrklasse angemessen für die Gemeindebedürfnisse
in Anspruch zu nehmen.
Ähnlich liegen die Verhältnisse in Orten, an denen sich eine außergewöhnlich
große Zahl von Beamten befindet — man denke an die oft auf kleinen Dörfern
gelegenen großen Eisenbahnstationen —: die Beamten genießen gegenüber den Ge-
meindeabgaben Vorrechte, vermöge deren sie nur in beschränktem Umfange zu den¬
selben herangezogen werden können. In dem Augenblicke, wo die Schullasten aus
Svzietäts- zu Kommnnallasten werden, erstrecken sich die Vorrechte auch auf
diese. Hierdurch kann der Gemeinde ein sehr erheblicher Ausfall entstehen, den
natürlich die übrigen Einwohner zu tragen haben. Daß die Gemeinde in
andrer Weise einen gleichwertigen Nutzen von den Beamten hat, wird vielfach,
aber keineswegs immer zutreffen. Auch hier wird daher die Erhebung von
Schulgeld, auf welches ja die Beamtenvorrechte keine Anwendung finden, im
Interesse der übrigen Ortseinwohner und der Gemeinde selbst geboten sein.
Gleiches gilt von den Militärpersonen.
Wie aus der Mischung der Bevölkerung, so können auch aus deren schnellem
Wechsel der Abschaffung des Schulgeldes an einzelnen Orten Hindernisse ent¬
stehen. In Gegenden mit bedeutender Jndustriethätigkeit, vor allem in Ge¬
meinden, in denen sich solche Fabriken befinden, die regelmäßig nur einige
Monate des Jahres arbeiten, wird hierdurch ein besonders schnelles Ab- und
Zufließen — namentlich der arbeitenden Bevölkerung — herbeigeführt. Das¬
selbe findet statt, wo es üblich und erforderlich ist, die nötigen Arbeitskräfte
für die Landwirtschaft von auswärts kommen zu lassen. Der Aufenthalt der
hierdurch herbeigezogenen Personen währt oft weniger als drei Monate. Dann
ist der Gemeinde die Möglichkeit genommen, sie zu den Lasten heranzuziehen,
während ihr doch erhebliche Ausgaben durch sie verursacht werden. Sie kann
diese Personen daher nur durch Gebühren zu Zahlung für die Gemeindezwecke
nötigen. Ganz besonders angemessen und erforderlich erscheint dies gegenüber
den Schullasten, welche durch die Notwendigkeit, für den Schulunterricht der
Kinder jener Bevölkerung zu sorgen, oft erheblich gesteigert werden.
Wir kommen zu den Gutsbezirken. Die Verfassung legt die Unterhaltung
der Volksschulen den „Gemeinden" auf, schweigt also von den selbständigen
Gutsbezirken, und sie mußte von diesen schweigen, weil sie an andrer Stelle die
Aufhebung jeder Sonderstellung der Gutsherren aussprach. Diese Aufhebung
ist jedoch nicht erfolgt, die bezüglichen Bestimmungen der Verfassung sind be¬
seitigt, und die selbständigen Gutsbezirke bestehen fort. Diese, vorherrschend in
den östlichen Provinzen vorhanden, umfassen ein Areal von mehr als acht
Millionen Hektaren mit über zwei Millionen Einwohnern. Ihre Verhältnisse
fallen daher neben denen der Gemeinden bei Regelung der Schulunterhaltungs-
last sehr ins Gewicht. So weit das laudrechtliche „Sozietätsprinzip" gilt, hat
die Sonderstellung derselben Einfluß nur bezüglich des Gutsbezirks des Schul¬
ortes, die übrigen Gutsherren sind nichts weiter als Hausväter. Dagegen trägt
die Gemeindelasten in allen Gutsbezirken samt und sonders der Gutsherr, eine
Verteilung derselben auf die Gutscinsassen ist öffentlich-rechtlich unzulässig.
Wird nun das „Kommunalprinzip" durchgeführt und damit die Schulunter¬
haltung Gemeindelaft, so haben, da Gutsbezirke grundsätzlich den Gemeinden
gleichgestellt sind, jene ebenso wie diese die Schnllast zu tragen. Es muß
daher dann der Gutsherr diese für den ganzen Gutsbezirk allein auf seine
Schultern nehmen. Dies ist aber heute an vielen Orten schlechterdings un¬
möglich. Denn der Begriff des Gutsbczirkes deckt sich keineswegs mehr mit
dem des gutsherrlichen Besitzes, es giebt vielmehr zahlreiche Gutsbezirke, in
denen der Gutsherr nur den allerkleinsten Teil des Grund und Bodens noch
sein eigen nennt, und innerhalb deren ganze Ortschaften entstanden sind und
zahlreiche Gutseinsassen den Gutsherrn an Leistungsfähigkeit weit überragen.
Gab es doch 1881 in Oberschlesien acht Gutsbezirke mit 2195 bis 7960 und
in der ganzen Monarchie nicht weniger als sechsundvierzig mit mehr als 1000
Einwohnern. In Gutsbezirken dieser Art kann unmöglich die ganze Schullast
den Gutsherren aufgebürdet werden. Entweder muß man von dem nur folge¬
richtigen Grundsatze der Unzulässigkeit einer Verteilung der Gemeindelasten
in Gutsbezirken eine Ausnahme machen, wie dies bereits hinsichtlich der Armen-
last geschehen ist und auch in den 1868 und 1869 dem Landtage vorgelegten
Schulgesetzentwürfen in Aussicht genommen war, oder aber die Beibehaltung
des Schulgeldes für Fälle, in denen die erwähnten Verhältnisse in besonders
hohem Grade obwalten, zulassen. Welcher dieser beiden Wege der zweckmäßigere
sein wird, dürfte wesentlich von dem Verhältnis derjenigen Gutsbezirke, in
welchen die gedachten Zustünde vorherrschen, zu der Gesamtheit der Gutsbezirke
abhängen. Es wird jedoch erwogen werden müssen, daß die statutarische Bei¬
behaltung des Schulgeldes ohnedies bei den oben dargestellten Verhältnissen
der Gemeinden sich nicht wird umgehen lassen und daher der Weg einer Durch¬
löcherung des Rechtssystems der Gutsbezirke vermieden werden kann; denn wo
auch bei Erhebung eines Schulgeldes die Belastung des Gutsherrn noch eine
übermäßige sein würde, da ist es geboten, deu Gutsbezirk überhaupt aufzuheben.
Selbstverständlich sind die im vorstehenden beleuchteten Verhältnisse nicht
die einzigen, unter denen die Beibehaltung des Schulgeldes geboten erscheint;
indes es sind Wohl die verbreitetsten, und sie genügen, um die Notwendigkeit
zu beweisen, bei einer grundsätzlichen Abschaffung des Schulgeldes doch den Ge¬
meinden die Möglichkeit zu lassen, es durch Statut beizubehalten oder neu
einzuführen. Nur dann könnte dies vermieden werden, wenn der Staat in
allen Fällen, in denen sonst nur durch Beibehaltung des Schulgeldes Mi߬
stände zu vermeiden wären, in vollem, zur Verhütung solcher Mißstände er¬
forderlichen Umfange mit seinen Mitteln einträte, worin aber wieder vielfach
ein ungerechtfertigtes Geschenk an gewisse Einwohnerklassen auf Kosten der Ge¬
samtheit der Steuerzahler liegen würde. Wenn man aber den Gemeinden
die Beibehaltung des Schulgeldes durch Statut gestattet, so ist damit nicht
gesagt, daß sie hierin unbeschränkt sein sollen. Es wird vielmehr die Ent¬
scheidung der Aufsichtsbehörde zu übertragen sein, und zwar, da es sich
um Gemeiudehaushalts- und Schulinteressen handelt, der Gemeinde- und der
Schulaufsichtsbehörde. Diese werden insbesondre auch dann zu entscheiden haben,
wenn von mehreren zu einem Schulsystem vereinigten Gemeinden oder Guts¬
bezirken die einen Schulgeld erheben wollen, die andern nicht, da es nicht
Wohl angeht, zuzulassen, daß innerhalb eines Schulsystems zum Teil Schulgeld
erhoben wird, zum Teil nicht. Bei all ihren Entscheidungen aber werden die
genannten Behörden stets davon auszugehen haben, daß die Erhebung von
Schulgeld nur die Ausnahme zu bilden hat und nur dort zuzulassen ist, wo
ohne sie Mißstände eintreten würden, welche nach Ermessen der Behörde die
Schattenseiten der Beibehaltung des Schulgeldes überwiegen würden.^)
Weiter wird man jedoch auch die Verwaltungsbehörden nicht beschränken
können, da es selbstverständlich für ein Gesetz unmöglich ist, die Fälle, in denen
eine solche Ausnahme zulässig sein soll, besonders aufzuzählen. Dagegen wird
es allerdings Aufgabe des Gesetzes sein, bezüglich des etwa zu erhebenden
Schulgeldes Regeln aufzustellen, die geeignet sind, die Mängel desselben möglichst
zu mildern. Welcher Art diese Regeln sein müssen, ergiebt sich aus der vor¬
stehenden Erörterung der gegen das Schulgeld sprechenden Gründe. Vor allem
wird demnach ein Kopfschulgeld unbedingt auszuschließen sein, da ein solches,
wie gezeigt worden ist, sich auch von dem Standpunkte der Gebühr nicht recht¬
fertigen läßt; das Schulgeld wird vielmehr nach dem Einkommen abgestuft
werden müssen. Dabei wird jedoch auch auf die verschiedene Leistungsfähigkeit
bei gleichem Einkommen Rücksicht zu nehmen und wenigstens zu verhüten sein,
daß das Schulgeld in einen allzu krassen Gegensatz dazu tritt. Dies läßt sich
erreichen, wenn das Schulgeld nur für das erste Kind eines Vaters voll, für
die weitern, gleichzeitig die Volksschule derselben Gemeinde besuchenden Kinder
desselben Vaters aber nur zum Teil erhoben wird und nie sür einen Familien¬
vater eine bestimmte Vervielfältigung des volle» Satzes übersteigen darf, gleich¬
viel, wieviel Geschwister die Schule benutzen, z. B. wenn das zweite und dritte
Kind je das halbe Schulgeld zahlen, die folgenden aber frei sind.
Ebenso erscheint es mit Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit, aber auch
gleichzeitig um die das Ehrgefühl kränkenden Schulgelderlasse zu vermeiden,
geboten, zu bestimmen, daß von Personen, deren Einkommen el» bestimmtes
niedrigstes Maß nicht erreicht, Schulgeld überhaupt nicht, und von solchen, die
ein Einkommen beziehen, welches dieses niedrigste Maß übersteigt, aber immerhin
noch klein ist, nur ein bestimmter höchster Satz an Schulgeld gefordert werden
darf, sodaß vielleicht die Schulgeldpflicht bei einem Einkommen von 420 Mark
begönne und der höchste Satz jährlich für das Kind bei Einkommen von 420
bis 660 Mark (erste Klasscnsteuerstufe) 1 Mark 50 Pf., bei Einkommen von
660 bis 900 Mark (zweite Klasseusteuerstufe) 3 Mark betrüge. Schmierigkeiten
wird eine solche Abstufung des Schulgeldes nicht bieten, wenn man sich dabei
lediglich an die staatliche Steuereinschützung anschließt.
Eine oberste Grenze wird dem Schulgeld, um ihm die Eigenschaft einer Ge¬
bühr für den Unterricht zu erhalten, auch insofern zu setzen sein, als gesetzlich zu
bestimmen ist, daß dadurch nur ein gewisser Teil der Schulnnterhaltungskosten
gedeckt werden darf, und es ermäßigt werden muß, wenn sein Ertrag diesen Teil
dauernd und erheblich übersteigt.*)
Endlich werden noch Bestimmungen mehr formeller Natur nötig sein,
nämlich zunächst eine dahin gehende, daß das Schulgeld zur Gemeindekasse
eingenommen und aus dieser dem Lehrer ein festes Gehalt gezahlt werden muß,
sowie daß die Einziehung des Schulgeldes ohne jede Mitwirkung des Lehrers
zu erfolgen hat.
Wenn die Gesetzgebung den vorgeschlagenen Weg betreten will, so fragt
es sich nur noch, ob sie dies kann ohne eine Abänderung der Verfassung. Diese
sagt im letzten Absatz des Art. 26: „In der öffentlichen Volksschule wird der
Unterricht unentgeltlich erteilt." Hier ist der Grundsatz der Unzulässigkeit der
Erhebung eines besondern Entgelts für den Unterricht ganz allgemein und ohne
jede Einschränkung ausgesprochen. Wenn also ein Unterrichtsgesetz zwar grund¬
sätzlich diese Bestimmung aufnimmt, aber Ausnahmen von derselben zuläßt, so
setzt es sich hierdurch mit der Verfassung in Widerspruch, und es bedarf daher
vorher der Abänderung derselben.
Fassen wir alles zusammen, so würde ein Unterrichtsgesetz die Anforderungen
der Theorie mit denen der Praxis in Einklang bringen, wenn es etwa folgende
Grundsätze ausspräche:
Die Mittel zur Einrickitnng und Unterhaltung der dem Bedürfnis ihrer Mit¬
glieder entsprechenden öffentlichen Volksschulen sind von den politischen Gemeinden
und den selbständigen Gutsbezirken aufzubringen. Bei nachgewiesenen Unvermögen
derselben tritt der Staat ein.
Der letzte Absatz des Art. 25 der Verfassung wird aufgehoben.
Die Kosten der Einrichtung und Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen
werden zusammen mit den zur Bestreitung der übrigen Gemeindebedürfuisse er¬
forderlichen Mitteln aufgebracht.
Die Erhebung von Schulgeld bei den öffentlichen Volksschulen ist in der Regel
unzulässig. Doch können aus zwingenden Gründen die Schnluuterhaltuugspflichtigen
mit Genehmigung der Gemeinde- und Schulaufsichtsbehörden die Erhebung eines
Schulgeldes von den die Schule besuchenden Kindern beschließen.
Wird die Erhebung von Schulgeld beschlossen, so muß es nach der Klassen-
und klassifizirten Einkommensteuer abgestuft werde«. Von Personen, deren Ein-
kommen uuter einem gewissen niedrigsten Satze bleibt, darf Schulgeld überhaupt
nicht, vou Personen, deren Einkommen zwar diesen Satz übersteigt, aber einen ge¬
wissen höheren Mindestbetrag nicht erreicht, nur in einem gewissen jährlichen Höchst¬
betrage für je ein Kind erhoben werden.
Bei gleichzeitigem Besuch der öffentlichen Volksschulen derselben Gemeinde
oder desselben Gutsbezirks durch zwei oder mehrere Kinder desselben Vaters ist
das Schulgeld nur für das erste Kind voll, für die spätern nur zu einem be¬
stimmten Teile zu entrichten. Nie darf von einen« Vater, wie viel er auch Kinder zur
Schule schickt, mehr als eine bestimmte Vervielfältigung des einfachen Schulgeldes
gefordert werden.
Der Satz des Schulgeldes darf uicht höher sein, als erforderlich ist, um aus
dem Ertrage desselben einen bestimmten Teil der Schuluuterhaltuugskosten zu decken.
Steigt der Ertrag des Schulgeldes dauernd und wesentlich über diese Grenze, so
wuß, nötigenfalls ans Anordnung der Aufsichtsbehörden, eine entsprechende Herab¬
setzung des Schulgeldes eintreten.
Das Schulgeld muß ohne jede Mitwirkung des Lehrers zur Gemeindekasse
eingezogen und aus dieser dem Lehrer ein von dem Ertrage des Schulgeldes un¬
abhängiges festes Gehalt gewährt werden.
n diesen Tagen hält jeder Freund der Literatur seine kleine Storm-
Andacht. Es verlautet, daß die Husumer sich daran gemacht haben,
am 14. September den siebzigsten Geburtstag ihres berühmten Mit¬
bürgers festlich zu begehen, und da greifen wohl auch viele ge¬
bildete deutsche Männer und noch mehr edle deutsche Frauen außer
Husum nach den zierlichen Ausgaben von „Jmmensee," „Viola, trioolor," „^quis
8udwM8U8," „Auf der Universität," „Der stille Musikant." ..Waldwinkel" u.s.w,,
die auf ihren Tischen liegen, um sich die Seele ihres Lieblingsdichters neu zu
vergegenwärtigen. Ist auch nicht die gesamte deutsche Nation hinter den Hu-
sumern, so feiert Wohl der ganze deutsche Mittelstand, dessen Dichter Theodor
Storm so recht eigentlich geworden ist, in der Stille das Fest mit. Die Hnsumer
allerdings haben den meisten Grund, ihren Mitbürger zu ehren. Denn für die
Stormsche Muse, die nicht gern in die Weite schweift, sich anch nicht in jene
Gedankenhöhen verliert, welche des Erdgeruchs der heimatlichen Scholle ganz
entbehren, ist Husum der liebste Aufenthalt geworden. Die meisten Geschichten,
selbst die historischen Novellen haben die Heimat und nicht bloß die meer-
nmschlungcne Provinz Schleswig-Holstein, sondern Husum selbst wenn nicht zum
Schauplatz, so doch zum Ausgangspunkt der Handlung. Wie oft heißt es bei
Storm: „Meine Vaterstadt!" Uno Husum, das weltabgelegcne, weder durch
eine hervorragende Industrie, noch durch eine» Hafen, noch dnrch eine Universität,
noch durch ein weltgeschichtliches Ereignis berühmte kleine Städtchen, ist durch
Storms Phantasie dem deutsche» Volke so vertraut geworden, wie es nur irgend
eine Märchenstadt werden konnte. Zwar steht es nicht so klar vor uns, daß
wir einen Stadtplan davon entwerfen konnten, wie man von Dantes Hölle
Pläne gezeichnet hat, sondern ganz im Charakter der Stormschcn Poesie ist es eine
bestimmte Stimmung, nämlich die ruhiger, aber herzerquickender, weltentsagender,
aber auch schmerzfreier, leidenschaftsloser, zu Rückblicken in die Vergangenheit
einladender Beschaulichkeit, die mit dem Namen und Klänge des Städtchens in
uns geweckt wird. Aufregende Schicksale heiterer und ernster Art haben sich zur
Genüge in Husum abgespielt, über alle Ereignisse und Menschen lagert es aber
wie der blane Duft poesiereicher Ferne, der die in der Nähe allzulebhaften
Farben vermittelnd ausgleicht. Und darum haben die Husumer zuvörderst die
Pflicht, ihren geliebten Storm zu feiern: er hat sie der Nation ans Herz ge¬
bunden. In weiteren Kreisen gedenken aber auch die deutschen Frauen an diesem
siebzigsten Geburtstage dankbar ihres Dichters. Denn wahrlich kein zweiter
Dichter der Gegenwart hat das deutsche Heim, seine auf jeden geringen Hausrat
verteilte Seele und das stille Walten der Frau so innig, so verständnisvoll,
so anspruchslos und doch so kunstreich gefeiert wie Theodor Storni. Seine
Lyrik weiß von verschmähter Liebe in andern, als den leidenschaftlich sich selbst
und das Weib ironisirenden Tönen zu klagen, als die Lyrik Heines: Storm
entsagt ohne Groll und behält wie sein Reinhart im „Jmmensee" oder wie der
treulos verlassene Botaniker in „Waldwinkel" oder wie der „stille Musikant"
trotz aller Erfahrungen ein wehmütig wohlwollendes Erinnern. Die Galerie
seiner Frauencharaktere ist sehr reich: von der stumm entsagenden Elisabeth im
„Jmmensee," der keusch verschlossenen „Psyche," der stolzen Lore in der Er¬
zählung „Auf der Universität," der passiv sich einschmeichelnden Haushälterin
des „Vetters Christian," der klugen und energischen Anna im „Schweigen" bis
zur koketten Slowakin in der Geschichte „Draußen im Haidedorf" und zur
sinnlich glühenden Leidenschaft im „Fest auf Hadersleevhus" — welch ein Reichtum
von Frauencharakteren! Am besten aber hat er es verstanden, das Gemüt der
deutschen Jungfran zu schildern und der Jugend überhaupt. Er kommt immer
gern auf sie zurück: das Erwachen der Sinnlichkeit, die Schamhaftigkeit, das
schweigende Eingeständnis von Liebe, die unbefangene Lebenslust, die rücksichts¬
lose Hingebung des jugendlichen Weibes — die hat er am zartesten em¬
pfunden. Und fast immer schiebt er die Schuld auf den Mann, wenn es zwischen
beiden zu keinem gedeihlichen Abschluß gekommen ist („Angelika," „Waldwinkel").
Darum wird auch die Frau des deutscheu Mittelstandes Theodor Storm zu
seinem siebzigsten Geburtstage eine Stunde dankbarer Andacht widmen. Die
Literatur aber gedenkt seiner an diesem für jedes Menschenleben denkwürdigen
Tage als eines echten Dichters, einer redlichen Künstlernatur, die mit zähem
Fleiße in dreißigjähriger Arbeit immer höhern künstlerischen Aufgaben zustrebte
und sich doch dabei der Grenzen ihrer episch-lyrischen Begabung bewußt blieb,
deren Werke daher dem Besten an die Seite gestellt werden müssen, was die
Zeitgenossen geschaffen haben, und deren Individualität sich ein deutliches, ur¬
sprüngliches Gepräge bewahrt hat. Storms Dichtung ist nicht von jener
wuchtige» Geisteskraft wie die Gottfried Kellers, sie hat keinen revolutionären
Blutstropfen; sie ist nicht so lapidar in der Gestaltung der Figuren und so
kurz angebunden im Stil, aber auch nicht so kühl wie die C. F. Meyers; sie hat
weht den Esprit und die einschmeichelnde Grazie, aber auch nicht das reflektirte
Wesen der Poesie Paul Hcyses: sie hat ihren eignen originalen Charakter, der
zunächst durch das, was mau „Stimmung" nennt, ausgezeichnet wird. Bei keinem
unsrer Novellisten ist die Art, der Ton des Vortrages für die Erzählung so
wichtig wie bei Storm: sein persönlicher Anteil an der Geschichte, die Umstände,
unter denen er sie erfahren hat, die begleitenden Umstünde der Handlung selbst
werden in seiner Darstellung poetisch mindestens ebenso bedeutsam, wie das ge¬
wählte Motiv der Fabel und der dargestellte Menschcnchamkter. Meist geht
^tora von einer persönlichen Erfahrung, einer Beobachtung, Begegnung, einem
Erlebnis jetzt oder in vergangener Zeit aus; gern führt er sich als teilnahms-
Vollen Beschauer ein, und dieses Persönliche in der Darstellung giebt seinen
Erzählungen ihren eigentümlichen Charakter, den wir eben mit Stimmung be¬
zeichnen. Aus der nächsten Umgebung hat er dann nach und nach seine Kreise
bis in die Vergangenheit des siebzehnten Jahrhunderts gezogen und die wegen
ihres Kolorits vielbewunderten historischen Novellen (..Eekenhof," „Renate" :c.)
sind ihm organisch aus der Vertiefung ins Einzelne und Kleine erwachsen.
Auf die Darstellung des Zustündlichen, auf das Erschöpfen des Gefühles
vom einzelnen, woran ein Teil seiner Seele hängt, ist stets sein künstlerisches
Augenmerk gerichtet gewesen, und darum sind seine Novellen nur in vereinzelten
Fällen („Schweigen") Problemstudien. Darum verfolgt er auch gern einen
Lebenslauf vom Anfang bis zum Ende, darum zieht er es vor, nicht stetig,
sondern stationsweise die Geschichte vorzutragen: eine Kunst des Helldunkels,
die so recht die Neigung, stimmungsvoll zu erzählen, ergänzt. Was Storm
durch diese Audacht für das Kleine erreicht hat, ist, daß man seine Geschichten
immer wieder von vorn lesen kann und in der emsigen Kleinmalerei stets neue
Striche entdeckt, und serner, weil die Stimmung immer frisch sich erzeugt, daß
das Interesse mit dem Ende der Geschichte nicht erschöpft wird. Wer, der die
Novelle „Waldwinkel" mit ihren wundersamen Waldbildern, ihrer Verherr¬
lichung des idyllischen Naturgenusses, gelesen hat, finge nicht immer wieder gern
an, sie von neuem zu lesen?
„Echte Storms" in dem Sinne wie die Kunstkenner von „echten Rem-
brandts" sprechen, sind auch seine neuesten, unter dem Titel „Bei kleinen Leuten,"
vereinigten Novellen*): geschrieben im neunundsechzigsten Lebensjahre, verraten
sie nicht die geringste Spur einer Abnahme der Kraft. „Bötjer Basch"
könnte man das schauspielmäßige Gegenstück zur Tragödie „Hans und Heinz
Kirch" (1883) nennen: hier und dort ein Sohn, der übers Meer geht, sein
Glück zu suchen; aber Vater Kirch erhält einen Brief vom fernen Sohne
und schickt ihn in seinem Geize uneröffnet zurück, weil er unfrankirt gekommen
ist; der Sohn geht zu Grunde. Der Fritz des Bötchers Basch ist unter
den liebe- und gemütvollen Augen seines frühverwitweteu Vaters besser ge¬
artet als Hinz Kirch; Fritz hat aus Kalifornien einen Brief an den Vater
geschrieben, der verloren gegangen ist; statt dessen kam die Nachricht, daß Fritz
von neidischen Goldgräbern erstochen worden sei. Dem vielgeprüften Vater
Basch wird schließlich noch sein einziges Gut aus der Zeit des Glücks, ein
Dompfaff, welcher die Melodie „Üb immer Treu und Redlichkeit" pfeifen kann,
geraubt, und damit jeder Zusammenhang mit der Welt. Er springt ins Meer,
wird gerettet, und Fritz kommt rechtzeitig zurück, um die Genesung des Alten
zu beschleunigen. So nackt erzählt, hat die Geschichte natürlich nicht die Hälfte
jenes Reizes, den ihr die poetische Ornamentik und der Vortrag des Dichters
Verlieben hatte. Erich Schmidt rühmt die Kunst Sturms, gemalte Bilder zu
vergegenwärtigen: hier ein neuer Beweis. Und welche heiter rührenden Wir¬
kungen weiß Storm mit dem Dompfaffen zu erzielen, welch feiner Humor lagert
über der alten Jungfer Riekchen Terebinthe!
Ganz aus einer Erfahrung der rückschauenden Phantasie herausgewachsen
ist die zweite Novelle: „Der Doppelgänger." Man kann die Beobachtung
machen, daß man von derselben Persönlichkeit aus zwei verschiednen Abschnitten
ihres Lebens zwei verschiedne Bilder in der Erinnerung behält. Welches Bild
ist das rechte? welches das wahre? Diese Frage lastet schwer auf dem Gemüte
der zarten Förstersfrau Christine. Seit ihrem zehnten Lebensjahre eine eltern¬
lose Waise, hat sie von ihrem Vater — der Mutter entsinne sie sich gar nicht
mehr — zwei so verschiedne Bilder im Geiste behalten, daß sie vermutet, es
wären zwei Männer gewesen; der erste ein rauher, mürrischer, zum Schlagen
stets bereiter Geselle, der zweite ein zarter, aufopfernd guter Mensch. Und
doch weiß sie nur von einem einzigen Vater, nichts von einem Stiefvater!
Dies erfährt unser dichterischer Erzähler gerade vor dem Schlafengehen. Die
zauberische Waldnacht hält ihn am Fenster fest, und nun gerät er in ein träu¬
merisches Grübeln in der Vergangenheit, und nach und nach steht vor ihm die
ganze Geschichte. Ja, es war ein und derselbe Mann. John Hansen hat durch
einen leichtsinnigen Streich eine sechsjährige Zuchthausstrafe bestehen müssen;
aber der gute Kern in ihm blieb unangetastet. Frei geworden, fand er
Arbeit, und da heiratete er ein armes, aber sehr schönes Bettelmädchen. Die
beiden liebten sich sehr. Dann kam das Kind, es kam auch die Not, und
damit kam auch Zank. Die Eheleute schlugen sich sogar, und dennoch liebten
sie sich immer und aufrichtig. Das war die lärmende Epoche, welche Christinen
Un Gedächtnis blieb. Dem einstigen Zuchthäusler John wurde es aber immer
schwieriger, Arbeit zu finden, sein Ehrgefühl war auch sehr reizbar. Bei einem
neuen häuslichen Zwist fiel sein Weib so unglücklich zu Boden, daß sie starb.
Johns Schmerz war nicht minder groß als seine Reue, und alle Liebe Über¬
zug er auf das hinterlassene Kind. Das war die schöne Zeit, die diesem, der
späteren Försterin, in Erinnerung geblieben war. John verunglückte, der Tod
war ihm Erlösung. Des Kindes nahmen sich mitleidige Menschen an. Dieser
«Doppelgänger" — natürlich spielt seine Handlung ebenso wie die des „Bötjer
Busch" in Storms Vaterstadt Husum — vereinigt alle seine dichterischen Eigen¬
heiten: Kraft und Schönheit der Stimmung, schöne Natur-(Wald-)bilder, rück-
blickcnde Erzählung, entzückende Anmut in der Schilderung junger Liebe,
rührende Zeichnung eines alten, unverheirateten Weibes und realistische Dar¬
stellung eines tragischen Schicksals im John, der an den Folgen jugendlichen
Leichtsinns sein Leben lang zu tragen hat. Eine poetische Perle mehr im Kranze
der Meisterwerke Theodor Storms.
eben dein Bestreben unsrer Künstler, ihre Stoffe mehr als zuvor
aus der Gegenwart, aus dem sie umgebenden Leben zu schöpfen,
geht der Versuch her, neue Darstellungsmittel und Darstellnngs-
formen zu finden, die geeigneter sind, der Natur, der Wirklichkeit
nahe zu kommen, als die von den alten Meistern und den mo¬
dernen Ateliers überlieferten. Während man noch vor fünf oder sechs Jahren
in der Nachahmung von Koloristen wie Tizian, Rubens, Rembrandt, Murillo,
Vclasquez und van Dyck eine Grundbedingung malerischer Erfolge sah, führt
jetzt eine sich täglich mehrende Schar von Revolutionären einen heftigen Kampf
gegen die Überlieferung, der zwar nicht zu einem Sturm auf die Gemälde¬
galerien ausartet, aber doch unter der Parole geführt wird, daß jene großen
Koloristen und ihre Gefolgschaft die Natur falsch gesehen oder doch nach sub¬
jektiver Willkür umgestaltet haben. Sie liefern den allerdings schlagenden Be¬
weis, daß die Natur eine ungleich größere Lichtfülle enthält, als sie auf den
Bilder» der alten Meister zur Erscheinung gelangt, und fordern, daß man an
die Stelle der Konvention endlich einmal die Wahrheit und zwar gleich nichts
andres als die reine Wahrheit treten lasse.
Diese neue Weisheit, wenn es wirklich eine ist, ist zuerst in Frankreich zu
einem System gestaltet und von deutschen Malern sehr schnell angenommen
worden. Wie manches andre, was uns aus Frankreich gekommen ist — wir
erinnern nur an den gotischen Stil und das Rokoko —, ist auch diese neue
Theorie in Deutschland viel gründlicher durchgearbeitet und nach allen Rich¬
tungen hin erprobt worden. Wenn man diese „neue Kunst" nach dem Vor¬
gänge der Franzosen kurzweg Lu-plÄn-g-ir-Malerei oder Hellmalerei nennt, so
ist mit dieser Bezeichnung bei weitem uicht alles erschöpft, was darunter zu
verstehen ist. Das Wesen der neuen Malerei liegt nicht allein darin, daß man,
statt im Dunkel des Ateliers, in freier Luft malt und die Bilder auch im
Freien fertig malt, sondern auch in der Wahl der Stoffe und des äußeren
Maßstabes der Darstellung. Die neue Malerei verlangt, daß der Maler nur
das malt, was er mit eignen Augen gesehen hat oder doch sehen kann, und
darin deckt sie sich mit dem Glaubensbekenntnis des Naturalismus, mit welchem
sie anch insofern verwandt ist, als sie in weiterer Verfolgung ihres Grundsatzes,
die Dinge so zu malen, wie sie sind und wie sie gesehen werden, dieselben auch
in natürlicher Größe malt.
Der letztere Punkt ist zunächst anfechtbar oder doch in seiner Allgemein-
giltigkeit zu beschränken. Der Münchner Hermann Neuhaus — wir wählen
dieses Beispiel wie alle noch folgenden aus der Ausstellung der Berliner Aka¬
demie — hat eine Strnßenszene aus der bäuerischen Hauptstadt, die Verrichtung
des Abendgebets durch Vorübergehende vor der Maricnsciule, gemalt. Die
Figuren sind naturgroß, und darnach sind selbstverständlich auch die Ab¬
messungen des die Säule umgebenden Gitters, der nur zum Teile sichtbaren
Säule selbst, der umgebenden Häuser u. s. w. gehalten. Es ist ein Ausschnitt
aus der Wirklichkeit, der natürlich nichts Abgeschlossenes bieten kau», weil der
Umfang des Bildes ins Ungeheuerliche wachsen würde, wenn der Maler die
unbelebte Umgebung auch als ein Ganzes wiedergeben wollte. Hier liegt also
die Grenze der naturalistischen Malerei, und wir wären damit wieder zu der
alten Weisheit gelangt, daß die Kunst nur den Schein der Wirklichkeit, niemals
die Wirklichkeit selbst erreichen kann. Anders wird sich die Autwort auf die
Frage gestalten, ob alltägliche Figuren, wie sie der Zufall zu Hunderten auf
der Straße an uns vorüberführt, würdig sind, in naturgroße dargestellt zu
werden und ob nicht vielmehr der Maler den Maßstab nach der Bedeutung
des Gegenstandes zu wählen hätte. Nach den Gesetzen der herkömmlichen Ästhetik
wäre der lebens- oder überlebensgroße Maßstab nur für die Malerei großen
Stils, für das Geschichtsbild und die dekorative Malerei, zulässig; aber diese
Gesetze sind längst nicht mehr giltig, weil sie, aus willkürlichen Voraussetzungen
abgeleitet, einer unanfechtbaren Begründung entbehren. Die Naturalisten legen
den Grundsatz der Hegelschen Philosophie: „Alles, was wirklich ist, ist ver¬
nünftig" dahin aus, daß alles, was in der Natur vorhanden ist, auch dar¬
gestellt werden könne, soweit es sich nicht den Mitteln der darstellenden Kunst
entzieht und soweit nicht die öffentliche Moral, nüchterner ausgedrückt: das
Polizcigesetz und der Geschmack der anständigen Leute, Einspruch dagegen er¬
heben. Die Polizei wird mit Recht dazwischen treten, wenn es einem Maler
Anfällen sollte, unzüchtige Szenen darzustellen oder den Schleier von Vor¬
gängen z» heben, die gewöhnlich mit dem Mantel der Nacht zugedeckt werden.
Der gute Geschmack würde sich empören, wenn ein Maler etwa — wir wühlen
der Kürze halber ein recht drastisches Beispiel — einen Haufe» verwesender
Leichenteile oder eine ähnliche Scheußlichkeit malen wollte. Das eine wie das
andre ist in Wirklichkeit vorgekommen — wir erinnern nur an den Franzosen
Cvurbet und den Russen Wereschtschagin —; aber die Thatsache, daß diese
ungeheuerlichen Ausschreitungen menschlicher Phantasie oder vielmehr mensch-
ucher Rohheit vereinzelt geblieben sind, giebt uns die ruhige Zuversicht, daß
die Mehrzahl der Künstler sich stets daran erinnert, daß der Menschheit Würde
U! ihre Hand gegeben ist, und daß sie diese zu bewahren haben.
Wir sagten oben, haß sich die Grundsätze der von der philosophischen Be¬
trachtung der Dinge abgeleiteten Ästhetik nicht mehr aufrecht erhalten lassen;
denn die Entwicklung der neuere» Kunst hat ihre Vorschriften umgestoßen. Aber
ebenso wenig ist der Satz der Naturalisten — in der bildenden Kunst wie in
der Literatur —, daß alles, was in Wirklichkeit vorhanden ist, auch darstellbar
sei, als unumstößlicher Grundsatz, etwa als Ausgangspunkt zu einer modernen,
praktischen Ästhetik anzuerkennen. Abgesehen von dem obigen Beispiel, das eine
Menge ähnlicher in sich schließt, würden wir diesem ersten Satze, der Allgemein-
giltiges verkünden soll, sofort eine lange Reihe von Ausuahmevorschriften folgen
lassen müssep. Und eine dieser Vorschriften würde sich auch gegen das Bild
von Neuhaus richten, welches uns den Anlaß zu dschau Erörterungen gegeben
hat. Das. was der Künstler dargestellt hat, ist in der That nicht wert, mit
einem so großen Aufwande von Mitteln in eine malerische Erscheinungsform
gebracht zu werden. Der Bedeutung dessen, was der Künstler zu sagen hat,
insbesondre dem geistigen Inhalte seines Bildes würde es vollkommen entsprechen,
wenn er ungefähr deu vierten Teil der von ihm aufgewendeten Leinwandfläche
verbraucht hätte. Dieser Wunsch ist berechtigt und seine Begründung ein¬
leuchtend. Hören wir aber die Gegengründe. Unter der Voraussetzung, daß
der namentlich angeführte Künstler des Wortes oder der Schrift genügend
mächtig wäre, würde er folgendes erwiedern: „Ich male so groß, um die neue
Malweise in dem größten, für Staffeleibilder zulässigen Maßstabe zu erproben.
Ich gehe — nach einer Reihe von Vorstudien — auf das Ganze, um über¬
haupt zu sehen, wie weit man mit der neuen Lehre kommt. Den Stoff hat
mir die Wirklichkeit, eine zufällige Beobachtung geboten, und da er mir ebenso
wertvoll erscheint, wie viele andre, so habe ich ihn gewählt, um zu zeigen, daß
wir Deutsche lebensgroße Figuren in freier Luft ebenso gut malen können wie
die Franzosen, ebenso trivial, aber auch ebenso lebenswahr. Und wenn ihr
Kritiker und du Publikum, welches sich uicht vom Alten losmachen kann, wirk¬
lich mein Bild verdammt oder gleichgiltig an ihm vorübergeht, wißt ihr denn,
was ich mit dieser Arbeit bezwecke? Ich strebe nach höhere» Zielen, ich will
mich für die monumentale Malerei ausbilden und fange daher mit Elemeutar-
übungen vor der gemeinen Natur an, um die völlige Herrschaft über die große
Form zu gewinnen und alsdann von der gemeinen, zufälligen Wirklichkeit zum
Ideal emporzubringen." Die Entwicklung der neuern Kunst hat uns gelehrt,
daß wir diese Begründung als äußerst triftig anerkennen müssen. Die Corne-
licmer und die Nazarener haben die schönsten, edelsten und großartigsten Ge¬
danken gehabt, sie haben das Komponiren aus dem Grunde verstanden, sie haben
Hände, Füße und Köpfe mit wunderbarer Feinheit gezeichnet, bisweilen so rea¬
listisch und überzeugend wahr, daß man vor ihren Gemälden an Selbstver¬
leugnung denken muß. Sobald sie aber vor einer zu füllenden Mauer oder
einer zu bemalenden Leinwand standen, waren sie von allen guten Geistern
verlassen, unbeholfene Kinder, welche die naivsten Dinge verübten und dann in
helle Entrüstung gerieten, wenn die blöde Menge nicht vor diesen kindlichen
Schildereien in Enthusiasmus ausbrach. Das ist eine bittere Lehre für unsre
Kunst gewesen, und die Folge war eine starke Gegenströmung, welche vielleicht
minder heftig gewesen wäre, wen» nicht jene abgestorbene Kunstrichtung und
ihre mehr oder minder anfechtbaren Erzeugnisse in gewissen Leitern von öffent¬
lichen Kunstsammlungen zum Nachteile der neueren Kunst eifrige Beschützer ge¬
funden hätten. Diese thatsächliche, hie und da wohl auch nur vermeintliche
Zurücksetzung gab der Oppositon ein schrofferes Antlitz und chüele dem Natura¬
lismus den Weg.
Wenn man naturgroße Darstellungen aus dem täglichen Leben also unter
dem Gesichtspunkte von Vorarbeiten zur Lösung von größern, edlern Aufgaben
betrachtet, wird man sie gelten lassen müssen. Sie sind Mittel zum Zweck.
Durch sie eignet sich der Künstler viel leichter die Herrschaft über die Technik
an, als wenn er umgekehrt vom räumlich Kleinen zum räumlich Großen vor¬
schreiten wollte. Man wird die Frage nach dem Maßstabe eines Bildes über¬
haupt nicht nach vorgefaßten Meinungen entscheiden können, sondern von Fall
zu Fall versuchen müssen, das Richtige zu finden. Wenn wir wirklich eine
moderne Ästhetik aus unsrer Kunstentwicklung und -bewegung ableiten wollten
— und das Bedürfnis einer solchen wird in Künstler- und Laienkreisen
vielfach empfunden —, so müßten wir nach meiner Überzeugung und
langjährigen Beobachtung eine Art von Teleologie im gemeinen Sinne des
Wortes als Grundlage annehmen. Die Frage nach der Zweckmäßigkeit würde
das kritische Urteil in vielen, wenn nicht in den meisten Fällen zu leiten haben,
und wenn dieser Grundsatz auch äußerst nüchtern klingt und mit der Würde der
Kunst nicht in Einklang zu stehen scheint, namentlich im Hinblick auf das stolze,
aber im Grnnde hohle und nichtssagende Wort: „Die Kunst ist sich Selbst¬
zweck," so wird man doch bald einsehen, daß man mit dieser Zweckmäßigkeits¬
theorie viel weiter kommt als mit einem Schachtelsysteme vorher definirter Be¬
griffe von Schön und Häßlich, Erhaben und Trivial, Edel und Gemein u. s. w.,
in welches hinterher alles hineingepaßt werden soll. Wer sich an das Werk
einer modernen Ästhetik machen will, sehe von vornherein von der Aufstellung
allgemeiugiltiger Begriffe ab. Das Wort von den „ewigen unverrückbaren Ge¬
setzen der Menschheit" ist eine Phrase, wenn auch eine schönklingende. Ewige
Gesetze giebt es in der Kunst ebenso wenig wie in staatlichen Organismen
oder im Völkerrecht oder in sittlichen Anschauungen. Die Kunst würde sich von
dem beständigen Vorwärtsstreben aller übrigen Zweige der menschlichen Kultur
ausschließen, wenn sie nur auf die „ewigen Gesetze," mögen sie nun die Antike,
Naffael oder Tizian oder sonstwie heißen, blicken wollte. Sie würde sich in
einem Kreislaufe bewegen und am Ende so zu einem Formalismus erstarren
Wie die ägyptische und die indische Kunst. Wir wollen keineswegs sagen, daß
Vorwärtsstreben auch immer einen Fortschritt bedeute; aber Freiheit der Be¬
wegung und das Recht, sich von der Überlieferung unabhängig zu machen, ist
eine der ersten Forderungen, welche wir für die Kunst in Anspruch nehmen müssen.
Die ZZo.-p1sin-g.ir-Malerei, d. h. das Malen eines Bildes bis zu seiner
Vollendung im Freien, ein andrer Punkt auf dem Programm der neuen Kunst,
ist nun durchaus nicht ein so schroffer Bruch mit der Überlieferung, wie die
Neuerer glauben. Wenn man die lichten Fresken eines Giotto und seiner
Schule, die Tafelmalereien der Florentiner bis zu Filippo Lippi und die nieder¬
ländischen Gemälde der van Eyck und ihrer Schule ins Auge faßt, möchte man
annehmen, daß bereits diese Maler landschaftliche Studien im Freien gemacht
oder sich doch dnrch Übung des Auges vor der Natur zu „Hellsehern" aus¬
gebildet haben. Bei der uoch heutzutage herrschenden Gewohnheit des italienischen
Volkes, zahlreiche Verrichtungen im Freien vorzunehmen, wäre es nur natür¬
lich, wenn auch die Maler ihre Staffeleibilder unter freiem Himmel fertig ge¬
macht hätten, so lange noch nicht die Sitte aufgekommen war, sich ein Zwclio
einzurichten, in welchem sich die Mäcenaten ein Stelldichein geben. Von den
niederländischen Malern, namentlich den holländischen der spätern Zeit wissen
wir es gewiß. Es giebt Genrebilder, Volksszenen, auf denen man Maler vor
ihrer Staffelei im Freien sitzen und arbeiten sieht, und wenn dieser Thätigkeit
auch keine wohlberechnete künstlerische Absicht zu Grunde lag, sondern vielleicht
meist nur die bittere Notwendigkeit, weil diese Scinskulotten von Malern ge¬
wöhnlich auch in armseligen, dunkeln Löchern hausten, so ist doch sicherlich diese
Gewöhnung nicht ohne Einfluß auf gewisse Künstler und ihre Bilder gewesen,
so z. B. auf die sonnigen Strandlandschaften eines van Goyen, anf die lichten
Straßennnsichten eines Jan van der Heyden und Jan van der Meer von Delft
und auf die hellen, leuchtenden Gesellschaftsstücke eines Dirk Hals, Palamedes,
Pieter Codde und dieser ganzen Schule. In unserm Jahrhundert wurde das
Malen im Freien unter den Landschaftsmalern gewöhnlich, in erster Linie
freilich uur das Anfertigen von flüchtigen Beistiftskizzen, von sorgsamer ausge¬
führten Zeichnungen und von Skizzen in Ol- und Wasserfarben, welche später
bei der Ausführung von Gemälden als Vorlagen dienten. Auch wenn die
Maler damals schon auf den Gedanken gekommen wären, Bilder unmittelbar
vor der Natur fertig zu malen, würde sie die Langsamkeit und Schwerfälligkeit
der Öltechnik daran gehindert haben. Viel leichter ließ sich das mit Hilfe der
Aquarelltechuik erreichen, und soviel wir wissen, war Ednard Hildebrandt, der
Weltumsegler, der erste, welcher vor der Natur Aquarelle nicht bloß als Studien¬
material anfertigte, sondern sie auch völlig bildmäßig durchführte und vollendete.
Auch in unsrer Zeit hat man nach Mitteln gesucht, die eine rasche Ausführung
ermöglichen, namentlich da, wo es sich um schnelles Festhalten einer vorüber¬
gehenden Erscheinung handelt oder wo Ort und Zeit ein längeres Verweilen
des Malers nicht gestatten. Ich kenne hervorragende, von ihrer Kunst ernst-
denkende Maler, welche ihre Handfertigkeit so ausgebildet haben, daß sie imstande
sind, Ölskizzen vor der Natur in fünfzehn bis zwanzig Minuten soweit auszu¬
führen, als es ihrem Zwecke der Festhaltung eines gewissen Augenblicks ent¬
spricht. Aber eine solche Fertigkeit steht nur vereinzelt da und kann auch leicht
zu hohlen Virtnosenknnststücken ausarten, wie wir sie zu unserm Schrecken
von den sogenannten „Konzertmalern" gesehen haben. Die Aquarellmalerei ist
schon wegen ihrer leichten, flüssigen Darstellungsmittel weit besser imstande, ge¬
wisse Phänomene der Natur, wie eilig vorüberziehende Wolken, flüchtige Sonnen¬
blicke, plötzliche Mondscheineffekte, seltsame Dämmerungserschcinungen und Fär¬
bungen des Horizontes festzuhalten, und ein gleiches gilt natürlich auch für
Studien nach Mensche» und Tieren, mögen sie nun als Einzelfiguren heraus-
gegriffen oder gleich bildmäßig zu Gruppen geordnet werden. Mit der Absicht,
möglichst schnell und möglichst bequem ein farbiges Abbild der Natur zu ge¬
winnen, hängt die sorgsame Pflege zusammen, welche seit einigen Jahren der
Pastelltcchnik gewidmet worden ist, wenigstens zum Teil. Denn zum andern
Teil ist auch das Streben nach Hellmalcrci von Einfluß auf die Aufnahme
dieses flüchtigste» und in seinen Wirkungen vergänglichsten aller Darstellungs'
Mittel gewesen. Man sieht, wie sich hier alle Bestrebungen vereinige!?, welche
man am besten unter dem Namen Naturalismus, aber in der eigentlichen Be¬
deutung des Wortes ohne tadelnden Nebensinn, zusammenfaßt. Indem man
jetzt statt auf Papier auf einer feinen präparirten Leinwand mit den farbigen
Stiften zeichnet, sucht man der Technik eine größere Dauerhaftigkeit zu ver¬
leihen, aber man ist nach wie vor genötigt, die Pastellbilder unter Glas zu
bringen, damit die Farben nicht zerstäuben. Blaß werden sie mit der Zeit
trotzdem werden; doch entspricht der lichte Gesamtton gerade den Absichten der
Maler. Die Berliner Ausstellung hat etwa zwei Dutzend Pastellzeichnungcn
auszuweisen, meist Bildnisse, Studienköpfe und Halbfiguren. Die Technik ist
jedoch keineswegs an das Pvrträtgcnre gebunden, wie man etwa nach den
Leistungen des vorigen Jahrhunderts glauben könnte. Der französirte Italiener
Nittis hat während der letzten Jahre seines Lebens ziemlich figurenreiche
Genrebilder aus dem Pariser Leben gezeichnet, und in München haben Pigl-
hein und Koppay nach ihm ein gleiches gethan. Piglhein hat freilich durch die
Wahl frivoler Motive die Technik in Mißkredit gebracht, und Koppah, der eine
Reihe vortrefflicher Pastellbildnisse in ganzer Figur ausgeführt hat. hat sich
leider verführen lassen, mit einigen Genrebildern aus dem Kinderleben, deren
eines er ebenso frivol als geschmacklos „Adam und Eva" genannt hat, jenem
auf das schlüpfrige Gebiet zu folgen. Die Technik darf natürlich nicht für
die Ausschreitungen einzelner büßen. Die Leichtigkeit ihrer Handhabung ist nicht
auch notwendig mit Leichtfertigkeit des Inhalts verbunden, wenn auch die Pastcll-
Mchuuugeu des vorigen Jahrhundes meist keine andre Erklärung zulassen. Ein
w Berlin ansässiger, freilich in der Münchner Schule gebildeter Künstler, Konrad
Febr, hat in einer Reihe von Bildnissen, Studienköpsen und Genrebildern gezeigt,
welcher Energie und Schärfe der Darstellung die Pastelltechnik fähig ist, wenn
sie nur von den richtigen Händen geübt wird. Seine Schöpfungen beweisen,
daß die Pastellmalerei keineswegs ihre höchsten Wirkungen erreicht, wenn sie
sich in den Dienst flüchtigen Sinnenreizes stellt. Gelingt es erst, den Schmetter¬
lingsstaub, welchen die Pastellstifte auf Papier oder Leinwand niederlassen,
dauernd festzuhalten, wird auch diese Technik im Organismus der „neuen Kunst"
gute und wichtige Dienste leisten.
„Ihr alle, die ihr vor uns gezeichnet und gemalt habt — sagen die Ver¬
treter der neuen Kunst —, ihr seid Schönfärber und Gewaltmenschen gewesen,
weil ihr die Natur nach euerm subjektiven Empfinden, nach euerm ererbten
Schönheitsdusel umgestaltet und für gleichgestimmte Käuferseelen mundgerecht
gemacht habt. Wir wollen euch zeigen, daß ihr samt und sonders gelogen
habt, und wie die Romanschriftsteller feierlich erklärt haben, daß es nun genug
ist mit unverstandenen Komtessen und problematischen «Rittern des Geistes«
und daß man das Volk bei der Arbeit aufsuchen müsse, so wollen auch wir
nicht mehr die Natur in ihrem Feierkleide, dem sonnigen Süden, den erhabenen
Regionen des Hochgebirges mit und ohne Alpenglühen zu dem bevorzugten
Gegenstande unsrer Schilderungen machen, sondern anch einmal das Aschen¬
brödel Natur in ihrem Wcrkeltagsgewande zeigen." Dieses Manifest bedeutet
nichts andres als eine Kriegserklärung des Naturalismus gegen die Romantik,
eine Neuerung, die, wie so viele andre, ihren Ursprung nicht in Deutschland,
sondern in Frankreich hat. Seit zwanzig Jahren — länger beschäftigen sich
die Franzosen noch nicht mit deutscher Kunst — haben wir in französischen Zeit¬
schriften gelesen, daß die deutsche Landschaftsmalerei jenseits des Rheines nicht
das geringste Verständnis findet. Die Lanoschaftsmalcrei und das Erwachen
des Naturgefüyls, welches sie zur Voraussetzung hat, ist in keinem Kulturlande
so spät gekommen wie in Frankreich. Die Franzosen teilen mit allen roma¬
nischen Völkerschaften den Mangel, daß die Natur in ihren darstellenden Künsten
zu kurz kommt, weil sie ihnen zu nahe auf den Leib gerückt ist, d. h. weil sie
mit der sie umgebenden Natur in viel zu engem Zusammenhange stehen, als
daß sie ihnen malerischer Wiedergabe würdig erschiene, und weil ihnen ander¬
seits diese Natur so viele Reize bietet, daß ihnen ein durch Reisen herbeizu¬
führender Wechsel nicht so zum Bedürfnis wird wie dem Nordländer. Bei den
Franzosen ist die Landschaftsmalerei erst um die Mitte der fünfziger Jahre
durch geniale Meister wie Rousseau, Dupre und Troyon zu einigem Ansehen
gelangt, und da diese, ohne auf die Überlieferung zu achten, sogleich natura¬
listisch auftraten, war die notwendige Folge, daß die französische Landschafts¬
malerei, wenn sie sich überhaupt halten wollte, keine andern Wege einschlagen
durfte. Nach diesem Entwicklungsgange hat sich auch der Urteilskanon der
Kritik und der Geschmack des Publikums gebildet, und erstere thut deshalb alle
deutsche Landschaften aus der Schweiz, den bäuerischen Alpen, Norwegen, Italien
und Spanien kurzweg als „romantisch," „theatralisch" und „melodramatisch,"
d. h. naturwidrig ab. Zum Dank dafür haben deutsche Landschaftsmaler die
poesielose, platte Auffassung der Natur angenommen, welche namentlich durch
Daubigny in Frankreich als maßgebend verbreitet worden ist.
Wir wollen nicht sagen, daß diese Auffassung schlechterdings verwerflich
sei. Wenn unsre Maler nicht zugleich die leichtfertige Behandlungsart Dau-
bignys annehmen, wie es z. B. der in Düsseldorf ansässige Norweger Muuthe
thut, so muß es ihnen unbenommen bleiben, auch reizlose Gegenstände darzu¬
stellen, wie Sanddünen, Haideland, mit Steinen und Domengestrüpp besetzte
Felder, oder Herbst- und Frühlingsstimmuugen festzuhalten, welche aller poetischen
Reize bar sind. Wir besitzen eine ganze Reihe von hervorragenden Malern,
die gerade aus solchen Motiven ernste und gediegene Kunstmerke gehoben haben.
Wir nennen nur die Namen Oeder, Ducker, Bracht, Scherres, Lier und Weng-
lein, dessen Jsarlandschaften zur Herbsteszeit auch jetzt wieder einen Glanzpunkt
der Berliner Ausstellung bilden. Auch die Bilder aus der ägyptischen Wüste,
welche Ernst Körner in Berlin ausgestellt hat, die Ausgrabung der Sphinx
und die Ruinen des Tempels der Königin Hcitasu, gehören in diese Klasse, da
nach Abzug der archäologisch und ethnographisch interessanten Züge nur der
vegetationslose Wüstensand, also die Natur in ihrer tiefsten Armut, übrig bleibt.
Aber die Wüste und das von der Sonne ausgedörrte Nilthal zeigen nicht
zu allen Tages- und Jahreszeiten dasselbe Gesicht. Es giebt Zeiten, wo sich
auch die Uferstrecken des Nil mit einer saftig-grünen Vegetation überziehen, wo
die Reflexe des Sonnen- oder Mondlichts zauberische Wirkungen hervorbringen,
unter denen selbst der formlose Sand und das wüste Gestein poetische Reize
gewinnen. Wenn der Maler solche Augenblicke erfaßt, braucht er noch nicht
um Haaresbreite von der Wahrheit abzuweichen, und er bleibt ebenso gut Na¬
turalist, als wenn er die tote Wüste unter den glühenden Strahlen der Mit¬
tagssonne malt. Körner und Gentz haben solche Nillandschaftcn bei Morgen-
und Abendstimmung ausgestellt, die man leicht für poetische Erfindungen halten
könnte, wenn die Wahrheitsliebe der beiden Maler nicht über jeden Zweifel er¬
haben wäre. Das Poetische in der Natur ist, auch wenn es nicht von jeder¬
mann gleich stark empfunden oder überhaupt verstanden wird, unzweifelhaft
etwas objektiv Vorhandenes und nicht von dem Subjekt hineingetragen. Diese
Thatsache stößt die Theorie der Naturalisten um, welche jedes poetische Element
als eine gemachte Zuthat verdammen. Wenn man dann noch die äußersten
Folgen aus ihrer Theorie zieht, müßte man Mondscheinlandschaften, nächtliche
Feuersbrünste, im allgemeinen Nachtstücke aus der Kunst ausschließen, weil man
während der Nacht im Freien nicht malen kann. Das ist durch mehrfache Ver¬
suche bewiesen worden, die entweder gar kein Ergebnis oder doch nur ein sehr
unbefriedigendes gehabt haben. In solchen Fällen ivird immer die Phantasie
dem Künstler zu Hilfe kommen müssen, da mit der ^Q-xlsin-air-Malerei im
Freien nichts anzufangen ist.
Sie hat auch ihre Grenzen beim Malen nach dem lebenden Modell. Im
Sommer und im südlichen Klima wird sich die Malmethodc, so lange es sich
um bekleidete Figuren und um Tiere handelt, zur Not durchführen lassen.
Aber das nackte Modell wird nur in seltenen Fällen im Freien so lange aus¬
halten können, wie es zur Ausführung eines Bildes nötig ist. Wenn der fran¬
zösische Maler Carolus-Duran diesem Mangel des Prinzips dadurch hat abhelfen
wollen, daß er in seinem Garten ein Glashaus bauen ließ, welches bei Bedarf
erwärmt werden konnte, so hat er damit schon einen der Vorteile der Nu-xlkw-
M-Malerei aufgegeben, da die Glasscheiben Reflexe auf die Körper werfen.
Diese Art der Malerei kaun also nimmermehr zu einem allgemeingültigen Grund¬
satze erhoben werden; auch ihre Erfolge hängen von allerlei Zufälligkeiten ab;
auch sie giebt noch keineswegs die Antwort auf die Frage: „Was ist Wahr¬
heit?" Neue Hilfsmittel zur Lösung derselben wird sie unzweifelhaft beibringen,
wenn sie auch jetzt noch unsicher umhertastet und sich zu bedenklichen Über¬
treibungen hinreißen läßt. Daß unsre Maler angeleitet werden, mit eignen
Augen zu sehen und nicht durch die Brille der alten Meister, ist zunächst schon
ein großer Gewinn, und wenn unsre Künstler einmal diesen Weg betreten, thun
sie es am sichersten, wenn sie die Eindrücke ihrer Umgebung festzuhalten suchen.
Das „Morgenlied," eine Szene aus einer Dorfschule, von Adolf Schlabitz, die
„Erste Kommunion" und eine Dame, welche in einem Parke spazieren geht, von
Max Fleischer, der „Schluß der Saison," Kurgäste auf der herbstlichen Prome¬
nade, von Friedrich Stahl sind solche Versuche junger Künstler, denen man nach¬
rühmen muß, daß sie sich von Geschmacklosigkeiten und Ausschreitungen fern¬
gehalten haben.
Der hervorragendste Vertreter dieser Richtung, Fritz von Abbe, ringt auf
seinem neuesten Bilde, einer Illustration zu den Worten der Bergpredigt „Selig
sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr!" wieder mit dem
Stoffe. Die Figuren auf seinen bisher gemalten Bildern, dem Christus mit
den Kindern und den Jüngern von Emmaus, dem Heiland, welcher zur Mittags¬
mahlzeit in die Stube des Handwerkers tritt, und dem Abendmahle, bewegten
sich in geschlossenen Räumen. Auf den letzten Bildern war es ihm gelungen,
diese Figuren so von Licht und Luft umflossen hinzustellen, daß wir die voll¬
kommene Lösung eines schwierigen Problems mit Freuden begrüßen konnten.
Der rastlos vorwärts strebende Künstler hat geglaubt, auf den errungenen
Lorbern nicht ruhen zu dürfen. Jetzt will er das Gleiche mit Figuren in
freier Luft zu stände bringen, und wenn der erste Versuch mit diesem Bilde,
dessen Motiv der Bergpredigt entstammt, auch noch weitab vom Ziele liegt, so
müssen wir uns erinnern, daß auch jene Jnnenbilder eine Reihe fortschreitender
Entwicklung darstellen. Fritz von Abbe ist auch auf seinem neuesten Gemälde
der von ihm eingeführten und mit so viel Ernst verteidigten Übertragung der
christlichen Heilslehre auf moderne Verhältnisse treu geblieben. Sein Heiland
ist immer „mitten unter uns." So hat er sich auch auf einer Bank, die auf
einem Hügel über dem Dorfe steht, niedergelassen, um die Abendzeit, wo die
Landleute von der Heuernte heimkehren. Abbe ist bei seinem einmal aufgestellten
Typus geblieben: ein hagerer Mann in langer, schmutzig blauer Tunika, mit
bloßen Füßen und rötlichen, schlicht geglätteten Haar und Bart. Man kann
sich, je nach seinem persönlichen Empfinden, ablehnend oder zustimmend zu dieser
Auffassung Verhalten; aber man wird ihr wenigstens nicht die Originalität
abstreiten können. Wie die Landleute an dem Heiland vorübergehen, hat er
den einen angeredet, die folgenden sind stehen geblieben, und so hat sich eine
ganze Schar gesammelt, welche mit Andacht den Worten des Lehrers lauscht.
Die vordersten, Frauen und Mädchen, sind niedergekniet, und Greise wie junge
Burschen haben Hüte und Mützen abgenommen. Die Wirkung, welche die
Worte des Heilands ans seine Hörer machen, ist sehr energisch und überzeugend
zur Anschauung gebracht. Was die schlichten Menschen hören, dringt ihnen
offenbar zu Herzen, und daß sie „geistlich arm" sind, geht auch unzweideutig
aus ihren Mienen hervor. Ist es aber unumgänglich nötig, daß mit dem
Begriff des „geistlich Armen" auch der des Anmutslosen und Häßlichen ver¬
bunden sei? Es ist ja richtig, daß in dieser unvollkommenen Welt die Hä߬
lichen zahlreicher sind als die Hübschen, und daß namentlich „Schön" ein Begriff
ist, über den unter den Menschen schlechterdings keine Einigung zu erzielen ist.
Wenn aber jemand dem Anmutigen so beharrlich aus dem Wege geht wie Abbe,
Kenn er auch die Jugend stets zur Trägerin des Häßlichen macht, so wird das
Streben nach Wahrheit zur Einseitigkeit und zur eigensinnigen, rücksichtslosen
Rechthaberei. Fritz- von Abbe besitzt einen zu starken künstlerischen Zug, als
de>ß er dies nicht mit der Zeit einsehen sollte. Für jetzt mögen ihn die rein
malerischen Probleme noch zu sehr beschäftigen, und es darf nicht verschwiegen
werden, daß auf dem neuesten Bilde die Figuren noch zu fest an einander
s'hen und vom Hintergründe nicht weit genug losgehen, daß die Beleuchtung
unverständlich ist, und daß die Lufttöue eine viel feinere Durchbildung vertragen
können. Trotzdem sind überall die Spuren eines kräftigen Talents sichtbar,
Elches sich unzweifelhaft in nicht zu ferner Zeit bis zur völligen Klarheit hin-
°urchringen muß.
Die Malerei ist es ans unsrer Ausstellung uicht allein, welche eine
^e»ge von Grundfragen anregt. Auch die plastische Kunst sucht, von dem
')rgeiz getrieben, der Natur noch näher zu kommen, nach neuen Darstellungs-
m/^"' ^" Formengebung war sie schon eher naturalistisch als die
lnlerci. Nun will sie auch die Farbe in ihren Bereich ziehen, und da gilt
^, die äußerste feine Grenzlinie zu finden, welche die frei schaffende Kunst von
^ mechanischen Wachsbildnerei trennt, und bei der Übernahme der Farbe sich
vor Konflikten mit den Insassen des Panoptikums zu hüten. Noch viel weniger
als auf dem Gebiete der Malerei haben die Versuche hier zu befriedigenden
Ergebnissen geführt. Die Plastik wird noch schwerer als jene zu kämpfen
haben, weil ihr Darstellungsmaterial ungefügiger und widerstrebender ist.
Ein Kulturkampf in Brasilien. Von den deutschen Kolonien Südbra¬
siliens ist in den letzten Wochen eine Bewegung ausgegangen, die bei weiteren!
Umsichgreifen zu einem wirklichen Kulturkampf werden kann und die auch hier in
Deutschland beachtet zu werden verdient, weil sie die Stellung unsrer dortigen
protestantischen Landsleute zur katholischen Staatsreligion neu festzustellen be¬
stimmt ist.
Art. S der Verfassung des Kaiserreiches lautet: „Die römisch-katholische Re¬
ligion wird fortfahren, Staatsreligion zu sein. Alle andern Religionen mit ihren
häuslichen oder geheimen Gottesdiensten in ihren dazu bestimmten Häusern, welche
keine äußerlichen Abzeichen haben, werden erlaubt sein." Eine Übertretung dieses
Artikels wird nach dem Strafgesetzbuch bestraft; besonders wird hier noch der
Gottesdienst in Häusern uuterscigt, „welche die äußere Form eines Tempels haben,"
d. h. also in Kirchen rin einem Turm. Die Strafen bestehen in der Zerstörung
der äußeren Form, also des Turmes, und in Geldstrafen für die Teilnehmer am
Gottesdienste.
Diese beiden Artikel der Verfassung und des Strafgesetzbuches sind nun in
Südbrasilien, d. h. im Bereich der dortigen deutschen Kolonien, thatsächlich schon
feit mehr als dreißig Jahren ganz außer Gebrauch gekommen: niemand in Rio
Grande do Sui oder in Santa Katharina ist es bisher eingefallen, den Protestanten
das Bauen von Gotteshäusern mit oder ohne Turm zu untersagen. Auf vielen
deutschen Kolonien giebt es protestantische Kirchen mit Türmen, die zum Teil sogar
insofern mit Unterstützung der Regierung gebaut worden sind, als diese deu be¬
treffenden Gemeinden einen Gewinnanteil aus der Provinziallotterie zu gedachtem
Zwecke zugestanden hat. Das Gesetz schlief, und die Protestanten dachten kaum
daran, daß es jemals wieder aufwachen und ihnen Unannehmlichkeiten bereiten könne.
Und doch ist das geschehen. Die protestantische Gemeinde der Kolonie Santa
Maria da Bocca do Monte in der Provinz Rio Grande do Suk hat sich eine
Kirche mit Turm gebaut. Der Grundstein zum Turm wurde im Beisein der
brasilianischen Behörden gelegt und der Turm selbst dann ungehindert aufgeführt.
Da plötzlich erhält der Pastor der genannten Gemeinde, Herr Fr. Pechmann, von
dem Delegado de Pvlicia des Ortes ein Schreiben des Inhalts, daß er auf An¬
ordnung des Polizeichefs der Provinz auf Grund des oben genannten Artikels der
Verfassung und des Strafgesetzbuches gegen seine Gemeinde „in peinlicher Weise"
einschreiten müsse.
Der Vorstand der Gemeinde in Santa Maria sorgte natürlich schleunigst dafür,
daß dieses Vorgehen des Polizeichefs öffentlich bekannt wurde. So erfuhr denn
auch der Präsident der Provinz von der Sache, und dieser verfügte sofort, die
Anordnung des Polizeichefs aufzuheben. Dieser letztere ist ein noch ziemlich junger
Mann aus dem Norden des Kaiserreiches, der erst kürzlich nach Rio Grande do
Sui versetzt worden ist und die eigentümlichen Verhältnisse auf den deutschen
Kolonien des Landes natürlich nicht kennt. Uebergroßer Diensteifer oder auch das
Drängen deutschfeindlicher Brasilianer mögen ihn zu dem übereilten Schritt ver¬
anlaßt haben, der die größte» Folgen haben kann. Thatsächlich hat der Polizeichef
nichts erreicht, da das einfache Bekanntwerden feines Vorgehens genügte, um den
Präsidenten der Provinz zur Aufhebung des Befehles zu veranlassen. Für die pro¬
testantische Gemeinde in Santa Maria da Bocca do Monte ist damit der Zwischen¬
fall erledigt, sie behält ruhig ihren Kirchturm, ebenso wie andre Gemeinden.
Aus dieser an sich unbedeutenden Kirchturmsrage scheint sich nun aber eine hoch¬
politische Angelegenheit entwickeln zu wollen, die man sehr wohl einen Kulturkampf
nennen kann. Die liberalen Abgeordneten zunächst der Provinz Rio Grande do
Sri sind entschlossen, gegen Art. 5 der Verfassung und 276 des Strafgesetzbuches
vorzugehen. In der liberalen Presse des ganzen Landes wird eifrig Stimmung
für dieses Vorgehen gemacht, und bereits am 4. Juni brachte der Führer der libe¬
ralen Partei des Kaiserreiches, Staatsrat Silveira Martins, die Angelegenheit im
Senat in energischer Weise zur Sprache. Die Aufhebung des Art. 5 der Ver¬
fassung sei eine Forderung der Zivilisation; vor dreißig Jahren schon habe die
Regierung den Bau protestantischer Gotteshäuser erlaubt, wolle man ihn jetzt
untersagen, so sei das ein Rückschritt. Der Minister des Innern suchte sich nach
Möglichkeit zu decken, indem er sagte, die Verfassung erlaube den Bau von Tempeln,
die nicht für den Kultus der Staatsreligion bestimmt seien, aber diese Tempel
dürften nicht die äußere Form von Tempeln haben. Silveira Martins warf ein:
„Dann ist das eine ganz besondre Architektur." Tannay meinte, das sei eine
sehr gehässige Einschränkung und verlangte vom Minister, der Delegado, welcher
Türme niederreißen lassen wolle, müsse entlassen werden, er sei unfähig, dem Lande
zu dienen, er gehöre zu den me-ptos (den Dummen und Ungeschickten), von denen
Silveira Martins gesprochen habe.
Inzwischen hat nun der Vorstand der evangelischen Synode der Provinz
Rio Grande do Sui eine an das Parlament einzureichende Eingabe an sämtliche
Protestantische Gemeinden des Kaiserreiches zur Sammlung von Unterschriften ver¬
sandt. Die Petition wird, mit Tausenden von Unterschriften bedeckt, demnächst
dem Parlament zugehen, und die liberalen Abgeordneten, namentlich Silveira
Martins, Tannay, Henrique d'Avila n. a., werden dafür sorgen, daß die Frage
nicht so bald wieder von der Oberfläche verschwindet. Freilich ist bei der jetzigen
Politischen Lage auf einen durchgreifenden Erfolg gleich beim ersten Ansturme nicht
M rechne». Aber der Mann, der dem deutschen Element die politische Gleich¬
stellung mit dem einheimischen erkämpft hat, Silveira Martins, wird auch, nachdem
es einmal für notwendig erkannt hat, nicht eher ruhen, bis er seinen prote¬
stantischen Mitbürgern die kirchliche Gleichstellung mit den Katholiken errungen hat.
Wenn erst die liberale Partei wieder am Ruder sein wird, dann wird sich im
Parlament schon eine Mehrheit für diese kirchliche Reform finden lassen, und es
Dürfte dann bei einigem Entgegenkommen der Regierung nicht allzu schwer sein,
om Protestnuten die gewünschte kirchliche Freiheit zu geben. Es würden damit
dünn auch bei uns diejenigen Gegner Brasiliens zum Schweigen gebracht werden,
d>e eben wegen der Nichtgleichberechtigung der Protestanten und der Katholiken eine
Auswanderung deutscher Protestanten nach Brasilien verhindern »vollen.
Der Verfasser dieses Buches seit sich durch eine auf gründlichen Quellenstudien be¬
ruhende Schrift über Peter deu Großen einen guten Namen auf dem Gebiete der histo¬
rischen Wissenschaften erworben. Das vorliegende Buch besteht aus einer Anzahl von
Abhandlungen, welche sehr verschiedenartige Stoffe behandeln, aber das gemein
haben, daß sie sich sämtlich auf die Jahrzehnte unmittelbar vor der Zeit Peters
beziehen und auf diese ein neues Licht werfen. Einige derselben, wie gleich die
erste „gur Naturgeschichte der Prätendenten" in ihrer zweiten Hälfte, die Darstel¬
lung der großen Pest, welche Rußland im Jahre 1654 heimsuchte und furchtbare
Menschenverluste herbeiführte, ferner die Schilderung der Gesandtschaftsreisen
Tschemodanows nach Venedig und Florenz (1656 bis 1657) und Potcmkins nach
Paris (1631) zeigen, wie Moskowien noch bis tief in das siebzehnte Jahrhundert
hinein ein fast völlig orientalischer Staat war; andre, wie die Darlegung der
Reformobjekte Krischanitschs in Betreff des Kleiderwesens und die Biographien
Ninhnbers, W. W, Golizins und Gordons, beleuchten die damals beginnende An¬
näherung Rußlands an den höher entwickelten Westen und beweisen mit großer
Bestimmtheit, daß die Umgestaltung Rußlands, der Fortschritt, der darin lag, daß
dieses Reich sich entschloß, in die Schule westlicher Bildung und Gesittung zu gehe»,
sich unabhängig von dem Willen einzelner vollziehen mußte, mit andern Worten,
daß die russische Welt auch ohne Peter den Großen europciisirt worden wäre —
soweit dies bei dem Charakter der Bevölkerung in allen ihren Schichten möglich
war. Ohne eingehende Erforschung einzelner Erscheinungen, welche für diese all¬
mähliche Metamorphose besonders charakteristisch sind, ist das Wesen des Prozesses,
der Rußland in den letzten beiden Jahrhunderten zu eiuer europäischen Großmacht
werden ließ, nicht zu verstehen, und so haben wir dem Verfasser aufrichtig zu
denken, daß er sich dieser Aufgabe unterzog. Die Geschichte wird nicht gemacht,
sondern sie macht sich selbst, sie wird, sie ist ein Organismus, der sich nach be¬
stimmten Gesetzen gestaltet hat und weiter gestaltet. Das scheinbar Zufällige ist
ein Notwendiges, Die Geschichtschreibung darf nicht bei den Individuen stehen
bleiben, Sie sind teils Exemplare der Gattung, bestimmt durch Erbschaft, teils
Produkte ihrer Zeit, der obwaltenden Umstände, der bestehenden Verhältnisse, Die
einzelnen Thatsachen müssen als Ausprägung einer Idee, eines Prinzips, als
Symptome eines innern Vorganges im Körper der Menschheit angesehen werden.
Bei dieser Betrachtungsweise ist man nicht genötigt, den freien Willen des Indi¬
viduums vollständig zu leugnen, und die Große einzelner Genien und Helden wird
dadurch nicht beeinträchtigt. Man lese zum Verstäuduis des hier Bemerkten das
hochinteressante Kapitel unsrer Schrift über die Prätendenten, deren es in manchen
Jahrhunderten und ebenso in manchen Länder» sehr wenige, in andern dagegen
außerordentlich viele gab. In Rußland traten von Anfang des siebzehnten bis
zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts nach und nach mehr als zwanzig auf, und
es ist klar, daß eine solche Erscheinung nicht sowohl mit der verbrecherischen Neigung
einzelner als vielmehr mit einer Erkrankung des Körpers der russischen Gesellschaft
zu erklären ist. Die Masse des Volkes erzeugt solche Abenteurer, denen ihre Rolle
oft geradezu aufgenötigt wird. So erscheinen die unzufriedenen Elemente unter
den Raskolniken als Mitschuldige Pugcitschews, als die, welche ihm die Prätendenten-
rolle einredeten. So erzeugen die unaufhörlichen Unruhen der kleinrussischen Kosaken
eine ganze Reihe angeblicher Zaren und Zarewitschs, und es ist keineswegs zu
glauben, daß deren zahlreiche Anhänger sie durchweg für echt gehalten hätten. Wo
es Bedrückte und Unzufriedene gab, erschien auch bald ein Prätendent. Jedes
Gerücht vom Auftauchen eines solchen wurde von den Massen mit Freuden begrüßt,
weil sich daran die Hoffnung auf Besserung ihrer Lage knüpfte, weil er als Er¬
löser galt. Wo keiner sich zeigen wollte, erfand man zuweilen das Phantom eines
solchen, und auch dieses that seine Wirkung. Daß nicht so sehr die eigentliche
Prätendeuteurolle mit ihren Aussichten als vielmehr die Lust an der Anarchie und
die Hoffnung, während derselben zu rauben, bei manchen dieser Episoden die Haupt¬
sache war, ersehen wir aus vielen Zügen in der Haltung solcher Abenteurer und
ihres Anhanges. Solche Vorgänge zeugen beredt von den Leiden des Volkes, sie
lassen tief in die Schwierigkeiten blicken, mit denen der Uebergang des asiatischen
Staates in einen europäische» verbunden war, sie zeigen uns die Wurzeln der
Bauernfrage, die jetzt gelöst ist, die kosakische Art der wundersüchtigen, arbeits¬
scheuen Masse des Volkes, die Beschränktheit der Sektirer, sie liefern uns endlich
einen Kommentar zu der geschichtlichen Bedeutung des Mangels an einem regel¬
mäßigen staatsrechtlich bestimmten Thronwechsel. Jahrhunderte hindurch hat Ru߬
land an dieser Krankheit gelitten. Jetzt scheint diese Form einer allgemeinen
Auflehnung gegen die bestehende Ordnung in Staat und Gesellschaft euogiltig
überwunden zu sein, aber an ihre Stelle sind andre Formeu getreten, zuletzt der
Nihilismus, der nun auch schon drei Jahrzehnte grassirt, wenn auch in der ersten
Zeit nicht unter seinem jetzigen Namen. Wir heben noch als besonders interessant
sür Sachsen hervor, daß, wie die Mitteilungen über den Mediziner und Diplo¬
maten Laurentius Riuhuber (geboren zu Lucka im Altenburgischen) zeigen, ein
Sachse unter den Ausländern war, welche vor Peter dem Großen bei den Ver¬
suchen, Rußland der europäischen Kultur zu nähern, mitwirkten, und daß sächsische
Fürsten? die Herzöge Ernst und Friedrich vou Altenburg und Gotha und der Kur¬
fürst Johann Georg, sich dabei beteiligten, indem sie damit allerlei Pläne und
Entwürfe, die bis in die Türkei, ja bis nach Abyssinien reichten, vor Augen hatten.
Das Buch eignet sich in erster Reihe für Fachgenossen des Verfassers, in
Zweiter aber für alle Freunde der Kulturgeschichte.
Der unermüdlich fleißige Verfasser so mannichfacher Schriften über Kant, der
eben erst roer dessen Religionslehre eine bedeutende Arbeit veröffentlicht hat, be¬
gegnet uns hier wieder in einer kleinen Abhandlung, in der er skizzenweise uns
Hauptergebnisse seiner Forschung vorführt. Obwohl ihm andre Kritiker eine
zum Fanatismus gesteigerte blinde Verehrung für Kant vorgeworfen haben,
sonnen wir uns diesem Tadel doch nicht anschließen. Uns scheint er vielmehr
nnnier tiefer in das richtige Verständnis des großen Königsbergers einzudringen,
^tous andres ist es, ob es ihm gelingen wird, sein Ziel zu erreichen, welches
mu geringeres ist, als durch eine kritisch-wissenschaftliche Durchdringung der christ-
M)en Religionslehre alle Kircheuuuterschiede verschwinden zu machen. Daß er
oanut vorläufig uur die Feindschaft vieler gelehrten Theologen sich erwirbt, ist ganz
begreiflich. Indessen ist das Ziel immer des Schweißes der Edeln wert. Aber
gerade darum hätten wir ihm oft eine wirksamere und leichter verständliche Schreib¬
weise gewünscht. Durch die drastischen ironischen Bezeichnungen falscher Richtungen
allein ist die schlagende Wirkung nicht zu erreichen. Z. B. finden wir es nicht
geschmackvoll, daß wir fast auf jeder Seite den Ausdruck „Weißpapierphilosophie"
mehrmals lesen müssen, der so viel heißen soll als die empiristische Philosophie,
die mit Locke den menschlichen Geist ursprünglich als tsbula rasa oder einen Bogen
weißes Papier betrachtet. Doch ist demjenigen, der sich eine kurze Uebersicht über
die Beantwortung der drei Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich thun? Was
darf ich hoffen? verschaffen will, diese Broschüre wohl zu empfehlen.
Je schwieriger bei der wachsenden Zahl der erscheinenden Bücher eine ge¬
nügende Kenntnis derselben zu erlangen ist, umsomehr steigert sich das Bedürfnis
nach Uebersichten der auf den einzelnen Wissenschaftsgebieten erschienenen Werke.
Dies erkannte u. a. auch der zweite deutsche Gcographentag an, und im Anschlusse
an einen Vortrag des Professor Dr. Lehmann über die systematische Förderung
wissenschaftlicher Laudeskunde von Deutschland sprach die vom Gcographentage ein¬
gesetzte Kommission in ihrem Aufrufe aus, daß als Grundlage aller ferneren Be¬
strebungen auf jenem Gebiete ermittelt werden müsse, was ein brauchbaren Vor¬
arbeiten bereits vorhanden sei. Seit dieser Zeit ist die Arbeit für die geographische
Wissenschaft von mehrrcen Seiten in Angriff genommen worden, besonders in den
unter Leitung des Professor Dr. Supan erscheinenden kritischen Literaturbcrichten,
welche den bekannten Petermannschen Mitteilungen (Goebel, Justus Perthes) bei¬
liegen. Verzeichnisse der jeweils erschienenen Werke und Abhandlungen enthalten
schon seit längerer Zeit die Petermannschen Mitteilungen selbst, wie die Zeitschrift
der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin, beide in systematischer Form. Von einer
andern Seite her will das vorliegende Werk dem erwähnten Bedürfnisse entgegen¬
kommen, indem es von den deutschen Erscheinungen das Wichtigste, d. h. dasjenige
zu verzeichnen beabsichtigt, was in einer den vereinigten wissenschaftlichen Zwecken
dienenden wohlversorgten Bibliothek nicht fehlen dürfe, und zwar für die Gebiete
der Geschichtswissenschaft wie der Geographie. So wünschenswert nun auch eine
Beschränkung des Verzeichnisses bei der großen Zahl und dem verschiedenen Werte
der bisher erschienenen Werke ist, so läßt sich doch fragen, ob der angenommene
Maßstab für die Aufnahme eines Werkes der richtige sei, wenigstens so lange kritische
Bemerkungen über den Inhalt der Bücher fehlen; daß der Maßstab keine Gleich-
Mäßigkeit herbeigeführt hat, kann wohl behauptet werden, denn einzelne Werke,
welche Erwähnung verdienten, sind zu vermissen, während andre minder wichtige
Aufnahme gefunden haben; bei einzelnen finden sich ausführliche Inhaltsangaben,
bei andern, sogar hervorragenden, ist lediglich der Titel aufgeführt. Sieht man
aber hiervon ab, so ist das Erscheinen des Werkes nur freudig zu begrüßen; vielen,
Gelehrten wie Buchhändlern, wird das Werk eine willkommene Hilfe und, da es
den Zeitraum von 1820 bis 1382 umfaßt, eine erfreuliche Ergänzung der oben
aufgeführte» Verzeichnisse sein, da letztere allein die neueren bez. die jeweils neu¬
erscheinenden Werke berücksichtigen.
or einigen Wochen (in Ur. 26 d. Bl.) erlaubten wir uns bei Be¬
sprechung der militärischen Verhältnisse des britischen Weltreiches
die Äußerung, die gegenwärtigen englischen Generale seien nur
mittelmäßige Talente, und schlössen in dieses Urteil auch Wolseley
ein. Englische Freunde, die noch an die Weisheit und die Wahr¬
haftigkeit der Londoner Tagespresse glauben können, wollten darin eine unge¬
rechtfertigte Geringschätzung erblicken, und da wir fürchten, daß diese Meinung
von Deutschen geteilt wird, so wollen wir im folgenden für unsre Ansicht einige
Belege beibringen. Es wird daraus hervorgehen, daß wir den gegenwärtigen
als militärische Größen gepriesenen englischen Feldherrn nach ihren bisherigen
Leistungen nicht nur nicht Unrecht gethan, sondern von ihnen eher zu rücksichts¬
voll gesprochen haben. Möglich ist immerhin, daß sie größere Fähigkeiten in
sich bergen und diese in Zukunft offenbaren, wir halten uns aber an ihre Ver¬
gangenheit, und nach der ist das nicht wahrscheinlich. Jene Leistungen finden
wir in einer uns vor kurzem übersandten Schrift dargestellt und beurteilt, welche
den Titel führt: „Studien über außereuropäische Kriege jüngster Zeit" von
Spiridion Gopcevic (Leipzig, Elischer, 1887) und sich zunächst mit einem aus¬
führlichen Berichte über die Landoperationen während des südamerikanischen
Krieges von 1879 bis 1884 (er wurde, wie man sich erinnern wird, zwischen
Wie einerseits und Peru und Bolivia anderseits geführt), dann mit den Feld-
zügen beschäftigt, welche die Engländer 1878 bis 1881 in Afghanistan, 1882
in Ägypten und 1883 bis 1885 im östlichen und westlichen Sudan führten.
Beigegeben sind fünf Karten und sechs Stadtpläne. Der Verfasser, ein Mann
von militärischer Bildung und Erfahrung, schildert und erzählt, hinsichtlich der
Wvlseleyschen Operationen gegen Arabis Ägypter nach eigner Beobachtung, sonst'
aus guten Quellen andrer Art schöpfend, zwar etwas breit, aber klar und über¬
sichtlich, sodaß mich Laien sich zurechtfinden, und wenn die an Nüstvws hage-
büchene Redeweise erinnernde Form der Urteile, die er fällt, oft derber, zuweilen
gröber ist, als daß wir uns feine Ausdrücke aneignen möchten, fo können wir
doch ihrem Inhalte fast immer beipflichten, d. h. da, wo der Soldat spricht,
nicht, wo der russisch gesinnte Panslawist sich einmischt.
Der einzige englische Heerführer der letzten beiden Jahrzehnte, dem An¬
erkennung gebührt, ist der General Roberts, der im letzten Kriege mit den
Afghanen wiederholt die Hauptrolle spielte, aber auch mehr durch Kühnheit und
rücksichtslose Anspannung und Ausnutzung der Kräfte seiner Soldaten als durch
strategische Begabung Erfolge errang, sodaß wir ihn mit Steinmetz vergleichen
dürften, wenn seine Verdienste nicht dadurch verringert würden, daß seine Gegner
schlecht geführte und nur teilweise wohlbewaffnete und gut geübte Halbwilde
waren. Roberts gewann die Schlacht bei Peiwar, aber durch ein Verfahren,
welches als sehr gewagt bezeichnet werden muß und einem europäischen Heere
gegenüber aller Wahrscheinlichkeit nach mißlungen wäre. Seine Umgehung der
afghanischen Stellung zersplitterte die ohnehin nicht starken englischen Streit¬
kräfte in drei Teile, von denen keiner dem andern rasch zu Hilfe kommen konnte,
wenn er angegriffen wurde. Jedenfalls wurden die Afghanen dnrch feinen Um-
gehungsmarsch geradezu aufgefordert, das Korps des Generals Cvbbe anzufallen
und mit Übermacht zu vernichten, und war dies geschehen, so konnten sie ruhig
ihre Front wenden und in dieser Stellung den Angriff Roberts' abwarten, der
sie mit seinen vier stark erschöpften Regimentern schwerlich zu werfen imstande
gewesen wäre. Im Gegenteil, alles spricht dafür, daß Roberts geschlagen, von
den beiden übrigen Regimentern abgedrängt und in das Innere des Landes
getrieben worden wäre, wo es ihm sehr schwer gefallen sein würde, sich wieder
hercuiszuhelfen. So hatten die Afghanen bei Peiwar gute Aussichten, Roberts
eine Katastrophe zu bereiten. Sie besaßen aber keinen Feldherrn mit einem
Blicke, der dies erkannt hätte, verstanden überhaupt nicht viel von taktischen
Bewegungen, und so ließen sie sich von dem bloßen Anscheine einer Bedrohung
ihrer Rückzngslinie schrecken. Die Verwegenheit des englischen Generals läßt
sich nur damit entschuldigen, daß er diese Unfähigkeit des Gegners kannte und
darauf rechnete, aber er hatte immerhin von Glück zu sagen, daß er sich nicht
verrechnete. Glück und Zufall begünstigten in diesem Feldzuge überhaupt die
englischen Generale, von denen keiner als Roberts sich auszeichnete und mehrere
Mangel an Vorsicht, Scharfblick und Entschlossenheit an den Tag legten. Be¬
sonders wenig Energie bewies Viddulph bei seinem Vormarsche gegen Kandahar,
ganz unfähig zeigte sich Burrows während des Nachspiels, welches der Krieg
zwischen Kandahar und Herat hatte. Er ließ sich von Ejub Chan wiederholt,
bei Girischk und bei Kuschk i Ncchud, umgehen und erlitt darauf bei Maiwand
eine schwere Niederlage, bei welcher die Engländer gegen 1300 Mann auf dem
Platze ließen und welche die Hauptstadt dieses Teiles von Afghanistan mit einer
Einnahme und Plünderung durch die Sieger bedrohte. Ein Ausfall, den der
hier befestigende General Primrose wagte, wurde abgeschlagen und kostete den
Belagerten wieder 200 Mann, und nur schleuniger Entsatz konnte Kandahar
retten. Roberts, damals in Kabul, zog in Eilmärschen herbei und schlug Ejub
bei Pio Paimal durch eine Umgehung seiner Hanptstellung, worauf der afgha¬
nische Prinz mit dem Reste seiner Truppen nach Herat zurückkehrte. Daß die
Früchte dieser nicht nur kühnen, sondern auch geschickt ausgeführten Operationen
bald darauf verloren gingen, war nicht die Schuld von Roberts, sondern Folge
der Politik Gladstones, der Kandahar und Afghanistan aus kurzsichtiger Furcht
vor Nußland räumen ließ.
Roberts steht nach seinen Leistungen als ein energischer, oft tollkühner
Soldat da, welcher ein verhältnismäßig kleines, aber aus tüchtigen Leuten be¬
stehendes Heer im ganzen mit Geschick zu Siegen über Halbbarbaren zu führen
wußte, bei denen ihm die Natur in Gebirgen und Wüsten mächtige Hindernisse
entgegenstellte. Wolseley zeichnet sich nicht durch Energie und Kühnheit aus.
Er ist mehr eine bedächtige, zögernde, ja ängstlich berechnende Natur, und wenn
er Erfolge aufzuweisen hatte, so waren die ersten auf dem Zeitungspapier viel
größer als in der Wirklichkeit, während die letzten sehr bald durch schweren
Mißerfolg in den Schatten gestellt wurden. Sein Sieg über die Aschantis
und seine Niederwerfung des Aufstandes am Red River sind über alle Gebühr
zu militärischen Großthaten aufgebauscht worden. Mit seinen Leistungen in
Unterägypten und im Sudan aber verhält es sich so.
Die Verschiebung der englischen Operationsbasis, das Abschwenken der
Armee nach Jsmailia, welche nach Wolseleys Eintreffen in Ägypten angeordnet
wurde, war eine geschickte Operation, die indes auf der Hand lag, da es
Tollkühnheit, ja Wahnsinn gewesen wäre, wenn man die Stellung Arabis bei
Kafr Ed Dauar nicht bloß beobachtet und dem Anscheine nach bedroht, sondern
"n't Sturm zu nehmen versucht hätte. Der Hauptangrisf von Jsmailia her schnitt
Führer der Rebellen überdies die Möglichkeit ab, mit seinen Schaaren nach
Oberäghpten zu entweichen und einen langwierigen Guerillakrieg zu beginnen,
>"le ihn Mund Bei 1798 bis 1800 gegen die Franzosen zu führen imstande
war. Der ursprüngliche Plan, die Ägypter bei Kafr Ed Dauar anzugreifen,
den Stier bei den Hörnern zu fassen, entsprach der englischen Tradition, war
^er fast eine ebenso große Thorheit des Vorgängers Wolseleys im Oberbefehl,
wie die falsche Annahme jenes Generals (Alisons) bei der Schätzung der feind¬
lichen Streitkräfte, die nicht, wie er glaubte, bloß 15 000 Mann, sondern we¬
nigstens doppelt so stark waren. Wolseley war vorsichtiger und rechnete richtiger.
Die Operationsbasis wurde an den Suezkanal verlegt, nur eine Division verblieb
in Ramleh. um die Ägypter in Kafr Ed Dauar zu täuschen und dort fest¬
zuhalten, und das Expeditionskorps, bisher nur 22 000 Mann mit 48 Ge-
schützen zählend, wurde auf etwa 40 000 Mann mit 166 Geschützen gebracht.
War dieser Anfang zu loben, so entsprach die Ausführung dieses Planes durch¬
aus nicht der Erwartung, daß ein Feldzug von der Dauer einer Woche genügen
würde, Arabis Heer zu zerstreuen und bis Kairo vorzudringen. Sie war eine
Kette von Unterlassungssünden und Mißgriffen, und wenn man schließlich doch
zum Ziele kam, so war es nur die Unfähigkeit der ägyptischen Heerführer und
die Erbärmlichkeit ihrer Truppen gegenüber der Tüchtigkeit der englischen Sol¬
daten, welche dies ermöglichte. Die Verlegung der Operationslinie hatte nur
dann Sinn, wenn alles für ein rasches Vordringen bereit gestellt war. Ein
kluger Feldherr hätte das Eintreffen der indischen Truppen abgewartet und in
der Zwischenzeit für die Einschiffung von Lokomotiven und Waggons, für Last¬
tiere und für die Ordnung des Train- und Verpflcgewesens Sorge getragen.
So hinreichend vorbereitet, hätte sich die Offensive mit Blitzesschnelle voll¬
ziehen lassen. Beständige Demonstrationen bei Alexandria Hütten Arabi die
Meinung beigebracht, daß ein Angriff auf Kafr Ed Danar beabsichtigt sei, und
er wäre hier mit dem größten Teile seiner Armee geblieben. Auf die Nachricht
vom Eintreffen der Inder wäre der englische General mit dem Gros seiner
Streitkräfte nach Jsmailia gefahren, um sich mit jenen zu vereinigen, während
10 000 Mann vor Kafr Ed Danar weiter demonstrirt hätten. Mittels der mit¬
gebrachten Lokomotiven und der in Jsmailia befindlichen Waggons konnte man
einige tausend Mann sofort nach Tel El Kebir werfen und die wenigen hundert
Ägypter, die hier Schanzen zu bauen begonnen hatten, verjagen, worauf die
Bahn bis Kairo frei gewesen wäre, sodaß man in dieser Stadt, ehe Arabi von
der Sache erfahren hätte, 12- bis 15 000 Mann Hütte versammeln können.
Wolseley machte, statt rasch von Jsmailia nach Tel El Kebir vorzurücken,
mehrere Tage in Jsmailia Halt, und als er dann aufbrach, war er nicht ge¬
nügend vorbereitet. Dadurch gewann Arabi Zeit, sich von seiner Verblüffung
über die Umgehung zu erholen, mit seiner Hauptmacht nach Tel El Kebir zu
wenden und dort mächtige Verschanzungen anzulegen, die Wolseley, wenn sie
von tüchtigen Soldaten verteidigt worden wären, nicht oder nur mit großen
Verlusten hätte nehmen können. Als die Engländer in Jsmailia landeten, die
Infanterie volle vier Tage vor der Artillerie und Kavallerie, hatte ihr Ober¬
general unterlassen, Lokomotiven für die Eisenbahn, Lasttiere für den Train,
Zelte gegen die ungeheure Sonnenhitze und genügende Lebensmittel mitzunehmen.
Man mußte also Lokomotiven von Alexandrien nachkommen lassen und Kameele
ankaufen. Die Soldaten mußten sich mit halben Nationen begnügen und über¬
dies Wassermangel leiden, da die Ägypter bei Tel El Mahnta den Süßwasscr-
kanal abgedämmt hatten. Der Versuch, diese Sperre zu beseitigen, wurde nur
mit 1500 Mann unternommen und gelang, da die Ägypter hier sechsmal so
stark waren, erst als jene 1300 durch die Gardebrigade verstärkt worden waren.
Wäre der Feind entschlossener und geschickter gewesen, so würden jene in der
Zwischenzeit vernichtet worden sein, zumal da sie durch Wolseleys Sorglosigkeit
und Versäumnis dem Hunger und dem Sonnenstich ausgesetzt waren. Die
Ägypter ließen sich dann bei Mahsame von der englischen Kavallerie überfallen
und zersprengen, aber da es an Transportmitteln fehlte, konnte man die hier
erbeuteten Vorräte nicht nach Mahuta schaffen, und so mußte Wolseley bis
Kassasin vorgehen, und dadurch wurde sein Heer so verzettelt, daß der ganze
Aufmarsch in der Luft hing und ein energischer Gegner die einzelnen Abteilungen
desselben leicht hätte schlagen können. Hätte ein europäischer General die
Ägypter geführt, so wäre Wolseleys Streitmacht vom 28. August bis zum
1. September in dieser Vereinzelung wahrscheinlich aufgerieben worden. Nur
die Standhaftigkeit der englischen Infanterie und der ungestüme Mut der
Reiterei Lowes retteten bei Kassasin die Truppen Gradaus, als Arabi sie mit
Übermacht angriff, und errangen einen Sieg, der aber immerhin dem Korps
einen Verlust von etwa 200 Mann, einem Zehntel seiner Stärke, kostete. Am
29. August verfügte Wolseley über 25 300 Mann, aber statt mit ihnen sofort
gegen Arabis Stellung bei Tel El Kebir zu marschiren, blieb er mehrere Tage
unthätig und wartete Verstärkungen ab, wodurch die Ägypter Zeit erhielten,
sich bei jenem Orte besser zu verschanzen. Auch als die dritte Brigade von
Alexandrien angelangt war und Wolseley 28 500 Mann beisammen hatte, blieb
er noch stehen, bis die letzten Inder ankamen. Dabei verzettelte er seine Truppen
noch mehr als zuvor, und wieder hätte Arabi dies zu Handstreichen gegen die
einzelnen Abteilungen benutzen können. Er that dies nnr einmal, gegen den bei
Kassasin stehenden Graham, der sich von ihm mit Artillerie (wie die Franzosen bei
Beaumont) überfallen und mit Granaten überschütten ließ. Zum Glück für ihn
war die ägyptische Infanterie weniger rasch und kühn, und so gelang es den
Engländern, sich zu ordnen und dem Gegner schließlich eine Niederlage bei¬
zubringen. Erst am 12. September ging Wolseley zur Einnahme der doppelten
Schanzenreihe von Tel El Kebir vor, wobei er zwei Divisionen nördlich, die
dritte südlich vom Kanal marschiren ließ — eine Zersplitterung, die ein geschickter
und entschlossener Gegner sicher benutzt haben würde, wenn er Truppen genug
gehabt hätte. Arabi war weder geschickt noch entschlossen, auch war Wolseley
ihm jetzt um wenigstens 3000 Mann überlegen, und so glückte der Angriff der
Engländer. Ein Teil der Ägypter war schon vorher davongelaufen, die andern
ließen sich in den ersten Schanzen überraschen, der Rest focht nur matt und er¬
griff bald ebenfalls die Flucht. Damit war der Feldzug zu Ende. Wolseley
hatte bewiesen, daß er etwas weniger unfähig als Arabi war, und daß er
bessere Soldaten zur Verfügung hatte als dieser, das war alles. Ruhm erwarb
er sich nur in den Londoner Zeitungen, nicht für die Geschichte.
Noch weniger mit Ruhm bedeckt als durch seinen Feldzug gegen Arabi
und dessen Fellahin hat sich Wolseley durch seinen Versuch, Gordon aus der
Gewalt des Mahdi zu befreien. Schon die Wahl des Weges nach Chartum
war ein Mißgriff. Man durfte nicht im Nilthale vorgehen, sondern mußte
vom Roten Meere aus über Berber operiren. Der Weg von Suakin war
sechsmal kürzer als der Nilweg, und daß die natürlichen Schwierigkeiten des¬
selben, eine Wüste mit wenigen Brunnen, nicht unüberwindlich waren, hatte
Hicks Pascha bewiesen, der die Strecke zwischen der See und dem Nil bei
Berber in sechzehn Tagen zurückgelegt hatte. Allerdings mit nur 8000 Mann,
während Wolseley 12000 zu befördern und zu versorgen hatte; dafür standen
aber diesem, wenn er sich für diesen Weg entschied, weit größere Hilfsmittel zu
Gebote. Die verhältnismäßig nahe See gestattete im Verein alt einem Terrain,
welches die Anlegung einer Eisenbahn in fast gleichem Tempo mit dem Marsche
der Truppen erlaubte, schnelles Vordringen der Hauptmacht hinter der Vorhut,
und Osman Digma konnte dieser nicht mit genügenden Kräften den Marsch
versperren. Die Expedition wäre hier mit weniger Zeitverlust und geringeren
Kosten ans Ziel gelangt als nach Wolseleys Plan. Das war auch General
Stephensons und Gordons Meinung, welche beide die Verhältnisse gründlich
kannten. Diesem ersten großen Mißgriffe folgten bei der Ausführung des Feld¬
zuges eine Reihe andrer. Wolseley war, wenn seine 12 200 Mann möglichst
vereint marschirten, dem Mahdi, der nie mehr als 20 000 schlechtbewaffnete
Krieger beisammen hatte, reichlich gewachsen. Aber erstens blieb er, in Korti
angelangt, viele Wochen unthätig stehen und zweitens zersplitterte er seine
Kräfte in vier Teile, indem er ein Viertel derselben nach Nordosten schickte,
während das letzte Ziel seines Unternehmens südöstlich lag, 6000 Mann in
Korti zwecklos bei sich behielt und nur 1400 gegen Chartum dirigirte; die
übrigen befanden sich noch im Anmärsche. Der Zug der 1400 unter Oberst
Stewart, der durch die Bajudawüste ging, war die einzige verständige Ma߬
regel, nur wurde sie um vierzehn Tage zu spät angeordnet. Geschah dies
umso viel eher, also am 16. Dezember, so konnte Wolseley mit allen andern
Truppen, 9000 Mann, am 24. nachfolgen und am 31. in Metammeh sein, von
wo er nur noch dreiundzwanzig Meilen nach Chartum hatte, und von wo
Gordvusche Dampfer seine Leute nach und nach bis vor diese Stadt schaffen
konnten. Dies lies sich in spätestens fünf Tagen bewerkstelligen, und so konnten
am 6. Januar 9000 Engländer und 1000 ägyptische Negersoldaten sich mit den
3000 Mann vereinigen, die Gordon in Chartum hatte. Ein Sieg über den
dort stehenden Mahdi war fast nicht zu bezweifeln. Wolseleys Unentschlossen-
heit verzögerte dies aber, und so fiel Chartum am 26. in die Hände der Araber,
und Gordon fand dabei seinen Tod. Selbst wenn Wolseley nur einige Tage
eher vor der Stadt erschienen wären, hätte sich das Verhängnis noch abwenden
lassen. In Betreff der Fehler Stewards bei Abu Klea, Wilsons bei Metammeh
und Gradaus bei El Teb wolle man die oben angeführte Schrift selbst nach¬
lesen. Hier nur noch ein Wort über die Generosität, mit welcher das Vater¬
land die kläglichen Leistungen dieser Feldherren belohnen zu müssen glaubte.
Wolscley wurde Earl und erhielt eine stattliche Geldsumme, Graham bekam
das Großkreuz des Michael- und Georgsordens und ebenfalls Geld. Außerdem
Pflegt die Londoner Presse seitdem den ersteren als our orü^ zu be¬
zeichnen. Anderswo würde man die Herren vermutlich fiir immer kaltgestellt
haben. Hier hat man nichts besseres.
^>L>
«
MGn letzter Zeit ist wieder ein heftiger Streit über die Erfolge und
die Bedeutung unsrer ausländischen Kolonialbestrebungen geführt
worden. Es ist namentlich von den Kreisen unsers Volkes, die
diesen Bestrebungen, wenn auch nicht feindselig, so doch zunächst
etwas zweiflerisch gegenüber stehen, darauf hingewiesen worden,
daß die Kolonialbewegung, insofern als durch sie die Konzentrirung der deutschen
Auswanderung in deutsche Kolonial- oder Schutzgebiete bezweckt war, gewisser¬
maßen als im Sande verlaufen und verfehlt erscheine. Man mag nun über
die Begründung dieser Ansicht denken, wie man will, selbst wenn man andrer
Meinung wäre, müßte man immerhin das zugeben, daß selbst ein Zusammen¬
ballen deutscher Kräfte in auswärtigen deutschen Kolonien doch ein Verlust
dieser Kräfte für das Mutterland bedeutet. Denn das, was diese Kräfte in
unserm eignen Lande leisten, was sie zur Vermehrung des Nationalwohlstandes
beitragen könnten, vermögen sie fern von uns nicht, insbesondre nicht, wenn
man kriegerische Verwicklungen in Betracht zieht. Außerdem darf uicht ver¬
gessen werden, daß, wie das Beispiel der Kolonien aller andern Länder beweist,
die freiwillige oder erzwungene Lostrennung derartiger ausländischer Glieder
des Mutterkörpers doch nur immer die Frage einer kürzeren oder längeren
Zukunft ist.
Aber, um zu unserm Thema zu kommen, gilt nicht auch auf diesem Gebiete
das Goethische Wort: „Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt
w nah!" Für die deutsche Nation bedarf es gar nicht so sehr der Gewinnung
neuen, auswärtigen Landes. Es ist noch genug, übergenug deutscher Boden vor
Handen, der denjenigen Mitgliedern der Nation, die anderwärts keinen Platz
und Raum mehr finden, gegeben und von ihnen erworben werden kann. Hierzu
soll die innere Kolonisation dienen.
Bekanntlich ist die innere Kolonisation nach schweren parlamentarischen
Kämpfen, die für die Weiterentwicklung des Reiches selbst im nationalen Sinne
als der Wendepunkt angesehen werden können, durch das Ansiedelungsgesetz
sür die preußischen Provinzen Posen und Westpreußen praktisch ins Werk
gesetzt und damit an die schönsten Thaten der Hohenzollern, die fast sämt¬
lich, namentlich im vorigen Jahrhundert, Kolonisatoren waren, wieder angeknüpft
worden. Freilich hat hier die Maßregel in erster Linie einen nationalen Hinter¬
grund gehabt, nämlich dem überflutenden Polentum entgegenzutreten und dem
zusammenschmelzenden Deutschtum neue Kräfte zuzuführen. Und gewiß muß
die Brust jedes patriotisch fühlenden Mannes höher schwellen, wenn er erfährt,
wie glücklich und schnell diese Kolonisation von Statten geht, wie ein Gro߬
grundbesitz nach dem andern den polnischen Händen entrungen wird, und wie
auf den alten Slawensitzen neue deutsche Bauerndörfer entstehen und frisches,
deutsches Leben in jenen Gegenden, die nur auf diesem Wege uns erworben
und erhalten werden können, einzieht. Wahrlich, die seiner Zeit durch das
Ansiedelungsgesetz zu diesen Zwecken bewilligten 100 Millionen Mark werden
reiche Früchte tragen.
Aber nicht allein in seiner Beschränkung auf nationale Zwecke darf dieses
Ansiedlungsgesetz mit Freuden begrüßt werden; es birgt, so Gott will, auch
noch weitere fruchtbare Keime, die mit der Zeit zur Reife kommen werden, für
andre Gebiete in sich. Es soll hier nicht der glückliche gesetzgeberische Gedanke
der Wiedereinführung der Nentengüter und der Bruch mit der frühern kapita¬
listischen Behandlung des Grundbesitzes weiter erörtert und verfolgt werden.
Der Auflauf von Großgrundbesitz, der sich wirtschaftlich und finanziell nicht
mehr halten kann, durch den Staat und die Besetzung dieses Großgrundbesitzes
mit bäuerlichen, kleinern Leuten sollten typisch behandelt, auch auf andre Ge¬
genden des Staates angewandt und daher dauernd durch Einstellung entsprechender
Mittel in den Staatshaushaltsetat in die Gesetzgebung eingeführt werden. Die
Zeiten, in denen die Durchführung derartiger Anschauungen von Staatswegen
als mit den Aufgaben des Staates unvereinbar angesehen wurden, sind vorüber.
Der Staat gilt uicht mehr als polizeilicher Nachtwächter; die Aufgabe des
Staates als der Konzentration der sämtlichen und ersten Kräfte des Volkslebens
besteht in der Lösung sozialer, wirtschaftlicher Aufgaben, zu der es eines kräf¬
tigen Vorgehens und der Aufwendung großartiger Mittel bedarf. Hierin, nicht
in dem weitern Ausbau leerer, parlamentarischer Formen und Einrichtungen,
muß immer und namentlich in unsrer Zeit der Schwerpunkt des Staates ge¬
sehen werden. Der Osten des preußischen Staates und mit ihm die haupt¬
sächlich dort vertretene Landwirtschaft leidet aber an dem Überwiegen des Gro߬
grundbesitzes. Der Großgrundbesitz ist keine den Deutschen eigentümliche
Einrichtung. So weit wirklich deutsche Stämme von dem Grund und Boden
Besitz genommen haben, so weit findet sich kleiner, bäuerlicher Besitz vor. Diese
Bodenverteilung entsprach dem deutschen Grundcharakter, nach dem jeder
Stammesgenosse frei war und demgemäß auch Anspruch auf eine gleichmäßige
Verteilung des in den Augen der Germanen höchsten Gutes, des Grund und
Bodens, hatte. Erst da, wo die Deutschen nicht dicht genug vordrangen und
die Slawen erhalten blieben, erst da erhielt sich auch der Großgrundbesitz selbst
dann, wenn die slawischen Großgrundbesitzer im Laufe der Jahrhunderte in das
deutsche Lager übertraten. Darum finden wir diese Einrichtung, die dem ge¬
schichtlichen Verhältnisse bei den Slawen entspricht — wenige große Herren
gegenüber einer zahlreichen Schar von Hörigen und Unfreien —, am deutlichsten
in den Oftprvviuzcn, Ost- und Westpreußen, Pommern, Brandenburg, Posen.
Schlesien und Sachsen, vertreten. Durchbrochen ist diese Einrichtung nur durch
die kolonisatorischen Bestrebungen der Hohenzollern, die aber bis jetzt den Gro߬
grundbesitz unberührt ließen und sür die Ausführung andre Gebiete, ausge¬
trocknete und entwässerte Fluß- und Seegebiete oder auch, wie vielfach in West-
Preußen, Haide- und Bruchland, in Anspruch nahmen. Es ist nun merkwürdig,
daß diese Kolonien, die fast durchweg als Bauerndörfer zu bezeichnen sind, sich
trotz der Ungunst der Verhältnisse für die Landwirtschaft erhalten haben und
weiter blühen, während der Großgrundbesitz, soweit derselbe nicht in alt aristo¬
kratischen, außerdem gut fundirten, oder in ausgesprochen kapitalistischen Bcm-
kiershänden sich befindet, fortwährend bergab geht und vergebens die krampf¬
haftesten Anstrengungen macht, die ererbte Scholle zu erhalten. Mir. der ich
selbst aus eiuer größeren landwirtschaftlichen Besitzerfamilie stamme und mit
den einschlägigen Verhältnissen von Jugend und auch jetzt durch meine amtliche
Thätigkeit völlig vertraut bin, ist dies noch nie so aufgefallen, wie in diesem
Sommer. Ich verlebte nämlich meinen Sommerurlaub in einem pommerschen.
von kleinern Besitzern bewohnten Stranddorfe, machte aber auch häufig eiuen
Ausflug zu Verwandten, die als Großgrundbesitzer in der Nähe wohnten.
Während in dem Besitzerdorfe alles dafür sprach, daß die Leute in der letzten
Zeit wohlhabender geworden und voll der landwirtschaftlichen Not, insbesondre
dem Sinken der Betriebsprodnkte. nicht berührt waren, herrschte bei den Ver¬
wandten, die außer ihrem eignen Gute noch das eines bereits in Vermögens-
verfall geratenen Verwandten hatten übernehmen müssen, trotz der größten
Sparsamkeit und Einschränkung das Bewußtsein vor, daß es nicht vorwärts
gehe. Daß ein solcher Fall nicht vereinzelt dasteht, sondern sich fast ausnahms¬
los über den gesamten größeren Besitz erstreckt, kann wohl als eine unbestrittene
Thatsache hingestellt werden. Diesen in solcher Lage befindlichen Besitzern kann,
dies darf man sich nicht verhehlen, durch nichts, auch uicht durch die ein¬
schneidendsten zollpolitischen agrarischen Schutzmaßregeln aufgeholfen werden. Zu
den Gründen des Verfalls dieser größern Besitzer hat mancherlei mitgewirkt.
In erster Reihe natürlich der Umstand, daß der Fundus für die Familie als
teilbares Objekt angesehen und demgemäß auch bei Erbteilungeu, wenn auch
nur gewissermaßen ideell durch Eintragung den Erbanteilen entsprechender Hypo¬
theken für diejenigen Familienmitglieder, welche das Gut nicht übernehmen, be¬
handelt wurde. Es ist klar, daß die Bodenrenke auch bei noch so verteuerten
Bodenerzeugnissen nicht gleichen Schritt mit diesen sich anfangenden, von der
Bodenrenke zehrenden Kapitalforderungen halten kann. Die Zeit ist stets mit
Sicherheit vorauszusehen, in der der Übernehmer solcher Güter nicht mehr im
Besitze des solchen Ansprüchen genügenden Kapitals ist. Wer mit den betreffenden
Verhältnissen, die sich namentlich auch an den deutschen Einwanderern Ende
vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts zeigen, vertraut ist, wird folgenden
sich ständig und überall wiederholenden Turnus verfolgen können. Der Grosz-
oder Urgroßvater hat für ein Spottgeld größeren Besitz erworben und ist selbst
ein reicher Mann geworden. Bei dem Besitzwechsel ans dem Wege der Erb¬
schaft sind die Familienhypotheken entstanden. Zu deren Auszahlung sind häufig
neue Hypotheken aufgenommen worden. Dieses Verfahren setzt sich dann so
lange fort, bis der letzte Übernehmer des Gutes nicht mehr imstande ist, die
sich fortwährend wiederholenden kapitalistischen Anzapfungen aus den Gutsein¬
nahmen zu befriedige» und schließlich die Landschaft die Verwaltung des Gutes
übernehmen muß, nicht um es wieder im ganzen zu veräußern, sondern um,
wie es jetzt schon geschieht, zu zerschlagen und dasselbe zu thun, was die An-
siedeluugskvmmission für Posen und Westpreußen vorbereitet und ausführt. Es
haben ja auch noch viele andre Gründe zum Ruin des größeren Besitzes mit¬
gewirkt, als da sind: die zum Teil mit der sozialen Stellung zusammenhängende
Steigerung des Aufwandes, die Neigung, die Familienglieder dem militärischen
Stande in den jüngeren Jahren zu widmen und dann das Gut übernehmen
zu lassen, wie endlich die Unmöglichkeit einer intensiven Bewirtschaftung bei den
großen, in Pommern beispielsweise durchschnittlich drei- bis fünftausend Morgen
betragenden Arealen. Es ist daher nur zu wiederholen: man täusche sich nicht,
die Gründe dieses Verfalles des Großgrundbesitzes sind dnrch keine auch noch
so übertriebene Maßregel zum Schutze der einheimischen Landwirtschaft zu be¬
seitigen; dieser Großgrundbesitz ist, wenn er nicht, wie es leider öfter geschieht,
in die „rettenden" Bankiershände übergeht, rettungslos verloren, wobei ich
wohl nicht hervorzuheben brauche, daß ich nicht etwa irgendwie Gegner des
Großgrundbesitzes bin. Aber man muß den Thatsachen ins Gesicht schauen.
Es fragt sich nur: Wie hat sich der Staat angesichts dieser Thatsache zu ver¬
halten? Es ist dies ein sehr wichtiger Punkt. Denn die erste und vornehmste
Erwerbsart wird und muß diejenige bleiben, die sich auf den Grund und Boden
stützt. Einwirken wird hierauf natürlich eine richtige Verteilung des Bodens.
Es kann daher dem Staate unmöglich gleichgiltig bleiben, wer die Erbschaft
des im Osten vorwiegenden Großgrundbesitzes antreten wird. Angenehm berührt
es uicht, wenn durch die Zeitungen die Nachricht geht, daß das größte Bankier¬
haus in Berlin uno tömxore wieder drei größere Güter an sich gebracht hat.
Vom Standpunkte des allgemeinen Wohles kann ein derartiges Hinübergehen
des Grund und Bodens, als des bleibenden Urquells für die Erzeugung der
Güter, in Kapitalshände nicht gutgeheißen werden. Anderseits muß eingeräumt
werden, daß, so sehr im Stciatsintcresfe das Vorhandensein eines tüchtigen Gro߬
grundbesitzes überhaupt liegt, das Überwiegen dieses Standes vom staatliche,,
Gesichtspunkte aus nicht zu billigen ist. An diesem Überwiegen des Großgrund¬
besitzes krankt geradezu der Osten des preußischen Staates. Man blicke nur
auf Pommern. Obgleich fast die ganze Ostseeküste jetzt preußisch ist. obgleich
für Schifffahrt und Handel viel geschehen ist, ein großes und reiches Eisen¬
bahnnetz sich über dieses Land spannt, ist, wie die letzte Volkszählung erweist,
die Bevölkerung fast mit alleiniger Ausnahme Stettins reißend schnell zurück¬
gegangen, der beste Maßstab nicht bloß für den Stillstand, sondern für den
Rückgang des wirtschaftlichen und kommerziellen Lebens. In einer Zeit riesigen
Aufschwunges auf allen Gebieten im deutschen Reiche geht die Bevölkerung einer
großen Provinz des preußischen Staates zurück. Giebt dies nicht zu denken?
Auf den größeren Gütern herrscht ein solcher Arbeitermangel, daß die Besitzer
gezwungen und dabei noch froh sind, diesen Arbeitermangel durch ständige
Trupps aus den Gefängnissen der benachbarten Städte zu decken. Die Aus¬
wanderung aus den östlichen Provinzen, namentlich auch aus Pommern, ist
dabei trotzdem die stärkste. Es ist kein Raum, es ist kein Grund und Boden,
auf dem die Leute sich ausbreiten können, eben weil Großgrundbesitz an Gro߬
grundbesitz liegt. Freilich klingt das eben Gesagte unglaublich, wenn man
beispielsweise die Gegeud von Stargard in Pommern bis Kostin bereist und
meilenweit kein Haus, kein Dorf steht. Dort sollte uicht genug Grund und
Boden zu Vesiedelungen sein?
Auch sonst herrscht in Pommern mit wenigen Ausnahmen, wie Stettin
und Stargard, kein Leben, insbesondre nicht auf industriellem, kommerziellen
Gebiete. Denn Industrie kaun nur blühen, wo eine dichte ländliche, ackerbau¬
treibende Bevölkerung zur Abnahme der industriellen Erzeugnisse imstande ist.
Selbst größere Städte wie Pasewalk. Anklam, Demmin haben eine irgendwie er¬
hebliche Vevölterungszuuahme bei der letzten Volkszählung nicht aufweisen können.
Wenn man nun annimmt, daß eine Familie von acht bis zehn Köpfen bei
"nein Areal von zwanzig Morgen sich gut ernähren kann, so ist leicht zu be¬
rechnen, wie vielen Millionen im Osten ein Herd durch Ankauf von Großgrund¬
besitz vonseiten des Staates gegründet werden könnte. Durch eine derartige
Maßregel würde dem notleidende« Großgrundbesitz noch am ehesten geholfen,
"'dem manchem die Rettung eines Teiles seines ursprünglichen Vermögens er¬
möglicht würde. Wie viel andre guten Folgen würden aber an diese Ma߬
regel sich wieder knüpfen! Der immer mehr zunehmenden Entvölkerung des
Ostens würde zunächst vorgebeugt werden. Der Osten ist aber für den preu-
ßischen Staat immer einer der wichtigsten Teile gewesen. Von dort ist seine
Größe ausgegangen; von dort aus haben sich hauptsächlich jene Regimenter
rekrutirt, deren Fahnen in den Entscheidnngskämpfen der Sieg gefolgt ist. Bei
der jetzigen politischen Lage ist der Osten das wichtigste Land; denn dasselbe
soll das Bollwerk sein gegen das Überfluten und den Ansturm des Pcmsla-
wismus. In nationaler Hinsicht muß daher die Stärkung der östlichen Pro¬
vinzen der erste Gesichtspunkt sein; diese Stärkung wird aber zuerst in der
Verdichtung der ländlichen, ackerbautreibenden Bevölkerung zu suchen sein. Eine
der größten Thaten des deutschen Volkes wird immer die Kolonisation des
Ostens bleiben. Möge an die Thaten des deutschen Ordens, Friedrich Wil¬
helms I. und Friedrichs des Großen mit modernen Mitteln, d. h. mit dem Gelde,
angeknüpft werden!
Die zweite Folge der befürworteten Maßregel würde die Hebung der
Landwirtschaft sein. Was die jetzige, zum großen Teile an dem Vorwiegen des
Großgrundbesitzes kränkende Lage der Landwirtschaft in volkswirtschaftlicher
Hinsicht und für die Interessen der Bodenkultur zu bedeuten und welche Nach¬
teile diese Lage im Gefolge hat, beweist z. B. eine einzige Nachricht in einem
Berichte eines pommerschen Hanptvereins, wonach ein großes Gut fast dreiviertel
Jahre ohne Besitzer, ohne sonstige Bewohner gewesen ist, bis endlich die Land¬
schaft die Sequestration eingeleitet, das Inventar wieder angeschafft und so die
Wirtschaft in Gang gebracht hat. Während in der Nähe der großen Städte,
namentlich um Berlin herum, jeder Quadratmeter Raum kaum mit Geld auf-
zuwiegen ist, ist ein großes Besitztum in Pommern kaum des Aufhebens wert!
Große Teile von Pommern und viele andre Striche in den östlichen Pro¬
vinzen sind nicht allzu fruchtbar, sie bestehen aus leichtem Boden. Hier kann nur
der Kleinbetrieb eine bessere Kultur des Bodens herbeiführen. Der Großgrund¬
besitzer ist bei den immer mehr versiegenden Einnahmequellen hierzu nicht im¬
stande. Die besten Schläge werden bei der Bestellung bevorzugt, die leichten
Anßeuschlcige vernachlässigt oder ihre Beackernng gar allmählich eingestellt.
Eine weitere Folge der Ausführung dieses Vorschlages würde ein Entgegen¬
treten gegen die zunehmende Übervölkerung der Städte und gegen das Zuströmen
der Massen zu den Mittelpunkten der Industrie sei». Jeder Mensch möchte
einmal selbständig werden; daher wird derjenige Beruf vorgezogen, in dem dieses
Ziel am ehesten winkt. Alle die Größen der Industrie, die es zu Millionen
gebracht haben, sind in ihre spätere Wirkungsstätte als arme Arbeiter oder
Handwerker eingezogen. Den Zauberstnb dieses Emporkommens kaun jedweder
in der Industrie, dies sagt er sich, in seinem Tornister tragen. Bei den jetzigen
Besitzverhältnissen im Osten, die selbst tüchtigen und allmählich zu etwas Ver¬
mögen gelangenden Arbeitern die Seßhaftigkeit unmöglich machen, ist das Ab¬
strömen gerade der bessern und tüchtigem Elemente nur zu leicht erklärlich.
Schon an dem immer akuter werdenden, durch keine sonstigen Mittel ab¬
wendbaren Arbeitermangel muß der Großgrundbesitz zu Grunde gehen.
Welche Folgen aber auf sozialem Gebiete an diese Maßregel sich knüpfen
würden, braucht eigentlich kaum des Näheren erörtert zu werden. So edel, so
human und so segensreich die zum Wohle der arbeitenden Bevölkerung wirkenden
Gesetze sind, welche die Kranken- und Unfallversicherung betreffen, und denen
sich hoffentlich bald die Invaliden- und Altcrsversorgungsversicherung anschließen
wird, noch viel wichtiger und mehr soziale Gefahren ablenkend werden alle
Maßregeln des Staates sein, die in Wiederbelebung der mosaischen Gesetzgebung
eine richtige Verteilung des Grund und Bodens herbeiführen, das Interesse
an der Landwirtschaft wieder beleben, ihr die überschüssigen Elemente zuführen,
und deutlich vor Augen stellen, daß die richtige, gleichmäßige Beteiligung der
Bevölkerung an der Kultur des Bodens die wichtigste Sorge des Staates sein
und bleiben muß. Auch die jetzt so brennend gewordene Frage des ständigen
Sinkens der landwirtschaftlichen Produkte hängt hiermit zusammen. Es ist
klar, daß der Schaffung einer dichteren ländlichen, ackerbautreibenden, an
der Konsumtion mehr als bis jetzt teilnehmenden Bevölkerung auch eine Stei¬
gerung des Wertes der ländlichen Produkte auf dem Fuße folgen wird. Von
der richtigen Lösung der landwirtschaftlichen Frage, das lehrt die Geschichte
von Anbeginn an, hängt das Wohl und Wehe des Staates ab. Die, wie
oben befürwortet, deshalb in den Haushaltsetat jährlich einzustellenden, zu
Vesiedelungszwecken dienenden Millionen würden in Zukunft dem Staate
einen unberechenbaren Vorteil bringen. Die Sache ist des Schweißes der
eit Jahren hat Dr. Windthorst angekündigt, das; der Kulturkampf
nur scheinbar sich bloß um die Freiheit der Kirche — er meint
damit immer die römische Kirche — bewege, die Kirche habe noch
einen andern Kampf mit dem Staate auszufechten, deu Kampf
um die Schule. Es war selbstverständlich, daß dieser Kampf sich
um denselben Begriff kirchlicher Freiheit drehen sollte, der bei diesen Herren
einmal eingeführt ist. Denn es ist bekannt, daß diese Freiheit nicht darin
besteht, von andern in Ruhe gelassen zu werden, sondern darin, über die andern
zu herrschen nach den Grundsätzen des mittelalterlichen Rechtes, im Namen
der heiligen Kirche, die etwas viel höheres ist als der Staat.
Das Zentrum rechnet in diesem bevorstehenden Schulkampfe auf ähnliche
Erfolge, wie sie in dem Kirchenkampfe über den deutschen Staat errungen worden
sind. Darum sind die Worte des römischen Pastors Lehnen aus der Eifel
und des Dr. Windthorst auf der Trierer Katholikenversammlung so sieges¬
gewiß und freudig. Die Schulaufsicht soll wieder durch Aufhebung des mühsam
zu stände gekommenen Anfsichtsgesetzes vom 11. März 1872 den Priestern als
den gebornen und göttlich bevollmächtigten Leitern der Schulen zurückgegeben
werden, die nicht im Auftrage des Staates handeln, sondern im Auftrag der
Kirche. Der römische Religionsunterricht geht den Staat nichts an, ebenso¬
wenig die Erziehung und Wahl der Religionslehrer. Überhaupt soll der Staat
zu fühlen bekommen, daß er nnr mit Unrecht der Schulherr geworden ist, daß
er vielmehr sein Schulrccht an die Familie abgeben muß, und daß der Ver¬
treter der Familie niemand anders sein kann als die Kirche.
Das ist der echte katholische Grundsatz. Wie er sich im einzelnen be¬
gründet, ist zwar gleichgiltig dem Sinne nach, aber lehrreich in geschichtlicher
Beziehung. Eine große Rolle spielt dabei das Wort ini Evangelinm Johannes
21, Is. In diesem später angefügten Anhang zum Evangelinm wird Jesu das
bekannte dreimalige Gebot an Petrus in den Mund gelegt: Weide meine Lämmer,
hüte meine Schafe n. s. w. Hieraus soll nach den katholischen Gelehrten sonnen¬
klar hervorgehen, daß die ganze Erziehung von unter bis oben von Christus
nicht dem Staate, sondern Petrus und seinen römischen Nachfolgern übertragen
worden sei, die natürlich die Geistlichen, da sie selbst nicht überall schulmeistern
können, dazu benutzen und anstellen. Darnach ist es also sinnlos, daß der Staat
sich ein Erziehungsrecht angemaßt hat, nach biblisch-römischen Auslegungskünsten
kann er so Großes uicht leisten, er sollte sich darauf beschränken, der römischen
Kirche die irdischen Mittel reichlich darzubringen, die das Schulwesen erfordert.
Wie gesagt, der Gebrauch dieser Bibelstelle ist eine gleichgiltige Sache
für den, der zwischen Petrus und der christlichen Kirche einen Unterschied fest¬
hält, der Nachfolger Petri nicht kennt und praktische Verhältnisse nicht nach
dem Johannes-Evangelium regeln will. Aber es ist ihm wichtig, wie tief oft
Unterschiede in der Auffassung heutiger Dinge, in diesem Fall des heutigen
Unterrichts, in die Wurzeln menschlichen Vorstellens hinabreichen. Denn offenbar
hängt die zu fassende Ansicht von dem Staatsschulwesen mit der so sehr schwie¬
rigen Auffassung des ganzen Staatsbegriffs und des Staatszweckes insbesondre
zusammen, und darauf wird die Debatte im Landtage, wenn sie gründlich geführt
wird, notwendig zurückkommen müssen.
Bevor wir uns aber auf diese abstrakten Dinge einlassen, fragen wir nach
den vorläufigen Aussichten, die der parlamentarische Schulkampf bei uns haben
dürfte. Wie ist der jetzige Zustand des Staatsschulwesens? Ist er schon hin¬
länglich in den Vorstellungen und Gemütern der Mehrheit befestigt? Ist er
wirklich so, daß der Staat die kirchlichen Wünsche durch sein Schulwesen verletzt?
Läßt sich leicht darauf eine Agitation des Zentrums begründen, die dem Staat
bedrohlich erscheinen müßte bei gewissen äußern oder innern Verwicklungen,
sodaß der preußische Staat auch darin, wie in den Kirchenbcstiuunungen, den
Interessen Roms entgegenkommen würde, bloß weil er annimmt, daß eine fried¬
lichere Stimmung von Millionen von Staatsbürgern, ohne wesentliche Rechte
des Staates zu schädigen, über Klippen der Zukunft hinweghelfen werde? Das
sind realistische Fragen, die, wie alle solche Fragen, so weit sie Zukünftiges
betreffen, sich nur vermutungsweise beantworten lassen.
Die preußischen Schulverhältnisse sind bekanntlich nnr zum Teil gesetzlich
festgestellt; das Meiste ruht bloß auf alter Praxis der Verwaltung, und so
ist es auch anderwärts der Fall, wie natürlich.
Die gesetzliche Grundlage des preußischen Schulwesens ist freilich ziemlich
früh gelegt: schon 1763 in dem General-Land-Schulreglement des alten Fritz.
Sodann mehr in rechtlichen Formen im Allgemeinen preußischen Landrecht von
1794, II, 12, wo es K 1 heißt: Schulen und Universitäten sind Veranstaltungen
des Staates, die nur mit Vorwissen und Genehmigung des Staates errichtet
werden sollen. Z 9. Alle öffentlichen Schul- und Erziehungsanstalten stehen
unter Aufsicht des Staates und müssen sich den Prüfungen und Visitationen
desselben zu allen Zeiten unterwerfen. § 11. Kinder, die in einer andern
Religion, als welche in der öffentlichen Schule gelehrt wird, nach den Gesetzen
des Staates erzogen werden sollen, können dem Religionsunterricht in derselben
beizuwohnen nicht angehalten werden. Z 12. Gemeine Schulen (Volksschulen)
stehen unter der Direktion der Gerichtsvbrigkeit eines jeden Ortes, welche dabei
die Geistlichkeit der Gemeinde, zu welcher die Schule gehört, zuziehen muß.
Z 15. Die Obrigkeit und der Geistliche müssen sich nach den vom Staate er¬
teilten oder genehmigten Schulordnungen richten und nichts, was denselben
zuwider ist, eigenmächtig vornehmen und einführen. 8 16- Bei Zweifeln
muß der geistliche Vorsteher der Behörde, die das Schulwesen der Provinz
leitet, Anzeige machen. Z 22. Die Bestellung der Schullehrer kommt in der
Regel der Gerichtsobrigkeit zu. Z 25. Jeder neu anzunehmende Schullehrer
>"uß dem Kreisinspektor oder ErzPriester angezeigt werden. 8 38. Kein Mitglied
der Gemeinde darf sich wegen Verschiedenheit des Religionsbekenntnisses dem
beitrage zur Unterhaltung der Schulgebäude entziehen. (8 43. Schulpflicht
"ach zurückgelegtem fünften Jahre.) Z 46. Der Schulunterricht muß so lange
fortgesetzt werden, bis ein Kind, nach dem Befunde seines Seelsorgers, die einem
jeden vernünftigen Menschen seines Standes notwendigen Kenntnisse gefaßt hat.
8 49. Der Prediger des Ortes ist schuldig, nicht nur durch Aufsicht, sondern
»und durch eignen Unterricht des Schulmeisters sowohl als der Kinder zur
Erreichung des Zweckes der Schulanstalten beizutragen.
Sodann heißt es in der Verfassungsurkunde von 1850, Art. 14: Die
christliche Religion wird bei denjenigen Einrichtungen des Staates, welche mit
der Religionsübung in Zusammenhang stehen, unbeschadet der Religionsfreiheit
zu Grunde gelegt. Art. 22: Unterricht zu erteilen und Unterrichtsanstalten zu
gründen und zu leiten steht jedem frei, wenn er seine sittliche, wissenschaftliche
und technische Befähigung den betreffenden Staatsbehörden nachgewiesen hat.
Art. 23: Alle öffentlichen und Privatunterrichts- und Erziehungsanstalten stehen
unter der Aufsicht vom Staate ernannter Behörden. Die öffentlichen Lehrer
haben die Rechte und Pflichten der Staatsdiener. Art. 112: Bis zum Erlaß
des im Art. 26 vorgesehenen Gesetzes bewertet es hinsichtlich des Schul- und
Unterrichtswesens bei den jetzt geltenden gesetzlichen Bestimmungen.
Da durch diese letztere Bestimmung und das Ausbleiben des verheißenen
Unterrichtsgesetzes wieder ein gewisses Schwanken über die Schulaufsicht ein¬
getreten war, wurde durch Gesetz vom 11. März 1872 verfügt: 1. Unter Auf¬
hebung aller in einzelnen Landesteilen entgegenstehenden Bestimmungen steht die
Aufsicht über alle öffentlichen und Privatunterrichts- und Erziehungsanstalten
dem Staate zu. 2. Demgemäß handeln alle mit dieser Aufsicht betrauten Be¬
hörden und Beamten im Auftrage des Staates. 3. Unberührt durch dieses
Gesetz bleibt die den Gemeinden und deren Organen zustehende Teilnahme an
der Schulaufsicht.
Die wenigen gesetzlichen Bestimmungen über höhere Schulen siud in dem
Allgemeinen preußischen Landrechte den obigen ähnlich gehalten.
Die Verwaltung des preußischen Schulwesens von der Zcntralinstanz im
Ministerium bis zu den Kreis- und Lokalschulinspektoren hat sich auf Grund
der gesetzlichen Bestimmungen entwickelt. Natürlich ist dabei die Absicht des
jedesmaligen Ministers von Wichtigkeit, aber die Verschiedenheiten der Ver¬
waltung sind geringer geblieben, als man vermuten könnte. Das entspricht
unsrer monarchischen Verfassung und der überall vorangestellten sachlichen und
würdigen Behandlung so wichtiger Angelegenheiten, die sich zum Experimentiren
am wenigsten eignen.
Man muß die Nachweise dieser Verwaltung im preußischen Schulwesen in
Sammlungen für das niedere und höhere Schulgebiet verfolgen, wie wir sie
von Rönne, Wiese-Kühler, Schneider:c. besitzen.
Aus allem geht hervor, daß im Grunde die Schule vom Staate regiert
und verwaltet wird, daß aber in Wirklichkeit der Staat dabei eine weitgehende
Rücksicht auf die bürgerliche Gemeinde, die Kirche, die Patrone nimmt, und die
Mitwirkung der Kirche zum Besten der Erziehung in Bezug auf die Bildung
der Lehrer, Aufsicht über den Religionsunterricht und die Schule überhaupt in
ausgedehnter Weise in Anspruch nimmt. Dadurch hat die Kirche entsprechenden
Einfluß.
Die Volksschule ist bei uns in der Regel als konfessionelle Schule einge¬
richtet, nur ausnahmsweise simultan, nämlich da, wo aus Mangel an Mitteln
die konfessionelle Teilung ein ungenügendes Schulwesen ergeben würde. Diese
Einrichtung konfessioneller Schulen galt eine Zeit laug als den alten preußischen
Bestimmungen widersprechend. Selbst bedeutende Männer hatten sich der
Gneistschm Broschüre gegen die Konfessionsschule angeschlossen. Gegenwärtig ist
diese Ansicht nicht mehr zu halten. Vierung hat sie in seiner Schrift: „Die kon¬
fessionelle Schule in Preußen und ihr Recht" (1885) als unrichtig erwiesen.
Die Pädagogen sind, wenn sie nicht zugleich die Schule für politische Ab¬
sichten in Anspruch nehmen, grundsätzlich für konfessionelle Schulen eingenommen,
wenigstens was die Volksschule betrifft, in der sich einesteils die Unterrichtsfächer
noch wenig sondern lassen, andernteils auch Erziehung und Unterricht noch sehr
miteinander vermengt sind. Auf den höhern Schulen die Teilung auf den
Religionsunterricht zu beschränken, ist schon eher zu billigen, ja meist nicht zu
umgehen, wiewohl auch da die Lehrer möglichst zu einer einzigen Konfession
gehören. Also auch hier haben wir keine rein staatlichen Einrichtungen in den
Schulen, sondern staatlich-kirchliche unter der Ägide des Staates.
Die Aufsicht über die Schulen ist, wie erwähnt, ebenso gemischt. Die
Seminarien, aus denen die Elementarlehrer an niedern und höhern Schulen
hervorgehen, sind konfessionell getrennt und der kirchliche Einfluß spielt in ihnen
eine bedeutende Rolle; die Direktoren sind meist Geistliche, auch die Examina¬
toren. In höhern Schulen haben Bischof und Generalsuperintendent die Re¬
vision des Religionsunterrichts, auch die Kontrole der religiösen Lehrmittel und
der Neligionsprüfung der Abiturienten. Die Religionslehrer wählt dem Namen
nach der Staat aus den cipprobirten Geistlichen, thatsächlich hat er oft keine
Wahl, hat auch nicht die Möglichkeit, einen katholischen Religionslehrer zu
halten, wenn er nicht ein völlig dem Kollegium ungehöriger Gymnasiallehrer ist.
In allen diesen Dingen scheint die kirchliche Natur des Religionsunter¬
richts so reichlich anerkannt, daß der Staat eher auf Anerkennung der Kirchen
sollte rechnen können, als auf Bekämpfung. In der evangelischen Kirche herrscht
denn diese Gesinnung auch durchweg. Zwar empfanden es einige evangelische
Geistliche lutherischer Richtung unangenehm, daß sie im Jahre 1872 ihre be¬
schwerliche Lokalaufsicht über die Schule, für die sie meist nicht einen Pfennig
behalt beziehen, im Auftrage des Staates zu üben hätten, nicht kraft pfarr¬
amtlicher Vollmacht. Aber sie ließen sich bedeuten, daß dies Gesetz doch nur
den gesetzlichen alten Paragraphen des Allgemeinen preußischen Landrechts einen
klareren Ausdruck gebe und nichts neues lehre, und ihre kirchliche Behörde forderte
sie geradezu auf, ihr Schulaufsichtsamt im Interesse der Kirche beizubehalten.
Allerdings wurden hie und da den Geistlichen vom Staate die Aufsichts¬
rechte über das Lokalschulwesen und das Kreisschulwesen entzogen und weltliche
Inspektoren dafür eingesetzt. Aber meist waren national-politische Gründe ma߬
gebend, solche Schulinspektoren im Hauptamte anzustellen. Daher traten sie
besonders in Posen und Oberschlesien auf, auch in katholischen Gegenden am
Rhein, wo der Kulturkampf am heftigsten wütete. Die Negierung zeigte stets
^ Neigung, überall, wo sich die Geistlichen wieder etwas beruhigten und ihr
Schulamt nicht mehr zur Verhetzung gegen den „Racker" von Staat benutzten,
den Geistlichen wenigstens die Lokalanfsicht wieder zu verleihen. Wir haben
schon traurige Klagen aus den Kreisen der Staatsbeamten darüber gehört, daß
man hie und da in Vertrauensseligkeit auch unzuverlässigen Lokalschulinspektoren
wieder ihr Geschäft ermögliche und sie dadurch noch übermütiger mache. Es
lassen sich eben beim besten Willen solche Mißgriffe nicht vermeiden. Sie sind
auch nicht die Folge zu weit getriebener Zentralisation, wie man zuweilen ge¬
meint hat. Denn jene Entscheidungen ruhten gewöhnlich auf Gutachten örtlicher
Organe. Es giebt eben in allen örtlichen Verhältnissen Personen, die, urteils¬
los und kurzsichtig, die Dinge anders sehen, als sie sind.
Es läßt sich nun mit Gewißheit annehmen und aus der Literatur nach¬
weisen, daß sich in Preußen eine überwiegende Zahl von Männern findet, die
mit der bestehenden gesetzlichen Grundlage unsers Schulwesens und den Fort¬
schritten, die es in diesem letzten Menschenalter infolge der Verwaltung des
Staates gemacht hat. durchaus zufrieden sind. Nicht umsonst haben wir selbst
uns verglichen mit unsern anderswo gebildeten Genossen, nicht umsonst haben wir
die Anerkennung des heimischen Schulwesens bei den Ausländern gelesen. Es
wird dem Zentrum nicht so leicht werden, wie es den neubackenen Maigesetzen
gegenüber war, die größeren Kreise zu überzeugen, daß die Schulverwaltung
des Staates, wie sie in Preußen jetzt ist, ein seelenmörderischer Zustand sei,
den ein katholischer Christ nicht länger ertragen dürfe. Aber wir werden uns
vor allem Absprechen hüten müssen, wenn ein so fähiger Volksredner wie
Dr. Windthorst die Masse der römischen Gläubigen bearbeitet. Wie gut weiß
er gleich die Frauen, diese „unabsetzbaren Schnlinspektoren," in das Interesse
zu ziehen! Wir wollen die Dinge abwarten. Es wird heißen, die Schule sei
„unchristlich," oder sie bilde „indifferente" Menschen, so lange der Staat mit
ihr etwas zu thun habe. Wir haben das schon bisher gehört, aber die Er¬
fahrung lehrt, daß in unsern StaatSschnlcn auch über- und abergläubige Fana¬
tiker in Fülle aufwachsen, mit denen die Bischöfe ihre liebe Not haben. Auch
haben wir nie gehört, daß in Spanien, im päpstlichen Rom, in Belgien, in
den Schulen der trsrss iAuorautius infolge der ausgezeichnet katholischen Natur
ihrer Lehrer und Einrichtungen so musterhafte Menschen aufgewachsen wären.
Wir glauben fest, es werden nur ganz ungebildete Männer sein, die den Geist¬
lichen glauben, wenn sich die Staatsverwaltung um die katholischen Schulen
nicht mehr kümmerte und alles den Geistlichen überließe, würden die Schüler
mehr lernen als jetzt und tugendhafter und frömmer werden. Selbst in Belgien,
wo ein ähnliches Experiment vom ultramontanen Ministerium in den letzten
Jahren gemacht worden ist, hat man das nicht geglaubt, aber die Sache hatte
für den Städter (tour^lois) den einleuchtenden Vorteil, daß sie weniger Geld
kostete. So sind denn Hunderte von Schulen für das Volk untergegangen.
Die Folgen werden schon kommen, oder vielmehr sie sind schon sichtbar ge¬
worden, aber wir überlassen ihre Würdigung billig den Belgiern selbst.
Bei der großen Unwahrscheinlichkeit, daß die Schulgelüste des Zentrums
eine Mehrheit in unsern Parlamenten finden werden, ist man versucht zu glauben,
wir hätten in jenem Schulknmpfe nur wieder ein Beispiel des Hasses gegen den
Staat, der bisher das Zentrum beseelte und nach neuen Anlässen seiner Be¬
thätigung sich umsehen mußte. Aber es ist nicht nötig, daß wir in diesem
Hasse den vorherrschenden Beweggrund der neuen Kampfeswcndung finden.
Der Beweggrund liegt, wie schon angedeutet wurde, zum großen Teil in der katho¬
lischen Ansicht vorn Staate. Wir müssen etwas näher ans diesen Punkt eingehen.
Wir sprechen vom Staate erst dann, wenn sich in einer landsässigen Gesell¬
schaft eine höchste unabhängige Macht gebildet hat. Daß diese Macht Ordnung
»ut Recht in den verschiedenen Schichten der Gesellschaft zu schützen habe, wird
kaum irgendwo bestritten. Von hier an aber gehen die Ansichten auseinander.
Die einen beschränken die Aufgabe des Staates auf dieses Stück, das Recht zu
hüten. Was sich sonst in der Gesellschaft regt, der Trieb nach Gesundheit,
Wohlstand, Bildung, Seligkeit, soll den Staat nichts angehen; er soll das der
Gesellschaft selbst überlassen und nur dafür sorgen, daß das gemeine Recht nicht
verletzt werde. Dies ist die Theorie, die in dem Staate eine „Brandkasse" oder
einen „Nachtwächter" sieht. Man kann sie nirgends durchführen, schon weil
die Gesellschaft kein allgemeines Recht irgendwie zur Verfügung hat, sondern
jedes gesellschaftliche Verhältnis, Familie, Gemeinde, Erwerbsinstitut, Handel,
Kirche, ein Recht für seine Interessen erzeugt und weiterbildet. In diese Rechts-
bildung einzugreifen im Interesse des Ganzen ist eine nicht abzuweisende Auf¬
gabe des Staates, und das geht nicht ohne „Einmischung" ab. So kommt
man denn zu einer andern Theorie vom Staate, die man Wohlfahrtstheorie
nennt, und zu einer dritten, die man die Sittlichkeitstheorie nennt, welche dem
Staate die Aufgabe stellt, die Gesellschaft schließlich zu sittlicher Freiheit zu
^ziehen.
Man begreift, daß die Theorie bei dieser Zerpflnckung des Staatsbegriffs
">ehe stehen bleiben konnte. Man sagte mit Savigny, der Staat sei eine To¬
talität, die leibliche Gestalt der ganzen Volksgemeinschaft. Weder wirtschaft¬
liches, »och gesellschaftliches, noch Bildungsleben ist vom Staate ausgeschlossen,
^er das Recht ist überall die Form seines Wirkens, nicht das unregierbare
innere der Gesinnung, nicht das Individuelle, soudern das, was sich gemeinsam
ordnen läßt, und wie der Staat mehr das Unrecht verhindert als das Rechte
istet, so milt er erst da positiv eingreifen, wo kleinere, in ihm befindliche Kor¬
porationen oder Gesellschaften die Verhältnisse und Aufgaben nicht oder nicht
jungend bewältigen können. Somit ist dem Staate ein allseitiges Leben und
"ne gewisse Entwicklungsfähigkeit gesichert. Vor allem, er bleibt ein sittliches
eher; ^ ^ ^ wertvoll macht, was gut und schön ist, was
^r sittlichen Bestimmung des Menschen dienlich ist. wie Mejer sagt, er hat ein
Wir haben das so harmlos hingeschrieben, ohne uns unterwegs zu unter¬
brechen, und wir sehen in der That, daß die Staatsrechtslehrer unsrer Tage
zu keinem wesentlich andern Ergebnis kommen. Nur verschiedne Gründe in der
Einwirkung des Staates auf die gesellschaftlichen Interessen kommen vor. Die
Fortschrittspartei will dem Staate viel weniger Einwirkung zugestehen als die
konservative. Aber ein grundsätzlicher Gegensatz findet nicht mehr statt.
Nur die katholische Theorie hat in einem Punkte eine völlig abweichende
Stellung, sie schreibt dem Staate zwar in Beziehung auf Recht und Wohlfahrt
gewisse, nicht unbedeutende Aufgaben zu, spricht ihm aber in allen Dingen, die
die katholische Kirche besorgen soll, jegliche Einsicht und daher jede Befugnis
selbständigen EinWirkens ab. Wie Mejer sagt, wird die Überzeugung des
Staates, er habe auch ein „Gewissen," von einem ultramontanen Schriftsteller
eine „unchristliche" Überzeugung genannt.*) Die Kirche soll dem Staate als
Ersatz des Gewissens dienen. Wie es kommt, daß die katholische Theorie den
Staat erst zu einem nicht-sittlichen Wesen erniedrigt, um ihm daraufhin nicht
bloß die kirchlichen Dinge, sondern auch die Erziehung zu entreißen, das ist
nicht schwierig zu erkennen.
Es ist zwar unrichtig, daß die katholische Richtung den Staat als solchen
gering schätze. Sie kann den Staat auf keine Weise entbehren, weil die Be¬
hütung des Rechtes erst das Zusammenleben der Gläubigen möglich macht. Sie
nennt den Staat in gewisser Beziehung nach Rom. 13 eine göttliche Ein¬
richtung, wenigstens in aostraot-o und sofern er der Kirche zu willen ist. Gleich
nach dem erlösenden Auftreten christlicher Kaiser im römischen Reiche wurde
sogar der christliche Kaiser ein Apostelgleicher und Gottgleicher genannt. Aber
der Unterschied zwischen Kirchlichen und Profanen war einmal so tief einge¬
prägt, daß es nie wieder zur vollen Würdigung des staatlichen Elements in
dem katholischen Denksystem kommen konnte. Der Staat hat nach dieser Auf¬
fassung durchweg der Kirche zu gehorchen (Friedbergs Kirchenrecht S. 31), er
hat ihr die Pflege aller ideellen Interessen, also auch der Schule, zu überlassen
und sich auf die der materiellen, die doch nur den ersteren dienstbar sein können,
zu beschränken. Denn der Staat ist an und für sich hurtig, kein Erzeugnis
Gottes selbst, sondern ein Produkt menschlichen Hochmuts, wie Gregor VII. es
als allgemein bekanntes Ergebnis der Geschichte hinstellt; der Teufel war dabei
thätig. Nach Thomas hat der Staat ebenso durch die Kirche Leben und Wirk¬
samkeit, wie der Leib durch die Seele. Die römischen Geistlichen stellen nach
dem amtlichen Katechismus (II, 2) Gott auf Erden dar. „sie werden daher mit
Recht Engel, auch Götter genannt," aber der Laie versteht davon nichts und
der Staat erst recht nichts. Wie sollte er denn etwas von Religion und Sitt¬
lichkeit verstehen? wie könnte er sich anmaßen, Schulen zu regieren? Er kann
überhaupt nur nutuni se xatigntiara LÄvöräotis thun, was er thut, ganz
gewiß in denjenigen Angelegenheiten, die mit dem Heil der Seelen zusammen¬
hängen, wie die Erziehung.
Man darf also in dem neuen Schulkampfe nichts neues und unerhörtes
sehen; es ist den Katholiken von Jugend auf geläufig, die Grundsätze so zu
fassen. Der Staat hat bei uns die Wirklichkeit anders gestaltet. Aber der
Widerspruch der Kirche bleibt, und es regt sich jetzt aufs neue in der römischen
Kirche das Streben, auch auf diesem Erziehungsgebiete den gottlosen Staat zu
beseitigen.
Wir Protestanten haben durch die Wiederherstellung der alten christlichen
klassischen Literatur uns befreit von der Idee der mittelalterlichen Kirche, und
der Gegensatz von Geistlichen und Laien ist uns vernichtet. Kein Studium
der Theologie, keine Ordination erhebt bei uns den Menschen zu neuen Offen¬
barungen und göttergleicher Höhe. Kein andres Organ giebt es, Gottes Ge¬
bote zu verstehen, als die gewissenhafte gemeinschaftliche Forschung, die jetzt fast
neunzehn Jahrhunderte lang arbeitet und im wesentlichen einig ist über das,
was das christlich Gute besagen will. Der Staat ist uns weder ein mystisches
Wesen göttlicher Art, noch ein „Racker," sondern eine gottgewollte Einrichtung
zur Verwirklichung aller nationalen Zwecke, die sich in rechtlicher Form ver¬
wirklichen lassen. Die Bildung der Staatsangehörigen ist dabei ein wichtiger
Gesichtspunkt, weil ohne Bildung des Erkennens, Fühlens und Wollens weder
der Einzelne, noch die Verschmelzung der Einzelnen sittliche Zwecke mit Bewußt¬
sein verfolge« kaun. Da der Staat alle Einzelnen umfaßt, und nur Einzelne
handeln können, so ist nicht abzusehen, wie es ihm an Personen gebrechen kann,
die seine Bildungszwecke aufs beste erkennen und verwirklichen. Er wird daher,
wenn irgend jemand, das Bildungswesen organistren können, wie es organistrt
werden kann. Er kann nicht predigen und nicht schulmeistern, wie er auch nicht
Stiefel macht. Aber er kennt die Bedürfnisse der Bürger, mich das Bedürfnis
der Anbetung und Gottesverehrung, wie das der Bildung und der Freiheit,
und kennt es, wie gesagt, aus denselben Quellen wie ein Papst und ein Kon-
sistorialrat und ebenso gut wie diese, weil es keine besondern, ihm unzugängliche
Quellen der Weisheit giebt. Es giebt viele Gebiete, auf denen der Staat, wenn
^ auch dem Namen nach allmächtig ist, sich bescheidet, er steht stille vor dem
Heiligtum der innersten Überzeugung und des Glaubens, er will weder zum
glauben noch zur Heiligkeit zwingen, tausend Dinge kann er nur mittelbar
fördern. Aber er will selbst die Grenzen seiner Wirksamkeit feststellen und sich
acht von andern befehlen lassen. Gern bedient er sich zur Förderung der
nationalen Zwecke der Hilfe, die ihm die Kunst, die Wissenschaft, die Kirchen
bieten — und diese alle sind nicht staatlich zu beherrschen, sondern nur zu
Pflegen —, aber er begiebt sich nirgends des Urteils darüber, ob diese Hilfe im
Zusammenhange des Ganzen richtig eingeflochten ist. Nicht jede Kunst wird
er Pflegen, aber auch keine verbieten. Jakobi erzählt (nach einem Buche Ni-
rg-olss c!«z ^vers v^ruf as I^ouräss S. 85), „daß eine Anzahl von Studenten,
welche vor einem Examen die Vorsicht angewandt hatten, ihre Feder in die
Wunderquelle von Lourdes zu tauchen, alle im Examen bestanden, verschiedne
mit besondrer Auszeichnung und gerade wegen der Arbeiten, die sie mit solchen
Federn geschrieben hatten." Sollte unser preußischer Staat eine Wissenschaft
oder ein Schulwesen pflegen, das in solcher Weise die Kultur der Abiturienten
fälschte? Er wird es schwerlich thun. Ein andres ist es, ob er es duldet,
daß andre sich so einrichten. Wenn ein Vater seine Familie im Geiste von
Liebknecht-Bebel erzieht, so mag der Staat ihm die Verantwortlichkeit über-
lassen, eine Kirche kaun innerhalb ihrer Wände nicht wohl gehindert werden,
die Moral Gurys ihren Seminaristen einzuprägen. Familie und Kirche sind
eben Vereine, die ihre Rechte haben. Aber die Schule ist kein Verein, sondern
eine Einrichtung, die, wenn sie öffentlich heraustritt, der Staatsordnung an¬
heimfällt nach der Natur des Staates und nach geltendem Rechte, wie wir ge¬
sehen haben.
Es wird ein lehrreicher Kampf sein, den Dr. Windthorst und die Seinen,
Herren und Damen, gegen die Schule des Staates vorhaben. Wir haben ge¬
zeigt, daß eine eigentliche Staatsschule, im Gegenwirken gegen die Kirchen und
mit Ausschluß derselben, bei uns nicht besteht, es ist ein den lebendigen Be¬
dürfnissen der Gesellschaft angepaßtes gemischtes System unter Leitung und
Verwaltung des Staates und Mitwirkung der Kirchen. Wir haben ferner ge¬
zeigt, daß nur nach katholischem Staatsbegriff dem Staate zur Leitung der
Schulen die Befugnis und Befähigung abgesprochen werden kann, und haben
nicht verhehlt, daß dieser katholische Begriff vom Staate nach unsrer Meinung
heute wenig Aussicht hat, allgemeine Geltung zu erringen. Wir wollen daher
nicht den Fall schon jetzt ernstlich erwägen, daß die Nachtwächteridee des Staates
im Sinne Dr. Windthorsts siegt, das Schulwesen den Bischöfen anheimfällt
und der Justizminister auch den Kultus und die Schule unbesorgt. Das kann
uns später noch immer beschäftigen, wenn es der Mühe wert ist.
on der zahllosen Schar der Reisenden, die alljährlich Rügen auf¬
suchen, machen verhältnismäßig wenige bei dem merkwürdigen Ei¬
lande Halt, welches, durch einen schmalen Sund von der Haupt¬
insel getrennt, in langer Ausdehnung von Norden nach Süden
sich hinzieht und nur mühsam den Kampf mit deu Meereswogen
besteht: bei Hiddensee. Wer der Sommerfrische oder des Bades wegen sich
Rügen zum längeren Aufenthalt erkoren hat, läßt sich an dem östlichen Rande
der Insel nieder, wo herrliche Waldungen die weithin leuchtenden Kreidefelsen
bedecken, oder die Uferdünen den weichen, sandigen Badestrand gewähren; aber
auch wer nach Touristenwcise im Fluge die Insel durchstreift, verabsäumt in
der Regel jene westliche, abseits gelegene Ecke zu berühren, die freilich dem
lieblichen Uferrande der Stubbnitz und der Granitz nicht zu vergleichen ist und
auch an Arkonas Größe nicht heranreicht. Zudem ist der Zugang zu dem
Eilande ein wenig unbequem und zeitraubend, und der kleine Gasthof, der einzige
der Insel, gewährt zur Zeit nur wenigen Fremden ein Unterkommen. So be¬
gnügt sich denn der Durchschnittstourist, von dem Dampfschiffe aus, welches
von Stralsund in eiliger Fahrt den Reisenden in den Jasmnnder Bodden hinein
bis an die Schwelle der Stubbnitz trägt, mit seinem Glase zunächst die niedrigen
Fischerhäuser, die allmählich aus dem Meere aufzutauchen scheinen, dann den
zu ansehnlicher Höhe sich erhebenden nördlichen Uferrand der Insel zu besichtigen,
unter dessen Schutze in anmutiger Lage das Pfarrdorf Kloster gelegen ist, so
genannt von der Gründung der Cisterzienser, die sich im Jahre 1297 an wohl¬
gewählter Stelle hier niederließen. Immerhin aber ist es der Mühe und der
Zeit wert, auch diesem westlichen Vorlande, welches wie ein Außenwerk den
Felsenburgeu des festländischen Rügens vorgelagert ist, einen Besuch abzustatten.
Eine herrliche Aussicht lohnt den Wanderer, der auf bequemem Wege den
Dornbusch — so nennt man wohl das nördliche, hügelige Felsenplateau — er¬
stiegen und etwa am Nordrande auf dem beherrschenden Hügel, dem Platze
des demnächst zu erbauenden Leuchtturmes, seinen Standpunkt genommen hat.
Im Norden, so weit das Auge reicht, das offene Meer, links im Westen die
leuchtenden Kreidefelsen der dänischen Insel Mön; östlich beinahe die ganze
Tnsel Rügen, zunächst die Halbinsel Wittow mit ihren tiefen Buchten und Ar-
kona, daun langgedehnt und hochragend die Stubbnitz, weiter zurück, beinahe
in der Ferne verschwimmend, das Jagdschloß des Fürsten zu Putbus in der
Granitz, mehr im Vordergrunde die Marienkirche zu Bergen und unweit davon
der Rugard mit dem Arndtdenkmal; im Süden aber die ganze langgestreckte,
ausgezackte und baumlose Fläche der Jusel selbst mit ihren Dörfern Bitte und
Plogshagen, sodann in weiter Ferne die Kirchtürme von Stralsund und im
Südosten der Turm der Marienkirche zu Barth. Die Felsen aber, auf denen
man steht, erzählen mit ihren erratischen Blöcken und ihrem Feuersteiugeröll
ewe lange Geschichte, während die Flora des Uferstrnndes und des darüber sich
^'hebenden hügeligen Haidelandes, das übrigens durch unlängst angelegte
^annenschomingen sich zu beleben beginnt, nicht nur dem Auge erfreulich ist,
pudern auch dem Botaniker seltene Schätze spendet. Endlich findet auch der
Freund urwüchsiger und origineller Menschennatur seiue Rechnung. Allein
"ber das alles hat neuerdings Johannes Trojan gehandelt einem „Hiddensoe"
^Welten Aufsatze der „Kleinen Bilder" (Berlin 1887, zuerst in der National-
Zeitung 1886 erschienen), der geistvoll und launig die Eigenart des Landes und
seiner Bewohner zur Anschauung bringt. Hier soll nur von dem seltsamen
Namen der Insel die Rede sein, der zu allerlei Betrachtungen Anlaß bietet.
Von echtdeutschem Klänge, tritt er uns doch fremdartig genug entgegen, und
nach einer Deutung desselben sehen wir uns vergebens um.
Was zunächst die Schreibungen des Wortes betrifft, so teilt G. v. d. Lancken
bei Ersch und Gruber folgende Formen als noch jetzt oder ehemals gebräuchliche
mit: Hhthim, Haddescha, Hythims-Ö, Hyddens-O, Hudentze, Hithinsö, Hidden-
sehe. Dazu würde man noch das in Goethes „Sprüchen in Prosa" (Bd. 19,
Hempel, S. 156) gebrauchte Hiodensee anführen können, wenn es nicht klar wäre,
daß hier ein Schreib- oder Lesefehler des Dichters vorliegt. „Liebes gewaschenes
Seelchen — heißt es hier — ist der verliebteste Ausdruck auf Hiodensee."*)
G. v. Loeper, der in längerer Fußnote die Angabe des Dichters im allgemeinen
bestätigt und auf Ausdrücke, die noch jetzt auf der Insel gangbar sind, zurück¬
führt, setzt dabei Hiddensee gleich Hythimsö und erklärt dieses als Hütteninsel.
Das ist sicherlich verkehrt, aber bei andern findet sich nichts besseres. Förste-
mann stellt in seinem Namensbnche Hiddensö, was ja selbstverständlich ist, als
die Grundform fest, und wirft die Frage auf. ob der Name nicht etwa dänischen
Ursprunges sei. Auch Umdrehen in der „Volksetymologie" läßt sich auf eine
vollständige Erklärung des Wortes nicht ein. Selbst Otto Font, der gründliche
Kenner der baltischen Geschichte, erwähnt in seinem trefflichen Werke: „Nügensch-
Pvmmcrsche Geschichten" gelegentlich nur soviel, daß die Insel insuls, H^tuis
oder N^tuiro. bei Saxo, Lsäiuse^ in der Knytlingasaga genannt werde. Die
gangbaren geographischen Handbücher endlich geben wie die Neisebücher den
Namen in der einen oder andern der bekannten Schreibungen, übergehen aber,
soviel ich sehe, die Deutung oder geben unbrauchbare Erklärungen, wie sich
z. B. in einem der sogenannten Fremdenführer die Bemerkung findet, Hiddensee,
d. h. Hiddensö, stamme von dem dänischen Worte Hidda, welches Hütte bedeute.
Und doch ist die Sache einfach genug. Saxo Grammaticus erzählt nämlich
im fünften Buche seiner dänischen Geschichte, daß Hithinus und Hoginus, beide
Vasallen des mächtigen Dänenkönigs Frotho, der eine ein jüdischer, der andre
ein norwegischer Häuptling, sich a,MA insnlam, IIMiusocz gegenseitig im Kampfe
getötet hätten. Auch in den spätern Büchern des genannten Werkes, in welchen
die Eroberung Rügens durch die Dänen dargestellt wird, spielt die wsutg, Hi-
tuini als Landungsplatz, Rhede- und Flottenstation eine nicht unwichtige Rolle.
Denn nicht insrüg, UMis oder Hz^uim, welches die ältern Ausgaben bieten,
sondern iusulg. UMivi ist zu lesen, was denn auch von A. Holder in seiner
kürzlich erschienenen Ausgabe des Saxo (Straßburg, bei Trübner, 1886) überall
hergestellt ist. Dem IIMinsos des Saxo entspricht die von der Edda und der
Knhtlingasaga überlieferte Namensform Höäiu8s^.
Hithinus, so berichtet Saxo, ein Jüngling von schmächtiger, aber aus¬
nehmend schöner Gestalt, und Hilda, die Tochter des Jütenkönigs Hoginus,
d. h. Högni, waren, noch ehe sie einander mit Augen gesehen hatten, durch deu
bloßen Ruf ihres Namens in gegenseitiger Liebe entbrannt. Als sie dann aber
einander ansichtig geworden waren, konnten sie nimmer die Blicke von einander
wenden. Hithin erhielt auch die Einwilligung Högnis zur Ehe. Aber bald
sagte man ihm nach, er habe die Verlobte noch vor der Vermählung verführt,
«was damals allen Völkern ein Greuel war." Högni, der solchen Verleum-
dungen Glauben schenkte, überzog den Eidam mit Krieg, wurde jedoch besiegt
und floh in sein Reich nach Jütland zurück. Nun macht der König Frotho
auf Grund der von ihm erlassenen Friedensgebotc einen Sühneversuch; da er
aber sieht, daß der Jütenherzog gegen alle Mahnungen taub bleibt, vielmehr
seine Tochter nur umso heftiger zurückfordert, gestattet er die Fortsetzung der
Fehde als das einzige Mittel, den Streit beizulegen. Nach längerem Kampfe
sinkt Hithin schwer verwundet zu Boden, findet jedoch wider Erwarten Gnade.
Denn der Sieger hat Mitleid mit der Schönheit und der Jugend seines Gegners
"ut scheut sich auch, einen Wehrlosen zu töten, der so wie so dem Tode ver¬
fallen schien. „So sehr, fügt der Autor hinzu, wahrte in alter Zeit die
Tapferkeit der Kämpen alle Gebote der Ritterlichkeit" (crmota. vörsounälas mo-
uieMg.). Aber sieben Jahre später wurde der Friede abermals gebrochen.
Bei der Insel Hithinsö trafen die Gegner aufeinander und schlugen sich gegen¬
seitig die Todeswunde. Hilda aber soll aus Liebe zu dem erschlagenen Gemahl
durch Gebete und Zauberformeln die Gefallenen zum Leben erweckt haben, damit
Ac den Kampf fortsetzten.
Die eben geschilderte Schlacht ist also — wann, wissen wir nicht — nach
er westwärts von Rügen gelegenen Insel, die den Dänen bei ihren häufigen
"Ehrten ins Ostmeer wohl bekannt sein mußte, verlegt, und die Insel selbst,
vorher vielleicht namenlos, für alle Zeit darnach benannt worden. Und so hat
cum allerdings Förstemann Recht mit seiner Vermutung, daß der fragliche
ame dänischen Ursprunges sei. Denn dänisch ist nicht nur der erste, eben er-
^te, sondern auch der zweite Bestandteil des Wortes, Ö nämlich ist das
^^ich-schwedische Wort für Ane, althochdeutsch omva, welches, verwandt mit
^ ÄMA, Wasser, eigentlich Wasserland, dann Wiese oder Insel bedeutet.
^ 'se die altnordische Form des Wortes, daher das bereits erwähnte Hsclinse^
^er nordischen Quellen, während das niederdeutsche einmal das jetzt so gut
>e verschollene ovo, anderseits das noch erhaltene Ole aufweist, in welchem
vert ^ ^ nordischen Form ein uraltes, schon dem althochdeutscher Worte
vrenes i erhalten hat. Man kennt die kleine nordwärts von der Peencmündung
und seitlich von Mönchgut, der südöstliche» Ecke Rügens, gelegene Lenchtturm-
insel; sie wird schlechtweg als die Greifswalder Ole bezeichnet, während dagegen
ein andres zwischen Hiddensee und Rügen in der Nähe von Schaprode gelegenes
namenloses Jnselchen im Munde des Volkes wie Ö, auf der Hagcnvwschen Karte
als Öde bezeichnet, lautet. Das Geschlecht der Herrn von der Ö, welches nach
diesem Jnselchen seinen Namen führte, ist vor mehr als einem Jahrzehnt aus¬
gestorben. Das Wort Hithinsö nun hat man sich auf doppelte Weise mund¬
gerecht gemacht: erstens, indem die bequemere Aussprache das Hithin in Hidden
verwandelte, zweitens, indem der zweite Teil an das Wort „See" angelehnt
und darnach umgeformt wurde. Hiddensee ist also seit Jahr und Tag die gang¬
bare Form, und es ist ein übel angebrachter Purismus, sie durch das ältere
Hiddcnsv ersetzen zu Wollen. Umdeutungen unverständlich gewordener Wort-
formen sind ein unausbleiblicher Ausfluß des sprachlichen Bildungstriebes, und
in der Mehrzahl solcher Fälle behält die Volksetymologie zuletzt doch Recht.
Wer wollte es wagen, ans Odense Odcnsö, d. h. Odhins-ö, aus Kopenhagen
Kopenhaven, d. h. Kaufhafen, aus Altona Altena, d. h. Alkman, wieder herzu¬
stellen? Und schließlich ist ja auch Hiddens-ö nur Zwischenform, von der man
folgerichtig auf das noch ältere Hithins-ö zurückgehen müßte. Darum schreibt
auch Otto Font in seinem oben erwähnten Werke das Wort so, wie es gegen¬
wärtig gesprochen wird: Hiddensee.
Ein vornehmer Name also, den das abgelegene Eiland führt, ein Name,
der weit in die Heldensage, ja in die Göttersage der germanischen Völker zurück¬
reicht. Denn daß die alte Sage von den Kämpfen Höguis und Hedhins zuletzt
auf mythologischer Grundlage ruht, lehrt ein Blick auf die weiteren Ausgestal¬
tungen der Überlieferung. Auch die Suorri-Edda berichtet von der Feindschaft,
die zwischen Högni und Hcdhin wegen Jungfranenranbes entsprang. Das Grund¬
motiv der beiden Sagen, die ja eine wie die andre aus alten Liedern geschöpft
sind, ist also dasselbe. Aber anstatt der Verführung finden wir hier die Ent¬
führung als Ursache des Zerwürfnisses angegeben. Ferner ist es die Geraubte
selbst, welche den ersten, allerdings fruchtlosen Sühneversuch macht. Sie bietet
dem zürnenden Vater in Hedhins Namen ein Halsband zum Vergleich, in
welchem man das Brisingamen, den Halsschmuck der Göttin Freyja, der in dem
Mythos dieser Gottheit eine so bedeutende Stelle einnimmt, hat wiederfinden
wollen. Aber Högni weist die Gabe der Tochter zurück wie das Gold, das
ihm später von dem Eidam geboten wird. So kommt es zum Kampfe, der
aber nicht bei Hithinsö, sondern bei einer der Orkneysinseln ausgefochten wird,
ein Beweis, daß das Lied, dessen Paraphrase hier mitgeteilt wird, von einem
Norweger oder Isländer gedichtet ist. Die Helden streiten den ganzen Tag
und fahren des Nachts zurück zu ihren Schiffen. „Hilde aber ging während
der Nacht zum Wahlplatz und weckte durch Zauberkunst die Toten alle, und
den andern Tag gingen die Könige zum Schlachtfelde und kämpften, und so
auch alle, die tags zuvor gefallen waren. Und in den Liedern heißt es, die
Hiadnigc würden so fortfahren bis zur Götterdämmerung." Offenbar hat diese
Darstellung vor der des Saxo einige echte und altertümliche Züge voraus,
wenngleich auch hier schon Hilde ans einer Göttin in eine Königstochter um¬
gedeutet ist.
Noch tiefer aber in den Mythos greift jene von edelster Poesie erfüllte
Gestaltung der Sage zurück, die uns in den Helgiliedern der sogenannten
Sämund-Edda vorliegt. Helgi, Sigmunds Sohn, aus dem Wölsungengeschlechte,
der kühne Held, welcher den Huudiug samt seinen Söhnen überwunden und er¬
schlagen hat, wird vou Sigruu, Högnis Tochter, geliebt, noch ehe sie ihn gesehen
hat. Diesen Zug, sowie den Namen Högni, hat also das Eddalied mit der
Überlieferung des Saxo gemein. Aber im Liede erscheint die Liebende als
Walküre, die als solche mit der Macht ausgestattet ist, ihre Lieblinge zu schützen.
Als daher Helgi in den Kampf zieht wider Högni und Granmar, dessen Sohn
Hödbrod von Sigruu mit höhnenden Worten zurückgewiesen worden ist, geleitet die
Walküre den Geliebten nicht uur durch die Schrecken des Seestnrms. sondern
schirmt ihn auch im Kampfgetümmel. Und wenn sie nach dem Kampfe spricht:
»Zu Lebenden möcht' ich mir erkiesen, die heimgegangen sind," so finden wir
das Schlußmotiv der eben geschilderten Überlieferungen wenigstens augedeutet.
schöner und bedeutungsvoller aber, wenn auch anders geformt, tritt dieses am
Schlüsse der Dichtung hervor. Denn als Helgi, dem sich die Walküre nach Högnis
und Hödbrods Tode vermählt hat, von ihrem Brnoer Dag, dem einzig Über¬
senden ihres Geschlechtes, meuchlings erschlagen ist, ruft die Liebende durch
ihre Klagen den Gatten aus seinem Grabe ans Licht; so ist ihr den Tod über¬
windender Schmerz das Urbild der weitverzweigten Lenorensage, die für uns
Deutsche Bürger klassisch gestaltet hat. Daß auch Hedinsö in einem der
Lieder genannt wird, mag Zufall sein. Viele Helden, so lesen wir im ersten
Helgiliede. kamen dem Helgi von Hedinsö zu Hilfe. Man sieht, das unwirtliche
Eiland ist i„ der Phantasie des nordischen Dichters zu einem volkreichen und
"nichtigen Reiche geworden; und es ist uicht notwendig, mit einem Herausgeber
der Edda an ein andres Land gleichen Namens zu denken.
Einen weiteren Nachklang aller dieser Sagen finden wir endlich im zweiten
Teile der Gudrundichtung. Auch hier Fraueuraub, Kampf und Versöhnung.
Denn der König Hettel läßt durch seine Getreuen Hilde, die Tochter des Königs
Hagen, entführen, und als der Vater den Fliehenden nachsetzt, entspinnt sich am
User ein heftiger Kampf, der aber bald, nicht ohne Zuthun der geraubten
Königstochter, beendigt wird. Und hier ist die Gleichheit des Namens — Hagen
lst nämlich gleich dem nordischen Högni — wohl nicht bloßer Zufall, sondern
Zeichen, daß wir es mit der neuen Abwandlung eines alten Grnndthemas
thun haben.
So hat sich denn in dem Worte Hiddensee, das uns jetzt erstarrt wie ein
Gestell, auf altem Meeresgrunde entgegentritt, eine ganze Kette von Vorstellungen
verdichtet. Einen Ausblick auf weite Vergangenheit, auf Sage und Mythos
gewährt uns ein Wort, das lange im Dunkel ruhte, bis es durch die Reise¬
bücher und neuerdings durch den sogenannten Hiddenseer Goldschmuck auch in
weiteren Kreisen bekannt wurde.
Ob es sich ewig erhalten wird? Kommen wird einst die Zeit, mag sie
auch vorläufig noch unabsehbar sein, wo der langgestreckte südliche Teil der
Insel von der Macht der Sturmfluten zerrissen und ganz oder teilweise von
den Meereswogen verschlungen wird. Dann wird das nördliche Berghaupt
einsam aus der Tiefe hervorragen und nur wenigen Menschen Raum zur
Ansiedelung bieten. Möglich, daß dann auch der Name der Insel aus dem
Gedächtnis schwinden und der von Westen her steuernde Schiffer mir noch den
Dornbusch als Wahrzeichen des nahenden Landes grüßen wird.
ause von Goethe (Goethe mit ve, bitte zu beachten!). Der Tra¬
gödie erster Teil — so lautet, zwar als Titel falsch, aber „literar¬
historisch" und — vielversprechend eine Überschrift, die gegen¬
wärtig als eine nationale That breitspurig und mit einem endlosen
Schwanz kritischer Spalten durch die Berliner Zeitungen rauscht.
Sie geht wirklich von einem richtigen Theater (wohlgemerkt keiner Vorstadtbühne)
aus — man denke! — und zwar von dem Theater in der Schumannstraße,
welches — seht seine „Deutschheit," ihr, die ihr immer an seinem Namen
mäkelt! — den „Faust von Goethe. Der Tragödie ersten Teil" seinem Repertoire
trotz Blumenthal, Schönthan und Kadelburg nunmehr hinzugefügt hat. Dank,
Dank, Dank! Der neue Psalmist des Berliner Tageblattes singt ein neues
Lied von der Gnade des Herrn L'Arronge, die geistreichsten Feuilletons und
Börsianer üben sich in Faustwitzen, und die Frau Kvmmerzienrcitin, die „grund¬
sätzlich nur in Premieren geht," kann endlich Vergleiche anstellen zwischen
Gounods und Goethes — Sichel.
Wir wollen hier nicht weiter untersuchen, in welcher Beziehung dieser
Tragödie erster Teil mit dem zweiten und dritten Teile einer andern Tragödie
steht, die sich zwischen der Deutschen Theaterdirektion und ihrem Hausdichter
abgespielt hat, und die mit einer allerdings nicht Sophokleischen Thrcmnie
begann und in dem schrecklichen Konkurrenz-Zirkus am Kronprinzenufer endigte.
Wir wollen es wirklich mit Dank so nehmen, als ob die Ermahnungen, mit
denen Freunde der deutschen Dichtung — diese Blätter ja nicht zuletzt — das
verdienstliche Unternehmen in der Schumcmustraße, ach meist so fruchtlos! be¬
gleitet haben, nun endlich Früchte zu tragen anfingen. Wir hoffen, daß dieser
Tragödie erster Teil ein neues schöneres Leben — u. s. w. u, s. w. Aber wir
hoffen nicht bloß, wir wünschen auch. Ja wohl, wir fangen gleich wieder an zu
wünschen. Es ist unverschämt, aber es ist nun so. Wir können nun einmal
nicht zum Augenblicke das vielberufene Sprüchlein sagen, am wenigsten im
Theater. Das bringt der „Faust" so mit sich.
Sagen wir es denn also lieber gleich offen heraus: diese Faustaufführung
ist keine Aufführung des Goethischen Faust. Genauigkeit gegen das Dichter-
Wort, fleißige „Regie," fleißiges Rollenstudium — es ist eigentlich nicht zu
viel gethan vom deutschen Schauspieler, seinen Faust auswendig zu lernen;
jeder Deutsche konnte ihn ja gegebenen Falles beschämen — alle diese schönen
Dinge hier in Ehren. Aber daß trotz alledem ein mit bengalischen Flammen,
Trausparenten und Geistermaschinen aufgeführter Faust noch nicht der Goethische
zu sein braucht, gestatte man uns in einigen Hauptsachen zu beweisen. Es ist
ja doch, denken wir, gerade beim Faust sehr wichtig, daß er der Faust ist und
nicht bloß ein „klassisches Stück." Wenn man ihn denn nun schon einmal auf¬
führt — was einfach eine deutsche Volkspflicht ist; wichtiger als alle sogenannten,
ja das eigentliche „Weihfestspiel" der Deutschen und gar nicht so schwierig auf¬
zuführen, wie das mit der Zeit darum aufgehäufte Brimborium uns weiß
macht —, wenn man ihn schon aufführt, so sorge man doch vor allem dafür,
daß er der Faust bleibe, und mache ihn nicht auf der Schaubühne, soweit man
es seiner Kernnatur nur abpressen kann, auch noch zur Ng-rZusiits.
Es ist doch wirklich bezeichnend, daß jenes ebenso beschränkte als barbarische
Laubische Diktum von der „Zugkräftigkeit des Faust als Gretchentragödie" bei
dieser Gelegenheit mitten unter den bewußten Hymnen von den einschlägigen
Zeitungen, die ja auf jenes Meisters Worte schwören, wieder gläubig und
feierlich erörtert wurde; also doch zunächst das Zugkräftige! Was versteht man
denn eigentlich unter diesem Schibolet der Direktionen? Meint man denn
wirklich, daß diese unverletzliche „Zugkraft" sich nur auf Näthermamsells und
Schwiegermütter zu erstrecken habe? Gehen denn nicht auch noch Männer ins
Theater? Oder sollten oder könnten sie nicht gehen? Und Frauen mit Herz,
Geist und Gemüt, junge Frauen von Temperament und Phantasie, und Mädchen
und Jünglinge mit Sehnsucht und Idealen? Rechnet man denn gar nicht auf
sie und nur auf „die andern," männnliche und weibliche Nähmamsells aller
Stände und Lebensalter und dito Schwiegermütter! El, dann hole Fausts
Begleiter die ganze Zugkraft mitsamt den Theatern, wenn sie nur auf diese
rechnen! Aber es ist so! Wer verdirbt denn das Publikum und damit die Literatur
heute anders, als Redaktionen und Direktionen mit ihrer — Zugkraft!
Wir sind nun rückhaltlos der Laubisch-ketzerischen Ansicht, daß Faust in
diesem Sinne ganz ebenso zugkräftig sei als sein Gretchen. Wenn nicht zug¬
kräftiger! Denn das Gretchen hat doch immerhin ihresgleichen, wenn auch am
Ende nur bei ihrem Schöpfer und dessen britischen Vorbild. Aber Faust hat
nicht seines gleichen, nie und nirgends, er ist ein Symbol der Menschheit,
wenn wirs erst noch versichern sollen, eine herabgestiegene platonische Idee,
angethan mit dem Farbenspiel der ganzen menschlichen Natur, und das ist doch
eine Zugkraft von ganz besonderen Schlage, sollten wir meinen. Anders Thcater-
direktoren, „handfeste" Regisseure und sonstige klassische Dramaturgen. Für sie
ist und bleibt der Faust ein erträgliches Zugstück für die „Sentimentale," eine
Komödie mit Langen und Bangen, Degenklingen, Kindesmord, Geistererschci-
nungcn und Hokuspokus. Sie spielen, wie man sich „technisch" so geschmack¬
voll ausdrückt, den Faust „auf Gretchen hin," sie spielen nicht nach rechts,
nicht nach links, sondern nach oben, immer nach oben, und dies oben kennt
man; es ist nicht der Parnaß, sondern — der Olymp. D. h. im gemeinen
Sinne; denn er ist meist viel besser als sein Ruf und befindet sich thatsächlich
oft viel tiefer.
Wenn man also den Faust „auf Gretchen hin" spielt, so verfährt man
folgendermaßen. Die Prologe fallen weg oder vielmehr „fort," wie der ge¬
bildete Berliner jetzt sagt, das ist selbstverständlich. Gut, es mag bei einem
Repertoire-Faust selbstverständlich sein, aber dann falle auch der schöne, falsche,
„literarhistorische" Zusatz weg, „der Tragödie erster Teil." Denn das weist
doch auf den zweiten Teil, der wirklich diesen Zusatz und dadurch den falschen
Titel des echten herbeigeführt hat, und der verlangt die Prologe als unerlä߬
lichen Bestandteil des Ganzen. Und dieses Ganze ist das Drama vom Faust,
dem Doktor, Gottes Knecht, der einsieht, daß wir nichts wissen können, der sich
der Magie ergiebt, in den Tiefen der Sinnlichkeit glühende Leidenschaften stillen
will und nur immer wieder den unbefriedigten Hochsinn seiner edeln Natur
wieder findet, der vom Himmel durch die Welt zur Hölle, aber auch wieder
zurückstrebt und Freiheit wie das Leben in unablässigem Ringen sich täglich neu
erwirbt. Dieser Faust nun, der Flüchtling, der Unbehauste, trifft einmal auf
sein Extrem, das schlichte, liebe Bürgermädchen, und es geschieht, was nach
dem ehernen Gesetze, das mit so besondrer Vorliebe die Extreme zu verketten
liebt, und sollten sie dabei aneinander zerschellen, geschehen muß. Aber ist das
das Einzige, ist es beim Faust die Hauptsache? Füllt sie sein Leben, kann und
darf sie sein Leben füllen, „seitwärts sie mit kindlich dumpfen Sinnen im Hüttchen
ans dem kleinen Alpenfeld"? Die dramaturgischen Nomeos wissen es freilich
besser. Für sie ist Faust der schmachtende Galan, der Gounodsche Opernhcld,
dessen tragische Schuld es ist, sein Gretchen nicht geheiratet zu haben, und der
dafür zur Hölle fährt; eine Auffassung, für deren Geistreichigkeit sie sich ja jetzt
sogar auf berühmte Professoren berufen Wurm. Allein jeder sekundärer, der
seinen Sophokles beginnt, könnte sie zum mindesten darüber belehren, daß dies
nach poetischen Begriffen keine Tragödie ist, sondern ein bloßes Spektakel, allen¬
falls eine Oper, Aber die Oper hat dafür wiederum andres einzusetzen, was
jener fehlt, nämlich die „unwiderstehliche, auf alle wirkende" Kraft der Musik
und den durch sie mühelos erzeugten Zauber des Wunders, der Unwirklichkeit.
Meint nun das Deutsche Theater, daß es diesen mit den paar musikalischen
Karrikaturen erreicht habe oder mit seinen pikanten Mcckartkartous, von denen
das Bild des „hingestreckten Weibes" im Zauberspiegel in seiner aufrechten
Ballerineupositur lebhaft an das Sensationsbild einer Kunstreiterin auf den
Litfaßsäulen gemahnte? Selbst wenn seine Osterglocken in etwas harmonischerer
Stimmung die „süßen Himmelskinder" begleitet hätten, selbst wenn eine reiz¬
vollere Musik gewühlt und mit etwas mehr Sorgfalt behandelt worden wäre,
selbst wenn die Dekorationstrümpfe der großen Oper, die ja in unserm Zeit¬
alter wieder einmal das einzige Ideal der Bühne geworden sind, ihre Wirksam¬
keit entfaltet hätten, käme die schließliche Wirkung in dieser Hinsicht auch nur
entfernt der einer angeregten Faustlektüre im einsamen Kämmerlein gleich? Die
Mittel des Deutschen Theaters sind nicht so unerschöpflich, das hat man dies¬
mal gerade recht deutlich gesehen. Gleichwohl immer und immer wieder der
alte Ehrgeiz, gerade uach dieser Richtung hin zu prunken, was doch nicht stets so
leicht geht, wie mit ein paar Zimmereinrichtungen aus der Leipziger Straße.
Wie wirkt aber gerade in diesem Punkte ein Bestreben, etwas zu scheinen, was
man nicht ist!
Doch bleiben wir bei unsrer Faustidee und halten wir sie mit der des
Deutschen Theaters zusammen. Denn dieser ganze Dekorativnsbcttel ist uns
für das Drama so gleichgiltig, daß wir ihn immer nur berührt wünschten,
wenn er stört, und daß wir vernünftige Leute uicht begreifen, die das Un¬
wesen dnrch Lob des Gelungenen darin ermuntern. So geben wir gern zu,
daß der Erdgeist höchst gravitätisch in die Höhe schnurrte. Aber wir können
uicht umhin, gleich dazu zu bemerken, daß sein unablässiges „Sausen" uns alsbald
in eine sehr prosaische moderne Fabrik versetzte und schließlich durch eine sich
leicht einstellende Reflexion (daß er nämlich gerade mit seinem „Sausen" reuom-
mire) komisch wurde; daß das Bewegen der ausgestreckten Arme des Grau¬
mantels auf der hohen Maschine den Vergleich mit Stelzenklowns des Zirkus
und sein rotglühendes Antlitz gewisse Anzüglichkeiten rege machte. Es war uns
viel angenehmer, zu bemerken, daß der Realismus in der Ausstaffirung des
Studirzimmers mit „Gläsern, Büchsen und Instrumenten" so zahm war, wie
es für das Laboratorium eines Alchymisten kaum richtig scheint. Umso wilder
geberdete er sich dagegen in der Szene vor dem Thore, wo aller Augen auf
einen grauenhaft realistischen Abhang gerichtet waren, den Faust und Wagner
wie als Anklang an die gegenwärtigen Alpenunfälle herauf und herunter klettern
mußten. Nun, die Fälle fangen sich ja leider sehr zu häufen an, in denen
Schauspieler über den Dekorationen Hals und Beine brechen. Uns schien
dieser Abhang aber nicht bloß aus jenem Grunde verhängnisvoll. Er verschlang
uns nämlich die Szene mit dem alten Bauern und das sich daran knüpfende Ge¬
spräch (von „Herr Doktor, das ist schön von Euch" bis „Betrachte, wie in
Abendsounenglut die grünumgebnen Hütten schimmern"). Nun gehören wir in
Beziehung auf Bühuenstriche durchaus nicht zu deu Kunstpuritanern, die, wie
namentlich jetzt in der Wagncrgemeinde, über jeden verlorenen Takt ihres
Meisters Zeter schreien, obwohl es immerhin zu beachten bleibt, daß sie es doch
damit durchsetzen und zwar mit Genehmigung des lieben Publikums. Wie
man aber, von all ihrer Schönheit und Bedeutsamkeit abgesehen (denn sonst
dürfte man eben im Faust gar nichts streichen), eine Szene einfach weglassen
kann, die zum Gefüge des Ganzen gehört, ohne die dies Ganze geradezu
eine Färbung erhält, das kann man nur begreifen, wenn man unsre Vor¬
bemerkung über jenes „den Faust nach Gretchen hin spielen" berücksichtigt. Diese
Szene mit dem alten Bauern ist die einzige, die den früheren Faust zeigt, ihn
im Verkehr mit dem Volke zeigt, als Retter und Helfer geehrt, als großen
Mann gefeiert, die einzige, die über seine Entwicklung Auskunft giebt, die ver¬
ständlich macht, daß es kein gewöhnliches menschliches Mißvergnügen, daß es
etwas Geheimnisvolles, Übermächtiges sein muß, was ihn auf die abschüssigen
Pfade zieht. Was kümmert das den „Laubeschüler," der auf das Auftreten
seines Gretchens zappelt! Aber warum streicht er dann nicht lieber das im
Gesänge ziemlich so lange Schüferlicd, wenn nun einmal das gute Kind nicht
so lange warten soll? warum wird dann z. B. in Auerbachs Keller (ohne
Zweifel der gelungensten Faustleiftung des Deutschen Theaters) kein Titelchen
weggelassen? Im Gegenteil, wo eine Verlängerung möglich ist, wie z. B. durch
Chorrefrain im Flohlied, da wird sie genutzt; wo Goethe ihn jedoch mit Ab¬
sicht wegließ, weil die Burschen dazwischen eben nicht Chor singen, sondern in
ihrer Weise kritische Witze von sich geben (die nebenbei von den Herren mit
geradezu lächerlicher Prätention herausgequetscht wurden) und erst ganz am
Schluß „jauchzend," d. h. überwältigt, einstimmen.
Aber wir können und wollen uns auf Einzelheiten dieser Art hier nicht
einlassen, sondern bleiben bei der Hauptsache. Gretchen tritt auf, das große
Ereignis ist da, die eigentliche Aufführung beginnt. Da ist nun ein gering¬
fügiges Ding, mancher wird denken, daß es nicht viel zu bedeuten habe, nämlich
die Anordnung, in welcher dieser Auftritt vor sich geht. Aber uns schien es
gar zu bezeichnend, wie ein sinnbildlicher Beleg der ganzen Auffassung,
daß nämlich Goethes Anordnung gerade ins Entgegengesetzte verändert wird.
Goethe schreibt vor: „Straße. Faust. Margarete vorübergehend(!)," d. h.
Gretchen geht an Faust vorüber. Faust spricht, nachdem „sie sich losgemacht
hat" (nämlich von seinem auch gleich sehr kecken Arme) die bekannte Charak¬
teristik des „schönen Kindes," dann „tritt Mephistopheles auf" und die keines-
Wegs schmachtende Verhandlung über „Beschaffung der Dirne" beginnt. Im
Deutschen Theater rauscht der Vorhang über dem bekannten Kircheuportale auf,
welches die ganze Breite des Raumes einnimmt. Der Gottesdienst scheint aus
zu sein, die Kirchgänger strömen heraus wie vom Hochamt. Soll das etwa
das „von der Beichte Kommen" Gretchens andeuten, dann zeigt sich das Deutsche
Theater über katholisches Ritual schlecht unterrichtete Aber nichts davon. Es
ist überhaupt nur Staffage für Rai-AULriw, die schon weit im Hintergrunde
sichtbar wird und dann noch im Vordergrunde durch ein Gespräch mit einem
alten Weibe den Operngläsern Gelegenheit geben muß, sich über sie zu „orien-
tiren." Während dieser ganzen stummen Szene sitzt „wie ein Bild aus Erz
gegossen" — der arme Mephistopheles im Vordergrunde und scheint „seines
Opfers zu harren." Da mit einem male — die Bühne hat sich geleert —
stürzt, wie aus der Pistole geschossen, Faust aus der entferntesten Kulisse über
die ganze Bühne weg auf Gretchen zu: „Mein schönes Fräulein" u. s. w. Also
so ein Kerl ist dieser Faust! Nicht etwa im Vorübergehen handelt er mit dem
schönen Mädchen an, was man ihm „mit dein Trank im Leibe" wohl zu Gute
halten könnte, nein, wie einer jener Herrchen, die man im Französischen mit
dem technischen Ausdruck suiveurs bezeichnet, stürzt er, wie von der Tarantel
gestochen, jeder schönen Figur einfach nach, die ihn von ferne reizt. Pfui!
Allein wenn wir auch gern annehmen wollen, daß das Deutsche Theater diese
häßliche Situation nicht gefühlt habe, der Gedanke, der ihr zu Grunde liegt,
ist jedenfalls unrichtig. Faust geht nicht an Gretchen vorüber und wird wie
Romeo von ihr festgehalten; das ist eben der Widerspruch. Der ganze Handel
ist ihm im Anfange sehr wenig bedeutend. „Was kannst du armer Teufel
geben?" Das ist ja der ganze Gegensatz zwischen der faustischen Liebe und der
des Petrarkaschülers Romeo, daß sie ansteigt, daß sie vom Äußerlichsten zum
Inneren fortschreitet, daß der weltunerfahrene Büchermensch mit all seinem
Wissen nun mit höchster Verwunderung diese ganze Seite des Menschlichen mit
ihrer Lust und ihrem Leide von Schritt zu Schritt erst entdeckt. Man beobachte
doch einmal daraufhin die drei auf einander folgenden Gespräche in Marthas
Garten mit dem gleichsam symphonischen Anschwellen ihrer seelischen Jnstrumen¬
tation. Und ferner, das ist gerade das Philosophische, das Notwendige in
Fausts sonst rein zufälliger Gretchenepisode, daß dieser erste Ansatz zum Teufels¬
leben ihm gleich so verteufelt schlecht ausschlägt, daß er in den leichten Genuß
gleich wieder die ganze Schwere seines Lebensernstes hineinlegt, daß er zu
Mephistos Ärger aus dem leichtfertigen Schwank alsbald eine Tragödie macht.
Aber keine Liebestragödie, keine neue Strophe zu dem alten Liede von den
beiden Königskindcrn, die nicht zusammen kommen konnten, „das Wasser war
^el zu tief." Gerade Gretchens Liebe, gerade ihre fromme, duldende, selbst¬
verständliche Hingabe machen ja Faust unglücklich, und er bereut, wie der tiefere
Mensch stets, lange vor und mitten in der That, deren Folgenschwere er, nicht
sie, ermißt, Sie ist ein Geschöpf der Notwendigkeit, er ein Vertreter der Frei¬
heit. Sie leidet menschlich unter der unseligen Verkettung der Folgen, doch
alles, was sie dazu trieb, ach war so gut, ach war so lieb, d. h. sie hat nur
ihr Schicksal erfüllt, sie mußte — und erst das Leiden bringt ihr mit den Ge¬
wissensbissen den „bösen Geist" der höheren Menschlichkeit, der nicht ihr guter
sein konnte. Er aber fühlt vom ersten Anfang die Verantwortlichkeit, er muß
ihren Fluch erfahren, und als er sieht, was er angerichtet hat, faßt ihn der Mensch¬
heit ganzer Jammer an. Sie büßt daher in kurzen Leiden und wird im Tode
erlöst, ihn muß ein ganzes Leben läutern. So ist der Thatbestand, so jedem
denkenden Deutschen vertraut. Doch ach, auf unsern deutschen Bühnen kehrt
man ihn um, macht Fausten zum Galan, und Gretlein zum Ersatz zu einer
Julia, Leonore, Hero und Gott weiß welchem tiefsinnigen, seltenen Frauenbilde.
Das mag ja damit zusammenhängen, daß die Darstellerinnen des Gretchens,
wie z. B. diejenige des Deutschen Theaters, meist im kleinen Finger mehr Sinn
und Temperament zeigen, als ihre Fauste im Ganzen. Wir müssen aber ge¬
stehen, daß die mehr tiefsinnige als sinnige, mehr großartige als liebliche, mehr
ergreifende als rührende Darstellung, mit der die Darstellerin das Publikum
überraschte, keine rechte Befriedigung in uns aufkommen ließ, eben weil sie die
Faustidec nicht bloß stört, nein verrückt, verschiebt, gänzlich umdreht. Letzten
Endes ist doch immer die „Rcgieführung" Schuld. Wo steht denn geschrieben,
daß — da es nun einmal im Durchschnitt bei den sogenannten Fächern bleibt —,
daß der Liebhaber durchaus den Faust spielen müsse? Im Schauspielhause
spielte ihn der alte Bcrndal, und man sah gern über die wenig vorteilhafte
Figur des „Liebhabers" hinweg, da man im ganzen bei aller Breite und
Pedanterie doch den Denker und mitunter auch den Weltenstürmcr, kurz, doch
immer den Faust der Idee vor sich hatte. Wenn jene abgeschmackte Bühnen-
simpelei — weiß der Himmel, von welchem Friseur sie sich herschreiben mag! —,
nach der die Hexenküche ein moderner Rasirsalon ist, und die Verjüngung in
aller möglichen pomadisirten Geckerei und Stutzertracht besteht, wenn diese
Albernheit in Wegfall käme, so würde der Übergang vom Studirzimmer in
Marthas Garten auch bei einer solchen Besetzung gar uicht stören. Und ein
rechter Faust würde ein vernünftiges Gretchen schon zu modeln wissen. Wir
müßten uns sehr täuschen, oder das Deutsche Theater besitzt gerade in einem
Schauspieler, der bereits einen sehr lobenswerten Macbeth und Lear lieferte,
einen solchen Faust. Aber das Deutsche Theater braucht eben keinen Faust,
den der Menschheit ganzer Jammer anfaßt! Es läßt wiederum den Vorhang
über Gretchen aufgehen, welches die unausbleiblichen Strohkränze flechten und
gleich frischweg singen muß, damit nur ja der Operneindruck bleibe. Der un¬
getreue Liebhaber mag sich dann wie ein beschämter Schulbube zu ihr schleichen.
Neben den thörichten Experimenten der weiland Devricntschen Faustaufführungen
in Berlin war der Gedanke, nach der Vorschrift den Kerker von außen zu fassen
(was auch im geistigen Sinne gilt), sehr anerkennenswert. Er ermöglichte zu¬
gleich eine ungezwungenere und deutlichere Betonung des „Ist gerettet," als im
Deutschen Theater, wo man es kaum vernimmt und, beiläufig eine mindestens
seltsame Verballhornung der sixtinischen Madonna) einen sehr unmalerischen
Schlußanblick (ein seitliches Drittel der Hinteren kahlen Kerkerwand wird ohne
Spur lebendigen Verhältnisses plötzlich durch diese Dekoration ersetzt) dem
Zuschauer auf den Weg giebt. Die tolle Bilderbogen- und Guckkastenbühne
Devrients ruft übrigens bei dieser Gelegenheit gerade einen unschätzbaren Vor¬
teil in Erinnerung, den sie gewährte. Nämlich die Zusammendrängung der
Gretchcnszenen auf ihr richtiges zeitliches Maß. Das Herauf und Herunter
des Vorhanges ist in der letzten Hälfte leider ein aufdringlich starker Teil der
Handlung. O Jdealbühne mit den Dekorationsandeutungen, wann werden wir
endlich zu dir vorschreiten!
Es drängt uns sehr und würde ja durchaus entsprechend sein, gerade am
Schlüsse dieses Aufsatzes von dem Geist, der stets verneint, auch noch ein kräftig
Wörtlein zu sagen. Er ist bekanntlich ein Schalk, und nicht zum geringsten
deshalb, daß er sich eben nicht einheitlich greisen läßt und sich zu verwandeln
liebt in allerlei Geistes gestalt. Wir sahen einen, dem gelegentlich nur Hörner
und Klauen fehlten und dann wieder die Schellenkappe. Einmal („Trüber Tag.
Feld") hatte er sich sogar als eine Art Sphinx oder Pyramide auf einem
Felsen postirt, als ob er Meister Urian selber wäre. Den tröstlichen Lebenschor
der Kleinen von den Seinen „Weh, weh, du hast sie zerstört, die schöne
Welt" ließ er dem verzweifelnde» Faust nicht ertönen. Es war ein recht auf¬
geblasener Teufel. Aber es würde zu weit führen. Eine bis ins einzelne
gehende Musterung der Striche des Deutschen Theaters und Erwägung der
Stellen, die eher wegfallen könnten (wenn man denn durchaus nicht eine Viertel¬
stunde länger sitzen will), wäre sür diesmal wichtiger. Wir nennen z. B. nur
die lange Abschweifung des Mephistopheles auf den „Herrn Mikrokosmus,"
die den Poeten des Deutschen Theaters sehr gefallen haben muß. Aber wir
mochten gern den Schein vermeiden, als ob wir als Goethephilologen sprächen.
Aber gerade, weil es eine Goethephilologie giebt, muß das Obige einmal zur
Sprache kommen, selbst wenn es, wie bei unsern Bühnen beinahe anzunehmen
ist, nichts helfen sollte. Denn „daß dem Menschen nichts Vollkommnes wird,"
verstehen sie ja vor allem uns zu zeigen.
in Folgenden komme ich auf ein Thema zurück, über das ich den
Lesern der Grenzboten schon einmal berichtet habe, das aber so
interessant und so unerschöpflich ist, daß es eine Rückkehr zu ihm
recht wohl zu vertragen scheint. Den Anlaß zu nochmaliger Be¬
schäftigung mit ihm giebt die Veröffentlichung neuer Beobach¬
tungen, welche John Lubbock, gegenwärtig der beste Kenner des Gegenstandes,
gemacht und zunächst in einem Vortrage mitgeteilt hat, den er vor einigen
Monaten im ^VorlcinA Usus Lollo^g zu London hielt, und in dem er unter
anderm ein sinnreiches Mittel beschrieb, mit dem wir seine Angaben über das
Leben der Ameise und diejenigen früherer Entomologen wie Huber, de Gcers,
Latreille, Kirby und Spence auf ihre Richtigkeit prüfen können. Wir wissen
bereits aus seinem großen Werke ^mes, ^VÄsps g.na Less, daß er auf sehr ver¬
trautem Fuße mit einem Teile der Insektenwelt lebt, und wir erfahren hier,
daß er eine Wespe besitzt oder bis vor kurzem besaß, die seit elf Jahren seine
intime Freundin war. Aber am gründlichsten und erfolgreichsten scheint er sich
doch mit der Seele, der Lebensweise, den Tugenden, den Arbeiten und Sitten
des wunderbaren Tiervölkchens beschäftigt zu haben, auf welches uns die Bibel
mit den Worten hinweist: „Gehe hin zur Ameise und lerne von ihr." Dieser
Spruch richtet sich eigentlich nur an den Trägen, dem er den Fleiß der Ameise
zur Betrachtung und Nachahmung empfiehlt. Die Wissenschaft aber hat auch
andre Seiten ins Auge gefaßt und dabei entdeckt, daß dieses winzige Geschöpf
eins der größten Wunder und Rätsel der Tierwelt ist. Sehen wir von den ver¬
gleichsweise riesenhaften Ameisen Indiens und andrer Tropenländer sowie von
den weißen Ameisen ab, welche zu den Netz- oder Gitterflüglern gehören, und
werfen wir nur ein paar Blicke auf unsre heimischen Arten — wie erstaunlich
erscheint uns da die körperliche und geistige Kraft, der Verstand und der Wille,
welche in einen solchen winzigen Leib zusammengedrängt sind! Weit mehr als
athletische Stärke, die in Milvus Gestalt einen Ochsen forttrug, zeigt die Ameise,
die mit Leichtigkeit einen Gegenstand zehnmal schwerer als ihr eignes Gewicht
eine Strecke tausendmal so lang als sie selbst von dannen schleppt. Doch
wundert uns dies nicht so sehr, wenn wir uns erinnern, daß eine Raupe eine
Glasglocke, unter die wir sie legen und die wir überdies mit einem zehnpfün-
digen Steine beschweren, zu heben und unter dem Rande weg zu entkommen
vermag, oder daß ein Floh eine Sprungkraft zeigt, welche ihn, wenn er ein
Pferd wäre und diese Kraft im Verhältnisse zur Größe eines solchen besäße,
mit einem Satze über die Türme des Kölner Domes und dem ganzen damit
zusammenhängenden Bau hinwegschnellen würde. Bewundernswürdiger als
jene Kraft der Ameisen sind ihre Bauten. Die Schlösser oder Türme oder
wie man es sonst nennen mag, welche sie aufführen, sind zuweilen von einer
Höhe, daß die Pyramiden lächerlich klein dagegen erscheinen, wenn wir bedenken,
daß diese von Menschengemeinschaften, jene von Jnsektenvölkern geschaffen sind;
denn die Mrniioa, rulÄ, unsre gewöhnliche Hvlzameise, errichtet Bauten von einem
Meter Höhe und zweieinhalb Meter Durchmesser und braucht dazu nicht mehr
Wochen als die Pyramidenbauer Menschenalter. Sind andre Ameisengemeinden
mit kleineren Wohnungen zufrieden, so ist es, weil sie keine größeren bedürfen.
Alle aber bewegen sich in ihren unterirdischen Galerien, Hallen und Straßen
in der Ordnung und mit der Rührigkeit einer thätigen und wohlregierten Gro߬
stadt. Es giebt hier nichts von dem Individualismus, der uus von unsern
Freisinnigen als alleinseligmachende Lehre angepriesen wird. In Ameisenland
wird kein Unsinn gelehrt und geübt wie der, nach welchem alle gleich gut, groß,
wertvoll sein sollen und darum gleichen Anspruch auf Herrschaft und Genuß
hätten. Die monarchische Verfassung der Bevölkerung dieses Landes, die so alt
wie der Bernstein ist, in welchem wir Ameisenmumien eingebettet finden, ist
niemals Mißbräuchen und Veränderungen ausgesetzt gewesen, vermutlich weil
sie von Anfang an sich mit dem Ideale einer Ameisenkonstitution deckte. Nach
ihr giebt es Stufen oder Stände und keine Neigung, ans ihnen heraus, weiter,
höher zu kommen. Jede Stadt hat ihre Königin, die in doppeltem Sinne zu¬
gleich Landesmutter ist, indem sie als Gebcirerin und als Gebieterin der Bürger
verehrt und geliebt wird. Es giebt ferner in jeder Stadt Männchen mit vier
und Weibchen mit zwei Flügeln, beide nur zur Fortpflanzung des Geschlechts
vorhanden, die einen träge und kurzlebig, die andern rühriger, von längerer
Lebensdauer und dann sehr fruchtbar, eine Eigenschaft, mit der sie unter Um¬
ständen zur königlichen Würde gelangen können, indem sie Kolonien gründen.
Dazu tritt endlich die vierte Klasse: die Hauptmasse der Einwohnerschaft
bilden die geschlechtslosen Arbeiter, welche gar keine Flügel haben, dafür aber
eine Menge vortrefflicher Eigenschaften besitzen, die sie zu den Erhaltern, Be¬
schützern und Verwaltern der Individuen machen, aus welchen das gemeine
Wesen besteht. Sie sind seine Ammen, seine Krieger, seine Bauleute und seine
Versorger. Sie laufen in der Brutzeit umher, um die Eier aufzulesen, die
Ihre Majestät hie und da fallen läßt, und sie fein säuberlich an die Sonne
zu schaffen, welche sie auszubrüten hat. Sie Pflegen mit unendlicher Hingebung
und Sorgfalt die Ameisenkindchen, wenn sie als kleine Maden der Eihülle ent¬
steigen, legen sie bei Tage in die warmen obern Gemächer und des Abends in
die unteren Gänge des Haufens, damit die Nachtluft ihnen nicht schade. Sie
schaffen ferner Massen von allerhand Nahrungsmitteln in die Ameiscnstadt und
füllen damit auch magazinartige Räume, sodaß es ein Irrtum zu sein scheint,
wenn man behauptet hat, die Ameise sammle keine Vorräte für den Winter ein-
Leidenschaftliche Liebhaber von Zucker und andern Süßigkeiten, melken manche
von diesen Arbeitern die Blattläuse an Rosenbüschen und Pflciumcnbciumen,
indem sie ihnen durch Kitzeln Bläschen ihres süßen Saftes entlocken, ja die
?orni(zg. ü-log., die gelbe Ameise, trägt diese Kühe sogar von abgestorbenen
Zweigen auf frische und setzt sie im Herbste unter die Erde an die Wurzeln
der Gewächse, die sie nähren — ein ganz ähnliches Verfahren wie das des
Sennen, der sein Vieh um jene Zeit von den Alpenmatten droben in den Stall
unten im Thale treibt. Sie bauen glatte Kunststraßen von erheblicher Länge,
und sie machen darauf Expeditionen, die sinnvoll entworfen und geschickt aus¬
geführt werden, Feldzüge gegen andre Amcisenstädte, bei denen es zu gewaltigen
Schlachten kommt, Jagden, die zum Einfangen von Sklaven unternommen
werden, Karawanenmärsche zur Einbringung größerer Tiere, die sich von einer
einzelnen Ameise nicht abholen lassen u. dergl. in. Bei diesen Arbeiten und
Kämpfen stehen sie einander mit einer Kameradschaftlichkeit bei, die ebenso groß
ist wie die Tapferkeit und die Vaterlandsliebe, die sie als Kriegsleute an den
Tag legen. Als Bauleute wissen sie genau, wie mau in trockenem und sandigem
und wie man in feuchtem und festem Boden arbeiten muß. Vortrefflich ver¬
stehen sie sich auf die Verwendung von Grashalmen und Getreidestvppeln zu
Pfeilern, die sie mit einer Art Stuck aus Lehm überziehen, und die von ihnen
durch Bogenwölbmigen verbunden werden, welche ein Architekt nicht sauberer
herstellen konnte. Ihr kriegerischer Geist entspricht ihrer großen Stärke, und
ihre Gesetzliche, ihr Gehorsam und ihre Beobachtung der herkömmlichen Ordnung
sind gleichfalls mustergiltig, während ihre Intelligenz und andre soziale Tugenden,
die sie zieren, schon zu König Salomos Zeiten Gegenstand hoher Anerkennung
waren, von dem die arabische Sage erzählt, er habe während einer Reise durch
Tals gehört, wie Ameisen am Wege mit einander geredet hätten, und sei darauf
von seinem Pferde gestiegen, um sich vor dem Herrn zu demütigen, der so
große Weisheit in so kleine Leiber gelegt habe.
Manche werden sagen: das ist alles Roman, Fabel, mindestens starke Über¬
treibung und Verschönerung. Woher weiß man alle diese allerliebsten Dinge
vom Volke der Ameisen? Wer von den „Formicarien" oder künstlichen Ameisen¬
städten Sir John Lnbbocks gehört oder gelesen hat, in welchen er die Lebens¬
gewohnheiten dieses Völkchens seit Jahren studirt, wird nicht so sagen und
fragen, und so führen wir die Leser in einige derselben, damit er sich über¬
zeuge. Plan und Ausführung des Beobachtnngsapparats sind sehr einfach.
Ein hölzernes Präsentirbret wird aus einen Tisch gestellt und rings mit Wasser
umgeben, sodaß es eine Insel bildet, auf welcher das Erdvölkchen, das hier¬
her versetzt werden soll, notgedrungen verbleiben muß, da die Ameisen nicht
schwimmen können. Auf das Bret wird durch ein feines Sieb getrockneter Lehm
oder Gartenerde gestreut, und über die größere Hälfte dieser Schicht, die etwa
einen Drittelzvll hoch sein muß, deckt man eine Scheibe von Glas als durch-
sichtiges Dach, worauf später noch ein undurchsichtiger Deckel kommt. Damit
ist alles fertig und bereit zur Aufnahme einer Ameisenkolonie, welche man durch
ein paar Schaufelftöße aufs Geratewohl dem nächsten natürlichen Ameisenhaufen
entnimmt. Es dauert dann nicht lange, so fangen die verpflanzten Tierchen an,
sich auf dem Boden ihrer neuen Heimat einzurichten, indem sie zunächst aus der
ihnen gelieferten Erde und den Hälmchen und Holzsplitterchen, welche die
Schaufel aus dem alten Ban mit ihnen übertragen hat, Gänge, Kammern,
mit kleinen Pfeilern gestützte Hallen, königliche Gemächer und Kinderstuben
bauen, und dann sich nach den Möglichkeiten zur Erfüllung der weiteren
Pflichten umsehen, welche Gesetz und Herkommen einer Ameisenstadt dem arbei¬
tenden Teile der Bürgerschaft ans Herz legen. Die erste derselben ist das
Aufsuchen von Nahrung. Zu diesem Zwecke tröpfelt man oder klebt man
etwas Honig seitwärts von der Kolonie ans die freigebliebene Stelle der
hölzernen Insel, und sehr bald wimmelt es ans den Thoren der Stadt
heraus zu dieser Futterstelle und beladen wieder zurück. So beginnt denn
die regelmäßige Lebensweise der unfreiwilligen Auswanderer in allen Stücken
von neuem, als ob sich mit ihnen nichts zugetragen hätte. Der Stamm ver¬
mehrt sich außerordentlich rasch, und er kann es bis zu einer Seelenzahl von
ein paarmal hunderttausend bringen. Ich gebrauche mit Absicht das Wort
„Seelen." Denn wenn der Beobachter nach einiger Zeit behutsam den Deckel
über der Glasscheibe abhebt, so erschließt sich vor seinen Blicken das Getriebe
einer Welt kleiner Geschöpfe, bei der man an die Wichtelmännchen der Volks¬
sage erinnert wird, eine Thätigkeit, die auf erstaunliche Begabung schließen läßt,
und die sich kaum erklärt, wenn man sie mit dein Ausdrucke „Instinkt" be¬
zeichnet. Was ist Instinkt, wo fängt er an, wo hört er auf? So lange man
darauf nicht antworten kann, wird das Wort ein Notbehelf bleiben, der das
Rätsel nicht löst, sondern umgeht. In der einen Ameisenstadt, die sich uns
ans diese Weise enthüllt, gewahren wir die Mutterkönigin, wie sie in ihrem
Thronsaale ruht. Sie ist im Vergleiche mit ihren Kindern und Unterthanen
von wahrhaft königlichem Wuchse. Ameisen kommen und gehen durch das Ge¬
mach, legen vor ihr kleine weiße Maden, die Kinder des Staates, hin und
tragen sie wieder weg, nachdem Ihre Majestät sie besichtigt, befühlt und viel¬
leicht gefüttert hat. Die aufwartenden Hofleute, wenn wir sie so betiteln dürfen,
kehren ihrer Souveränin niemals die Hintere Seite, sondern stets die vordere
zu. In einer demnächst aufgedeckten Stadt erblicken wir auf den Straßen und
Plätzen ein von dem der ersten verschiedenes Volk, die bleiche oder gelbe Ameise,
welche Sklaven fängt und hält. Wir beobachten hier die vornehmen üppigen
Herren, wie sie sich von dunkelfarbigen Dienern Speisen auftragen und sonst Hand¬
reichung thun lassen, die unablässig ihren Pflichten nachgehen und sichtlich aller¬
hand Arbeiten für diejenigen verrichten, welche nur sich lediglich dem Kriegs¬
handwerke widmen. Ferner wandern hier langsamen Ganges die Gassen auf
und ab kleine Holzläuse, völlig blind, aber untergebracht und erhalten von der
Gemeinde, um ihr als Straßenfeger zu dienen; denn wir sehen sie nach jedem
bischen Unrat oder Kehricht fühlen und es entfernen. Und so begegnen uns
noch mancherlei höchst wunderbare Brauche und Einrichtungen. Lubbock hat
aus Grund seiner langjährigen Erfahrung den vollständigen Beweis erbracht,
daß die Ameisen noch größere Fähigkeiten besitzen als die, welche sie nach dem
bis jetzt Mitgeteilten haben müssen. Welcher Mensch könnte je alle Einwohner
der Großstadt, in der er wohnt, kennen lernen und sie sich dann merken? Und
siehe da, eine Ameise kennt jeden ihrer Mitbürger, selbst wenn ihre Stadt dreimal-
hunderttausend Einwohner zählt. Man stelle wie Lubbock einen derselben in
einem kleinen, durch ein feines Netz geschützten Käfige vor eins der Thore.
Jeder Städter, der herauskommt, schreitet auf den Käfig zu und schwenkt seine
Fühlhöcnchen, ist aber sofort überzeugt, daß er einen Freund vor sich hat, und
geht also ruhig seinen Geschäften nach. Jetzt bringe man dagegen eine Ameise
fremder Nationalität in den Käfig, und ohne Verzug giebt es ein andres Bild.
Der erste, der aus dem Thore tritt, entdeckt, daß hier ein Fremdling ist, und
da nach der Ameisenmoral — beiläufig wie bei allen Menschenvölkern — ein
solcher ein Feind ist, so kehrt er um und macht Lärm in der Stadt. Im Nu
sammelt sich eine Menge wütender Bürger vor dem Käfig, und der Gegenstand
ihres Grimmes wird herausgezerrt und umgebracht. Es ist aber nicht der
Geruch, an welchem sie einander erkennen; denn unser Entomolog hat Ameisen
verschiedner Stämme mit demselben Dufte imprägnirt, und die kleinen Leute
ließen sich nicht im mindesten dadurch irremachen, und die Unterscheidung der
Fremden von den Freunden kann ebensowenig auf Merkmalen beruhen, welche
durch die Augen bemerkt werden; denn Lubbock gelang es auch da nicht, seine
Kolonisten zu täuschen, wo er Ameisen von verschiednen Stämmen eine und
dieselbe Farbe gab. Es liegt in der Sache eine Gabe, die wir uns nicht vor¬
stellen können, und die sich selbst auf die Unterscheidung der Eier und Maden
des einheimischen Geschlechtes von denen eines auswärtigen erstreckt. Die
Mühe, welche sich die Arbeiter einer Ameisenstadt geben, die geflügelten Männchen
und Weibchen zu füttern, die letzteren in der Brutzeit zu Hause zu behaltet,
und sie zu suchen, wenn eine oder die andre sich verirrt hat, ihre Stollen und
Kammern, ihre Pfeiler- und Gewölbebauten, ihre augenscheinliche Befähigung,
sich untereinander zu verständigen, ihre planvollen Feldzüge und Schlachten und
ihr unermüdlicher Fleiß können alle studirt werden unter dem Glasdache ihrer
künstlichen Wohnung, und alle diese Dinge vereinigen sich zu einem Gesamt-
eindrncke, der den Zuschauer mit Staunen erfüllt. Wie viele Fähigkeiten müssen
in dem braunen dreieckigen Köpfchen sitzen, das nicht größer als ein Stecknadel-
kopf ist! Wäre es nicht so, so müßte die Gehirnkraft eines Menschen zehn-
tausendmal größer sein, als sie ist, wenn sie der Intelligenz dieser winzigen
Wesen einigermaßen vergleichbar sein sollte. Denn sicherlich ist es Intelligenz,
wenn ein Wesen einen fast an Wildheit grenzenden Patriotismus kundgiebt,
wenn es unterscheidet und sich des Unterschiedes erinnert, wenn es die Zukunft
Voraussicht und sich darnach auf sie vorbereitet. sind die Ameisen also nicht
Schwärme, sondern Bürgergemeinden, und wachsen ihre kleinen Seelen, wie die
Buddhisten glauben, auf, um einmal Erdenbürger von Menschenart zu werden?
Ist das der Fall, so ist es ein eigner Gedanke, damit die Thatsache zu ver¬
binden, daß oft ein Stückchen Wald mehr solche geschäftige kleine Gehirne in
sich faßt, als es Menschen ans dem ganzen Erdballe giebt. Ein andrer Ge-
danke ist furchtbar: wenn alle ihre Eier reiften, so würde die Welt von ihnen
überlaufen, erobert und verspeist werden, wie die Meere ausgefüllt werden
würden, wenn der Rogen jedes Herings zu Fischen werden sollte. Trotzdem
erzähle» die Araber, daß sie ein von Allah geliebtes Volk sind, und daß, als
Gabriel einst abgesandt wurde, Salomo vor einer Sünde zu warnen, der hohe,
vornehme Erzengel auf seinem Wege Befehl erhielt, Halt zu machen und einer
Ameise Beistand zu leisten, die in eine Regenpfütze gefallen war und Gefahr
lief, darin zu ertrinken.
Der deutsche Anwaltstag, der am 10. und 11. September in München
tagen sollte, ist bereits am ersten Tage geschlossen worden. Er hat im wesentlichen
nur geschäftliche innere Angelegenheiten erledigt, die außerhalb des Kreises der
Rechtsanwälte nur wenig oder gar nicht interessiren. Wenn wir trotzdem den
Verlauf des Anwaltstages besprechen, so geschieht das mehr um deswillen, was
nicht erledigt worden ist. Man erinnert sich, daß seit einer Reihe von Jahren
die alljährliche Versammlung deutscher Anwälte Anlaß gegeben hat, allerlei
Klagen und Beschwerden gegen unsre Strafprozeßordnung vorzubringen. Der über¬
große Einfluß der Staatsanwaltschaft auf das Strafverfahren wurde ebenso regel¬
mäßig betont, als die angebliche Einschränkung der Rechte des Angeschuldigten und
der Verteidigung beklagt. Praktische und unpraktische Vorschläge wurden zur Besse¬
rung dieser Mißstände gemacht, von denen einzelne, wie der der Wiedereinführung
der Berufung, sogar mehrfach zur Erwägung unsrer gesetzgebenden Faktoren ge¬
langten. Auch in diesem Jahre sollte sich der Anwaltstag nach der vorher ver¬
öffentlichten Tagesordnung mit Anträgen auf Abänderung der Strafprozeßordnung
in der angedeuteten Richtung befassen. Es waren Vonseiten der Berichterstatter
— Rechtsanwälte Paper II. (Stuttgart) und Munkel (Berlin) — eine Reihe von
Aenderungen vorgeschlagen worden, welche wesentlich die größere Sicherung der
Verteidigung bezwecken sollten. Es wurden empfohlen: Einführung der Vorunter¬
suchung für alle zur Zuständigkeit der Landgerichte gehörigen Strafsachen; Vor¬
schriften, welche im Vorbercitungsvcrfahreu und in der Voruntersuchung dem An¬
geschuldigten die Verteidigung besser als seither ermöglichen: Zugänglichkeit der
Akten für deu Verteidiger, Erleichterung des Verkehrs zwischen dem Angeschuldigten
und dem Verteidiger, Einräumung eines Beschwerderechtes für den Angeschuldigten
gegen die Beschlüsse über Eröffnung der Voruntersuchung und des Hcmptverscchreus.
Für das Hauptverfahren selbst wird verlangt: sofortige Zustellung des Beschlusses
über die Eröffnung des Hauptverfahrens an den Angeklagten, Beschwerde des An¬
geklagten an das Gericht bei Ablehnung von Beweisanträgen Vonseiten des
Vorsitzenden, Aussetzung der Verhandlung bei unvorhergesehener und unverschuldeter
Verhinderung des Verteidigers, Einschränkung des Rechtes zur Verbindung mehrerer
Strafsachen, Unzulässigkeit der Befragung durch die bcisitzeuden Richter, Aufnahme
des wesentlichen Inhalts der Vernehmungen in das Sitzungsprotokoll, ausdrückliches
Verbot der Würdigung der Beweise durch den Vorsitzenden im schwurgerichtlichen
Verfahren, Berechtigung der Verteidigung, nach Beendigung der Belehrung des Vor¬
sitzenden die Aufnahme bestimmt bezeichneter Abschnitte dieser Belehrung in das
Protokoll zu verlangen. Man sieht, ein ganz hübscher Wunschzettel. Warum der
diesjährige Anwaltstag ihn nicht zu dem seinigen gemacht hat, ist nicht ersichtlich.
Möglich, daß man mit Rücksicht auf die sehr geringe Anzahl der Teilnehmer sich
scheute, so weitgehende Anträge als Wünsche des gesamten deutschen Anwaltstandes
zu verkünde«, möglich aber auch, daß sich, abgesehen von dieser Erwägung, keine
Mehrheit für solche ganz aussichtslose Wünsche gefunden hat. Man hat sie daher
für diesmal ohne Sang und Klang begraben, d. h. für das nächste Jahr zurück¬
gestellt. Und in der That, einseitiger, lediglich auf das Interesse des Angeklagten und
uoch mehr das des Anwaltstandcs oder des sich hauptsächlich mit Verteidigungen
in Strafsachen befassenden Teiles desselben gerichtet, sind noch keine Anträge zu
einer Prozeßordnung gestellt worden. Mit ihrer Einführung würden wesentliche
Grundsätze unsers Strafprozeßrechtes zu Gunsten der Verteidigung beseitigt oder ab¬
geändert werden, ohne daß einer wirksamern Strafverfolgung irgend ein Gegengewicht
geboten würde. Glücklicherweise ist gar nicht darau zu denken, daß die Vorschläge
in ihrer Gesamtheit jemals werden Gesetz werden. Wenn sie es je würden, würde
zweifellos die Zahl der Freisprechungen zunehmen. Ein gewandter Verteidiger
würde in der Lage sein, in vielen Fällen die Strafverfolgung so zu erschweren,
daß ihr Ziel nicht erreicht würde. Man wende nicht ein, daß der deutsche Anwalt-
staud sich nicht dazu hergebe« wird, wirklich Schuldige durch Umwege, Schliche und
Kniffe dem Arme der Gerechtigkeit zu entziehen. Die gute Meinung von diesem
hochachtbaren Staude ist ja gewiß gerechtfertigt. Allein es ist immer vorgekommen
und wird immer und unter allen Prozeßordnungen vorkommen, daß der Verteidiger
seine Stellung ganz einseitig auffaßt, daß es ihm nicht um die Ermittelung der
materiellen Wahrheit, nicht um die Sühnung eiues begangenen Verbrechens,
fondern einzig und allem darum zu thun ist, die Freisprechung seines Auftrag¬
gebers, des Angeklagten, herbeizuführen. Es ist das rein menschlich. Jeder,
der sich mit Strafsachen befaßt hat, weiß, daß, wenn einmal in einer bestimmten
Sache der Gedankengang eines Beteiligten sich nach einer gewissen Richtung hin
bewegt, es äußerst schwer ist, frei von dem dadurch geübten Einfluß zu ur¬
teile«. Ein Verteidiger, der, wie das fast regelmäßig der Fall ist, von vorn¬
herein fest an die Unschuld seines vielleicht recht schwer belasteten Auftraggebers
glaubt, wird es daher für vollständig seiner Stellung entsprechend halten, alle
gesetzlichen Mittel anzuwenden, um eine Freisprechung herbeizuführen. Er wird
das auch dann thun, wenn für alle andern Beteiligten die Schuld des An¬
geklagten klar zu Tage liegt. Räumt daher das Gesetz zu viele solcher Mittel
ein, so wird es möglich sein, das Verfahren in die Länge zu ziehen und dadurch
den Wert der Beweismittel, insbesondre der Zeugen, abzuschwächen, es wird
möglich sein, Dinge in die an sich klare Sache hineinzutragen, die, vielleicht nach
Ansicht des befangenen Verteidigers von Wert, doch gar nicht hineingehören, es
wird endlich möglich sein, die Thätigkeit der mit der Strafverfolgung betrauten
Personen zu lähmen. Das ist aber eine Gefahr. Man darf nie vergessen, daß
die Allgemeinheit, daß der Staat ein Recht darauf hat, bei Ermittelung, Fest¬
stellung und Bestrafung von Missethätern in die Rechte des Einzelnen einzugreifen
und sie, wenn nötig, zu beschränken. Wenn auch der Satz: „Lieber zehn Schuldige
laufen lassen, als einen Unschuldigen verurteilen" gewiß seine Berechtigung hat, so
darf er doch nicht so weit ausgedehnt werden, daß man vor lauter Angst, einmal
einen Unschuldigen bestrafen zu können, auch alle Schuldigen oder doch die Mehr¬
zahl laufen läßt. Dadurch würde das Rechtsbewußtsein des Volkes viel, viel mehr
geschädigt werden, als es jetzt durch eine hie und da einmal vorkommende unge¬
rechte, weil mit den Thatsachen nicht im Einklang stehende Verurteilung geschieht.
Unsre Strafrechtspflege enthält ausreichende Schutzmittel für die einer Missethat ve-
schuldigten. Niemand wird vor Gericht gestellt, ohne daß eine Mehrzahl von
nnnbhängigen Richtern darüber entscheidet, ob die von der Strafverfolgungsbehörde
vorgelegten Beweismittel zureichend sind; niemand wird verurteilt, ohne daß eine
Mehrzahl von Personen — in den Schwur- und Schöffengerichtsfällen sogar unter
Zuziehung der Mitbürger des Beschuldigten — ihn der ihm zur Last gelegten That
für schuldig erkannt hat. Das muß genügen. Wenn trotzdem einzelne Verurtei¬
lungen Unschuldiger vorkommen, so liegt das eben darin, daß Irren menschlich ist.
Auch nach Einführung der gemachten Vorschläge würden solche Berurteilnugen uicht
ausbleiben. Uebrigens ist es bis jetzt gar uicht einmal bewiesen, daß uuter der
Herrschaft der jetzigen Strafprozeßordnung besonders viel Verurteilungen Unschul¬
diger vorgekommen sind. Die wenigen Fälle, die aufgebauscht von den Gegnern
des Bestehenden durch die Zeitungen liefen, haben zum Teil in einer Weise ihre
Erledigung gefunden, die nicht darauf schließen ließ, daß früher eine unrichtige
Entscheidung gefällt worden ist. Insbesondre kann ans den erfolgten Freisprechungen
nicht unbedingt der Schluß gezogen werden, dnß das frühere verurteilende Er¬
kenntnis ungerecht war, denn manche der Freisprechungen erfolgte, weil in der
neuen Verhandlung die früheren Beweismittel nach so langer Zeit nicht mehr in
ihrer ganzen Unmittelbarkeit wirkten, ja zum Teil ganz versagten, und somit dem
von neuem vor Gericht gestellten Verurteilten die That uicht mehr bewiese» werden
konnte. Ein Bedürfnis zur Aenderung der Strafprozeßordnung kann daher wegen
dieser Fälle nicht anerkannt werden. Liegt aber kein Bedürfnis vor, so fällt jeder
Grund weg für eine weitere Beschränkung der jetzt schon genug beschränkte»
Vou dem gegenwärtigen Herausgeber von Büchmanns „Geflügelten Worten"
geht uns folgende Zuschrift mit der Bitte um Abdruck zu:
Was siud „Geflügelte Worte"? Ein sprachforschender Anonymus ließ
sich jüngst in diesen Blättern dahin vernehmen, es sei von mir in die Begriffs¬
bestimmung des „Geflügelten Wortes" willkürlich „ein subjektiver zufälliger äußerer
Umstand hineingetragen." Er hat aber nur bewiesen, wie er mit großer Sicher¬
heit die Wand neben dein Nagel zu treffen vermöge.
Georg Büchmann nämlich erfand für landläufige, auf ihre Quelle zurückzuführende
Worte und Wendungen, d. h. für übliche Zitate, die er zuerst in Deutschland sammelte
und erläuterte, im Jahre 1864 den Ausdruck „Geflügelte Worte." Ich arbeitete
sieben Jahre lang mit ihm vereint, führte das Werk fort Nach seinem Tode, wie
er es gewünscht, und erlaubte mir, seine nicht ganz erschöpfende Begriffsbestimmung
eines üblichen Zitats etwas genauer auszudrücken, wodurch die Art der Sammluug
uicht im geringsten verändert wurde. Nach wie vor sind in der wissenschaftlichen
Welt seit Büchmann „geflügelte Worte" nichts andres als übliche Zitate. So steht
es sogar seit Jahren zu lesen in dem Barometer der allgemeinen Bildung, dem
Meyerschen Konversationslexikon, und darum bemerkte ich: „Hieran ist nicht zu
rütteln, weil der Gebrauch Tyrann der Sprache ist." Um ein Wort aber Zitat
nennen zu dürfen, muß man beweisen, wo es zuerst steht oder wer es
zuerst gesagt, und kann man dies nicht, so ist es höchstens ein latentes
geflügeltes Wort zu nennen, ans denen sich Folianten zusammen¬
schreiben ließen.
Außerhalb des Kreises, welcher das von Büchmann und mir bearbeitete Stoff¬
gebiet kennt — und der mag sich, da es in über 70 000 Exemplaren gedruckt ist,
auf etwa 200 000 Menschen beziffern —, ist es natürlich jedem klar, das ein „ge-
flügeltes Wort" gerade nur das bedeute, was er selbst darunter versteht. Ver¬
wunderlich ist es jedoch bei einem sonst kenntnisreichen Manne, wie es besagter
Anonymus offenbar ist, der Auffassung zu begegnen, als läge in obiger Begriffs¬
bestimmung meinerseits eine Willkür, eine Vergewaltigung, da ich doch uur längst
Anerkanntes weiteren Kreisen deutlich zu machen unternahm. Willkür ist es viel¬
mehr, gegen Büchmanns Bezeichnung landläufiger und nachweislicher Zitate jetzt
noch nach dreiundzwanzig Jahren anzukämpfen, nachdem sie im Sprachschatz des
deutschen Volkes der Dichter und Denker längst selber zum geflügelten Worte"
Walter Robert-tornow.
Der „sprachforscheude Anonymus," dem wir diese Zuschrift mitgeteilt haben,
hat uus dazu folgende Bemerkungen gesandt:
Es hat selbstverständlich nicht im geringsten in der Absicht meines Aufsatzes
gelegen, gegen Büchmann oder dessen Nachfolger einen Tadel auszusprechen. Im
Gegenteil, das Buch wurde ausdrücklich als ein sehr verdienstliches anerkannt. Auch
uicht einmal gegen den Titel desselben richtete sich ein Tadel; denn was Büchmann
gesammelt hat, sind in der That „geflügelte Worte." Der gedachte Aufsatz wollte
nur darauf hinweisen, daß, außer den von Büchmann gesammelten, wir noch un¬
zählige andre Redeweisen, die unsre Sprache beleben, der Geisteskraft einzelner
verdanken, und daß diese merkwürdigerweise auf dem Wege von Mund zu Mund
Gemeingut des ganzen deutschen Volkes geworden sind. Er wollte darauf hin¬
weisen, welch einen Reichtum vou Phantasie und namentlich von Vvlkshnmor wir
von unsern Vorfahren ererbt haben. Auch diese Redeweisen unbekannten Ursprungs
nenne ich „geflügelte Worte," indem ich diesem Ausdruck einen objektiven Begriff
unterlege. Robert-tornow aber will diesen Ausdruck nur gelten lassen für die¬
jenigen Redeweisen, deren Ursprung Büchmann und er nachgewiesen hat. Im
Grunde genommen ist das nur ein Wortstreit, auf welchen einzugehen kaum lohnt.
Nur glaube ich nicht, daß irgend jemand das Recht hat, ein Wort der deutschen
Sprache so in Beschlag zu nehmen, daß es nur in dem von ihm gebrauchten Sinne
verstanden werden dürfe. Auch giebt ja Robert-tornow selbst zu, daß man die
fraglichen Redeweisen „latente geflügelte Worte" nennen könne. Latent sind aber
die Worte ganz und gar nicht; nur ihr Urheber ist bisher für Büchmann „latent"
gewesen. Ob er überhaupt latent ist, ob er nicht doch vielleicht nachgewiesen werden
kann, weiß niemand. Und ebensowenig weiß man bei manchen von Büchmann
aufgenommenen Worten, ob wirklich der dort genannte der erste Schöpfer des
Wortes gewesen ist und ob nicht vor ihm schon andre es gebraucht haben. Ich
halte deshalb die wirkliche oder vermeintliche Bekanntschaft oder Unbekanntschaft des
Urhebers einer offenbar von einem Einzelnen herrührenden Redeweise für etwas
ganz Zufälliges und deshalb für den Begriff des „geflügelten Wortes" Gleichgiltiges.
Aber streiten will ich mit niemand darüber.--
Wir haben dem nichts weiter hinzuzufügen, als daß auch aus der obenstehenden
kurzen Zuschrift wieder hervorgeht, daß Herr W. Robert-tornow des Deutschen
nicht hinlänglich mächtig ist (er würde sagen: sei), um ein Buch wie Büchmanns
„Geflügelte Worte" herauszugeben. Wer — um von anderm zu schweigen —
solche Dinge schreibt wie: „ein latentes geflügeltes Wort, aus denen" :c., kann
nicht zu Tausenden sprechen.
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